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German Pages 1206 [1208] Year 2014
Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag
Streitbare Strafrechtswissenschaft Festschrift für
BERND SCHÜNEMANN zum 70. Geburtstag am 1. November 2014 herausgegeben von
Roland Hefendehl · Tatjana Hörnle Luís Greco
De Gruyter
ISBN 978-3-11-031557-8 e-ISBN 978-3-11-031573-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Bernd Schünemann zum 1. November 2014 Hans Achenbach Knut Amelung Alejandro Aponte Cardona Werner Beulke Beatrice Brunhöber Manuel Cancio Meliá Miguel Díaz y García Conlledo Edgardo Alberto Donna Markus D. Dubber Gunnar Duttge Armin Engländer Volker Erb Albin Eser Thomas Fischer Wolfgang Frisch Enrique Gimbernat Ordeig Sabine Gleß Luis Gracia Luís Greco Rainer Hamm Roland Hefendehl Manfred Heinrich Rolf Dietrich Herzberg Michael Hettinger Thomas Hillenkamp Andreas von Hirsch Tatjana Hörnle Jörn Ipsen Christian Jäger Heike Jung Peter Kasiske Hisao Katoh Giorgi Khubua Il-Su Kim Urs Kindhäuser Diethelm Klesczewski Ralf Kölbel Matthias Krüger Kristian Kühl Lothar Kuhlen Hans-Heiner Kühne Ernst-Joachim Lampe
Klaus Lüderssen Diego-Manuel Luzón Vincenzo Militello Ioannis Morozinis Francisco Muñoz Conde Ulfrid Neumann Harro Otto Raúl Pariona Arana Enrique Peñaranda Ramos José Milton Peralta Lothar Philipps Ingeborg Puppe Jens Puschke Henning Radtke Joachim Renzikowski Klaus Rogall Thomas Rönnau Henning Rosenau Claus Roxin Imme Roxin Mariana Sacher Franz Salditt Hero Schall Roland Schmitz Heinrich Scholler Friedrich-Christian Schroeder Ulrich Schroth Jesús-María Silva Sánchez Franz Streng Andrzej J. Szwarc Juarez Tavares Klaus Tiedemann Fernando Velásquez Velásquez Petra Velten Thomas Weigend Edda Weßlau Petra Wittig Heinrich Amadeus Wolff Jürgen Wolter Keiichi Yamanaka Andrzej Zoll Mark A. Zöller
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
Grundlagen Brunhöber, Beatrice Von der Unrechtsahndung zur Risikosteuerung durch Strafrecht und ihre Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Donna, Edgardo Alberto Die ethische Autonomie des Menschen als wesentliches Rechtsgut
17
Dubber, Markus D. Die Würde im doppelten Strafstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Fischer, Thomas Noch einmal: Dogmatik und Praxis des Strafrechts . . . . . . . . .
41
Frisch, Wolfgang Zum Zweck der Strafandrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Greco, Luís Was ist Folter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
von Hirsch, Andreas „Harm and wrongdoing“: Schädlichkeit und Verwerflichkeit als Begründung von Kriminalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Hörnle, Tatjana Grenzen der Individualisierung von Schuldurteilen . . . . . . . . .
93
Ipsen, Jörn Sterbehilfe im Grenzbereich von Strafrecht und Verfassungsrecht .
107
Kasiske, Peter Öffentliche Regelkommunikation als Element des Rechtsbegriffs .
117
Katoh, Hisao Die Krise des Schuldprinzips, das Problem der Schuldfähigkeit des Überzeugungstäters und die Behandlungsmethode für seine Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
VIII
Inhaltsverzeichnis
Kindhäuser, Urs Zur Funktion von Sorgfaltsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
Kühl, Kristian Fünf Kapitel aus dem Buch über (Straf-)Recht und Moral . . . . .
157
Lampe, Ernst-Joachim Rechtswissenschaft und Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Militello, Vincenzo Zur Identität der Strafrechtswissenschaft in der MehrebenenRechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Otto, Harro Über Menschenrechte und Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . .
199
Philipps, Lothar Ein paar Seiten Logik für Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
Puppe, Ingeborg Der Typusbegriff, eine Denkform? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Schmitz, Roland Der Bestimmtheitsgrundsatz im Verbraucherschutzstrafrecht . . .
235
Scholler, Heinrich Der Gleichheitssatz und seine Konkretisierungen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
Schroeder, Friedrich-Christian Zwischen personaler und normativer Bezweckbarkeit . . . . . . .
259
Schroth, Ulrich Wörtliche Bedeutung und Äußerungsbedeutung von Tatbestandsmerkmalen in ihrer Relevanz für das strafrechtliche Analogieverbot
267
Wittig, Petra Das Extra-Legal Measures Model of Emergency Powers von Gross: Eine neue Antwort auf die Herausforderung des Rechts in extremen Konfliktsituationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Wolter, Jürgen Zur „unmittelbaren Lebensgefahr“ und „extremen Menschenrechtswidrigkeit“ im Straf-, Strafprozess-, Verfassungs- und Polizeirecht
295
Inhaltsverzeichnis
IX
Allgemeiner Teil des Strafrechts Cancio Meliá, Manuel Viktimologischer Ansatz vs. Selbstverantwortungsgrundsatz (zugleich: Allgemeiner Teil vs. Besonderer Teil)? . . . . . . . . . .
313
Díaz y García Conlledo, Miguel Zum elterlichen Züchtigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Erb, Volker Das Verhältnis zwischen mutmaßlicher Einwilligung und rechtfertigendem Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
337
Gimbernat Ordeig, Enrique Die Omissio libera in causa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Gracia, Luis Kritische Anmerkungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung im Verbrechensaufbau aus historischer Sicht . . . . . . . . . . . . .
363
Hamm, Rainer Objektive Zurechnung bei nur „statistischen“ NN-Kausalitäten .
377
Herzberg, Rolf Dietrich Freiheit als Deliktsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
391
Hillenkamp, Thomas Über den „Ausnahmevorbehalt“ zu § 25 I 1. Alt. StGB . . . . . . .
407
Jäger, Christian Die Lehre von der einverständlichen Fremdgefährdung als Grenzproblem zwischen Täter- und Opferverantwortung . . . . . . . . .
421
Lüderssen, Klaus Abstrakte Gefährdungsdelikte und Resozialisierung . . . . . . . .
435
Luzón, Diego-Manuel Entschuldigung aus subjektiver strafrechtlicher Unzumutbarkeit .
445
Morozinis, Ioannis Der Täter hinter dem Gewissenstäter und das Prinzip der Tatherrschaftsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
Pariona Arana, Raúl Mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten . . . . . . . . . . . . . .
469
X
Inhaltsverzeichnis
Peñaranda Ramos, Enrique Die Wirkung des error in persona des Täters auf die Haftung des Anstifters: zur Möglichkeit einer ausreichend differenzierten Lösung
483
Renzikowski, Joachim Zurück in die Steinzeit? – Aporien der Tatherrschaftslehre . . . . .
495
Roxin, Claus Pflichtdelikte und Tatherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
509
Silva Sánchez, Jesús-María Objektive Zurechnung und Rechtfertigungsgründe. Versuch einer Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Tavares, Juarez Der Irrtum bei den Unterlassungsdelikten . . . . . . . . . . . . . .
547
Yamanaka, Keiichi Abgrenzung von Beihilfe und Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
561
Besonderer Teil des Strafrechts Amelung, Knut Die Freiheitsberaubung als „Raub“ der Fortbewegungsfreiheit . .
577
Engländer, Armin Strafbarkeit der Suizidbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
583
Heinrich, Manfred Zur Strafbarkeit des Verbreitens von Schriften im Internet . . . . .
597
Kuhlen, Lothar Drohungen und Versprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
611
Neumann, Ulfrid Das „gebeugte Recht“. Anmerkungen zu Tatobjekt und Tathandlung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
631
Puschke, Jens Gesetzliche Vermutungen und Beweislastregeln im Wirtschaftsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
647
Inhaltsverzeichnis
XI
Rogall, Klaus Geheimnisverrat durch Bundesminister? . . . . . . . . . . . . . . .
661
Rönnau, Thomas GmbH-Untreue durch insolvenzauslösende Zahlungen . . . . . .
675
Rosenau, Henning Strafbarkeit bei der Manipulation der Organallokation . . . . . . .
689
Salditt, Franz Untreue und Bilanz: Zur Bedeutung des Faktors Glück . . . . . .
705
Velten, Petra Wert als flüchtige und mehrdeutige Kategorie – Anmerkungen zum Vermögensschaden bei der Untreue . . . . . . . . . . . . . . .
715
Zöller, Mark A. Die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien nach § 226a StGB – Gesetzessymbolik ohne Anwendungsbereich? . . .
729
Kriminologie und Kriminalpolitik Hefendehl, Roland Vielleicht hat die Linke doch recht … Ist Bernd Schünemann also ein Linker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
745
Kim, Il-Su Lebensschutz und Biopolitik im koreanischen Strafrecht seit 2000
761
Kölbel, Ralf Corporate Crime, Unternehmenssanktion und kriminelle Verbandsattitüde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
775
Muñoz Conde, Francisco Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in der modernen Strafrechtsgeschichte und dem strafrechtlichem Zeitgeschehen . . . . .
787
Peralta, José Milton Die (Un-)Angemessenheit einer Kriminalisierung der Chantage . .
799
Schall, Hero Das Umweltstrafrecht heute: ein bloßes Alibi-Instrument? . . . . .
815
XII
Inhaltsverzeichnis
Streng, Franz Schuldausgleich im Zweckstrafrecht? – Befunde und Überlegungen zu Schuld, Vergeltung und Generalprävention . . . . . . . . . . . .
827
Wolff, Heinrich Amadeus „Deutschlands Sicherheitsarchitektur – Drei Entwicklungstendenzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
843
Strafverfahrens- und Sanktionenrecht Beulke, Werner Zeugnisverweigerungsrechte im Zusammenhang mit der anonymen Kindesabgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
859
Duttge, Gunnar Die Urteilsabsprachen als Signum einer rechtlichen Steuerungskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
875
Hettinger, Michael Zur Entwicklung der Strafrahmen des StGB vom 1.1. 1872 bis zum 31. 12. 2013 – Wird das Strafrecht milder oder strenger? . . . . . . .
891
Jung, Heike Der Strafprozess als Videokonferenz? Ein Blick auf das französische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
905
Krüger, Matthias Zum Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern in der Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
915
Radtke, Henning Handeln „für einen anderen“ bei Verfall und Wertersatzverfall gegen Dritte im Sinne von § 73 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . .
927
Roxin, Imme Die neuere Entwicklung des Topos „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
941
Sacher, Mariana Diskurstheorie als Legitimation für die Absprachen im Strafverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
957
Szwarc, Andrzej J. Übermäßige Repressivität als Konsequenz des Zusammentreffens von Repressionssanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
969
Inhaltsverzeichnis
XIII
Weigend, Thomas Die Volksrepublik China auf dem Weg zu einem rechtsstaatlichen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
981
Weßlau, Edda Wahrheit und Legenden: die Debatte über den adversatorischen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
995
Zoll, Andrzej Erweiterung der Grundlagen für die Einstellung des Strafverfahrens im polnischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1009
Europäisches und internationales Strafrecht Achenbach, Hans Kartellgeldbußen ohne strafrechtlichen Grundrechtsschutz? . . . .
1019
Aponte Cardona, Alejandro Kann es einen Frieden mit Gerechtigkeit geben? Dilemmata im kolumbianischen Friedensprozess und die Funktion des Strafrechts 1031 Eser, Albin Transnationale Strafgerichtsbarkeit: Erkenntnisse zu ihrer Notwendigkeit und Verfahrensstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1045
Gleß, Sabine Der Europäische Gesetzgeber im Lichte des neu gefassten § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO – Gespenst, Phantom oder guter Geist? . . . .
1059
Khubua, Giorgi Regionale Kooperation im Südkaukasus: Möglichkeiten versus Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1073
Klesczewski, Diethelm Zur europarechtlichen Restriktion des Betrugstatbestandes . . . .
1085
Kühne, Hans-Heiner OLAF im Spannungsfeld von Individualrechtsschutz und Effizienz
1099
Tiedemann, Klaus Kein Liebesverbot für Brüssel und Straßburg – oder Gedanken zur europarechtsfreundlichen Auslegung im Strafrecht . . . . . . . . .
1107
Velásquez Velásquez, Fernando Paramilitärische Führer und kriminelle Machtapparate . . . . . . .
1119
Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1133
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1183
Vorwort Bernd Schünemann wurde am 1. November 1944 in der Gemeinde Broistedt, Niedersachsen, geboren. Seine enge Verbindung zur niedersächsischen Heimat, insbesondere zur Stadt Braunschweig, wo er das Gymnasium besuchte und das Abitur ablegte, ist nie abgerissen, auch wenn ihn seine fanatische Liebe zur Eintracht aus Braunschweig unzählige Male in tiefe Verzweiflung gestürzt hat. Das Studium der Rechtswissenschaften führte ihn 1963 nach Göttingen. In der für Bernd Schünemann typischen, bewundernswerten Kombination aus Brillanz und Geschwindigkeit absolvierte er in nur wenigen Jahren entscheidende Karriere- und Lebensstationen mit Bravour: 1967 und 1971 Spitzenexamina, dazwischen lagen die nach wie vor extrem einflussreiche Dissertation über „Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte“ (1971) sowie eine Reihe von Aufsätzen in angesehenen Fachzeitschriften; zudem wurde die bald weiter wachsende Familie gegründet (Heirat mit Ilse Schünemann, 1969 kam Stefan zur Welt, Corinna, Riccarda und Franziska sollten folgen). Nach Abschluss der juristischen Ausbildung war Bernd Schünemann vier Jahre lang, von 1971 bis 1975, wissenschaftlicher Assistent bei seinem Lehrer Claus Roxin, zunächst an dessen Lehrstuhl in Göttingen, dann in München. Die Habilitation erfolgte im Februar 1975 in München für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie mit der Habilitationsschrift „Die vier Stufen der Rechtsgewinnung, exemplifiziert am strafprozessualen Revisionsrecht“. Bereits im Jahr darauf erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor an der Universität Mannheim (Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie), nachdem er zuvor als wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Bonn fungiert hatte. In Mannheim blieb er bis 1987 (bei Ablehnung eines Rufes an die Universität Gießen im Jahr 1983). In diese Jahre fallen grundlegende Arbeiten zum Wirtschaftsstrafrecht (etwa die Monographie „Unternehmenskriminalität und Strafrecht“ im Grenzbereich zur Kriminologie) sowie empirische und experimentelle Untersuchungen zum Entscheidungsverhalten von Richtern und Staatsanwälten im DFG-Sonderforschungsbereich 24 „Sozial- und wirtschaftspsychologische Entscheidungsforschung“ an der Universität Mannheim, die einen Meilenstein der Rechtssoziologie ausmachen. Vergleichsweise kurz, wenngleich ebenso intensiv, fiel die Zeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg aus, in der Bernd Schünemann beispielsweise das aufsehenerregende Juristentagsgutachten zu Absprachen im Strafverfahren verfasste. Drei Jahre später, zum Wintersemester 1990/1991, erfolgte der Wechsel an die Ludwig-Maximilians-Universität München auf den Lehrstuhl für Strafrecht,
XVI
Vorwort
Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, wo er auch die Funktion des geschäftsführenden Direktors des Instituts für Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik übernahm. Hier lag für mehr als zwei Jahrzehnte die akademische Wirkstätte von Bernd Schünemann, der auch ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ist. Das wissenschaftliche Werk von Bernd Schünemann beeindruckt in allen Dimensionen. Der Umfang seines Œuvres und die Qualität desselben bezeugen eine immense Schaffenskraft, deren Quelle uns auch in der Begeisterung für die Materie zu liegen scheint. Augenfällig ist die Breite seiner Interessen. Bernd Schünemann widmet sich den klassischen Themen aus dem Allgemeinen Teil des StGB (genannt seien die Unterlassungsdelikte, Fragen des Vorsatzes und der objektiven Zurechnung sowie der Täterschaft und Teilnahme) ebenso wie den unterschiedlichsten Fragen aus dem Besonderen Teil, so beispielsweise in Gestalt der umfangreichen und von Wissenschaft und Praxis hochgelobten Kommentierung des Untreuetatbestands im Leipziger Kommentar. Eine genauso gewichtige Rolle spielen das Strafverfahrensrecht, die Verfahrenspraxis und die Entwicklungen in Richtung eines Europäischen Strafrechts, aber auch rechtsphilosophische Grundlagenfragen (z.B. Straftheorien, der Schuldbegriff und die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung). Auch in der Tiefe ist die außerordentliche Vielfalt auffällig. Bernd Schünemann beherrscht in vollendeter Meisterschaft sämtliche Formate (nicht nur) des rechtswissenschaftlichen Arbeitens. Dazu gehört die detaillierte, präzise analysierende Kommentierung von Normen des StGB (charakteristisch in seinen Beiträgen zum Allgemeinen und Besonderen Teil in verschiedenen Bänden des Leipziger Kommentars), die Gesamtdarstellung eines Rechtsgebiets in einem anspruchsvollen Lehrbuch (so des Strafverfahrensrechts, mittlerweile in der 28. Auflage erschienen), tiefgehende, keineswegs nur Studierende ansprechende didaktische Aufsätze, die fokussierte Analyse eines Rechts- oder Grundlagenproblems in einer Monographie oder einem längeren Aufsatz, die bereits erwähnten Verfahrensexperimente sowie eine Fülle von Stellungnahmen zu aktuellen rechtspolitischen Entwicklungen. Die Bezugnahmen auf die hinter den Normen des positiven Rechts stehenden Grundlagenaspekte und die Aufmerksamkeit für tatsächliche Entwicklungen verleihen Schünemanns Werk eine weitere Dimension. In vielen Publikationen hat er, aus einer Weitwinkelperspektive und einen umfassenden Bogen spannend, Entwicklungen in der Verbrechenslehre und in der Kriminalpolitik sowie Tendenzen innerhalb der Strafrechtswissenschaft in jeder Hinsicht treffend beschrieben. Neben dem Scharfsinn seiner Diagnosen und Argumente verleiht nicht zuletzt die imponierende, manchmal arabeske Sprachwucht seinen Texten ihren spezifischen Charakter. Das Staunen über die quantitativ wie qualitativ herausragende Produktivität des Jubilars vergrößert sich weiter, wenn man sich das Ausmaß seines Engagements im Ausland vor Augen führt. Bernd Schünemann pflegt mit
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großer Intensität die traditionellen Auslandsbeziehungen der deutschen Strafrechtswissenschaft, d.h. den wissenschaftlichen Austausch mit Kollegen aus Süd- und Osteuropa (etwa Spanien, Portugal, Italien, Griechenland, Polen) und dem Fernen Osten (Japan, Korea, in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch China). Vor allem nach Spanien hat es ihn über viele Jahrzehnte immer wieder gezogen; mit vielen spanischen Kollegen verbindet ihn eine intensive fachliche wie persönliche Freundschaft. Daneben hat er durch seine Aktivitäten etwa in der Mongolei, in Georgien und in verschiedenen südamerikanischen Ländern weitere Akzente gesetzt, bei denen nicht nur der akademische Austausch durch Vorträge und gemeinsame Tagungen im Vordergrund stand, sondern auch beratende Tätigkeiten für Gesetzgebung und Rechtsprechung. Natürlich, wie man bei Bernd Schünemann geneigt zu sagen ist, hat er auch immer wieder die im Strafrecht spezifische Konfrontation mit dem anglo-amerikanischen Rechtskreis gesucht. Allein die Liste seiner im Ausland in Übersetzung veröffentlichten Aufsätze und Monographien fällt länger aus als das gesamte Schriftenverzeichnis vieler, unserer eigenen etwa. Schüler und Bewunderer in der Welt gibt es in großer Zahl, wovon die mittlerweile von acht Universitäten (Mongolische Staatsuniversität Ulan Bator; Universität Zaragoza, Spanien; Universität José Carlos Mariátegui, Peru; Georgische Staatsuniversität Tiflis; Staatliche Chengchi-Universität Taipeh, Taiwan; Staatliche Kapodistrische Universität Athen, Griechenland; Dongguk-Universität Seoul, Südkorea; Staatliche Universität Húanuco, Peru) verliehenen Ehrendoktorwürden Zeugnis ablegen. Hinzu kommen verschiedene Honorar- und Ehrenprofessuren in Südamerika, Taiwan und China. Die in dieser Festschrift enthaltenen Beiträge können leider nur einen kleinen Anteil der vielfältigen Auslandskontakte unseres Jubilars widerspiegeln. Bereits zu seinem 60. Lebensjahr empfing Bernd Schünemann zwei Ehrungen, bezeichnenderweise eine in seinem unmittelbaren Wirkungskreis und eine im Ausland (Hefendehl [Hrsg.], „Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus“ – Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005; „Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit“ – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag“, zusammengestellt von Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen, Taipei 2006). Im ersten Band ist insbesondere das Wirken von Bernd Schünemann zwischen den Welten von Kriminologie, Dogmatik und Kriminalpolitik nachgezeichnet worden (S. 3 ff.), im Rahmen eines Geburtstagsheftes von Goltdammer’s Archiv (11/2009) findet sich eine Würdigung seines bisherigen Schaffens unter der Überschrift „Konstanten und Überraschungen“ (S. 618 ff.). Quellen seines wissenschaftlichen Einflusses und seiner internationalen Reputation sind nicht allein sein präzise analysierender Verstand und seine enorme Schaffenskraft, sondern auch der Mut und die Direktheit, mit der Bernd Schünemann Missstände seiner Zeit geißelt. Engagiert hat er schon vor
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Vorwort
vielen Jahren das Umweltstrafrecht gegen die Kritik von Frankfurter Kollegen verteidigt und diesen Kampf nunmehr prononciert bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzkrisen fortgesetzt. Bahnbrechend ist seine scharfzüngige Kritik an der Schleifung der Fundamente unseres Strafverfahrens, die in der Absprachenpraxis sichtbar wird. Mindestens ebenso lebhaft setzt er sich – als kämpferischer Autor, aber auch als Organisator großer, drittmittelgeförderter Forschungsprojekte – gegen Phänomene ein, die unter der Flagge der Europäisierung zu tiefgreifenden Erosionen von rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien führen können. Bernd Schünemann hat sich neben vielen weiteren akademischen Verpflichtungen als Fachgutachter der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Deutschen Bundestages engagiert, in der akademischen Selbstverwaltung wirkte er als Prodekan und Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Mannheim (1981 bis 1983), als Dekan der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München (1998 bis 1999) sowie als Direktor des Instituts für Anwaltsrecht an dieser Fakultät. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), der Zeitschrift für Internationales Strafrecht (ZIS) sowie der Buchreihen „Studien zum Wirtschaftsstrafrecht“ (Nomos Verlag) und „Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung“ (Erich Schmidt Verlag), ferner fungiert er als ständiger Mitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes bei Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (GA). Auch sein Engagement als Hochschullehrer ist legendär. Ob im überschaubaren Rahmen des von ihm fortgeführten rechtsphilosophischen und strafrechtswissenschaftlichen Donnerstagsseminars für Doktoranden und internationale Gastwissenschaftler oder im Audimax, stets vermag er Begeisterung zu transportieren und treten reflexhafte Wünsche des Auditoriums nach simplen Schemata und Reduktion auf das „unmittelbar Prüfungsrelevante“ bei seinem auf tieferes Verständnis angelegten, gehaltvollen Vortrag schnell in den Hintergrund. Den wissenschaftlichen Nachwuchs, zu dem neben unzähligen Doktoranden aus Deutschland und anderen Ländern die drei Herausgeber sowie sich derzeit Habilitierende zählen, hat er angespornt und ermutigt, aber vor allem ist er ihnen ein Vorbild gewesen, hat ihnen Freiheit und Zeit zu eigenem Denken und Arbeiten gegeben und abweichende Positionen mit großem Selbstverständnis hingenommen. Dem Jubilar würde nicht gerecht, wer ihn nur in seiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Hochschullehrer sieht. Sein Temperament, sein Herz und seine Begeisterungsfähigkeit zeigen sich in einer Fülle von Aktivitäten weit jenseits der manchmal etwas trockenen Welt der Rechtswissenschaft. Was Bernd Schünemann tut, das macht er mit Leidenschaft. Halbe Sachen gibt es bei ihm nicht. Ein Fest bei ihm ist stets ein solches, das man mit leuchtenden Augen genießt und nicht mehr vergisst. Auch sein (rechts-)politisches Engagement bei ihn bedrückenden Defiziten ist ohne Kompromisse. Die Rolle
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des wortgewaltigen Strafverteidigers übernimmt er, wenn ihm das Anliegen eines zu Verteidigenden als berechtigt erscheint. Der Jubilar ist den schönen Künsten zugewandt, unter anderem der Musik, vor allem derjenigen Richard Wagners. Bernd Schünemann hat mehrere Theaterstücke verfasst, die von Bühnen an verschiedenen Orten Deutschlands inszeniert wurden und deren Sujet das Leben Wagners und seine Beziehungen zu den Frauen, aber auch zu Nietzsche und Ludwig II. ist. Dazu gehören „Richard Wagners letzte Liebe“ und „Der Verlust der Unschuld“. Auch bei den „Varia“ im Literaturverzeichnis stößt man auf Texte, die nicht zum vertrauten Repertoire eines Rechtswissenschaftlers gehören, wie eine Abhandlung zu Schuld und Missbrauch für das Programmheft einer Opernaufführung. Sein neuestes Objekt der Faszination ist die Identität der Person, die die Stücke verfasst hat, die uns (fälschlicherweise, so Bernd Schünemann) unter dem Autorennamen „Shakespeare“ überliefert wurden. Unvergesslich sind die Erinnerungen an gemeinsame Freizeitaktivitäten mit der Lehrstuhlmannschaft, von Skiausflügen bis zu Oktoberfestbesuchen. Zum festen Bestandteil des Lebens am Institut für Rechtsphilosophie gehörten die rauschenden Feste mit ausländischen Gastwissenschaftlern, Doktoranden und Mitarbeitern im legendär gastfreundlichen Haus von Bernd und Ilse Schünemann in Eching am Ammersee. Als Herausgeber danken wir herzlich erstens den Autorinnen und Autoren dieser Festschrift dafür, dass sie Zeit und Mühe nicht gescheut haben, um Bernd Schünemann mit ihren Beiträgen eine Freude zu bereiten, und zweitens dem Walter de Gruyter Verlag für die Aufnahme der Festschrift in sein Verlagsprogramm sowie Frau Karin Hergl und Frau Katja Brockmann für die freundliche, angenehme Zusammenarbeit. Nicht zuletzt geht unser Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Lehrstühlen in Freiburg und Berlin, insbesondere Jacob Bach, Mecnun Cetin, Sarina Gäckle, Johanna Jung und Christine Wald (unter der ebenso tatkräftigen wie mitdenkenden Regie von Annika Poschadel), Freiburg, sowie Daniela Schölzel, Hannah Lenz, Sebastian Eckardt und Friederike Morich, Berlin. Sie haben uns mit großem Engagement bei der formalen und sprachlichen Überarbeitung vor allem der aus dem Ausland eintreffenden Festschriftbeiträge und bei den organisatorischen Aufgaben unterstützt. Zusammen mit den Autorinnen und Autoren wünschen wir Bernd Schünemann, dass er seinen neuen Lebensabschnitt mit innovativen Projekten in Wissenschaft und Praxis wie stets voller Begeisterung und Schwung fortsetzen wird. Freiburg, Berlin, München, August 2014
Roland Hefendehl, Tatjana Hörnle, Luis Greco
Grundlagen
Von der Unrechtsahndung zur Risikosteuerung durch Strafrecht und ihre Schranken Beatrice Brunhöber
Das Strafrecht hat sich verändert. Während Strafrecht bisher vor allem begangene Verletzungen sanktionieren sollte, soll es heute auch schon Vorkehrungen gegen Risiken treffen, etwa gegen die Verbreitung von Terrorismus. Dazu greift es immer weiter vor der eigentlichen Verletzung ein. Bernd Schünemann – der Jubilar, dem die folgenden Überlegungen mit den besten Wünschen gewidmet sind – betrachtet diese Entwicklung in erster Linie als „notwendige Modernisierung des Strafrechts“.1 Er widerspricht daher schon früh und immer wieder den kategorischen Einwänden, die die Frankfurter Schule gegen den präventiven Trend der Strafgesetzgebung erhebt.2 Ohne eine Aktualisierung des Strafrechts könnten beispielsweise weder das moderne Wirtschaftsleben noch die Umwelt wirksam geschützt werden. Sein Widerspruch führt freilich nicht dazu, die jüngeren Strafvorschriften kritiklos hinzunehmen. Vielmehr hat er in zahlreichen Beiträgen deren normative Schranken ausgelotet.3 Angeregt durch Schünemanns Überlegungen wird der Beitrag der Frage nachgehen, worin das Problem der Frankfurter Kritik liegt und wie Grenzen einer Aktualisierung des Strafrechts aussehen könnten. Der Beitrag untersucht erstens, was präventives Strafrecht ist (I.), zweitens, was das spezifisch Neue an ihm ist (II.), und drittens, wie spezifische Begrenzungskriterien ermittelt werden können (III.). Dabei geht es um nichts weniger als um die Frage, wie angesichts des gegenwärtigen „Spurwechsels von Freiheit zu Sicherheit“4 ein freiheitliches Strafrecht erhalten werden kann.
1 Schünemann in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, S. 18, 29. 2 Schünemann in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 15, 22 ff.; ders. GA 1995, 201, 205 ff.; ders. Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, bes. S. 203 f. 3 Exemplarisch Schünemann in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 133, 149 ff. 4 Frankenberg KJ 2005, 370.
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Beatrice Brunhöber
I. Was ist präventives Strafrecht? 1. Zustandsbeschreibung Die jüngeren Gesetzesreformen führen nach fast einhelliger Einschätzung dazu, dass dem Strafrecht neben der Aufgabe, begangenes Unrecht zu ahnden, zunehmend die Aufgabe zuwächst, künftigen Taten vorzubeugen.5 Seit den 1970er Jahren mehren sich Gesetze, die das Ziel der vorbeugenden „Verbrechensbekämpfung“ schon im Titel tragen: die Gesetze zur Bekämpfung des Terrorismus, des Rauschgifthandels und der organisierten Kriminalität.6 Zu beobachten ist zudem eine Ausweitung des materiellen Strafrechts dadurch, dass immer mehr Lebensbereiche strafrechtlich reguliert werden, um riskanten Verhaltensweisen vorzubeugen, wie etwa im Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht.7 Wie im materiellen Recht, so ist auch im Strafprozessrecht eine zunehmende präventive Ausrichtung zu erkennen.8 Exemplarisch dafür ist die sog. Strafverfolgungsvorsorge, die nunmehr eine Informationssammlung für die Verfolgung künftiger Straftaten erlaubt.9 Dies zieht zudem die Vermischung von Polizei- und Strafrecht nach sich.10 Die Reformen haben insgesamt zu Vorfeldkriminalisierungen und strafprozessualen Vorfeldmaßnahmen geführt. Das Folgende beschränkt sich auf das materielle Recht.
5 Vgl. Albrecht KritV 1988, 182 ff.; Dencker StV 1988, 262 ff.; Hassemer HRRS 2006, 130, 143 ff.; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, bes. S. 2; Heinrich ZStW 121 (2009), 94, 112 ff.; Kahlo FS Hassemer, 2010, S. 382, 387 Fn. 21; Pawlik Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 82 ff.; Weigend FS Triffterer, 1996, S. 695 ff.; Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 36 ff., 110 ff.; Zabel ZStW 120 (2008), S. 68 ff. Zu Einzelgebieten Gierhake ZIS 2008, 397 ff.; Weißer ZStW 121 (2009), 131 ff.; Zöller Terrorismusstrafrecht, 2009; Hefendehl StV 2005, 156 ff.; C. Nestler Betäubungsmittelstrafrecht, 1998; Kuhlen ZStW 105 (1993), 697 ff. Krit. zu dieser Beschreibung Frisch GA 2009, 385, 398 ff. 6 Überbl. bei Götz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 85 Rn. 14 Fn. 47, z.B. G. zur Bekämpfung der Umweltkriminalität v. 28.3. 1980 (BGBl. I, 373); G. zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität v. 15.5.1986 (BGBl. I, 721), G. zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Formen der Organisierten Kriminalität v. 15.7.1992 (BGBl. I, 1302), Terrorismusbekämpfungsges. v. 9.1.2002 (BGBl. I, 361) und jüngst Verbot der Ausbildung in einem „Terrorcamp“, G. v. 30.7.2009 (BGBl. I, 2437), sowie sog. „Hackingparagraph“, G. v. 7.8.2007 (BGBl. I, 1786). 7 S. Fn. 6. 8 Denninger StV 2002, 96 ff.; Gärditz Strafprozeß und Prävention, 2003; Singelnstein NStZ 2012, 593 ff.; Weßlau Vorfeldermittlungen, 1989; Zöller Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten, 2002. 9 Dazu Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729 ff.; Eisenberg/Singelnstein GA 2006, 168 ff. 10 Paeffgen in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 13 ff.
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2. Begriffsklärung a) Vorherrschende Kategorisierungen Trotz unterschiedlichster Bewertungen der Entwicklungen besteht in der Strafrechtswissenschaft weitgehend Einigkeit darüber, dass die Reformen zu einer neuen Art von Strafrecht geführt haben, das sich wesensmäßig von dem oft als „klassisch“ bezeichneten Strafrecht unterscheidet. Einer der ersten, der aufgezeigt hat, dass die neueren Entwicklungen zu einer Vorverlagerung führen, war Jakobs.11 Er nennt diese Art von Strafrecht „Feindstrafrecht“. Es ist umstritten,12 ob er das „Feindstrafrecht“ nur beschreibt, was er selbst stets betont,13 oder zu legitimieren sucht, wofür jedenfalls seine späteren Ausführungen sprechen.14 Unter dem Aspekt der Kategorisierung kann dies dahingestellt bleiben. Nach Jakobs ist das Besondere am idealtypischen „Feindstrafrecht“, dass es den Täter als Gefahrenquelle behandelt. Es wartet also nicht – wie das „Bürgerstrafrecht“ – ab, bis eine Schädigung eintritt oder unmittelbar droht, sondern greift weit im Vorfeld ein, und die Sanktion richtet sich nicht nach der Schuld, sondern nach der drohenden Gefahr. Überraschenderweise stammen aus der entgegengesetzten Richtung, nämlich der Frankfurter Schule, im Wesentlichen ähnliche Kategorisierungen. Freilich fällt ihre Bewertung eindeutig negativ aus. So unterscheidet Naucke das „präventive“ vom „rechtsstaatlichen“ Strafrecht. Ersterem gehe es nicht mehr – wie dem in der aufklärerischen Gesellschaftsvertragstheorie verankerten Strafrecht seit Mitte des 19. Jahrhunderts15 – um „Repression des Unrechts“, sondern um „Prävention der Gefahr“.16 Ähnlich grenzt Hassemer das von ihm als „klassisch“ bezeichnete aufklärerische Strafrecht, das auf begangenes Unrecht reagiere,17 vom „modernen“ Strafrecht ab, mit dem riskanten Verhaltensweisen vorgebeugt werden solle.18 Exemplarisch seien abstrakte Gefährdungsdelikte.19 11 Jakobs ZStW 97 (1985), 751 ff.; dazu Prittwitz in: Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 169 ff. 12 Ausf. Brunhöber in: Voigt (Hrsg.), Staatsräson, 2012, S. 163 ff.; s.a. Ambos ZStrR 124 (2006), 1, 18 ff.; Hörnle GA 2006, 80 ff. 13 Bes. Jakobs HRRS 2006, 289 ff. 14 Etwa Jakobs HRRS 2004, S. 88, 93. Wie hier Ambos ZStrR 124 (2006), 1, 12 f.; Gierhake ARSP 94 (2008), 337, 358 f.; Paeffgen FS Amelung, 2009, S. 81, 84; w.N. Greco Feindstrafrecht, 2010, S. 19 Fn. 60. 15 Naucke KritV 1990, 244, 250 f.; ders. KritV 1993, 135, 143. 16 Naucke KritV 1993, 133, 144 f. 17 Hassemer ARSP-Beiheft 44 (1991), 130, 137; ders. ZRP 1992, 378, 379; ders. Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1996, S. 3 ff. 18 Hassemer in: ders. (Hrsg.), Strafen im Rechtsstaat, 2000, S. 160 ff.; ders. ZRP 1992, 378, 381; ders. FS Roxin, 2001, S. 1001, 1006; ders. GS Schlüchter, 2002, S. 133, 164; ders. HRRS 2006, 130, 138 ff. Dazu Wohlers (Fn. 5), S. 29 ff. 19 Eine dritte Richtung – die aus Raumgründen hier nur erwähnt wird – sieht den Unter-
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b) Kritik und eigene Kategorisierung Hinsichtlich der Bezeichnungen scheint es geboten, zum einen genauer zwischen Kategorisierung und Bewertung zu differenzieren und zum anderen deutlicher hervorzuheben, dass es sich um idealtypische, nicht aber historische Unterscheidungen handelt. Die Bezeichnung als „Feindstrafrecht“ von Jakobs erscheint für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung weniger sinnvoll, weil sie heftige Assoziationen weckt: der Täter als Feind, gegen den man sich wehren muss, statt neutral und rechtsstaatlich zu urteilen.20 Auch die Abgrenzung des „präventiven“ Strafrechts vom als „rechtsstaatlich“ bezeichneten Strafrecht (Naucke) nimmt die Bewertung schon bei der Kategorisierung vorweg. Bezüglich der Etikettierung als „klassisches“ und „modernes“ Strafrecht durch Hassemer 21 ist mit Schünemann anzumerken, dass es keine Epoche gab, in der es de lege lata ein rein nicht-präventives Strafrecht gab,22 was auch Hassemer letztlich sieht. Die Verwendung zeitlicher Begriffe kann hier aber zu unzutreffenden Annahmen verleiten. Es ist daher anzuregen, wertneutrale und zeitlich indifferente Begriffe zu verwenden, etwa die Benennung als präventive Strafvorschriften. Zudem erscheint es bezüglich des präventiven Zwecks sinnvoll, exakter zwischen dem allgemeinen Zweck des Strafrechts und dem konkreten Zweck einzelner Strafvorschriften zu differenzieren.23 Über den allgemeinen Zweck streiten die Straftheorien.24 Die sog. relativen Straftheorien schreiben dem Strafrecht gerade einen präventiven Zweck zu. Es soll durch Spezial- und Generalprävention künftige Taten verhindern. Dagegen soll Strafrecht nach den sog. absoluten Straftheorien begangenes Unrecht ausgleichen. Es geht um reaktive Retribution. Auf den ersten Blick verwirrend lehnen aber die meisten Anhänger präventiver Straftheorien, wie etwa Hassemer, das „präventive“ Strafrecht ab, das sie vom „klassischen“ Strafrecht abgrenzen. Zur
schied v.a. im Sanktionszweck (Gierhake Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht, 2013, S. 299 f., 451 ff.; Murmann in: Koriath [Hrsg.], Grundfragen des Strafrechts, 2010, S. 189 ff., bes. S. 191): Die neueren Vorschriften bezweckten, prognostizierten Gefahren künftiger Rechtsverletzungen vorzubeugen, und unterschieden sich deshalb als „präventiv-funktionales“ Recht kategorial vom schuldausgleichenden „konsequent-freiheitlichen“ Strafrecht, das auf begangene Verletzungen reagiere. 20 Greco (Fn. 14), S. 49 ff.; Hörnle GA 2006, 80, 94 f.; Schünemann GA 2001, 205, 211 f.; Saliger JZ 2006, 756, 760 f.; Sinn ZIS 2006, 107, 112 ff. 21 Ähnl. Naucke KritV 1993, 133, 157 f. 22 Schünemann GA 1995, 201, 212. 23 Burghardt in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014, S. 83, 89 f.; ähnl. Pawlik Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 18 ff.; Walther ZStW 111 (1999), 123, 128. Dies wendet sich auch gegen die in Fn. 19 genannte Ansicht. 24 Überbl. bei Hörnle Straftheorien 2011, S. 15 ff., s. dort auch zur Begriffskritik. Vgl. auch Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153 ff.
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Abgrenzung wird darauf verwiesen, dass präventive Strafvorschriften, wie etwa abstrakte Gefährdungsdelikte, anders als klassische Delikte, wie vor allem Verletzungsdelikte, nicht reaktiv seien. Allerdings reagieren beide Deliktsformen auf ein tatbestandliches Verhalten (z.B. auf eine begangene Tötung oder eine erfolgte Trunkenheitsfahrt). Der Unterschied liegt allein in der Art des tatbestandlichen Verhaltens. Die „klassischen“ Delikte haben eine (zumindest unmittelbar drohende) Schädigung zum Inhalt (z.B. die Tötung). Dagegen haben präventive Vorschriften ein Verhalten zum Inhalt, das das Risiko einer Schädigung birgt (z.B. der Verletzung eines Verkehrsteilnehmers durch die Trunkenheitsfahrt).25 Betrachtet man die Art des inkriminierten Verhaltens, lässt sich folgende Definition formulieren:26 Präventive Strafvorschriften sind solche Verhaltensverbote, die nach ihrer Deliktsstruktur entweder einer „schlimmeren“ Anschlussstraftat des Handelnden selbst bzw. eines Dritten oder aber unbeherrschbaren Wagnissen des Handelnden vorbeugen sollen. Freilich gibt es auch Mischformen. So knüpfen die Organisationsdelikte (z.B. § 129a StGB) an die drohenden Anschlusstaten und an die Unbeherrschbarkeit des Zusammenschlusses mit Gleichgesinnten an.
II. Was ist das spezifisch Neue am präventiven Strafrecht? 1. Erklärungsansätze Viele Autoren erklären den präventiven Gesetzestrend mit Becks Überlegung 27, dass sich die heutige Gesellschaft zur „Risikogesellschaft“ entwickelt hat.28 Dieser Ansatz wurde für das Strafrecht zuerst von Prittwitz fruchtbar gemacht.29 Er geht davon aus, dass der technische Fortschritt zu 25 Bäcker FS Schenke, 2011, S. 331, 333; Burghardt (Fn. 23), S. 83, 90; Weißer ZStW 121 (2009), 131, 136. 26 Wie hier Puschke in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 9, 10 ff. Die Definition bezieht sich nur auf materielle Verbotsnormen. Beispiele unten III. 2. 27 Beck Risikogesellschaft, 1986, S. 25 ff. 28 Vgl. etwa P.-A. Albrecht KritV 1988, 182, 184; Baratta FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 393, 402; Frehsee StV 1996, 222, 224; Hassemer NStZ 1989, 553, 557 f.; Herzog Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991; Hilgendorf Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, 1993; Kindhäuser Universitas 1992, 227; Preuß KritV 1989, 2, 8 f.; Sieber ZStW 119 (2007), 1, 3. Zum Folgenden Wohlers (Fn. 5), S. 39 ff. 29 Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993, bes. S. 57 ff. und ders. in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, S. 131 ff. unter Bezug v.a. auch auf Luhmann (Soziologie des Risikos, 1991); krit. Kuhlen GA 1994, 347, 356 ff.; Schünemann GA 1995, 201, 211; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 165 ff. Zu Risiko und Strafrecht bereits zuvor Frisch Vorsatz und Risiko, 1983; ders. Tatbestandsmäßiges Verhal-
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andersartigen Bedrohungen („Großgefahren“) geführt hat.30 Zusammenhänge seien komplexer geworden und Unfälle beträfen nicht mehr nur Einzelne (z.B. ein Super-GAU). Der wissenschaftliche Fortschritt mache diese Bedrohungen aber auch – als Risiken – berechenbar.31 Sie würden dann nicht mehr als „Unglücke“, sondern als „Unrecht“ verarbeitet.32 Wir könnten heute alle möglichen Unglücksverläufe vorhersagen. Es erscheine uns deshalb als Unrecht, erkannte Unglücksverläufe nicht zu vermeiden (z.B. die Ansteckung mit Aids).33 Zudem sei nach sozialpsychologischen Erkenntnissen bei großen Bedrohungen das Bedürfnis nach einem Verantwortlichen besonders stark ausgeprägt.34 Dies begünstige es, hierauf auch mit strafrechtlichen Verboten zu reagieren. Dadurch werde das Strafrecht auf riskante Verhaltensweisen ausgedehnt, deren Sozialwidrigkeit erst durch die Kriminalisierung begründet werde, etwa im Umweltstrafrecht.35 Zudem würden als Folge die Hürden für die individuelle Zurechnung herabgesetzt, z.B. durch abstrakte Gefährdungsdelikte.36 Herzog weist ferner darauf hin, dass die Reformen auch auf eine „Orientierungsunsicherheit“ angesichts der technologischen Umbrüche und der Auflösung traditioneller Werte reagieren, die das Bedürfnis nach allgemeinverbindlichen gesetzgeberischen Vorgaben verstärken.37 Beispielhaft seien die Vorgaben durch das Embryonenschutzgesetz.38 Nach Schünemann beleuchtet die Risikogesellschafts-These v.a. das spezifische Problem der komplexeren Wirkungszusammenhänge in der modernen Industriegesellschaft, die etwa durch kompliziertere Wechselwirkungen (z.B. schadstoffhaltiger Produkte) oder arbeitsteiliges Vorgehen bewirkt würden.39 Heute wird auf dieser Grundlage fast überwiegend angenommen, dass der präventive Trend drei Ursachen hat: neue „Großrisiken“, ein erhöhtes
ten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; Kratzsch Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985; Roxin ZStW 74 (1962), 411 ff.; Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981. 30 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 377 ff.; ebenso Hilgendorf (Fn. 28), S. 26 f. 31 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 56; ähnl. Silva Sanchez Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 17 f. 32 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 378, s.a. 310 ff., 377 ff. 33 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 380, s.a. S. 286 ff. 34 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 381 f. 35 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 174 ff. 36 Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 261 ff. 37 Herzog (Fn. 28), S. 54 ff., bes. 55, 58, 69; ebenso Silva Sanchez (Fn. 31), S. 10 ff.; vgl. auch Vormbaum ZStW 107 (1995), 734, 740 f. 38 Herzog ZStW 105 (1993), 727 ff.; ähnl. Wohlers (Fn. 5), S. 203 ff. 39 Schünemann GA 1995, 201, 211 ff.; ders. GS Meurer, 2002, S. 37, 42 ff.; ders. Unternehmenskriminalität (Fn. 2), S. 30 ff.; s.a. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 165 f.
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Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und die Erwartung, gesellschaftliche Entwicklungen mit Strafrecht steuern zu können.40 2. Nuancierung der bisherigen Erklärungsansätze Bei der Erklärung des präventiven Gesetzestrends mit der „Risikogesellschaft“ ist m.E. ein wesentlicher Gedanke verblasst: Das spezifisch Neue sind nicht so sehr die Bedrohungen, sondern vielmehr die Art, wie wir mit ihnen umgehen.41 So stellt Schünemann zu Recht fest, dass die Lebensrisiken des Einzelnen heute viel geringer sind und dass es industrielle Großrisiken bereits vor 200 Jahren gab.42 M.E. ist der Unterschied zu früher, dass wir heute Bedrohungen aufgrund des wissenschaftlich-technischen Fortschritts prognostizieren und aktiv in ihren Verlauf eingreifen können. Die Bedrohungen sind damit keine Gefahren mehr. Sie werden zu berechenbaren Risiken. Wenn man sich dies vor Augen führt, ist es leichter, das Neue an den Reformen aufzuzeigen. Sie sind auch Ausdruck eines veränderten Umgangs mit Bedrohungen,43 der – am Rande bemerkt – nicht nur im Strafrecht seine Spuren hinterlässt 44. Erstens richten sich die staatlichen Eingriffe nicht mehr gegen Einzelne oder die Gesamtbevölkerung, sondern gegen risikobehaftete Gruppen und Situationen. Das ist Folge der Art, wie Risiken berechnet werden, nämlich nach Wahrscheinlichkeiten in bestimmten Gruppen oder Situationen. Ein Beispiel dafür ist § 81g Abs. 1 Alt. 2 StPO, der es erlaubt, bei der Risikogruppe der Sexualstraftäter den genetischen Fingerabdruck für etwaige künftige Strafverfahren zu speichern. Zweitens zielen die staatlichen Eingriffe nicht mehr nur darauf, dass Menschen Normen verinnerlichen, sondern auch darauf, das Verhalten möglichst früh in bestimmte Bahnen zu lenken. Dies ist Folge davon, dass Risiken gerade berechnet werden, um Abläufe zu kontrollieren. Beispielhaft dafür ist, dass das Embryonenschutzgesetz das Klonen von Menschen bereits Jahre vor dem Klonschaf Dolly untersagte und so steuernd in die biomedizinische Forschung hineinwirkte.45 Drittens 40 Hassemer Produktverantwortung (Fn. 17), S. 21; ders. HRRS 2006, 130, 133 Fn. 61; Hilgendorf (Fn. 28), S. 26 f.; Silva Sanchez (Fn. 31), S. 7 ff.; Schünemann GA 1995, 201, 211; Sieber NStZ 2009, 353. 41 So bereits Prittwitz Strafrecht und Risiko (Fn. 29), S. 56; s.o. II. 1. 42 Schünemann GA 1995, 201, 211; ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 349, 356; ebenso Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 172. 43 So Singelnstein in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014, S. 41, 48 ff.; ders./Stolle Die Sicherheitsgesellschaft, 3. Aufl. 2012, S. 25 ff.; ähnl. Hefendehl in: ders. (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 89, 95 f. 44 Allg. Grimm Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 197 ff.; Heun REWI 2011, 376 ff.; Huster/Rudolph (Hrsg.), Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, 2008. 45 § 6 Abs. 1 ESchG wurde am 13.12.1990 erlassen (BGBl. I, 2746). Dolly wurde 1996 geklont.
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erfolgt diese Lenkung häufig nicht mehr durch unmittelbare staatliche Maßnahmen. Vielmehr wird der Einzelne in die Risikosteuerung einbezogen.46 Ein gutes Beispiel dafür sind Compliance-Maßnahmen. Mit diesen Überlegungen lässt sich auch der spezifische Eingriffszweck präventiver Strafnormen genauer beschreiben, was für ihre Begrenzung relevant ist (s.u. III. 2.). Eingriffszweck ist danach nicht die Vermeidung einer Gefahr, sondern die Steuerung eines Risikos. So geht es etwa bei Vorbereitungsdelikten darum, das Risiko einer Anschlusstat zu vermeiden, oder bei abstrakten Gefährdungsdelikten darum, unbeherrschbaren Wagnissen und den damit verbundenen Risiken vorzubeugen.
III. Wie können Begrenzungskriterien für präventive Strafvorschriften entwickelt werden? 1. Die Trennungsthese und ihre Nebenwirkungen Viele Autoren befürchten, dass präventive Strafvorschriften die rechtsstaatlichen Garantien des übrigen Strafrechts erodieren, und plädieren deshalb dafür, sie vom übrigen Strafrecht zu trennen. So hält Jakobs das „Feindstrafrecht“ zwar etwa im Bereich des Terrorismus für erforderlich.47 Er argwöhnt aber, dass bei der momentanen gemeinsamen Normierung mit dem „Bürgerstrafrecht“ Präventionsaspekte auf Bereiche übergreifen, in denen sie nicht notwendig sind (z.B. wenn die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs im Wege der Auslegung bejaht wird).48 Zwar sehen die Frankfurter, etwa Hassemer und Albrecht, die präventiven Strafnormen kritischer. Soweit sie sie dennoch für erforderlich halten, treten sie dafür ein, sie im Verwaltungsrecht oder de lege ferenda in einem „Interventionsrecht“ zu normieren, um die Rechtsstaatsprinzipien für das übrige „klassische“ „Kernstrafrecht“ zu erhalten.49 Es scheint jedoch geboten, sich besonders aus kritischer Sicht stärker auf die normativen Grenzen präventiver Strafvorschriften zu fokussieren.50
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Dazu Legnaro in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014, S. 19, 21. Jakobs in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47, 51 f.; ders. HRRS 2004, 88, 93; s.a. Text bei Fn. 14. 48 Jakobs ZStW 97 (1985), 751, 764, 784. 49 P.-A. Albrecht KritV 1993, 163, 180; Hassemer Produktverantwortung (Fn. 17), S. 22 f.; ders. ZRP 1993, 378, 383. Dazu Wohlers (Fn. 5), S. 49 ff. Trennungsthesen mit and. Begründung formulieren etwa Gierhake (Fn. 19), S. 451 ff.; Murmann in: Koriath (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, 2010, S. 189, 207 f. sowie Kindhäuser Gefährdung als Straftat, 1989, S. 336 ff., s.a. Fn. 19. 50 Aus affirmativer Sicht entwickelt bspw. Pawlik Begrenzungskriterien (Der Terrorist und sein Recht, 2008, S. 43 ff.). 47
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Selbst Hassemer nimmt heute an, dass die Trennungsthese dazu beigetragen hat, dass spezifische Schranken präventiver Vorschriften selten ins Blickfeld kritischer Autoren geraten.51 So hat Hassemer etwa die Schranken des „Interventionsrechts“ nicht näher erläutert. Auch Schünemann moniert, dass die „prinzipielle Frankfurter Kritik des Risikostrafrechts“ verfehlt sei, „weil dadurch der notwendige Beitrag der Strafrechtswissenschaft zu einer sowohl konstruktiven als auch kritischen Legitimation […] und damit zu einer vernünftigen Gesetzgebung in diesem Bereich blockiert wird.“52 Er macht zudem darauf aufmerksam, dass selbst das Verwaltungsrecht i.d.R. für schwere Übertretungen strafrechtliche Sanktionen vorsieht, eine Aussonderung also ins Leere läuft.53 Schließlich würde eine kritische Auseinandersetzung sichtbar machen, worauf Schünemann schon lange hinweist: Gefährdungsdelikte haben aus rechtsstaatlicher Sicht auch Vorteile, insbesondere gegenüber fahrlässigen Verletzungsdelikten. Denn sie umschreiben das verbotene Verhalten exakter (Bestimmtheitsgebot) und sanktionieren jeden gefährlichen Sorgfaltsverstoß und nicht nur denjenigen, bei dem zufällig ein Schaden eintritt.54 2. Leitlinien zur Entwicklung von Begrenzungskriterien Freilich gibt es dafür schon Überlegungen, an die angeknüpft werden kann. Wenn – wie hier angenommen – präventive Strafvorschriften eine bestimmte Deliktsstruktur aufweisen, sind vor allem diejenigen Ansätze von Interesse, die Begrenzungskriterien für bestimmte Deliktstypen aufstellen.55 Das Folgende muss sich aus Platzgründen damit bescheiden, einige Leitlinien für die Entwicklung von Begrenzungskriterien aufzuzeigen. Viele Autoren sehen auf der Grundlage der Rechtsgutstheorie56 das Hauptproblem präventiver Strafvorschriften darin, dass einige dieser Vorschriften illegitime, nur scheinbare Kollektivrechtsgüter schützen.57 Sie sehen also das wesentliche Begrenzungskriterium darin, ob das jeweilige Schutzgut legitim ist und streiten entsprechend vorrangig darüber, ob und inwiefern Kollektivrechtsgüter strafrechtlich geschützt werden dürfen.58 Ein verbreite51 Hassemer HRRS 2006, 130, 143; ebenso Stratenwerth ZStW 105 (1993), 679, 687. Auch Jakobs entwickelt keine Grenzen des Feindstrafrechts, da er es als außerhalb des Rechts ausgeübten Zwang ansieht, ZStW 117 (2005), 839, 845; ders. HRRS 2004, 88, 93. Trotz Trennungsthese entwickelt bspw. Gierhake Begrenzungskriterien (Fn. 19, S. 338 ff.). 52 Schünemann GA 1995, 201, 211, 213. 53 Schünemann (Fn. 1), S. 18, 22. 54 Schünemann GS Meurer, 2002, S. 37, 56 f. 55 Exemplarisch Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 147 ff., 208 ff.; Wohlers (Fn. 5), S. 281 ff. 56 Überbl. bei Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 2; s.a. Schünemann (Fn. 3), S. 133 ff. 57 Statt vieler Roxin (Fn. 56), § 2 Rn. 46, 69 m.w.N.; ders. FS Hassemer, 2010, S. 573, 579. 58 Überbl. bei Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 59 ff. m.w.N.
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ter – prominent von der personalen Rechtsgutslehre Hassemers vertretener – Ansatz geht davon aus, dass Strafrecht grundsätzlich nur Individualrechtsgüter schützen soll.59 Kollektivrechtsgüter seien nur strafschutzwürdig, soweit sie auf den Individualschutz rückführbar seien. Dieser Ansatz kann zum einen zu einer restriktiven Auslegung führen, z.B. die Begrenzung der Umweltdelikte auf den Schutz des jeweiligen Umweltmediums (Gewässer etc.) als Lebensgrundlage des Menschen.60 Zum anderen werden anhand dessen diejenigen Strafvorschriften identifiziert, die, da sie kein legitimes Rechtsgut schützen, nicht zum „Kernstrafrecht“ gehören und gesondert geregelt werden sollen.61 So plädiert Hassemer deshalb dafür, das Betäubungs- in das Arzneimittelrecht zu verlagern.62 Schünemann ist zwar ebenso der Ansicht, dass Strafvorschriften illegitim seien, die ein scheinbares Kollektivrechtsgut schützten, wie etwa das Schutzgut „Volksgesundheit“ der Betäubungsmitteldelikte.63 Allerdings seien angesichts der notwendigen Aktualisierung des Strafrechts diejenigen Normen zu rechtfertigen, denen es um den Schutz von „Institutionen“ gehe, die „der Gesetzgeber zur Erreichung seiner endgültigen Schutzaufgabe […] zwischengeschaltet hat“ (sog. „Zwischenrechtsgüter“).64 So habe der Gesetzgeber die staatliche „Drogenverkehrshoheit“ eingerichtet, um Jugendliche vor Drogen zu bewahren, und dürfe diese insoweit auch strafrechtlich schützen. Dasselbe gelte etwa für die „Bewirtschaftungshoheit“ der Umwelt, mit denen die Umweltdelikte legitimiert werden könnten.65 Mit Wohlers und Schünemann muss hier allerdings darauf hingewiesen werden, dass darüber hinaus entscheidend ist, ob es legitim ist, den Verbotsadressaten gerade auf diese Art und Weise für ein Risiko verantwortlich zu machen.66 Die Art und Weise der Zurechnung hängt von der jeweiligen Deliktsstruktur ab. Diesbezüglich stellt Schünemann eine griffige Grundregel auf: Je weiter das verbotene Verhalten von der vollendeten Schädigung entfernt ist, desto rechtfertigungsbedürftiger ist die Norm.67 Für dieses
59 Hassemer Strafen (Fn. 18), S. 160, 166 ff.; Nomos Kommentar StGB/Hassemer/Neumann, 4. Aufl. 2013, Vor § 1 Rn. 131 ff., 133, 138. 60 NK/Hassemer/Neumann (Fn. 59), Vor § 1 Rn. 136. 61 Hassemer ZRP 1992, 379, 383. 62 Hassemer Strafen (Fn. 18), S. 229, 247. Vgl. auch Schünemann (Fn. 3), S. 133, 144 ff. 63 Schünemann (Fn. 3), S. 133, 149 f. 64 Schünemann (Fn. 3), S. 133, 152 (Herv.i.O.); ders. JA 1975, 787, 798; ders. GS Meurer, 2002, 37, 45. 65 Schünemann (Fn. 3), S. 133, 154; ders. GS Meurer, 2002, S. 37, 45. 66 Schünemann (Fn. 1), S. 18, 27 f.; von Hirsch/Wohlers in: Hefendehl/dies. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 196 ff.; Wohlers (Fn. 5), S. 281 ff.; s.a. von Hirsch in: Simester/ Smith (Eds.), Harm and Culpability, Oxford repr. 2003, S. 259 ff. 67 Schünemann (Fn. 1), S. 18, 27.
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Unterfangen müssten die präventiven Strafvorschriften in Deliktstypen unterteilt werden und darüber Einigkeit erzielt werden. Neben den weithin anerkannten Typen der Vorbereitungs-68, Organisations-69 und abstrakten Gefährdungsdelikte70 könnten zwei weitere Unterkategorien letzterer ausdifferenziert werden: sog. „Eignungsdelikte“71 (z.B. § 325 StGB), die die konkrete Schädigungseignung der gefährlichen Handlung verlangen und deshalb weniger legitimierungsbedürftig sind, und sog. „Kumulationsdelikte“72 (z.B. § 264 StGB), die Verhalten pönalisieren, das nur schädigend wirkt, wenn es gehäuft auftritt, und die deshalb besonders zu rechtfertigen sind. Bei der Entwicklung konkreter Begrenzungskriterien für bestimmte Deliktstypen scheint es zudem geboten, zwei Problemkreise stärker als bisher zu unterscheiden:73 Die faktische Frage, ob das Risiko existiert, das die Strafvorschrift vermeiden soll, ist von der normativen Frage zu trennen, ob und wie wir jemanden dafür haftbar machen. Bei der Antwort auf die faktische Frage ist zu klären, ob das verbotene Verhalten überhaupt schädigende Auswirkungen haben kann, z.B. bei dem Verbot von Gewaltdarstellungen (§ 131 StGB), ob das Anschauen von Gewalt überhaupt zu Nachahmung anregt.74 Wenn dies nicht der Fall ist, ist das Verbot schon deshalb nicht zu rechtfertigen. Hinsichtlich der Antwort auf die normative Frage ist – aus Platzgründen nur knapp – Folgendes anzumerken.75 Meines Erachtens akzentuieren sowohl das Grundgesetz als auch eine vernunftrechtliche Rechtsphilosophie ihre Antwort anders als die Rechtsgutstheorie und können dadurch das wesentliche Problem treffender anvisieren. Hier weicht der Beitrag zwar 68
Dazu Puschke (Fn. 26), S. 9 ff. Dazu Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 14 Rn. 20 ff.; Vor § 25 Rn. 16. 70 Dazu Roxin (Fn. 56), § 11 Rn. 146 ff. Die konkreten Gefährdungsdelikte sind im präventiven Gesetzestrend weitgehend irrelevant, weil sie eine aktuelle Gefährdung verlangen, die für Kollektivgüter selten ist, Wohlers (Fn. 5), S. 285. 71 Schünemann GS Meurer, 2002, S. 37, 57 f. in der Folge von Hoyer Die Eignungsdelikte, 1987, S. 16 ff., 197 ff.; krit. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 159 ff. Zum „potentiellen“ Gefährdungsdelikt s. Zieschang Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 64 ff., 101; krit. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 161 ff. 72 Grundlegend Kuhlen GA 1986, 389, 399 ff.; s.a. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 183 ff.; Wohlers (Fn. 5), S. 318 ff.; krit. Schünemann (Fn. 3), S. 133, 154. 73 Von Hirsch/Wohlers (Fn. 66), S. 196 ff.; ähnl. Kaspar in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014, S. 61 ff.; s.a. ders. StV 2014, 250 ff. 74 Bsp. bei von Hirsch/Wohlers (Fn. 66), S. 196, 206. 75 Ausf. Brunhöber in: Gutmann/Wittreck/Jakl/Städtler (Hrsg.), Evolution – Entwicklung – Epigenesis des Rechts, ARSP-Beiheft 2014 (im Erscheinen). Vgl. dazu Frisch in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 215, 222 ff.; Haas Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 76 ff.; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter (Fn. 5), S. 37, 104 ff.; Stuckenberg GA 2011, 653, 656; grundlegend Appel Verfassung und Strafe, 1998; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996. S.a. BVerfGE 120, 224. 69
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nicht im Ergebnis, aber in der Begründung von Schünemanns Überlegungen ab, der von einer wesentlichen Identität der genannten Ansätze ausgeht.76 Die Rechtsgutstheorie konzentriert sich darauf, ob das Schutzgut legitim ist, ob bei präventiven Strafvorschriften also ein nur scheinbares Kollektivrechtsgut vorliegt. Dagegen geht es nach der Grundrechtsdogmatik vor allem um eine Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung,77 nämlich um die Frage: Wie viel Freiheit des einen dürfen wir einschränken, um die Freiheit des anderen zu schützen? Mit dieser Frage lässt sich m.E. plausibler aufzeigen, warum präventive Strafvorschriften besonders legitimierungsbedürftig sind. Denn beim Verbotsadressaten liegt ein aktueller Freiheitseingriff vor, der wegen der angedrohten Sanktion und des mit der Bestrafung verbundenen Unwerturteils besonders schwer wiegt. Beim Geschützten ist dagegen nur ein potentieller Freiheitseingriff durch das verbotene Verhalten zu verzeichnen.78 Dieser Freiheitseingriff wiegt weniger als bei einer eingetretenen Verletzung, aber auch weniger als eine unmittelbar drohende, konkrete Verletzungsgefahr. Denn präventiven Strafvorschriften geht es – wie aufgezeigt – nicht darum, eine Gefahr zu vermeiden, sondern um weniger, nämlich darum, ein Risiko zu steuern. Bei der Antwort auf die normative Frage legen diejenigen Rechtsphilosophien einen ähnlichen Schwerpunkt gerade auf die Abwägung, die die Rechtsordnung nicht – wie liberale Ansätze – vorrangig als Freiheitssicherung gegenüber dem Staat verstehen, sondern in kantischer Tradition als die Ordnung, die die gleiche Freiheit aller garantiert,79 also kollidierende Freiheiten gerecht ausgleicht. Der Unterschied im Fokus lässt sich am Verbot des Überlassens eines Kfz an jemanden ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG) verdeutlichen:80 Die Rechtsgutsanhänger diskutieren vorrangig darüber, ob die geschützte Sicherheit des Straßenverkehrs ein legitimes Rechtsgut ist. Dagegen fragen die Grundrechtsdogmatik und eine vernunftrechtliche Rechtsphilosophie, ob die Freiheit des Kfz-Überlassers derart eingeschränkt werden darf, um das bloße Risiko gefährlicher Fahrten anderer zu vermeiden.
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Schünemann (Fn. 3), S. 133, 138 ff., 142 ff.; s.a. ders. FS Herzberg, 2008, S. 39, 47 f. Merten in: ders./Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 68 Rn. 53 ff. m.w.N. Krit. Schünemann in: ders./Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, S. 3, 4 f. 78 In diese Richtung, aber mit and. Begründung Schünemann (Fn. 1), S. 18, 27. 79 Kant Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe Nachdr. 1968, Bd. VI, B, S. 203, 230. Hier wird die Rechtsphilosophie, nicht die Strafzwecktheorie Kants in Bezug genommen. 80 Bsp. bei von Hirsch/Wohlers (Fn. 66), S. 196, 214. 77
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IV. Fazit Die jüngsten Strafrechtsreformen sind kein Trend zur Gefahrenabwehr mit den Mitteln des Strafrechts, sondern ein Trend zur Risikosteuerung durch Strafrecht. Dieser Trend hat zu einer wachsenden Zahl präventiver Strafvorschriften geführt. Die Antwort der Strafrechtswissenschaft sollte nicht dabei stehen bleiben, diese Vorschriften aus dem Strafrecht auszugrenzen. Vielmehr gilt es, Begrenzungskriterien zu entwickeln. Dies kann nicht rein strafrechtsimmanent gelingen. Es bedarf vielmehr der Rückbindung an die Grundrechtsdogmatik. Durch sie wird deutlich, dass es im Kern um die Abwägung von Freiheiten geht und dass präventive Strafvorschriften deshalb höchst legitimierungsbedürftig sind, weil sie auf Seiten des Geschützten nur ein Risiko vermeiden sollen. Mit dieser Überlegung – so ist zu hoffen – können wir auch in der „neuen Sicherheitsarchitektur“81 ein freiheitliches Strafrecht erhalten.
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Die ethische Autonomie des Menschen als wesentliches Rechtsgut 1 Edgardo Alberto Donna I. Die Autonomie als Grundlage des strafrechtlichen Systems Das Wort „Autonomie“ stammt von dem altgriechischen Wort autonomía ab, welches aus einem Adjektiv (autos, „selbst“) und einem Substantiv (nomos, „Gesetz“) hervorgeht. Das Substantiv beschreibt das Handeln der Städte, um sich einer eigenen Gesetzgebung zu unterwerfen. Das Adjektiv beschreibt denjenigen, der die Handlung vornimmt und das Substantiv bezieht sich auf die Fähigkeit des Subjekts, die Handlung vorzunehmen – Eigengesetzlichkeit. Palacios legt aufgrund dieser Unterscheidung dar, dass die häufige Verwendung und die Zweideutigkeit des Ausdrucks dessen Sinn verschwimmen lassen, oder mehr noch, dass sie das ursprüngliche Konzept der Autonomie verbergen, insbesondere wenn dieses ethisch oder auch juristisch betrachtet wird.2 Die Definition der sogenannten Autonomie des Willens findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Kant: „daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“.3 Ich möchte hier auf eine Überlegung des deutschen Autors Hans Welzel – ein großer Rechtsphilosoph, vielleicht mehr noch als ein Strafrechtswissenschaftler – hinsichtlich der Suche nach den Grenzen des Gesetzgebers eingehen. Welzel nahm Bezug auf die Probleme des Positivismus, welche nach seiner Meinung die Machtübernahme der Nationalsozialisten ermöglicht hatten und argumentierte, dass die Lösung nicht in sogenannten logisch-objektiven Strukturen liegen könne, welche den Gesetzgeber nicht binden und somit relativ sind, sondern dass eine andere Form der Einschränkung der Macht des Staates gesucht werden muss. Deshalb stellte er sich die Frage, ob ein materielles Prinzip besteht, das von keiner staatlichen Vorschrift verletzt 1
Allgemein Donna Derecho Penal, Parte General I, Buenos Aires 2003, S. 101. Palacios/Juan Miguel El pensamiento en la acción. Estudios sobre Kant, Madrid 2003, S. 85. 3 Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 434. 2
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werden darf. Im Falle des Zuwiderlaufens wäre eine solche Vorschrift nichtig, d.h. nicht verbindlich. Meines Erachtens führte seine Antwort, die nicht neu war und hinsichtlich welcher der Autor anerkannte, dass er diese aus bestehenden Werken übernommen hat, jedoch dazu, dass das Thema zu diesem Zeitpunkt überdacht wurde. Später geriet das Thema in Vergessenheit, da die Kriminalpolitik im Zentrum der Diskussion stand. Welzel vertrat weiterhin den Standpunkt, dass das Recht einen Schutz und einen zwingenden Wert darstellt, wobei beide Aspekte konzeptuell zu unterscheiden sind: „Als Macht übt es Zwang aus, als Wert verpflichtet es. Das Konzept einer zwingenden Pflicht, das heißt einer Pflicht, die aus einem Zwang hervorgeht, ist eine contradictio in adjecto. Der Zwang bestimmt, aber verpflichtet nicht. Nur ein Wert kann uns verpflichten und in diesem Fall verpflichtet er uns ethisch. Es bestehen rechtliche Pflichten, aber als ethische Pflichten […]. Seine zwingende Macht endet jedoch dort, wo es sich gegen ein Gut richtet, das ethisch unter keinen Umständen beeinträchtigt werden darf. Und dieses Rechtsgut ist die ethische Autonomie des Mitmenschen. Da die Person dank ihrer ethischen Autonomie einen eigenen und von allen anderen Zwecken unabhängigen Wert innehat, ist dieser von allen anderen zu respektieren.“ Das ist der Sinn der Idee von Kant, der bekräftigt, dass „der Mensch nicht als eine Sache behandelt werden kann (sollte), das heißt, dass er als Selbstzweck zu betrachten ist“.4 In diesem Punkt ist die Beschränkung des Rechts strikter, da die Folgen stärker sind. Dort wo die Norm die Person zu einer Sache degradiert, kann sie offensichtlich durch Machtausübung nötigen, aber sie kann nicht zwingend wirken. „Es handelt sich nur um Macht oder Terror, aber keinesfalls um gültiges, zwingendes Recht“.5 Hierbei ist zu beachten, dass diese Vorstellung anscheinend einen Widerspruch zu den Theorien von den Strafzwecken darstellt; und noch einen größeren Widerspruch zu den Strafzwecken auf Grundlage der Kriminalpolitik. Als erste Konsequenz ist hervorzuheben, dass sich jede Vorstellung vom Menschenrecht an dieser ethischen Autonomie und dem Selbstzweck des Menschen zu orientieren hat, die auch nicht durch einen demokratischen Konsens aufgehoben werden kann. Der demokratische Konsens darf eine Person nicht degradieren, weil es sich nicht mehr um gültiges Recht handeln würde.6 Dieses Konzept ist wesentlich für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Diese Idee ist nicht nur ein „sein müssen“, sondern auch eine historische Erfahrung. Zwei klare Beispiele sind der nationalsozialistische Staat und der Staat Stalins, welche diese Werteprüfung niemals hätten be4
Welzel Derecho natural y positivismo jurídico in: Más allá del Derecho natural y del positivismo jurídico, Übers. v. Ernesto Garzón Valdés, Córdoba 1962, S. 41 f. 5 Welzel (Fn. 4), S. 43. 6 Über das Thema des Konsenses von Habermas auch Pere Fabra Habermas, Lenguaje, razón y verdad, Madrid, Barcelona, Buenos Aires, 2008.
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stehen können.7 In beiden Fällen wurde dieses Prinzip mit der Begründung abgelehnt, dass es bürgerlich sei.8 Hier wird für das Recht das Konzept der Person wichtig und diesen Aspekt gilt es zu untersuchen, um zur Idee des Rechtsgutes zu gelangen. Zaczyk meint zu Recht, dass es Jakobs war, der das Problem des Konzepts der Person erkannte, als dieser den Positivismus aufgab.9 Tatsächlich war es Jakobs, der auf dieses Problem hinwies und den politischen Positivismus, der in unserem heutigen Strafrecht herrscht, in seinem Werk Norm, Person, Gesellschaft aufgab, indem er bekannte, dass der Mensch den Ausgangspunkt seiner Überlegungen darstellt. Zaczyk bekräftigt, dass er in Wirklichkeit nicht von einem Subjekt, sondern von einem Individuum spricht. Die Aussage von Jakobs ist sehr wichtig: „Denken wir an einen Menschen der isoliert lebt und keine Kenntnis von anderen Menschen oder nicht einmal von solchen Tieren hat, die zumindest teilweise wie Menschen leben. Für diesen Menschen ist die Verarbeitung seiner Empfindungen entscheidend für die Interpretation seines Verhaltens“.10 Das ist die Grundlage, das heißt der Mensch ist aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten mit den entwickelten Tieren gleichgesetzt.11 Dieses Individuum hat Kontakt zu anderen Individuen, die ihm gleich sind, wobei jedoch noch keine Gesellschaft entsteht. Das Problem besteht darin – ähnlich wie bei Hobbes –, dass sich ihr Verlangen und ihre Abneigungen gegenüberstehen. Wenn sich die Anzahl der Individuen erhöht, erhöht sich „auf ideal-typische Weise gleichzeitig die Unsicherheit, was heißt, dass sich die Individuen ohne festes Ziel treiben lassen“.12 Mit dem Ziel des Überlebens bestimmen diese Individuen eine Macht, die analog zum natürlichen Verständnis des Individuums ist. In diesem Punkt begegnen wir dem Prinzip des Entstehens einer Gesellschaft. Zaczyk führt aus, dass „diese Sichtweise von Jakobs dazu führt, dass ein Grundprinzip verlorengeht, welches die
7 Interessant ist die folgende Aussage von Ratzinger in der Diskussion mit Habermas: „Das letzte vom Naturrecht übriggebliebene Element (welches im Grunde ein rationales Recht sein wollte, zumindest in der Moderne) sind die Menschenrechte, die nicht verständlich sind, wenn man nicht vorher akzeptiert, dass der Mensch selbst, lediglich aufgrund seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies ein Rechtssubjekt ist, wobei seine Existenz der Träger von Werten und Normen ist, die entdeckt, aber nicht erfunden werden müssen“, Habermas/Ratzinger Entre razón y religión, Dialéctica de la secularización, Mexiko 2008, S. 48, da dem Autor dieses Beitrags der Originaltext auf Deutsch nicht zur Verfügung stand, wurde der Text auf Spanisch verwendet und in die deutsche Sprache übersetzt. 8 Donna Derecho Penal, Parte General II, Buenos Aires 2003, S. 44; Overy Dictadores, La Alemanía de Hitler y la Unión Sovietica de Stalin, Buenos Aires 2012, insb. S. 323 und 363 ff. 9 Zaczyk El sujeto de la imputación objetiva y la teoría de Günther Jakobs in: Libertad, derecho y fundamentación de la pena, Kolumbien 2010, S. 217. 10 Zaczyk (Fn. 9), S. 217. 11 Zaczyk (Fn. 9), S. 217. 12 Zaczyk (Fn. 9), S. 217.
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praktische Philosophie und die Rechtsphilosophie von Kant bis Hegel bestimmt hat: Das Prinzip der Freiheit des Individuums“.13 In gewisser Weise können wir mit Jakobs übereinstimmen, wie wir es früher mit Hobbes getan haben. Aber es besteht ein auffälliger Unterschied zur Meinung von Jakobs. Hierbei können wir auf Kant zurückgreifen, für den das Subjekt die Ursache seiner Handlungen ist und welches neben einer Macht zur Erlangung von Zielen auch die Macht zur Reflexion hat. „Das Rechtssubjekt führt also nicht nur Handlungen in einem beschreibendursprünglichem Sinn aus, sondern es ist in der Lage, für sich und für andere den Zweck dieser Handlungen gültig zu bestimmen. Da das Rechtssubjekt einigen Handlungen eine rationelle Grundlage beimisst, ist es selbst normativ. Auf diese Art und Weise wird dem anderen Subjekt, welches den Vorwurf erhebt, gleichzeitig eine Grundlage und ein Objekt des Vorwurfs erteilt, auf welchen nicht verzichtet werden kann. Dem Rechtssubjekt kann nichts als sein Werk vorgeworfen werden, an dem er nicht als Täter beteiligt war. Außerdem ist das Subjekt, welches den Vorwurf erhebt, nichts Fremdes für das Rechtssubjekt. Sicherlich steht das Rechtssubjekt, welches den Vorwurf erhebt, über dem anderen, aber es unterscheidet sich nicht vollkommen von diesem. Die erhobenen Vorwürfe sind zwar nicht mit den Überlegungen identisch, welche das Rechtssubjekt für sich selbst anstellt, aber sie sind doch derart konfiguriert, dass das Rechtssubjekt diese begreifen kann und diese als mögliche eigene und gleichzeitig als allgemein juristische Vorwürfe anerkennt“.14 Aus diesem Grund hat das Recht notwendigerweise das wertende Kriterium vom Menschen als verantwortliches Wesen anzuerkennen. Dieses Thema ist wichtig für die Schuldfrage und es ist unzweifelhaft, dass dieses Kriterium normativ ist, da es von der Vernunft beeinflusst wird. In diesem Sinne empfiehlt es sich, den Ausdruck „ontologisch“ außen vor zu lassen, da dieser dem Strafrecht lediglich Probleme gebracht hat und die Normativierung aufgrund der genannten Kriterien offensichtlich ist. Folglich ist die Vorstellung des autonomen Menschen ein materielles Prinzip der Gerechtigkeit mit einer Gültigkeit a priori.15 Anders ausgedrückt: Nach dem Gesellschaftsvertrag – real oder ideal – erscheint das Individuum als autonome Person mit Rechten und Pflichten, deren Freiheit alle Bereiche der Theorien von der Vorwerfbarkeit bestimmt, von der Tatbestandsmäßigkeit bis zur Schuld und der Grundlage der Strafe. Folglich hat das Recht, falls es nicht lediglich als Machtinstrument oder als Terror gelten möchte und die Bürger vor ihrem Gewissen verantworten möchte, die Person als freies Subjekt anzuerkennen und auf
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Zaczyk (Fn. 9), S. 217. Zaczyk (Fn. 9), S. 217. Zaczyk (Fn. 9), S. 217.
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dieser Erkenntnis das Recht aufzubauen. In diesem Sinne ist das Recht nach dem Gesellschaftsvertrag aufgrund seines Positivismus zwingend anwendbar, wobei seine Hauptaufgabe darin besteht, einen Zustand bellum omnium contra omnes und damit Bürgerkriege zu verhindern. Ab diesem Moment befinden sich die Sicherheit und das Recht, Zwang auszuüben, beim Staat, wobei die Rache außerhalb der Rechtsordnung steht. Dennoch tritt der Zwang zur Respektierung der Menschenwürde, die eigentlich a priori gültig ist, im Fall einer schweren Verletzung des materiellen Prinzips des Rechts aufgrund des begangenen Unrechts zurück.16
II. Die Autonomie als eigentliches „geschütztes Rechtsgut“ und die Straftat Ich möchte von einer Überlegung von Albrecht ausgehen, der anmerkt: „Eindringlich formuliert wird die Idee der Freiheit in der Kantschen Philosophie. Darin wird die Freiheit – und nur diese – als eigentlicher Grund des menschlichen Daseins dargestellt. Neben ihr gibt es keine Zwecke, die allgemein und in jeder Hinsicht unbestritten gelten können. Kant stellt die These auf, dass der Mensch ein Zweck an sich sei. Freiheit des Willens zeigt sich bei Kant darin, dass Menschen in der Lage sind, ihre Emotionen zu beherrschen, dass sie unbequeme Entscheidungen treffen können. Bei Kant wird deutlich, dass mit der Freiheit auch Anstrengung verbunden ist. Von der Freiheit gilt es jeden Tag aufs Neue Gebrauch zu machen, wer sich Bequemlichkeiten überlässt, handelt mit dem, was Kant praktische Vernunft nennt, nicht in Einklang. Die Freiheit ist ein unbequemer Zustand: Probleme, die es zu lösen gilt, haben Menschen zu lösen – miteinander. Die Lösung des Problems lässt sich nicht einfach abtreten. Von der Gedankenfreiheit auch praktischen Gebrauch zu machen, ist eine Anforderung, um die man nicht herumkommt, will man sich die Würde als Mensch bewahren. Zugleich gilt: niemand – kein Staat, kein System – hat das Recht, dort, wo der Gebrauch der Freiheit gemeinsam ausgeübt wird und niemandem schadet, Grenzen zu setzen oder ihn gar gewaltsam zu unterdrücken: Freiheit (ist) Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür.“ 17 Die Straftat ist also die subjektive und objektive Handlung, welche die besondere oder allgemeine Gültigkeit des Rechts derart verletzt, dass die Unabhängigkeit der betroffenen Person oder der Gesellschaft beeinträchtigt wird. Diese durch die Straftat verletzte Unabhängigkeit, oder besser gesagt: Autonomie, ist das grundsätzlich geschützte Rechtsgut und alle weiteren Rechtsgüter hängen von diesem ab. Das ist die Definition einer Straftat und 16 17
Zaczyk (Fn. 9), S. 217. P.-A. Albrecht Revista de derecho penal 2013, 13.
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nicht diejenige, welche der Gesetzgeber aus politisch-positivistischen Gründen vorgibt. Auf dieser Grundlage wird klar, dass es sich bei der Idee von der Straftat um den Aspekt der Beschränkung oder Unterdrückung der Autonomie des Subjekts handelt, sei es direkt oder indirekt. Die Straftat ergibt sich also aus der Verletzung des besonderen und allgemeinen gültigen Rechts, sei es durch die Verletzung der Freiheit des Betroffenen, seine Lebensführung autonom zu bestimmen, oder die Verletzung der Voraussetzungen gesellschaftlicher Freiheit. Mit den Worten von Köhler lässt sich sagen, dass „die Straftat notwendigerweise Unrecht ist, dass sie eine Verletzung der objektiven äußeren Freiheit“ darstellt.18 Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass das Recht vom Unterschied zwischen der juristischen Form der rechtlichen Freiheit und den Maximen des materiellen Gehalts bestimmt wird. Das Recht beeinflusst das menschliche Handeln auf gleiche Weise wie die Ethik und die Moral. Da das menschliche Handeln in diesen Fällen jedoch frei ist, müssen natürliche Prozesse wie die Biologie oder die Technik ausgegrenzt werden, da deren Grundlage in der natürlichen Kausalität besteht. Im Gegensatz dazu verlangen oder verbieten die rechtlichen Normen bestimmte Handlungsweisen und verfolgen die Absicht, die Rechtssubjekte, an welche sie sich richten, derart zu motivieren, dass ihre Handlungen das Ergebnis des eigenen Willens sind.19 Das Konzept der Autonomie ist ohne Zweifel mit der Legitimation der Strafe verbunden. Die Verletzung oder der Verlust eines Rechts des rationalen Subjekts, welche durch das auf der Autonomie eines anderen Subjekts beruhende Unrecht hervorgerufen werden, begründen den Unterschied zu den Maßregeln der Sicherung und Besserung. Das gilt sowohl für die Begründung als auch für die Beschränkungen eines jeden Vorwurfs, der zur Verhängung einer Strafe führt.20 Folglich lässt sich feststellen, dass „der Ausgangspunkt der Überlegungen zu den Zwecken des Strafrechts mit dem Konzept der Schäden an Personen verbunden ist, ein Konzept das fehlerhafte mechanische Vorstellungen ablehnt und eine transzendentale und zeitlose Bedeutung für das Vertrauen in die Unantastbarkeit der Erwartungen hat, welche eine herausragende Rolle für die Begründung der Selbstverwirklichung des Individuums spielen. Die schutzwürdigen Rechtsgüter sind also (auf epistemologischer Grundlage) diejenigen, welche es den Personen erlauben, ihre Fähigkeiten der Wahrnehmung und Verständigung zu entwickeln, das heißt Autonomie zu schaffen“.21 18
Köhler Cuadernos Civitas 2000, 74. Zippelius Juristische Methodenlehre, 7. Aufl. 1999, S. 2. 20 Köhler Die bewusste Fahrlässigkeit, 1982, S. 134. 21 Kargl in: Romeo Casabona/Carlos María (Ed.), La insostenible situación del Derecho Penal, Estudios de Derecho Penal, Granada 2000, S. 57. 19
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Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um den Bereich des Strafrechts. Andere Rechtsgüter bedürfen nicht des Schutzes durch eine Strafe, da für diese andere Bereiche des Rechts zuständig sind. Hassemer führt aus, dass „das Strafrecht die Funktion hat, die Bedingungen des Gesellschaftsvertrages zu stabilisieren, wobei das Recht straft und folglich versucht, Verletzungen der Freiheit zu vermeiden“.22 Hieraus lässt sich ableiten: 1. Lediglich die Verletzung von Freiheiten, die durch den Gesellschaftsvertrag garantiert sind, können mit einem grundlegendem Kriterium als Straftaten bezeichnet werden: „Das Konzept des Rechtsgutes verwandelt sich so systematisch in ein negatives Kriterium, welches die unrechtmäßige Kriminalisierung verhindert. Wo keine Verletzung eines Rechtsgutes vorliegt, darf keine Straftat vorliegen“.23 2. Die im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Beschränkungen der Freiheit sind absolut überzeugend festzulegen.24 Es ist klar, dass im Bereich der Autonomie des Willens als grundlegendes Rechtsgut hierbei eine unmittelbare Verbindung zum Legalitätsprinzip und der Schaffung von Tatbeständen, welche die Handlungen klar beschreiben, vorliegt. 3. Der Staat ist eine Institution, die sich aus den Rechten der Bürger ableitet und seine Legitimation vom Volk erhält, wobei in diesem Punkt die Grenzen der staatlichen Macht liegen. Es gibt keinen Platz für eine autonome oder usurpatorische Macht. Hassemer führt dazu aus: „Genau aus diesem Grund ist die staatliche Macht dort entschlossen zu beschränken, wo sie am klarsten zum Tragen kommt, das heißt im Strafrecht, welches vom Standpunkt der individuellen Rechte aus als ein entschlossener und begründeter Schutz zu wirken hat. Hieraus ergeben sich auch die strafrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, sowie die Rechte auf rechtliches Gehör, Verteidigung und das Recht nicht gegen sich selbst auszusagen“.25 Folglich ist das Strafrecht, auch wenn es ein Mittel der Repression ist (es gibt kein Strafrecht, das die Täter belohnt), gleichzeitig ein Instrument zur Sicherung der Freiheit und damit ein unverzichtbares Instrument zur Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Beim Strafrecht handelt es sich um eine ultima ratio, die zur Anwendung kommt, wenn alle anderen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen wie Familie, Schule, Universität, Arbeitsplatz, Religion usw. scheitern.26
22 Hassemer Persona, mundo y responsabilidad: bases para una teoría de la imputación en Derecho Penal, Valencia 1999, S. 44 f. 23 Hassemer (Fn. 22), S. 45. 24 Hassemer (Fn. 22), S. 45. 25 Hassemer (Fn. 22), S. 45 f. 26 Hassemer (Fn. 22), S. 46.
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Es ist klar, dass dieses System im Gegensatz zum sogenannten Risikostrafrecht steht, welches heutzutage in aller Munde ist und welches im Rahmen der Theorien von der Prävention und in der Kriminalpolitik als Allheilmittel zur Lösung der modernen Probleme betrachtet wird. In diesem Zusammenhang ist Bezug auf Naucke zu nehmen, der auf die Auflösung des Strafrechts durch die Kriminalpolitik hingewiesen hat, welche die Kriminalisierung in Bereichen wie Umwelt oder Wirtschaft eingeführt hat:27 „Die aktuelle Gesetzgebung verfährt nach folgendem Prinzip: Juristische Form + Notwendigkeit einer wirksamen Strafe = Strafrecht. Das Strafrecht weitet sich über den Bereich der schlimmsten vorsätzlichen Verletzungen anderer Bürger hinaus aus, ohne die Kritiken eines juristischen Konzeptes und normative Beschränkungen zu beachten“.28 In diesem Zusammenhang ist auf die Meinung von Kargl hinzuweisen, der entgegen der Ansicht, dass Rechtsgüter aufgrund des Konzeptes der Sozialschädlichkeit geschützt werden (in diesem Fall das Leben), ausführt, dass die Personen außen vor gelassen werden. Kargl führt aus: „Trotzdem ist es nicht der Standpunkt, der hier verteidigt wird, da ich davon ausgehe, dass das Interesse am Leben aus den Bedingungen der kognitiven Entwicklung jedes konkreten Individuums hervorgeht. Nach dieser Vorstellung bleibt die Tötung von A für diesen nachteilig, auch wenn niemand von der Tat erfährt. Dieser Schluss folgt aus dem Interesse von A an seinem Leben, denn ohne seine Existenz hätte er keinen individuellen Lebensplan entwickeln können. Folglich bezieht sich der Wert des Lebens nicht auf die Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Systems, sondern auf den Endzweck der individuellen Entwicklung. Auf dieser strikt moralischen Grundlage fußt jede Bestimmung der Werte, welche zu respektieren sind und welche unverzichtbar sind, um eine menschliche Autonomie zu entwickeln“.29 Auf diese Weise kommen wir zum grundlegenden Aspekt des strafrechtlichen Problems: Die Zurechnung der Freiheit, die nicht nur die Handlung bestimmt, sondern auch die Rechtswidrigkeit und die Schuld. Sollte das Problem der Zurechnung nicht anhand der vorher genannten Parameter gelöst werden, ist es nicht möglich, das strafrechtliche Thema zu begreifen. Aus diesem Grunde ist klarzustellen, dass das Wesen des Strafrechts, das man 27 Herzog in: Arroyo Zapatero/Neumann/Martín Nieto (Ed.), Crítica y justificación del Derecho Penal en el cambio del siglo, Cuenca 2003, S. 249; Donna ¿Es posible un Derecho Penal liberal?, ebd.; Saliger JZ 2006, 756 ff. 28 Naucke in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 2000, § 7 Rn. 65; Herzog (Fn. 27), S. 249; Sánchez La expansión del Derecho Penal, Madrid 1999; Saliger JZ 2006, 756 ff.; Prittwitz in: ders./Pilgram (Hrsg.), Kriminologie, Akteurin und Kritikerin gesellschaftlicher Entwicklung, 2005, S. 215 ff.; Crespo Revista de Derecho Penal, Nr. 2005-1, Autoría y participación, Buenos Aires, S. 505 ff.; ders. Prevención general e individualización de la pena, Salamanca 1999; Pastor El poder penal internacional, Barcelona 2006, insb. S. 67. 29 Kargl (Fn. 21), S. 54 f.
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erklären möchte und das, was noch schwerer wiegt, angewendet wird, davon abhängt, wie die Zurechnung stattfindet. Kurz gesagt: Die Art der Zurechnung der Handlung oder der Folgen bestimmt die verschiedenen Modelle des Strafrechts. Wie unten aufgezeigt wird, handelt es sich um einen Aspekt des Konzeptes der Strafe und das Problem ihrer Zwecke. Mit der Auffassung Kargls lässt sich also feststellen, dass „unter dieser Annahme der Schutz von Rechtsgütern durch den Schutz des Rechts Sinn macht und die Argumentationsweise der Philosophie der Aufklärung wieder aufgenommen werden sollte, welche die Straftat materiell als Verletzung eines subjektiven Rechts definiert hat“.30
III. Überlegungen zu den Rechtsgütern Aufgrund der vorherigen Ausführungen lässt sich bestimmen, wie ein freiheitliches Strafrecht aussehen müsste und welche konkreten Auswirkungen dieses auf das Strafgesetz haben sollte. Das Strafrecht sollte nur dann einschreiten, wenn die Lebensplanung der Individuen aus individueller oder gesellschaftlicher Sicht gegen deren Willen zerstört oder gestört wird. 1. Ausgehend vom Prinzip der Autonomie, dessen Umrisse vorher bestimmt wurden und das als zentrales Rechtsgut gilt, welches durch das Strafrecht geschützt wird, lassen sich nun die Rechtsgüter bestimmen, die es erlauben, das Prinzip der Autonomie des Willens näher zu bestimmen. Das erste und umfangreichste Rechtsgut ist die „Freiheit alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet“, welches in den Artikeln 4 und 5 der Erklärung der Menschenrechte und Bürgerrechte und ohne Zweifel auch in Artikel 19 der argentinischen Verfassung normiert ist.31 Außerdem sind die verschiedenen internationalen Übereinkommen über die Menschenrechte zu beachten.32 Aus diesem Prinzip lassen sich ohne Schwierigkeiten weitere Rechtsgüter ableiten, etwa das Rechtsgut der körperlichen und geistigen Unversehrtheit. Nino führt aus: „Die Abwesenheit von Schmerzen und geistigen Leiden und Störungen, das normale Funktionieren der Organe und Gliedmaßen, das Fehlen von Entstellungen, das heißt allgemein körperlich und geistig gesund zu sein, stellt eine Bedingung dar, welche die Fähigkeit zur Wahl und Durchführung der Lebensplanung erheblich stärkt“33. Aus diesen Ausführungen ist
30
Kargl (Fn. 21), S. 59. Nino Ética y derechos humanos. Un ensayo de fundamentación, 2. Aufl., Buenos Aires 1989, S. 223. 32 Siehe die internationalen Übereinkommen und die zitierten Artikel. 33 Nino (Fn. 31), S. 224. 31
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abzuleiten, dass es Rechtsgüter wie das Leben, die körperliche und geistige Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung gibt, die vom Strafrecht zu schützen sind. Diese Rechtsgüter bestimmen das Wesen der Person, welches ohne das Leben, die körperliche und geistige Unversehrtheit und die Möglichkeit der Wahl der sexuellen Orientierung nicht vorstellbar ist. 2. Weiterhin ist die Realisierung der Freiheit zu schützen, was bedeutet, dass das Individuum gegen äußere Einflüsse geschützt werden muss, welche willkürlich auf dieses einwirken. Die Freizügigkeit, die Wahl, und die Möglichkeit der Auswahl, mit wem die Person sexuelle Beziehungen hat bzw. ob sie diese Beziehungen wünscht, sind grundlegend für die Autonomie des Willens.34 Hierbei sind die Kapitel der Straftaten gegen die Freiheit und gegen die sexuelle Selbstbestimmung des argentinischen Strafgesetzbuches als Schutz der Autonomie des Willens zu nennen. Dieser Schutz sollte flexibel sein, das heißt er sollte auf die verschiedenen Arten der Einwirkungen auf die Freiheit reagieren können, wie zum Beispiel auf den Eingriff in die Privatsphäre, den Eingriff in das Fernmeldegeheimnis usw. Dieser letztere Eingriff wurde vom argentinischen Gesetzgeber nicht berücksichtigt, da ihm die Orientierung bei der Schaffung von Tatbeständen fehlt. 3. Zu diesen Freiheiten kommt die Möglichkeit der Wahrheitssuche in Wissenschaft und Philosophie. Wie Nino ausführt wird hierzu „eine umfassende Freiheit benötigt, um seine Meinungen und Ideen, religiöse, wissenschaftliche, künstlerische und politische Ansichten zu äußern“.35 Auf diesem Gebiet ist das argentinische Strafgesetz weder theoretisch noch praktisch effizient. Dieser Aspekt ist überaus wichtig, da in einer komplexen Welt die Ansichten von Personen akzeptiert werden müssen. Folgerichtig führt Habermas aus, dass „die Neutralität der Staatsgewalt, welche die gleichen ethischen Freiheiten für alle Bürger garantiert, unvereinbar mit einer politischen Generalisierung einer Vision von einer laizistischen Welt ist. Die säkularen Bürger, die als Staatsbürger handeln, dürfen den religiösen Auffassungen nicht allgemein ihren möglichen Wahrheitsgehalt absprechen und dürfen den gläubigen Mitbürgern nicht das Recht verweigern, in religiöser Sprache gehaltene Auffassungen in die politische Diskussion einzubringen“.36 4. Das Prinzip der Autonomie verlangt die Möglichkeit der Gründung einer Familie, einer kulturellen Entwicklung und eines umfassenden Privatlebens.37 5. Außerdem wird verlangt, dass sich Individuen frei vereinigen können. Die Beschränkung der Vereinigungsfreiheit verstößt gegen die Autonomie des Willens. 34 35 36 37
Nino (Fn. 31), S. 224. Nino (Fn. 31), S. 225. Habermas/Ratzinger (Fn. 7), S. 32 f. Nino (Fn. 31), S. 225.
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6. Die Autonomie des Willens verlangt auch die Möglichkeit, zu arbeiten und mit den Einkünften Eigentum zu erwerben. Dazu führt Nino aus: „In jedem wirtschaftlichen System verlangen die Produktionsvorgänge die Kontrolle über bestimmte Rohstoffe, sowohl beim Zugang, als auch bei der Verwertung der Rohstoffe. Zur Produktion wird neben anderen Faktoren auch Arbeit benötigt. Diese Arbeit stellt einerseits einen wichtigen Aspekt der Selbstverwirklichung dar und ist andererseits ein Faktor, welcher die Selbstverwirklichung aufgrund ihres Zeit- und Energieaufwands beschränkt.“. Weiterhin führt er aus, dass „das Prinzip der Autonomie die Verwirklichung von bedeutenden Arbeiten, aber auch die Gewährung von Erholungszeiten zur Selbstverwirklichung verlangt“.38 Hieraus leitet sich nicht nur der Schutz der Rechtsgüter von natürlichen Personen ab, sondern auch der Schutz der Rechtsgüter von Banken und Unternehmen, welche mit ihrem Gewinnstreben darauf abzielen, die Wirtschaftssysteme der Nationen zu zerstören.39 7. Die Möglichkeit zur Realisierung der Autonomie des Willens verlangt nach der Idee vom Gesellschaftsvertrag sowohl den Schutz von gemeinschaftlichen Gütern als auch ein rationales Handeln seitens des Staates, dessen Organe „im Dienst der Autonomie“ stehen müssen und nicht gegen diese. Zur Wichtigkeit der öffentlichen und gemeinschaftlichen Güter: In diesem Zusammenhang führt Nino aus, dass diese Güter sich nicht durch den Gebrauch durch einzelne Personen erschöpfen und diese nicht an einzelne relevante Gesellschaftsgruppen übertragen werden können, sondern dass andere diese nutzen, auch wenn sie nicht für die Dienstleistung zahlen.40 Dies gilt nach unserem Verständnis für die Tätigkeit der Polizei, der Müllabfuhr usw. Auch wenn hierfür nicht gezahlt wird, erbringt der Staat diese Dienste. Darüber hinaus existieren weitere Rechtsgüter, die noch wichtiger sind: „Zu diesen Rechtsgütern gehören natürlich die grundlegenden politischen Institutionen, die praktisch ein Monopol zur Anwendung von Gewalt haben und die Verteidigung gegen Angriffe von außen beinhalten, wie auch religiöse Praktiken und Organisationen und sogar derart fundamentale soziale Aspekte wie die Sprache“.41 8. Hinzu kommt die öffentliche Verwaltung mit ihrer gesamten Verwaltungsstruktur. Das Strafgesetz hat sich um diese Rechtsgüter zu kümmern. Hierbei handelt es sich um folgende Straftaten, die in den Titeln VII, VIII, IX, X und XI des argentinischen Strafgesetzbuches geregelt sind: Straftaten gegen die öffentliche Sicherheit, gegen die öffentliche Ordnung, gegen die
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Nino (Fn. 31), S. 226. Siehe das Buch von Naucke und den Kommentar von Albrecht in: Revista de Derecho Penal 2013-1 (in Druckvorbereitung). 40 Nino (Fn. 31), S. 226. 41 Nino (Fn. 31), S. 226. 39
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Sicherheit der Nation, gegen die Staatsgewalt und die verfassungsmäßige Ordnung und gegen die öffentliche Verwaltung.42 9. Weiterhin kann man im Rahmen des öffentlichen und privaten Rechtsverkehrs von einem Recht auf die Wahrheit von Urkunden sprechen, die mit der Autonomie des Willens und ihrer Ausdrucksweise verbunden sind. Der Titel XII des argentinischen Strafgesetzbuches behandelt das Thema der Urkundenfälschung.43 Ein einziges Beispiel dient dazu aufzuzeigen, wie eine Urkundenfälschung die Autonomie des Willens beeinflussen kann. Die Fälschung einer Geburtsurkunde verleiht dem Kind eine andere familiäre Situation, das heißt das Kind wird aus seiner Welt gerissen und in eine andere Welt katapultiert, zu der es nicht gehört. Diese Urkundenfälschung entzieht dem Kind auf eine gewisse Art und Weise seine Identität. Es ist klar, dass es noch weitere Rechtsgüter gibt, die mit der Autonomie des Willens verbunden sind und welche vielleicht nicht alle geschützt sind, wie zum Beispiel die Intimität der Personen in allen ihren Aspekten. Aus diesem Grund sollte die Gesetzgebung flexibel sein und sich der Entwicklung der Idee von der Autonomie anpassen. Hierzu bedarf es einer genauen Beobachtung der Entwicklung der Autonomie des Willens, welche teilweise unmittelbar an die technische Entwicklung gebunden ist. Auch wenn diese technischen Entwicklungen den Personen neue Perspektiven eröffnen, besteht ein großes Risiko für die Personen, wenn diese technischen Entwicklungen vom Staat, von Unternehmen oder auch von anderen Personen benutzt werden. Die Person kann ausspioniert, kontrolliert, manipuliert werden usw. Auf dieses Thema wurde bereits eindringlich hingewiesen, insbesondere im Bereich der Philosophie.44
42 43 44
Siehe Donna (Fn. 1), II-B, II-C y III. Donna (Fn. 1), IV. Heidegger Die Technik und die Kehre, 4. Aufl. 1978.
Die Würde im doppelten Strafstaat Markus D. Dubber * Well, Dora, I’ve had one motto which I’ve always lived by: “Dignity. Always dignity.” Don Lockwood †
I. Einleitung Der Würdebegriff spielt im deutschen Strafrecht eine zentrale Rolle. Im US-amerikanischen Strafrecht ist das anders. Im Gegensatz zu Don Lockwoods (alias Gene Kelly) Motto am Beginn des Film-Musicals Singin’ in the Rain, hat man im US-Strafrecht bislang eher nach dem Motto „Dignity. Never dignity.“ agiert. Grob gesagt, spielt der Begriff der Würde weder im materiellen Strafrecht noch im Strafprozessrecht oder im Strafvollzugsrecht der USA eine nennenswerte Rolle. Die Würde wird im US-amerikanischen materiellen Strafrecht nicht als schützenswertes Rechtsgut betrachtet; keine Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortung werden aus ihr abgeleitet.1 Die in der Bill of Rights garantierten Prozessrechte werden nicht an dem Kriterium der Würde gemessen, sondern eher am Begriff der Privatsphäre.2 Auch das oft als eine Art auf Strafgefangene zugeschnittene und (daher?) verwässerte Form des Strafprozessrechts betrachtete Strafvollzugsrecht kümmert sich kaum um den „Schutz von Würde“.3 * Dieser Beitrag ist Professor Bernd Schünemann in Anerkennung seiner wertvollen und wegweisenden Beiträge sowohl zur Entwicklung der Strafrechtsvergleichung im Allgemeinen als auch der vergleichenden Analyse des deutschen und US-amerikanischen Strafrechts im Besonderen gewidmet. Der Verf. bedankt sich recht herzlich bei Andreas Dürr für seine großzügige Unterstützung bei der Erstellung der deutschen Fassung dieses Beitrags. † Singin’ in the Rain (MGM 1952). 1 Zum US-amerikanischen Strafrecht, insbes. im Vergleich zum deutschen Strafrecht, s. allgemein Dubber/Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach, Oxford 2014. 2 Der Begriff der Privatsphäre wird traditionell eng interpretiert – vor allem im Sinne von „privacy of the home”, s. etwa Stanley v. Georgia, 394 US 557 (1969). Siehe allerdings die Anerkennung einer Verbindung zwischen Privatsphäre und Würde im Sinne von persönlicher Autonomie in Lawrence v. Texas, 539 US 558, 562 (2003). 3 S. aber Singer Buffalo Law Review 21 (1972), 669; Gutterman Bringham Young University Law Review 1992 (1992), 857.
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Wie sich am US-amerikanischen Strafprozessrecht zeigt, lässt sich vom Desinteresse am Würdebegriff nicht auf ein mangelndes Interesse an verfassungsrechtlichen Grundlagen schließen. Das US-amerikanische Strafprozessrecht ist schließlich hauptsächlich angewandtes Verfassungsrecht, und trotzdem spielt dort der Schutz der menschlichen Würde keine bedeutende Rolle. Der Begriff selbst findet sich nirgendwo in der US-Verfassung. Obwohl diese Tatsache weder Rechtsprechung noch Fachliteratur gehindert hat, gelegentlich auf den Würdebegriff in der Auslegung der Verfassung zurückzugreifen, trägt sie doch dazu bei, dass der Würdebegriff ein Schattendasein in Verfassungstheorie und -lehre führt.4 Wichtiger ist aber, dass die Bedeutungslosigkeit des Würdebegriffs im US-Strafrecht ein alegitimes Modell der Ausübung staatlicher Strafmacht widerspiegelt, das von einer sich der Rechtsstaatlichkeit im liberalen Verfassungsstaat, und daher insbesondere der Legitimation durch Legalität, verpflichtenden Konzeption des Strafstaats zu unterscheiden ist. Als nicht in Frage gestellte, seit jeher einfach bestehende Befugnis gilt die staatliche Strafmacht in den USA als Ausübung der dem Souverän zustehenden Polizeimacht (police power), wobei die seinem Herrschaftsbereich unterstehenden Menschen als Bestandteile des staatlichen Haushalts betrachtet werden anstatt als sich durch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung oder Autonomie auszeichnende Personen, die sowohl Rechtsobjekte als auch Rechtssubjekte sind. Soweit jedoch die Autonomie die Grundnorm des Legitimitätsanspruchs eines Rechtstaates – in den USA und sonst wo – darstellt, ist das jeweilige Strafrechtssystem nur dann legitim, wenn es die seiner Herrschaft unterliegenden Menschen nicht nur als Objekte, sondern auch als Rechts-Subjekte anerkennt, d.h. als Personen mit der Fähigkeit zur Autonomie. Wenn nun Würde als personal verstanden wird, d.h. als Eigenschaft, die dem Menschen qua Person zusteht, und sich Persönlichkeit wiederum (nur) durch die Fähigkeit zur Autonomie bestimmt, dann ist der Würdebegriff schlicht deckungsgleich mit der Fähigkeit zur Autonomie. Jemandes Würde zu achten, hieße dann nur, seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und damit seine Persönlichkeit (sein Person-sein) zu achten. So verstanden ist der Würdebegriff nicht nur kompatibel mit, sondern sogar zentral für ein Verständnis von staatlicher Strafmacht als Recht – mithin als Strafrecht. Wenn demgegenüber Würde als von der Person losgelöst begriffen wird, d.h. als kennzeichnend für einen bestimmten (insbes. höheren) Status statt als universale Eigenschaft eines jeden Menschen (bzw. einer jeden Person), kann der Begriff kaum Platz in einem der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Strafrechtsystem finden. Er wäre in dieser Form indes sehr wohl vereinbar mit
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S. aber Meyer/Parent (Ed.), The Constitution of Rights: Human Dignity and American Values, Ithaca 1992; Castiglione Wisconsin Law Review 2008, 655.
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einem Verständnis von Strafmacht als der Ausübung der Polizeimacht – als Strafpolizei. Nach diesem Verständnis müsste Würde hauptsächlich am höheren sozialen und politischen Status des Hausvorstands anknüpfen; nur der Hausvorstand wäre damit ein zur Erledigung der eigenen Angelegenheiten im öffentlichen Raum berufendes politisch-rechtliches Subjekt (sui iuris), weil nur er die geforderte Fähigkeit zur Autonomie innehat. Ihm gegenüber stünden die (menschlichen) Bestandteile – bzw. Ressourcen oder „Mittel“ – seines Haushalts, die weder zur Selbst- noch zur Fremdbestimmung fähig sind, und die folglich nicht regieren, sondern nur regiert werden, können. Nach diesem Verständnis leitet sich Würde statt von Autonomie von Autorität ab und knüpft gleichzeitig an diese an. Eine gegen die Autorität des souveränen Hausvorstands gerichtete Straftat ist danach eine gegen seine Würde gerichtete, welche wiederum die Ausübung der in seinem Ermessen stehenden Disziplinarmacht über den Täter auslöst (bzw. in seinem Ermessen auslösen kann). Es versteht sich von selbst, dass Würde als Kennzeichen für andere Unterscheidungskriterien, z.B. in sozialer, moralischer oder ästhetischer Hinsicht, ebenfalls leichter mit Strafpolizei als mit Strafrecht zu vereinbaren wäre. Rechtlich-politische Unterscheidung festgemacht am Status des Hausvorstands (gegenüber seinem Haushalt) bzw. des Regierenden (gegenüber den Regierten) fügt sich so in die jeweiligen Differenzierungszusammenhänge einer kritischen Analyse staatlichen Handelns – insbesondere staatlicher Strafmacht – ein.
II. Strafpolizei und Strafrecht In den USA schenkt man der Frage, woher sich die Kompetenz zum Strafrecht genau ableitet, traditionell wenig Beachtung. Zwar wurde u.U. die Kompetenz der Gerichte hinterfragt, auf ungeschriebenem (über- bzw. nebengesetzlichem) Recht beruhende Straftatbestände (sog. common law crimes) anzuerkennen, aber selbst hierbei drehte sich die Frage nicht darum, ob dem Staat an und für sich die Macht zur Strafrechtssetzung zukommt, sondern – dies schon vorausgesetzt – welcher der drei Staatsgewalten diese zusteht – und selbst diese Frage ergab sich hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Bundesstrafrecht. Der Oberste Gerichtshof (US Supreme Court) sollte sie vor über 200 Jahren dahingehend beantworten, dass die Bundesgerichte keine common law crimes schaffen bzw. entdecken dürfen.5 Falls damit überhaupt irgendein Bundesorgan Strafrecht setzen kann, so ist es der Kongress, der dabei jedoch nur in Ausübung einer ausdrücklichen verfassungsrecht-
5
US v. Hudson & Goodwin, 11 US 32 (1812).
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lichen Ermächtigung handeln darf. Die Kompetenz der einzelstaatlichen Gerichte zur Anerkennung von common law crimes wurde jedoch nie ernsthaft in verfassungsrechtlichen Zweifel gezogen – und selbstverständlich erst recht nicht die Kompetenz des einzelstaatlichen Gesetzgebers dazu. Die Befugnis des Staates zur Schaffung von Strafrecht wird als so selbstverständlich erachtet, dass nach einer dahinterstehenden Begründung eigentlich nicht gesucht wird. Wenn jedoch die entsprechende Quelle überhaupt einmal identifiziert wird, wird sie in der Polizeimacht gefunden und weiter ausgeführt, dass nur die US-amerikanischen Einzelstaaten diese innehaben. Diese Macht, welche sich gerade durch ihre Undefinierbarkeit definiert, ist wesentlich mit der Idee der Souveränität verknüpft. Laut ständiger Rechtsprechung des US Supreme Court ist Polizeimacht die „Macht der Souveränität und der Herrschaft über die Menschen und Gegenstände innerhalb ihres Bereichs“6; als solche „ist und muss sie ihrer Natur nach jeder exakten Definition oder Einschränkung unzugänglich sein“.7 Als „wesentlichste, nachdrücklichste und am schwersten einschränkbare Befugnis des Staates“ 8 berührt die Polizeimacht nichts Geringeres als „die Sicherung der öffentlichen Ordnung, des Lebens und der Gesundheit der Bürger, des privaten und gesellschaftlichen Lebens sowie des nutzbringenden Gebrauchs von Eigentum“ und umfasst daher „den Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit, des Wohlbefindens, der Ungestörtheit sowie des Eigentums.“ 9 Der Vorbehalt der Polizeimacht im föderalen Staatsgefüge war für die USamerikanischen Einzelstaaten von entscheidender Bedeutung, denn ihr Verlust hätte die Aufgabe des letzten Stückchens Souveränität bedeutet. Dabei musste natürlich der Bundesebene die praktisch grenzenlose Polizeimacht verweigert und die Bundesmacht auf explizit angeführte Einzelkompetenzen beschränkt werden. Wie aufmerksame Beobachter jedoch bald erkannten, führte dies de facto zu einer Polizeimacht des Bundes, die ihm aber de jure verweigert wird und werden muss.10 Bis zum heutigen Tage soll das inzwischen beträchtliche und kontinuierlich weiter ausgreifende Bundesstrafrecht auf einer Vielzahl einzelner verfassungsrechtlicher Ermächtigungen beruhen (vor allem auf der Bundeskompetenz zur Regulierung des zwischenstaatlichen
6 „[The] power of sovereignty, the power to govern men and things within the limits of its dominion.“, License Cases, 46 US 504, 583 (1847). 7 „This power is, and must be from its very nature, incapable of any very exact definition or limitation.“, Slaughter-House Cases, 83 US 36, 49 (1873). 8 „The most essential, the most insistent, and always one of the least limitable of the powers of government“, 16A Am. Jur. 2d Con. L. 317 (2004). 9 „The security of social order, the life and health of the citizen, […] the enjoyment of private and social life, and the beneficial use of property. […] extends to the protection of the lives, limbs, health, comfort, and quiet of all persons, and the protection of all property.“, Slaughter-House Cases, 83 US 36, 49–50 (1873). 10 Freund The Police Power: Public Policy and Constitutional Rights, Chicago 1904.
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und internationalen Handelsverkehrs, commerce power) statt auf einer allgemeinen Polizeimacht. Tatsächlich wird allerdings nur äußerst selten von richterlicher Seite daran erinnert, dass der Bundesebene offiziell keine Polizeimacht zukomme.11 Die Polizeimacht ist indes nichts anderes als die Macht des Hausvorstands über seinen (Mikro-)Haushalt übertragen auf den (Makro-)Haushalt des Staates.12 Blackstone drückte es in einer in der US-amerikanischen Rechtsprechung und Lehre bis ins 20. Jahrhundert immer wieder zitierten Passage so aus, dass der König als „Vater“ seines Volkes („pater-familias of the nation“) zuständig ist für „the public police and economy[, i.e.,] the due regulation and domestic order of the kingdom: whereby the individuals of the state, like members of a well-governed family, are bound to conform their general behaviour to the rules of propriety, good neighbourhood, and good manners: and to be decent, industrious, and inoffensive in their respective stations.“13 Schon ein Jahrzehnt zuvor hatte Rousseau in seiner Definition von „economie ou oeconomie“ in Diderot’s Encyclopédie auf das gleiche Bild zurückgegriffen: „[C]e mot vient de oi®kov, maison, & de nómov, loi, & ne signifie originairement que le sage & légitime gouvernement de la maison, pour le bien commun de toute la famille. Le sens de ce terme a été dans la suite étendu au gouvernement de la grande famille, qui est l’état.“14 Als der Polizeimacht Unterworfener wird der Straftäter als Bedrohung der staatlichen Policey betrachtet, welche der Souverän aufrechtzuerhalten strebt. Eine gegen die Polizei (in diesem althergebrachten weiten Sinne) des staatlichen Haushalts gerichtete Straftat ist genau genommen ein Affront (bzw. eine „Störung“) der Autorität des Souveräns, ein Akt des Ungehorsams, eben eine „offense“ im eigentlichen Sinne. In dieser Hinsicht ist der Störer/offender der paradigmatische Täter und der Souverän das paradigmatische Opfer der Strafpolizei. Strafpolizei ist im Wesentlichen ermessensgeleitet: Der Souverän kann Taten gegen „seinen Frieden und seine Würde“15 nach seinem 11 Siehe z.B. US v. Lopez, 514 US 549 (1995): Ein den Waffenbesitz unter Strafe stellendes Bundesgesetz wird für verfassungswidrig erklärt, weil es nicht vom commerce power umfasst ist und stattdessen der Ausübung einer – nicht existierenden – bundesstaatlichen Polizeimacht gleichkommt. 12 Siehe allgemein Dubber The Police Power: Patriarchy and the Foundation of American Government, New York 2005. 13 Blackstone Commentaries on the Laws of England, Band IV, Oxford 1769, S. 162. 14 Rousseau Economie ou oeconomie in: Diderot (Ed.), Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Band V, Paris 1755, S. 337. 15 See Heath v. Alabama, 474 US 82, 88 (1985).
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Belieben definieren, identifizieren und sanktionieren. In einem strafpolizeilichen System zeichnet sich somit das materielle Strafrecht durch allgemein gehaltene, offene Straftatbestände aus, das Gesetzlichkeitsprinzip und die Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortung (z.B. actus reus und mens rea) erscheinen als unverbindliche flexible Richtlinien, die Willkür der Strafverfolgungsbehörden ist de facto die Norm eines Strafprozesses, in dem ein Legalitätsprinzip keinen Platz hat, und der Strafvollzug erscheint als Verwaltung eines Warenlagers für menschliche Gefahrenherde.16 Behauptung einer Strafmacht im und durch den Rechtsstaat versucht dagegen, sich mit der schwierigen Frage des modernen Rechtsverständnisses auseinanderzusetzen: Wie lässt sich die Anwendung staatlicher Gewalt gegen, und gegenüber, genau denjenigen legitimieren, deren Fähigkeit zur Selbstbestimmung er verkörpert und die Verwirklichung eben dieser Fähigkeit allein seine Legitimität begründet? 17 In einem Straf-Rechts-System ist sowohl das paradigmatische Opfer als auch der Täter als auch der Richter, Person. Straftaten sind demnach nicht gegen „Frieden und Würde“ des Souveräns gerichtet,18 sondern gegen die individuelle Person des Opfers, d.h. seine Würde, die ihm kraft seiner Fähigkeit zur Autonomie zusteht. Die paradigmatische Tat ist im Strafrechtssystem eine autonome Verletzung der Autonomie des anderen: in ihr manifestiert sich die Autonomie des Täters, indem er die des anderen negiert. Der Täter handelt also dadurch als Person, dass er das Opfer als Nichtperson behandelt, und verleiht seiner Selbstbestimmung durch Unterwerfung des Opfers unter seine Fremdbestimmung Ausdruck. In einem Strafrechtssystem berücksichtigt das materielle Strafrecht sowohl die persönliche Würde des Täters als auch die des Opfers, indem es auf der einen Seite allgemeine Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortung im Lichte der Täterwürde schafft, auf der anderen Seite seinen besonderen Teil im Bewusstsein der Opferwürde ausgestaltet. Der Strafprozess strebt danach, die Verhängung von Strafe dadurch zu legitimieren, dass er die (aktive und passive) Autonomie des Prozessobjekts verwirklicht durch das Recht – nicht die Pflicht – auf Teilnahme an „seinem“ Prozess und somit auf Selbstanwendung der Normen des materiellen Strafrechts, einschließlich der Ermöglichung eines mittelbaren Urteils in eigener Sache, gefällt durch Personen, die sich mit ihm identifizieren (d.h. zwecks Urteils in seine Lage versetzen) kön-
16 Siehe Dubber in: ders./Valverde (Ed.), The New Police Science: The Police Power in Domestic and International Governance, Stanford 2006, S. 107–144. 17 Siehe Dubber in: ders./Valverde (Ed.), Police and the Liberal State, Stanford 2008, S. 92–109. 18 Siehe etwa Texas Code of Criminal Procedure § 1.23: „All prosecutions shall […] conclude, ‘against the peace and dignity of the State’.“
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nen (z.B., aber eben nicht nur, als Jury Mitglieder, oder peers).19 Im Falle einer Verurteilung berücksichtigt dann der Strafvollzug die Persönlichkeit des Strafgefangenen durch Anerkennung und, wo nötig, Stärkung seiner Fähigkeit zur Autonomie, indem er Möglichkeiten der Selbstverwaltung im Gefängnis und Teilhabe am demokratischen Leben (v.a. durch das Wahlrecht) schafft.
III. Würde und Autonomie im materiellen Strafrecht Es könnte leicht missverstanden werden, wenn oben die Aussage getroffen wird, dass die Würde im US-Strafrecht keine nennenswerte Rolle spiele. Als strafpolizeiliches System betrachtet befasst sich der US-amerikanische Strafstaat sogar sehr intensiv mit der Würde, nämlich der des Souveräns. So beruht beispielsweise die sog. dual sovereignty doctrine auf der common lawKonzeption vom Delikt als Tat gegen die Souveränität des Staates, welche zwei Strafverfahren zulässt, wenn eine einzelne Handlung „Frieden und Würde“ zweier verschiedener Souveräne verletzt, indem sie gegen Gesetze beider verstößt.20 Des Weiteren werden Taten in Anklageschiften als „gegen den Frieden und die Würde des Staates“ gerichtet umschrieben.21 Ferner kann der Einwilligung des Opfers in eine Tat dort keine rechtfertigende Wirkung zukommen, wo diese „Frieden und Würde des Staates“ beeinträchtigt.22 Schließlich kommt in diesem Zusammenhang auch Richtern ein weites Ermessen zu, wenn es darum geht, die „Würde“ ihres Amtes durch im Schnellverfahren ergehende Verurteilungen wegen Missachtung des Gerichts (contempt of court, also eigentlich „Gerichtsverachtung“) zu schützen.23 In einem strafrechtlichen System hingegen unterscheidet der Besondere Teil verschiedene Facetten der Autonomie des Opfers. Er definiert seine Straftatbestände als qualitativ und quantitativ unterschiedliche Beeinträchtigungen und Angriffe auf die Autonomie des Opfers. Zum Beispiel kann er qualitativ differenzieren zwischen der vollständigen Zerstörung der Autonomiekapazität (durch Tötungsdelikte) und der Beeinträchtigung der Ausübung dieser Kapazität (durch minder schwere Körperverletzungen, Ent-
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Siehe Dubber in: Duff et al. (Ed.), The Trial on Trial, Vol. 1: Truth and Due Process, Oxford 2004, S. 85–101. 20 Heath v. Alabama, 474 US 82, 88–90 (1985). 21 Siehe Texas Code of Criminal Procedure. Dies ist die amerikanisch-republikanische Version des althergebrachten englischen indictment, das dem Angeklagten eine Störung der königlichen, anstatt der staatlichen, Würde vorwirft. 22 State v. Brown, 143 N.J. Super. 571, 364 A.2d 27 (1976). 23 Siehe z.B. People v. Leone, 44 N.Y.2d 315, 319 (1978) (Fuchsberg, J., concurring).
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führung, Zwang oder Eigentumsdelikte, insoweit sich Personen durch Besitz und Gebrauch von Eigentum selbst bestimmen), sowie quantitativ anhand der Intensität der Beeinträchtigung durch graduelle Abstufungen zwischen den Deliktsarten sowie innerhalb einzelner Deliktsarten. Der Besondere Teil kann ferner qualitativ danach differenzieren, auf welche Art und Weise die Autonomie ausgeübt wird, etwa durch abstrakte (z.B. „Zwang“) oder konkrete Handlungsumschreibungen (z.B. Eigentumsgebrauch, religiöse oder sexuelle Selbstbestimmung), die sich graduell anhand der Bedeutung für Persönlichkeit und Selbstbestimmung des Betroffenen unterscheiden können (freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG). Während in einem Strafrechtssystem der Besondere Teil auf die Person des Opfers und seiner Würde kraft dieser Persönlichkeit abstellt, dreht sich der Allgemeine Teil um die Persönlichkeit des Täters. Zum Beispiel kennzeichnet der Vorsatz (mens rea) nicht etwa einen im wahrsten Sinne niedrigen (mean) und insbesondere würdelosen Status (malice), sondern drückt ganz im Gegenteil gerade die Autonomiekapazität des Täters aus, welche ihn als Person auszeichnet. Der Vorsatz macht so aus einer unerlaubten Handlung nicht deswegen eine Straftat, weil er die soziale Minderwertigkeit oder Abartigkeit des Täters widerspiegelte oder ihn als außerordentlich gefährlich oder störend – und deswegen entschärfungs- bzw. besserungsbedürftig – kennzeichnete, sondern weil sich aus ihm die Fähigkeit des Täters zu selbstbestimmten Entscheidungen – dem Kernstück seiner Persönlichkeit – ergibt, auch wenn sich dies in Form eines Verbrechens gegenüber einer anderen Person äußert. Die verschiedenen Formen oder Ebenen des Vorsatzes – unter Zugrundelegung des Model Penal Code sind dies Absicht (purpose), Wissen (knowledge), Rücksichtslosigkeit (recklessness) und Fahrlässigkeit (negligence) – sind demnach keine Gradmesser für die kriminelle Gefährlichkeit (oder „Energie“) des Täters,24 sondern ermöglichen es, die Tat als Ausdruck sowohl seiner Fähigkeit zur persönlichen Selbstbestimmung als auch seiner Negierung der Persönlichkeit des Opfers einzuordnen. Ein Strafrechtssystem würde weiterhin die verschiedenen Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründe (defenses) nicht als ermessungsbedingte Gnadenerweise, sondern als Rechte erachten. Zum Beispiel gab es im common law traditionell nur eine Möglichkeit der gerechtfertigten Tötung eines anderen Menschen, nämlich die Tötung in Ausübung einer öffentlichen Pflicht (z.B. die Ausführung eines gerichtlichen Vollstreckungsbefehls durch den zuständigen Staatsdiener). Alle anderen Tötungen, einschließlich solcher in Notwehr (zur Selbstverteidigung, se defendendo), waren allenfalls entschuldbar und damit strafbar – es sei denn, der Souverän übte das ihm zustehende Be-
24 Zum Behandlungsgrundsatz als leitendem Prinzip des Model Penal Code siehe Dubber Criminal Law: Model Penal Code, New York 2002, §§ 4.2, 4.3.
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gnadigungsrecht aus. Alle Tötungen waren schließlich gegen den Souverän gerichtete Taten, weil ihm eine seiner Herrschaft unterliegende Person, oder genauer eine menschliche Ressource seines königlichen Haushalts, entzogen wurde.25 Man denke hier an Dudley & Stephens, den berühmten Kannibalismus-Fall auf hoher See (Mignonette-Fall), in dem die vom Gericht des Mordes überführten Angeklagten umgehend von der englischen Königin begnadigt wurden. Das Gericht sah sich rechtlich, aber eben nur rechtlich, nicht zur Feststellung eines entschuldigenden Notstands befugt; das war Sache des Souveräns.26 Verbunden damit mag es für ein Strafrechtssystem sogar vorzugswürdig sein, die für das common law typische Trennung zwischen Tatbestandsmäßigkeit (offenses) und strafausschließenden Gründen (defenses) insoweit aufzugeben; nicht weil sie auf prozessualen statt auf materiellen Überlegungen beruht, sondern weil sie einen qualitativen Unterschied zwischen den Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortung suggeriert – die Übereinstimmung des Verhaltens mit den aufgestellten Tatbestandsmerkmalen auf der einen, sowie Rechtswidrigkeit und Verantwortlichkeit auf der anderen Seite. Dies kann leicht dazu verführen, die beiden Letzteren nur als Gnadenerweis anstatt als Recht zu begreifen, deren allgemeine Anerkennung und Anwendung im einzelnen Fall eine souveräne Ermessungsentscheidung bleibt. Dies führt im common law dann z.B. dazu, dass dem Staat die diese beiden Voraussetzungen betreffende Beweislast abgesprochen werden kann.27 So genannte Entschuldigungsgründe (excuses), d.h. sich auf die persönliche Vorwerfbarkeit oder Verantwortlichkeit beziehende Verteidigungsmöglichkeiten, umfassen eine Reihe von Konstellationen, in denen die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln ausgeschlossen bzw. vermindert oder die Ausübung dieser Fähigkeit beeinträchtigt wird. Unzurechnungsfähigkeit (insanity) schließt die strafrechtliche Verantwortung aus, wenn der Täter kraft Geisteskrankheit oder sonstiger Störung der Geistestätigkeit nicht mehr die Fähigkeit aufweist, entweder die Strafbarkeit (bzw. Rechtswidrigkeit) seines Verhaltens zu erkennen (cognitive incapacity) oder sein Verhalten den gesetzlichen Anforderungen anzupassen (volitional incapacity).28 Hierbei weist letztere (volitional) Alternative eine besonders enge Verbindung zur zentralen Bedeutung der Fähigkeit zu Autonomie für die strafrechtliche Verantwortung einer Person auf. Hier ist darauf hinzuweisen, dass die immer noch dominante M’Naghten-Regel des englischen House
25
Siehe Baker An Introduction to English Legal History, 3. Aufl. Oxford 1990, S. 601. The Queen v. Dudley & Stephens, 14 Q.B.D. 273 (1884). 27 Siehe in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „acoustic separation“, DanCohen Harvard Law Review 97 (1984), 625. 28 Model Penal Code § 4.01. 26
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of Lords von 1843 – im Gegensatz zum Model Penal Code von 1962 – nur auf cognitive incapacity beruhende Unzurechnungsfähigkeit anerkennt. Auch der Entschuldigungsgrund der Strafunmündigkeit (infancy) ist wie die Unzurechnungsfähigkeit ein auf der Unfähigkeit zur Autonomie beruhender Grund, wenngleich er heutzutage im amerikanischen Strafstaat weitgehend (wenn überhaupt) prozessual statt materiell in der Form gehandhabt wird, dass Täter (bzw. „Delinquenten“: juvenile delinquents) unter einer gewissen Altersschwelle einem gesonderten Gerichtssystem mit eigenen (formell nicht-strafrechtlichen, und materiell nicht-bestrafenden) Verfahren und Sanktionen (bzw. Behandlungen) unterworfen (bzw. verordnet) werden. Obwohl die Anerkennung des Angeklagten als Rechtssubjekt mit persönlicher Würde zu einem Verständnis der Strafausschließungsgründe (defenses) als Rechte statt als Gnadenerweise führt, ist gleichzeitig darauf zu achten, die Entschuldigungsgründe nicht allzu weit auszudehnen, und zwar so weit, dass sie die persönliche Würde des Täters in Frage stellen. Genauso wie der Täter ein Recht darauf hat, bestraft zu werden, hat er prinzipiell auch ein Recht darauf, sich seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht abgesprochen zu sehen, d.h. er hat ein Recht darauf, nicht behandelt zu werden.29 Die common law Vermutung zugunsten der Zurechnungsfähigkeit (presumption of sanity) steht daher nicht zwangsläufig im Widerspruch zu dieser Konzeption. Ob sich aus dieser Vermutung allerdings auch eine Beweislastumkehr zulasten des Angeklagten ergeben muss, ist eine andere Frage. Entschuldigungsgründe aus allgemeiner Unfähigkeit zur Autonomie (incapacity) können unterschieden werden von solchen der besonderen Unfähigkeit (inability), welche sich durch die fehlende Ausübbarkeit der noch bestehenden Autonomiekapazität in einer konkreten Situation kennzeichnen. Einer etwa im Nötigungsnotstand (duress) handelnden Person kann kein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden, weil die das Verhalten tragende Entscheidung trotz abstrakter Autonomiekapazität konkret nicht ihre eigene ist. Taten, die unter den außergewöhnlichen und extremen Umständen begangen werden, welche die Voraussetzungen des Nötigungsnotstands erfüllen – im common law etwa: tatsächliche oder angedrohte Gewalt, der eine nach vernünftigen Maßstäben widerstandsfähige Person nicht hätte standhalten können30 –, können so nicht als Ausdruck der Autonomie des
29 Siehe Morris The Monist, No. 4, 53 (1968), 475; Dubber Law & History Review 16 (1998), 113. Eine ausdrückliche hegelianische Ausformulierung dieses Gedankens in der anglo-amerikanischen Literatur findet sich bei Brudner Punishment and Freedom: A Liberal Theory of Penal Justice, Oxford 2009. 30 Model Penal Code § 2.09: „a person of reasonable firmness in [her] situation would have been unable to resist“.
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Täters aufgefasst werden. Eine derartige Tat dennoch zu bestrafen, hieße, den Täter als etwas anderes und nicht als eine Person zu behandeln, was dessen persönliche Würde negierte.
IV. „Dignity. Sometimes Dignity?“ Seine begrifflich-historischen Wurzeln im Begriff der staatlichen Polizeimacht (police power) sprechen dagegen, das US-Strafrecht als Strafrechtssystem anzusehen. Um es als Recht begreifen zu können, müsste man stattdessen auf die grundlegenden Prinzipien und Ideale der amerikanischen Republik zurückgreifen, wie sie in den zentralen Dokumenten der amerikanischen Revolution dargelegt sind, namentlich in der Unabhängigkeitserklärung, welche das moderne, liberale, politische Projekt in große Worte fasste. Es bedürfte der lange vernachlässigten Kritik der Strafmacht des Staates im Lichte der von Thomas Jefferson, dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, in der Präambel seines sonst überraschend reaktionär und mittelalterlich anmutenden Entwurfs einer Virginia criminal law bill von 1779 zitierten „purposes of society“, also im Rahmen einer politisch-rechtlichen Kritik der Grundlagen staatlicher Macht überhaupt.31 Erst kürzlich hat der US Supreme Court – in einer den texanischen Tatbestand der Sodomie für verfassungswidrig erklärenden Entscheidung – zum ersten Mal eingeräumt, dass der Begriff der persönlichen Selbstbestimmung („autonomy of self“) die staatliche Strafmacht verfassungsrechtlich einzuschränken und sogar zu strukturieren vermag.32 Auch wird die Würde des Menschen („the dignity of man“) in seiner ständigen Rechtsprechung zum achten Zusatzartikel (Eighth Amendment) zitiert, welcher bei allerdings sehr enger Interpretation des Verbots „grausamer und ungewöhnlicher Strafen“ („cruel and unusual punishments“) dem Staat hinsichtlich Art und Höhe von Strafe nur geringfügige Beschränkungen auferlegt.33 Dennoch ist – zumindest bislang – jede auf den Begriff der persönlichen Würde zurückgreifende Konzeption US-amerikanischen Strafrechts mit der Schwierigkeit verbunden, sie mit großen Teilen des positiven Rechts in Einklang zu bringen.34 An dieser Stelle kann die Frage offen bleiben, ob eine sol-
31 Siehe Dubber in: ders./Farmer (Ed.), Modern Histories of Crime and Punishment, Stanford 2007, S. 115–150. 32 Lawrence v. Texas, 539 US 558, 562 (2003). 33 Der Ausdruck „the dignity of man“ stammt aus Trop v. Dulles, 356 US 86 (1958). 34 Siehe z.B. Bergelson Rutgers Law Review 60 (2008), 723; Dubber Hastings Law Journal 55 (2004), 509; Dan-Cohen Harmful Thoughts, Berkeley 2002, S. 150–171; siehe auch Richards Georgia Law Review 13 (1979), 1395. Eine Übersicht findet sich bei Meltzer Henry University of Pennsylvania Law Review 160 (2011), 169.
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che Konzeption an den Würdebegriff anknüpfen sollte oder vielmehr direkt an der Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln als Voraussetzung der Persönlichkeit, an der dann wiederum die Würde festgemacht werden kann.35 Hier wären u.a. folgende Punkte zu beachten: (1) die Schwierigkeit, die Würde als universelle menschliche Eigenschaft von der Würde als Zeichen politisch-rechtlicher Differenzierung (ganz zu schweigen von der Würde sozialer oder moralischer Ausfertigung) abzugrenzen; (2) die zentrale historische und systematische Stellung heteronomer (d.h. am Souverän festgemachter) Würde in einem Strafpolizeisystem, wie z.B. im sog. war on crime, der angeblich im Namen der Würde der Opfer geführt wird; (3) die Möglichkeit einer Anführung des Würdeschutzes (ggf. sogar als „objektives“ oder zumindest objektiv beurteiltes Interesse oder „Rechtsgut“), um Einschränkungen der persönlichen Selbstbestimmung zu rechtfertigen (z.B. in Fällen der Einwilligung); (4) die denkbare Ausweitung staatlicher Strafgewalt und die Beeinträchtigung der Ausübung anderer Aspekte des persönlichen Grundrechts auf Autonomie (etwa die freie Meinungsäußerung) im Namen des Schutzes der Würde oder eines subjektiven Würdegefühls (nicht nur, aber auch, staatlicher Würdeträger).36 Des Weiteren würde es den Rahmen dieses Beitrags deutlich übersteigen, die häufige Berufung auf die zentrale Bedeutung der Würde im Strafrechtssystem ihrer tatsächlichen Realisierung gegenüberzustellen – so auch im deutschen Strafrecht, wo die in Art. 1 Abs. 1 GG absolut garantierte Menschenwürde häufig und nicht immer mit ausführlicher Begründung als angebliche verfassungsrechtliche Grundlage strafrechtlicher Normen zitiert wird. Allgemein kann es sich auf Grund einer differenzierten vergleichendhistorischen Analyse als vorzugswürdig erweisen, die kritische Analyse staatlicher Strafgewalt dualistisch anhand zweier grundlegend verschiedener, aber in Wechselwirkung miteinander stehender Formen von Staatsmacht anzugehen – Strafrecht und Strafpolizei, die zusammen einen doppelten Strafstaat bilden (dual penal state) –, anstatt einen Staat insgesamt lediglich entweder der einen oder der anderen Form zuzuordnen.37 35 Eine ähnliche Frage stellt sich im Zusammenhang mit dem Begriff der Staatsbürgerschaft, welcher als Alternative zur Selbstbestimmtheit vorgeschlagen wird, siehe Dubber New Criminal Law Review 13 (2010), 190. 36 S. allgemein Dubber Victims in the War on Crime: The Use and Abuse of Victims’ Rights, New York 2002. 37 Zum doppelten Strafstaat und weiteren dualistischen Ansätzen einer kritischen Analyse staatlicher Strafmacht und staatlicher Macht überhaupt, einschl. Ernst Fraenkels klassischer Studie des doppelten Verwaltungsstaats 1933–1938 (The Dual State, New York 1941), siehe Dubber in: ders./Hörnle (Ed.), Oxford Handbook of Criminal Law (im Erscheinen 2014).
Noch einmal: Dogmatik und Praxis des Strafrechts Zu Schünemanns Widerlegung 1 einer Polemik über die Fremdheit zweier Welten Thomas Fischer I. Einleitung „Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Strafrechtsdogmatik?“, fragt Schünemann in seiner Streitschrift gegen eine – nach seiner Ansicht wenn nicht vergiftete, so doch wohl verdächtig aufgeschäumte – Melange aus Aperçus, Alltagstheorie und richterlicher Überhebung, welche der Verfasser vor einigen Jahren dem „Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis“ gewidmet hatte.2 Der Jubilar greift damit schon im Titel 3 hinauf zu den Gipfeln dessen, was manchem als „Traum des ganzen Lebens“ 4 erscheint: zur wahren Wissenschaft 5, und führt, in gewohnter Wortmacht, gewichtige Klage über „sterile Polemik“, Insuffizienz praktischer Problemdurchdringung und „exemplarische Häufungen qualifizierter Begründungsfehler“ auf Seiten der („höchstrichterlichen“) Praxis. Er gelangt zum Ergebnis, zwar entsprächen die Unkenrufe des Verf. sowie dessen „soziologisches“ Bild der „fremden Welten“ dem von Schünemann selbst schon längst entworfenen Flammenbild des „Untergangs der deutschen Rechtskultur“6; die 1
Schünemann GA 2011, S. 445–461. Fischer FS Hamm, 2008, S. 63 ff. 3 Friedrich Schiller Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung Jena), 1789, zitiert nach dem Nachdruck 1996. 4 Biermann Der Traum meines ganzen Lebens. Humboldts amerikanische Reise, 2008. 5 Freilich: Alexander von Humboldt handelte weniger von den wertenden Begriffen als vom Zusammenhang der Erscheinungen und Friedrich Schiller vielleicht weniger vom Prinzip als vom Philosophischen Geist, welcher, „wenn kein Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, (…) selbst der Erste ist, der es unbefriedigt auseinander legt (…)“ (Schiller [Fn. 3], S. 11). Und überhaupt sind seither mancherlei Kriege verloren, Weltenträume zerstört, Katarakte geglättet worden. Die Medienkompetenz des 21. Jahrhunderts kennt die Figurinen der Deduktion, der Empörung und der Dekonstruktion so endlos auswendig wie der Alkoholiker die verschlungenen Tanzfiguren des Selbstbetrugs. 6 Schünemann GA 2011, 445, 460, unter Verweisung auf dens. Wetterzeichen für den Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005. 2
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Verantwortung hierfür liege freilich mitnichten im Felde der Strafrechtswissenschaft, sondern in der Entscheidung der Rechtsprechung, sich von Dogmatik nicht an politisch erwünschten Machtsprüchen hindern zu lassen. Seine Verantwortungs-Zurückweisung „subtil“ zu nennen, würde dem Schünemannschen Donner nicht gerecht, obgleich auch er kaum je die Schuldigen bei ihrem Namen ruft. Seine Darlegung soll zeigen, dass nicht die Strafrechtsdogmatik eine Bringschuld gegenüber der Praxis habe, sondern letztere gegenüber ihr. Die Strafrechtsdogmatik (als Wissenschaft) bleibt, was und wo sie war: Rational, systematisch, frei. Schon in Schünemanns Überschrift wird mehr (schon) konstatiert als (noch) behauptet, die Wirklichkeit ihrer Ideen entspringe einem Geist, der sich über 250 Jahre fortgezeugt habe von einem „Ideengebäude“ zum nächsten; und am Ende tritt hervor, was zu zeigen war: dass Strafrechtsdogmatik betrieben wird zur Eindämmung der furchtbarsten Gewalt im Staat.7 Freilich könnte man fragen: Wohin verschwand die negative Generalprävention? Wohin die Rechtsgutstheorie? Was bewirkte uns Foucault; was verwandelte sich, als Derrida die Zeichen vor den Sinn setzte? Was bedeutet dem Strafrecht „Postmoderne“? Wohin sind die „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz“8 verdampft? Was hat die deutsche Dogmatik, mit Ehrenprofessuren über alle Weltmeere, herausverdaut aus dem Verstehen der Weißen Wale, der Inuit, der Krale im Tschad, der Leopardenfellpriester, der Heiligen der Irokesen und des alpenländischen Viehhandels? Kausalisten und Finalisten hießen vor 50 Jahren die Heerführer der neuen Zeit; es ging um nichts Geringeres als das Weltverständnis durch Strafrecht. Die Schüler ihrer Schüler 9 lehren heute, die Sache habe sich erledigt. Und lehrten uns nicht kürzlich Dogmatiker der Nothilfe, es sei das Erfoltern von Verbrechensplänen und Geständnissen erlaubt und das Abschießen von Unschuldigen ein kleineres Übel?
II. Befund? Dogmatische Defizite der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zeigt Schünemann anhand von zwei Entscheidungen des 2. Strafsenats zu § 28 StGB auf: BGHSt 55, 229 und BGHSt 53, 174. 1. In der Entscheidung BGHSt 55, 22910, hat sich der Senat mit § 235 StGB („Entziehung Minderjähriger“) und der Frage beschäftigt, ob Entgeltlichkeit und Bereicherungsabsicht im Sinne des § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB „per7
Schünemann GA 2011, 445, 460. Karl Marx Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, 1842 (Rheinische Zeitung), Marx-Engels-Werke, Bd. 1, S. 109 ff. 9 Dazu: Fischer FS Rissing-van Saan, 2011, S. 143 ff.; ders. FS Kühl, 2014, S. 963 ff. 10 = NStZ 2011, 457 m. Anm. Wieck-Noodt. 8
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sönliche Merkmale“ im Sinne von § 28 StGB seien; dies hat er verneint: „[Es] handelt sich um eine überschießende Innentendenz, die in der Regel nicht ein besonderes persönliches Merkmal i.S.v. § 28 StGB, sondern ein tatbezogenes Merkmal darstellt […] Die Bereicherungsabsicht erscheint anstelle eines äußeren Merkmals im Tatbestand und stellt damit ein verkapptes Element des äußeren Tatgeschehens dar […]“.11 Schünemann bestreitet die Legitimität der Berufung des Senats auf die von diesem zitierten Quellen. Damit hat er Recht, ohne dass dieser Feststellung hier über das von Schünemann Ausgeführte hinaus noch etwas hinzuzufügen wäre.12 Er bestreitet oder bezweifelt darüber hinaus zumindest implizit, dass die Quellenauswahl des Senats wissenschaftlichen Standards entspreche.13 Das ist zumindest nicht unplausibel. Er führt schließlich – legitim, aber gefährlich – Klage darüber, dass eigene Veröffentlichungen nicht genügend beachtet worden seien.14 Im Kern kritisiert Schünemann, dass der Senat sich bei den dogmatischen Weichenstellungen zur Frage, ob die Entgeltlichkeit und Bereicherungsabsicht in § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB persönliche oder Tatmerkmale seien, schon im Ansatz verwirrt und sich – daher – in einer „orientierungslos dahintaumelnden Kasuistik erschöpft“15, ohne dies selbst überhaupt wahrzunehmen. Schünemanns Hinweis, ein vertieftes Verständnis des dogmatischen Konzepts des „kupierten Erfolgsdelikts“ hätte dies verhindern können, ist mindestens plausibel.16 2. Die zweite von Schünemann herangezogene Entscheidung ist BGHSt 53, 174.17 Hier hat der Senat (wie Schünemann hervorhebt: „unter Mitwirkung von Fischer“) entschieden, für die Einordnung einer im Sinne von § 30 StGB beabsichtigten Tat als Verbrechen komme es (auch) beim Sich-Bereiterklären zur Anstiftung18 nicht auf die Perspektive des sich bereit erklärenden potentiellen Anstifters an, sondern auf die des präsumtiven Haupttäters.
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BGHSt 55, 229, 232 (Rn. 7 f.). Das betrifft insbesondere die Verweisung auf Leipziger Kommentar StGB/Roxin, 11. Aufl. 2003, § 28 Rn. 38, und die vom Senat unzutreffend vorgenommene Gleichsetzung von Entgeltlichkeit und Zueignungs-/Bereicherungsabsicht i.S. von § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB mit „Gewerbsmäßigkeit“ (vgl. Schünemann GA 2011, 445, 454). 13 Er spricht von vom BGH „nach welchen Kriterien auch immer herausgesuchten fünf Autoren“ (S. 453). 14 „Schlicht ignoriert“ (Schünemann GA 2011, 445, 455). 15 Schünemann GA 2011, 445, 457. 16 Vgl. auch Hoyer GA 2012, 123 ff. 17 Krit. Anmerkungen von Dehne-Niemann Jura 2009, 695, und Mitsch JR 2010, 359. 18 Also einer Vor- Vor- Vor-Verlagerung der Strafbarkeit (wenn man die Schwelle von der nur versuchten zur erfolgreichen Anstiftung, also zur endlichen Haupttat, mit einbezieht)! 12
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Im Hinblick auf den Untertitel von Schünemanns Polemik ist der Hinweis auf die Mitwirkung des Verfassers an der letztgenannten Entscheidung etwas missverständlich, weil dieser sich in seiner Kommentierung des § 30 ausdrücklich zur Gegenansicht bekannt und ausgeführt hat, der Senat habe „in widersprüchlicher Weise eine seltsame Vermischung“ der Grundsätze der §§ 28 und 29 StGB vorgenommen.19 Die andere von Schünemann kritisierte Entscheidung BGHSt 55, 229, an welcher der Verf. nicht beteiligt war, hat dieser in seiner Kommentierung des § 235 StGB referiert und als „zweifelhaft“ bezeichnet.20 Nach üblichen Usancen und Bedeutungen ist noch mehr wissenschaftliche Distanzierung eines Richters von Entscheidungen des Spruchkörpers, dem er selbst angehört, kaum möglich. Die Entscheidungen BGHSt 53, 174 und BGHSt 55, 229 sind in der Tat zweifelhaft. Namentlich die erstgenannte Entscheidung ist weder in ihrer dogmatischen Substanz noch im Hinblick auf ihre Argumentation überzeugend. Sie fällt dadurch auf 21, dass sie zur Begründung des Ergebnisses ein Zerrbild von „Wissenschaftlichkeit“ vorweist, dessen Anforderungen sie weder selbst einhält noch auch nur – sekundär – zu überprüfen bereit ist. Dies ist – aus Sicht eines Mitglieds des Gerichtshofs – eine schmerzliche Diagnose. Sie scheint zu bestätigen, was Schünemann nicht ausdrücklich sagt, jedoch wohl, wie andere, implizit meint: Die „Welten“ von Wissenschaft (hier: Strafrechtsdogmatik) und Praxis (hier: Rechtsprechung) seien weniger „fremd“22 als vielmehr qualitativ auf unterschiedlichen Stufen intellektueller Evolution angesiedelt;23 nicht über die „Fremdheit“ sei zu klagen als vielmehr über die Anmaßung der Praxis, über „Fremdheit“ überhaupt zu sprechen, als handele es sich um eine Begegnung zwischen Gleichen. Der Befund, die Rätsel der Welt seien der deutschen Strafrechtsdogmatik offene Bücher, während die Praxis, aus welchen Gründen auch immer, nicht Schritt halte, scheint mir gleichwohl ein wenig willkürlich. 3. Wer aus Sicht der Wissenschaft „die Praxis“ ist, weiß man: fünf Strafsenate des BGH; 36 Richter am Obersten Gerichtshof. Der Praxis-Begriff ist inzwischen freilich, darüber hinaus, in einem nur noch schwer zu überbietenden Maß banalisiert und bis auf ein alltagstheoretisches Minimum reduziert. 19
Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 30 Rn. 6a, 6b. Fischer (Fn. 19), § 235 Rn. 20 a.E. 21 Und – hoffentlich – aus dem Rahmen. 22 Das „Seltsam“ mag hier dahinstehen, ebenso wie seine – selbstverständlich – intendierte Verbindung im Titel jenes Beitrags: Er benutzte eine triviale Phrase aus einem populären Film (David Lynch: „Blue Velvet“), um einen Hinweis auf eine vertrackte Fremdheit zu geben, die von Bildern der Überwältigung und Durchdringung des Fremden gekennzeichnet ist. Strafrechtsdogmatiker müssen den Film von Lynch nicht kennen. 23 Ihnen sei, bevor sie abheben, zur Buße die Lektüre einer der avancierten Texte unserer Kunst empfohlen, bevorzugt aus dem Gebiet der Rechtstheorie. 20
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Er wird oft geradezu programmatisch bewusst gegen Anforderungen von Systematik, Folgerichtigkeit, inhaltlich hohem Anspruch gestellt; aber auch gegen einen Anspruch von Innovation, Offenheit und Differenziertheit. Die Flussbetten und Grenzen einer solchen Praxis werden in der Innensicht allein noch von ihr selbst bestimmt; „Praxis“ zu sein und zu generieren wird zum Wert an sich, definiert im Wesentlichen durch Abgrenzung gegenüber einer als drängend, „schwierig“ oder überfordernd empfundenen Theorie. Im prozessualen Bereich herausragende Beispiele sind die seit vielen Jahren quälende Diskussion um die Zulässigkeit, Bedingungen und Formen von Absprachen24 sowie das beredte Schweigen zu Erkenntnissen über Fehlerquellen im Strafprozess. Im materiell-rechtlichen Bereich mag beispielhaft verwiesen werden auf Bemühungen zur „Reparatur“ offenkundiger Gesetzesfehler 25 durch eine gesetzesvertretende Rechtsprechung, die gelegentlich selbst dogmatische Minimalanforderungen missachtet.26 Hierdurch verliert die Rechtsanwendung Orientierung und erlangt – zweifelhafte, stets unsichere – Legitimität durch bloßes So-Sein und durch ein Funktionieren nach Wertungsgesichtspunkten, die sie zirkelschlüssig gewinnt. „Die Wissenschaft“ dagegen mag jede und jeder sein, der sich in Formen und Bezugssystemen der Strafrechtsdogmatik äußert. Die hauptberuflichen Strafrechtslehrer produzieren nach eigenem Verständnis Wissenschaft; der Begriff freilich ist so offen wie das Denken selbst. Systeme der Kommunikation stoßen Kaskaden von Bedingungssätzen aus. Man weiß nicht stets, wo die Tatsache anfängt und die Bewertung endet, und umgekehrt 27; und Einmütigkeit lässt sich nicht herstellen28: Es fällt nicht sehr schwer, aus dem weiten Feld der Strafrechtsdogmatik Positionen zu filtern, die „unvertretbar“ erscheinen, die nach den anerkannten Legitimations-Modellen scheitern müssen, die von der jeweiligen Konkurrenz als „müßige Spielerei“ oder „gefährlicher Unsinn“ gegeißelt werden. Dies hier vorzuführen ist nicht veranlasst; es darf als gesichert gelten.29 24
Hier hat Bernd Schünemann frühzeitig Herausragendes geleistet. Vgl. dazu auch Fischer FS Frisch, 2013, S. 31 ff. 26 Großer Senat für Strafsachen, BGHSt 48, 197 zu § 244 Abs. 1 Nr. 1b, § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB: „Für geladene Schreckschusspistolen wird am Begriff der Waffe nicht festgehalten“, ein Rechtssatz, der – vergleichbar „Für schwarze Katzen wird am Begriff des Hundes nicht festgehalten“ – buchstäblich alles auf den Kopf stellte und schon im nächsten Absatz derselben Vorschrift (§ 250 Abs. 2 Nr. 2) nicht mehr funktioniert (vgl. dazu auch Fischer NStZ 2003, 569). 27 Vgl. dazu die Kontroverse Puppe ZIS 2014, 66 ff.; und Fischer ZIS 2014, 97 ff. 28 Schünemann nennt das „institutionelle Schwäche“, sogleich aber auch „kollektive Wehrlosigkeit“ (GA 2011, 445, 451), verschiebt es also in eine Position der Unterlegenheit, die „keine Polizei hinter sich hat“, eine opferartige Perspektive. 29 Schünemann GA 2011, 445, 459, Fn. 21 attestiert – beispielhaft – Vogel, bei der Auslegung der §§ 244, 250 StGB „das einzig vernünftige Auslegungsprinzip“ gar nicht erst gesehen zu haben, welches er bei Schünemann hätte finden können. 25
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III. Diagnosen? 1. Wo liegen Schnittpunkte zwischen Rechtswissenschaft 30 und Rechtspraxis? Der wichtigste Schnittpunkt liegt in der Lebenswirklichkeit der juristischen Ausbildung: Diejenigen Personen, denen die Dogmatik des Rechts anvertraut ist, bestimmen zugleich über Ausbildungsinhalte, Verständnis und Rechtsanschauungen derjenigen, die jemals „Praxis“ vollziehen, repräsentieren oder definieren. Hieran ändert die Praxis der „Staatsprüfungen“ nichts. Tatsache ist aber, dass die Mehrheit von (Straf)Rechtsstudenten sich, so bald nur eben es möglich ist, von der Dogmatik ab- und dem zuwendet, was sie für „die Praxis“ hält. Umstritten ist – auf niedrigem Niveau – allenfalls die Frage, ob das an einer allgemeinen Absenkung der Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft heutiger Studenten liegt 31, den Anforderungen der Welt, den Verlockungen der digitalen Informations-Revolution oder der konstitutionellen Verringerung von Wahrnehmungsfähigkeit räsonierender Strafrechtslehrer. Was ist Kausalität? Wenn der notorische Herr T dem allfälligen O unter Anwendung von Drohungen mit unmittelbarer Gewalt wegnimmt, was Letzterem gehört, in der Absicht, es selbst zu nutzen, könnte dies ein vollendeter Raub sein. Das schlichte Bild scheint geeignet, Studenten ein Verständnis davon zu vermitteln, wie Zuordnung und Zurechnung und Erkenntnis funktionieren sollen im Kosmos der Zeichen, Bedeutungen, Erwartungen, Tatsachen. Freilich: Schon einen Augenblick hinter dem Bild bleibt die Deutung der Bedingungen von Wirklichkeit offen, allen Weisen der Zurechnung zum Trotz. Ein „Erfolg“, oder sagen wir: ein Zustand, der verknüpft ist mit einer Handlung, oder sagen wir: einem Wollen, einer Intention, einer äußeren Tatsache, welche auf ein Wollen zurückgeht, oder ein Wollen, das einer Handlung „eignet“ – das ist, wie wir seit Jahrzehnten hören, unergründlich. Was also heißt uns Kausalität? Welche Habilitationsschrift gibt uns Auskunft? Was tun, bis sie geschrieben und gelesen ist? An die Weisen: Habt Ihr die Fragen zu Ende gedacht? Wenn nein: Bis wann ist damit zu rechnen? Wenn ja: Zu welchem Ende? Ist der Raub geklärt 30 Der Wissenschafts-Begriff in der Jurisprudenz ist bekanntlich umstritten. Der Jubilar stößt gegen Personen, die Dogmatik „Kunsthandwerk“ nennen, verachtungsvolle Verfluchungen und Bannsprüche aus: („ […] kann unter vernünftigen Staatsbürgern nur als Albernheit gelten“; Schünemann GA 2011, 445, 461; gegen Kiesow JZ 2010, 585, 591), nennt sie „von Kirchmann redivivus“ (ebd. 447) und mag mit ihnen gar nicht mehr sprechen. Andere meinen, Wissenschaft beginne erst, wenn der Zuschnitt des Lehrstuhls auch auf Teile der „Rechtstheorie“ ausgedehnt sei. Soziologen, vielfach auch Kriminologen, ist beides gleichgültig; sie halten sich an Eugen Ehrlich: „Die selbständige Wissenschaft vom Rechte, die nicht praktischen Zwecken dienen will, sondern reiner Erkenntnis, die nicht von Worten handelt, sondern von Tatsachen, ist die Rechtssoziologie“ (Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 1). 31 Die jeweils „heutigen“ Studenten gelten unter Juristen, wohl mehr als in jedem anderen Studienfach, beinahe stets als „schlechter“ als die früheren.
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am Gold der Inka? Die Zueignung an den Reichtümern der Juden? Die gewaltsame Verteilung von Öl und Silber, Uran und Thunfisch, Wasser und Leben? Welche Berechnungen habt Ihr veröffentlicht über den geldwäschetauglichen Anteil am Anlagevermögen der deutschen Wirtschaft? Was lehrt die Zurechnungslehre über die Uneingeschränkte Solidarität mit Abu Graib? Wer war Herr T beim 198maligen Waterboarding gegen Chalid Scheich Mohammed? Wie verhält sich die Kausalität zwischen „Drogenkriegen“ in Kolumbien, Mexiko oder Afghanistan, der Anzahl der Drogentoten in Deutschland und den Kommentierungen von § 29 BtMG? Wir würden, nach fünf Jahren der Forschung, nun endlich gern wissen, wer die Finanzkrise verursacht hat. Wir hätten gern gewusst, wer verantwortlich war in Sebrenica. Von den Theoretikern der Zurechnung wüssten wir gern, wem die Ermordung der Tutsis zuzurechnen ist, und warum man Täter sein kann, wenn man beim Versandhaus bestellt, ohne Geld zu haben, in der Hoffnung auf einen Lottogewinn; aber nicht sein soll, wenn man ein Versandhaus kauft, ohne Geld zu haben, in der Hoffnung auf den Lauf der Weltökonomie. Das sind wohlfeile Fragen, gewiss; aber wohl nicht falsch. Die Antworten sind, weh und ach!, schwierig, unübersichtlich. Und ehe die Strafrechtsdogmatik sie uns geben kann, wird sie sich möglicherweise ein Jahrzehnt lang über die Frage nach einem europäischen Fahrlässigkeitsbegriff entzweien. „Wissenschaft“ und „Lehre“ sind (auch) soziologische Systeme wie „die Rechtsprechung“, an welcher sie sich abarbeiten.32 Sie interessieren (den Verf.) mehr unter diesem Blickwinkel als unter dem ihrer Binnen-Definitionen. Sie bescheinigen sich selbst seit 40 Jahren höchste strategische und im selben Atemzug geringe – oder zumindest abnehmende – praktische Bedeutung. Das mag so sein; es mag auch Gesichtspunkte und Mechanismen geben im Dickicht des Beamtenrechts, der Alimentation und der system-internen Bedeutungs-Generierung, welche all dies als geradezu erstrebenswert erscheinen lassen. Einen Außenstehenden bringen die Selbstbeschreibungen nicht wirklich in Wallung; sie sind letztlich auch nicht inhaltlich spannend. „Evaluationen“ belohnen diejenigen, die sich dem Verwertungsdruck anpassen, mit Ehrenpreisen für den „beliebtesten Lehrer“. Schlechte Lehre findet allenfalls am anderen Lehrstuhl statt. Für die Lernenden „lohnt“ sich Dogmatik nicht; sie führt zu positiver Sanktion nur innerhalb eines Systems, welches nichts mehr versprechen will, sich in einem engen Kreis bewegt und um die Zuweisung weniger Ressourcen ringt. Auch um die Glaubwürdigkeit dieses Systems ist es nicht nur gut bestellt: Den Senaten des BGH werden in Revisionsverfahren immer wieder Partei-Gutachten von Strafrechtslehrern vorgelegt, die nicht auf einer Woge der Gelehrtheit, sondern auf einer Pfütze von Geld schwimmen.
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Vgl. Schünemann GA 2011, 445, 446.
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2. Zuspitzungen solcher Art können dem Schünemannschen Ernsthaftigkeitsgebot nicht genügen. Gleichwohl stelle ich sie auf. Der ZugriffsAnspruch der Dogmatik auf die Praxis des Strafrechts ist – lebenswirklich – von erheblicher Wucht. Lesen wir doch in den Selbstbeschreibungen deutscher Strafrechtslehrer, sie seien von den dogmatischen Ideen ihrer eigenen Lehrer geprägt worden vom Jünglingsalter bis ins Stadium der Emeritierung! 33 Kann das stimmen, und wenn ja: warum? Die Frage wäre es wert, sorgfältig untersucht zu werden; die Antwort könnte einen Beitrag leisten zur soziologischen Erkenntnis der Konstruktions-Wirklichkeit von Recht. Nehmen wir das Wort für die Wirklichkeit, den Anspruch für seinen Vollzug: Dann sind Strafrechtsdogmatiker, deutsche zumal, prägend für Strafjuristen und für das „praktische“ (?) Strafrecht weit über die Grenzen Europas hinaus. Erstaunlicherweise allein der Bundesgerichtshof weiß – angeblich – nichts von ihnen und wendet sich ab: versteht, liest, beachtet, lobt, befolgt sie nicht (oder stets die falschen). Woran kann das liegen? Von der Seite der Strafrechtslehre lesen wir hierzu meist Fußnoten mit Hinweisen auf eigene oder der eigenen „Schule“ angehörende Schriften; Verweisungen auf die Verfügbarkeit elaborierter Systeme; Klagen über eine rätselhafte Ignoranz der Justiz 34 und ggf. auch der Strafverteidigung 35. Soweit „praktische Irrelevanz“ dogmatischer Arbeit pejorativ konstatiert wird, bezieht sich dies auf Veröffentlichungen und Theorien konkurrierender „Schulen“ oder Individuen.36
33 Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, 2010; dazu Fischer FS Rissing-van Saan, 2011, S. 143 ff. 34 Beispielhaft zuletzt wieder Puppe ZIS 2014, 66 ff., die der Rechtsprechung, soweit diese ihren dogmatischen Vorstellungen nicht folgt, „mit wohltönenden Textbausteinen garnierte Willkür“ attestiert (vgl. dazu Fischer ZIS 2014, 97 ff.). 35 Diese wird – erstaunlicherweise – von der Strafrechtswissenschaft kaum je als eigenständiger Teil des Strafrechtssystems betrachtet, soweit nicht spezifische prozessuale Fragestellungen inmitten stehen. Strafverteidigung wird vielmehr wohl meistens undifferenziert „der Praxis“ zugeschlagen – ohne freilich etwa typische (dogmatische) Ansätze und Argumentationsfiguren wahrzunehmen. Anders werden die Karten wiederum gemischt in der Strafverteidigung durch Strafrechtslehrer: Hier verbindet sich Dogmatik immer wieder auf das Schönste mit rechtspolitischem Impetus, Weltverständnis und lebenspraktischer Effizienz; bevorzugt im pekuniär erfreulichen Feld des Wirtschaftsstrafrechts. 36 Stilbildend schon Binding über von Liszt: „Mit dem haben wir alle gar keine Gemeinschaft, außer der, dass wir ihm, wenn er uns dazu nötigt, die Macht des Rechts an seinem eigenen Leibe beweisen“ (Binding Grundriss des Deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 1907, S. XI); und ebd. S. 98, Fußnote: [Die Replik von Listzs] „zeigt die gleiche Feindschaft gegen Gründlichkeit und die gleiche Neigung zu volltönenden Sätzen mit schillernder Bedeutung wie der Vortrag. So entbehrt sie des wissenschaftlichen Wertes gerade wie er. Aber psychologisch interessant ist sie. Sie zeigt, dass das Maß eigener Wertschätzung nicht immer identisch ist mit dem Werte der Leistung …“ Ein solches Maß des Furor docmaticus wird heute nur selten noch offen zugegeben.
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3. Wie kommt es zu dogmatischen Fehlern der Rechtspraxis? Zu behaupten ist: „Die Rechtswissenschaft“ – als soziale Gruppe, aber auch als System37 – hat überwiegend keine lebendige, lebensnahe, realistische Vorstellung von den Arbeitsbedingungen und -voraussetzungen der Rechtspraxis. Menschen, deren Berufspraxis darin besteht, ein „Problem zu formulieren“, also eine Frage so zu stellen, wie sie vor ihnen niemand gestellt, oder sie so zu beantworten, wie sie vor ihnen niemand beantwortet hat, können sich schwer vorstellen, wie es sich anfühlt, einen „Fall“, d.h. ein nicht selbst generiertes, sondern von außen kommendes Bündel tatsächlicher und rechtlicher Fragestellungen so zu definieren und zu behandeln, dass er möglichst wenig Probleme verursacht, sich vielmehr als „einfach“, „gewöhnlich“, üblich verstehen, darstellen und „lösen“ lässt. Ein solches Vermeiden von dogmatischen, intellektuellen, definitorischen, legitimatorischen Schwierigkeiten ist ja in weitem Umfang Kern der Rechtspraxis; ihr Auffinden ist in demselben Maß Kern der wissenschaftlichen Rechtsdogmatik. Diese grundlegend andere, geradezu entgegengesetzte Sichtweise hat erhebliche Folgen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dogmatik denkt, ihrer Natur nach, eine Vereinfachung von „Problemen“ auf ein unspektakulär zu lösendes Analogon zum Gewohnten sei, seiner Natur nach, verdächtig, minderwertig; alltagstheoretisch: „praktisch“. Liest man die Anmerkungen zu Gerichtsentscheidungen, erfährt man viel darüber, wie zu entscheiden gewesen wäre, hätte sich der Fall ein wenig anders zugetragen. Den Richter beeindruckt das in der Regel wenig: Den etwas anderen Fall möchte er entscheiden, wenn er denn kommt; bis dahin ist er froh, über ihn nicht nachdenken zu müssen. Diese Feststellung mag enttäuschend sein für denjenigen, dessen Beruf (allein) dieses Nachdenken ist. Ohne sie – in einem empathischen Sinn – verstanden zu haben, wird aber auch jene „Fremdheit“ nicht verstanden, geschweigen denn überbrückt werden, von welcher wir sprechen. Mir scheint, noch immer, trotz kritischen Distanz zum eigenen praktischen Tun, die Last der Bringschuld auf Seiten der Rechtswissenschaft zu liegen: Nicht aus bornierter Geringschätzung, sondern durchaus aus Vertrauen und Hochachtung. Denn die Dogmatik hat vieles, was die Rechtspraxis nicht hat: Zeit, Distanz, Unabhängigkeit vom Konkreten, oft ideale Arbeitsbedingungen. Dogmatische Fehler der Rechtspraxis haben vielerlei Ursachen. Sie sind unendlich oft beschrieben worden; in der Praxis selbst werden sie oft verschwiegen, verharmlost oder anderweitig marginalisiert. Das gilt auch für die Praxis des Revisionsgerichts.38 Eigene Fehler zuzugeben fällt schwer. Straf37
Wie sonst? Vielfach anders zu beurteilen sind die Verhältnisse beim „Tatrichter“. Er/sie kommt in den gängigen Darlegungen der Probleme zwischen Praxis und Wissenschaft kaum vor. Das ist ungerecht. Gleichwohl: Auch in diesem Beitrag ist wieder kein Platz für ihn. 38
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rechtslehrer sind ein gutes Beispiel für diese Regel; Revisionsrichter sind nicht besser. Es gibt keine „fehlerfreien“ Urteile. Es gibt keine perfekten Sachverhalte. Es gibt keine lückenlose Beweiswürdigung. Es gibt keine zweifelsfreien Schuldsprüche. Es gibt keine ehernen Konkurrenzen, keine Rechtfertigungen von Strafen aus Evidenz. Dies tatsächlich zu verstehen, ist eine LebensAufgabe. Sie bewegt sich zwischen „Dogmatik“ und „Praxis“ und den komplexen Bedingungen, die beiden Welten jeweils zugrunde liegen. Richter beherrschen sie nicht durch das Bestehen des Zweiten Juristischen Staatsexamens und auch nicht kraft einer von partei-politischen Zugriffen bestimmten Wahl zum Bundesrichter.39 Jede und jeder, dem diese Funktion zufällt, hält sich selbst für auserwählt und fähig und andere nicht, auch wenn die Logik gegen diese Annahme sprechen mag. Diese Erkenntnis entwertet nichts. Denn es geht nicht um Mathematik, sondern um Legitimation, nicht um Richtigkeit, sondern um Gerechtigkeit. Und auch jeder Lehrstuhlinhaber meint, bei objektiver Betrachtung sei die Wahl der Fakultät auf den Besten gefallen. Kein Richter, auch kein Richter am Obersten Gerichtshof, kann heute auch nur ansatzweise mehr rezipieren, was die Dogmatik-Industrie hervorbringt.40 Als der Verf. im Jahr 2008 schrieb41, der Großteil der wissenschaftlichen Veröffentlichungen werde am Bundesgerichtshof gar nicht wahrgenommen, löste dies ungläubige, gar empörte Reaktionen aus; es wurde als „provokant“ empfunden. Das ist es mitnichten; es ist vielmehr banal. Dogmatische Fehler werden nicht begangen, um das Recht zu beugen oder um die Bedeutung von Hochschullehrern zu verkennen. Sie folgen keinem geheimen Plan. Ihnen liegt Unkenntnis zugrunde; Überlastung; eine fehlerhafte, auf Konsens um beinahe jeden Preis ausgerichtete Binnenstruktur der Senate.42 Sie sind manchmal von schwer verständlicher Offensichtlichkeit.43
39 Dies ist ein anderes Thema. Es ist ein rechtspolitischer Skandal, dass es nicht öffentlich wird und dass seine Implikationen nicht entfernt die Bedeutung erlangen wie Entscheidungen über Stromtrassen oder Verfolgung von Kinderpornographie. 40 So auch Schünemann GA 2011, 445, 460. 41 Fischer FS Hamm, 2008, S. 63, 65. 42 Vgl. dazu auch die Diskussion um das „Zehn-Augen-Prinzip“ im revisionsgerichtlichen Verfahren, die auch von der Mehrheit der Strafrechtslehrer ersichtlich unter dem Stichwort „fremde seltsame Welt“ abgelegt und ignoriert wurde (dazu, unter anderem: Fischer/Krehl StV 2012, 550; Fischer/Eschelbach/Krehl StV 2013, 395; Fischer NStZ 2013, 425; Basdorf u.a. NStZ 2013, 563; Eschelbach/Fischer/Krehl NStZ 2013, 563; Mosbacher NJW 2014, 124; Hamm/Krehl NJW 2014, 903 ff. 43 Beispiel aus dem wahren Leben: In einer Beratung vertritt die große Mehrheit eines Revisionssenats die Ansicht, zur abgeurteilten schweren räuberischen Erpressung stehe, in Bezug auf dieselbe Sache und dieselbe Tathandlung, ein schwerer Raub in Tateinheit – bezogen auf dieselbe Sache und dieselbe Tathandlung, denn die beide Tatbestände schützten ja unterschiedliche Rechtsgüter. Das Argument dient dem Zweck, das „Beruhen“ des
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Mündlichkeit begünstigt in hohem Maß dogmatische Fehler. Wer nur Ergebnisse plausibel vortragen muss, verlernt dogmatisches Denken und Feingefühl. Wer vom Ergebnis her denkt und argumentiert, missachtet die Systematik des Wegs dorthin.44 Routinisierungen und eine auf sie hinwirkende Struktur begünstigen dogmatische Fehler. Damit ist gemeint: Eine Entscheidungs-Kultur, die zum Beispiel den schönen Begriff des „Aufhebers“45 kennt und – wie auch immer – zur Selbstbeschreibung verwendet, tendiert zur Ergebnisorientiertheit und damit zur dogmatischen Sorglosigkeit. Ausweitungen der Revision begünstigen dogmatische Fehler. Je mehr Einzelfalls-Gerechtigkeit zur Aufgabe der Revision gemacht wird, desto mehr muss, beinahe zwangsläufig, Dogmatik hinter Ergebnisorientiertheit, Systematik hinter Einzelfällen, Rechtsförmigkeit hinter Gerechtigkeit zurücktreten. Die Erwartung, alles zugleich könne gleichermaßen verwirklicht werden, zeugt zwar von gutem Willen, in Wahrheit aber auch von Unverständnis. Wenn man die Beweiswürdigung und die Strafzumessung der Tatgerichte für die revisionsgerichtliche Überprüfung öffnet, wie dies – mit guten, wenngleich nicht unbestrittenen Gründen! – in den letzten 40 Jahren zunehmend geschehen ist, ist das Resultat: „Auslegungen“ des Sachverhalts; unendliche Möglichkeiten von Missverständnissen über Formulierungen, Begriffe, Text-Nuancen; Ausweichbewegungen. Wenn diese gekoppelt sind mit reiner Mündlichkeit der Vermittlung in 80 % der Fälle und einer auf hohe Verwerfungs-Quoten zwingend angewiesenen Struktur, muss beinahe zwangsläufig vieles in Gefahr und auf der Strecke bleiben; auch dogmatische Gründlichkeit. 4. Wie kommt es zu praktischen Fehlern der Rechtsdogmatik? Die Frage impliziert, dass der Begriff des „Fehlers“ geklärt sei; er ist es in Wahrheit nicht. Evidenz ist freilich möglich: Die Annahme, ein voluntatives Element Urteils auf einem unzulässigen Straferschwerungsgrund zu bestreiten: Zwar mag der genannte Grund falsch sein; das Landgericht hätte aber stattdessen die tateinheitliche Verwirklichung von zwei Tatbeständen berücksichtigen können (…). Man sieht an solchen Beispielen, wie der schiere Wille zum (als „richtig“ angesehenen) Ergebnis selbst dogmatische Grundkenntnisse aus dem zweiten Studiensemester zurücktreten lassen kann. 44 Man kann dies leicht nachvollziehen, wenn man die Zuschriften der Bundesanwaltschaft an die Strafsenate liest oder den Vorträgen der Vertreter der Bundesanwaltschaft in den Hauptverhandlungen zuhört, die regelmäßig schriftlich ausgearbeitet sind und vorgelesen werden: Sie sind von durchweg hoher systematischer und dogmatischer Qualität; sie übertreffen mündliche Berichterstatter-Vorträge in den Beschlussberatungen insoweit oft um Längen. 45 Ein „Aufheber“ ist im Jargon des informellen Humors eine im Beschlussweg gem. § 349 StPO getroffene Entscheidung, die ein angefochtenes Urteil ganz oder teilweise aufhebt. Dem „Aufheber“ wird die „Erledigung“ gegenüber gestellt; er gilt selten als Sieg des Rechts, meist als dessen (vorläufige) Niederlage.
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des bedingten Vorsatzes sei eine Rechtsfrage und bestimme sich nach der Vorstellung davon, was ein Täter „normalerweise denkt“46, ist nach meiner Ansicht evident unrichtig.47 Die Rechtspraxis, auch des Revisionsgerichts, vermag nur selten sich hineinzuversetzen in eine Perspektive, in welcher nicht das Lösen von „Problemen“, sondern das Finden derselben als Ausweis höchster Kompetenz gilt. Die Praxis will und soll „Fälle“ lösen; Akten bearbeiten; Geschäftsaufgaben erledigen. Sie will „Erledigungen“ produzieren, auf einem unklaren Fundament von (persönlichen) Erfahrungen, Ambitionen, Gerechtigkeitsvorstellungen, auch Vorurteilen. Strafrechts-Wissenschaft – in ihrer Beschränkung auf Strafrechts-Dogmatik – produziert Wirklichkeiten nach ihrem Bild. Sie hat per se keine Vorstellung davon, wie schön es sein kann, kein „Problem“ zu haben oder zu finden, denn sie definiert sich gerade dadurch, die systematischen Fragen zuzuspitzen bis zum Ende, und Probleme zu lösen, welche sich bislang niemandem als solche enthüllten. Mehr ist zur Frage nicht zu sagen. Fehlerquellen der Strafrechtsdogmatik, welche zu deren Versagen vor den Anforderungen der Wirklichkeit führen können, mögen die beschreiben, die es angeht. Dass es sie gibt, wird kaum bestritten werden.
IV. Therapien? Gibt es Wege, die Dogmatik und Praxis zusammenführen? Schünemann merkt – vielleicht ein wenig höhnisch – an, „Fischers reichlich nebulose Empfehlung, eine Strafrechtswissenschaft zu implementieren, die Empirie und Normativität (wieder) ernstlich zu integrieren versucht“, werde „an den Machtstrukturen auch nichts ändern.“48 Was soll’s? Auch des Münchner Donnerers Blitze werden an den Machtstrukturen nichts ändern. Dann mag man es lassen, oder das Ende der Antwort zum Anfang der Frage erklären. Mir scheint, als könne einer jeweils auf den eigenen Horizont beschränkten Konfrontation von Anfang an kein glückliches Ziel beschieden sein. Dasselbe gilt für eine vorschnelle Ausrufung angeblicher „Kollegialität“. Es ist nicht schwierig, Verstiegenes, Unsinniges, Fremdes in der Rechtswissenschaft zu finden, was den Anforderungen eines „praktisch orientierten“ Regelungsbedürfnisses widerspricht oder gar schon im Ansatz die Substanz entzieht. Es ist umgekehrt nicht schwierig, einer am „praktischen Ergebnis“
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Puppe ZIS 2014, 66 ff. Fischer ZIS 2014, 97 ff. Schünemann GA 2011, 445, 461 Fn. 64.
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orientierten, theoriefeindlichen Rechtsprechung eine Vielzahl von Opportunitäten, Bewusstlosigkeiten, Rückständigkeiten und dogmatischen Fehlern nachzuweisen. Sollte eine „Gesamte Strafrechtswissenschaft“ nur mehr als ein alberner Euphemismus für Festreden angesehen werden, wie eine in der Strafrechtslehre gelegentlich zu bemerkende Untergangs-Begeisterung zu unterstellen scheint, so wäre dem zu widersprechen. Es gibt eine Wirklichkeit nach der unseren und unsere Verantwortung für sie.
Zum Zweck der Strafandrohung Ein Beitrag zur Theorie von der positiven Generalprävention Wolfgang Frisch
Über den Zweck der Strafe denken Juristen, Philosophen und Theologen seit Jahrhunderten nach; im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts haben sich zu den Diskutanten auch Soziologen und Psychologen, jüngst selbst Hirnforscher gesellt. Das so entstandene wogende Hin und Her von Meinungen illustrierend auch nur mit einigen Federstrichen anzudeuten, fehlt hier der Raum.1 Ich muss, soll ich angesichts der eng gesetzten räumlichen Grenzen überhaupt noch eine Chance haben, dem von mir geschätzten Jubilar meine Reverenz zu erweisen, mit schnellen Schritten zum eigentlichen Thema kommen.
I. Schwerpunkte und Randzonen der Strafzweckdiskussion: der vernachlässigte Zweck der Strafandrohung Durchmustert man die unübersehbare Flut von Äußerungen zum Zweck der staatlichen Strafe, so stellt man sehr rasch eines fest: Die Aussagen haben im Wesentlichen nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum des Einsatzes der Strafe im Auge. Sie beziehen sich fast durchweg auf den Zweck der Verhängung der Strafe, der auch für die Zumessung der Strafe von Bedeutung ist. Das gilt vor allem für die Diskussion darüber, ob die Strafe richtigerweise retributive oder präventive Ziele zu verfolgen habe. Ihre stillschweigende Voraussetzung ist eine geschehene Straftat. Bezogen auf diese Situation wird nunmehr gefragt, ob die Schuld des Täters ausgeglichen,2 das von ihm Angerichtete aufgehoben oder ihm vergolten werden soll,3 oder ob es nicht viel 1 Vgl. dazu die umfassende Darstellung von Nagler Die Strafe, 1918; erg. Frisch in: Koslowski (Hrsg.), Endangst und Erlösung 2, 2012, S. 53 ff. 2 So die Rechtsprechung und h.M., vgl. z.B. BGHSt 24, 132, 134; 50, 40, 49; aber auch BGHSt 24, 40, 42; näher V. Haas Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 261 f. m.w.N.; Kühl FS Volk, 2009, S. 275, 279. 3 Für die Vergeltungstheorie jüngst T. Walter ZIS 2011, 636 ff. („mit schlechtem Gewissen“, 644).
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sinnvoller ist, etwa von ihm drohende Taten zu verhindern – ihn also zu bessern, von weiteren Taten abzuschrecken usw. Nicht weniger gilt das für die Ansätze, die die Genugtuungsfunktion der Strafe betonen.4 Aber auch viele Aussagen zur generalpräventiven Funktion der Strafe sind auf die Situation nach begangener Tat zugeschnitten. Das gilt nicht nur für den schon in der Antike auftauchenden Gedanken, am Täter sei zur Abschreckung anderer ein Exempel zu statuieren, der die Praxis und den Vollzug der Strafe bis tief hinein in die Neuzeit beeinflusste. Es gilt vor allem auch für die Theorie, die in Deutschland mittlerweile zur wohl herrschenden Straftheorie geworden ist: die Theorie von der positiven Generalprävention.5 Stichworte wie Konflikterledigung oder Wiederherstellung des erschütterten Vertrauens in die Normgeltung geben im Kontext staatlichen Strafens ohne zuvor begangene Tat keinen Sinn – sie sind Leitmotive der Verhängung und vielleicht auch der Zumessung der Strafe. Weit weniger im Brennpunkt des Interesses steht ein anderer Aspekt des Einsatzes der Strafe, auch wenn er spätestens seit Thomas Hobbes immer wieder betont worden ist: die Androhung oder Ankündigung der Strafe.6 Viele, die sich intensiv mit dem Zweck der Strafe befassen und dabei im Wesentlichen den Zweck der Strafverhängung (und das Leitmaß der Strafbemessung) meinen, schenken der Frage nach dem Zweck der Strafandrohung kaum Aufmerksamkeit. Wenn sich Bemerkungen zum Zweck der Strafandrohung finden, dann sind es Hinweise auf den präventiven Zweck der Strafdrohung – wobei als Art der Prävention seit Thomas Hobbes vor allem die Abschreckung durch das angedrohte Strafübel gemeint ist.7 Viel mehr findet sich dazu selbst bei jenen Theoretikern nicht, die – wie Feuerbach und Bentham – das Strafrecht ganz von der Strafdrohung her entwickelt haben. Sie begründen zwar, dass und warum Strafen abschreckende Wirkung (in Form psychologischen Zwangs) entfalten können und reflektieren eingehend darüber, was notwendig ist, damit Strafdrohungen diese Wirkung haben.8 4
I.S. der Strafe als Genugtuung zuletzt V. Haas (Fn. 2), S. 262 ff. S. dazu z.B. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 26 ff.; ders. FS Bockelmann, 1979, S. 279, 305 f.; Peralta ZIS 2008, 506 ff.; eingeh. weit. Darstellung und Nachw. bei Haas (Fn. 2), S. 268 ff. und in Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998 sowie bei Kalous Positive Generalprävention durch Vergeltung, 2000. 6 Zum Unterschied vgl. Frisch in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 125, 144 f. 7 Vgl. Hobbes Leviathan, 1951 (Ausgabe Reclam 1970), 2. Teil, 28. Kap., S. 258 ff.; Feuerbach Lehrbuch des peinlichen Rechts, 1801, § 20; aus neuerer Zeit z.B. Roxin JuS 1966, 377, 382 f.; eingeh. weit. Nachw. bei Nagler (Fn. 1). 8 Vgl. etwa Feuerbach Lehrbuch (Fn. 7), § 17; ders. Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. 1, 1799, S. 45 f. und J. Bentham An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Oxford 1789, Ch. 13 und 14; dazu Frisch in: Koch u.a. (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, 2014, S. 191 ff.; Greco Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009. 5
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Aber ob der Zweck der Strafdrohung wirklich die Abschreckung ist, wird auch bei ihnen nicht näher erörtert. Erst in jüngster Zeit finden sich einige Stimmen, die der Strafandrohung etwas mehr Beachtung schenken.9 Auf den ersten Blick ist dieses relativ geringe Interesse an einer intensiven Diskussion der Frage nach dem Zweck der Strafandrohung durchaus verständlich. Viele der konkurrierenden Aussagen zum Zweck der Strafe sind ja offenbar von vornherein ungeeignet, den Zweck der Strafandrohung zu beschreiben. Das gilt für den Schuldausgleich oder die Konflikterledigung ebenso wie für die Besserung des Täters oder die Genugtuung für das Opfer – sie alle setzen eine begangene Tat voraus, auf die reagiert werden soll, und passen damit nicht für die Beschreibung des Zwecks des Strafeinsatzes vor der Begehung von Taten. Aus dem Kanon der herkömmlichen Strafzweckaussagen taugt dafür vielmehr offensichtlich allein der Zweck der Generalprävention, insbesondere in der Form der mit der Generalprävention lange Zeit allein verbundenen Allgemeinabschreckung. Indessen erklärt die offenbar fehlende Adäquität der anderen Aussagen zum Strafzweck allenfalls das Faktum einer fehlenden intensiveren Diskussion über den Zweck der Strafandrohung. Dass es einer solchen Diskussion nicht bedürfe, lässt sich daraus nicht herleiten. Eine solche ist im Gegenteil dringend erforderlich. Der (in Gestalt der Allgemeinabschreckung) angegebene Zweck der Strafdrohung könnte problematisch sein und die Wirkweise und Intention der Strafandrohung verzeichnen. Es könnte auch sein, dass er viel zu einseitig ist und wichtige Funktionen der Strafandrohung nicht zum Ausdruck bringt. Kurz: Was offensichtlich fehlt, ist eine ausdiskutierte Theorie der Strafandrohung. Zu dieser einige Aspekte beizusteuern ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Sie in einer Bernd Schünemann gewidmeten Festschrift zu entwickeln, liegt schon deshalb nahe, weil der Jubilar einer der wenigen ist, die sich in jüngster Zeit intensiver mit der Frage nach Zweck und Funktion der Strafandrohung beschäftigt haben.
II. Die Abschreckung als Zweck der Strafandrohung? 1. Als Zweck der Strafandrohung gilt – spätestens – seit Hobbes die Abschreckung potentieller Täter. Sie setzt in ihrem ursprünglichen Konzept auf den Schrecken: die Furcht der Bürger vor Strafe. Feuerbach und Bentham haben dieses Konzept zu perfektionieren versucht, indem sie den Gesetzgeber zur Verankerung von Strafen anhielten, die potentiellen Tätern so viel 9 Vgl. etwa Schünemann in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 109, 117 ff.; zuvor schon ders. in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik, 1987, S. 209; eingeh. Greco (Fn. 8) passim, insbes. S. 124 ff., 395 ff., 418 ff., 458.
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Furcht einflößen, dass ihnen die Lust zur Begehung von Straftaten vergeht.10 Derartige Übersteigerungen des Konzepts der Abschreckung durch die Strafandrohung haben sich zwar auf Dauer nicht durchzusetzen vermocht.11 Aber lebenskräftig ist der Gedanke, dass die Strafandrohung die Abschreckung potentieller Täter bezwecke, noch heute – am deutlichsten, wenn der Gesetzgeber wieder einmal eine bestimmte Strafdrohung erhöht, um potentielle Täter wirksamer abzuschrecken.12 Die Lebenskraft des Gedankens, Zweck der Strafandrohung sei die Abschreckung potentieller Täter, ist erstaunlich. Immerhin hat kein geringerer als Hegel schon gegen Feuerbachs Theorie der Abschreckung durch eine den Täter psychologisch zur Tatbegehung unfähig machende Strafe eingewandt, es sei, als ob man den Stock gegen einen Hund erhebe.13 Aber möglicherweise ist Hegels Kritik mehr als Kritik an der Überzogenheit der Theorie des psychologischen Zwangs denn als Ablehnung der Generalprävention als Zweck der Strafandrohung überhaupt verstanden worden. So kann man sie auch verstehen. Denn sicherlich zielt die Strafdrohung doch jedenfalls auf etwas in der Abschreckung enthaltenes Allgemeineres, dessen Benennung als (berechtigten) Zweck der Strafdrohung man schwerlich wird in Abrede stellen können: potentielle Täter von Straftaten abzuhalten. Nur: „Abhaltung von Straftaten“ und „Abschreckung, um abzuhalten“ sind etwas Verschiedenes. Zwar ist der Begriff der Abhaltung sicherlich noch präzisierungsbedürftig, was einige Mühe macht und vielleicht auch nicht in einem so griffigen Begriff wie dem der „Abschreckung“ endet. Aber das ist kein Grund, sich auf die Abschreckung einzulassen. Denn dieser Begriff enthält eine Zuspitzung, die normativ gefährlich ist, die Wirkweise des Strafrechts verzerrt wiedergibt und überdies mit dem Konzept der Strafdrohungen nicht in Einklang steht. Skizzenhaft: 2. Die Gefährlichkeit der These, Zweck der Strafandrohung sei die Allgemeinabschreckung, steckt im Begriff der Abschreckung selbst, aber auch in den Schwierigkeiten, den Gedanken rational zu realisieren. Nimmt man den Begriff ernst, so müsste man Strafen androhen, die bei potentiellen Straftätern so viel Furcht erzeugen, dass Straftaten unterbleiben. Das ist als Ziel
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Vgl. die Nachw. in Fn. 8. Zur (kurzen) Geschichte des auf Feuerbach zurückgehenden Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 vgl. Frisch (Fn. 8), S. 191, 206 ff.; Nagler (Fn. 1), S. 395 f. 12 Deutlich z.B. in den Materialien zu bestimmten Verbrechensbekämpfungsgesetzen; vgl. etwa die Begründung des Entwurfs zu einem „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität“ v. 15.7.1992, BT-Drucks. 12 / 989, S. 1, 21, 30. 13 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (Hegel, Werke 7, Ausgabe Suhrkamp, 1970/1986), § 99, Zusatz. 11
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natürlich völlig unrealistisch.14 Was verhindert werden kann, ist allenfalls ein Teil jener Straftaten, die ohne Strafdrohung begangen würden. Aber wie groß soll dieser Teil nun eigentlich sein (damit man weiß, zu welchen Drohungen man zu greifen hat)? Nach einer Antwort hierauf wird man vergeblich suchen. Aber selbst wenn man sie hätte, würde uns das nichts nützen. Denn niemand weiß, welche Strafdrohungen geeignet und erforderlich sind, um gewisse etwa angestrebte Abschreckungseffekte (oder Abschreckungsquotienten) zu erreichen. Kurz: Das Konzept ist rational nicht umsetzbar.15 Will man es trotzdem umsetzen, so wird es gefährlich. Mangels rationaler Vorgaben entscheidet dann dezisionistische Willkür, die eine unübersehbare Tendenz zu hohen Strafen in sich birgt: Sie erscheinen als die beste Gewähr, möglichst vielen Normadressaten hinreichend Furcht einzuflößen und sie so von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Dass das keine Phantasie ist, belegt die Geschichte des Abschreckungsstrafrechts mit vielen Beispielen. Verhindern lassen sich diese Gefahren nur, wenn man von der Abschreckung als Ziel der Strafdrohung abrückt. Die Abschreckung ist für das Strafrecht ein viel zu ambitioniertes (und daher gefährliches) Ziel. Ein maßvolles Strafrecht muss sich mit deutlich weniger begnügen. Es muss damit zufrieden sein, wenn es ihm gelingt, im Verein mit anderen auf die Verhinderung von Straftaten zielenden Institutionen und Kräften einen Beitrag dazu zu leisten, dass Personen von Straftaten abgehalten werden. Dabei ist es nicht möglich, diesen Beitrag als angestrebtes Ziel vorab zu bestimmen und von daher über empirische Überlegungen das erforderliche Strafrecht zu konstruieren – auch dafür fehlt uns die erforderliche Empirie. Das Strafrecht muss sich vielmehr auf ein eigenes (normatives) Konzept besinnen, das ihm und seinen Strafdrohungen eine begründbare Chance eröffnet, Personen von Straftaten abzuhalten, zugleich aber auch dem Gesetzgeber ein Leitkriterium an die Hand gibt, welches in umsetzbarer Weise den Entwurf von Strafdrohungen ermöglicht.16 Die späteren Ausführungen werden zeigen, dass genau dies der Ansatz der Strafrechtsordnungen unserer Zeit ist. Bevor dies verdeutlicht wird, lohnt es sich indessen, noch einen Blick auf zwei weitere Schwachpunkte der These zu werfen, dass Zweck der Strafandrohung die Abschreckung sei.
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S. dazu in kritischer Auseinandersetzung mit Feuerbach Frisch (Fn. 8), S. 191, 196 f. S. dazu schon Frisch FS Maiwald, 2010, S. 239, 247; Schöch FS Schaffstein, 1975, S. 255, 266 ff.; ders. FS Jescheck, 1985, S. 1081 ff., 1103 ff. – Es hat auch nichts mit der Umsetzung eines Konzepts „notwendiger Abschreckung“ zu tun, wenn man hierfür nicht auf die Abschreckungsbedürfnisse, sondern auf die „Wichtigkeit der Rechtsgüter“ abstellt (so Peralta ZIS 2008, 506, 514); dieses Kriterium wird in anderem Zusammenhang bedeutsam (s. unten III.). 16 In der Tendenz ebenso Schünemann in: Eser/Cornils (Fn. 9), S. 209, 223 f. 15
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3. Die These formuliert nicht nur ein für das Strafrecht viel zu ambitioniertes Ziel (und droht dadurch gefährlich zu werden). Sie unterstellt dem Gesetzgeber unserer Zeit auch deshalb problematische Ziele, weil sie auf verfehlten Vorstellungen von der Wirkweise des Strafrechts in den heutigen demokratischen Gemeinwesen beruht. Dabei mag dahinstehen, ob die These zur Zeit eines Thomas Hobbes die Wirkweise von Moral, Recht und Strafrecht richtig abbildete. Heute tut sie dies jedenfalls nicht mehr. Wir wissen heute durch rechtssoziologische, sozialpsychologische und kriminologische Untersuchungen, dass der Beitrag, den das Strafrecht zu der Verhütung von Straftaten leistet, relativ begrenzt ist17 – viel kleiner als Feuerbach meinte, als er dem Strafrecht die ganze Last der Straftatenverhütung meinte aufbürden zu müssen. Die meisten Straftaten unterbleiben nicht, weil das Strafrecht sie verbietet oder die Strafdrohungen potentielle Täter abgeschreckt haben. Sie unterbleiben, weil schon die Moral oder soziale Regeln bestimmte Verhaltensweisen als inakzeptabel bezeichnen und das für die allermeisten Menschen handlungsleitend ist. Und selbst dann, wenn der Gedanke der Folgen der Tat eine motivierende Rolle spielt, sind es oft gar nicht die rechtlichen, gar strafrechtlichen, sondern soziale Folgen, die Personen von bestimmten Verhaltensweisen Abstand nehmen lassen. Das Recht kommt als motivationsbestimmend in der Regel erst dann ins Spiel, wenn die sozialen Normen und die Moral zur Verhinderung bestimmter Verhaltensweisen nicht ausreichen – sei es, weil Moral und soziale Normen nur schwach ausgeprägt sind, sei es, weil sie einer Person aus sonstigen Gründen kein hinreichendes Motiv geben, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen. Freilich ist es dann in vielen Fällen allein schon die rechtliche Aussage selbst, die Personen dazu veranlasst, sich rechtstreu zu verhalten; auf die Strafbewehrung der Norm kommt es oft gar nicht mehr an. Und wenn sie doch im Motivationsprozess einer Person eine Rolle spielt, so häufig nicht in dem Sinne, dass das angedrohte unerwünschte Übel der Strafe seine motivatorische Wirkung entfaltet hätte, sondern deshalb, weil die Person an der Strafbewehrung erkannt hat, dass es sich um eine bedeutsame rechtliche Regel handelt, die es unbedingt einzuhalten gilt. Natürlich bleiben Fälle, in denen wirklich erst das unerwünschte Übel der angedrohten Strafe den Täter dazu bewegen kann, von bestimmtem Verhalten abzulassen. Inwieweit diese Fälle die Abschreckungsthese zumindest für einen Letztbereich stützen, wird noch zu erörtern sein. Unabhängig davon ergeben sich aber schon aus den bisherigen Überlegungen Konsequenzen für die Intentionen, die man dem Gesetzgeber als Zweck der Strafdrohungen
17 Vgl. dazu und zum Folgenden etwa Kaiser Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 31 Rn. 31 ff.; Streng Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 59 ff. m.w.N.; s. erg. Zippelius Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, § 6 I.
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unterstellen oder nicht unterstellen darf. Denn natürlich sind die eben skizzierten Zusammenhänge auch dem Gesetzgeber bekannt. Man darf daher davon ausgehen, dass er so wirken will, wie es diesen Einsichten entspricht, und nicht Zwecke verfolgt, die an diesen Wirkungsabläufen vorbeigehen oder in ihnen keine Rolle spielen. Das bedeutet konkret, dass der heutige Strafgesetzgeber, zumindest in erster Linie, nicht auf Abschreckung durch Strafe zielt, sondern darauf, die Bedeutung bestimmter Regeln durch ihre Bewehrung mit Strafe kenntlich zu machen – weil auch er davon ausgeht, dass allein dies schon in vielen Fällen ausreicht, bestimmte Verhaltensweisen zu unterbinden. In verschiedenen modernen Strafgesetzen drückt der Gesetzgeber dies ja sogar selbst so aus.18 Es bleiben die schon erwähnten restlichen Fälle, in denen wirklich erst die Unerwünschtheit des angedrohten Strafübels einer Person ein hinreichendes Motiv gibt, von bestimmten Verhaltensweisen abzulassen. Wegen dieser verbleibenden Fälle anzunehmen, die Strafandrohung bezwecke die Abschreckung potentieller Straftäter, geht nun freilich schon deshalb zu weit, weil damit die allenfalls für einen Restbereich von Fällen bezeichnende Wirkweise der Strafe unter Ausblendung ihrer hauptsächlichen Intention und Wirkweise zum alleinigen Zweck der Strafandrohung hochstilisiert würde. Dass die These außerdem falsch ist, weil sie die bezweckte Wirkweise mit der tatsächlichen vermengt, wird im Rahmen der näheren Darstellung der bezweckten Wirkweise noch zu zeigen sein. Schon im Rahmen dieser analytischen Kritik lässt sich gegen die These von der intendierten Abschreckung in einem Letztbereich aber jedenfalls auch anführen, dass es gegen sie spricht, wenn gegenüber dieser verbleibenden Gruppe potentieller Täter seitens des Gesetzgebers überhaupt keine Anstrengungen zur Gewährleistung einer abschreckenden Wirkung der Strafandrohung unternommen werden, sondern sich die Strafe auch ihnen gegenüber nach durchaus anderen Kriterien bestimmt. Das ist nun in der Tat der Fall – und leitet zugleich über zu einem weiteren grundsätzlichen Schwachpunkt der These, dass Zweck der Strafandrohung (vor allem) die Abschreckung potentieller Täter sei. 4. Wäre der Zweck und damit auch der leitende Gedanke bei der Aufstellung der Strafdrohungen wirklich die Abschreckung potentieller Straftäter, so wäre zu erwarten, dass sich das auch in den Inhalten der Strafdrohungen niederschlägt. Für Straftaten, bei denen der Anreiz zu ihrer Begehung erfahrungsgemäß groß und die abhaltende Wirkung der Moral und sozialer Normen eher gering ist, müsste die angedrohte Strafe zur Erreichung einer ab-
18 So z.B. im Rahmen der Umgestaltung des Umweltstrafrechts, wo dessen Aufnahme in das Kernstrafrecht die Unwertigkeit bestimmter Verhaltensweisen deutlich(er) machen sollte.
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schreckenden Wirkung damit hoch sein. Delikte, bei denen die Gefahr ihrer Begehung gering ist, weil tief internalisierte ethische und soziale Normen von ihnen abhalten, könnten demgegenüber mit deutlich niedrigeren Strafdrohungen versehen werden. Also konkret: Hohe Strafen wären vor allem gegenüber Eigentumsdelikten wie dem Diebstahl oder bestimmten Bereicherungsdelikten, bei denen der Anreiz zur Begehung groß und die abhaltende Kraft der sozialen Normen und der Moral begrenzt ist, geboten. Bei Tötungsdelikten, gegen die schon starke soziale Normen einen sehr wirksamen Schutz verbürgen, bräuchten die Strafdrohungen dagegen nicht besonders hoch zu sein, um diejenigen, die durch Strafe überhaupt abzuhalten sind, abzuschrecken.19 Sieht man auf die Realität der Strafdrohungen, so wird man feststellen, dass diesen Erwartungen am ehesten noch das Strafrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit entspricht, wo der Diebstahl und einige besonders verbreitete Verbrechen mit Strafen belegt waren, von denen man sich eine starke Abschreckungswirkung versprach. Die Strafdrohungen der heutigen Zeit sehen anders aus. Hier sind Delikte wie der Totschlag oder der Mord mit den höchsten Strafdrohungen belegt, und zwar auch in Ländern, für die man sagen kann, dass die Gefahr der Begehung dieser Delikte hier wegen wirksam abhaltender ethischer und sozialer Normen gering ist. Delikte, die sehr verbreitet sind und bei denen die abhaltende Kraft sozialer Normen nur begrenzt wirkt, wie Diebstahl oder einige andere Bereicherungsdelikte, sind demgegenüber mit bei weitem niedrigeren Strafen bedroht. Es sind also ganz offensichtlich nicht die unterschiedlichen Abschreckungsbedürfnisse, die dem Gesetzgeber bei der Aufstellung und Ausgestaltung der Strafrahmen als Richtschnur dienen.20 Was ihn dabei geleitet hat und prinzipiell noch immer leitet, ist etwas ganz Anderes: Es sind der unterschiedliche Wert der bedrohten Rechtsgüter, das Ausmaß den Angriffs und dessen Gefährlichkeit und eine nach bestimmten Wertmaßstäben beurteilte größere oder geringere Verwerflichkeit der Tat. Dass das der Gedanke ist, der den Gesetzgeber beim Entwurf der Strafdrohungen leitet, wird auch sichtbar, wenn Strafdrohungen bisweilen verändert werden: Fast stets hat dies damit zu tun, dass der Wert eines Rechtsguts höher eingeschätzt oder die Verwerflichkeit anders beurteilt wird als von einem früheren Gesetzgeber.21 19 Zu diesen Voraussetzungen einer Orientierung allein an der negativen Generalprävention und den Konsequenzen für die negative Generalprävention als tragende Straftheorie Pawlik Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 70 f. m.w.N. 20 Übereinstimmend Schünemann in: Eser/Cornils (Fn. 9), S. 223 f.: Orientierung am Gewicht der Straftat; ders. in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003, S. 185, 187, 193. 21 Als Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit die Pönalisierung der versuchten Körperverletzung oder die Anhebung der Strafrahmen bestimmter Aggressions- und Sexualstraftaten.
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Auch die Inhalte der gesetzlichen Strafdrohungen belegen damit, dass der eigentliche Zweck der Strafdrohung nicht die Abschreckung ist. Der eigentliche Zweck ist ein anderer; wir werden das sogleich weiterverfolgen (s. III.). Richtig ist nur, dass der Gesetzgeber bei der Aufstellung der Strafdrohungen natürlich auch darauf setzt, dass die zunächst andere Zielsetzungen verfolgenden Strafdrohungen auch einer an die Begehung einer Straftat denkenden Person ein (zusätzliches) Motiv geben, von der Tat zu lassen – sei es, dass dafür bereits die Qualifikation des Verhaltens als strafbar, also strafwürdig, genügt, sei es, dass doch wenigstens die Unerwünschtheit des angedrohten Übels, obwohl dieses nach anderen Kriterien als der Maxime ausreichender Abschreckung bestimmt ist, ein hinreichendes Motiv für die Person bleibt, eine bestimmte Tat zu unterlassen.
III. Der wahre Zweck: Wirkung durch von der Tat abhaltendes Rechtsbewusstsein Bleibt die Frage, welchen Zweck der Gesetzgeber mit Strafdrohungen verfolgt, die eindeutig nicht an den Abschreckungsbedürfnissen, sondern an den schon erwähnten anderen Kriterien orientiert sind: dem Rang der Rechtsgüter, dem Ausmaß des Angriffs auf sie und dem Maß ihrer Beeinträchtigung, ihrer vorsätzlichen oder nur fahrlässigen Beeinträchtigung oder subjektiven Befindlichkeiten, die Taten unterschiedlich verwerflich erscheinen lassen. Im Grunde kann Zweck – im Sinne eines Nahzieles – nur eines sein: Der Gesetzgeber möchte durch ein System gestaffelter Strafdrohungen das grundsätzliche Ausmaß der Unwertigkeit und Strafwürdigkeit jener Taten zum Ausdruck bringen, die in den einzelnen Deliktstypen umschrieben sind. Oder – und meines Erachtens besser – aus der Perspektive der Normen (Verbote und Gebote), die eine Person verletzt, wenn sie einen bestimmten Deliktstyp verwirklicht: wie bedeutsam die im entsprechenden Deliktstyp mit Strafe bewehrten Normen sind. Schon die Strafdrohung als solche bringt dabei zum Ausdruck, dass es sich insoweit um für das Leben in der sozialen Gemeinschaft besonders bedeutsame Normen handelt. Die Bedrohung der einzelnen Delikte mit einer Staffelung unterschiedlich hoher Strafdrohungen soll die Botschaft vermitteln, dass es auch innerhalb des Kreises der strafbewehrten Normen noch einmal Unterschiede gibt und die Einhaltung bestimmter Verbote und Gebote von ganz besonderer Bedeutung ist. Natürlich ist die Vermittlung dieser Sinngehalte nicht Selbstzweck. Sie verfolgt ein weiteres Ziel: Indem der Gesetzgeber durch die gestaffelten Strafdrohungen die Bedeutung bestimmter Regeln und die Unwertigkeit bestimmter Taten verdeutlicht, will er – meist aufbauend auf entsprechenden moralischen Bewertungen – langfristig (und jenseits möglicher Situationen konkreter Tatgeneigtheit) das Rechtsbewusstsein der Bürger formen und
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stärken.22 Die Strafdrohungen sollen also über ein durch sie geformtes und gefestigtes Rechtsbewusstsein im Zusammenspiel mit moralischen und sonstigen vorrechtlichen Bewertungen langfristig zu rechtlich richtigem Verhalten anleiten – idealiter indem sie so wirken, dass der ernsthafte Gedanke, eine bestimmte Straftat zu begehen, schon gar nicht aufkommt (weil er bereits zuvor bewusst oder unbewusst vom Rechtsbewusstsein verworfen wird). In diesem Sinne geht es in den Strafdrohungen in erster Linie um das, was man heute vor allem im Zusammenhang der Strafverhängung als deren Zweck nennt: eine positive Generalprävention.23 Diese erfolgt in Wahrheit schon lange vor der Strafverhängung über die gestaffelten Strafandrohungen. Richtig ist freilich, dass einen nicht unwichtigen Teil dieser langfristigen Norminternalisierung auch die Verdeutlichung einzelner Segmente der Strafrechtsordnung im Zusammenhang mit der Aburteilung geschehener Straftaten leistet.24 Vergegenwärtigt man sich diese auf Normvermittlung und auf die Schaffung und Kräftigung von Rechtsbewusstsein zielende Intention des Systems der Strafdrohungen, so zeigt sich (nochmals) besonders deutlich, wie problematisch es ist, den Zweck der Strafdrohung heute in der Abschreckung potentieller Straftäter zu sehen. Wer so formuliert, blendet eine zentrale Intention und im Grunde die wichtigste Wirkung der Strafdrohungen aus – nämlich die Gewährleistung eines Rechtsbewusstseins, das beim größten Teil der Bevölkerung den ernsthaften Gedanken an die Begehung bestimmter Straftaten erst gar nicht aufkommen lässt. Stattdessen konzentriert man sich sofort auf jenen begrenzten Kreis der Fälle, in denen dieses Ziel nicht erreicht wurde und es nun darum geht, dass eine vor der Tat stehende (sie erwägende) Person an die Strafbarkeit des erwogenen Verhaltens und das Maß der Unwertigkeit des Erwogenen erinnert werden muss. Doch ist es selbst insoweit nicht richtig, den Zweck der Strafdrohung in der Abschreckung, also dem Verzicht auf die Straftat aus Furcht vor der Strafe, zu sehen. Auch hier ist es nach wir vor das Ziel des Gesetzgebers, die vor der Tat stehende Person durch den Aufweis des Maßes der Unwertigkeit und Unerwünschtheit der Tat, das sich aus der Strafbarkeit und der Höhe der Strafe ergibt, zur Abstandnahme von der Tat zu bewegen. Wo diese auf die Einsicht der Person in die Unwertigkeit der Handlung setzende Motivation gelingt, kann von Abschreckung überhaupt keine Rede sein. Hier waren es mit der Qualität des Verhaltens zusammenhängende Gründe, welche die Entscheidung bestimmt haben, nicht einfach Furcht vor Strafe.
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In der Sache übereinstimmend Schünemann in: Generalprävention (Fn. 9), S. 109, 118. Zutr. Schünemann (Fn. 22), S. 109, 118 f.; a.A. Greco (Fn. 8), S. 396 ff., 418 f. – Zur positiven Generalprävention als Zweck der Strafverhängung vgl. die Nachw. oben Fn. 5. 24 Dazu Frisch in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 3, 13 ff. 23
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Aber selbst wenn der Versuch des Gesetzgebers, auf diese Weise, also über die Einsicht der Person in die qualifizierte Unwertigkeit des Verhaltens, zu einer richtigen Entscheidung zu veranlassen, misslingt und die Person die Tat letztlich nur aus Furcht vor Strafe nicht begeht, ändert das nichts an der Zielsetzung des Gesetzgebers.25 Richtig ist nur, dass der Gesetzgeber, der die vernünftige Person über die richtige Einsicht motivieren will, die Verhinderung der Straftat rein tatsächlich auch erreicht hat, wenn nur die Furcht gewirkt hat (was ihm natürlich nicht unrecht ist). Doch bedeutet die Erreichung der letztlich erstrebten Verhinderung der Straftat durch die Wirkung von Furcht nur, dass das Endziel überhaupt erreicht wurde; es ändert nichts daran, dass eigentlich bezweckt war, es anders zu erreichen.
IV. Sicherung der materialen Legitimierbarkeit der Verhängung der Strafe für den Fall der Straftatenbegehung Freilich erschöpft sich die Bedeutung der Strafdrohung unter Zweckaspekten nicht darin, Straftaten zu verhüten. Die Strafdrohung bezweckt auch etwas für den Fall, dass sie mit ihrer primären Zielsetzung versagt. Für diesen Fall bezweckt sie, die Legitimation der Strafverhängung vorzubereiten und zu sichern. Dieser spezifische Zweck bleibt in Betrachtungen zum Zweck der Strafdrohung meist ungenannt. Die Notwendigkeit und zentrale Bedeutung der Strafandrohung im Kontext der Strafverhängung ergibt sich nicht allein aus dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ – obwohl auch dieser Grundsatz natürlich hinreichend bestimmte gesetzliche Aussagen zu den Folgen der Tat vor deren Begehung erforderlich macht. Auch die Begründungsanforderungen einer materialen Rechtfertigung der zu verhängenden Strafe machen eine solche vorherige Benennung der Straftatfolgen in Form einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Strafdrohung notwendig.26 Denn diese Legitimation baut darauf auf, dass der Täter der Rechtsordnung durch seine Tat und die in dieser liegende Infragestellung des Rechts einen zurechenbaren Normgeltungsschaden zugefügt hat bzw. ohne deren Zurückweisung zuzufügen droht und es daher hinnehmen muss, zu dessen Behebung bzw. Verhinderung mit den für diesen Fall notwendigen (symbolischen) Kosten (in Gestalt der jeweiligen Strafe)
25
Ebenso wohl Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 1. Abschnitt Rn. 16: „über Furcht vermittelte Effekte … nur Beigaben“, „nicht Aufgabe der Strafe, diese Effekte hervorzurufen“. 26 Auf die Frage, ob die im Folgenden dargestellten Erwägungen zur materialen Legitimation nicht auch einen wichtigen Begründungshintergrund des Satzes „nulla poena sine lege“ bilden, kann hier aus räumlichen Gründen nicht eingegangen werden. Auf dieser Linie wohl Schünemann (Fn. 22), S. 109, 119.
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herangezogen zu werden.27 Dabei sind sowohl das Ausmaß des Normgeltungsschadens als auch die zu dessen Behebung oder Verhinderung notwendigen Kosten zunächst einmal, d.h. ohne Festlegung, diffus. Will man gegenüber dem Täter angesichts dieser Vagheit argumentieren können, dass er eine bestimmte Strafe als die zur Behebung oder Verhinderung eines Normgeltungsschadens notwendigen Kosten hinzunehmen habe, so ist das nur möglich, wenn diese Kosten (die Strafe) zuvor so festgelegt worden sind, dass auch der Täter sie als hinzunehmende Kosten anerkennen muss. Notwendig ist damit die vorherige gesetzliche Festlegung.28 Die vorherige Benennung der Kosten (also der Strafe) ist, mit anderen Worten, integrierender Bestandteil der materialen Legitimation der Strafe. Erst wenn sie vorliegt, kann man die – sonst völlig diffuse – Strafe dem Täter als auch von ihm (vor der Tat) anerkannte Kosten der Behebung des Normgeltungsschadens entgegenhalten.
V. Gewährleistung einer sachgerechten Strafzumessung für den Fall der Straftatenbegehung Für den Fall der Begehung der zu verhütenden Straftat bezweckt die Strafandrohung schließlich auch, die zu verhängende Strafe festzulegen. Das gilt nicht nur, soweit das Gesetz als Folge der Straftat eine festbestimmte Strafe androht. Es gilt auch, wenn – wie heute fast allgemein – die Strafandrohung aus einem von einem bestimmten Mindestmaß bis zu einem bestimmten Höchstmaß reichenden Strafrahmen besteht. Mit solchen Strafrahmen als Inhalt der Strafandrohung verfolgt der Gesetzgeber mehrere Zwecke (jedenfalls wenn man auch die gestaffelte Systematik der Strafrahmen in die Beurteilung miteinbezieht). 1. Zunächst den einer Individualisierung der Strafzumessung. Der Schematismus nivellierender absoluter Strafdrohungen soll aufgebrochen werden. Für Art und Maß der Bestrafung relevante Unterschiede von Straftaten desselben Delikts sollen Berücksichtigung finden können. Die Art der Strafandrohung bezweckt mit anderen Worten die Ermöglichung einer sachgerechten Beurteilung des Einzelfalles. Noch nicht gesagt ist damit, zumindest bei einem isolierten Blick auf den Strafrahmen eines einzelnen Delikts nicht, wie diese sachgerechte Behandlung des Einzelfalles auszusehen hat. Theoretisch denkbar wäre es z.B. nicht nur, die Individualisierung nach dem Ausmaß der Unwertigkeit der Tat (also 27 S. dazu schon Frisch in: Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 269, 276 m.w.N. 28 Vgl. schon Hegel (Fn. 13), § 96 Zusatz: „Wie ein Verbrechen zu bestrafen sei“, „hierzu sind positive Bestimmungen notwendig“.
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z.B. dem Maß des [verschuldeten] Unrechts) zu betreiben, sondern dafür auf das unterschiedliche Maß der spezialpräventiven Bedürfnisse abzustellen.29 2. Indessen lässt sich zu dieser Frage eine relativ klare Antwort aus dem System der Strafdrohungen sowie dem entnehmen, was vorhin zur bezweckten Wirkweise der Straftatenverhütung gesagt wurde. Aus dem System der gestaffelten Strafandrohungen ergibt sich, dass der Gesetzgeber seine eigene Strafbemessung am Kriterium der größeren oder geringeren Unwertigkeit der Tat orientiert hat. Das legt es nahe, auch die richterliche Strafzumessung an diesem Grundkriterium zu orientieren und die individualisierende Strafzumessung nach Unterschieden in diesem Bereich, nicht aber z.B. unter dem Aspekt der spezialpräventiven Bedürfnisse zu betreiben.30 Die Berücksichtigung der früher dargelegten Ergebnisse zur Art und Weise, in der der Gesetzgeber die Begehung von Straftaten zu verhüten sucht, sichert diese Schlussfolgerung ab: Wenn der Gesetzgeber Straftaten durch die Formung und Stärkung eines differenzierten Rechtsbewusstseins zu verhüten versucht und wenn dieses differenzierte Rechtsbewusstsein nicht nur durch die gesetzlichen Aussagen, sondern auch durch die gerichtliche Praxis verdeutlicht und bestärkt (und nicht durch andersartige Beurteilung konterkariert) werden soll, so kann es bei der Strafzumessung nur um eines gehen: eine individualisierende Zumessung der Strafe nach dem größeren oder geringeren Ausmaß der Unwertigkeit der Tat (unter Berücksichtigung jener Unwertigkeitskriterien, die auch der gesetzlichen Strafdrohung zugrunde liegen).31 Sachlich bedeutet das zugleich, dass auf der Ebene der Strafverhängung und Strafzumessung in Bezug auf die Frage nach dem Zweck der Strafe gar nicht mehr jene Freiheit der Auswahl besteht, von der viele wohl ausgehen. Die spezialpräventive Theorie scheidet in jedem System von Strafdrohungen, die nach der Bedeutung der verletzten Normen und der Unwertigkeit der Taten gestaffelt sind, schon aus Konsistenzerwägungen als zentraler Strafzweck aus.32 Andererseits bedarf die positive Generalprävention auf der Ebene der Strafverhängung und Strafzumessung keiner Erstbegründung.33 Es geht um nichts weiter als um die – wiederum aus Konsistenzerwägungen notwendige – Fortsetzung des Programms der vom Gesetzgeber mit den gestaffelten Strafdrohungen begonnenen positiven Generalprävention. Die Straf29 Im letzteren Sinn z.B. von Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 20. Aufl. 1914, S. 279 und seine soziologische Schule. 30 I.S. eines solchen Verständnisses der richterlichen Strafzumessung als Fortsetzung der gesetzlichen Strafbemessung z.B. Bruns Strafzumessungsrecht, Gesamtdarstellung, 1974, S. 70; Frisch Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 1971, S. 134 ff., je m.w.N. 31 S. dazu erg. Frisch (Fn. 24), S. 3, 13 ff. 32 S. dazu erg. Frisch (Fn. 24), S. 3, 13 ff. 33 Wie sie häufig geliefert wird. In der Sache übereinstimmend Schünemann (Fn. 22), S. 109, 119 ff., 121.
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drohungen und ihr Zweck sind, mit anderen Worten, ein bislang eindeutig zu wenig ausgeschöpfter Schlüssel zur Beantwortung gewisser Streitfragen im Bereich der Strafverhängung und Strafzumessung. Ihre Staffelung und die dieser zugrundeliegenden Kriterien, nicht erst die Erwartungen der Bevölkerung 34 sind auch der Grund dafür, dass als richtige Strafe die Schuldstrafe zu verhängen ist. 3. Noch ein Drittes ist mit Strafandrohungen in Gestalt von Strafrahmen mit Mindest- und Höchststrafen bezweckt. Derartige Strafrahmen bezeichnen nicht nur Grenzen für das richterliche Ermessen, die es ausschließen, dass der Richter jenseits dieser Grenzen liegende Strafen verhängt. Sie bezwecken eine sehr viel intensivere Bindung des Richters. Dieser soll aus der ihm zur Verfügung stehenden Skala ansteigender Strafgrößen jene auswählen, die der Unwertigkeit des von ihm zu beurteilenden Falles am besten entspricht. Wenn dabei das Bewertungsprogramm des Gesetzgebers im konkreten Fall fortgesetzt werden soll, so geht es damit praktisch darum, die Strafe zu finden, die der Gesetzgeber selbst festgesetzt haben würde, wenn er den Fall nach seinen Maßstäben beurteilt hätte.35 Um dem gerecht zu werden, hat der Richter sich also zunächst zu überlegen, an welcher Stelle der Fall unter dem Aspekt seiner Unwertigkeit im Verhältnis zu anderen denkbaren Konstellationen steht. In einem zweiten Schritt hat er sodann aus der Reihe der von leicht nach schwer ansteigenden Strafgrößen des Strafrahmens dieses Delikts die dem relativen Gewicht der Tat am besten entsprechende Strafgröße zu bestimmen.36 Natürlich ergeben sich aus diesen Anweisungen, die das gesetzliche Programm und die Zwecke des Gesetzgebers durch Strafandrohungen und Strafrahmen umsetzen, keine ganz bestimmten Strafgrößen, sondern nur ungefähre Werte. Aber die Zwecksetzung der Strafdrohungen in Gestalt von Strafrahmen schließt es doch jedenfalls aus, leichte Fälle mit Strafen aus dem mittleren und oberen Bereich des Strafrahmens zu belegen oder bei schweren Fällen an der Untergrenze des Strafrahmens zu bleiben. Mit diesen skizzenhaften Bemerkungen muss es hier bewenden. Ich widme die vorstehenden Überlegungen Bernd Schünemann, dem verlässlichen Weggefährten der gemeinsamen Mannheimer Jahre.
34 Wie manche Vertreter der positiven Generalprävention meinen, vgl. z.B. Müller-Dietz FS Jescheck, 1985, S. 823 f.; Roxin FS Bockelmann, S. 305; weit. Nachw. bei Frisch (Fn. 6), S. 125, 133. 35 Zutr. i.d.S. schon Feuerbach Lehrbuch des peinlichen Rechts, 11. Aufl. 1832, § 102a; s. erg. Frisch (Fn. 30), S. 136 f. 36 S. erg. dazu Bruns (Fn. 30), S. 81 ff.; Frisch in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003, S. 155, 159 ff.; aus der Rechtsprechung z.B. BGHSt 27, 2, 4.
Was ist Folter? Luís Greco I. Einleitung Zu den vielen Höhepunkten meiner Assistentenzeit bei Bernd Schünemann gehört ein zwischen uns ausgetragenes „Streitgespräch“ über die sog. Rettungsfolter, das im Rahmen des vom Jubilar geleiteten „Rechtsphilosophischen Donnerstagsseminars“ stattfand.1 Meine damalige Stellungnahme galt in erster Linie der auch im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehenden Frage, ob Folter überhaupt legitimiert werden könne. Ausführungen zum Begriff der Folter haben zwar nicht gefehlt,2 blieben aber „leider nur beiläufig“, wie es der Jubilar in seinem Kommentar anmerkte.3 Der 70. Geburtstag meines Lehrers dürfte deshalb eine optimale Gelegenheit bieten, dieses Gespräch fortzusetzen und den damals auftretenden Meinungsgegensatz sogar abzumildern. Denn nach den Maßstäben, die hier entwickelt werden sollen, stellt die Androhung von Schmerzen noch keine Folter dar; grundsatzorientierte Hürden, sie mittels §§ 32, 34 StGB zu rechtfertigen,4 bestünden also nicht. Die vorliegende Abhandlung hat somit allein die Frage nach dem Begriff der Folter zum Gegenstand. Die zwei weiteren in diesem Zusammenhang wichtigen Fragen5 – die nach der Rechtfertigung und die nach der Entschuldigung von Folter – sollen hiermit ausgeklammert werden. Die Frage soll zugleich aus einer allgemein rechtsphilosophischen, d.h. vorpositiven und nicht allein rechtsdogmatischen Perspektive diskutiert werden. Ein solcher vorpositiver Begriff ist aber nicht vom positiven Recht (etwa Art. 1 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention; Art. 3 EMRK) entkoppelt; zu seiner Gewinnung
1 Die Referate sind später publiziert worden: Greco GA 2007, 628 und Schünemann GA 2007, 644. 2 Insb. Greco GA 2007, 628 Fn. 2, 631 Fn. 15. 3 Schünemann GA 2007, 644. 4 Bzw. im Daschner-Fall (LG Frankfurt NJW 2005, 692) einen (unvermeidbaren) Erlaubnistatbestandsirrtum anzunehmen, denn das zu rettende Kind war zum Zeitpunkt der Tat schon tot. 5 S. Greco in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2014, im Erscheinen. Zu beiden Fragen etwa Roxin FS Eser, 2005, S. 461, 463 ff., 469 f.; ders. FS Nehm, 2006, S. 161, 163 ff., 172.
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sollen die positiven Begriffe und die zu ihnen geleisteten Präzisierungsbemühungen berücksichtigt werden, und aus ihm sollen Leitlinien zu einer grundlagenorientierten Auslegung des positiven Rechts ableitbar sein. Zunächst ist zu klären, ob ein Folterbegriff überhaupt nötig ist (u. II.). Nachdem auf diese Frage eine bejahende Antwortet gegeben wird, sind auf einer höheren, metatheoretischen Ebene Anforderungen zu bestimmen, denen ein angemessener Folterbegriff genügen muss (u. III.). Es folgen konkrete Überlegungen zu diesem Begriff und den einzelnen ihn konstituierenden Merkmalen (u. IV.). Im letzten Abschnitt soll der gewonnene Begriff in seiner Richtigkeit anhand klarer Fälle bestätigt und in seiner Fruchtbarkeit anhand zweifelhafter Fälle erprobt werden (u. V.).
II. Zur Notwendigkeit eines Folterbegriffs Die Kargheit der Bemühungen um die Klärung des Folterbegriffs steht im auffälligen Missverhältnis zur Fülle von Stellungnahmen zu der Rechtfertigungsfrage. Dies ist aber ein Mangel,6 der sich sowohl theoretisch als auch praktisch äußert. Dass es theoretisch fragwürdig ist, wenn man sich auf eine Diskussion über die Rechtfertigung (oder Entschuldigung) einer unbekannten Größe einlässt, liegt auf der Hand. Jede normative Theorie über die Rechtfertigung eines Gegenstands muss in einem ersten, noch vornormativen Schritt bestimmen, was ihr Gegenstand ist.7 Das ist nicht bloß eine Frage theoretischer Ästhetik, sondern hat unmittelbare materielle Implikationen: Denn der Begriff soll dasjenige erfassen, was den jeweiligen Gegenstand fragwürdig, rechtfertigungsbedürftig macht, also sein spezifisches malum widerspiegeln (näher u. III.). Es gibt eine Art Verhältnis umgekehrter Proportionalität zwischen dem Umfang des Gegenstands und der Strenge der für diesen Gegenstand aufzustellenden Legitimitätsbedingungen: wenn sogar bedrohliches Anschreien unter den Folterbegriff subsumiert werden könnte, wäre es äußerst unplausibel, für dieses Verhalten ein absolutes, durch keine Gegenerwägungen überwindbares Verbot zu postulieren, wie es die h.M. macht.
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Ebenso Hilgendorf JZ 2004, 331; Greco GA 2007, 628 Fn. 2. And. Waldron Torture, Terror and Trade-Offs, Oxford 2010, S. 198 ff., der meint, dass die Forderung nach Grenzziehungen in einem Zusammenhang, in dem ein „Wehret den Anfängen!“ gelten müsse, fehl am Platze sei; abl. auch Brecher, Torture and the Ticking Bomb, Malden u.a. 2007, S. 3 ff.; Wisnewski/Emerick The Ethics of Torture, London/New York 2009, S. 5, 6 f., 8 f., die sich um eine Typologie der Folter bemühen; wohl auch Hörnle, in Pieper/Brudermüller (Hrsg.), Grenzen staatlicher Gewalt, 2012, S. 71, 85 f. 7 S. etwa für die Strafe Greco Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 274 ff.
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Aber vor allem praktisch ist die Frage nach dem Folterbegriff von besonderer Brisanz. Schon der deutsche leading case, der Gäfgen-Fall, ist ein schwieriger Grenzfall: Der Polizist Daschner hat dem Kindesentführer keine Schmerzen zugefügt, sondern sie bloß angedroht. Überwiegend hat man bereits in dieser Androhung einen Akt des Folterns erblickt,8 was keineswegs so evident ist, wie allgemein wohl angenommen wird. Aber gerade auf der weltpolitischen Bühne, auf der weniger Fälle der Normalkriminalität sondern vielmehr die Bekämpfung des globalen Terrorismus im Vordergrund steht, stellt sich die Frage nach dem Folterbegriff mit besonderem Nachdruck. Zu den kulturellen Errungenschaften der modernen Welt gehört die weltweite Ächtung der Folter. Heute wird Folter nur in den dunklen Kellern von zweifelhaften Staaten praktiziert; öffentlich verteidigt wird sie indes eher nicht einmal vom schlimmsten „Schurkenstaat“, sondern nur von Wissenschaftlern, deren Stellungnahmen selten die große Öffentlichkeit erreichen. So gut wie jeder Staat, der die Erfolgsträchtigkeit seiner Vernehmungsbemühungen erhöhen möchte, setzt deshalb Druckmittel ein, unter vehementer Bestreitung, dass es sich bei diesen um Folter handeln könne.9 Auch das absoluteste Folterverbot ist zahnlos, wenn es ohnmächtig ist gegenüber Bemühungen, es durch willkürliche und willfährige sprachliche Festlegungen zu umgehen.
III. Metatheoretische Anforderungen an einen Folterbegriff Ein guter Folterbegriff muss ein Übel bezeichnen. Auch Eingriffe in Grundrechte und Strafen sind aber Übel; nur der Anarchist oder Abolitionist bestreitet, dass sie unter gewissen Bedingungen gerechtfertigt werden können. Folter ist jedoch ein Übel von besonderer Qualität, dergestalt, dass nicht erst der Anarchist oder Abolitionist, sondern viele der Auffassung sind, dass ein derartiges Übel unter keinerlei Umständen gerechtfertigt werden könne. Folter trägt deshalb ein Kainsmal zumindest einer Präsumption absoluter
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Nachw. in Greco GA 2007, 629 Fn. 2. Beispiele für diese Vorgehensweise: für Israel der sog. Landau Commission Report, Israel Law Review 1989, 146, 175 (dessen detailliertere Ausführungen zu den noch erlaubten Methoden geheim blieben); abl. später Supreme Court of Israel in: Levinson (Ed.), Torture, Oxford 2004, S. 165 ff.; und am prominentesten jetzt für die USA das sog. Bybee Memo v. 1.8.2002, abgedruckt in: Greenberg/Dratel (Ed.), The Torture Papers, Cambridge 2005, S. 172 ff.; s. hierzu Roth in: ders. u.a. (Ed.), Torture, New York/London 2005, S. 184 ff., 192 f.; R. Marx KritJ 2006, 151, 153 f.; Nowak Human Rights Quarterly 2006, 809; La Torre in: Clucas u.a. (Ed.), Torture, 2009, S. 10 ff., 14 ff.; Wisnewski Understanding Torture, Edinburg, 2010, S. 44 f.; w.N. in Fn. 17 – S. auch Brecher (Fn. 6), S. 4 f., der aber den Schluss zieht, man sollte deshalb darauf verzichten, Folter zu definieren. 9
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Unzulässigkeit. Ein Folterbegriff, der nicht erklären könnte, weshalb man mit einer Strafrechtspflege, nicht aber mit einer Folterrechtspflege leben kann, wäre unzulänglich. Folter ist aber nicht der einzige Träger dieses Stigmas. Sklaverei, Genozid sind es auch, und ein starker Kandidat ist die der Folter sehr nahestehende, erst in einer künftigen Abhandlung zu untersuchende unmenschliche, erniedrigende Behandlung. Es geht darum, in einer Art theoriegeleiteten moralphänomenologischen Betrachtung das Spezificum der Folter, das sich in ihr äußernde eigentümliche Übel, zu erfassen. Ein guter Folterbegriff darf aber nicht die Rechtfertigungsfrage präjudizieren.10 Diese ist keine begriffliche Frage mehr, sondern eine, die nur aus der Perspektive normativ-ethischer Theorien (vor allem Konsequentialismus, Deontologie, Tugendethik) geklärt werden muss. Das heißt nicht, dass der Begriff der Folter bzw. die Umschreibung des in ihm verkörperten Übels von solchen normativ-ethischen Perspektiven völlig unabhängig sein muss, sondern nur, dass über die letzte Klärung der Rechtfertigungsfrage nicht durch die Bestimmung eines Begriffs zugleich mitentschieden werden darf. Da Folter ein Übel ganz besonderer Art ist, so dass verständlich ist, dass viele es nicht einmal für rechtfertigungsfähig erachten, darf der Begriff keine Merkmale enthalten, die es gestatten, mit dem Begriff nach eigenem Belieben zu jonglieren; er darf nicht anfällig für sog. Etikettenschwindel sein. Dies wäre bei der Benutzung hochnormativer Begriffe (etwa „unzulässig“, „illegitim“11) und auch besonderer Absichten unvermeidbar der Fall. Auch quantitative Modulierungen („erheblich“, „besonders schwer“) sollten, falls sie sich nicht vermeiden lassen, höchstens für den Feinschliff in den Randbereichen in Betracht kommen.12 Zuletzt muss ein guter Folterbegriff positiven und negativen Kandidaten, die wir mit dem Wort Folter spontan verbinden (einerseits etwa Daumenschraube, körperlichen Misshandlungen eines Gefangenen, Elektroschocks,13 andererseits etwa der Freiheitsstrafe) gerecht werden.
10 Ähnl. Tindale Social Theory & Pratice 1996, 349, 354; Steinhoff On the Ethics of Torture, New York 2013, S. 10. 11 Dem gefährlich nahe aber Rejali Torture and Democracy, Princeton/Oxford, 2007, S. 560; La Torre (Fn. 9), S. 31: „intolerable violence“, S. 33: „Torture therefore is abuse and excess – necessarily so, by its own phenomenology“. 12 Ebenso Matthews The Absolute Violation, Montreal u.a., 2008, S. 33; Wisnewski/ Emerick (Fn. 6), S. 3. 13 Zur Geschichte dieser Foltermethode Rejali (Fn. 11), S. 121 ff.
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IV. Die Merkmale der Folter 1. Es bietet sich an, bei der UN-Antifolterkonvention v. 1984 anzufangen. Sie definiert die Folter (Art. 1 Abs. 1) im wesentlichen durch drei Merkmale: objektiv setze Folter die Zufügung „großer körperlicher oder seelischer Schmerzen oder Leiden“ voraus; subjektiv eine bestimmt geartetete Absicht; und zuletzt, als täterbezogenes Merkmal, die Beteiligung einer „in amtlicher Eigenschaft handelnden Person“. Dass dieser Begriff zu weit geraten ist, dass er nicht dem spezifischen Übel der Folter im Sinne der oben genannten Anforderung genügt, belegt am klarsten die salvatorische Klausel in S. 2 desselben Absatzes: „Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“ Um sicherzustellen, dass die seelischen Leiden, die mit der Zufügung einer Freiheitsstrafe regelmäßig verbunden sind, nicht unter den Folterbegriff subsumiert werden, hat man aber eine Klausel eingeführt, die Etikettenschwindel ermöglicht.14 Eine vom Gesetz für zulässig erklärte Daumenschraube wäre aus dem Anwendungsbereich des Begriffs ausgeschlossen. Der Grund des Problems dürfte darin liegen, dass die Definition auf das Zufügen von Leiden abstellt.15 Es ist verständlich, weshalb man sich zu einer Art Vergeistigung des Folterbegriffs entschieden hat. Würde man Folter erst bei einer Substanz- oder Gesundheitsverletzung, also bei einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit oder Gesundheit des Betroffen bejahen, wären Elektroschocks und alle „subtileren“ Druckmittel keine Folter mehr. Problematisch ist indes, dass vieles, was keineswegs Folter ist, Leiden hervorruft, und dies manchmal absichtlich und erlaubt: Klausuren, Strafen, das Schneiden der Haare eines Models, Mobbing, wissenschaftliche Kritik, Beleidigungen, Operationen. Man benötigt deshalb ein weiteres Abgrenzungsmerkmal, und es drängt sich geradezu auf, auf Quantitäten abzustellen: wie die Konvention schon sagt, erst große Leiden sind Folter.16 Die Problematik dieser Vorgehensweise wird am besten durch das berüchtigte Bybee Memo
14 Ähnl. krit. Tomuschat in: Schulz-Hageleit (Hrsg.), Alltag-Macht-Folter, 1989, S. 95, 102; Hilgendorf JZ 2004, 334; Brecher (Fn. 6), S. 5. 15 So bereits Greco GA 2007, 628 Fn. 2; ähnl. Stobbe in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, 2006, S. 36, 40. 16 Ebenso Kershnar International Journal of Applied Philosophy 2005, 224; ders. For Torture, Maryland, 2012, S. 11. S. auch Miller Torture in: Stanford Enc. Phil. 2006/2011, Nr. 1: „extreme“ Leiden; Dewulf, The Signature of Evil, Cambridge u.a., 2011, S. 504 ff.; Steinhoff in: Clucas u.a. (Ed.), Torture, 2009, S. 39, 41; ders. (Fn. 10), S. 89 mit dem interessanten Versuch, die Schmerzen, die durch das Anbohren eines Zahnnervs verursacht werden, auf jeden Fall als hinreichend anzusehen. Wir brauchen aber einen Punkt, der nicht erst den klaren Fall zu erfassen vermag.
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belegt, das die Grenze bei solchen Leiden zog, die ähnlich schwer sind wie die Leiden, die den Tod, das Organversagen oder die dauerhafte Beeinträchtigung einer wichtigen körperlichen Funktion begleiten17 – und das hiermit das waterboarding vor der Einstufung als Folter zu retten vermochte. Jeder Einwand, diese Schwelle sei hier willkürlich hoch gesetzt worden, bleibt bei einem Abstellen auf Quantitäten genauso unsicher und unbegründet wie der Gegenstand der Kritik selbst. 2. Die EMRK enthält demgegenüber keine Gesetzesdefinition der Folter, sondern begnügt sich damit, sie neben der unmenschlichen und der erniedrigenden Behandlung zu verbieten (Art. 3) und dieses Verbot für notstandsfest (Art. 15 Abs. 2) zu erklären. Der EGMR versteht die Folter als besonderen Fall der zwei anderen Behandlungsformen.18 Unmenschlich sei eine Behandlung, von der es heißt, sie sei „premeditated, applied for hours at a stretch and causes either actual bodily injury or intense physical or mental suffering“; eine erniedrigende Behandlung liege vor, „when it humiliates or debases an individual, showing a lack of respect for, or diminishing, his or her human dignity, or arouses feelings of fear, anguish or inferiority capable of breaking an individual’s moral and physical resistance“.19 Eine gewisse Schwere müsse überschritten sein, und alle Umstände des Einzelfalls seien zu berücksichten,20 unter anderen die Absicht des Täters21 und auch die Kumulation der einzelnen Maßnahmen.22 Für die Folter sei es darüber hinaus charakteristisch, dass sie „deliberate inhuman treatment causing very serious and cruel suffering“ verkörpere.23 Wegen des Abstellens auf Leiden und auf Quanti-
17 S. Bybee Memo (Fn. 9), S. 183; umf. und krit. La Torre (Fn. 9), S. 14 ff.; Luban Virginia Law Review (= VaLR) 2005, 1425, 1452 ff.; Menéndez in: Clucas u.a. (Ed.), Torture, 2009, S. 118 ff., 125 ff.; Alvarez Case Western Reserve Journal of International Law (= CWRJIL) 2006, 175, 182 ff.; Wisnewski/Emerick (Fn. 6), S. 4 f. 18 Näher Aoiláin in: Levinson (Ed.), Torture, Oxford 2004, S. 213; Gaede in: Camprubi (Hrsg.), Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, 2004, S. 155, 161 ff.; Ambos Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 10 Rn. 77 ff.; Farrell The Prohibition of Torture pp., Cambridge 2013, S. 68 ff. 19 EGMR, Urt. v. 21.1.2011, M.S.S. ./. Belgien u. Griechenland, Appl. no. 30696/09, Rn. 220 (Zitat); nahezu gleich EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Labita. /. Italien, Appl. no. 26772/ 95, Rn. 120. 20 EGMR, Urt. v. 28.7.1999, Selmouni ./. Frankreich, Appl. no. 25803/94, Rn. 100; EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Labita ./. Italien, Appl. no. 26772/95, Rn. 120; EGMR, Urt. v. 21.1.2011, M.S.S. ./. Belgien u. Griechenland, Appl. no. 30696/09, Rn. 19. 21 EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Labita ./. Italien, Appl. no. 26772/95, Rn. 129 m.w.N. 22 EGMR, Urt. v. 25.9.1997, Aydin ./. Türkei, Appl. no. 23178/94, Rn. 86. 23 EGMR, Urt. v. 18.12.1996, Aksoy ./. Türkei, Appl. no. 21987/93, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 28.7.1999, Selmouni. /. Frankreich, Appl. no. 25803/94, Rn. 96; EGMR, Urt. v. 25.9. 1997, Aydin. /. Türkei, Appl. no. 23178/94, Rn. 82.
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täten sind die Bedenken, die man gegen die Bestimmung der AntifolterKovention formuliert hat, auch hier einschlägig.24 3. a) Der eigene Vorschlag wird unmittelbar an die ausgeführten metatheoretischen Überlegungen anknüpfen (o. III.). Bei der Formulierung eines Folterbegriffs geht es vor allem darum, den archimedischen Punkt zu finden, der das Kainsmal der Folter in seiner Eigentümlichkeit zu erklären vermag. Kern der Folter muss eine Eigenschaft sein, die wenigstens das Potenzial hat, Träger eines absoluten, durch nichts ausgleichbaren Unwerts zu sein. Leiden oder Schmerzen verkörpern dergleichen nicht.25 Es scheint sogar Vieles zu geben, das gerade wegen der Leiden oder Schmerzen, die es gekostet hat, umso wertvoller wird.26 Verheißungsvoller dürfte es sein, von einer Größe auszugehen, die für jemanden, der in der Autonomie ein intrinsisches Gut erblickt, ein intrinsisches Übel verkörpern muss: Fremdbeherrschung.27 Jede Fremdbeherrschung ist ein rechtfertigungsbedürftiges Übel; bei Überschreitung einer bestimmten Schwelle ist das Übel wenigstens präsumptiv nicht mehr rechtfertigungsfähig, und das ist der Punkt, von dem aus man erst von Folter sprechen könnte.28 Für diese Schwelle sind zwar Quantitäten nicht ohne Relevanz; das Abstellen auf Quantitäten befreit aber noch nicht von der Anstrengung, nach einem qualitativen Abschichtungskriterium zu suchen. Nach näherem Hinsehen erkennt man, worin dieses Spezifikum der Folter liegen dürfte. Zwar ist jede Fremdbeherrschung am Ende gegen den freien Willen des anderen gerichtet; ein Spezifikum der Folter scheint aber zu sein, dass sie die Bezwingung des Willens über den Umweg einer Sichbemächtigung über den Körper des Opfers erreicht. Am besten lässt sich diese Wirkweise mittels eines dualistischen Leib-Seele-Modells veranschaulichen, das
24 Entsprechendes gilt hinsichtlich der nahestehenden Begriffsbestimmungen anderer Strafgerichtshöfe; zur Rspr. des JStGH Kamenova in: Clucas u.a. (Ed.), Torture, 2009, S. 83, 2 ff.; Schabas CWRJIL 2006, 349, 357 ff.; Burchard Journal of International Criminal Justice 2008, 159. 25 Ähnl. Wisnewski (Fn. 9), S. 52 ff. 26 Greco FS Amelung, 2009, S. 3, 12 f. 27 Greco GA 2007, 628 Fn. 2; ders. (Fn. 7), S. 186; allgemein ders. (Fn. 26), S. 13. 28 Ähnliche Beschreibungen des „Wesens“ der Folter in Parry in: Levinson (Ed.), Torture, Oxford 2004, S. 145, 153; Luban VaLR 2005, 1430: „torture is a microcosm … of the tyrannical political relationships that liberalism hates the most“; Reemtsma Folter im Rechtsstaat, 2005, S. 125; Günther in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, 2006, S. 101, 107 ff.; La Torre (Fn. 9), S. 35 f.; Wisnewski (Fn. 9), S. 64 ff., der in der Zerstörung der Fähigkeit zu Handeln („agency“) das Böse an der Folter erblickt; Miller (Fn. 16), Nr. 1, 2; nahestehend auch Jäger FS Herzberg, 2008, S. 539, 544. – Den interessantesten alternativen Ansatz, den ich kenne, bietet Sussmann Philosophy & Public Affairs (= P&PA) 2005, 1 ff., 4, 19 ff.; ders. CWRJIL 2006, 225, 229 f.: Folter als erzwungener Selbstverrat, ähnl. einer Vergewaltigung.
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trotz aller dagegen gerichteten Einwände unserem Alltagsverständnis unhintergehbar zugrunde liegt.29 Man könnte sagen, ein autonomes, also selbstbestimmtes Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass sein Wille Gründe generieren kann,30 die er in Motive zu verwandeln vermag, und hierdurch über seinen Körper das Sagen hat. Der Wille herrscht über den Körper; auf diesen ist er trotzdem angewiesen, kraft biologischer Notwendigkeit, wie jeder, der eine lange Flugzeugreise gemacht oder ein Weinglas zuviel getrunken hat, von sich berichten kann. Diese biologische Abhängigkeit des Willens vom Körper dient der Folter als Ansatzpunkt, das für ein autonomes Subjekt charakterische Verhältnis von Wille und Körper in sein Gegenteil umzukehren. Nicht nur herrscht der Körper über den Willen, sondern diese Umkehrung wird vom Folterer eingeleitet sowie in Dauer und Ausmaß kontrolliert: der Wille des Folterers hat allein das Sagen über den Körper des Gefolterten, und dadurch auch über dessen Willen. Dieser Wille kann keine Gründe mehr generieren, sondern wird zum Sklaven der vom eigenen Körper kommenden Motive, die ihrerseits auf vom Willen des Folterers gesetzten Reizen beruhen. Entscheidungen des Gefolterten, etwa zu gestehen oder eine Information preiszugeben, werden eigentlich vom Folterer getroffen; der Gefolterte trifft keine Entscheidung mehr, er vollzieht sie. Man kann sich aber fragen, ob diese Beschreibung nicht zu eng an die „instrumentelle“ Folter angelehnt ist, die als Mittel zur Bestimmung des Opfers zu einem bestimmten Verhalten eingesetzt wird. Auch für Folter, die als Selbstzweck eingesetzt wird, ist aber im dargebotenen Modell Platz.31 Denn die Fremdbeherrschung ist eine Potenz, ein Vermögen. Es ist irrelevant, ob der Folterer dem Willen seines Opfers einen bestimmten Inhalt gibt. Durch die Folter hat er die Macht, dies zu tun; es hängt allein von seinem Willen ab, ob er diese Macht auch ausübt. b) Aus dieser Beschreibung lassen sich weitere subsumtionsfähige Merkmale eines Folterbegriffs herleiten.32
29 Ein Versuch, ohne ein dualistisches Leib-Seele-Modell auszukommen, bei Kenny Polity 2009, 1, 10, 16 ff. 30 Diese Gründe können unterschiedlicher Art sein; vor allem können sie sich auf das eigene Glück des Individuums beziehen und insofern klugheitsorientiert sein, oder auf einer Vorstellung vom moralischen Gesetz beruhen und in diesem Sinne moralitätsorientiert sein. Die Folter kann also die Fähigkeit, moralisch autonom zu handeln, vernichten (s. bereits Greco FS Amelung, 2009, S. 15). 31 Dagegen, dass es hier um Folter geht, s. Kenny Polity 2009, 12 f., 25; i.Erg. wie hier aber Steinhoff (Fn. 10), S. 162. 32 In der philosophischen Diskussion setzt man häufig methodisch anders an: zuerst wird Folter definiert, erst anschließend wird nach dem Bösen in ihr gefragt (so etwa Davis Int. J. Appl. Phil. [= IJAP] 2005, 161, 162, 167; Miller [Fn. 16], Nr. 1, 2). Diese Vorgehensweise führt aber zu einer Definition, die bestenfalls einen faktischen Sprachgebrauch wider-
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aa) Erstens erfordert Folter einen Gewahrsam am Opfer.33 Die unbeschränkte Macht über den Aufenthaltsort des Opfers ist der erste Schritt bei der Ausübung unbeschränkter Gewalt gegen den Körper des Folteropfers. Gerade wegen dieses Erfordernisses kann Folter auch durch Unterlassen begangen werden – etwa durch das Zurückhalten von Nahrung oder schmerzlindernden Mitteln. bb) Zweitens muss sich Folter körperlich niederschlagen. Sie spricht mit ihrem Adressaten die Sprache der Gewalt und nicht der Gründe. Das bedeutet, dass Folter noch nicht vorliegt, solange der Wille damit beschäftigt ist, Gründe abzuwägen, sondern erst, wenn es um körperliche Reize geht. Eine aufgenötigte Entscheidung bleibt eine Entscheidung des Opfers; eine erfolterte Entscheidung ist eine Entscheidung des Täters, die vom Opfer bloß mechanisch vollzogen wird. Psychische Folter ist also keine Folter.34 Eine Drohung bzw. Nötigung ist keine Folter.35 Die Folterung einer nahestehenden Person ist Folter, aber nur der nahestehenden Person.36 Auch kleine körperliche Eingriffe, prototypisch eine Ohrfeige, können zwar demütigend und erniedrigend sein; sie machen den Körper des Opfers noch nicht zum Werkzeug des Folterers, sondern höchstens seinen Willen, und dies unmittelbar. Regelmäßig bedeutet der Körperlichkeitsbezug, dass Schmerzen zugefügt werden; notwendig ist das aber nicht (näher u. V.). cc) Wenn einem verwahrlosten Gefangenen eine saftige Mahlzeit oder äußerst attraktive und willige Frauen angeboten oder sogar aufgedrängt werden, wird es auch zu einer Bemächtigung des Willens des Betroffenen mittels einer Kontrolle über seinem Körper kommen. Ist das Opfer einem anspruchsvollen Ideal des guten Lebens verpflichtet, also ein Asket oder ein Pfarrer, kann sich die Aufdrängung körperlicher Genüsse sogar als geeignetes Mittel erweisen, seine Autonomie zu verletzen, also sein, Recht, nach eigenen spiegelt, ansonsten nur eine willkürliche Festsetzung des jeweiligen Autors verkörpert. Uns geht es darum, die spezifische Manifestation des Bösen zu erfassen, die sich zum großen Teil mit dem deckt, was wir im Alltag als Folter bezeichnen. 33 Joerden Jahrbuch für Recht und Ethik 2005, 495, 517; Greco GA 2007, 628 Fn. 2; ders. (Fn. 7), S. 186; Miller (Fn. 16), Nr. 1. Ähnl. die Autoren, die auf die Wehrlosigkeit des Opfers abstellen, so Shue in: Levinson (Ed.), Torture, Oxford 2004, S. 47, 49 ff.; Miller IJAP 1995, 179, 180 f.; dies. (Fn. 16), Nr. 1; Kenny Polity 2009, 22 f.; Card Confronting Evils, Cambridge 2010, S. 223 f.; s.a. Sussmann P&PA 2005, 6 ff.; ders. CWRJIL 2006, 228; und Matthews (Fn. 12), S. 44 ff.: Asymmetrie. 34 Ebenso Davis IJAP 2005, 163; Miller IJAP 1995, 179 (and. später dies. [Fn. 16], Nr. 1, für den Fall der Folterung einer nahestehenden Person). And. Matthews (Fn. 12), S. 41 ff., 59, der jede Folter letztlich für psychisch hält. 35 Übereinstimmend Davis IJAP 2005, 163: „Torture is not a form of extortion; extortion presupposes rationality, torture does not“; Sussmann P&PA 2005, 8 f. 36 And. etwa Kershnar (Fn. 16), S. 7 f.
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Vorstellungen vom Guten zu leben.37 Eine solche Behandlung ist trotzdem keine Folter, weil Genüsse, anders als Leiden, eine Grenze nach oben haben, die nicht allein von der Willkür des Täters abhängt.38 Nach dem Erreichen einer bestimmten Schwelle bzw. Höhepunkts tritt ein Zustand der Sättigung ein, bei dem der Betroffenen gegen die Fortsetzung der Reize immun wird. Die Folter lässt sich dagegen beliebig steigern, letztlich einfach dadurch, dass man eine Methode durch eine andere ersetzt. Höhepunkte, die als Grenzen in Betracht kommen könnten, sind hier nur der Tod – der Betroffene stirbt an den zugefügten Verletzungen oder an einem Herzversagen – oder die Bewusstlosigkeit. Erstere ist aber auch eine Negation der Autonomie und etwas, das der gerade fähige Folterer regelmäßig auch unter seiner Kontrolle haben wird; letztere ist auch nur ein vorübergehendes Ausschalten des Willens durch den Körper, das man durch die richtigen Reize, wie Ohrfeigen oder Elektroschocks, wieder rückgängig machen kann. Die einzige wahre Grenze der Folter ist deshalb die Willkür desjenigen, der sich ihrer bedient.39 dd) Besondere Absichten dürften irrelevant sein.40 Dem Folterer kann es um die Erlangung eines Geständnisses oder einer Information, um die Brechung des Willens 41 oder um die Demütigung und Erniedrigung seines Opfers, um sein eigenes Vergnügen, um das Leben eines unschuldigen Kindes gehen. Er kann sogar das Wohl des Opfers bezwecken: ein Gefängnisleiter möchte die Drogensucht oder Agressivität eines Insassen durch Misshandlungen und Kälte heilen.42 Das ist seine Sache und hat mit der Frage, ob das Opfer gefoltert wird, nichts zu tun. ee) Es fragt sich, ob für Folter auch ein Handeln eines Repräsentanten des Staates erforderlich ist.43 Denkbar wäre es, anzunehmen, dass das Ausmaß der Fremdbeherrschung, das für die Begründung einer starken Präsumption der Unzulässigkeit erforderlich ist, nicht ohne die Indienstnahme der Machtmittel des Inhabers des Gewaltmonopols möglich wäre.44 Die hier gebotene Be37 Dies erklärt auch den sog. Konfrontationsschutz des Pornografiestrafrechts, s. Greco RW 2011, 275, 293 f. 38 S.a. Sussmann P&PA 2005, 15 f. mit einer alternativen Lösung des Problems. 39 Ähnliche Charakterisierung in Davis IJAP 2005, 165; Sussmann P&PA 2005, 5 f. 40 I.Erg.a. Steinhoff (Fn. 10), S. 7, 8 f. Darauf stellen aber Vos Human Rights Brief 2007, 4, 8; Farrell (Fn. 18), S. 4 f., 80 f.; Dewulf (Fn. 16), S. 515 ff. ab. 41 Insb. Miller IJAP 1995, 181 f.; dies. (Fn. 16), Nr. 1; in der Sache auch Kenny Polity 2009, 10 f.; wohl auch Kinzig in: Gehl (Hrsg.), Folter, 2005, S. 11, 18 f. und Roxin FS Eser, 2005, S. 464; ders. FS Nehm, 2006, S. 169, beide anlässlich der Frage, ob die Drohung mit Folter bereits Folter ist. 42 Ähnliches Beispiel in Kershnar (Fn. 16), S. 5. 43 So die UN-Antifolter-Konvention, s. o. IV. 1. 44 So noch Greco (Fn. 5). Eine andere Begründung beruft sich auf den Missbrauch des Vertrauens der Bürger (so Rejali [Fn. 11], S. 39, 559).
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schreibung führt aber dazu, diesen Umstand für irrelevant zu erklären. Durch das gerade ausgearbeitete Gewahrsamserfordernis ist das Opfer derart seinem Folterer ausgeliefert, dass dieser ihm gegenüber wenigstens für einen eventuell kurzen, aber ausschlaggebenden Moment mächtiger ist als der Inhaber des Gewaltmonopols (ähnlich der aus anderem Zusammenhang bekannten „Gewahrsamsenklave“). Das Gewahrsamserfordernis erklärt aber zugleich – neben der grundrechtsdogmatischen Erwägung, dass Grund- und Menschenrechte in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat sind – wieso so viele prominente Definitionen staatliches Handeln zum Begriff der Folter erheben: regelmäßig ist allein der Staat dazu in der Lage, sich in der Form über den Körper eines anderen zu bemächtigen. Auch Private können also foltern.45 4. Damit ist ein brauchbarer Begriff der Folter gewonnen. Folter ist die nur durch die Willkür des Täters beschränkte körperlich vermittelte Bezwingung des Willens einer in seinem Gewahrsam befindlichen Person. V. Fallspezifische Konkretisierung An letzter Stelle ist die Leistungsfähigkeit des gerade formulierten Begriffs zu prüfen. 1. Die oben genannten leichten Fälle (Daumenschraube, Schläge) vermag er ohne Aufwand zu erfassen. Die klassischen Foltermittel des früheren Strafverfahrens bezwangen den Körper durch einen ganz bestimmten Reiz, nämlich den Schmerz, und setzten diesen Reiz mittels substanzverletzender Eingriffe. Weder Substanzverletzung noch Schmerz sind aber, wie wir gesehen haben, für den Folterbegriff unerlässlich. 2. Die heutigen Methoden der Informationserlangung sind um einiges subtiler. Die Substanzverletzung wird, wohl weniger aus humanitären Gründen als deshalb, weil sie Beweise hinterlässt, gemieden.46 Einige dieser Methoden sind schmerzbasiert (Elektroschocks, Einnehmen unnatürlicher Körperstellungen). Andere richten sich unmittelbar gegen ein körperliches Grundbedürfnis und verursachen nicht einmal Schmerz: Schlafentzug,47 Verweigern von Wasser und Nahrung, Überhitzung und Ünterkühlung. Andere wiederum greifen in die biochemischen Grundlagen der Selbstbestimmung ein: Betäubungsmittel, Wahrheitsspritzen.48 Wegen des Körperlichkeitbezugs geht es bei diesen Techniken sämtlich um Folter. 45 I.Erg. Davis IJAP 2005, S. 163; Kenny Polity 2009, 7 f.; Card (Fn. 33), S. 211 f.; Steinhoff (Fn. 10), S. 8; Dewulf (Fn. 16), S. 495. 46 S. die eindrucksvolle „list of clean tortures“ in Rejali (Fn. 11), S. 553 ff. 47 Ihren körperlichen Charakter hebt zu Recht auch Davis IJAP 2005, 163 hervor; abl. Sussmann P&PA 2005, 9 (wenig konsequent, vgl. S. 11 Fn. 14, wo Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung als Folter eingeordnet wird). 48 And. Davis IJAP 2005, 169; Sussmann P&PA 2005, 9 f.; Card (Fn. 33), S. 219.
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3. Mittels unserer Sinne nehmen wir die Welt wahr; so sehr man von Kant bis zur heutigen Wahrnehmungspsychologie die Rolle des Geistes in der Wahrnehmung betont, so unleugbar bleibt es, dass wir Dinge sehen, hören, riechen, schmecken und tasten, ob wir es wollen oder nicht. Eine Überforderung der Sinne bietet deshalb ein offenes Tor zu einer Bezwingung des Geistes. Licht und Lärm im Übermaß, der Geruch oder Geschmack von Leichen und Fäkalien, all dies ist Folter. Das bewährte Mittel der Überforderung des Tastsinns ist die Schmerzzufügung. Ein schwerer Grenzfall ist der des Ekels. Ekelerregende Mittel können als Überforderung der Sinne zur Folter werden. Der Ekel muss aber eine bestimmte Intensität erreichen. Die Einkerkerung mit Kakerlaken und Mäusen, die einem auf den Körper kriechen, wäre wohl grundsätzlich keine Folter, gewiss aber eine Instanz erniedrigender Behandlung. 4. Ängste sind im Prinzip rational; das Jonglieren mit Ängsten stellt grundsätzlich noch keine Folter dar. Es gibt aber eine Form von Ängsten, die sozusagen vom Körper und seinem Überlebensinstinkt dem Geist aufgezwungen werden, also körperlich vermittelte Ängste. Die Zufügung von Schmerzen kann solche Ängste hervorrufen; sie ist aber nicht das einzige Mittel, dies zu tun. Ein besonders augenfälliges Beispiel dürfte die Aufhetzung von Hunden gegen Gefangene sein, wie sie in Abu Graib stattfand; Berichten zufolge haben amerikanische Soldaten miteinander gespielt, wer sein Opfer schneller zum Defäkieren bringt.49 Hier schlägt sich die Angst besonders klar nicht bloß psychisch, sondern körperlich nieder. Das Vortäuschen einer Hinrichtung durch Abdrücken einer leeren Pistole gegen den Kopf des Betroffenen50 und Techniken, die beim Betroffen die körperlich begründete und deshalb auch unentrinnbare Angst hervorrufen, er würde ertrinken (wie das sog. waterboarding),51 sind ebenfalls Folter.52 5. Wir nähern uns langsam den Grenzen der Folter an. Ob die Ausnutzung von Phobien, die hier als zwar motivierte, aber nicht durch gute Gründe stützbare Ängste zu verstehen sind, Folter ist, ist eher zweifelhaft. So gibt es Menschen, die Angst vor Tauben haben; solche Menschen könnte man in einen Schrank einsperren, der von diesen Tieren überquillt. Wohl dürfte in diesen Fällen der körperliche Bezug viel zu schwach sein, um von Folter zu sprechen.53
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S. The Fay-Jones Report in: Greenberg (Ed.), The Torture Papers, Cambridge 2005, S. 1070. 50 Gegen Folter aber Miller (Fn. 16), Nr. 1. 51 Beschreibung dieser Techniken in Rejali (Fn. 11), S. 279 ff. 52 And. der Leiter der CIA Porter Gross, der vor dem amerikanischen Bundesrat offen von einer „professional interrogation technique“ sprach, zit. nach Roth (Fn. 9), S. 194. 53 Ebenso Miller (Fn. 16), Nr. 1.
Was ist Folter?
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6. Ein Begriff der erniedrigenden Behandlung soll erst bei einer künftigen Gelegenheit geliefert werden. Es dürfte sich aber so verhalten, dass die erniedrigende Behandlung nicht so sehr den Status des Opfers als freies, autonomes Wesen anvisiert, sondern seinen Status als Gleicher.54 Das Unterbringen der Betroffenen in überfüllten, schmutzigen und kaum gelüfteten Räumlichkeiten ist per se keine Folter. Einiges von dem, was sich in Abu Graib ereignete, wie etwa das Urinieren auf das Opfer, die Schändung des Koran oder die Nötigung, Frauenunterwäsche zu tragen, vor anderen Gefangenen zu masturbieren,55 ist ebenfalls keine Folter. Die Vergewaltigung 56 dürfte dagegen sowohl eine Instanz von Folter 57 als auch von erniedrigender Behandlung verkörpern. Selbst Tiere besteigen einander, um zu zeigen, wer höher steht. Dass in jemanden eingedrungen wird, wird nicht nur als Grund, sondern auch als schmerzvoller und gelegentlich substanzverletzender Reiz wahrgenommen. Auch das Eindringen mit weiteren Gegenständen wie Stöcken oder Rohren58 muss als Folter eingestuft werden. 7. Am anderen Ende des Spektrums liegt das Androhen von Schmerzen und sonstigen Übeln, wie es sich im Fall-Daschner ereignet hat: wegen mangelnder Körperlichkeit liegt hier noch keine Folter vor.59 Das Vorzeigen der Folterinstrumente, das früher zur Folter gerechnet wurde (territio verbalis), ist keine Folter.60 Die einzige Drohung, die noch als Folter angesehen werden kann, ist die, die in einem derart engen räumlichen (d.h. im selben Gewahrsamsverhältnis) und zeitlichen Zusammenhang zur Setzung des Reizes gemacht wird, so dass das Nachgeben noch als Fortwirkung des Reizes angesehen werden muss: Nach einigen Schlägen wiederholt der Täter die Frage, ob das Opfer endlich bereit sei, auszusagen. Diese Frage ist Folter. Das im früher sog. endlichen Rechtstag erfolgte Verhör des vielleicht bereits gefolterten Angeklagten, das unter der Drohung stattfand, die Folter im Falle der Verweigerung eines Geständnisses zu wiederholen, verkörpert keine Folter mehr. Damit ist nicht gesagt, dass psychisches Leiden notwendig weniger schlimm ist als Folter,61 sondern nur, dass es anders ist.
54 Demzufolge würde man Folter als aliud zur und nicht bloß als qualifizierte Form der erniedrigenden Behandlung begreifen. 55 And. Sussmann P&PA 2005, 28. 56 Zu ihrem Einsatz Booth in: Roth (Fn. 9), S. 117 ff. 57 I.Erg.a. Sussmann P&PA 2005, 28. 58 Auch in Abu-Graib passiert, s. Fay-Jones Report (Fn. 49), S. 1076. 59 I. Erg. auch EGMR, Urt. v. 1.6.2010 Gäfgen ./. Deutschland, Appl. no. 22978/05, Rn. 108 (hierzu Ast German Law Journal 2010, 1393); Hilgendorf JZ 2004, 339; Herzberg JZ 2005, 321, 325 f.; R. Merkel FS Jakobs, 2007, S. 375, 401. A.A. etwa Kinzig und Roxin (o. Fn. 41). 60 And. Schild in: Gehl (Hrsg.), Folter, 2005, S. 59, 61. 61 Dies ist Matthews (Fn. 12), S. 41 ff. zuzugestehen.
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VI. Fazit Folter ist die nur durch die Willkür des Täters beschränkte, körperlich vermittelte Bezwingung des Willens einer in seinem Gewahrsam befindlichen Person. Durch das Herausarbeiten des Körperlichkeitsbezugs als zentrales Abgrenzungsmerkmal gewinnt man einen Begriff der Folter, der die sich in ihr manifestierende spezifische Form der Autonomieverletzung erfasst und dabei weit genug ist, um die modernen, „sauberen“ Methoden wie das waterboarding sicher und manipulationsfest zu erfassen, ohne zugleich feste Konturen zu verlieren. Der Körperlichkeitsbezug der Folter gestattet es zuletzt, eine Art kleines „System“ ihrer Erscheinungsformen zu konstruieren. Dieses fängt ganz „unten“ an, beim klassischen Extrem der schmerzhaften Substanzverletzung (etwa Schläge). Auf einer etwas höheren, immer noch „tiefen“ Schicht geht es um Manipulierungen körperlicher Grundbedürfnisse (Nahrungs- und Schlafentzug) oder biochemischer Bedingungen des Funktionierens des Körpers (Wahrheitsserum). Auf einer „mittleren“ Schicht bewegen sich Techniken, die sich die Rezeptivität der fünf Sinne zunutze machen (Lärm oder Licht im Übermaß). Ganz „oben“ steht schließlich die Fallgruppe der fast den Geist betreffenden körperlich vermittelten Ängste (waterboarding). Rein psychisch wirkender Zwang (vor allem die Drohung mit Folter) ist keine Folter mehr.
„Harm and wrongdoing“: Schädlichkeit und Verwerflichkeit als Begründung von Kriminalisierung 1 Andreas von Hirsch I. Einführung Deutsche und anglo-amerikanische Strafrechtstheorie teilen eine Betonung auf den Interessensschutz als Basis der Kriminalisierung. In Deutschland manifestiert sich dies in der Rechtsgutstheorie, nach welcher die primäre Funktion des Strafrechts im Schutz bestimmter Interessen besteht. In der anglo-amerikanischen Theorie hat sich jener Akzent im so genannten „Harm Principle“ ausgeprägt, das sich ebenfalls auf den Schutz menschlicher Interessen bezieht. Aber warum ein solcher Akzent auf Interessensschutz? Die deutsche Strafrechtsliteratur liefert Details zur Identifizierung verschiedener Arten von Rechtsgütern, bietet aber wenig Auseinandersetzung bezüglich der Gründe dafür, den Akzent auf Interessensschutz zu legen.2 Die anglo-amerikanische Literatur scheint einen anderen Fokus zu haben. Es gibt nicht einmal ein sprachliches Äquivalent für das Wort „Rechtsgut“, und die englischsprachige Rechtsprechung bietet wenige Anhaltspunkte für die Identifizierung der Arten von Interessen, die unterschiedliche Strafverbote schützen sollten. Dennoch haben sich seit langem englischsprachige Rechtsphilosophen für Kriminalisierungstheorien interessiert. Dies geht auf eine Mitte des 19. Jahrhunderts verfasste Schrift von John Stuart Mill zurück,3 in der behauptet wird, dass Kriminalisierung eine Schädigung der Interessen anderer Personen voraussetzen soll; und ferner auf das in den achtziger Jahren erschienene vierbändige Werk des amerikanischen Rechtsphilosophen Joel
1 Ich freue mich, diesen Beitrag meinem Freund und geschätzten Kollegen Bernd Schünemann, mit dem ich im Laufe der Jahre ausgiebige Gespräche zu diesem und verwandten Themen hinsichtlich der normativen Begründung des Strafrechts geführt habe, zu widmen. Ich bedanke mich bei Dr. Antonio Martins und Dr. Vivian Schorscher für die Hilfe bei der Vorbereitung der deutschen Version dieses Textes. 2 Vgl. z.B. Wohlers in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 281–285. 3 J. S. Mill On Liberty, London 1859, Kap. 4.
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Feinberg zu Kriminalisierungsprinzipien, das den Begriff des Interessensschutzes weiter artikuliert.4 In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat sich ein noch intensiveres Interesse für Fragen der Kriminalisierung unter Rechtsphilosophen entwickelt. Im vorliegenden Beitrag werde ich den normativen Gründen für die Anführung von Interessensschutz als Basis der Kriminalisierung nachgehen. Ich werde mich mit der jüngsten englischsprachigen rechtsphilosophischen Diskussion befassen, aber auch versuchen, Verbindungen zur deutschen Kriminalisierungsdebatte zu ziehen.
II. Schädigung als die einzige Basis für die Kriminalisierung? Im ersten Band seines Werks hebt Feinberg die Idee der Schädigung hervor.5 Der primäre (wenn auch nicht ausschließliche) Grund für strafrechtliche Verbote, behauptet er, sei der Schutz gegen tatsächliche oder potentielle Beeinträchtigung der Interessen anderer Individuen. Es ist diese Auffassung – die auf der Idee des „Harm to Others“ basiert –, die nach Feinberg als „Harm Principle“ in der englischsprachigen Diskussion bezeichnet wird. Manche anglo-amerikanische Autoren vertreten, dass die auf einem einzelnen Element basierende Theorie, in der die Schädigung betont wird, durch eine zweigliedrige Theorie ersetzt werden sollte, in der sowohl die Schädigung als auch die Verwerflichkeit des Verhaltens („harm and wrongdoing“) in Betracht gezogen wird. Dies ist sowohl die in Douglas Husaks 2008 veröffentlichten Band „Overcriminalization“6 als auch die in meinem mit Andrew Simester 2011 veröffentlichten Werk „Crimes, Harms, and Wrongs“7 vertretene Position. Die Verwerflichkeit, argumentieren Simester und ich, sollte eine notwendige (wenn auch nicht ausreichende) Bedingung für die Kriminalisierung von schädigendem Verhalten darstellen, weil (inter alia) Strafverbote einen Tadel ausdrücken, und dieses Tadelselement Fehlverhalten des Täters voraussetzt.8 Der vorliegende Beitrag widmet sich den Vorteilen einer solchen dualistischen Auffassung – Schädigung und Verwerflichkeit.
4 Feinberg Harm to Others, Oxford 1984; ders. Offence to Others, Oxford 1985; ders. Harm to Self, Oxford 1986; ders. Harmless Wrongdoing, Oxford 1988. 5 Feinberg Harm to Others (Fn. 4). 6 Husak Overcriminalization, Oxford 2008. 7 Simester/von Hirsch Crimes, Harms and Wrongs, Oxford 2011. 8 Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 23 f.
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III. Warum sind Schädigung und verwerfliches Verhalten wichtig? Warum also sollten Schädigung und Fehlverhalten für die Kriminalisierungstheorie maßgebend sein? Lassen Sie mich einige Hauptgründe dafür nennen: 1. Die Schlüsselrolle der Schädigung: Ein induktives Argument Beginnen wir mit einem simplen induktiven Argument. Die Verhaltensweisen, auf die Kriminalisierung eine plausible Reaktion zu sein scheint, gehören meistens zu den Arten von Verhalten, die einen Schaden (oder das Risiko eines Schadens) mit sich bringen. Betrachten wir die Kriminalisierung der Beleidigung (§ 185 StGB). Das in der Beleidigung implizierte Fehlverhalten ist erkennbar: die grob respektlose Behandlung eines anderen Menschen.9 Aber reicht dieses Fehlverhalten aus, um die Handlung zu kriminalisieren? Der Intuition nach ist der offensichtlichste Fall für die Kriminalisierung solcher Behandlung eine rassistische Beleidigung. Dieses Verhalten zeigt nicht nur Verachtung gegenüber der beleidigten Person, sondern hat außerdem das Potential, wenn sie verallgemeinert wird, die soziale Existenz und die Arbeitsmöglichkeiten der Opfer zu beeinträchtigen, was zweifelsohne eine Art Schädigung ist.10 Ein ähnlicher Fall ist der des Exhibitionismus. Obszöne Handlungen in öffentlichen Räumen wie Straßen, Parks oder öffentlichen Verkehrsmitteln entsprechen nicht nur dem verwerflichen Verhalten, andere zu belästigen, sondern beeinträchtigen auch deren Nutzung gemeinschaftlicher Räume – und dies ist eine Art Schädigung.11 Unter einem liberalen Gesichtspunkt ist es schwer, an einen plausiblen Fall von strafwürdiger Belästigung zu denken, der keinen Schaden mit sich bringt. 2. Schädigung und Ressourcen Das vorstehende induktive Argument bezüglich der Rolle der Schädigung wird von Überlegungen zum Wert der Interessen und persönlichen Ressourcen für das menschliche Leben verstärkt. „Harm“, behauptet Feinberg, bezieht sich auf eine Beeinträchtigung des Interesses von jemandem. Er definiert diesen Zusammenhang nicht ausführlicher – außer, dass ein „stake“ an etwas impliziert ist.12 Andrew Simester und ich gehen in unserem 2011 erschienenen Werk einen Schritt weiter und vertreten den Standpunkt, dass 9
Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 100. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 118; für eine ausführliche Diskussion der Schädlichkeit von „hate speech“ vgl. Waldron The Harm in Hate Speech, Cambridge (Mass.) 2012. 11 Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 97–104. 12 Feinberg (Fn. 5), Kap. 1. 10
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ein Interesse eine Ressource konstituiert,13 auf welche die Person einen normativen Anspruch hat. Eine Ressource, argumentieren wir weiter, ist ein Mittel oder eine Fähigkeit, das über eine längere Zeit besteht, vom tatsächlichen Bewusstsein der Person nicht abhängt (das heißt: nicht nur eine subjektive Befindlichkeit ist), und zur Lebensqualität dieser Person beitragen kann.14 Das „Harm Principle“ kann daher als eine Norm des Ressourcenschutzes betrachtet werden: Einen Schutz der menschlichen Interessen, die für ihre Lebensqualität maßgeblich sind. Was sind Ressourcen? Eine Ressource, wie gesagt, kann als ein Mittel oder eine Fähigkeit beschrieben werden. Diese Konzeptionen sind begrifflich etwas unterschiedlich: „Mittel“ kann aus John Rawls Auffassung von „Gütern“ hergeleitet werden;15 Fähigkeiten können im Anschluss an Amartya Sen als die Kapazität, gewisse Handlungen durchzuführen, bestimmt werden.16 Auf diese Auffassungen kann man sich berufen, um die hier zu begründende Idee von Interessen zu definieren. Viele der Ressourcen, die das Strafrecht schützt, konstituieren „Mittel“ – z.B. das Interesse am Eigentum. Manche beziehen sich indes auf Fähigkeiten. Zum Beispiel wird Körperverletzung als gravierendes Delikt behandelt, denn sie impliziert einen Verlust an wichtigen physischen Kapazitäten.17 Sowohl Fähigkeiten als auch Mittel erfüllen Simesters und meine dreigliedrige Ressourcenkriterien: Sie hängen nicht vom persönlichen Bewusstsein ihres Daseins ab (eine Person hat die Fähigkeit, ihren Arm zu benutzen auch, wenn sie dies im Moment nicht macht); sie bestehen über eine längere Zeit; und sie tragen zur Lebensqualität der Person bei. Es soll hervorgehoben werden, dass diese Auffassung von Ressourcen umfassender ist als Feinbergs „welfare interests“ oder Rawls „primary goods“. Nicht nur die wichtigsten Mittel und Fähigkeiten, die ein breites Spektrum von potentiellen Nutzen haben, gehören zu Ressourcen, aber auch andere, spezialisiertere oder weniger wichtigere Mittel und Fähigkeiten. Was Interesse am Eigentum angeht, zum Beispiel, spielen nicht nur die fundamentalen Besitztümer eine Rolle, sondern auch verschiedene andere persönlichere oder bescheidenere Besitzgegenstände, sofern sie zur Lebensqualität einer Person beitragen.
13 Simester/von Hirsch (Fn. 7), Kap. 3. Das Wort „Ressource“ geht über Eigentumsinteressen hinaus und bezieht sowohl physische und psychische Integrität als auch die Aufrechterhaltung der Privatsphäre mit ein. 14 Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 37. 15 Vgl. Rawls A Theory of Justice, Cambridge (Mass.) 1971, und seine Erörterungen zu „Primary Goods“ S. 90–95. 16 Vgl. Sen The Idea of Justice, London 2009, S. 231–241. 17 Vgl. die Definition von schwerer Körperverletzung, § 226 Abs. 1 StGB.
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3. Warum die Betonung auf Ressourcen? Es gibt verschiedene Gründe, dem Begriff der Ressourcen eine besondere Rolle in der Kriminalisierungstheorie zuzuerkennen. Erstens soll eine primäre Aufgabe des Staates darin bestehen, den Schutz wichtiger Lebensressourcen zu fördern: etwa den Anspruch auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum und Selbstachtung. (Das Scheitern, ein Minimum an Ressourcenschutz anzubieten, wäre in der Tat ein Indiz für einen „failed state“). Die Grundidee ist, dass zu den maßgeblichen Aufgaben des Staates die Sicherung der Mittel gehört, welche den Bürgern ein gutes und friedliches Leben ermöglichen. Der Begriff von Lebensressourcen – und die mit ihnen zusammenhängende Idee des Schadens – sollte aus diesem Grund ein konstitutives und explizites Element der Kriminalisierungstheorie sein. Zweitens muss das Strafrecht auf der Basis von allgemeinen Verboten operieren, die nur begrenzt auf Variationen bei individuellen Präferenzen achten kann.18 Dies hängt damit zusammen, dass strafrechtliche Verbote allgemein anwendbare Regeln sein müssen, und nicht individualisierte ad hominem Verbote. (Der Gleichbehandlung liegt eine solche Betonung allgemein anwendbarer Normen zugrunde).19 Bezüglich solcher allgemein anwendbaren Normen ist der Fokus auf Ressourcen nützlich, weil sie selbst ein Standardisierungselement beinhalten; denn sie konstituieren die standardisierten Mittel und Fähigkeiten, welche die Lebensqualität von Menschen stützen. Drittens hat ein ressourcenbasierter Ansatz den Vorteil, persönliche Freiheit zu bewahren und zu fördern. Die Person behält einen erheblichen Spielraum, darüber zu entscheiden, wie sie die geschützten Ressourcen im Rahmen ihrer bevorzugten Lebensweise einsetzen will.20 Die Strafnorm, die sich auf Hausfriedensbruch bezieht (§ 123 StGB), schützt das Interesse einer Person an ihrem Wohnraum, unabhängig davon, wie sie diesen benutzen will. Der Wert des Interesses besteht nicht darin, dass er zu einer bestimmten vorgezogenen Lebensform, sondern dass er zu den unterschiedlichen Lebensformen beiträgt, für welche sich die Person bei der Nutzung ihrer Wohnung entscheiden kann – unabhängig davon, ob diese Lebensform in Kindererziehung, wissenschaftlicher Arbeit, „socialising“ oder ganz anderen Tätigkeiten besteht.21
18
Näher Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 37 f. Ausführlicher dazu Simester/von Hirsch (Fn. 7), Kap. 12. 20 Näher von Hirsch/Ashworth Proportionate Sentencing, Oxford 2005, Kap. 3, S. 196 f., besonders gegen die Argumentation von Braybrooke Meeting Needs, Princeton 1987, S. 48 f. 21 Näher von Hirsch/Ashworth (Fn. 20), S. 196 f. 19
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4. Das Erfordernis der Verwerflichkeit des Verhaltens Simester und ich argumentieren, dass verwerfliches Verhalten eine Voraussetzung der Kriminalisierung ist. Aber wir fördern keine übergreifende Theorie zur Bestimmung der Verwerflichkeit. Stattdessen legen wir verschiedene Argumente für die Verwerflichkeit dar, die sich auf unterschiedliche Kontexte beziehen. a) Unmittelbare Schäden: In solchen Fällen ist eine tatsächliche Beeinträchtigung der persönlichen Ressource einer bestimmten Person vorhanden. Die Zuschreibung von Verwerflichkeit gründet sich auf die Verletzung ihres normativen Anspruchs auf diese Ressource.22 b) Langfristige Schäden: In diesen Fällen verbindet unsere Theorie die allmählich schädlichen Folgen des Verhaltens mit einer verwerflichen gegenwärtigen Tat des Akteurs. Bei den langfristigen Schäden, die mit dem Eingreifen von mittelbaren Akteuren zustande kommen, kann diese Verbindung hergestellt werden, wenn das gegenwärtige Verhalten des Akteurs (obgleich an sich unschädlich) eine „normative Beteiligung“ an den eventuellen schädlichen Entscheidungen des Akteurs, ferner am Kausalverlauf darstellt (siehe unten III. 5). c) Belästigung: Belästigendes Verhalten verursacht an sich keinen unmittelbaren Schaden. Hier muss sowohl ein unmittelbares Fehlverhalten identifiziert werden als auch eventuelle schädliche Konsequenzen dieses Verhaltens. Für die Belästigung haben Simester und ich ein allgemeines Konzept vorgeschlagen, nach welchem das belästigende Verhalten einen „groben Mangel an Respekt oder Rücksicht“ aufweisen muss.23 Für die vier Standardfälle von Belästigung, die wir nennen (Beleidigung, Exhibitionismus, Verletzung der Anonymität in öffentlichen Räumen und „pre-emptive public behaviour“), führen wir jeweils spezifische Argumente an, die die Verwerflichkeit des Verhaltens ausführlicher begründen.24 Wesentlich für unsere Theorie ist allerdings, dass Gründe dargelegt werden, warum das Verhalten verwerflich ist.
22
S. III. 3 oben und Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 44–46. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 100. 24 Das Fehlverhalten der Beleidigung besteht in der grob respektlosen Behandlung anderer Menschen; vgl. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 97 f. Während das deutsche Recht ein allgemeines Verbot der Beleidigung beinhaltet (§ 185 StGB), gibt es keine vergleichbare Norm im englischen Recht. Beim Exhibitionismus liegt das Fehlverhalten etwa in einer Art Verletzung der Privatsphäre; vgl. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 98. Bei Belästigungen, wie aufdringlichem Betteln, ist das Fehlverhalten in der Verletzung des Anspruchs auf Anonymität in der Öffentlichkeit zu sehen; vgl. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 98 f. Das verwerfliche Verhalten in Fällen von „pre-emptive public conduct“ (etwa ein Radio in höchster Lautstärke in öffentlichen Verkehrsmitteln spielen lassen) besteht darin, die Fähigkeit anderer Passagiere, ihren eigenen Präferenzen in Frieden zu folgen (etwa die Zeitung zu lesen), zu beeinträchtigen; vgl. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 105 f. 23
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5. Schädigung und Fehlverhalten als gegenseitige Schranken der Kriminalisierung Weil Strafe ein Übel darstellt, ist es wünschenswert, den Rückgriff auf das Strafrecht einzuschränken. Der auf Schädlichkeit und Verwerflichkeit des Verhaltens basierende zweigliedrige Ansatz hilft, die Reichweite des Strafrechts einzuschränken, indem er sich wechselseitig begrenzende Prinzipien fordert. Man kann die Kriminalisierung von Handlungen, die langfristige Schäden verursachen, beschränken, indem man verlangt, dass das dazugehörige Verhalten unmittelbar verwerflich sei. Und man kann umgekehrt die Kriminalisierung von verwerflichen Verhalten dadurch beschränken, dass man zusätzlich einen Schaden verlangt. Überlegungen bezüglich der Schädlichkeit würden zum Beispiel Gründe für eine Begrenzung der Verbote belästigenden Verhaltens darstellen. Wenn man sich bloß auf die Verwerflichkeit des Verhaltens berufen würde, wie der Rechtsmoralismus es verlangt, wäre es schwieriger, Kriminalisierungsnormen entsprechend zu begrenzen. Wie würden diese wechselseitigen Einschränkungen funktionieren? Betrachten wir zuerst die Situationen, in denen langfristige Schäden die prima facie Basis für die Kriminalisierung liefern sollten. Die Forderung, dass Verhalten verwerflich sein muss, kann dazu verhelfen, den Bereich solcher Verbote zu limitieren. Das Verhalten muss nicht nur kausal zum Schaden beitragen, sondern auch ein mit jenen schädlichen Folgen verbundenes Fehlverhalten darstellen. Im Fall von langfristigen Schäden, die durch das Eingreifen eines Dritten entstehen, muss eine „normative Beteiligung“ des ersten Handelnden bezüglich dieser Schäden gegeben sein. Das heißt, mit seinem Verhalten muss er implizit die eventuelle Verletzung befürworten oder in Kauf nehmen.25 Die Tatsache, dass der Täter die Folgen seines Verhaltens hätte voraussehen können, würde nicht ausreichen, wenn sein ursprüngliches Verhalten nicht verwerflich gewesen wäre.26 Solche Zurechnungsanforderungen könnten den Bereich der strafrechtlichen Verantwortung für langfristige Schäden erheblich einschränken.27 Zweitens ermöglicht es die Anerkennung der Schädigung als zentrales Element, zwischen Verhalten zu differenzieren, die einen Schaden (oder Gefahr) für andere implizieren, und denen, die bloß einen Schaden (oder Gefahr) für
25
Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 79–85. Näher von Hirsch Criminal Justice Ethics 2008, 25 ff., wo wir darauf hinweisen, dass die anfängliche Absicht des Täters oder seine Kenntnis der langfristigen Folgen und Gefahren keine notwendige Bedingung für die Kriminalisierung sein muss. Was stattdessen von Bedeutung sein soll, ist das Maß, in dem der Täter das schädliche Eingreifen anderer Handelnden normativ unterstützt; vgl. Husak (Fn. 6), S. 174–177. 27 Vgl. Simester/von Hirsch (Fn. 7), Text in den Fn. 30–31. Die normative Festlegung muss nicht die einzige Rechtfertigung der Zurechnung sein; vgl. unsere Erörterung der abstrakten Gefährdung, Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 63–65, 75–79. 26
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den Handelnden selbst verursachen. Und dies ermöglicht die Festlegung von engeren Schranken für die Kriminalisierung von selbstverletzendem Verhalten (das heißt, paternalistische Strafnormen) auf der Basis persönlicher Selbstbestimmung, wie Simester und ich vorschlagen.28 Ein zweigliedriger Ansatz ermöglicht auch das Gegenteil: Schädlichkeit als Schranke der Kriminalisierung von verwerflichem Verhalten. Simester und ich machen dies explizit deutlich in unserer Diskussion zum belästigenden Verhalten. Unser prima facie Argument für die Kriminalisierung belästigenden Verhaltens beruht auf dessen Verwerflichkeit: nämlich, dass das Verhalten andere grob respektlos oder rücksichtslos behandelt.29 Dazu fordern wir jedoch eine eventuelle Schädlichkeit: Nämlich, dass das Verhalten in der Öffentlichkeit geschieht und das Risiko birgt, die Nutzbarkeit und Attraktivität öffentlicher Räume zu beeinträchtigen.30 Auch hier trägt die Verflechtung der Anforderungen von Schädlichkeit und Verwerflichkeit des Verhaltens dazu bei, den Bereich der Verbote belästigenden Verhaltens einzuschränken. 6. Das Erfordernis einer Schädigung und der öffentliche Diskurs Wenn wir uns der Praxis öffentlicher Debatten zuwenden, kann die Betonung auf Schädigung als eine zentrale Forderung der Kriminalisierungstheorie dazu verhelfen, eine gemeinsame Basis für den Diskurs zu schaffen. Wenn schädliche Konsequenzen (oder deren Gefahr) ein notwendiges Element sind, dann können empirische Indizien für solche Wirkungen verlangt werden. Wird aber Kriminalisierung bloß als eine Frage der Verwerflichkeit des Verhaltens verstanden, erschwert dies, eine gemeinsame Basis für diejenigen zu schaffen, die entgegen gesetzte politische und normative Anschauungen haben. Dies ist in Deutschland an der jüngsten Diskussion über die Aufrechterhaltung des strafrechtlichen Inzestverbots ersichtlich.31 Wenn es (zumindest teilweise) um die Schädlichkeit des Verhaltens geht, kann man nach den empirischen Indizien für solche schädlichen Folgen suchen – fundierte Indizien in diesem Fall scheinen kaum zu bestehen.32 Aber wenn es 28
Simester/von Hirsch (Fn. 7), Kap. 9 und 10. Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 92–104. 30 Simester/von Hirsch (Fn. 7), S. 132–134. 31 Vgl. BVerfG NJW 2008, 1137, zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots in § 173 StGB. 32 Hassemer, der ein Sondervotum zu der Inzestentscheidung verfasst hat, beauftragte das Max Planck Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, eine empirische Untersuchung zu den schädlichen Wirkungen des Inzests unter Erwachsenen durchzuführen – und erwähnt die Ergebnisse dieser Untersuchung in seiner abweichenden Meinung. Die Untersuchungen des Instituts konnten keine überzeugenden Indizien für schädliche Wirkungen finden, s. Hassemer BVerfG NJW 2008, 1137, 1141 ff. (Rn. 73 ff.) 29
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bloß um die Verwerflichkeit des Verhaltens geht, wird es maßgeblich schwerer, eine Konsensbasis oder sogar Ansatzpunkte für die Debatte zu finden. Wie kann man nur auf der Basis des Verwerflichkeitskriteriums eine konsensfähige Antwort auf die Behauptung finden, dass das Inzesttabu aufrechterhalten werden sollte, weil es wesentlich für unser moralisches Erbe sei? 33 Dieser letzte Punkt sollte indes nicht übertönt werden. Schädlichkeitsanforderungen bedürfen auch begrenzender Prinzipien. Manche dieser Einschränkungen ergeben sich – wie oben bemerkt – aus den Grenzen der fairen Zurechnung hinsichtlich langfristiger Schäden.34 Es wird jedoch nicht ganz einfach sein, Einschränkungen dieser Art im harten Alltag des öffentlichen politischen Diskurses zu rechtfertigen.35
IV. Folgen für die deutsche Rechtsgutstheorie? Welche Schlüsse können aus dem oben erläuterten Konzept, das maßgeblich aus der englischsprachigen Strafrechtsphilosophie stammt, für die deutsche Strafrechtstheorie und insbesondere für ihre Rechtsgutstheorie gezogen werden? Wenden wir uns einem wichtigem Element der deutschen Rechtsgutsdebatte zu – nämlich der „personalen Rechtsgutslehre“. Diese Auffassung wurde von Frankfurter Kollegen entwickelt – vor allem Winfried Hassemer und Ulfrid Neumann.36 Ihre zentrale Forderung ist, dass die vom Strafrecht geschützten Rechtsgüter aus menschlichen – und vor allem: individuellen – Interessen hergeleitet werden sollen. Warum diese Forderung? Eine Argumentationslinie kann aus dem oben erläuterten Modell gezogen werden. Wenn, wie dieses Modell annimmt, die Begründung der Kriminalisierungsnormen auf dem Schutz von Ressourcen basiert werden
33 Es trifft zu, dass Simesters und mein zweigliedriger Ansatz auch ein Fehlverhalten als Bedingung der Kriminalisierung verlangt – und deshalb Schwierigkeiten beim Erreichen eines öffentlichen Konsenses über die Verwerflichkeit solcher Verhalten wie des Inzests aufweisen kann. Doch verlangen wir auch einen Schaden oder eine Schadensgefahr, was eine zusätzliche Basis für diese Debatte schaffen kann. 34 S. III. 5 oben sowie Simester/von Hirsch (Fn. 7), Kap. 4–5. 35 Ein Beispiel bietet Harcourt Journal of Criminal Law and Criminology 90 (1999), 109 ff. Dieser Autor argumentiert, dass ein breites Spektrum von Strafverboten auch unter Berufung auf die langfristige Schädlichkeit des Verhaltens gerechtfertigt werden könnte. Er übersieht indes die Möglichkeit, das Problem zu vermeiden, indem man das „Harm Principle“ soweit modifiziert, dass es auch Einschränkungen, die eine faire Zurechnung berücksichtigen, enthält; s. ferner III. 5. 36 Vgl. etwa Hassemer in: ders. (Hrsg.), Strafen im Rechtstaat, 2000, S. 160 ff.; Neumann in: ders./Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 84 ff.
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soll, und wenn Ressourcen sich primär auf individuelle menschliche Interessen beziehen sollen, dann muss die Rechtsgutstheorie auf diese Art Ressourcen zurückgreifen. Es bedarf einer Betonung des Schutzes individueller Interessen und Freiheiten, wenn man die Rechtsgüter definiert – und dementsprechend einer Skepsis gegenüber einer Perspektive, die primär kollektive Interessen und abstrakte Entitäten berücksichtigt.
Grenzen der Individualisierung von Schuldurteilen Tatjana Hörnle I. Schuldminderungen jenseits der §§ 20, 21 StGB wegen geminderter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit? Diskussionen in der zeitgenössischen Strafrechtswissenschaft, die sich auf das Thema „Schuld“ konzentrieren, drehen sich meist um die Frage, ob Menschen willensfrei handeln, d.h. ob in einer gegebenen Situation ein AndersEntscheiden- und Anders-Handeln-Können möglich ist. Bernd Schünemann, dem ich diesen Beitrag in großer Dankbarkeit für die wunderbaren Jahre in seinem Institut für Rechtsphilosophie widme, lehnt es zu Recht ab, sich der einfachen Lösung anzuschließen, die unter Berufung auf „Agnostizismus“ Überlegungen zu Anders-Entscheiden-Können schnell abbricht.1 Ob ein klassischer Schuldvorwurf, wie ihn der BGH 1952 formuliert hat („Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.“)2 legitim ist, mag die Strafrechtspraxis offen lassen. Für die Strafrechtswissenschaft kann ein Verweis auf Nichtwissen keine Option sein. An dieser Stelle zeigt sich, dass interdisziplinäres Arbeiten unabdingbar ist, wenn das Element „Wissenschaft“ in „Strafrechtswissenschaft“ ernst genommen wird. Unser Jubilar argumentiert im Anschluss an soziologische und ethnologische Überlegungen, dass in den elementaren Strukturen der europäischen Sprachen und damit in unseren Kulturen Willensfreiheit fest verankert sei.3 Nach meiner Auffassung sollte allerdings der erste Schritt zu den Wissenschaften führen, die sich mit menschlicher Entscheidungsbildung beschäftigen, also den Neurowissenschaften und der Psychologie. Setzt man so an, ist es keine überzeugende These, dass Menschen in einer konkreten Situation
1 Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 37; dagegen Schünemann in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 147, 149 ff.; ders. FS Lampe, 2003, S. 537, 544 ff.; Herzberg in diesem Band. 2 BGHSt 2, 194, 200. 3 Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153, 163 ff.; ders. in: Strafrecht und Kriminalpolitik (Fn. 1), S. 151 ff.
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Verhaltensoptionen haben – plausibler ist die Annahme, dass die durch alle zurückliegenden Ereignisse modellierten Hirnstrukturen und die darauf beruhenden Entscheidungsprozesse nicht zwei gleichermaßen mögliche Entscheidungen zulassen.4 Das ist allerdings nicht das Ende der Debatte. Begriffe wie „Freiheit“, „Verantwortung“ oder „Schuld“ verweisen auf wertende Entscheidungen. An diesem Punkt endet die Kompetenz der empirischen Wissenschaften und beginnt der Entscheidungsraum für die normativen Disziplinen wie Strafrechtswissenschaft und Moralphilosophie. Die maßgebliche Frage muss sein, ob Menschen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden dürfen, obwohl von einem Anders-Entscheiden-Können zum Tatzeitpunkt nicht ausgegangen werden kann; darauf wird zurückzukommen sein (unten IV.). Unmittelbarer Gegenstand meines Beitrags ist allerdings nicht, ob ein Schuldvorwurf überhaupt erlaubt ist. Es geht vielmehr um ein verwandtes Problem, das nicht nur den Strafrechtstheoretiker interessieren sollte, sondern das auch große praktische Bedeutung (für die Strafzumessung) hat. Es ist eine gängige Annahme, dass Schuldurteile individualisiert und feinkalibriert werden sollten – und zwar nicht nur dann, wenn psychopathologische Zustände vorlagen, wie sie § 20 StGB beschreibt. Einsichts- und Steuerungsfähigkeit müssten als abstufbare Zustände in ihrem konkreten Ausmaß für jeden Täter erfasst werden. So formuliert unser Jubilar: „Jede Einschränkung der Möglichkeit des Andershandeln stellt infolgedessen nach den Wertungen unseres Strafrechts einen Schuldminderungsgrund dar, der sich in einer entsprechenden Milderung der Strafe niederschlagen muss“. Zu dieser Konsequenz zwinge das in der Verfassung verankerte Schuldprinzip.5 Diese Thesen sollen hier Gegenstand kritischer Untersuchung sein.6 Unstreitig ist die Notwendigkeit einer einzelfallsensiblen Bemessung des Unrechts. Selbstverständlich muss das Strafmaß den Ausprägungen des Erfolgs- und Handlungsunrechts entsprechen, die Teil dessen sind, was in gängiger (wenn auch nicht glücklich gewählter) Terminologie „Strafzumessungsschuld“ genannt wird.7 4 Hörnle Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013, S. 15 ff. S. grundlegend R. Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, und für eine Verteidigung des Determinismus Herzberg Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010; ders. in diesem Band. 5 Schünemann in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität – echte Kriminalität?, 1978, S. 49, 97. Ebenso Paeffgen GA 1982, 255, 270. Schünemann kam deshalb zu der Forderung, dass Täter, die aus religiöser, politischer oder sittlicher Überzeugung handeln, ggf. milder zu bestrafen seien, a.a.O. S. 108. 6 Ich habe die These einer individualisierenden Bemessung von Unrechts- und Steuerungsfähigkeit auch vertreten (Hörnle Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 310 ff.; dies. in: Hefendehl [Hrsg.], Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 105, 121 ff.), gebe diese aber nach intensiver Beschäftigung mit dem Thema auf. 7 Achenbach Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1972, S. 200, 218 f.; Hörnle Strafzumessung (Fn. 6), S. 324 ff.
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Der hier interessierende Punkt ist: Muss, wenn das für das Unrecht passende Strafmaß ermittelt wurde, außerdem ergründet werden, ob Faktoren vorlagen, die es diesem Täter (nochmals: jenseits von § 20 StGB) erschwert hatten, in optimalem Maß Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit zu entwickeln? Rechtsprechung des BGH zu dieser Frage findet man zahlreich vor allem bei Tötungsdelikten (Abgrenzung von Mord und Totschlag). Erstens stellt sich (oft, aber nicht nur bei Beziehungstaten) die Frage, ob starke Emotionen als Strafminderungsgrund zu werten (und deshalb niedrige Beweggründe zu verneinen) sind.8 Eine zweite Fallgruppe betrifft „fremdkulturelle“ Einflüsse im Werdegang des Täters.9 Zudem wird über geminderte Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit bei Gewissens- oder Überzeugungstätern diskutiert10 und (vor allem im angloamerikanischen Schrifttum) gefordert, soziale Benachteiligung strafmindernd zu werten.11 Im Folgenden möchte ich Gegenthesen begründen: Es ist, erstens, eine Illusion, zu glauben, dass eine Beschreibung oder gar Bemessung individueller Einsichts- und Steuerungsfähigkeit möglich sei; zweitens sind wir nicht aus normativen Gründen, insbesondere nicht durch den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz, dazu gezwungen, einer solchen Illusion weiter anzuhängen. Freude am Diskutieren, auch in der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen, ist eines der Kennzeichen Bernd Schünemanns. Er wird es mir deshalb hoffentlich nachsehen, dass ich seinen Vorarbeiten nur ein Stück weit gefolgt bin und an dieser Stelle abweiche.
II. Kritik am „freihändigen Psychologisieren“ Über Umstände, die sich auf die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt haben könnten, wird unter anderem unter dem Stichwort „Motivationsbeherrschungspotential“ diskutiert. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat bei der Auslegung des Mordmerkmals „niedrige Beweggründe“ einschränkende Formeln entwickelt, die nicht expressis verbis, aber der Sache nach auf Überlegungen zum Ausmaß individueller Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hinauslaufen. Dabei werden unterschiedliche Perspektiven angewandt: zum einen eine Querschnittsperspektive, mit der das Motivationsbeherrschungs-
8
S. die Urteile in Fn. 14; BGHSt 28, 210, 212. S. Fn. 18–27. 10 Schünemann (Fn. 5); Hirsch Strafrecht und Überzeugungstäter, 1996, S. 26, 34 f.; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 31; Leipziger Kommentar StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 374. 11 Hudson Justice Through Punishment: A Critique of the ‚Justice Model‘ of Corrections, London 1987; von Hirsch Censure and Sanctions, Oxford 1993, S. 106 ff. (allerdings jeweils mit Gerechtigkeits- statt Schuldargumenten). 9
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potential wegen heftiger Emotionen zum Tatzeitpunkt verneint wird; zum anderen eine (auf den Werdegang des Täters abstellende) Längsschnittperspektive bei Herkunft aus einem „fremden Kulturkreis“. Ein sich aufdrängendes Problem sind Feststellungsschwierigkeiten. Schon zu § 20 StGB wird darauf hingewiesen, dass schwierig zu beurteilen ist, ob der Täter tatsächlich unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.12 Bei der zweistufigen Prüfung nach den §§ 20, 21 StGB hat der Richter aber immerhin durch eine Fachbegutachtung (jedenfalls im Modell) einen Ausgangspunkt gewonnen,13 von dem aus mit größerer Aussicht auf Plausibilität Aussagen zur zweiten Stufe möglich sind. In Relation dazu ist die spekulative Natur von Aussagen zu eingeschränkter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit wegen starker Emotionen oder wegen biographischer Erschwernisse augenfällig. Emotionen als Motor des Geschehens sind bei Gewalttaten häufig. Wie soll aber, zumal nachträglich, entschieden werden, ob eine Person in der Lage war, ihre „gefühlsmäßigen Regungen willensmäßig zu steuern“?14 Es ist wenig plausibel, zu behaupten, man könne nach Monaten oder Jahren im Hinblick auf flüchtige, normalpsychologische Zustände wie Ärger eingeschränkte Steuerungsfähigkeit feststellen. Entsprechende Aussagen sind nicht Feststellungen, sondern Zuschreibungen. Entscheidend dürfte sein, wie schlüssig das von der Verteidigung gebotene Narrativ ausfällt und ob Tatrichter Sympathie oder Antipathie entwickeln. Möglicherweise spielt auch eine Rolle, dass in typischen Fällen Tatrichter (die bei älteren Urteilen in großer Mehrheit männlich waren) sich insoweit in den Kontext „häusliche Konflikte, Beziehungsstreitigkeiten“ einfühlen konnten, dass sie Angeklagten, die Ehefrau oder Lebenspartnerin getötet hatten,15 eine als zu streng empfundene lebenslange Freiheitsstrafe ersparen wollten. Die Entscheidung für oder gegen ein „Motivationsbeherrschungspotential“ dürfte jedoch schwerlich valide sein. Der mit der Praxis intensiv vertraute Bundesanwalt Schneider spricht von „maßloser Kadijustiz“16 und „freihändigem Psychologisieren“17.
12
S. dazu Frister Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 166 ff.; Münchener Kommentar StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 49, 53 f.; LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 42; Schönke/Schröder/Perron StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 26. 13 Zwar wird (z.B. MK/Streng [Fn. 12], § 20 Rn. 13 ff.; Sch/Sch/Perron [Fn. 12], § 20 Rn. 1; Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 20 Rn. 5a) darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer klaren Abgrenzung von psychopathologischen Ursachen und rechtlich zu bewertenden Wirkungen vereinfacht ist. Für unsere Zwecke geht es nur darum, die im Vergleich noch größeren Schwierigkeiten zu betonen, die ohne unterstützende Fachgutachten entstehen. 14 BGH NJW 1981, 1382; NStZ 2004, 34; NStZ 2009, 568, 569. 15 Darum ging es in den Fällen in der vorstehenden Fn. 14. 16 MK/Schneider, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 118. 17 Schneider FS Widmaier, 2008, S. 759, 772. Krit. auch Fischer (Fn. 13), § 211 Rn. 15 a.E.
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Mindestens genauso problematisch sind Annahmen zu geminderter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, wenn diese auf „fremdkulturelle Einflüsse“ im Werdegang zurückgeführt werden. Zwar berücksichtigt der BGH seit einigen Jahren nicht mehr die individuellen Wertmaßstäbe des Täters, wenn die Bewertung von Beweggründen als „niedrig“ (§ 211 StGB) in Frage steht.18 Gleichwohl lässt das Gericht eine Hintertür offen, „wenn dem Täter bei der Tat die Umstände nicht bewusst waren, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern“.19 Das könne der Fall sein „bei einem Persönlichkeitsmangel oder bei einem ausländischen Täter, der den in seiner Heimat gelebten Anschauungen […] intensiv verhaftet ist“.20 Nicht nur bei Mord, sondern auch bei anderen Delikten wurde „Strafminderung wegen Schuldminderung“ akzeptiert, z.B. weil „der Angeklagte sich immer noch zwischen dem kurdischen Kulturkreis, aus dem er stammt, und dem hiesigen ‚zerrissen fühlt‘ und es ihm deshalb schwerer als anderen fallen mag, sich normgerecht zu verhalten“.21 In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob bei ausländischen Tätern von eingeschränkter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden könne.22 In neueren Veröffentlichungen werden Assoziationen von „ausländische Abstammung“ und „Persönlichkeitsmangel“ kritisiert.23 Aus zwei Gründen wäre es angebracht, auf derartige Argumente zu verzichten. Erstaunlich undifferenziert fallen manche Urteile aus, die betonen, dass Angeklagte aus einem „völlig fremden Kulturkreis“24 stammten. Pauschalurteile z.B. über „die kurdische Kultur“ oder „auf dem Islam basierende Wertvorstellungen“25 sind nicht selten. Dabei wird verkannt, dass je nach sozialer, religiöser und kultureller Mikroumgebung Verhaltensnormen heterogener ausfallen als diese groben Einteilungen suggerieren. Bei „fremdländischen Tätern“ wird schnell auf eine „Verwurzelung in einem archaischen
18 Maßgeblich ist die Perspektive der Rechtsgemeinschaft: BGH NJW 1995, 602; NStZ 2002, 369, 370; NJW 2004, 1466, 1467; NStZ 2005, 35. Für eine Einbeziehung der Täterperspektive noch BGH GA 1967, 244; NJW 1980, 537; NJW 1983, 55 f. 19 BGH NJW 1995, 602, 603; NStZ 2002, 369, 370. 20 BGH NJW 2004, 1466, 1467. 21 BGH NStZ-RR 1997, 1 (angeklagt waren Diebstahl und Betäubungsmitteldelikte). 22 Für eine Berücksichtigung der Wertvorstellungen des Täters Köhler JZ 1980, 238, 240; Nomos Kommentar StGB/Neumann, 4. Aufl. 2013, § 211 Rn. 30a, 30b; Saliger StV 2003, 22, 23 f. 23 Erbil Toleranz für Ehrenmörder?, 2008, S. 195; Pohlreich „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts, 2009, S. 273, 283 ff.; Valerius Kultur und Strafrecht, 2011, S. 95. 24 LG Landshut, wiedergegeben in BGH NStZ 1996, 80; ähnlich LG Chemnitz, s. BGH NStZ-RR 1998, 298. 25 BGH StV 2002, 20.
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Wertesystem“26 verwiesen und eine durch Ärger und andere starke Emotionen geprägte Situation als „Kulturkonflikt“ gedeutet.27 Zu befürchten ist, dass dahinter Zuschreibungen stehen, die „das Fremde“ aufgreifen, obwohl bei Gewalttaten, die einem Streit entspringen, meist keine großen Unterschiede zwischen ausländischen und deutschen Tätern bestehen.28 Würden sich Tatgerichte bemühen, die Sozialisation aller Angeklagten (ohne Einteilung in „Kulturkreise“) zu erfassen, würden die Probleme offensichtlich. Es ist in der Strafpraxis schlechterdings unmöglich, den Werdegang eines Täters so detailgenau zu rekonstruieren, dass die Einflüsse in der Vergangenheit zu identifizieren sind, die es ihm schwerer gemacht haben, sich durch Einsicht in das Unrecht motivieren zu lassen (oder, was seltener sein dürfte, das Unrecht zu erkennen). Eine psychologisierende und individualisierende Herangehensweise müsste bei jedem straffällig gewordenen Menschen einen bunten Strauß an Umständen benennen. Der kontinuierliche Strom verhaltensprägender Einflüsse setzt nach der Befruchtung der Eizelle ein und endet mit dem Tod (auf die Diskussion, zu welchen Anteilen genetische Bedingungen die Basis bilden, kommt es hier nicht an). Welche Interaktionen und welche Lebensereignisse dazu geführt haben, dass Verhaltensdispositionen entstanden, die in ihrer jeweiligen Konfiguration bei der Entscheidung über die Straftat relevant wurden, könnte (wenn man sich auf eine hypothetische Betrachtung einlässt) ein allwissendes Wesen nachzeichnen. Aber für menschliche Urteilende ist dies ausgeschlossen. Auch bei unbegrenzter Zeit und bei unbedingter Aufrichtigkeit der über ihr Leben berichtenden Personen muss Vieles unaufgedeckt bleiben, was in früher Kindheit, aber auch in allen späteren Lebensstadien tatsächlich prägend war – weil die Betroffenen sich nicht daran erinnern oder die Relevanz dieses Umstandes verkennen oder weil die Interaktionen unterschiedlicher Einflüsse ihren Verständnishorizont überschreiten. Selbst unter optimalen Bedingungen wäre allenfalls ein sehr lückenhaftes, verzerrtes Bild der Hintergründe dessen, was Juristen „Steuerungsfähigkeit“ nennen, zu erwarten. Im Strafverfahren (dies bedarf keiner längeren Begründung) liegen optimale Bedingungen nicht vor. Es überrascht deshalb nicht, dass Tatgerichte sich auf plakative Umstände wie die „Herkunft aus einem völlig fremden Kulturkreis“ verlegen oder vielleicht noch auf „schwere Kindheit“, soweit sich diese ebenfalls an leicht zu erhebenden Umständen festmachen lässt. Aber es bleibt letztlich bei diesen Tätern wie bei allen anderen, bei denen sich nichts Derartiges augenfällig in
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LG Stuttgart in BGH NStZ 2009, 689. LG Stuttgart, s. BGH NStZ-RR 2007, 86, 87. 28 So Kröber in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Bd. 3, 2000, S. 37, 45: „Die große Mehrheit der einen wie der anderen handelte impulsiv, zornig, erregt, nicht weil es die sozialen Regeln der eigenen Gruppe so vorschreiben, sondern weil sie ihre aktuelle Wut auslassen wollten und andere Formen der Aggressionsbewältigung nicht gelernt hatten.“ 27
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den Vordergrund drängt, im Dunkeln, durch welche Einflüsse die vermutlich tatsächlich relevanten Umstände (z.B.: geringe Frustrationstoleranz und Unfähigkeit, mit belastenden Emotionen umzugehen; anerzogene Gewaltbereitschaft; Lieblosigkeit in Familien, die ggf. selbst einen „Ehrenmord“ am eigenen Kind zur Option macht usw.) gefördert wurden. Schon aus diesem Grund sollte auf Versuche verzichtet werden, Steuerungsfähigkeit oder Unrechtseinsicht in quantifizierender und individualisierender Weise zu beschreiben. An ihre Stelle sollte das ehrliche Eingeständnis treten: Es ist unmöglich, dazu etwas hinreichend Valides zu sagen. Das Herauspicken einzelner leicht zu erschließender Beschreibungselemente läuft auf eine Auswahl hinaus, die entweder sachlich falsch ist (wenn das Betonen von „Fremdheit“ die tatsächlichen Entscheidungsdeterminanten verdeckt) oder jedenfalls gegenüber anderen Straftätern willkürlich, bei denen die in ihrem Fall ihr Motivationsgefüge und damit ihre Steuerungsfähigkeit einengenden Umstände gar nicht erst thematisiert wurden.
III. Die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes Die These, dass auf Versuche einer Quantifizierung von Schuld verzichtet werden sollte, muss mit mehreren Einwänden rechnen. Der erste weist auf das deutsche Verfassungsrecht, der zweite auf mögliche Gerechtigkeitsintuitionen (dazu IV.). Der Text des GG erwähnt den strafrechtlichen Schuldgrundsatz nicht. Das BVerfG leitet diesen aber (in wechselnden Zusammenstellungen der Begründungsansätze) aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG ab.29 Für unser Thema ist von Interesse, ob sich aus dem Verfassungsrecht wirklich ergibt, dass bei der Bemessung von Kriminalstrafe Umstände in der Biographie des Täters (die nicht das Unrecht der Tat geprägt haben) oder emotionale Anspannungen zum Tatzeitpunkt strafmildernd verarbeitet werden müssen. Was genau sind die Forderungen, die aus dem verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz abzuleiten sind? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da die Vorgaben des BVerfG sehr allgemein, um nicht zu sagen: schwammig gefasst sind. Einen klaren, an die strafrechtliche Begriffswelt ohne weiteres anschlussfähigen Anforderungsbzw. Verbotskatalog liefert uns das Gericht nicht. In einer neueren, für das strafrechtliche Sanktionensystem wichtigen Entscheidung (zur Sicherungsverwahrung) findet sich folgende Passage: „Die Berechtigung des Staates, Freiheitsstrafen zu verhängen und zu vollziehen, beruht wesentlich auf der schuldhaften Begehung der Straftat. Nur weil der Täter in vorwerfbarer Weise Unrecht begangen hat, darf er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und
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deren Vollzug unterworfen werden. Dem liegt das Menschenbild des Grundgesetzes von einem zu freier Selbstbestimmung befähigten Menschen zugrunde, dem mit dem in der Menschenwürde wurzelnden Schuldprinzip Rechnung zu tragen ist (vgl. BVerfGE 123, 267, 413). Das Schuldprinzip begrenzt in seiner strafzumessungsleitenden Funktion die Dauer der Freiheitsstrafe auf das der Tatschuld Angemessene. Die Schuld ist einer der legitimierenden Gründe und äußerste Grenze der Anordnung und des Vollzugs der Freiheitsstrafe.“30 Als zwingende Voraussetzung für Kriminalstrafe werden hier genannt: „Unrecht begangen“ und „in vorwerfbarer Weise“. Die erste, sicherlich unstreitige Voraussetzung ist, dass ein in der Außenwelt feststellbares Geschehen (sei es der Eintritt eines im Tatbestand vorausgesetzten Erfolgs oder ein insoweit erfolgloser Angriff, der die Schwelle des Ansetzens nach § 22 StGB überschritt) der angeklagten Person als eigenes Verhalten zuzurechnen ist. Unvereinbar mit dem Schuldgrundsatz wäre die Bestrafung von Verhalten, das nicht unter einen Straftatbestand zu subsumieren ist, und die Bestrafung für Ereignisse, die ausschließlich anderen Personen zuzurechnen sind, sodass eine den Angeklagten damit verbindende Zurechnungslinie (etwa: Mittäterschaft oder mittelbare Täterschaft oder Garantenstellung bei Unterlassen) nicht möglich ist. Sippenhaftung wäre verfassungswidrig (obwohl eine Bestrafung von Familienangehörigen jedenfalls bei manchen Tätergruppen vermutlich abschreckende Effekte hätte). Neben der eigenen Begehung eines als tatbestandsmäßig erfassten Verhaltens ist laut BVerfG ferner eine zentrale Anforderung, dass der Täter in vorwerfbarer Weise Unrecht begangen hat. An dieser Stelle besteht Interpretationsbedarf. Was ist mit „in vorwerfbarer Weise“ gemeint? Eine (nach meiner Auffassung ausreichende) Interpretation liegt darin, dass über objektiv dem Angeklagten zurechenbares Erfolgsunrecht („Unrecht begangen“) hinaus mit „in vorwerfbarer Weise“ als Minimalbedingung Fahrlässigkeit zu fordern ist (oder, verbunden mit einem gesteigerten Vorwurf, vorsätzliches Handeln). Das Täterverhalten muss (mindestens) durch einen Sorgfaltspflichtverstoß charakterisiert sein – nur dann kann man ihm einen persönlichen Vorwurf für das Geschehene machen. Die im angloamerikanischen Recht vorkommende „strict liability“Haftung31 (die auch Täter trifft, denen keine Sorgfaltspflichtverletzung nachzuweisen ist) wäre mit deutschem Verfassungsrecht nicht vereinbar. Erfordert das verfassungsrechtliche Schuldprinzip aber darüber hinaus, dass sämtliche Faktoren, die im Werdegang des Täters oder kurz vor der Tat seine Fähigkeit eingeschränkt haben, den Anforderungen des Rechts entsprechend zu handeln, strafmindernd berücksichtigt werden müssen? Aus der Perspektive der deutschen Strafrechtswissenschaft könnte dies deshalb eine
30 31
BVerfGE 128, 326, 376. Hervorhebung durch die Verf. Dubber/Hörnle Criminal Law: A Comparative Approach, Oxford 2014, S. 250 ff.
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naheliegende Schlussfolgerung sein, weil wir Derartiges in der Begriffswelt, die wir „Verbrechenslehre“ nennen, bei „Schuld“ verorten. Aber der verfassungsrechtliche Schuldgrundsatz muss nicht eins zu eins alles nachzeichnen, was in der Strafrechtswissenschaft unter die Überschrift „Schuld“ gefasst wird. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass das BVerfG das Menschenbild des Grundgesetzes anführt. Dieses Menschenbild, das auf die „freie Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ verweist,32 ist nicht als empirische Beschreibung zu verstehen, wie Menschen sich typischerweise oder regelmäßig verhalten.33 Die lakonische Festsetzung, ohne jeden Bezug zu Erfahrungswissenschaften, deutet auf ein normatives Menschenbild, das von einem empirischen Menschenbild zu unterscheiden ist. Es wird eine Aussage darüber getroffen, von welchen Prämissen staatliche Institutionen beim Umgang mit Bürgern ausgehen sollen. Charakteristikum eines normativen Menschenbildes ist, dass es sich nicht dafür interessiert, ob es sich möglicherweise um eine kontrafaktische Aussage handelt. Es bestehen Parallelen zum Gleichheitsgrundrecht (Art. 3 Abs. 1 GG), bei dem die kontrafaktische Natur noch offensichtlicher ist: Menschen sind natürlich in empirischen Beschreibungen nicht gleich, aber sie sollen (vor dem Gesetz) als Gleiche behandelt werden. Hinter dem Verweis auf „Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ dürfte die staatsphilosophisch zu begründende Prämisse stehen, dass ein Staat, dessen Organe in der Interaktion mit Bürgern Selbstbestimmung und (das ist der entscheidende Punkt) deshalb auch Eigenverantwortung unterstellen dürfen, letztlich ein Mehr an Freiheitssphären und damit an Entfaltungsmöglichkeiten bedeutet. Was folgt aber hieraus für das Strafrecht? Bei der strafrechtlichen Bewertung stoßen Unterstellungen von „Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit“ an Grenzen: Die Anerkennung von Schuldunfähigkeit unter den Bedingungen von § 20 StGB zeigt, dass ein normativ-kontrafaktisches Menschenbild nicht konsequent durchgehalten wird. Unter extremen Umständen, nämlich bei psychischen Krankheitszuständen, wird davon abgesehen, Selbstbestimmung zu unterstellen und den Täter verantwortlich zu machen. An dieser Stelle bricht mit einer auf empirische Feststellungen abstellenden Diagnose die Bezugnahme auf ein normatives Menschenbild ab. Die für unser Thema entscheidende Frage ist, wieweit die Domäne eines normativen, nicht an empirischen Realitäten interessierten Menschenbildes reichen sollte und wo zu einem empirischen Menschenbild überzugehen ist, das anstrebt, mit (möglichst) realitätsnahen Beschreibungen tatsächliche Entscheidungsbedingungen zu erfassen. Insoweit wäre eine denkbare These: Das Strafrecht
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BVerfGE 41, 29, 50; 108, 282, 300. Burckhardt in: Senn/Puskás (Hrsg.), Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung, 2006, S. 83, 86. 33
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sei der Bereich der Rechtsordnung, in dem kein Platz für kontrafaktische Annahmen sei; es müsse jedes Urteil über die Normbefolgungsfähigkeiten eines individuellen Angeklagten, sowohl über das Ob als auch über das Wieviel, so realitätsgesättigt (also psychologisierend) wie möglich ausfallen. Ich hege die Vermutung, dass unser Jubilar diese These als richtig einstufen würde. Trotzdem möchte ich die Gegenthese vertreten: Aus den verfassungsrechtlichen Grundlagen ist nicht abzuleiten, dass das Strafrecht in psychologisierender Weise eine Feinkalibrierung individueller Einsichts- und Steuerungsfähigkeit anstreben müsse. Wer dies aus dem „verfassungsrechtlichen Schuldprinzip“ deduziert, geht mit einem durch die Eigenheiten der strafrechtlichen Verbrechenslehre geprägten Vorverständnis an die verfassungsrechtliche Analyse heran. Es muss aber die strafrechtliche Verbrechenslehre mit dem Verfassungsrecht kompatibel sein und nicht umgekehrt. Der verfassungsrechtliche Schuldbegriff ist nicht mit dem strafrechtlichen identisch.34 Der Umstand, dass das BVerfG seine Formel zum normativen Menschenbild des Grundgesetzes in Überlegungen zu Schuld einbaut, spricht gegen die These eines konsequent empirischen Ansatzes zur Präzisierung des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips. Außerdem ist es, wie vorstehend ausgeführt, für Tatrichter unmöglich, valide Feststellungen zum Ausmaß der Steuerungsfähigkeit und Unrechtseinsicht zu treffen, wenn es um Umstände außerhalb von Krankheitsphänomenen geht, und wer sich ernsthaft mit menschlichem Entscheidungsverhalten beschäftigt, muss eingestehen, dass Einschränkungen der Steuerungsfähigkeit ubiquitär sind und das Herauspicken einiger plakativer Umstände willkürlich ist. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sprechen die besseren Gründe dafür, nicht in extensiver Weise vom normativen Menschenbild des Grundgesetzes abzuweichen. Vielmehr sollte die Verweigerung des Status als selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelnder Bürger auf echte Ausnahmefälle i.S.v. § 20 StGB beschränkt werden, für die der Charakter als Ausnahme offensichtlich ist: erstens, weil sie selten vorkommen, und zweitens, weil sie auf Umständen beruhen, die mit dem von Fachgutachtern verliehenen Etikett „krankhaft“ eindeutig als Abweichung gekennzeichnet werden können. Im Übrigen ist aber nicht anzustreben, anhand einer Längsschnittanalyse der Biographie und einer Querschnittanalyse von Emotionen nach Einschränkungen der Selbstbestimmung zu suchen. Wer nicht an einer psychischen Erkrankung leidet, gilt als selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelnde Person. Diese Einschätzung ist für den Status als gleichwertiger Bürger bedeutsam. Das zeigt sich an Reaktionen auf strafgerichtliche Urteile, die die Verwurzelung in einem „fremden Kulturkreis“ als Einschränkung von Selbstbestimmung werten: Der dagegen (auch von Autoren mit eigenem
34
Hörnle FS Tiedemann, 2008, S. 325, 340 ff.
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Migrationshintergrund) erhobene Vorwurf der Diskriminierung35 dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Zweifel an der bei deutschstämmigen Tätern unterstellten Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung so verstanden werden, dass Immigranten damit nicht als „gleiche Bürger“ anerkannt werden.
IV. Gerechtigkeitsintuitionen Die vorstehenden Thesen kollidieren mit verbreiteten Gerechtigkeitsintuitionen. Muss ein gegenüber dem Täter zu erhebender Vorwurf nicht auf einer anspruchsvolleren Vorstellung von „Dafürkönnen“ beruhen? Ist nicht, so unser Jubilar, das Konzept von Schuld als individuelle Vermeidbarkeit eine über den positiven Rechtsordnungen stehende, fundamentale kulturelle Errungenschaft?36 In diesem Sinne wurde etwa für die schuldmindernde Berücksichtigung kultureller Prägungen vorgebracht, dass man für seine Sozialisation „nichts könne“.37 Auch dahinter steht die Vorstellung einer „tiefen Schuld“, einer „Letztverantwortung“,38 die den Täter treffen müsse, damit man ihm einen (vollen) Schuldvorwurf machen könne. Und muss nicht bei starken Emotionen, die den Täter unmittelbar vor der Tat beschäftigt haben, gegenüber einem rational und kühl Agierenden ein „Wettbewerbsnachteil“ in Form einer Schuldminderung anerkannt werden?39 Gegen das Argument, dass sich ein anspruchsvolles Konzept der individuellen Vermeidbarkeit bis in die Biographie zurückführen lassen müsse, ist, wie bereits aufgeführt, vorzubringen, dass dies bei keinem Straftäter möglich ist: Verhaltensprägenden Umweltkontakten sind alle ausgesetzt, ohne diese steuern zu können. Damit werden sich diejenigen, die ein anspruchsvolles Konzept von Verantwortung und Schuldvorwurf als notwendig ansehen, allerdings wohl nicht zufrieden stellen lassen. Müsste dann die Konsequenz nicht sein, auf Kriminalstrafe entweder zu verzichten (und ggf. für ein reines Maßregelrecht ohne personalisierte Vorwürfe zu optieren) oder aber den Schuldvorwurf in dem Sinne zu funktionalisieren, dass er mit Bedürfnissen der Gesellschaft und sozialen Notwendigkeiten gerechtfertigt wird, also mit
35 Erbil (Fn. 23), S. 195; Pohlreich (Fn. 23), S. 273; Valerius (Fn. 23), S. 95; Çakir-Ceylan Gewalt im Namen der Ehre, 2011, S. 255. 36 S. z.B. Schünemann in: ders./Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 149, 159 f. 37 NK/Neumann (Fn. 22), § 211 Rn. 30a; Saliger StV 2003, 22, 23 f. 38 R. Merkel FS Roxin, 2011, S. 737, 744 ff. 39 S. für eine (allerdings anders begründete) Betonung des Unterschieds von „überlegt“ und „emotional-spontan“ Köhler GA 1980, 121, 130 ff.
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einer extrinsischen Begründung?40 Es fehlt hier der Raum, um auf das viel diskutierte Konzept eines funktionalen Schuldvorwurfs41 näher einzugehen. Der Einwand dagegen ist (in kürzester Form), dass ein personalisierter Vorwurf nicht mit auf das Kollektiv bezogenen Nützlichkeitserwägungen oder, so Günter Jakobs,42 mit Vermutungen gerechtfertigt werden kann, was die Gesellschaft ohne Rückgriff auf Strafrecht anderweitig bewältigen könne. Da soziologische Überlegungen und nützlichkeitsorientierte Kalkulationen in der tatbezogenen Kommunikation mit dem Täter neben der Sache liegen, sind sie zur Begründung eines an ihn gerichteten Vorwurfs unangemessen. Mein Plädoyer geht trotzdem dahin, an einem personalisierten Vorwurf festzuhalten (keine Ersetzung von Kriminalstrafe durch Maßregeln), der genau deshalb berechtigt ist, weil (so das BVerfG) „der Täter in vorwerfbarer Weise Unrecht begangen hat“.43 Mehr ist nicht erforderlich. Es genügt, dass dem Täter vorzuhalten ist, in sorgfaltswidriger Weise Verhaltenspflichten verletzt zu haben, die gegenüber einem anderen (individuellen Opfer) oder der Gemeinschaft (bei einem Delikt gegen ein Kollektivrechtsgut) bestanden haben. Strafrechtliche Bewertungen haben lediglich Pflichtverletzungen auf der Ebene von Bürgern nachzuzeichnen.44 Ihre Aufgabe ist es nicht, einen Vorwurf zu machen, der auf Anders-Entscheiden-Können und tiefe personale Verantwortung ausgerichtet wäre.45 Für Verwirrung haben wahrscheinlich ideengeschichtliche Wurzeln im christlichen Verständnis von Schuld und Strafe gesorgt. In einer historischen Untersuchung weist Harald Maihold nach, dass das Schuldprinzip in einem im 13. Jahrhundert schon entstehenden theologischen Konzept verankert ist (das sich ab dem 16. Jahrhundert klar durchsetzt), demzufolge göttliche Gerechtigkeit jeden nach seinem (Lebens-)Verdienst behandle.46 Von mehr oder weniger (vermutlich: weniger) bewusst „mitgeschleppten“ theologischen Vorstellungen ist das Konzept eines (vermeintlich notwendigen) Schuldvorwurfs in der Strafrechtswissenschaft nach wie vor geprägt. Dies bedarf einer kritischen Reflektion und Abgrenzung. Die Aufgaben straf-
40 Dass (nur) drei Varianten im Raum stünden (reines Maßregelrecht; funktionalistisches Schuldverständnis; individualisiert-psychologisches Schuldverständnis), ist eine gängige, auch vom Jubilar vertretene Annahme, s. Schünemann in: Grundfragen (Fn. 3), S. 170 ff., die aber übersieht, dass eine vierte Variante in der Reduktion des Gehalts des Vorwurfs (Reduktion auf einen reinen Unrechtsvorwurf) liegt. 41 S. dazu Jakobs Schuld und Prävention, 1976; ders. Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 17. Abschnitt Rn. 18 ff.; ders. System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 59 ff. Krit. Schünemann in: Grundfragen (Fn. 3), S. 170 ff.; ders. FS Lampe, 2003, S. 537, 540 ff. 42 S. die vorangegangene Fn.; ferner Jakobs ZStW 118 (2006), 831, 840 ff. 43 Fn. 30. 44 S. dazu auch K. Günther Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 253 ff. 45 S. zum Vorstehenden Hörnle (Fn. 4), S. 49 ff. 46 Maihold Strafe für fremde Schuld?, 2005, S. 154 ff.
Grenzen der Individualisierung von Schuldurteilen
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rechtlicher Urteile sind andere als die des Jüngsten Gerichts: Es steht weder eine das gesamte Leben umfassende „Generalabrechnung“ zur Debatte noch können Strafurteile die Dritte-Person-Perspektive einnehmen, die für Gott angemessen sein mag. Der strafrechtliche Unrechtsvorwurf muss die ZweitePerson-Perspektive von Tatbetroffenen aufnehmen, die nur das Unrecht in Form der fahrlässigen oder vorsätzlichen Missachtung der Rechte anderer in einem konkreten Einzelfall zu interessieren hat (und nicht die Biographie des Täters). Liegt solches Unrecht vor, ist ein entsprechender Vorwurf in sich berechtigt.47 Von dieser Prämisse ausgehend dürfte auch einsichtig sein, warum starke Emotionen zum Tatzeitpunkt irrelevant sind. Für die Höhe des Unrechtsvorwurfs spielen nur Vorfälle eine Rolle, die auf der Ebene von Verhaltensnormen zu bewerten sind (dazu kann auch normwidriges Vorverhalten des Opfers gehören, wobei aber dadurch ausgelöste Emotionen beim Täter nur Begleitphänomene sind).48 Ausgehend vom normativen Menschenbild des Grundgesetzes sind empirisch beschreibbare psychische Zustände Privatangelegenheit von Individuen.49 Wenn durch eine erhebliche psychische Erkrankung die Voraussetzung einer Bürgergemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft mit dem Täter fehlt, ist es notwendig und berechtigt, auf einen Unrechtsvorwurf zu verzichten.50 Aber das ist nur dann angemessen, wenn infolge einer Erkrankung der Betroffene nicht (unter Bedingungen wie in § 20 StGB, oder wie Kinder, § 19 StGB: noch nicht) in der Lage wäre, zum Tatzeitpunkt an einer sinnhaften Kommunikation über Verhaltensansprüche teilzuhaben. Insoweit geht es nicht um den Inhalt eines Vorwurfs, sondern um eine Vorbedingung für Kommunikation. Bezüglich des Inhalts eines strafrechtlichen Vorwurfs sollte dagegen gelten: Bürger dürfen und sollen im Hinblick auf ihren Werdegang und ihre Emotionen im Verhältnis zu andern Bürgern (und nur darum geht es bei rechtlichen Urteilen) eine „black box“ bleiben. Ich schließe mit einer radikalen These: Im (Straf-)Recht sind anders als in der Theologie anspruchsvolle Konzepte von Schuld nicht angebracht. Zur Vermeidung von Begriffsverwirrungen wäre die Strafrechtswissenschaft gut beraten, noch einen Schritt weiter zu gehen als Rolf Herzberg es in seinem Beitrag zu dieser Festschrift tut: Statt von Schuld und einem Schuldvorwurf
47
S. aus moralphilosophischer Sicht Wallace Responsibility and the Moral Sentiments, Cambridge, Mass. 1994. 48 Dazu Müssig Mord und Totschlag, 2005, S. 262 ff., 425 f.; Grünewald Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 228 ff.; Hörnle FS Frisch, 2013, S. 653, 666 ff. 49 So i. Erg. auch Jakobs ZStW 118 (2006), 831, 852. 50 Strafrechtssystematisch sollte dies vor der Unrechtsprüfung festgestellt werden, s. dazu Hörnle (Fn. 4), S. 70 ff.
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sollte von einem Unrechtsvorwurf die Rede sein51 (und, unter bestimmten, eng begrenzten Umständen, §§ 17, 33, 35 StGB, vom Verzicht auf die Erhebung eines Unrechtsvorwurfs).
51 Um „folgenlose Dogmatik“, die unser Jubilar kritisiert (etwa in FS Lampe, 2003, S. 537, 553 f.), handelt es sich nicht – neben den angeführten Konsequenzen für die Topoi „starke Emotionen des Täters“ und „Täter aus fremden Kulturkreisen“ ist § 21 StGB kritisch zu beleuchten, Hörnle (Fn. 4), S. 75 ff.
Sterbehilfe im Grenzbereich von Strafrecht und Verfassungsrecht Jörn Ipsen
Bernd Schünemann hat in seinem unübersehbaren Œuvre vielfach die Grenzen seines engeren Faches – des Strafrechts und Strafprozessrechts –, aber auch der Rechtswissenschaft schlechthin überschritten. Es mag daher als nicht unangemessen erscheinen, dem international renommierten Rechtsgelehrten und vertrauten Freunde aus Anlass seines 70. Geburtstags einen Beitrag zu widmen, der den Grenzbereich zwischen Leben und Tod zum Gegenstand hat, zugleich aber eine Grenzproblematik zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht thematisiert.
I. Die strafrechtliche Beurteilung der Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass der ärztliche Heileingriff die Tatbestandsvoraussetzungen der Körperverletzung (§ 223 StGB) erfüllt, der behandelnde Arzt jedoch nicht rechtswidrig handelt, wenn die Heilbehandlung mit Einwilligung des Patienten erfolgt (§ 228 StGB).1 Der dürre Wortlaut beider Vorschriften lässt die Fülle der Probleme nicht erkennen, die sich hinsichtlich ärztlicher Eingriffe und ihrer Einwilligung in der Vergangenheit gestellt hat.2 Zu den von der Rechtsprechung zu lösenden Fragen gehörte auch, ob die Beendigung medizinischer Maßnahmen, die das Leben verlängern, den Tatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) oder gar des Totschlags (§ 212 StGB) erfüllen. Der Bundesgerichtshof hat in seiner früheren Rechtsprechung hierbei zwischen aktivem Tun und Unterlassen unterschieden.3 Ersteres sollte strafrechtliche Tatbestände erfüllen, während das Unterlassen straflos bleiben sollte. Wurde also eine künstliche Ernährung
1 RGSt 25, 375, 377 ff.; 74, 91, 92 f.; BGHSt 11, 111, 112; 12, 379, 382 ff.; 16, 309; BGH NStZ 2012, 205, 206; NJW 2013, 1688. 2 Erinnert sei nur an den Fall des Frauenarztes Dr. Dohrn, der wegen Sterilisation von Frauen mit deren Einwilligung zunächst wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden war, dann aber vom Bundesgerichtshof freigesprochen wurde (BGHSt 20, 81). 3 BGHSt 32, 367, 379; 37, 376, 378; 40, 257, 265; 42, 301, 305.
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eingestellt, war dies ein Unterlassen; die Durchtrennung einer PEG-Sonde war nach diesen Grundsätzen „aktives Tun“ und somit Körperverletzung bzw. bei Eintritt des Todes ein Tötungsdelikt.4 Bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 2010, mit dem ein Urteil des Landgerichts Fulda5 aufgehoben wurde, entsprach diese Abgrenzung auch der „herrschenden Meinung“ im Schrifttum,6 die der Zweite Strafsenat in seiner Urteilsbegründung ausgiebig zitierte.7 In der Urteilsbegründung heißt es, der Senat halte an dem „an den äußeren Erscheinungsformen von Tun und Unterlassen orientierten Kriterium für die Abgrenzung zwischen gerechtfertigter und rechtswidriger Herbeiführung des Todes mit Einwilligung oder mutmaßlicher Einwilligung des betroffenen Patienten […] ‚nicht fest‘“.8 Die Grenze zwischen erlaubter Sterbehilfe und einer nach §§ 212, 216 StGB strafbaren Tötung könne nicht sinnvoll nach Maßgabe einer „naturalistischen Unterscheidung“ von aktivem und passivem Handeln bestimmt werden.9 Damit ist eine Art „kopernikanischer Wende“ in der Judikatur vollzogen worden, die allerdings erst dadurch erforderlich wurde, dass die ältere Rechtsprechung10 – und ihr folgend die herrschende Meinung im Schrifttum11 – einem verfehlten Weltbild anhing. Nicht zuletzt beeinflusst vom Trauma der Euthanasie im Nationalsozialismus wurde in Rechtsprechung und Schrifttum ausgeblendet, dass lebensverlängernde Maßnahmen – wie ärztliche Heileingriffe schlechthin – den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen und nur durch die – möglicherweise zu vermutende – Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werden. Insofern sind künstliche Beatmung und Ernährung nur in dem Fall gerechtfertigt und damit straflos, dass der Wille des Patienten ihnen nicht entgegensteht. Wird der Wille in irgendeiner Form – sei es durch den Patienten selbst oder durch Schriftstücke – erkennbar, so handelt das medizinische Personal tatbestandsmäßig mit der Folge, dass die lebensverlängernden Maßnahmen zur Vermeidung der Strafbarkeit eingestellt werden müssen.
4
LG Fulda RDG 2009, 217, 219. LG Fulda RDG 2009 217. 6 Schönke/Schröder/Eser StGB, 27. Aufl. 2006, Vor §§ 211 ff. Rn. 21 ff.; Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, Vor §§ 211–216 Rn. 16 ff.; Otto NJW 2006, 2217; C. Roxin in: Roxin/ Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 83 ff.; Schneider Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, 1998, S. 33 ff.; Münchener Kommentar StGB/Schneider, 1. Aufl. 2003, Vor §§ 211 ff. Rn. 88 ff.; Schöch FS Hirsch, 1999, S. 693 ff.; Schreiber NStZ 2006, 473 ff.; Schroth GA 2006, 549 ff.; Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 275 ff. 7 BGHSt 55, 191. 8 So BGHSt 55, 191, 202. 9 So BGHSt 55, 191, 202. 10 Vgl. oben Fn. 3. 11 Vgl. oben Fn. 6. 5
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Der Bundesgerichtshof übersah in seiner früheren Rechtsprechung, dass der natürliche Verlauf des Sterbens durch die lebensverlängernden Maßnahmen in eine andere Richtung gelenkt wird, diese aber mangels Einwilligung bzw. gegen den vorher geäußerten Willen nicht gerechtfertigt werden können. Auf eine kurze Formel gebracht: Bei fehlender Einwilligung sind die – häufig routinemäßig vorgenommenen – lebensverlängernden Maßnahmen tatbestandsmäßig und das Abschalten entsprechender Apparaturen nicht rechtfertigungsbedürftig. Es ist dem Bundesgerichtshof zu danken, dass er unter dem Einfluss der neueren Gesetzgebung – Einfügung der §§ 1901a und b in das Bürgerliche Gesetzbuch12 – die unhaltbare und von ihm zumindest als unhaltbar geworden angesehene Rechtsprechung aufgegeben und den Strafgerichten einen Weg gewiesen hat, der die Selbstbestimmung des Patienten ins Zentrum rückt.13
II. Die Menschenwürde und ihre rechtliche Bedeutung Nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG). Dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde an den Beginn des Grundgesetzes gestellt worden ist und Art. 1 darüber hinaus der Grundgesetzänderung entzogen ist (Art. 79 Abs. 3 GG), lässt deutlich werden, welchen Wert der Verfassungsgeber der Menschenwürde beigemessen hat. Bei aller Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung14 und der verfassungsrechtlichen Literatur15 über den hohen Stellenwert der Menschenwürde, ihre Unantastbarkeit und – dies freilich nicht unumstritten – ihre Unabwägbarkeit 16 besteht dennoch Unklarheit darüber, welcher rechtliche Inhalt Art. 1 Abs. 1 GG zukommt. Verbreitet ist die von
12 Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (sog. „Patientenverfügungsgesetz“) vom 29. Juli 2009, BGBl. I, 2286. Vgl. dazu Albrecht Das Patientenverfügungsgesetz – Eine Bilanz der praktischen Umsetzung, 2012. 13 Vgl. zur Erläuterung der Entscheidung die Beiträge von Fischer BLJ 2011, 1 ff. und ders. FS Roxin, 2011, S. 557 ff. sowie Hirsch JR 2011, 37 ff.; Rissing-van Saan ZIS 2011, 544 ff. 14 Vgl. nur BVerfGE 28, 386, 391; 64, 261, 284; 72, 105, 115 f.; 87, 209, 228; 109, 133, 149 ff.; 115, 118, 151 ff.; 131, 268, 286 ff. 15 Vgl. nur Dreier/Dreier GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 41 ff.; Maunz/Dürig/Herdegen GG, Art. 1 I Rn. 4 ff. (Januar 2010); Sachs/Höfling GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 5 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck/Starck GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 27 ff., jew. m.w.N. 16 So zutreffend Dreier/Dreier GG (Fn. 15), Art. 1 I Rn. 46; dazu auch Baldus AöR 136 (2011), 530.
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Günter Dürig eingeführte „Objektformel“.17 Die unter dem Einfluss der Kant’schen Philosophie geprägte Formel besagt, die Menschenwürde verbiete, den Menschen als „Objekt“ zu behandeln, weil er einen Wert an sich darstelle. Die im Schrifttum aufgeführten Beispiele von Verletzungen der Menschenwürde – Folter, erniedrigende Behandlung usw. –18 verstehen sich aufgrund ihrer Evidenz gewissermaßen von selbst. Allerdings sollte der Verfassungsinterpret der Versuchung widerstehen, die Menschenwürde als eine Art Generalklausel für eine ideale Welt zu interpretieren, die zu schaffen der Staat weder bestimmt noch in der Lage ist.19 Neuere Ansätze in Rechtsprechung und Literatur20 gehen über die Objektformel Dürigs hinaus. Das Bundesverfassungsgericht versteht die Menschenwürde als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte, mit dem „der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden (ist), der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt. Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch „unwürdiges“ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.“ 21 Die Dürig’sche Objektformel muss deshalb – gewissermaßen ins Positive gewendet – als Subjektformel verstanden werden: Die Menschenwürde gebietet dem Staat – als Abbreviatur für alle Erscheinungsformen der öffentlichen Gewalt –, den Menschen stets als Subjekt – nämlich Träger eigener Rechte – zu behandeln und ihn in dieser Subjektsqualität zu schützen, sofern er sich Angriffen Dritter ausgesetzt sieht. Der in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG niedergelegte Schutzanspruch wird durch das Recht in verschiedenartiger Form erfüllt. Bekannt ist etwa die Formulierung in § 1 S. 1 SGB XII, nach der es Aufgabe der Sozialhilfe ist, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des
17 Vgl. Dürig AöR 81 (1956), 127; Maunz/Dürig/ders. GG, Erstbearb. 1958, Art. 1, Abs. 1 Rn. 28, 34. 18 Vgl. Sachs/Höfling GG (Fn. 15), Art. 1 Rn. 20. 19 Zum „Konkretisierungsdilemma“ vgl. Sachs/Höfling GG (Fn. 15), Art. 1 Rn. 8; vgl. auch Maunz/Dürig/Di Fabio GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 12 (Februar 2004). 20 Vgl. nur Hofmann AöR 118 (1993), 376 m.w.N. 21 So BVerfGE 87, 209, 228.
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Menschen entspricht. Eine wichtige Funktion kommt dem Strafrecht zu, weil eine Vielzahl von Straftaten das Opfer gerade in seiner Menschenwürde – als Rechtssubjekt – verletzt. So stellen sich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 ff. StGB), Beleidigungs- (§§ 185 ff. StGB) und Körperverletzungsdelikte (§§ 223 ff. StGB) sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 232 ff. StGB) gleichzeitig als Verletzungen der Menschenwürde dar. Auch die Nötigung (§ 240 StGB) gehört zu den Tatbeständen, die die Menschenwürde schützen, weil der Genötigte durch Gewalt oder Drohung seine Willensfreiheit und damit Selbstbestimmtheit einbüßt. Mit den genannten Straftatbeständen kommt der Gesetzgeber seiner aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Verpflichtung nach, die Menschenwürde zu schützen, während der Achtungsanspruch gegen Beeinträchtigungen der Menschenwürde durch die staatliche Gewalt selbst gerichtet ist.22
III. Der Fall „Fulda“ Dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 2010 23 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Patientin lag seit Oktober 2002 nach einer Hirnblutung im Wachkoma. Sie war seither nicht ansprechbar und wurde in einem Altenheim gepflegt und über eine PEG-Sonde künstlich ernährt. Im Jahr 2006 war ihr der linke Arm nach einer Fraktur amputiert worden und im Dezember 2007 war sie bei einer Größe von 1,59 m auf ein Gewicht von 40 kg abgemagert. Nachdem ihr Ehemann, der zunächst als Betreuer bestellt worden war, gestorben war, nahm eine Berufsbetreuerin die Betreuung wahr. Die Tochter der Patientin teilte der Berufsbetreuerin mit, ihre Mutter habe ihr und ihrem Bruder gegenüber den Wunsch geäußert, in Würde sterben zu wollen. Die Berufsbetreuerin lehnte die Entfernung der Magensonde jedoch unter Hinweis auf den ihr nicht bekannten mutmaßlichen Willen der Betreuten ab und blieb trotz mehrerer Interventionen eines inzwischen mandatierten Rechtsanwalts bei ihrer Ablehnung. Nach ihrer Ablösung wurden die Kinder der Patientin zu Betreuern bestellt. Auch die Heimleitung verweigerte einen Abbruch der künstlichen Ernährung. Sie wurde überdies von der Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens angewiesen, die künstliche Ernährung fortzusetzen. Der Tochter der Patientin und ihrem Bruder wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Nach Konsultation des Rechtsanwalts durchtrennte die Tochter den Schlauch der PEG-Sonde in der 22 23
Vgl. nur Dreier/Dreier GG (Fn. 15), Art. 1 Abs. 1 Rn. 138 ff. BGHSt 55, 191.
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Absicht, den Tod der Mutter herbeizuführen. Nachdem der Vorgang entdeckt und die Polizei benachrichtigt worden war, ordnete ein Staatsanwalt an, die künstliche Ernährung wieder aufzunehmen. Die Patientin starb wenige Woche später eines natürlichen Todes.24 Der Fall zeigt zunächst, in welche dogmatische Sackgasse sich der Bundesgerichtshof mit seiner Differenzierung zwischen „aktivem Tun“ und „Unterlassung“ bei der Sterbehilfe begeben hatte. Hierauf nämlich beruhte das Urteil des Landgerichts Fulda, mit dem der Rechtsanwalt wegen versuchten Totschlags – in mittelbarer Täterschaft – zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden war, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die zunächst mitangeklagte Tochter wurde wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen.25 Es ist schon zweifelhaft, ob die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung der Patientin, nachdem die Tochter die PEG-Sonde durchtrennt hatte, rechtmäßig gewesen ist, wie das Landgericht seinerzeit angenommen hatte. War nämlich der Wille der Verstorbenen darauf gerichtet, „in Würde sterben zu wollen“, so lässt sich bei einer im Koma liegenden, armamputierten und dazu auf ein Gewicht von 40 kg abgemagerten Frau schwerlich begründen, warum ihr mutmaßlicher Wille auf eine Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung hätte gerichtet sein können. Dass einer Berufsbetreuerin oder dem zuständigen Betreuungsgericht in derartigen Fällen eine fast nicht zu tragende Verantwortung auferlegt wird, sei nur am Rande erwähnt. Nicht ausgeblendet werden darf in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall auch die Rolle des Pflegeheims, dessen Leitung durch die Geschäftsleitung des Konzerns zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung angewiesen worden ist und den Kindern der im Koma liegenden Patientin gegebenenfalls mit Hausverbot gedroht hatte. Es wäre weltfremd anzunehmen, dass in Krankenhäusern und Pflegeheimen Maßnahmen zur Lebensverlängerung ausschließlich nach humanitären Grundsätzen getroffen werden. Das für die stationäre Behandlung durch Bundesgesetz vorgeschriebene „DRG-Vergütungssystem“26 weist jeder Krankheit und den ihr zuzuordnenden Prozeduren einen bestimmten Fallwert („Diagnosis related groups“) zu, der letztlich für die Vergütung maßgeblich ist. Lebensrettende und -erhaltende Maßnahmen – insbesondere die künstliche Beatmung – weisen einen
24
Vgl. die ausführliche Sachverhaltsdarstellung in BGHSt 55, 191 ff. LG Fulda RDG 2009, 217. 26 Vgl. § 17b KHG in der Fassung vom 22. Dezember 1999 (BGBl. I, 2626); umgesetzt durch das Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz – FPG) vom 23. April 2002 (BGBl. I, 1412), dessen Art. 5 das Gesetz über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz – KHEntgG) enthielt (BGBl. I, 1422); zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Juli 2013 (BGBl. I, 2423). 25
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hohen Fallwert auf. Derartige Erwägungen mögen auch bei der Frage eine Rolle spielen, ob lebensverlängernde Maßnahmen eingeleitet und fortgesetzt werden.27
IV. Primat des Willens als Verfassungsgebot Kehren wir zu der durch Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG statuierten Schutzverpflichtung aller staatlichen Gewalt zurück, so ergibt sich für alle staatliche Gewalt der Primat des Willens. Wenn im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall der Wille der Patientin von vornherein – und nachweisbar – darauf gerichtet war „in Würde sterben zu wollen“, so hätten die folgenden lebenserhaltenden Maßnahmen – nämlich die künstliche Ernährung – den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Hierüber hätte sich auch der später verstorbene Ehemann als Betreuer nicht hinwegsetzen können. Wäre der mutmaßliche Wille der Verstorbenen dahin auszulegen gewesen, dass sie im Koma und nach ständiger Abmagerung und unter Verlust eines Armes nicht mehr hätte weiterleben wollen, wären jedenfalls die folgenden medizinischen Maßnahmen strafrechtlich relevant gewesen. Es ist mehr als befremdlich, dass ein Staatsanwalt, der für die Verfolgung von Straftaten, nicht aber für deren Verhinderung zuständig ist, die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung angeordnet hat.28 Sollte dies – was hier nicht im Einzelnen beurteilt werden kann – dem mutmaßlichen Willen der Patientin widersprochen haben, hätte – abgesehen von der fehlenden Zuständigkeit – in dieser Anordnung ein strafrechtlich relevantes Verhalten, zumindest eine Verletzung des in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG angelegten Achtungsanspruchs gelegen.
V. Änderungen des Betreuungsrechts Nach jahrelanger Diskussion ist das Bürgerliche Gesetzbuch durch eine Vorschrift über die Patientenverfügung (§ 1901a) ergänzt worden, nach der ein Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festlegen kann, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, in Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. In diesem Fall hat der Betreuer zu prüfen, ob die Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB). Ist
27 Zu möglichen Fehlanreizen durch das DRG-Vergütungssystem vgl. die Kleine Anfrage vom 23. Juli 2013, BT-Drucks. 17 / 14451, S. 1 ff. 28 Vgl. LG Fulda RDG 2009, 217, 218.
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dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901a Abs. 1 S. 2 BGB). Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach § 1901a Abs. 1 BGB einwilligt oder sie untersagt (§ 1901a Abs. 2 S. 1 BGB). Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln (§ 1901a Abs. 2 S. 2 BGB). Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten (§ 1901a Abs. 2 S. 3 BGB). Diese Bestimmungen gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten (§ 1901a Abs. 3 BGB). Nach § 1901b Abs. 1 S. 1 BGB prüft der behandelnde Arzt, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a BGB zu treffende Entscheidung (§ 1901b Abs. 1 S. 2 BGB). Bei Feststellung des Patientenwillens oder der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist (§ 1901b Abs. 2 BGB). Die Bestimmungen der §§ 1901a und b BGB gelten für Bevollmächtigte entsprechend (§§ 1901a Abs. 5, 1901b Abs. 3 BGB). Damit hat der Gesetzgeber – wie man sagen muss: endlich – Bestimmungen getroffen, die dem Willen – auch dem mutmaßlichen Willen – eines nicht mehr zur Willensäußerung fähigen Menschen den durch die Menschenwürde gebotenen Stellenwert einräumen.29 Die Entscheidung über Aufnahme und Fortsetzung lebenserhaltender und lebensverlängernder Maßnahmen ist in die Hände derer gelegt worden, in die sie gehört; sie ist dem Arzt und dem Betreuer (Bevollmächtigten) anvertraut worden. Eine Genehmigung des Betreuungsgerichts ist nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901a BGB festgestellten Willen des Betreuten entspricht (§ 1901a Abs. 4 BGB).
29 Vgl. dazu auch die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 16 / 8842, insb. S. 8 ff.
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VI. Ausblick Wäre der Ausgangsfall, der sich im August 2007 zugetragen hat, nach den Bestimmungen des BGB zu beurteilen gewesen, die durch Art. 1 des Gesetzes vom 29. Juli 200930 eingefügt worden sind, hätte sich von vornherein eine völlig andere – auch strafrechtliche – Situation dargestellt. Da die Angehörigen der Verstorbenen in den Entscheidungsprozess hätten einbezogen werden müssen und den mutmaßlichen Willen der Verstorbenen, „in Würde zu sterben“ hätten glaubhaft machen können, hätten alle folgenden Maßnahmen unterbleiben müssen. Selbst wenn zunächst eine PEG-Sonde – routinemäßig – angelegt worden wäre – hätte diese wieder entfernt werden müssen. Anderenfalls wären die handelnden Personen – einschließlich der Konzernleitung, die die Fortsetzung der künstlichen Ernährung angeordnet hatte – wegen Körperverletzung strafrechtlich verantwortlich gewesen. Nach Bestellung der Kinder als Betreuer der Patientin hätte ihr Einvernehmen mit dem behandelnden Arzt ausgereicht, um die Einstellung der lebensverlängernden Maßnahmen zu rechtfertigen. Das Landgericht Fulda hatte sich indes noch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gerichtet, nach der ein aktives Tun bei der Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen den Tatbestand des Totschlags erfüllte.31 Obwohl der Gesetzgeber mit seiner Novelle zum BGB ausweislich der Entwurfsbegründung strafrechtliche Fragen nicht hatte regeln wollen,32 hat der Bundesgerichtshof diese Vorschriften zur Unterstützung seiner Rechtsprechungsänderung herangezogen.33 Aus der Perspektive des Verfassungsrechts war die Rechtsprechungsänderung geboten; erst durch sie ist ein Rechtszustand erreicht worden, der dem – auch mutmaßlichen – Willen eines Sterbenden die Bedeutung einräumt, die einem Menschen aufgrund seiner unantastbaren Würde zukommt.
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BGBl. I, 2286. LG Fulda RDG 2009, 217. So BT-Drucks. 16 / 8442, S. 7 f., 11. Vgl. BGHSt 55, 191, 199, 205.
Öffentliche Regelkommunikation als Element des Rechtsbegriffs Peter Kasiske
Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten entfaltete im Zusammenhang mit der juristischen Aufarbeitung des SED-Unrechts und insbesondere der Mauerschützenfälle die Diskussion um den Rechtsbegriff unversehens eine große Bedeutung für die juristische Praxis. Dabei verlief die Debatte im Wesentlichen entlang der traditionellen Frontlinien zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus. Der Jubilar hat mit seinen Gedanken zur Rolle der öffentlichen Regelkommunikation die Diskussion um eine Idee bereichert, die die Grenzen dieser Dichotomie sprengt und eine neue Perspektive auf die Problematik eröffnet. Der folgende Beitrag möchte Bernd Schünemanns Gedanken aufgreifen und fortführen.
I. Öffentliche Regelkommunikation als Teil eines kulturellen Rechtsbegriffs Die bundesdeutsche Rechtsprechung hat in den Mauerschützenentscheidungen1 bekanntlich die Radbruch’sche Formel herangezogen, wonach geltende Normen des positiven Rechts dann keine Anwendung finden dürften, wenn sie der Gerechtigkeit in einem solch unerträglichen Maß widersprechen, dass sie als „unrichtiges Recht“ zu qualifizieren sind, das den Ansprüchen der Gerechtigkeit zu weichen hat.2 Dadurch wurde es möglich, den einer Bestrafung der Mauerschützen und der für den Schießbefehl Verantwortlichen entgegenstehenden § 27 des Grenzgesetzes der DDR, der den tödlichen Gebrauch der Schusswaffe an der innerdeutschen Grenze rechtfertigte, zum „unrichtigen Recht“ und damit für nichtig zu erklären. Dieser Rückgriff der Rechtsprechung auf eine Formel, die verbrämt durch Gerechtigkeitsrhetorik die Geltungsfrage letztlich naturrechtlich lösen will, wurde in der Literatur teils heftig kritisiert.3 Auch Bernd Schünemann sah hierin 1
BGHSt 39, 1, 15 ff.; 41, 101. Radbruch SJZ 1946, 106, 107. 3 Dreier JZ 1997, 421, 423 ff.; Grünwald FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 144, 147 ff.; Pawlik GA 1994, 472, 478 ff.; umfassend zur Rezeption der Radbruch’schen Formel Saliger Radbruch’sche Formel und Rechtsstaat, 1995. 2
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einen methodisch äußerst fragwürdigen Kunstgriff. Dies deshalb, weil dadurch im Bereich der Mauerschützenfälle das Strafrecht künstlich aufgespalten wird in eine Verbotsnorm und einen Erlaubnissatz. Mittels der Radbruch’schen Formel wird letzterer eliminiert, mit dem Ergebnis, dass nur noch die Verbotsnorm übrigbleibt, aus der dann eine Bestrafung möglich sein soll. Letztlich wird durch dieses Vorgehen damit ein schon im DDR-Recht angeblich geltendes strafrechtliches Verbot der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze fingiert, das so im positiven Strafrecht der DDR aber nicht zu finden war.4 Schünemann verweigert mit dieser Kritik zwar der Rechtsprechung und ihrem Rückgriff auf Radbruch die Gefolgschaft, er verwahrt sich jedoch auch gegen die erzpositivistische Gegenposition, wie sie etwa von Günther Jakobs vertreten wurde, wonach der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze Teil einer gelebten Rechtspraxis in der DDR und damit auch Teil des dort geltenden Rechts gewesen sein soll, so dass eine Strafbarkeit nur unter Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot begründet werden könne.5 Nach Schünemann sind die Schlussfolgerungen von Jakobs nur dann unabweisbar, wenn ein Rechtsbegriff zugrunde gelegt wird, der die Geltung des Rechts ausschließlich an dem staatlichen Akt der Normsetzung und an der Normdurchsetzung festmacht. Ein solcher Rechtsbegriff sei aber nicht angemessen.6 Er plädiert stattdessen für einen kulturbezogenen Rechtsbegriff, wonach die tradierte Rechtskultur als „lebendes Recht“ im Sinne Eugen Ehrlichs 7 der staatlichen Rechtsetzungskompetenz Grenzen setzt, indem sie als Recht nur das anerkennt, was ihren überlieferten fundamentalen Wertüberzeugungen entspricht. Ein notwendiges Kriterium dafür, ob eine staatliche Norm mit der jeweiligen Rechtskultur übereinstimmt, ist dabei für Schünemann der Umstand, dass die Norm öffentlich kommuniziert worden ist. Denn Teil der gelebten Rechtskultur könnten nur solche Normen sein, die im Wege öffentlicher Regelkommunikation den handelnden Individuen vermittelt wurden. Das bedeutet dann aber im Umkehrschluss auch, dass solche Regeln von vornherein aus dem Bereich des Rechts ausscheiden, die nicht öffentlich sondern nur heimlich kommuniziert wurden, da sie kein Teil des rechtlich relevanten Kommunikationsstroms geworden sind. Nach Schünemann ist es somit also nicht die fehlende Übereinstimmung mit den inhaltlichen Vor-
4 Schünemann in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ Band II/2, Frankfurt/M 1999, S. 1304, 1350 f.; ders. ARSP-Beiheft 65 (1996), S. 97, 110 f., 116. 5 Jakobs in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, S. 37 ff.; im Ergebnis ähnlich Grünwald StV 1991, 31, 34 ff.; Roellecke NJW 1991, 657, 660 f.; Pawlik GA 1994, 472, 474 ff. 6 Schünemann Folgen der SED-Diktatur (Fn. 4) S. 1347. 7 Ehrlich Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1967, S. 20 ff., 393 ff.
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gaben eines überpositiven Naturrechts, sondern die Heimlichkeit, verstanden als ein Defizit öffentlicher Regelkommunikation, die die bloße Macht vom Recht trennt.8 Angewandt auf die Mauerschützenfälle bedeutet dies, dass zwar das öffentlich kommunizierte DDR-Grenzgesetz einschließlich seines § 27 als geltendes Recht angesehen werden muss, nicht aber der Schießbefehl, wonach Grenzübertritte stets um jeden Preis zu verhindern sind, denn dieser wurde vor der Öffentlichkeit verheimlicht.9 Bei Bernd Schünemann ist die öffentliche Regelkommunikation an einen spezifisch kulturellen Rechtsbegriffs gebunden. Ich möchte im Folgenden untersuchen, ob die Publizität von Normen nicht auch für einen allgemeineren Rechtsbegriff eine zwingende Voraussetzung darstellt. Unterstellt wird dabei, dass nach einem solchen Rechtsbegriff eine Rechtsnorm ein Mindestmaß an sozialer Wirksamkeit aufweisen und einen Anspruch auf Richtigkeit erheben muss.10
II. Regelkommunikation und soziale Wirksamkeit Dem Gesichtspunkt der Regelkommunikation wurde in der Rechtstheorie bislang vergleichsweise wenig Beachtung zuteil. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass in den meisten Fällen die Normkommunikation eine schlichte Selbstverständlichkeit darstellt. Wenn von einem Normadressaten ein normkonformes Handeln erwartet wird, so ist diese Erwartung nur dann sinnvoll, wenn ihm der Inhalt der Norm zuvor mitgeteilt wurde. Die Notwendigkeit der Kommunikation der Norm an die Normadressaten folgt somit schon zwingend aus dem Charakter der Norm als eines Kommunikationsakts zwischen Normgeber und Normadressat. Möglicherweise könnte man sich zwar eine kafkaeske Rechtsordnung vorstellen, in der die Bürger auch für den Verstoß gegen solche Vorschriften verurteilt werden können, die sie gar nicht kennen konnten und die ihnen auch im Zuge des Verfahrens nicht mitgeteilt werden. In einer derartigen Rechtsordnung könnten dann beispielsweise das folgende Urteil ergehen: „Bürger X wird wegen Verstoß gegen § 5 des Geheimgesetzes Nr. 3 zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt“. Über den Inhalt von § 5 des Geheimgesetzes Nr. 3 (z.B. ein Verbot, ein Exemplar von Orwells „1984“ zu besitzen) wird der Verurteilte nicht informiert. Lässt sich hier noch sinnvoll davon sprechen, bei besagtem § 5 des Geheimgesetzes Nr. 3 handele es sich um Recht? Wenn man unterstellt, dass die Norm von der zuständigen Stelle gemäß dem 8
Schünemann Folgen der SED-Diktatur (Fn. 4), S. 1353. Schünemann Folgen der SED-Diktatur (Fn. 4), S. 1353 f. 10 Vgl. etwa Alexy Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl. 2005, S. 201; Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 77. 9
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einschlägigen Verfahren gesetzt wurde, so scheint jedenfalls auf der Grundlage eines streng positivistischen Rechtsbegriffs auf den ersten Blick tatsächlich eine Rechtsnorm vorzuliegen.11 Wenn diese Norm allerdings mit dem Ziel erlassen worden sein sollte, das Verhalten der Bürger dahingehend zu steuern, dass sie keine Exemplare von Orwells „1984“ besitzen, so wäre diese Norm aber ersichtlich nicht zur Beförderung dieses Ziels geeignet, da der Normbefehl die Bürger gar nicht erreichen kann. Die Norm hätte somit von vornherein keinerlei Chance auf soziale Wirksamkeit, womit sie jedenfalls dann aus dem Kreis der Rechtsnormen ausscheiden würde, wenn man als solche nur diejenigen Normen anerkennt, die zumindest ein Mindestmaß an sozialer Wirksamkeit für sich beanspruchen können. Die Regelkommunikation an die Normadressaten ist demnach insoweit ein notwendiges Element des Rechtsbegriffs, als sie eine zwingende Voraussetzung dafür darstellt, dass eine Norm überhaupt soziale Wirksamkeit entfalten kann.12
III. Regelkommunikation als ein Gebot der Fairness Nun ist der Rechtscharakter des oben genannte § 5 des Geheimgesetzes Nr. 3 aber auch deshalb zweifelhaft, weil es sich dabei um eine offensichtlich in eklatanter Weise unfaire Norm handelt. Es erscheint in höchstem Maße ungerecht und willkürlich, jemanden für den Verstoß gegen eine Norm zu bestrafen, die er gar nicht kennen konnte. Denn in einem solchen Fall haben die Bürger überhaupt keine Chance, eine Bestrafung dadurch zu vermeiden, dass sie dem Normbefehl gehorchen. In der Tat verdanken sich die Publizitätspflichten für Gesetze ganz wesentlich der Idee, dass dadurch ein Schutz vor staatlicher Willkür gewährleistet werden kann, weil das staatliche Handeln anhand der veröffentlichten Gesetze für den Bürger berechenbar wird.13 Schon Thomas von Aquin begründet die Notwendigkeit der Bekanntmachung von Gesetzen damit, dass diese erst durch die öffentliche Verkündung ihre verpflichtende Kraft gegenüber denjenigen entfalten können, die sich nach ihnen richten sollen. Dabei hält er aber eine tatsächliche Kenntnisnahme durch alle Normadressaten nicht für erforderlich. Stattdessen soll es genügen, dass durch die Bekanntgabe eine grundsätzliche Möglichkeit geschaffen wird, dass das Gesetz allen Normadressaten zur Kenntnis gelangen kann.14
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Vgl. etwa Kelsen Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 219. Siehe dazu auch Kramer Objectivity and the Rule of Law, Cambridge 2007, S. 113 ff. 13 Murphy Fordham Law Review 51 (1982), 255, 286. Für einen Überblick über die historische Entwicklung des Publizitätsgedankens siehe Wittling Die Publikation der Rechtsnormen einschließlich der Verwaltungsvorschriften, 1991, S. 11 ff. 14 Thomas von Aquin Summa Theologica I-II Q 90, 4. 12
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Strengere Anforderungen an die Bekanntgabe finden sich dann im 18. Jahrhundert bei Jeremy Bentham. Auch für ihn geht es bei der öffentlichen Kommunikation von staatlichen Normen darum, deren Adressaten in die Lage zu versetzen, diese auch befolgen: „That a law may be obeyed, it is necessary that it should be known: that it may be known, it is necessary that it be promulgated.“15 Noch zu Benthams Zeiten war es keineswegs selbstverständlich, dass den englischen Bürgern die Gesetze, deren Befolgung von ihnen erwartet wurde, auch tatsächlich bekannt waren. So waren die statutes zumeist in einer für den juristischen Laien kaum verständlichen Sprache abgefasst und auch die Gerichtsentscheidungen, die die Grundlage des common law bildeten, waren regelmäßig nur Juristen zugänglich. Bentham zog daraus die Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, das geltende Recht in einer allgemeinverständlichen Sprache zu kodifizieren und sodann auch allen Normadressaten bekannt zu machen.16 Auch bei Hegel findet sich in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ der Gedanke, dass nicht allgemein bekannt gemachte Gesetze kein Recht sein können: „Das Recht betrifft die Freiheit, dies Würdigste und Heiligste im Menschen, was er selbst, insofern es für ihn verbindlich sein soll, kennen muß.“17 Er verweist dabei auf das Beispiel des antiken Tyrannen Dionysios, der die Gesetze angeblich so hoch aufhängen ließ, dass sie kein Bürger lesen konnte. Auch die Pflicht zur Verkündung von Gesetzen und Verordnungen in Art. 82 des deutschen Grundgesetzes wird in erster Linie auf den im Rechtsstaatsprinzip enthaltenen Fairnessgedanken zurückgeführt. Sinn und Zweck der Vorschrift werden insbesondere darin gesehen, dass sich die Bürger zuverlässige Kenntnis vom Inhalt der Normen verschaffen können sollen, um so vor staatlicher Willkür geschützt zu werden.18 Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass es sich bei Art. 82 GG nicht um eine bloße Formvorschrift handelt, sondern dass die öffentliche Verkündung als ein integrierender Bestandteil des Rechtsetzungsaktes anzusehen ist.19 Eine Norm soll ohne ordnungsgemäße Verkündung gar nicht rechtlich existent werden können.20 Damit wollen die Verfassungsrichter allerdings die Verkündung nicht zum notwendigen Bestandteil eines allgemeinen Rechtsbe-
15 Bentham On the Promulgation of the Laws, in: John Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band I, New York 1962, S. 155 ff. 16 Bentham General Views of a Complete Code of Laws, in: John Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band III, New York 1962, S. 156 ff. 17 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 215. 18 Vgl. Brenner in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 82 Rn. 12; Sachs Grundgesetz Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 82 Rn. 1. 19 BVerfGE 7, 330, 337; 42, 263, 283. 20 BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 241.
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griffs erklären. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass dies nur „nach deutschem Staatsrecht“ der Fall sei. In der Tat ist fraglich, ob die hier in Rede stehende Fairness tatsächlich notwendiger Bestandteil eines allgemeinen Rechtsbegriffs ist, was jedenfalls die Vertreter eines strengen Positivismus, die einen notwendigen Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit ablehnen, wohl verneinen würden.21 Die Frage braucht hier aber nicht entschieden zu werden. Denn ebenso wie die Anknüpfung an die soziale Wirksamkeit kann auch der Fairnessgedanke die Notwendigkeit öffentlicher Regelkommunikation nicht hinreichend begründen. Das liegt daran, dass beide nur eine Regelkommunikation an die unmittelbaren Normadressaten gebieten. Die Idee der öffentlichen Regelkommunikation geht aber darüber hinaus, indem sie eine Bekanntmachung der Norm an die gesamte Öffentlichkeit fordert, also gegenüber der Rechtsgemeinschaft aller Bürger.
IV. Die Adressaten der öffentlichen Regelkommunikation Es ist durchaus vorstellbar, dass der oben genannte § 5 des Geheimgesetzes Nr. 3 gar nicht zu dem Zweck erlassen wurde, das Verhalten der Bürger im Hinblick auf den Besitz bestimmter Bücher zu steuern. Das Gesetz dient womöglich nur dazu, die Bevölkerung mittels für den Betroffenen unvorhersehbarer Strafverfahren in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Norminhalt wäre dann nicht mehr die Verhaltensnorm „Besitze keine Exemplare von „1984“ sondern nur noch die Sanktionsnorm „Wer ein Exemplar von „1984“ besitzt, wird bestraft“. In diesem Fall wären Normadressaten nur noch die staatlichen Strafverfolgungsorgane. Ihnen freilich wäre der Inhalt des Geheimgesetzes Nr. 3 bekannt, anderenfalls sie es ja gar nicht exekutieren könnten. Soweit die Strafverfolger die Vorschrift anwenden und auf ihrer Grundlage auch tatsächlich Verurteilungen erfolgen, ließe sich ihr auch die soziale Wirksamkeit nicht absprechen. Der Bürger, der aufgrund von § 5 verurteilt wird, wäre nicht mehr Normadressat, sondern allenfalls noch Normbetroffener.22 Dass er die Vorschrift nicht kennt und nicht einmal kennen kann, ändert an deren sozialer Wirksamkeit nichts, da es hierfür ja nicht auf das Verhalten des Bürgers sondern nur auf das der Strafverfolger ankommt. Die Norm wäre auch nicht in dem Sinne unfair, dass sie den Normadressaten willkürlich unerfüllbare Pflichten auferlegt, denn die Strafverfolger können
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Vgl. etwa Kelsen (Fn. 11), S. 219. Zu dieser Differenzierung auch Wittling (Fn. 13), S. 140 ff. Ebenso waren beim geheimen Schießbefehl für die DDR-Grenze nur die Grenzsoldaten Normadressaten, nicht aber die Flüchtlinge, die von ihm nur betroffen waren. 22
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sie ohne weiteres befolgen und ein bestimmtes pflichtgemäßes Verhalten der normbetroffenen Bürger wird ja gerade nicht verlangt. Der Rechtscharakter könnte ihr aber möglicherweise deshalb abzusprechen sein, weil eine Qualifikation als Rechtsnorm eine öffentliche Regelkommunikation in dem Sinne voraussetzt, dass die Norm nicht allein gegenüber ihren Adressaten, sondern gegenüber der Rechtsgemeinschaft der Bürger insgesamt bekannt gemacht worden ist. Ein solches Verständnis von öffentlicher Regelkommunikation findet sich bei Immanuel Kant. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 erhebt er die Publizität zur transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts schlechthin: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“23 Kant geht es dabei um jegliches staatliches Handeln, also auch um solches, das wie etwa Verwaltungsakte auf den Einzelfall bezogen ist. Das braucht hier aber nicht weiter zu interessieren.24 Entscheidend ist vielmehr, dass Kant für alle Gesetze, die in ihrer Gesamtheit für ihn das öffentliche Recht ausmachen,25 strikte Publizität einfordert. Sie ist deshalb für alle Gesetze unabdingbar, weil allein sie eine Gerechtigkeit verbürgen kann, die nach Kant nur als „öffentlich kundbar“ gedacht werden kann. Die öffentliche Regelkommunikation ist damit nicht nur Voraussetzung dafür, dass eine Norm sozial wirksam werden kann, sondern auch dafür, dass sie mit jenem Anspruch auf Richtigkeit auftreten kann, der mit dem Rechtsbegriff notwendig verbunden ist. Meint aber womöglich nicht auch Kant hier nur Gerechtigkeit in dem Sinne, dass der Normadressat Kenntnis von der Norm haben muss, die ihn verpflichtet? Nein, denn bei Kant gerät die Öffentlichkeit nicht in erster Linie als der Kreis potentieller Adressaten, sondern vor allem als die Gemeinschaft der Urheber von Normen in den Blick. Für Kant kann sich eine Gemeinschaft freier Personen, wenn sie ihre Freiheit behalten will, nur solchen Gesetzen unterwerfen, die sie sich selbst gegeben hat.26 An anderer Stelle bringt er dies pointiert folgendermaßen auf den Punkt: „Der Probirstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte.“27 Recht können damit nur solche Normen sein, in denen sich alle Bürger, also nicht nur die Normadressaten und Normbetroffenen, als Urheber wiedererkennen können.
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Kant Zum ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe (= AA), Band VIII, 1912, S. 381. Vgl. dazu Wegener Der geheime Staat, 2006, S. 312 ff. Kant Die Metaphysik der Sitten, AA, Band VI, 1907, S. 311. Kant (Fn. 23), S. 350 f. Kant Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, AA, Band VIII, 1912, S. 39.
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V. Öffentliche Regelkommunikation und Volkssouveränität Dass sich ein Volk als Urheber einer Norm wiedererkennen kann, setzt voraus, dass es diese überhaupt zur Kenntnis nehmen kann. Öffentliche Regelkommunikation ist danach zwingende Voraussetzung dafür, dass das Volk als Souverän Gesetze und andere Rechtsnormen daraufhin kontrollieren kann, ob sie tatsächlich mit seinem Willen übereinstimmen. Heimliche Normbefehle sind danach von vornherein nicht legitimierungsfähig, weil der Souverän eine Norm, die ihm gar nicht bekannt ist, auch nicht absegnen kann. Dies gilt dabei nicht nur für solche Normen, die sich direkt an die Bürger richten und ihnen Rechte einräumen oder Pflichten auferlegen. Es gilt ebenso für Normen des „Innenrechts“ wie etwa Verwaltungsvorschriften, die ohne unmittelbare Außenwirkung die internen Strukturen und Abläufe des Staatsapparats organisieren.28 Nun stellt Kant allerdings nicht darauf ab, dass ein Gesetz tatsächlich bekannt gemacht wurde, sondern nur darauf, dass es die „Fähigkeit zur Publizität“ hat bzw. dass das Volk sich ein solches Gesetz auferlegen könnte. Lässt das nicht die Möglichkeit heimlicher Normbefehle zu, solange diese nur denkbarerweise auch öffentlich bekannt gemacht werden könnten? Kant scheint eine solche Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen. Seiner Ansicht nach liegt der Grund für die Verheimlichung einer Norm regelmäßig darin, dass eine öffentliche Bekanntmachung den Normzweck vereiteln würde und daher gerade nicht denkbar ist. Kant geht in seiner Friedensschrift dabei davon aus, dass diese Zweckvereitelung daraus resultiert, dass die Bekanntmachung in der Bevölkerung zu Empörung und Widerstand führen würde. Kant denkt also an Fälle, in denen die Verheimlichung deshalb erfolgt, weil die Norm dem allgemeinen Volkswillen nicht entspricht und von der Bevölkerung daher als ungerecht und als „Bedrohung von jedermann“ empfunden würde.29 Allerdings sind auch andere Motive für die Verheimlichung einer Norm denkbar. So könnte es zum Beispiel zweckmäßig sein, ein Gesetz, das den Sicherheitsbehörden neue Befugnisse zur Ausspähung von Terrorismusverdächtigen einräumt, zunächst nicht publik zu machen, um so dafür zu sorgen, dass sich die potentiellen Terroristen weiterhin in Sicherheit wiegen und keine Vorkehrungen gegen die neuen Ausspähungsmöglichkeiten treffen. Ein solches Gesetz würde nicht notwendigerweise schon allein wegen seines Inhalts auf breiten Widerstand in der Bevölkerung stoßen, sondern vielleicht sogar von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt werden.
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Dazu Wittling (Fn. 13), S. 157 ff. Kant (Fn. 23), S. 381 f.
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Um zu begründen, weshalb auch einem solchen Geheimgesetz die Rechtsqualität selbst dann fehlt, wenn es vermutlich die Zustimmung der Bürger finden würde, bedarf Kants Argumentation folglich der Ergänzung. Dazu müssen sein Gedanke, dass Gerechtigkeit nur als „öffentlich kundbar“ gedacht werden kann und das dahinter stehende Verständnis von Volkssouveränität noch weiter entfaltet werden. Jürgen Habermas hat Kants Idee der öffentlichen Autonomie freier und gleicher Staatsbürger aufgegriffen und mit Elementen der Diskurstheorie zu einem Verständnis von Volkssouveränität als Verfahren30 verschmolzen, durch das sich auch die Funktion der öffentlichen Regelkommunikation besser erschließen lässt. Die Souveränität rechtlich autonomer Bürger, die sich im kantischen Sinn nicht nur als Adressaten von Rechtsnormen sondern auch als deren Autoren begreifen können,31 wird von Habermas nicht mehr in einem als Kollektivsubjekt gedachten Volk verortet, sondern in den Meinungsbildungsprozessen einer politischen Öffentlichkeit. In ihnen werde eine kommunikative Macht generiert, die die administrative Macht des Staates kontrolliert und programmiert. Dabei legt Habermas Wert darauf, dass hier neben den formellen Meinungsbildungsverfahren in Einrichtungen wie dem Parlament oder dem Verfassungsgericht vor allem auch der politischen Überzeugungs- und Willensbildung außerhalb solcher Institutionen in einer vom allgemeinen Publikum der Staatsbürger gebildeten Öffentlichkeit eine zentrale Funktion zukommt.32 Der in dem allgemeinen Rechtsbegriff enthaltene Anspruch auf Richtigkeit, den eine Norm erheben muss, besteht nach diesem Verständnis dann in der Behauptung, dass sie, vermittelt über Institutionen wie etwa ein mit Repräsentanten der Bürger besetztes Parlament, aus den Meinungsbildungsprozessen der politischen Öffentlichkeit hervorgegangen ist und demgemäß auch vor dieser Öffentlichkeit gerechtfertigt werden kann. Die Berechtigung eines solchen Anspruchs kann aber nur überprüft werden, wenn die Norm öffentlich kommuniziert und so einer kritischen Prüfung durch die Öffentlichkeit überhaupt erst zugänglich gemacht wurde. Eine geheime Norm kann danach von vornherein keinen Anspruch auf Richtigkeit in dem genannten Sinn erheben, weil sie sich dieser notwendigen Überprüfung entzieht. Die bloße Vermutung, dass eine Norm zustimmungsfähig sein könnte, ist eben bloße Spekulation und kann den legitimitätstheoretischen Lackmustest einer echten Bewährung im öffentlichen Diskurs nach erfolgter Regelkommunikation nicht ersetzen. Nur eine Norm, die im Wege öffentlicher Regelkommunikation in die Kommunikationskreisläufe der politischen Öffentlichkeit eingespeist wurde, kann überhaupt erst den Anspruch erheben, Recht zu sein, wenn Recht als Ausdruck des souveränen Volkswillens verstanden wird. Die öffentliche 30 31 32
Habermas Faktizität und Geltung, 1992, S. 600 ff. Habermas Die Einbeziehung des Anderen, 1999, S. 301. Habermas (Fn. 30), S. 372 f.
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Bekanntmachung bildet gleichsam die Nabelschnur, die eine Rückkoppelung der Norm an den Souverän gewährleistet. Wird eine Norm verheimlicht, so wird dieser entscheidende Legitimationsstrang gekappt. In diesem Sinn ist Recht daher tatsächlich nur als veröffentlichtes Recht denkbar.33 Als Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass eine Regelkommunikation gegenüber der Öffentlichkeit insoweit ein notwendiges Element des Rechtsbegriffs darstellt, als sie durch das Prinzip der Volkssouveränität zwingend geboten ist. Dagegen könnte man nun einwenden, dass hier ein Rechtsbegriff zugrunde gelegt wird, der nur auf solche staatlichen Ordnungen anwendbar ist, die auf das Prinzip der Volkssouveränität gründen und mithin den Anspruch erheben, dass in den Gesetzen der Wille des gesamten Volkes zum Ausdruck kommt. Das trifft zu, führt aber gleichwohl nicht dazu, dass die öffentliche Regelkommunikation nur für echte Demokratien ein Kriterium für die Unterscheidung von Recht und Nichtrecht abgeben kann. Denn maßgeblich ist hierfür nicht, dass in dem betreffenden Staat Volkssouveränität tatsächlich verwirklicht ist, etwa in Gestalt effektiver Teilnahme- und Mitwirkungsmöglichkeiten an der politischen Willensbildung für alle Bürger. Stattdessen kommt es nur darauf an, dass die Gesetzgeber eines Staates nach außen den Anspruch erheben, stellvertretend für das ganze Volk tätig zu werden. Diesen Anspruch erheben aber nicht nur die Parlamente demokratischer Staaten. Auch die Diktaturen der Gegenwart behaupten regelmäßig, dass die von ihnen erlassenen Normen den Willen des Volkes zum Ausdruck bringen.34 Wer aber einen solchen Anspruch erhebt, der legt sich zugleich auch auf einen Rechtsbegriff fest, der die öffentliche Kommunikation der Normen an das Staatsvolk notwendig mit beinhaltet. Damit werden auch nicht anderen Rechtsordnungen Maßstäbe einer liberalen Demokratie übergestülpt, die dort tatsächlich zu keinem Zeitpunkt die Rechtspraxis bestimmen, wie man dies im Rahmen der Mauerschützenproblematik der „menschenrechtsfreundlichen Auslegung“ des DDR-Rechts durch den BGH vorgeworfen hat.35 Denn das Erfordernis öffentlicher Regelkommunikation ist nicht von einer spezifischen Auslegung von Volkssouveränität abhängig, sondern folgt
33 So die prägnante Formulierung von Kunig Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 391, allerdings in einem spezifisch verfassungsrechtlichen Kontext. 34 Vgl. etwa Art. 4 der Verfassung Nordkoreas, wonach die Macht in der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik dem gesamten werktätigen Volk gehört und von diesem durch seine Vertretungsorgane ausgeübt wird. Eine Ausnahme hiervon bilden beispielsweise theokratische Staatsformen, die für sich in Anspruch nehmen, in ihren Gesetzen nicht den Willen des Staatsvolks sondern einen letztlich einen göttlichen Willen zum Ausdruck zu bringen, vgl. zum Beispiel den Verweis auf die Bedeutung der göttlichen Offenbarung für die Formulierung von Gesetzen in Art. 2 der Verfassung der Islamischen Republik Iran. 35 Etwa in der Entscheidung BGHSt 40, 113, 116 ff.; zur Kritik siehe Dreier JZ 1991, 421, 427 f.; Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen?, 2006, S. 97 ff.
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denknotwendig aus dem Begriffskern dieses Konzepts, wonach jegliche staatliche Gewalt und daher auch jede vom Gesetzgeber hervorgebrachte Rechtsnorm als Ausdruck des gemeinen Willens des Volkes darstellbar sein muss. Nun kann man gewiss verschiedener Ansicht darüber sein, durch welche Institutionen und Verfahren der gemeine Volkswille sich am besten in der Gesetzgebung realisieren lässt, und so mag ein nordkoreanisches Verständnis von Volkssouveränität den Volkswillen in der Person eines „Großen Führers“ in optimaler Weise repräsentiert sehen. Nach jedem denkbaren Verständnis von Volkssouveränität wäre es aber ein unauflösbarer Widerspruch, wenn dem Souverän die Rechtsnormen, die seinen Willen zum Ausdruck bringen, verborgen bleiben sollten.
VI. Die notwendige Form der öffentlichen Regelkommunikation Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass eine öffentliche Verkündung jedenfalls in solchen Rechtsordnungen unabdingbare Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Rechtsnorm ist, die für sich in Anspruch nehmen, mit ihren Gesetzen den Willen des Volkes zu repräsentieren. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, in welcher Form die öffentliche Regelkommunikation zu erfolgen hat. Dabei wird schwerlich mit der in früheren Zeiten vertretenen Theorie von der materiellen Gesetzesverkündung 36 gefordert werden können, dass eine Norm, um wirksam zu werden, tatsächlich allen Bürgern zur Kenntnis gebracht werden muss. Angesichts der unüberschaubaren Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, die moderne Staatswesen hervorbringen, wäre eine solche Forderung bereits dann realistischerweise nicht umsetzbar, wenn nur im Hinblick auf die unmittelbaren Normadressaten deren tatsächliche Kenntnisnahme verlangt werden würde. Erst Recht gilt dies, wenn wie hier das Erfordernis einer öffentlichen Regelkommunikation im Sinne einer Kommunikation gegenüber allen Bürgern verstanden wird. Öffentliche Regelkommunikation kann daher nur in dem Sinn verstanden werden, dass es notwendig ist, für alle Bürger die grundsätzliche Möglichkeit zu schaffen, Kenntnis von den geltenden Rechtsnormen zu erlangen.37 Eine
36 Diese Forderung erhebt etwa Bentham (Fn. 14), S. 156: “… to promulgate a law, it is not only necessary that it should be published with the sound of trumpet in the streets; …; To promulgate a law, is to present it to the minds of those who are to be governed by it in such manner as that they may have it habitually in their memories”; vgl. zur materiellen Verkündung auch Lukas Über die Gesetzes-Publikation in Österreich und dem Deutschen Reiche, 1903, S. 7 ff. 37 Wittling (Fn. 13), S. 163 f.; ebenso Fuller The Morality of the Law, New Haven 1963, S. 51.
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solche formelle Verkündung erfolgt im Idealfall dadurch, dass die Normen schriftlich fixiert und in dieser Form in einem Gesetzblatt oder einem anderen allgemein zugänglichen Publikationsorgan veröffentlicht werden. Dadurch wird gewährleistet, dass die Rechtsnormen während ihrer Geltungsdauer für jeden interessierten Bürger verfügbar sind. Eine zwingende Notwendigkeit ist es aber nicht, dass die Norm in schriftlicher Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, was schon durch die Existenz gewohnheitsrechtlicher Normen belegt wird, die fraglos zum geltenden Recht zählen, auch wenn sie nicht schriftlich fixiert wurden. Das Verschriftungserfordernis hat seine Wurzeln in erster Linie im rechtsstaatlichen Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Berechenbarkeit38, für eine adäquate öffentliche Regelkommunikation ist es indes nicht zwingend. Hierfür reicht es vielmehr aus, dass die Norm in irgendeiner Weise Eingang in den Diskurs der politischen Öffentlichkeit gefunden hat und dort zirkuliert, so dass sie prinzipiell von jedem interessierten Bürger zur Kenntnis genommen werden kann. Um eine Norm derart in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, kann bereits eine einmalige Verlautbarung über Massenmedien wie Rundfunk oder Fernsehen geeignet sein. So rief während des Genozids in Ruanda im Jahr 1994 die von Extremisten aus der Ethnie der Hutu dominierte ruandische Regierung durch den Rundfunk dazu auf, Angehörige der Minderheit der Tutsi sowie gemäßigte Hutus zu töten.39 Diese Aufrufe hatten durchaus Normcharakter, da sie eine konkrete Handlungsanweisung an eine unbestimmte Anzahl für Personen beinhalteten,40 die auch sanktionsbewehrt war. Denn wer sich nicht an der Verfolgung beteiligte, musste befürchten, selbst zum Verräter erklärt und zur Tötung freigegeben zu werden. Durch die Verkündung über den Rundfunk hatte auch eine öffentliche Regelkommunikation stattgefunden, die diese Norm im Rechtsbewusstsein der Öffentlichkeit implementierte. Daher kann auf der Grundlage des hier vertretenen Rechtsbegriffs durchaus davon gesprochen werden, dass „Angehörige des Volksstamms der Tutsi und gemäßigte Hutu sind zu töten“, in Ruanda für einen gewissen Zeitraum eine gültige Rechtsnorm darstellte.
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Vgl. Kramer (Fn. 12), S. 116 f. Vgl. Des Forges in: Thomson (Hrsg.), The Media and the Rwanda Genocide, London u.a. 2007, S. 41 ff. 40 Zum Begriff der Rechtsnorm siehe Rüthers Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, § 4; Röhl/ Röhl (Fn. 10), S. 189 ff. 39
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VII. Die Leistungsfähigkeit des Kriteriums der öffentlichen Regelkommunikation Das Beispiel des Genozids in Ruanda macht zugleich deutlich, dass vom Kriterium der öffentlichen Regelkommunikation nicht erwartet werden darf, eine definitive Abgrenzung von legitimem Recht und in Rechtsform gegossener Barbarei zu ermöglichen. Prinzipiell kann jeder Norminhalt öffentlich kommuniziert werden, auch wenn er der Gerechtigkeit noch so Hohn spricht. Daher ist eine öffentliche Regelkommunikation bei den ordnungsgemäß im Reichsgesetzblatt verkündeten Nürnberger Rassegesetzen ebenso zu bejahen wie bei den im Radio verbreiteten Tötungsaufrufen durch die Regierung während des Völkermords in Ruanda. Die öffentliche Regelkommunikation an die gesamte Bürgerschaft ist nur eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass eine Norm als geltendes Recht qualifiziert werden kann,41 und auch dies nur unter der Voraussetzung einer Staatsordnung, die für sich in Anspruch nimmt, auf dem Prinzip der Volkssouveränität zu gründen. Immerhin kann das Kriterium aber solche Normen aus dem Kreis des Rechts ausscheiden, die aufgrund ihrer Heimlichkeit schon von vornherein gar nicht erst mit einem Anspruch auf Richtigkeit auftreten können, weil sie dem kritischen Blick der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Eine nur heimlich existierende Norm vermag niemals mehr zu sein als ein auf administrative Macht gestützter Befehl, dem es zwar nicht an Durchsetzbarkeit, aber jedenfalls an Legitimität mangelt. Dem Jubilar kommt das Verdienst zu, auf die öffentliche Regelkommunikation als Kriterium zur Unterscheidung von Recht und Macht aufmerksam gemacht zu haben. Bernd Schünemanns Ausführungen hierzu fügen sich harmonisch in ein Œuvre ein, das auch in anderen Zusammenhängen der Heimlichtuerei im Recht den Kampf ansagt, etwa bei der Kritik an klandestinen Ermittlungspraktiken im Zuge einer Vergeheimdienstlichung des Strafverfahrens 42 oder an einer Absprachenpraxis, die allzu oft die Öffentlichkeit des Gerichtssaals scheut und stattdessen den heimlichen Deal im Hinterzimmer bevorzugt.43
41 So bereits Kant (Fn. 23), S. 384 f.: „Denn es läßt sich nicht umgekehrt schließen: daß, welche Maximen die Publicität vertragen, dieselbe darum auch gerecht sind“. 42 Schünemann GA 2008, 314 ff.; ders. ZIS 2009, 484, 488 f. 43 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 17 Rn. 23; Schünemann ZRP 2009, 104, 106; ders. ZIS 2009, 484, 491.
Die Krise des Schuldprinzips, das Problem der Schuldfähigkeit des Überzeugungstäters und die Behandlungsmethode für seine Resozialisierung Hisao Katoh
Eingangs möchte ich mich für die Einladung, an der Festschrift für Bernd Schünemann zu seinem 70. Geburtstag mitzuwirken, recht herzlich bedanken. Es ist mir eine große Ehre, einen Beitrag leisten zu können. Von 1975 bis 1977 studierte ich an der Universität München insbesondere bei Arthur Kaufmann und Horst Schüler-Springorum als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung (der ich an dieser Stelle für ihre langjährige ökonomische und geistige Unterstützung danken möchte). Damals habe ich mich intensiv mit der Schuldfähigkeit des Überzeugungstäters sowie mit den sozialtherapeutischen Einrichtungen bzw. Anstalten in Deutschland beschäftigt. Von 1984 bis 1985 war ich dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei SchülerSpringorum an der Universität München tätig. 1984 war ich überdies als ausländischer Sachverständiger zu einer Anhörung im Bundestag eingeladen, um über die sozialtherapeutischen Einrichtungen (ca. 150) in der Welt zu sprechen.1 1976 habe ich Schünemann in München kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Ich habe auch ihn und seine Frau zu meiner Vorlesung „Grundkurs des Strafrechts in Japan“ eingeladen, um das deutsche juristische Ausbildungssystem vorstellen zu lassen. Die vielen Studentinnen und Studenten waren von beiden Vorträgen sehr beeindruckt. Und zudem hat er einen wunderschönen Aufsatz für meine Festschrift geschrieben.2 Als mein Lebenswerk studiere ich die Krise des Schuldprinzips und das Problem der Schuldfähigkeit des Überzeugungstäters und die Behandlungsmethode für seine Resozialisierung.3 Auch in diesem Beitrag möchte ich wieder darüber schreiben. Hierzu möchte ich mich intensiv mit der Krise des Schuldprinzips
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Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, 6. Ausschuss: Sten. Protokoll über die 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 19. September 1984: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (StVollzÄndG) (betr. Sozialtherapeutische Anstalten) – BT-Drucks. 10/309, S. 62–67. 2 Schünemann FS Katoh, 2008, S. 49 ff. 3 Katoh FS Kaufmann, 1989, S. 163 ff.; ders. FS Hassemer, 2010, S. 745, 750; ders. FS Nedopil, 2012, S. 123 ff.; ders. FS Egg, 2013, S. 347 ff.
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und der Schuldfähigkeit sowie der Behandlung von Straftätern mit Persönlichkeitsstörung und psychopatischer Persönlichkeit, von Überzeugungstätern und auch sonstigen Tätern mit „psychischer Störung“ beschäftigen.
I. Das Schuldprinzip als ein Grundprinzip des humanisierten Strafrechts 1. Warum ist das Schuldprinzip des humanisierten Strafrechts notwendig? Ich habe auch schon über die „Behandlung des geistig gestörten Täters“ aus rechtsvergleichender Sicht und über die „Bagatellkriminalität“ geschrieben.4 Um die Liberalisierung von Bagatelldelikten zu fördern, gilt es, das Opfer einer Straftat unter dem Gesichtspunkt eines Wiedergutmachungsbedürfnisses zu betrachten. Ist es für das Opfer einer schweren Straftat oder die Angehörigen des Getöteten zumutbar, sie auf den „schadensausgleichenden Mechanismus des Zivilrechts“ zu verweisen? Sicher sind wir alle weit davon entfernt, Strafe als Rache der Gesellschaft oder als vom Staat übernommene Rache des Tatopfers zu begreifen. Wo aber liegen die Grenzen, die man angesichts der unvollkommenen Natur des Menschen nicht überschreiten darf? Wer ein rein spezialpräventiv ausgestaltetes Strafrecht fordert, möge zuvor sagen, wo die Grenze der „Zumutbarkeit“ auf der Opferseite liegt. Bei der neuen Tendenz der Kriminalpolitik handelt es sich um eine „Bifurcation in Penal Policy“ also „Gabelung“ oder „Zweigleisigkeit“ in der Kriminalpolitik.5 Auch nach der „Bifurcation“-Theorie sind selbstverständlich immer das Schuldprinzip, das Subsidiaritätsprinzip und auch das ultima ratio-Prinzip des Strafrechts zu beachten. Bei der „harten Kriminalpolitik“ kommen organisierte Kriminalität, schwerer Massenmord, Bestechung von Politikern, Terrorismus, Drogenkriminalität (harte Drogen wie Heroin, Kokain),6 schwere Umweltkriminalität (illegale Beseitigung von Atomkraftindustriemüll durch Mafia und Yakuza)7 usw. in Betracht. Im Gegensatz dazu denken wir an die „sanfte Kriminalpolitik“ im Sinne des „Labeling Approach“ (einer Entkriminalisierungs- und Entsanktionalisierungstheorie), z.B. bei Ladendiebstahl geringwertiger Sachen, nicht schwerwiegenden Betrugsstraftaten wie Schwarzfahren oder Zechprellerei, Softpornos, sowie weitere Kleinkriminalität wie geringem Haschischkon4 Katoh FS Kaufmann, 1989, S. 163 ff.; ders. in: Eser/Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 195 ff. 5 Bottoms Howard Journal of Penology and Crime Prevention XVI (1977), 70–96. 6 Katoh in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 1995, S. 331 ff. 7 Katoh in: Rüßmann (Hrsg.), Beiträge zum deutschen, japanischen und europäischen Wirtschafts- und Verfahrensrecht, 2000, S. 15 ff.; ders. FS Schüler-Springorum, 1993, S. 173 ff.; Saviano Gomorrha. Reise ins Reich der Camorra, 2009, S. 341 f.
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sum, Vergehen nach dem Straßenverkehrsgesetz usw.8 In diesen Kategorien stellt sich die Frage, ob man das Sanktionensystem abschaffen kann. Tatsache bleibt aber, dass bisher noch kein Staat und keine Gesellschaft ohne Strafe oder strafähnliche Maßnahmen ausgekommen ist und noch kein Weg aufgezeigt werden konnte, der es erlaubt, auf repressive, also vergeltende Rechtsfolgen zu verzichten. Wenn wir das Schuldprinzip diskutieren, darf man nicht das ultima ratio-Prinzip und kriminalpolitische Überlegungen zur Bagatellkriminalität, insbesondere zur Entkriminalisierung von Bagatelldelikten, übergehen.9 Wenn wir über die Wiedergutmachung als neues Modell an Stelle der Strafe und auch als „dritte Spur“ der strafrechtlichen Sanktionen diskutieren möchten, haben wir uns auf die Bedeutung und die Rolle des Schuldprinzips in der Praxis der Strafzumessung und der Strafvollstreckung zu besinnen. Die Wiedergutmachung ist grundsätzlich keine Strafe, die durch ein Strafgesetz legitimiert ist, sondern eine Maßnahme im Sinne einer dritten Spur. Roxin schreibt: „Die rechtspolitische Legitimation der Wiedergutmachung als einer dritten Spur unseres Sanktionensystems liefert das Subsidiaritätsprinzip. So, wie die Maßregel als zweite Spur die Strafe ersetzt oder ergänzt, wo diese wegen des Schuldprinzips den spezialpräventiven Notwendigkeiten nicht oder nur eingeschränkt gerecht werden kann, würde die Wiedergutmachung als „dritte Spur“ die Strafe ersetzen oder ergänzend mildern, wo sie den Strafzwecken und den Bedürfnissen des Opfers ebenso gut oder besser gerecht wird als eine unverminderte Strafe. Freilich ist das alles bisher mehr Programm als Realität: Von einem dreispurigen (anstatt vom heutigen zweispurigen) Strafrecht wird man erst sprechen können, wenn der Gesetzgeber der Wiedergutmachung im Sanktionssystem in ganz anderer Weise als bisher Rechnung trägt.“10 2. Die Abschaffung der Todesstrafe und die Praktizierung der Rehabilitationsidee Die Todesstrafe ist in Deutschland bereits 1949 abgeschafft worden. In Japan wurden hingegen im Jahr 2011 neun Straftäter zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung der Todesstrafe erfolgte 2012 in sieben Fällen. In 2012 sind 133 Kandidaten zum Vollzug der Todesstrafe untergebracht worden. Mit dieser Sanktion abgeurteilt wurden kürzlich 13 Mitglieder der Aum-Sekte, die Tötungsdelikte aus religiöser Überzeugung begingen.11 Ich glaube auch,
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Katoh FS Kaufmann, 1989, S. 163 ff.; ders. in: Eser/Yamanaka (Fn. 4), S. 195 ff. Roxin FS Baumann, 1992, S. 243 ff.; ders. AT I, 3. Aufl. 2006, § 2 Rn. 101; SchülerSpringorum FS Katoh, 2008, S. 168 ff. 10 Roxin „Zur neueren Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Deutschland“, Vortrag auf dem Symposium der Strafrechtslehrertagung in Japan am 30.05.2009. 11 White Paper on Crime (japanisch), 2012, S. 57 ff. 9
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wenn wir an eine Reform des altmodischen geltenden Strafgesetzbuches (seit 1908 in Kraft) denken, wäre ein Vergleich der Kriminalität und des strafrechtlichen Sanktionssystems zwischen Deutschland und Japan lohnend und reizvoll, weil Japan bereits vor dem ersten Weltkrieg das deutsche Strafrecht und die Strafvollzugsorganisation weitgehend übernommen hat. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden aber die japanische Gesellschaft, das Rechts- und Gerichtssystem, insbesondere die Verfassung und die StPO von den USA sehr stark beeinflusst. Deswegen gibt es sehr große Unterschiede zwischen dem japanischen und dem deutschen Rechtswesen, wenn wir das Strafrechtswesen vergleichen. Das japanische Strafrechtssystem enthält auch angloamerikanische und gewohnheitsrechtliche Elemente.12 Ich möchte bei der Untersuchung des humanisierten Strafrechts und seiner Kriminalpolitik von den geltenden Gesetzen ausgehen. Die Frage, die ich mir stellen werde, wird lauten, in welcher Gesellschaft man eigentlich das Strafrecht oder Straf- bzw. Sanktionensystem abschaffen und darauf verzichten kann. Heute versucht man überwiegend, die Sanktionen als eine Rechtsfolge des Strafrechts rational zu begründen und sie als notwendige Waffe der Rechtsgemeinschaften gegen den Rechtsbrecher zu begreifen. Tatsache bleibt aber, dass bisher noch kein Staat und keine Gesellschaft ohne Strafe oder strafähnliche Maßnahmen ausgekommen ist und noch kein Weg aufgezeigt werden konnte, der es erlaubte, auf repressive, also vergeltende Rechtsfolgen, zu verzichten.13
II. Die Schuldfähigkeit des Überzeugungstäters 1. Was ist ein Überzeugungstäter? Ist der Begriff des „Überzeugungstäters“ ein Synonym für den Hangtäter, den Psychopathen, den Persönlichkeitsgestörten? Wenn man die strafrechtliche Schuld als eine sittliche Schuld ansieht, wird diese oft mit dem Hinweis auf den sogenannten Überzeugungstäter in Zweifel gezogen. Nach einer insbesondere von Radbruch vertretenen Lehre kann die Strafe dem Täter dann nicht mit sittlicher Überlegenheit gegenübertreten, wenn sein „ausschlaggebender Beweggrund darin bestand, dass er sich zu der Tat aufgrund seiner sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung für verpflichtet hielt.“14 Aber wir müssen uns fragen, ob nicht gerade eine solche, dann nur noch als reine Zwangsmaßnahme zu verstehende, Strafe eine Missachtung der sittlichen Person des „Überzeugungstäters“ bedeuten würde. Was berechtigt
12 13 14
Katoh in: Eser/Yamanaka (Fn. 4), S. 195 ff. Schüler-Springorum GA 2003, 575 ff. Radbruch Strafrecht II (bearb. von Arth. Kaufmann), 1998, S. 8.
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den Staat, einem Menschen Strafen aufzuerlegen, der sittlich tadellos gehandelt hat? Sieht man jedoch genauer hin, so zeigt sich, dass der „Überzeugungstäter“ in aller Regel gar nicht frei von sittlicher Schuld ist, und wo er es ausnahmsweise doch ist, kann er niemals bestraft werden. Im Normalfall übertritt auch der „Überzeugungstäter“ ein Gesetz, dessen Gültigkeit er kennt. Wenn man die Rechtsordnung in ihrer Funktion, die sittlichen Güter des Menschen zu schützen und zu garantieren, wirklich ernst nimmt, entfällt jeder Grund, den „Überzeugungstäter“ zu privilegieren. Jescheck hat darum völlig recht, wenn er erklärt: „Wer seinen eigenen abweichenden Vorstellungen von Recht und Sittlichkeit folgt, kann keinen Anspruch darauf erheben, als besonders achtbar behandelt zu werden, denn die Gesetze verbieten nur das bei Strafe, was aus Gründen des unerträglichen Beispiels wirklich strafwürdig erscheint.“ „Der Überzeugungstäter besitzt deshalb jedenfalls dann das Unrechtsbewusstsein, wenn er weiß, dass die von ihm missachtete Norm eine verfassungsmäßig zustande gekommene Rechtsnorm ist (BGHSt 2, 194 (208)).“15 Ganz anders ist es zu bewerten, wenn der „Überzeugungstäter“ sich gegen ein Gesetz wendet, das aus übergesetzlichen, naturrechtlichen Gründen ungültig ist. Hier handelt er nicht nur in sittlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht einwandfrei, er begeht gar kein Verbrechen und nur Gewalt und Terror, nicht aber Recht können ihn wegen seines Widerstandes in den Kerker werfen. So argumentiert Kaufmann: „Ist der Irrtum aber unüberwindbar, so kann von einer Pflichtverletzung keine Rede sein, wenn der Handelnde sich nach seinem Gewissen richtet.“ „Der Handelnde hat hier ja gar keine andere Möglichkeit, als seinem Gewissen zu folgen. Eine Bestrafung ist in diesem Falle daher unstatthaft.“16 2. Die Schuldfähigkeit des psychopathischen persönlichkeitsgestörten Straftäters a) Der juristische Krankheitsbegriff und der Begriff der Persönlichkeitsstörung Der Begriff der Persönlichkeitsstörung stellt eine ständige Aufgabe für das strafrechtliche Begutachtungssystem dar.17 Der BGH hat einen juristischen Krankheitsbegriff in seiner Rechtsprechung entwickelt, der sich vom psychiatrischen Krankheitsbegriff weit entfernt hat. Nach der Rechtsprechung
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Jescheck Lehrbuch des Strafrechts AT, 3. Aufl. 1982, S. 334 und 367. Kaufmann Das Schuldprinzip. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, 1976, S. 137 f. 17 Katoh KEIO Law Review 1978, 59 ff.; Katoh FS Hassemer, 2010, S. 745, 752; vgl. Stochholm et al. Criminality in men with Klinefelter’s syndrome and XYY syndrome, BMJ Open 2012, S. 1–8. 16
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(insbesondere BGHSt 14, 30) ist „krankhaft“ im Sinne des § 51 dtStGB a.F. (§§ 20, 21 des geltenden dtStGB) jede den Verstand oder das Gefühls-, Willens- oder Triebleben besonders nachhaltig beeinträchtigende Störung, unabhängig davon, ob ihr eine körperliche krankhafte Ursache zugrunde liegt. Deswegen erhoben sich kritische und „sorgenvolle“ Stimmen gegen den juristischen Krankheitsbegriff. Ehrhardt etwa schreibt dazu: „Je mehr sich der juristische vom medizinischen Krankheitsbegriff entfernt, umso mehr muss er sich einem sozialen oder soziologischen Krankheitsbegriff nähern, weil das faktische Sozialverhalten, oder besser Fehlverhalten, unvermeidlich zum entscheidenden Kriterium wird.“18 b) Die psychopathische Persönlichkeit unter den „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“ und ihre Schuldfähigkeit Wenn wir den oben beschriebenen juristischen Krankheitsbegriff im Strafrecht zugrunde legen, entwickelt sich die Frage nach dem Begriff und der Schuldfähigkeit von Psychopathen zweifellos zu einem Zentralproblem der Formel von den „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“ nach § 20 dtStGB. Denn der Begriff der psychopathischen Persönlichkeit ist umstritten, und es gibt eine Reihe von Missverständnissen. So sieht die Benennung von psychopathischen Typen wie eine medizinische Diagnose aus. Dies beruht aber auf einer ganz verfehlten Analogie: Denn es wird mit dem Psychopathentyp nur eine psychopathologische, charakterologische Klassifizierung vorgenommen und gerade nicht eine Krankheit oder die seelische Folge einer Krankheit festgestellt. Zusammenfassend konstatiert Nedopil: „Wenngleich immer wieder darauf hingewiesen wird, dass der Begriff unglücklich gewählt wurde und deshalb von einer Reihe von Gutachtern kurz nur als ‚das vierte Merkmal‘ bezeichnet wird, so kann nicht übersehen werden, dass die Feststellung dieses Merkmals am häufigsten zur Dekulpierung verwendet wird. Es handelt sich um einen Sammelbegriff, unter dem alle Störungen, die nicht mit den ersten drei Merkmalen erfasst werden können, subsumiert werden. Dazu gehören die Persönlichkeitsstörungen, die neurotischen Entwicklungen, die sexuellen Verhaltensabweichungen, aber auch die chronischen Missbrauchsformen, die nicht oder noch nicht zur körperlichen Abhängigkeit geführt haben. Den „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“ werden auch die „paranoiden Entwicklungen“ zugerechnet, selbst dann, wenn durch den Wahn bereits ein Realitätsverlust eingetreten ist. Die Störungen der Impulskontrolle, z.B. das pathologische Spielen, werden ebenfalls hier eingeordnet.“19 Ganz grob skizziert laufen die Tendenzen darauf hinaus, dass der Psychopath als eine Mischung aus extrovertierten, aggressiven und alloplasti18 19
Ehrhardt FS Prinz, 1968, S. 260 ff. Nedopil Forensische Psychiatrie, 4. Aufl. 2012, S. 41.
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schen Typenbestimmungen erscheint und auch Soziopath genannt wird, während die introvertierte, gehemmte, autoplastische Variante der abnormen Persönlichkeit als Neurotiker bezeichnet wird. So werden in den USA nur die dissozialen oder antisozialen Typen als Psychopathen bezeichnet, nicht dagegen die „sozialen Kriminellen“, die eine, wenn auch abweichende, Wertnorm haben, an die sie sich halten. Die Ablehnung des Psychopathiebegriffs geht allerdings nicht nur auf unterschiedliche Wertungen und Definitionen zurück, sondern stützt sich auf eine extreme milieutheoretische Auffassung. Extreme Psychoanalytiker bestreiten jegliche Wirkung der Vererbung und lassen anstelle einer „Anlage“ nur abnorme Umwelteinflüsse als Determinanten eines abnormen Charakters gelten. Hier geht die Psychopathie im Begriff der Charakterneurose auf. „Die Entwicklungspsychopathie ist eine Strukturstörung, die nicht in allen Bereichen der Persönlichkeit gleich stark ausgeprägt ist. So entsteht ein bizarres Muster von Defekten, Begabungen und Labilitäten, eine Mischung von infantilen und erwachsenen Zügen. Das Bild, das die Entwicklungspsychopathen bieten, ist ein sehr variables, das sich mit dem jeweiligen Milieu verändert. Beim ersten Kontakt scheinen diese Menschen oft frei von Verhaltensschwierigkeiten, sehr oft als geradezu angenehm freundlich und liebenswürdig. Auch zeigt nicht jeder Patient alle Symptome des psychopathologischen Bildes.20 Soweit zum Begriff des kriminellen Psychopathen in seinen verschiedenen Aspekten. Ich glaube, bei dem Problem des kriminellen Psychopathen im Bereich des Strafrechts handelt es sich nicht darum, ob die Anlage des Psychopathen heilbar wäre, sondern, ob die abnorme Persönlichkeit von dem neuen Milieu überwunden werden könnte. Der Begriff des kriminellen Psychopathen soll nicht vom soziologischen, sondern vom medizinischen, biologischen Merkmal aus definiert werden.21 Ich meine, dass Psychopathie ein abnormes Persönlichkeitsbild beschreibt, das von der sogenannten Psychose zu unterscheiden ist. Es stellt sich dann die Frage nach der Schuldfähigkeit von kriminellen Psychopathen. Wenn man den Begriff des Psychopathen tatsächlich nicht somatisch-pathologisch oder medizinisch-biologisch begründen kann, wie Schneider meint, glaube auch ich, dass der Psychopath schuldfähig ist.22
20
Reicher Psyche 30/7 (1976), 604 ff. Saß MschrKrim 72 (1989), 133 ff.; ders. in: Saß/Herpertz (Hrsg.), Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen, 1999; Nedopil/Krupinski Beispiel-Gutachten aus der Forensischen Psychiatrie, 2001. 22 Schneider Klinische Psychopathologie, 8. Aufl. 1967, S. 17 f.; Haddenbrock Kriminologische Gegenwartsfragen, 13. Aufl. 1978, S. 163 f.; ders. FS Schneider, 1962, S. 280 ff. 21
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3. Die Schuldfähigkeit des Überzeugungstäters und des unter einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung leidenden Täters in Japan Ich gehe davon aus, dass eine bestimmte Gruppe von Sexualstraftätern oder von Rückfälligen, oder auch die Mitglieder der Aum-Sekte (fanatische religiöse Bande), als Überzeugungstäter schuldfähig sind. In Japan wird der Überzeugungstäter wie der Psychopath im strafrechtlichen Sinne als normal beurteilt. Ich möchte im Folgenden zwei konkrete Fälle aus Japan vorstellen. Fall 1: Sexualstraftäter mit psychopathischer Persönlichkeitsstörung Ein 26-jähriger Mann wird zur Todesstrafe wegen Mordes an vier Mädchen verurteilt: 1989 hatte er ein vierjähriges, zwei Monate später ein siebenjähriges, wieder zwei Monate später ein vierjähriges Mädchen getötet und danach sexuell missbraucht. Sechs Monate später tötete er ein fünfjähriges Mädchen und verspeiste das Opfer. 2006 wurde die Todesstrafe verhängt, trotz der Aussagen von drei Sachverständigen, die mindestens verminderte Schuldfähigkeit bestätigt hatten. 2008 wurde sie vollstreckt. Er hatte keine politischen oder religiösen Motive und war ein sexuell devianter Mensch mit starken Komplexen gegenüber erwachsenen Frauen. Er war jedoch kein Überzeugungstäter, sondern litt unter einer ausgeprägten Sexualpathologie. Fall 2: Mitglied der Aum-Sekte als religiöser Überzeugungstäter 13 Mitglieder der Aum-Sekte stachen am Morgen des 20. März 1995 im Regierungsviertel Kasumigaseki in Tokyo in mehreren Zügen mit Sarin gefüllte Plastiktüten auf und setzten damit das tödliche Nervengas frei. Zwölf Menschen starben, mehr als 5.500 wurden verletzt. Mit dem Attentat wollte die Sekte eine Polizeirazzia gegen ihre Zentrale verhindern. Sektengründer Shoko Asahara (sog. Guru) wurde im Mai 1995 verhaftet und schwieg während des gesamten Prozessverlaufs oder murmelte Unverständliches vor sich her. Asahara gilt als Drahtzieher des Sarin-Anschlags. Ein Gericht verurteilte ihn 2006 rechtskräftig zum Tode. In der Folge des Sarin-Attentats wurden 13 Mitglieder der Sekte trotz der zur Zeit des Anschlags bestehenden sog. Mind-Control-Situation als schuldfähig eingestuft und zum Tode verurteilt.23
23
Katoh FS Schüler-Springorum, 1993, S. 173 ff.
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III. Möglichkeiten der sozialtherapeutischen Behandlung von Mitgliedern der organisierten Kriminalität und von Terroristen 1. Sozialtherapie bei Mitgliedern der organisierten Kriminalität und Terroristen Ich würde vorschlagen, dass die sozialtherapeutische Behandlungsmethode bei einer bestimmten Gruppe von behandlungsschwierigen Rückfälligen oder Überzeugungstätern, z.B. Mitgliedern der organisierten Kriminalität (sog. Boryoku-Dan) und Terroristen, angewandt werden sollte.24 Weil es nicht gelungen ist, den Begriff des kriminellen Psychopathen oder des Überzeugungsstraftäters medizinisch-biologisch zu begründen, sollte man die Psychopathen aus dem Bereich des § 20 dtStGB ausschließen und sie als Schuldfähige in der sozialtherapeutischen Anstalt behandeln. Nach meiner Erfahrung aus Besichtigungen in Europa kann man diese behandlungsschwierige Gruppe durchaus in sozialtherapeutischen Anstalten behandeln, z.B. in der Mestag-Klinik in Holland und in Berlin-Tegel. In diesen beiden sozialtherapeutischen Anstalten probierte man viele Jahre, psychopathische Straffällige mit verschiedenen modernen Behandlungsmethoden zu behandeln, und dies zum Teil mit Erfolg. In Japan gibt es keine Führungsaufsicht, die für aus dem Vollzug entlassene Überzeugungstäter und Boryoku-Dan-Mitglieder in besonderem Maße angezeigt ist. Im Jahr 2011 wurden in Japan etwa 70.300 Mitglieder der Boryoku-Dan registriert. 26.269 Mitglieder (etwa 37 %) wurden verdächtigt, Straftaten begangen zu haben; 2.359 (9,3 %) wurden inhaftiert.25 2. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung und die therapeutische Unterbringung nach dem ThUG a) Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG Das BVerfG verlangt seit seiner Entscheidung vom 5. Februar 2004, dass sich die Verbüßung der Sicherungsverwahrung vom Strafvollzug positiv unterscheidet („Abstandsgebot“). Der EGMR entschied mit Urteil vom 17. Dezember 2009, dass es gegen Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße, wenn bei einem Sicherungsverwahrten, der unter Geltung des § 67d Abs.1 dtStGB a.F. mit maximal zehn Jahren Sicherungsverwahrung rechnen musste, aufgrund einer Gesetzesänderung (§ 67d Abs. 3 dtStGB) nachträglich länger dauernde Sicherungsverwahrung ange-
24 Krim. Zentralstelle (Hrsg.), Über die Sozialtherapie: Sozialtherapie im Strafvollzug, 2013; Egg KuP 45 (2004), S. 119 ff. 25 White Paper on Crime (japanisch), 2012, S. 151–157.
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ordnet wird. Art. 7 EMRK normiert den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitenden Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“. Entscheidend bei diesem Urteil ist die Auffassung des Gerichtshofs, dass eine Sicherungsverwahrung als eine „Strafe“ anzusehen sei. Am 13. Januar 2011 hat der EGMR in einer weiteren Entscheidung einstimmig beschlossen, dass auch die im Jahre 2004 eingeführte „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ gegen Art. 5 § 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) verstoße. Bei den deutschen Fachgerichten haben diese Entscheidungen zu einander widersprechenden Entscheidungen geführt. Dabei ging es um die Frage, ob alle betroffenen Verwahrten sofort entlassen werden müssen oder ob die Entlassung im Hinblick auf eine von Gutachtern festgestellte, anhaltende Gefährlichkeit verweigert werden darf. Sicherungsverwahrten, deren Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert wurde, steht nach Artikel 5 Abs. 5 EMRK ein Anspruch auf Entschädigung zu. In einem Urteil vom 24. April 2012 hat das Landgericht Karlsruhe pro Monat 500 Euro zugesprochen. Der BGH hat die Entschädigungszahlungen im September 2013 bestätigt. Art. 5 Abs. 5 EMRK gewähre einen Entschädigungsanspruch unabhängig vom Verschulden der mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung befassten Amtsträger. Dem Gesetzgeber hat das BVerfG aufgegeben, bis zum 31. Mai 2013 das Recht der Sicherungsverwahrung neu zu gestalten. Die Regelung der Sicherungsverwahrung im dtStGB wurde mit Wirkung zum 1. Juni 2013 reformiert, wobei § 66c dtStGB das Abstandsgebot umsetzen soll. b) Ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung verfassungswidrig? Wie Pfister geschrieben hat, hat „der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 die Maßregel der Sicherungsverwahrung als Strafe gewertet und deshalb deren rückwirkende Verschärfung als konventionswidrig beurteilt.“ „In dieser Situation wirkte das Urteil des EGMR vom Dezember 2009 wie eine Bombe.“26 M.E. ist die Sicherungsverwahrung nicht verfassungswidrig. In Deutschland sind bereits die Todesstrafe und die lebenslange Freiheitsstrafe ohne vorläufige Entlassung abgeschafft worden. Der deutsche Gesetzgeber muss nicht nur die (Menschen-)Rechte des Straftäters und der Opferfamilie, sondern auch die Sicherheit der Gesellschaft in gleicher Weise sicherstellen. Selbstverständlich sind die Fälle höchst umstritten, in denen nachträgliche Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren angeordnet worden ist. Ich glaube, dass diese Sicherungsverwahrung gegen den verfassungsrechtlich verbürgten nulla poena-Grundsatz verstößt. Deswegen muss jedenfalls für Täter, bei denen zum zweiten Mal die Sicherungsverwahrung angeordnet ist, ein therapeutisches Behandlungsprogramm sichergestellt werden, wie die Sozialtherapie. Wenn man z.B. für den Überzeugungstäter die sozialthera26
Pfister in: Nedopil (Hrsg.), Die Psychiatrie und das Recht, 2011, S. 58, 61.
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peutische Behandlungsmethode einführen möchte, muss man den konkreten Reformentwurf im Hinblick auf Ergebnisse der empirischen Forschung diskutieren. Im Zusammenhang mit einer Begutachtung der Lage von sozialtherapeutischen Einrichtungen in Bayern (Oktober 2012) habe ich u.a. das neue Gebäude für die Unterbringung des ThUG des Isar-Amper-Klinikum München-Ost, die neue Abteilung der Justizvollzugsanstalt Straubing und das Bezirkskrankenhaus Straubing besichtigt. Nach den gewonnen Eindrücken bestand für die hier untergebrachten Sicherungsverwahrten ein gutes therapeutisches Milieu. Dies stimmt zuversichtlich. Wenn man ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung fällen möchte, sollte man sich erst einen Eindruck über die Zustände in diesen Einrichtungen verschaffen (ob also die Praxis in den therapeutischen Einrichtungen der Sicherungsverwahrung den verfassungsrechtlichen Grundsätzen entspricht oder nicht). c) Welche Unterschiede gibt es zwischen Tätern mit „psychischer Störung“, „Hangtätern“, „psychopathischen“ Tätern und Überzeugungstätern? Wie Dittmann geschrieben hat: „In der Psychiatrie war und ist die Definition des Begriffs ‚Krankheit‘ und ‚psychische Störung‘ Gegenstand kontroverser Diskussionen.“27 Als Jurist frage ich mich, welchen Unterschied es zwischen dem Täter mit „psychischer Störung“, dem „Hangtäter“, dem Täter als „Psychopath“ und dem Überzeugungstäter gibt. Müller kritisiert aus psychiatrischer Sicht, „… dass dieses Gesetz sachlich die Kritik des EGMR-Urteils verfehlt, dass es zu einem Missbrauch der Psychiatrie führt, dass es nicht nachvollziehbar ist, davon auszugehen, dass psychotherapeutische Maßnahmen die betroffenen Wiederholungstäter innerhalb von 18 oder 36 Monaten ungefährlich machen und dass hochfrequente Begutachtung die Perspektive auf ‚Heilung‘ von Gefährlichkeit vortäuschen.“28 Ich glaube, dass der Täter mit „psychischer Störung“ mindestens als vermindert schuldfähig zu kategorisieren ist. Selbstverständlich müssen wir noch weiter diskutieren, ob die „nachträgliche“ Sicherungsverwahrung verfassungswidrig ist oder nicht. Seitdem der EGMR 2009 die Maßregel der Sicherungsverwahrung als Strafe gewertet und deshalb deren rückwirkende Verschärfung als konventionswidrig beurteilt hat, ist der Unterschied des Begriffs zwischen einer psychischen „Störung“ und einer psychischen „Krankheit“ unter den Sachverständigen stark umstritten. Nach Abschaffung der Todesstrafe besteht Bedarf für Sicherungsverwahrung als kriminalpolitisches Instrument zur Verhinderung schwerer Verbrechen von gefährlichen Überzeugungstätern, persönlichkeitsgestörten Straftätern oder Psychopathen. M.E. sind die meisten Mitglieder der Boryoku-Dan (Yakuza) auch als Überzeugungstäter 27 28
Dittmann in: Nedopil (Hrsg.), Die Psychiatrie und das Recht, 2011, S. 131 ff. Müller in: Nedopil (Hrsg.), Die Psychiatrie und das Recht, 2011, S. 115 ff.
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einzustufen, weil sie innerhalb des strengen Regelwerks der Bande, vergleichbar mit der „Omerta“ der italienischen Mafia, kontrolliert und sozialisiert werden. Deswegen können die Kriterien der „Zumutbarkeit“ oder des „Anders-Handeln-Könnens“ sowie die Verantwortlichkeit als Elemente der Schuld keine Anwendung finden. Aus diesen Gründen ist beim Überzeugungstäter statt Strafe die Sicherungsverwahrung als eine besondere Maßnahme notwendig, die sich nicht nach der Schwere der Schuld bemisst.29
IV. Zusammenfassung Oben habe ich erörtert, dass wir auch in Japan humanisiertes Strafrecht und Kriminalpolitik praktizieren müssen. Hierzu muss das geltende Vergeltungsstrafgesetz aufgehoben werden. Heute versucht man überwiegend, strafrechtliche Sanktionen rational zu begründen und sie als notwendige Waffe der Rechtsgemeinschaft gegen schwer zu behandelnde Rechtsbrecher wie Überzeugungstäter zu begreifen. Und als ein Symbol für das humanisierte Strafrecht müssen wir die Todesstrafe abschaffen. Die Behandlungsidee oder der Behandlungsvollzug ist keineswegs unangefochten. Schaut man sich die Kritik der Behandlungsidee näher an, so bleiben zwei Haupteinwände, nämlich erstens Gefahren für die Gefangenen und auch für ein rechtsstaatliches Verfahren durch die ausufernde Anwendung der Sicherungsverwahrung in der Praxis; zweitens Wirkungslosigkeit, ja Sinnlosigkeit jeglicher Behandlung im Vollzug, besonders im Hinblick auf die hohe Rückfallquote. Sicher müssen diese „Gefahren“ für den Gefangenen zunächst beseitigt werden, wenn man den Behandlungsgedanken in der Vollzugspraxis noch weiter entwickeln möchte. Aber für die zweite Kritik könnte man keinen überzeugenden Grund finden. Wenn man über die Evaluation der Vollzugspraxis diskutieren möchte, sollte man nicht nur die Rückfallquote, sondern auch das unterschiedliche, positive Sozialverhalten der Verurteilten nach der Entlassung berücksichtigen. Es ist jedoch auch klar, dass man unkritischen Behandlungsoptimismus und Behandlungseuphorie oder auch Illusionen und übertriebene Hoffnungen in die Möglichkeiten eines Behandlungsvollzugs aufgeben sollte. Eine konkrete kriminalpolitische Forderung in Japan ist die Einführung eines zweispurigen Sanktionensystems wie in Deutschland. Vielleicht wichtiger als dies ist die Verbesserung der Rechtsstellung des Opfers, d.h. das Vergeltungsbedürfnis des Opfers oder der Gesellschaft. Zudem müssen bei allen kriminalpolitischen Überlegungen die fundamentalen Grundprinzipien, z.B. das Schuldprinzip, berücksichtigt werden. Dazu zählen auch die humanistischen und behandlungsorientierten Ansätze sowie das ultima ratio-Prinzip. 29
Kreuzer FS Katoh, 2008, S. 82 ff.
Zur Funktion von Sorgfaltsnormen Urs Kindhäuser I. Vorbemerkung Sorgfaltsanforderungen spielen auf vielen Ebenen der Deliktskonstitution eine Rolle, und zwar immer dann, wenn die Zuschreibung von Verantwortung auf Fähigkeiten Bezug nimmt, z.B. bei der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums oder einer entschuldigenden Notstandslage. Im Folgenden soll exemplarisch die Bedeutung von Sorgfaltsregeln für die Fahrlässigkeit untersucht werden, und zwar in drei Schritten:1 (1) Zunächst sei allgemein auf das Verhältnis von Norm und Zurechnung bei der Konstitution einer Straftat eingegangen. (2) Sodann sei das Verhältnis von Verhaltensnorm und Sorgfaltsanforderung bei Fahrlässigkeit näher betrachtet. (3) Schließlich sei noch ein Blick auf die Begründung von Sorgfaltsanforderungen geworfen.
II. Zur dogmatischen Konstitution der Straftat 1. Unter einer Straftat ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit für ein bestimmtes verbotenes Verhalten zu verstehen. Demnach wird eine Straftat mit Hilfe zweier Regelsysteme konstituiert: zum einen mit Regeln, welche die Bedingungen nennen, unter denen ein Verhalten als verboten anzusehen ist, und zum anderen mit Regeln, welche die Bedingungen nennen, unter denen die Verantwortlichkeit für dieses verbotene Verhalten zugeschrieben wird.2 Regeln, mit denen ein Verhalten als verboten oder erlaubt beurteilt wird, haben sprachlogisch einen präskriptiven Charakter und können als Verhaltensnormen bezeichnet werden. In diesem Sinne lassen sich die Deliktstatbestände des Besonderen Teils als Normen interpretieren, die an jedermann
1 Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich – in der gebotenen Kürze – auf normtheoretische Elementarfragen. Zu den hier nicht angesprochenen „Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts“ eingehend Schünemann GS Meurer, 2002, S. 37 ff. 2 Zur Unterscheidung von Zurechnungsregeln und Normen Hruschka Rechtstheorie 22 (1991), 449 ff.
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gerichtet sind und das jeweilige verbotene Verhalten samt Folgen (kontradiktorisch) formulieren. So ist etwa dem Tatbestand des Totschlags das Verbot zu entnehmen, einen anderen Menschen zu töten. Indessen benennen die strafrechtlichen Verhaltensnormen lediglich das Gesollte, sagen jedoch nicht, in welchem Maße ihr Adressat an sie gebunden ist, d.h. in welchem Maße er seine Fähigkeiten zu normgemäßem Verhalten einsetzen muss. So sagt etwa das Tötungsverbot nicht, was der Adressat der Norm wissen und zu was er physisch sowie psychisch fähig sein muss, um den Tod eines anderen Menschen zu vermeiden. Die Antwort auf diese Frage geben vielmehr die strafrechtlichen Zurechnungsregeln. Während die Verhaltensnormen den Schutz von Rechtsgütern vor Verletzung oder Gefährdung bezwecken, sind die Zurechnungsregeln am Zweck der Strafe auszurichten. Denn sie konstituieren die Schuld des Täters, auf die sich die Strafe bezieht. Zweck der Strafe ist wiederum – nach Maßgabe der heute vorherrschenden positiven Generalprävention – die Durchsetzung der faktischen Geltung der strafrechtlichen Verhaltensnormen. Eine Norm gilt faktisch, wenn sie in hinreichendem Maße befolgt wird, um als Orientierungsmuster in der sozialen Interaktion zu dienen. Strafe ist demnach zu verhängen, wenn ein Adressat der Norm durch sein Verhalten ausdrückt, dass er eben diese Norm nicht befolgen will, dass sie also für ihn unverbindlich ist. Durch die Bestrafung wird dann verdeutlicht, dass die Rechtsordnung diesen Normwiderspruch nicht hinnimmt und dass weiterhin auf die handlungswirksame Anerkennung von Verhaltensnormen vertraut werden kann.3 Voraussetzung für die Befolgung einer Norm ist die Fähigkeit des Adressaten, das Gesollte als von ihm Gewolltes in die Tat umzusetzen. Zunächst muss der Adressat physisch und intellektuell in der Lage sein, das Gesollte zu realisieren. Er muss also beim Tötungsverbot physisch ein Verhalten vermeiden können, von dem er annimmt, dass es (wahrscheinlich) den Tod eines Menschen verursacht. Des Weiteren muss er das Gesollte erkennen und zum dominanten Motiv seines Handelns machen können. Er muss demnach wissen, dass es verboten – und nicht etwa durch einen Rechtfertigungsgrund erlaubt – ist, den Tod eines Menschen zu verursachen. Und er muss in der Lage sein, das normgemäße Motiv zu bilden und sein Verhalten durch normgemäße Motivation zu steuern. Man kann die Fähigkeit, intellektuell und physisch ein Ziel zu realisieren, Handlungsfähigkeit nennen und die Fähigkeit, eine Intention um der Normbefolgung willen zu bilden und zu realisieren, als Motivationsfähigkeit bezeichnen. Bezogen auf diese beiden Fähigkeiten wird strafrechtliche Ver3 Dieser kurze Hinweis – vgl. auch Kindhäuser Strafrecht AT, 6. Aufl. 2013, S. 38 f., 48 f. – mag hier genügen, da das hoch umstrittene Feld der Strafzwecklehre nicht betreten werden soll und sich abweichende Positionen auf den Inhalt der Zurechnungsregeln kaum auswirken dürften.
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antwortung zugeschrieben. Die Bindung eines Adressaten an eine Verhaltensnorm nach Maßgabe seiner Handlungsfähigkeit kann man Pflicht4 und die Bindung an die Pflicht nach Maßgabe seiner Motivationsfähigkeit Schuldfähigkeit nennen. Diesen beiden Zurechnungsschritten entspricht im tradierten Deliktsaufbau die Unterscheidung von Unrecht und Schuld.5 2. Die in unserem Kontext relevante Bindung eines Normadressaten an die Norm nach Maßgabe seiner Handlungsfähigkeit lässt sich mit Hilfe eines praktischen Syllogismus6 veranschaulichen. Dieser Schluss ist formal dem logischen Schluss-Schema7 nachgebildet. Er nennt in der Oberprämisse das Ziel einer Person, also ihr intentionales Objekt. Die Unterprämisse formuliert die einschlägigen Kenntnisse der Person zur Erreichung ihres Ziels durch eine Handlung. Und in der Konklusion wird die Handlung bezeichnet, welche die Person nach ihrem Kenntnisstand zur Erreichung ihres Zieles ausführen oder unterlassen muss. Der Schluss hat also folgende allgemeine Form: Oberprämisse: Eine Person P will x erreichen. Unterprämisse: P nimmt an, dass sie x nur erreichen kann, wenn sie y tut. Konklusion: Also muss P y tun. Die Konklusion ist bei diesem Schluss nicht begrifflich bedingt, sondern bezieht sich auf die intellektuellen und voluntativen Elemente von Handlungen.8 Sie ergibt sich aus der Verknüpfung von Zweck und Mittel und impliziert daher eine praktische Notwendigkeit. Es ist evident, dass eine Person, die x erreichen will, und weiß, dass sie hierzu y tun muss und kann, sich widersprüchlich und unverständlich verhält, wenn sie y ceteris paribus nicht tut. 3. Für einen rechtstreuen Bürger, der gewillt ist, strafrechtliche Normen zu befolgen, hätte der praktische Schluss folgenden Inhalt: Oberprämisse: A will den Tatbestand x nicht durch sein Tun verwirklichen. Unterprämisse: A weiß, dass er (wahrscheinlich) x verwirklicht, wenn er y tut. Konklusion: Also muss A es unterlassen, y zu tun.
4 Insoweit sind Normen Verpflichtungsgründe für Handlungen, grundlegend Raz Praktische Gründe und Normen, 2006, S. 33 und passim. 5 Diese Differenzierung ist keineswegs bloß didaktisch sinnvoll, sondern ist in der Logik der Zurechnungsschritte begründet. 6 Von Wright Handlung, Norm und Intention, 1977, S. 42 ff. 7 Hierzu Essler Einführung in die Logik, 2. Aufl. 1969, S. 41 ff. 8 Nach Kant Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe Band VI, B 44–45, handelt es sich bei einem solchen Schluss um ein analytisches Prinzip des Willens. Eine analytische Interpretation des Schlusses verlangt jedoch eine sehr enge Definition von Wollen.
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Wenn eine Person nun y tut, obwohl sie laut Unterprämisse weiß, dass sie, wenn sie y tut, x (wahrscheinlich) verwirklicht, dann ist das Vermeiden von x nicht das von ihr Gewollte. Sie erkennt mit anderen Worten das von der Norm Gesollte nicht als verbindlichen Grund ihres Handelns an und widerspricht damit ihrer sich aus der Norm ergebenden Pflicht. Das in der Unterprämisse genannte Wissen berechtigt dazu, das Verhalten des Täters als Pflichtverletzung anzusehen. Denn dieses Wissen hätte den Täter befähigt, die Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden. Es erscheint sachgerecht, genau dieses in der Unterprämisse genannte Wissen als Vorsatz zu bezeichnen. Das tatsächliche Wollen des Täters spielt dagegen keine Rolle. Denn was immer der Täter mit seinem Verhalten erreichen wollte, es war jedenfalls nicht die gesollte Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung. Warum der Täter die Tatbestandsverwirklichung nicht vermeiden wollte, obwohl er doch das hierzu erforderliche Wissen hatte, um die entsprechende Intention zu bilden und zu realisieren, ist dagegen eine Frage der Schuld. Vielleicht konnte der Täter den Willen zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung nicht bilden, weil er geisteskrank war oder weil er sich in einer Notstandslage befand. Handlungsfähig zur Befolgung der Norm war er jedoch; und dies ist für die Begründung von Unrecht ausreichend.9 4. Der praktische Syllogismus in der geschilderten Form lässt sich also unschwer zur Verdeutlichung und Präzisierung der Vorsatzzurechnung heranziehen. Beim Vorsatz wird dem Täter die Verwirklichung eines Verbotstatbestands als Pflichtverletzung zugerechnet, weil er die Tatbestandsverwirklichung hätte vermeiden können, wenn er dies nur gewollt hätte. Damit bringt der Vorsatztäter zum Ausdruck, dass er die Norm nicht befolgen will, dass die Norm also kein verbindlicher Grund seines Handelns ist. Hierbei muss der Täter die Verwirklichung eines Tatbestands als Folge seines Verhaltens für so wahrscheinlich halten, dass er dieses Verhalten als rechtstreuer und rational entscheidender Bürger unbedingt vermeiden müsste.10 Er muss 9 Beiläufig sei erwähnt, dass hier das bereits von der Imperativentheorie (vgl. Hold von Ferneck Die Rechtswidrigkeit, Erster Band, 1903, S. 98 ff.) diskutierte Problem auftritt, wie bei Schuldunfähigen oder sich im Verbotsirrtum Befindlichen eine Pflichtverletzung begründet werden kann: Vermeidbarkeit setzt eine dominant normgemäße Motivation voraus. Die gängige Differenzierung von Unrecht und Schuld ermöglicht jedoch unschwer eine Lösung: auf der Ebene des Unrechts ist festzustellen, ob der Täter das erforderliche Wissen (und physische Können) aufwies, um die Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden – falls er dies gewollt hätte. In der Schuld ist zu fragen, ob es Gründe gibt, warum er die entsprechende Intention nicht bilden konnte bzw. nicht zu bilden brauchte (Entschuldigung). Die dominante Motivation wird also im Unrecht unterstellt und in der Schuld nur negativ geprüft. Formal wird Schuld im Strafrecht hypostasiert; ihr positiver Nachweis ist keine rechtliche Frage, hierzu auch Kindhäuser GA 1990, 407, 415 ff. 10 Näher Puppe Vorsatz und Zurechnung, 1992, 35 ff. m.w.N.; vgl. auch Pérez-Barberá GA 2013, 454, 467 ff.
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mit anderen Worten davon ausgehen, dass das fragliche Verhalten unter den gegebenen Umständen die konkrete Gefahr einer Tatbestandsverwirklichung begründen würde.11
III. Verhaltensnorm und Sorgfaltsanforderung 1. Irrt sich eine Person über das mit ihrem Verhalten verbundene konkrete Risiko einer Tatbestandsverwirklichung oder erkennt sie dies erst zu einem Zeitpunkt, zu dem sie keine Verhaltensalternative mehr ergreifen kann, so kann ihr Verhalten (zunächst) nicht als Pflichtverletzung angesehen werden. Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet: impossibilium nulla est obligatio.12 Von dem Grundsatz, dass fehlendes Wissen entlastet, macht das Strafrecht jedoch Ausnahmen.13 Es schneidet einer Person die Berufung auf ihre aktuelle Unfähigkeit zu normgemäßem Handeln ab, wenn diese Unfähigkeit ihrerseits vermeidbar gewesen wäre, und zwar dann, wenn die Person in dem von ihr zu erwartenden Maße für ihre Fähigkeit zur Normbefolgung Sorge getragen hätte. In diesem Falle wird also das faktische Zurechnungskriterium des aktuellen Wissens um die Vermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung durch ein normatives Kriterium ersetzt. Da diese Form der Zurechnung durch ein normatives Surrogat zu Lasten der betreffenden Person geht, muss es in einer von ihr zu vertretenden Enttäuschung des in ihre Rechtstreue gesetzten Vertrauens bestehen. Die aktuelle Unfähigkeit zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung muss also ihrerseits Ausdruck eines strafwürdigen Normwiderspruchs sein. Dies ist – auf der Ebene des Tatbestands – die Situation der Fahrlässigkeit. Noch in den Entwürfen zur Reform des deutschen Strafgesetzbuchs14 Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Fahrlässigkeit bestimmt als Außerachtlassung der den Umständen nach vom Täter zu erwartenden Sorgfalt, die zu mangelnder Voraussicht der Tatbestandsverwirklichung oder einem unbegründeten Vertrauen auf deren Ausbleiben führt.15 Ähnlich hatte bereits das Reichsgericht in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1884 das Wesen
11 Ob diese Prognose dagegen objektiv zutreffend ist, spielt keine Rolle. Grundlage der Vorsatzzurechnung ist ausschließlich das in der konkreten Tatsituation aktuell reflektierte Wissen des Täters. 12 Celsus D. 50.17.185. 13 Vgl. auch §§ 17 und 35 StGB. Die Vermeidbarkeit ändert ja nichts daran, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung kein Unrechtsbewusstsein hatte bzw. sich in einer Notstandssituation wähnte. 14 Ebenso § 18 I des Entwurfs von 1962. 15 Ähnlich § 6 I österreichisches StGB; vgl auch § 18 III schweizerisches StGB von 1937.
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der Fahrlässigkeit „in einem verschuldeten Irrtum über die Kausalität der Handlung“ gesehen.16 In der heutigen Dogmatik sind jedoch Ansätze verbreitet, die von diesem Ausgangspunkt erheblich abzuweichen scheinen. So wird etwa die Fahrlässigkeitszurechnung als (Unter-)Fall der objektiven Zurechnung interpretiert 17 und sogar die These aufgestellt, Vorsatz- und Fahrlässigkeitszurechnung implizierten gleichermaßen einen Sorgfaltspflichtverstoß.18 2. Der Grund für diese Differenzen im Verständnis der Fahrlässigkeit liegt m.E. jedoch in einer terminologischen Auswechslung des Gegenstandes der Sorgfalt, nicht in einer Abkehr von den grundlegenden Kriterien der Fahrlässigkeitszurechnung. Aus diesem Grunde erscheint es hilfreich, die verwendete Terminologie an einem möglichst einfachen Beispielsfall zu erläutern: Im Rahmen von Renovierungsarbeiten streicht A, auf einem Gerüst stehend, eine Hauswand. Er stößt mit dem Fuß gegen einen Farbeimer, der herunterfällt und den Passanten P an der Schulter verletzt. Als (strafrechtlich relevanter) Erfolg kommt in diesem Beispiel nur die Verletzung des P in Betracht. Dieser Erfolgseintritt kann durch das heftige Auftreffen des Eimers auf die Schulter ceteris paribus kausal erklärt werden. Da das Herabfallen des Eimers wiederum ceteris paribus durch die Körperbewegung des A bedingt wurde, lässt sich sagen, dass A dadurch, dass er gegen den Eimer stieß, die Verletzung des P herbeigeführt hat. Objektiv sind dies die in § 223 (bzw. § 230) StGB genannten Voraussetzungen tatbestandsmäßigen Verhaltens. Versteht man ferner unter einem Risiko einen Komplex von Bedingungen, der ceteris paribus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen Erfolg verursachen kann, so kann der Tritt gegen den Farbeimer unter den gegebenen Bedingungen auch als riskant bezüglich einer Körperverletzung angesehen werden. Da sich der konkrete Verletzungserfolg wiederum nur unter Berücksichtigung des herabgestoßenen Farbeimers erklären lässt, hat sich – im Sinne der Lehre von der objektiven Zurechnung – das von A geschaffene Risiko in der Verletzung des P realisiert. Von den Kriterien der Zurechnung der Körperverletzung zu Vorsatz und Fahrlässigkeit ist dagegen der Tritt gegen den Farbeimer unabhängig; er kommt nur als Gegenstand der subjektiven Zurechnung in Betracht.19 16 RGSt 9, 422, 424; vgl. auch RGSt 56, 343, 349 f.; 61, 318, 320; 67, 12, 18; Frank, Das Strafrecht für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, § 59 Anm. VIII 4; Mezger Strafrecht, 3. Aufl. 1949, § 46 III. 17 Neuerer Überblick bei Dehne-Niemann GA 2012, 89 ff. 18 Beispielhaft Nomos Kommentar StGB/Puppe, 4. Aufl. 2013, Vor § 13 Rn. 154 f. 19 Zur Bedeutung des Erfolgs für das Unrecht Schünemann JA 1975, 511 f.; ders. NStZ 1982, 60 ff., auch zu den sonstigen, der subjektiven Zurechnung vorgelagerten Kriterien der objektiven Unrechtskonstitution, etwa eigenverantwortliche Selbstgefährdung und Schutzzweckzusammenhang.
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Es erscheint auch wenig sinnvoll, den Tritt gegen den Farbeimer als Sorgfaltspflichtverletzung zu bezeichnen. Bestünde die von A erwartete Sorgfalt darin, nicht gegen den Farbeimer zu stoßen, dann wäre die hier relevante Sorgfaltsnorm lediglich eine funktionslose Paraphrase der Verhaltensnorm, die es untersagt, durch den Tritt gegen den Eimer eine Verletzung des P zu verursachen. In der mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmenden Terminologie des Zivilrechts wird dagegen Fahrlässigkeit als Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 BGB) definiert, also als ein Unterlassen. Der (aktive) Tritt gegen den Eimer kann aber schwerlich als Unterlassen einer Sorgfaltsanforderung verstanden werden. Sorgfalt ist eine Art und Weise sich zu verhalten, nämlich mit Bedacht, und wer unsorgfältig handelt, erbringt diese Leistung nicht. Der Vorwurf mangelnder Sorgfalt bezieht sich darauf, dass der Handelnde sein Ziel entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht korrekt erreicht hat, weil er Maßnahmen, die ihn befähigt hätten, das Ziel im erwünschten Maße zu erreichen, unterlassen hat. Das Ziel kann hierbei entweder im Herbeiführen eines erwünschten oder in der Nichtvermeidung eines unerwünschten Ereignisses liegen. Ist das Resultat erwünscht, so bedeutet die Charakterisierung des Verhaltens als unsorgfältig, dass der Handelnde in einer Art und Weise vorgegangen ist, die das Gelingen beeinträchtigt oder gar vereitelt. Wer ein kostbare Flüssigkeit unsorgfältig ausleert, wird mit dem Verweis auf die mangelnde Sorgfalt nicht getadelt, weil er die Flüssigkeit ausleert – das darf oder soll er sogar gerade tun –, sondern weil er sie nicht so – d.h. in der von ihm erwarteten Art und Weise – achtsam ausleert, dass er nichts verschüttet. Soll das Resultat dagegen nicht eintreten, so bedeutet der Vorwurf mangelnder Sorgfalt, dass der Handelnde nicht in der von ihm erwarteten Art und Weise Vorsicht walten ließ, um zu verhindern, dass er das fragliche Resultat bedingt. Wer eine kostbare Flüssigkeit aufgrund mangelnder Sorgfalt ausleert, sollte oder durfte die Flüssigkeit nicht ausleeren und wird für deren Verlust verantwortlich gemacht, weil er nicht achtsam genug war, das Verschütten zu verhindern. In beiden Bedeutungsvarianten bezieht sich die mangelnde Sorgfalt immer auf ein Defizit, auf ein unterlassenes Bemühen, auf etwas, das außer Acht gelassen wurde. Gewöhnlich wird dies dadurch verdeutlicht, dass man das Verfehlen des erwünschten Zieles oder das Nichtvermeiden des unerwünschten Resultats mit dem Ausdruck „aufgrund“ oder einer bedeutungsgleichen Formel auf mangelndes Bemühen zurückführt. 3. Auf das Strafrecht bezogen: Wird die Verursachung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs als Sorgfaltswidrigkeit charakterisiert, so wird das zu vermeidende Verhalten mit dem mangelnden Bemühen um seine Vermeidung konfundiert. Mit Blick auf den Ausgangsfall macht es aber einen erheblichen Unterschied, ob man sagt, A habe den P durch einen unsorgfältigen Tritt
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gegen den Farbeimer verletzt, oder ob man sagt, A habe den P aufgrund mangelnder Sorgfalt durch einen Tritt gegen den Farbeimer verletzt. Im ersten Fall bedeutet der Vorwurf mangelnder Sorgfalt, dass A hätte treten sollen, aber den Tritt nicht mit der nötigen Sorgfalt vollzogen hat; im zweiten Fall bedeutet der Vorwurf mangelnder Sorgfalt, dass A den Tritt bei Aufbietung der nötigen Sorgfalt hätte vermeiden können. Ersichtlich kann hier mit der mangelnden Sorgfalt nur eine unterlassene Maßnahme zur Vermeidung des Tritts gegen den Farbeimer gemeint sein. Demnach muss der Tritt des A gegen den Eimer – man mag dies als Schaffen eines tatbestandsmäßigen Risikos bezeichnen – die Ursache für die Verletzung des P sein, die gleichermaßen Gegenstand der Zurechnung zu Vorsatz und Fahrlässigkeit sein kann. Von einer vorsätzlichen Tatbegehung wäre im Beispielsfall zu sprechen, wenn A aktuell vermeidefähig gewesen wäre, er also bewusst gegen den Eimer getreten hätte, obgleich er gesehen hätte, dass er hierdurch wahrscheinlich den (ihm verhassten) Passanten P verletzt. Hat A jedoch nicht bedacht, dass er durch die Bewegung seines Beines den Farbeimer herunterstoßen und den P verletzen konnte, so hat er auch nicht gesehen, dass er sein Bein nicht in der fraglichen Art bewegen durfte, um eine Verletzung des P durch das Herabstoßen des Eimers zu vermeiden. Auf sein fehlendes und ihn insoweit grundsätzlich entlastendes Wissen kann sich A jedoch nicht berufen, weil er dieses Defizit aufgrund mangelnder Sorgfalt zu vertreten hat. Wer sich in einem Risikobereich bewegt, von dem wird erwartet, dass er sorgfältig Maßnahmen zur Abschirmung des Risikos ergreift, also: bewegliche Gegenstände auf dem Gerüst befestigt oder sich höchst umsichtig bewegt usw. Wer Maßnahmen dieser Art nicht ergreift, verursacht dadurch noch keinen Erfolg. Denn A verletzt allein dadurch, dass er sich unsorgfältig verhält, noch niemanden. Ziel der Sorgfalt ist allein, sich in die Lage zu setzen, die Verursachung der Körperverletzung zu vermeiden. Hätte A dieses Ziel erreicht, so steht noch seine Entscheidung aus, die Norm tatsächlich auch zu befolgen. Angenommen, A hätte sich aufmerksam auf dem Gerüst bewegt und erkannt, dass er durch einen Tritt gegen den Farbeimer den P verletzen kann, so wäre es auch möglich, dass er – statt eine solche Bewegung zu vermeiden – nunmehr bewusst gegen den Eimer tritt, um den (ihm verhassten) P zu verletzen. Freilich kann P seinerseits nicht die Kausalität seines tatsächlichen Tritts gegen den Eimer mit dem Argument verneinen, dass er den P auch im Falle der erforderlichen Sorgfalt – dann nämlich bewusst – verletzt hätte. Denn die strafrechtliche Zurechnung erfolgt im Rahmen einer normativ geordneten Welt, in der nur rechtmäßiges, nicht aber rechtswidriges Alternativverhalten Verantwortung auszuschließen vermag.20
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Hierzu knapp Kindhäuser GA 2012, 134, 146 f.
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4. Dass bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen sind, damit andere Handlungen ausgeführt oder unterlassen werden können, ist eine Selbstverständlichkeit alltäglicher Lebensgestaltung. Die Distanz zum Ziel kann mehr oder weniger groß sein und mehr oder weniger viele Zwischenhandlungen erfordern. Ein einfaches Beispiel: A will ein Bild aufhängen. Hierzu muss er einen Nagel in die Wand schlagen. Um einen Nagel in die Wand schlagen zu können, muss er einen Nagel und einen Hammer holen usw. Jede dieser Handlungen dient dazu, den A in die Lage zu setzen, eine hiervon kausal unabhängige andere Handlung zu vollziehen. Insoweit kann jede dieser Handlungen als Hilfshandlung für die nachfolgenden Handlungen angesehen werden. Die Handlung dagegen, die das gewünschte Endergebnis bedingt – hier: das Aufhängen des Bildes – kann relativ zu diesen Hilfshandlungen als Haupthandlung bezeichnet werden. Auch der Zusammenhang zwischen Haupt- und Hilfshandlung und zwischen den einzelnen Hilfshandlungen lässt sich mit Hilfe des praktischen Syllogismus verdeutlichen.21 Für den Beispielsfall besagt dies etwa: Oberprämisse: Eine Person P will v tun. Unterprämisse: P nimmt an, dass sie v nur ausführen kann, wenn sie w tut. Konklusion: Also muss P w tun. Die Konklusion benennt wieder eine Handlung, deren Ausführung relativ zu P’s Kenntnisstand in der Unterprämisse praktisch notwendig ist, um die in der Oberprämisse genannte Handlungsintention realisieren zu können. Um den praktischen Syllogismus, der zwei durch praktische Notwendigkeit miteinander verbundene Handlungen zum Gegenstand hat, für die strafrechtliche Dogmatik fruchtbar zu machen – z.B. in der Beteiligungslehre, beim Versuch oder (im hiesigen Kontext) bei der Fahrlässigkeit –, bedarf es jedoch noch weiterer Differenzierungen. Vor allem sei in Bezug auf die Formen möglicher Hilfshandlungen folgende Unterscheidung getroffen: – Eine Hilfshandlung, die eine Person ausführt oder unterlässt, um ein normwidriges Tun oder Unterlassen (Haupthandlung) realisieren zu können, sei Vorbereitungshandlung genannt. – Eine Hilfshandlung, die eine Person ausführt oder unterlässt, um ein normgemäßes Tun oder Unterlassen (Haupthandlung) realisieren zu können, sei Vorsorgehandlung genannt. Die Ausdrücke der Vorsorge und Vorbereitung seien als Termini technici allein mit Blick auf normgemäße bzw. normwidrige Haupthandlungen eingeführt, um hier relevante Missverständnisse zu vermeiden. Beispiele: Wenn A 21 Von Wright (Fn. 6), S. 56 f.; vgl. auch Kindhäuser Gefährdung als Straftat, 1989, S. 62 ff.; Toepel Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 34 ff; Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 74 ff. – jew. m.w.N.
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sich eine Pistole beschafft, um damit den B zu erschießen, dann ist das Beschaffen der Pistole eine Vorbereitungshandlung zu der normwidrigen Tötung des B. Wenn dagegen A bei starkem Nebel mit seinem Auto nur Schritttempo fährt, um rechtzeitig bremsen zu können, falls ein Fußgänger die Fahrbahn betritt, dann ist dies eine Vorsorgehandlung zur normgemäßen Vermeidung einer Körperverletzung. Die sich aus diesen Vorüberlegungen ergebende These bezüglich der Fahrlässigkeit liegt nun auf der Hand: Sorgfaltsanforderungen sind Vorsorgehandlungen, die eine rechtstreue und rational entscheidende Person ergreifen muss, um hinreichend in der Lage zu sein, eine Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden. 5. Treffen diese Überlegungen zu, so ergibt sich daraus, dass die Unterscheidung von Verhaltensnorm und Sorgfaltsanforderung von großer dogmatischer – und in der Konsequenz auch praktischer – Bedeutung ist. Die sich aus der Verhaltensnorm ergebende Pflicht hat die Vermeidung einer Tatbestandsverwirklichung zum Gegenstand. Beim Vorsatzdelikt verletzt der Täter diese Pflicht, weil er die (vorgestellte) Tatbestandsverwirklichung aufgrund seines gegebenen Wissens (und physischen Könnens) hätte vermeiden können. Beim Fahrlässigkeitsdelikt verletzt er die Pflicht, weil er bei Aufbietung der erwarteten Sorgfalt das zur Vermeidung erforderliche Wissen und (beim Unterlassen:) physische Können erlangen und die Tatbestandsverwirklichung hätte vermeiden können. Die Verhaltensnorm benennt das zu Vermeidende, die Sorgfaltsanforderungen sind der Inbegriff der erwarteten Bemühungen um die Vermeidung. Im Ausgangsfall sind die Pflicht, die Körperverletzung eines anderen Menschen zu vermeiden, und die Sorgfaltsanforderung, sich umsichtig auf dem Gerüst zu bewegen, jeweils Sollenssätze. Aber diese beiden Normen haben eine unterschiedliche Funktion bei der dogmatischen Konstitution der Straftat. Die Vermeidung des verletzenden Verhaltens (Tritt gegen Farbeimer) ist die sich aus dem Verbot der Körperverletzung ergebende Pflicht, also eine gesollte Haupthandlung. Sich unvorsichtig auf einem Gerüst zu bewegen, ist dagegen als solches kein verbotenes Verhalten, sondern das Unterlassen der Vorsorgehandlung, sich so zu bewegen, dass ein verletzendes Verhalten vermieden werden kann. Die mangelnde Vorsicht, auf riskante Bewegungen zu achten, wird erst dann strafrechtlich relevant, wenn A erstens durch sein Verhalten eine Verletzung verursacht hat und ihn zweitens das Aufbieten der erwarteten Aufmerksamkeit dazu befähigt hätte, das Setzen der Verletzungsursache zu vermeiden, also das Verbot der Körperverletzung zu befolgen. Zwischen der pflichtgemäßen Vermeidung eines verbotenen Verhaltens und dem sorgfaltsgemäßen Bemühen um die Fähigkeit zur pflichtgemäßen Vermeidung eines verbotenen Verhaltens ist daher genau zu differenzieren.
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Das Verbot der Körperverletzung, die strafrechtliche Verhaltensnorm, ist ein kategorischer Imperativ; er muss ohne Bedingung befolgt werden. Die Sorgfaltsanforderung ist dagegen ein hypothetischer Imperativ; sie muss nur unter der Bedingung befolgt werden, dass jemand in der Lage sein will, einen kategorischen Imperativ zu befolgen. Dieser hypothetische Imperativ der Sorgfaltsanforderung hat allein die Konsequenz, dass seine Nichtbefolgung zurechnungsbegründend wirken kann, während seine Befolgung zum Zurechnungsausschluss führt.22 Um im Beispiel zu bleiben: Wenn sich A auf dem Gerüst bewegt, ohne hierbei gegen den Farbeimer zu treten und jemanden dadurch zu verletzen, ist es völlig unerheblich, ob sich A höchst vorsichtig oder grob sorgfaltswidrig auf dem Gerüst verhalten hat. Das vorsichtige Bewegen auf dem Gerüst ist eben kein kategorischer Imperativ; man muss es nicht als solches – um seiner selbst willen – tun. Tritt aber A gegen den Farbeimer und verletzt dadurch P, so ist die Bedingung erfüllt, unter der die Sorgfaltsanforderung ihre Wirkung entfaltet. Hätte A bei Einhaltung der erwarteten Aufmerksamkeit den Tritt vermeiden können, so kann er sich wegen der von ihm zu vertretenden Außerachtlassung der erwarteten Sorgfalt nicht auf seine mangelnde Kenntnis der Konsequenzen seiner zur Verletzung führenden Körperverletzung berufen. Die Verletzung der Sorgfaltsanforderungen ist dann das normative Surrogat mangelnder Kenntnis.
IV. Zur Begründung von Sorgfaltsanforderungen 1. Soweit eine Verhaltensnorm in Lebensbereichen zu befolgen ist, in denen ein potenzielles Risiko von einem Einzelnen allein ausgehen kann, sind die Sorgfaltsanforderungen im Prinzip auf eine möglichst sichere Abschirmung der einschlägigen Risiken gerichtet. Exemplarisch: Wer sich, wie im Ausgangsfall, auf einem Gerüst bewegt, muss umfassend dafür Sorge tragen, dass er nicht (versehentlich) einen Gegenstand herabstößt. Er kann gegebenenfalls aus einem Bündel von Vorsichtsmaßnahmen die für ihn günstigste auswählen, sofern nur die erforderliche Effizienz gewährleistet ist. Risiken, die in solchen Lebensbereichen nicht völlig beherrscht werden können, dürfen erst gar nicht eingegangen werden. Die mangelnde Sorgfalt liegt hier schon in der Fehleinschätzung, sich überhaupt in diesen Risikobereich begeben zu können. 22 Verhaltensweisen, die erfahrungsgemäß die Vermeidbarkeit von Rechtsgutsverletzungen einschränken, kann der Gesetzgeber verselbständigt kategorisch untersagen. Beispielhaft hierfür ist die Trunkenheit im Straßenverkehr (§ 316 StGB). Solche in selbständige Straftaten transformierten Sorgfaltswidrigkeiten sind dann abstrakte Gefährdungsdelikte, können aber weiter als Sorgfaltsnormen bei der Fahrlässigkeitszurechnung dienen, z.B. bei einer fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr.
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In Bereichen dagegen, in denen Risiken erst durch soziale Interaktion entstehen oder in denen die Interaktionen selbst riskant sind, hat der Einzelne gar nicht die Möglichkeit, von ihm ausgehende Bedingungen der relevanten Risikokomplexe völlig abzusichern; paradigmatisch hierfür ist der motorisierte Straßenverkehr. In solchen Bereichen müssen die Risiken durch normative Verhaltensregeln reduziert werden, auf deren allgemeine Einhaltung sich die Teilnehmer der Interaktion verlassen können müssen.23 Dieses wechselseitige Vertrauen substituiert wechselseitig fehlendes Wissen. So weiß der Kraftfahrer A im Normalfall zwar nicht, ob der an der für ihn roten Ampel stehende Fußgänger die Fahrbahn betritt oder nicht; er darf aber in seiner Einschätzung der mit seinem Fahrverhalten verbundenen Risiken davon ausgehen, dass der Fußgänger F erst bei Grün die Straße überquert. Wenn F gleichwohl die Straße bei Rot betritt und von A erfasst wird, dann kann diesem nicht vorgeworfen werden, er habe, um das Risiko einer Verletzung des F zu vermeiden, in gebührender Weise die Möglichkeit einkalkulieren müssen, dass F die Fahrbahn betritt und deshalb im Schritttempo fahren müssen. Zum anderen darf aber auch A damit rechnen, dass F davon ausgeht, A werde annehmen, dass er (F) bei Rot stehen bleibt, und deshalb nicht im Schritttempo fährt, um ihn (F) ggf. die Straße überqueren zu lassen. Diese wechselseitigen kontrafaktischen Erwartungen führen zu einem sog. erlaubten Risiko. Weil derjenige, der berechtigt auf korrektes Verhalten der Interaktionspartner vertrauen darf, trotz fehlenden Wissens nicht sorgfaltswidrig handelt, wenn er Risiken eingeht, sind hieraus resultierende Risikorealisierungen nicht als fahrlässige Schädigungen zurechenbar. Es wäre ein Selbstwiderspruch des Rechts, wenn es das Eingehen von Risiken bei beschränktem Wissenshorizont erlaubte und zugleich als haftungsbegründende Sorgfaltswidrigkeit einstufte. 3. Als letztes Problem stellt sich nun noch die Frage, ob der Sorgfaltsmaßstab des rechtstreuen und rational entscheidenden Bürgers auf eine fingierte Person oder auf den konkreten Täter anzuwenden ist. Hierzu ein Beispiel: Der Fahrer L eines LKW mit Anhänger überholt auf einer Landstraße den Fahrradfahrer R, der jedoch aufgrund seiner übermäßigen Alkoholisierung sein Rad nicht mehr kontrollieren kann und mit tödlicher Folge von dem Anhänger erfasst wird. Ob sich L nach § 222 StGB strafbar gemacht hat, hängt hier davon ab, ob ihm sein den Tod des R verursachendes Verhalten als Pflichtverletzung aufgrund mangelnder Sorgfalt zugerechnet werden kann. Die erforderliche Sorgfalt bezieht sich auf die der Situation angemessene Einschätzung des Risikos und die hiernach zu ergreifenden Maßnahmen zur
23 Zu maßgeblichen Kriterien der Interessenabwägung vgl. nur Schünemann JA 1975, 575 ff.
Zur Funktion von Sorgfaltsnormen
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Vermeidung der Verursachung eines tödlichen Unfalls: Neben der Berücksichtigung der Straßen- und Wetterverhältnisse kommt es beim Überholen eines Radfahrers entscheidend darauf an, welche Fahrzeugbeherrschung von dem Radfahrer beim Vorbeifahren eines LKW erwartet werden kann. Ergibt sich unter Beachtung der einschlägigen Gesichtspunkte, dass ein Sicherheitsabstand von 1,5 m ein wahrscheinlich gefahrloses Passieren ermöglicht, bewegt sich L, wenn er mindestens diesen Abstand einhält, im erlaubten Risiko. Verursacht er dennoch den Tod des R, so ist ihm das Nichtvermeiden dieses Erfolgs nicht aufgrund einer Sorgfaltswidrigkeit als Pflichtverletzung zurechenbar. In diesem Beispielsfall richtet sich also die Bestimmung der Sorgfaltsanforderungen wesentlich nach der Einschätzung der Fähigkeiten des Radfahrers. Da es sich hier um einen Interaktionsbereich handelt, bei dem die Abschirmung der relevanten Risiken auch vom wechselseitigen Vertrauen in die Einhaltung der normierten Fähigkeiten und Verhaltensmuster abhängt, kann die Unkenntnis über die tatsächliche Fahrzeugbeherrschung des konkreten Radfahrers R durch standardisierte Werte substituiert werden. In der Konsequenz tritt damit bei der Zurechnung das normativ ermittelte erlaubte Risiko an die Stelle des im Normalfall ex ante nicht korrekt zu prognostizierenden tatsächlichen Risikos. Für den Beispielsfall bedeutet dies, dass bei einer sorgfältigen Risikoprognose davon ausgegangen werden darf, dass R hinreichend nüchtern ist, um verkehrsüblich reagieren zu können. Nun gilt der Vertrauensgrundsatz nach gängiger Auffassung nicht, wenn der fragliche Interaktionspartner ersichtlich nicht den standardisierten Werten entspricht. Denn der Vertrauensgrundsatz soll der sachgerechten Abschirmung von Risiken dienen und nicht etwa das Schadensrisiko erhöhen. Erkennt im Beispielsfall L auf der Straße in R seinen Thekennachbarn wieder, der eine Viertelstunde vor ihm infolge hochgradiger Alkoholisierung schwankend das Lokal verlassen hatte, so kann nunmehr bei einer sorgfaltsgemäßen Risikoprognose nicht mehr auf die generell zu erwartende Nüchternheit des R abgestellt werden. Eine sorgfältige Risikoprognose muss jetzt die Trunkenheit des R berücksichtigen, was bedeutet, dass L – je nach Straßenverhältnissen – entweder einen erheblich größeren Sicherheitsabstand einhalten oder von einem Überholen zunächst ganz absehen muss. Individuelle Fahrlässigkeit in diesem Sinne darf nicht als Handeln nach eigenen Maßstäben missverstanden werden. Sowohl die Regeln der Zurechnung als auch die Regeln richtigen Verhaltens sind dem Normadressaten stets vorgegeben. Vorsatz ist nicht das, was der Täter für vorsätzlich hält, und Sorgfalt ist nicht das, was der Täter für Sorgfalt hält. Vorsatz wie Sorgfalt sind objektive, durch die juristische Terminologie intensional festgelegte Begriffe, deren Referenz in der Anwendung nur auf subjektive Daten kognitiver und psychischer Natur des Handelnden gerichtet ist. Ob jemand vorsätzlich handelt, hängt davon ab, ob er mit dem Wissen agiert, das definitionsgemäß als
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vorsätzlich bezeichnet werden kann, und ob jemand sorgfaltswidrig handelt, hängt davon ab, ob er sich in einer Weise verhält, die definitionsgemäß als Außerachtlassung der an sein Vorgehen zu stellenden Sorgfaltsanforderungen anzusehen ist. Der zur Ermittlung der je erforderlichen Sorgfalt relevante Maßstab ist stets auf einen rechtstreuen und gewissenhaften Normadressaten zu beziehen. Nur ist dieser Normadressat bei der am optimalen Rechtsgüterschutz orientierten Risikoprognose mit den Kenntnissen des konkreten Täters auszustatten. Der Vorwurf, der Täter habe – bei Aufbietung der von ihm erwarteten Sorgfalt – etwas Bestimmtes wissen können und müssen, trägt nur, wenn das tatsächlich vorhandene Wissen hinreichend Anlass gibt, das defizitäre Wissen zu erwerben oder ein Handeln ohne vorheriges Schließen der Wissenslücke zu unterlassen.24 Das vielleicht praktisch wichtigste Kompendium alltäglicher Sorgfalt, die Straßenverkehrsordnung, normiert denn auch in § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 den Grundsatz, der alle nachfolgenden plakativen Regeln nach Maßgabe der spezifischen Gefahrenkenntnisse des Verkehrsteilnehmers modifiziert: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
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Struensee GA 1987, 97, 99 ff.
Fünf Kapitel aus dem Buch über (Straf-)Recht und Moral Kristian Kühl I. Einleitung und Überblick Das in der Überschrift angesprochene „Buch“ über (Straf-)Recht und Moral kann man weder in einer Buchhandlung noch im Online-Versandhandel kaufen, weil es ein solches Buch nicht gibt. Man könnte sich aber ein Buch über (Straf-)Recht und Moral vorstellen, und zwar als ein „dickes“, in dem die beiden Regelsysteme und ihr Verhältnis zueinander dargestellt werden müssten. Man würde schnell auf Verbindendes und Trennendes stoßen. Dass es zwischen (Straf-)Recht und Moral Verbindendes gibt, liegt schon deshalb nahe, weil sowohl das (Straf-)Recht als auch die Moral das Verhalten der Menschen regeln wollen und dabei Allgemeinverbindlichkeit „anstreben“.1 Soweit es um die Regelung äußeren Verhaltens geht, treten beide Regelsysteme in Konkurrenz. Das kann zu Verbindendem führen, wenn sie dasselbe Verhalten verbieten oder gebieten. Stellen Sie unterschiedliche Verhaltensanforderungen auf, so ergibt sich Trennendes. Trennendes ergibt aber auch und erst recht, wenn man das (Straf-)Recht auf die Regelung des äußeren Verhaltens von Menschen beschränkt, denn dann wäre die innere Einstellung eines Menschen eine Domäne der Moral. Das Verhältnis von (Straf-)Recht und Moral verlangt schon bei der Beschreibung von Verbindendem und Trennendem einen ziemlichen Aufwand. Es verkompliziert sich aber dann noch, wenn man sieht, dass dieses Verhältnis kein statisches ist, sondern ständigen Verschiebungen unterliegt.2 Gibt es einen Trend zur Verrechtlichung, so büßt die Moral ein Stück ihres Terrains ein. Umgekehrt würde das (Straf-)Recht Terrain verlieren, wenn die Moral auf bestimmten Gebieten die (Meinungs-)Führerschaft beanspruchen könnte. Letzteres ist eher schwer vorstellbar, ersteres passiert immer öfter. Aber auch wenn die Verrechtlichung im Trend liegt,3 ist eine kritische Betrachtung der – 1 Zur Verallgemeinerung als Prinzip von Recht und Ethik vgl. Wimmer Art. Universalisierung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 2011, Sp. 199–204. 2 Dazu schon Kühl Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 280 und ders. in: FS Puppe, 2011, S. 653 ff. 3 Näher zum „Trend der Verrechtlichung“ Kühl FS Achenbach, 2011, S. 251 ff.
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jetzt – (straf-)rechtlichen Vorschriften mittels moralischer Kriterien weiterhin möglich. Das (Straf-)Recht bestimmt dann zwar, was gilt, muss aber seine Regeln gegen Kritik verteidigen. Wie etwa das Strafrecht mit Kritikern umgeht, hängt vor allem davon ab, wie die Kritik geübt wird. Man erinnere sich nur an die umstrittenen Reaktionen gegen Kritik in Form des sog. zivilen Ungehorsams.4 Dieser letzte Aspekt des Umgangs des Strafrechts mit Protestaktionen wird im Weiteren nicht mehr verfolgt. Damit ist dieser besondere Aspekt nicht der einzige, der hier nicht angesprochen oder gar vertieft wird. Der Katalog der Themen im Spannungsverhältnis von (Straf-)Recht und Moral ist so groß und vielfältig, dass er hier nicht annähernd abgearbeitet werden kann. Es ist deshalb eine Auswahl der zu behandelnden Aspekte bzw. Themen vorzunehmen, wenn man nicht alles, was man anspricht, nur antippen will. Anders müsste nur derjenige verfahren, der das oben als bisher nicht-existierend bezeichnete, umfassende Buch über (Straf-)Recht und Moral schreiben möchte. In einem solchen Buch müssten nicht nur eine kaum übersehbare Anzahl von Themen aufgegriffen werden, es müsste auch eine systematische Gliederung dieser Themen vorgenommen werden. Schon das Aufgreifen und Abarbeiten zahlreicher Themen macht viel Arbeit, vor der ein normaler Mensch – auch als Wissenschaftler – zurückschreckt. Richtig Angst bekommt er aber erst, wenn eine Systematisierung von ihm verlangt wird. Dieses Zurückschrecken und diese Angst vermeidet der Wissenschaftler, wenn er sich – wie hier – von vornherein auf fünf Kapitel zum Thema (Straf-)Recht und Moral beschränkt. Diese Beschränkung kann man als Mangel bezeichnen, sie ist aber ein unvermeidbarer Mangel, wenn man überhaupt etwas Brauchbares zu diesem Themenbereich produzieren will. Denn dieser Themenbereich verlangt von seinem Produzenten/Bearbeiter eine doppelte Kompetenz. Er muss sich nicht nur im (Straf-)Recht auskennen, er sollte auch die Moral oder – wissenschaftlich formuliert – die Ethik zumindest in ihren Prinzipien und Kriterien überblicken. Auch wenn Recht und Moral/Ethik – wie oben bereits gesagt – nahe beieinanderliegen, weil sie beide menschliches Verhalten beeinflussen wollen, sind sie doch in vielerlei Hinsicht weit voneinander entfernt. Für eine Person, die sich mit beiden Regelsystemen beschäftigen will, bedarf es also eines Spagats, wenn sie diesen Regelsystemen ihren richtigen Platz zuweisen will. Ohne weitere Begründung kann man wohl behaupten, dass das für einen Ethiker noch schwerer sein dürfte als für einen Rechtswissenschaftler, denn schon ein Strafrechtler kennt sich nicht im ganzen Rechtsbereich gut aus, wie sollte es da dem Ethiker gelingen. Eigenartigerweise wird
4
Dazu Kühl Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 8 Rn. 182 und § 9 Rn. 109–111a; Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 55 und § 22 Rn. 130–133.
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die Sache leichter, wenn man zu beiden Bereichen etwas abgehoben auf Distanz bleibt. Taucht man voll in die Einzelheiten von (Straf-)Recht und Moral ab, so geht man leicht unter. Es schadet also nichts, wenn man sich dem Generalthema von Recht und Moral von beiden Seiten aus nähert. Unter anderem auch deshalb hat sich der Autor nicht damit zufrieden gegeben, innerhalb seines Studiums der Rechtswissenschaft einen Schwerpunkt in der Rechtsphilosophie zu setzen. Denn Juristen betreiben ihre eigene Rechtsphilosophie – die sog. Juristen-Rechtsphilosophie.5 Diese nimmt in zahlreichen Lehrbüchern6 eine Dimension an, die man bei der von Philosophen betriebenen Rechtsphilosophie oder auch Rechtsethik nicht findet.7 Schon der Ausgangspunkt bei der Beschäftigung mit Recht und Moral/Ethik 8 ist ein anderer. Während Philosophen von Prinzipien zu konkreten Inhalten vorzustoßen versuchen, sucht der Rechtswissenschaftler in konkreten Fällen nach philosophisch-relevanten Aspekten. So geht auch der letztlich doch der Rechtswissenschaft verhaftete Autor hier vor. Nachdem sich nun der Autor seiner Kompetenz zur Bewältigung des stark eingeschränkten Themas ausreichend vergewissert hat, könnte es eigentlich losgehen. Es geht aber nicht gleich mit einzelnen Aspekten und Problemfeldern los. Davor soll – wie in der Überschrift von I. angekündigt – ein Überblick über die fünf ausgewählten Kapitel aus dem Buch über (Straf-) Recht und Moral gegeben werden. Damit soll der Übergang von der weitgehend abstrakten Einleitung zu den immer konkreter werdenden Einzelkapiteln abgemildert und zugleich eine Orientierung ermöglicht werden. Schon in diesem Überblick sollte aufscheinen, dass alle Kapitel trotz ihrer jeweiligen besonderen Problematik doch unter das gemeinsame Thema von (Straf-)Recht und Moral passen. Die einzelnen Kapitel werden unter II. behandelt. Dabei geht es zuerst (unter 1.) um das auch noch abstrakte Theorem von Legalität und Moralität, das trotz seines Bekanntheitsgrades oft in seiner Aussagekraft und Reichweite überschätzt wird. Unter 2. geht es konkret um die moralische und rechtliche Bewertung der Selbsttötung mit dem Folgeprobleme der Teil-
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Vgl. den gleichnamigen Titel des von Kühl 2007 herausgegebenen Sammelbandes. Rechtsphilosophische Lehrbücher, die von Rechtswissenschaftlern verfasst sind, gibt es zahlreiche, so etwa die schon legendäre Rechtsphilosophie von Gustav Radbruch, die heute jedem Interessierten als Studienausgabe zur Verfügung steht (hrsg. von Dreier/Paulson, 2. Aufl. 2003). Dann die „Rechtsphilosophien“ von Helmut Coing (5. Aufl. 1993), Arthur Kaufmann (2. Aufl. 1997), Kurt Seelmann (5. Aufl. 2010) und Reinhold Zippelius (6. Aufl. 2011); auf weitere Rechtsphilosophie-Lehrbücher kann hier nicht mehr hingewiesen werden. 7 Hier steht Matthias Kaufmann mit seiner Rechtsphilosophie von 1996 alleine da; immerhin gibt es noch eine Einführung von Detlef Horster, 2002. 8 So nennt von der Pfordten seine Rechtsphilosophie von 2001. 6
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nahme an der Selbsttötung. Es folgt unter 3. die Abgrenzung von Straftaten und sog. reinen Moralwidrigkeiten oder genauer: die Ausscheidung von Moralwidrigkeiten aus dem Bereich des legitimen Strafrechts. Unter 4. wird der Blick auf Verbindungen von (Straf-)Recht und Moral gelenkt, soweit sie vom (Straf-)Recht ausdrücklich hergestellt werden; so etwa, wenn auf einen Verstoß gegen die guten Sitten verwiesen wird, um die Rechtswidrigkeit einer Tat zu begründen. Schließlich geht es unter 5. um die strafrechtliche Sonderproblematik des Unterlassens. Während die sog. unechten Unterlassungsdelikte durch die gesetzliche Forderung einer rechtlichen Einstehenspflicht für den Rechtsbereich reklamiert werden, ist die Legitimation sog. echter Unterlassungsdelikte wie der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB als Straftaten umstritten.
II. Die fünf Kapitel im Einzelnen 1. Das Theorem von „Legalität und Moralität“ Wohl kaum ein Theorem aus dem Bereich von Recht und Moral ist so Vielen bekannt wie das von „Legalität und Moralität“.9 Der hohe Bekanntheitsgrad ist jedoch keine Gewähr für ein zutreffendes Verständnis von dessen Bedeutung. Ja, es ist sogar vielleicht ein Grund für viele Missverständnisse, denn Viele von den oben genannten Vielen kennen zwar das Theorem vom Namen her, haben sich aber um den genaueren Aussagegehalt nicht weiter gekümmert. Nicht Wenige kann man schon dadurch verunsichern, dass man sie – alternativ zu Legalität und Moralität – auf das Theorem von Legalität und Legitimität10 anspricht und dann auch noch von Rechtspositivismus und Naturrecht11 redet. Diese Verwirrung können wir uns hier dadurch sparen, dass wir – historisch sauber – den korrekten Ausgangspunkt wählen. Dieser Ausgangspunkt liegt bei Immanuel Kant; – sicher auch ein Grund für den Bekanntheitsgrad des Theorems bis heute. In der noch heute gebräuchlichen Definition in der „Metaphysik der Sitten“ aus dem Jahre 1797 lautet es: die bloße Übereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetz ohne Rücksicht auf die Triebfeder ist die Legalität (= Gesetzmäßigkeit), diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetz zugleich die Triebfeder ist, heißt Moralität (= Sittlich-
9 Dazu schon Kühl (Fn. 2), S. 188, 247 und 275 sowie ders. FS Schapp, 2010, S. 329 ff. und FS Puppe, 2011, S. 654 ff. 10 Vgl. den Artikel „Legitimität, Legalität“ von Thomas Würtenberger, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, S. 677 ff., der ab S. 711 auch auf die „Trennung der Legalität von der Moralität“ eingeht. 11 Dazu schon Kühl (Fn. 2), S. 265.
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keit).12 Das Theorem könnte nach den Klammerzusätzen auch das Theorem von Gesetzmäßigkeit und Sittlichkeit heißen. Eine inhaltliche Änderung wäre damit aber nicht verbunden. Schon auf den ersten Blick verlangt die Moralität/Sittlichkeit im Gegensatz zu Legalität/Gesetzmäßigkeit eine „Triebfeder“. Dagegen verlangt die Moralität kein anderes Verhalten als die Legalität. So ist der Schutz von Eigentum an Sachen sowohl von der Legalität als auch von der Moralität gewollt und gewährleistet, wenn Recht und Moral den Diebstahl verbieten. Dass ein solches Verbot zum Strafrecht gehört, ist zwar bekannter als seine Zugehörigkeit zur Moral, doch ist auch das allgemein anerkannt; man denke nur an die zehn Gebote, und bei diesen an das siebte Gebot. Es tritt nur nicht so in den Vordergrund, wenn man von Recht und Moral und insbesondere ihren Unterschieden spricht. Denn in solchen Diskussionen ist das Auffälligere bei der Moral die geforderte innere Einstellung, die Kant in seinem oben zitierten Theorem die „Triebfeder“ nennt. Daraus kann man aber nicht schließen, dass sich die Moralität auf Inneres wie Einstellungen, Gesinnungen oder eben – etwas altmodisch – Triebfedern beschränkt. Der Moral geht es nicht nur um die richtige innere Einstellung. Allein die richtige Einstellung, der gute Wille, macht ein von ihm begleitetes Verhalten noch nicht zu einem moralischen Verhalten. Allein die richtige innere Einstellung führt nicht zur Moralität, wenn das äußere Verhalten schon nicht richtig ist und den Regeln der Moral für äußeres Verhalten widerspricht. Moralität verlangt vom Handelnden nichts anderes als Legalität, sie verlangt aber mehr als Legalität. Zum richtigen äußeren Verhalten muss noch zusätzlich die richtige innere Einstellung hinzukommen. Nach der von Kant häufig verwendeten Formulierung muss das richtige äußere Verhalten ein Handeln „aus Pflicht“ sein,13 wenn das legale Verhalten die Qualitätsstufe der Moralität erreichen will. Im obigen Beispiel des Diebstahlsverbots verhält sich derjenige legal – dem Strafgesetz entsprechend –, der auf die etwa geplante Wegnahme einer fremden beweglichen Sache verzichtet. Das reicht für die Legalität/Gesetzmäßigkeit seines Verhaltens aus. Dass sein Beweggrund nicht gerade von moralischer Qualität war, sondern in der Furcht vor Strafe im Falle seiner Entdeckung bestand, ändert daran nichts. Von einer moralischen Qualität seines Verhaltens kann man aber nach dem Theorem von Legalität und Moralität nicht sprechen, denn diese Qualität würde zusätzlich zum richtigen äußeren Verhalten eine richtige innere Einstellung voraussetzen. Die
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Kant Akademie-Ausgabe (= AA), Bd. VI, 1907, S. 219. Diese Formatierung verwendet Kant schon in der „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788, AA V, 1913, S. 81 und 115; vgl. zu dieser Formulierung auch Höffe in: ders. (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 6. Aufl. 2002, S. 235, und Kühl FS Schapp, 2010, S. 338. 13
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„Idee der Pflicht aus Gesetz“ müsste seine „Triebfeder“ sein. Eine „Idee der Pflicht“, die sich aus dem gesetzlichen Diebstahlsverbot ergibt, wäre etwa das Unterlassen des geplanten Diebstahls aus Respekt vor dem Eigentum eines anderen. Das wäre erst ein Handeln „aus Pflicht“, das zur Moralität führt. Mit dieser Entfaltung des Theorems von Legalität und Moralität ist seine Aussagekraft und Reichweite ausgelotet. Weitere Folgerungen sind von ihm nicht gedeckt. Nichts zu sagen hat das Theorem etwa zu der in der gegenwärtigen Diskussion des deutschen Strafrechts gestellten Frage, ob bestimmte Beweggründe des Straftäters die Höhe der Strafe beeinflussen dürfen. Dass es im deutschen Strafrecht Beweggründe gibt, die das Strafmaß negativ beeinflussen, ist für jedermann, der sich mit den Strafvorschriften des Strafgesetzbuches beschäftigt, leicht erkennbar. Eine solche Vorschrift ist schon die aus den zahlreichen Strafvorschriften herausragende Straftat des Mordes nach § 211 StGB. Der Mord setzt sich aus einer vorsätzlichen Tötung und einem zusätzlichen Merkmal – einem Mordmerkmal – zusammen. Diese Mordmerkmale betreffen nicht nur das äußere Verhalten desjenigen Tötenden, der etwa die vorsätzliche Tötung grausam oder heimtückisch begeht. Sie betreffen auch die innere Einstellung, ja sogar die Beweggründe, die man mit Kants Triebfedern gleichsetzen kann. Kommt etwa ein „niedriger Beweggrund“ wie etwa Rachsucht oder Ausländerhass als Tatmotiv des Täters zum Vorschein, so ist von einem Mord auszugehen. Auf Mord steht die Höchststrafe: die lebenslange Freiheitsstrafe. Hätte der Täter sein Opfer ohne ein Mordmerkmal getötet, hätte er „nur“ eine Freiheitsstrafe bis zu fünfzehn Jahren zu erwarten gehabt. Diese höhere Strafe hat der Täter seinem niedrigen Beweggrund zu verdanken. Gehören aber nicht Beweggründe oder Triebfedern allein zur Moral(ität)? Moralität verlangt zwar zusätzlich zum richtigen äußeren Verhalten eine richtige innere Einstellung, im hier diskutierten Tötungsfall kommt aber eine schlechte innere Einstellung zu einem gesetzwidrigen („illegalem“) Verhalten hinzu.14 Dazu hat das Theorem von Legalität und Moralität nichts zu sagen. Das Strafrecht überschreitet in einem solchen Fall nicht unzulässigerweise die Grenze zur Moral. Es verlangt keine gute innere Einstellung, sondern es sanktioniert eine schlechte innere Einstellung, wenn sie zu einem gesetzwidrigen Verhalten hinzukommt. Will man die straferhöhende Kraft von schlechten inneren Einstellungen wie den niedrigen Beweggründen als nicht legitim kritisieren, so muss man weiter ausholen, wird aber wieder bei Kant fündig, wenn dieser das Recht auf den wechselseitigen Schutz der äußeren Freiheit von jedermann festlegt.15 Man könnte dann gegen die niedrigen
14 Vgl. schon Engisch Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 91; dazu auch schon Kühl (Fn. 2), S. 191. 15 Vgl. Kant AA VI (Fn. 12), S. 230.
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Beweggründe als Straferhöhungsgrund argumentieren, dass die schlechte innere Einstellung die äußere Freiheitssphäre des Opfers nicht berühre. Das Unrecht der Tötung bestehe einzig und allein im Übergriff des Täters auf das Leben des Opfers.16 Die schlechte innere Einstellung könnte dann allenfalls die Schuld des Täters erhöhen.17 2. Die Selbsttötung: nur moralwidrig oder auch rechtswidrig? Recht und Moral kann man nicht nur – wie beim Theorem von Legalität und Moralität – hinsichtlich der inneren Einstellung unterscheiden, es gibt auch Unterschiede hinsichtlich des richtigen äußeren Verhaltens. Dafür gibt es viele Beispiele, hier soll aber nur die Selbsttötung herausgegriffen werden, obwohl es sich dabei um einen ganz besonderen Fall des äußeren Verhaltens handelt. Der Suizid wird von der Moral oder von vielen Moralentwürfen negativ bewertet, missbilligt. So etwa von der christlichen Ethik mit der Begründung, dass der Mensch als Gottesgeschöpf das ihm von Gott geschenkte Leben nicht selbstherrlich wegwerfen dürfe. Auch nach der säkularen Ethik Kants – seiner sog. Tugendlehre, die innerhalb der oben (unter II. 1.) genannten Metaphysik der Sitten neben oder nach der Rechtslehre steht – ist der Suizid eine zu missbilligende Tat, die er sogar „Verbrechen“ nennt. Damit ist aber kein (straf-)rechtliches Verbrechen wie der Mord, d.h. die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen mit einem Mordmerkmal, gemeint. Wie sich schon aus der Behandlung des Suizids in der Tugendlehre ergibt, handelt es sich bei der Selbsttötung um ein moralisches Verbrechen. Mit der Selbsttötung verletzt der Täter keine Pflicht gegenüber einem anderen Menschen, sondern – so Kant – eine „innere Tugendpflicht“ gegen sich selbst als animalisches Wesen.18 Im (Straf-)Recht wird das aber anders gesehen. Allgemeine Einigkeit besteht darüber, dass der Suizid straflos ist, der sich selbst Tötende also kein nach staatlichem Strafrecht zu ahndendes Verbrechen begeht. Dann aber beginnt die Konfusion. Man sollte eigentlich meinen, dass damit auch die Rechtswidrigkeit der Selbsttötung vom Tisch ist, was das (Straf-)Recht betrifft, denn es wird kein anderer Mensch in seiner Freiheitssphäre dadurch beeinträchtigt, dass der Täter sich tötet. Dieser klare Blick wird aber von der Rechtsprechung in Strafsachen, insbesondere vom Bundesgerichtshof, zunehmend verdunkelt. Zunächst hatte er 1954 nur zur sittlichen Beurteilung des Suizids Stellung genommen: „Da das Sittengesetz jeden Selbstmord … streng missbilligt, da 16
Zum Kern des Unrechts näher Kühl FS Kühne, 2013, S. 15, 22. So Kelker Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 614. 18 Kant AA VI (Fn. 12), S. 422; vgl. dazu schon Kühl (Fn. 2), S. 236, 292 und Höffe neue hefte für philosophie 17 (1979), 1, 31. 17
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niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfügen und sich den Tod geben darf …“ (BGHSt 6, 147, 153). Man fragt sich allerdings, was diese moralische Bewertung in einem Strafurteil zu suchen hat. Die Antwort folgt sogleich: wer bei einem Selbstmordversuch keine Hilfe leistet, macht sich wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar; das Recht könne nicht anerkennen, „dass die Hilfepflicht des Dritten hinter dem sittlich missbilligten Willen des Selbstmörders zu seinem eigenen Tode zurückzustehen habe.“ Was bei dieser Konsequenz für Dritte – sind es z.B. Angehörige und damit sog. Garanten, die den Tod nicht abwenden, so ist die Konsequenz sogar ein Totschlag durch Unterlassen mit sehr viel höherer Strafe als es die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB vorsieht – fehlt, ist die Begründung dafür, dass eine moralische Missbilligung überhaupt eine strafrechtliche Folge auslösen kann. Jahrelang hoffte man, der BGH ziehe seine Konsequenz zurück. Ansätze dazu gab es 1984 – Zweifel an der damaligen Begründung (BGHSt 37, 367, 375 f.) – und 1987 – man wollte dem Selbsttötungswillen stärkere Bedeutung beimessen (BGH NStZ 1988, 127 ff.). – Doch dann kam 2001 ein unerwarteter Rückschlag: „Die Rechtsordnung wertet eine Selbsttötung als rechtswidrig“ (BGHSt 46, 279, 285). Also ist der Suizid nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich missbilligt.19 Für den Suizident hat das freilich keine strafrechtlichen Folgen. Auch für die Rechtsprechung ist der Suizidversuch straflos. Ebenso die akzessorische Beihilfe dazu. Aber auch in diese bisher im deutschen Strafrecht allgemein anerkannte Position kommt neuerdings Bewegung. Es soll eine selbständige Strafbarkeit der Suizidbeihilfe geschaffen werden, wenn diese gewerbsmäßig erfolgt20 (wie etwa durch die schweizerische Organisation „Dignitas“, die potentielle Suizidenten für Geld mit Zyankali beliefert). 3. Die Ausscheidung von Moralwidrigkeiten aus dem Strafrecht mit Hilfe des Rechtsgutskonzepts In der Strafrechtswissenschaft wurde das sog. „Rechtsgutskonzept“ entwickelt, um ein Kriterium für die Legitimität von Strafvorschriften zu haben. Danach sind nur solche Strafvorschriften legitim, die ein Rechtsgut schützen.21 Rechtsgüter sind vor allem und unbestritten die Individualrechtsgüter,
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Dazu auch schon Kühl (Fn. 2), S. 294. Zum Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes gegen gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung vgl. Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, Vor §§ 211–216 Rn. 18a, der Text des vorgesehenen § 217 findet sich ebenfalls bei Fischer § 216 Rn. 1. – Zum davor vorgelegten Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, der eine „Strafbarkeit der Beihilfe zur Selbsttötung aus Gewinnsucht“ vorsah Kühl (Fn. 2), S. 297; zu weiteren Entwürfen vgl. Lackner/Kühl StGB, 28. Aufl. 2014, Vor § 211 Rn. 10. 21 Vgl. Kühl Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 34 ff. 20
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die auch in den Grundrechten des Grundgesetzes – der deutschen Verfassung – garantiert sind: Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum/Vermögen. Dementsprechend sind die Tötungs-, Körperverletzungs- und Eigentums-/ Vermögensdelikte grundsätzlich legitime Strafvorschriften. Etwas schwieriger ist die Begründung von Strafvorschriften, die Rechtsgüter der Allgemeinheit schützen, so etwa die Straßenverkehrsdelikte wie die Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB. Legitim sind diese Delikte, wenn sie – wie die genannte Strafvorschrift – letztlich auch Leib und Leben anderer Personen schützen. Das gilt auch für die Strafvorschriften zum Schutze der Umwelt, denn sie haben die Funktion, dem Menschen – auch zukünftigen Generationen – humane Lebensbedingungen zu erhalten. Schwieriger ist es, den strafrechtlichen Schutz von Tieren – z.B. Tierquälerei – oder der Natur – z.B. Schutz aussterbender Pflanzen – zu begründen, denn ihnen fehlt selbst ein Letztbezug auf den Menschen. Hier soll aber vor allem auf den praktischen Erfolg des Rechtsgutskonzepts im Bereich der Sexualstraftaten eingegangen werden, der schon gut fünfzig Jahre zurückliegt. Damals wurden sog. „reine Moralwidrigkeiten“ aus dem Strafgesetzbuch entfernt, vor allem der legendäre § 175 StGB, der die Homosexualität regelte. Bestraft wurde danach, wenn ein erwachsener Mann einverständlich mit einem anderen Erwachsenen „Unzucht treibt“. Da bei diesem Vorgang keinerlei Rechtsgut der einverstandenen Partner verletzt wird, wurde der § 175 StGB als „reine Moralwidrigkeit“ eingestuft und mangels Rechtsgutsverletzung aus dem Strafgesetzbuch entfernt. Darüber hinaus wurde ein ganzer Abschnitt des Besonderen Teils des StGB umbenannt: von „Verbrechen wider die Sittlichkeit“ zu „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ oder – abstrakter – von „Moralwidrigkeiten“ zu „Rechtsgutsverletzungen“. Damit schien die Problematik erledigt, bis 2007 Geschwister, die wegen Inzests – nach § 173 StGB: „Beischlaf zwischen Verwandten“, nach Abs. 2 Satz 2 auch zwischen „leiblichen Geschwistern“ – von Strafgerichten verurteilt worden waren, ihren Fall an das Bundesverfassungsgericht brachten. Sie hielten § 173 StGB für verfassungswidrig, weil es sich um eine „reine Moralwidrigkeit“ handle. Dem folgte nur der Vorsitzende Richter des 2. Senats – ein bekannter Strafrechtsprofessor, der an der Entwicklung des Rechtsgutskonzepts mitgewirkt hatte –, die anderen Richter erklärten die Vorschrift für verfassungsgemäß.22 Zur Begründung führten sie vor allem an, dass ihnen
22 BVerfGE 120, 224 = NJW 2008, 1137, 1139, abweichende Meinung Hassemer 1142 ff. – Die Entscheidung wurde überwiegend kritisch aufgenommen, vgl. etwa Hörnle NJW 2008, 2085 und Roxin StV 2009, 544. Vgl. zu dieser Entscheidung auch Kühl JA 2009, 833, 837, in: FS Stöckel, 2010, S. 111, 128, in: FS Maiwald, 2010, S. 433, 447, in: FS Puppe, 2011, S. 665 f. und in: FS Heinz, 2012, S. 766, 767 ff.
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von Sachverständigen familienschädliche Wirkungen des Inzests „plausibel“ gemacht worden seien. Das hindert den Gesetzgeber aber nicht, die Vorschrift zu streichen, etwa weil ihm diese „Plausibilität“ einer Verletzung des Rechtsguts Familie nicht reicht und deshalb doch von einer reinen Moralwidrigkeit auszugehen sei. Hinsichtlich des Rechtsgutskonzepts ist noch bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht unnötigerweise und die Diskussion um dieses erfolgreiche Konzept vergiftend einen „Rund-um-Schlag“ gegen die kritische Funktion des Rechtsguts in der Kriminalpolitik führte.23 Das dafür als allein gültiges ausgegebene Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist jedenfalls nicht sicherer und auch nicht konkret genug, um die Funktion des Rechtsguts ersetzen zu können. Befürworter dieses Prinzip in der Strafrechtswissenschaft kommen jedenfalls bei der Beurteilung des Inzest zum genau gegenteiligen Ergebnis: Er enthalte keine Rechtsgutsverletzung und sei eine reine Moralwidrigkeit. Sieht man dann noch, dass das Bundesverfassungsgericht seine gegenteilige Bewertung letztlich auf die plausibel gemachten familienschädlichen Wirkungen des Inzestes stützte, so fragt man sich, ob man dieses Ergebnis nicht leichter und sicherer mit der Verletzung des Rechtsguts Familie hätte begründen können. 4. Verbindendes zwischen (Straf-)Recht und Moral in Form der guten Sitten Eine Verbindung von Recht und Moral in Form der „guten Sitten“ wird hergestellt, wenn das staatliche Recht in einem Gesetz auf den „Verstoß gegen die guten Sitten“ abstellt.24 Das ist etwa im Bürgerlichen Gesetzbuch so, wenn § 138 BGB bestimmt, dass „ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt“, „nichtig“ ist. Im hier mehr interessierenden Strafrecht bestimmt im Bereich der Körperverletzungsdelikte § 228 StGB, dass „eine Körperverletzung“, die „mit Einwilligung der verletzten Person“ vorgenommen wird, „nur dann rechtswidrig“ ist, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.“ Wichtig ist zunächst das „nur dann“, denn damit ist gesagt, dass Körperverletzungen, die mit Einwilligung der verletzten Person vorgenommen werden, sonst, also in der Regel, nicht rechtswidrig sind. Egal ob man der Einwilligung – dogmatisch gesehen – rechtfertigende oder sogar schon tatbestandsausschließende Kraft beimisst: „volenti non fit iniuria“ – wer einwilligt, dem geschieht kein Unrecht. Das ist nur bei der „Tötung auf Verlangen“ nach § 216 StGB anders, denn nach dieser Vorschrift aus dem Bereich der Tötungsdelikte bleibt jede Tötung, auch diejenige, die
23 24
Kühl FS Heinz, 2012, S. 766, 744. Dazu schon Kühl (Fn. 2), S. 245 ff.
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mit Einwilligung des Getöteten geschieht, rechtswidrig. Sie wird nur milder als Vergehen einer Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB bestraft, während Mord und Totschlag Verbrechen sind. Das Besondere im Verhältnis von Recht und Moral ist aber bei der eingewilligten Körperverletzung, dass sie die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit, also eine rechtliche Entscheidung, den guten Sitten als einer Form der Moral überlässt. Das Problem, das sich dabei ergibt, ist, dass es niemanden gibt, der für die guten Sitten beziehungsweise den Verstoß gegen sie spricht; es gibt auch keinen Sittenkodex, in dem der Strafrichter nachschlagen könnte. Lange Zeit behalf man sich mit der „Kunstformel“ vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“.25 Das klingt nicht nur altmodisch, sondern lässt auch nicht den Einsatz empirischer Befunde zu, denn der für den Erhalt dieser Befunde erforderliche Befrager/Interviewer dürfte sich ja nur an „billig und gerecht Denkende“ wenden; diese erkennt man aber nicht als solche. Das Positive an der „Kunstformel“ ist immerhin, dass es auf das Urteil „aller“ billig und gerecht Denkenden ankommt, so dass sektorale Urteile – etwa der Sportgesellschaft über Doping – nicht zählen. Die letzten spektakulären Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen aus den Jahren 2003 und 200426 kamen – ob mit oder ohne die Kunstformel – zu dem Ergebnis, dass ein allgemeines Sittenwidrigkeitsurteil in den zur Entscheidung anstehenden Fällen nicht zu fällen sei. Das ist bei sadomasochistischen Praktiken angesichts gewandelter gesellschaftlicher Einstellungen noch eher verständlich als beim gemeinschaftlichen Heroinkonsum, der immerhin nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbar ist, aber bei der Körperverletzung nicht einmal zur Rechtswidrigkeit führen soll. Dennoch kam der Bundesgerichtshof in beiden Fällen letztlich zur Rechtswidrigkeit der Körperverletzungen. Aber nicht auf dem von § 228 StGB vorgesehenen Weg über die Sittenwidrigkeit, sondern mit der Begründung, dass die Körperverletzungen lebensgefährlich gewesen seien; – in beiden Fällen sind die mit ihrer Einwilligung verletzten Personen gestorben (= strafrechtlich: Körperverletzung mit Todesfolge). Wenn aber die Lebensgefährlichkeit der entscheidende Umstand ist, dann sollte man das Gesetz dahingehend ändern, denn auf den Vorstoß gegen die guten Sitten kommt es ja nicht mehr an. Dass lebensgefährliches Verhalten immer auch sittenwidriges Verhalten ist, behauptet der Bundesgerichtshof nur, ohne einen Versuch der Begründung zu unternehmen.
25
So vor allem die Rechtsprechung, vgl. Lackner/Kühl (Fn. 20), § 228 Rn. 10. BGHSt 49, 34 ff. und 166 ff.; kritisch zu beiden Entscheidungen Kühl FS Schroeder, 2006, S. 519 und FS Otto, 2007, S. 63, 69 sowie FS Puppe, 2011, S. 661 ff. 26
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5. Die Strafbarkeit des Unterlassens aus rechtlicher und moralischer Sicht Dass auch ein qualifiziertes Unterlassen, das nicht nur ein Nichts-Tun ist, sondern den Dingen ihren Lauf lässt, obwohl die Möglichkeit zum Eingreifen bestand, zur Strafbarkeit führen kann, ist grundsätzlich anerkannt. Die Unterlassungsdelikte werden aber auch als Einfallstor für die Moral bezeichnet, das zu Gesinnungsstrafrecht führe.27 Jedenfalls entspricht die Unterlassungsstrafbarkeit nicht dem Strukturprinzips des Strafrechts. Die Strafvorschriften sind normalerweise nach dem von Immanuel Kant vorgegebenen, aber viel älteren Muster des „neminem laede“ gebaut. Bleibe in deiner Freiheitsphäre und verletze keinen anderen in seinem Freiheitsbereich dadurch, dass du ihn tötest, verletzt oder sonst schädigst. Bestraft man allerdings ein Unterlassen, so bedeutet das, dass man jemanden bestraft, weil er in seinem Freiheitsbereich verblieben ist und nicht aus ihm herausgetreten ist, obwohl ein anderer seiner Hilfe bedurft hätte.28 Das ist noch einzusehen, wenn zwischen dem Unterlassendem und dem Hilfsbedürftigen eine besondere Beziehung besteht. So etwa zwischen der Mutter und ihrem Kleinkind. Lässt sie das Kind verdursten/verhungern, handelt sie ebenso strafwürdig, wie wenn sie ihr Kind durch Füttern mit vergiftetem Brei, also durch ein aktives Verhalten, getötet hätte. Das sieht auch das deutsche Strafrecht so und achtet dabei auf die Einhaltung der Trennung von Strafrecht und Moral. So bestimmt § 13 StGB allgemein für alle Delikte, die wie der Totschlag so formuliert sind, als würden sie ein aktives Tun erfordern, dass der, der „es unterlässt, einen Erfolg anzuwenden, … nur dann strafbar“ ist, „wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“. Bloße moralische Einstandspflichten wie unter Freunden oder Liebenden reichen nicht;29 selbst die Einstandspflicht von Eheleuten füreinander ist nicht unumstritten. Die Strafe bei Verletzung der Erfolgsabwendungspflicht ist für einen sog. Garanten mit rechtlicher Einstehenspflicht zunächst die gleiche wie für den aktiven Täter, sie kann aber gemildert werden. Eine viel geringere Strafe trifft den Jedermann, der bei einem Unglücksfall keine Hilfe leistet. Nach § 323c StGB wird die „unterlassene Hilfeleistung“ gering bestraft: bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe. Sie trifft allerdings „jedermann“ und nicht nur Garanten. Das erscheint manchen unberechtigt, weil in diesen Fällen nur ein moralwidriges Unterlassen vorliege. So gibt es etwa in den USA nur 5 Bundesstaaten, die die unterlassene Hilfeleistung von jedermann unter Strafe stellen;30 ansonsten spricht man vom „bad samaritan“ – dem schlechten Samariter –, der nur moralisch zu verurteilen ist. 27 28 29 30
Naucke Strafrecht, 5. Aufl. 1987, S. 288. Näher Kühl FS Frisch, 2013, S. 785. Kühl (Fn. 4), § 18 Rn. 6 und Kühl FS Herzberg, 2008, S. 177, 179 ff., 184 f. Nachweise bei Kühl FS Frisch, 2013, S. 785, 790 Fn. 29.
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Für die Begründung der Strafbarkeit benötigt man einen Begriff, der im Rechtssystem nur eine Nebenrolle spielt: die mitmenschliche Solidarität. Rechtsphilosophisch ist sie gleichermaßen ursprünglich wie die äußere Freiheit, die unsere Rechtsordnung im Wesentlichen zu einer Freiheitsordnung macht. Will man in diese Freiheitsordnung das Element der Solidarität einbauen, so muss es sich um eine freiheitsbezogene Solidarität handeln.31 So verfährt des Gesetz in § 323c StGB, denn es verlangt nur die Hilfeleistung, die zur Wiedergewinnung der durch den Unglücksfall fast schon verlorenen Freiheit, vor allem in den Ausprägungen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, „erforderlich“ ist. Christliche Nächstenliebe als eine Form der Moral verlangt mehr; danach muss man auch noch einem Sterbenden im Todesverlauf beistehen, was rechtlich nicht erforderlich, wenn der Tod nicht mehr aufzuhalten ist.
31
Kühl FS Frisch, 2013, S. 785, 788 und in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 93 ff.
Rechtswissenschaft und Jurisprudenz Ernst-Joachim Lampe
Meine Untersuchung geht von einem Aufsatz aus, den der Jubilar 2001 unter dem Titel „Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft“ in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Claus Roxin (S. 1 ff.) veröffentlichte. Ich werde im Folgenden seinem Ergebnis zustimmen, dass innerhalb einer Strafrechtsdogmatik, die auf Beliebigkeit verzichtet, empirische und normative Argumente ineinander greifen müssen. Zugleich werde ich aber auch für eine möglichst klare, wenngleich nicht immer erreichbare, Trennung zwischen szientistischer und prudenzieller Argumentation im Recht plädieren.
I. Rechtswissenschaft als empirische Erforschung des Rechts 1. Im Jahre 1848 hielt Julius von Kirchmann seinen bis heute immer wieder zitierten Vortrag über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, worin er behauptete, dass die zeitgenössischen Juristen „zu Würmern geworden [seien], die nur von faulem Holz leben“. Ihre Kommentare zu den Rechtsgesetzen hätten es nicht mit deren wahrem Teil zu tun, sondern nur mit dem unwahren, mit „den Lücken, Zweideutigkeiten, Widersprüchen, Veralteten, Willkürlichen“. Über diesen Teil fielen sie kommentierend und kritisierend her. Doch – so Kirchmanns zum ‚Geflügelten Wort‘ gewordenes Diktum – „drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“.1 Seither haben sich die Juristen immer wieder gegen die Herabwürdigung ihrer Gesetzeskommentare und -kritiken gewandt. Sie sehen sich ihrer Reputation als Wissenschaftler beraubt, weil ihre scharfsinnigen Meinungen zu Problemen, die teils durch gesetzgeberische Torheit geschaffen, teils von ihnen selbst erfunden wurden, als unvereinbar gebrandmarkt werden mit dem Streben nach jenem Wissen und jener Wahrheit, die allein der Wissenschaft eigen sind. Kirchmanns Gründe seien oberflächlich, dennoch tief verletzend – Stachel in ihren wissenschaftlichen Seelen.
1 von Kirchmann Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Wiederabdruck 1956, S. 24 f.
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Was sind jene Gründe? Kirchmann nennt vor allem zwei: Erstens habe das Recht innerhalb seiner Gesetze eine abstrakte und starre Form, die allen und jedem, den Weisen wie den Despoten, als Waffe tauge und zudem, auf konkrete Fälle bezogen, durch „die Zwittergestalten der Billigkeit, des richterlichen Ermessens“ aufgeweicht werde, weshalb sie nicht Gegenstand der Wahrheitssuche sein könne;2 zweitens habe das Recht außerhalb seiner Gesetze seinen Sitz „auch im Fühlen“, wo es, jedem zugänglich, zum „Produkt der Erziehung, der Gewohnheit, der Beschäftigung, des Temperaments, also des Zufalls“ werde und schon dadurch aus der Wissenschaft ausscheide.3 Savigny habe mit vollem Recht seiner Zeit den Beruf zur Gesetzgebung abgesprochen. Doch – so Kirchmann – „nicht nur die Gegenwart, keine Zeit hat den Beruf zur Gesetzgebung.“4 Denn Recht sei nur „das natürliche Recht“, welches „in dem Volke lebt“ und dem es „mit Liebe ergeben“ ist. Und als solches sei es „der Wissenschaft ewig voraus“.5 2. „Natürliches Recht“, das ausschließlich „im Volke lebt“, gab es in der Tat, nämlich als die Schrift noch nicht erfunden war. Es war konkret, wandelbar, den völkischen Sitten und der erschauten Umwelt angepasst und deshalb vom Volke geliebt als seinem Recht. Manche Völker bewahrten es sich so auch noch nach der Erfindung der Schrift, denn sie befürchteten, dass seine Verschriftlichung nur Starrheit hineinbrächte.6 Andere Völker erhielten sich wenigstens das Bedürfnis nach einer ‚natürlichen‘ Rechtsgrundlage, in der Antike etwa die Griechen (Sophisten, Kallikles u.a.) und Römer (Cicero) 7, im Mittelalter die christlichen Völker. Augustinus und Thomas von Aquin lehrten, dass Gott und die Menschen – soweit mit Vernunft begabt – Urheber allen Rechts seien. Gott habe der Welt ein ewiges Gesetz (lex aeterna) vorgegeben und ihm alles Sein unterworfen. Dem Menschen sei aus seiner Vernunftnatur das Gesetz (lex naturalis) erwachsen: aus seinem natürlichen Streben z.B. das Gebot der Selbsterhaltung; aus seinen sinnlichen Neigungen z.B. das Gebot zur Vereinigung von Mann und Frau und zur Aufzucht von Kindern; aus seiner sittlichen Vernunft sowohl das Gebot, „das Gute zu tun und das Böse zu meiden“ („bonum est faciendum et malum vitandum“) als
2
von Kirchmann (Fn. 1), S. 22 f. von Kirchmann (Fn. 1), S. 18 f., vgl. auch S. 33. 4 von Kirchmann (Fn. 1), S. 23. 5 von Kirchmann (Fn. 1), S. 33, 9, 23. Das „lebende Recht“ (law in action) wurde später zum Gegenstand der Soziologie (vgl. Rehbinder Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, Rn. 3 ff., 43 ff. m.Nachw.). 6 Aus der Zahl der Kulturnationen ist Indien hervorzuheben. Noch die britische Kolonialmacht fand dort keine Rechtsordnung vor, die ihr aufzeichnungswürdig erschien, und importierte ihr mutterländisches Recht. 7 So schon M.T. Cicero De legibus I, 17. 3
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auch mit anderen in Gemeinschaft zu leben und sie nicht zu verletzen.8 Darüber hinaus habe der Mensch sich selber ein positives Recht gegeben, das er aus seinem natürlichen Recht entweder per modum conclusionum oder per modum determinationis ableitete.9 Verpflichtend sei dieses menschliche Recht aber lediglich innerhalb der Grenzen, die ihm das göttliche und das natürliche Gesetz setzen, sodass es entgegen dem göttlichen Gesetz niemals, entgegen dem natürlichen Gesetz nur zur Vermeidung von Anstoß und Verwirrung („propter vitandum scandalum vel turbationem“) befolgt werden dürfe.10 Ihre Kraft zeigten diese Lehren bis hinein ins 18. Jh. Das auf Gott bezogene Vernunftrecht 11 wurde zur sozial gestaltenden Macht. Es gab den amerikanischen und französischen Erklärungen der Menschenrechte ihre Gestalt und strahlte auf die europäischen Kodifikationen des Zivilrechts aus.12 Doch in seiner Macht über die Wirklichkeit lag schon der Keim zum Untergang.13 Immanuel Kant säuberte die Vernunft „von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört“14, und stürzte damit sämtliche positiven Inhalte des Naturrechts.15 Was negativ übrig blieb, war das Verbot des logischen Widerspruchs. Damit aber ließen sich Rechtsinhalte nicht begründen; denn allein Konsequenz im Denken kann das Recht vor konsequenter Unsittlichkeit nicht bewahren. Kant selbst sah sich denn auch gezwungen, die Antwort auf die Frage: „Kannst du wollen, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werde?“ nicht aus der Vernunft, sondern aus der empirischen Natur des Menschen abzuleiten: In Notlagen müsse jedermann helfen, weil jedermann sich die Hilfe anderer erhoffe.16 Und wenn es noch eines weiteren Beweises für die Unmöglichkeit eines „Formalismus in der Ethik“ und die Notwendigkeit einer „materialen Wertethik“17 bedurfte, ließ er sich leicht aus der Vielzahl unterschiedlicher Moralen und Rechte bei den Völkern der Erde führen, deren Geltung sich sämtlich mit dem Gebot logischer Widerspruchsfreiheit verträgt. 8
Thomas von Aquin Summa theologica I 2 qu. 91 art. 2. Thomas von Aquin Summa theologica II 1 qu. 91 art. 3 und qu. 95 art. 2. 10 Thomas von Aquin Summa theologica II 1 qu. 96 art. 4. 11 Vermittelnd noch heute die Präambel unserer Verfassung: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. 12 Vgl. Thieme Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1954, S. 8, 38 ff. 13 Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 162. 14 Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1786, S. VII f. 15 So schon ganz klar Puchta Cursus der Institutionen, Bd. I, 1841, S. 4: Aus der Freiheit als „Grundbegriff des Rechts“ folgt, „dass sich nicht von dem Begriff der Vernunft aus zu dem Recht gelangen lässt“. 16 Vgl. Kant (Fn. 14), S. 56 f. 17 Grundlegend Scheler Gesammelte Werke, Bd. 2: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 5. Aufl. 1966. 9
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3. Wurde das Recht also nicht durch reine, sondern durch empirische Vernunft erzeugt, so schien die der historischen Rechtsschule Savignys zugrunde liegende Ansicht konsequent, dass es kein Konstrukt unabänderlicher Ideen und Prinzipien, sondern das Produkt einer sich über die Jahrhunderte hinziehenden Entwicklung des sittlichen Bewusstsein der Völker sei.18 Bei steigender Kultur habe zwar der Stand der Juristen sich seiner bemächtigt. Aber er habe das „natürliche Recht“ der Völker nicht verdrängt, sondern ihm lediglich dort ein gelehrtes Recht übergestülpt, wo jenes der immer differenzierteren Entwicklung der Kultur nicht habe folgen können und ergänzt werden musste. Savigny rief damit die Geschichtlichkeit allen Rechts ins allgemeine Bewusstsein. Rudolph von Jhering knüpfte daran an und stieß das Tor zur Rechtsgeschichte aller Völker auf. Denn wohin man auch blickte, hatte sich das Recht zu einer eigenständigen Ordnungsmacht entwickelt, und es erschien nun endlich an der Zeit, die „Multilinearität“ dieser Entwicklung wissenschaftlich zu untersuchen. Der Engländer Henry Sumner Maine war bereits 1861 mit seinem groß angelegten Werk „Ancient Law: Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas“ vorgeprescht. Und der US-Amerikaner Lewis H. Morgan hatte wenig später nachgewiesen, dass „die Kultur der Menschheit überall ziemlich den gleichen Weg durchlaufen hat, dass die menschlichen Bedürfnisse unter ähnlichen Bedingungen ziemlich dieselben gewesen sind, und dass die Wirkungen der geistigen Tätigkeit kraft der Übereinstimmung des Gehirns aller Menschenrassen gleichförmig gewesen sind“.19 Neu war gleichwohl, dass Jhering im Leben der Völker kein isoliertes Nebeneinander sah, sondern „ein System der gegenseitigen Berührung und Einwirkung, friedlicher und feindlicher, ein Geben und Nehmen, Entlehnen und Mitteilen, kurz ein großartiges, alle Seiten des menschlichen Daseins umfassendes Austauschgeschäft“. Und ebenfalls neu war seine Schlussfolgerung daraus: dass der Nationalität des Rechts künftig der Gedanke seiner „Universalität“ gleichberechtigt zur Seite gestellt werden müsse.20 4. Um diese Forderung wissenschaftlich zu erfüllen, bedurfte es einer universellen rechtsethnologischen Forschung. Dank der Emsigkeit Josef Kohlers 21 18 F. C. von Savigny Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814 (Wiederabdruck in: Hattenhauer [Hrsg.], Thibaut und Savigny: Ihre programmatischen Schriften, 2002, S. 61 ff.); ders. System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 90 ff. 19 Morgan Ancient Society: or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization, 1877 (deutsche Ausgabe 1908, Zitat S. 7). 20 Jhering Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. I, 6. Aufl. 1907, S. 5, 11 f. 21 Kohler in: ders./Wenger, Allgemeine Rechtsgeschichte, 1. Hälfte: Orientalisches Recht und Recht der Griechen und Römer, 1914; ders. in: Holtzendorff/Kohler, Encyklopädie der
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und dem Bienenfleiß zweiter Praktiker, Albert Hermann Post und Paul Wilutzky,22 setzte denn auch in Deutschland Ende der 1870er Jahre eine umfangreiche Sammeltätigkeit ein mit dem Ziel, das inzwischen von privaten Forschungsreisenden, Missionaren und Vertretern der europäischen Kolonialmächte zusammengetragene juristische Material in ein einheitliches wissenschaftliches System zu bringen. Allerdings entsprach das meiste Material nicht den inzwischen verschärften wissenschaftlichen Anforderungen an seine Gewinnung: Teils beruhte es auf naiven Beobachtungen, die mit falschen Deutungen versehen waren, teils lagen ihm Berichte zugrunde, deren Solidität kaum weniger zweifelhaft war als derjenigen von Herodot im Altertum. Indessen hatte das Material doch einen heute gern übersehenen Vorteil: Es stammte von Völkern, die mit der westlichen Zivilisation noch kaum in Berührung gekommen waren und die sich daher ihre Ursprünglichkeit weitestgehend bewahrt hatten. Viele der späteren Berichte akademisch ausgebildeter Ethnologen betrafen dagegen zum einen nur die Sitten einzelner Völker und werteten sie zum anderen einseitig nach soziologischen oder tiefenpsychologischen Grundsätzen aus, wobei die (prä-)rechtlichen Aspekte meistens Randerscheinungen blieben. Juristisch gut ausgebildet war vor allem Edward E. Evans-Pritchard, der das seminomadische Hirtenvolk der Nuer in Nordafrika im Auftrag der britischen Krone besuchte, ihre Sprache erlernte und aus dem Blickwinkel des englischen Rechts deren Recht ausführlich beschrieb.23 Sein Einfluss auf die Rechtsethnologie war daher groß. In Deutschland dagegen wurde nach dem Verlust der Kolonien kaum noch Feldforschung betrieben. Richard Thurnwald fasste 1934 lediglich die für das Recht relevanten Ergebnisse systematisch zusammen.24 Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass die historischen Rechtsschule zwar eine Entwicklung angestoßen hatte, die das Werden des Rechts erstmals zum Gegenstand empirischer Erforschung machte, dass man daraufhin jedoch fast so viele Variationen des völkischen Rechts entdeckte, wie es Völker gab. Angesichts solcher Mannigfaltigkeit brach schließlich der Elan, mit der man sich auf die Suche nach einem universellen Recht der Menschheit gemacht hatte, zusammen. Es gab zwar nahezu universell Rechte, aber offenbar kein universelles Recht. Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, Bd. I, 2. Aufl. der Neubearbeitung, 1915, S. 1 ff.; ferner zahlreiche Aufsätze seit 1878 in der von ihm mitgegründeten Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. 22 Post Die Grundlagen des Rechts und die Grundzüge seiner Entwicklungsgeschichte, 1884; ders. Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz, 2 Bde., 1894/95; Wilutzky Vorgeschichte des Rechts (Prähistorisches Recht), 3 Bde., 1903. 23 Evans-Pritchard The Nuer, 1940. Ergänzend und teilweise verbessernd Howell A Manual of Nuer Law, 1954. 24 Thurnwald Werden, Wandel und Gestaltung des Rechts im Lichte der Völkerforschung, 1934 (S. 7 ff. zu Stadien der Rechtsentwicklung).
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5. Gleichwohl waren in der Menge des von den Ethnologen u.a. gesammelten Materials die Übereinstimmungen in den Rechtserscheinungen nicht ganz untergegangen. Gezeigt hatte sich vielmehr, dass viele Rechtserscheinungen sich nicht nur wiederholten, sondern offenbar auch denselben historischen Stammbaum aufwiesen. Freilich ließ sich dieser Stammbaum schwierig rekonstruieren, weil die meisten indigenen Völker ihre Vergangenheit lediglich in Märchen und Sagen weitergegeben und nach Bedarf uminterpretiert hatten. Zur Erklärung der Übereinstimmungen musste man daher entweder psychische oder Umweltursachen verantwortlich machen. Und da psychische Ursachen sich der vergleichenden Forschung weitestgehend entzogen,25 ging man den zweiten Weg: Man erfand unterschiedliche Klima-, Irrigationsund Katastrophentheorien. Für die Psychogenese der Menschheit erlangte lediglich eine Theorie Bedeutung, obwohl sie auf der Grundlage der kindlichen Ontogenese entwickelt wurde: die Stadientheorie von Jean Piaget. Nach ihr vollzog sich wie die kindliche auch die historische Psychogenese mittels fortschreitender Differenzierung, Intellektualisierung und Logisierung.26 Der Nachteil der Theorie für die Erforschung der Genese von Rechtsbewusstsein lag darin, dass sie nur die Entwicklung der kognitiven Strukturen erfasste,27 während für das Recht auch die Entwicklungen der Emotionalität und der Verhaltensprogramme sowie der kommunikativen und interaktionalen Sozialbeziehungen von Bedeutung waren. Erst eine Synthese dieser Entwicklungsstränge hätte aber die Genese des Rechts und seiner Bedeutung offenbaren können. Doch zu so einer weitgehenden Grundlegung kam es nicht. Offen blieb daher auch die Frage, ob überhaupt die Synthese der Entwicklungsstränge zu einem globalen ‚Kernrecht‘ oder wenigstens zu einem gemeinsamen ‚Kernbestand von Rechtsgrundsätzen‘ führen würde. Der Beantwortung dieser Frage hatte sich Ende des 19. Jh.s die Allgemeine Rechtslehre zu nähern versucht.28 Die Schwierigkeiten ihres Vorhabens standen ihr von Anfang an klar vor Augen: Eine empirisch vollständig abgesicherte Antwort 25 Zur Durchführung psychologischer Tests fehlten den umherreisenden Wissenschaftlern zum einen die Kenntnisse und zum anderen die nötige Anzahl von Versuchspersonen, mit denen sie sich ohne Zwischenschaltung eines Dolmetschers hätten verständigen können. 26 Vgl. etwa Piaget Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, 1975 (Orig.: La naissance de l’intelligence chez l’enfant, 1936). 27 Piaget Arch. de Psychol. 28 (1941), 2 ff., 3: „Le développement intellectuel tout entier pourrait bien revêtir la forme de groupements successifs.“ Geistige Entwicklung bedeute wachsende Höhe der logischen Strukturen des Denkens. Sich entwickeln bedeute, logische Strukturen von immer größerer Komplexität und Beweglichkeit aufbauen. 28 Zu ihr K.F. Röhl/H. Ch. Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 1 (S. 7: „Bunte Mischung von vorwiegend empirisch bewährten Einteilungen und Zusammenhängen, die nicht alle den Status einer wissenschaftlichen Theorie beanspruchen.“ S. 10: Rechtsvergleichung werde „nur als Steinbruch“ benutzt.)
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setzte nicht nur die Untersuchung des Rechts aller Völker der Erde, sondern auch die Vergleichung ihrer Normen, ihrer Rechtsprinzipien und deren Auswirkung auf die Praxis voraus. Ein unmögliches Unterfangen! War es dann sinnvoll, es überhaupt zu beginnen? Man einigte sich, dass selbst eine Teildurchführung Sinn machen, und nahm hin, dass man infolge der verbleibenden Lücken am Ende vor Wahrscheinlichkeitsaussagen stehen werde. Nichts zu gewinnen gab es ohnehin im Hinblick auf die Entwicklung des Recht bis zum Zeitpunkt seiner Untersuchung: War diese unbeeinflusst verlaufen oder beeinflusst durch äußere Veränderungen in der Natur (z.B. Klimawandel), infolge gestiegener Populationsdichte, aufgrund von Fortschritten in der Technik oder als Ergebnis eines Kulturaustausches mit fremden Völkern (‚Diffusion‘)? Gab es Gesetzmäßigkeiten? Oder wenigstens Parallelen? Und waren Parallelen, wenn es sie gab, eher zufällig oder doch so stringent, dass sie wenigstens gewisse Trends in der Vergangenheit erkennen und für die Zukunft voraussagen ließen? Nicht zuletzt infolge zweier Weltkriege erlahmte der ursprüngliche Impuls. Man gab den Ehrgeiz auf, zu universellen Aussagen über ein Menschheitsrecht und seine Entwicklung zu gelangen. Stattdessen beschränkte man sich auf die Erforschung einzelner indigener Völker sowie semiautonomer Stadtkulturen und insoweit vor allem auf die strukturellen und formellen Elemente des dort geltenden Rechts. 6. Ich breche hier ab. Die empirische Erforschung des Rechts der Menschheit war an eine offenbar unüberschreitbare Grenze gelangt. Was blieb, waren lediglich einige Erkenntnisse: dass es aufgrund der einheitlichen menschlichen Natur eingeborene Bewusstseinsformen gab, die Keime für ein späteres Rechtsbewusstsein enthielten; dass diese Keime in dafür geeigneten Umwelten heranreifen konnten; dass, was aus ihnen erwuchs, von unterschiedlichen Umwelten unterschiedlich geprägt wurde; und dass infolgedessen teils einheitliche, teils unterschiedliche Rechtsgedanken daraus hervor gesprossen sind. Die positiven Rechte hatten sich infolgedessen unterschiedlich ausdifferenziert, hatten einen unterschiedlichen Grad an Komplexität, Rationalität und Folgerichtigkeit erreicht und waren schließlich zu Rahmenbedingungen für unterschiedliche soziale Lebensformen geworden. Ich habe in diese Richtung weitergearbeitet und einesteils die urtümlichen Keime für das Recht durch halbstrukturierte Interviews mit minderjährigen Kindern sichtbar zu machen versucht, andernteils aus der entwicklungs- und sozialpsychologischen sowie aus der sozialanthropologischen Literatur einige Konsequenzen für die Erklärung und Gestaltung unseres Rechts und seines Gewordenseins gezogen. Hierauf möchte ich an dieser Stelle verweisen.29
29 Zuletzt: Lampe FS Rolinski, 2002, S. 401 ff.; ders. ARSP 92 (2006), S. 397 ff.; ders. FS Kühl, 2014, S. 815 ff.
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II. Jurisprudenz als Kunst der Gesetzgebung und der Gesetzesanwendung 1. Die vorstehenden Ausführungen galten der Untersuchung des Rechts und seiner Entwicklung mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften. Es zeigte sich, dass diese zwar das Verständnis für das Werden und Gewordensein nationaler Rechtsordnungen fördern können, weil sie als treibende Kräfte hierfür psychische, soziale und politische Faktoren sowie Philosopheme, Ideale und Ideologien namhaft machen,30 dass sie aber für die juristischen Entscheidungsfragen der Gegenwart wenig hergeben. Deren Beantwortung muss offenbar einer anderen Erkenntnisart überlassen bleiben, die weder Wissenschaft ist noch sein will: der Jurisprudenz. Von den Römern wurde sie als ars boni et aequi definiert. Sie galt als vera philosophia,31 d.h. auf den Zwecknutzen ausgerichtet,32 stand somit im Banne der ‚Praxis‘ 33 und sah ihre Hauptaufgabe in der Sammlung teils ergangener, teils bevorratender Kasuistik. Sie führte die Abstraktion des sozialen Lebens auf leitende Normen und Prinzipien nie weiter, als es für die Rechtspraxis dienlich war, und vermied infolgedessen die Anbindung an eine Philosophie, wie die Griechen sie lehrten: ausgerichtet auf die Erkenntnis des Wesens entweder der Dinge (Platon) oder des Wesens in den Dingen (Aristoteles). Unsere heutige Jurisprudenz bildete sich allerdings erst vom 11. bis 13. Jh. in Süd- und Westeuropa heraus. Im Justinianischen Corpus Iuris lag ihr zwar noch immer das römische Recht zugrunde, das sie jedoch aus seinem fremd gewordenen kulturellen Zusammenhang löste und überdies im 19. Jh. auf seine Bedeutung für die Gegenwart überprüfte.34 Da in dieser Gegenwart die griechische Philosophie und die Organisationsform liberaler Nationalstaaten Bedeutung erlangt hatten, galt es ihr, das römische Recht zum einen nur „als
30 Insofern gilt die Aussage des Ethnologen Post (Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz, 1886 [Neudruck 1989], S. 52 f.), dass die wissenschaftliche Forschung beim Aufweis, „ob irgendeine Sitte, irgendeine Anschauung im Volksleben existiert und weshalb sie existiert oder weshalb nicht,“ stehen bleiben muss, „ohne dass der individuellen Wertschätzung einer solchen Sitte oder einer solchen Anschauung irgendein Gewicht beigelegt wird.“ 31 Dig. 1, 1, 1 fr. 1 (Ulpian mit Bezug auf Celsus). 32 Jhering (Fn. 20), § 20: „Die römische Welt … lässt sich mit einem Wort als Triumph der Idee der Zweckmäßigkeit bezeichnen. … Die Unterordnung [des einzelnen Falles] ist ein Postulat der Zweckmäßigkeit, sie gewährt dem Verkehr erst die nötige Sicherheit, indem sie ihm gleichmäßige, im Voraus zu berechnende Entscheidungen der Rechtsstreitigkeiten in Aussicht stellt.“ 33 Diese ist im griechischen Sinne als ‚richtiges Handeln‘ zu verstehen. 34 Führend waren insoweit die deutschen Universitäten. Ein klassisches Werk wurde F. C. von Savignys „System des heutigen römischen Rechts“, das er 1849 als Bd. VIII seiner „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter“ (1815–31, 2. Aufl. 1834–51) veröffentlichte.
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eine (unter vielen möglichen) Ausgestaltung des [philosophischen] Rechtsgedankens zu verstehen“35 und es zum anderen einer Staatsverfassung unterzuordnen, deren Grundsätze den Idealen der griechischen Philosophie näher standen als der Zweckrationalität der römischen Jurisprudenz. Beides führte sie dann zu einer an das römische Recht zwar anknüpfenden, aber sowohl die altgriechischen Ideale als auch die neuen sozialpolitischen Verhältnisse berücksichtigenden Rechtsanschauung. 2. Was ist demnach heute Jurisprudenz? Sie ist, wie das Wort besagt, eine Klugheit (prudentia) bzw., wie die Römer sie definierten, eine Kunst (ars), die sich auf das Recht (ius) richtet – genauer auf das nationalstaatliche Recht und die ihm zugrunde liegenden, vom Nationalstaat zu verwirklichenden Ideale. Als Klugheit richtet sie sich – im Aristotelischen Sinne36 – einerseits auf den leitenden Teil des Rechts, d.i. die Gesetzgebung, andererseits auf die praktischen Teile, d.s. die von Rechtsprechung und die Verwaltung zu ordnenden sozialen und politischen Verhältnisse. Als Kunst besteht ihre Aufgabe darin, zwischen Gesetz und Realität (‚interpretierend‘) zu vermitteln, und deren wechselseitige Annäherung zu betreiben.37 Ihre Mittel sind einerseits die Auslegung des Gesetzestextes, andererseits die Scheidung des juristisch Wesentlichen vom Unwesentlichen in der Realität. Von der Wissenschaft (scientia) unterscheidet sie sich, indem sie neben dem Allgemeinen auch das Besondere bedenkt und bewertet und indem sie das Allgemeine im Besonderen zu erkennen, das Besondere vom Allgemeinen her zu begreifen und zu ordnen sucht.38 Den Wert der Gesetze beurteilt sie daher mit der Messlatte der Judikatur: welche Situationen sich ihren Normen subordinieren lassen, sobald ein ‚Richter‘ (als interpres = Zwischensprecher, Mittler, Ausdeuter) sie auf eine Realität anwendet, die ‚der Fall ist‘.39 Und reale Situationen beurteilt sie danach, ob sie im Sinne der nationalen Gesetze als Recht oder Unrecht definiert werden können. Im Einzelnen: • Aus dem Bereich der Realität übernimmt die Jurisprudenz die Aufgaben, (a) diejenigen konkreten ‚Situationen‘ als ‚Sachverhalte‘ herauszufiltern, die der rechtlichen Regelung bedürfen, und (b) als ‚Folgen‘ diejenigen konkreten ‚Situationen‘ auszuwählen, die den Regelungsbedarf befriedigen, schließlich (c) ‚Sachverhalte‘ und ‚Folgen‘ zueinander in eine gerechte ‚weil-deshalb‘-Beziehung zu bringen.
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Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Studienausgabe, 2. Aufl. 1992, S. 91. Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik, 6. Buch, 8. Kap. (1141b). 37 So auch Luhmann Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 256, 272. 38 Vgl. Aristoteles (Fn. 36), 6. Buch, 12. Kap. (1143a/b); ferner Jhering (Fn. 20). 39 Gadamer Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl. 1972, S. 519 (im Anschluss an Aristoteles). 36
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• Aus dem Bereich der Gesetzgebung übernimmt die Jurisprudenz die Aufgabe, die aus der Realität herausgefilterten ‚Sachverhalte‘ und ihre gesollten ‚Folgen‘ in zwar abstrakt formulierte, aber für die konkret-gerechte Individualisierung offene ‚wenn-dann‘-Sätze (als ‚rationale Hülle‘) einzubinden. • Aus den Bereichen der Rechtsprechung und Verwaltung übernimmt die Jurisprudenz die Aufgabe, konkret-individuelle Situationen in die abstrakten ‚wenn-dann‘-Sätze zu inordinieren, um sie als Beispiele für die abstrakt-generellen ‚weil-deshalb‘-Sätze der gesetzlichen Normen begreifen und daraus konkret-individuelle Folgesituationen rational begründen zu können. 3. Um die eben genannten Aufgaben klug zu lösen, muss sich die Jurisprudenz einem über ihr stehenden Imperativ unterwerfen, zu dessen Befolgung die nationalen Institutionen für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung einheitlich angetreten sind, um das soziale Zusammenleben friedlich und gerecht zu gestalten. Unterstellt man den Institutionen Klugheit, dann werden sie, um ihr Ziel zu erreichen, dem für die Effizienz jeglicher Organisation geltenden Gesetz des minimalen Energieaufwands („Entlastungsgesetz“) gehorchen, d.h. diejenigen Regelungen erlassen und durchsetzen, die mit einem möglichst geringen Energieeinsatz einen möglichst hohen Erfolg, ein kompossibles Maximum an rechtmäßigem Verhalten, erreichen. Erreichbar ist dieses Ziel durch Einwirkung teils auf den regelnden Teil, also auf die Gesetzgebung, teils auf die praktischen Teile, also auf die Rechtsprechung und die Verwaltung – teils indem z.B. eine Vielzahl bisher geltender Regelungen zu einer einheitlichen Regel zusammengefasst wird, teils indem z.B. der Anwendungsbereich bestehender Regelungen durch Rechtsprechung oder Verwaltung (etwa mittels Analogie) auf neue, bisher nicht subordinierte Sachverhalte ausgedehnt wird. Erst recht führt die Kumulation beider Optimierungsstrategien zur Erhöhung der Effizienz.40 Welche Regelungen erzielen mit dem geringstmöglichen Energieaufwand die höchstmögliche Effizienz? Die Antwort lautet: Es sind diejenigen, die das Sozialverhalten am stärksten sowohl von hemmender Vorsicht hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens anderer als auch von hemmender Rücksicht hinsichtlich des vergangenen Verhaltens anderer entlasten. Den ersten Erfolg erreichen Regelungen, die den höchstmöglichen Vertrauensgrad in normge-
40 Zu beachten bleibt allerdings, dass die moralische Qualität einer Regelung von der Optimierung ihrer Effizienz unabhängig ist. Deshalb können auch die Normen einer Räuberbande nach dem genannten Gesetz optimiert werden. Indessen müsste die Erörterung einer klugen Optimierung auch der sozialmoralischen Gerechtigkeit weit über das Ziel hinausführen, das ich mir im Rahmen meiner auf wenige Seiten beschränkten Untersuchung habe setzen können; vgl. Zippelius JZ 1976, 150 ff.
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mäßes Verhalten erzeugen, den zweiten Erfolg diejenigen, die den höchstmöglichen Befürchtungsgrad in die Folgen normwidrigen Verhaltens erzeugen. Die wichtigsten Klugheitsprinzipien für eine effiziente Rechtsgestaltung werden daher sein: die Sicherung des allgemeinen Vertrauens in das normgerechte Verhalten anderer und die Sicherung des allgemeinen Vertrauens in den Schutz vor den Folgen normwidrigen Verhaltens anderer. Und ohne dass ich dies hier weiter ausführen kann, meine ich postulieren zu dürfen, dass auf diese beiden – zugegeben sehr abstrakten – Prinzipien (sowie auf ihre sozialgerechte Verbindung miteinander) sich sowohl alle abstrakten Gesetzesnormen als auch alle konkreten Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen stützen müssen.
III. Über das Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Jurisprudenz Die letzten Ausführungen haben bereits der Kunst kluger Jurisprudenz einen wissenschaftlichen Rahmen gesetzt. Sie haben damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Jurisprudenz aufkommen lassen. Diese Frage kann entweder im Sinne des Einschlusses (Inklusion), des Ausschlusses (Exklusion) oder der wechselseitigen Durchdringung (Interpenetration) beantwortet werden. 1. Im Falle der Inklusion kann entweder die Jurisprudenz die Rechtswissenschaft oder umgekehrt die Rechtswissenschaft die Jurisprudenz in sich einschließen. Die erste Alternative bejahen offenbar K. Zweigert und H. Kötz, wenn sie schreiben:41 „Man kann zweifeln, ob die bloße Interpretation geltender Gesetze mit den üblichen Mitteln der Jurisprudenz den Charakter einer Wissenschaft … beanspruchen kann. Von Wissenschaft wird in der Jurisprudenz wohl erst dort gesprochen werden können, wo sie sich über die positiven nationalen Rechtsordnungen erhebt, wie es vornehmlich in der Rechtsphilosophie, in der Rechtsgeschichte, in der Rechtssoziologie und in der Rechtsvergleichung geschieht.“ Ein solcher Einschluss der Rechtswissenschaft in die Jurisprudenz ist jedoch schon begrifflich nicht zu befürworten, denn er nötigt, innerhalb der Jurisprudenz zwischen einem wissenschaftlichen (szientistischen) und einem
41 Zweigert/Kötz Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 2. Aufl. 1984, § 1 I (S. 4).
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nicht-wissenschaftlichen (artifiziellen) Bereich zu unterscheiden, obwohl für beide Bereiche unterschiedliche Arbeitsmethoden gelten. Die zweite Alternative bejaht heute die Mehrzahl der Juristen. Karl Larenz etwa grenzt zwar die Jurisprudenz von der „szientistischen“ Wissenschaft ab, begreift sie aber als „verstehende“ Wissenschaft, „weil sie Rechtstexte grundsätzlich problematisiert, d.h. sie auf verschiedene Deutungsmöglichkeiten hin befragt“, und weil sie dem einzelnen Wort Bedeutung erst aus dem Sinnzusammenhang des Textes, dem Text erst Sinn aufgrund der Wörter, die ihn bilden, zuerkennt.42 Indessen bleibt zum einen zweifelhaft, warum gerade die angeführten Gründe die Jurisprudenz zur Wissenschaft machen sollen. Zum anderen beschränkt sich die Jurisprudenz nicht auf das Verstehen von Rechtstexten (Gesetzen und Gerichtsentscheidungen), sondern ‚(be)handelt‘ sie auch konkrete Fälle.43 Sie anerkennt m.a.W. auch das ‚Recht des Einzelfalles‘, zu dem keine (begreifende) Wissenschaft, sondern nur (verstehende) Klugheit Zugang hat. 2. Im Fall der Exklusion stehen Rechtswissenschaft und Jurisprudenz beziehungslos einander gegenüber. Die Rechtswissenschaft hat das Sein und Werden des Rechts in Vergangenheit und Gegenwart zu ihrem Thema, die Jurisprudenz befasst sich mit dem Gesolltsein von Recht zum allgemeinen Wohl in Gegenwart und Zukunft. Ausschließlich Gegenstände der Rechtswissenschaft sind somit die historische Entwicklung des Rechts und die psychischen und rationalen Gesetze, die heute wie einst das Rechtsbewusstsein und die von ihm getragenen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung bestimmen. Ausschließlich Gegenstände der Jurisprudenz sind dagegen die Ausdifferenzierungen des Rechts gemäß einem metaphysischen Leitbild in Leitsätze für die nationale Gesetzgebung, Kriterien für das werthafte Verstehen von Gesetzesnormen sowie handlungsleitende Motive für die Bewertung von Einzelfällen aufgrund der Normen. Ein solches beziehungsloses Nebeneinander lässt jedoch das Recht nicht zu, weil sowohl sein Abbild als auch sein Vorbild der Mensch ist, der sowohl aufgrund seiner (wertfreien) natürlichen Fähigkeiten als auch aufgrund seiner (werthaften) Entscheidungen handelt, also gezwungen ist, sowohl den empirischen Gesetzen zu gehorchen als auch frei und eigenverantwortlich zu sein. 3. Im Falle der Interpenetration greifen Rechtswissenschaft und Jurisprudenz ineinander. Sie durchdringen sich zwar, doch bleibt ihre Eigenständigkeit und damit ihre unterschiedliche Forschungsmethode jeweils erhalten. 42
Larenz (Fn. 35), S. 92 ff. (92, 94). Vgl. Pawlowski Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 128, 92 ff.; Esser Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 7 ff., 142 ff., 162 ff., 171 ff. 43
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Anhand der sogen. Auslegungskanones für Gesetzestexte sei dieses Ineinandergreifen abschließend stichwortartig exemplifiziert. ‚Logische Auslegung‘:44 Es handelt sich in Wahrheit um die Überprüfung von Gesetzestexten auf Widersprüche unterschiedlicher Art. Sieht man in der Logik eine wissenschaftliche Theorie der Rechtssprache,45 dann führt ein logischer Widerspruch innerhalb einer Norm zu ihrer Ungültigkeit, ein logischer Widerspruch zwischen unterschiedlichen Normen zur Ungültigkeit mindestens einer von ihnen. Sieht man in der Logik dagegen eine prudenzielle Theorie der Argumentation, dann fordern Normwidersprüche lediglich dazu heraus, sie künstlich – etwa mittels Textauslegung oder mittels Annahme eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses – zu überbrücken. Grammatische Auslegung: Rechtswissenschaft und Jurisprudenz sind daran abermals in unterschiedlichen Rollen beteiligt. Als Wissenschaftler steht der Grammatiker über dem juristischen Gesetzgeber,46 sodass ein grammatisch falscher Satz keine sprachliche und damit auch keine juristische Geltung erzeugt. Vom Standpunkt der Jurisprudenz sind grammatisch falsche Normsätze dagegen so zu berichtigen, dass der vom Normgeber gemeinte Sinn zur Geltung kommt.47 Systematische Auslegung: Sie gehört regelmäßig in den Bereich der Jurisprudenz. Denn wissenschaftliche (axiomatisch-deduktive) Systeme gibt es innerhalb der Rechtsordnung selten.48 Somit ist es regelmäßig ein Gebot der Klugheit, Rechtsnormen so auszulegen, dass innerhalb eines gesetzlichen ‚Kontextes‘ Normwidersprüche aufgelöst und die einzelnen Sätze zu einem künstlichen Ganzen zusammengeführt werden.49 Genetische Auslegung: Sie steht auf der Grenze zwischen Rechtswissenschaft und Jurisprudenz: Die Rechtswissenschaft legt für sie den Grund, entweder indem sie – aktualgenetisch – nach den Motiven fragt, die den Gesetzgeber zum Erlass einer Norm geführt haben, sowie nach dem Interesse, das er mit der Norm befriedigen wollte; oder indem sie – historiogenetisch – nach der Funktion fragt, die eine solche Norm bisher erfüllen sollte bzw.
44
Zum Folgenden Engisch Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1997, S. 207 ff. Lampe Juristische Semantik, 1970, S. 1 Fn. 2 m. Nachw. 46 So schon von Ockham Dialogus de potestate papae et imperatoris, 1614, S. 630. 47 Im Gegensatz zu logisch widersprüchlichen Sätzen kommen sprachlich falsche Sätze innerhalb von Gesetzen häufiger vor, als man vermuten sollte. Als Beispiel sei § 25 I StGB angeführt, wo die sogen. mittelbare Täterschaft grammatisch falsch als eine „Straftat“ definiert wird, die jemand „durch einen anderen begeht“, während es grammatisch richtig „durch einen anderen begehen lässt“ heißen muss. 48 Klug Juristische Logik, 3. Aufl. 1966; E. von Savigny in: Jahr (Hrsg.), Rechtstheorie: Beiträge zur Grundlagendiskussion, 1971, S. 315 ff.; Hruschka JZ 1985, 1 ff. (bes. S. 7 f.). 49 Dazu Koch/Rüssmann Juristische Begründungslehre, 1982, S. 167 m. Nachw. 45
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erfüllt hat.50 Die Jurisprudenz geht darüber hinaus, indem sie das wissenschaftlich gewonnene Ergebnis mit Blick auf Gegenwart und Zukunft bewertet. Für sie sind die Motive des Gesetzgebers und das von ihm verfolgte Interesse lediglich Argumente für die Auslegung, die durch Gegenargumente entkräftet werden können. Und die bisherige Funktion einer Norm unterstellt sie der clausula rebus sic stantibus mit der Folge, dass der Norm aufgrund veränderter Verhältnisse eine veränderte Funktion zukommt.51 Allerdings wird sie klugerweise auch verlangen, dass die neue Funktion nicht nur durch den (logisch-grammatisch ermittelten) Wortsinn der Norm gedeckt wird, sondern dass wissenschaftliche Erkenntnisse sie auch als erfüllbar erweisen – dass mithin Wunsch und Wirklichkeit bei der Anwendung der Norm zur Deckung gebracht werden können.52 Teleologische Auslegung: Sie stützt sich lediglich auf den Text einer Norm, fragt also weder nach den zu ihrem Erlass führenden Gründen noch nach den mit ihr verfolgten Zwecken. Stattdessen aktualisiert sie den Sinn einer Norm im Hinblick auf die Gegenwart. Wissenschaftlich gebunden sieht sie sich dabei lediglich insoweit, als sie den Verständnisrahmen einhalten muss, den der Normtext eröffnet, und indem sie der Norm nur Zwecke vorgeben darf, die aufgrund ihrer Funktion erreichbar sind. Im Übrigen ist Klugheit ihr einziger Ratgeber.
IV. Schluss Ich komme abschließend auf den eingangs erwähnten Aufsatz zurück. Der Jubilar kritisiert darin die Einseitigkeiten sowohl eines empiriefreien Normativismus als auch eines ohne normativen Ausgangspunkt auskommenden Ontologismus (Naturalismus). Er selbst bekennt sich zu einer Synthese von ontologischen (empirischen) und normativen Elementen innerhalb der strafrechtlichen Dogmatik und damit in der hier verwendeten Terminologie zu einem Miteinander von Rechtswissenschaft und Jurisprudenz. Es besteht also zwischen der von ihm und der von mir vertretenen Auffassung eine hohe prinzipielle Übereinstimmung, aus der sich noch eine Fülle von weiteren Übereinstimmungen „am Rechtsstoff konkretisieren“ ließe, sofern hier der Raum zur Verfügung stünde.
50 Müller/Christensen Juristische Methodik, Bd. I, 10. Aufl. 2009, Rn. 360 ff., unterscheiden zwischen genetischer und historischer Auslegung, sehen aber auch Verschränkungen zwischen beiden. 51 BVerfGE 34, 288: „Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben.“ 52 Diskussion der Problematik bei Engisch (Fn. 44), S. 106 ff.
Zur Identität der Strafrechtswissenschaft in der Mehrebenen-Rechtsordnung Vincenzo Militello I. Vorbemerkungen Unter den zahlreichen strafrechtlichen Denkansätzen Bernd Schünemanns – des verehrten Strafrechtsgelehrten, mit dem mich seit nunmehr fast 30 Jahren eine Beziehung verbindet, die ich unter wissenschaftlichen sowie menschlichen Gesichtspunkten immer als außerordentlich bereichernd empfunden habe – stellt die Frage nach Sinn und Kennzeichen der zeitgenössischen Strafrechtswissenschaft ein stets wiederkehrendes Thema dar.1 Gleichzeitig entgingen die Probleme der Europäisierung des Strafrechts nicht seinem wachsamen Auge, sondern waren Impuls für seine Fähigkeit, als kritischer Stimulus für die Strafrechtswissenschaft zu wirken.2 Daher möchte ich ihm die vorliegende Überlegung widmen, in der die beiden genannten Profile zusammenfließen, im vollen Bewusstsein, dass die Schlussfolgerungen, zu denen ich gelange, zwar nicht die von ihm mehrfach vertretenen Positionen widerspiegeln, jedoch auch den von ihm gelieferten unzähligen fruchtbaren Denkanstößen geschuldet sind. Nach einer einleitenden Darstellung des Verhältnisses zwischen Strafrechtswissenschaft und Mehrebenen-Rechtsordnung, seiner Bedeutung und seiner Kontexte, werden einige problematischere Bereiche untersucht: Die Haltung gegenüber einer supranationalen Harmonisierung des Strafrechts, der Gedanke einer einheitlichen Strafrechtsdogmatik und schließlich die Rolle der Internationalisierung für die Strafrechtswissenschaft. Obwohl das Hauptthema weitere Fragen beinhaltet, scheinen die drei Beispiele aus den Prüffeldern Gesetzgebung, Dogmatik und Forschung zumindest lehrreich, um einen Beitrag zur Diskussion zu leisten.
1 Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 f.; ders. GA 1985, 341, 342; ders. FS R. Schmitt, 1992, S. 123 ff.; ders. GA 1995, 201 ff.; ders. FS Roxin, 2001, S. 1 ff.; ders. GA 2001, 205, 206 f. 2 Schünemann (Hrsg.), Bausteine eines Europäischen Strafrechts, 1995; ders. GA 2002, 501, 514 f.; ders. ZStW 116 (2004), 376 ff.; ders. (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege. Programme for European Criminal Justice, 2006; ders. FS Szwarc, 2009, S. 109 ff.
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II. Bedeutungen Die Worte, die Karl Binding vor genau hundert Jahren seinem Werk „Grundriss des deutschen Strafrechts“ voranstellte, postulierten eine präzise „Identität der Strafrechtswissenschaft“ und gleichzeitig ihr unabänderliches Schicksal: Ihr wesentlicher Kern sei „das Verbrechen und der Verbrecher – beide sind leider unsterblich“. Und weiter: „Das Verbrechen zu lehren samt seiner Rechtsfolge wird also stets eine große, scharf geschlossene Aufgabe der Rechtswissenschaft bleiben“.3 Eine Prophezeiung, der eine präzise strafrechtliche Ideologie und gleichzeitig eine rigorose Methodik zugrunde lagen. Erstere bestand in der Vergeltung: Das Strafrecht beschäftige sich nicht mit der Verbrechensbekämpfung, sondern lediglich mit der „wirklich begangenen Missetat des Einzelnen“.4 Im offenen Gegensatz zu von Liszts „gesamter Strafrechtswissenschaft“ war die entsprechende rechtstechnische Studienmethode mit dem Primat der nur auf den positiven Rechtsnormen aufgebauten Rechtstheorie fest verankert.5 Reichen solche theoretische Grundlagen aus, um Bindings Gedanken als nunmehr überholt darzustellen und ihnen ihre erklärte absolute und zeitlose Geltung abzusprechen? Fragen nach der „Identität der Strafrechtswissenschaft in der Mehrebenen-Rechtsordnung“ lenken die Aufmerksamkeit weniger auf die Veränderung der Strafrechtsideologien als vielmehr auf die Rolle, die schon der geänderte Kontext der jeweiligen Rechtsordnung spielt. Der Sieg des präventiven Ansatzes, Ausdruck einer neuen strafrechtlichen Ideologie der Kontrolle,6 brachte eine quantitative Erweiterung des Strafrechts mit sich, die oft in einem Spannungsverhältnis zu den traditionellen Grundsätzen der klassischen Strafrechtswissenschaft stand.7 Die daraus folgende Kritische Theorie des modernen Strafrechts8 setzte sich mit neuen kriminalpolitischen Paradigmen auseinander, vom „Risikostrafrecht“ über das „Feindstrafrecht“ bis hin zum Verhältnis zwischen „Strafrecht und Sicherheit“.9
3 Binding Strafrechtliche und Strafprozessuale Abhandlungen, Bd. I, Strafrecht, 1915, S. 3 f. und als Vorwort in Grundriss des deutschen Strafrechts, AT, 8. Aufl. 1913, S. 3 f. 4 Binding Strafrechtliche Abhandlungen (Fn. 3), S. 5. Daher wird er oft als Hauptvertreter der klassischen Schule dargestellt: z.B. Radzinowicz Ideology and Crime, London 1966, S. 23. 5 So auch in Italien Rocco Il problema ed il metodo della scienza del diritto penale, Milano 1910. Über die Beziehungen zwischen deutschen und italienischen Strafrechtswissenschaften Militello Rivista italiana diritto e procedura penale (= RIDPP) 2012, 348, 354. 6 Garland in: Bottoms/Tonry (Eds.), Ideology, Crime and Criminal Justice, Cullompton 2002, S. 8 f. 7 Silva Sanchez Die Expansion des Strafrechts, 2003; Weigend FS Frisch, 2013, S. 17, 23. 8 Hassemer ZRP 1992, 378 f.; s. auch Kuhlen in: Eser u.a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 58 f. 9 Jeweils Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993; Jakobs in: Eser u.a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47, 51 f.; Hassemer HRRS 2006, 130 f.
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Heute handelt es sich jedoch nicht mehr um ein Nachdenken über in einer einzigen Rechtsordnung entworfene Modelle des Strafrechtssystems, sondern es muss der Veränderung dieses begrenzten nationalen Raumes selbst Rechnung getragen werden, der seit dem 19. Jahrhundert den Schauplatz sowohl des Verbrechens als auch der entsprechenden Lehren darstellt. Dessen Gerüst bestand zur Gänze aus innerstaatlichen Rechtsnormen, die zur Vermeidung von Antinomien hierarchisch geordnet waren. Kennzeichen, die ins Wanken gerieten durch die zunehmende Verflechtung von unterschiedlichen Rechtsordnungen, womit auch einhergeht, dass nunmehr Gerichte aus den unterschiedlichen Rechtssystemen die Normen interpretieren und anwenden. Die Verhältnisse zwischen den Gerichten verschiedener Rechtsordnungen spielen daher eine neue Rolle bei der Festsetzung der verbotenen Verhaltensweisen und der jeweiligen strafrechtlichen Folgen.10 Die durch die Globalisierung und besonders durch die europäische Integration beschleunigte Änderung der staatlichen Rechtsordnungen betrifft verschiedene und grundlegende Themen der Strafrechtswissenschaft; von den Beziehungen zwischen nationalen und supranationalen Rechtsquellen und dem Sinngehalt des nullum crimen sine lege-Grundsatzes bis hin zu der Interaktion zum Thema Grundrechtsschutz zwischen den nationalen und internationalen Gerichten. Solche Probleme stellen sich im Rahmen einer neuen Dynamik der Rechtsordnung, die die konsolidierten Hierarchien unter den Rechtsquellen ebenso in Zweifel zieht wie die Beziehungen zwischen Gerichten: In beiden Fällen ist die traditionelle Deduktionslogik hierarchischer Prägung nicht mehr gültig; vielmehr etablieren sich neue Formen der wechselseitigen Beeinflussung und Interaktion. Immerhin kann schwerlich behauptet werden, dass all dies den zeitgenössischen Strafrechtler der Warnung Bindings enthebe: Kern der Strafrechtsdogmatik bleibt noch heute, über das Verbrechen und den Verbrecher zu forschen.11 Die Frage ist jedoch, wie die Umwälzungen innerhalb der einzelnen Rechtsordnungen auf theoretischer Ebene behandelt werden sollen, damit die Funktion der Strafrechtswissenschaft erhalten bleibt, nämlich diejenigen, die sich innerhalb des Systems der Rechtsanwendung mit der Frage der Kriminalität auseinandersetzen müssen, erst auszubilden und ihnen sodann die Richtung zu weisen.12 10 Auf die Mehrebenen-Rechtsordnung wird im Kontext der Europäisierung des Strafrechts oft hingewiesen: Sieber in: ders. u.a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, S. 78 ff.; Meyer Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht, 2009, S. 15, 66 f.; Manes Il giudice nel labirinto, Roma 2012, S. 80 f.; Donini Il volto attuale dell’illecito penale, Milano 2004, S. 145 f.; ders. Europeismo giudiziario e scienza penale, Milano 2011, S. 48. 11 Die fortdauernde Bedeutung der am Anfang des 20. Jahrhunderts festgelegten Grundlagen der Strafrechtswissenschaft wird von Frisch in: Eser u.a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 165 f. hervorgehoben. 12 Frisch (Fn. 11), S. 162 f; im Allgemeinen z.B. Potacs Rechtstheorie, 1994, 202 f.
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Das Thema nimmt also die Frage nach „Lebendigem und Totem in Bindings Normentheorie“ wieder auf und aktualisiert sie im Hinblick auf Kennzeichen und Aufgaben der Strafrechtswissenschaft: Es gilt zu prüfen, ob unter die „Wesensvoraussetzungen“ der Strafrechtsdogmatik, die noch Mitte des vorigen Jahrhunderts als „sowohl ,überzeitliche‘ als auch notwendige Gemeinsamkeiten der Rechtssätze“ angesehen wurden,13 auch jener von Binding erkannte Kernbereich fällt, und vor allem, ob der neue Kontext, Ergebnis der Interaktion zwischen verschiedenen „Justizsphären“ nationaler und internationaler Art, nicht letztlich die Identität selbst der Strafrechtswissenschaft beeinflusst.
III. Innere und externe Gesichtspunkte Die Identität der Strafrechtswissenschaft kann zunächst als Selbstdarstellung derjenigen gesellschaftlichen Figuren verstanden werden, die sie entwickeln, und zwar aufgrund einer „autopoietischen“ Perspektive.14 Anders hingegen die Bewertung der Strafrechtswissenschaft aus einer externen Perspektive, d.h. hinsichtlich der allgemeinen Vorstellungen über die Rechtswissenschaft seitens der Gesellschaft, im Rahmen einer Gesamtkonzeption des Rechtssystems als sozialem Subsystem.15 Unter dem ersten Gesichtspunkt ist die Strafrechtswissenschaft – ebenso wie die anderen Rechtswissenschaften (außer Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte) – gekennzeichnet durch das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis,16 und zwar sowohl was die Arbeitsmethode, als auch was die Auswahl und die Untersuchung der Forschungsgegenstände anbelangt.17 Jenseits der allen Wissenschaften verfassungsmäßig garantierten Freiheit18 hat die Entwicklung der Interaktion zwischen Rechtstheorie und Rechtsanwendung im Wesentlichen zwei Hauptakzente gesetzt: sowohl auf die kritische Prüfung der Rechtsprechung als auch auf die Funktion der Juristenausbildung.19
13
Arm. Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. IX. Paliero in: Eser u.a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 77. 15 Luhmann Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, it. Übersetzung: Sistema giuridico e dogmatica giuridica, 1978, S. 37, 50 f. Vgl. auch Friedman The Legal System: A Social Science Perspective, New York 1975, it. Übersetzung Il sistema giuridico nella prospettiva delle scienze sociali, 1978, S. 325 f., 371 f. 16 Deutlich dazu Pagliaro Principi di diritto penale, PG, 8. Aufl., Milano 2003, S. 104 f. 17 Vgl. z.B. Schünemann GA 1985, 342; in Bezug auf das Problem des Rechtgutes schon Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 12 f. 18 Hassemer in: Eser u.a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 29. 19 Vgl. Wissenschaftsrat Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, 2012, S. 25. 14
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Beide hatten lange Zeit hindurch hauptsächlich nationalen Charakter. Die Strafrechtswissenschaft selbst orientierte sich traditionell an der Interpretation, der Systematik und der Kritik des positiven Rechts,20 das sich im Wesentlichen auf die nationalen Rechtsordnungen beschränkte.21 Das Strafrecht wird zu den wichtigsten Ausprägungen der nationalen Souveränität gezählt und damit auch zu den kulturellen Wurzeln des Volkes auf dem jeweiligen Staatsgebiet.22 Diese traditionellen Grundlagen der Strafrechtswissenschaft sind nun bedroht durch zwei unterschiedliche, aber konvergierende Faktoren, und zwar einerseits die zunehmende Bedeutung der internationalen Standards für die Gesetzgebung der einzelnen Nationalstaaten und andererseits die metanationale Dimension der Kriminalität oder zumindest einiger ihrer schwereren Manifestationen.23 Was den zweiten Gesichtspunkt angeht, sind die Erwartungen vielfältig, die die Gesellschaft von außen an die Strafrechtswissenschaft heranträgt: Sie muss bei der Regelung strafrechtlich relevanter Konflikte gewährleisten, dass sich Werte und Normen in Einklang befinden; sie muss insbesondere, im Rahmen ihres komplexen Verhältnisses zur öffentlichen Gewalt, ein Gleichgewicht zwischen Machtgebrauch und Freiheit der Bürger anstreben,24 und schließlich muss sie zur Juristenausbildung beitragen. Ohne eine angemessene Berücksichtigung dieser gesellschaftlichen Erwartungen würde jede Strafrechtswissenschaft ihren Kontakt mit der Wirklichkeit, in der sie operiert, verlieren.25 Das bedeutet jedoch nicht, dass sie allen Impulsen folgen sollte, welche die Gesellschaft an das Strafrecht weiterleitet: Die kollektiven Strafbedürfnisse reflektieren oft zufällige, ja teils nur gelegenheitsbedingte Ansprüche, die
20 Auch jüngere Ansätze, die den Zusammenhang zwischen Strafrechtswissenschaft und kriminalpolitischen Bewertungen betonen, beziehen sich nicht auf eine „hypothetische Rechtsordnung“, sondern auf „das geltende Recht“ und auf „die positiven Normen“: so z.B. Schünemann FS R. Schmitt, 1992, S. 119, 126. 21 Eine Anerkennung z.B. in Naucke Strafrecht. Eine Einführung, 9. Aufl. 2000, S. 138. 22 Höffe Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, 1999, it. Übersetzung Globalizzazione e diritto penale, 2001, S. 11. Das dient oft als Argument gegen die Europäisierung des Strafrechts (z.B. Weigend ZStW 105 [1993], 774, 785 sowie Otto FS Szwarc, 2009, S. 53 ff.; Meyer [Fn. 10], S. 48 f.), entstammt aber schon einem Grundgedanken von Savigny (vgl. Becchi Giuristi e principi, Roma 2010, S. 134 f.). 23 Sieber Rechtstheorie 2010, 151 f.; auch Palazzo Il diritto penale tra universalismo e particolarismo, Napoli 2011, S. 19 f. 24 Pulitanò RIDPP 1993, 1214; Hassemer (Fn. 18), S. 23 f.; sowie Maiwald JZ 2003, 1073 ff. 25 Der Vorwurf einer immer mehr verbreiteten symbolischen Strafrechtsgesetzgebung, die von emotionalen Impulsen beherrscht ist und aus populistischen Gründen betrieben wird, soll aber nicht dazu führen, die Verbindung mit den sozialen Instanzen des Strafrechtsschutzes zu vernachlässigen, die in einem demokratischen System grundlegend sind; vgl. Kuhlen (Fn. 8), S. 66 f.
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nicht immer durch adäquate Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit im Verhältnis zum gesamten Strafrechtssystem gefiltert sind.26 Aus welcher Perspektive auch immer nun die Strafrechtswissenschaft bewertet wird, sei es seitens der Juristen oder anderer sozialer Akteure, die Frage nach ihrer jeweiligen Identität betrifft niemals nur die Inhalte ihres Gegenstandes und die Besonderheiten ihrer Methode. Von Bedeutung sind auch ihre Verknüpfungen mit allen anderen Wissensgebieten, die zum Studium der Kriminalität und ihrer Bekämpfung beitragen können: Von der Strafrechtsgeschichte über die Methodologie, die Sozial- und Humanwissenschaften (z.B. die Psychologie) bis hin zur Kriminologie und zur Strafrechtsvergleichung. Wenn auch die zahlreichen beteiligten Disziplinen nur innerhalb des Ideals einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“ von einem einzigen Wissenschaftler vollkommen beherrscht werden können, so ist doch mittlerweile die alte Forderung nach radikaler Unbeteiligtheit und wechselseitiger Isolierung dieser Disziplinen als Garantie für die „Wissenschaftlichkeit“ der Strafrechtswissenschaft überholt.27 Heute kann die Strafrechtswissenschaft nicht auf die interdisziplinären Verbindungen verzichten, was Konsequenzen bis hin zu den Organisationsformen der Forschung mit sich bringt: Weder kann der Strafrechtswissenschaftler nach Beherrschung aller potenziell relevanten Wissenschaften streben, noch sich auf persönliche Recherchen beschränken – er kann und muss jedoch an kollektiver, von einem interdisziplinären Team betriebenen Forschung teilnehmen, wodurch die Einbringung unterschiedlicher und miteinander interagierender wissenschaftlicher Beiträge sichergestellt wird. Das bedeutet aber, dass die Frage der Identität der Strafrechtswissenschaft weit davon entfernt ist, zeitlos fixierte Inhalte à la Binding zu haben. Ganz im Gegenteil: Adäquate Antworten können nur innerhalb des jeweiligen Kontextes gesucht werden, weil das Rechtssystem selbst einer dynamischen Entwicklung unterliegt und daher eine ständige Anpassung aller seiner Teilbereiche an die veränderten Bedingungen fordert. Auch die Strafrechtswissenschaft bleibt also keineswegs unberührt vom dynamischen Prozess des Rechtssystems und seiner Bestandteile, sondern sie gestaltet ihn mit und wird von ihm mitgestaltet. 26 Von einer „strafrechtlichen Demokratie der Massenmedien“, in der „die Kriminalpolitik … die Dogmatik verschlungen hat“, spricht Donini Europeismo (Fn. 10), S. 43 f; für Beispiele in Italien in Bezug auf den Begriff der öffentlichen Sicherheit vgl. Militello in: Würtemberger u.a. (Hrsg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, 2012, S. 277 f.; weitere Beispiele in Insolera (Ed.), La legislazione penale compulsiva, Padova 2006. 27 Zur fehlenden Realisierbarkeit der Ziele der gesamten Strafrechtswissenschaft vgl. Donini Europeismo (Fn. 10), S. 20 f., 121 f. Auch die neuen Entwicklungen der deutschen Strafrechtsdogmatik (Zweckfunktionalismus des Strafrechts und Normstabilisierung, nach Roxin GA 2011, 678 ff.) bringen eine Einschränkung mit sich, was die Vielfalt der von der vereinten Strafrechtswissenschaft theoretisch postulierten Wissensgebiete anbelangt.
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IV. Entwicklungswege 1. Die Angleichung der staatlichen Strafrechtssysteme: Utopie oder Prozess? Unter den Problemen, denen die Strafrechtswissenschaft in der Mehrebenen-Rechtsordnung gegenübersteht, kommt der Angleichung der Vorschriften in den Strafrechtssystemen der Einzelstaaten besondere Bedeutung zu. Diese Aufgabe gehört mittlerweile zu den erklärten Zielen der EU, deren Organe seit dem Vertrag von Amsterdam in bestimmten Bereichen besonders schwerer Kriminalität „Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen“ bestimmen können (heute Art. 83 AEUV). Auf diesem neuen Territorium kann sich die Strafrechtswissenschaft nicht auf das traditionelle, dem Normenkatalog einer einzigen Rechtsordnung zugewandte Modell beschränken, sondern muss das vergleichende Studium der diversen nationalen Rechtserfahrungen mit berücksichtigen. Genauer gesagt, ihr Wissensbeitrag ist wichtig auf dem Weg zur supranationalen Harmonisierung, da die Straftaten und die entsprechenden Strafen das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung der verschiedenen nationalen Lösungen sein müssen, damit ihre Implementation in den einzelnen Rechtsordnungen verbessert und erleichtert wird.28 Hier tritt aber ein nicht zu vernachlässigendes Problem auf: Die Harmonisierungsmaßnahmen, die die EU bisher auf dem Gebiet des Strafrechts erlassen hat, werden sowohl als symbolisch als auch als ein trompe l’oeil angesehen,29 wenn sie nicht sogar zu Reibereien zwischen den unterschiedlichen nationalen Strafrechtssystemen Anlass geben.30 Es ist nicht zu leugnen, dass eine dialektische Beziehung zwischen der EUEbene und den einzelnen Mitgliedstaaten sozusagen „naturgegeben“ ist, da die Harmonisierungsbedürfnisse auf höherer Ebene gerade aus der Notwendigkeit entstehen, die nationalen Unterschiede zu überwinden. Die oben genannte Kritik an den europäischen Harmonisierungsmaßnahmen und ihrer Wirksamkeit für die nationalen Strafrechtssysteme scheint aber den zweifachen Prozess der Herausbildung von Modellen europäischer Prägung und ihrer jeweiligen Aufnahme in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nur ungenügend zu berücksichtigen.
28 Zur Rechtsvergleichung für die europäische Harmonisierung z.B. Bernardi in: Canestrari/Foffani (Eds.), Il diritto penale nella prospettiva europea, Milano 2005, S. 392 f.; zuletzt Maiwald FS Frisch, 2013, S. 1375. 29 Z.B. Satzger Internationales und europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 9 Rn. 43, sowie Weyembergh Revue internationale de droit pénal 2006, 188. 30 Jüngst Pastor Muñoz GA 2010, 86, 90.
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Um ein solches Verhältnis zwischen mehreren Ebenen der betroffenen Rechtsordnungen zu bewerten, gibt es verschiedene Perspektiven und daher auch verschiedene Folgen aus diesen: Bei einem „Top-down-Ansatz“, bei dem die europäischen Harmonisierungsmaßnahmen die Grundlage bilden, zeigen sich gemeinsame Elemente auf supranationaler Ebene; betrachtet man jedoch die Auswirkungen der Angleichung der europäischen Normen in den einzelnen Mitgliedstaaten, so bleiben Besonderheiten der einzelnen Strafrechtssysteme so weit bestehen, dass die Annahme einer nur unvollkommenen Umsetzung des Harmonisierungsprozesses wohl begründet ist. Geht man hingegen von einem umgekehrten „Bottom-up-Ansatz“ aus, so wird die Vielfältigkeit der nationalen Ausgangslösungen von den späteren europäischen Eingriffen auf einige gemeinsame Modelle reduziert. Die in den heutigen Strafrechtssystemen der Mitgliedstaaten noch bestehenden Besonderheiten haben ihrerseits allmählich eine durch europäischen Druck vorangetriebene Annäherung erfahren. Eine solche Variabilität der Perspektiven und Resultate zeigt, dass die strafrechtliche Harmonisierung im europäischen Rahmen nicht als ein bereits erzieltes Ergebnis beurteilt werden kann. Es handelt sich vielmehr um einen offenen, noch im Gange befindlichen Prozess, der bereits bedeutende Fortschritte gezeitigt hat, indem er nicht zu einer fortschreitenden Divergenz der einzelstaatlichen Strafrechtssysteme führte, sondern eher deren Konvergenz angesichts einer ganzen Reihe schwerer krimineller Phänomene begünstigte. Vor diesem Hintergrund zeigt eine allgemeinere Betrachtung der Natur der Harmonisierung: Es handelt sich – um eine bekannte rechtstheoretische Unterscheidung aufzugreifen – nicht um eine europäische Regel zum Thema Strafrecht, sondern um einen europäischen Grundsatz (zum selben Thema). Ein Grundsatz kann nicht absolut gesetzt, d.h. als entweder streng anzuwenden oder vollkommen untauglich bewertet werden, sondern er kann nur eine allmähliche und nie abgeschlossene Annäherung zwischen den verschiedenen europäischen Strafrechtssystemen bedeuten. Das kann als weiterer Ausdruck jener flexiblen Logik („flou-logic“) angesehen werden, die durch den europäischen Menschenrechtsschutz in den einzelnen Strafrechtssystemen eine zunehmende Rolle spielt.31
31 Delmas-Marty Le flou du droit. Du code pénal au droit de l’homme, Paris 1986, it. Übersetzung Dal codice penale ai diritti dell’uomo, Milano 1992, S. 262 f; vgl. auch Wolter in: Schünemann/de Figueiredo Dias (Hrsg.), Coimbra Symposium, 1995, S. 3 f.; Militello FS Eser, 2005, S. 807, 813 f.; vgl. Schaut Europäische Strafrechtsprinzipien, 2012, S. 21 f., 43 f.; Herlin-Karnell The Constitutional Dimension of European Criminal Law, Oxford 2012.
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2. Einheitlichkeit der Dogmatik über die Differenzen der einzelnen Rechtsordnungen hinaus? Der Einfluss Europas auf die einzelstaatlichen Strafrechtssysteme sollte die Strafrechtswissenschaft nicht nur hinsichtlich ihrer ex post Bewertung der von der Harmonisierung beeinflussten normativen Entwicklungen, sondern auch bereits ex ante interessieren, und zwar angesichts der Rolle, die ihr bei den europäischen kriminalpolitischen Entscheidungen über Harmonisierungsmaßnahmen zukommt. In Bezug darauf scheinen divergierende Stellungnahmen auf zwei gegensätzliche Grundhaltungen zurückzuführen zu sein. Die erste von ihnen steht der Europäisierung der nationalen Strafrechtssysteme im Wesentlichen antagonistisch gegenüber, weil sie diesen Prozessen einen Kollisionskurs mit den rechtsstaatlichen Garantien vorwirft.32 Die zweite hingegen zeichnet sich durch den konstruktiven Willen aus, mithilfe gemeinsamer Forschungsinitiativen, Korrekturen oder Integrationen Lösungen für den grundsätzlich als notwendig erachteten europäischen Einsatz im Strafrecht zu finden.33 Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen beiden Strömungen würde die Grenzen dieses Beitrags sprengen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass in keiner von beiden ein theoretischer Ansatz liegt, der in Bezug auf die europäische Harmonisierung des Strafrechts hilfreich sein könnte, um eine gemeinsame Stellungnahme über die jeweilige nationale Herkunft der Strafrechtswissenschaftler hinaus aufzubauen.34 Kurz vor Beginn der Europäisierung der Strafrechtssysteme fand sich die internationale strafrechtliche Diskussion belebt von dem Vorschlag, die verschiedenen Lehren innerhalb der einzelstaatlichen Rechtsordnungen hinter sich zu lassen und stattdessen eine einheitliche Strafrechtsdogmatik zu konzipieren. Diese sollte ihre eigenen Begriffskategorien entwickeln, nicht von mehr oder weniger zufälligen Lösungen seitens der nationalen Rechtsordnungen ausgehend, sondern von einem gemeinsamen Kern an begrifflichen Strukturen, die der Motivierbarkeit menschlichen Handelns durch Normen 32 Vgl. z.B. P.-A. Albrecht/Braum KritV 1998, 461, 465 f.; Hassemer KritV 1999, 133, 136; Braum JZ 2000, 493 ff.; P.-A. Albrecht u.a. KritV 2001, 279 ff.; Moccia in: Bartone (Ed.), Diritto penale europeo, Padova 2001, S. 34, 54; Kaiafa-Gbandi KritV 2001, 290 ff. 33 Jeweils Delmas-Marty/Vervaele (Eds.), The Implementation of the Corpus Juris in the Member States, Antwerpen 2000; Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002; Militello/Huber (Eds.) Towards a European Criminal Law Against Organised Crime, 2001; Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006; zuletzt European Criminal Policy Initiative Manifesto on European Criminal Law, ZIS 2009, 737 und Manifesto on European Criminal Procedural Law ZIS 2013, 430. 34 Zieschang ZStW 113 (2001), 255, 264 f. sah beispielsweise den europäischen Harmonisierungsprozess als Chance für eine gemeinsame Strafrechtswissenschaft auf internationaler Ebene an.
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innewohnen.35 Das hier relevante Profil einer solchen prä-positiven Lehre betrifft ihr Potenzial, mit dessen Hilfe die Strafrechtswissenschaft Alternativmodelle für europäische Strafrechtsmaßnahmen entwerfen kann, welche nicht Ausdruck dieser oder jener (nationalen) Dogmatik wären, sondern lediglich der (als „rechtens“ angenommenen) Dogmatik.36 Eine derartige einigende Perspektive impliziert aber ein untragbares Risiko: Es käme zu einer Theorie, welche nicht von einer adäquaten Kenntnis und einem sorgfältigen Vergleich aller normativen Lösungen, sondern von einer besonderen Vision der logischen Strukturen geprägt wäre, die als Grundsteine des gesamten Theoriegebäudes angesehen würden und vielleicht ihrerseits von einer bestimmten nationalen Rechtsordnung und Kultur beeinflusst wären.37 Falls ein solches Szenario als Richtlinie des europäischen Strafrechts angenommen würde, könnte dies außerdem den Kritikern des Europäischen Strafrechts ein unverhofftes Argument bieten, die diesem vorwerfen, gegen die politischen Grundlagen des nullum crimen sine lege-Prinzips zu verstoßen.38 Die Idee einer einzigen Verbrechenstheorie, die der Europäisierung des Strafrechts die Richtung vorgibt, prallt mit den Realitäten der Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten zusammen, zumindest, was die „grundlegenden Strukturen des juristischen Denkens“39 anbelangt. Viel stärker noch manifestieren sich die Unterschiede in der Art, wie sich diese grundlegenden Strukturen in den Rechtsordnungen konkretisieren. Es genügt, das Prinzip der extrema ratio beim strafrechtlichen Rechtsgüterschutz als Beispiel heranzuziehen: Auch wenn sich zwischen strafrechtlichen Auffassungen innerhalb der verschiedenen Rechtsordnungen Analogien finden lassen,40 so liegt der kritische Punkt doch in der Art, in der diese allgemeinen Maßgaben innerhalb der konkreten strafrechtlichen Normen umgesetzt werden. Die Behauptung, die Strafrechtssysteme nähmen diesen grundlegenden kriminalpolitischen Gedanken nicht ernst,41 sagt noch nichts darüber aus, wo
35 Hirsch FS Spendel, 1992, S. 43 ff.; ders. in: ders./Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 74; vgl. auch Kaufmann GS Tjong, 1985, S. 100 f.; Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 34 f., 44 f. 36 Hirsch in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 54. 37 Auf eine internationale Straftatdogmatik deutscher Prägung nimmt z.B. Silva Sánchez GA 2005, 679 f. Bezug; zuletzt ders. GA 2013, 609 f.; dies bezweifelt jedoch Perron FS Lenckner, 1998, S. 227 ff. 38 Hinweise oben Fn. 32. 39 Kühne GA 2005, 195, 201; viele interessante Beispiele zuletzt in Maiwald FS Frisch, 2013, S. 1377 ff. 40 Z.B. das harm principle: v. Hirsch GA 2002, 2, 7 f. Vorsichtig jedoch bei „Kreuzungen“ zwischen den Systemen des civil law und common law Zander in: Eser/Rabenstein (Eds.), Neighbours in Law, 2001, S. 43. 41 In Bezug auf das extrema ratio-Prinzip z.B. Schünemann ZStW 116 (2004), 376, 377.
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denn der Gleichgewichtspunkt liegt, der auf supranationaler Ebene einzunehmen wäre, um auf die Erfordernisse des strafrechtlichen Schutzes angemessen antworten zu können, ohne dabei die spezifischen Gegebenheiten der Einzelstaaten voranzustellen. Auch nach der Rezeption in das Primärrecht der Union – deren aktualisierter Grundrechte-Katalog die Koordinaten für einen europäischen kriminalpolitischen Entwurf bilden könnte42 – besteht das theoretische Hauptproblem jedoch nicht darin, eine allgemein bindende Verbrechenstheorie zu erarbeiten. Vielmehr geht es um die Konkretisierung der allgemeinen Schutzmaßgaben eines solchen Textes in einzelne Tatbestandsvorschläge, die den allgemeinen kriminalpolitischen Grundsätzen, dem fragmentarischen Charakter und der Subsidiarität des strafrechtlichen Eingriffs angemessen Rechnung tragen. In der Tat nahmen die erwähnten „konstruktiven“ Vorschläge der Strafrechtswissenschaft,43 selbst wenn sie den europäischen Harmonisierungsmaßnahmen zum Teil harte Kritik entgegenbringen, ihren Ausgang nicht von einer präventiven, hegemonischen Lehre des Verbrechens, sondern man hielt es korrekterweise für wichtig, im Vorhinein einige, den diversen nationalen Erfahrungen gemeinsame, Kennzeichen zu erarbeiten, diese zu ordnen und schließlich Formen der Verantwortung und Normvorschläge für die einzelnen Schutzbereiche darzulegen. Die Bedeutung dieser Einstellung für die Strafrechtswissenschaft liegt darin, dass eine Auseinandersetzung mit der europäischen Dimension keine Legitimation für vereinheitlichende, aus abstrakten Begriffsmodellen extrapolierte Lösungen ist. Ganz im Gegenteil: Die Harmonisierung supranationaler Prägung und ihr Wirken in einer Mehrebenen-Dimension der Rechtsordnungen stellen eine Gelegenheit dar, dank derer der Vergleich der diversen, bereits in den einzelnen Strafrechtssystemen existierenden oder als Reform dort einzuführenden Lösungen immer mehr zu einem unverzichtbaren Instrument im Arsenal des Strafrechtswissenschaftlers werden kann, um sowohl interne als auch supranationale Lösungen zu finden. 3. Die neue Herausforderung der wissenschaftlichen Bewertung Die bisher behandelten, von der europäischen Harmonisierung aufgeworfenen Fragen stellen doch immerhin eine Anpassung an den veränderten Kontext der traditionellen Aufgaben der Strafrechtswissenschaft dar, die sich jetzt auch mit einer Mehrebenen-Strafgesetzgebung bzw. einer MehrebenenKriminalpolitik auseinandersetzen muss. Ein weiterer Aspekt betrifft hingegen eine Loslösung der heutigen Strafrechtswissenschaft von ihren traditio-
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Militello FS Eser 2005, S. 807 ff. Hinweise oben Fn. 33.
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nellen Maßstäben: Es handelt sich um die Bedeutung, die eine internationale Öffnung für die Einhaltung der aktuellen wissenschaftlichen Maßstäbe hat. Ein solches Merkmal scheint übrigens heute eine wichtige Rolle bei den Prozessen einer Bewertung der Rechtswissenschaft und ihrer qualitativen Leistungen zu spielen. Hier soll nicht die delikate Frage der (quantitativen oder qualitativen) Methoden angesprochen werden, mit deren Hilfe diese Analysen auf dem Gebiet der Human-, Rechts- und Sozialwissenschaften durchgeführt werden. Vielmehr stellt sich das Problem, ob und inwiefern die Internationalisierung eines juristischen, insbesondere strafrechtlichen, Textes als ein relevanter Parameter für die Bewertung seiner jeweiligen wissenschaftlichen Qualität zu betrachten ist. Eine jüngst erschienene, hochqualifizierte Studie über die „Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland“ hält deren Öffnung hin zu einer internationalen Dimension besonders im Hinblick auf die Forschung für notwendig.44 Auch in Italien wurde für das anspruchsvolle, soeben für den Zeitraum 2004–2010 abgeschlossene Verfahren zur Bewertung der Qualität der Forschung, nun auch der Grad an Internationalisierung eines jeden Beitrags berücksichtigt, zusammen mit den traditionelleren Kriterien ihrer Bedeutung und Originalität. Unter den Unsicherheiten im Zusammenhang mit diesem Verfahren, das zum großen Teil neu in der Konzeption und ehrgeizig im Umfang war, stellte sich gerade das Kriterium der Internationalisierung als das strittigste heraus, was seine Interpretation und seine Anwendung auf die juristischen Arbeiten anbelangt, zumindest außerhalb jener Disziplinen (Rechtsvergleichung, internationales und europäisches Recht), wo es unverzichtbar ist. Legt man für die Beurteilung der wissenschaftlichen Qualität einer juristischen Arbeit die traditionellen Gesichtspunkte zugrunde, so wäre die Internationalisierung der jeweils durchgeführten Studie auf allen Gebieten, die in enger Beziehung zum positiven Recht stehen, kein unverzichtbares Kriterium für eine ausgezeichnete Beurteilung. Auf einer allgemeineren Ebene wurde dies mit dem Verweis auf den praktischen Charakter der Rechtswissenschaft erklärt, der sie von anderen, lediglich theoretischen Disziplinen unterscheide: Gerade im Falle zahlreicher Beiträge, die sich mit in der Praxis der Rechtsprechung auftauchenden juristischen Fragen oder mit der Interpretation interner Normen beschäftigen, sei der Einwand der fehlenden Internationalisierung in keiner Weise relevant. Ich hingegen bin der Meinung, dass die Internationalisierung auch für strafrechtliche Arbeiten einen Qualitätsfaktor darstellt, der zwar nicht ausschließlich und absolut zu setzen ist, aber doch ein zusätzliches Plus (eine Art „Mehrwert-Merkmal“) darstellt, das zu den anderen, traditionelleren
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Wissenschaftsrat (Fn. 19), S. 12.
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Parametern hinzugenommen werden sollte. Und zwar gerade von dem ausgehend, was die Kritik als Hindernis ins Feld führt: Wenn die Strafrechtswissenschaft tatsächlich eine auch der Praxis zugewandte Wissenschaft ist (sowohl was die Ausbildung der Juristen, als auch was die kritische Kontrolle der Rechtsprechung anbelangt), dann müssen die entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten (sowie die Lehrbücher) diese neue Dimension der Mehrebenen-Rechtsordnung angemessen berücksichtigen. Die Anerkennung der Entscheidungen der supranationalen Gerichte und die Möglichkeiten einer mit den europäischen Quellen konformen Auslegung haben dem Richter neue Handlungsspielräume im jeweils konkreten Fall eröffnet, aber damit erhöhen sich auch – wegen der Neuheit dieser Instrumente und der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Justizebenen – die Orientierungsschwierigkeiten des Juristen.45 Eine Strafrechtswissenschaft, die diese weiter führenden Dimensionen ignoriert, kann nur zur Verräterin ihrer ureigenen Funktion als Leitstelle der Praxis werden, die sie im Panorama der Geisteswissenschaften so besonders macht. Jede rechts- und speziell strafrechtswissenschaftliche Forschung, auch wenn sie sich mit einem durch und durch technisch-interpretativen Thema befasst, dabei aber die supranationalen Dimensionen bzw. die anderer bedeutender Rechtsordnungen mit einbezieht, scheint also heute im Vergleich zu den Studien ohne eine derartige umfassendere Perspektive einen Mehrwert zu haben (natürlich ceteris paribus) 46. Und dies nicht aus Gründen der Auslandsfreundlichkeit oder aufgrund von kultureller Subordination unter andere Wissenschaftsmodelle, sondern um der Rechtswissenschaft die Beibehaltung ihrer Rolle als Mitgestalterin der Rechtspraxis zu garantieren, aus der sie einen Teil ihrer Identität bezieht.
V. Fazit Mit der Interdisziplinarität und der Internationalisierung wird die Identität der Strafrechtswissenschaft in einer Mehrebenen-Rechtsordnung um mindestens einen zweifachen Beitrag reicher. Beide Aufgaben fordern vom Strafrechtslehrer mehr Einsatz im Vergleich zu seinem Ausbildungswerdegang als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dass diese Modernisierung eine Notwendigkeit darstellt, mag offensichtlich sein, aber dies widerspricht noch nicht der Aufgabe, die Binding vor hundert Jahren der Strafrechtswissenschaft gestellt 45
Als Labyrinth wird die Mehrebenen-Rechtsordnung von Manes (Fn. 10), S. 5 f. darge-
stellt. 46 So auch Gruppo di esperti della Valutazione dell’Area giuridica per la VQR 2004-2012 Rapporto finale di area, S. 20 (www.anvur.org/rapporto/files/Area12/VQR2004-2010_ Area12_Tabelle.pdf) [letzter Abruf: 18. 3. 2014].
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hat, nämlich sich mit dem Verbrechen und dem Verbrecher zu beschäftigen. Will sie ihre Identität beibehalten, so darf sich die moderne Strafrechtswissenschaft nicht der Illusion hingeben, sie könne in ihrem alten Kern gleich bleiben: Dies wäre ein Verrat an ihren Funktionen und an ihrer Legitimation. Ganz im Gegenteil: Um lebendig zu bleiben, muss sie diesen thematischen Kern in einen Körper transplantieren, in dem der Mehrebenen-Kreislauf der Gesetzesvorschriften ein Plus sowohl an Kenntnissen als auch an Verantwortung von jedem ihrer Protagonisten fordert.
Über Menschenrechte und Bürgerrechte Harro Otto I. Menschenrechte und Bürgerrechte 1. Unterschiede zwischen Menschen- und Bürgerrechten In einem Aufsatz aus dem Jahre 2003 plädiert Bernd Schünemann, der verehrte Jubilar, dafür, die Bürgerrechte ernst zu nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens, da er in den schon vorgenommenen oder erst eingeleiteten Schritten für eine partielle Europäisierung des Strafverfahrens den Anspruch des Beschuldigten auf eine wirksame Verteidigung nicht hinreichend gewahrt sieht.1 Die Gefährdung der Bürgerrechte im konkreten Fall weist Bernd Schünemann im Einzelnen nach. Das soll nicht weiter verfolgt werden, vielmehr soll die Frage gestellt werden, ob es sachgerecht ist, hier die Wahrung von Bürgerrechten einzufordern, obwohl diesen in der öffentlichen Diskussion – soweit sie überhaupt Erwähnung finden – nur noch nachrangige Bedeutung zugemessen wird, da sie geradezu vom Glanz der Menschenrechte überstrahlt werden. Schon die Definition der Menschen- und Bürgerrechte begünstigt die Vorstellung eines Rangunterschieds. Menschenrechte werden als grundlegende subjektive Rechte verstanden, die allen Menschen zukommen, unabhängig von der Staatsbürgerschaft, allein aufgrund ihres Menschseins. Bürgerrechte sind demgegenüber gesetzliche Rechte, die der Staat – oder eine vergleichbare Institution – seinen Bürgern zugesteht.2 Die als universell gedachten unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte werden vom Grundgesetz als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt herausgestellt, Art. 1 Abs. 2 GG. Dass sich Politik an den Menschenrechten als leitender Hinsicht zu orientieren habe, wird in öffentlichen politischen Diskussionen schlicht vorausgesetzt. Politiker, die China oder Russland besuchen, pflegen bei ihrer Rückkehr vehement darauf hinzuweisen, dass sie dort die Menschenrechte angesprochen haben. Sollten bei einer solchen Gelegenheit die Menschenrechte nicht thematisiert worden sein, wird das in der öffentlichen Diskussion als verachtungswürdiger Opportunismus gegeißelt. Zutreffend
1 2
Schünemann StV 2003, 116 ff. Klippel in: F. Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, 2008, Sp. 347.
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hat Pawlik die Situation dahin skizziert: „Der radikale Menschenrechtsleugner ist eine philosophische Kunstfigur ohne nennenswerte öffentliche Ausstrahlung. Wer es wagt die politische Leitfunktion der Menschenrechte anzuzweifeln, kann außerhalb von Nordkorea, Kuba oder Syrien kaum erwarten, als Gesprächspartner ernst genommen zu werden.“3 Verblüffend ist allerdings das vielfältige und unterschiedliche inhaltliche Verständnis der jeweils angesprochenen Menschenrechte. 2. Der Katalog der Menschenrechte Seit der Begründung von Leben, Freiheit und Eigentum als angeborener Rechte des durch Vernunft und göttlichen Rechts gesteuerten Naturrechts durch John Locke 4 hat der Gedanke der Menschenrechte 5 eine gewaltige Ausdehnung und Erweiterung erfahren. Höhepunkte dieser Entwicklung waren die am 10.12.1948 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 19.12.1966 verabschiedete Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die Europäische Grundrechtscharta vom 7.12.2000. – Inzwischen werden im Anschluss an eine Begriffsprägung durch den tschechischen Menschenrechtsexperten Karel Vasak drei „Generationen von Menschenrechten“ unterschieden.6 Die erste Generation erfasst die bürgerlichen und politischen Rechte. Dazu gehören neben der Achtung der Menschenwürde die Geltung der Rechte für alle Menschen in allen Ländern und Gebieten unabhängig von ihrer internationalen Stellung; das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit; das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft; das Verbot der Folter oder grausamer, unmenschlicher Behandlung; der Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson; der Anspruch auf Gleichheit vor dem Gesetz; der Anspruch auf Rechtsschutz; das Verbot der willkürlichen Verhaftung oder Ausweisung; der Anspruch auf öffentliches Verfahren in einem unabhängigen Rechtsverfahren; rechtsstaatliche Garantien: Unschuldsvermutung, keine Strafe ohne Gesetz; der Schutz der Privatsphäre; das Recht auf Freizügigkeit; das Asylrecht; das Recht auf Staatsangehörigkeit; das Recht auf Eheschließung und auf Schutz der Familie; das Recht auf Eigentum; das Recht auf Religionsfreiheit; das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
3
Pawlik Wie allgemein sind die Menschenrechte?, in: FAZ v. 27.11.2009, Nr. 276, S. 11. Locke Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. von Walter Euchner, 4. Aufl. 1989, Bd. II, § 6. 5 Zur Entwicklung und zum Zusammenhang zwischen Naturrecht und Menschenrechten vgl. Otto JZ 2005, 473, 476 f. 6 Vgl. z.B. Vasak Revue des Droits de l´homme 5 (1972), 503 ff. – Im Einzelnen dazu Herdegen in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 2 Rn. 28 f. (Februar 2004); Menke/ Pollmann Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 118 ff.; Nowak Einführung in das internationale Menschenrechtssystem, 2002, S. 35 ff., 90; Riedel EuGRZ 1989, 9 ff. 4
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Die zweite Generation bilden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Sinne von Anspruchs- und Teilhaberechten, wie sie sich besonders im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Europäischen Sozialcharta finden. Dazu gehören: das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Ordnung mitzuwirken; das Recht auf soziale Sicherheit; das Recht auf Nahrung; das Recht auf bezahlte Arbeit und gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit; der Anspruch auf Erholung, Freizeit und bezahlten Urlaub; der Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung, auf Sicherheit bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung und Alter; Schutz für Mutter und Kinder; das Recht auf Bildung und Ausbildung sowie das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben. Die dritte Generation zielt auf kollektive Rechte, wie sie in Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 angesprochen werden: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Die Aufzählung ist keineswegs vollständig. So erklärten die Vereinten Nationen inzwischen den Anspruch auf Wasser zum Menschenrecht, in der öffentlichen Diskussion wird ein Menschenrecht auf Netzzugang eingefordert,7 und der pro-familia-Bundesverband weist auf „die seit 1994 weltweit anerkannten, universalen und unteilbaren sexuellen und reproduktiven Menschenrechte“ hin.8
Es ist offensichtlich, dass ein Recht des Beschuldigten auf eine wirksame Strafverteidigung in diesem Kanon mühelos einen Platz fände, und zwar bereits in den Menschenrechten der ersten Generation. Wenn Bernd Schünemann gleichwohl „nur“ ein Bürgerrecht einfordert, so wollte er damit sicher nicht zu erkennen geben, dass er kein „erstrangiges“ Recht geltend machen wolle. Eher kommt hier eine gewisse Distanz den weithin gepriesenen und betonten Menschenrechten gegenüber zum Ausdruck, die keineswegs unbegründet erscheint. Zum einen droht den Menschenrechten offenbar ein inflatorisch bedingter Bedeutungsverlust, denn nicht nur die Menschenrechte der dritten Generation „zeichnen sich durch nebulöse Umrisse und einen eher appellativen Charakter aus“.9 Auch die zweite Generation der Rechte lässt Konturen und präzise Begriffsbestimmungen vermissen. Zum anderen aber wird die Frage nach der Begründung dieser als universell gedachten, unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte geradezu zwingend.
7
Volker Beck Netzanschluss ist Menschenrecht, in: FAZ v. 31.10.2011, Nr. 253, S. 25. International Planned Parenthood Federation (Hrsg.), Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte, 1966, dt. 1997. 9 Herdegen (Fn. 6), Art. 1 Abs. 2 Rn. 29. 8
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II. Die Begründung der Menschenrechte 1. Die Grundlage der Menschenrechte im Glauben Dem Bezug auf die Grundlage der Menschenrechte im Glauben steht das liberal-freiheitliche Staatsverständnis der Bürger westlicher Demokratien entgegen. Sie lehnen es ab, den Staat als den Garanten göttlich verliehener Rechte zu sehen und befinden sich damit durchaus im Einklang mit der christlichen Theologie, worauf Papst Benedikt XVI. in seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22.9.2011 eindringlich hingewiesen hat.10 2. Die Grundlage der Menschenrechte in der Natur des Menschen Eine Grundlage der Menschenrechte wurde in der Philosophie des 18. Jahrhunderts in der Natur des Menschen und in den dieser entsprechenden Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen gesehen.11 Unterschiedlich waren allerdings die Aussagen zur Begründung der These, dass es in der Natur aller Menschen liege, alle Menschen als Gleiche zu achten, so dass dann, wenn die Menschen ihrer Natur folgten, auch die Menschenrechte geachtet würden.12 So war z.B. John Locke der Auffassung, dass es das natürliche Interesse des Menschen an Freiheit und Selbsterhaltung sei, das ihm die Einsicht vermittele, dass er dieses Interesse nur dann verwirklichen könne, wenn er das gleiche Interesse der anderen achte. Jean-Jacques Rousseau sah die Quelle aller Regeln des Naturrechts in dem „natürlichen Widerwillen dagegen …, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen umkommen oder leiden zu sehen“.13 Aber auch ganz andere Folgerungen wurden aus der Natur des Menschen gezogen. Sie sollte sowohl die angebliche Überlegenheit des Mannes über die Frau belegen, als auch die Institution der Sklaverei rechtfertigen.14 – Diesen „natürlichen Einstellungen“ soll nicht weiter nachgegangen werden. Die Erfahrungen mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts haben die Idee einer anlagebedingten Achtung der Anderen als Gleiche in den Grundfesten erschüttert. – Die Idee der Achtung der Anderen muss entwickelt und herausgebildet werden, ein einfacher Zugriff auf sie als eine natürliche menschliche Einsicht ist nicht möglich.
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Text in: FAZ v. 23.9.2011, Nr. 222, S. 8. Dazu Koenig Menschenrechte, 2005, S. 123. Dazu Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 48, 61 f. Rousseau, dt. in: Weigand (Hrsg.), Schriften zur Kulturkritik, 1971, S. 73 ff. Dazu Bielefeldt Auslaufmodell Menschenwürde?, 2011, S. 48 f.
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3. Die Grundlage der Menschenrechte in der Vernunft a) Vernunft als Erkenntnisvermögen Vernunft als geistige menschliche Fähigkeit, Dinge und Geschehnisse in ihrem inneren und äußeren Zusammenhang zu begreifen, ist ein Mittel der Wahrnehmung eigener Interessen. Menschenrechte sind von diesem Ausgangspunkt her darin begründet, dass vernünftige Personen sie sich wechselseitig zuerkennen müssten, wenn sie frei über die Regeln eines geordneten Zusammenlebens zu entscheiden hätten.15 Daran knüpft die Idee des Gesellschaftsvertrags an: In einem fiktiven Vertragsschluss einigen sich die Mitglieder der Gesellschaft darauf, „sich wechselseitig das Recht auf und, soweit möglich, auch die Mittel zur Verfolgung derselben fundamentalen menschlichen Interessen zuzugestehen.16 Selbstverständliche Voraussetzung des fiktiven Vertragsschlusses aller ist allerdings die Garantie, dass sich jeder Einzelne mit dem gleichen Recht wie jeder andere an dem Vertragsschluss beteiligen kann. Diese Gleichberechtigung lässt sich aber nicht auf den Vertragsschluss zurückführen, da sie ihn zur Voraussetzung hat. Streng genommen begründet der Vertrag mit der wechselseitigen Anerkennung aller als Gleicher in Wirklichkeit eine Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zum Vertragsschluss kommen kann. Dieser Widerspruch ist nicht unter Bezug auf den Vertrag auflösbar.17 Die Annahme, dass es in diesem Vertrag um grundlegende Interessen geht und dass diese allen Menschen gemeinsam sind, mag zutreffen, beseitigt das Dilemma gegenseitiger Achtung beim Vertragsschluss aber nicht. Der Einbezug aller als Gleichberechtigter in den Vertragsschluss ist aber zwingende Voraussetzung dafür, dass der Vertrag Menschenrechte begründen kann. Die Wahrung der Interessen, um die es hier geht, ist nämlich konstitutiv von anderen Menschen abhängig, da es dem Einzelnen nicht möglich ist, ihre Erfüllung sicherzustellen. Das Gegenseitigkeitsverhältnis ist konstitutiv, denn das eigene Interesse, nicht Opfer von Gewalt zu werden, lässt sich „nur durch eine negative Leistung verwirklichen …, die die anderen erbringen“.18 Dieser Einbezug aller anderen in den Vertragsschluss ist aber nicht evident. Der individuellen Vernunft entspricht nicht ein Vertragsschluss mit allen, sondern mit jenen, die für die erfolgreiche Verwirklichung der eigenen Interessen relevant erscheinen. „Nichts jedoch spricht dafür, dass dieses be-
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Koenig (Fn. 11), S. 123. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 50. 17 Anschaulich Becker Ein Plädoyer gegen den Universalismus, in: FAZ v. 24.6.2006, Nr. 144, S. 50. 18 Höffe Vernunft und Recht, 1996, S. 75. 16
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reits ,alle‘ Menschen sein müssen.“19 Rational erscheint es vielmehr, die Personen auszusparen, „die, weil sie gesellschaftlich unwichtig sind und deshalb über kein entsprechendes Drohpotential verfügen, den Menschenrechtsschutz besonders dringlich benötigen“.20 Der Hinweis von Höffe, dass es die eigenen Vorteilsüberlegungen seien, die den Einzelnen zum Einbezug aller in den Vertragsschluss bringen würden, hilft hier nicht weiter. Wird diese Zielrichtung der Vorteilsüberlegungen unterstellt, dann geht der Bezug auf das individuelle Einsichts- und Erkenntnisvermögen verloren. Wird hingegen an diesem Bezug festgehalten, so setzt er wiederum bereits voraus, dass alle am Vertragsschluss Beteiligten, und das sind alle Menschen, kraft der ihnen zukommenden Vernunft demselben Wertesystem verpflichtet sind. Das Dilemma bleibt: Aus dem Befund, dass der Mensch – zumindest der Anlage nach – vernünftig ist, folgt nicht zwingend, dass er alle anderen als Gleichberechtigte anerkennt. b) Ein normativer Begriff der Vernunft Ein normativer Begriff der Vernunft postuliert, dass sich nur derjenige vernünftig verhält, der nach bestimmten vorgegebenen Kriterien handelt. Beispielhaft ist hier der kategorische Imperativ Kants: „Handele so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 21 Argumentieren lässt sich auf dieser Grundlage, dass ein Mensch nur dann vernünftig handelt, wenn er sein Handeln nach Gesichtspunkten ausrichtet, die sich jedem anderen Menschen gegenüber, auf den sein Handeln Auswirkungen hat, rechtfertigen lassen. Die Erwartung ist dann, „dass niemand es als berechtigt akzeptieren wird, wenn andere mit ihm in einer Weise umgehen, die seine grundlegenden Menschenrechte verletzt.“22 Eine Letztbegründung der Menschenrechte lässt sich aber mit diesem Vernunftbegriff nicht finden, denn diese Vernunft ist kein Vermögen, das allen Menschen in gleicher Weise als Menschen zukommt. – Was aber ist mit den Unvernünftigen?
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Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 51. Dazu auch Pawlik Wo sich der Spaten zurückbiegt, in: FAZ v. 14.1.2008, Nr. 11, S. 33; ders. Wie allgemein sind die Menschenrechte?, in: FAZ v. 27.11.2009, Nr. 276, S. 11. 20 Pawlik Wie allgemein sind die Menschenrechte, in: FAZ v. 27.11.2009, Nr. 276, S. 11. 21 Kant Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1786), in: Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VII, 1977, S. 61. 22 Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 57 f.
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4. Die Grundlage der Menschenrechte im Vermögen, vernünftig zu handeln Der Versuch, die Letztbegründung von Menschenrechten unmittelbar in der Vernunft zu finden, führt letztlich zur Erkenntnis einer „begründungstheoretischen Lücke“23 zwischen dem Vernunftbegriff und den Menschenrechten: Die normative Orientierung an Menschenrechten lässt sich nicht aus Fähigkeiten oder Einsichten ableiten, die nicht selbst schon normativer Art sind.24 Das allerdings ist kein Argument gegen die Vernünftigkeit von Menschenrechten, die darin begründet liegt, dass sich die Anerkennung von Menschenrechten als ein Akt der Vernunft, d.h. als vernünftige Entscheidung darstellt. Ausgangspunkt eines derartigen Konzepts 25 ist die These, dass der Grund der Menschenrechte in der Fähigkeit und Bereitschaft liegt, jeden Menschen als einen anerkennungswürdigen Einzelnen anzuerkennen. Diese Fähigkeit und Bereitschaft folge allerdings nicht schon aus der Vernunft: „Die Fähigkeit und Bereitschaft jeden Menschen als einen anerkennungswürdigen Einzelnen zu sehen, ist gewissermaßen letzter Grund: Wer diese Fähigkeit nicht hat und diese Bereitschaft nicht teilt, kann nicht von außen, mit Bezug auf andere seiner Fähigkeiten und Bereitschaften, von ihrer Richtigkeit überzeugt werden. Die Anerkennung jedes Menschen als Gleichen ruht nicht noch einmal auf einem tieferen Grund.“26 Vertrag und Vernunft sollen nur dann zu Menschenrechtserklärungen führen können, wenn oder weil sie die Einstellung der Sympathie, der Anerkennung des anderen als anderen bereits voraussetzen. Im Gegensatz zur Auffassung der Philosophie des 18. Jahrhunderts soll die grundlegende Einstellung der Anerkennung des anderen nicht als natürliche, in Natur oder Vernunft begründete Anlage verstanden werden. Die Einstellung sympathisierender Anerkennung wird als ein stets fragiles geschichtliches Produkt interpretiert. Die Menschenrechte müssen als das Ergebnis eines Prozesses der Erfahrung, des Lernens und der Bildung verstanden werden, und zwar als ein möglicher, aber nicht notwendiger Prozess.27 Die Fähigkeit und Bereitschaft jeden anderen als anderen anzuerkennen, werde dadurch ausgebildet, dass Menschen zur Teilnahme an einer Praxis erzogen
23 Forst in: Brunkhorst/Köhler/Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, 1999, S. 75, 84 Fn. 20. 24 Dazu Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 59. 25 Entwickelt hat ein solches Konzept Forst (Fn. 23), S. 75 ff.; aufgenommen haben es Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 58 ff. 26 Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 60. 27 Dazu Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 62; Rorty in: ders. (Hrsg.), Philosophie und die Zukunft, 2000, S. 79 ff.; ders. in: Shute/Hurley (Hrsg.), Die Idee der Menschenrechte, 1996, S. 144 ff.
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werden. Diese Praxis werde, wie jede Praxis, durch nichts anderes getragen als dadurch, dass es immer wieder gelingt, Teilnehmer für diese Praxis zu gewinnen. Teilnehmer dieser Praxis aber werde man durch Prozesse des Lernens und der Kultivierung.28 Teilnehmer werde man z.B. durch Teilhabe an den liberalen Ausbildungsinstitutionen der westlichen Welt. Auch wenn die Einstellung der Anerkennung jedes anderen menschenrechtlich grundlegend sei, heiße das aber nicht, dass diese Einstellung bereits selbst die Erklärung der Menschenrechte hervorbrächte oder gar enthielte. Auf der Grundlage der Einstellung könnten Menschenrechte aber erklärt werden, wenn durch Mechanismen vertragsförmiger oder vernünftiger Aushandlung die inhaltlichen Hinsichten festgelegt würden, in denen alle gleichermaßen und zugleich berücksichtigt werden sollen. Erst dieser weitere Schritt führe zu einer Erklärung der Menschenrechte.29 Wie bereits der Hinweis auf die liberale Ausbildungssituation der westlichen Welt verdeutlicht, wäre es verfehlt, von einer weltweit gleichen Praxis auszugehen, die sodann zu weltweit gleichen Erklärungen von Menschenrechten führt, deren universale Gültigkeit damit – kraft Übereinkunft – gesichert sei. Menke und Pollmann sehen diese Problematik durchaus und weichen ihr argumentativ nicht aus. Sie gestehen zu, dass die Menschen sich in ihren Praktiken grundlegend voneinander unterscheiden. Das Feld der menschlichen Praxis sei wesentlich plural. Wenn also der Grund der Menschenrechte eine Praxis sei, so könne für die Menschenrechte keine universale Gültigkeit proklamiert werden. Dieser Schluss erscheint zwingend, so dass in dieser Konzeption der Menschenrechte letztlich „nur partikulare normative Tradition ihren Ausdruck“ zu finden scheint.30 – Dem widersprechen Menke und Pollmann jedoch entschieden. Sie halten den Anspruch universeller Geltung der Menschenrechte als allgemein (für jeden Menschen ohne Ausnahme), identisch (für alle Menschen in gleicher Bedeutung), egalitär (nur im „Set“) und schließlich kategorisch (bedingungslos) für verfehlt.31 Im Anschluss an Michael Walzer plädieren sie für ein alternatives Verständnis der Menschenrechte. Die Universalität der Menschenrechte bestehe danach darin, „dass die Menschenrechte zunächst von einer bestimmten politischen Gruppe unter ganz bestimmten Bedingungen, gegen ganz bestimmte Gegner und in einer ganz bestimmten Fassung formuliert und begründet werden – und dass die Formulierungen und Begründung von Menschenrechten dann von anderen politischen Gruppen unter ihren Bedingungen, in 28 29 30 31
Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 63. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 66 f. Pawlik Wo sich der Spaten zurückbiegt, in: FAZ v. 14.1.2008, Nr. 11, S. 33. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 71, 80 ff.
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ihren Auseinandersetzungen und deshalb in anderer Fassung erneut geleistet und eben ,wiederholt‘ werden“.32 Das stehe zwar der Idee eines überall im Wortlaut gleichen allumfassenden Gesetzes entgegen, daher bedeute Universalismus hier Exemplarizität: die Exemplarizität einer je besonderen Konzeption der Menschenrechte, die aber zugleich Ausdruck der Idee der Menschenrechte sei. Die je besondere Konzeption der Menschenrechte sei daher ein Beispiel dafür, wie die Idee der Menschenrechte verstanden und verwirklicht werden solle. „Der Anspruch auf Exemplarizität, der für die Menschenrechte in einer bestimmten Konzeption erhoben wird, fordert, dass deren normativer Gehalt in anderen Situationen erneut zur Geltung gebracht wird.“33 Spätestens an dieser Stelle erhebt sich der Einwand kulturell bedingter Differenzen, denn bei der Bestimmung des Menschen innerhalb bestimmter unterschiedlicher kultureller Bezüge werden Unterschiede deutlich. Das sehen Menke und Pollmann durchaus und stellen den Befund auch nicht in Frage, sondern problematisieren ihn offen. Sie erkennen die kulturelle Differenz, die Ausdruck findet, wenn es um die Bestimmung dessen geht, was der Mensch ist. Dem Eindruck offensichtlicher und tiefgreifender Unterschiede stellen sie jedoch die Gewissheit gegenüber, „mit der wir in vielen Fällen, in denen die Forderung nach Menschenrechten erhoben wird, wie selbstverständlich von einem ,Leiden von Menschen‘ sprechen, das die Menschenrechte beenden wollen. Das zu tun setzt voraus, wissen zu können, was ein Mensch will und vor allem: nicht will. Es setzt ein Wissen um spezifisch menschliche Wünsche, Zwecke, Empfindungen voraus. Das aber ist kein Wissen über einen je besonderen Menschen, sondern über ‚den‘ Menschen – ein Wissen um das ‚Wesen‘ des Menschen“.34 Dieses Wissen soll hermeneutisch erlangt werden können, indem zu verstehen versucht wird, wie Menschen sich in ethischer Hinsicht narrativ selbst deuten. Das Verstehen sei ein kooperativer und dialogischer Prozess.35 Das Fundament der Menschenrechte soll danach durch einen Dialog der Kulturen gewonnen werden können. Zutreffend hat Pawlik in der Auseinandersetzung mit Menke und Pollmann darauf hingewiesen, dass der Stand und der Grad der „menschenrechtlichen Selbsttransformation von Kulturen“ sehr unterschiedlich sei, und sich daher auf diesem Wege gegenwärtig kaum viel mehr als eine Verständigung auf einige Allgemeinplätze, die alle relevanten Konflikte vorsichtig aussparen, erhoffen lasse. Wenn Menke und Pollmann etwa als Beurteilung der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam und deren Berufung auf die Scharia eine „kontextspezifische Beantwortung der Frage“ heranziehen wol32 33 34 35
Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 81 f. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 83. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 88. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 90.
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len, „wie sich der normative Gehalt, den das eigene Verständnis der Menschenrechte exemplarisch verkörpert, in einer Situation islamischer Gläubigkeit wiederholen lässt“, dann gäben sie ihren Lesern Steine statt Brot, denn auf diese Frage dürfte es vermutlich fast ebenso viele unterschiedliche Antworten geben, wie es Islamgelehrte gibt.36 – Das ist eine realistische Einschätzung der Situation. 5. Die Grundlage der Menschenrechte im Völkerrecht Als Voraussetzung der Anerkennung der Menschenrechte ist der „Dialog der Kulturen“ jedoch nicht grundsätzlich abzulehnen, denn in einem „Teilbereich“, nämlich im internationalen rechtlichen Dialog, hat sich der „Dialog der Kulturen“ verselbständigt und zu einer eigenständigen Begründung von Menschenrechten geführt. Nach der Erfahrung mit den totalitären Regimen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Idee durch, Menschenrechte auf internationaler Ebene positiv-rechtlich zu fixieren. Mit diesem Übergang von der nationalen zur internationalen Gesetzgebung vollzog sich der Wandel von Bürgerrechten zu Menschenrechten. Nationale Bürgerrechte erhielten eine zusätzliche internationale Absicherung in Form von völkerrechtlich garantierten Menschenrechten.37 Die Bürgerrechte haben damit keine mindere Qualität gegenüber den Menschenrechten, sie bilden vielmehr ihre Grundlage und unterscheiden sich durch den unterschiedlichen Umfang des Rechtsschutzes. Das Verständnis der Menschenrechte erfährt damit allerdings eine inhaltliche Neubestimmung. Menschenrechte werden als Entwicklungsstufen des positiven Rechts interpretiert, ihr Verständnis wird ein positivistisches. Die philosophisch abstrakte Idee der Menschenrechte bekommt die Gestalt internationaler Verträge, das Verhältnis von Staat und Individuum wird internationalisiert. Der Weltbürger kommt als Rechtsträger ins Visier, und selbst im Falle erodierender, zerfallender Staatsgewalten bleibt ein Adressat dieser Rechte erkennbar. „So erst kann die Menschenrechtsidee ihre innere Dynamik, das Recht wahrhaft aller Menschen benennen zu wollen, zur Entfaltung bringen.“38 In diesem Verständnis der Menschenrechte erhält Art. 1 Abs. 2 GG operablen Gehalt, wenn man die Vorschrift als Verweis auf in der Völkergemeinschaft rechtlich anerkannte Standards interpretiert.39 In Bezug auf jede
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Pawlik Wo sich der Spaten zurückbiegt, in: FAZ v. 14.1.2008, Nr. 11, S. 33. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 104. 38 Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 104 unter Bezug auf Klein Menschenrechte, 1997. 39 So Herdegen (Fn. 6), Art. 1 Abs. 2 Rn. 22 m.N. in Fn. 2. Zur Gegenansicht: Bindung an unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als überpositive, vorstaatliche Normen vgl. Badura Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, C Nr. 1; Brugger Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 17; Dederer JöR 57 (2009), 89, 95. 37
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menschliche Gesellschaft und in der Verknüpfung der Menschenrechte mit „Frieden und Gerechtigkeit in der Welt“ kommt sodann zum Ausdruck, dass es sich um universell geltende Regeln des Menschenrechtsschutzes handelt.40 Aus dieser Sicht öffnet Art. 1 Abs. 2 GG die grundgesetzliche Ordnung für den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz. Inhaltlich nimmt Art. 1 Abs. 2 GG Bezug auf solche Menschenrechte, die für jede Gemeinschaft sowie für die Wahrung von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt die notwendige Grundlage bilden und damit unverzichtbar sind. Diese hohe Qualifikation erfüllen Menschenrechte, an deren Erhaltung die ganze Völkergemeinschaft ein unverbrüchliches Interesse hat und die deshalb nicht zur Disposition abweichender Vereinbarungen stehen. Das sind menschenrechtliche Inhalte des zwingenden universellen Völkergewohnheitsrechts.41 6. Menschenrechte und Bürgerrechte a) Bürgerrechte als Grundlage von Menschenrechten Der Versuch, Menschenrechte als universell geltende, dem Menschen als Menschen zukommende grundlegende subjektive Rechte auszuweisen, hat letztlich ins positive Recht geführt. Der völkerrechtliche Schutz der Menschenrechte ist in der Tat „eine Errungenschaft des positiven Rechts“.42 Die Interpretation der Menschenrechte aus der Entwicklung des positiven Rechts heraus erklärt auch die Ausweitung der Menschenrechte, wie sie durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 eingeleitet wurde. „Dadurch sind Menschenrechte entstanden, die eines Fundamentalcharakters entbehren, unterschiedliche Inhalte angenommen haben und oft genug lediglich politische Ziele oder moralische Postulate sind“.43 Die Zielrichtung geht dahin, Verhältnisse der Unterdrückung und Ausbeutung zu beenden.44 Menschenrechte sind in diesem Verständnis „die Rechte, die die Grundvorstellung freier und selbstverantwortlicher Daseinsgestaltung mit den Mitteln der rechtlich-staatlichen Ordnung sichern und ermöglichen sollen“.45 Es geht nicht mehr um die Garantie unveräußerlicher und dem Staat vorgegebener Rechte, sondern um die Ausgestaltung staatlicher
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Doehring FS Bernhardt, 1995, S. 355, 359; Herdegen (Fn. 6), Art. 1 Abs. 2 Rn. 22. Dazu Herdegen Jura 1992, 21, 23; ders. (Fn. 6), Art. 1 Abs. 2 Rn. 30; Stern in: Mertens/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 1 Rn. 39 m.N. Fn. 87. 42 Herdegen (Fn. 6), Art. 1 Abs. 2 Rn. 21. 43 Stern (Fn. 41), § 1 Rn. 37. 44 Dazu Folkerts ARSP 70 (1984), 423 ff. 45 Ryffel ARSP 70 (1984), 400, 403. 41
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Regeln mit dem Ziel einer freiheitlich verfassten Bürgerordnung,46 d.h. um Bürgerrechte. Diese Bürgerrechte betreffen die Grundvorstellung freier und selbstverantwortlicher Daseinsgestaltung in der rechtsstaatlich verfassten Bürgergesellschaft. Sie sind konsens –, aber auch kompromissfähig. Die Erörterung ihrer Grundlagen und Grenzen in der Bürgergesellschaft ist notwendig und legitim. Die modernen Systeme der Menschenrechte enthalten beachtliche Zielvorstellungen der Bürgergesellschaft. Als Maßstab zur Beurteilung der Legitimität gesetzlicher Regelungen der Bürgergesellschaft sind sie hingegen nur begrenzt tauglich. Sie können Grundlage für positive gesetzliche Regelungen eines Staates sein, und erst recht Grundlage für internationale vertragliche oder gewohnheitsrechtliche Regelungen des Völkerrechts. Soweit Bürgerrechte bereits als geltendes staatliches Recht positiviert sind, geben die Regelungen einen Maßstab für den Rang einer freiheitlich verfassten Bürgerordnung. Dieser Maßstab bindet andere Staaten nicht, er kann aber Vorbild sein. Die internationale Erörterung und Anerkennung wiederum ist Grundlage völkerrechtlicher Positivierung, die ihrerseits durchaus Raum lässt und lassen muss für die Achtung und Anerkennung kulturell bedingter unterschiedlicher Auffassungen über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und zum Staat. In dieser „internationalen Positivierung“ liegt aber zugleich eine Gefahr begründet, nämlich die der Nivellierung einzelner der in einer konkreten Gesellschaft anerkannten Bürgerrechte. Im Prozess der Findung eines internationalen Konsenses über ein in verschiedenen Staaten anerkanntes, aber keineswegs in allen Beziehungen übereinstimmend interpretiertes Bürgerrecht, kann der Inhalt eines in einem bestimmten Staat anerkannten Bürgerrechts verwässert werden. b) Angeborene, unveräußerliche und unantastbare Menschenrechte Auf die Idee unveräußerlicher und unantastbarer Menschenrechte sind die auf völkerrechtlicher Anerkennung beruhenden Menschenrechte nicht zu gründen. Das schließt aber die Anerkennung eines auf die Würde der Person gegründeten Rechtsstatus, der dem Menschen als Person unveräußerlich und unantastbar zu eigen ist, nicht aus. Dieser Rechtsstatus hat eine andere Qualität. Er verweist auf die Idee der „echten“ Menschenrechte47 und damit auf einen weit engeren Rahmen. Es geht nicht um die „Anerkennung des anderen als anderen“, sondern um die Achtung der Würde des anderen. Das aber ist nicht identisch. Die wechselseitige Anerkennung von Personalität ist ein enger, aber notwendiger Ausgangspunkt für die Begründung von „echten“ Menschenrechten. „Diese sind dann zu verstehen als grundlegende Rechte 46 47
Dazu im Einzelnen Otto JZ 2005, 473, 477. Stern (Fn. 41), § 1 Rn. 37.
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derart, dass nur unter ihrer Voraussetzung überhaupt Menschen als Rechtssubjekte und damit als Menschen unter Menschen betrachtet werden.“48
III. Menschenrechte und Menschenwürde 1. Mensch und Person Der in der Würde begründete Rechtsstatus verweist auf die einfache Erkenntnis: Der Mensch ist als Mensch Person. Seine Personenwürde ist ihm als Mensch ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status eigen, und diese Würde kann keinem Menschen abgesprochen werden. Ihm würde zugleich das Menschsein abgesprochen. Verletzbar aber ist der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.49 Das meint Art. 1 Abs. 1 GG mit der Feststellung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Als Person ist der Mensch Rechtssubjekt.50 – Die Verknüpfung der Personenwürde mit dem Menschsein steht auch einer Differenzierung zwischen menschlichem und personalem Leben entgegen.51 2. Die Begründung der Achtung der Menschenwürde Erfasst die Achtung der Menschenwürde den Anspruch aller Menschen, in gleicher Weise als Mensch geachtet zu werden, so kann diesen Anspruch allerdings nur der als berechtigt anerkennen, der die Perspektive gleicher Achtung bereits einnimmt.52 Damit scheint sich hier das gleiche Dilemma zu eröffnen wie bei der Begründung der Menschenrechte als überpositive, vorstaatliche, bindende Rechte. a) Die mittelalterliche christliche Theologie Die mittelalterliche christliche Theologie sah den Menschen als Ebenbild Gottes und die Gemeinschaft der Menschen als Gemeinschaft der Geschöpfe Gottes an: „Denn da der einzelne Mensch Teil einer Vielzahl ist, gehört jeder Mensch als eben das, was er ist, und mit dem, was er hat, zur Gemeinschaft, wie auch jeder Teil als das, was er ist, zum Ganzen gehört.“53
48
Mohr in: Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, S. 63, 73. Dazu BVerfG 87, 209, 228; 96, 375, 399; 101, 275, 287. 50 Dazu Dederer JöR 57 (2009), 89, 108; Enders in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 2005, C Art. 1 Rn. 11 ff., 31 ff. 51 Dazu Böckenförde JZ 2003, 809, 811 m.N. 52 Vgl. Menke/Pollmann (Fn. 6), S. 153. 53 Thomas von Aquin Summa Theologica, dt. Ausgabe hrsg. von der Albertus-MagnusAkademie-Walberberg bei Köln, Bd. 18, 1953, II–III, 96, 4 (resp.). – Vgl. auch Genesis 1, 26: Darauf sprach Gott: Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis. 49
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Dass auf dieser Grundlage der Anspruch auf Achtung menschlicher Würde konsequent und überzeugend begründet werden kann, ist evident. Der Verallgemeinerung dieser Begründung steht jedoch das säkulare Staatsverständnis entgegen. b) Natur und Vernunft Gegen die Begründung der Menschenwürde aus der Natur des Menschen oder aus der ihm eigenen Vernunft sind gleichfalls die Gründe geltend zu machen, die der Begründung der Menschenrechte insoweit entgegenstanden; vgl. dazu oben II. 2., 3. c) Das Vermögen, vernünftig zu handeln Auf ein überpositives Fundament, auf das vernünftigerweise bei der Achtung des Menschen Bezug genommen werden kann, hat Benedikt XVI. in seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22.9.2011 hingewiesen: „An dieser Stelle müsste uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“ 54 Die hier angesprochene Tradition führt nicht nur zurück auf die Lehre der Stoa, nach der die Menschen – Freie oder Sklaven, Mitbürger oder Fremde – „einer Gemeinschaft der Vernunft angehören, in der niemand dem anderen als Fremdem begegnet,55 sondern zugleich auch zu Cicero, in die christliche Theologie, zu Giovanni Pico della Mirandola, Pufendorf, Kant u.a.
54 55
Abgedruckt in: FAZ v. 23.11.2011, Nr. 222, S. 8. Isensee in: Isensee (Hrsg.), Solidarität in Knappheit, 1998, S. 109 m.N.
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Der Bezug auf die christlich-abendländische Tradition, dem sich die Entwicklung des individualistisch-personalen Menschenbildes verdankt, ist in der öffentlichen Diskussion durchaus bewusst.56 Er verdeutlicht aber zugleich, dass diese Interpretation des Begriffs der Menschenwürde nur eine, keineswegs alle anderen Deutungen des Menschenwürdegedankens ausschließende Sicht ist. Das Dogma des Universalismus des Menschenwürdegedankens ist auf dieser Basis nicht zu halten, doch berührt das nicht das Recht, die Überzeugung zu vertreten, dass sich eine bestimmte Position nach gründlicher und kritischer Prüfung als vernünftig und als anderen Positionen überlegen erwiesen hat. – Auch die Verankerung der Achtung der Menschenwürde im Grundgesetz beruht auf kulturellen Traditionen und historischen Erfahrungen, denn Art. 1 Abs. 1 GG ist als Antwort auf die Ideologie und Realität des Nationalsozialismus zu verstehen. Die Achtung der Menschenwürde ist kein evidenter, selbständiger Sachverhalt. Auch hier gilt es für die Idee der Achtung der Menschenwürde zu werben und mit Argumenten zu überzeugen. Diese Argumentation aber hängt weder im luftleeren Raum, noch steht ihr eine geschlossene Gegenposition gegenüber. Die Idee, dass der Mensch andere Menschen als Menschen achtet, ist als Grundlage menschlicher Gemeinschaft weit über den westlichen Kulturkreis hinaus anerkannt. 3. Menschenrechte auf der Grundlage der Menschenwürde Unter Rekurs auf das überpositive, vorstaatliche Fundament der Menschenwürde sind erhebliche Teile der Menschenrechtsdeklarationen und der im Generationenkatalog aufgezählten Menschenrechte nicht auf die Schutzfunktion der Achtung menschlicher Würde zu gründen. Ihnen fehlt der Fundamentalcharakter, da sie „oft genug lediglich politische Ziele oder moralische Postulate sind“.57 Wohl aber lässt sich ein „fester Kernbestand“ ermitteln, wie z.B. die Stellung und Anerkennung als Rechtssubjekt, die Freiheit zu eigener Entfaltung, der Ausschluss von Erniedrigung und Instrumentalisierung nach Art einer Sache58 sowie die Garantie des Existenzminimums.59
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Vgl. Becker Ein Plädoyer gegen den Universalismus, in: FAZ v. 24.6.2006, Nr. 144,
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Stern (Fn. 41), § 1 Rn. 37. Böckenförde Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, 1216, 1225; dazu auch Dederer JöR 57 (2009), 89, 101. 59 Dazu BVerfGE 125, 175, 222 f. 58
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IV. Resümee 1. Den auf die Achtung der Menschenwürde gegründeten überpositiven Menschenrechten kommt als universal geltenden Rechten eine andere Qualität zu als den völkerrechtlich positivierten Menschenrechten, die auf der völkerrechtlich verbindlichen Anerkennung von Bürgerrechten beruhen. 2. Der Prozess internationaler Positivierung von Bürgerrechten hat nicht nur positive Aspekte. Ihm ist eine Gefahr im Hinblick auf die Bürgerrechte immanent. Die einzelnen Bürgerrechte sind in den an einer internationalen Positivierung dieser Rechte beteiligten Staaten nicht inhaltlich identisch, mag auch die Zielrichtung übereinstimmen. Diese Unterschiede sind im Prozess der Positivierung zu diskutieren und in einem Kompromiss zu berücksichtigen. Wird dieser Kompromiss aber auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden, so ist die Gefahr einer sachwidrigen Verkürzung eines als Bürgerrecht garantierten Schutzniveaus begründet. – Auf diese Gefahr hat Bernd Schünemann in seinem eingangs genannten Aufsatz aufmerksam gemacht. Sein Anliegen verdient uneingeschränkte Zustimmung.
Ein paar Seiten Logik für Juristen Lothar Philipps
Rechtssätze haben typischerweise eine Wenn-dann-Form: Wenn ein Tatbestand erfüllt ist, dann tritt eine Rechtsfolge ein. Stets dann oder – nur dann? Und wenn der Gesetzgeber den Umfang des Tatbestandes vergrößert oder verkleinert: wird der Gehalt des Rechtssatzes dadurch verstärkt oder abgeschwächt? Das sind Fragen elementarer Logik, in denen sich ein Jurist auskennen sollte. Dieser kurze Text ist nicht zum Einüben von logischen Formeln und Termini bestimmt. Ich werde abwechselnd Symbole und Ausdrücke der natürlichen Sprache verwenden, um beider Tugenden zu nutzen: Die natürliche Sprache hat den Vorzug der Selbstverständlichkeit; Symbole können eher Strukturen zur Anschauung bringen. Der Text ist Bernd Schünemann gewidmet, der sich, vom Anfang seines wissenschaftlichen Strebens an bis heute, immer wieder mit Logik beschäftigt hat: weniger mit der reinen Logik, welche einerseits selber von den Spuren des Lebens gereinigt ist, andererseits wieder an das Rechtsleben angelegt werden soll; Schünemann behandelt Recht und Logik vielmehr als eine organische Einheit.
I. Wahrheit und Satz Gottlob Frege, einer der Schöpfer der modernen Logik, hat gesagt: „So wie das Wort „gut“ der Ethik und das Wort „schön“ der Ästhetik, so weist das Wort „wahr“ der Logik den Weg.“ Diesem Wegweiser werden wir folgen. Was heißt „wahr“? wird man fragen. Doch auf diese Frage brauche ich nicht zu antworten. Ich behaupte einfach: „Es regnet.“ Worauf Sie aus dem Fenster schauen und erkennen werden: „Das ist wahr.“ Vielleicht werden Sie aber auch feststellen: „Das ist falsch.“ Das genügt mir, wir verstehen uns, für die Zwecke dieses Textes hinreichend. Behauptungen, in Texten zur Logik zumeist „Aussagen“ (oft auch schlicht „Sätze“) genannt, sind wahr oder falsch. Diese Unterscheidung genügt für die „Aussagenlogik“, auf die Struktur der Sätze kommt es nicht an; daher auch das einfache Beispiel „Es regnet“, statt beispielsweise „Alle Menschen sind sterblich“. Vielgestaltig wird die Aussagenlogik dann, wenn wir zwei Sätze nehmen und zu einem Gesamtsatz verknüpfen. Jeder der beiden Teilsätze ist wahr
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oder falsch; es gibt vier Möglichkeiten, wie wahre und falsche Teilsätze verknüpft werden können: (1) (2) (3) (4)
wahr wahr falsch falsch
wahr falsch wahr falsch
Auch der Gesamtsatz ist wahr oder falsch. Welches von beiden, hängt erstens von den Teilsätzen und zweitens von der Art ihrer Verknüpfung ab. Zum Beispiel: „Es regnet“ möge wahr sein und „Es ist kalt“ falsch. Wenn ich die beiden durch ein Und verknüpfe, ist der Gesamtsatz „Es regnet und es ist kalt“ falsch. Wähle ich jedoch eine Oder-Verknüpfung, so ist der Gesamtsatz wahr: „Es regnet oder es ist kalt“. Sätze können durch Symbole vertreten werden, zumeist durch Buchstaben: a, b, c usw. Auch die Verknüpfungen zwischen den Sätzen können durch Symbole ausgedrückt werden: das Oder hat die Form ∨, vom lateinischen vel herrührend, also sieht der Oder-Satz so aus: a ∨ b. Das Und wird durch ein umgestülptes ∨ dargestellt: a ∧ b.1 Wenn eine Aussage verneint werden soll, stellt man das Negationszeichen ¬ davor. Ist a wahr, so ist ¬ a falsch. Wenn man ¬ a wiederum negiert: ¬¬ a, führt die doppelte Negation zu a zurück. Die Negation verwandelt wahr in falsch und falsch in wahr. Und wahr und falsch lässt sich natürlich zu w und f abkürzen.
II. Wahrheit und Information Bei a ∧ b ist von den vier Wertungsmöglichkeiten des Gesamtsatzes (Abb. 1) nur die oberste wahr (wo beide Teilsätze wahr sind); bei a ∨ b ist nur die unterste falsch (wo beide Teilsätze falsch sind). Beim Oder-Satz gibt es also mehr Möglichkeiten, dass er wahr sein könnte. Das bedeutet, dass in ihm weniger Information steckt als im Und-Satz (vgl. nachfolgend die Abb. 1). (1) (2) (3) (4)
a w w f f
b w f w f
a∧b w f f f
a∨b w w w f
1 In der Literatur werden unterschiedliche Symbole verwandt, ich folge hier einem verbreiteten Usus, demselben wie Joerden Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 2. Aufl. 2005. Gut etabliert ist auch Joerdens Wahl der Namen für die Verknüpfungen: die Und-Verknüpfung wird als „Konjunktion“, die des Oder als „Disjunktion“ bezeichnet. Auf andere terminologische Dialekte kann man sich leicht einstellen.
Ein paar Seiten Logik für Juristen
217
Und auch den geringen Informationsgehalt des Oder-Satzes kann man noch beseitigen, indem man einen weiteren Teilsatz mit oder anhängt, wonach a ∨ b auch dann wahr ist, wenn sowohl a wie b falsch sind: a ∨ b ∨ (¬ a ∧ ¬ b). Dadurch wird die einzige Kombination, die bei a ∨ b mit f bewertet wurde, auch noch wahr. Eine Tautologie. Zuvor war vieles wahr, jetzt alles (vgl. nachfolgend die Abb. 2). (1) (2) (3) (4)
a w w f f
b w f w f
a ∨ b ∨ (¬ a ∧ ¬ b) w w f f f w w f f w w w w f f f w w w w
Ein Jurist (oder Politiker oder Journalist) sollte sich bewusst machen, auch wenn er es unbewusst schon weiß: je weniger Information er in seinen Sätzen von sich gibt, seien sie nun kurz und knapp oder aber weitschweifend, desto eher befindet er sich auf der Seite der Wahrheit.2 Die Sätze zum Wetter waren beschreibender Natur. Aber natürlich gibt es auch vorschreibende Sätze – Vorschriften eben. (1) Jemand soll Schnee schaufeln und Sand streuen. (2) Vielleicht ist ihm auch nur vorgeschrieben, dass er Schnee schaufelt oder Sand streut. In der ersten Variante ist der Gehalt der Anordnung größer und in der zweiten kleiner: dort soll man beides tun, hier kann man sich auszusuchen, was man tut. Bei Anordnungen geht es aber nicht nur darum, was man tun soll, sondern auch auf Grund welcher Tatbestände man es tun soll. In der Umschreibung des Tatbestandes kann ebenfalls unterschiedlich viel Gehalt stecken: durch Hinzufügung eines Teilsatzes mit und vergrößert sich der Gehalt des Tatbestandes; fügt man einen Teilsatz mit oder hinzu, verkleinert er sich. Und dieser Unterschied wirkt sich – kreuzweise symmetrisch – auf den Gehalt eines Rechtssatzes aus: Je weniger Gehalt im Tatbestand steckt, desto mehr steckt im Rechtssatz; denn je eher der Tatbestand erfüllt ist, desto eher kann der Rechtssatz seine Wirkung entfalten. Und umgekehrt: Je mehr Aufwand für die Subsumtion erforderlich ist, desto geringer ist die Chance, den Rechtssatz anwenden zu können. Ein Blick auf § 242 StGB (Diebstahl) zeigt den Zusammenhang: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Der an einem Oder hängende Teilsatz („… oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen …“) schwächt den Tatbestand ab und verstärkt damit den Rechtssatz. Der § 242 verstärkende Teilsatz wurde erst 1989 eingefügt.
2 Zur Informationstheorie im Recht vgl. Philipps in: Philipps (Hrsg.), Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen. Rechtslogische Aufsätze, Bern 2012, S. 175–181.
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Lothar Philipps
III. Das zweifache Wenn-dann im Rechtssatz Wenn-dann-Verknüpfungen sind besonders bedenkenswert für die Rechtswissenschaft, da die meisten Rechtssätze die Wenn-dann-Form haben. Es gibt zwei oder gar drei Arten des Wenn-dann; wir sollten sie zusammen betrachten, zunächst im Rahmen unseres nichtjuristischen Ausgangsbeispiels: (1) „Stets wenn es regnet, ist es kalt.“ Wer auf diesen Satz baut, rechnet damit, dass es bei Regen kalt ist. Wenn es nun aber regnet und nicht kalt ist? Dann wird die Erwartung, dass mit Regen Kälte verbunden ist, enttäuscht; der Wenn-dann-Satz ist falsch. (2) „Nur wenn es regnet, ist es kalt.“ Auch dieser Wenn-dann-Satz drückt eine Erwartung aus: nämlich dass es nur bei Regen Kälte gibt. Und wenn es kalt ist, ohne dass es regnet? Dann ist der Satz falsch. (3) „Stets dann und nur dann, wenn es regnet, ist es kalt.“ Gemäß diesem doppelten Wenn-dann-Satz sind Regen und Kälte wechselseitig miteinander verbunden. Falsch ist der Satz in Fällen, wo diese Verbindung nicht besteht. Mit „stets wenn ..., dann“ lässt sich ausdrücken, dass eine Bedingung für den Eintritt einer Folge hinreichend ist; bei „nur wenn, …, dann“ ist die Bedingung für den Eintritt der Folge notwendig: Man spricht von „hinreichenden“ und „notwendigen“ Bedingungen. Man kann die beiden Bedingungsformen auch zusammenfügen, so dass sich jede Bedingung als Folge der anderen Bedingung ergibt: „stets dann und nur dann, wenn …“. Dann sind die beiden Wenn-dann-Sätze „äquivalent“. Veranschaulicht werden die Bedingungen und Folgen durch Pfeile: wenn a hinreichend für b ist, zeigt der Pfeil von links nach rechts: a → b. Ist a notwendig für b, nimmt der Pfeil die andere Richtung: von b nach a: a ← b. Bei einer Äquivalenz zeigt der Pfeil mit zwei Spitzen in entgegengesetzte Richtungen: a ↔ b. Die Wertetafeln für die Bedingungen sehen so aus (Abb. 3): (1) (2) (3) (4)
regn w w f f
kalt w f w f
regn → kalt w f w w
regn ← kalt w w f w
regn ↔ kalt w f f w
Nun ein juristisches Beispiel: Jemand will einen Jagdschein erwerben. Wenn er die Jagdprüfung besteht, hat er Anspruch auf den Schein, die bestandene Prüfung ist ein hinreichender Grund dazu. Aber das braucht noch kein notwendiger Grund zu sein: denkbar wäre auch die Verleihung eines Jagdscheins ehrenhalber, beispielsweise an jemanden, der ein Buch über Hermann Löns geschrieben hat. Doch einen Jagdschein ehrenhalber gibt es in Deutschland nicht; die Jagdprüfung ist sowohl hinreichend wie notwendig für den Schein.
Ein paar Seiten Logik für Juristen
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Den Doppelcharakter der Bedingung – hinreichend und notwendig – haben viele Rechtssätze. Der Unterschied der Charaktere zeigt sich in Fällen von juristischer Fehlerhaftigkeit: (1) Jemand besteht die Prüfung, es wird ihm aber der Schein verweigert. Das widerspricht dem Wenn-dann-Satz im hinreichenden Sinne; der Geprüfte mag eine Klage in Betracht ziehen. (2) Der Prüfling fällt durch die Prüfung, erhält aber trotzdem den Schein. Das widerspricht der Notwendigkeit der Bedingung, es kann Anlass zum Eingreifen einer Behörde sein.
IV. Schlussbemerkungen Wie viele Werteverteilungen (und damit auch Verknüpfungsformen) gibt es eigentlich? Es sind 16; das weiß man seit Wittgensteins Tractatus logicophilosophico (1922). Man braucht sich aber nicht alle 16 Verteilungen und ihre Namen zu merken. Für den Anfang reicht es aus, wenn man sich an die vier elementaren wahr/falsch-Verteilungen hält, die auf der ersten Seite und auch auf dieser Seite angegeben sind. Die übrigen lassen sich durch Verstärkungen und Abschwächungen des Informationsgehaltes eines Satzes sowie durch Negationen leicht daraus entwickeln. Jede der vier ist signifikant für eine der Verknüpfungen, die wir dieser Untersuchung zugrunde gelegt haben, und jede findet sich auch in der Umgangssprache. (1) (2) (3) (4)
wahr wahr falsch falsch
wahr falsch wahr falsch
und stets wenn, dann nur wenn, dann oder
Manche Leser werden nach einer umfangreicheren Lektüre zur juristischen Logik suchen. Ich rate zu Jan Joerden Logik im Recht (Fn. 1). Einige werden auch nach einer anderen Konzeption der Logik fragen – die gibt es in der Tat. Die Logik lässt sich statt auf dem Konzept der Wahrheit auf dem des Beweises in einem Streitgespräch aufbauen, was zwar Abweichungen vom Gewohnten mit sich bringt, aber dem Recht mit seinem Beweislastverteilungen ein gutes Stück näherkommt. Es gibt viel Literatur dazu in Mathematik und Informatik (unter dem Stichwort „Intuitionismus“), seltsamerweise aber kaum in der Rechtswissenschaft. Ich verweise auf zwei meiner Arbeiten aus dem Sammelband Lothar Philipps, Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen. Rechtslogische Aufsätze, Bern 2012: „Dialogische Logik und juristische Beweislastverteilung“, S. 37–48, sowie: „Rechtliche Regelung und formale Logik“, S. 49–57.
Der Typusbegriff, eine Denkform? Ingeborg Puppe I. Einleitung Wenn man die drei großen Abhandlungen, die Schünemann zum Typusbegriff im Recht geschrieben hat 1 zusammen betrachtet, zeigt sich eine geistige Entwicklung, die schon in deren Titeln plastisch zum Ausdruck kommt. Im zweiten mit dem Titel „Vom philologischen zum typologischen Vorsatzbegriff“ ist mit dem philologischen Vorsatzbegriff die Begriffsform des Klassenbegriffs gemeint. Schünemann schlägt also vor, das Problem der Bestimmung des Vorsatzes dadurch zu lösen, dass man von einer Denkform des Klassenbegriffs zu einer Denkform des Typus übergeht. Die letzte Abhandlung trägt den Titel „Spirale oder Spiegelei? Vom hermeneutischen zum sprachanalytischen Modell der Rechtsanwendung“. Das Spiegelei veranschaulicht einen unscharfen Klassenbegriff mit einem Begriffskern und einem Begriffshof. Aber schon in dem ersten der drei Aufsätze finden sich die folgenden Sätze: „Die Differenzierung zwischen klassifikatorischen Begriffen und Typusbegriffen […] ist selbst nicht klassifikatorisch, sondern komparativ. Sie wird nur im Rahmen des Bedeutungshofs relevant, wobei der Typus ein Sonderfall des unbestimmten Rechtsbegriffs ist.“2 Diese Entwicklung im Rechtsdenken Schünemanns gibt Anlass zu der Frage, welches die Hoffnungen und Erwartungen sind, die die Methodenlehre der Rechtsanwendung in die Denkform des Typus gesetzt hat und immer noch setzt und ob sich diese Erwartungen in der Praxis der Rechtsanwendung erfüllt haben. Worin besteht der Fortschritt einer Denkform des Typus im Vergleich zum klassifikatorischen Denken und durch welche falschen Erwartungen droht diese Denkform zu entarten oder ist schon entartet? Bei der Untersuchung dieser Fragen wollen wir von einem Katalog von Thesen zur Gegenüberstellung von Klassenbegriffen und Typusbegriffen ausgehen, den Kuhlen aus der rechtstheoretischen Literatur zum Typusbegriff extrahiert hat: 3
1 Schünemann FS Hirsch, 1999, S. 363; ders. FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 299; ders. FS Hassemer, 2010, S. 239. 2 Schünemann FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 299. 3 Kuhlen Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 16.
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1. Der Typusbegriff ist konkreter als der Klassenbegriff.4 2. Während Klassenbegriffe eine Tendenz zur „Sinnentleerung“ aufweisen, seien Typusbegriffe sinnerfüllt, „Sinngebilde“.5 3. Stelle der abstrakte Begriff eine Merkmalssumme dar, so der Typus eine Ganzheit.6 4. Typusbegriffe seien, anders als Klassenbegriffe, offen, d.h. einzelne Begriffsmerkmale seien für die Begriffsanwendung verzichtbar.7 5. Die Merkmale eines Klassenbegriffes seien unbeweglich, starr, die eines Typusbegriffs dagegen, wenigstens zum Teil, abstufbar.8 6. Klassen- und Typusbegriffe sollen auf Sachverhalte in unterschiedlicher Weise angewandt werden, d.h. sich im „Zuordnungsverfahren“ unterscheiden. Einem Klassenbegriff sei ein Sachverhalt nur entweder zuzuordnen, bzw. zu subsumieren, oder nicht. Einem Typusbegriff dagegen könne ein Sachverhalt mehr oder weniger zugeordnet werden.9 7. Klassenbegriffe seien definierbar, nicht dagegen Typusbegriffe, bei denen lediglich eine Typenbeschreibung möglich sei.10 8. Die Anwendung abstrakter Begriffe auf Sachverhalte erfordere deren Gleichheit, einem Typus seien sie aufgrund zwischen ihnen bestehender Ähnlichkeiten zuzuordnen.11 Diese Liste offenbart die geistesgeschichtlichen Quellen der Lehre vom Typusbegriff im Recht. Da ist zunächst die juristische Hermeneutik, die lehrt, dass jedes Verständnis von einem intuitiven Vorverständnis ausgehen muss und die die Einbahnstraße der Subsumtion vom Begriff zum Objekt durch einen hermeneutischen Zirkel ersetzt, ein „Hin- und Herwandern des Blickes“ zwischen Norm und Sachverhalt oder auch Begriff und Gegenstand, durch das beide Schritt für Schritt einander angenähert, zueinander in Entsprechung gebracht, einander mehr oder weniger zugeordnet werden sol-
4 Engisch Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. 1968, S. 238; Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 292; Arthur Kaufmann Analogie und „Natur der Sache“. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 2. Aufl. 1982, S. 47. 5 Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 286; Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 50; Engisch (Fn. 4), S. 251. 6 Engisch (Fn. 4), S. 248 ff.; Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 291; Leenen Typus und Rechtsfindung. Die Bedeutung der typologischen Methode dargestellt am Beispiel des Vertragsrechts des BGB, 1971, S. 44 ff., 46 f. 7 Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 297; Leenen (Fn. 6), S. 34 ff.; Wank Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 128 f. 8 Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 299; Leenen (Fn. 6), S. 34, 40 f.; Wank (Fn. 7), S. 126 f., 130 f. 9 Wolff Studium Generale 5 (1952), S. 195, 201 (mit Fn. 48a); Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 47 f. 10 Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 294; Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 47, 49 f. 11 Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 297.
Der Typusbegriff, eine Denkform?
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len.12 Die These von der Offenheit der Typusbegriffe, deren Merkmale teilweise verzichtbar sind, erinnert an die Büschelbegriffe oder Clusterbegriffe von Wittgenstein13 und die These 8 ist nichts anderes, als eine ziemlich genaue Beschreibung der Wittgenstein’schen Lehre von der bloßen Familienähnlichkeit der Designata umgangssprachlicher Begriffe.14 Vor allem aber berufen sich die juristischen Theoretiker des Typusbegriffs im Recht auf die Untersuchung von Hempel und Oppenheim, „Der Typusbegriff im Licht der neuen Logik“. Mit der neuen Logik meinen die Autoren die Logistik oder „formale“ Logik, insbesondere die Relationenlogik. Als Typusbegriffe der ordnenden Form bezeichnen sie Relationsbegriffe, mit denen man Objekte in einer Reihe ordnen kann, also Relationen, die angeben, ob ein Objekt in dieser Reihe vor oder hinter einem anderen steht oder mit ihm an gleicher Stelle. Das einzige, was man mithilfe dieser Typusbegriffe i.S. von Hempel und Oppenheim, über einen Gegenstand aussagen kann ist, an welchem Ort in der Reihe er sich im Verhältnis zu einem anderen Gegenstand befindet.15 Den Relationsbegriffen wird kein abstrakter Sinn zugeschrieben, sondern lediglich die Funktion, eine empirische Methode anzugeben, um einem Gegenstand seinen Platz in dieser Reihe anzuweisen. Ein Gegenstand ist leichter als ein anderer, wenn er auf einer Balkenwaage höher hängt, ein Mineral ist härter als ein anderes, wenn man mit der Spitze des ersteren eine Fläche des zweiten ritzen kann.16 Hier drückt sich die unter analytischen Philosophen verbreitete Skepsis gegen alles aus, was man landläufig als Sinn oder gar Idee zu bezeichnen pflegt. Sie findet sich auch in der Spätphilosophie Wittgensteins in seinem Bestreben, die Semantik durch Pragmatik zu ersetzen.17 Indem aber Hempel und Oppenheim den Relationsbegriffen einen Sinn absprechen, und nur einen Bezug zu den Gegenständen, den konkreten Dingen, anerkennen, nehmen sie ihnen auch ihren abstrahierenden Charakter. Fast scheint es, als würde die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, man könne mithilfe der Ordnungsbegriffe unmittelbar auf die konkreten Gegenstände zugreifen, ohne den Umweg über abstrakt begriffliche Aussagen. Dabei gibt es doch nichts abstrakteres, als eine Ordnung von Gegenständen nur nach ihrem Gewicht. Von allen ihren übrigen Eigenschaf-
12 Engisch Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 15, 27; Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 40 f.; ähnlich auch Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 288; Hassemer Tatbestand und Typus, 1968, S. 98 ff.; kritisch dazu jetzt Schünemann FS Hassemer, 2010, S. 239, 241 ff. 13 Siehe Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, §§ 65–67; darauf hat schon Kindhäuser Rechtstheorie 1981, 226, 238 ff. hingewiesen. 14 Wittgenstein (Fn. 13), ebenda; zur Ähnlichkeit der Figur des Typus und der Theorie der Familienähnlichkeit siehe Kuhlen (Fn. 3), S. 136 ff. 15 Hempel/Oppenheim Der Typusbegriff im Licht der neuen Logik, 1936, S. 81. 16 Hempel/Oppenheim (Fn. 15), S. 41 ff., 80 f. 17 Wittgenstein (Fn. 13), § 20b; § 43; § 403–411; § 549–568 und passim.
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ten, ihrem Material, ihrer Farbe, ihrer Oberflächenbeschaffenheit und ihrer Form wird dabei abgesehen. Ein Schmuckstück und ein Stück Dreck können in dieser Ordnung den gleichen Platz finden. Das gilt es zu bedenken, wenn wir die Fruchtbarkeit der Anwendung komparativer Begriffe in der Jurisprudenz aufzeigen. Ich bin nicht sicher, ob Hempel und Oppenheim tatsächlich in dem Sinne zu verstehen sind, dass die ordnenden Begriffe nicht von den konkreten Dingen abstrahieren, sondern diese unmittelbar erfassen, oder ob es ihnen nur um den formalen Unterschied zwischen Klassenbegriffen als einstelligen Prädikaten und Ordnungsbegriffen als mehrstelligen zu tun ist. In der Rechtswissenschaft ist mit der Einführung der Denkform des Typus seit jeher diese Hoffnung verbunden, den Antagonismus zwischen den abstrakten Begriffen und den konkreten Dingen zu überwinden;18 so, wenn der Typus als Bild oder Vorbild bezeichnet wird19 oder dem dürren Klassenbegriff des Kaufmanns als Betreiber eines Handelsgewerbes der konkrete Typusbegriff des Kaufmanns mit all seinen typischen Tugenden und Lastern, als da sind Genauigkeit, Zähigkeit, Berechnung, Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen als „lebensvolle Ganzheit“ gegenübergestellt wird.20 Ehe wir untersuchen, ob solche Hoffnungen berechtigt sind, wollen wir zunächst fragen, ob das, was diese Liste von Thesen über die Klassenbegriffe aussagt, richtig ist.
II. Klassenbegriffe Beginnen wir mit der These 4, dass Klassenbegriffe keine verzichtbaren Merkmale enthalten. Das gilt nur für die allereinfachste Form von Klassenbegriffen, durch die die Klasse entweder durch eine einzige Eigenschaft bestimmt ist, oder durch eine Reihe von Eigenschaften, die additiv mit „und“ verknüpft sind. Aber auch Begriffe, deren einzelne Merkmale disjunktiv mit „oder“ verknüpft sind, sind Klassenbegriffe. Das Standardbeispiel in der Wissenschaftstheorie ist die Definition des Skandinaviers: Ein Skandinavier ist, wer Schwede, Däne, Norweger, oder Finne ist. Solche disjunktiven Merkmalsverknüpfungen sind in der Jurisprudenz nicht selten. Nach § 223 StGB ist eine Körperverletzung eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung. Dabei stehen die beiden Alternativen zueinander nicht in
18 So heißt es bei Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 47: „Der Typusbegriff bildet die Mittelhöhe zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Er ist ein vergleichsweise Konkretes, ein universale in re.“; vgl. dazu auch Engisch (Fn. 4), S. 239 ff., 262; Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 291 f. 19 Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 48; Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 291. 20 Herschel FS Otto Kunze, 1969, S. 225, 230 f.; kritisch dazu Kindhäuser Rechtstheorie 1981, 226, 242 ff.
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einem Exklusivitätsverhältnis. Die meisten Körperverletzungen sind sowohl Misshandlungen als auch Gesundheitsschädigungen. Aber jedes der beiden Begriffsmerkmale ist verzichtbar, sofern das andere gegeben ist. Ein Klassenbegriff kann auch so bestimmt sein, dass er unverzichtbare und verzichtbare Merkmale hat. So hat beispielsweise der Begriff „Mord“ das unverzichtbare Merkmal, dass eine Person eine andere vorsätzlich tötet, und zusätzlich die sog. Mordmerkmale als alternativ verzichtbare Merkmale. Die Klassenbegriffe mit disjunktiv verknüpften Merkmalen widerlegen auch die These 8, dass die unter einen Klassenbegriff subsumierbaren Elemente alle in einer bestimmten Eigenschaft gleich sein müssen. Wenn die These 2 den Klassenbegriffen eine „Tendenz zur Sinnentleerung“ bescheinigt, so ist damit wohl gemeint, dass Klassenbegriffe nur wenige Informationen über ihre designata enthalten könnten. Auch das gilt nur für die allereinfachsten Formen von Klassenbegriffen, die nur ein Merkmal oder nur wenige Merkmale enthalten. Aber ein Klassenbegriff kann so viele Merkmale und damit so viel Information über seine designata enthalten, wie man immer will. Was in These 2 mit den Typusbegriffen als im Gegensatz zu Klassenbegriffen „sinnerfüllten Sinngebilden“ oder in These 3 mit dem Typusbegriff als einer „Ganzheit“ gemeint ist, ist nicht recht klar. Bei Larenz/Canaris, die den Typus auch als „Strukturtypus“ bezeichnen 21, dürfte damit gemeint sein, dass in einem Typusbegriff die einzelnen Merkmale nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern in bestimmte Beziehungen zueinander gebracht werden. Aber das gilt für sehr viele Begriffe, die wir gewohnt sind, als Klassenbegriffe zu bezeichnen. Eine offene Handelsgesellschaft ist eine Beziehung zwischen mehreren Personen und auch Sachen, nämlich denjenigen, die zum Gesellschaftsvermögen gehören. Jeder Tatbestand des Strafgesetzbuches stellt ein Geflecht von Beziehungen zwischen Personen und gegebenenfalls Sachen dar. Ich kann natürlich weder Larenz noch Engisch oder Hassemer daran hindern, Begriffe, die Beziehungen zwischen Individuen darstellen, als Typusbegriffe, statt als Klassenbegriffe zu bezeichnen.22 Aber welche semantische Erkenntnis soll dadurch zum Ausdruck gebracht werden? 23 Schließlich erfüllen auch solche Begriffe, deren designata Beziehungen zwischen Individuen sind, nicht die anderen Eigenschaften, die Typusbegriffen nachgesagt werden. So haben beispielsweise die Straftatbestände keine verzichtbaren Merkmale.
21
Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 295 ff. Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 295; Engisch (Fn. 4), S. 270; Hassemer (Fn. 12), passim; wenn in der Lehre vom Straftatbestand allenthalben davon die Rede ist, dass die gesetzlichen Tatbestände Unrecht „vertypen“, so ist damit etwas anderes gemeint als dass sie Typusbegriffe seien; nämlich, dass sie ein bestimmtes Unrecht beschreiben und nicht, wie man früher glaubte, nur indizieren. 23 Vgl. dazu Wank (Fn. 7), S. 132. 22
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Nach These 6 soll ein Sachverhalt unter einen Klassenbegriff entweder subsumierbar oder nicht subsumierbar sein, während er einem Typusbegriffe „mehr oder weniger zugeordnet“ werden kann. Auch was dieser Gegensatz bedeutet, ist zunächst deshalb nicht klar, weil das Wort „zuordnen“ nicht steigerbar ist. Man kann irgendeinen Gegenstand einem anderen zuordnen, oder nicht zuordnen, aber nicht mehr zuordnen oder weniger zuordnen, als einen anderen. Gemeint ist offenbar, dass Typusbegriffe vage sind, also sog. neutrale Kandidaten haben, von denen zweifelhaft ist, ob sie dem Typusbegriff unterfallen oder nicht. Unter diesen neutralen Kandidaten kann dann eine Ordnung bestehen, wonach die Zuordnung eines Kandidaten weniger zweifelhaft ist, als die eines anderen, genauer, die Regel gilt, wenn der zweite Kandidat dem Typusbegriff zugeordnet wird, so muss das für den ersten erst recht gelten. Gerade so schildert Radbruch die Eigenschaften des Typusbegriffs, indem er von einem festen Kern und fließenden Rändern spricht.24 Aber das ist genau die Metapher von Begriffskern und Begriffshof, die Philipp Heck auf Klassenbegriffe im Recht angewandt hat.25 Die meisten Klassenbegriffe der Umgangssprache und auch der Rechtssprache sind in dem Sinne vage oder unbestimmt, dass sie neutrale Kandidaten aufweisen.26 Trotzdem muss man für jeden Kandidaten entscheiden, ob man ihn unter einen Rechtsbegriff subsumieren will oder nicht. Das gilt aber auch für einen Rechtsbegriff, den man als Typusbegriff bezeichnet. Auch bei dessen Anwendung auf einen Rechtsfall ist uns mit einem „mehr oder weniger zuordnen“ des Sachverhalts zu diesem Typusbegriff nicht gedient. Es ist also kein Grund ersichtlich, bei einigen Rechtsbegriffen von Subsumtion zu sprechen, bei anderen von Zuordnung.27 Ob die These 7, dass Klassenbegriffe definierbar sind, richtig ist, hängt davon ab, was wir unter definieren verstehen, was wir also von einer Definition verlangen. Verlangen wir, wie das in der Naturwissenschaft geschieht, von einer Definition, dass sie einen Begriff dergestalt präzisiert, dass die Frage, ob ein Kandidat unter diesen Begriff subsumierbar ist oder nicht für
24 Radbruch Gesamtausgabe – Rechtsphilosophie III, bearbeitet von Winfried Hassemer, 1990, S. 60, 68. 25 Heck AcP 112 (1914), 1, 173; Schünemann FS Hassemer, 2010, S. 239, 243 bringt den Vergleich mit einem Spiegelei. Dessen Dotter ist der Begriffskern, das Eiweiß der Hof. Das Bild ist nett, aber irritierend, weil es die Vorstellung erweckt, dass die Grenze zwischen Kern und Hof scharf ist, wie die zwischen Dotter und Eiweiß, und die Grenze zum Außenbereich ebenfalls. Aber zwischen Kern und Hof einerseits und Hof und Außenbereich andererseits gibt es fließende Übergänge. Deshalb kann man den Begriff nicht dadurch präzisieren, dass man ihn auf den Kern beschränkt oder auf den Hof ausdehnt. Das veranschaulicht das Bild vom Hof einer Monderscheinung. 26 Puppe Kleine Schule des juristischen Denkens, 3. Aufl. 2014, S. 54 ff. 27 Duttge Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 103, 124; Schünemann FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 299, 308.
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jeden Gegenstand in der Welt eindeutig entscheidbar ist, so sind die meisten Klassenbegriffe der Rechtssprache auch nicht definierbar, weil sie neutrale Kandidaten haben.28 Verlangt man dagegen von einer Definition, dass sie einen Begriff in Merkmale zerlegt und die Beziehungen der Merkmale untereinander explizit macht,29 so sind auch vage Begriffe definierbar. Aber auch Typusbegriffe müssen, wenn sie für das Recht überhaupt brauchbar sein sollen, in diesem Sinne definierbar sein, weil sonst ihre Anwendbarkeit auf einen Einzelfall weder festzustellen noch zu begründen ist.30 Unsere Untersuchungen der Behauptungen, die über die semantischen Eigenschaften von Klassenbegriffen im Gegensatz zu denen von Typusbegriffen aufgestellt werden, haben gezeigt, dass dabei von einer allzu primitiven Vorstellung von einem Klassenbegriff ausgegangen wird, nämlich von einem Klassenbegriff, der entweder überhaupt nur ein Merkmal hat oder bei dem die mehreren Merkmale konjunktiv, also durch „und“ verbunden sind.31 Klassenbegriffe „können“ sehr viel mehr, als man ihnen gemeinhin zutraut. Sie besitzen viele Eigenschaften und Möglichkeiten, die man den Typusbegriffen nachsagt. Andererseits besitzen sie den einen Vorzug nicht, den man ihnen den Typusbegriffen gegenüber zugesteht, sie sind nicht in dem Sinne definierbar, dass anhand ihrer Definition stets entscheidbar wäre, ob ein Element unter sie subsumierbar ist oder nicht. Sie sind in dem gleichen Sinne vage, wie man es von den Typusbegriffen sagt. Wie steht es also mit dem Gegensatz von Klassenbegriffen und Typusbegriffen? Dieser ist offenbar auch nicht eindeutig. Den Apologeten der fließenden Übergänge können wir ins Stammbuch schreiben, dass auch der Übergang vom Klassenbegriff zum Typusbegriff fließend ist.32 Am Ende ist der Typusbegriff selbst ein Typusbegriff.
III. Was ist ein Typusbegriff? Die These 5 aus unserem Thesenkatalog zur Unterscheidung von Klassenbegriffen und Typusbegriffen haben wir bisher ausgespart. Sie lautete: „Die Merkmale eines Klassenbegriffs seien unbeweglich, starr, die eines Typusbegriffs dagegen, wenigstens zum Teil abstufbar.“ Die These ist zunächst 28
Kuhlen (Fn. 3), S. 61; Schünemann FS Hassemer, 2010, S. 239, 242. So Puppe (Fn. 26), S. 35 ff.; Kuhlen (Fn. 3), S. 132; Kindhäuser Rechtstheorie 1981, 226, 230 f. 30 Wank (Fn. 7), S. 131. 31 So etwa Larenz/Canaris (Fn. 4), S. 265 ff., 287 (die von „abstrakten Begriffen“ sprechen, womit wohl Klassenbegriffe gemeint sind); kritisch dazu Kuhlen (Fn. 3), S. 127 ff.; Kindhäuser Rechtstheorie 1981, 226, 231 f. 32 Vgl. Schünemann FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 299, 307; ders. FS Otto, 2007, S. 777, 795 – ein „Amalgam“ von Klassen- und Typusbegriff sei möglich. 29
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dahin einzuschränken, dass ein Typusbegriff in der Jurisprudenz nicht aus einem einzelnen abstufbaren Merkmal bestehen kann, wie das für den ordnenden Typusbegriff bei Hempel und Oppenheim gilt. Denn ein einzelnes abstufbares Merkmal ermöglicht, sofern man die Abstufbarkeit nicht, etwa durch Festsetzung eines Grenzwerts, beseitigt, nur komparative Aussagen. Damit ist dem Juristen aber in aller Regel nicht gedient denn die Fragen der Rechtsanwendung sind mit ja oder nein zu beantworten, nicht mit mehr oder weniger.33 Unser Typusbegriff muss also aus mindestens zwei abstufbaren Merkmal bestehen oder aus einem abstufbaren Merkmal und weiteren nicht abstufbaren. Nun können wir eine Begriffsform bilden, die wir vielleicht mit einem gewissen Recht von Klassenbegriffen unterscheiden, auch wenn wir uns von vornherein darüber klar sein sollten, dass diese Begriffsform nichts anderes ist, als eine Weiterentwicklung des disjunktiven Klassenbegriffs. Zwei abstufbare Begriffsmerkmale können in der Weise miteinander verknüpft werden, dass das folgende komparative Gesetz gilt: je höher der Wert ist, den jeweils eines der steigerungsfähigen Merkmale erreicht, desto geringer kann der Wert sein, den das andere erreicht, um den Begriff zu erfüllen. Eine weitere Merkmalsverknüpfung, die durch ein steigerungsfähiges Merkmal ermöglicht wird, ist eine Kombination dieses Merkmals mit mehreren nicht steigerbaren Merkmalen. Sie besteht in der Verknüpfungsregel, in je stärkerem Maße das steigerungsfähige Merkmal gegeben ist, desto weniger von den anderen, steigerungsfähigen Merkmalen müssen gegeben sein, um den Begriff zu erfüllen.34 Beide Begriffsformen erweisen sich in der Jurisprudenz als fruchtbar. Diesen Begriffsformen ist auch zuzugestehen, was Radbruch den komparativen Begriffen attestiert, sie werden den fließenden Übergängen des Lebens besser gerecht, als qualitative Klassenbegriffe.35 Im Strafrecht kann man beispielsweise den Begriff des Gewahrsams, im Zivilrecht den Begriff des unmittelbaren Besitzes als einen solchen Typusbegriff gut darstellen. Die beiden steigerungsfähigen Merkmale sind die tatsächliche Sachherrschaft und deren soziale und rechtliche Anerkennung. Man kann nun folgendes komparatives Gesetz bilden: Je stärker die tatsächliche Sachherrschaft ausgeprägt ist, desto geringer muss ihre soziale Anerkennung sein, um den Gewahrsamsbegriff zu erfüllen und je stärker die soziale Anerkennung ausgeprägt ist, desto geringer muss die tatsächliche Sachherrschaft sein, um den Gewahrsamsbegriff zu erfüllen.36 Diese Begriffserklärung er-
33
Kindhäuser Rechtstheorie 1981, 226, 244. Puppe GS Armin Kaufmann, 1989, S. 15, 28, 30 ff.; dies. (Fn. 26), S. 58 ff., ebenso Duttge Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 103, 111 ff.; Schünemann FS Hirsch, 1999, S. 363, 372; ders. FS Hassemer, 2010, S. 239, 245 f. 35 Radbruch (Fn. 24), S. 64. 36 Das ist der von Arthur Kaufmann geforderte und gesuchte typologische Gewahrsamsbegriff (Fn. 4), S. 52; vgl. Puppe (Fn. 26), S. 42 f. 34
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füllt die oben dargestellte Voraussetzung einer juristischen Definition, indem sie die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Begriffsmerkmalen bestehen müssen, offenlegt. Dies leistet die allgemein verbreitete Definition des Gewahrsams als „die von einem Herrschaftswillen getragene faktisch soziale Herrschaft über eine Sache“37 nicht. Beide Merkmale unserer Gewahrsamsdefinition sind steigerbar. Für die faktische Herrschaft hat das Welzel mit seiner Lehre von den Gewahrsamssphären dargetan.38 Am stärksten ist diese Herrschaft ausgeprägt, wenn jemand einen Gegenstand in seiner Hand hat oder am Körper bei sich trägt, dann folgt die räumliche Gewahrsamssphäre und schließlich der Außenbereich, in dem eine schwach ausgeprägte Sachherrschaft beispielsweise an einem abgestellten Pkw oder Fahrrad fortbesteht.39 Aber auch die rechtliche Anerkennung dieses Herrschaftsverhältnisses kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, am stärksten ausgeprägt ist sie durch ein Recht zum Besitz. Auch der unberechtigte Besitz ist insofern anerkannt, als er gegen verbotene Eigenmacht geschützt wird, sogar gegenüber dem zum Besitz Berechtigten. Am schwächsten ausgeprägt ist die soziale Anerkennung des Besitzes, der durch verbotene Eigenmacht erlangt ist. Aber gänzlich fehlt die Anerkennung auch dieser Besitzform nicht, denn abgesehen von dem Recht des Vorbesitzers zur Nacheile und Besitzkehr, ist auch der durch verbotene Eigenmacht erlangte Besitz seinerseits gegen verbotene Eigenmacht geschützt. Aber keines der beiden steigerungsfähigen Merkmale darf den Wert Null erreichen. Hat der zum Besitz Berechtigte seine Sache verloren, so hat er keinerlei Sachherrschaft mehr, also auch keinen Gewahrsam oder Besitz. Fehlt der tatsächlichen Sachherrschaft jede rechtliche Anerkennung, etwa im Moment der Ausübung verbotener Eigenmacht oder, wenn derjenige, der die beste Zugriffsmöglichkeit auf die Sache hat, die fremde Sachherrschaft rein äußerlich noch anerkennt, wie beispielsweise der Kunde, der im Textilgeschäft ein Kleidungsstück anprobiert oder im Selbstbedienungsladen eine Ware in seinen Einkaufswagen legt, so erreicht die soziale Anerkennung seiner tatsächlichen Sachherrschaft den Wert Null. Deshalb erlangt ein Dieb erst dann Gewahrsam an der Sache, wenn seine tatsächliche Sachherrschaft so gefestigt ist, dass sie von Rechts wegen gegen verbotene Eigenmacht eines Dritten geschützt ist.40 Ein Typusbegriff mit mehr als zwei steigerungsfähigen Merkmalen ist der Begriff der Treuepflicht i.S.v. § 266 StGB. Seine Merkmale sind: die Höhe der
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Rengier Strafrecht BT I, 15. Aufl. 2013, § 2 Rn. 11; Kindhäuser Strafrecht BT II, 7. Aufl. 2012, § 2 Rn. 28; Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT I, 10. Aufl. 2009, § 33 Rn. 12; Schönke/Schröder/Eser/Bosch StGB, 28. Aufl. 2010, § 242 Rn. 23/24; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, § 242 Rn. 8a; 38 Welzel GA 1960, 257 ff.; ders. NJW 1961, 328. 39 BGH GA 1962, 78. 40 Puppe (Fn. 26), S. 71.
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Vermögenswerte, über die der Treunehmer zu disponieren befugt ist, die Dauer seiner Tätigkeit, die Selbstständigkeit seiner Tätigkeit und wohl auch das Vertrauen, das ihm der Rechtsverkehr allgemein entgegenbringt. So ist beispielsweise ein Notar bei der Abwicklung eines Grundstückskaufvertrags Treunehmer, obwohl dieses Verhältnis nur kurze Zeit andauert und er von Rechts wegen wenig Entscheidungsfreiheit dabei hat wie er mit den ihm anvertrauten Vermögenswerten verfährt. Aber die Vermögenswerte, über die er disponiert, sind vergleichsweise hoch und groß ist auch das öffentliche Vertrauen, das ihm als Amtsträger entgegengebracht wird. Ein Handelsvertreter verfügt dagegen jeweils nur über geringere Vermögenswerte. Wenn er aber bei seinen Geschäften weitgehend Entscheidungsfreiheit genießt und das Verhältnis dauerhaft ist, ist er ebenfalls treupflichtig. Für Typusbegriffe im dargelegten Sinne, also für Begriffe, die mindestens ein steigerbares Merkmal aufweisen, ist die These 7 in einem bestimmten Sinne richtig. Die komparativen Regeln, durch die solche Begriffe expliziert oder definiert werden, sind nicht eindeutig. Sie könnten eindeutig sein, wenn man die Grade des abstufbaren Begriffs metrisieren könnte. Dann könnte man die Je-desto-Regel dahin präzisieren, dass man einen bestimmten Mindestwert festsetzt, den das Produkt der Werte der einzelnen abstufbaren Merkmale erreichen muss, um den Begriff zu erfüllen, oder festsetzen, welche und wie viele der nicht abstufbaren Begriffe verzichtbar sind, wenn der abstufbare Begriff einen bestimmten Wert erreicht hat. Aber die abstufbaren Rechtsbegriffe sind, abgesehen vielleicht von einigen technischen Begriffen, nicht metrisierbar. Deshalb muss im Einzelfall durch eine Art Schätzung des Ausprägungsgrades der abstufbaren Merkmale entschieden werden, ob sie einen Grad erreichen, der in Verbindung mit den anderen erfüllten Merkmalen ausreicht. Für disjunktive Klassenbegriffe und auch für die Büschelbegriffe kann man Teildefinitionen aufstellen, indem man die jeweils alternativ möglichen Merkmale oder Merkmalskombinationen angibt. Ich kann beispielsweise sagen, eine Körperverletzung liegt jedenfalls dann vor, wenn eine Gesundheitsbeschädigung verursacht worden ist. Diese Teildefinitionen sind noch relativ allgemein und abstrakt. Freilich muss man auch für einen Typusbegriff eine Teildefinition angeben, um ihn auf einen Einzelfall anzuwenden. Man muss möglichst genau bestimmen, in welchem Grad die steigerungsfähigen Merkmale im Einzelfall ausgeprägt sind, welche verzichtbaren nichtsteigerbaren Merkmale vorhanden sind und welche fehlen, und dann entscheiden, ob der stärker ausgeprägte komparative Begriff ausreicht, um die Schwäche der Ausprägung der anderen Begriffe zu kompensieren. Aber eine solche Teildefinition ist so speziell, dass sie nur noch auf den vorliegenden Einzelfall anwendbar ist. In eindeutigeren Fällen kann man vielleicht eine allgemeinere Teildefinition formulieren, aber in Grenzfällen ist das nicht möglich. Dass der Begriff des Gewahrsams, bzw. des unmittelbaren Besitzes in seiner Anwendung relativ eindeutig ist, liegt daran, dass die Abstufungen seiner
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beiden steigerungsfähigen Merkmale nicht stetig sind, sondern in Sprüngen verlaufen. Zwischen den verschiedenen Gewahrsamssphären im Sinne von Welzel gibt es keine fließenden Übergänge und dasselbe gilt für die auf den Vorschriften des sachenrechtlichen Besitzschutzes beruhenden Stufen der sozialen Anerkennung der Sachherrschaft. Deshalb lässt sich auch für jede Stufe der tatsächlichen Sachherrschaft und für jede Stufe der sozialen Anerkennung festlegen, welche Stufe der andere Begriff mindestens erreichen muss. Beim Begriff der Treupflicht im Sinne des § 266 ist das anders. Die Übergänge zwischen einem hohen und einen geringen Vermögenswert, über den der Täter disponieren kann, zwischen einer langen und einer kurzen Dauer des Verhältnisses, zwischen mehr oder weniger Bewegungsfreiheit sind fließend. Man kann deshalb die möglichen Kombinationen von Ausprägungsgraden der verschiedenen steigerungsfähigen Merkmale des Begriffes Treupflicht nicht im Voraus festsetzen. Dadurch aber wird der Begriff der Treupflicht in seiner Anwendung so unbestimmt, dass schon Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit aufgetreten sind. Diese Unbestimmtheit ist der Preis, um den die größere Anpassungsfähigkeit der Typusbegriffe an die fließenden Übergänge des Lebens erkauft werden muss. Damit dieser Preis nicht zu hoch wird, darf ein Typusbegriff nur eine begrenzte Zahl von abstufbaren Merkmalen enthalten, höchstens zwei oder drei. Bei mehr als drei steigerungsfähigen Merkmalen ist eine rationale „Verrechnung“ ihrer verschiedenen Ausprägungen miteinander kaum mehr möglich. Auch die Zahl der nicht steigerbaren Begriffsmerkmale, die durch eine stärkere Ausprägung der steigerbaren gegebenenfalls kompensiert werden können, muss klein und sie muss vor allem allgemeingültig festgelegt sein.
IV. Nutzen und Gefahren der Begriffsform des Typus Werden diese Begriffsbildungsregeln bei der Bildung von Typusbegriffen eingehalten, so können diese Begriffe bei der Erfüllung gewisser Aufgaben der Rechtsanwendung sehr nützlich sein, insbesondere auf Gebieten, auf denen das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsanwendung nicht so groß ist wie beispielsweise im Strafrecht. Wir brauchen Typusbegriffe, wenn wir die Elemente einer Oberklasse, deren Merkmalskombinationen vielfältig sind, in ein begrenztes Raster von Unterklassen derart vollständig einordnen müssen, dass jedes Element der Oberklasse in eine und nur in eine dieser Unterklassen fällt. Wenn diese Unterklassen nicht eine gewisse Elastizität ihrer Begriffsbestimmung aufweisen würden, so bestünde die Gefahr, dass wir manche Elemente dieser Oberklasse in keine der Unterklassen einordnen können. Ein Beispiel für diesen Nutzen der Denkform des Typusbegriffs ist die Einordnung aller schuldrechtlichen Verträge in das
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Raster der gesetzlichen Vertragstypen oder die Einordnung aller Einkünfte in das Raster der Einkommensarten des Steuerrechts und die Einordnung aller Steuern in das Raster der Steuerarten nach Art. 106 GG. Im Strafrecht, wo das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und gesetzlicher Bestimmtheit der Rechtsfolgen und damit nach Hintanhaltung richterlichen Gutdünkens wohl am größten ist, richtet die Denkform des Typus, wie sie heute in Praxis und Wissenschaft angewandt wird, mehr Schaden an, als sie Nutzen birgt. Das gilt vor allen Dingen für die zentralen Begriffe des Allgemeinen Teils des Strafrechts, wie den Begriff des dolus eventualis oder den der Mittäterschaft. Dieser Schaden ist umso größer, als man sich an die oben beschriebenen Regeln der Bildung eines Typusbegriffs nicht hält, sondern sich an den Vorstellungen und Assoziationen orientiert, die mit den Worten Typus, Typ, typisch in der Alltagssprache und auch in der Jurisprudenz verbunden sind. Sie finden in den oben diskutierten 8 Thesen zum Unterschied zwischen Klassenbegriffen und Typusbegriffen ihren Ausdruck. Im Gegensatz zum Klassenbegriff wird dem Typus die Eigenschaft zugeschrieben, konkret, sinnerfüllt, strukturiert, ein Ganzes, offen und flexibel zu sein. Ein Typusbegriff könne im Gegensatz zu einem Klassenbegriff weder definiert werden, noch können seine Designata unter ihn subsumiert werden, sie werden ihm nur aufgrund von Ähnlichkeiten mehr oder weniger zugeordnet. Der Typus sei eben kein Begriff, sondern ein Bild oder Vorbild.41 Diese Vorstellungen von einer besonderen Denkform des Typus befreien den Rechtsanwender von manchen lästigen Aufgaben. Wenn man den Typus nicht definieren kann, so braucht man ihn auch nicht zu definieren.42 „Hat man einen Begriff als Typusbegriff qualifiziert, meint man, der Mühsal der Auslegung enthoben zu sein.“43 Wenn man unter den Typusbegriff nicht subsumieren kann, so braucht man auch keine für den Anwendungsfall gültige Teildefinitionen zu geben, um eine solche Subsumtion zu begründen.44 Und ein Bild muss man nicht in Merkmale zerlegen, sondern anschauen. Dieses rechtstheoretische Verständnis von einer besonderen Denkform des Typus legitimiert die höchstrichterliche Praxis, die gerade bei der Anwendung grundsätzlicher Unterscheidungen im Strafrecht wie der Unterscheidung zwischen Mittäter und Gehilfe oder zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit schon längst nicht mehr auf allgemeine Begriffsbestimmungen und Entscheidungsregeln setzt, sondern als Methode der Rechtsfindung eine wertende „Gesamtschau aller relevanten Umstände des Einzelfalles“ sowohl for-
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Engisch (Fn. 4), S. 238 ff.; Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 47 ff. Kuhlen (Fn. 3), S. 5. 43 Wank (Fn. 7), S. 131; vgl. dazu Schünemann FS Schroeder, 2006, S. 401, 409 ff. zu den Formen der Täterschaft als Typusbegriffen. 44 Leitmeier NJW 2012, 2850, 2853. 42
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dert als auch praktiziert.45 Aber die höchstrichterliche Rechtsprechung zeigt auch mit aller Deutlichkeit, wohin eine solche Methode der Rechtsfindung führt. Da sie nur beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne eine Rangfolge einzelne Umstände anführt, die für oder gegen die Anwendung eines Begriffes auf den Fall sprechen, spielt sich bald dieser, bald jener der relevanten Umstände in den Vordergrund, und was bei der einen Entscheidung der maßgebliche Umstand ist, wird in einer anderen als völlig belanglos hintangesetzt.46 Dies kann hier im Einzelnen inhaltlich nicht dargelegt werden, aber ein formaler Beweis für die Untauglichkeit der Methode der wertenden Gesamtbetrachtung, Rechtssicherheit und Gleichbehandlung herzustellen, ist die Unzahl von Entscheidungen des BGH zur Abgrenzung von Fahrlässigkeit und Vorsatz bei Tötungsdelikten.47 Denn die Instanzgerichte sind keineswegs rebellisch, sie geben sich vielmehr alle Mühe, sich nach den Vorgaben des BGH zu richten. Und trotzdem bescheinigt ihnen der BGH allzu oft, dass sie es wieder einmal nicht recht gemacht haben. Indem sie den Vorsatzbegriff dergestalt offen halten, dass sie weder eine abschließende Bestimmung seiner Kriterien angeben, noch das relative Gewicht bestimmen, das den einzelnen Kriterien im Verhältnis zueinander zukommen soll, begeben die Verfechter eines typologischen Vorsatzbegriffes sich aller Waffen wissenschaftlicher Kritik, so dass ihnen am Ende nichts anderes übrig bleibt, als dem BGH für seine „treffende praktische Intuition“ ein umfassendes Lob auszusprechen.48 45
Nachweise der Rechtsprechung zum Vorsatz in Nomos Kommentar StGB/Puppe, 4. Aufl. 2013, § 15 Rn. 89 ff.; Nachweise der Rechtsprechung zur Täterschaft in Puppe GA 2013, 514 f. 46 Puppe NStZ 2012, 409, 413 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Neuerdings hat der BGH auch eine Legitimation für solche Widersprüche postuliert: Einige Vorsatzindikatoren, vor allem die Beeinflussung durch Alkohol oder eine „affektive Erregung“ bezeichnet er als ambivalente Beweisanzeichen, die „je nachdem, wie das Tatgericht sie im Einzelfall bewertet, rechtlich zulässige Schlüsse sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Angeklagten ermöglichen“ (BGH vom 17.7.2013, 2 StR 139/13, HRRS 2013 Nr. 935). Das wäre kein Widerspruch und auch keine Legitimation von Widersprüchen, wenn der Senat angeben würde, unter welchen tatsächlichen Bedingungen das Indiz der affektiven Erregung für und unter welchen es gegen den Tötungsvorsatz spricht. Aber der Senat überlässt diese Entscheidung ausdrücklich einer tatrichterlichen „Wertung“, und es ist widersprüchlich, ein- und dieselbe Tatsache gegensätzlich zu bewerten, vgl. Puppe ZIS 2014, 66 (69). Ebenso wird dem Beweisanzeichen der Alkoholisierung Ambivalenz bei der Entscheidung über einen Tötungsvorsatz zugesprochen, BGH NStZ-RR 2013, 75, 77. Hat das Tatgericht sich entschlossen, die Alkoholisierung zu Gunsten oder zu Lasten des Täters zu „werten“, so ist es gehalten, die Möglichkeit einer gegenteiligen Wertung nicht mehr zu erörtern, weil sonst ein Selbstwiderspruch der Entscheidungsgründe droht. 47 In fast jedem neuen Heft der NStZ findet sich eine aktuelle BGH-Entscheidung zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit; siehe die Nachweise in NK/Puppe (Fn. 45), § 15 Rn. 93 ff.; für die Jahre 2013 und 2014 Puppe NStZ 2014, 183 ff. 48 Schünemann FS Hirsch, 1999, S. 368, 373; ähnlich Hassemer GS Armin Kaufmann, 1989, S. 289, 306 f.; Volk 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft,
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Die Probleme der Anwendung grundlegender Differenzierungen im Strafrecht sind auch nicht dadurch zu lösen, dass der BGH den Instanzgerichten einen Beurteilungsspielraum einräumt, wie es schon bei der Unterscheidung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe geschehen ist 49 und neuerdings auch bei der zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit.50 Abhilfe kann nur eine klare – nicht eine exakte – Bestimmung der Begriffe schaffen und zwar in der Form von Klassenbegriffen. Wie oben aufgezeigt, bedeutet das nicht, dass diese Begriffe nur aus einem Merkmal oder nur aus notwendigen, also mit „und“ verknüpften, Merkmalen bestehen müssen. Sie können alternative Merkmale aufweisen oder auch eine Kombination von notwendigen und alternativen Merkmalen. Dann lässt sich für jeden ihrer Anwendungsfälle eine auf den Fall zugeschnittene Teildefinition angeben unter die der Fall ganz regelgerecht subsumiert werden kann. Kommen in einer solchen Definition auch steigerbare Merkmale vor, die sich gegenseitig kompensieren können, so mag man von einem Typusbegriff sprechen.51
Bd. IV, 2000, S. 739, 746 mit Fn. 19; siehe auch Steinberg/Stam NStZ 2011, 177; vgl. aber jetzt Schünemann FS Hassemer, 2010, S. 239, 244 f. 49 BGH NStZ 2000, 482; NStZ-RR 2010, 263. 50 BGH NStZ 2013, 581, 582; NStZ-RR 2013, 75, 77; 89, 90; BeckRS 2013, 16656. 51 Vgl. dazu Puppe (Fn. 26), S. 82 ff.
Der Bestimmtheitsgrundsatz im Verbraucherschutzstrafrecht Roland Schmitz
I. Die Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Allgemeinen Schünemann hat in seiner langen wissenschaftlichen Tätigkeit, in der er eine enorme Vielzahl von Problemstellungen thematisiert hat und vielfach auch initiativ tätig gewesen ist, um andere bei der Problemlösung einzubinden, ein Thema immer wieder beschäftigt: Die notwendige und von Verfassungs wegen geforderte Bestimmtheit der Straftatbestände. Geradezu programmatisch hat er sie in seiner Mannheimer Antrittsvorlesung 1977 thematisiert.1 Darin hat er einerseits ein düsteres Bild der tatsächlichen Beachtung des Art. 103 Abs. 2 GG gezeichnet,2 der zwar besonders hohes Prestige besitze, aber in der Praxis (durch Gesetzgeber und Rechtsprechung) auch besonders häufig missachtet werde.3 Andererseits hat Schünemann sich sehr darum bemüht, die dem Gesetzlichkeitsprinzip unstrittig innewohnenden Kernaussagen in einer praktisch umsetzbaren Weise zu konkretisieren.4 Ob die dabei von ihm für das Bestimmtheitsgebot aufgestellten Anforderungen nicht zu großzügig und ausreichend sind, ist allerdings umstritten.5 Jedenfalls aber hat Schünemann bereits damals und seitdem immer wieder die Bedeutung von gesetzlicher Bestimmtheit im Strafrecht hervorgehoben und die Einhaltung des Analogieverbots gefordert. Dass dies immer wieder notwendig ist, wird kaum jemand bestreiten wollen – zu groß ist der Wunsch des Gesetzgebers, gesellschaftliche Probleme (auch) mit dem Strafrecht zu lösen (was regelmäßig zum Scheitern verurteilt ist), dabei aber Zweifelsfragen der Klärung durch die Rechtsprechung zu überlassen und diese so – entgegen der Forderung aus Art. 103
1
Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978. Schünemann (Fn. 1), S. 3 ff. 3 Schünemann (Fn. 1), S. 8. 4 Schünemann (Fn. 1), S. 17 ff. 5 Vgl. Colombi Ciacchi Fahrlässigkeit und Tatbestandsbestimmtheit: Deutschland und Italien im Vergleich, 2005, S. 26; Duttge FS Kohlmann, 2003, S. 13, 23; Münchener Kommentar StGB/Schmitz, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 41. 2
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Abs. 2 GG – zum (Hilfs-)Gesetzgeber zu machen. Und die Rechtsprechung kommt dieser Aufforderung (zu) willig nach, Bedenken wegen fehlender Bestimmtheit eines Tatbestands werden selten geäußert 6 und wenn doch dann überspielt.7 Auch vom BVerfG ist im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot wenig zu erwarten;8 wenn strafgerichtliche Entscheidungen wegen Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG einmal aufgehoben werden, dann fast immer wegen einer Übertretung des Analogieverbots.9 Inzwischen hat das BVerfG dem Art. 103 Abs. 2 GG – ganz im Gegenteil – bekanntlich ein „Präzisierungsgebot“ unterlegt, das die Strafrechtsprechung verpflichte, unbestimmte Strafnormen zu konkretisieren.10 Dies läuft letztlich auf die Möglichkeit einer nachträglichen „Heilung“ eines Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot hinaus, die in Art. 103 Abs. 2 GG jedoch nicht vorgesehen ist.11 Eine solche Rechtsprechung ist Gift für das zentrale Anliegen jeder Forderung nach gesetzlicher Bestimmtheit im Strafrecht: Die Möglichkeit vorheriger Erkennbarkeit des strafrechtlich verbotenen Verhaltens. Und dazu muss offenbar auch immer wieder daran erinnert werden, dass es um die Erkennbarkeit für alle Normadressaten geht und nicht nur für juristisch geschulte Norminterpreten. Es geht, wie Sinn es treffend beschreibt, um Kommunikation des Gesetzgebers mit den Bürgern, weil der Gesetzgeber etwas mitzuteilen hat: dass bestimmte Handlungen verboten sind.12
6 Eines der wenigen Bsp. aus der BGH-Rechtsprechung ist etwa das „große Ausmaß“ einer Steuerverkürzung in § 370a AO a.F.; siehe BGH wistra 2004, 393, 394 f. m.w.N. – Die gleichlautende Strafzumessungsregel in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO (bzw. in § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB bzgl. eines Vermögensschadens) wird allerdings bekanntlich als verfassungskonform angesehen. 7 Vgl. z.B. BGHSt 52, 257 ff. zur Auslegung „anderes gefährliches Werkzeug“ in § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB. 8 Paradigmatisch BVerfGE 26, 41: „Verüben groben Unfugs“ ist hinreichend bestimmte Tathandlung. – Siehe dazu auch die Analyse Kuhlen Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 17 ff. – Im hier interessierenden Zusammenhang einschlägig ist u.a. BVerfG NStZ-RR 2002, 22. 9 Eine Ausnahme stellt die Verwerfung des § 43a StGB wegen mangelnder Bestimmtheit dar, BVerfGE 105, 135 ff. 10 BVerfG wistra 2010, 380, 387; vgl. auch BVerfG NJW 2010, 754, 756. – In diese Richtung auch Kuhlen FS Otto, 2007, S. 89, 103 f. 11 Schünemann (Fn. 1), S. 32 f.; Kuhlen FS Otto, 2007, S. 89, 104 m.w.N.; MK/Schmitz (Fn. 5), § 1 Rn. 47 f. m.w.N. 12 Sinn FS Wolter, 2013, S. 503, 505 ff. m.w.N.
Der Bestimmtheitsgrundsatz im Verbraucherschutzstrafrecht
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II. Gesetzliche Bestimmtheit im Nebenstrafrecht, speziell im Verbraucherschutzstrafrecht Obwohl es gänzlich unstrittig ist, dass Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur im Kern-, sondern auch im Nebenstrafrecht gilt,13 weckt ein Blick in bestimmte Bereiche erhebliche Zweifel, ob dies tatsächlich Konsens ist. Im Verbraucherschutzstrafrecht, speziell im Lebensmittel- und Arzneistrafrecht, gedeihen einige besonders unschöne „strafrechtliche Giftpflanzen“ – das Bild sei in diesem Kontext erlaubt, zwar nicht unbeobachtet, aber doch noch zu wenig beachtet. Immerhin scheint dieses Areal seit einigen Jahren verstärkt auch in den Fokus der Strafrechtswissenschaft zu geraten.14 Der Gesetzgeber dagegen – der nationale wie der europäische – hat dieses Rechtsgebiet des Verbraucherschutzes schon seit längerem stärker in den Blick genommen. Das Arznei- wie das Lebensmittelrecht15 ist stark vom europäischen Recht geprägt, das Lebensmittelrecht insbesondere durch die VO (EU) 178/2002,16 das Arzneimittelrecht daneben auch (in naher Zukunft) durch die „Medicrime Convention“ des Europarats.17 Das Verbraucherschutzstrafrecht knüpft daneben (und deshalb?) auch an viele administrative Vorgaben an. 1. Die Strafvorschriften des AMG und des LFGB Wirft man einen schnellen Blick auf die im AMG und im LFGB enthaltenen Strafvorschriften, dann erscheinen diese zunächst übersichtlich: Es sind jeweils zwei Paragrafen: §§ 95, 96 AMG und §§ 58, 59 LFGB. Diese Übersichtlichkeit besteht allerdings nur, wenn man lediglich das Inhaltsverzeichnis mustert. Blickt man auf die Paragrafen selbst, verschwindet bereits jedwede Übersicht: § 95 Abs. 1 AMG enthält 15 Strafvorschriften; bezieht man die verschiedenen Alternativen mit ein, sind es mehr als 20. Sämtliche Tatbestände kön-
13 Angesichts dessen, dass es vielfach um Verhaltensweisen geht, deren Verbotensein sich nicht schon aus den grundsätzlich erlernten „Lebensregeln“ ergibt (jedenfalls nicht ohne Weiteres), müsste eigentlich sogar eine striktere Bestimmtheit gefordert werden, damit die Verbotsmaterie für die Normadressaten eindeutig ist. 14 Kritisch bereits Kühne ZLR 2001, 379 ff. 15 Genau geht es entsprechend dem Anwendungsbereich des seit dem 7.9.2005 geltenden LFGB – Lebensmittel-und Futtermittelgesetzbuch (BGBl. I S. 2618; neu bekannt gemacht BGBl. 2011 I S. 1770) – neben Lebensmitteln auch um Futtermittel und Bedarfsgegenstände. 16 Sog. Basis-Verordnung, ABl. 2002 L 31, S. 1. 17 „Übereinkommen des Europarats über die Fälschung von Arzneimitteln und Medizinprodukten und über ähnliche die öffentliche Gesundheit gefährdende Straftaten“ v. 28.10.2011.
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nen nach § 95 Abs. 4 fahrlässig begangen werden, was die Anzahl verdoppelt. § 96 AMG enthält 29 einzelne Tatbestände, die Alternativen nicht eingerechnet.18 § 58 LFGB weist in seinen Abs. 1, 2, 2a und 3 insgesamt 25 Nummern mit Straftatbeständen auf, die aber teilweise noch weiter untergliedert sind und ohnehin in Teilen zahlreiche Varianten aufweisen. Nach Abs. 6 ist wiederum eine umfassende Einbeziehung fahrlässigen Verhaltens gegeben. § 59 LFGB listet sogar 33 Nummern auf, viele davon mit weiterer Untergliederung und zahlreichen Varianten. Wie im AMG kommen unzählige Ordnungswidrigkeitentatbestände (in § 60 LFGB) hinzu. Schon bei einer groben Zählung – ohne die weiteren Untergliederungen – kommt man im AMG und LFGB auf 102 Straftatbestände, die vorsätzliches Handeln erfassen, ergänzt um 40 Fälle19 fahrlässigen Handelns. Die unübersichtliche Fülle der Strafvorschriften – keiner der Tatbestände trägt eine Überschrift, aus der man auf die ungefähre Verbotsmaterie schließen könnte – ist aber nur der eine Teil des Problems. Der andere besteht darin, dass es sich ausnahmslos um Blankettvorschriften 20 handelt,21 die entweder auf bestimmte Tatbestände des AMG oder LFGB oder auf Rechtsverordnungen nach diesen Gesetzen verweisen oder auf Rechtsakte der EG/EU.22 2. Die Ausschließlichkeit von Blanketttatbeständen Die Normierung von (einzelnen) Blanketttatbeständen stellt per se noch keine Kollision mit dem Bestimmtheitsgrundsatz dar. Wie auch sonst hängt die Erfüllung dieser Anforderungen von der Ausgestaltung im Einzelfall ab. Unzweifelhaft jedoch wird die Erkennbarkeit der Verbotsmaterie durch die notwendige Zusammenschau von Blanketttatbestand und blankettausfüllender Norm erschwert. Wohl unstrittig ist, dass beide Normen im Hinblick 18 Hinzu kommen unzählige Bußgeldtatbestände in § 97 AMG, der allein in Abs. 1 sämtliche Tatbestände des § 96 erfasst, sofern sie fahrlässig verwirklicht werden, und in vier weiteren Absätzen eine ganz unübersichtliche Fülle weiterer Blanketttatbestände ausweist. 19 Ebenfalls ohne Berücksichtigung der Untergliederungen und Varianten. 20 Es soll und kann hier offen bleiben, ob es sich teils um „unechte“ Blanketttatbestände bzw. um solche „im weiteren Sinne“ handelt und nur teilweise um „echte“ bzw. solche „im engeren Sinne“. Sofern dieser Unterscheidung eine Bedeutung zukommen sollte, berührt sie nicht die hier angesprochene Thematik nach einer ausreichenden Erkennbarkeit der Strafvorschriften. 21 Zur „ausufernden Blankettgesetzgebung“ zurecht sehr kritisch Hellmann FS Krey, 2010, S. 169, 181 ff. 22 Zu den damit verbundenen Problemen Doepner ZLR 2005, 679 ff. – Kritisch zu solchen Verweisungen auf EU-Vorschriften im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG bereits Heine in: Gropp (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht, 1998, S. 147, 154 f. m.w.N.
Der Bestimmtheitsgrundsatz im Verbraucherschutzstrafrecht
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auf das verbotene Verhalten den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen müssen – jedenfalls sofern es sich um nationale Normen handelt. Gerade der Bereich des Verbraucherstrafrechts ist allerdings durch eine vielfache Verweisung auf europäische Verordnungen23 geprägt; teilweise werden auch Verstöße gegen Vorgaben aus Richtlinien (mittelbar) einbezogen,24 etwa in § 96 Nr. 20 AMG. Europäische Rechtsakte haben häufig eine eher programmatische Fassung, die die Erkennbarkeit dessen, was alles (nicht) zur Verbotsmaterie gehört, zusätzlich erschwert. Dass in Bezug genommenes europäisches Recht ebenfalls an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist, wird vielfach verneint und kann wohl auch nicht verlangt werden.25 Die daraus zu ziehende Konsequenz müsste aber sein, den auf europäische Rechtsakte verweisenden Blanketttatbestand selbst ausreichend eindeutig zu fassen. Wirft man einmal einen Blick auf verschiedene Tatbestände im AMG und LFGB, ergibt sich ein sehr heterogenes Bild: Das sich aus § 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 AMG ergebende Verbot ist vergleichsweise klar erkennbar, wobei man sich fragt, warum hier nicht gleich ein vollständiger Tatbestand normiert wurde. Aber bereits § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG wirft erhebliche Fragen auf (ebenso § 96 Nr. 2 AMG), weil in dem in Bezug genommenen § 6 AMG zunächst einmal nur eine Verordnungsermächtigung statuiert wird, im Hinblick auf bestimmte Stoffe oder Zubereitungen etc. Beschränkungen vorzusehen.26 Aus § 6 AMG ergibt sich aber schon nicht, für welche Stoffe etc. eine Beschränkung erfolgen könnte, weil dies der Beurteilung des Bundesministeriums überlassen wird: Dieses soll danach entscheiden, wann und wofür eine Risikovorsorge Beschränkungen gebietet. Es ist aus dem § 6 AMG auch nicht erkennbar, ob so eine Rechtsverordnung überhaupt erlassen wurde. Lediglich das Wissen darum, dass in Deutschland nichts ungeregelt bleibt, wird jeden, der irgendwie mit der Herstellung oder dem Vertrieb von Arzneimitteln zu tun hat, nach dieser Verordnung suchen lassen. Anhaltspunkte außerhalb juristischer Spezialkommentare wird er kaum finden, was für juristisch nicht versierte Normadressaten eine nicht unerhebliche Hürde darstellt. Im Übrigen wurden inzwischen eine ganze Reihe von Verordnungen erlassen, die auf § 6 AMG gestützt werden.27 Das Problem für den Rechtsunterworfenen ist hierbei, sich einen abschließenden Überblick verschaffen 23
Bzw. auf „unmittelbar geltende Vorschriften“ der EU/EG. Für unzulässig hält dies Graf/Jäger/Wittig/Sackreuther Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2011, Vor §§ 58–61 LFGB Rn. 23 m.w.N. 25 Satzger/Schluckebier/Widmaier/Satzger StGB, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 57 m.w.N.; G/J/W/Sackreuther (Fn. 24), Vor §§ 58–61 LFGB Rn. 24 m.w.N. 26 Zu dem zusätzlichen Problem der in § 95 Abs. 1 Nr. 2, § 96 Nr. 2 AMG vorgesehenen „Rückverweisung“ u. II. 3. 27 Nicht immer zurecht! Die sog. Frischzellen-VO aus dem Jahr 1997 wurde vom BVerfG wegen fehlender Kompetenz für verfassungswidrig erklärt; BVerfGE 102, 26. 24
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zu können, was zu den sanktionierten Verhaltensweisen gehört: Wer will ihm garantieren, dass er alle Verordnungen gefunden hat? Nur noch als Albtraum eines Blanketttatbestandes kann in diesem Zusammenhang § 59 Abs. 1 Nr. 21 LFGB bezeichnet werden, der in lit. a) und b) auf 26 verschiedene Verordnungsermächtigungen verweist und die Zuwiderhandlungen gegen eine danach erlassene Rechtsverordnung unter Strafe stellt.28 Man muss schon ein sehr „hartgesottener“ Verwaltungsjurist sein, um sich so einen Straftatbestand einfallen zu lassen.29 Dabei gibt es ja durchaus Gründe für die Einführung von Blanketttatbeständen: Ein Blankettgesetz kann unter Umständen eine klarere Regelung darstellen, sofern es auf andere Gesetze verweist, die einen erheblichen Regelungsumfang haben.30 In so einem Fall müssen in den Tatbestand nicht so viele spezielle Bedingungen geschrieben werden, weil sie sich aus einem systematischen Zusammenhang der in Bezug genommen Vorschriften ergeben. Vorausgesetzt ist dabei aber natürlich, dass der Regelungszusammenhang ausreichend erkennbar ist, was bei einem Tatbestand wie § 59 Abs. 1 Nr. 21 LFGB nicht im Ansatz mehr der Fall ist. Im hier interessierenden Zusammenhang ist aber ein anderer Gesichtspunkt wichtiger: Blankettgesetze sollen häufig der Exekutive die Möglichkeit geben, flexibel auf Neuerungen einzugehen oder in Bereichen, wo jeder Fall anders liegen kann, individuelle Entscheidungen zu treffen. Dies kann bei Blanketttatbeständen vermutet werden, die auf eine Rechtsverordnung oder einen Verwaltungsakt verweisen. Eine solche Flexibilität kann aber nicht der Legitimationsgrund für nicht mehr hinreichend bestimmte Tatbestände darstellen. Es bleibt stets bei der Anforderung des Art. 103 Abs. 2 GG: Der Gesetzgeber selbst muss die grundsätzlichen Bedingungen nicht mehr tolerieren, sondern bereits strafwürdiges Verhalten vorgeben. Dies ist aber kaum noch der Fall, wenn man das inkriminierte Verhalten dem Blanketttatbestand selbst nicht mehr entnehmen kann, sondern sich die Voraussetzungen strafbaren Verhaltens erst nach dem Zusammensuchen einer oder mehrerer blankettausfüllender Normen „zusammenstellen“ muss. Evident ist, dass dies noch dadurch erschwert wird, wenn der Blankettverweis sich nicht lediglich auf eine nationale Rechtsnorm bezieht, sondern – gestuft – auch noch europäisches Recht einbezieht. Dies ist z.B. bei § 58 Abs. 1 Nr. 1 LFGB der Fall, der ein Zuwiderhandeln gegen § 5 Abs. 1 Satz 1
28 Alternativ kommt auch die Zuwiderhandlung gegen eine vollziehbare Anordnung aufgrund einer solchen Rechtsverordnung als Straftat in Betracht. 29 Mögliche Gedankenlosigkeit soll hier selbstverständlich nicht in Betracht gezogen werden. 30 Bsp.: §§ 325, 327 StGB, die Umweltbeeinträchtigungen bei Zuwiderhandlungen gegen das BImSchG und andere Umweltverwaltungsgesetze unter Strafe stellen.
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LFGB unter Strafe stellt. Das dort statuierte Verbot gilt für Lebensmittel, die gesundheitsschädlich im Sinne des Art. 14 Abs. 2 lit. a) der VO (EG) Nr. 178/2002 sind. Auch das Europarecht ist hier (zusätzlich) blankettausfüllend (zweistufige Blankettverweisung) – und enthält letztlich die entscheidenden Auslegungskriterien.31 3. Blankettausfüllende Normen mit Rückverweisung Die Strafvorschriften des AMG und LFGB weisen aber noch weitere Besonderheiten auf: § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG normieren rückverweisende Tatbestände. Strafbar soll ein Verstoß gegen eine in der jeweiligen Rechtsverordnung angeordnete Beschränkung nur dann sein, wenn die Rechtsverordnung dafür auf den Blanketttatbestand zurückverweist. Damit stellt sich die dem Bestimmtheitsgrundsatz vorgelagerte Frage, ob eine solche Regelung überhaupt mit dem Gesetzesvorbehalt aus Art. 103 Abs. 2 und insbesondere dem Art. 104 Abs. 1 GG vereinbar ist. Denn hier wird der Exekutive nicht nur die Macht eingeräumt, die Verbotsmaterie mitzubestimmen (durch Ausfüllung des Blankettmerkmals), vielmehr soll sie auch über die Anwendbarkeit der Sanktionsnorm des Blanketttatbestandes entscheiden können. Im strafrechtlichen Schrifttum wird deshalb mit guten Argumenten bereits die Verfassungsmäßigkeit solcher Blanketttatbestände mit Rückverweisung verneint, weil über die Kernelemente eines Straftatbestandes ein Bundesministerium und nicht der Gesetzgeber entscheidet.32 4. Blankettausfüllende Normen mit Rückverweisung und Entsprechensklausel Im LFGB hat diese Blankettverweisungstechnik allerdings noch eine Steigerung erfahren. Dessen § 62 enthält Ermächtigungen für die Exekutive zu bestimmen, was als Straftat nach § 58 Abs. 3 oder § 59 Abs. 3 LFGB zu bezeichnen ist, sofern dies zur Durchsetzung von Rechtsakten der EU erforderlich erscheint. § 58 Abs. 3 und § 59 Abs. 3 LFGB stellen pauschal Zuwiderhandlungen gegen Rechtsakte der EU/EG unter Strafe, die inhaltlich bestimmten nationalen Ge- oder Verboten entsprechen.33 31 Zu den hiermit auch für den Gesetzgeber verbundenen Schwierigkeiten Hellmann FS Krey, 2010, S. 169, 186 ff. 32 Doepner ZLR 2005, 679, 688; MK/Freund, 2. Aufl. 2013, Vor §§ 95 ff. AMG Rn. 53 ff. m.w.N.; G/J/W/Eschelbach, 1. Aufl. 2011, § 95 AMG Rn. 12 f., § 96 AMG Rn. 4; SSW/ Satzger (Fn. 25), § 1 Rn. 57 m.w.N.; – A.A. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT, 4. Aufl. 2014, Rn. 207 m.w.N., der die Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens verbessert sieht. 33 Bei den Ge- oder Verboten handelt es sich um praktisch alle anderen Straftatbestände des LFGB.
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§ 58 Abs. 3 und § 59 Abs. 3 LFGB enthalten also nicht nur eine Rückverweisung wie die schon genannten Tatbestände aus dem AMG. Weitergehend wird es über § 62 LFGB der Exekutive überlassen, Straftatbestände überhaupt erst zu setzen. Jedenfalls diese Regelungen sind daher nicht mehr mit Art. 103 Abs. 2 (und Art. 104 Abs. 1 GG) vereinbar.34 Diese Einschätzung ist allerdings umstritten, wobei von der Gegenansicht 35 immerhin teilweise konzediert wird, dass es „mittelbar zu einer Art Strafgesetzgebung durch die Exekutive“ kommt.36 Teilweise wird die Ermächtigung der Exekutive damit verteidigt, dass es ausschließlich um solche Verstöße gegen Rechtsakte der Union gehe, die inhaltlich denen entsprächen, die auch unmittelbar nach den Strafvorschriften des LFGB sanktioniert sind. Damit bestimme bereits das Gesetz, „welche Zuwiderhandlungen gegen europäische Rechtsakte sanktioniert werden können“, die Verordnungen nach § 62 LFGB besäßen nur deklaratorische Bedeutung.37 Wegen der komplexen Zusammenhänge zwischen nationalem und europäischem Recht und um ein unwürdiges Hase-und-Igel-Spiel zu vermeiden müsse man diesen Weg über eine Verordnungsermächtigung „als gangbar bezeichnen“. Es gehe dabei nicht um eine „Kompetenz zu inhaltlicher Spezifizierung“, sondern um „eine Art Anpassungskompetenz“.38 Es ist nicht zu bestreiten, dass in einem von europarechtlichen Normen geprägten Rechtsgebiet der Gesetzgeber mitunter Schwierigkeiten hat, das Strafrecht den (rasch) wechselnden Vorgaben anzupassen. Dies kann aber keine Berechtigung dafür abgeben, einen Verfassungsgrundsatz wie Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr zu beachten. Vielmehr sollte eine solche Lage Anlass sein, das Konzept der Abfassung von Straftatbeständen (als Blankettgesetze) zu hinterfragen sowie die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob es überhaupt so vieler Straftatbestände bedarf.39 Und die Einführung des Begriffs „Anpassungskompetenz“ kann nicht darüber hinweg täuschen, dass der Exekutive eine Kompetenz erteilt wird, die ihr nicht zusteht. Denn die Exekutive wird hier zu zweierlei ermächtigt: Zum einen soll sie entscheiden, wann eine straf-
34 Ebenso Dannecker in: Gropp (Fn. 22), S. 161, 177 f.; Dannecker/Bülte in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, 2. Teil, 2. Kap. Rn. 50 m.w.N.; Hecker Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 7 Rn. 101 m.w.N.; Kühne ZLR 2001, 379, 390 (zur vergleichbaren Situation beim vormaligen LMBG). 35 Z.B. Schützendübel Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen, 2012, S. 329 ff.; G/J/W/Sackreuther (Fn. 24), Vor §§ 58–61 LFGB Rn. 26 m.w.N., § 58 LFGB Rn. 44. 36 Schröder ZLR 2004, 265, 273; Meyer/Streinz/Bosch LFGB – BasisVO – HCVO, 2. Aufl. 2012, § 58 LFGB Rn. 7. 37 Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2013, Rn. 757. 38 Schröder ZLR 2004, 265, 270, 273. 39 Für eine (starke) Beschränkung der Straftatbestände auch Kühne ZLR 2001, 379, 391 f.
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rechtliche Sanktionierung zur Durchsetzung des Unionsrechts angezeigt ist. Bereits dieses bedeutet eine originäre Entscheidung über strafrechtliche Sanktionierung, die sich nicht mit dem Gesetzlichkeitsprinzip verträgt. Zum anderen soll per Verordnung auch darüber geurteilt werden, welche Vorschriften des Unionsrechts den Ge- oder Verboten des LFGB entsprechen. Denn § 62 LFGB enthält die Ermächtigung für das „Bundesministerium“, zur erforderlichen Durchsetzung des europäischen Rechts, die Tatbestände zu bezeichnen, die von §§ 58 Abs. 3, 59 Abs. 3 LFGB erfasst werden. Dies setzt mindestens implizit die Entscheidung über die „Entsprechung“ der in europäischen Rechtsakten enthaltenen Vorschriften mit den nationalen Geund Verboten voraus. Schröder sieht in der „Entsprechensklausel“ zu Recht ein zentrales Problem dieser Blanketttatbestände.40 Gerade deshalb darf dieses Urteil, das über das Ja oder Nein strafrechtlicher Sanktionierung entscheidet, nicht der Exekutive überantwortet werden. Die entsprechenden Verordnungen sind daher auch keineswegs deklaratorisch, sondern konstitutiv für die Erfassung inkriminierter Verhaltensweisen. Es bleibt ein weiteres Gegenargument: Sofern die Verordnung des Bundesministeriums fälschlich einen Rechtsakt der EU/EG als „entsprechend“ benennen sollte, würde dadurch keine Strafbarkeit 41 begründet.42 Dies würde zunächst voraussetzen, dass die Rechtsverordnung in solch einem Fall der Fehlbeurteilung, rechtswidrig wäre. Ob eine Fehlbeurteilung tatsächlich zur Rechtswidrigkeit der Verordnung führen würde, wäre nach verwaltungsrechtlichen Maßstäben zu beurteilen. Aber unabhängig davon erscheint diese Argumentation aus dem Blickwinkel der betroffenen Normadressaten zynisch: Ihnen wird nämlich das Risiko auferlegt, sich nicht an eine möglicherweise rechtswidrige Bezeichnung bestimmter Ge- oder Verbote zu halten. Eine solche „Gesetzgebung“ ist auch nicht verhältnismäßig: Der Betroffene wird sich im Zweifel an die rechtswidrige Vorgabe halten, weil er selbst kaum beurteilen kann, ob das „Entsprechen“ zu Recht bejaht wurde oder nicht. Und selbst wenn er es könnte und zu dem eindeutigen Schluss käme, die Bezeichnung des Tatbestands sei zu Unrecht erfolgt: Er wäre immer noch abhängig von der rechtlichen Beurteilung des nachfolgend entscheidenden Gerichts. Und wer wollte so „heroisch“ sein auszufechten, ob sich das Bundesministerium geirrt hat oder nicht – unter dem Damoklesschwert strafrechtlicher Sanktionierung.
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Schröder ZLR 2004, 265, 270, 273 – er sieht hier sogar „konkreten Forschungsbedarf“. Entsprechendes gälte für die Bebußbarkeit als Ordnungswidrigkeit. Hellmann/Beckemper (Fn. 37), Rn. 757.
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5. Aufweichung der Bestimmtheit durch Verweis auf extrem weite Wertungsbegriffe Neben diesen „technischen Schwierigkeiten“ der Blankettgesetzgebung stellt sich das Problem des Verweises auf Wertungsbegriffe, deren Reichweite nicht willkürfrei bestimmt werden kann und für die auch keine Referenzrahmen existieren: § 59 Abs. 1 Nr. 8 LFGB stellt das Inverkehrbringen eines Lebensmittels entgegen § 11 Abs. 2 Nr. 1 LFGB unter Strafe. § 11 Abs. 2 Nr. 1 verbietet, „Lebensmittel, die für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind“, in den Verkehr zu bringen – allerdings nur dann, wenn sie nicht „dem Verbot des Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 lit. b der VO (EG) Nr. 178/2002 unterliegen“.43 – Dieser Ausschluss ist deshalb bemerkenswert, weil in Art. 14 Abs. 1 VO (EG) Nr. 178/2002 verboten wird, Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, die „nicht sicher sind“. Nach Abs. 2 lit. b gelten sie als nicht sicher, „wenn davon auszugehen ist, dass sie für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind“. Dieses Verbot wird im LFGB über § 59 Abs. 2 Nr. 1 lit. a) strafrechtlich sanktioniert – mit demselben Strafrahmen. Der deutsche Gesetzgeber wollte mit § 11 Abs. 2 Nr. 1 LFGB über das unmittelbar geltende Verbot der EG-Verordnung hinausgehen. Eine solche Regelung trägt aber schon auf der Ebene unterhalb des Strafrechts nicht zur Klarheit bei. Wenn dann zwei Straftatbestände aufgestellt werden müssen, um dieses im Grunde umfassende Verkehrsverbot abzusichern, dann ist das nicht nur unelegant, sondern für die Normadressaten auch verwirrend. Dieser muss nun ermitteln, wann Lebensmittel ungeeignet sind im Sinne von Art. 14 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 – in Abgrenzung zur Ungeeignetheit im Sinne von § 11 Abs. 2 Nr. 1 LFGB. Hierzu ist zu sagen, dass es keineswegs um gesundheitsschädliche Lebensmittel geht. Deren Inverkehrbringen ist nach Art. 14 Abs. 1 und 2 lit. a) der VO (EG) 178/2002 bzw. nach § 5 LFGB verboten. Verstöße hiergegen sind nach § 58 LFGB auch höher sanktioniert. Zur Reichweite des Verbots nach europäischem Recht gibt Art. 14 Abs. 5 der Verordnung Auslegungshilfe: „Bei der Entscheidung der Frage, ob ein Lebensmittel für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet ist, ist zu berücksichtigen, ob das Lebensmittel infolge einer durch Fremdstoffe oder auf andere Weise bewirkten Kontamination, durch Fäulnis, Verderb oder Zersetzung – ausgehend von dem beabsichtigten Verwendungszweck – nicht für den Verzehr durch den Menschen inakzeptabel geworden ist“.
43 Diese Abgrenzung soll wohl sicherstellen, dass das Verbot in § 11 LFGB nicht wegen einer „Parallelgesetzgebung“ zur EG-Verordnung nichtig ist; vgl. zum vormaligen § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG Meyer DLR 2005, 104, 105 f.
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Damit wird immerhin deutlich gemacht, dass es auf die stoffliche Zusammensetzung eines Lebensmittels ankommt,44 auch wenn ansonsten der unbestimmte Wertungsbegriff der Ungeeignetheit durch den des „inakzeptabel“ ersetzt wird. Unser suchender Normadressat wird im deutschen Recht so eine, Gesetz gewordene Erläuterung nicht finden. Überhaupt wird er Auslegungshilfen des Gesetzgebers nur zur Vorgängerregelung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 LFGB, dem § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG, finden. Der damalige Regierungsentwurf sah das Verbot vor, solche Lebensmittel (gewerbsmäßig) in den Verkehr zu bringen, „die einer ekelerregenden Beeinflussung ausgesetzt waren“.45 Dieser Entwurf ist (zurecht!) nicht Gesetz geworden, § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG verbot letztlich das Inverkehrbringen von „zum Verzehr nicht geeigneten Lebensmitteln“. Dennoch hat der BGH sich bei der Auslegung des Gesetz gewordenen § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG, den ursprünglichen Entwurf zu eigen gemacht. Nach dem BGH kam es deshalb darauf an, ob das Lebensmittel „beim Verbraucher Ekel und Widerwillen hervorrufen würde, wenn ihm die Umstände bekannt wären“. Das soll selbst dann gelten, wenn auf die Ungeeignetheit zum Verzehr hingewiesen würde, weil es nicht um Verbrauchertäuschung gehe.46 Hier zeigt sich ein weiteres Manko der (früheren wie aktuellen) Gesetzeslage:47 Die Überschrift von § 11 LFGB lautet: „Vorschriften zum Schutz vor Täuschung“. Dessen Abs. 2 Nr. 1 stellt allerdings dem Wortlaut nach – anders als der Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 – nicht auf eine Täuschung ab. Der BGH hat deshalb die Notwendigkeit einer Verbrauchertäuschung verneint. Für den (juristisch nicht versierten) unmittelbaren Normadressaten wird die Erkennbarkeit der Verbotsmaterie im Lebensmittelrecht aber auch hierdurch weiter erschwert.48 Aber wie will man überhaupt willkürfrei sagen, wann beim Verbraucher „Ekel und Widerwillen“ hervorgerufen werden? 49 Welcher „Verbraucherbegriff“ ist hierfür heranzuziehen? 50 Da es sich um durch die „Basis-Verord44
Meyer DLR 2005, 104, 105. BT-Drucks. 7/255 S. 8. 46 BGHSt 29, 220, 223. 47 Vgl. dazu Meyer/Streinz/Meyer LFGB – BasisVO – HCVO, 2. Aufl. 2012, § 11 LFGB Rn. 125. 48 Nach Meyer/Streinz/Meyer (Fn. 47), § 11 LFGB Rn. 125 ist es überhaupt nur einem „Kenner“ der Materie erkennbar, welche Fälle das Verbot erfasst. I.Ü. hatte auch das OLG Stuttgart die Gesetzesfassung so interpretiert, dass in allen Fällen des § 17 LMBG eine Verbrauchertäuschung hinzukommen müsse, OLG Stuttgart ZLR 1979, 70. 49 BGHSt 29, 220 betraf einen (heute nicht mehr zulässigen) Automaten, der gegen Entgelt lose Kaugummikugeln und Erdnüsse ausgab und durch Ablagerungen verschmutze Ausgabeschächte aufwies. 50 Die in § 3 Nr. 4 LFGB vorfindliche Definition des Verbrauchers trägt hierzu nichts bei. Abgesehen davon, dass dort unterschiedliche Verbraucher definiert werden (zur Kritik 45
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nung“ vorgegebenes Verbraucherschutzrecht handelt,51 müsste wohl das europarechtliche Verbraucherleitbild 52 zugrunde gelegt werden, zumal § 11 LFGB dem Schutz vor Täuschung dienen soll. Oder etwa doch nicht, weil – wie gesehen – § 11 Abs. 2 Nr. 1 LFGB keine Täuschung voraussetzen soll? Letzteres wird man nicht ernstlich behaupten wollen, weil sonst innerhalb eines Tatbestands unterschiedliche Maßstäbe zugrunde zu legen wären. Damit kommt es auf die Frage an, wann der durchschnittlich informierte, aufmerksame und verständige Verbraucher „Ekel und Widerwillen“ entwickeln würde, wenn es nicht um stoffliche Eigenschaften des Lebensmittels selbst geht, sondern nur um irgendwelche Umstände, die mit Herstellung, Lagerung und Vertrieb zusammenhängen. Reicht es beispielsweise für „Ekel und Widerwillen“ tatsächlich aus, dass in einem Kühlschrank zugleich frische und verdorbene Lebensmittel gelagert werden, auch wenn die später in Verkehr gebrachten frischen Lebensmittel nie in Kontakt mit den verdorbenen gekommen sind? 53 Das wahre Problem liegt auch nicht im Einzelfall, sondern in der Auslegung eines Straftatbestandes mit den Begriffen „Ekel und Widerwille“. Dabei handelt es sich um enorm weite Wertungen, weshalb es hier keinen Konsens geben kann. Solche Wertungen mögen außerhalb des Strafrechts (vielleicht) noch angehen. Mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG sind sie aber kaum vereinbar. 6. Fehlende Erkennbarkeit strafbaren Verhaltens Betrachtet man vor diesem Hintergrund noch einmal die §§ 95, 96 AMG und die §§ 58, 59 LFGB, müssen die Normadressaten eigentlich vollständig resignieren: Was ihnen strafrechtlich nicht mehr erlaubt ist, werden sie kaum in toto erkennen können. Es sind ja nicht nur (große) Unternehmen der Arznei- oder Lebensmittelbranche betroffen, die sich aufwändige Rechtsabteilungen leisten können. Angesichts der großen Weite der LebensmittelDefinition in Art. 2 VO (EU) 178/2002 bzw. der übrigen, von § 2 LFGB erfassten Gegenstände oder des Arzneimittelbegriffs aus § 2 AMG54 ist auch
hieran Meyer/Streinz/Meyer LFGB – BasisVO – HCVO, 2. Aufl. 2012, § 3 LFGB Rn. 13), geht es in § 3 Nr. 4 LFGB um die Umschreibung der „Letzterwerber“ in der Handelskette, nicht um eine Maßstabsfigur. 51 Oben Fn. 16. 52 Zu diesem etwa Meyer/Streinz/Meyer (Fn. 47), § 11 LFGB Rn. 35 ff. m.w.N.; stark vertiefend Heim Die Vereinbarkeit der deutschen Betrugsstrafbarkeit (§ 263 StGB) mit unionsrechtlichen Grundsätzen und Regelungen zum Schutz der Verbraucher vor Irreführungen, 2013, S. 19 ff. m.w.N. 53 So Hellmann/Beckemper (Fn. 37), Rn. 740 ff. 54 Der keineswegs nur „Heilmittel“ erfasst, da eine pharmakologische (etc.) Beeinflussung der physiologischen Funktion ausreicht, BGHSt 43, 336, 338 ff. zu § 2 Abs. 1 AMG a.F.
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jeder Kneipenwirt, Gewürz- oder Kräuterteehändler potentieller Adressat dieser Gesetze. Insofern kann nicht damit argumentiert werden, die Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit dürften abgesenkt sein, weil bei den Normadressaten „auf Grund ihrer Ausbildung oder praktischen Erfahrung bestimmte Fachkenntnisse regelmäßig vorauszusetzen sind“. Es kann gerade nicht „allgemein davon ausgegangen werden, dass der Adressat auf Grund seines Fachwissens imstande ist, den Regelungsinhalt solcher Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Verhaltensanweisungen zu entnehmen“.55 Die Kommunikation des Gesetzgebers mit den Bürgern56 muss hier scheitern.
III. Fazit Trotz des bald 40 Jahre zurückliegenden Weckrufs von Schünemann ist die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes in manchen Bereichen weiterhin mehr theoretischer als praktischer Natur. Insbesondere im Verbraucherschutzstrafrecht kann von Bestimmtheit der Strafvorschriften im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG im Detail und insbesondere in der Gesamtschau leider nicht gesprochen werden. Dies muss gerade einen auch politisch so interessierten und selbst politisch aktiv gewesenen Querdenker wie Schünemann mehr als betrüben.
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BVerfGE 48, 48, 57 zur Verfassungsmäßigkeit des § 240 Abs. 1 Nr. 4 KO a.F. Oben Fn. 12.
Der Gleichheitssatz und seine Konkretisierungen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung Heinrich Scholler I. Das veränderte Verhältnis von Staat, Gesellschaft und europäischer Staatengemeinschaft 1. Verkürzung des Inhalts des Gleichheitssatzes Lange Zeit hat die Rechtsprechung die Interpretation des Gleichheitssatzes, wie er sich auch in Artikel 3 Abs. 1 GG befindet, dahingehend definiert, dass er nur verlangt, dass Gleiches nur wesentlich Gleichem entsprechen könne, sodass nur dann, wenn eine Verletzung des Wesensgehaltes des konkret zur Anwendung gebrachten Gleichheitssatzes vorliegt, das Grundrecht auch verletzt ist. Die Rechtsprechung hat aber sehr früh erkannt, dass eine solche Verkürzung der Interpretation des Gleichheitssatzes auf den wesentlichen Inhalt in der modernen staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung der Bedeutung einer notwendigen Weiterentwicklung nicht genügt. In der Einleitung zu meinem Buch „Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit“ 1 habe ich im Jahre 1969 folgendes ausgeführt: „Die Angst vor der Gleichheit prägt die Interpretation dieses Grundrechts bis zum heutigen Tag. Ein von der Verfassung schrankenlos gewährleistetes Menschenrecht ist in Rechtsprechung und Schrifttum so entschärft worden, dass nur bei äußerster Willkür eine Verletzung dieses Grundrechts angenommen wird. Andererseits werden die Gerichte geradezu überschwemmt mit Rechtsmitteln, welche sich auf die Verletzung des Gleichheitssatzes berufen. Hinter diesem oft als ärgerlich beklagten Missstand übersieht man allzu leicht ein brennendes Rechtsproblem der Gegenwart: Die Verwirklichung der Idee der Gleichheit in unserer Zeit. Die Zurückhaltung der Rechtsprechung bei der Handhabung dieses Grundrechts steht in so auffälligem Widerspruch zur Häufigkeit und Beliebtheit
1 Scholler Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, 1969.
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der damit begründeten Ansprüche oder Querelen, dass sich hier eine immer größere Kluft zwischen Juristenrecht und Laienverständnis oder sagen wir Rechtsgefühl aufzutun droht. Schon zeigen Entwicklungen in Rechtsprechung und Schrifttum, dass sich eine Wandlung im Verständnis des Gleichheitssatzes anbahnt. Unter dem Schlagwort der Chancengleichheit wird eine radikalere Konkretisierung des Gleichheitssatzes gefordert.“ Die von mir im Jahre 1969 veröffentlichte Arbeit zum Thema die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit soll erneut aufgegriffen werden, weil zurzeit in jeder Veröffentlichung, auch in öffentlichen Diskussionen, selbst von den anerkanntesten Vertretern der deutschen Grundrechtstheorie Zweifel ausgesprochen wurden, ob die Einbeziehung der Chancengleichheit oder ähnliche Kritiken dem Zustand abhelfen könnten, dass der Gleichheitssatz keine notwendige Weiterentwicklung in der Rechtsprechung und der Gesetzgebung erfahren habe. Diese Meinung war aber schon deshalb unrichtig, weil auch die moderne Gesetzgebung, vor allem in der dritten Welt, energisch die Forderung erhoben hat, dass durch eine positive Besserstellung der vernachlässigten sozialen Gruppen eine ganz neue Form des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich abgesichert werden soll.2 Der Artikel soll nicht allen Diskussionen seit dem ersten Erscheinen dieser Abhandlung nachgehen, sondern vielmehr sich eine Bestätigung aus einigen Referaten der jüngsten deutschen Staatsrechtlehrertagungen holen.3 2. Beachtung der gesellschaftlichen Chancengleichheit Anhand verschiedener Normen wird nachgewiesen, dass der Gesetzgeber auf den besonders empfindlichen Gebieten der gesellschaftlichen Entwicklung oder der Wiedergutmachung das Gleichheitsgebot nicht als staatliche Regelung versteht wesentlich Ungleiches ungleich, wesentlich Gleiches aber gleich zu behandeln. Damit hat man aber bereits den ersten Schritt dazu getan, den Staat und die Gesellschaft in eine engere Beziehung zu stellen, da die gesellschaftliche „Chancengleichheit“ immer wieder eine viel stärkere Konkretisierung der Anwendung des Gleichheitssatzes verlangt. Hier soll nur ein besonderes Beispiel hervorgehoben werden, nämlich das der Bedeutung des Gleichheitssatzes im Rahmen des Bodenschätzungsgesetzes vom 2 In vielen modernen Verfassungen wird gerade auch das Recht auf Besserstellung oder Ungleichbehandlung als Garantie dafür angesehen, dass innerhalb der gesellschaftlich entwickelten Ordnung große Defizite an Gleichheit entstanden waren, die zum Teil durch völkerrechtliche Garantien zum andere Teil durch nationale Garantien auf Ungleichbehandlung überwunden werden sollen. 3 Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (= VVDStRL) 72 (2013).
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16.10.1934. Das große Vorhaben der Flurbereinigung verlangte praktisch eine fast mathematische Gleichheit zwischen den eingebrachten Grundstücken und der aus der Umlegungsmasse wieder zurückgegebenen Bodenfläche an die Betroffenen. So ist wie folgt formuliert worden: Werteinheitssumme des Altbesitzes = WE des Neubesitzes – Wegeabzugsfläche + Abfindungssumme 4 Das eben erwähnte Beispiel aus der Flurbereinigung zeigt besonders deutlich die veränderte Behandlung der Gleichheit und Gleichheitsentstehung in den Fällen, in denen die moderne Bodenwirtschaft eine solche Entschädigung oder Ausgleichung verlangt. Eine ähnliche Weiterentwicklung zu einer formalen Gleichheit hat sich vor allem im Westfälischen Frieden durchgesetzt, wo nach bestimmten historischen Daten verschiedene Rechte gewährt wurden, indem entweder das Exerzitiumpublikum oder Privatum der Religion gewährt wurde. Hier nannte man die Garantien paritätische Garantien, die gleichsam numerisch exakt den einzelnen Glaubensgruppen eingeräumt wurden. Man sprach hier dann von der Parität der Rechte, eine Gleichheit, die in der lateinischen Formulierung „exacta mutuaque aequalitas“ 5 genannt wurde. Man vermied also die Parität als eigene Größe in der Gleichheitsdiskussion alleine zu verwenden, sondern gab gleich eine lateinische Interpretation durch den eben erwähnten Satz einer exakten und gegenseitigen Gleichheit. Hieran sieht man, dass diese Behandlung der Gleichheitsforderung im religiösen und staatlichen Bereich als eigene Form der Gleichheit behandelt wurde und dass man nicht auf etwas abstellen durfte, was wesentlich gleich oder wesentlich ungleich erschien. 3. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht a) Der staatsrechtliche Gleichgewichtszustand6 Die Vorstellung, dass in einem Staatsgebilde Gleichgewichtsverhältnisse bestehen oder geschaffen werden müssen, ist nicht neu. Die Fortbildung des Gewaltenteilungs- und Hemmungsprinzips zu einem Grundsatz der Ausbalancierung hat dem historisch belasteten Gedanken der Gewaltenteilung neues Leben eingehaucht. Die verschiedenen Staatsgewalten Bund und Län-
4 Spaetgens RdL 1964, 10. Der Autor hat selbst als Mitarbeiter am 6. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Aufgabe gehabt, diese Wertermittlungsmathematik zu prüfen. 5 Instrumentum pacis o. Art. V § 1, Mirbt Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 3. Aufl. 1911. Interpretiert wird diese Gleichheit folgendermaßen: “ita ut quod uni parti iustum est alteri quoque sit iustum”, siehe auch Scholler (Fn. 1), S. 62. 6 Siehe Scholler (Fn. 1), S. 89.
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der zueinander sollen ein ausgeglichenes Machtverhältnis, eine Balance zwischen Kompetenzen und Funktionen bewirken. Dabei wird dem föderalistischen Prinzip eine neue Funktion, nämlich die Aufgabe des Ausgleichs und der Ausbalancierung zwischen Regierung und Opposition – die sich auf Landesebene etabliert – und zwischen den Landesministerialverwaltungen, die über den Bundesrat zu Worte kommen, zugewiesen. Jedes Über- oder Ungleichgewicht zwischen Bund und Ländern würde das Staatsmodell des unitarischen Bundesstaates oder auch des kooperativen Föderalismus ins Schwanken bringen. Die Ideen der Ausbalancierung und der Gleichgewichtsregelungen basieren auf der Vorstellung formaler Chancengleichheit zwischen den einzelnen Gliedern des Bundes untereinander und in ihrer Gesamtheit zum Bunde selbst. b) Ungleichgewichte Staat – Gesellschaft und das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Demgegenüber war das Verhältnis Staat – Gesellschaft durch Nichtidentifikation auf der einen und Ungleichgewicht (Subordination) auf der anderen Seite gekennzeichnet. Ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck fand dies in dem Postulat der verfassungsrechtlichen Neutralität gegenüber der Wirtschaft. Dieses Neutralitätsverhältnis ist durch eine Änderung der Verfassung an ihr Ende gelangt und die Beziehungen Staat – Gesellschaft – Wirtschaft werden durch Prinzipien charakterisiert, die als Ausbalancierung unter Schaffung von Gleichgewichtszuständen durch ein Instrumentarium konzertierter Aktion gekennzeichnet werden können. Grundlage für diese Änderung ist auf Verfassungsebene die Neufassung des Art. 109 Abs. 2 GG durch das 15. Änderungsgesetz zum GG. Nach der Einfügung des neuen Art. 109 Abs. 2 GG, der als verfassungsrechtliche Pflicht das Erfordernis des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aufstellt, kann von einer Wende des Wirtschaftsverfassungsrechts gesprochen werden. Bund und Länder sollen das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zwar nicht durch Globalsteuerung aller wirtschaftlichen Daten herbeiführen, sondern es sollen nur die öffentlichen Haushaltswirtschaften7 als Teil des Wirtschaftskreislaufes in den ökonomischen Gesamtablauf miteinbezogen werden.8 Der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist aus der ökonomischen Terminologie in die Begriffswelt der Verfassung übernommen wor7 So früher schon: Ob die in § 1 S. 1 StabG angesprochenen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen allerdings von dem in Art. 109 n.F. gebrauchten Begriff “Haushaltswirtschaft” gedeckt sind, erscheint zweifelhaft; Vgl. auch Zuck NJW 1967, 1303, Fn. 46; siehe auch Fn. 8. 8 Stern NJW 1967, 1831, 1837 zum Verhältnis der Globalsteuerung und Planung; siehe auch Scholler (Fn. 1), S. 89 ff.
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den, obschon er selbst in der Volkswirtschaft keineswegs geklärt ist.9 Ob der Grundsatz des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch schon als Verfassungsauftrag aus anderen Einzelnormen oder aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes hergeleitet werden kann, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung.10 Die Beantwortung dieser Frage würde nur dazu führen, die Institutionalisierung des magischen Vierecks durch Art. 109 Abs. 2 GG als konstituierend oder als deklatorisch zu bezeichnen.11 4. Zum Inhalt des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Für das Verständnis eines veränderten Gleichheitssatzes durch Einbeziehung der Wirtschaft und des Postulates der Gleichgewichtigkeit kommt es auch darauf an, welche Mittel zur Erreichung des Gleichgewichts von der Verfassung her oder aus dem Gesichtspunkt eines besonders ausgeprägten Gleichheitssatzes eingesetzt werden können. Hier ist es von Bedeutung, dass gerade die Finanzpolitik des Staates ein entscheidendes Mittel ist, die Gleichgewichtigkeit des Ausgleichsprozesses zu ermöglichen oder zu verfestigen. Damit ergibt sich folgendes Ergebnis: „Ganz im Gegenteil, der Einsatz der finanzpolitischen Mittel könnte als verfassungsrechtliches Agens, als Aktionsermächtigung für wirtschaftsgestaltende Tätigkeit aus dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit als gefordert anzusehen sein.“ 12 Aus der Regelung des Art. 110 Abs. 2 S. 2 GG wird allerdings eine statische Balancierungsnorm gefolgert, was der Ausgleichungswirkung widersprechen könnte. Denn ein statisches Fixieren muss schon vom Begriff her der Vorstellung des Ausbalancierens entgegenstehen. Von Bedeutung ist auch, dass zwei andere Mittel der Wirtschaft, insbesondere der Haushaltswirtschaft, nicht entgegenstehen. So bedeutet das „deficit-spending“ auch kein entgegenstehendes Postulat, wie auch der häufig geäußerte Wunsch der „Thesaurierung“ kein Hindernis oder zumindest kein prinzipielles Hindernis darstellt. Der Sozialstaat, der die Grundlage der Einwirkung auf den Gleichheitssatz darstellt, ist ein Ergebnis einer internationalen Garantie und Absicherung, wie es sich aus der Sozialcharta vom 18.10.1961 ergibt: „toute personne doit avoir la possibilité de gagner sa vie par un travail librement entrepris.“ Der Einwand gegen die vorher bezeichnete Situation im Hinblick auf die Globalsteuerung kann hier nicht Platz greifen, denn die Globalsteuerung erscheint ja nicht mehr primär als gesetzlicher Vorgang sondern als Prozess der Vergesellschaftung der Staatstätigkeit. 9
Kölble NJW 1966, 473, 474; Stern DÖV 1967, 657, 659. Ipsen VVdStRL 24 (1966), 222 (Diskussion); Stern DÖV 1967, 657, 659. 11 So auch Kölble NJW 1966, 473, 474; Stern DÖV 1967, 657, 659. 12 Stern/Münch Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 1967, S. 34, 59. 10
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Lässt es die Rechtsordnung zu und sieht sie in der Bevorzugung einer wirtschaftlichen Position keine Verletzung des traditionellen Willkürverbotes, dann wird sich dieser Vorteil des déjà prise13 in Wirklichkeit perpetuieren, denn der jeweils Nächste wird immer als überholter wirtschaftlicher Interessenträger den kürzeren ziehen. Somit wird gerade durch einen Rückfall auf den Gleichheitssatz in der Gestalt des Willkürverbotes eine ungleiche Situation in der Gesellschaft geschaffen.
II. Bürgerstatus und Migration in einer europäischen Staatengemeinschaft Im Gegensatz zu der vorangegangenen Analyse beschäftigt sich die Staatsrechtlehrertagung gegenwärtig nicht mit dem Eindringen des Gesetzes und seiner Strukturen in die Verwaltung bzw. in die Gesellschaft als Ganzes sondern mit dem Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration.14 Die Problemstellung ist hier eine veränderte, und wenn man es genau betrachtet eine stärker juristische mit der Hineinnahme der Migration und der europäischen Integration und ihren Auswirkungen auf den Bürgerstatus. Gerade dieser Aspekt des Bürgerstatusses bedeutet eine starke Veränderung der Bearbeitung des Gegenwartthemas, weil der Bürgerstatus nicht als Fluidum gegenüber der Gesellschaft verstanden wird, sondern als Grundelement demokratischer Gesetzgebungsbefugnis. Diesem Grundstatus gegenübergestellt wird als Gegenkraft die europäische Integration, sodass also an die Stelle der gesellschaftlichen Blickweise oder Einflussmöglichkeit die europäische Integration tritt. Hier taucht die Frage auf, ob die europäische Integration die gleiche oder wenigstens eine ähnliche Rolle spielen kann als die Gesellschaft wenn sie sich dem Bürgerstatus gegenüberstellt. Nach dieser kurzen Voranstellung sollen aus der umfangreichen Diskussion zu dieser Fragestellung einige Auszüge angefügt werden. Zwei Referenten (Christian Walter, Klaus Ferdinand Gärditz) haben ihre Thesen vorgetragen und an ihren Vortrag haben sich dann allgemeine Diskussionen angeschlossen. Aus der Diskussion sollen entscheidende Passagen herausgezogen werden, so dass die Ausführungen teils im Wortlaut, teils in Zusammenfassungen erscheinen.
13 Dieser Begriff aus der Soziologie bezeichnet treffend den Kern des Anliegens: Chancengleichheit soll als égalité en fait die position déjà prise wieder öffnen. Zum Begriff „closed shop“ vgl. Biedenkopf BB 1968, 1005. 14 VVDStRL 72 (2013), 7 ff.
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Aus der Diskussion:15 Gröschner (Jena) kritisiert an dem Vortrag von Walter unter Benutzung eines Goethe-Zitates, dass sich der Begriff im Vortrag nicht fassen lässt, sodass ähnlich wie bei Goethe an die Stelle der Begrifflichkeit die Bildhaftigkeit treten musste. „Das Bild einer ‚Verankerung‘ demokratischer Teilhaberechte in der Menschenwürde ist zwar ein gut nach Kiel passendes, aber doch sehr unbewegliches Bild.“ Demgegenüber betont Schorkopf (Göttingen) die Bedeutung des „We the people“ und knüpft damit an die fundamentale Bedeutsamkeit der Staatsangehörigkeit an. Damit wird natürlich die Einwirkungsmöglichkeit des europäischen Gedankens zurückgedrängt. Der Beitrag von Wißmann (Bayreuth) betont die Bedeutung der bereits vor der Bürgerschaft liegenden öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, wie zum Beispiel der Schulpflicht, die dringend bei der Qualifizierung mit bedacht werden muss. Wird dadurch wirklich auch erkannt, dass die staatliche bzw. bürgerliche Verflechtung weit ursprünglicher ist, wenn man den Gegenstand aus dieser Perspektive betrachtet, als wenn man erst mit den Pflichten nach der eingetretenen Volljährigkeit beginnt. Hier kann man tatsächlich ein Einwirken des Staates auf die Gesellschaft erkennen, denn die frühe Schulpflicht oder sogar Kindergartenpflicht muss als Einwirkung in die Gesellschaft und nicht nur als Einwirkung in die staatliche Beziehung gedacht werden. Einen neuen Gedanken brachte Mahlmann (Zürich) in die Diskussion, indem er die Herausbildung von Menschenrechten als Ergebnis einer Welt von gewalttätigen Partikularismen sieht. Er meint hierzu: Das Weltbürgertum habe sich aus den Menschenrechten entwickelt (Kant), wobei die Frage angeschlossen wird, ob es dabei einen Zusammenhang mit der These von Hannah Arendt gebe. Gegenüber den beiden Referenten nimmt Paulus (Göttingen) eine grundsätzlich positive Stellungnahme ein, die er aber doch auch wiederum abschwächt: „Wenn das dann alles richtig ist, dass wir den Zugang zur Staatsangehörigkeit erleichtern sollten, auch um idealerweise der regulativen Idee näherzukommen, dass die betroffenen bei demokratischen Entscheidungen einbezogen werden, dann stellt sich doch die Frage, ob wir nun auch noch das Wahlrecht relativieren müssen, jedenfalls wenn man über das Kommunalwahlrecht hinausgeht.“ Streinz (München) stellt die schwierige Frage, ob die auf die Praxis zu Art. 28 GG zurückgehende Praxis der Ausdehnung der Unionsrechte auch gegenwärtig noch zutreffen kann. Man müsse nämlich erkennen, dass „diese Zuerkennung des Wahlrechts für Unionsbürger damaligen unionsrechtlichen
15
VVDStRL 72 (2013), 164 ff.
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Tendenzen und unionsrechtlichen Verpflichtung entsprach, denen auch ein bestimmtes Konzept zugrunde lag, nämlich – so hieß es damals im Programm der Europäischen Union – Zuerkennung besonderer Rechte für Unionsbürger, auch zur Förderung einer europäischen Identität.“ Natürlich kann diese Begründung heute nicht mehr greifen, weil die Bewegungen gegen Europa deutlich zugenommen haben. Ca. 15 Diskussionsteilnehmer wurden in dieser kritischen Betrachtung nicht erwähnt, obwohl sie selbstverständlich auch einige neue Gedanken beigetragen haben. Die umfangreiche Diskussion wurde durch zwei Schlussworte der beiden Referenten Gärditz und Walter abgeschlossen. Anschließend folgte eine zweite Diskussionsrunde zum Thema Wahlrecht und Parlamentsrecht als Gelingensbedingungen repräsentativer Demokratie. Schon aus der enger gefassten Thematik dieses neuen Diskussionspunktes ist zu erkennen, dass es sich um Festigung demokratischer Traditionsgesichtspunkte handelt, sodass die Gegenüberstellung Bürgerstellung und Unionsbürgerschaft nicht mehr diskutiert werden soll. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass diese Diskussionsthematik nicht mehr so vergleichbar ist mit der im ersten Teil dieser Abhandlung erörterten Gegenüberstellung von Gesetz und Gesellschaft und ihren gegenseitigen Beziehungen. Wenn man bei der ersten Themenstellung noch in der Position der Europäischen Union eine deutliche Verwandtschaft zur allgemeinen gesellschaftlichen Problematik erkennen konnte, ist dies bei dem zweiten Beratungsgegenstand nicht mehr gegeben. Allerdings sollte es aus Gründen der Fairness noch nötig erscheinen, sich mit den beiden Schlussworten der Referenten zu beschäftigen. Die Referenten Walter und Gärditz nahmen in umgekehrter Reihenfolge zu ihren früheren Ausführungen im Einzelnen zu den Zentralfragen Stellung: Die Analyse der auf Bundes- oder Landesgebiet teilnehmenden Wähler führt nach Meinung der Referenten zu einer maximal 50 %igen Teilnahme am politischen Geschehen; dies bedeutet aber weiterhin, dass die in Deutschland lebenden Ausländer als Minuspunkt angesehen werden müssen, was ihre aktive Teilnahme an der Politik bedeuten würde. Daraus folgt, dass man dem Ausländer nicht die „Einbürgerung hinterherwerfen muss“, da nach Meinung des Referenten ihm diese Einbürgerung nichts Wesentliches erbringt. Die Staatsangehörigkeit wird als der eigentliche und einzige feste Anker angesehen, an dem die Gleichheit aller Mitglieder des Legitimationssubjekts anknüpft. Nur bei diesem Festhalten an der formalen Grundlage des Zusammenlebens und damit dem Gleichheitssatz verhindert man das Zerfallen der Einigkeit in die diffusen Sachmaterien des Rechts. „Pluralismus, demokratischer Voluntarismus einerseits und Formalität andererseits sind zwei Seiten einer Medaille, die ich sehr gerne zusammenhalten möchte, auch schon, um die Tendenz elitärer Modelle zu einer inhaltlichen Bestimmung zu Identität
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aus Werten heraus möglichst jedenfalls im sensiblen Bereich der Zugehörigkeit zu vermeiden.“16 Der Referent betont hier, dass er bewusst ein voluntaristisches Prinzip der Demokratie betont hat und nicht ein deliberatives Modell der Demokratie zugrunde legen wollte. Maßgebend für ihn war ein Demokratieprinzip, das auf der Qualität des Einzelnen als freie und gleiche Menschen aufbaut. In Beantwortung einzelner Diskussionsteilnehmer wurde betont, dass die Auslandsdeutschen trotz ihrer Trennung vom Staatsgebiet ihrer Staatsangehörigkeit diese Staatsangehörigkeit behalten müssten. Andererseits sind soziale Rechte schon seit einiger Zeit von der Verbindung mit der Staatsangehörigkeit „abgekoppelt“ worden. „Dies dann als einen spezifischen Prozess der Territorialisierung auch konsequent fortzusetzen und Teilhabe einzufordern, ist das Verdienst des Bundesverfassungsgericht, dessen Entscheidungen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zu elternbezogenen Maßnahmen aus diesem Jahr ich ja für grundsätzlich richtig halte.“ „Ich bin allerdings eher pessimistisch, ob wir für den vorliegenden Fragenkreis daraus irgendwelche Konsequenzen ziehen können, weil hier doch zwei sehr unterschiedliche Größen miteinander relationiert werden sollen.“17 In der Zusammenfassung hat der Erstreferent Walter zum Problem der Staatsangehörigkeit Stellung genommen und betont, dass er für eine Bündelung und Festigung dieses Institutes eintritt. Walter trat für die Zulässigkeit von mehreren Staatsangehörigkeiten in einer Person ein. „Dies leitet über zu dem Punkt, dass wir tatsächlich so etwas wie ein Völkerrecht der Staatsangehörigkeit brauchen und dass wir uns wegbewegen müssen von der Vorstellung, dass die Staaten völlig frei sind, unter welchen Bedingungen sie ihre Staatsangehörigkeit verleihen und unter welchen sie vielleicht auch Staatsangehörigkeiten wieder entziehen müssen.“18 Der Referent unterstrich die Tatsache, dass es zurzeit keine sicheren Regeln über die Verleihung oder die Zurücknahme von Staatsangehörigkeiten gebe. Der Referent versuchte die Beziehung zwischen übernationalen Rechten und völkerrechtlichen Garantien im Verhältnis zum Staatsangehörigkeitsrecht zu verdeutlichen durch seine Formulierung, dass das Staatsangehörigkeitsrecht durch übernationales Recht oder Völkerrecht überlagert und verändert werde. Ohne diesen Vorgang zu verneinen betonte er gleichzeitig, dass dieser Prozess noch in Gang sei und es deshalb einer längeren Zeitspanne bedürfe, um hier größere Klarheit zu sehen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung hielt er die Ersetzung der formalisierten Staatsangehörigkeit durch nicht formalisierte Elemente, insbesondere den Zeitablauf des Aufenthalts, für möglich.
16 17 18
Gärditz VVDStRL 72 (2013), 184. Gärditz VVDStRL 72 (2013), 186. Walter VVDStRL 72 (2013), 186 ff.
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Der Referent musste auch ein Missverständnis erläutern, das dadurch entstanden war, dass einer der zuhörenden Kollegen die Klärung von Konflikten beim Zusammenstoß mehrerer Staatsangehörigkeiten ansprach. Hier verwies der Referent einfach auf das Institut des völkerrechtlichen Vertrags, durch den diese Fragen ohne große Probleme gelöst werden könnten. Der Referent Walter sah kein großes Problem in der Genehmigung der Ausübung verschiedener Wahlrechte, die einer Person in verschiedenen Staaten zuerkannt wurden, wohl weil gerade in dem sachlichen Interesse, das diese Person normalerweise habe, eben auch gerade der Grund für die Zuerkennung eines weiteren Wahlrechts liege. Umstritten war auch das Verhältnis des Wahlrechts (des kommunalen Wahlrechts) nach Art. 28 GG zugunsten des Ausländers und das Verhältnis dieses Rechts zu Art. 20 GG. Hierzu sagte der Referent wörtlich: „Und muss das nicht auch für Art. 79 Abs. 3 GG wiederum zur Konsequenz haben, dass ich eigentlich auch mit der gleichen Berechtigung als verfassungsändernder Gesetzgeber Drittstaatsangehörigen das Kommunalwahlrecht zugestehen kann? Ich wollte damit nicht sagen, Unionsbürger und Drittstaatsangehörige stehen gleich.“19 Mit dieser Zusammenfassung der Referate bzw. der Antworten auf die Fragestellungen, die die einzelnen Teilnehmer an die Referenten hatten, soll der Beweis geliefert werden, dass im Jahre 2013 die Probleme anders gesehen wurden, als dies in meiner Analyse aus dem Jahre 1969 geschah. Der Problemstand im Jahre 1969 ergab sich nicht aus der Konfrontation von Staatsangehörigkeit und europäischer Gemeinschaftszugehörigkeit, sondern aus dem Konflikte und dem Zusammenwirken aus dem staatsrechtlichen Gesetzesbegriff mit den konkurrierenden gesellschaftlichen Phänomenen. Wenn auch manche Fragestellungen und Konfliktlösungen deutlich verwandtschaftliche Züge zeigen, ist doch die Analyse aus dem Jahre 2013 von der Konstruktion und der Sichtweise her grundsätzlich verändert. An die Stelle des Konfliktes mit der Gesellschaft treten Konflikte mit den übergeordneten und doch konkurrierenden Institutionen der europäischen Gemeinschaften, wie überhaupt der Konfrontation des nationalen Staates in einer Welt der europäischen Gemeinschaftsstaatlichkeit. Es ist zu fragen, ob nicht dennoch Ähnlichkeiten deutlich erkennbar sind, die sich aus der Konfrontation der national begründeten Staatsangehörigkeit mit der Europaangehörigkeit ergeben. Gerade die Gegenüberstellung der beiden Sichtweisen sollte zu erkennen geben, dass die Konkurrenz zwischen Staat und Gesellschaft heute nicht mehr die einzige Blickweise sein kann und auch nicht mehr alleine zu Lösungen führen wird, die sich in einer Gemeinschaft von europarechtlich entstandenen Gemeinwesen ergeben haben.
19
Walter VVDStRL 72 (2013), 189.
Zwischen personaler und normativer Bezweckbarkeit Friedrich-Christian Schroeder
Bernd Schünemann hat seine wissenschaftliche Tätigkeit nicht nur geographisch (Göttingen, Bonn, Mannheim, Freiburg, München), sondern vor allem auch sachlich breit gestreut. Welchem Gegenstand man sich auch zuwendet, immer ruft Schünemann einem mit seinem niedersächsischen Landsmann entgegen: „Ick bün al dor!“.1 Einer dieser Gegenstände ist die Lehre von der objektiven Zurechnung. Sie hat nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland eine ungeheure Diskussion ausgelöst und ist inzwischen so gut wie ausgeschrieben. Neuere Arbeiten versuchen daher vielfach nur noch, ihr neue Anwendungsbereiche zu erschließen oder alten oder neuen Argumentationen das Markenzeichen der objektiven Zurechnung aufzudrücken.2 Hier soll auf diesem Weg nicht weiter fortgeschritten, sondern ein übergreifender Aspekt herausgegriffen werden. Die Lehre von der objektiven Zurechnung wurde bekanntlich nicht wie etwa die Normentheorie oder die finale Handlungslehre von einer Person entworfen, sondern entwickelte sich aus mehreren Ansätzen.3 Hierbei spielte der Gedanke der Zweckhaftigkeit eine bedeutende und wechselnde Rolle.
I. Der Zweck der Normen 1912 legte der Tübinger Privatdozent Max Ludwig Müller dar, dass die Rechtsnormen Gesetze seien, in welchen Menschen das Verursachen oder Nichtverursachen von Erfolgen als Zweck gesetzt werde.4 Hierin lagen eine 1
Wobei er nicht wie jener auf die Mogelei mit seiner Frau angewiesen ist. So für die Rechtfertigungsgründe u.a. Puppe JZ 1989, 728, 729; Kuhlen FS Roxin, 2001, 331 ff.; Roxin GA 2011, 678, 683; Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 113 ff.; Hefendehl FS Frisch, 2013, S. 465 ff.; für die Teilnahmelehre Timpe GA 2013, 145 ff.; Kretschmer Jura 2008, 265 ff.; für den Betrug Harbort Die Bedeutung der objektiven Zurechnung beim Betrug, 2010. 3 Näher Schroeder FS Androulakis, 2003, S. 651 ff. (erweitert in ders. Der Blitz als Mordinstrument, 2009, S. 39 ff.); Hübner Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, 2004; Schünemann GA 1999, 207, 208 ff. 4 Müller Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Straf- und Schadensersatzrecht, 1912, S. 25. 2
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bemerkenswerte Umkehr der negativen Generalprävention ins Positive, die erst Jahrzehnte später wiederentdeckt und als „positive Generalprävention“ Anerkennung finden sollte,5 und zugleich eine Transformation des Zwecks der Norm in die Zwecke des Täters. Die Rechtsnormen könnten nicht Erfolgsverursachungen, sondern nur menschliche Verhaltensweisen verbieten, und zwar solche, die die Möglichkeit eines Erfolges der in der Norm bezeichneten Art erhöhten.6 Faktoren von Bedeutung für das Maß der für die Rechtsnormwidrigkeit eines Verhaltens erforderlichen Erhöhung der Möglichkeit eines Erfolgs seien: 1. der Grad der Gefährdung des in einer Norm gesetzten Zwecks 2. die Wichtigkeit des gefährdeten Zwecks 3. der Zweck, den die zu beurteilende Handlung verfolge.7 Im Gewitterfall handle es sich um die Gefährdung eines wichtigen Zwecks, bei der schon ein sehr geringer Grad der Gefährdung berücksichtigt werden müsse, soweit er nicht durch die soziale Nützlichkeit des Zweckes der zu beurteilenden Handlung aufgewogen werde. Letzteres sei der Fall, wenn der Neffe zum Viehhüten auf lawinenbedrohte Hänge geschickt werde. Hier müsse das geringe Risiko allgemein in Kauf genommen werden. Anhand konkreter Beispiele beschränkt Müller schließlich die Rechtsnormwidrigkeit auf Erfolge, mit Rücksicht auf deren Möglichkeit das Verhalten verboten gewesen sei, in Verwirklichung der Gefahr eintrete, derentwillen das Verhalten rechtsnormwidrig war, die Gefahr einer Verwirklichung des Erfolgs in bestimmter Weise erhöht habe.8 Mit der Erhöhung der Möglichkeit des Erfolgs, der Verwirklichung der Gefahr, deretwillen das Verhalten rechtsnormwidrig ist, und der erforderlichen Inkaufnahme eines geringen Risikos bei sozial nützlichem Zweck lag praktisch das gesamte Programm der späteren Lehre von der objektiven Zurechnung vor.
II. Die personale Bezweckbarkeit Ebenfalls auf normtheoretische Erwägungen stützte acht Jahre später Richard Honig eine Lehre von der objektiven Zurechnung. Die Zurechnung setze ein menschliches Verhalten im Sinne einer Willensäußerung voraus. Die Willensäußerung sei ein zweckhaftes Eingreifen in Naturvorgänge und damit
5 Vor allem Jakobs Schuld und Prävention, 1976; Schünemann/von Hirsch/Jareborg Positive Generalprävention, 1998. 6 Müller (Fn. 4), S. 22 ff. 7 Müller (Fn. 4), S. 36 ff. 8 Müller (Fn. 4), S. 57.
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eine teleologische Erscheinung.9 Der Begriff teleologisch wird hier also von der Auslegung der Norm auf das menschliche Verhalten übertragen. Zurechenbar sei daher dasjenige Verhalten, das als zweckhaft gesetzt gedacht werden könne. Als kategorialer Rechtsbegriff werde die objektive Zurechnung dadurch legitimiert, dass das Recht nur so weit Ordnung des menschlichen Zusammenlebens sein könne, als es das menschliche Verhalten zu bestimmen vermöge. Gefordert und erwartet werden könne nur dasjenige Verhalten, das im menschlichen Machtbereich liege. Dies sei nur der Fall, wenn es in Hinblick auf die Bewirkung bzw. Vermeidung des Erfolges als zweckhaft gedacht werden könne, objektiv zweckhaft sei.10 Diese etwas gestelzten Formulierungen wurden später von Roxin zu der „objektiven Bezweckbarkeit“ verdeutlicht.11 Wenn Frisch feststellt, dass diese Überlegungen eine weitaus geringere Resonanz erfahren haben als die späteren von Roxin zur objektiven Zurechnung,12 so ist zu berücksichtigen, dass Honig schon drei Jahre später als Jude von seinem Lehramt „beurlaubt“ wurde und ins Ausland gehen musste und seine Arbeiten bis 1945 dem abstoßenden Aufruf Carl Schmitts zur Nichtzitierung jüdischer Autoren unterlagen und damit aus dem wissenschaftlichen Leben verbannt wurden. So erwähnte Engisch in seinem Plädoyer für eine „objektive Bezweckbarkeit“ von 1944 13 zwar mehrere Beiträge der Frank-Festgabe, Honig aber mit keinem Wort. Auch nach 1945 konnte sich eine rechtswissenschaftliche Diskussion erst langsam wieder entwickeln.
III. Die Überführung der Bezweckbarkeit in das „Risikoprinzip“ Nach mehrfachen kasuistischen Übernahmen Ende der sechziger Jahre 14 begann der Ausbau der Lehre von der objektiven Zurechnung zu einem System mit Roxins Aufsatz in der Festschrift für Honig 1970.15 Roxin knüpft an Honigs Formel von der Bezweckbarkeit an, rügt sie aber wegen ihrer „Orientierung an der Faktizität des Könnens“ und will sie „auf das Risikoprinzip zurückführen“. Die Orientierung der Bezweckbarkeit an der „Faktizität“ im Gegensatz zum Risikoprinzip muss jedoch bestritten werden. Beide Begriffe sind Urteile über eine Möglichkeit. Nach Honig ist für die objektive
9
Honig FG v. Frank, 1930, S. 174, 182 ff. Honig FG v. Frank, 1930, S. 174, 187 ff. 11 Roxin FS Honig, 1970, S. 133, 135, 140. S. aber schon Engisch FS Kohlrausch, 1944, S. 141, 161 ff.! 12 Frisch FS Roxin, 2001, S. 213. 13 Engisch FS Kohlrausch, 1944, S. 141. 14 Schroeder Blitz (Fn. 3), S. 55 ff. 15 Roxin FS Honig, 1970, S. 133. 10
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Bezweckbarkeit jedes Moment des Sachverhaltes wesentlich, kein Umstand des konkreten Sachverhalts entbehrlich. Daher differenziert er die Lösung des bekannten Gewitterfalls danach, ob Gewitter zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort beobachtet worden seien und mit Wiederholungen zu rechnen gewesen sei.16 Die größere Normativität liegt also nicht in dem Risikoprinzip als solchem, sondern in der Hinzufügung der rechtlichen Relevanz des Risikos. Die „rechtliche Relevanz“ verweist auf die gesamten Ziele und Maßstäbe des Rechts und ist daher an „Normativität“ nicht mehr zu überbieten.17 Die Abgrenzung zur Rechtswidrigkeit als Verbrechensmerkmal ist z.T. bestritten,18 jedenfalls aber kompliziert.19 Sie ist denn auch der Grund dafür, dass die Kategorie der objektiven Zurechnung „mittlerweile wie ein riesiger Krake mit zahllosen Tentakeln immer mehr Anwendungsbereiche erfasst, die in ontologischer und normativer Hinsicht höchst heterogen sind“.20 Konzeptionelle Unterschiede bestehen in Folgendem: – die Blickrichtung wurde von der Schadensquelle (dem Täter) auf das Objekt des möglichen Schadens verlagert – der Begriff des Risikos ist sehr viel besser graduierbar als der der Zweckhaftigkeit – der Begriff des Risikos ist hoch operabel und kombinierbar (Risikoschaffung, Risikoverringerung, Risikoerhöhung).21 Allerdings verführte diese Kombinierbarkeit teilweise zu einem übertriebenen Spiel mit dem Begriff des Risikos. So wurde die im Zivilrecht für § 823 BGB entwickelte Lehre vom Schutzzweck der Norm22 etwas gewaltsam als „Risikoabnahme“ in das „Risikoprinzip“ integriert.23 Allerdings trat mit dem Schutzzweck der Norm der Zweckgedanke – gewissermaßen durch die Hintertür – wieder in das Zentrum der Lehre von der objektiven Zurechnung, nunmehr als Zweck der Norm. Dabei wurden als „Normen“, deren 16
Honig FG v. Frank, 1930, S. 174, 185 f. Alternativen: „rechtlich erlaubt“ (Roxin AT I [Fn. 2], § 11 Rn. 47), „rechtlich beachtlich“ (Roxin AT I [Fn. 2], § 11 Rn. 55), „rechtlich messbar“ (Roxin AT I [Fn. 2], § 11 Rn. 69). 18 Maiwald FS Miyazawa, 1995, S. 465, 477 f. 19 Roxin FS Maiwald, 2010, S. 715, 721, 723. 20 Schünemann GA 1999, 207. 21 Roxin erweiterte den Begriff des Risikos über den überkommenen Sprachgebrauch (Binding Die Normen und ihre Übertretung, IV. Bd., 1919, S. 434; Luhmann Soziologie des Risikos, 1991, S. 30 ff.) hinaus auf jede Gefahr. 22 Zuerst v. Caemmerer Das Problem des Kausalzusammenhangs im Privatrecht, 1956, im Anschluss an Rabel Das Recht des Warenkaufs, 1. Bd., 1936, S. 486 ff. In das Strafrecht zuerst übernommen von v. Caemmerers Fakultätskollegen Jescheck Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht (Freiburger Universitätsreden, Neue Folge, H. 39), 1965, S. 17 und seit 1969 in seinem „Lehrbuch des Strafrechts“. 23 Roxin FS Honig, 1970, S. 133, 140 ff. 17
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Zweck zu berücksichtigen sei, vor allem besondere Sorgfaltsnormen angesehen. Hier handelte es sich um die klassische teleologische Auslegung. Aber auch die mittels eines argumentum a minore ad maius und damit mittels der systematischen Auslegung aus der Straflosigkeit der Veranlassung der Selbsttötung hergeleitete Straflosigkeit von Beteiligungshandlungen an einer Selbsttötung wurde den §§ 212, 222, 229 StGB als deren „fehlender Schutzzweck“ übergestülpt. Später wurde letztere als „Reichweite des Tatbestandes“ ausgegliedert 24 – eine sehr geglückte Neuformulierung des überkommenen „Umfangs“ oder Anwendungsbereichs des Tatbestandes, aber eine Abkehr vom Zweckgedanken. Im Übrigen wurden in den „Zweck der Norm“ höchst unterschiedliche Gesichtspunkte aufgenommen, so z.B. die fehlende Abwälzbarkeit der Folgen gesetzlicher Pflichten oder – bei der Unterlassung nutzloser Schutzmaßnahmen – gesetzgeberischer Unterlassungen.25 Die kriminalpolitische Bedeutung der Lehre von der objektiven Zurechnung trat dabei in den Hintergrund. Wo Roxin kriminalpolitische Gründe anführt,26 pfropfte er diese dem Schutzbereichsprinzip auf. Im Lehrbuch bezeichnet es Roxin als „wesentliche Aufgabe der Lehre von der objektiven Zurechnung“, entgegen dem früheren rein kausalen Verständnis die zufällige oder infolge eines versari in re illicita eintretende Bewirkung von Rechtsgüterverletzungen als gegen das Schuldprinzip verstoßend aus dem objektiven Tatbestand auszuschließen.27
IV. Die kriminalpolitische Sinnhaftigkeit Anlässlich des 70. Geburtstags von Hans Joachim Hirsch, des nach Armin Kaufmann 28 prononciertesten Gegners der Lehre von der objektiven Zurechnung,29 und des 68. Geburtstag von Claus Roxin unternahm Bernd Schünemann 1998 eine Sichtung der Hauptthesen der Lehre von der objektiven Zurechnung.30 Er stellte anhand des Todes des Verkehrsopfers im Krankenhaus, der Schock- und Spätschäden, des Gewitterfalls und der Abweichung des Kausalverlaufs die Überlegenheit der Lehre von der objektiven Zurechnung gegenüber der Adäquanztheorie dar und ging anschließend die
24 S. jetzt Roxin AT I (Fn. 2), § 11 Fn. 184. Aber in Rn. 106 immer noch als „Schutzzweck der Tatbestandsnorm“ bezeichnet. Von Schünemann GA 1999, 207, 227 wiederum noch auf die Sorgfaltsnormen erweitert. 25 Roxin FS Honig, 1970, S. 133, 138 f., 142. 26 Roxin FS Honig, 1970, S. 133, 142, 145. 27 Roxin AT I (Fn. 2), § 7 Rn. 63 (kursiv von mir). 28 Kaufmann FS Jescheck, 1985, 1. Halbbd., S. 251 ff. 29 S. vor allem Hirsch FS Lenckner, 1998, S. 119 ff. 30 Schünemann GA 1999, 207 ff.
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anderen Einzelfälle durch, für die diese Lehre eine besondere Lösung in Anspruch nimmt: die Ermöglichung oder Förderung der Selbstgefährdung mit den Sonderfällen der moralischen oder rechtlichen Pflicht dazu, das Hinzutreten der Handlung eines Dritten, die Beihilfe durch neutrales Verhalten und den Radfahrerfall.31 Schünemann brennt hier ein wahres Feuerwerk von Argumenten ab, von der Sozialadäquanz über das eigene Lebensrisiko des Opfers und die Einflusssphäre des Täters, den Vertrauensgrundsatz, die Abwägung zwischen der Handlungsfreiheit und dem Rechtsgüterschutz bis zu der fehlenden Beeinflussbarkeit der Wirkungen durch Steuerung des Verhaltens. Diese Argumente sollen hier nicht näher erörtert werden. Aufgrund meiner eingehenden Beschäftigung mit dem Gewitterfall 32 sei mir nur der Einwand gestattet, dass m.E. die minimale Erfolgsmöglichkeit beim Gewitterfall nicht durch vorherige Gewaltanwendung (Fesselung auf der Bergkuppe) und Vorenthaltung der Selbstschutzmöglichkeiten kompensiert werden kann.33 Aber alle diese Gesichtspunkte sind für Schünemann nur flankierende Argumente für den Ausschluss der objektiven Zurechnung. Entscheidend ist für ihn in allen Fällen, dass eine Zurechnung kriminalpolitisch sinnlos ist. Durchgängig taucht diese Formel in dem Beitrag auf. Damit wurde eine neue Begrifflichkeit in den Ring geworfen. Der Begriff des „Sinns“ ist allerdings mit dem des Zwecks weit gehend identisch (er bezieht über den nackten Utilitarismus hinaus auch eine weitere Bedeutung ein).34 Dass die Kriminalpolitik nicht nur durch die Strafgesetze, sondern auch „im Gewande der Dogmatik“ durch Entwicklung und Systematisierung der gesetzgeberischen Zielvorstellungen erfolgt, ist seit langem anerkannt.35
31 Denjenigen des zu engen Überholens (BGHSt 11, 1). Die Lehre von der objektiven Zurechnung nimmt nämlich noch einen zweiten Radfahrerfall für sich in Anspruch, den der unbeleuchtet Rad fahrenden Brüder (RGSt 63, 392 f.). Der Fall wird übrigens seit seinem Aufgreifen durch Jescheck (Lehrbuch des Strafrechts, 1969, S. 193, 387) ständig falsch wiedergegeben (Ausnahme: Hübner Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, 2004, S. 136): Nicht der als zweiter fahrende Bruder wurde freigesprochen, weil er seinen vorausfahrenden Bruder nicht mitbeleuchtet, sondern der vorausfahrende, weil er einen entgegenkommenden Radfahrer nicht auf seinen hinter ihm fahrenden Bruder aufmerksam gemacht hatte. Richtig zuletzt Exner FG v. Frank, 1930, S. 569, 585. Das Fehlen des Schutzzwecks erscheint hier nicht mehr ganz so einsichtig. Man könnte argumentieren, dass bei einer Radfahrergruppe wenigstens einer, und vor allem der erste, eine Beleuchtung haben muss. 32 Schroeder Blitz (Fn. 3). 33 So Schünemann GA 1999, 207, 220. 34 „Sinnloser Tod“. Wieder anders die Bedeutung bei Roxins Bezeichnung des Verbots von Handlungen, die den Zustand eines Rechtsguts verbessern, als „sinnwidrig“ (Roxin AT I [Fn. 2], § 11 Rn. 53). Hier ist offensichtlich „unvernünftig“ gemeint. So für den Fall eines fremdverschuldeten Todeserfolgs im Straßenverkehr ausdrücklich Roxin FS Maiwald, 2010, S. 715, 722. 35 Roxin AT I (Fn. 2), § 7 Rn. 76.
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Aber die kriminalpolitische Sinnlosigkeit bzw. Sinnhaftigkeit ist zunächst nur eine Formel. Was macht also die Strafdrohung sinnlos? Einige der Argumente sind sehr allgemein und wenig zurechnungsspezifisch. So etwa die These, dass ein Schutz der Rechtsgüter gegenüber ihrem Träger durch das Strafrecht „weder möglich noch sinnvoll“ ist.36 Dass die Tötung des freiwilligen Retters durch die Bestrafung wegen Brandstiftung „abgegolten“ sein soll, beruht eher auf Strafwürdigkeitserwägungen. Unspezifisch ist auch der Vertrauensgrundsatz im Fall des hinzukommenden deliktischen Verhaltens eines Dritten. Dass die Bestrafung einer bloßen Risikoerhöhung „kriminalpolitisch sinnvoll“ sein soll,37 räumt den Einwand einer unzulässigen Ausweitung der Erfolgsdelikte zu Gefährdungsdelikten nicht aus. Weiter stützt Schünemann den Ausschluss der objektiven Zurechnung auf einen fehlenden „generalpräventiven Nutzen“, die fehlende „Einfügbarkeit in einen generalpräventiven Wirkungsmechanismus“, die fehlende Erzwingbarkeit der Einbeziehung ins Kalkül. Das „Fundament“ der Doktrin der objektiven Zurechnung bestehe in der Erkenntnis, dass es der generalpräventive Nutzen sei, der die Belastung des Täters mit dem eingetretenen Erfolg rechtfertige, während ohne einen solchen generalpräventiven Nutzen die Erfolgszurechnung im Strafrecht sinnlos wäre.38 Damit wird aus der personalen Bezweckbarkeit Honigs eine normative Bezweckbarkeit. Diese wird jedoch mit den genannten Thesen zunächst nur behauptet, aber noch nicht begründet. Eine Begründung für die kriminalpolitische Sinnlosigkeit der Bestrafung sieht Schünemann in dem Ablauf des Geschehens „weit außerhalb der Einflusssphäre des Täters“, der fehlenden Beeinflussbarkeit durch den Täter.39 Damit kehrt die normative Bezweckbarkeit zur personalen zurück.
36 37 38 39
Schünemann GA 1999, 207, 222 ff. Schünemann GA 1999, 207, 226. Schünemann GA 1999, 207, 215. Schünemann GA 1999, 207, 214, 215, 223.
Wörtliche Bedeutung und Äußerungsbedeutung von Tatbestandsmerkmalen in ihrer Relevanz für das strafrechtliche Analogieverbot Ulrich Schroth
Bernd Schünemann hat sich in seiner Münchner Habilitationsschrift „Die vier Stufen der Rechtsgewinnung“ mit der Bedeutung der historischen Rechtshermeneutik überaus eindrucksvoll beschäftigt. Die historische Rechtshermeneutik war für ihn eine erste Stufe der Rechtsgewinnung.1 Von ihr aus wollte er auch die Grenzen strafrechtlicher Auslegungsmöglichkeiten bestimmen. Besonders überzeugend ist, dass seine Ausführungen von einer Dreiteilung der Fragestellung getragen sind:2 Die Frage, was historische Auslegung ist, muss von der Frage unterschieden werden, wie historische Auslegung möglich ist, und diese Frage wiederum ist zu differenzieren von der Frage, welche normative Verbindlichkeit den Ergebnissen historischer Rechtshermeneutik zukommt. Ich beginne mit der ersten Frage.
I. Der Gegenstand historischer Hermeneutik Häufig wird die historische Hermeneutik mit dem Argument kritisiert‚ ein willensfähiger Gesetzgeber existiere gar nicht. Daher sei es auch unzulässig, nach einem solchen zu suchen.3 Dieses Argument geht von der Vorstellung aus, dass die historische Hermeneutik (einerseits die genetische, andererseits die subjektive Auslegung) einen psychologischen Willen des Gesetzgebers zu erforschen habe. Bei Bernd Schünemann findet sich klar und deutlich die richtige Aussage, dass eine Ermittlung des historischen Willens des Gesetzgebers nichts mit der „Einfühlung in einen fremdseelischen Sachverhalt“ zu 1 Schünemann Die vier Stufen der Rechtsgewinnung, exemplifiziert am strafprozessualen Revisionsrecht, unveröffentlichtes Manuskript, 1975, S. 95 ff. 2 Siehe Schünemann (Fn. 1), S. 95 ff.; zur Notwendigkeit einer Dreiteilung vgl. auch Schroth Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 82 f. 3 Zur Herkunft des Argumentes vgl. Lukas FG Laband, 1. Bd., 1908, S. 399 ff.; vgl. hierzu Schroth (Fn. 2), S. 78 ff.
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tun habe.4 Vielmehr habe historische Rechtshermeneutik mit der Frage zu tun, auf welchen Regelungsplan sich die Mehrheit der Abgeordneten geeinigt hat, für welchen Regelungsplan sie votiert hat.5 Ich selbst habe mich – analog – dafür ausgesprochen, dass das Verstehensobjekt der rechtshistorischen Hermeneutik nicht der psychische Wille des historischen Gesetzgebers ist, sondern die gesetzgeberische Handlung, die zu einer konkreten Fassung des Gesetzes geführt hat.6 Dies widerspricht nicht der Aussage Bernd Schünemanns, sondern ist mit ihr identisch. In der praktischen Argumentation nehmen die Argumente, die sich auf den Willen des Gesetzgebers stützen, Bezug auf unterschiedliche Momente der gesetzgeberischen Handlung: Sie interpretieren das jeweilige sprachliche Verständnis von Tatbestandsmerkmalen im Gesetzgebungsverfahren; sie erklären Gesetzesnormen über ihre Vorläufer (auch über die Gesetzesentwürfe); sie verstehen die zu interpretierenden Gesetzesnormen aufgrund spezifischer im Gesetzgebungsverfahren virulent gewordener Problemstellungen, auf die mit der konkreten Fassung des Gesetzes eine Antwort zu geben versucht wurde. In Wirklichkeit wird also bei der historischen Hermeneutik die transparent gewordene Handlung eines Gesetzgebers, die zu einem Gesetz geführt hat, verstanden.7 Das Gesetz soll authentisch rekonstruiert werden. Dies soll noch etwas näher expliziert werden. Im Gesetzgebungsverfahren werden Lebenssachverhalte hinsichtlich der geltenden Rechtsnormen und deren Interpretation analysiert. Nur in Ausnahmefällen wird ein bisher nicht geregelter Lebenssachverhalt normiert. Es wird dann die Entscheidung getroffen, ob ein spezifischer Rechtszustand und dessen Interpretation verändert oder beibehalten werden soll. Weiter werden Modelle entwickelt, die jeweils unterschiedliche Eingriffsvorstellungen in einem konkreten Rechtszustand realisieren. Schließlich wird die Entscheidung für ein Gesetz getroffen. Mit dieser Entscheidung für ein Modell ist eine Entscheidung für einen Regelungsplan verbunden.8 Geht man mit Heck davon aus, dass zwischen dem Bestimmungs- und dem Wertungsinhalt einer Norm unterschieden werden muss,9 so wird klar, dass zwei Typen von Eingriffsvorstellungen des Gesetzgebers zu unterscheiden sind und den Bezugspunkt der historischen Hermeneutik darstellen. Einerseits werden Rechtsinhaltsvorstellungen, Vorstellungen, nach welchen Kriterien Normen anzuwenden sind, welche Sach-
4
Schünemann (Fn. 1), S. 101. Schünemann (Fn. 1), S. 102; ähnlich Hecks „kausale Interessenforschung“ – vgl. Heck Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S. 72 ff. 6 Schroth (Fn. 2), S. 55 ff., 83 f. 7 Schroth (Fn. 2), S. 55 ff., 84. 8 Vgl. hierzu Schroth (Fn. 2), S. 84. 9 Heck (Fn. 5), S. 59; vgl. auch Ellscheid in: ders./Hassemer (Hrsg.), Interessenjurisprudenz, 1974, Einleitung, S. 1 ff. 5
Wörtliche Bedeutung und Äußerungsbedeutung von Tatbestandsmerkmalen 269
verhaltsmengen ihnen unterfallen sollen, ermittelt. Zum anderen existieren Vorstellungen zum imperativen Gehalt einer Rechtsnorm.10 Mutmaßliche Bewertungsvorstellungen des Gesetzgebers dokumentieren, welchen Zweck ein Gesetzgeber mit einer Norm verfolgt hat und welche Anwendungskriterien er sich vorgestellt hat. Hier werden die berechtigten „InanspruchnahmeInteressen“ des Staates und die „Schutz-Interessen“ des Bürgers vor Inanspruchnahme des Staates virulent.11 Diese Interessen sind unterschiedlicher Art. Sie können Realfolgen intendieren, sie können aber auch Systemfolgen antizipieren. Geht man – wie hier – davon aus, dass die Handlung des Gesetzgebers Bezugspunkt der historischen Auslegung ist, so setzt dies voraus, dass Normen neben einer „wörtlichen Bedeutung“ noch eine davon verschiedene „Äußerungsbedeutung“ haben.12 Die Äußerungsbedeutung kann dabei nicht unabhängig von einer wörtlichen Bedeutung verstanden werden. Die wörtliche Bedeutung ist – gerade was den Begriffskern angeht – häufig ein Indiz dafür, welche Sachverhalte der Gesetzgeber mit einer konkreten Norm erfasst wissen wollte und welche nicht. Die Äußerungsbedeutung ist jedoch durch zusätzliche Faktoren bestimmt.13 Die Paraphrasierungen in den Gesetzesmaterialien, die Kenntnis des Problems, das der Gesetzgeber lösen wollte, die Diskrepanz zwischen altem und neuem Gesetz, zwischen Gesetzesentwurf und neuem Gesetz können die semantischen Regeln der Norm relativieren und zu neuen Verwendungsregeln der einzelnen Tatbestandsmerkmale drängen.14 Ich komme zur nächsten Frage. Inwiefern ist historische Auslegung möglich?15
II. Die Möglichkeit historischer Rechtshermeneutik Von einem Willen des Gesetzgebers kann insoweit sinnvoll gesprochen werden, als sich den Gesetzesmaterialien ein gemeinsames Verständnis im Hinblick auf ein zu lösendes Rechtsproblem entnehmen lässt. Allgemeine Interpretationsregeln für die Gesetzesmaterialien sind nicht evident. Einigen
10
Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 85. Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 85. 12 Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 85. 13 Vgl. zur Unterscheidung von wörtlicher Bedeutung und Äußerungsbedeutung auch Bierwisch in: Grewendorf (Hrsg.), Sprechakttheorie und Semantik, 1979, S. 119 ff. 14 Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 85. 15 Die hermeneutische Tradition hat die Möglichkeit der hinreichenden Rekonstruierbarkeit aus der Sicht des Autors bestritten. Aus Platzmangelgründen kann hierzu nicht weiter Stellung genommen werden. Siehe insoweit bezüglich Gadamer Schroth in: Gabriel/ Gröschner (Hrsg.), Subsumtion. Schlüsselbegriff der Juristischen Methodenlehre, 2012, S. 129 ff. 11
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kann man sich aber wohl darauf, dass diese vollständig genutzt werden müssen. Die Ausführungen von Ministerialräten alleine sind zur Begründung eines Willens des Gesetzgebers nicht hinreichend. Ausschlaggebend sind amtliche Begründungen, von denen zu vermuten ist, dass die Abgeordneten sie kannten. Darlegungen, die lediglich den Sinn hatten, Abgeordnete zur Zustimmung zu überreden, sollten unbeachtet bleiben. Falls sich nicht erkennen lässt, inwieweit gesetzgeberische Motivierungen irgendetwas mit einem konkreten Gesetz zu tun haben, sollten diese auch nicht zur Begründung eines gesetzgeberischen Willens verwendet werden. Es muss sich zumindest ein Bemühen des Gesetzgebers feststellen lassen, Bewertungen in einen imperativen Gehalt umzusetzen. Auf eine weitere Verstehensmöglichkeit hat Bernd Schünemann hingewiesen. Der Begriffskern, der Tatbestandsmerkmalen zukommt, bezogen auf den damaligen Sprachgebrauch, lässt ebenfalls ein Handlungsverständnis des Gesetzgebers erkennen.16 Auch ein konsensfähiges Kontextverständnis einer Rechtsnorm vermag einen Willen des historischen Gesetzgebers zu begründen.17 Ein Beispiel: In § 259 StGB ist formuliert, „Wer eine Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, ankauft […], wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. In Literatur und Rechtsprechung wird hieraus überwiegend die Konsequenz gezogen, dass die Sache „unmittelbar“ aus der Vortat erlangt sein muss.18 Krey argumentiert nun, nur wenn eine Sache als identische Sache aus dem Diebstahl stammt, könne behauptet werden, sie sei gestohlen. Verlangt aber das Tatbestandsmerkmal ‚gestohlen‘ die Unmittelbarkeit, so kann für das Merkmal ‚oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat‘ nichts anderes gelten.19 Derartige Argumentationsweisen begründen einen „Plan“ des Gesetzgebers. Ein Gesetzgeber, der einen derartigen Kontext gesetzt hat, ist eben in dem Sinne zu verstehen, dass er verlangt, die Sache müsse unmittelbar aus der Vortat stammen. Die einen konkreten Begriff umgebenen Zeichen wirken sich nämlich nicht „an sich“ auf dessen Bedeutung aus, sondern nur insofern, als der Interpret davon ausgeht, dass sich der Autor bei der „In-KontextSetzung“ etwas gedacht hat.20
16
Schünemann (Fn. 1), S. 113. Vgl. hierzu Schroth (Fn. 2), S. 86. 18 Vgl. Leipziger Kommentar StGB/Walter, 12. Aufl. 2010, § 259 Rn. 29 sowie Schönke/Schröder/Stree/Hecker StGB, 28. Aufl. 2010, § 259 Rn. 12 jeweils m.w.N. 19 Krey Strafrecht BT II, 4. Auflage, 1980, § 15. 20 Schroth (Fn. 2), S. 87. 17
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Eine andere Möglichkeit, einen Willen des historischen Gesetzgebers zu begründen, besteht darin, die geltende Fassung eines Gesetzes über ihre Normvorläufer zu erklären. Manchmal wird dies auch als genetische Auslegung bezeichnet. Es wird dabei nicht nur die Diskrepanz von altem und neuem Gesetz erklärt, sondern auch die Diskrepanz zu den Norm-Entwurfsvorläufern. Soweit sich hierbei konsensfähige auslegungsrelevante Aussagen treffen lassen, kann ebenfalls von einem Ergebnis des hermeneutischen Textverständnisses gesprochen werden.21 Wir verstehen die Äußerungsbedeutung eines Tatbestandsmerkmals, wenn wir verstehen, dass ein Gesetzgeber „G“ zum Zeitpunkt „T“ mit einer Gesetzesänderung „A“ einen Zustand „R“ herbeiführen wollte, und dass „G“ sich zum Zeitpunkt „T“ in einer Entscheidungssituation „S“ befand und „A“ für Gesetzgeber „G“ eine Lösung des Entscheidungsproblems „S“ darstellt.22 Mit dieser Charakterisierung soll gesagt sein, dass sich nur dann sinnvoll von einem fundierten Äußerungsverständnis reden lässt, wenn sich die Handlung des Gesetzgebers aus dessen eigener Sicht als Lösung eines von ihm definierten Entscheidungsproblems auffassen lässt. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Mit der Neufassung des Hehlereitatbestandes wollte der Gesetzgeber einerseits „Teilnahmetheorien“ zur Hehlerei ausschließen und sich der Auffassung anschließen, dass der Zweck der Hehlerei darin besteht, die Perpetuierung eines rechtswidrigen Zustands zu verhindern.23 Andererseits sollte durch die Formulierung der Hehlhandlung „sich oder einem anderen verschafft“ in § 259 StGB klargestellt werden, dass auch die Begründung fremder Verfügungsmacht eine Hehlhandlung im Sinne von § 259 StGB darstellt.24 Inwieweit sind nun die Ergebnisse historischer Hermeneutik verbindlich?
III. Das klassische Verständnis des Analogieverbots Koch und andere haben den Versuch unternommen, das Gesetzesbindungspostulat mit sprachanalytischen Überlegungen zu präzisieren. Sie gehen davon aus, dass das Gesetzesbindungspostulat mit Hilfe der semantischen Bedeutung des Normtextes bestimmt werden muss. Zunächst zu den sprachanalytischen Vorüberlegungen: Nach Auffassung der realistischen Semantik, von der Koch ausgeht, muss zwischen der „Intension“ und der „Extension“ von Begriffen unterschieden
21 22 23 24
Schroth (Fn. 2), S. 87; vgl. bspw. BGHSt 9, 385 ff. Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 88. vgl. LK/Walter (Fn. 18), § 259 Rn. 1 m.w.N. Hierzu auch Schroth (Fn. 2), S. 84.
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werden.25 Unter Intension sind die Anwendungsregeln eines Begriffes zu verstehen. Unter der Extension eines Begriffes versteht Koch die Klasse der Gegenstände und die Klasse der Sachverhalte, für die ein Begriff steht.26 Aus der Kenntnis der Extension eines Begriffes lässt sich nicht (ohne Weiteres) auf dessen Intension schließen. Allerdings markieren Intensionen die Klasse der Gegenstände und Sachverhalte, für die ein Begriff steht. Durch die Intension wird die Extension festgelegt. Intensionen sind durch die Beschreibung eines tatsächlichen Sprachgebrauchs zu ermitteln. Außerdem beziehen sie sich auf Gegenstände und Sachverhalte. Intensionen sind nur dann eindeutig, wenn sie in allen Fällen der Anwendung eines Begriffes über das Zutreffen oder das Nichtzutreffen dieses Begriffes auf bestimmte Gegenstände und Sachverhalte eine Entscheidung ermöglichen.27 Koch geht nun davon aus, dass bei vielen Begriffen des Gesetzes Vagheit gegeben ist. Bei vagen Begriffen kann sicher hinsichtlich einiger Gegenstände klar entschieden werden, dass der Ausdruck auf sie anwendbar ist (positive Kandidaten); bei einigen Sachverhalten kann zweifelsfrei festgestellt werden, dass sie nicht unter den Begriff fallen (negative Kandidaten). Bei manchen Sachverhalten kann jedoch über die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit eines Begriffes keine Entscheidung gefällt werden (neutrale Kandidaten).28 Von der Vagheit unterscheidet Koch die Porosität von Begriffen. Eine Porosität von Begriffen besteht insoweit, als unsere Erfahrungswelt nicht abgeschlossen ist. Hinsichtlich spezifischer Entdeckungen und neuer Erfahrungen kann sich ein Ausdruck als unabgeschlossen herausstellen. Eine Vagheit von Begriffen besteht dann, wenn es neutrale Kandidaten hinsichtlich bekannter Phänomene gibt, Porosität bezeichnet „potentielle Vagheit“29. Bernd Schünemann hat die Porosität am Beispiel des Forstdiebstahls mittels eines Fuhrwerks dargestellt: „Nach dem Zweck der Qualifikation, die Taten mit quantitativ größerer Rechtsgutsbedrohung (Diebstahl größerer Mengen) und schwerer Bekämpfbarkeit wegen höherer krimineller Energie (schnellerer Abtransport) mit strengerer Strafe zu bedrohen, bestand und besteht die Intension in der Nutzung einer von Menschenhand geschaffenen Vorrichtung zum beschleunigten Abtransport größerer Beutemengen.“30
25 Koch in: ders. (Hrsg), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, Einleitung, S. 35 ff.; vgl. zur realistischen Semantik auch Carnap Bedeutung und Notwendigkeit, 1972, S. 25 f. 26 Koch (Fn. 25), S. 35 ff. 27 Vgl. hierzu auch Schroth (Fn. 2), S. 95. 28 Dazu ausführlich Koch (Fn. 25), S. 43 ff.; Körner Erfahrung und Theorie, 1970, S. 44 f. 29 Koch (Fn. 25), S. 45. 30 Schünemann FS Puppe, 2011, S. 243, 250.
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Dass damit – so Bernd Schünemann – „zur Extension auch Kraftfahrzeuge gehören, konnte aber vor 1885 in der Anschauung des Gesetzgebers noch nicht präsent sein. Dass diese nach ihrer Erfindung von der Rechtsprechung unter den Begriff des ‚Fuhrwerks‘ subsumiert werden, fällt dann in eine geradezu sachlogisch notwendige Kompetenz der Rechtsprechung, weil allein sie das sprachlich unvermeidbare Phänomen der Porosität bewältigen kann und eine Fixierung der Gesetzesanwendung auf die bei Gesetzeserlass existierende Extension geradezu zu einer Paralysierung des Rechts in der sich rasant entwickelnden postmodernen Gesellschaft und sich dadurch selbst als absurdum führen würde.“31 Gesetzesbindung lässt sich nun dahingehend verstehen: Dass eine Entscheidung aus dem Gesetz folgen soll, heißt, dass ein Gesetz nur dann angewendet werden darf, wenn die Sachverhalte als positive Kandidaten des Gesetzes klassifiziert werden können. Neutrale und negative Kandidaten dürfen nicht unter den Normtext subsumiert werden.32 Weiter lässt sich formulieren, dass die Aussage, eine Entscheidung sollte im Einklang mit dem semantischen Gehalt einer Vorschrift stehen, bedeutet, dass im Hinblick auf positive Kandidaten eine Entscheidung dahingehend zu treffen ist, diese unter den Gesetzestext zu subsumieren, aber bei neutralen Kandidaten der Richter frei ist in seiner Entscheidung, ob er sie unter den Gesetzestext subsumiert oder nicht. Negative Kandidaten dürfen dagegen nicht unter den Normtext subsumiert werden.33 Im Endeffekt liegt letzteres Verständnis der Gesetzesbindung dem Verständnis des Analogieverbotes in der Rechtsprechung und nach der herrschenden Meinung im Schrifttum zugrunde. Wenn eindeutig ist, dass ein Sachverhalt negativer Kandidat hinsichtlich eines spezifischen Tatbestandsmerkmals ist, das für die Strafbegründung erforderlich ist, dann ist die Wortlautgrenze erreicht und dieser Sachverhalt darf nicht mehr unter den Gesetzestext subsumiert werden. Auslegung endet am möglichen – natürlichen, gegenwärtigen – Wortsinn. Die Unterscheidung von positiven, negativen und neutralen Kandidaten bei der Gesetzesanwendung besticht durch ihre theoretische Prägnanz; sie wäre jedoch nur dann präzise, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die neutralen Kandidaten von den negativen Kandidaten abzugrenzen.34 Häufig ist jedoch unklar, ob es noch möglich ist, einen Sachverhalt unter ein Tatbestandsmerkmal zu subsumieren, oder ob der Sachverhalt ein negativer Kandidat ist. Vielfach ist die Unterscheidung, ob ein Sachverhalt im Verhältnis zu einem Tatbestandsmerkmal als negativer oder neutraler Kandidat anzusehen ist, unklar. 31 32 33 34
Schünemann (Fn. 30), S. 243, 250. Koch (Fn. 25), S. 58; vgl. hierzu Schroth (Fn. 2), S. 96. Koch (Fn. 25), S. 58. Vgl. hierzu auch Schroth (Fn. 2), S. 97 f.
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Bei der Feststellung negativer Kandidaten alleine auf die „Lehnstuhlmethode“ zu verweisen, genügt sicherlich nicht.35 Mit Lehnstuhlmethode werden solche Verfahren karikiert, in denen der Einzelne sich zurücklehnt und nachdenkt und dabei glaubt, empirisch vorfindbare Sprachregeln herauszufinden.36 Die Unterscheidung von positiven, negativen und neutralen Kandidaten bei Tatbestandsmerkmalen trägt auch der pragmatischen Funktion mancher dieser Begriffe nicht Rechnung. Wittgenstein expliziert diese Problematik, indem er die Frage nach dem Begriff des „kleinsten Haufens“ stellt.37 Die Frage nach dem „kleinsten Haufen“, den man noch so nennt, ist unsinnig; dies deshalb, da die Verwendungsregeln des Begriffes „Haufen“ es nur zulassen, eine vorläufige obere oder untere Grenze zu bestimmen.38 Völlig offen und nicht klärbar ist, ab dem wievielten Sandkorn ein „Haufen“ entsteht. Im Strafrecht tritt die Frage dann auf, wenn man sich beispielsweise bemüht, die geringsten Anforderungen dafür zu bestimmen, dass man noch von einer „pornographischen Schrift“ sprechen kann.39 Dies bleibt unklar. Bei dem Gebrauch des Begriffes „pornographische Schrift“ kann nur vorläufig demonstriert werden, was noch eine pornographische Schrift ist und was nicht mehr. Man kann auch demonstrieren, wann keine pornographische Schrift mehr vorliegt. Es lässt sich aber nicht präzise aussagen, wann gerade noch von einer solchen ausgegangen werden kann. Das Gleiche gilt, wenn man im Betäubungsmittelrecht etwa Begriffe wie „nicht geringe Menge“ zu bestimmen versucht. Die natürliche Wortlautgrenze spielt im Strafrecht zu Recht bei der Begrenzung strafrechtlicher Auslegung über das Analogieverbot eine zentrale Rolle.40 Der normative Grund für eine derartige Grenzziehung ist, dass Bürger dann nicht mehr in Anspruch genommen werden dürfen, wenn sich aus dem natürlichen Wortsinn die Strafbarkeit eines Verhaltens nicht einmal erahnen lässt. Der Bürger muss für sich geltend machen können, dass jedenfalls potentiell die Möglichkeit existiert, sich am natürlichen Wortsinn zu orientieren. Dass auch die Rechtsprechung der Wortlautgrenze eine zentrale Rolle beimisst, zeigen einige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in aller Deutlichkeit. Beispielsweise wurde der Verzicht auf das Gewahrsamserfor-
35
Vgl. dazu ausführlich Neumann Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1978, S. 71 ff. 36 Vgl. hierzu auch Schroth (Fn. 2), S. 97 f. 37 Vgl. dazu Wittgenstein Philosophische Grammatik, 1960, Anhang, Teil 1, § 2. 38 Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 96 f. 39 Vgl. Schroth (Fn. 2), S. 97. 40 Zu Analogieverbot und Wortlautgrenze vgl. ausführlich Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 26 sowie Nomos Kommentar StGB/Hassemer/Kargl, 4. Aufl. 2013, § 1 Rn. 70 ff., jew. m. zahlr. w. N.
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dernis in § 246 StGB a.F. zu Recht als Analogieverstoß gewertet.41 Auch die Rechtsprechung, die das Starten eines Motors nicht als Führen eines Fahrzeugs ansieht, da dies ein Verstoß gegen das Analogieverbot wäre, ist überzeugend.42 Zu Recht wurde es auch als Verstoß gegen die Wortlautgrenze angesehen, wenn bereits zwei Personen als eine Vereinigung im Sinne des § 129 StGB gewertet werden.43 Dass die Wortlautgrenze keine sehr widerstandsfähige Grenze ist, zeigt sich jedoch an zahlreichen semantikfernen Gesetzesauslegungen, die sich in der deutschen Rechtsprechung finden lassen und die kaum mit dem natürlichen Sprachgebrauch kompatibel sind.44 So hat der Bundesgerichtshof etwa verdünnte Salzsäure als Waffe angesehen,45 das Verunstalten als Beschädigen interpretiert46 und bereits bei Vereitelung für geraume Zeit (14 Tage) den Strafvereitelungserfolg bejaht.47 Betroffenwerden auf frischer Tat im Sinne von § 252 StGB wurde auch dann angenommen, wenn der Dieb das Bemerktwerden gewaltsam verhindert.48 Als Leistungserschleichung wurde jegliches Schwarzfahren gewertet, auch wenn es ohne Umgehung von Sicherungseinrichtungen geschieht.49 Dabei ist nicht plausibel, wieso, wenn man sich ganz normal im U-Bahn-Bereich bewegt, dies semantisch als Erschleichen begriffen werden kann. Bei diesen aufgeführten semantikfernen Interpretationen bestimmt ein vom Auslegenden festgelegter Telos den Wortsinn. Der natürliche Sprachgebrauch bleibt auf der Strecke. Die Beispiele zeigen jedenfalls, dass die Wortlautgrenze in der Praxis der Rechtsanwendung eine schwache Grenze ist und nur teilweise dem Vertrauensschutz hinreichend Rechnung trägt. Dies ist aber kein Grund, die Wortlautgrenze als untaugliches Mittel zur Begrenzung strafrechtlicher Rechtsanwendung anzusehen. Sie sollte vielmehr immer wieder eingefordert werden. Man muss sich jedoch ihrer strukturellen Schwäche bewusst sein. Ihre Schwäche liegt nämlich darin, dass jede innovative Auslegung insoweit analog verfährt, als sie ein tertium comparationis benötigt. Beschäftigt man sich mit der Frage, ob das Stechen mit einem spitzen Bleistift in das Gesicht eines Opfers eine gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist, so muss man sich überlegen, ob eine derartige Körperverletzung unter dem Gesichts-
41
BGHSt 2, 319. BGHSt 35, 39 zu § 316 StGB. 43 BGHSt 35, 390. 44 Zahlreiche weitere Beispiele semantikferner Auslegung finden sich auch bei NK/Hassemer/Kargl (Fn. 40), § 1 Rn. 92; Leipziger Kommentar StGB/Dannecker, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 278 sowie Roxin (Fn. 40), § 5 Rn. 29 und 34 jew. m.w.N. 45 BGHSt 1, 1. 46 BGHSt 41, 55. 47 BGH wistra 1995, 143. 48 BGHSt 26, 95. 49 BGHSt 53, 122; vgl. hierzu auch BVerfG NJW 1998, 1135. 42
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punkt der Gefährlichkeit mit der Körperverletzung etwa mit einem Stilett vergleichbar ist. Man benötigt Vergleichsfälle und man benötigt ein tertium comparationis genauso wie bei der Schließung offener Gesetzeslücken.50 Da jede innovative Auslegung ähnlich wie Lückenfüllung analog verfährt, ist die Anwendung auch immer eine Neufestsetzung von Anwendungsregeln von Tatbestandsmerkmalen.51 Dies birgt die Gefahr, dass die Vertrauensschutzperspektive verloren geht. Eine strafrechtliche Grenzziehung dahingehend, dass der natürliche, gegenwärtige Wortlaut nicht überschritten werden darf, ist selbst ein Verbot, das sich einer exakten Grenzziehung entzieht.
IV. Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers und das Analogieverbot Das Analogieverbot hat nicht nur die Funktion Vertrauensschutz zu gewährleisten, sondern auch die Aufgabe sicherzustellen, dass der Gesetzgeber bestimmt, welches Verhalten als strafbar und welches nicht mehr als strafbar anzusehen ist. Es ist damit auch Ausfluss des Demokratieprinzips.52 Wie lässt sich nun die Authentizität der gesetzgeberischen Entscheidung sicherstellen und wie lassen sich hieraus Grenzkriterien entwickeln? Von Kaufmann wurde vorgeschlagen, den Unrechtstypus als Abgrenzungskriterium für zulässige und nicht mehr zulässige Rechtsanwendung heranzuziehen.53 Gegen dieses Kriterium hat sich Hassemer gewandt.54 Der Unrechtstypus, so seine Auffassung, konstituiere sich erst im Prozess der Rechtsanwendung. Damit könne er aber kein Kriterium zur Unterscheidung von zulässiger und unzulässiger Rechtsanwendung sein. Meines Erachtens ist dieses Argument dann nicht durchschlagend, wenn man mit Hilfe der historischen Hermeneutik einen Unrechtstypus herausfiltern kann. Der Unrechtstypus, der sich mit Hilfe historischer Hermeneutik herausfinden lässt, ist dann der Kern der Entscheidung des Gesetzgebers, den der Rechtsanwendende auch im Rahmen des Analogieverbots zu beachten hat. Mit historischer Auslegung wird insoweit die Authentizität der Entscheidung des Gesetzgebers gewahrt.
50 Hierzu auch LK/Dannecker (Fn. 44), § 1 Rn. 247 sowie ausführlich Kaufmann Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl. 1982, S. 37 ff. m.w.N. 51 Zur notwendigen Abgrenzung von verbotener Analogie und Auslegung siehe ausführlich LK/Dannecker (Fn. 44), § 1 Rn. 248 ff. m. zahlr. w. N. 52 So auch LK/Dannecker (Fn. 44), § 1 Rn. 242; vgl. außerdem Roxin (Fn. 40), § 5 Rn. 30. 53 Kaufmann Rechtsphilosophie im Wandel, 1972, S. 67. 54 Hassemer Tatbestand und Typus, 1968, S. 162.
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Bernd Schünemann spricht hier nicht vom Unrechtstypus, sondern vom gesetzgeberischen Regelungsplan,55 der – falls er erkennbar ist (vgl. die erste Stufe seiner Auslegung)56 – die richtige Interpretation begrenzt. Im Endeffekt dürfte damit dasselbe gemeint sein. Diese Auslegungsgrenze zeigte sich unter anderem in der berühmten Entscheidung des Reichsgerichtshofs zum Elektrizitätsdiebstahl. Nicht der Wortlaut – wie immer wieder behauptet wird – bildete hier die eigentliche Grenze der Auslegung des § 242 StGB, sondern der Unrechtstypus bzw. der gesetzliche Regelungsplan des Diebstahls. Meines Erachtens ist die richtige Entscheidung gerade deshalb sehr überzeugend. Das Reichsgericht hat dargetan, dass die Entziehung von Elektrizität nicht unter den Tatbestand des § 242 StGB fallen dürfe, da dies nicht der gesetzgeberischen Bewertung entspräche.57 Es begründet dies damit, dass Elektrizität keine körperliche Sache sei, die Körperlichkeit aber wegen des Zusammenhangs des Tatbestandsmerkmals „Sache“ mit der Tathandlung „Wegnahme“ notwendig sei. Weiter argumentiert es, dass an Elektrizität im eigentlichen Sinne kein Eigentum bestehen könne. Diebstahl, so wird fortgefahren, bezwecke aber den Eigentumsschutz. Als letztes Argument führt das Reichsgericht schließlich an, dass man, wenn man für den Diebstahl nicht mehr die „Körperlichkeit“ von Sachen verlangen würde, auch nicht bei der Entziehung von Strom stehen bleiben dürfe. Auch andere Energien – möglicherweise sogar die Arbeitskraft – müssten dann „stehlbar“ sein.58 Dies zeigt, dass der Unrechtstypus, den der Gesetzgeber vorgezeichnet hat, überschritten gewesen wäre, wenn man die Entziehung von Elektrizität als Diebstahl begriffen hätte. Die Überschreitung der Wortlautgrenze des Begriffes „Sache“ begründet insoweit nur sehr unvollständig die Verletzung des Analogieverbots. Die Verletzung des Analogieverbots ergibt sich aus der Tatsache, dass der historische Unrechtstypus des Diebstahls verletzt wäre, wenn und soweit man Elektrizitätswegnahme unter § 242 StGB subsumieren würde und damit als Diebstahl auffassen würde.59 Auch die immer noch aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 142 Abs. 2 StGB, die die Annahme einer Feststellungspflicht bei unvorsätzlichem Wegfahren als Verstoß gegen das Analogieverbot ansieht,60 legitimiert sich meines Erachtens zentral daraus, dass diese Rechtsprechung
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Schünemann (Fn. 1), S. 102. Schünemann (Fn. 1), S. 95 ff. 57 Vgl. hierzu RGSt 32, 165, insbes. S. 178 ff.; vgl. zum Ganzen auch Schroth (Fn. 2), S. 116. 58 Vgl. hierzu RGSt 32, 165, insbes. S. 108 ff. 59 Seit Einführung des § 248c StGB ergibt sich im Umkehrschluss auch aus dieser Regelung, dass „Stromdiebstahl“ kein Diebstahl ist. 60 BVerfG NJW 2007, 1666 ff. 56
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dem historischen Unrechtstypus, dem Regelungsplan des Gesetzgebers nicht gerecht wird. Die Frage ist hier, ob ein Autofahrer, der einen von ihm verursachten Unfall nicht bemerkt hat, wegen Verkehrsunfallflucht bestraft werden kann. Lange wurde von der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, ein solcher Autofahrer entferne sich berechtigt oder entschuldigt und verletze deshalb die strafbewehrte Verpflichtung, die Unfallfeststellung zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht hat gegen die, auch vom Bundesgerichtshof akzeptierte, Rechtsprechung geltend gemacht, dass hier der Wortlaut überschritten sei. Dies ist jedoch nicht überzeugend, da man in der Tat umgangssprachlich den Bergiff des „Entschuldigtseins“ auch im Sinne von „Erlaubtsein“ verstehen kann. Auch kann man den Begriff des „Berechtigtseins“ im Sinne von „begreiflich“, „begründet“ interpretieren. Gleichwohl ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Analogieverbot verletzt sei, richtig. Den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber in allen Fällen des straflosen „Sichentfernens“ nach einem Unfall von einer unverzüglichen Feststellungspflicht ausgehen wollte. Dem Gesetzgeber kam es darauf an, „auch nachträgliche Feststellungen zu ermöglichen, wenn sich ein Beteiligter ausnahmsweise vom Unfallort entfernen durfte.“61 Der Gesetzgeber begründete dies damit, dass von dem Unfallbeteiligten ein gewisses Maß an Mitwirkung gefordert werden könne, wenn ihm die Rechtsordnung das Sichentfernen ermöglicht hat.62 Eine Erlaubnis, sich in einem Ausnahmefall von einem Unfallort zu entfernen, ist nicht vergleichbar mit einem Sichentfernen von einem Unfallort, da man einfach den Unfall nicht bemerkt hat und sich die Fortbewegung auf das allgemeine Freiheitsrecht stützt. Auch die Tatsache, dass sich der historische Gesetzgeber bei den Beratungen zur Vorfassung des § 142 StGB mit der Reichweite der Begriffe „berechtigt“ und „entschuldigt“ und deren Abgrenzung zu Fällen vorsatzlosen Sichentfernens beschäftigt hat,63 spricht gegen eine Rechtsprechung, die bei jedem nicht vorsätzlichen Sichentfernen vom Unfallort eine Verpflichtung zur unverzüglichen Ermöglichung der nachträglichen Feststellungen annimmt. Die Rechtsprechung, die jegliches strafloses Sichentfernen unter § 142 Abs. 2 StGB fassen wollte, kann sich auch nicht auf das hinter § 142 StGB stehende Rechtsgut berufen. Die Notwendigkeit der Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche der Unfallbeteiligten erlaubt es nicht, einen Tatbestand über den feststellbaren Regelungsplan hinaus zu entgrenzen. Der Gesetzgeber hat nicht nur das Recht zu entscheiden, ob er ein bestimmtes
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BT-Drucks. 7 / 2434, S. 1. Hervorhebung durch den Verfasser. BT-Drucks. 7 / 2423, S. 8. 63 Vgl. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 5, 1958, S. 295. 62
Wörtliche Bedeutung und Äußerungsbedeutung von Tatbestandsmerkmalen 279
Rechtsgut mit Strafe absichern will; er hat auch die alleinige Kompetenz zu entscheiden, in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit strafrechtlichen Sanktionen geschützt werden soll. Strafgerichten ist es verwehrt, Entscheidungen des Gesetzgebers zum Umfang des Schutzes eines bestimmten Rechtsguts zu Lasten von Angeklagten zu korrigieren. Richter haben bei Regelungslücken, die der Gesetzgeber gesetzt hat und die sie für unangemessen halten, keine kriminalpolitische Korrekturkompetenz.64 Die Sicherung der nachträglichen Feststellungspflicht mit Mitteln des Strafrechts wurde vom Gesetzgeber nur gewollt, wenn sich ein Beteiligter ausnahmsweise vom Unfallort entfernen durfte. Damit sind nur die Konstellationen von § 142 Abs. 2 StGB erfasst, in denen sich der Unfallbeteiligte, der den Unfall gesehen hat, auf einen Rechtfertigungsgrund oder einen Entschuldigungsgrund berufen konnte. In diesen Fällen kann von dem Unfallbeteiligten ein gewisses Maß an Mitwirkung gefordert werden. Diese Entscheidung des Gesetzgebers hat der Rechtsanwendende hinzunehmen. Zutreffend wird im wissenschaftlichen Schrifttum auch darauf hingewiesen, dass anderenfalls derjenige, der erst nachträglich durch Dritte von seiner Unfallbeteiligung erfährt, ihn selbst belastende Handlungen vornehmen müsse, deren Gebotenheit und Reichweite er nicht überblicken kann.65 Das unvorsätzliche Sichentfernen von der Unfallstelle ist damit von § 142 Abs. 2 StGB nicht erfasst. Es kann hieraus keine strafbewehrte Verpflichtung abgeleitet werden, sich unverzüglich als Unfallbeteiligter zu erkennen zu geben. Eine gegenteilige Annahme verstößt gegen das Analogieverbot. Es ist erstaunlich, dass erst das Bundesverfassungsgericht einen derartigen Verstoß feststellen musste. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Auslegung gegen das Analogieverbot verstößt, wenn die Subsumtion des Sachverhalts unter ein Tatbestandsmerkmal gegen natürliche Sprachregeln verstößt, der Sachverhalt negativer Kandidat des Tatbestandsmerkmals ist. Weiter verstößt eine Auslegung gegen das Analogieverbot, wenn sie gegen den Unrechtstypus bzw. Regelungsplan der Entscheidung des historischen Gesetzgebers, so wie er sich als Ergebnis historisch hermeneutischer Überlegungen ergibt, verstößt.66
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So sinngemäß u.a. auch LK/Dannecker (Fn. 44), § 1 Rn. 242. Hierzu Küper FS der Juristischen Fakultät zur 600-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 451, 471 f. 66 Eine weitere Entscheidung bei der der Unrechtstypus die Grenze darstellt, die das Bundesverfassungsgericht deutlich herausgearbeitet hat, ist die Entscheidung, dass die Ankündigung eines Verbrechens gegen eine lediglich in der Vorstellung des Drohenden vorhandene „nahestehende Person“ des Bedrohten den Tatbestand des § 241 nicht erfüllt (BVerfG NJW 95, 2776). Nimmt man an, dass auch eine nur in der Vorstellung des Drohenden vorhandenen Personen den Tatbestand des § 241 erfüllt, so überscheitet man die Grenzen der Auslegung eindeutig. 65
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Das bedeutet, ein Auslegungsergebnis muss kompatibel sein mit den Begrenzungskriterien, die sich im Kontext historischer Hermeneutik klar feststellen lassen. Die Begrenzung über den natürlichen Wortlaut und den historischen Unrechtstypus bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch rechtsschöpferische Rechtsanwendungstätigkeit möglich und rechtlich zulässig ist.67 Allerdings müssen die vom Gesetzgeber gesetzten Begrenzungskriterien beachtet werden.
67 Vgl. zur Frage der richterlichen Kompetenz zur schöpferischen Rechtsfindung Schünemann (Fn. 30), S. 244 ff.
Das Extra-Legal Measures Model of Emergency Powers von Gross: Eine neue Antwort auf die Herausforderung des Rechts in extremen Konfliktsituationen? Petra Wittig I. Einführung Das Recht muss in extreme Konfliktsituationen geratenden Personen inhaltliche Maßstäbe anbieten und darf sich nicht darauf beschränken, den Extremfall zu leugnen. Diese eindringliche Mahnung von Bernd Schünemann 1 betrifft Konstellationen, in denen die Repräsentanten eines demokratischen Rechtsstaats gezwungen sind, eine Entscheidung zu treffen, um außergewöhnliche Bedrohungen vom Staat und seinen Bürgern entweder in ihrer Gesamtheit oder als Individuen abzuwenden; eine Entscheidung, die sie aber, wenn nicht eine rechtliche Lösung gefunden wird, außerhalb des Rechts stellt. Es handelt sich um Fälle, in denen man in den Worten von Luhmann „nur alles falsch machen kann“, um Fälle einer tragischen Wahl („tragic choice“).2 Die Verantwortung wird somit dem Einzelnen aufgebürdet, der auch die Konsequenzen zu tragen hat, während die Allgemeinheit aus einer solchen Entscheidung Nutzen zieht. Ein Kristallisationspunkt der Debatte ist die alte Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit der Folter oder deren Androhung in extremen Konfliktsituationen.3 Dabei geht es zunächst um einmalige Grenzsituationen, wie die Androhung von Folter im Entführungsfall von Metzler durch den Polizei-
1 Schünemann GA 2007, 644, 646 in einer Anmerkung zu der Abhandlung von Greco GA 2007, 628 zur Zulässigkeit von Folter oder deren Androhung in den ticking time-bomb Konstellationen. 2 So Luhmann Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, S. 2 unter Bezug auf die Sprache der Ökonomen (Calabresi/Bobitt Tragic Choices, New York 1978). Ähnlich Dershovitz, für den es darum geht, „how a democracy should make difficult choice-of-evil decisions in situations for which there is no good resolution“ (Dershovitz in: Levinson [Hrsg.], Torture, Oxford u.a. 2004, S. 257, 258). 3 S. hierzu nur Greco GA 2007, 628; Jäger FS Herzberg, 2008, S. 539; Luhmann (Fn. 2); Merkel FS Jakobs, 2007, S. 375; Jerouschek/Kölbel JZ 2003, 613; Reemtsma Folter im Rechtsstaat?, 2012.
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beamten Daschner 4 und die bisher hypothetischen sog. ticking time-bomb Konstellationen, in denen zur Rettung von Menschenleben der Verantwortliche mit verbotenen Vernehmungsmethoden zum Reden gebracht wird. Zur Diskussion steht darüber hinaus, wie ein demokratischer Rechtsstaat auf außergewöhnliche Bedrohungen und Krisen reagieren darf und soll: Ob er kontrafaktisch an den (verfassungs-)rechtlichen Regelungen, die er sich selbst auch für Ausnahmesituationen gegeben hat, festhalten sollte oder sich nicht vielmehr, gerade auch um den freiheitlichen Rechtsstaat zu bewahren, den äußeren Gegebenheiten anpassen darf oder sogar muss. Es geht damit um nichts weniger als die Rechtstaatlichkeit („rule of law“5). In den Vereinigten Staaten (aber nicht nur dort) steht nach dem 11. September 2001 vor allem die rechtliche Beurteilung rechtsstaatlich höchst problematischer staatlicher Maßnahmen (von denen die Folter nur eine ist) in einer tatsächlichen oder vermeintlichen Ausnahmesituation („state of emergency“)6 bzw. in einem „Krieg gegen den Terrorismus“ („war on terrorism“) im Mittelpunkt der Diskussion. Hierfür steht paradigmatisch das Gefangenenlager in Guantanamo7 oder auch der NSA-Skandal.8 Die Antwort auf die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit von Folter in Ausnahmesituationen hat also weitreichende Konsequenzen auch für die rechtlichen Grenzen jedes anderen staatlichen Handelns in solchen Situationen. An der Ausnahmesituation wiederum bewährt sich oder scheitert der Rechtsstaat. Auch wenn man den dezisionistischen Ansatz von Carl Schmitt nicht teilt, so trifft seine Feststellung zu: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, sondern die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme“.9 Im Folgenden möchte ich mich kritisch mit dem sog. Extra-Legal Measures Model befassen, das der an der Universität von Minnesota lehrende, aus Israel stammende Rechtswissenschaftler Oren Gross für gerade diese Aus4
Vgl. unten IV. Die Idee der „rule of law“ hat in England seit der magna charta eine lange historische Tradition und wird hier mit Rechtsstaatlichkeit übersetzt (hierzu Tamanaha On the rule of law. History, Politics, Theory, Cambridge 2004, S. 15 f.). 6 Im Folgenden werden solche außergewöhnlichen Situationen als Ausnahme- oder Krisensituationen bezeichnet, auch weil der Begriff des Ausnahmezustands zu stark die Konnotation mit Carl Schmitts Theorie des Ausnahmezustands hervorruft (s. nur ders. Politische Theologie, 9. Aufl. 2009). Eine Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand als Paradigma des Regierens findet sich auch bei Giorgio Agamben Ausnahmezustand, 2004 im Rahmen seines Homo-Sacer-Projekts. 7 Zum System Guantanamo Nowak Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006, 23 ff. 8 So ist das von Jakobs zunächst analytisch-kritisch diagnostizierte und später wohl auch legitimierte Konzept eines „Feindstrafrechts“ ein Stück mehr zur Realität geworden, krit. hierzu Schünemann FS Nehm, 2006, S. 221. 9 Schmitt (Fn. 6), S. 21. 5
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nahmesituationen 2003 entwickelt hat10 und das erhebliche Aufmerksamkeit erregt, aber auch viel Kritik erfahren hat.11 Nach Gross bleiben Maßnahmen wie Folter auch in Extremsituationen rechtswidrig („extra-legal“), werden sie aber von den staatlichen Akteuren („public officials“) öffentlich gemacht, können diese an sich rechtswidrigen Maßnahmen nachträglich von der Allgemeinheit gebilligt (ratifiziert) werden, mit der rechtlichen Folge, dass sie entweder legalisiert oder zumindest die Akteure nicht sanktioniert werden. Dieses im Kern prozedurale Modell ist nach Gross explizit weder spezifisch „American“ noch ein „post-September 11th one“, sondern auf alle demokratischen Verfassungsstaaten in Ausnahmesituationen anwendbar.12 Zu fragen ist, ob es vielleicht den gesuchten Aus- und Mittelweg darstellt, der einerseits rechtsstaatliche Fundamentalnormen nicht in Frage stellt, andererseits aber die sich in einem Konflikt befindlichen staatlichen Entscheidungsträger (unter bestimmten engen Voraussetzungen) aus der (straf-)rechtlichen Verantwortung entlässt, wenn sie im öffentlichen Wohl handeln. Eine solche Lösung darf sich allerdings nicht auf die Beschreibung der Wirklichkeit beschränken, sondern muss den normativen Anforderungen an ein rechtsstaatliches Strafrecht genügen.
II. Das Extra-Legal Measures Model 1. Ausgangslage Das Extra-Legal Measures Model versteht sich explizit als Alternative zu den zwei Modellen, die nach Gross in der Diskussion um das Recht (und seine möglichen Grenzen) in Not- und Ausnahmezeiten („time of emergency“) vorgebracht wurden, nämlich dem „Business as Usual Model“ und den verschiedenen Varianten des „Model of Accomodation“. Nach dem Business as Usual Model13 gelten auch in Ausnahmesituationen die „normalen“ Rechtsnormen weiter und dürfen weder teilweise noch temporär oder dauerhaft außer Kraft gesetzt werden. Begründet wird dies damit, dass das existierende Rechtssystem bereits Regeln auch für den Ausnahmefall vorsieht. An diesem Modell wird kritisiert, dass es naiv oder scheinheilig den Anschein der Normalität aufrecht erhält; Regelverstöße werden entweder nicht wahrgenom10 Erstmals Gross The Yale Law Journal (YLJ) 2003, 1011; umfassend nun ders./Ní Aoláin Laws in Times of Crisis, Cambridge 2006; speziell zur Folter ders. in: Levinson (Hrsg.), Torture, Oxford u.a. 2004, S. 229 ff. 11 Ein Überblick findet sich z.B. in dem Sammelband Ramraj (Hrsg.), Emergencies and the Limits of Legality, Cambridge 2008 u.a. mit Beiträgen von Gross und einem seiner schärfsten Kritiker Dyzenhaus. 12 Gross YLJ 2003, 1011, 1027. 13 Gross YLJ 2003, 1011, 1043 ff. m.w.N.
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men oder unter einer bloßen Fassade der Normalität ignoriert.14 Wenn die Öffentlichkeit realisiert, dass Recht in der Theorie und der Praxis nicht übereinstimmen, kann dies sogar dazu führen, dass das Rechtssystem allgemein als zu idealistisch empfunden und geschwächt wird.15 Das Gegenmodell der „accomodation“ passt das Recht dagegen flexibel an die außergewöhnlichen Umstände an, indem es entweder versucht, die „normalen“ Gesetze auf diese anzuwenden („interpretative accomodation“) oder aber die bestehenden Gesetze ergänzt und modifiziert („legislative accomodation“).16 An diesem Ansatz wird kritisiert, dass es das Rechtssystem, insb. auch die verfassungsrechtlichen Garantien, in gefährlicher Weise in Frage stellt, Missbrauch nicht ausschließt und einen Dammbruch („slippery slope“) darstellt.17 Gross teilt die Kritik an beiden Modellen. Sie beruhen seiner Ansicht nach auf zwei unzutreffenden Annahmen, erstens, dass sich Normalität und Ausnahmesituation, „normale“ Rechtsregeln und „Terrorismusbekämpfung“ trennen lassen („assumption of separation“)18, und zweitens, dass sich eine Lösung innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen finden lässt („assumption of constitutionality“)19. Seiner Ansicht nach hat das Extra-Legal Measures Model den Vorteil, auch in Ausnahmesituationen rechtsstaatliche Fundamentalnormen (wie das Folterverbot) nicht zu relativieren (wie die Varianten des Models of Accomodation), aber auch (anders als das Business as Usual Model) flexibel und offen einen Ausweg aus der für den Einzelnen als tragisch beschriebenen Entscheidungssituation zwischen zwei Übeln zu bieten.20 2. Die grundlegenden Annahmen Das Extra-Legal Measures Model geht von drei Annahmen aus: (1) Ausnahmesituationen verlangen außergewöhnliche staatliche Reaktionen, (2) verfassungsrechtliche Argumente haben noch keine Regierung stark in ihrer Reaktion auf eine Ausnahmesituation eingeschränkt und (3) besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die in einer solchen Situation getroffenen staatlichen Maßnahmen auch nach Beendigung der Krise in das Rechtssystem einsickern.21 Das Extra-Legal Measures Model unterscheidet im Ansatz zwischen der Handlung („action“) des Entscheidungsträgers, die rechtswidrig („extra-legal“) bleibt, und der nachträglichen Reaktion der Öffentlichkeit,
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Gross YLJ 2003, 1011, 1044 f. Gross YLJ 2003, 1011, 1045 f. 16 Gross YLJ 2003, 1011, 1058 ff. m.w.N. 17 Gross YLJ 2003, 1011, 1068 f. 18 Gross YLJ 2003, 1011, 1022, 1069 ff. 19 Gross YLJ 2003, 1011, 1023. 20 Gross YLJ 2003, 1011, 1097. 21 Gross YLJ 2003, 1011, 1097. 15
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die diese Handlung entweder billigen („ratification“) oder zurückweisen („rejection“) kann.22 Bestimmte Verbote (wie das Folterverbot) gelten nach Gross ausnahmslos und kategorisch. Sie sind Maßstab für die rechtliche Beurteilung einer Handlung; Kosten-Nutzen-Erwägungen sind auf dieser Ebene nicht zu berücksichtigen. Insoweit ist der Ansatz von Gross deontologisch und nicht konsequentialistisch, er bekennt sich ausdrücklich nicht nur zu der verfassungsmäßigen Ordnung, sondern auch zu den dahinterstehenden fundamentalen Werten.23 Gleichzeitig aber setzt das Extra-Legal Measures Model voraus, dass in der Realität die staatlichen Akteure in Extremsituationen zu rechtswidrigen Maßnahmen (wie Folter oder deren Androhung) greifen werden, um die Bedrohung zu beseitigen, und dies auch von der Allgemeinheit überwiegend erwartet wird. Würde ein solches Verhalten als rechtmäßig betrachtet 24, wäre dies nach Gross extrem gefährlich, nicht nur wegen des großen Risikos, dass das Rechtssystem kontaminiert („contaminating“) und manipuliert („manipulating“) wird, sondern auch wegen der schädlichen Signalwirkung („deleterious message“), die eine Legalisierung solcher Handlungen hat.25 Geschehe die rechtswidrige Maßnahme dagegen heimlich, bestehe die Gefahr, dass die Allgemeinheit das Rechtssystem entweder für utopisch oder hypokritisch ansehe.26 Nach dem Modell können staatliche Entscheidungsträger in solchen Extremsituationen außerhalb des Gesetzes agieren, wenn sie dies öffentlich machen und die Rechtswidrigkeit ihres Handelns anerkennen.27 Die Allgemeinheit muss dann entweder direkt oder indirekt (über ihre gewählten Repräsentanten) entscheiden, ob sie diese rechtswidrigen Handlungen nachträglich (ex post) billigt.28 Falls sie diese als nicht gerechtfertigt oder nicht entschuldigt ansieht, müssen sich die Akteure den rechtlichen und politischen Konsequenzen ihres rechtswidrigen Handelns stellen. Wird die rechtswidrige Handlung jedoch öffentlich gebilligt („ratifiziert“), kann sie teilweise oder vollständig sanktionslos bleiben.29 Die Ratifizierung des an sich rechtswidrigen Aktes kann formell
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Zum Folgenden s. Gross YLJ 2003, 1011, 1096 ff. Gross YLJ 2003, 1011, 1024. 24 Nach Dershovitz (Fn. 2), S. 257, 266 folgt aus der Tatsache, dass gefoltert wurde und wird (z.B. in Algerien, in Israel, in den U.S.A.), dass es auch normativ geboten sei, in Extremsituationen wie den ticking time-bomb Fällen bei Vorliegen einer richterlichen Ermächtigung Folter zuzulassen, weil die Alternativen nur entweder heimliche Folter oder Untätigkeit mit schrecklichen Folgen seien, was im Ergebnis außerdem zu einer weiteren Einschränkung bürgerlicher Freiheiten führe. Umfassend ders. Why terrorism works, New Haven/London 2002. 25 Gross YLJ 2003, 1011, 1099. 26 Gross in: Levinson (Fn. 10), S. 229, 249. 27 Gross YLJ 2003, 1011, 1023. 28 Gross YLJ 2003, 1011, 1023. 29 Gross YLJ 2003, 1011, 1099 f. 23
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oder informell, rechtlich, politisch oder sozial erfolgen.30 Rechtliche Möglichkeiten sind nach Gross – bezogen auf das anglo-amerikanische Rechtssystem – beispielsweise die Einstellung im Vorverfahren aus Opportunitätsgründen, Gewährung von Indemnität, die „jury nullification“, die Strafmilderung, eine Amnestie, Begnadigung oder auch eine Entschädigung des Handelnden durch die Regierung.31 Dadurch, dass der Handelnde nicht wissen kann, ob sein Verhalten nachträglich von der Allgemeinheit gebilligt wird, entscheidet er unter Bedingungen der Unsicherheit, was wiederum einen Anreiz für ein legales Verhalten darstellt und staatlichen Missbrauch eindämmt. Damit fördert das Modell in der Theorie die individuelle Verantwortung des Akteurs ebenso wie den öffentlichen Entscheidungsprozess und stärkt damit das Rechtssystem.
III. Philosophische Grundlagen Als ideengeschichtliche Vorläuferin seines Modells nennt Gross 32 zunächst John Lockes Lehre von der Prärogative der Exekutive („theory of prerogative power“33). Für Locke ist die der Exekutive zugeschriebene Prärogative die „Macht, nach Diskretion für das öffentliche Wohl ohne Vorschrift des Gesetzes und zuweilen gegen das Gesetz zu handeln“.34 Sowohl Locke als auch Gross halten es für denkbar, dass, wenn der Gemeinschaft schwerer Schaden droht, außerhalb des Gesetzes gehandelt wird. Nach Locke kann der Bruch der Gesetze im öffentlichen Wohl richtig sein. Maßstab für die Ausübung der Prärogative ist also das öffentliche Wohl und damit – so Locke – „kann Prärogative nichts anderes sein als die Erlaubnis, die das Volk seinem Herrscher gibt, verschiedene Dinge nach eigener freier Wahl zu tun, wenn das Gesetz schweigt, und zuweilen auch gegen den klaren Buchstaben des Gesetzes, wenn es dem öffentlichen Wohl dient, und als die Zustimmung des Volks dazu, wenn es geschehen ist“.35 Für Gross ist dagegen nicht eine bei der
30 Gross in: Ramraj (Hrsg.), Emergencies and the Limits of Legality, Cambridge 2008, S. 60, 65. 31 Gross (Fn. 30), S. 60, 62 ff. Diese Möglichkeiten bestehen im deutschen Recht vielfach nicht; das Modell von Gross ist hier dem Common Law System verhaftet und kann deshalb auch insoweit nicht in das deutsche Recht übernommen werden. 32 Gross YLJ 2003, 1011, 1102 ff.; Gross/Ní Aoláin (Fn. 10), S. 119 ff. Zum Teil geht er sogar bis nach Rom zur Rechtfertigung der ungesetzlichen Hinrichtung der Verschwörer um Catilina durch Cicero zurück (a.a.O., S. 148 f.). 33 Locke Zwei Abhandlungen über die Regierung II, 1977, §§ 159 ff. 34 Locke (Fn. 33), § 160. 35 Locke (Fn. 33), § 164.
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Handlung vorliegende (ex ante) Erlaubnis des Volkes maßgeblich, sondern deren nachträgliche (ex post) Billigung („ratification“) oder aber auch Zurückweisung („rejection“). Gross verweist weiter auf die bekannte Unterscheidung von Max Weber zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethiker.36 Der Verantwortungsethiker stellt bei Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen deren Folgen in den Vordergrund, ist aber bereit, die negativen Konsequenzen zu tragen, wenn sein Verhalten fundamentale Prinzipien und Werte der Gemeinschaft verletzt.37 In ähnlicher Weise argumentiert nach Gross 38 der Moralphilosoph Michael Walzer im Hinblick auf das „Problem der schmutzigen Hände“ („problem of dirty hands“)39, der zwischen einem im utilitaristischen Sinne richtigen Handeln und dessen moralischer Beurteilung unterscheidet. Gross zeigt mit der Möglichkeit einer Ratifizierung ex post einen Weg auf, die Handelnden aus der rechtlichen Verantwortung zu entlassen. Hierfür beruft er sich auf den amerikanischen Präsidenten und Staatstheoretiker Thomas Jefferson 40, der (beeinflusst von Locke) in Ausnahmesituationen die Gesetze der Notwendigkeit, der Selbsterhaltung bzw. der Rettung des Landes über die strikte Beachtung der geschriebenen Gesetze stellt, aber entsprechende Handlungen nur dann für legitimiert ansieht, wenn sie durch das amerikanische Volk nachträglich ratifiziert werden.41 Von Kritikern42 ist das Modell von Gross in die Nähe der Staatslehre Carl Schmitts gerückt worden. Für Schmitt gilt das Recht nicht im Ausnahmezustand, es kann diesen nicht erfassen und kontrollieren.43 Er attackiert den
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Max Weber Politik als Beruf, 2010, S. 56. Max [s.o.] Weber (Fn. 36), S. 56. 38 Gross/Ní Aoláin (Fn. 10), S. 133 f. 39 Z.B. Walzer in: Levinson (Hrsg.), Torture, Oxford u.a. 2004, S. 61 ff. Walzer hat sich hier durch Sartre inspirieren lassen. In dessen Stück „Die schmutzigen Hände“ lässt er den Kommunistenführer Hoerderer sagen: „Ich habe schmutzige Hände. Bis zu den Ellbogen. Ich habe sie in Dreck und Blut getaucht. Na und? Denkst du, man kann regieren und dabei moralisch unschuldig bleiben?“ (Sartre Dramen, 1948, S. 104). 40 Jefferson Writings, New York 1984, S. 1231. 41 Gross beruft sich noch auf Dicey, der als Begründer der modernen Verfassungslehre (insb. der Lehre von der Parlamentssouveränität) in England gilt (Gross/Ní Aoláin [Fn. 10], S. 130 ff.). Auch dieser hält in Ausnahmezeiten am Recht fest, wird allerdings durch das Parlament nachträglich Indemnität gewährt, werden die entsprechenden illegalen Verhaltensweisen ex post legalisiert: „Acts of indemnity (…) make lawful acts which when they were committed were unlawful.“ (Dicey Introduction to the Study of the Law of the Constitution, Indianapolis, 8. Aufl. 1982, S. 142). 42 S. nur Dyzenhaus in: Ramraj (Hrsg.), Emergencies and the Limits of Legality, Cambridge 2008, S. 33 ff. 43 Schmitt (Fn. 6), S. 18 f. 37
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Liberalismus, da dieser die Bedeutung des Ausnahmefalls ignoriere.44 Gross, der sich mit Schmitt ausführlich auseinandersetzt,45 grenzt sich hiervon explizit ab, denn sein Modell behalte die verfassungsrechtlichen Schranken und Grenzen auch im Ausnahmezustand bei und beschränke somit (anders als Schmitt) die souveräne Macht. Die letztendliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer außergesetzlichen Maßnahme falle erst ex post durch die Billigung oder Zurückweisung durch das Volk, den eigentlichen Souverän.46
IV. Die ticking-time bomb Konstellationen und der Fall Daschner als Exemplifizierung des Extra-Legal Measures Modell Im Folgenden soll zunächst anhand der ticking time-bomb Fälle, auf die sich Gross auch ausdrücklich bezieht 47, das Extra-Legal Measures Model beispielhaft konkretisiert werden. Auch wenn Fälle in dieser Ausgestaltung bisher nur hypothetisch sein mögen, muss sich die Rechtswissenschaft (und auch die Ethik) mit ihnen befassen.48 Der inhaftierte Terrorist, der eine Bombe versteckt hat, die viele Unschuldige zu töten droht, darf nach Gross’ Modell nicht gefoltert werden, auch nicht um Informationen über das Versteck der Bombe zu erlangen und so viele Menschen zu retten.49 Das Folterverbot gilt kategorisch und ausnahmslos, Gross begründet dies (wie viele
44 Schmitt (Fn. 6), S. 18 ff. Diese Ignorierung des Ausnahmezustands sei z.B. bei Kant oder dem Neukantianer Kelsen zu beobachten. 45 Z.B. Gross/Ní Aoláin (Fn. 10), S. 162 ff. 46 Gross/Ní Aoláin (Fn. 10), S. 169 f. Hier stellt sich aber die Frage, wie eine solche Ratifizierung durch das Volk de facto geschehen soll. Wenn z.B. die Justiz (wie etwa im Fall Daschner) über die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens entscheiden muss, hat dies wegen der Gesetzesbindung der Justiz wenig mit Volksvertretung zu tun. Auch wenn man mit bestimmten Versionen der positiven Generalprävention davon ausgeht, dass das Strafrecht Strafbedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigen muss, wären hier Befragungen der Bevölkerung über ihre Sanktionserwartung allenfalls mittelbar relevant (hierzu Kaspar Grundrechtsschutz und Verhältnismäßigkeit im Präventionsstrafrecht, im Erscheinen, S. 666 f.). 47 Zum Folgenden s. Gross in: Levinson (Fn. 10), S. 229; ders. YLJ 2003, 1011, 1097 ff. 48 Zutreffend Gross in: Levinson (Fn. 10), S. 229, 234; nach Shue in: Levinson (Hrsg.), Torture, Oxford u.a. 2004, S. 47, 57 gilt zumindest für die ethische Perspektive „artificial cases make bad ethics“. Eine ticking time-bomb Konstellation versuchte der Gesetzgeber mit § 14 III LuftSiG zu regeln. Danach sollte der Abschuss eines Passagierflugzeuges auf Anordnung des Verteidigungsministers zulässig sein, wenn nur so das Leben unbeteiligter Menschen gerettet werden könne. Die Vorschrift wurde in BVerfGE 115, 118 wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 3 S. 1 und Art. 1 GG für verfassungswidrig erklärt (dazu etwa Roxin ZIS 2011, 552 ff.). Vgl. aber auch aus strafrechtlicher Sicht Schünemann GS Arth. Kaufmann, 2005, S. 145, 153, wonach die Insassen des Flugzeugs Teil der „Angriffskausalität“ seien. 49 Relativierend in Fällen der sog. „Rettungsfolter“ z.B. Brugger JZ 2000, 165.
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andere50) mit dem „symbolism of human dignity and the inviolability of the human body“51. Das Extra-Legal Measures Model geht aber davon aus, dass in der Realität in Extremsituationen das Verbot der Folter bzw. der grausamen und unmenschlichen Behandlung nicht beachtet werden, weil die Akteure diese Verbote als unmoralisch oder irrational ansehen und dass dies auch in der Konstellationen der ticking time-bomb der Fall wäre. Außerdem sei es nicht nur scheinheilig 52, sondern auch „kaltherzig“ („cold-hearted“), in einem solchem Fall die Möglichkeit einer „Rettungsfolter“ („preventive interrogational torture“) mit der Folge des Todes Unschuldiger zu verweigern.53 Nach Gross erwarten wir, dass die Entscheidungsträger in Extremsituationen moralisch richtig handeln, das bedeutet für ihn, das Leben Unschuldiger retten und sich nicht auf die absolute Geltung des Folterverbots berufen.54 Damit kommt es zu einem Konflikt zweier fundamentaler Prinzipien, dem Verbot der Folter und ihrer Androhung und dem Gebot, Menschen zu retten. Dieser Konflikt muss nach Gross durch die Akteure öffentlich gemacht werden, indem sie ihr rechtswidriges, aber u.U. moralisch richtiges Verhalten offen legen. Die Allgemeinheit muss dann entscheiden, ob sie dieses ex post billigt. Betrachten wir nun den Fall Daschner, bei dem sich die handelnden Akteure jedenfalls in einer Konfliktsituation, wenn auch nicht des Ausmaßes der ticking time-bomb Konstellationen, befunden haben.55 Bekanntlich hatte der damals für die Untersuchungen zuständige stellvertretende Polizeipräsident Daschner einen Kriminalhauptkommissar angewiesen, dem Entführer des (zu diesem Zeitpunkt unbekannterweise schon toten) elfjährigen Jakob von Metzler, dem Jurastudenten Gäfgen, für den Fall, dass er nicht den
50 S. nur Roxin FS Eser 2005, S. 461, 465, der allerdings im Einzelfall eine Rechtfertigung aufgrund eines übergesetzlichen Notstandes in Erwägung zieht. Nach Greco GA 2007, 628 mit zahlreichen Nachweisen besteht darüber, dass Folter aufgrund der Menschenwürde verboten ist, zwar Einigkeit, klärungsbedürftig sei aber erstens der Folterbegriff und zweitens was genau den Menschenwürdeverstoß ausmache. 51 Gross YLJ 2003, 1011, 1099; ders. in: Levinson (Fn. 10), S. 229, 232 ff. S. aus deutscher Sicht z.B. BVerfG NJW 2005, 656; Saliger ZStW 116 (2004), 35. 52 Hier bezieht sich Gross in: Levinson (Fn. 10), S. 229, 237 Fn. 16 auf den Landau Commission Report in Israel (Commission of Inquiry into the Methods of Investigation of the General Security Service Regarding Hostile Terrorist Activity; gekürzt abgedruckt in: Israel Law Review 23 [1989], 146 ff.). In diesem Report werden angesichts der Realität der Folter Richtlinien für einen „moderate use of pressure“ niedergelegt. 53 Gross in: Levinson (Fn. 10), S. 229, 237. 54 Gross in: Levinson (Fn. 10), S. 229, 238: „But I do not believe we want them to be brazen Kantians“. 55 Das LG Frankfurt a.M. NJW 2005, 692, 695 hat das Vorliegen eines „theoretischen Grenzfalls“, der „möglicherweise hinsichtlich der juristischen Bewertung in eine juristische Grauzone und an die Grenzen der Jurisprudenz [stößt]“ verneint.
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Aufenthaltsort des Opfers preisgebe, Gewalt anzudrohen. Dies wurde dann auch am 1.10. 2002 umgesetzt. Die handelnden Polizisten mussten sich nach ihrem damaligen Kenntnisstand zwischen zwei Übeln entscheiden: Entweder das Verbot der Folter bzw. grausamer und unmenschlicher Behandlung56 zu beachten und damit das Leben des unschuldigen Jungen in ernste Gefahr zu bringen oder aber sich zu dessen Rettung über diese Verbote hinwegzusetzen. Nach dem Modell von Gross ist zunächst die Rechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung, nämlich dem Tatverdächtigen Gewalt anzudrohen, zu beurteilen. Der Umstand, dass eine besondere Konfliktsituation vorliegt, spielt hierfür keine Rolle. Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme ist anhand der einschlägigen Straftatbestände (§§ 343, 357, 240 StGB), der Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe (§§ 32–35 StGB, rechtfertigende oder entschuldigende Pflichtenkollision) bzw. Irrtumsregeln unter Berücksichtigung der Folter und grausame und unmenschliche Handlungen betreffenden Vorschriften (Art. 1, 104 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 3 EMRK; § 136a StPO bzw. die einschlägigen Polizeigesetze) zu beurteilen. Im Folgenden soll mit der überwiegenden Ansicht davon ausgegangen werden, dass das Verhalten strafbar war, insb. eine Straffreiheit aufgrund (Putativ-)Nothilfe bzw. Notstand nicht in Betracht kam.57 Das LG Frankfurt a.M. hat den ausführenden Polizisten wegen Nötigung im Amt gem. § 240 StGB und seinen Vorgesetzten Daschner wegen Verleitung zu einer Nötigung im Amt (§§ 357 Abs. 1 i.V.m. 240 StGB) verurteilt und gegen beide Angeklagten eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen.58 Bei der Strafzumessung wurden die Konfliktsituation der Angeklagten und ihr Motiv, Menschenleben zu retten, strafmildernd berücksichtigt.59 Daschner hatte über das Geschehen einen Aktenvermerk gefertigt und es damit öffentlich gemacht. Damit hat er im Sinne von Gross die Verantwortung für sein illegales Handeln übernommen. Wie sieht es aber nun mit der nachträglichen Ratifizierung durch die Allgemeinheit aus? Daschner ist zwar
56 Was genau unter den Begriff der Folter fällt, ist immer noch ungeklärt (Greco GA 2007, 628 Fn. 2; Hilgendorf JZ 2004, 331). An dieser Stelle kann nicht erörtert werden, ob die Androhung von Gewalt im Fall Daschner verbotene Folter oder eine verbotene unmenschliche und grausame Behandlung darstellt. Der EGMR, Urt. v. 1.6.2010, Gäfgen ./. Deutschland, NJW 2010, 3145 hat dies nicht als Folter, sondern als (ebenso absolut verbotene) grausame und unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK eingestuft. M.E. ist es für die (straf-)rechtliche Beurteilung unerheblich, ob es sich um Folter oder eine grausame und unmenschliche Behandlung handelt, anders aber z.B. Herzberg JZ 2005, 321, 325 ff., der die Androhung von Folter in Extremsituationen, nicht aber ihre Umsetzung für zulässig hält. 57 S. nur Roxin FS Eser, 2005, S. 461 ff.; Neuhaus GA 2004, 521 ff.; Saliger ZStW 116 (2004), 35; a.A. z.B. Erb NStZ 2005, 593; ders. Jura 2005, 27. 58 LG Frankfurt a.M. NJW 2005, 692. 59 LG Frankfurt a.M. NJW 2005, 692, 695.
Das Extra-Legal Measures Model of Emergency Powers von Gross
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verurteilt worden, die verhängte Strafe ist aber ausgesprochen milde (auch wegen der Nichtanwendung des § 343 StGB). Ein Disziplinarverfahren gegen ihn wurde am 19. 4. 2005 eingestellt. Der EGMR führt hierzu zutreffend aus: „Doch eine Verurteilung zu mehr oder weniger symbolischen Geldstrafen von 60 bzw. 90 Tagessätzen in Höhe von je 60 bzw. 120 Euro, und sie auch noch zur Bewährung auszusetzen, lässt sich nicht als angemessene Reaktion auf einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK ansehen, auch dann nicht, wenn man sie in Zusammenhang mit der Strafpraxis in Deutschland betrachtet.“60 Auch hinsichtlich des Disziplinarverfahrens gegen Daschner findet das Gericht deutliche Worte: „Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang wiederholt betont, dass es wichtig ist, Bedienstete des Staates, denen Misshandlungen vorgeworfen werden, während der Dauer der Ermittlungen oder des Verfahrens vom Dienst zu suspendieren und im Fall der Verurteilung ihres Amtes zu entheben […] Die spätere Ernennung von D an die Spitze einer Polizeibehörde [wirft] doch die ernste Frage auf, ob die Reaktion der Behörden angesichts der Schwere, den ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bedeutet und dessentwegen D verurteilt wurde, angemessen war.“61 Das Extra-Legal Measures Model scheint hier zu passen, die verbotene Maßnahme bleibt trotz Vorliegens einer extremen Konfliktsituation rechtswidrig, nachträglich aber wird auf der Ebene der Sanktionierung der Konfliktsituation Rechnung getragen. Damit wird der in der Verurteilung liegende Tadel, wenn auch nicht aufgehoben, so doch zumindest relativiert. Es bleibt jedoch die Frage, ob ein solches Urteil wegen der Gesetzesbindung der Justiz tatsächlich eine Ratifikation des Verhaltens Daschners durch den Souverän, das Volk, im Sinne von Gross ist.62
V. Kritik 1. A legal black hole? Zunächst wird Gross vorgeworfen, er etabliere oder beschreibe zumindest mit seinem Modell ein „legal black hole“, eine nicht durch das Recht kontrollierte Zone, in der die Entscheidungsträger agieren müssten.63 Gross hält dem entgegen, dass nach seinem Modell eine gesetzlich verbotene Maßnahme 60 EGMR, Urt. v. 1.6.2010, Gäfgen ./. Deutschland, NJW 2010, 3145, 3147; s. auch Bahar, Folter im 21. Jahrhundert, 2009, S. 199; Kühling Folterverbot und Rechtsstaat in Deutschland (http://www.rav.de/publikationen/infobriefe/archiv/infobrief-98-2007/folterverbotund-rechtsstaat-in-deutschland) [letzter Abruf: 24. 3. 2014]. 61 EGMR, Urt. v. 1.6.2010, Gäfgen ./. Deutschland, NJW 2010, 3145, 3147. 62 S. bereits Fn. 46. 63 Dyzenhaus in: Ramraj/Hor/Coach Global (Hrsg.) Anti-Terrorism Law and Policy, Cambridge 2006, S. 65; ders. The Constitution of Law, Cambridge 2006, S. 1.
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auch in Ausnahmesituationen (ex ante) verboten ist, das Recht gilt auch hier uneingeschränkt, es kann nicht geändert oder modifiziert werden. Die nachträgliche Ratifikation, über welche die Allgemeinheit auch nach politischen Gesichtspunkten entscheidet, kann allerdings ein rechtswidriges zu einem rechtmäßigen Handeln machen.64 Dyzenhaus fordert aber zu Recht, dass auch diese Entscheidung ex post durch das Recht geregelt ist.65 Die Akteure müssen stets innerhalb der Grenzen des Rechts und der Verfassung agieren, ansonsten verlieren diese ihre Autorität.66 Politische Erwägungen haben insoweit keine Berechtigung. Auch nach hiesigem Rechtsverständnis kann eine nachträgliche Billigung nicht ihrerseits ohne Beachtung von Normen geschehen, dies berücksichtigt das pragmatische Modell von Gross nicht hinreichend. Strafgerichte sind z.B. an die Gesetze gebunden, sollten sie ein Verhalten für verboten oder strafbar halten, kann (soweit nicht eine Einstellung aus Opportunitätsgründen erfolgen darf) die Ausnahmesituation nur auf der Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden. Auch ist der Grundsatz der Gewaltenteilung zu beachten, so dass z.B. die Exekutive ein strafbares Verhalten nicht für straflos erklären kann. Der Fall Daschner zeigt, wenn man mit dem EGMR die Strafe für schuldunangemessen und das Ergebnis des Disziplinarverfahrens für nicht sachgerecht hält, zumindest in Ansätzen die Problematik des Modells. 2. Schwächung oder Stärkung des Rechts? Die Kritiker von Gross’ Modell sehen die „rule of law“ dadurch relativiert, dass durch eine nachträgliche Ratifikation ein rechtswidriges zu einem rechtmäßigen Verhalten werden kann. Dagegen wendet Gross ein, dass durch sein Modell das Rechtssystem sogar langfristig gestärkt werde. Es werde der Anschein vermieden, dass das Rechtssystem scheinheilig oder utopisch sei, da es kontrafaktisch an absoluten Verboten festhalte. Gross’ Modell lege außerdem den Akteuren eine vielleicht sogar „unfaire“ Last auf, denn sie müssten unter der Ungewissheit entscheiden, ob ihr rechtswidriges Verhalten nachträglich durch die Allgemeinheit gerechtfertigt wird.67 Dies nimmt Gross nicht nur in Kauf, sondern sieht es sogar als Vorteil an, weil die Akteure sich bei ihrer Entscheidung gut überlegen werden, ob sie dieses Risiko persönlicher Konsequenzen eingehen werden und sich deshalb nur in extremen Fällen rechts-
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Gross (Fn. 30), S. 60, 72: „lawful ex post“. Dyzenhaus (Fn. 42), S. 33, 55. 66 Damit ist auch die Debatte zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht berührt, soweit der Rechtspositivismus das Recht als grundsätzlich inhaltsoffen ansieht. 67 S. nur Gross (Fn. 30), S. 60, 91 f. 65
Das Extra-Legal Measures Model of Emergency Powers von Gross
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widrig, in Zweifelsfällen aber rechtmäßig verhalten werden. Daschner hatte Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens,68 hat sich aber hiervon nicht in seinem Handeln leiten lassen. 3. Unrealistische Anforderungen Dem Extra-Legal Measures Model wird weiter vorgeworfen, dass es von der unrealistischen Annahme ausgehe, dass die staatlichen Akteure ihr ungesetzliches Verhalten öffentlich machen.69 Gross vertraut hier, vielleicht wie der Fall Daschner zeigt, nicht ganz zu Unrecht, auf eine „ethic of responsibilty“, sollte die Idee der Freiheit, Demokratie und der Gesetzesherrschaft nicht in den Herzen der Menschen verankert sein, helfe auch kein anderes Modell weiter.70
VI. Stellungnahme und Fazit Selbst wenn im Fall Daschner das Modell von Gross das Geschehen offensichtlich adäquat abbildet, reicht dies nicht aus. Denn aus der Übereinstimmung zwischen Modell und Wirklichkeit in einem Einzelfall lassen sich ohne einen naturalistischen Fehlschluss keine normativen Schlüsse ziehen. Das Extra-Legal Measures Model kann den Anspruch nicht einlösen, zwischen Normativität und Realität, zwischen absoluten und relativierenden Positionen, einen Ausweg zu finden, der normativen Anforderungen Stand hält. Die entscheidende Frage lautet deshalb weiterhin, ob sich das Recht in Extremsituationen den Gegebenheiten anpasst (dies ist z.B. die Konzeption des Feindstrafrechts von Jakobs) oder aber die unverbrüchlichen Normen, wie das Folterverbot, auch zu Lasten des vielleicht moralisch richtig handelnden Akteurs unverändert gelten. Insofern erscheint mir das von Gross verworfene Business as Usual Model als vorzugswürdig. Die unbestreitbare Tatsache, dass solche Fundamentalnormen verletzt werden, rechtfertigt auf der normativen Ebene eine solche Verletzung nicht, auch nicht dadurch, dass eine nachträgliche Ratifizierung stattfindet, die nach hiesiger Ansicht ohnehin gesetzesgebunden und nicht politisch motiviert sein müsste. Den Kritikern von Gross ist darin zuzustimmen, dass auch sein Modell (wie das Model of Accomodation) die „rule of law“, nach unserem Verständnis die Rechtsstaatlichkeit, zu sehr relativiert.
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LG Frankfurt a.M. NJW 2005, 692, 695. Chesterman in: Ramraj (Hrsg.), Emergencies and the Limits of Legality, Cambridge 2008, S. 314, 318 ff. 70 Gross (Fn. 30), S. 60, 85. 69
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Auf jeden Fall aber ist die von Gross angestoßene Diskussion um die Grenzen des Rechts, um „Law in Times of Emergency“, eine Bereicherung der Debatte, auch wenn sie nicht die von Schünemann eingeforderte inhaltliche Antwort der Rechtswissenschaft ist. Die deutsche Strafrechtswissenschaft, die von Bernd Schünemann streitbar verteidigt und glanzvoll repräsentiert wird, muss eine andere Lösung finden.
Zur „unmittelbaren Lebensgefahr“ und „extremen Menschenrechtswidrigkeit“ im Straf-, Strafprozess-, Verfassungs- und Polizeirecht Jürgen Wolter I. Würdigung und Einführung Mit Bernd Schünemann besteht – ich darf meinen Beitrag so persönlich beginnen – eine mehr als 50jährige Freundschaft und wissenschaftliche Gemeinschaft.1 Im Sommersemester 1963 haben wir gemeinsam mit dem Studium in Göttingen begonnen. Claus Roxin, damals frisch als Ordinarius nach Göttingen berufen, hielt unsere erste Strafrechtsvorlesung. Wir wurden alsbald Roxins Schüler, Bernd Schünemann wahrlich ein Meisterschüler, ich selbst nach der Promotion bei Roxin ein mittelbarer Schüler – habe ich mich doch bei Roxins Schüler Hans-Joachim Rudolphi in Bonn habilitiert. Von Anfang an ging es auch uns beiden – in der Zeit der kleinen Strafprozessreform von 1964, des Alternativ-Entwurfs Allgemeiner Teil von 1966 und des danach aufkeimenden RAF-Terrorismus mit all seiner straf- und strafprozessgesetzlichen Begleitung – um den Erhalt des liberalen Rechtsstaats und eine grundlegende Strafrechtsdogmatik. Später traten die Interdisziplinarität (z.B. Sozialwissenschaften und Rechtspsychologie bei Bernd Schünemann, etwa das Polizei-, Verfassungs- und Datenschutzrecht bei mir) sowie die internationale und europäische Strafrechts- und Strafprozessrechtslehre hinzu.2 Wenn man angesichts unserer langwährenden Verbundenheit und zahlreichen Begegnungen allein in den jeweiligen Jahrzehnten nach den 1960er Studien- und Promotionsjahren einmal kurz halt machen will, so haben wir Mitte der 1970er Jahre Zimmer an Zimmer in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn gesessen (Bernd Schünemann als junger Professor, ich noch als Habilitand) und nebeneinander – aber unabhängig voneinander – um den Gefahrbegriff, insbesondere um den Gefahrerfolg bei den konkreten Gefährdungsdelikten gerungen. Herausgekommen 1
Vgl. auch Schünemann FS Wolter, 2013, S. 1107, 1129. Vgl. für die Belange dieses Beitrags über die Angaben von Schünemann in FS Wolter, S. 1107 f. hinaus: Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004; ders. (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006; Wolter/Schenke/Hilger/Ruthig/Zöller (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008. 2
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ist die weitgehend übereinstimmende „normative Gefahrerfolgstheorie“;3 in den Nuancen haben die Thesen von Bernd Schünemann unseren wissenschaftlichen Lehrer Claus Roxin mit gewichtigem Grund eher überzeugt.4 Zu erwähnen ist das hier ausdrücklich nur deshalb, weil es in diesem Beitrag zum Teil auch um den Begriff der „Lebensgefahr“, nunmehr aber als „Erfolgsgefahr“ und dann nicht mehr als Gefahrerfolg, gehen wird. Aus den 1980er und 1990er Jahren kann man eine ganze Reihe von großen deutschen, europäischen und internationalen Symposien herausgreifen, die Bernd Schünemann initiiert und geleitet sowie durch Herausgeberschaft und Autorenschaft bei den Tagungsbänden maßgeblich beeinflusst hat. (Als Schüler von Roxin war auch ich an diesen Symposien und Büchern beteiligt.) Herausgekommen sind u.a. die Fortschreibung eines „modernen Strafrechtssystems“5, grundlegende „Bausteine des europäischen Strafrechts“6 sowie neue Fundamente für eine „Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte“7. Zu erwähnen ist das hier ausdrücklich nur um deswillen, weil der andere Aspekt des nachfolgenden Beitrags zur Funktion und Reichweite der „extremen Menschenrechtswidrigkeit“ – gerade bei Vorliegen einer wie immer zu bestimmenden Lebensgefahr für Dritte – nicht nur ungeklärt, sondern vor allem auch durch den Rückgriff auf europäisches und internationales Recht (etwa Art. 3 i.V.m. Art. 15 Abs. 2 EMRK; Art. 4 Grundrechte-Charta; Art. 7 i.V.m. Art. 4 Nr. 2 IPBPR; Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 2 AMRK; Art. 3 der Genfer Rot-Kreuz-Konventionen 1949)8 in den Griff zu bekommen ist. 3
Schünemann JA 1975, 792 ff.; Wolter JuS 1978, 748 ff. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 151 f. m. Nachw., wobei dennoch m.E. bei dem weitreichenden ex post-Urteil beim Gefahrerfolg ebenso wie beim Verletzungserfolg nicht der eher prognostische Vertrauensgrundsatz, sondern vornehmlich „diagnostische ex post-Überlegungen“ – etwa bei der nachträglichen Berücksichtigung von „Rettungschancen eröffnenden Umständen“, d.h. von „möglicherweise erfolgsausschließenden Gegebenheiten“, eine maßgebliche Rolle spielen sollten. 5 Vgl. Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems. Für Claus Roxin von seinen Schülern, 1984; Übersetzung ins Japanische 1990 (Stockdorf-Symposium 1981). 6 Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995; vgl. auch die spanische Ausgabe: Silva Sánchez (ed.) mit Schünemann/Figueiredo Dias (coords.), Fundamentos de un sistema europeo Del Derecho penal, 1995 (Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1991). 7 Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte. Ein spanisch- deutsches Symposium zu Ehren von Claus Roxin, 1995; in spanischer Sprache schon 1994 unter dem Titel „Omision e imputación objetiva en Derecho penal“ erschienen (Madrid-Symposium 1994). 8 Vgl. ergänzend das UN-Übereinkommen gegen Folter … vom 10.12.1984 und das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter … vom 26.11.1987; dazu sowie zu Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz m. vollständigen Nachw.: Systematischer Kommentar StPO/Paeffgen, 4. Aufl. 2012, Art. 3 EMRK Rn. 2; ferner Nowak UNO-Pakt 4
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Wie ist bezüglich der Verwendung von Erkenntnissen zu entscheiden – um einen der beiden schwierigen Fälle zu bezeichnen –, wenn i.S.v. Art. 3 EMRK Folter oder unmenschliche/erniedrigende Behandlung eines Verdächtigen als Formen „extremer Menschenrechtswidrigkeit“ (z.B. in einem inländischen Ermittlungs- oder Polizeiverfahren, ggf. auch in einem ins Ausland verlagerten Verhörgefängnis) statt gezielt („Rettungsfolter“), nunmehr zufällig – durch Zufallsfund – zu Informationen über eine Geiselnahme mit „Lebensgefahr“ für die Opfer führt? § 136a StPO (bei repressivem Ausgangsverfahren) trifft insoweit – etwa bei Misshandlung oder Quälerei – keine Regelung. Bei einem Umkehrschluss aus § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1 StPO, der sich auf nach § 100c StPO unzulässig gewonnene und strafprozessual unverwertbare Erkenntnisse bezieht, müsste man die Verwendung der Erkenntnisse zur Abwehr einer (im Einzelfall bestehenden) Lebensgefahr, die § 100d StPO ausdrücklich erlaubt, verneinen. Z.B. Art. 3, 15 Abs. 1 EMRK schließen bei präventivem (vgl. auch Art. 8 Abs. 2 EMRK) wie bei repressivem Ausgangsverfahren jedenfalls die Folter/unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zum Zwecke der Abwehr einer Lebensgefahr aus, verhalten sich aber zur Verwendung entsprechender (Zufalls-)Erkenntnisse im Zuge solcher Misshandlungen nicht ausdrücklich. Der von mir mitverfasste „Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV)“ hat die Verwendung der Erkenntnisse zur Abwehr einer (unmittelbaren) Lebensgefahr in einem ursprünglich repressiven Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft in beiden Konstellationen (Ziel- und Zufallsfunde) vom Gesetzeswortlaut her zugelassen, sich in der Begründung und im systematischen Zusammenhang jedoch eher auf die Zufallsfunde bezogen und so die Fragen bei gezieltem Vorgehen der Behörden zum Teil offengehalten.9 Und der von mir mitverantwortete „Alternativ-Entwurf Europol und europäischer Datenschutz“ hat im Gesetzestext bei gezieltem Vorgehen der Behörden ein Verwendungsverbot bei repressivem wie präventivem Ausgangsverfahren – auch zur Abwehr einer Lebensgefahr für Dritte – etabliert, die Frage der Verwendung von Zufallsfunden (insbesondere zur Abwehr einer Lebensgefahr) – anders als z.B. in den §§ 100d, 477 StPO – jedoch ausdrücklich nicht mehr berührt und so zum Teil offengehalten.10 über bürgerliche und politische Rechte, IPBPR, Kommentar, 1989, Art. 7 Rn. 1 Fn. 1 m.w.Bsp. 9 Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE), 2001, Begründung zu § 150e Abs. 3 AE-EV, S. 71, auch mit Blick auf doppelfunktionale Handlungen, z.B. Ermittlungen und Gefahrenabwehr bei Geiselnahme (hingegen sei „der [umstrittene] Fall“ gezielter Informationsgewinnung zur Abwehr von Lebensgefahren „nicht angesprochen und vom Strafprozessrecht auch nicht zu regeln“ [S. 71]). 10 Art. 26 Abs. 2 S. 3, 4 AE-Europol (Fn. 2), S. 59, wobei es nach Art. 4 AE-Europol im Ausgangsverfahren eines Mitgliedstaates um die Verhütung oder um die Bekämpfung von
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Solche (Gesetzes-)Aussagen bedürfen in jedem Fall der Harmonisierung, Ergänzung oder sogar der Korrektur. Doch zurück zu dem Gang durch fünf Jahrzehnte: Für die Jahre 2000 – 2013 ist hier nur – neben dem schon erwähnten, von Bernd Schünemann herausgegebenen Alternativentwurf zur „Europäischen Strafverfolgung“ (2004) und neben dem „Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege“ (2006)11, die beide die bezeichneten Fragen nicht behandeln –, sein nachhaltiges Wirken als Ständiger Mitarbeiter von Goltdammer’s Archiv für Strafrecht hervorzuheben. Er hat das Archiv um zahlreiche große Beiträge, insbesondere auch zur Vorbereitung von Strafrechtslehrertagungen und zur kritischen Begleitung des Europäischen Rechts, bereichert.12 Er hat vor allem – und damit schließt sich der Kreis nach mehr als 50 Jahren – die „Internationale Strafrechtsdogmatik“ i.S. eines eigentlichen Dialogs der deutschen mit namentlich der spanischen, portugiesischen, südamerikanischen und griechischen Strafrechtswissenschaft gerade auch in GA initiiert und maßgeblich vorangebracht.13 Insofern nimmt es nicht wunder, dass die Herausgeber von Goltdammer’s Archiv für Strafrecht schon die Geburtstage von Bernd Schünemann 2004 und 2009 mit wissenschaftlichen Glückwünschen begleitet haben;14 und hiermit wird auch das „Geheimnis“ preisgegeben, dass die Zeitschrift zu seinem 70. Geburtstag im November 2014 eine die Festschrift nachgerade erweiternde Festgabe herausbringt.15 Sie soll auch die nachfolgende – in Raum- und Zeitnot geborene, eher schmale und thesenhafte – Studie16 um ein gewisses Maß verbreitern.17 Straftaten (Geiselnahme; Drogendelikte) gegangen sein mag. In der Begründung wird die Verwendung von Zufallsfunden insbesondere zur Abwehr von Lebensgefahren „ggf. ausnahmsweise“ (S. 61) zugelassen („was im Arbeitskreis kontrovers diskutiert wurde“, S. 61). 11 Zu diesen Werken o. Fn. 2. 12 Hinweise auf die nahezu 20 Abhandlungen allein von 1974 bis 2009 bei Wolter GA 2009, 617; vgl. danach Schünemanns Beiträge in GA 2010, 353 (zum spanisch-deutschen Wissenschaftsdialog); GA 2011, 445 (zum griechisch-deutschen Wissenschaftsgespräch); GA 2013, 193 (zur Strafrechtslehrertagung 2013 in Zürich); vgl. zuvor – allein ab 2002 – GA 2002, 501 und GA 2004, 193 (zum europäischen Recht); GA 2003, 299 (zur Globalisierung); GA 2006, 378 (zu Roxins 75. Geburtstag); GA 2008, 314 (zum 32. Strafverteidigertag 2008). 13 Vgl. Fn. 12. 14 Vgl. die Glückwunschadresse bei Hefendehl GA 2004, 575 (Eingangs-Fußnote) sowie das Festheft zum 65. Geburtstag GA 2009, 617–661. 15 GA Heft 11/2014 mit Beiträgen von Wolter (Vorwort), Küper, Paeffgen und Sánchez Lázaro. 16 Beides soll aber auch ein besonderer Dank sein für manche „freundschaftliche Übernahme“ im Falle meiner Verhinderung (etwa internationale Promotionsprüfung an der Universität Léon; internationales Seminar in Barcelona im Jahre 2003 mit Verlesung und vor allem Verteidigung meines Vortrags; zunächst gemeinsames Lehrbuch-Projekt zum Strafverfahrensrecht). 17 Die Studie beantwortet auch offene Fragen in meinen zwei ergänzenden Beiträgen (FS Kühne, 2013, S. 379, 388 Fn. 42; FG Feigen, 2014, S. 383, 396 Fn. 69 – zuletzt zur
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II. Funktion und Reichweite der „extremen Menschenrechtswidrigkeit“ 1. Allgemeines Die „extreme Menschenrechtswidrigkeit“, wie sie unter I. mehrfach angesprochen worden ist,18 ist kein terminus technicus. Sie kennzeichnet Verhaltensweisen der Strafverfolgungsorgane bzw. „Präventivbehörden“ (z.B. Polizeibehörden, Geheimdienste), im Einzelfall auch von Privaten, die die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG oder z.B. auch nach Art. 1 der Grundrechte-Charta besonders schwerwiegend verletzen. Sie sind ausnahmslos verboten.19 Sie sind – wie z.B. die Folter oder die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung etwa nach Art. 3, 15 EMRK, Art. 7, 4 IPBPR, Art. 5, 27 AMRK – notstandsfest und dürfen deshalb auch zum Zwecke der Abwehr von Lebensgefahren der Bürger nicht angewendet werden.20 Es gilt – vorzugswürdig – nicht nur ein (einfaches,) das Verfahren nur punktuell berührendes Informationserhebungs- und ggf. -verwertungsverbot,21 sondern von vornherein ein absolutes Strafverfolgungs- bzw. Gefahrabwehrverbot mit qualifizierten Verwendungsverboten.22 Die Rettungsfolter zum Zwecke der Abwehr von Lebensgefahren ist ausgeschlossen.23
Abgrenzung von Ziel- und Zufallsfunden sowie von „extremer Menschenrechtswidrigkeit“ und „einfacher“ Menschenwürdeverletzung). 18 Bei Fn. 8–10 und in Fn. 17. 19 Nowak (Fn. 8), Art. 7 Rn. 1; Meyer-Ladewig EMRK, 2003, Art. 3 Rn. 1. Anders als z.B. beim Tötungsverbot (etwa Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG; Art. 2 EMRK; § 150d Abs. 2 S. 2 AE-EV [Fn. 2]); vgl. auch Wolter FS Küper, S. 707, 712 f. (auch zum „finalen Rettungsschuss“ sowie zu dem Argument, dass z.B. bei Folter als Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit der Vorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG nicht eingreift). 20 Vgl. Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG auch dazu, dass die Lebensgefahr ein Fall der dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist. 21 § 136a StPO, der auch Fälle „unterhalb der extremen Menschenrechtswidrigkeit“ umfasst (z.B. Drohung mit unzulässiger Maßnahme jenseits der Folter i.w.S.; Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils) und dafür sogar in Absatz 3 ein besonderes Verwertungsverbot vorsieht, müsste deshalb z.T. – schon abgesehen von Polizeirecht und Gefahrenabwehr – in mannigfacher Weise ergänzt werden (Erstreckung auf Private, Ausschluss hypothetischer Informationserhebung; vgl. auch Wolter FS BGH, 2000, S. 963, 1003 f.; § 150e Abs. 1, 2 AE-EV [Fn. 9], der diese Fragen freilich teilweise abweichend löst; Begründung zu Art. 26 Abs. 2 AE-Europol [Fn. 2], S. 61, der diese Probleme insgesamt offenhält). 22 Schon Wolter in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 319, 334 f.; SK-StPO/Wolter, Vor § 151 Rn. 145 (Juni 1994). 23 Dazu Wolter FS Kühne, S. 379, 387; Roxin (Fn. 4), § 16 Rn. 99; umfassend und m. sämtlichen Nachw. SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 3–5 u.a. m. Hinweis auf den möglichen Dammbruch und auf die unsichere Urteilsbasis auch bei Arbeitsteilung. – Der Schutzpflicht des Staates für das Leben Dritter kann hier allein durch Wahrung des Folterverbots nachgekommen werden; sie legitimiert nicht, derart schwerwiegend in die
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2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einschließlich Grausamkeit/medizinischer Versuche (körperlich-seelische Integrität) Doch was sind nun Fälle „extremer Menschenrechtswidrigkeit“? Grundsätzlich wird man die genannten drei Formen Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dazu zählen müssen (etwa Art. 3 EMRK). Sie stehen zwar in einem Stufenverhältnis;24 aber es geht z.B. nicht an, die schwächste Stufe der erniedrigenden Behandlung in Krisenzeiten zu relativieren.25 Die Notstandsfestigkeit gilt für alle drei Formen. Art. 7 S. 2 IPBPR nimmt noch medizinische Versuche26, Art. 7 S. 1 IPBPR die Grausamkeit hinzu, die aber zumindest unter die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung fallen. Gleiches gilt für die seelische oder körperliche Misshandlung nach Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG. Einen Grenzfall bietet die von der einfachen körperlichen Misshandlung nach § 223 Abs. 1 StGB abgehobene „gesundheitsschädigende Behandlung“ nach § 150d Abs. 1 AE-EV; sie kann im Einzelfall – wie die nachfolgenden Beispiele zeigen – eine Form der unmenschlichen oder zumindest erniedrigenden Behandlung sein. In allen Fällen geht es um die körperlich-seelische Integrität des Menschen,27 um Missachtung seiner Person in ihrer Gesamtheit28, um Desavouierung seiner Friedens- und Schutzrechte 29, um Demütigung in besonders verletzender Form30. In sämtlichen Fällen ist schon die bloße Androhung/ Gefährdung eine extreme Menschenrechtswidrigkeit;31 so stellt die Androhung von Folter (Fall Daschner) zumindest eine unmenschliche Behandlung dar32 – mag sie auch in weiteren Fällen nicht einmal den Betroffenen selbst, sondern die Familie oder engste Freunde (be)treffen.33 Menschenwürde des Beschuldigten oder Polizeipflichtigen einzugreifen; anders aber E. Albrecht Der Staat – Idee und Wirklichkeit, Grundzüge einer Staatsphilosophie, 1976, S. 174; dagegen Hassemer KritV 1988, 343; Wolter FS Küper, S. 707, 712 ff.; vgl. auch Art. 26 AE-Europol (Fn. 2), S. 61; AE-EV (Fn. 9), Begründung zu § 150e Abs. 3 sowie o. Fn. 9, 10. 24 Vgl. Frowein/Peukert EMRK, 2. Aufl. 1996, Art. 3 Rn. 2, 7; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 6, 13; Meyer-Ladewig (Fn. 19), Art. 3 Rn. 6. 25 So aber Frowein/Peukert (Fn. 24), Art. 3 Rn. 2; m. Recht ablehnend SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 4 – auch dagegen, bei den Fällen außerhalb der Folter (d.h. bei unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) „immanente Schranken“ einzuziehen. 26 Nach Nowak (Fn. 8), Art. 7 Rn. 31 nur solche, die als Folter zu qualifizieren sind. 27 Dazu Wolter FG Feigen, S. 383, 396. 28 SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 6 (auch psychische Integrität/Befindlichkeit; Missachtung der Eigenschaft als Mensch). 29 Wolter (Fn. 22), S. 319, 334 Fn. 76. 30 Nicht jede Demütigung mag eine erniedrigende Behandlung sein (Frowein/Peukert [Fn. 24], Art. 3 Rn. 9; aber auch SK-StPO/Wolter [Fn. 22], Vor § 151 Rn. 140a m.N.). 31 SK-StPO/Wolter (Fn. 22), Vor § 151 Rn. 141, 145. 32 Vgl. auch EGMR NStZ 2008, 699; dazu SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 3a. 33 S. auch Nowak (Fn. 8), Art. 7 Rn. 16; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 3; Meyer-Ladewig (Fn. 19), Art. 3 Rn. 28.
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Zur Folter34 mögen neben dem water-boarding und anderen „Desorientierungs- und Sinnberaubungsmethoden“35 psychiatrische Experimente mit gewaltsamer Injektion36 zählen; zur unmenschlichen Behandlung37 Schläge mit erheblichen Verletzungen, Vergewaltigung, Vorenthaltung medizinischer Versorgung, Vortäuschung einer Amputation oder Erschießung38; zur erniedrigenden Behandlung etwa das Aufhängen in Handschellen in unbekleidetem Zustand.39 3. Entschlüsselung des genetischen Programms; Gedankenscanner (geistig-seelische bzw. personale Integrität) Nimmt man diese Leitlinien (absolutes Strafverfolgungs- und Gefahrabwehrverbot; Gefährdung des Betroffenen/Androhung des Mittels genügt; Aufhebung der Friedens- und Schutzrechte und damit hier auch des Rechts auf Freiheit vor [existenzieller] Furcht 40) und berücksichtigt man diese Beispiele (etwa psychiatrische Experimente mit gewaltsamer Injektion; Sinnberaubungsmethoden), so muss m.E. auch die Entschlüsselung des genetischen Programms des Menschen (ggf. mit der Aufdeckung tödlicher Krankheiten)41 oder der nicht mehr allzu ferne Gedankenscanner 42 (z.B. mit der dann möglichen Aufdeckung von Geisel- und Bombenverstecken oder von Drogengeschäften) zur extremen Menschenrechtswidrigkeit und dann zumindest zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, Art. 7 IPBPR, Art. 5 AMRK usf. gezählt werden. Freilich steht insoweit nicht die körperlich-seelische Integrität, vielmehr die geistig-seelische bzw. personale Integrität des Menschen im Vordergrund.43 Die Entschlüsselung des genetischen Programms44 oder der Gedanken, Pläne, Erinnerungen des Menschen führt zu seiner Entmenschlichung, desavouiert die Gedankenfrei-
34 Dazu auch die Definition in Art. 1 Abs. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter (Fn. 8), abgedruckt bei Frowein/Peukert (Fn. 24), Art. 3 Rn. 6. 35 Dazu, zu den sog. „fünf Techniken“ und zur Meinungsverschiedenheit zwischen Kommission und Gerichtshof Frowein/Peukert (Fn. 24), Art. 3 Rn. 5; AE-Europol (Fn. 2), S. 62. 36 Nowak (Fn. 8), Art. 7 Rn. 33, 10. 37 Dazu SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 11; Nowak (Fn. 8), Art. 7 Rn. 10 f. 38 Nowak (Fn. 8), Art. 7 Rn. 12. 39 Dazu Nowak (Fn. 8), Art 7 Rn. 13; zahlreiche weitere Beispiele zu diesen drei Stufen bei SK-StPO/Paeffgen (Fn. 8), Art. 3 EMRK Rn. 7–17 (auch zur subjektiven Seite). 40 Dazu Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 sowie der AMRK; A. Arndt NJW 1961, 898; Strate StV 1989, 410. 41 SK-StPO/Wolter (Fn. 22), Vor § 151 Rn. 146. 42 Dazu Eschelbach/Wasserburg FS Wolter, S. 877, 886; Wolter FS Küper, S. 707, 718. 43 Dazu Wolter FG Feigen, S. 383, 396. 44 § 150d Abs. 3 AE-EV (Fn. 9) unterscheidet dabei zwischen der Entschlüsselung und der bloßen Weitergabe der Information.
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heit und die Grundfesten seiner Personalität. Beide Fälle betreffen eine letzte Tabu- und Geheimniszone, führen zur endgültigen Durchschaubarkeit des Innersten und zur vollkommenen Entblößung des Menschen, vielfach zu ungeahnter Scham und Peinlichkeit.45 In beiden Fällen erscheint erneut schon die bloße Gefährdung als Rechtsverletzung.46 Das Recht auf personale Integrität geht dabei zum Teil zurück auf das Ideal der Freiheit von Furcht und berührt sich auch in diesen Extremfällen mit den Rechten auf Gedankenfreiheit und Privatheit.47 Die Fälle sind jedoch deutlich enger als der „einfache“ Kernbereich privater Lebensgestaltung oder der herkömmliche Intimbereich des Menschen.48
III. Funktion und Reichweite der „unmittelbaren Lebensgefahr“ 1. Lebensgefahr bei legalem/illegalem Vorgehen der Behörden Die Eingrenzung der „Lebensgefahr“ muss aus Raumgründen erneut eher thesenhaft ausfallen. Das ist aber auch möglich, weil in Fällen mit „extremer Menschenrechtswidrigkeit“ oder auch in den Parallelfällen der illegalen Wohnungsüberwachung (etwa § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1 StPO) der Lebensgefahrbegriff ohnehin enger gefasst sein muss als bei einer Befugnisnorm nach Polizeirecht oder den Schranken im Grundgesetz (Art. 13 Abs. 4 GG), die das legale Vorgehen der Behörden voraussetzen. So sprechen § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1 StPO von einer „im Einzelfall bestehenden“ Lebensgefahr49, der AE-EV und der AE-Europol bei der Verwendung von Ziel- und Zufallsfunden nach körperlicher Misshandlung i.S.v. Art. 3 EMRK von „unmittelbarer“ Lebensgefahr (oben I.). 2. Menschenwürde und dringende/unmittelbare Lebensgefahr Das Lebensgefährdungsverbot (dazu etwa § 150d Abs. 2 S. 1 AE-EV in Anknüpfung an Art. 2 Abs. 2 S. 1, 3 GG, Art. 2 EMRK und Art. 2 Grundrechte-Charta) beruht auf einer Menschenwürdeposition zur Lebensbewahrung. Dieses Recht auf Leben gilt jedenfalls – vollumfänglich und abgesehen von den Vorbehalten in diesen Regelungen – bei (dringender bzw.) unmittel45
Dazu Wolter FG Feigen, S. 383, 396 m. Fn. 63, 65. SK-StPO/Wolter (Fn. 22), Vor § 151 Rn. 146. 47 SK-StPO/Wolter (Fn. 22), Vor § 151 Rn. 146; o. Fn. 40. 48 Deshalb gehören noch nicht hierher die Formen der Umgehung des Selbstbelastungsverbots oder der Ausforschung (dazu auch Wolter [Fn. 22], S. 319, 332, 334). 49 Die weiteren Gefahren in § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1, 2 StPO sind schon angesichts Art. 13 Abs. 4 GG, der sogar legales Vorgehen voraussetzt, zu weit; vgl. auch SK-StPO/ Wolter, 4. Aufl. 2010, § 100d Rn. 46. 46
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barer Lebensgefahr (§ 150d AE-EV).50 Das ist zu bedenken, wenn in unseren Fällen zuweilen von der Kollision zweier Menschenwürdepositionen die Rede ist (unten IV.). 3. Sprachverwirrung bei legalem Vorgehen der Behörden Die (einfache) „Lebensgefahr“ hat als einschränkendes Merkmal im „legalen“ Bereich darüber hinaus mannigfache Funktionen – etwa bei der Rechtfertigung und Entschuldigung im StGB (§§ 34, 35)51, bei den Schranken der Wohnungsüberwachung (Art. 13 Abs. 4 GG), als Eckpfeiler bei den entsprechenden Befugnisnormen zur Wohnungsüberwachung 52 (z.B. Art. 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BayPAG; § 35 Nds. SOG; § 34b SOG M-V; § 28a Abs. 1 SPolG) und anderen erheblichen Grundrechtseingriffen im Polizeirecht. Sie kann auch das Merkmal „unbefugt“ in § 201a StGB mit Leben füllen, da ein „befugtes Filmen innerhalb des höchstpersönlichen Lebensbereichs“ angesichts Art. 1 Abs. 1 GG zunächst einmal durchaus überraschend scheint.53 Dabei gibt man je nach Schwere des Grundrechtseingriffs dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durch abgestufte Begriffe wie „nicht anders abwendbar“ (vgl. auch die §§ 34, 35 StGB), „unerlässlich“, „erforderlich“ Raum. Beim Gefahrbegriff herrscht im Übrigen Sprachverwirrung; es gibt gegenwärtige, dringende, konkrete (§ 6e BayVerfSchG), im Einzelfall bestehende (§§ 23 ZFdG, 100d StPO) und einfache Lebensgefahren. Die Kombination von Gefahr und Verhältnismäßigkeit der Abwehr sind ebenso vielfältig: „gegenwärtig und zwingend erforderlich“; „gegenwärtig und erforderlich“; „gegenwärtig und unerlässlich“; „dringend und unerlässlich“; aber auch „dringend und zwingend erforderlich“; Abwehr der Gefahr „auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert“. 4. Lebenserfolgsgefahr – weder End-Gefahrerfolg (Endgefahr) noch Anfangsgefahr Letztlich kommt es auf eine Entwirrung hier nicht an, zumal der Lebensgefahrbegriff – m.E. zu Unrecht – zum Teil noch je nach Rechtsgebiet oder gar Rechtsvorschrift unterschiedlich ausgelegt wird.54 Entscheidend ist viel-
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Dazu BVerfG NJW 2006, 751 („dringend“); Wolter FS Küper, S. 707, 711. Zu diesem Ursprung Schroeder FS Wolter, S. 247 ff. 52 Verfehlt sind insoweit auch mannigfache geringere Gefahren (vgl. auch o. Fn. 49); SK-StPO/Wolter, 4. Aufl. 2010, § 100c Rn. 16. 53 Wolter in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 225, 233 (zum Videoeingriff bei Kindesmissbrauch in der Wohnung). 54 Nachw. bei Roxin (Fn. 4), § 16 Rn. 14. 51
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mehr zunächst, dass es sich bei der Lebensgefahr weder um einen ex post zu bestimmenden Gefahrerfolg (oben I.) noch um eine bloße Anfangsgefahr mit abgesenkten Voraussetzungen (wie etwa bei einem unbeendeten tauglichen Verletzungs- oder auch Gefährdungsversuch) handelt. Gegen das Erfordernis eines Gefahrerfolgs („Endgefahr“) spricht nicht nur die jeweilige Formulierung (vgl. demgegenüber z.B. die §§ 315a ff. StGB); vielmehr kann ein ex post-Gefahrerfolg auch nicht mehr abgewendet oder „hingenommen“ werden (§§ 34, 35 StGB). Es geht bei einer anstehenden Lebensrettung aber auch nicht an, den Begriff der Lebensgefahr mit ex-post-Elementen anzureichern.55 Gegen eine bloße Anfangsgefahr streitet nicht nur die Brisanz der mit der Lebensgefahr zu rechtfertigenden Befugnisnormen sowie vielfach der Zusatz „dringend, gegenwärtig, im Einzelfall“ bereits bei legalem Vorgehen der Behörden. Vielmehr ist für die hier besprochenen Fälle der Legitimierung einer (extremen) Menschenwürdeverletzung ohnehin der engst-mögliche Lebensgefahrbegriff zu etablieren, der – wie gesagt – auf einem reinen ex ante-Urteil beruht. Dieser Begriff entspricht dann in einem ersten Schritt derjenigen Lebensgefahr, die bei einem beendeten tauglichen Totschlagsversuch nach den §§ 212, 22 StGB oder der lebensgefährdenden Behandlung nach § 224 StGB objektiv vorhanden sein muss.56 Und diese Erfolgsgefahr muss in den hier besprochenen Konstellationen zudem zu einer Höchstgefahr gesteigert sein, was z.B. durch den Begriff „unmittelbare (bzw. dringende) Lebensgefahr“ zum Ausdruck kommt. Dass schließlich der Gesetzgeber selbst zwischen Anfangsgefahr und Erfolgsgefahr im beschriebenen Sinne unterscheidet, offenbart z.B. § 20k Abs. 1 S. 2 BKAG (ähnlich Art. 34 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BayPAG; § 33b Abs. 5 BbgPolG): „Eine Maßnahme nach Satz 1 ist auch zulässig, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass ohne Durchführung der Maßnahme in näherer Zukunft ein Schaden eintritt57, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr … hinweisen“. 5. Unmittelbare Lebensgefahr und extreme Menschenrechtswidrigkeit Was ist nach allem eine strikt ex ante und objektiv betrachtete „unmittelbare (nicht nur dringende58) Lebensgefahr“, d.h. eine Erfolgsgefahr, die gegeben sein muss, um eine Legitimation zur Lebensrettung bzw. zur entspre55
So aber Schönke/Schröder/Perron StGB, 28. Aufl. 2010, § 34 Rn. 13; anders Roxin (Fn. 4), § 16 Rn. 15. 56 Dazu Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 94 f., 254 ff. 57 Vgl. auch Jarass/Pieroth GG, 10. Aufl. 2012, Art. 13 Rn. 30; § 8 Abs. 1 PolGNW. 58 Zur Kombination von hochrangigem Rechtsgut und besonderer Zeitnähe W.-R. Schenke Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2013, Rn. 78. Die „dringende Lebensgefahr“
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chenden Datenverwendung nach extremer Menschenrechtswidrigkeit zu eröffnen? M.E. muss dann mit hoher, wenn nicht an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen sein, dass ohne Durchführung einer sofortigen Rettungsmaßnahme der Tod der Opfer eintritt; die Gefahr für das Leben muss sich (in objektiver Prognose ex ante) über die Ernsthaftigkeit des Risikos hinaus nahe- bzw. geradezu sicher zum Tode hin entwickeln – man kann deshalb ohne eine unverzügliche Rettungshandlung auf das Ausbleiben der Verletzung weder ernstlich vertrauen noch auch nur vage hoffen („unmittelbare Lebensgefahr“59).
IV. Kollision/Kombination von unmittelbarer Lebensgefahr und extremer Menschenrechtswidrigkeit Nach der Bestimmung der Funktion und Reichweite von unmittelbarer Lebensgefahr (III.) und extremer Menschenrechtswidrigkeit (II.) kann man darangehen, die Beispiele unter I. und II. (etwa Verwendung von lebensbewahrenden Zufallsfunden nach Folter; gezielte Rettungsfolter) in ein System von Konstellationen zu bringen, in denen die extreme Menschenrechtswidrigkeit mit der Abwehr einer unmittelbaren Lebensgefahr gleichsam kollidiert, jedenfalls aufeinander trifft oder folgt. Zum Vergleich soll jeweils eine Wohnungsüberwachung in den Blick genommen werden, bei der eine unmittelbare Lebensgefahr für Dritte ersichtlich ist oder wird. Dabei kann man den Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG je nach Fallkonstellation sowohl im Strafprozessrecht wie im Polizeirecht entweder als gerade noch zulässig60 oder – bei Fehlen der gesetzlichen Voraussetzungen – mit dem BVerfG als „einfache Menschenwürdeverletzung“ ansehen, so dass etwaige Unterschiede und Stufenverhältnisse bei den Fällen mit „extremer Menschenrechtswidrigkeit“ offenbar werden.
ist enger als die „Lebensgefahr als dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ in Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG (o. Fn. 20); vgl. noch Fn. 59. 59 Näher Wolter JuS 1978, 748, 754. Zu dieser Zwangslage („sofortiges Handeln oder Tod“) Sch/Sch/Perron (Fn. 55), § 34 Rn. 17. Die „unmittelbare Lebensgefahr“ ist kein terminus technicus, ist aber im Einzelfall oftmals noch enger als die „dringende Lebensgefahr“, die der Gesetzgeber vielfach sogar schon bei legalem Vorgehen der Behörden verwendet (o. 3. und Fn. 58). 60 § 100c StPO und entsprechende Befugnisnormen im Polizeirecht; zu verfassungsrechtlichen Bedenken bei § 100c StPO: SK-StPO/Wolter (Fn. 52), § 100c Rn. 2 ff.; zu den Polizeigesetzen vgl. noch o. Fn. 52 und a.a.O. § 100c Rn. 16.
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1. Abwehr einer Lebensgefahr als Schranke und Voraussetzung einer Befugnisnorm (Art. 13 Abs. 4 GG und Polizeigesetze) Eine Wohnungsüberwachung ist nach Art. 13 Abs. 4 GG grundsätzlich zulässig, wenn es (nach richterlicher Anordnung) um die „Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer Lebensgefahr“ geht. Die Befugnisnormen in den Polizeigesetzen folgen entsprechenden Schranken (Parlamentsvorbehalt/Richtervorbehalt) und halten die sonstigen Grenzen von Art. 1 Abs. 1, 19 Abs. 2 GG (z.B. Kernbereich privater Lebensgestaltung; Zeugnisverweigerungsrechte nach § 53 StPO) inzwischen überwiegend ein (vgl. aber auch oben III. 3.). Eine derartige Befugnisnorm ist z.B. in den Fällen der Rettungsfolter von vornherein ausgeschlossen. Sie ist auch nicht vorhanden. Art. 3 EMRK ist notstandsfest (Art. 15 Abs. 2 EMRK; näher, auch zu vergleichbaren Vorschriften, oben I., II.). Die Rettungsfolter ist dann auch von den §§ 34, 35 StGB oder übergesetzlichem Notstand nicht gedeckt (vgl. noch sogleich unter 2.). 2. Kollision von Menschenwürdepositionen? Es kann nun jenseits des Gesetzes so liegen, dass mit einer kernbereichsverletzenden oder sonst illegalen (präventiven) Wohnungsüberwachung (mangels richterlicher Anordnung; nach Fristüberschreitung; bei Fehlen anderer gesetzlicher Voraussetzungen) gezielt die unmittelbare Lebensgefahr für ein Familienmitglied gebannt oder ein maßgeblicher Kindesmissbrauch verhindert werden soll (man denke auch an den „Kannibalen von Rotenburg“). Hier kollidieren auf den ersten Blick zwei Pflichten in einem Bereich mit jeweiliger Menschenwürderelevanz: eine Unterlassungspflicht (Nichtverletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und des Wohnungsgrundrechts des Betroffenen) und die Schutzpflicht der Behörden zur Rettung von Leben der Opfer (Recht auf Leben als Menschenwürdeposition; oben III. 2.). Dennoch ist es nicht so, dass hier zwei Menschenwürdepositionen kollidieren und nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips abgewogen werden müssen.61 Dabei geht freilich die Überlegung von Kutscha/Roggan fehl, die bei Geiselnahmen, Tötungshandlungen und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung eine Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (bzw. dann auch des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung) von vornherein ausschließen und damit einer Art Verwirkung der Grundrechte des Betroffenen bei von ihm herbeigeführter Lebensgefahr der Opfer das 61 Vgl. aber (noch) Wolter StV 1990, 175, 179 beim Tagebuch; AE-EV (Fn. 9), S. 71 bei der Hörfalle; allgemein AE-Europol (Fn. 2), S. 61.
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Wort reden. Aber man muss in Ansehung des Rechtsgedankens von Art. 13 Abs. 4 GG – der freilich, wie unter III. 1., 5. begründet, i.S. einer „unmittelbaren“ (Höchst-)Lebensgefahr noch einmal verengt werden müsste – und angesichts der grundrechtlichen Schutzpflichten der Behörden konstatieren, dass sie zum Einschreiten legitimiert und sogar verpflichtet sind und jedenfalls insoweit mit Blick auf die Opfer „nicht rechtswidrig“ handeln. Dies schließt nicht aus, entgegen Kutscha/Roggan62, dass das Handeln der Behörden mit Blick auf den Betroffenen seine menschenwürdeverletzende Bedeutung behält – etwa mit der Konsequenz, dass die erlangten Informationen im polizeilichen Ausgangsverfahren (z.B. Festnahme; Sicherstellung; Datenverarbeitung) auch polizeirechtlich nicht verwertet werden dürfen.63 Und wenn sie im polizeilichen Ursprungsverfahren wegen Menschenwürdeverletzung nicht verwertbar sind, dürfen etwaige (repressive) Zufallsfunde nach § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO zusätzlich auch nicht im Strafverfahren verwendet werden.64 Auf diese Weise werden die beiden Menschenwürdepositionen (Art. 13 GG – Leben der Opfer) nicht abgewogen, sondern je für sich gewahrt und kombiniert. Sähe man das anders, dann würde man auf unzulässige Weise die Reichweite der Menschenwürde nicht aus sich heraus, vom Personhaften her, bestimmen, sondern durch die Erfordernisse der Gefahrenabwehr instrumentalisieren. Ganz anders liegen die Dinge bei der Rettungsfolter (etwa Fall Daschner). Hier kollidieren nicht zwei Pflichten im Bereich mit jeweiliger Menschenwürderelevanz: eine Unterlassungspflicht gemäß Art. 3 EMRK (Nichtverletzung der körperlich-seelischen Integrität des Betroffenen) und die Schutzpflicht (oder zumindest das Schutzrecht) der Behörden zur Rettung der Opfer bei unmittelbarer Lebensgefahr. In der Unterlassung der Misshandlung des Betroffenen, die eine in keiner Hinsicht hinzunehmende „extreme Menschenrechtswidrigkeit“ darstellen würde, kann nicht zugleich ein (zudem nur „einfacher“) Menschenwürdeverstoß gegenüber dem Opfer liegen. Der Schutzpflicht des Staates in Fällen, in denen der Betroffene in stärkstem Maße zum Objekt herabgewürdigt, als Mensch entwürdigt, schutzlos gestellt und gedemütigt (und in den Parallelfällen der Entschlüsselung von Genetik und Gedanken im Innersten durchschaubar gemacht und entblößt) würde, kann hier nur durch Wahrung des Misshandlungsverbots (und „Entschlüsselungsverbots“) z.B. nach Art. 3 EMRK nachgekommen werden.65 Es besteht insoweit – wie unter II. begründet – von vornherein ein absolutes Gefahrabwehrverbot. Eine eigentliche Kollision von Menschenwürdepositionen besteht deshalb auch hier nicht. 62 63 64 65
Kutscha/Roggan GS Lisken, 2004, S. 33. Wolter FS Kühne, S. 379, 386 f. – Entsprechendes gilt für § 201a StGB (o. Fn. 53). Anders BGHSt 54, 69 ff.; dagegen Wolter FS Roxin, 2011, S. 1245, 1260 ff. Nachw. o. Fn. 23.
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3. Lebensgefahr als Zufallsfund Wieder anders – jedenfalls für die Fälle nach Art. 3 EMRK– stellen sich die Rechtsprobleme dann dar, wenn erst ein eigentlicher Zufallsfund66 die unmittelbare Lebensgefahr z.B. von Geiseln ergibt. Der Blick geht jetzt zunächst in ein Ermittlungsverfahren mit unzulässiger Wohnungsüberwachung; die Probleme liegen im Polizeiverfahren jedoch vergleichbar. Und man stelle sich dann vor, dass man von den unmittelbar im Leben gefährdeten Familienmitgliedern innerhalb der Wohnung zunächst nichts wusste. Für das Ermittlungsverfahren gibt § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 2 StPO die grundsätzlich überzeugende Antwort dahin, dass die erlangten Daten nach illegaler Wohnungsüberwachung jedenfalls bei einer „im Einzelfall bestehenden Lebensgefahr“ verwendet werden dürfen (vgl. auch oben III. 1., 5. und § 150e Abs. 3 AE-EV: „unmittelbare Lebensgefahr“).67 Claus Roxin68 hat grundsätzlich Recht, wenn er in diesem Fall (erneut) nicht eine Kollision von Menschenwürdepositionen sieht, da es lediglich um einen Vergleich von Datenerhebung und späterer Datenverwendung geht und jedenfalls in der „Verwendung (der Daten) zur Rettung Dritter noch kein Menschenwürdeverstoß liegt“. Es wäre andererseits ein unverzeihlicher Fehler, mit Löffelmann69 und der damaligen Gesetzesbegründung70 so zu argumentieren, dass „Informationen, die zur Abwehr der in [§ 100d] Absatz 5 Nr. 2 genannten Gefahren notwendig sind, von vornherein nicht dem Kernbereich (nach Art. 1 Abs. 1 GG) zuzurechnen sein werden“. Immerhin bleibt zu bedenken, dass nach dem BVerfG in jeder Datenverwendung auch eine Vertiefung, Erneuerung oder Erweiterung der Datenerhebung, hier des Menschenwürdeverstoßes gegen Art. 13 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, liegt;71 und dann stünden sich doch zwei Würdepositionen gegenüber (Art. 13 GG bei Datenverwendung – Leben der Opfer). Diese Bedenken lösen sich jedoch auf, wenn man an die Überlegungen oben zu 2. anschließt: In Ansehung der grundrechtlichen Schutzpflichten der Behörden zur Lebensrettung gilt jedenfalls das Verwenden der Daten als „nicht rechtswidrig“. Das setzt dann freilich voraus, dass die illegal beschafften (sonstigen)
66 Nicht gemeint sind doppelfunktionale Handlungen (gezielte Ermittlungen gegenüber Geiselnehmer und zugleich Gefahrenabwehr gegenüber der Geisel – dazu o. Fn. 9); auch nicht „gezielte Zufallsfunde“ („man wird schon etwas finden“). 67 Vgl. auch Wolter FS Küper, S. 707, 714 m. Hinweis auf BGHSt 50, 206, 214 (Selbstgespräch) und auf BVerfGE 109, 279, 319, 331; allgemein bei vergleichbaren „einfachen“ Art. 1 GG-Verletzungen § 150e Abs. 3 AE-EV (z.B. Veranlassung von Selbstbelastung bzw. Ermittlungen gegen Unbeteiligte; Fn. 9) und Art. 26 Abs. 2 AE-Europol (Fn. 2). 68 Roxin FS Wolter, S. 1057, 1066 f. 69 Löffelmann ZIS 2006, 96 Fn. 134. 70 BT-Drucks. 15/5486, S. 18. 71 Vgl. BVerfGE 65, 1, 40 ff.; 85, 399, 402; BGHSt 37, 30, 33; 14, 358, 365.
Unmittelbare Lebensgefahr und extreme Menschenrechtswidrigkeit
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Daten nicht zur Überführung und weiteren Belastung des Betroffenen verwendet werden dürfen. Die alles entscheidende Frage bleibt, ob das auch dann gilt, wenn nicht eine „einfache“ Menschenwürdeverletzung, sondern wenn eine Misshandlung/Folter i.S.v. Art. 3 EMRK einen solchen Zufallsfund ergibt. Man denke auch an Informationen, die aus einem „Verhörgefängnis“ stammen, in dem der Betroffene ungeahnt und ungefragt von Geiseln oder einem geplanten Giftgasanschlag berichtet. In den bisherigen Fällen war bei Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung stets ein von der Wohnungsüberwachung gerade abweichender Standpunkt einzunehmen. Auch das Schweigen von § 136a StPO – im Falle der Misshandlung und im Gegensatz zu (dem freilich viel später ins Gesetz gelangten) § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 2 StPO – bleibt beredt. Art. 26 Abs. 2 S. 4 AE-Europol schließt ein Verwendungsverbot nicht aus; § 150e Abs. 3 AE-EV lässt die Verwendung bei „unmittelbarer Lebensgefahr“ hingegen zu. Selbst Art. 3, 15 EMRK und vergleichbare Konventions-Regelungen verhalten sich zu der Verwendung von Zufallserkenntnissen nicht ausdrücklich. Für die weitere Diskussion soll hier mit dem AE-EV – und bei Beschränkung auf eine „unmittelbare Lebensgefahr“ (oben III. 1., 5.) – für eine Datenverwendungsbefugnis plädiert werden. Es geht nicht um erwünschte Ergebnisse gezielter Rettungsfolter, sondern um zufällig erlangte und ungeahnte Erkenntnisse nach Abschluss einer Misshandlung aus anderem Grund. Man darf nicht (plötzlich) sehenden Auges das Leben von Geiseln oder von unmittelbar gefährdeten Giftgasopfern aufs Spiel setzen. Der Staat darf insoweit nicht wehrlos gestellt und seiner grundrechtlichen Schutzpflichten entbunden werden. Es geht um eine andere Spur staatlicher Tätigkeit. Auch sonst wird zwischen gezielter Aufdeckung oder nur Preisgabe von Geheimnissen72, zwischen Datenerhebung von staatlich gelenkten Privaten oder nur staatlicher Nutzung anderweitig erlangter Daten unterschieden.73 An der extremen Menschenrechtswidrigkeit gegenüber dem Betroffenen im Ausgangsverfahren – mit allen Konsequenzen und Sanktionen – wird auch nicht gerüttelt. Ggf. geht es sogar um eine Geiselnahme oder einen Giftgasanschlag durch einen ganz anderen Täter, und der Betroffene ist lediglich weitläufiger Informant. Und wenn nicht: Durch die Verhinderung z.B. des Geiseltods wird der Betroffene auch vor einer möglichen Bestrafung wegen Geiselnahme mit Todesfolge oder Totschlags bewahrt.74
72 73 74
Vgl. Fn. 44. Wolter (Fn. 22), S. 319, 340 m. Nachw. Roxin FS Wolter, S. 1057, 1067; Wolter FS Küper, S. 707, 715.
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4. Rettungsfolter und Geiselrettung Doch dann bleibt zum Schluss die Frage: Muss nicht (fast) alles unter 3. auch dann gelten, wenn der Betroffene nach einer gezielten Misshandlung gemäß Art. 3 EMRK das von den Behörden konkret vermutete Versteck der Geiseln oder des Giftgases preisgibt und dann die in ihrem Leben unmittelbar gefährdeten Opfer gerettet werden könnten (Abwandlung Fall Daschner). Art. 3, 15 EMRK und § 136a StPO bleiben eine Antwort schuldig. Der AE-EV wollte diese Konstellationen im Strafprozessrecht ungeregelt lassen und blieb so unentschieden. Der AE-Europol hingegen will aus Gründen der Disziplinierung, der Verhinderung eines Dammbruchs, der Notstandsfestigkeit der Folter in den Menschenrechtskonventionen und der unnachgiebigen Ächtung solcher Misshandlungen ein absolutes Verbot der Datenverwendung – auch zum Zwecke der Abwehr einer unmittelbaren Lebensgefahr – etablieren. Er hat das auf die vollkommen unerträglichen Fälle der Folter i.e.S. beschränkt. Er will jede „Ausflucht“ der Behörden bei Folter von vornherein unterbinden. Es wurde dabei auch gesehen, wie leichtfertig das Urteil „unmittelbare Lebensgefahr“, Geiselnehmer, Giftgastäter gefällt werden kann und wie angewiesen, geradezu abhängig die Behörden von Ergebnissen selbst aus ausländischen, eigens eingerichteten, „rechtsfreien“ Verhörgefängnissen werden können. Und dennoch: Angesichts der grundrechtlichen Schutzpflichten gilt auch hier die bloße Verwendung von Informationen als solche zum Zwecke der unmittelbaren Lebensrettung (ungeachtet aller verbleibenden rechtlichen Konsequenzen und Sanktionen für den Betroffenen wie ggf. die Behörden) nicht als (extrem menschen-)rechtswidrig und ist deshalb für sich zulässig. Das ist keine rechtsethische Billigung wie bei einem Rechtfertigungsgrund; aber es ist eine (ggf. gesetzlich festzulegende) „Legitimation bzw. Obligation durch Verfahren“.75
V. Widmung Damit sei die Studie beschlossen. Ich widme sie mit herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag dem engen Freund und großen Strafrechtsgelehrten Bernd Schünemann.
75 Vgl. auch Wolter GA 1996, 207, 226 f. in anderem Zusammenhang (§ 218a Abs. 1 StGB).
Allgemeiner Teil des Strafrechts
Viktimologischer Ansatz vs. Selbstverantwortungsgrundsatz (zugleich: Allgemeiner Teil vs. Besonderer Teil)? Manuel Cancio Meliá
Bernd Schünemann hat mit der ihm eigenen, höchst intensiven Arbeitshaltung – die jeden, der ihn kennenlernt, beeindruckt, die aber auch jeder andere aus seinem Schriftenverzeichnis erschließen kann – eine breite Reihe von Problembereichen der Strafrechtsdogmatik, des Strafprozessrechts, des europäischen Strafrechts und der Rechtspolitik behandelt. Der verehrte Jubilar macht es einem also eigentlich ganz einfach, ein geeignetes Thema für einen für dieses Buch bestimmten Beitrag zu finden – wenn es in den letzten Jahrzehnten relevant war, hat es Schünemann bearbeitet. Trotz dieser reichen, ja verlockenden Palette an Themen, die zu unserem Autor passen, sieht sich aber der Verfasser dieser Zeilen eingeschränkt: Denn so vielen Überlegungen des Jubilars man gefolgt ist oder sie in die spanische Sprache übertragen hat, so gibt es eine Frage, bei der ich die Ehre hatte, von Schünemann in seine Überlegungen einbezogen, in den Dialog eingebracht zu werden: das hauptsächlich von ihm begründete viktimologische Prinzip. Obwohl es mir in nun mehr als fünfzehn Jahren nicht gelungen ist, in diesem Bereich den bekanntermaßen meinungsstarken Jubilar für meine Sicht der Materie zu gewinnen, ist diese Diskussion vielleicht dadurch weiterzuführen, dass ich mich im vorliegenden Rahmen erfreche, seine eigenen Thesen mit einiger Abweichung von der Auffassung ihres Schöpfers zu interpretieren.
I. Schünemanns viktimologisches Prinzip (und die Selbstgefährdung) 1. Seit fast vierzig Jahren hat der verehrte Jubilar das von ihm so genannte „viktimologische Prinzip“ entwickelt,1 verteidigt2 und bezüglich verschie1 Schünemann ZStW 90 (1978), 11, 54 ff.; ders. FS Bockelmann, 1979, S. 117, 130 f.; ders. in: Schneider (Hrsg.), Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege, S. 407 ff.; ders. FS Faller, 1984, S. 357, 362 ff.; ders. NStZ 1986, 193, 439; ders. in: ders./Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem. Neue Entwicklungen in Deutschland und in den USA, 2000, S. 1, 5 f.; ders. in: ders. (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 51, 61 ff.; ders. in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles. Begrenzungsprinzi-
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dener Deliktstatbestände3 ausgebaut und so konkret für die Rechtsanwendung nutzbar gemacht. Dieser viktimologische oder „viktimodogmatische“4 Ansatz wird von ihm als teleologische Auslegungsmaxime, als „umfassendes regulatives Prinzip zur Tatbestandseingrenzung“5 verstanden, nach dem „… alle diejenigen Verhaltensweisen im Rahmen zulässiger Tatbestandsauslegung aus dem Strafbarkeitsbereich zu eliminieren [seien], gegenüber denen das Opfer … eines Schutzes weder würdig noch bedürftig ist“.6 Dieser Auslegungsgrundsatz wird deduktiv7 begründet, denn er sei aus dem Subsidiaritätsprinzip abzuleiten: Da staatliche Intervention – auch durch Strafrecht – nur dann zu legitimieren sei, wenn keine anderweitigen gesellschaftlichen Instrumente zur Konfliktlösung vorhanden sind, und der Selbstschutz des Opfers als ein solcher nichtstaatlicher Mechanismus zu verstehen sei, liefere der Gedanke der Subsidiarität die materielle Fundierung der Anwendung des viktimologischen Auslegungsgrundsatzes.8 Entgegen einiger vielleicht übereilten kritischen Wortmeldungen – wie noch zu zeigen sein wird – ist hier anzumerken, dass Schünemann eine komplexe „normative“9 Begründung dieser Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes vorgelegt hat, das heißt, dass er nicht einfach einem Fehlschluss von der faktischen Selbstschutzmöglichkeit auf die rechtliche Folge (der interpretatorischen Eingrenzung des betreffenden Tatbestandes) erliegt. Vielmehr hat er von Anfang an betont, der entscheidende Faktor liege in der Wertung der Position des Opfers qua „Schutzwürdigkeit“.10 Auf dieser Grundlage hat Schünemann dann – wie vorhin angemerkt – die konkrete Art der Tatbestandseingrenzung bei verschiedenen Straftaten des Besonderen Teils erarbeitet – allerdings, pien bei der Strafbegründung, 2006, S. 18, 31 ff.; eine eingehende Darstellung der Position Schünemanns und zahlreiche weitere Nachweise zu anderen Autoren in der deutschen und spanischsprachigen Diskussion bei Cancio Meliá Nueva Doctrina Penal 1997/B, 513 ff.; ders. Conducta de la víctima e imputación objetiva. Estudio sobre los ámbitos de responsabilidad de víctima y autor en actividades arriesgadas, 2. Aufl. Barcelona 2001, S. 221 ff., 227 ff., 237 ff.; sehr synthetisch ders. ZStW 111 (1999), 357, 370 ff. 2 S. vor allem Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 64 ff. 3 Vgl. nur Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2010, Vor § 201 Rn. 7; § 201 Rn. 13, 14; § 202 Rn. 2, 13; § 202a Rn. 14; § 203 Rn. 16; ders. in: Strafrechtsystem und Betrug (Fn. 1), S. 80 ff. 4 Obwohl diese Bezeichnung für die Konstruktion eher von seinen Gegnern verwandt worden ist (wie Schünemann selbst anmerkt, in: Strafrechtssystem und Betrug [Fn. 1], S. 62), wurde sie auch von ihrem Begründer angenommen. 5 Schünemann FS Faller, 1984, S. 356, 362. 6 S. z.B. Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 62. 7 Schünemann Verbrechensopfer (Fn. 1), S. 410. 8 Schünemann ZStW 90 (1978), 32 ff.; ders. FS Bockelmann, 1979, S. 128; ders. Verbrechensopfer (Fn. 1), S. 411. 9 Schünemann FS Faller, 1984, S. 362. 10 Vgl. nur Schünemann in: ders./Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373, 451; ders. in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 66 ff.
Viktimologischer Ansatz vs. Selbstverantwortungsgrundsatz
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ohne „Gewaltdelikte“ einzubeziehen, „bei denen niemand je eine viktimodogmatische Einschränkung des Tatbestandes gefordert hat“11. 2. Wenn in den letzten Jahren die Rede von „dem Opfer“ und unserem Jubilar ist, wird ob dem durch die viktimologische Maxime verursachten Getöse – oder vielleicht, weil es in ein anderes dogmatisches Kästchen gehört – des Öfteren vergessen, dass Schünemann auch in einer besonders wirkmächtigen Art und Weise an der Durchsetzung der Lehre von der Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung beteiligt war,12 da seine Kritik13 an einer Entscheidung des BGH bezüglich der Überlassung von gefährlichen Elementen an ein eigenverantwortlich handelndes „Opfer“ einen direkten Einfluss auf die Übernahme dieser Lehre durch die deutsche Rechtsprechung ausübte.14 Diese Tatsache wird im weiteren Verlauf der hiesigen Überlegungen zu berücksichtigen sein.
II. Kritik und Antikritik15 1. Die erste Angriffsrichtung auf die von unserem Jubilar erarbeitete viktimodogmatische Konstruktion bringt die Kriminalpolitik bzw. sogar das Selbstverständnis des Strafrechts auf den Plan: Die Folge eines solchen allgemeinen Auslegungsgrundsatzes sei ein tendenzieller Rückzug des Strafrechts, eine Privatisierung von Konflikten, die keine irgendwie geartete „Restitution“ an die Gesellschaft bedeuten,16 sondern eine bloße Schutzlosstellung
11 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 66 f.; vgl. schon ders. NStZ 1986, 440. 12 Grundlegend Roxin FS Gallas, 1973, S. 241 ff.; vgl. bereits Schünemann JA 1975, 435, 511, 575, 647, 715, 787, 722 ff. und auch ders. in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 75; diese Lehre – die wohl heute sowohl in Deutschland als auch in Spanien als herrschend gelten kann – hat in letzter Zeit eine Revitalisierung erfahren; vgl. nur Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 317 ff., 319 ff., 337 ff., 388 ff.; ders. FS Puppe, 2011, S. 767 ff.; Grünewald GA 2012, 364 ff.; Roxin GA 2012, 655 ff.; Gimbernat Ordeig FS Wolter, 2013, S. 389 ff.; Walter NStZ 2013, 673 ff.; gegen die Unterscheidung vgl. für alle Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 87 ff., 149 f., 169 ff.; Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 179 ff., 191 ff., 207 ff.; ders. ZStW 111 (1999), 366 ff. m.w.N. 13 Schünemann NStZ 1982, 60 ff. 14 So die Wertung von Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 110: „vor allem unter dem Einfluss der Kritik Schünemanns“ fand der „aufsehenerregende“ Richtungswechsel des BGH in BGHSt 32, 262 (vgl. 264 ff. unter Bezugnahme auf Schünemann) statt; hierzu Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 183 ff. mit Fn. 373 m.w.N. 15 Übersicht bei Roxin (Fn. 14), § 14 Rn. 19–25. 16 In der abolitionistischen Terminologie Christies British Journal of Criminology 17 (1977), 1 ff., 10 ff.
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der Opfer mit sich bringen würde, eine partielle Etablierung eines Faustrechts, ein institutionalisiertes „blaming the victim“.17 Diesem gravierenden, grundsätzlichen Einwand begegnet Schünemann mit der Überlegung, dass dieses Faustrechtsargument nur für Delikte gelten könne, die gar nicht von der viktimologischen Maxime als Anwendungsbereich reklamiert worden seien, während die tatsächlich postulierten einschlägigen Sachverhalte und Deliktsfiguren, also die tatsächlichen viktimodogmatischen Vorschläge, aus der Perspektive dieser Kritik unberücksichtigt blieben.18 Ihm ist hierbei Recht zu geben, und zuzüglich ist aus einer allgemeineren Perspektive anzumerken, dass ein solches Argument natürlich auch auf jedes andere dogmatische Instrument angewandt werden kann, dessen Anwendung in einer Verneinung der Haftung des Täters resultieren kann19; es ließe sich sogar – parallel zu dem verbreiteten, absolut verfehlten Verständnis des Verhältnisses zwischen Opfer und Täter in einer gewissen viktimologischen Literatur als Nullsummenspiel – entgegnen, in Wirklichkeit bestehe ein „viktimologisches Dilemma“, da aus der entgegengesetzten Perspektive die Nichtberücksichtigung von relevantem Opferverhalten in ein unangemessenes „blaming the committer“ mündet.20 Kurz: die kriminalpolitische Abkanzelung des viktimologischen Ansatzes bleibt solange ungerechtfertigt, wie schon nur der Denkansatz der möglichen Relevanz des Verhaltens des Geschädigten verneint wird, ohne auf die normative Begründung einzugehen. 2. Eine andere, mit der vorherigen verwandte Hauptkritik am viktimologischen Ansatz nimmt gerade dessen normative Fundierung ins Visier: Dieser könne gar nicht aus dem Subsidiaritätsgrundsatz abzuleiten sein, da dieser
17 Vgl. nur, mit verschiedenen Nuancen: grundlegend Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 178 ff., 206 ff.; ders. Der Einfluß des Opferverhaltens auf die dogmatische Beurteilung der Tat – einige Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Viktimologie und Dogmatik, 1983, S. 15 ff., 17 ff.; Hassemer FS Klug II, 1983, S. 226; ders. Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 77 ff.; Neumann in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik. Bedingungen der Strafrechtsreform, 1987, S. 249 ff.; Derksen Handeln auf eigene Gefahr, 1992, S. 21; Bustos Ramírez/Larrauri Pijoan Victimología: presente y futuro (hacia un sistema penal de alternativas), Barcelona 1993, S. 27; Maier in: ders. (Ed.), De los delitos y las víctimas, Buenos Aires 1992, S. 195 ff.; Tamarit Sumalla La reparación a la víctima en el Derecho penal. Estudio y crítica de las nuevas tendencias político-criminales, Navarra 1994, S. 119 ff. 18 Vgl. nur Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 66 ff. und LK/Schünemann (Fn. 3), Vor § 201 Rn. 7. 19 Vgl. Silva Sánchez in: Consejo General del Poder Judicial (Hrsg.), La Victimología, Cuadernos de Derecho Judicial, Madrid 1993, S. 13, 34 ff.; Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 233 f. 20 Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 235 f.
Viktimologischer Ansatz vs. Selbstverantwortungsgrundsatz
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nur die Subsidiarität des Strafrechts gegenüber anderen staatlichen Eingriffsinstrumenten betreffe, und somit an den Gesetzgeber gerichtet sei.21 Hierzu ist zunächst – mit Schünemann22 – zu sagen, dass trotz der offensichtlich eher an die Normproduktion und deshalb normpolitisch orientierten Stoßrichtung des Ultima-ratio-Gedankens23 schwerlich behauptet werden kann, dass dieser in den Freiräumen zulässiger Auslegung plötzlich irrelevant sein sollte.24 Die Kritik geht auch deshalb fehl, weil sie – parallel zu den rein kriminalpolitisch orientierten, eben angesprochenen Vorhaltungen – verkennt, dass hier das Entscheidende nicht in der Postulierung der Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes, sondern in deren normativen Motorisierung liegt. Anders formuliert: diese Kritiklinie träfe eine Formulierung des viktimologischen Prinzips, die bezüglich des Opferverhaltens rein faktisch (also ohne eine Zurechnung zu seinem Verantwortungsbereich) begründet würde, wie dies z.B. in der englischsprachigen Strafrechtslehre von Harel mit seinem Postulat eines „comparative fault principle“25 aufgrund von strafrechtsystematischen Effizienzerwägungen vorgeschlagen worden ist. Dies ist aber – wie vorhin angemerkt – nicht der Fall Schünemanns: trotz einiger desorientierenden Formulierungen26 ist bei Betrachtung seiner Ausführungen eindeutig, dass der entscheidende gedankliche Schritt in der Schutzwürdigkeit des Opfers liegt (d.h., nach hiesiger Ansicht, dass eine normative Zuschreibung des Geschehens zum Verantwortungsbereich des Opfers stattfinden soll).27 21 Vgl. vor allem Hillenkamp Vorsatztat (Fn. 17), S. 175 ff.; ders. Einfluß (Fn. 17), S. 13 ff.; s. z.B. auch Maiwald ZStW 96 (1984), 71 ff.; Silva Sánchez (Fn. 19), S. 31; Bustos Ramírez/ Larrauri Pijoan (Fn. 17), S. 26 ff.; Tamarit Sumalla (Fn. 17), S. 119. 22 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 64 ff., 65 f. 23 Für die hiesigen Belange ist die Frage zweitrangig, wie konkret die Beziehungen der Postulate der Subsidiarität/ultima ratio mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu artikulieren sind (vgl. Schünemann NStZ 1986, 442; Cancio Meliá Conducta de la víctima [Fn. 1], S. 245 ff.; allgemein Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 2. Abschnitt Rn. 27). 24 Vgl. auch Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 76 ff., 78 f.: das viktimodogmatische Prinzip „… spielt bereits bei den einschlägigen Prinzipien des Allgemeinen Teils eine Rolle“, auch wenn seine „Domäne“ im Besonderen Teil liege. 25 Harel California Law Review 82 (1994), 1181, 1226. Siehe die Kritik an Harels Ansatz bei Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 234 f. mit Fn. 581, 253 f.; zur Lage im angelsächsichen Rechtskreis, wo die Diskussion noch in den Kinderschuhen steckt, vgl. nur Cancio Meliá Pace Law Review 28 (2008), 739, 749 ff. und Ortiz de Urbina Gimeno Pace Law Review 28 (2008), 815 ff. m.w.N. 26 Wie wenn z.B. Schünemann „[p]ointiert formuliert“ ausführt, dass eine Rücknahme des Strafrechts in einer Rechtsgütermaximierung resultieren könne, wenn das Opfer „gewissermaßen … von seinem Verhalten dadurch abgeschreckt werden [soll], dass ihm bei einer Negierung seiner Interessen der Schutz durch das Strafrecht verweigert werden soll“ (in: Strafrechtssystem und Betrug [Fn. 1], S. 64 f.). 27 Der erste Teil der Schünemannschen Formel, die Möglichkeit des Selbstschutzes (und damit korrespondierend das Schutzbedürfnis), erreicht die entscheidende Ebene nicht, da die bloß faktische Machbarkeit des Selbstschutzes keinen Aufschluss darüber geben kann, warum die Reichweite der Intervention des Strafrechts begrenzt werden sollte; vgl. Frisch
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3. Damit wären wir bei der dritten und letzten hier in Erinnerung zu rufenden kritischen Wertung des viktimologischen Ansatzes angelangt: dem Tadel, die an und für sich materiell überzeugende Konstruktion bedürfe einer besseren, weil spezifischeren normativen Fundierung, die vermeiden würde, dass sich der Auslegungsgrundsatz als dogmatischer Findling ohne die notwendigen Beziehungsstränge zum allgemeinen Zurechnungssystem darstelle.28 Diese Kritik kontert der verehrte Jubilar quasi offensiv, indem er diesem Gedankengang vorwirft, die Materie über Gebühr zu vereinfachen, wenn man so die Gesetzesinterpretation „auf ein einziges Prinzip reduzieren und damit verkrüppeln will.“, da „[i]ndem das Auslegungsproblem auf diese Weise vollständig in die Lehre von der objektiven Zurechnung und damit in den Allgemeinen Teil verlagert wird … nämlich der Eindruck erweckt [wird], als sei jeder objektiv zurechenbare Kausalverlauf allein deshalb schon tatbestandsmäßig, was praktisch auf die Abschaffung einer Dogmatik des Besonderen Teils“ hinauslaufe.29 Viele der einschlägigen Sachverhalte, so Schünemann, könnten gar nicht in das Schema einer vom Gedanken der „Opfermitverantwortung“ getragenen Zurechnung zum Opfer passen, da der die diesbezüglich erarbeiteten Zuständigkeitszuschreibungen motorisierende Selbstverantwortungsgrundsatz bei fehlender gemeinsamer Organisation nicht greifen könne.30 Kurz: der Rekurs auf den Selbstverantwortungsgrundsatz sei erstens schon einmal zu wenig komplex, übertreibe die Bedeutung nur eines Auslegungsgesichtspunktes (demjenigen der Opferzuständigkeit) und antizipiere damit sachwidrig das konkrete Ergebnis, sei also ein Paradebeispiel scholastischer, mechanischer Deduktion aus unzureichend spezifizierten Prämissen.31 Zweitens sei aber – und hier beginnt nun wirklich die vorhin angesprochene Offensive – die (sit venia verbo) Dogmatik der Selbstverantwortung im Rahmen der objektiven Zurechnung nicht nur methodologisch fragwürdig, weil zu „starr“, sondern auch materiell nicht gerechtfertigt: „Der viktimodogmatische Ansatz ist in der im Allgemeinen Teil geführten Zurechnungsdiskussion von einer Reihe von Autoren in die starre Doktrin der Selbstverantwortung als eines angeblich übergeordneten Prinzips transformiert worden, wobei zur Begründung bald auf eine im deutschen Idealismus wurzelnde Freiheitsphilosophie zurückgegriffen wird, bald (Fn. 12), S. 164; ders. NStZ 1992, 1, 62, 6; Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 249 ff.; auch Schünemann hält wie gesagt die normative Betrachtung („Schutzwürdigkeit“) für entscheidend (s. nur FS Faller, 1984, S. 362; ders. in: Rechtsprobleme [Fn. 10], S. 451). 28 Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 235 ff., 242 ff., 254 ff.; ders. ZStW 111 (1999), 371 f. 29 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 69. 30 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 69. 31 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 70.
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auf eine bestimmte Gesellschaftsphilosophie wie von der Jakobs-Schule mit den Leitbegriffen der „Zuständigkeit“ und der „gemeinsamen Organisation von Opfer und Täter“. Dem muss sowohl in methodologischer als auch in inhaltlicher Hinsicht widersprochen werden. Wenn man das „Selbstverantwortungsprinzip“ als eine abschließend fixierte Norm formuliert, unter die lediglich subsumiert zu werden braucht, so übersieht man, dass eine kriminalpolitisch angemessene Lösung weitaus differenziertere Zurechnungsfiguren erfordert. Darüber hinaus muss sogar bestritten werden, dass ein die Verantwortlichkeit des Täters kategorisch ausschließendes Prinzip der Selbstverantwortung dem geltenden Recht überhaupt zugrunde liegt.“32 Nach Erinnerung an seine allgemeine Ablehnung eines „inhaltsleeren“, radikalen Normativismus geht unser Jubilar nun daran, zu ergründen, was denn an dem Selbstverantwortungsgrundsatz wirklich – und nicht nur in der Gedankenwelt von abstrahierenden Deduktivdogmatikern – in der positiven, nicht nur einfach postulierten Rechtsordnung als Material für den Allgemeinen Teil vorhanden ist. Und hier ist die Ausbeute seines Erachtens beschränkt, denn „[bei] methodisch korrektem Vorgehen“ könne und müsse man „nur von der einzigen klaren legislatorischen Entscheidung ausgehen, nämlich der Straflosigkeit der Selbstmordteilnahme“, und könne „von dort aus a fortiori auf die allgemeine Straflosigkeit der Mitwirkung (= ohne eigene Tatherrschaft) an einer fremden, freiverantwortlich und sehenden Auges erfolgenden Selbstgefährdung schließen und sieht sich dann bereits bei der nächsten Fallgruppe, der einverständlichen Fremdgefährdung (= bei geteilter Tatherrschaft) bei beiderseits gleicher Risikokenntnis, einem offenen Problem gegenüber, das nicht durch schlichte Subsumtion unter ein vorgegebenes Prinzip, sondern nur durch sorgfältige kriminalpolitische Abwägung gelöst werden kann.“ Dies sei also der einzige Rocher de bronze in Sachen Selbstverantwortung, die anderweitige „Berufung auf ein angebliches, aber nirgendwo positiviertes, inhaltlich zudem völlig unbestimmtes Prinzip der Selbstverantwortung“ laufe auf eine „inakzeptable Strafrechtsdogmatik contra legem“ hinaus.33 Aus der hiesigen Perspektive können in diesem Punkt weder Defensive noch Offensive überzeugen, und decken sich darüber hinaus auch nicht mit der von Schünemann tatsächlich praktizierten Viktimodogmatik. Dies soll anschließend kurz erläutert werden.
32 33
Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 72 f. (Kursivschrift original). Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 75 (Kursivschrift original).
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III. Selbstverantwortung vs. Schutzwürdigkeit, Allgemeiner Teil vs. Besonderer Teil, Induktion vs. Deduktion? 1. Dem Jubilar ist zunächst dahingehend Recht zu geben, dass im Allgemeinen in den Arbeiten, in denen der Gedanke der Selbstverantwortung dogmatisch umzusetzen versucht worden ist, eine bislang unzureichende Betrachtung der Belange des Besonderen Teils festzustellen ist.34 Anders formuliert: In Übereinstimmung mit den Charakteristika des Allgemeinen Teils – der ja nicht in allen Rechtskreisen bekannt ist35 –, handelt es sich um Untersuchungen, die in Wirklichkeit auf einige tatbestandlich beschreibungsarme Verletzungsdelikte gemünzt sind.36 Dies ist natürlich ein einfacherer Weg, als zugleich die beschwerliche Topographie der Niederungen anderer, in der Gesetzesbeschreibung bezüglich des Opferverhaltens viel komplexerer Tatbestände37 abzuschreiten. Andererseits scheint die Entwicklung von allgemeinen Zurechnungsstrukturen – schon nur aufgrund der schieren Masse an Material – nur bei diesen Grundfiguren möglich. Festzuhalten bleibt, dass im Allgemeinen die Übertragung der dogmatischen Folgen eines Selbstverantwortungsgrundsatzes im Besonderen Teil noch durchaus entwicklungsbedürftig ist. 2. Der Vorsicht Schünemanns bei der Findung bzw. Erfindung von Entscheidungen der Rechtsordnung bezüglich der Existenz eines Selbstverantwortungsgrundsatzes – d.h., der einzige seriöse Ansatzpunkt sei die Straflosigkeit der Suizidteilnahme – kann aber aus hiesiger Perspektive nicht gefolgt werden. Zunächst ist zu bezweifeln, dass der vom verehrten Jubilar (und anderen Autoren) propagierte Rekurs auf ein a maiore ad minus-Argument ex § 216 StGB schon für das deutsche Recht Gültigkeit beanspruchen kann, da diese Argumentationsfigur wie bekannt eine Homogenität der beiden Vergleichsmaterien zur Voraussetzung hat, die meines Erachtens zwischen Gefährdung und Zerstörung eines Rechtsguts angesichts der unterschiedlichen expressiven Kraft des Gutsträgersverhaltens in beiden Fällen nicht gegeben sein
34 Was z.B. bei Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 21, aber schon eingangs eingestanden wird. 35 Wie bekannt findet man ja bei einem angelsächsischen Lehrbuch oder case book einen Gutteil „unseres“ Allgemeinen Teils beim Mord oder Totschlag und bei der fahrlässigen Tötung. 36 Vgl. zum Beispiel die besprochenen Sachverhalte aus verschiedenen Ländern und Rechtskreisen bei Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 24 ff., 376 ff. 37 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 61 spricht in diesem Zusammenhang von der „Schachbrettsystematik“ des Besonderen Teils.
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kann.38 Aber schon davon abgesehen kann die lauffeuerartige Verbreitung der dogmatischen Folgen des Selbstverantwortungsgedankens in Lehre und Rechtsprechung anderer, insbesondere der spanischsprachigen Länder39 (mehrheitlich durch Übernahme der Roxinschen Unterscheidung zwischen [strafloser] Teilnahme an einer Selbstgefährdung und [strafbarer] Fremdgefährdung, der wie gesehen auch Schünemann anhängt) wohl schwerlich mit dieser „einzigen klaren“ Entscheidung des deutschen bzw. preußischen Gesetzgebers erklärt werden, denn wie allgemein bekannt ist die Straflosstellung der bloßen Teilnahme am Suizid eine deutsche Besonderheit. Stehen wir hier vor einem hirnlosen, angesichts der Gestaltung der eigenen Rechtsordnung ungerechtfertigten Import deutscher Dogmatik von den Pyrenäen bis Patagonien? Oder doch eher vor den dogmatischen Folgen einer gemeinsamen Charakteristik bzw. Entwicklung unserer Gesellschaften und Rechtsordnungen? Ganz offensichtlich ist hier in der Gesellschaftsstruktur bzw. in ihrer rechtlichen Umsetzung in ein Bild eines verantwortlichen, sein Leben autonom organisierenden Bürgers – in Worten der spanischen Verfassung, Art. 10: ein Bürger, dessen „freie Entwicklung der Persönlichkeit“ ein Eckstein der verfassungsmäßigen Ordnung ist – ein Wandel geschehen bzw. im Begriff, der die entsprechende breitere dogmatische Umsetzung seit dem Memel-Fall erklärt.40 Sei es auf diesem Wege – der keiner „Gesellschaftsphilosophie“ entspringt, sondern einer bescheidenen, aber offen formulierten und m.E. genuin rechtswissenschaftlich-„positivistischen“ Sicht der Gesellschaft hinter der Strafrechtsdogmatik41 – oder unter Rekurs auf materielle philosophische, vorrechtliche Grundlagen:42 Der Selbstverantwortungsgrundsatz ist weder „starr“ noch aus der Luft gegriffen. Es ist auch dieser normative Hintergrund, der übrigens die gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts hin zu einer stärkeren Einbindung des Opfers in die prozessuale Aufarbeitung der Tat zu erklären vermag:43 Wird der Bürger als autonom seine Belange verwaltendes 38 Vgl. nur Otto Jura 1984, 536, 540; Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 193 ff. und ders. ZStW 111 (1999), 369 m.w.N.; in letzter Zeit a.A. z.B. Murmann (Fn. 12), S. 379 ff., 433, der zu Recht feststellt, dass diese Frage üblicherweise übergangen wird. 39 Vgl. Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 375 ff. 40 Vgl. Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 261 ff., 266 ff., 277 ff.; ders. ZStW 111 (1999), 373 f. 41 Inwieweit dies „kriminalpolitisch“ ist, hängt von der Akkuratesse der Bewertung der gesellschaftlichen Lage und auch der real praktizierten und praktizierbaren strafrechtlichen Zurechnung durch den Betrachter ab; vgl. hierzu Cancio Meliá in: Jakobs/ders. (Ed.), Conferencias de temas penales, Santa Fe 2000, S. 121 ff. 42 S. vor allem Zazcyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, und Murmann (Fn. 12). 43 Vgl. nur die Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ab-
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Subjekt definiert, kann die Partizipation im Strafverfahren bis hin zur Etablierung der Opfervertretung als Prozesspartei an und für sich – von dem Kontext eines etwaigen dies ausnutzenden Strafpopulismus abgesehen – nicht als ein kriminalpolitisches Schreckensszenario gewertet werden.44 3. Überdies ist auf dem Gebiet des Prozessrechts das Opfer zumindest von der Definition des erlittenen Schadens her indiziär als solches definiert. Auf dem Gebiet der Tatbestandslehre ist dies gerade eben nicht der Fall: sei es über die Konstrukte des Allgemeinen Teils wie der objektiven Zurechnung (oder aber traditionell der Einwilligung) oder über eher am Besonderen Teil orientierte, spezifischere Argumentationsmuster, es geht hier immer – natürlich stets im Rahmen zulässiger Tatbestandsauslegung – um die Definition des Verhaltens des (möglichen) Schädigers als tatbestandsmäßig und in Interdependenz dazu des Geschädigten als Opfer: Es gibt keinen „natürlichen“ Opferbegriff,45 vielmehr ist die Bezeichnung eben Resultat des Zurechnungsprozesses:46 keine „starre“ Subsumtion unter ein nicht legitimiertes Selbstverantwortungsprinzip. In diesem Zusammenhang ist zu vermuten, dass dieser Vermischung von Ergebnis der Zurechnung und Zurechnungsprozess durch ein Verständnis der objektiven Zurechnung Vorschub geleistet wird, bei der diese noch von der traditionellen Orientierung an der Zuordnung eines bestimmten Erfolgs zu einer bestimmten Handlung statt der Zuschreibung einer bestimmten (tatbestandsmäßigen) Verhaltensbedeutung geleitet wird.47 4. Betrachtet man nun vor diesem Hintergrund die viktimodogmatischen Beiträge Schünemanns – z.B. seine These zum Betrug, zur Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens in Sachen Irrtum komme es darauf an, „ob das Opfer trotz eines konkreten Zweifels“ handelt48 –, so ist aus hiesiger Perrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2012:315:0057: 0073:DE:PDF [letzter Abruf: 31.3.2014]. 44 Vgl. aber Schünemann in: ders./Dubber (Fn. 1), S. 7 ff.; aus der Perspektive der über hundert Jahre alten spanischen Praxis, in der es nicht nur eine Opfervertretung (Partikularanklage), sondern in der Verfassung für jeden Bürger das festgeschriebene Recht auf Erhebung der Strafanklage durch die Popularanklage als Kontrollmechanismus einer zu nahe an der Exekutive stehenden Staatsanwaltschaft gibt (vgl. Cancio Meliá ZIS 2012, 246 ff.), ist dies natürlich weder „fast schon abstrus“ (Schünemann a.a.O, S. 8) noch ein „Irrweg“ (S. 9). 45 Vgl. aus verschiedenen Perspektiven nur Zipf MSchrKrim 53 (1970), 1, 2 ff.; Ebert JZ 1983, 633 ff.; Derksen (Fn. 17), S. 120, 136 ff.; Frisch NStZ 1992, 1, 6; Cancio Meliá Conducta de la víctima (Fn. 1), S. 247 ff. 46 „Jeder Konflikt läßt sich erledigen, wenn auf die enttäuschte Erwartung verzichtet wird“, Jakobs (Fn. 23), 2. Abschnitt Rn. 27. 47 Vgl. nur Jakobs System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 28 ff. mit Fn. 50 m.w.N. 48 Schünemann in: Strafrechtssystem und Betrug (Fn. 1), S. 81 ff. (Kursivschrift original).
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spektive klar, dass diese oder andere Überlegungen zur Bestimmung der „Schutzwürdigkeit“ des Opfers nicht nur die besonderen Belange des Betrugs z.B. im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Kontext berücksichtigen, sondern ganz allgemein von der stillschweigenden Grundlage der Zuschreibung von Selbstverantwortung an die Akteure im Wirtschaftsleben ausgehen – das ist die einzige mögliche Antwort auf das warum? solcher Reflexion. Eine aus den konkreten Sachverhalts- und Tatbestandslagen folgende Induktion steht nicht in Feindschaft mit einer Deduktion aus allgemeinen Grundsätzen. Anders formuliert: Es ist kein Wunder, dass die normativen Einschränkungen des Betrugstatbestandes – sei es wie in Spanien schon im Gesetzeswortlaut oder wie in Deutschland durch Auslegung – nicht im 19. Jahrhundert mit seiner zum großen Teil analphabetischen Bevölkerung, sondern erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt worden sind. Krass: ohne Selbstverantwortungsgrundsatz auch keine Viktimodogmatik.
IV. Fazit 1. Aus der hier vertretenen Perspektive kann es also einen Gegensatz zwischen Selbstverantwortungsgrundsatz und Viktimodogmatik, zwischen Tatbestandsauslegung und Dogmatik, zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil so nicht geben. Die beiden Schünemänner, der Umsetzer der Lehre von der straflosen Teilnahme an einer Selbstgefährdung und der Schöpfer der viktimologischen Auslegungsleitlinien, stehen beide nolens volens auf dem Grund der Selbstverantwortung des „Opfers“ in unserem gegenwärtigen Gesellschaftssystem und unseren Rechtsordnungen. 2. Abschließend ist noch anzumerken: Wenn in den vorstehenden Überlegungen skizzen- und bruchstückhaft – soweit es der hier verfügbare Rahmen erlaubt – versucht worden ist, die hier relevanten Thesen Schünemanns in einem anderen Licht zu sehen, als das von dem Kindsvater selbst auf sie gerichtet wird, so ist dies nicht als Zeichen mangelnden Respekts zu sehen. Das Gegenteil ist der Fall: Ein Protagonist einer mehr als internationalen, gemeinsamen Diskussion49 – wie jedes spanischsprachige (Strafrechts-)Kind von der Biscaya bis Gibraltar, vom Río Grande del Norte bis Feuerland weiß – (bzw. sein Werk) gehört eben nicht mehr sich selbst, sondern uns allen. Auf dass dies lange so bleibe!
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Hierzu zuletzt Schünemann GA 2010, 353.
Zum elterlichen Züchtigungsrecht Miguel Díaz y García Conlledo * I. Die (neue) Situation in Spanien (und die Parallele zu Deutschland) Meinen Beitrag widme ich Bernd Schünemann mit Bewunderung, Dankbarkeit und Zuneigung. Aufgrund von Artikel 154 des spanischen Zivilgesetzbuches (Código Civil – CC) gab es früher – wenn auch in begrenzter Form – ein sogar mit Gewalt verbundenes Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern, solange es „vernünftig und maßvoll“ eingesetzt wurde.1 Manche Autoren verstanden darunter sogar eine Pflicht oder eine Rechtspflicht.2 Artikel 154 CC lautete: „Unmündige Kinder stehen unter Vormundschaft ihres Vaters und ihrer Mutter. Das elterliche Sorgerecht soll gemäß ihrer Persönlichkeit immer zum Wohle der Kinder ausgeübt werden und umfasst die folgenden Pflichten und Befugnisse: 1. Sie zu behüten, sie zu begleiten, sie zu ernähren, zu erziehen und ihnen eine ganzheitliche Bildung zu verschaffen. 2. Sie zu vertreten und ihre Habe zu verwalten. Wenn die Kinder bereits genügend Urteilsvermögen besitzen, sind sie stets anzuhören, bevor Entscheidungen getroffen werden, die sie betreffen. Die Eltern können auf jeden Fall bei der Ausübung ihres Sorgerechts Hilfe bei den Behörden
* Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der von mir geleiteten finanzierten Forschungsprojekte: DER2010-16558 (MINECO, Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerb), DER2013-47511-R (MINECO), LE066A11-1 (JCYL, Junta de Castilla y León) sowie einem weiteren Projekt im Antragsstadium (JCYL). 1 Im Folgenden wurden die bibliographischen Hinweise aus Platzgründen erheblich reduziert. Ich habe das sogenannte Züchtigungsrecht eingehend behandelt in Díaz y Gacía Conlledo LH Mir Puig, 2010, S. 475 ff. (= Revista Penal [= RP] 26 [2010], 101 ff.), wo man weitere Hinweise finden kann. 2 In der Literatur verschiedener Epochen, v.a. Oneca Derecho Penal PG, 2. Aufl. 1986, S. 283 ff.; Córdoba Roda/Rodríguez Mourullo CP I (1972), Art. 8.11, S. 362; Cerezo Mir Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales (= ADPCP) 1987, 273, 284 f.; Díez Ripollés/ Gracia Martín CP PE I, 1997, Art. 153, S. 470 f.; Marín de Espinosa Ceballos Revista Electrónica de Ciencia Penal y Criminología (= RECPC) 01-07 (1999) in: http://criminet. ugr.es/recpc/recpc_01-07.html [letzter Abruf: 7. 4. 2014], 2, 4; Mir Puig Derecho Penal PG, 7. Aufl. 2004, S. 485; in der Rspr. z.B. STS 13-4-1982 (RJ 1982\2090); SAP Córdoba 9-32004 (JUR 2004\126721).
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ersuchen. Außerdem können sie ihre Kinder auf vernünftige und gemäßigte Weise züchtigen.“ Trotzdem macht sich die erste Schlussbestimmung des Gesetzes 54/2007 vom 28. Dezember über die Internationale Adoption in der Darlegung seiner Gründe „die offenkundige Verbindung zunutze, die die Adoption mit dem Schutz von Minderjährigen verbindet, um die Reform der Artikel 154, 172, 180 und 268 CC in Angriff zu nehmen. Abgesehen davon, dass sich der Wortlaut dieser Vorschriften verbessert hat, wird auf diese Weise eine Antwort auf die Anforderungen seitens des Komitees für Kinderrechte gegeben, das sich aufgrund der Möglichkeit besorgt gezeigt hatte, dass die Befugnis zur gemäßigten Züchtigung, die bisher Eltern und Erziehungsberechtigten zugestanden wurde, gegen den Artikel 19 der Konvention über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 verstoßen könnte.“ Und so erhält der neue Artikel 154 CC folgenden Wortlaut: „Die nicht volljährigen Kinder unterliegen der elterlichen Sorge. Das Sorgerecht wird immer zum Wohl der Kinder und voller Respekt vor ihrer körperlichen und psychischen Integrität ausgeübt. Diese Sorge umfasst die folgenden Pflichten und Befugnisse: 1. Für sie zu sorgen, sie zu begleiten, sie zu ernähren, sie zu erziehen und ihnen eine umfassende Bildung zukommen zu lassen. 2. Sie zu vertreten und ihre Habe zu verwalten. Wenn die Kinder ausreichendes Urteilsvermögen besitzen, sind sie stets anzuhören, bevor Entscheidungen getroffen werden, die sie betreffen. Die Eltern können bei der Ausübung ihres Sorgerechtes die Hilfe der Behörden in Anspruch nehmen.“ Der Bezug auf vernünftige und gemäßigte Züchtigung wurde gestrichen und ausdrücklich der Respekt vor der körperlichen und psychischen Integrität des Kindes gefordert. In der spanischen Presse waren Schlagzeilen wie diese zu lesen: „Die Ohrfeige wird aus dem Gesetz gestrichen. Das Abgeordnetenhaus stimmt für die Abschaffung des letzten gesetzlichen Requisits für die physische Bestrafung von Kindern“.3 Die dazu in Deutschland angestellten Überlegungen sind für die neue Situation in Spanien nützlich, besonders wenn man dabei von der Veränderung ausgeht, die das Inkrafttreten des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung mit sich brachte, das seit dem 8. November 2000 in § 1631 Abs. 2 BGB wie folgt formuliert ist (kategorischer als das, was sich aus dem spanischen Gesetzestext ableiten lässt): „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Trotz dieser Tendenzen in Deutschland und Spanien zum Verbot der physischen und psychischen Misshandlung, das den jüngsten pädagogischen Strömungen entspricht,4 erscheint mir hierin kein klarer Nutzen für die Familie 3
Tageszeitung El País vom 21. Dezember 2007. In Spanien m.w.N. Simón Rueda/López Taboada/Linaza Iglesias Maltrato y desarrollo infantil, Madrid 2000. 4
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oder die minderjährigen Kinder zu liegen. Im Gegenteil wird die Beziehung zwischen Eltern und Kindern durch die Kriminalisierung von kaum ins Gewicht fallenden Verhaltensweisen eher übermäßig belastet. Dies ist eine weit verbreitete Einschätzung 5 und deshalb bemüht sich die Lehre (abgesehen davon, was das Verlangen nach Verhältnismäßigkeit gebietet) noch nach diesen Reformen, zu begründen, dass nicht jede gewaltsame Zurechtweisung minderjähriger Kinder eine Straftat darstelle und bestraft werden müsse. Es soll hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden, wo die Grenze zur Strafwürdigkeit liegt, da dies nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist; der Verweis (der zu konkretisieren unumgänglich ist) auf Vernunft und Mäßigung soll hier genügen. Hier soll es nur darum gehen, hervorzuheben, wie solche Fälle (wie diese auch immer gelagert sein mögen; jedenfalls leichte Misshandlungen) aus der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausgeschlossen werden können. In Spanien besteht eine weitere Besonderheit, die der Frage zusätzlich Bedeutsamkeit verleiht. Wenn die Frage eine Zeitlang nur auf geringere Tatbestände bezogen wurde, die möglicherweise nur Übertretungen (faltas) darstellten [nach dem spanischen Strafgesetzbuch = Código Penal (CP) die am wenigsten schweren Vergehen] und in keinem Falle auf Verbrechen oder gewichtige Vergehen (delitos), so verschärften vorangegangene Gesetzesreformen, insbesondere jedoch diejenige, die durch das Gesetz (LO) 1/2004 vom 28. Dezember über Maßnahmen zum umfassenden Schutz gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorgenommen wurde (seit dem 29. Juni 2005 in Kraft), die Situation. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass nach diesen Reformen der Art. 153 CP Handlungsweisen zu delitos macht, die vorher nur den Tatbestand einer faltas erfüllten. Zudem erfasst Art. 153 CP nunmehr psychische Beeinträchtigungen oder Verletzungen, die im CP nicht als Straftat definiert werden oder das Schlagen oder Misshandeln eines anderen, ohne ihm dabei eine Verletzung zuzufügen, sofern es sich dabei um Personen im Familienkreis oder ähnliche gelagerte Sachverhalte handelt; Gewalt unter Kindern mit eingeschlossen. Dabei sieht Art. 153.2 CP, neben anderen Strafen, eine Gefängnisstrafe von drei Monaten bis zu einem Jahr vor, unter bestimmten Umständen sogar noch höhere Strafen.
5 Statt vieler Roxin JuS 2004, 177 (= Revista de Derecho Penal y Criminología [= RDPC] 16 [2005], 233, 235, übers. v. Díaz y García Conlledo/Martínez Cantón); ders. Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 17 Rn. 36.
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II. Begründungen für die Straflosigkeit vernünftiger und gemäßigter physischer Züchtigungen 6 1. Die Ausübung eines Rechts (und die Erfüllung einer Pflicht) Wie bereits gesagt, war es in Spanien traditionell üblich, auf den Rechtfertigungsgrund der legitimen Ausübung eines Rechts zurückzugreifen – oder im einen oder anderen Fall, obwohl ich dies nicht für richtig halte – auf die Erfüllung einer Pflicht (was im spanischen Recht – anders als in Deutschland – in Art. 20.7 CP ausdrücklich aufgegriffen wird). Dies geschieht aufgrund der vorherigen Fassung des Art. 154 CC. Demnach wurde das Recht, gestützt auf die in der Rechtsvorschrift verwendeten Begriffe „vernünftig und gemäßigt“ in restriktiver Weise verstanden.7 Nun haben sich bereits vor der Neugestaltung des Art. 154 CC Stimmen aus Lehre und Rechtsprechung dagegen ausgesprochen, dass jede Form von Gewalt von einem Recht auf Züchtigung gedeckt werden könne (oder es wurde dies nur für Tatbestände von absolut geringfügigem Charakter zugestanden).8 Wenn das Thema bereits vor der Reform des Art. 154 CC umstritten war, so hat sich, wie ich glaube, das Panorama danach gewandelt. Bereits die ebenfalls zitierte Neugestaltung des Art. 153 CP schien den gesetzlichen Willen deutlich zu machen, Gewalt im familiären Bereich als sehr schwerwiegend, streng genommen als kriminell anzusehen. Dies war bereits ein Anzeichen dafür, dass das spanische Gesetz jegliche Form von Gewalt aus der Familie verbannen will. Ich glaube aber, dass die Reform des Art. 154 CC die Rechtfertigung durch Begriffe, die bis dahin verwendet wurden, unmöglich gemacht hat. Nach der Neuordnung bleibt ein Züchtigungsrecht auf Grundlage des Gewohnheitsrechtes und sogar des in Artikel 27 der Spanischen Verfas-
6 Es gibt, jedenfalls in Spanien, andere Wege, insbesondere Begnadigung durch die Regierung. Krit. dazu z.B. Díaz y García Conlledo LH Mir Puig, 2010, S. 475, 491 ff. Fn. 16 f.; Boldova Pasamar RPCr. (3. Ep.) 5 (2011), 55, 91 ff. (93) (= EM Bustos Ramírez, 2011, S. 265, 301 ff., 303, im Folgenden nicht mehr zitiert; auch nicht ders. in: Sánchez-Ostiz Gutiérrez [Ed.], Casos que hicieron doctrina en Derecho penal, 2011, S. 953 ff.). 7 S. Fn. 2. 8 Z.B. Muñoz Conde/Martos Núñez in: Luzón Peña (Ed.), Enciclopedia Penal Básica (EPB), 2002, S. 633, 634; Cobo del Rosal/Olmedo Cardenete CP II, 1999, Art. 19–23, S. 612 f.; Acale Sánchez El delito de malos tratos físicos y psíquicos en el ámbito familiar, Valencia 2000, S. 182 f.; Mestre Delgado La eximente de ejercicio legítimo de un derecho y las causas supralegales de justificación penal, Madrid 2001, S. 49 f., 177; Cuello Contreras Derecho Penal PG, 3. Aufl. 2002, S. 905; Quintero Olivares/Morales Prats CP, 4. Aufl. 2005, Art. 20.7, S. 206; Muñoz Conde/García Arán Derecho Penal PG, 7. Aufl. 2007, S. 338; Quintero Olivares Derecho Penal PG, 2. Aufl. 2007, S. 490; in der Rspr. u.a. SAP Córdoba 12-2-1999 (ARP 1999/254); SAP Madrid 26-2-2007 (JUR 2007/174426).
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sung geheiligten Rechtes auf Bildung nur noch vereinzelt erhalten.9 Was das aus der Verfassung abgeleitete Recht angeht, können – abgesehen davon, dass es nicht klar ersichtlich ist, dass das Recht auf Bildung das Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder beinhaltet – die Argumente von Roxin 10 gegenüber deutschen Autoren11 zur Anwendung kommen, die die Verfassungswidrigkeit des § 1631 Abs. 2 BGB wegen Verletzung des in Artikel 6 Abs. 2 GG anerkannten elterlichen Erziehungsrechts verkünden. Diese betonen, dass das Erziehungsrecht nicht eingeschränkt werden könne und das Gesetz seine Grenzen in Übereinstimmung mit aktuellen pädagogischen Tendenzen und möglicherweise dem allgemeinen sozialen Empfinden finde.12 In jüngster Zeit beharren manche Autoren auf einem durch Luzón Peña aus dem Gewohnheitsrecht abgeleiteten Züchtigungsrecht,13 für den eine minimale physische Bestrafung zwar nicht mehr von einem gesetzlichen Recht, aber von gewohnheitsrechtlichen Grundsätzen (das auch in den Bereich der Sozialadäquanz falle) gedeckt ist und das sich auf übliche Lebensgewohnheiten und gesellschaftliche Anschauungen stützt, die ihm zufolge in Spanien und in der Mehrzahl der Länder absolut mehrheitsfähig seien. Eine wichtige Differenzierung, die diese Auffassung vornimmt, lässt sie umso sinnvoller erscheinen; und zwar, dass das ausdrückliche gesetzliche Verbot der gewaltsamen Züchtigung sich auf Maßnahmen bezieht, die die körperliche (und psychische) Integrität und nicht die körperliche Unantastbarkeit betreffen.14 Ungeachtet dessen beseitigt die Reform jeden Bezug zur Befugnis einer vernünftigen und gemäßigten Züchtigung und scheint eindeutig zu dem Verbot jeglicher gewalttätigen Züchtigung zu tendieren, was (vielleicht nicht entscheidende) Hinweise auf den Ausschluss eines jeglichen Rechtes dazu geben könnte. Man könnte sogar argumentieren, dass minimale physi-
9 So etwa Sáenz de Pipaón y del Rosal Revista de Derecho Penal (= RDP) 28 (2009), 73, 74 mit dem Hinweis auf andere, zumeist internationale Texte und auf Art. 154 CC; für Fälle von besonders geringfügiger Schwere Romeo Casabona/Sola Reche/Boldova Pasamar/ Hernández Plasencia Derecho Penal PG 2013, S. 234. 10 Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 37. 11 So Roellecke NJW 1999, 337, 338; Noack JR 2002, 402, 406, 408. 12 Auch andere deutsche Autoren suchen Wege, um ein – beschränktes – Züchtigungsrecht unter Einschluss von Gewalt zu begründen, obwohl es sich um eine Mindermeinung handelt: insbesondere Hoyer FamRZ 2001, 521, 524 f.; Beulke FS Hanack, 1999, S. 539, 547 ff.; ders. FS Schreiber, 2003, S. 29, 37 ff.; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, Rn. 387a; Marxen Strafrecht AT, 2003, S. 99; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 223 Rn. 11; Kühl Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 9 Rn. 77b; Krey/Heinrich Strafrecht BT 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 312 (dagegen u.a. Roxin [Fn. 5], Rn. 39 ff.); eine Auseinandersetzung mit diesen Autoren ist hier nicht möglich. 13 Luzón Peña Lecciones de Derecho Penal. PG, 2. Aufl. 2012, Kap. 25 Rn. 48 ff. 14 So schon Díaz y García Conlledo LH Mir Puig, 2010, S. 475, 504. Die Grenze des elterlichen Züchtigungsrechts bei der Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität ziehend Corcoy Bidasolo/Mir Puig/Gómez Martín CP, 2011, Art. 20 Rn. 55.
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sche Bestrafungen, welche die physische Integrität nicht beeinträchtigen, sehr wohl (zumindest in einigen Fällen) Auswirkungen auf die Psyche haben. Außerdem erscheint es mir als positiv zu bewerten, dass das Gesetz ein allgemeines Erziehungsprogramm ohne Gewalt festlegt, das auch die Tendenz hat, die sozialen Gewohnheiten zu verändern (auch wenn sie so weit verbreitet sein sollten, wie der zitierte Autor dies signalisiert, was aber jedenfalls zweifelhaft ist). Die kategorische Erklärung des deutschen Gesetzgebers macht es, wie ich glaube, noch schwerer, das Bestehen eines gesetzlichen oder gewohnheitsmäßigen Rechtes auf gewaltsame Züchtigung zu vertreten.15 2. Der Notstand und andere Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe Heinrich16 schlägt vor, die physische Züchtigung, die für sich genommen verboten und strafbar ist, ausnahmsweise und in Übereinstimmung mit den Prinzipien des rechtfertigenden Notstandes für (mindestens) zwei Fallgruppen zuzulassen, in denen er vor der speziellen Gefahr eines erzieherischen Vakuums für das Kind warnt. Erstens für die Fälle, unter denen das Kind so uneinsichtig sei, dass (objektiv gesehen) kein erzieherisches Handeln ohne Gewalt mehr möglich sei. Und zweitens für diejenigen Fälle, in denen der Erzieher (subjektiv gesehen) nicht mehr in der Lage sei, ohne Gewalt erzieherisch zu wirken. Die Vorteile der physischen Bestrafung überwögen hier entscheidend (solange sie sich in den traditionellen Grenzen des Züchtigungsrechtes hielten) gegenüber der Möglichkeit, dass das Kind in ein erzieherisches Vakuum gerate. Roxin17 lehnt diese Lösung ab, weil unter diesen Voraussetzungen der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch (SGB) ausgedehnte Maßnahmen für Erziehungshilfen für Kinder und Jugendliche vorsehe und die Strafprozessordnung (StPO) Möglichkeiten zur Verfahrenseinstellung biete, die innerhalb des Opportunitätsprinzips bestünden, in Form von Diversionsmodellen mit sozialen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Daher fehle es an den Voraussetzungen des § 34 StGB, der eine „nicht anders abwendbare Gefahr“ fordert. Dem fügt Roxin hinzu, dass der deutsche Gesetzgeber jede Art von physischer Bestrafung als demütigend ansieht, die folglich einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle, und so „(k)ein angemessenes Mittel … die Gefahr abzuwenden“ darstellt, wie von § 34 Satz 2 StGB gefordert.18
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So z.B. mit Nachdruck Heinrich ZIS 2011, 431 ff. Erst im Rahmen seines am 31. 5. 2001 gehaltenen Münchener Habilitationsvortrages (bei Roxin [Fn. 5], § 17 Rn. 44 Fn. 69 erwähnt) und danach in Heinrich ZIS 2011, 441 ff. 17 Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 45. 18 Zu den Schwierigkeiten, allgemein einen Notstand bei gewaltsamer Züchtigung anzunehmen, Kargl NJ 2003, 59, 62; sehr krit. zu Heinrichs Vorschlag Nomos Kommentar StGB/Paeffgen, 4. Aufl. 2013, § 223 Rn. 29 Fn. 144. 16
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In seiner Reaktion auf diese Kritik, die sich im Wesentlichen auf alternative Handlungsmöglichkeiten beruft, appelliert Heinrich an den Realismus.19 Die Alternativen würden erst eingreifen, sobald sich die konkrete Konfliktsituation aufgelöst habe; in der Situation selbst seien sie nicht durchführbar.20 Die Antwort ist geschickt, aber nicht vollkommen überzeugend. Denn es könnte darauf erwidert werden, dass Erziehungspersonen von diesen Maßnahmen Kenntnis haben müssen, um auf sie zurückzugreifen, bevor sie zur Anwendung von Gewalt schreiten (auch wenn diese nur minimal ist). Was den demütigenden Charakter der Züchtigung angeht, ist er darüber hinaus (wahrscheinlich mit Recht) der Meinung, dass Roxin übertreibe, wenn man an die Fälle denke, auf die sich dessen Vorschlag tatsächlich beziehe.21 Die Situation in Spanien sieht etwas anders aus. Art. 20.5 CP fasst den Notstand etwas weiter als das StGB; es ist zu bezweifeln, dass Maßnahmen der Sozialhilfe und ähnliches soweit entwickelt sind wie in Deutschland; und die Anwendung des Opportunitätsprinzips der §§ 153 ff. StPO hat keine Parallele in der spanischen Gesetzgebung. Alles in allem liegt die Voraussetzung für den Notstand, die in Spanien fehlen könnte, in der Subsidiarität, weswegen zumindest der unvollständige Strafbefreiungsgrund (nach Art. 21.1 und 68 CP) 22 zur Anwendung kommen könnte, wenngleich dies die Unzweckmäßigkeit einer übermäßigen Kriminalisierung der familiären Beziehungen nicht behebt. Im Übrigen kann ich hier nicht darauf eingehen, dass es Fälle von Gewalt gegen Kinder geben kann, die vom Notstand oder anderen Rechtfertigungsgründen gedeckt sein können (z.B., jedenfalls in Spanien, im Falle der Notwehr nach Art. 20.4 CP, wenn ein Kind im Begriff ist, auf jemanden zu schießen und ein Vater dies mit einem kräftigen Hieb verhindert).23 Genauso können Schuldausschließungs- oder Schuldminderungsgründe in Betracht kommen, wie unüberwindliche Angst (Art. 20.6 CP) oder eine vorübergehende geistige Störung (Art. 20.1., zweiter Satz, CP) oder Verbotsirrtümer (Art. 14.3 CP).24 Aber dies betrifft nicht das Thema, das uns beschäftigt, denn solche Möglichkeiten stehen auch Dritten offen.
19
Heinrich ZIS 2011, 441 f. Heinrich ZIS 2011, 441 f. 21 Heinrich ZIS 2011, 441, 442 f. 22 Die unvollständigen Strafbefreiungsgründe führen zu einer erheblichen Strafminderung. Der unvollständige Strafbefreiungsgrund könnte eventuell auch eine Rolle beim Züchtigungsrecht spielen, aber ich werde das hier nicht behandeln. 23 Statt vieler Münchener Kommentar StGB/Joecks, 2. Aufl. 2012, § 223 Rn. 72; Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 85 ff.; Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 223 Rn. 39. 24 Statt vieler Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 87 ff.; Fischer (Fn. 23), § 223 Rn. 38a. 20
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3. Der Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit (durch Sozialadäquanz oder Geringfügigkeit) Verschiedene spanische Autoren (und einige Gerichtsentscheidungen) wollen bei geringfügigen Züchtigungshandlungen bereits die Tatbestandsmäßigkeit über das Kriterium der Sozialadäquanz und des Geringfügigkeitsoder Bagatellprinzips ausschließen.25 Diese Lösung weist in eine Richtung, die ich für zweckmäßig halte, die aber noch gewissen Abstufungen unterworfen werden muss. In erster Linie wird man erklären müssen, warum ein Verhalten sozialadäquat oder geringfügig ist, wenn es Straftatbestände gibt, die jedwede Misshandlung ohne Körperverletzung bestrafen. Und außerdem entsteht zuweilen der Eindruck, obwohl dies nicht den zitierten Autoren zuzuschreiben ist, dass man sich, sobald ein Verhalten bereits tatbestandslos ist, gar nicht erst um eine Analyse der Rechtfertigung bemühen muss, als ob die Tatbestandslosigkeit der Rechtfertigung vorginge, obwohl (zumindest in vielen Fällen) das Gegenteil der Fall ist.26 4. Der persönliche Strafausschluss In Deutschland, so schlussfolgert Roxin, gibt es kein Züchtigungsrecht, das körperliche Misshandlungen decken würde.27 Für Sonderfälle, wie die von
25 Mit verschiedenen Nuancen und manchmal eine Verbindung zur Rechtfertigung herstellend u.a Tamarit Sumalla La reforma de los delitos de lesiones, Barcelona 1990, S. 178 f.; Quintero Olivares/Morales Prats/Tamarit Sumalla CP PE, 6. Aufl 2007, Art. 173, S. 267; Cuenca i García Revista Jurídica de Cataluña (= RJCat) 1998, 613, 658; Cobo del Rosal/ Olmedo Cardenete (Fn. 8), S. 613; Cervelló Donderis El delito de coacciones en el Código Penal de 1995, Valencia 1999, S. 61 f.; Marín de Espinosa Ceballos RECPC 01-07 (1999), 44; Acale Sánchez (Fn. 8), S. 183; Mestre Delgado (Fn. 8), S. 49 f., 177; Mayordomo Rodrigo Aspectos criminológicos, victimológicos y jurídicos de los malos tratos en el ámbito familiar, Bilbao 2003, 125 f.; Gómez Navajas in: Rubio (Ed.), Análisis jurídico de la violencia contra las mujeres, 2. Aufl. 2004, S. 63, 99; Cobo del Rosal/Del Rosal Blasco Derecho Penal Español PE, 2. Aufl. 2005, 227; De Torres Perea La Ley (= LL) 2008-1, 1672, 1676 f.; Muñoz Conde/García Arán Derecho Penal PG, 8. Aufl. 2010, S. 340; in Deutschland z.B. Otto Jura 2001, 670, 671; Bussmann FRP 2002, 289, 291; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, § 223 Rn. 16; Fischer (Fn. 23), § 223 Rn. 39; in der spanischen Rspr. u.a. SAP Barcelona 9-3-2007 (JUR 2007/244502); SAP Barcelona 17-10-2007 (JUR 2008/ 33581); SAP Córdoba 17-1-1008 (JUR 2008/218264); SAP Jaén 22-1-2009 (ARP 2009/10); keine Rechtfertigung, aber (nicht hinreichend erläuterte) Gründe für einen Freispruch findet SAP Asturias 7-3-2011 (JUR 2011/169210), die die Reform des CC nicht erwähnt, obwohl ein späterer Sachverhalt, der in den Anwendungsbereich fällt, beurteilt wird. 26 Das liegt wahrscheinlich der Argumentation von Fernández Ibáñez in: Boldova Pasamar/Rueda Martín (Eds.), La reforma penal en torno a la violencia doméstica y de género, 2006, S. 205, 217, zugrunde, wenn diese Autorin den Rückgriff auf den Tatbestandsausschluss wegen Sozialadäquanz oder wegen des Geringfügigkeits- bzw. Bagatellgrundsatzes ablehnt. 27 Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 46 (s. den bezeichnenden Titel des Absatzes auf S. 803: Der „Rechtfertigungsgrund des Züchtigungsrechts besteht nicht mehr”; wegen der unterschied-
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Heinrich zitierten, erlauben – wie er glaubt – die Diversionsmöglichkeiten eine angemessene Lösung.28 Trotzdem ist er (m.E. mit Recht) der Meinung, dass die Durchführung eines Strafprozesses und eine nachfolgende mögliche Strafe in Fällen von „normalen“ Familien mit liebevollen und im Allgemeinen unproblematischen Eltern-Kind-Beziehungen – bei Sachverhalten, unter denen ein normal erzogenes Kind zum Zeitvertreib Aktionen unternimmt wie mit einer gefährlichen Steinschleuder auf Passanten zu schießen oder die Mutter mit unflätigen Worten zu beschimpfen, und es dafür mit einer Ohrfeige oder einer moderaten Bestrafung zurecht gewiesen wird, wenn dies menschlich verständlich ist – mehr Nachteile für das Zusammenleben der Familie hervorruft als Vorteile mit sich bringen, weil dies eine Überkriminalisierung beinhaltet.29 Daher schlägt er aus (außerstrafrechtlichen) familienpolitischen Gründen und angesichts der Unmöglichkeit, die Frage de lege lata zufriedenstellend zu klären, eine Lösung de lege ferenda vor, die in der Einführung eines persönlichen Strafausschließungsgrundes für die Fälle schwerwiegenden Fehlverhaltens des Jugendlichen im Einzelfall besteht, in denen aus erzieherischen Gründen eine maßvolle Züchtigung erfolgte.30 Roxins Vorschlag kann, auch wenn er in die richtige Richtung tendiert, Gegenstand der Diskussion sein, und zwar erstens, weil er das Problem de lege lata nicht löst und sich auf den zukünftigen Gesetzgeber verlässt, zweitens, weil aus der Sicht des Strafrechts selbst die strafrechtliche Verantwortung der Eltern ausgeschlossen werden kann; und schließlich, weil mit einer anderen Lösung einige Schwierigkeiten vermieden werden, die ein persönlicher Strafausschließungsgrund mit sich bringt, der andere mögliche Beteiligte nicht erfasst (wobei außerdem zu berücksichtigen ist, dass auch der andere Elternteil beteiligt gewesen sein kann, den der persönliche Strafausschließungsgrund nicht betrifft, es sei denn, es würde gesetzlich so angeordnet).31
lichen Rechtslage anders in AT I, 3. Aufl. 1997, S. 683). Der Vorschlag Roxins verdient Beifall von Autoren, die hier nicht erwähnt werden können. Den Vorschlag Roxins für angemessen haltend Heinrich ZIS 2011, 440 f., der aber wenig drauf vertraut, dass dieser vom Gesetzgeber übernommen wird und der eine eigene Lösung de lege lata entwickelt. 28 Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 47. 29 Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 47 ff. 30 Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 48 ff.; zu Roxins Konzeption von objektiven Bedingungen der Strafbarkeit und Strafausschließungsgründen als Fälle des Vorranges außerstrafrechtlicher Zwecksetzungen (Fn. 5), § 23 Rn. 21 ff. 31 Boldova RDPC 5 (2011), 55, 91, empfindet die Koexistenz des von Roxin vorgeschlagenen Strafausschließungsgrundes mit dem in Art. 268 CP normierten Ausschließungsgrund (für Vermögensdelikte ohne Gewalt oder Drohung zwischen nahen Verwandten) als problematisch, weil in unseren Fällen Gewalt vorliegt.
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III. Die eigene Lösung Meiner Meinung nach kann das Problem zufriedenstellend gelöst werden, indem man auf die Kategorie der Tatbestandsausschließungsgründe zurückgreift, wie sie Luzón Peña dargelegt hat.32 Auf diese Weise kann man von rechtswidrigen Verhaltensweisen sprechen, die nicht rechtskonform und nur strafrechtlich gesehen tatbestandslos sind (die Tatbestandslosigkeit ist dabei kein „mehr“ als die Rechtfertigung). Der Unterschied zu den Rechtfertigungsgründen liegt darin, dass mit dem Tatbestandsausschluss nur eine Befreiung von der strafrechtlichen Verantwortung erfolgt, während die Rechtswidrigkeit in einem anderen Rechtsgebiet bestehen bleibt. Diese Vorstellung stimmt in hohem Maße mit derjenigen überein, die von Günther in Deutschland vertreten wird, wenn er von Strafunrechtsausschließungsgründen spricht (wenngleich es Differenzen gibt, bei denen wir uns hier nicht aufhalten können).33 Tatsächlich schlägt der Autor in Bezug auf das traditionelle Züchtigungsrecht vor, auf einen dieser Gründe zurückzugreifen.34 Es ist also angebracht, meinen Vorschlag zu begründen, indem ich aufzeige, welcher Tatbestandsausschließungsgrund zutreffend ist. Weil die jüngsten pädagogischen Tendenzen jedwede Gewaltanwendung in der Erziehung ausschließen und die gesellschaftliche Sensibilität beginnt, in die gleiche Richtung umzuschwenken, halte ich es nicht für sinnvoll, den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit mit Sozialadäquanz zu begründen.35 Ein anderer Weg besteht in einem Appell an die Sozialtoleranz.36 Hierbei handelt es sich jedoch um einen Tatbestandsausschließungsgrund, der nicht allgemein akzeptiert wird, der außerdem Feststellungsschwierigkeiten aufwirft und der mit dem Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungen variiert (auch wenn dies alle tatbestandliche Restriktionen betreffen kann). Daher ziehe ich diesem An-
32
Dazu Luzón Peña (Fn. 13), Kap. 20 Rn. 1 ff., 13 ff. Luzón Peña (Fn. 13), Kap. 20 Rn. 33. 34 Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 353 ff.; ders. FS Lange, 1992, S. 877, 889 ff., insbesondere 899 ff.; Systematischer Kommentar StGB/ders., Vor § 32 Rn. 63 (Mai 1998); ihm folgend Reichert-Hammer JZ 1988, 617 618 f., 621; SK/Horn, 6. Aufl. 1997, § 223 Rn. 13; anders aber SK/Horn/Wolters, § 223 Rn. 13 (August 2003); dagegen Roxin (Fn. 5), § 17 Rn. 41, der das Ergebnis für gut hält, aber die Auffassung Günthers wegen des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage ablehnt. Selbst Günther FS Lange, 1992, 877, 901, schlägt, um (für ihn wirklich nicht vorliegende) Probleme zu vermeiden, die Einführung eines spezifischen Strafunrechtsausschließungsgrundes in § 223 StGB vor. Abgesehen von einer Auseinandersetzung mit Günthers allgemeinen Thesen sehe ich kein Problem in der Annahme übergesetzlicher Tatbestandsausschließungsgründe (s. in Deutschland z.B. Matt/Renzikowski/Engländer StGB, 2013, Vor §§ 32 ff. Rn. 36). 35 Vgl. auch Reichert-Hammer JZ 1988, 617, 618; Kargl NJ 2003, 59, 60; Fernández Ibáñez (Fn. 26), S. 217; Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 82 f.; Romeo Casabona/Sola Reche/Boldova Pasamar/Hernández Plasencia (Fn. 9), S. 234. 36 S. Luzón Peña (Fn. 13), Kap. 20 Rn. 43 f. 33
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satz, ohne ihn vollkommen zu verwerfen,37 die Berufung auf das Geringfügigkeitsprinzip vor.38 Gegen den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit durch dieses Prinzip könnte man geltend machen, dass der spanische CP eine leichte gewalttätige Verhaltensweise wie tätliche Misshandlungen als Übertretungen – faltas – und im Schoße der Familie sogar als Delikt – delito – (nach Art. 153 CP) betrachtet, und daher könnten diese Verhaltensweisen nicht als geringfügig angesehen werden, wenn man nicht umgehen will, was der Gesetzgeber festgesetzt hat.39 Diese Überlegung vermag jedoch den hier gemachten Vorschlag nicht zu entwerten. Es geht nämlich nicht darum, jede Bestrafung für eine tätliche Misshandlung von Kindern aufzuheben, sondern nur jene Fälle, in denen diese mit dem Ziel der Zurechtweisung (geringer subjektiver Handlungsunwert) und auf vernünftige und maßvolle Art (geringer objektiver Handlungsunwert) vorgenommen wurden. Wenn wir uns darüber hinaus Art. 153 CP anschauen, scheiden die Gründe dafür, dass ein Verhalten psychischer Beeinträchtigung oder Körperverletzung nicht als Delikt – delito – als so schwer angesehen wird, in den Fällen vernünftiger und gemäßigter elterlicher Züchtigung sicherlich aus, wobei andere Rechtsgüter nicht einmal im Entferntesten in Gefahr geraten. Und wenn man jedenfalls die Fälle der vernünftigen und gemäßigten Züchtigung in Art. 153 CP einbezöge, würde man sie mit anderen Verhaltensweisen gleichsetzen, deren Schwere zweifellos größer erscheint, und sie würden mit einer Strafe belegt, die dann unverhältnismäßig wirkt.40 Abgesehen von anderen systematischen Argumenten kann diese Lösung mit möglichen Versuchen restriktiver teleologischer Interpretation der anwendbaren Straftatbestände übereinstimmen.41 Aber der hier gemachte Vorschlag besteht darin, die Reichweite dieser Tatbestände zu begrenzen, jedoch dabei auf allgemeine Prinzipien zurückzugreifend. Die mögliche Berufung 37
Gegen Sozialtoleranz als Lösung Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 83 f. Ich verstehe den Geringfügigkeits- oder Bagatellgrundsatz wie Luzón Peña (Fn. 13), Kap. 20 Rn. 40 ff. 39 So etwa Marín de Espinosa Ceballos La violencia doméstica: análisis sociológico, dogmático y de derecho comparado, Granada 2001, S. 278 f.; Fernández Ibáñez (Fn. 26), S. 217; Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 82 ff.; Romeo Casabona/Sola Reche/Boldova Pasamar/Hernández Plasencia (Fn. 9), S. 234. Reichert-Hammer JZ 1988, 617, 618, lehnt die Anwendung des Bagatellgrundsatzes ab, wegen der psychischen Auswirkungen, die eine starke Ohrfeige für ein Kind oder einen Jugendlichen haben kann. 40 Die Unverhältnismäßigkeit der Strafe, die Art. 153 CP vorsieht, wird allgemein anerkannt. Vgl. statt vieler Córdoba Roda/García Arán CP PE I, 2004, Art. 153, S. 120. 41 S. z.B. Hurtado Yelo Actualidad Jurídica Aranzadi 788 (2009), 1, 9. Auf Sozialadäquanz, Geringfügigkeit und restriktive Auslegung des Begriffs Misshandlung berufen sich Muñoz Conde/García Arán (Fn. 25), S. 340; ohne konkrete Vorschläge erwähnt auch Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 84 f. teleologische Beschränkungen. 38
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auf eine Beeinträchtigung der Menschenrechte aufgrund der Anordnung in Art. 19 (1.) der Konvention über die Rechte der Kinder erscheint mir unzureichend, um meiner Lösung zu widersprechen. Erstens weil nicht klar ist, dass jede noch so leichte Züchtigungshandlung gegen die Menschenrechte verstößt. Zweitens, weil nicht jede Beeinträchtigung (welchen Ausmaßes auch immer) der Menschenrechte immer zugleich eine Straftat sein muss.42 Drittens, weil einige Begriffe des zitierten Artikels auf eine Weise interpretiert werden können, bei der die Fälle, mit denen wir uns hier beschäftigen, außen vor bleiben: so wie „Beeinträchtigung (Schaden)“ (in dem Sinne, dass es zu einem Nutzen kommt oder zumindest nicht zu einer echten Beeinträchtigung) oder „Missbrauch“ (in dem Sinne, dass es zu keinem solchen kommt), obwohl es schwieriger ist, den Begriff „Misshandlungen“ einzugrenzen. Viertens und vor allem, weil der zitierte Artikel anordnet, dass die Unterzeichnerstaaten „alle gesetzgeberischen, administrativen, sozialen und erzieherischen Maßnahmen ergreifen“, um das Kind vor den dort erfassten Verhaltensweisen zu schützen, jedoch in keinem Falle fordert, dass es sich dabei um strafrechtliche Maßnahmen handeln müsse, sodass der spanische Gesetzgeber mit der Ächtung erzieherischer oder zurechtweisender Gewalt (wie in der neuen Fassung des Art. 154 CC) die Vorschrift erfüllen würde, ohne notwendigerweise Gewalt, die in den anerkannten Grenzen angewandt wird, zu kriminalisieren. Auf jeden Fall muss klar sein, dass es sich um eine geringfügige Züchtigung handelt, wobei dieser Verweis auf die Geringfügigkeit nicht missverstanden werden darf: es wird nicht gesagt, dass Züchtigungen im Allgemeinen geringfügig sind; ja mehr noch, ich halte daran fest, dass sie verboten sind.43 Was ich vertrete ist, dass sie nicht in dem Maße bedeutsam sind, um eine Straftat zu begründen, denn sie erreichen nicht die Schwere, die eine solche Kategorie erfordert. Sicherlich ein Ergebnis, das auch von Autoren geteilt wird, die sich gegen eine Rechtfertigung aufgrund der legitimen Ausübung eines Rechtes aussprechen.
42
So auch Boldova Pasamar RDPC 5 (2011), 55, 84. Ich möchte nochmal betonen, dass gewalttätige Handlungen, auch wenn sie sehr geringfügig sind, verboten sind. Die Rechtsfolgen dieses Verbots können hier nicht analysiert werden (zu Möglichkeiten im Zivilrecht vgl. De Torres Perea LL 2008-1, 1672, 1675 ff.; s. auch Saénz de Pipaón y del Rosal RDP 28 [2009], 73, 74 ff. [77]). Auf jeden Fall weisen die neueren Vorschriften im CC mindestens einen programmatischen, an der Verhinderung jeglicher Gewalt in der Erziehung orientierten Sinn auf. 43
Das Verhältnis zwischen mutmaßlicher Einwilligung und rechtfertigendem Notstand Volker Erb I. Einführung In seiner Kritik am strafrechtlichen Paternalismus gelangt der verehrte Jubilar zum überzeugenden Ergebnis einer strikten Unzulässigkeit von dessen direkter Variante, bei der sich das Strafrecht gegen die zu schützende Person selbst richtet.1 Einen indirekten Strafrechtspaternalismus, bei dem der einzelne durch Strafdrohungen gegen Dritte davor geschützt wird, sich von diesen einverständlich schädigen zu lassen, hält er hingegen in seiner „weichen“ Form, bei der es um den Schutz von Personen geht, die „nicht in vollem Ausmaß zur eigenen Entscheidungsfindung kompetent sind“, zu Recht für legitim.2 Für einen „harten“ indirekten Strafrechtspaternalismus, bei dem auch voll einwilligungsfähige Personen entsprechend geschützt werden, sieht er demgegenüber wiederum nur ein kleines berechtigtes Anwendungsfeld, insbesondere im „Problembereich des Straftatbestandes der Tötung auf Verlangen.“3 Situationen, in denen das Strafrecht leicht in eine indirekt-paternalistische Rolle gelangen kann, gibt es nun insbesondere bei Notlagen, in denen die Rechtfertigung einer tatbestandsmäßigen Handlung zur Debatte steht, durch die der Betroffene selbst vor anderweitigen Nachteilen bewahrt werden soll. Soweit eine unmittelbare Orientierung am Willen des Betroffenen dabei aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist, steht hier als Rechtfertigungsgrund die mutmaßliche Einwilligung, in bestimmten Konstellationen aber auch der rechtfertigende Notstand zur Debatte. Der vorliegende Beitrag hat die – mittelbar wiederum für ein mehr oder weniger „paternalistisches“ Erscheinungsbild des Strafrechts relevante – Frage zum Gegenstand, wie deren Anwendungsbereich dabei voneinander abzugrenzen ist.
1 Schünemann in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 221, 237 f. 2 Schünemann (Fn. 1), S. 221. 3 Schünemann (Fn. 1), S. 221, 238.
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II. Die Ausgangslage Ebenso wie beim rechtfertigenden Notstand geht es auch bei der mutmaßlichen Einwilligung häufig um die Bewältigung von Notlagen. Dabei wird die Rechtfertigung der Tat anders als beim Notstand zwar auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen gestützt. Was die praktische Anwendung der beiden Rechtfertigungsgründe betrifft, folgt daraus in vielen Fällen aber kein großer Unterschied: Eine Orientierung an den subjektiven Präferenzen des Betroffenen setzt voraus, dass einschlägige Informationen vorliegen, etwa durch frühere Äußerungen, im medizinischen Bereich vielleicht durch eine Patientenverfügung i.S. von § 1901a BGB. Häufig fehlen solche Informationen, sind unzuverlässig oder erscheinen zweifelhaft, was ihre Aussagekraft für die konkrete Situation betrifft. Dann dominiert als Orientierungshilfe der Erfahrungssatz, wonach Menschen zwar nicht immer, aber doch in aller Regel das wollen, was für sie objektiv vorteilhaft ist. Auf der Grundlage dieses Erfahrungssatzes kann man durch eine Abwägung der Vor- und Nachteile, die jemandem aus der Begehung einer Tat erwachsen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf seinen hypothetischen Willen schließen.4 Dies gilt umso mehr, je stärker die Vorteile die Nachteile überwiegen. Deshalb kann man z.B. davon ausgehen, dass es einem verreisten Hauseigentümer bei einem Wasserrohrbruch höchstwahrscheinlich recht sein wird, wenn sein Nachbar in das Haus eindringt und Notmaßnahmen ergreift 5 – die unkontrollierte Ausweitung des Wasserschadens mit all ihren materiellen und immateriellen Konsequenzen wiegt nach allgemeiner Einschätzung eben um ein Vielfaches schwerer als eine Beschädigung des Türschlosses und eine temporäre Verletzung des Hausrechts. Ganz ähnlich wie beim rechtfertigenden Notstand rückt damit eine Interessenabwägung ins Zentrum der Rechtfertigungsprüfung. Dies wirft zunächst Fragen auf, was die systematische Einordnung der mutmaßlichen Einwilligung betrifft: Ist sie als Ersatz einer erklärten Einwilligung mit dieser eng verwandt, oder steht sie dem rechtfertigenden Notstand näher? Ist sie am Ende vielleicht sogar ein Unterfall von diesem, wie einige Stimmen im Schrifttum in der Tat annehmen? 6 Bejaht man mit der h.M. ihre systematische Eigenständigkeit,7 bedarf es als nächstes einer allge-
4
Eingehend Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 386 f. Zu diesem Beispiel etwa Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 18 Rn. 5, 20. 6 Zipf Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, S. 52 ff.; Rudolphi GS Armin Kaufmann, 1989, S. 371, 393; Welzel Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 92; Otto Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 131. 7 Vgl. etwa BGHSt 35, 246, 249; Engländer GA 2010, 15, 22 ff.; Geppert JZ 1988, 1024, 1025; Hruschka FS Dreher, 1977, S. 18, 205; Müller-Dietz JuS 1989, 280, 281; Roxin FS Welzel, 1974, S. 447, 450; ders. (Fn. 5), § 18 Rn. 8; Mitsch Rechtfertigung und Opferverhalten, 2003, S. 419 f.; Thiel Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen, 2000, S. 94 ff.; Fischer 5
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meingültigen Abgrenzung zum rechtfertigenden Notstand. Zu guter Letzt stellt sich die Frage, ob beide Rechtfertigungsgründe in bestimmten Konstellationen miteinander konkurrieren oder sich wechselseitig ergänzen können. Dies gilt vor allem mit Blick auf bestimmte Grenzfragen des Rechts im Zusammenhang mit Sterbehilfe und Suizid.
III. Die eigenständige Bedeutung der mutmaßlichen Einwilligung 1. Zur systematischen Einordnung der mutmaßlichen Einwilligung ist zunächst folgendes zu bemerken: Eine Zusammenfassung mit dem rechtfertigenden Notstand in einem einheitlichen Rechtfertigungsgrund der Verfolgung überwiegender Interessen käme von vornherein nur insoweit Betracht, als die Prüfung der mutmaßlichen Einwilligung tatsächlich eine Interessenabwägung impliziert.8 Bei der Ergreifung von Notmaßnahmen für eine Person, deren subjektive Präferenzen man nicht kennt, ist das wie gesagt offenkundig der Fall – man denke an das Beispiel des Wasserrohrbruchs während der Abwesenheit des Hauseigentümers, aber auch an die Notoperation eines Schwerverletzten, der bewusstlos in die Klinik eingeliefert wird. Dabei kann sich die Abwägung aber nicht in einer Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter erschöpfen. Sie muss vielmehr auch das Risiko erfassen, in Verkennung der tatsächlichen Präferenzen des Betroffenen eine Entscheidung zu treffen, die seinem wahren Willen widerspricht.9 Dieses Risiko besteht nun aber auch dort, wo der mutmaßliche Wille nicht aus der objektiven Bewertung einer Notlage abgeleitet wird, sondern aus einem (vermeintlichen) Wissen um die individuellen Einstellungen und Befindlichkeiten des Betroffenen. Um seine Eingehung zu legitimieren, muss man also in allen Fällen aufzeigen, dass die Gefahr einer solchen Fehleinschätzung unter Berücksichtigung ihrer Wahrscheinlichkeit und ihrer Folgen nicht so schwer wiegt wie die Nachteile einer StGB, 61. Aufl. 2014, Vor § 32 Rn. 4; Leipziger Kommentar StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor §§ 32 ff. Rn. 214; Matt/Renzikowski/Engländer StGB, 2013, Vor §§ 32 ff. Rn. 24; Nomos Kommentar StGB/Paeffgen, 4. Aufl. 2013, Vor §§ 32 ff. Rn. 158; NK/Neumann, § 34 Rn. 19 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 32 ff. Rn 54; Satzger/Schmidt/Widmaier/Rosenau StGB, 2009, Vor §§ 32 ff. Rn. 44; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003; § 17 Rn. 114; Jescheck/Weigend (Fn. 4), S. 385; Krey/Esser Deutsches Strafrecht AT, 5. Aufl. 2012, Rn. 677. 8 Sollte das nicht durchweg der Fall sein, wären diejenigen, die die mutmaßliche Einwilligung grundsätzlich als Unterfall des rechtfertigenden Notstands behandeln möchten, dazu gezwungen, die übrigen Konstellationen dann doch als eigene Rechtsfigur abzuspalten; so Maurach/Zipf Strafrecht AT/1, 8. Aufl. 1992, § 28 Rn. 6 ff.; Otto (Fn. 6), § 8 Rn. 130, 132, der insoweit von „gemutmaßter Einwilligung“ spricht. 9 Mitsch (Fn. 7), S. 489; Systematischer Kommentar StGB/Hoyer, Vor § 32 ff. Rn. 34 (Oktober 2011); ähnlich auch Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, Rn. 381.
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vorsorglichen Untätigkeit.10 Diese Überlegung ist aber wiederum nichts anderes als eine Interessenabwägung. Vergleichbares gilt richtigerweise auch in den strukturell abweichend gelagerten Fällen, in denen die Tat nicht im Interesse des Betroffenen, sondern aufgrund seines mangelnden Interesses gerechtfertigt wird.11 Vielzitiertes Beispiel für diese Variante: Jemand verleiht sein Fahrrad regelmäßig an Freunde und bringt damit zum Ausdruck, mit einer solchen Nutzung einverstanden zu sein. Das begründet die Vermutung, er habe wohl auch nichts dagegen, wenn sich während seiner Abwesenheit ein guter Freund das Fahrrad ungefragt kurz ausleiht.12 Mit hundertprozentiger Sicherheit kann man das aber auch hier nicht sagen. Um das Restrisiko zu legitimieren, dass man die ungefragte Benutzung erlaubt, obwohl der Berechtigte aus unbekannten Gründen vielleicht doch nein sagen würde, muss man wie folgt argumentieren: Weil der Eigentümer wahrscheinlich einverstanden wäre und die Benutzung nach menschlichem Ermessen keine nachteiligen Auswirkungen für ihn hat, trifft es die Interessenlage unter Freunden besser, die Handlung zu erlauben, wenn eine Nachfrage aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist. Damit kann man die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung letzten Endes immer als Ergebnis einer Interessenabwägung darstellen.13 Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen muss bei einer solchen Lesart nicht zwangsläufig zu kurz kommen: Um ihm angemessen Rechnung zu tragen, kann man vorhandene Informationen über seine subjektiven Wünsche und Präferenzen als Faktoren von entsprechendem Gewicht in die Abwägung einfließen lassen14 – mit der Konsequenz, dass sich die Annahme eines überwiegenden Interesses an der Begehung der Tat jedenfalls dann verbietet, wenn der wahre Wille des Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit dagegen stünde. 2. Wenn man die mutmaßliche Einwilligung somit in der Tat abwägungsdogmatisch aufzäumen kann, bedeutet das aber noch keine Entscheidung darüber, ob sie mit dem rechtfertigenden Notstand in einem engen systematischen Zusammenhang steht oder gar als dessen Unterfall in Erscheinung tritt. Gegen eine solche Annahme spricht vielmehr entscheidend, dass die Legitimation des Eingriffs bei ihr eine völlig andere ist. Beim Erfordernis der Interessenabwägung, die insofern auch unterschiedlichen Maßstäben folgt, handelt es sich demgegenüber um eine rein äußerliche Gemeinsamkeit.15 10
Treffend Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 7), § 17 Rn. 116 f. Zutr. Münchener Kommentar StGB/Schlehofer, 2. Aufl. 2011, Vor §§ 32 ff. Rn. 163. 12 Vgl. Roxin (Fn. 2), § 18 Rn. 15, 17, 28. 13 Rudolphi GS Armin Kaufmann, 1989, S. 371, 393; MK/Schlehofer (Fn. 11), Vor §§ 32 ff. Rn. 163. 14 Zipf (Fn. 6), S. 53 f.; Rudolphi GS Armin Kaufmann, 1989, S. 371, 393; Merkel Früheuthanasie, 2001, S. 323. 15 Zutr. Hruschka FS Dreher, 1977, S. 189, 205. 11
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a) Für sich genommen liefert die Interessenabwägung weder beim rechtfertigenden Notstand noch bei der mutmaßlichen Einwilligung einen hinreichenden Anlass, die Begehung der Tat zu gestatten: Eingriffe in Rechtsgüter Unbeteiligter kann man nicht einfach auf den höheren Gesamtnutzen stützen, der dabei erreicht wird – eine solche utilitaristische Begründung wäre mit der Stellung des Individuums in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht zu vereinbaren.16 Bei der Legitimation von Eingriffen in die Rechtsgüter von jemandem, dem damit selbst geholfen werden soll, ist der Hinweis auf den objektiven Vorteil, den der Betroffene dabei erlangt, als solcher ebenfalls nicht tragfähig. Er liefe nämlich auf eine Bevormundung zum (vermeintlich) eigenen Wohl hinaus.17 Eine solche paternalistische Fürsorge des Strafrechts ist aber allenfalls in engen Grenzen akzeptabel, etwa beim Ausschluss der Einwilligung in bestimmte Rechtsgutsverletzungen nach § 216 StGB und § 228 StGB.18 Als Grundlage der Rechtfertigung von eingriffsintensiven Maßnahmen, die nicht vom Willen des Betroffenen gedeckt sind, ginge sie hingegen entschieden zu weit. b) Die Ansätze zur Überwindung der Vorwürfe des Utilitarismus auf der einen und des Paternalismus auf der anderen Seite fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus: Eine Opferpflicht zugunsten Dritter kann man – in einem entsprechend engen Rahmen – mit einer Mindestsolidarität begründen, die sich die Bürger in einem Gemeinwesen wechselseitig schulden. Dies ist der heute ganz überwiegend vertretene Ansatz zur Legitimation von § 34 StGB.19 Bei Eingriffen in ein Rechtsgut, durch die dessen Inhaber selbst vor Nachteilen bewahrt werden soll, gilt es hingegen, dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen so gut wie möglich Rechnung zu tragen. Deshalb muss man vorrangig versuchen, seine Einwilligung einzuholen,20 und deren evtl. Verweigerung ist auch dann zu respektieren, wenn sie objektiv unvernünftig
16 Eingehend Neumann in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, 155, 163 f.; vgl. ferner NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 7 ff.; Engländer GA 2010, 15, 20. 17 Zutr. NK/Paeffgen (Fn. 7), Vor §§ 32 ff. Rn. 158. 18 Dazu wiederum – und in jedenfalls in Bezug auf § 228 StGB skeptisch – Schünemann (Fn. 1), S. 221, 229 f., 238. 19 Näher Neumann (Fn. 16), S. 164 ff.; NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 9 ff.; MK/Erb (Fn. 11), § 34 Rn. 7 f., jew. m.w.N.; interessenbasierte Begründung bei Engländer Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 92 ff.; ders. GA 2010, 15, 20. 20 Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1993, 15. Abschnitt Rn. 16; Roxin (Fn. 5), § 18 Rn. 10; LK/Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 222; einschr. für geringfügige Beeinträchtigungen, bei denen der Betroffene auf eine vorherige Befragung nach den Umständen wohl keinen Wert legt, Tiedemann JuS 1970, 108, 109; Sch/Sch/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 54; Krey/Esser (Fn. 7), Rn. 678.
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erscheint.21 Auf den mutmaßlichen Willen abzustellen, wenn die Einholung einer eigenverantwortlichen Entscheidung unmöglich ist, erscheint vor diesem Hintergrund nur deshalb legitim, weil es sich unter solchen Umständen um die bestmögliche Annährung an die subjektiven Präferenzen handelt.22 Die objektive Bewertung der Interessenlage dient dabei nur als Hilfsmittel der Erkenntnis.23 Sie hat insofern einen völlig anderen Stellenwert als die Interessenabwägung bei der Konkretisierung notstandsrechtlicher Opferpflichten.24 Aus diesem Grund ist hier im Unterschied zur Aktivierung von Solidaritätspflichten nach § 34 StGB auch nicht unbedingt ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses erforderlich. Soweit nach Lage der Dinge schon ein einfaches Überwiegen genügt, um daraus mit hinreichender Sicherheit einen mutmaßlichen Willen des Betroffenen für die Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung ableiten zu können, reicht dies völlig aus.25
IV. Konsequenzen für die Abgrenzung 1. Mit diesen Überlegungen ist nicht nur die systematische Eigenständigkeit der mutmaßlichen Einwilligung belegt, sondern auch das allgemeingültige Abgrenzungskriterium zum rechtfertigenden Notstand vorgezeichnet: § 34 StGB gilt für Konstellationen, in denen die Inhaber der widerstreitenden Interessen personenverschieden sind. Betrifft die Kollisionslage ausschließlich Interessen ein- und derselben Person, ist eine Rechtfertigung der Tat durch Notstand hingegen generell ausgeschlossen, denn niemand schuldet sich von Rechts wegen selbst eine Mindestsolidarität.26 Weil es dem Betroffe-
21 BGHSt 45, 219, 221; LK/Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 223; Matt/Renzikowski/ Engländer (Fn. 7), § 34 Rn. 8; NK/Neumann (Fn. 7), Vor § 211 Rn. 103, Kühl Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 9 Rn. 47; Roxin (Fn. 5), § 18 Rn. 23. 22 Vgl. NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 19 f. 23 Ähnlich Hruschka FS Dreher, 1977, S. 189, 205); LK/Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 214. 24 Dies gilt selbst dort, wo aufgrund einer dauerhaften Einwilligungsunfähigkeit des Betroffenen (etwa eines Kindes) die Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung des Personensorgeberechtigten maßgeblich ist, der über seine Zustimmung von Rechts wegen nach objektivierbaren Kriterien entscheiden muss; so zutr. Engländer GA 2010, 15, 24 f., der bei der (mutmaßlichen) Einwilligung insofern von der „präferenzvertretenden“ Funktion „intersubjektiver Gewichtungskriterien“ spricht, während diesen beim rechtfertigenden Notstand eine „präferenzverdrängende“ Funktion zukommt. 25 Vgl. etwa Knauf Mutmaßliche Einwilligung und Stellvertretung bei ärztlichen Eingriffen an Einwilligungsunfähigen, 2005, S. 88 f.; Jakobs (Fn. 20), 13. Abschnitt Rn. 34 und 15. Abschnitt Rn. 16; SK/Hoyer (Fn. 9), Vor § 32 ff. Rn. 35. 26 Engländer GA 2010, 15, 21; Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 581; Handkommentar Gesamtes Strafrecht/Duttge, 3. Aufl. 2013, § 34 StGB Rn. 9; MK/Erb (Fn. 11), § 34 Rn. 30; ähnlich bereits Knauf (Fn. 25), S. 84; im Ergebnis auch Mitsch (Fn. 7),
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nen vielmehr freistünde, seine Einwilligung zu erteilen oder zu verweigern, wenn er dazu in der Lage wäre, muss man überall dort, wo er aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage ist, diese Entscheidung zu treffen, eine mutmaßliche Einwilligung prüfen. 2. Dessen ungeachtet stellt eine verbreitete Ansicht speziell bei lebensgefährlichen Rettungsmaßnahmen – ausschließlich oder zumindest ergänzend – auf § 34 StGB ab. Entsprechende Stellungnahmen finden sich etwa in Bezug auf besonders riskante Operationen und den Wurf eines Kindes aus dem Fenster eines brennenden Hauses.27 Dahinter steht die Annahme, infolge der Einwilligungssperre von § 216 StGB sei es nicht möglich, die hochgradige Lebensgefährdung durch eine erklärte und umso weniger durch eine mutmaßliche Einwilligung zu rechtfertigen.28 Dies trifft jedoch nicht zu: Ist die betreffende Maßnahme in ihrer jeweiligen Gefährlichkeit das erforderliche Mittel, um den ansonsten noch wahrscheinlicheren oder sogar sicheren Tod des Betroffenen zu verhindern, hat sie trotz ihrer Gefährlichkeit keine lebensvernichtende, sondern im Gegenteil eine lebenserhaltende Tendenz. Damit läuft ihre Zulassung dem Schutzzweck von § 216 StGB offensichtlich nicht zuwider; man kann sogar im Gegenteil sagen, dass dieser ihre Zulassung geradezu gebietet.29 Deshalb ist es für die Rechtfertigung wiederum völlig ausreichend, zugleich aber auch erforderlich, dass die Maßnahme dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen entspricht.30 Die Notlage spielt dabei zwar insofern eine Rolle, als sie den Anlass bildet, besonders weitreichende Möglichkeiten der Einwilligung oder der mutmaßlichen Einwilligung zuzulassen.31 Mit einer Notstandsrechtfertigung hat das aber nichts S. 416, 419 f.; Renzikowski Notstand und Notwehr, 1993, S. 64 f.; Matt/Renzikowski/ Engländer (Fn. 7), § 34 Rn. 8; NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 14; Kindhäuser Strafrecht AT, 5. Aufl. 2011, § 17 Rn. 33; einschr. Sch/Sch/Perron (Fn. 7), § 34 Rn. 8a; Roxin (Fn. 5), § 18 Rn. 102; a.A. Bottke Suizid und Strafrecht, 1982, S. 89 f.; Fischer (Fn. 7), § 34 Rn. 12; LK/Zieschang (Fn. 7), § 34 Rn. 59; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, § 34 Rn. 4; Kühl (Fn. 21), § 8 Rn. 33; Rengier Strafrecht AT, 5. Aufl. 2013, § 19 Rn. 44; Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht AT I, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 106; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 9), Rn. 322. 27 Fischer (Fn. 7), § 34 Rn. 12; LK/Zieschang (Fn. 7), § 34 Rn. 59, 61; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 26), § 9 Rn. 106; für die letztgenannte Konstellation auch Sch/Sch/Perron (Fn. 7), § 34 Rn. 8a; Kühl (Fn. 21), § 8 Rn. 33; Rengier (Fn. 26), § 19 Rn. 44; Roxin (Fn. 5), § 16 Rn. 102; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 9), Rn. 322. 28 LK/Zieschang (Fn. 7), § 34 Rn. 59, 61; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 26), § 9 Rn. 106; wohl auch Lackner/Kühl (Fn. 26), § 34 Rn. 4. 29 Ebenso Engländer GA 2010, 15, 25. 30 Zutr. NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 36; Matt/Renzikowski/Engländer (Fn. 7), § 34 Rn. 8. 31 Zur Bedeutung der Verfolgung hochrangiger Interessen bei der Bestimmung der Grenzen einer zulässigen Einwilligung allgemein Dölling GA 1984, 71, 90 ff.; ders. FS Gössel, 2002, S. 209, 209 ff.
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zu tun, denn hier steht keine Solidaritätspflicht im Raum, wie sie für diese Rechtsfigur charakteristisch ist. Um es noch einmal zu sagen: Niemand schuldet sich selbst eine Mindestsolidarität.
V. Problemkonstellationen Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen erst bei der Behandlung von Konstellationen, in denen tatsächlich die Absolutheit des Lebensschutzes und ihre Grenzen zur Debatte stehen. Hier ist das Verhältnis zwischen mutmaßlicher Einwilligung und rechtfertigendem Notstand nicht mehr so einfach zu bestimmen. 1. Das gilt zunächst für jede Form von Sterbehilfe durch aktives Tun, die mit einer Lebensverkürzung einhergeht, d.h. auch für die nach einhelliger Ansicht zulässige indirekte Sterbehilfe, bei der die Lebensverkürzung nur die unbeabsichtigte Nebenfolge einer wirksamen Schmerztherapie darstellt. Ist der Tod oder dessen beschleunigte Herbeiführung zumindest eine bewusst in Kauf genommene Begleiterscheinung der Maßnahme, haben wir es nach allgemeinen Grundsätzen nämlich mit einer vorsätzlichen Tötungshandlung zu tun. Weil § 216 StGB diese selbst für den Fall eines ausdrücklichen und ernsthaften Verlangens mit Strafe bedroht, kommt eine Einwilligung oder eine mutmaßliche Einwilligung eigentlich nicht in Betracht.32 Weil dies ebenso offensichtlich erscheint wie das Bedürfnis, den schweren Leiden der Betroffenen und der Gewissensnot ihrer Ärzte Rechnung zu tragen, wurde eine Vielzahl von Ansätzen entwickelt, um gleichwohl eine Straflosigkeit der behandelnden Ärzte zu begründen.33 Angesichts der flexiblen Argumentation, die § 34 StGB im Rahmen der Interessenabwägung ermöglicht, erstaunt es nicht, dass der Rückgriff auf den rechtfertigenden Notstand dabei die weiteste Verbreitung gefunden hat.34 a) Prüft man die Überzeugungskraft dieses Ansatzes, liegt nach den bisherigen Überlegungen der Einwand nahe, dass hier wiederum Rechtsgüter
32 Rosenau FS Roxin, 2011, S. 577, 583; MK/Schneider, 2. Aufl. 2012, Vor §§ 211 ff. Rn. 109; NK/Neumann (Fn. 7), Vor § 211 Rn. 103. 33 Überblick mit eingehender Kritik an allen Varianten der Tatbestandslösung und an der Einwilligungslösung bei Merkel FS Schroeder, 2006, S. 297, 299 ff. 34 Vgl. etwa BGHSt 42, 301, 305; Otto Gutachten D zum 56. Deutschen Juristentag, 1986, S. D 56 ff.; Schreiber NStZ 1986, 337, 340 f.; Merkel FS Schroeder, 2006, S. 297, 308 ff.; Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 580 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 26), Vor § 211 Rn. 7; NK/Neumann (Fn. 7), Vor § 211 Rn. 103; MK/Schneider (Fn. 32), Vor §§ 211 ff. Rn. 113; Kühl (Fn. 21), § 8 Rn. 164; für eine „analoge“ Anwendung von § 34 StGB Rosenau FS Roxin, 2011, S. 577, 584.
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ein und derselben Person betroffen sind. Wie Neumann aufgezeigt hat, gibt es in dieser Konstellation aber gute Gründe, die Anwendbarkeit von § 34 StGB ausnahmsweise nicht an diesem Punkt scheitern zu lassen. Das Hauptproblem liegt hier nämlich nicht in der intrapersonalen Interessenkollision – diese lässt sich bei einem schwer leidenden Moribunden relativ leicht dahingehend auflösen, dass für ihn die Schmerzlinderung im Zweifel wichtiger ist als die Vermeidung lebensverkürzender Nebenwirkungen. Der eigentliche Konflikt besteht mit dem Interesse der Rechtsgemeinschaft an der umfassenden Aufrechterhaltung des Tötungstabus. Hält man das Interesse des Moribunden an effektiver Schmerzlinderung demgegenüber für wesentlich überwiegend, so werden bei der Rechtfertigung insofern Interessen der Allgemeinheit zurückgestellt, d.h. die Allgemeinheit erbringt dem Betroffenen den für eine Notstandsrechtfertigung typischen Solidaritätserweis.35 Dies ist bei der Anwendung von § 34 StGB durchaus nicht ungewöhnlich. In den zahlreichen Fällen, in denen man unter Notstandsgesichtspunkten die Verletzung von Rechtsgütern der Allgemeinheit – etwa der Sicherheit des Straßenverkehrs – erlaubt, um ein Individualrechtsgut zu schützen, geschieht nämlich nichts anderes. b) Damit bleibt nur der Einwand, das menschliche Leben sei einer Notstandsabwägung prinzipiell nicht zugänglich.36 Dieser Einwand dürfte in der vorliegenden Konstellation aber überwindbar sein: Die Wertung, wonach die Opferung eines Menschenlebens nicht unter Berufung auf höhere Werte, auch nicht zur Rettung einer Vielzahl anderer Menschen, gerechtfertigt werden kann, beruht zu einem wesentlichen Teil auf der fundamentalen Bedeutung des Lebensrechts für den einzelnen Menschen. Hat das Interesse an der Linderung schweren Leidens für diesen selbst ein höheres Gewicht als die lebensverkürzenden Nebenwirkungen der Therapie, kann die Annahme der Unabwägbarkeit des Lebensinteresses somit keine uneingeschränkte Geltung mehr beanspruchen.37 Das heißt nicht, dass sie in solchen Fällen völlig obsolet wäre: Die neben der individualrechtlichen Komponente zu beachtende Tabufunktion des Tötungsverbots spielt in der Interessenabwägung weiterhin eine zentrale Rolle.38 Infolgedessen liegt es nahe, ein wesentlich überwie-
35 Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 582; ders. (Fn. 16), S. 168; NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 37; a.A. Engländer GA 2010, 15, 22. 36 So etwa Verrel JZ 1996, 224, 226. 37 Zutr. Merkel JZ 1996, 1145, 1150 f.; ders. FS Schroeder, 2006, S. 297, 310 f.; Herzberg NJW 1996, 3043, 3047; vgl. auch MK/Schneider (Fn. 32), Vor §§ 211 ff. Rn. 110; NK/Neumann (Fn. 7), Vor § 211 Rn. 103, 139. 38 Zur Abwägbarkeit des Interesses an der Aufrechterhaltung des „Tötungstabus“ im Rahmen von § 34 StGB Herzberg NJW 1996, 3043, 3047; Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 584.
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gendes Interesse an der fraglichen Maßnahme nur dort anzunehmen, wo die Lebensverkürzung eine unvermeidbare Nebenwirkung der Schmerztherapie darstellt. In diesem Fall wiegt der Tabubruch nämlich nicht so schwer wie bei einer gezielten Lebensverkürzung.39 Die gängige Differenzierung zwischen einer zulässigen indirekten und einer verbotenen direkten aktiven Sterbehilfe lässt sich also durchaus in die Dogmatik des rechtfertigenden Notstands integrieren. Sie erhält damit festere Konturen als bei der alternativ zur Debatte stehenden teleologischen Reduktion der Einwilligungssperre von § 216 StGB.40 Deshalb würde ich der Notstandslösung an dieser Stelle nunmehr den Vorzug einräumen; an der gegenteiligen Position, die ich bislang im Münchener Kommentar vertreten hatte,41 halte ich insofern nicht mehr fest. c) Das bedeutet nun allerdings nicht, dass die Rechtfertigungsgründe der Einwilligung und der mutmaßlichen Einwilligung im vorliegenden Zusammenhang überhaupt keine Bedeutung hätten: Lebensverkürzende Nebenwirkungen einer Therapie berühren auch das individuelle Lebensrecht, was ebenfalls einer Legitimation bedarf, und diese kann wiederum nur im erklärten oder mutmaßlichen Willen des betroffenen Patienten gefunden werden.42 Alles in allem lässt sich die Rechtfertigung hier also nur durch ein Zusammenspiel von erklärter oder mutmaßlicher Einwilligung auf der einen und rechtfertigendem Notstand auf der anderen Seite begründen.43 Die mutmaßliche Einwilligung deckt dabei die individualrechtliche, der rechtfertigende Notstand die gesellschaftsbezogene Problematik ab.44 2. Was den Suizid betrifft, soll hier anders, als dies zumeist üblich ist,45 nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob und unter welchen Voraussetzungen man es straflos unterlassen darf, eine Selbsttötung zu verhindern. Diese Frage stellt sich nämlich erst dann, wenn die Verhinderung des Suizids gegen
39 Vgl. Herzberg NJW 1996, 3043, 3048; NK/Neumann (Fn. 7), Vor § 211 Rn. 140; für die Möglichkeit einer Rechtfertigung auch bei letzterer in besonders gelagerten Extremfällen aus bedenkenswerten Erwägungen Merkel FS Schroeder, 2006, S. 297, 320 f.; Otto (Fn. 34), S. D 59 f., ders. NJW 2006, 2217, 2222; NK/Neumann a.a.O. Rn. 139 sowie § 34 Rn. 38, 85. 40 Ebenso Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 577. 41 MK/Erb (Fn. 11), § 34 Rn. 34. 42 Vgl. Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 578; NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 16, 37 sowie Vor § 211 Rn. 91. 43 Zutr. bereits Dölling MedR 1987, 6, 7; ders. JR 1998, 160, 161 f.; ders. FS Gössel, 2002, S. 209, 212 f.; Schöch/Verrel GA 2005, 553, 574; einschr. Merkel (Fn. 14), S. 160 ff. 44 Entgegen Duttge GA 2006, 573, 578 handelt es sich insofern nicht um ein Zusammenwürfeln zweier für sich genommen unpassender Rechtfertigungsgründe. 45 Vgl. etwa MK/Schneider (Fn. 32), Vor §§ 211 ff. Rn. 65 ff.; Sch/Sch/Eser (Fn. 7), Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 39 ff.
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den Willen des Betroffenen überhaupt rechtlich zulässig ist.46 Das dürfte zwar de facto zumeist der Fall sein, versteht sich aber keineswegs von selbst. Sowohl ein gewaltsamer Hinderungsversuch als auch medizinische Rettungsmaßnahmen bedeuten nämlich einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten, der die Straftatbestände der Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung erfüllen kann. Dieser Eingriff bedarf zunächst als solcher einer Rechtfertigung, bevor man über eine strafbewehrte Pflicht diskutieren kann, ihn tatsächlich vorzunehmen. Was als rechtswidrige Verwirklichung von Straftatbeständen verboten ist, kann nämlich nicht zugleich Gegenstand einer Garantenpflicht nach § 13 StGB oder einer allgemeinen Pflicht zur Hilfeleistung nach § 323c StGB sein.47 Bei den Überlegungen zur Rechtfertigung einer „Zwangsrettung“ stehen wir auf den ersten Blick wieder vor einem intrapersonalen Interessenkonflikt, denn zur Debatte steht ja die Rettung des Lebens auf Kosten der Freiheit ein und derselben Person. a) Sucht man die Lösung deshalb zunächst bei der mutmaßlichen Einwilligung, führt dies unproblematisch zur Rechtfertigung, wenn der Suizid nicht auf einer freien Entscheidung beruht: Ist der Betroffene im betreffenden Zeitraum zu einem freiverantwortlichen Handeln nicht in der Lage, kann er die Einwilligung in seine Rettung weder wirksam erteilen noch verbindlich verweigern. Damit bleibt nur der Rückgriff auf seinen mutmaßlichen Willen, der im Zweifel mit dem Selbsterhaltungsinteresse übereinstimmt. Ausnahmen sind freilich denkbar: Wird z.B. ein Moribunder von so unerträglichen Schmerzen gepeinigt, dass er keine rationalen Entscheidungen mehr treffen kann, ist seine Suizidhandlung alles andere als „freiverantwortlich“.48 Man kann aber aus der Betrachtung seiner Gesamtsituation den Schluss ziehen, dass er auch dann, wenn er für eine gewisse Zeit von seinen Schmerzen befreit wäre und deshalb einen selbstbestimmten Entschluss treffen könnte, keine Lebensrettung wollte, die für ihn nur eine Leidensverlängerung bedeu46 Zum dogmatischen Vorrang des Rechts auf Suizidverhinderung vor der Annahme einer evtl. Pflichtwidrigkeit der Nichthinderung bereits Bottke (Fn. 26), S. 81. 47 Zutr. im Zusammenhang mit der Ablehnung lebensrettender Behandlungen durch den Patienten bei Krankheiten Hillenkamp FS Küper, 2007, S. 123, 133 f., der dabei zugleich aufzeigt, dass die Behandlungsverweigerung mit einem Suizid jedenfalls dann in keiner Weise vergleichbar ist, wenn ihre subjektive Zweckrichtung nicht in der Herbeiführung des eigenen Todes besteht (a.a.O., S. 131 ff.). 48 Nach der „Einwilligungslösung“, die an die Freiverantwortlichkeit eines Suizids die gleichen Voraussetzungen stellt wie an die Wirksamkeit einer Einwilligung, auf gar keinen Fall; bei entsprechender Zuspitzung des Beispiels aber wohl auch nicht auf der Grundlage der „Exkulpationslösung“, nach der die Freiverantwortlichkeit des Suizids in Anlehnung an die Regeln über die strafrechtliche Verantwortlichkeit zu bestimmen ist; zu beiden Konzepten mit umfassenden Nachweisen und eingehender Kritik an der „Einwilligungslösung“ Dölling FS Maiwald, 2010, S. 119, 122 ff.; für die mittelbare Täterschaft des Suizidveranlassers differenzierend LK/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 72 ff., 106 ff., 119 ff.
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tet. Damit ist die zwangsweise Verhinderung des Suizids hier nicht durch mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt. Die Gegenausnahme bildet der Fall, in dem ein heilbar Kranker oder Schwerverletzter durch akute Schmerzen zum Suizidversuch getrieben wird: Er wollte bei klarem, nicht durch die Schmerzen getrübtem Verstand an einer solchen Verzweiflungstat sicherlich gehindert werden. Eine Rechtfertigung der Rettungsmaßnahmen durch mutmaßliche Einwilligung greift ferner bei einem Suizidversuch, der zwar freiverantwortlich, aber nicht ernstgemeint ist: Bei einem solchen „Appellsuizidversuch“ hat der Betroffene in letzter Konsequenz ja den Willen, rechtzeitig aufgefunden und gerettet zu werden.49 b) Der Anwendungsbereich der mutmaßlichen Einwilligung geht aber noch weiter: Nimmt man an, dass die meisten Suizidversuche entweder unfrei oder als „versteckte Hilferufe“ nicht wirklich ernstgemeint sind, besteht aus der Perspektive des Helfers in der Regel eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Rettung dem Interesse des Betroffenen entspricht. Damit ist das Eingreifen des Retters auch dann durch mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt, wenn in Wirklichkeit ein freiverantwortlicher und ernsthafter Suizidversuch vorliegt, der aus der Perspektive des Helfers aber nicht als solcher erkennbar ist. Die Dinge ändern sich erst, wenn der Retter mit Umständen konfrontiert wird, die positiv den Schluss zulassen, dass der Suizidversuch sowohl freiverantwortlich als auch ernstgemeint ist: Hier widerspricht die Vornahme von Hinderungs- und Rettungsmaßnahmen nun in der Tat dem erkennbar freien Willen des Betroffenen, so dass ihre Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung ausscheidet. Das gilt jedenfalls, solange der Suizident sein Vorhaben bei klarem Bewusstsein fortführt; ob die Annahme eines potentiellen Sinneswandels bei Eintritt der Hilflosigkeit plausibel erscheint, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.50 Zur Rechtfertigung einer Zwangsrettung bleibt danach nur der Rückgriff auf den rechtfertigenden Notstand. Ein solcher ist allerdings nur dann möglich, wenn man der Allgemeinheit ein rechtlich geschütztes Interesse zubilligt, Suizide zu verhindern, etwa im Hinblick auf deren negative Vorbildwirkung und die Belastung des gesellschaftlichen Klimas, die eine Häufung von Selbsttötungen mit sich bringt.51 Ob dieser Gedanke, der als Kehrseite die Ablehnung eines individuellen Rechts auf Selbsttötung 52 impliziert, im Ergebnis trag-
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Ebenso NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 35. Vgl. dazu BGHSt 32, 367, 375; Sch/Sch/Eser (Fn. 7), Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 44. 51 Vgl. Bottke GA 1982, 346, 350 f. 52 Gegen ein solches mit pathetischen Worten seinerzeit BGHSt 6, 147, 153, während BGHSt 32, 367, 375 f. die Frage offen ließ und rein pragmatisch mit der Ununterscheidbarkeit zwischen freiverantwortlichen und nicht freiverantwortlichen Suiziden für Außenstehende argumentierte (zur Bedeutung dieses Aspekts auch Dölling NJW 1986, 1011, 50
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fähig ist, muss hier dahinstehen. Er ist jedenfalls eine notwendige Voraussetzung für die Begründung einer Konfliktlage, die über die Interessensphäre des Betroffenen hinausgeht und damit grundsätzlich die Anwendung von § 34 StGB eröffnet. Bewertet man bei der danach maßgeblichen Abwägung das öffentliche Interesse an der Suizidverhinderung als „wesentlich überwiegend“, besteht nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstands eine Solidaritätspflicht des Betroffenen gegenüber der Allgemeinheit, die Einbußen an Freiheit und körperlicher Integrität hinzunehmen, die mit seiner Zwangsrettung verbunden sind.53 Die Betrachtung sollte sich wiederum ändern, wenn die freiverantwortliche Entscheidung zur Selbsttötung aus solchen Gründen getroffen wurde, die auch bei objektiver Betrachtung entsprechend hohes Gewicht haben. Davon wäre etwa auszugehen, wenn sich jemand deshalb in freier Verantwortung zum Suizid entschließt, weil er zutreffend annimmt, dass er vom Leben nur noch schwere Leiden zu erwarten hat. Hier sollte man m.E. kein überwiegendes – und schon gar kein wesentlich überwiegendes – Interesse der Allgemeinheit mehr annehmen, ihn zwangsweise an seinem Tun zu hindern.54 Die Grenzziehung ist dabei freilich eine Wertungsfrage, die durch die grundsätzliche Heranziehung von § 34 StGB in keiner Weise prädestiniert wird. 3. Soweit die zwangsweise Verhinderung eines Suizids nach diesen Überlegungen gerechtfertigt ist – sei es durch mutmaßliche Einwilligung, sei es durch Notstand –, entsteht zugleich Raum für die Annahme einer strafbewehrten Pflicht hinzukommender Personen, entsprechend tätig zu werden. Diese ist bei unfreien Suizidversuchen nach § 13 StGB für Garanten und nach § 323c StGB für Nichtgaranten leicht zu begründen. Bei freiverantwortlichen Suizidversuchen ist sie bekanntlich in vielerlei Hinsicht problematisch; eine Erörterung der maßgeblichen Punkte würde an dieser Stelle zu weit führen. Entsprechendes gilt für die Vorsatz- und Irrtumsprobleme, die aus den Schwierigkeiten bei der Einschätzung resultieren, ob man einen Suizidversuch als „freiverantwortlich“ und ernstgemeint einstufen kann.
1015). Für eine grundsätzliche Bewertung der Selbsttötung als „rechtswidrig“ wiederum BGHSt 46, 279, 285. Gegen ein Recht auf Selbsttötung im Schrifttum etwa Hirsch FS Lackner, 1987, S. 597, 611; Rengier (Fn. 26), § 23 Rn. 6; Roxin (Fn. 5), § 16 Rn. 102; a.A. Verrel JZ 1996, 224, 230; Engländer GA 2010, 15, 26; Fischer (Fn. 7), Vor §§ 211–216 Rn. 41 f.; Matt/Renzikowski/Engländer (Fn. 7), § 34 Rn. 8; NK/Neumann (Fn. 7), § 34 Rn. 35. 53 Ähnlich Bottke (Fn. 26), S. 90, 164; ders. GA 1982, 346, 356; im Ergebnis für eine Rechtfertigung nach § 34 StGB auch Lenckner Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 99 Fn. 71; LK/Zieschang (Fn. 7), § 34 Rn. 73; Sch/Sch/Eser/Eisele (Fn. 7), § 240 Rn. 32; Roxin (Fn. 5), § 16 Rn. 102. 54 Für eine entsprechende Differenzierung auch Bottke GA 1982, 346, 358; Sch/Sch/Perron (Fn. 7), § 34 Rn. 33; vgl. ferner Kühl (Fn. 21), § 8 Rn. 161.
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V. Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Rechtfertigender Notstand und mutmaßliche Einwilligung implizieren zwar beide jeweils Interessenabwägungen, sind als Rechtfertigungsgründe aber deutlich voneinander abgrenzbar. Die Anwendbarkeit von § 34 StGB setzt einen interpersonalen Interessenkonflikt voraus, in dem vom Inhaber eines durch die Notstandshandlung beeinträchtigen Interesses Solidarität eingefordert wird. Intrapersonale Interessenkonflikte sind als solche ausschließlich nach den Grundsätzen der erteilten oder mutmaßlichen Einwilligung zu behandeln. Scheinbare Ausnahmen im Bereich der Sterbehilfe und der zwangsweisen Verhinderung von Selbsttötungen sind dadurch zu erklären, dass hier zwar Rechtsgüter ein und derselben Person betroffen sind. Dabei kommen jedoch zugleich die Interessen der Allgemeinheit ins Spiel, aufgrund deren das Recht die Verfügungsbefugnis des Menschen über sein eigenes Leben einschränkt. Um den hierdurch eröffneten interpersonalen Interessenkonflikt zu entscheiden, kann und muss man deshalb wiederum auf die Grundsätze des rechtfertigenden Notstands zurückgreifen. Mit einer solchen Lesart vermeidet man den Anspruch, einen voll verantwortlichen Erwachsenen vor sich selbst zu schützen, und entgeht dadurch dem Vorwurf eines vom verehrten Jubilar zu Recht kritisch betrachteten – und sei es nur indirekten – „harten“ Strafrechtspaternalismus.
Die Omissio libera in causa Enrique Gimbernat Ordeig I. Einführung Im Urteil des Tribunal Supremo (Obersten Gerichtshofes = TS) vom 30.7. 2003 geht es um einen Fall, in dem die Mutter der 2-jährigen Alasne und der 8-monatigen Tassadit, Montserrat G., ihre beiden Töchter in der Nacht vom 27. bis 28. Januar 2000 in die Wohnung der Angeklagten Soledad F. brachte, die sich während der Abwesenheit der Mutter um die Kinder kümmern sollte. Während der Zeit, in der Soledad F. die Kinder beaufsichtigen sollte, spritzte sie sich eine Dosis Heroin und schluckte außerdem eine unbekannte Zahl von Pillen des Beruhigungsmittels Alprazolam, „was dazu führte, dass Soledad F. in einen Zustand absoluter Bewusstlosigkeit fiel“; dies hinderte Soledad nicht nur daran, „auf die Mädchen aufzupassen, sondern sogar Kenntnis davon zu nehmen, was um sie herum geschah“. Soledad F. wurde von der Audiencia Provincial (Landgericht) Barcelona auf Grund von Art. 229.11 i.V.m. Art. 229.32 des Código Penal (CP) – Vorschriften, die in etwa § 221 StGB entsprechen – bestraft. Soledad F. legte Rechtsmittel gegen das Urteil der Audiencia Provincial ein und beantragte beim TS die Anwendung von Art. 20.2 CP, nach dem „die strafrechtliche Verantwortung ausgeschlossen wird“, wenn der Täter sich „zum Zeitpunkt der Tatbegehung“ infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel „im Zustand völliger Intoxikation befindet“. Der TS bestätigt das Urteil des Instanzgerichtes mit der Begrün-
1 „El abandono de un menor de edad o un incapaz por parte de la persona encargada de su guarda, será castigado con la pena de prisión de uno a dos años“. [„Die Aussetzung eines Minderjährigen oder eines Entmündigten durch den Obhutspflichtigen wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zwei Jahren bestraft“]. 2 „Se impondrá la pena de prisión de dos a cuatro años cuando por las circunstancias del abandono se haya puesto en concreto peligro la vida, salud, integridad física o libertad sexual del menor de edad o incapaz, sin perjuicio de castigar el hecho como corresponda si constituyere un delito más grave“. [„Werden wegen der Umstände der Aussetzung der Minderjährige oder der Entmündigte der Gefahr des Todes, oder der Beeinträchtigung der Gesundheit, der körperlichen Unversehrtheit oder der sexuellen Freiheit ausgeliefert, so wird auf Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu vier Jahren erkannt, ungeachtet der entsprechenden Bestrafung der Tat, wenn sie ein schwereres Delikt begründet“].
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dung, dass „Soledads Verhalten, unkontrollierbar Betäubungs- und Beruhigungsmittel einzunehmen, als ein Fall von Handlungen ‚liberae in causa‘ betrachtet werden kann“.
II. Der Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten 1. Unter den verschiedenen Kriterien, die zur Unterscheidung zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten aufgestellt worden sind, werde ich mich im Folgenden – weil sie direkt die Rechtsnatur von Art. 229 CP betreffen – nur mit zwei von ihnen befassen. 2. Nach einer Richtung wird der Unterschied so beschrieben: „Die echten Unterlassungsdelikte haben auf der Seite der Begehungsdelikte die schlichten Tätigkeitsdelikte zum Gegenstück. Dagegen wird bei den unechten Unterlassungsdelikten dem Täter als Garanten für das geschützte Rechtsgut eine Pflicht zur Erfolgsabwendung auferlegt. Der Eintritt des Erfolges gehört hier zum Tatbestand. Dem Garanten, der seine Erfolgsabwendungspflicht verletzt, wird der Eintritt des Erfolges objektiv zugerechnet. Der Erfolg ist seine Tat. Die unechten Unterlassungsdelikte sind darum das Gegenstück zu den Erfolgsdelikten“.3 3. Diesem materiellen Kriterium, das das unechte Unterlassungsdelikt als das Gegenstück zum Erfolgsdelikt und das echte als das Gegenstück zum Tätigkeitsdelikt ansieht, wird ein rein formelles Unterscheidungsmerkmal gegenübergestellt, nach dem unechte Unterlassungsdelikte diejenigen sind, die nicht im Gesetz ausdrücklich geregelt worden sind, wobei sich die 3 Leipziger Kommentar StGB/Jescheck, 11. Aufl. 2003, Vor § 13 Rn. 91. Siehe auch Systematischer Kommentar StGB/Rudolphi Vor § 13 Rn. 8 (2000): „Echte Unterlassungsdelikte sind danach Straftaten, die sich in der Nichtvornahme einer von einer Gebotsnorm geforderten bestimmten Handlung erschöpfen. … Die unechten Unterlassungsdelikte sind dagegen Straftaten, die ein Gegenstück zu den Erfolgsdelikten bilden. Bei ihnen gehört der Eintritt des Erfolges zum Tatbestand, das Gebot ist also nicht nur auf die Vornahme einer bestimmten Handlung, sondern direkt auf Erfolgsabwendung gerichtet“. Im gleichen Sinne: Binding Normen II 1, 1914, S. 551; M. E. Mayer AT, 1915, S. 133; Antón Derecho penal Parte General, Madrid 1949, S. 170; Maurach Strafrecht AT, 4. Aufl. 1971, S. 583; Quintano Nueva Enciclopedia Jurídica Seix, VI, Barcelona 1975, S. 478; Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 605 f.; Righi/Fernández Derecho penal, Buenos Aires 1996, S. 258; Bacigalupo Principios de Derecho penal Parte General, 4. Aufl., Madrid 1997, S. 392; Frister Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, 7. Kapitel Rn. 15; 22. Kapitel Rn. 1 ff.; Kühl Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 11, § 18 Rn. 6a; Freund Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 6 Rn. 10; Mir Derecho penal Parte General, 9. Aufl., Barcelona 2011, S. 299; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, § 16 Rn. 696 f.; Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 13 Rn. 2 f.
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Erfolgszurechnung zum Garanten aus der Verbindung von § 13 StGB mit dem im Besonderen Teil jeweils beschriebenen Handlungsdelikt ergibt (vor der Einführung des § 13 StGB im Jahre 1975 bzw. des dem § 13 entsprechenden Art. 11 CP im Jahre 1995: aus der Verbindung mit der allgemeinen Theorie der Garantenstellung); dagegen werden als echte Unterlassungsdelikte diejenigen betrachtet, die der Gesetzgeber ausdrücklich im Besonderen Teil vertypt hat, und zwar unabhängig davon, ob im Fall des Erfolgseintritts dieser Erfolg dem Unterlassenden zugerechnet (§ 340 StGB: „begehen lässt“) wird oder nicht (§ 323c StGB). Das war die vor der Einführung von § 13 StGB von Armin Kaufmann vertretene Ansicht 4 („Somit lassen sich echte und unechte Unterlassungsverbrechen lediglich an dem äußerlichen Kriterium unterscheiden, dass die echten vom Gesetz selbst vertypt worden sind, während die unechten Omissivdelikte im Gesetz keine Regelung gefunden haben“),5 eine formelle Ansicht, die auch nach der Garantenlehre, die vom deutschen und vom spanischen Gesetzgeber in die erwähnten Vorschriften eingeführt wurde, immer noch verteidigt wird.6 4. Unser verehrter Jubilar misst diesen beiden Abgrenzungskriterien wenig Bedeutung zu und definiert „die unechte Unterlassung als die begehungsgleiche Nichtvornahme einer individuell möglichen Handlung; echte Unterlassungen sind dann alle übrigen“7.
4
Kaufmann JuS 1961, 173, 174. Im gleichen Sinne: Meyer/Allfeld Lehrbuch, 1907, S. 162 ff.; Welzel Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 202 f.; Schmitt JZ 1959, 432, 433; Meyer/Bahlburg Beiträge zur Erörterung der Unterlassungsdelikte, 1962, S. 12, 20 f.; ders. MschKrim 46 (1965), 247, 248; Nickel Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege“, 1972, S. 11. 6 Vgl. in diesem Sinne: Resoluciones del XIII Congreso Internacional de la AIDP, Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales 1984, S. 1015 f.; Silva El delito de omisión, Barcelona 1986, S. 347; Maurach/Gössel Strafrecht AT, 7. Aufl. 1989, § 45 Rn. 35 ff.; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 28. Abschnitt Rn. 9 ff.; Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 96; Bustos/Hormazábal Lecciones de Derecho penal II, Barcelona 1999, S. 202; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 15 Rn. 7 ff.; Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht AT, 5. Aufl. 2004, § 13 Rn. 8 ff.; Otto Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 4 Rn. 5 ff.; Nomos Kommentar StGB/Puppe, 2. Aufl. 2005, § 13 Rn. 2; Schönke/ Schröder/Stree/Bosch StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 134 ff.; LK StGB/Weigend, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 16; Frister (Fn. 3), 8. Kapitel Rn. 16 ff.; Kindhäuser Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, § 35 Rn. 1 f.; Murmann Grundkurs Strafrecht, 2. Aufl. 2013, § 14 Rn. 19 f. 7 Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 44; siehe auch Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 16 ff. 5
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III. Tätigkeits- und Erfolgsdelikte Der Unterschied zwischen Tätigkeits- und Erfolgsdelikt kann aber nicht in dem herkömmlichen Sinne verstanden werden, nach dem das erstgenannte als eines aufgefasst wird, in dem „sich der strafrechtliche Tatbestand in der Körperbewegung des Handelnden [erschöpft], ein Außenerfolg ist nicht verlangt“, während „bei den so genannten Erfolgsdelikten dagegen … außer der Körperbewegung des Handelnden ein Außenerfolg tatbestandlich erfordert [wird]“;8 denn wenn es wirklich Delikte gäbe, die keinen Außenerfolg forderten, d.h. Delikte, die sich in einer reinen Körperbewegung erschöpften, ohne dass sich daraus ein Erfolg ergäbe, dann wäre nicht zu verstehen, was für eine Legitimation das Strafrecht für sich beanspruchen kann, einen Vorgang zu kriminalisieren, der bei dem Subjekt sowohl anfängt als auch endet, ohne dass in der Außenwelt entweder ein Risiko für das Rechtsgut (Gefährdungsdelikt) oder dessen Beeinträchtigung (Verletzungsdelikt) eintritt. Deswegen muss man sich der u.a. von Roxin9 vertretenen Ansicht anschließen, nach der sowohl die Erfolgs- wie auch die Tätigkeitsdelikte einen Erfolg hervorrufen, wobei der Unterschied zwischen beiden nur darin zu sehen ist, ob „der Erfolg in einer von der Täterhandlung räumlich und zeitlich getrennten Verletzungs- oder Gefährdungswirkung besteht“10, oder ob „die Tatbestandserfüllung mit dem letzten Handlungsakt zusammenfällt, ein davon abtrennbarer Erfolg also nicht eintritt“11. So fällt bei unbestrittenen Tätigkeitsdelikten wie dem Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) der Erfolg – in diesem Fall das Eingedrungen-Sein – zeitlich und räumlich mit der tatbestandsmäßigen Handlung – hier: das Eindringen – zusammen; genauso wie bei § 173 Abs. 1 StGB i.V.m. § 173 Abs. 3 StGB der tatbestandsmäßige Erfolg – das Vollziehen des Beischlafs mit einem leiblichen Abkömmling – mit dem Eindringen des männlichen Gliedes in die Scheide der minderjährigen Tochter zusammenfällt. Als wichtige Folge der Trennung zwischen Tätigkeits- und Erfolgsdelikten ist daher zu bezeichnen, dass sich bei der ersten Kategorie unmöglich Kausalitätsprobleme ergeben können,12 denn es kann kein Zweifel darin bestehen,
8 Mezger Strafrecht, Ein Lehrbuch, 2. Aufl. 1933, S. 47 (Hervorhebungen hinzugefügt); ähnlich Cobo/Vives Parte General, 4. Aufl., Valencia 1996, S. 351; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 6), § 8 Rn. 39; Otto (Fn. 6), § 4 Rn. 10; Kindhäuser (Fn. 6), § 8 Rn. 18; Fischer (Fn. 3), Vor § 13 Rn. 18. 9 Vgl. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 102 ff.; im gleichen Sinne etwa Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 120, 128; LK/Walter (Fn. 6), Vor § 13 Rn. 63. 10 Roxin (Fn. 9), § 10 Rn. 102. 11 Roxin (Fn. 9), § 10 Rn. 103. 12 Vgl. Roxin (Fn. 9), § 10 Rn. 103.
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dass der Verursacher der tatbestandlichen Erfolge von § 123 StGB bzw. § 173 StGB derjenige ist, der in die Wohnung eingedrungen ist bzw. der Vater, der an seiner Tochter die sexuelle Handlung vollzogen hat.
IV. Unechte Unterlassungsdelikte, die als Gegenstück zu den Tätigkeitsdelikten angesehen werden müssen Nach dieser Einführung können wir uns mit der Rechtsnatur von Art. 229 CP (bzw. von 221 StGB) befassen. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um ein Gefährdungsdelikt, bei dem – im Gegensatz zum aktiven Gefährdungsdelikt (etwa § 315c StGB) – die Risikoschaffung nicht auf eine Körperbewegung zurückzuführen ist, sondern auf die unbestreitbare Tatsache, dass die Kinder nicht der Gefahr ausgesetzt gewesen wären, in der sie sich befanden, wenn Soledad F. ihrer Aufgabe als Aufsichtsperson nachgekommen wäre. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es sich auch bei echten Unterlassungsdelikten wie der unterlassenen Hilfeleistung um ein omissives Gefährdungsdelikt handelt, denn die unterlassene gebotene Handlung war darauf gerichtet, das im Moment der Unterlassung für das Leben oder die Gesundheit des Verunglückten drohende Risiko zu mindern. Sollte man sich der oben II. 3. erwähnten Meinung anschließen, derzufolge echte Unterlassungsdelikte diejenigen sind, die im Besonderen Teil ausdrücklich vertatbestandlicht worden sind, so wären sowohl Art. 229 CP (bzw. § 221 StGB) wie auch § 323c StGB reine Omissivdelikte; eine These, die eine zusätzliche Stütze in dem Umstand finden könnte, dass beide – wie hier gerade dargelegt worden ist –Gefährdungsdelikte sind, und auch in dem weiteren Umstand, dass beide ebenfalls als Gegenstück zum aktiven Tätigkeitsdelikt anzusehen sind, insofern, als mit der Unterlassung der gebotenen Handlung zeitlich und räumlich die Nichtminderung des Risikos für das Leben oder die körperliche Integrität des Verunglückten bzw. des Schutzbefohlenen zusammenfällt. Aber diese gemeinsamen Merkmale trüben die Einsicht in die wahre, unterschiedliche Natur beider Tatbestände, denn während bei § 323c StGB die Verantwortung des Omittenten sich auf jeden Fall auf diese Vorschrift beschränkt (auch wenn der Verunglückte Körperverletzungen erleidet oder ums Leben kommt, wird dem Unterlassungstäter dieser Erfolg niemals zugerechnet), wird, wenn im Falle des Art. 229 CP als Folge der Vernachlässigung seitens des Unterlassenden eine Beeinträchtigung der Gesundheit des Schutzbefohlenen oder sogar dessen Tod eintritt, Art. 229 CP durch die fahrlässige Körperverletzung bzw. Tötung verdrängt. Da in der Regel eine fahrlässige Handlung, wenn es nicht zum Eintritt eines Erfolges kommt, straflos ist, ist die Existenz von Art. 229 CP auf die kriminalpolitische Entscheidung zurückzuführen, dass der Gesetzgeber in gewissen Fällen der fahrlässigen
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unechten Unterlassungsdelikte beschlossen hat, den Garanten nicht nur, wenn der Erfolg eintritt, sondern auch, wenn sozusagen ein „fahrlässiger Versuch“ vorliegt, zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen. Nicht anders ist z.B. auch § 121 OWiG (Halten gefährlicher Tiere) auszulegen: Hier wird die sonst ohne Erfolgsverursachung straflose fahrlässige Unterlassung eines Garanten ausnahmsweise unter Strafe gestellt, die nur anzuwenden ist, wenn das Tier niemanden beißt (denn wenn das geschieht, wird der für die Tierbeaufsichtigung Verantwortliche wegen des in Frage kommenden fahrlässigen Erfolgsdelikts bestraft). Daraus ergibt sich auch, dass Art. 229 CP bzw. § 121 OWiG keine Anwendung findet, wenn der Garant vorsätzlich den Verletzungserfolg verursacht: Lässt er Kinder oder ein Tier mit der Absicht unbeaufsichtigt, dass die Kinder Schäden erleiden oder dass das Tier einen anderen Menschen verletzt, und treten diese Erfolge nicht ein, so muss er wegen eines Versuches des jeweiligen beabsichtigten oder in Kauf genommenen tatbestandlich vorgestellten Erfolges zur Rechenschaft gezogen werden. Aus alledem ergibt sich, dass es entgegen der h.L. – und wie die Existenz z.B. von Art. 229 CP und § 121 OWiG beweisen – auch unechte Unterlassungsdelikte gibt, die nicht als Gegenstück zum Erfolgs-, sondern zum Tätigkeitsdelikt in Erscheinung treten, selbst wenn man – wie ich es für richtig halte – kein formelles Abgrenzungskriterium vertritt, das den Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten von dem Umstand abhängig macht, ob die jeweilige Unterlassung im Besonderen Teil des StGB vertypt oder nicht vertypt worden ist, sondern vielmehr das materielle Kriterium, demgemäß zu differenzieren ist, ob der Unterlassende ein Garant oder ein Nichtgarant ist.13
V. Die verschiedenen Begründungen der Strafbarkeit der omissio libera in causa 1. Bei dem im Urteil des TS vom 30.7.2003 behandelten Sachverhalt handelt es sich zweifelsohne um eine omissio libera in causa, bei dem der der Omittentin zugerechnete Erfolg in der Gefährdung des Lebens und der Gesundheit der von ihr zu beaufsichtigenden Kinder bestand. Aber in den meisten Fällen, die als omissio libera in causa von der Wissenschaft angeführt werden, haben wir mit Fallgruppen zu tun, in denen als Folge der omissio libera in causa nicht eine Gefährdung, sondern eine vorsätzliche Verletzung
13 Dazu, dass das Vorhandensein einer Garantenstellung eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur Zurechnung des Erfolgs bei den unechten Unterlassungsdelikten ist, vgl. unten VI. 2.
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eintritt, wie z.B. im Fall des Weichenstellers, der „[mit Tötungsvorsatz] ein Schlafmittel [nimmt], um sich die rechtzeitige Weichenstellung unmöglich zu machen“, wobei „durch das Eisenbahnunglück Menschen ums Leben kommen“,14 oder wenn die Mutter M „lebensnotwendige Medikamente für ihr krankes Kind K“ im Haus hat und, „als sich der Gesundheitszustand des K erwartungsgemäß verschlechtert, M das lebensrettende Medikament wegschüttet und K stirbt“15. 2. Aber ganz gleich, ob es sich um Vorsatz oder Fahrlässigkeit handelt, ob der Erfolg in einer Gefährdung oder in einer Verletzung besteht, die Probleme, die schon zur Begründung der Strafbarkeit bei der actio libera in causa entstehen, spitzen sich bei der omissio libera in causa noch mehr zu: Wenn der LKW-Fahrer zwar merkt, dass er müde ist, aber weiterfährt, am Steuer einschläft und unbewusst einen Fußgänger überfahrt und tötet (actio libera in causa), so ist es eine mit dem Legalitätsprinzip durchaus vereinbare These, diesen Todeserfolg dem aktiven Verhalten des Fahrers, nämlich trotz Müdigkeit weiterzufahren, zuzurechnen, denn diese vorherige Handlung wurde fahrlässig begangen und ist auch diejenige, die mittelbar den tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht hat. 3. Bei der omissio libera in causa dagegen ist nicht so leicht zu begründen, wieso es sich um ein tatbestandsmäßiges Verhalten handelt, denn entweder ist das vom Gesetzgeber als Unterlassung vertypte Verhalten nicht vorhanden (weil der Täter im Moment des Nichtvollzugs der gebotenen Handlung sich in einem unbewussten Zustand befindet, oder weil es ihm aus anderen Gründen unmöglich ist, diese Handlung auszuführen), oder es liegt zwar eine Unterlassung vor, die aber von dem Täter schuldlos – und daher straflos – vollzogen wurde. Und wenn man auf die andere gangbare Lösung zur Begründung der Strafbarkeit des Täters zurückgreift, nämlich auf das vorherige, schuldhafte, fahrlässig oder vorsätzlich aktiv begangene Verhalten (auf das Sichberauschen der Soledad F., auf das Sichbetrinken im Fall des Weichenstellers), so könnte man dagegen den Einwand geltend machen, dass es nicht zulässig ist, eine positive Handlung unter ein Unterlassungsdelikt zu subsumieren. Um alle diese Schwierigkeiten mit Bertel auszudrücken: „Es ist nicht einzusehen, worin ein Unterlassen des Bahnwärters liegen soll. Solange er handlungsfähig ist, unterlässt er nichts, wozu er verpflichtet ist, und in dem Augenblick, in dem er handlungsunfähig geworden ist, kann von Unterlassen nicht mehr die Rede sein“.16
14 15 16
V. Overbeck GS 1922, 235. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 6), § 15 Rn. 28. Bertel JZ 1965, 53.
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a) Auf Grund dieser bei der omissio libera in causa auftretenden Schwierigkeiten hat Vogel die Ansicht vertreten, dass „die omissio libera in causa … nur zur Fahrlässigkeits-, nie zur Vorsatzzurechnung führen [kann]“, da zum Zeitpunkt des Nichtvollzuges der gebotenen Handlung kein Vorsatz vorliege,17 während Seelmann der Meinung ist, dass, obgleich es „wünschenswert“ wäre, im Falle einer omissio libera in causa den Täter wegen des Unterlassungsdelikts zu bestrafen, dieses Ergebnis „sich mit der gegenwärtigen Rechtslage jedoch – wenn man fordert, dass die Handlungsmöglichkeit zum Zeitpunkt der konkreten Handlungspflicht vorliegen muss – schwerlich vereinbaren [lässt]“.18 Auch Wohlers ist der Meinung, dass die omissio libera in causa bestraft werden sollte, aber er führt aus: „De lege lata lässt sich dieses kriminalpolitisch sicherlich wünschenswerte Ergebnis schwerlich mit dem Prinzip vereinbaren, dass die Handlungsmöglichkeit zum Zeitpunkt der konkreten Handlungspflicht vorliegen muss“.19 Aber diese gerade angeführten Ansichten werden nur von wenigen vertreten, denn die h.L. hegt keinen Zweifel daran, dass der Täter einer omissio libera in causa doch für den eingetreten Erfolg haftbar gemacht werden muss, wobei zwei Richtungen zu unterscheiden sind. b) Nach der ersten Richtung haben wir es bei der omissio libera in causa mit einer wahren Unterlassung zu tun,20 sodass keine Bedenken bestehen, den Täter dieser vermeintlichen Unterlassung für ein Unterlassungsdelikt verantwortlich zu machen. Aber diese Ansicht kann nicht überzeugen, denn nach alldem, was hier bisher dargelegt wurde, kann sich das Vorliegen einer schuldhaften Unterlassung bei der omissio libera in causa nur auf Argumente stützen, deren Künstlichkeit nicht zu verbergen ist. c) Die zweite Lehrmeinung geht mit Recht davon aus, dass die Verantwortung des Täters auf dessen aktives Verhalten gestützt werden muss, mit dem seine spätere Handlungsunmöglichkeit oder Schuldlosigkeit hervorgerufen wurde. So spricht Roxin davon, dass bei der omissio libera in causa „wir ein Tun vor uns [haben], das dem Tatbestand eines unechten Unter-
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Vogel (Fn. 6), S. 124. NK/Seelmann, 1. Aufl. 2001, § 13 Rn. 60. 19 NK/Wohlers, 2. Aufl. 2005, § 13 Rn. 13. 20 In diesem Sinne u.a. Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 211; Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 137; Hruschka FS Bockelmann, 1979, S. 421, 422 ff.; Silva (Fn. 6), S. 268; ders. Cuadernos del Poder Judicial 1994, S. 41 f., 44; Stoffers JA 1992, 177, 181; Baier GA 1999, 272, 283; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 6), § 15 Rn. 29; Otto (Fn. 6), § 9 Rn. 11; Kühl (Fn. 3), § 18 Rn. 22; Frister (Fn. 3), 22. Kapitel Rn. 14, 16; Kindhäuser (Fn. 6), § 35 Rn. 14; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 6), § 13 Rn. 4; Sch/Sch/Stree/Bosch (Fn. 6), Vor §§ 13 ff. Rn. 144. 18
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lassungsdelikts unterfällt“,21 d.h. „ein eindeutiges Tun …, das freilich durch den Gebotstatbestand mit verboten wird“22, das aber nicht als „Begehungsdelikt“ bezeichnet werden dürfe,23 einer Meinung, der sich Samson anschließt, wenn er die Verantwortung des Täters auf dessen „Handeln“ zurückführt, wenngleich er erläutert, dass „man … sich darüber im Klaren sein [muss], dass es sich nicht um ein den tatbestandsmäßigen Erfolg verursachendes Tun handelt, so dass die Annahme eines Begehungsdelikt schon aus diesem Grunde ausscheidet“.24 In ähnlichem Sinne führen Bockelman/Volk aus, dass wenn „der Schrankenwärter sich bis zur Besinnungslosigkeit [betrinkt], sodass er die Schranke beim Herannahen des Zuges nicht schließen kann … der Täter nicht für das Unterlassen der Schrankenschließung [verantwortlich] gemacht wird, sondern für das Tun, durch das er sich für den kritischen Zeitpunkt der Aktionsfähigkeit beraubt hat“.25 d) Bertel 26 führt zwar ebenfalls aus, dass „dieses Verbot [sich durch ein Tun in einen bewusstlosen oder schuldlosen Zustand zu versetzen] sich ohne Schwierigkeit aus dem Gebot ableiten [lässt], denn es ist zum wirksamen Bestand des Gebotes unerlässlich“, obgleich er am Ende doch undifferenziert behauptet, dass wir es bei dieser Fallgruppe mit einem „Begehungsdelikt [zu tun haben], von dem man annehmen muss, dass es im Tatbestand des Unterlassungsdeliktes mitvertypt ist“. So wie Bertel sind auch andere Autoren der Meinung, dass bei der omissio libera in causa die Verantwortung auf das vorherige aktive Tun zurückzuführen ist, aber sie bezeichnen dieses Tun auch als ein problemloses Begehungsdelikt. So kennzeichnet Jakobs diese vorangegangene Aktivität als ein sonstiges Begehungsdelikt,27 denn „in einer Lage mit Rettungsmotiv ist das Sich-Betrinken Bedingung des Erfolgs“.28
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Roxin FS Engisch, 1969, S. 380, 383; siehe auch Streng ZStW 122 (2010), 1, 13. Roxin FS Engisch, 1969, S. 380, 384; dagegen Winter Der Abbruch rettender Kausalität, 2000, S. 122. 23 Roxin FS Engisch, 1969, S. 380, 383 f.; siehe auch Roxin (Fn. 7), § 31 Rn. 103 ff.; ebenso SK/Rudolphi (Fn. 3), Vor § 13 Rn. 46. 24 Samson FS Welzel, 1974, S. 579, 598. 25 Bockelmann/Volk Strafrecht AT, 4. Aufl. 1987, S. 134 f.; in Spanien wird diese Meinung auch von Joshi La doctrina de la „actio libera in causa“ en Derecho penal, Barcelona 1992, S. 205, und Bustos/Hormazálbal (Fn. 6), S. 208, vertreten. 26 Bertel JZ 1965, 53, 55. 27 Vgl. Jakobs (Fn. 6), 7. Abschnitt Rn. 69. 28 Jakobs (Fn. 6), 7. Abschnitt Rn. 69 Anm. 118; Winter (Fn. 22), S. 128, meint auch, dass bei gewissen Fällen der omissio libera in causa ein Begehungsdelikt vorliegt. 22
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VI. Stellungnahme 1. Die richtige Lösung muss davon ausgehen, dass zur Begründung der Strafbarkeit des Täters bei der omissio libera in causa auf das vorherige Tun zurückgegriffen werden muss; anders als beim Endstadium des Geschehens – bei der Nichtvornahme der Handlung – liegen beim Vollzug dieses Tuns alle Voraussetzungen (bewusstes, schuldhaftes, vorsätzliches oder fahrlässiges aktives Verhalten) vor, die uns gestatten, dem Täter bedenkenlos den Erfolg zuzurechnen. Aber trotz der richtigen Erkenntnis, dass die Haftung des Täters auf dessen vorherige Handlung gestützt werden muss, kann entgegen der oben unter V. 3. d) dargelegten Meinung davon keine Rede sein, dass es sich bei dieser Handlung um ein „Begehungsdelikt“ handelt, denn dieses kennzeichnet sich dadurch, dass die Handlung den tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht (bedingt),29 während bei der omissio libera in causa das einzige, was dieses vorherige Tun verursacht, eine Nichtaktivität ist, und dass eine Nichtaktivität in keinem Kausalzusammenhang mit einer Veränderung der Außenwelt steht, ist ein Ergebnis, das mit der wohl h.M. behauptet werden muss.30 Man muss sich deswegen der oben unter V. 3. c) dargelegten Meinung anschließen, die besagt, dass wir kein Begehungsdelikt vorliegen haben, auch wenn die Verantwortung des Täters an die Körperbewegung geknüpft werden muss; diese Schlussfolgerung wird von Roxin damit begründet, dass dieses „eindeutige Tun … durch den Gebotstatbestand mit verboten wird“, womit zugleich implizit behauptet wird, dass es Körperbewegungen gibt, die keine Begehungsdelikte sind, und dass dies nichtsdestoweniger auch als Tatbestandsverwirklichung angesehen werden muss, eine Meinung, die sich völlig mit der von mir – in einem auch zu Ehren unseres Jubilars veröffentlichten Aufsatz – aufgestellten These deckt, dass es neben dem Begehungs- und dem Unterlassungsdelikt eine dritte Form der Tatbestandsverwirklichung gibt, die auch, ohne den gesetzlichen Wortlaut zu überdehnen, unter das entsprechende Unterlassungsdelikt subsumiert werden kann. Nichts Anderes geschieht bei der omissio libera in causa: Auch die Begründung ihrer Strafbarkeit ist mit den Grundsätzen, die ich in dem erwähnten Aufsatz für die Behandlung der Unterbrechung rettender Kausalverläufe angewandt habe,
29 Vgl. dazu Gimbernat in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus. Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 163, 174 ff. (= Gimbernat Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 2013, S. 232 ff.). 30 Zur Darlegung und Kritik der Mindermeinung, die die Ansicht vertritt, dass bei den Unterlassungsdelikten auch eine Verursachung zwischen dem Nichteingreifen und dem Erfolg vorliegt, vgl. Gimbernat La causalidad en la omisión impropia y la llamada „omisión por comisión“, Buenos Aires 2003, S. 9 ff., mit zahlreichen Nachweisen.
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zu lösen,31 sodass die vorliegende Untersuchung als eine Ergänzung und Vervollständigung der dort behandelten Problematik angesehen werden kann. Ist ein Garant dazu verpflichtet, das ihm anvertraute Rechtsgut unbeschädigt zu erhalten, so kann er diese Obliegenheit auf zwei Arten verletzen: entweder durch eine Unterlassung, welche die Beeinträchtigung des Rechtsgutes geschehen lässt, oder aber auch dadurch, dass er durch ein vorangegangenes Tun vorsätzlich oder fahrlässig eine Lage schafft, die es ihm unmöglich macht, im schuldfähigen Zustand die Unversehrtheit des in Frage kommenden Rechtsguts zu gewährleisten, sei es, weil er zum Zeitpunkt des Vollzuges des gebotenen Eingreifens nicht handeln kann, oder weil er zwar handeln kann, aber bei ihm zum genannten Zeitpunkt die Schuldunfähigkeit vorliegt, die ihm ein vermeintliches Alibi zur straflosen Verletzung seiner Obhutspflicht liefert. Wenn der Sinn der Schaffung einer Garantenstellung ist, einer Person die Unversehrtheit eines Rechtsguts anzuvertrauen, so ist gleichgültig, ob diese Pflicht durch eine omissio libera in causa oder durch eine wahre Unterlassung verletzt wird, denn in beiden Fällen ist das Ergebnis dasselbe: die Beeinträchtigung eines Rechtsguts, das der Garant so oder so pflichtgemäß hätte retten können. In diesem Sinne formuliert Roxin die Begründung der Strafbarkeit treffend, wenn er ausführt, dass bei der omissio libera in causa das vorherige Tun „durch den Gebotstatbestand mit verboten wird“32, oder wenn Bertel schreibt, dass das Verbot, sich durch die vorangegangene Handlung in einen unbewussten oder schuldlosen Zustand zu versetzen, „sich ohne Schwierigkeit aus dem Gebot ableiten [lässt], denn es ist zum wirksamen Bestand des Gebotes unerlässlich“33. 2. Meiner Meinung nach reicht es nicht, um ein passives Verhalten als unechte Unterlassung anzusehen, dass der Omittent eine Garantenstellung innehat, denn die Gleichwertigkeit mit dem Begehungsdelikt ist nur dann zu bejahen, „wenn derjenige, der einen präexistenten Gefahrenherd zu überwachen verpflichtet ist, davon absieht, Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen, die diesen später einen tatbestandsmäßigen Erfolg verursachenden Gefahrenherd entweder innerhalb des erlaubten Risikos gehalten, oder – für den Fall, dass der Gefahrenherd die Grenzen des rechtlich Erlaubten schon überschritten hätte – ihn wieder auf das rechtmäßige Niveau zurückgebracht hätten“.34
31
Siehe Gimbernat (Fn. 29), S. 236 ff. Roxin FS Engisch, 1969, S. 380, 384. 33 Bertel JZ 1965, 53, 55; siehe auch LK/Weigend (Fn. 6), § 13 Rn. 67; Ast Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 37, 170. 34 Gimbernat FS Roxin, 2001, S. 651, 656; siehe auch dens. ZStW 111 (1999), 307, 316 ff. (= ders. [Fn. 29], S. 185 ff.). 32
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Enrique Gimbernat Ordeig
3. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Unterbrechung rettender Kausalverläufe seitens eines Garanten eine dritte Form der Tatbestandsverwirklichung darstellt, die mühelos bei den unechten Unterlassungsdelikten untergebracht werden kann.35 Und genau dies passiert auch bei der omissio libera in causa, denn wenn wir auf die uns schon bekannten Fälle zurückschauen, so hat Soledad F., indem sie sich durch eine vorherige Handlung für den Zeitpunkt des Vollzuges der gebotenen Handlung in einen bewusstlosen Zustand versetzte, den Tatbestand von Art. 291.1 i.V.m. 229.3 CP erfüllt, weil sie durch jene Handlung die Kinder der Gefahr des Todes und der Beeinträchtigung ihrer Gesundheit ausgesetzt hat. Es steht nirgendwo geschrieben – auch nicht in den erwähnten Vorschriften des Código Penal, die nur von „Aussetzung“ sprechen –, dass der Gefahrenerfolg für die Minderjährigen gerade durch eine Unterlassung eintreten muss, weil es auf der Hand liegt, dass – wie es in dem von dem TS beurteilten Sachverhalt der Fall ist – diese Gefahr auch durch eine vorherige, den bewusstlosen Zustand der Omittentin verursachende Handlung hervorgerufen werden kann: Das Entscheidende ist, dass die Person, die mit der Überwachung der Rechtsgüter ihrer Schutzbefohlenen beauftragt ist, ihre Obhutspflicht verletzt, wobei es völlig gleichgültig ist, wie diese Pflichtverletzung (ob durch Unterlassung oder durch omissio libera in causa) zustande gekommen ist. Und nichts Anderes geschieht in den Fällen des sich betrinkenden Bahnwärters oder der Mutter, die das für ihr Kind lebensnotwendige Medikament kurz vor Verschlechterung seines Gesundheitszustandes wegschüttet, denn der einzige Unterschied zwischen diesen Fällen und der Unterbrechung eines Kausalverlaufs durch den Garanten, der zu einer Rettung hätte führen können – ein Fall, in dem ich versucht habe, zu begründen, dass er eine dritte Form der Tatbestandsverwirklichung darstellt36 – besteht darin, dass bei der omissio libera in causa (auch eine Erscheinung dieser dritten Form der Tatbestandsverwirklichung) der rettende Verlauf nicht einmal in Gang gesetzt worden ist, weil die kritische Situation noch nicht eingetreten ist, während bei der Unterbrechung rettender Kausalverläufe eine solche Situation schon vorliegt, jedoch der vom Garanten schon begonnene Vollzug der gebotenen Handlung wieder rückgängig gemacht wird. Ich genieße mit Bernd Schünemann seit vielen Jahren eine enge, sowohl wissenschaftliche als auch persönliche Verbindung, die ihren Ursprung in meiner über ein halbes Jahrhundert währenden Freundschaft mit seinem Lehrer Claus Roxin hat. Zum Wohle unserer Wissenschaft wünsche ich unserem Jubilar, dass er uns noch viele Jahre mit seinen Publikationen bereichert, denn in diesen Beiträgen wird man immer – wie bisher – etwas Neues, etwas Originelles, wenn nicht sogar etwas Geniales finden können. 35 36
Gimbernat (Fn. 29), S. 242 f. Gimbernat (Fn. 29), S. 236 ff.
Kritische Anmerkungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung im Verbrechensaufbau aus historischer Sicht Luis Gracia
Es ist für mich eine große Freude, an dieser Festschrift für Bernd Schünemann teilnehmen zu dürfen. Sein wissenschaftliches Werk ist unumgänglicher Bezugspunkt für alle Fragen des Strafrechts und der Kriminalpolitik unserer Zeit. Bernd Schünemann ist für mich ein unmittelbarer Lehrer und darüber hinaus auch ein inniger Freund, dem ich diesen Beitrag in Dankbarkeit widmen will.
I. Einführung 1. Ein Delikt ist ein reales Ereignis, das diese Qualität nur durch entsprechende strafrechtlich auswertende Filter erhält. Wir werden hier mit der Definition des Verbrechens als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung oder Unterlassung arbeiten.1 Dieser Begriff darf aber nicht allein auf die reinen, ihn bestimmenden und konstituierenden rechtlichen Bewertungen reduziert werden.2 Das muss so sein, weil jede Bewertung sich unbedingt auf einen bestimmten Gegenstand der Realität beziehen muss, der in dieser Realität unabhängig von seiner Bewertung existiert.3 Wenn im Recht „das Tatsächliche mit dem Normativen wesensmäßig verbunden ist“ 4 und wenn „der Gegenstand des Strafrechts in der Tat mit einem Blick auf die Zwecke und Wertungen des Strafrechts zu entdecken ist“,5 dann sind alle strafrechtlichen Kategorien und Begriffe „normative“ Konstruktionen. Um zu entdecken, welches das Objekt ist, das tatsächlich einer Kategorie oder einem rechtlichen Begriff zugrunde liegt, scheint es notwendig, diese zu ent1 Siehe v. Liszt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 14./15. Aufl. 1905, S. 117; Beling Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 7. 2 So aber bei der „empiriefreie Normativismus“; s. Schünemann FS Roxin, 2001, S. 1, 13 ff. 3 Bustos Culpa y finalidad, Santiago de Chile 1965, S. 58 ff.; Schünemann InDret 1/2008, 13. 4 So Welzel Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 286. 5 Hirsch Schriften aus drei Jahrzehnten, 1999, S. 65.
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normativieren.6 Nur in dieser Weise können wir überprüfen, ob das der Kategorie oder dem Begriff tatsächlich zugrunde liegende Objekt identisch mit dem ist, welches dem Wert entspricht, aus dem die ersteren konstruiert wurden oder, im Gegenteil, ein anderes Objekt ist, durch das die Verwirklichung eines solchen Wertes nicht mehr möglich ist.7 2. In der Realität bezeichnet das Ereignis eine Einheit und Gesamtmasse von faktischen Elementen und Umständen nebeneinander, wie zum Beispiel Körperbewegungen von Menschen, Erfolgen, Kausalzusammenhängen, Inhalte des Bewusstseins des Täters, Verletzungs- oder Abwehrabsichten, psychische Anomalien usw., die man auf diesem Gebiet der einheitlichen Realität im Prinzip nicht in einzelne Stücke mit Bedeutungsunterschieden aufteilen darf.8 Wie Jescheck erklärte, geht es der Lehre vom Verbrechen darum, die strafbare Handlung als Ganzes durch Aufstellung allgemeiner Merkmale theoretisch zu erfassen,9 wofür es aber notwendig ist, die Ganzheit in einzelne Stücke aufzuteilen und dann jedes Tatstück einem spezifischen Werturteil zu unterziehen.10 Diese verschiedenen spezifischen Werturteile sind die Tatbestandsmäßigkeit, die Rechtswidrigkeit und die Schuld, und sie müssen genau in dieser logischen Reihenfolge formuliert werden.11 Aus diesem Grund besteht, wie es mit Recht Cerezo Mir erwähnt, die Aufgabe der strafrechtlichen Dogmatik in „der richtigen Einfügung des Wertobjektes auf den verschiedenen Stufen des Verbrechensbegriffs“.12 Daraus soll abgeleitet werden, dass der archimedische Punkt von jedem Systemaufbau des Verbrechens durch die Bestimmung des spezifischen Objekts der Realität konstituiert werden soll, das dem Sinn des jeweils für den Verbrechensbegriff spezifischen konstitutiven Werturteils entspricht. 3. Da die Anhänger der Lehre von der objektiven Zurechnung (Lehre von der obj. Zurechnung) davon überzeugt zu sein scheinen, dass mit dieser Lehre die Überwindung der kausalen und finalistischen Systeme erreicht wurde13 und meine eigene Meinung radikal das Gegenteil in dem Sinne sagt, dass diese Lehre noch heute im Kausalismus verankert bleibt, halte ich, um das zu demonstrieren, eine Untersuchung über die Genealogie dieser Doktrin für die richtige Methode. 6
Schünemann InDret 1/2008, 13. Welzel (Fn. 4), S. 284, 286; Gracia Revista Electrónica de Cienca Penal y Criminología (= RECPC) 06–07 (2004), 4 ff.; Zaffaroni PG, 2. Aufl. 2002, S. 95. 8 Gracia Fundamentos de Dogmática penal, Barcelona 2006, S. 93 ff. 9 Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 195. 10 Gracia (Fn. 8), S. 56 ff. 11 Cerezo Mir PG II, 6. Aufl. 2005, S. 23. 12 Cerezo Mir Notas a El nuevo sistema del Derecho penal, Barcelona 1964, S. 83 Fn. 22; ders. (Fn. 11), S. 166; Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, S. 242 ff. 13 Vgl. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 28. 7
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II. Von der Zurechnungslehre (imputatio) bis zur modernen Lehre von der obj. Zurechnung 1. Vor der Formulierung der systematischen Kategorie des Tatbestandes durch Beling (1906) wurde das Verbrechen durch die Lehre als rechtswidrige, schuldhafte, mit Strafe bedrohte Handlung definiert.14 Zwar versteckte sich die Tatbestandsmäßigkeit in der Wendung „mit Strafe bedroht“, denn sie ist eine logische Anforderung des fragmentarischen Charakters des Strafrechts. Nur eine kleine Zahl aus der Masse der im allgemeinen rechtswidrigen und gegebenenfalls schuldhaft durchgeführten Handlungen sind jedoch „mit Strafe bedrohte Handlungen“.15 Deshalb bestand die Notwendigkeit, eine Kategorie zu formulieren, die die Abgrenzung der „mit Strafe bedrohten“ Handlungen ermöglichte.16 2. Wenn das Strafrecht nicht die reine und einfache Erfolgsverursachung mit Strafe bedroht, sondern nur Handlungen bestimmter Art,17 dann muss man die Abgrenzung der strafrechtlich relevanten Handlungen als die erste und wichtigste Funktion der Tatbestandsmäßigkeit erkennen. Nur nach der Bejahung einer tatbestandsmäßigen Handlung wird die Frage nach der Zurechenbarkeit des Erfolges sinnvoll.18 Nur einige der Kriterien der Lehre von der obj. Zurechnung können aber als echte Kriterien der Erfolgszurechnung angesehen werden, während andere wie die der „Schaffung oder Erhöhung der Gefahr“ und der „rechtlichen Missbilligung“ einer solchen Gefahr nur als Kriterien für die Bestimmung der tatbestandsmäßigen Handlung zu verstehen sind. Aber – und dies ist die eigentliche Frage – weshalb muss die Lehre von der obj. Zurechnung zuerst auf diese spezifischen Kriterien zur Bestimmung der tatbestandsmäßigen Handlung zurückgreifen? Die Antwort auf diese Frage lautet: weil sich im Kern der sog. objektiven Zurechnung nichts Anderes befindet als der alte Begriff der kausalen Handlung.19 3. a) Ist die Handlung das eigentliche Objekt des Tatbestandes, dann müssen alle Handlungselemente vom Tatbestand erfasst werden 20 und wenn die nicht zu der Handlung gehörenden Elemente für die Strafbarkeit relevant sind, dann müssen sie zum Wertungsobjekt späterer Verbrechensebenen ge14
Beling (Fn. 1), S. 21. Binding Die Normen und ihre Übertretung I, 4. Aufl. 1922, S. 83; Armin Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 9 ff. 16 Beling (Fn. 1), S. 21. 17 Siehe z.B. Cerezo Mir (Fn. 11), S. 128. 18 In diesem Sinne Bustos/Hormazábal PG, 2006, S. 304 f. 19 Ebenso Cuello Contreras PG I, 3. Aufl. 2002, S. 414. 20 Silva Sánchez Introducción a El sistema moderno del Derecho penal, Madrid 1991, S. 13. 15
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macht werden. Von Details abgesehen, kann man die Behauptung verallgemeinern, dass der Begriff der finalen Handlung sich in der Geschichte als herrschender Handlungsbegriff zeigt.21 b) Der gemeinsame Gedanke, auf den der historische Begriff der finalen Handlung reduziert werden kann, lautet, dass eine Veränderung der Außenwelt dem Täter nur als sein eigenes Werk zugerechnet werden darf, wenn sie als Produkt seines freien Willens angesehen werden kann. Trotzdem umfasste dieser Handlungsbegriff auch die individuelle Zurechenbarkeit des Täters.22 Das ist aber einfach zu verstehen. Bis es zur Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld durch Ihering 1867 kam, kannte die Imputationslehre keine Unterschiede nach dogmatischen Kategorien.23 Sie war eine Theorie eines einheitlichen und globalen Objekts, das tatsächlich mit dem Handlungsbegriff identisch ist (die imputativitas bei Pufendorf ).24 Die wahre Zurechnung (imputatio) ergab sich für Pufendorf aus den wertenden Urteilen des Richters über die konstitutiven faktischen Elemente der Zurechenbarkeit (imputativitas). Im Prinzip sagte die Prüfung der Zurechenbarkeit nichts über die Behauptung einer Zurechnung, weil die Elemente dieser Zurechenbarkeit bloß physikalischer Natur (entia physica) und als solche axiologisch irrelevant waren. Nur bestimmte Bewertungen (die entia moralia) gaben dem Sachverhalt Sinn und Bedeutung. Die Zurechnung (imputatio) war also das Ergebnis der Prüfung, dass das tatsächliche Ereignis den Sinn und die Bedeutung hatte, die die Verantwortung des Täters begründen. Von der historischen Imputationslehre ist es hier wichtig zu betonen, dass das Objekt der imputatio, nachdem es schon vor dieser vollständig bestimmt war, eine Abgrenzung möglicher strafbarer Handlungen ermöglichte. 4. a) Die von Ihering 1867 eingeführte Differenzierung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld musste daher eine derartige globale Konstruktion ohne interne Differenzierungen überholen. Diese Differenzierung schwächte die herrschende Zurechnungslehre der Hegelianer und förderte eine Verwandlung des Handlungsbegriffes, weil ein Begriff „schuldhafter“ Handlung zu ihr nicht mehr passte, sobald erkannt wurde, dass es rechtswidrige, aber schuldlose Handlungen gibt.25 Damit war es offensichtlich, dass kein für die Schuld spezifisch relevantes Element zur Handlung gehören durfte. Dieses Problem wurde aber gemäß der Leitlinien des Rechtspositivismus gelöst, der
21
Welzel Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 38 f. Siehe Martínez Garay Revista de Derecho penal y Criminología (= RDPC) 8 (2001), 58, 66. 23 Jescheck/Weigend (Fn. 9), S. 200. 24 Martínez Garay RDPC 8 (2001), 70 f. 25 Welzel (Fn. 21), S. 39. 22
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unter dem Einfluss der mechanistischen Strömungen der Naturwissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der Strafrechtswissenschaft derselben Zeit entstand, und vor allem durch Liszt, Beling und Radbruch herrschend wurde.26 Von der Voraussetzung ausgehend, die grundlegenden Wertungsfragen seien schon durch das Gesetz gelöst, nahm man an, dass die Strafrechtswissenschaft wie der Richter nicht mehr als eine Abbildung der natürlichen Merkmale der Straftat im Strafsystem anstreben dürfe, sodass die Feststellung einer Straftat allein das empirische Urteil erfordert, dass diese sinnlich wahrnehmbaren Elemente gegeben sind.27 Aus Bedürfnissen des kategorialen Aufbaus der Straftat nach unterschiedlichen Ebenen mussten alle solchen Elemente verteilt und in die einschlägige Ebene eingefügt werden. Darüber hinaus versuchte die Strafrechtsdogmatik dieser Zeit, den Unrechtsbegriff zunächst auf Grundlage der Dichotomie „objektiv-subjektiv“ zu erfassen, so dass zum Unrecht ausschließlich die außenweltlichen Merkmale der Handlung gehören sollten, während die subjektiv-seelischen Merkmale die Schuld ausmachen.28 Damit ist es einfach zu verstehen, dass der Inhalt der Handlung auf den scharf vom subjektiven Wissensinhalt getrennten, bloßen Kausalvorgang reduziert wurde und dass der Verwirklichungswille als Zwecktätigkeit der Schuld zugeschrieben werden sollte.29 b) Als Beling 1906 die Kategorie der Tatbestandsmäßigkeit formulierte, musste sich die oben beschriebene Trennung der Handlung in die zwei verschiedenartigen Bestandteile des äußeren objektiven Kausalvorgangs auf der einen Seite und des inneren subjektiven Willensinhalts auf der anderen Seite als untauglich zeigen, um die Funktionen des Tatbestandes zu erfüllen. Nach der Äquivalenztheorie genügte es, dass ein Akt eine Bedingung des Erfolges sei, damit ein Kausalzusammenhang zwischen beiden bejaht werden konnte.30 Da aber die kausalen Folgen eines willkürlichen Aktes prinzipiell unbegrenzbar sind, ist auch ein solcher Handlungsbegriff inhaltlich derart unbegrenzbar, dass selbst die Erzeugung eines Mörders als unrechtstypische Tötungshandlung angesehen werden müsste.31 Ein Tatbestand, der nur Handlungen im kausalen Sinne als Objekt hat, vermag nicht zu bestimmen, welche Handlungen mit Strafe bedroht werden, und er kann auch nicht zwischen vorsätzlichen und fahrlässigen Taten unterscheiden, da er ein gemeinsamer Tatbestand für beide Deliktsarten ist. Das ist aber nicht einmal in Bezug auf die „objektive“ Seite richtig, denn Akte, die für das vorsätzliche Delikt nur Vor-
26 27 28 29 30 31
Welzel (Fn. 21), S. 39; ders. (Fn. 4), S. 29 ff., 51 ff. Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechts, 1984, S. 19 f. Welzel (Fn. 21), S. 39 f., 51, 60. Welzel (Fn. 21), S. 40. Siehe z.B. Cerezo Mir (Fn. 11), S. 52 ff. H. Mayer FS v. Weber, 1963, S. 146 ff.; E. Schmidt FG Frank II, 1930, S. 119.
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bereitungshandlungen und daher tatbestandslos sind, dürfen für das fahrlässige Delikt tatbestandsmäßig werden.32 Darüber hinaus und aus den gleichen Gründen kann man, wenn man von einer kausalen Handlung ausgeht, unmöglich erkennen, welcher strafrechtliche Tatbestand genau vom Täter des kausalen, willkürlichen Aktes verwirklicht worden ist. Wie es Welzel sagte: Wenn B durch die Schusswaffe, die A in der Hand hält, leicht verletzt wird, so ergibt sich nach dem kausalen Handlungsbegriff nur, dass die Verletzung des B auf das Verhalten des A ursächlich zurückgeführt werden kann. Aber welche Handlung dabei vorliegt und damit welchen strafrechtlichen Tatbestand A verwirklicht hat – ob versuchten Mord oder Totschlag, vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung, Schießen an bewohnten Orten, oder ob nicht mehr als ein Unglücksfall vorliegt –, das liegt jenseits der Prüfung des Kausalzusammenhangs und kann ohne Rückgriff auf den gestaltenden Handlungswillen überhaupt nicht festgestellt werden.33 5. Zur Überwindung der nicht hinnehmbaren Folgen, die sich aus dem kausalen Handlungsbegriff ergaben, versuchte die Lehre Kriterien zu finden, damit die strafrechtliche Verantwortung schon vor der Prüfung des Verwirklichungswillens des Täters, die erst im Rahmen der Schuld erfolgen sollte, beschränkt werden konnte. Bereits vor der Formulierung der Kategorie des Tatbestandes durch Beling 1906 hatte man versucht, eine solche Beschränkung durch Kriterien zu erreichen, mit denen der Kausalzusammenhang selbst unter bestimmten Umständen abgelehnt werden sollte. Genau deshalb wurden die sog. individualisierenden Kausaltheorien formuliert. Diese versuchten, innerhalb des Kausalzusammenhanges die für den einzelnen Fall „ausschlaggebende Bedingung“ zu bestimmen und sie allein als „Ursache“ gegenüber den sonstigen mitwirkenden „Bedingungen“ herauszuheben.34 Die „Adäquanztheorie“ ist die Theorie, die man unter allen individualisierenden Theorien als die wichtigste anerkennen muss. Genau sie ist die Vorläuferin der modernen Lehre von der obj. Zurechnung. Die Adäquanztheorie wurde durch Johannes v. Kries 1879 vor allem mit dem Ziel begründet, bei den erfolgsqualifizierten Delikten eine Haftungseinschränkung dadurch zu erreichen, dass man die Bedingungen ausschaltet, die unvorhersehbarerweise den schweren Erfolg herbeigeführt hatten.35 Die Entwicklung der Adäquanztheorie erreichte ihren Höhepunkt mit der Formulierung des objektiven Vorhersehbarkeitsurteils durch Träger und von Hippel etwa um 1930.36 Gemäß der Adäquanztheorie ist eine Handlung nur dann Ursache des Erfolges, 32 33 34 35 36
Siehe in diesem Sinne Hirsch FS Lenckner, 1998, S. 139. Welzel Das neue Bild des Strafrechtssystem, 4. Aufl. 1961, S. 13. Cerezo Mir (Fn. 11), S. 61. Cerezo Mir (Fn. 11), S. 62 f. Cerezo Mir (Fn. 11), S. 62.
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wenn sie sich nach einer ex ante-Betrachtung als geeignet zeigt, um den Erfolg herbeizuführen. Genauer: Die verursachende Qualität der Handlung wird nur bejaht, wenn der durch diese herbeigeführte Erfolg sich objektiv nach einer ex ante-Betrachtung noch als vorhersehbar zeigt.37 Ist das der Fall, dann wird die verursachende Handlung als „gefährliche“ Handlung bewertet.38 Damit erfüllte die Adäquanztheorie offensichtlich eine Funktion der Tatbestandseinschränkung. Sie vermied den regressus ad infinitum der Äquivalenztheorie und kam zum Ergebnis, dass die Vorfahren des Täters keine für die von diesem verübte Tat kausale Ursache gesetzt haben und sie mithin keine straftatbestandsmäßige Handlung begangen haben. 6. a) Der grundlegende Einwand gegen alle individualisierenden Theorien ergibt sich aus dem Umstand, dass sie eigentlich keinen kausalen Charakter haben; damit geraten sie in einen klaren und unzulässigen Widerspruch zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen.39 Nach naturwissenschaftlichen Gesetzen ist es offensichtlich, dass die Existenz eines realen Kausalzusammenhangs zu bejahen ist, wenn ein Bluter stirbt, nachdem er durch einen Steinwurf eine leichte körperliche Verletzung erlitten hat, unabhängig davon, ob die Hämophilie des Opfers dem Täter oder einem fiktiven objektiven Beobachter aktuell bekannt oder für ihn zumindest erkennbar war.40 Wie bereits Honig in der Festgabe für Frank von 1930 feststellte, ist die Adäquanz kein empirisches Kausalurteil, sondern vielmehr ein normatives Urteil über die Kausalität.41 Die Adäquanztheorie ist keine Kausaltheorie, sondern vielmehr ein Versuch, die strafrechtliche Verantwortung anhand normativer Kriterien zu beschränken.42 b) Die Adäquanztheorie wurde im Jahr 1930 durch Honig verfeinert und zu einer normativen Lehre von der obj. Zurechnung ausgebaut.43 Stark vereinfachend könnte man sagen, dass sich bei Honig die Bestimmung und daher die Abgrenzung des objektiv Zurechenbaren aus der Feststellung ergibt, ob der verursachte Erfolg objektiv als zweckhaft gestaltet gedacht werden kann, d.h. ohne Rücksicht auf die konkreten Ziele des individuellen Täters. Denn für Honig reicht es vielmehr aus, dass ein bestimmtes Verhalten unabhängig davon, was der konkrete Täter wollte und versuchte, jedenfalls objektiv an der gezielten Vermeidung eines Erfolgseintritts hätte orientiert werden 37
Welzel (Fn. 21), S. 46; Cerezo Mir (Fn. 11), S. 63. Cerezo Mir (Fn. 11), S. 113. 39 Vgl. in diesem Sinne Gimbernat Delitos cualificados por el resultado y causalidad, Madrid 1966, S. 68 ff. 40 Gimbernat (Fn. 39), S. 69 ff.; Cerezo Mir (Fn. 11), S. 64. 41 Vgl. Honig FS Frank, 1930, S. 174, 178; dazu Kindhäuser GA 2007, 447, 452. 42 Cerezo Mir (Fn. 11), S. 64. 43 Vgl. Honig FS Frank, 1930, S. 174, 181 ff. (mit Rückgriff auf Larenz). 38
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können, während die Überprüfung der an diesem Maßstab auszurichtenden individuellen Fähigkeiten der finalen Erfolgsvermeidung eine Frage der Schuld sei.44 7. a) Schon kurz nachdem Honig 1930 seine Lehre von der obj. Zurechnung formulierte, wurde durch Welzel der sogenannte finale Handlungsbegriff formuliert.45 Da der Finalismus die Systematik der Verbrechenslehre grundlegend veränderte, wurde die Strafrechtswissenschaft in der Tat durch eine leidenschaftliche Diskussion um die durch den Finalismus aufgeworfenen methodischen und systematischen Fragen geprägt. So wurden die bewertenden und normativen Aspekte des Strafrechts teilweise vernachlässigt, und weil diese Kriterien für die objektive Zurechnung von bloßen Kausalzusammenhängen im finalen Verbrechenssystem entbehrlich sind, spielte die Lehre von der obj. Zurechnung in der Diskussion um methodische und systematische Fragen kaum eine Rolle mehr bis dann in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zurechnungslehre Honigs durch Roxin aufgegriffen und erneuert wurde. b) Der Finalismus greift den vom Merkmal der Schuld entleerten Handlungsbegriff der alten Imputationslehre auf und beschreibt die Handlung als Ausübung einer Zwecktätigkeit als bewusst vom Ziel her gelenktes Wirken.46 Darum gehört der finale Wille als der das wirkliche Geschehen objektiv gestaltende Faktor zur Handlung und keineswegs zur Schuld. Ist aber die Handlung das Bezugsobjekt des Tatbestandes, so folgt daraus, dass der finale Wille auch zum Tatbestand und nicht zur Schuld gehört. So ermöglicht das Vorhandensein des finalen Willens als Vorsatz im Tatbestand nicht nur, den Inhalt des Tatbestandes zu bestimmen und abzugrenzen, sondern die vorsätzlichen und fahrlässigen Delikte auch auf der Ebene des Tatbestandes zu unterscheiden und den durch den Täter verwirklichten Einzeltatbestand bereits vor Prüfung der Schuld zu erkennen.47 Da die Handlung als eine kausalfinale Einheit mit äußeren und inneren Elementen konstruiert wird und diese Einheit im Ganzen im Tatbestand repräsentiert werden soll, unterteilte der Finalismus den Tatbestand in einen objektiven und in einen subjektiven Teil. Weil das Vorhandensein des finalen Willens als Vorsatz im Tatbestand ermöglicht, den Inhalt des Tatbestandes bereits zu bestimmen und abzugrenzen, sind weitere normative Kriterien objektiver Zurechnung für das finale System entbehrlich. Andererseits wurde durch den Finalismus auch das normative Urteil der „Sozialadäquanz“ als Wertmaßstab der Handlung in das 44
Vgl. Honig FS Frank, 1930, S. 174, 181 ff. Zum ersten Mal in seinem Aufsatz „Kausalität und Handlung“ Welzel ZStW 51 (1931), 703 ff. 46 Welzel (Fn. 21), S. 33; ders. (Fn. 33), S. 1. 47 Siehe dazu Gracia RECPC 06–07 (2004), 11 f. 45
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System eingeführt, wodurch die strafrechtlichen Tatbestände normativ noch weiter über das hinaus begrenzt werden, was sich bereits aus der Prüfung von Vorsatz und Fahrlässigkeit innerhalb des Tatbestandes ergibt.48 8. Wie allgemein bekannt ist, hat die herrschende Lehre bis heute weitgehend die methodischen Grundlagen des Finalismus sowie auch den finalen Handlungbegriff abgelehnt. Dagegen wird von einer verbreiteten Meinung paradoxerweise anerkannt, dass sich diese grundlegende systematische Folge der finalen Handlungslehre durchgesetzt hat. Zumindest was die Tatbestandsmäßigkeit angeht, halte ich diese Meinung aber für falsch.
III. Kritik des Tatbestandsaufbaus bei der Lehre von der obj. Zurechnung 1. Es ist wahr, dass derzeit die Strafrechtsdogmatik, obwohl sie die Methode und den Handlungsbegriff des Finalismus ablehnt, einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand unterscheidet und daher den Vorsatz dem Tatbestand zuschreibt. Ist es aber – so lautet die Frage, die nun gestellt werden muss – von einem nicht finalen Handlungsbegriff ausgehend, wirklich möglich, einen mit dem finalen System vergleichbaren Tatbestand aufzubauen? Meine Antwort lautet: Nein!49 2. a) Die finale Handlungslehre geht von einer sinnhaften final-kausalen Einheit aus, die keineswegs in ihre Bestandteile aufgelöst werden kann. Daher wird der finale Tatbestand als Ergebnis einer einheitlichen quasi gesamt-globalen Bewertung der final-kausalen Einheit der Handlung, d.h. als eine in der Realität und auch auf der Wertungsebene untrennbare Synthese konstituiert. Damit wäre es offensichtlich ein Widerspruch, den Tatbestand in die zwei Bestandteile des objektiven und des subjektiven Tatbestandes zu zerlegen. Materiell betrachtet muss man den finalen Tatbestand als eine einheitliche Ganzheit sehen, in der sich die äußeren und die inneren Momente des Handelns in einem unlösbaren Verbund synthetischer Art befinden.50 So ist nach dem finalistischen Grundgedanken eines einheitlichen „vorsätzlichen Tatbestandes“ alles, was das Handeln eines Menschen in der Außenwelt verursacht hat, unerheblich (d.h. nicht tatbestandsmäßig – auch aus der Sicht eines angeblich „objektiven Tatbestandes“), wenn es kein Ausdruck 48
Gracia FS Tiedemann, 2008, S. 205 ff. In diesem Sinne Bustos (Fn. 3), S. 31 f.; Gracia REDPC 06–07 (2004), 12 ff.; und jetzt so auch Kindhäuser GA 2007, 447, 457. 50 Gracia RDPC 5 (2000), 379; Rueda La teoría de la imputación objetiva del resultado en el delito doloso de acción, Barcelona 2002, S. 159; Cuello Contreras (Fn. 19), S. 414; Struensee Grundlagenprobleme des Strafrechts, 2005, S. 41 ff. 49
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bzw. keine Realisierung des Täterwillens ist; und umgekehrt kann man den Willen des Täters nicht als Vorsatz bezeichnen, wenn er nicht auf die Ausführung einer strafrechtlich relevanten Tat gerichtet ist.51 b) Im Gegensatz zum einheitlichen Tatbestand des Finalismus zerfällt der Tatbestand in der Lehre von der obj. Zurechnung offenbar in die zwei getrennten Bestandteile des objektiven und des subjektiven Tatbestandes, die sich theoretisch als zwei verschiedene und voneinander unabhängig operierende Beurteilungs- und Zurechnungsebenen zeigen.52 Als logische Konsequenz dieses zweistufigen Tatbestandsaufbaus muss der Willensinhalt bei der Bestimmung des „objektiven“ Tatbestandes ganz unberücksichtigt bleiben, was bedeutet, dass das anfängliche Wertungsobjekt des objektiven Tatbestandes nur mit dem bloßen Kausalzusammenhang konstituiert werden muss.53 Zwar ist nun die Prüfung des Willensinhalts nicht mehr zur Schuld, sondern zu einem „subjektiven“ Tatbestand verschoben, der logischerweise nur nach der davon unabhängigen Voraus-Feststellung des objektiven Tatbestandes in Betracht kommen kann. Damit scheint es mir klar und offensichtlich, dass – im Vergleich mit dem alten klassischen kausalen Verbrechensaufbau – in diesem nicht-finalistischen Neuaufbau des Tatbestandes nicht mehr als eine formale systematische Verschiebung des Willensinhalts von der Schuld her in den subjektiven Tatbestand zu sehen ist. Auf die gleiche Weise, wie im alten kausalen System die Handlung in die zwei Bestandteile des Äußeren und des Inneren derart auseinandergerissen wurde, dass die beiden zusammen durch keine einzige synthetische Bewertung erfasst werden konnten und deshalb hintereinander die objektive Seite der Handlung erst im Tatbestand und die subjektive Seite dann unabhängig in der Schuld geprüft worden sind, genau so operiert auch die heutige nicht-finalistische Strafrechtsdogmatik mit dem objektiven und dem subjektiven Tatbestand, als zwei unabhängige Bewertungsebenen hintereinander und dadurch mit einer in das Äußere und in das Innere auseinandergerissenen Handlung. So ist es offensichtlich, dass das, was sich als Wertungsobjekt im Ausgangspunk des objektiven Tatbestandes der nicht-finalistischen Strafrechtsdogmatik befindet, absolut mit dem identisch ist, was sich im Ausgangspunkt des klassischen, rein kausalen Tatbestandsbegriffs befunden hat, d.h. der bloße Kausalzusammenhang.54 Daraus lässt sich ohne weiteres der selbstverständliche Schluss ziehen, dass sich die moderne nicht-finalistische Lehre des objektiven Tatbestandes in derselben
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Ähnlich Kindhäuser GA 2007, 447. Siehe in diesem Sinne Bustos Estudios penales y criminológicos (= EPC) XI (1989), 121; Gracia RDPC 5 (2000), 378 ff.; Rueda (Fn. 50), S. 158 ff. 53 Bustos EPC XI (1989), 115 ff. 54 Bustos GS Armin Kaufmann, 1989, S. 213, 222 f.; Cuello (Fn. 19), S. 628. 52
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Ausgangslage wie das klassische System befindet und daher dasselbe grundlegende Problem der Abgrenzung des objektiven Tatbestandes zu lösen hat. Kann sie diese Frage logischerweise nicht durch die Prüfung des Willensinhalts lösen, dann kann sie dafür nichts Anderes anführen, als was in der Vergangenheit mit den individualisierenden Theorien versucht worden ist, d.h. durch normative Urteile innerhalb der in der empirischen Welt unabgrenzbaren Kausalkette die strafrechtlich relevanten kausalen Bedingungen des Erfolges zu bestimmen. Das ist genau das Ziel der Lehre von der obj. Zurechnung, die nicht mehr ist als eine nun innerhalb des objektiven Tatbestandes operierende und inhaltsreichere Nachfolgerin der alten Adäquanztheorie. c) Insoweit heute immer noch die Strafrechtsdogmatik von der Lehre von der obj. Zurechnung beherrscht wird, ist es offensichtlich, dass die Anerkennung eines mit dem Vorsatz bestückten subjektiven Tatbestandes seitens ihrer Anhänger keineswegs als eine systematische Folge der finalen Handlungslehre gesehen werden kann. Deshalb lautet die entscheidende Frage, ob es möglich ist, mit einem solchen auseinandergerissenen Tatbestand dogmatisch richtig operieren zu können. Meine Antwort lautet: „Nein!“, weil eine Aufteilung des Tatbestandes in einen objektiven und einen subjektiven Teil dogmatisch undurchführbar ist.55 3. a) Zwar will die Lehre von der obj. Zurechnung ihren objektiven Tatbestand durch die kumulative Forderung der Schaffung oder Erhöhung einer unerlaubten Gefahr und der Verwirklichung dieser Gefahr im konkreten Erfolg abgrenzen und glaubt, hierin die richtige Abgrenzung des objektiven Tatbestandes gefunden zu haben.56 Damit sind aber die anderen, zuvor aufgezeigten systematischen Probleme nicht gelöst. Im vorhin betrachteten Beispiel von Welzel, in dem der Schuss aus der Waffe, die A in der Hand hält, den B leicht verletzt hat, soll die Möglichkeit in Betracht kommen, dass nach den konkreten Umständen die durch den Schuss geschaffene Gefahr nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern gleichzeitig auch das Leben des B objektiv bedroht hat. Ist es aber so, dann bleibt die Frage nach der Bestimmung des von A erfüllten „objektiven“ Tatbestandes ganz ungelöst: versuchter Mord oder Totschlag, vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung oder keine dieser Alternativen, sondern Schießen an bewohnten Orten oder ein Unglücksfall? Es ist offensichtlich, dass die Antwort auf diese Frage jenseits der Überprüfung der Schaffung einer Gefahr liegt. M.E. bleibt deshalb der gegen den kausalen Handlungsbegriff vom Finalismus gerichtete systematische Ein-
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In diesem Sinne Puppe FS Otto, 2007, S. 368 ff.; Kindhäuser GA 2007, 447, 448 f. Roxin (Fn. 13), § 11 Rn. 47; Systematischer Kommentar StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 57 ff. (Juni 1997); Wolter Objektive und personale Zurechnung, 1981, S. 31 ff. 56
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wand bestehen, dass es ohne einen Rückgriff auf den gestaltenden Handlungswillen des Täters überhaupt nicht möglich ist, den wahren von ihm erfüllten „objektiven“ Tatbestand zu bestimmen. b) Fragwürdig bleibt ferner, ob die Formel von der „Schaffung oder Erhöhung einer rechtlich unerlaubten Gefahr“ geeignet ist, die „strafrechtlich“ relevanten Taten zu bestimmen, weil ja auch das nicht strafrechtliche Unrecht in Bezug auf dieselbe Formel zu bestimmen wäre. Ich kann aber aus Raumgründen auf diese Frage nicht weiter eingehen und wende mich dem wichtigeren Problem der Bestimmung des Gefahrbegriffs zu, konkret, ob diese Bestimmung ohne Rücksicht auf den Täterwillen möglich ist, und meine Antwort lautet abermals: Nein! Selbst Torío, einer der wichtigen Anhänger der Lehre von der obj. Zurechnung. in der spanischen Doktrin, hat die Frage gestellt, ob „die objektive Zurechnung überhaupt objektiv ist oder ob das Zurechnungsurteil nicht auch auf subjektive Momente, insbesondere auf den das Unrecht gestaltenden Tatvorsatz verweist“.57 Und allein diese letztere Alternative trifft zu. Soll das Urteil über das Vorliegen einer Gefahr aus einer ex ante-Betrachtung heraus gefällt werden, dann müssen dazu notwendigerweise nicht nur die allgemeinen ontologischen Kenntnisse,58 sondern auch die Willensrichtung des Täters in Betracht gezogen werden. Die Antwort auf die Frage, ob die einem Hämophilen beigebrachte, leicht blutende Wunde ex ante eine Gefahr für dessen Leben geschaffen hat, ist absolut von dem Faktum abhängig, ob die Hämophilie des Opfers dem Täter bekannt war oder nicht. Gerade die prominentesten Anhänger der Lehre von der obj. Zurechnung erkennen an, dass die vorsätzliche Handlung im Vergleich zu der fahrlässigen Handlung gefährlicher ist, eben weil der Wille des vorsätzlichen Täters auf den Erfolgseintritt gerichtet ist.59 Wird aber anerkannt, dass die Bestimmung der Gefährlichkeit der Handlung und deren Größe vom Vorhandensein des Vorsatzes abhängig ist,60 dann bedeutet das offensichtlich, dass keine objektive Zurechnung innerhalb eines objektiven Tatbestandes möglich ist, der unabhängig von der vorherigen Berücksichtigung des subjektiven Tatbestandes gebildet wird. 4. Die Anhänger der Lehre von der obj. Zurechnung gehen schließlich von der Annahme aus, dass in gewissen, zur Diskussion gestellten Fällen der Täter in der Weise vorsätzlich tätig werde, dass die Tatbestandsmäßigkeit seines
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Torío EPC X (1987), 388. Armin Kaufmann Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales (= ADPCP) 1985, 815 ff. 59 Luzón Peña PG I, 1. Aufl. 1996, S. 406, 412; Mir ADPCP 1983, 13; ders. ADPCP 1984, 16. 60 Vgl. ähnlich Kindhäuser GA 2007, 447, 465. 58
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Handelns nur aufgrund einer Ausschließung des objektiven Tatbestandes verneint werden könne.61 So etwa in dem Kathederfall, in dem jemand einen anderen bei einem aufkommenden Gewitter in der Hoffnung in den Wald schickt, der andere werde durch einen Blitz erschlagen werden, was dann auch geschieht. Hierzu meint Roxin, es sei unbestreitbar, dass der Täter subjektiv genau das gewollt habe, was er objektiv bewirkt habe. Überraschend ist dann aber, dass er hier zuerst das subjektive Wollen prüft. Denn damit wird der Tatbestandsaufbau umgekehrt, so dass der subjektive Tatbestand dem objektiven vorgezogen zu werden scheint.62 Zu klären bliebe auch die Frage, wie die Bejahung oder Verneinung des Vorsatzes vor der Prüfung des objektiven Tatbestandes möglich sein soll. Darüber hinaus müsste Roxin die in seiner Argumentation zunächst erfolgte Bejahung des Vorsatzes später, nach dem Ausschluss des objektiven Tatbestandes, wieder abstreiten, weil der Vorsatzbegriff ja allgemein als Kenntnis und Verwirklichungswille bezüglich des objektiven Tatbestandes definiert wird. Auch hat Roxin selbst bezüglich des Gewitter-Falls anerkannt, dass „ein darauf abzielender Vorsatz kein Tötungsvorsatz ist, weil er auf etwas Strafloses gerichtet ist“.63 Das ist richtig, aber diese Erklärung Roxins demonstriert meiner Meinung nach, dass man das Objektive und das Subjektive im Tatbestand nicht getrennt überprüfen darf und dass folglich der zweistufige Aufbau des Tatbestandes dogmatisch fehlerhaft und konsequenter Weise auch systematisch abzulehnen ist.
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Vgl. Gimbernat Estudios de Derecho penal, 3. Aufl. 1990, S. 215. Siehe Kindhäuser InDret 4/2008, 15 f. Roxin (Fn. 13), § 11 Rn. 44.
Objektive Zurechnung bei nur „statistischen“ NN-Kausalitäten Rainer Hamm I. Fiktiver Fall Es gibt Verkehrslagen, die als wahre Todesfallen gelten. In Frankfurt wurde 1968 eine U-Bahn-Strecke gebaut, die beim Verlassen des engen City-Kerns eigentlich O-Bahn heißen müsste. Aus Kostengründen hat man damals nämlich entschieden, die Schienen beim Durchqueren der bis dahin jeweils organisch gewachsenen und verbundenen Stadtteile Dornbusch und Eschersheim nicht mehr in einem Tunnel, sondern oberirdisch zu verlegen, so dass die Fußgänger mit und ohne Kinderwagen oder Fahrrad sowie Rollstuhlfahrer von der einen auf die andere Seite nur wechseln können, indem sie teilweise lange auf die Grünphase der Ampelanlagen warten. Da sich dies in einem starken Straßenlärm abspielt und sich die Züge – soweit für sie die Ampeln auf grün stehen – regelmäßig schnell und nahezu lautlos nähern, ist es unvermeidlich, dass es immer wieder zu schweren und meist sogar tödlichen Unfällen kommt. 33 Menschen haben auf diese Weise ihr Leben verloren.1 Alle Appelle und Initiativen der Anwohner und Stadtteilvertretungen, durch Absenkung der U-Bahn-Gleise in Fortführung bestehender Tunnel, in denen es derartige Unfälle nicht gibt, Abhilfe zu schaffen, blieben bisher ungehört. Zwar ist stets die unmittelbare (letzte) Ursache eine Selbstgefährdung durch eine Ordnungswidrigkeit (Rotlichtverstoß) des Opfers, aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass nach der conditio-sine-qua-non-Formel die Verkehrsführung mitursächlich für die Häufung der Todesfälle ist, deren stetige Fortsetzung bei dem statistisch zu erwartenden Verhalten einer unbestimmten Zahl von Passanten in der Zukunft auch aus heutiger Sicht vorhersehbar ist. Bis hierhin ist an der Fallschilderung noch alles real und beweisbar. Fiktiv wird sie erst, wenn man für die Zwecke der Veranschaulichung der im Folgenden mehr gezeigten als gelösten Problematik unterstellt, dass die Angehörigen eines der tödlich verunglückten Personen eine Strafanzeige wegen fahrlässiger (oder gar bedingt vorsätzlicher) Tötung erstattet hätten und der
1 http://de.wikipedia.org/wiki/U-Bahn-Strecke_A_%28Frankfurt_am_Main%29#cite_ note-23 [letzter Abruf: 17.3.2014].
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zuständige Staatsanwalt über die Begründung nachdenkt, mit der er die Einleitung von Ermittlungen ablehnen könnte. Lassen wir die Frage einmal beiseite, wem welches pflichtwidrige Verhalten oder Unterlassen vorgeworfen werde könnte (Magistrat, Verkehrsdezernent, Stadtparlament?), unterstellen wir also, es hätte Ermessensfehler bei der Entscheidung gegen den Umbau der Straßen- und Schienenführung gegeben und konzentrieren wir uns auf die Frage, ob dieses Fehlverhalten im strafrechtlichen Sinne vorwerfbar kausal für den Tod der künftigen („NN-“)Opfer wäre.
II. Kausalität oder objektive Zurechnung? Der Jubilar dieser Festschrift hat sich in einer Reihe von Veröffentlichungen auf hohem dogmatischem Niveau mit dem komplizierten Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Kausalitätstheorien einerseits und der Lehre von der objektiven Zurechnung andererseits auseinandergesetzt.2 Er hat sich dabei anhand von instruktiven Fallgruppen mit der Frage befasst, inwieweit zwischen den Kategogien der Pflichtwidrigkeit, des Rechtswidrigkeitszusammenhangs und der Kausalitätstheorien insbesondere das Mitverschulden des sich selbst in eine Gefahr begebenden Opfers oder im Falle des mitursächlichen Hinzutretens von Handlungen Dritter ein eigenständiges wertendes aber objektives Zurechnungskriterium strafbarkeitsbegrenzend wirken kann. Die dies bejahende – insbesondere von Claus Roxin vertretene – Doktrin von der objektiven Zurechnung wägt Schünemann gegen die Einwände anderer Autoren ab, wobei er Hans Joachim Hirsch zugesteht, dass er sich zwar gegen die Vokabel „objektive Zurechnung“ sträubt, ohne sich in der Sache wirklich auf Distanz zu den damit verbundenen Einsichten zu befinden.3 Zu dieser theoretisch-dogmatischen Auseinandersetzung kann und will ich als vorwiegend praktisch tätiger Strafrechtler nichts Bereicherndes beitragen. Mir kommt es auf eine andere Beobachtung an. Unsere Strafjustiz beschäftigt sich zunehmend mit strafrechtlichen „Modetatbeständen“4, denen fehlt, was die damals streitig erörterten Fallgruppen alle noch gemeinsam hatten: eine individuelle Täter-Opfer-Beziehung: Der berühmte „Radfahrerfall“5 spielte sich zwar auch zwischen einem LKW-Fahrer und einem ihm als Person völlig unbekannten anderen Verkehrsteilnehmer ab, aber das Tatgeschehen entstand aus einer situativen Begegnung zwischen zwei konkreten Personen, von denen die eine bezogen auf die andere deren Überlebenschancen 2
Ich nenne nur Schünemanns Aufsatz „Über die objektive Zurechnung“ in GA 1999, 207 ff. 3 Schünemann GA 1999, 207, 227. 4 Zu diesem Phänomen vgl. Hamm FS Wolf Schiller, 2014, S. 262 ff. 5 BGHSt 11, 1, dazu Schünemann GA 1999, 207, 225.
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durch Wahrung des ausreichenden Sicherheitsabstandes zwischen LKW und Fahrrad beim Überholen zu erhalten verpflichtet gewesen wäre. Gleichwohl verneinte der BGH die strafbarkeitsbegründende Kausalität mit der Erwägung: „Das vom Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht mit einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Erfolg zu beantworten. Für eine das menschliche Verhalten wertende Betrachtungsweise ist vielmehr wesentlich, ob die Bedingung nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben für den Erfolg bedeutsam war. Dafür ist entscheidend, wie das Geschehen abgelaufen wäre, wenn der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten hätte. Wäre auch dann der gleiche Erfolg eingetreten oder lässt sich das auf Grund von erheblichen Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen, so ist die vom Angeklagten gesetzte Bedingung für die Würdigung des Erfolges ohne strafrechtliche Bedeutung. In diesem Falle darf der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg nicht bejaht werden.“6 Auch im Brandstiftungsfall, in dem die Zurechnung des Todes einer Person erörtert wird, die unerwartet in das bereits in hellen Flammen stehende Haus läuft, um noch wertvolle Gegenstände zu retten,7 geht es noch um einen konkret situativen Bezug zwischen dem deliktischen Geschehen der Brandstiftung und der – wiewohl im Wege der Selbstgefährdung letztlich ausgelösten – damit objektiv verursachten Tötung des Opfers. Ähnliches gilt für den „Erbonkelfall“, zu dem Schünemann überleitend zu einer ziemlich skurrilen alten RG-Entscheidung8 ausführt: „Ob die Fesselung des Erbonkels auf der gewitterumtosten Anhöhe eine Tötungshandlung ist oder nicht, lässt sich nicht durch eine ontologische Analyse, sondern nur durch eine Bewertung des betreffenden Risikos entscheiden, nicht anders als die Qualifikation der Beköstigung eines Bordellbesuchers entweder mit Brot oder mit Champagner als Förderung der Prostitution.“ 9 In keiner der damals diskutierten Fallkonstellationen war der zeitliche, räumliche und situative Abstand zwischen dem vorgeworfenen Handlungsunrecht und dem auf Kausalität oder auch objektive Zurechenbarkeit hin zu prüfenden Erfolg so groß und so weit gelöst von den konkret beteiligten Personen wie in meinem eingangs geschilderten fiktiven Beispiel eines Versuchs, Ver6 7 8 9
BGHSt 11, 7. BGHSt 39, 322; dazu Schünemann GA 1999, 207, 223. RGSt 39, 44, 48. Schünemann GA 1999, 207, 228.
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säumnisse zur Herstellung größerer Verkehrssicherheit bezogen auf künftige noch unbekannte Opfer (deshalb „NN“) als strafbare vollendete Tötungsdelikte zu subsumieren. Nun könnte man mir an dieser Stelle entgegenhalten, dass bereits die Notwendigkeit, einen solchen Fall zu erfinden, beweise, wie unrealistisch und praxisfern die hier aufgebauschte Problematik doch sei. Dies mag bezogen auf die strafrechtliche Verfolgung von Verkehrsplanern außerhalb von logistischen Fehlentscheidungen bei bestimmten Großereignissen wie der Duisburger „Love-Parade“10 zutreffen. Aber es gibt doch auf anderen Gebieten deutliche Zeichen für eine zunehmende Neigung des Gesetzgebers, der Strafgerichte und der Strafverfolgungsorgane, den Bezug zwischen dem vorgeworfenen Pflichtenverstoß und dem erst die Strafbarkeit begründenden Taterfolg so sehr zu verdünnen, dass am Ende nur noch so etwas wie eine statistische Kausalitäts- und Täter-Opfer-Beziehung übrigbleibt. Dies soll an einigen Beispielen aus realen Strafverfahren der letzten Jahrzehnte und teilweise noch laufender Ermittlungen gezeigt werden – ohne dass damit auch schon die Einordnung der Fallgruppen in die Kategorien der verschiedenen Kausalitätslehren oder der objektiven Zurechnung geleistet wäre.
III. Strafrechtliche Produkthaftung Bereits die berühmte Ledersprayentscheidung11 und das BGH-Urteil im sog. Holzschutzmittelprozess12 wiesen neben den im Schrifttum vorwiegend diskutierten Themen13 die Besonderheit auf, dass es an jeglicher individuellen Täter-Opfer-Beziehung fehlte. In beiden Fallkonstellationen war den Herstellern von Massenprodukten vorgeworfen, durch einen unterlassenen Produktionsstopp bzw. Marktrückruf zum Zeitpunkt der (hier einmal als gegeben unterstellten) Pflichtverletzung noch völlig unbekannte Menschen in ihrer Gesundheit geschädigt zu haben. Dabei kommt es mir hier nicht auf den Umstand an, dass Täter und Opfer sich nicht persönlich kannten. So etwas gibt es auch vielfach bei Fahrlässigkeitsdelikten (z.B. im Straßenverkehr) und beim Amokschützen, der blindlings in eine Menschenmenge mit einer automatischen Waffe feuert. 10 http://www.spiegel.de/panorama/justiz/katastrophe-bei-love-paradestaatsanwaltschaft-erhebt-anklage-a-952695.html [letzter Abruf: 17.3.2014]. 11 BGHSt 37, 106 = NJW 1990, 2560. 12 BGHSt 41, 206; Anm. Puppe JZ 1996, 318; vgl. auch mein Beitrag in StV 1997, 159 ff. Vorausgegangene Beschwerdeentscheidung im Eröffnungsverfahren OLG Frankfurt a.M. VuR 1992, 40. 13 Rückrufpflichten, persönliche Schuld bei Kollektiventscheidungen, Kausalitätsnachweis bei nicht feststehendem Wirkungszusammenhang zwischen den einzelnen Bestandteilen des Produkts und Gesundheitsschaden.
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Die Besonderheit der Fälle, in denen die Körperverletzung qua strafrechtlicher Produkthaftung dem für die Vermarktung eines potentiell gefährlichen Massenartikels Verantwortlichen zugerechnet wird, besteht in der personell, zeitlich und räumlich indifferenten Täter-Opfer-Beziehung und somit in dem extrem losen Zusammenhang zwischen dem Normverstoß und dem Erfolgseintritt. Die Realisierung eines vom Täter (durch Unterlassen) gesetzten Risikos in der schadensstiftenden Anwendung des Produkts durch einen der Millionen von Verbrauchern in naher oder ferner Zukunft wird dem Beschuldigten dann ex post zugerechnet, wenn ex ante für ihn die Verletzung einer nur statistisch schätzbaren Zahl von noch unbekannten Verbrauchern vorhersehbar war, ohne dass es noch darauf ankommen soll, ob er es auch subjektiv vorausgesehen hat.14 Der unterlassene Produktionsstopp verletzt ebenso „totsicher“ in Zukunft einen oder mehrere der Millionen von Anwender ebenso wie der unterlassene Umbau der U-Bahn in Frankfurt vorausberechenbar irgendwelche künftige unaufmerksame Passanten tötet.
IV. Transplantationsskandal Vor dem Landgericht Göttingen findet derzeit eine Hauptverhandlung gegen einen ehemals sehr angesehenen Chefarzt eines Transplantationszentrums statt, dem versuchter Totschlag vorgeworfen wird. Er habe eine unbestimmte Zahl von ihm und auch heute noch der Staatsanwaltschaft unbekannte Patienten dadurch töten wollen, dass er „seine“ Patienten bei der Einordnung in der Warteliste für Spenderorgane bevorzugte, indem er durch manipulative Angaben in den dafür maßgeblichen Formularen für die Wartelisten die Dringlichkeit der Zuteilung veränderte. Darüber ist bisher in der Tagespresse viel berichtet worden, und eine die Untersuchungshaft (!) betreffende Entscheidung des OLG Braunschweig15 wird in ihrem Begründungsteil durch den nicht amtlichen Leitsatz 1 in der NStZ zutreffend wie folgt zusammengefasst: „Vorsätzliche Falschangaben gegenüber der gem. § 12 Transplantationsgesetz zuständigen Vermittlungsstelle (hier: Stiftung Eurotransplant) können als versuchte Tötung zum Nachteil dadurch übergangener Patienten bewertet werden, wenn der Täter weiß, dass seine Angaben nicht weiter 14
So ausdrücklich Schünemann GA 1999, 207, 215 f., indem er die Lehre von der Risikorealisierung als gleichbedeutend mit der „alten“ Sorgfaltsverletzungsdefinition entlarvt: „Die in Deutschland heute modisch gewordene Formulierung, dass der Täter durch das tatbestandsmäßige Verhalten ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen haben müsse, ist also nur eine sachlich nichts Neues bringende Umformulierung der alten Forderung, dass die für den Erfolg ursächliche Handlung objektiv sorgfaltswidrig sein muss …“. 15 OLG Braunschweig NStZ 2013, 593.
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überprüft werden, sie die Zuteilungsreihenfolge so weit beeinflussen, dass es in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans kommt und die rettende Transplantationsbehandlung anderer Patienten dadurch lebensbedrohlich verzögert wird.“ Dahinter steckt die Zuschreibungslogik, dass ein Arzt, der die Lebenschancen seines Patienten erhöht und dabei andere Patienten, die auch auf ein Spenderorgan warten, abstrakt der Gefahr aussetzt, später dranzukommen (was im Einzelfall sogar lebensrettend sein kann), wegen bedingt vorsätzlicher Tötung strafbar ist. Dass sein Mittel, den konkreten eigenen Patienten zu „bevorzugen“ in dem Verstoß gegen ein untergesetzliches Regelwerk der Ärztekammern besteht (wahrheitswidriges Ankreuzen eines Risikofaktors), soll ebenso unerheblich sein wie die Ungewissheit, ob sich die Störung der „Verteilungsgerechtigkeit“ letztlich zum Vorteil oder zum Nachteil der nachrangig wartenden Patienten auswirkt. Diesen Zweifelsfragen soll allenfalls damit Rechnung getragen werden, dass man nicht vollendeten sondern „nur“ versuchten Totschlag vorwirft. Aber die Versuchsstrafbarkeit wurde nicht erfunden, um den prozessualen Beweisproblemen hinsichtlich der Vollendung zu entgehen, sondern um eine final auf den konkreten Tatbestandserfolg gezielte Handlung auch dann sanktionieren zu können, wenn ohne Zutun des Täters (sonst führt der Rücktritt zur Straffreiheit) er und sein Opfer das „Glück“ haben, dass nichts passiert. Auch dann muss die (von einem Außenereignis unterbrochene) Kausalität vorwerfbar gegeben sein. Auch ein Versuch scheidet aus, wenn nicht auszuschließen ist, dass auch bei rechtmäßigen Verhalten die konkreten Überlebenschancen des „NN-Opfers“ gleich hoch (niedrig) geblieben oder sogar gestiegen wären. Allein die Möglichkeit oder auch eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass die konkrete Folge des zur Erhöhung der Lebenschancen dem Arzt anvertrauten Patienten für anonym bleibende potentielle Opfer das Sterbensrisiko erhöht haben könnte, begründet schon nach der Conditio-sinequa-non-Formel keine auch nur potentielle Kausalität und darf erst recht nicht durch Anwendung der Lehre von der objektiven Zurechnung in die Versuchsstrafbarkeit einbezogen werden.16 Denn diese Lehre ist zur Einschränkung und nicht etwa zur Ausweitung der Poenalisierung begründet worden.17 Wie der Fall letztlich entschieden werden wird, kann hier nicht prognostiziert werden. Aber es bleibt zu hoffen, dass die beachtlichen Einwände, die z.B. Kudrich („Die Verfolgung des Verhaltens als Tötungsdelikt ist zahl16 Vgl. zu den einzelnen Fallgruppen eines nur statistisch erfassbaren Einflusses der Manipulation auf das Schicksal „nachrangig“ gelisteter Transplantationskandidaten Kudrich NJW 2013, 917 ff. auch bezogen auf den Fahrlässigkeitsvorwurf S. 919. 17 Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, vor § 13 Rn. 24: „Die Lehre dient … der Abgrenzung von Unglück und Unrecht, um den zu weiten Kausalitätsbegriff normativ zu begrenzen.“ Es folgen weitere Nachweise z.B. Sowada NStZ 2012, 1, 5.
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reichen Nachweis- bzw. Zurechnungsschwierigkeiten ausgesetzt.“)18 und Schroth 19 gegen das Vorgehen der StA vorbringen, spätestens beim BGH Gehör finden. Der vermeintliche Lösungsansatz, allen Zurechnungs- und Kausalitätsproblemen durch ein Ausweichen auf die Versuchsstrafbarkeit zu entgehen, überzeugt jedenfalls nicht.20 Da die Staatsanwaltschaften den an verschiedenen Universitätskliniken aufgedeckten Transplantationsskandal mit ganz unterschiedlicher Tendenz verfolgen,21 kann man gespannt sein, welches Urteil im Verfahren vor dem LG Göttingen erstinstanzlich ergehen und ob es dann zu einer Befassung durch den BGH kommen wird. Das Problem der nur statistischen Zurechnung eines in seinen Abläufen nicht aufklärbaren hypothetischen Kausalverlaufs zu Lasten (oder sogar zugunsten) eines unbekannt bleibenden NNOpfers wird dabei hoffentlich zutreffend eingeordnet. Eine bittere Pointe steht aber jetzt schon fest: Nach Bekanntwerden und der öffentlichen Skandalisierung der Verstöße gegen die Zuteilungsregeln ist die Zahl der Organspenden in Deutschland drastisch zurückgegangen.22 Einen Anteil an den Ursachen hat sicherlich auch die strafrechtlich hoch gehängte Etikettierung der Manipulationen als versuchten Totschlag durch die StA und die Gerichte in Göttingen. Der dadurch dramatisch vergrößerte Mangel an Transplantaten wird mit Sicherheit zu Todesfällen mit einer nunmehr größeren Zahl von „leer ausgehenden“ Patienten führen. Und vielleicht kommt sogar jemand auf den Gedanken, zwischen der fehlerhaften Subsumtion unter die §§ 212, 32 StGB und jenen Sterbefällen eine strafrechtlich zurechenbare Kausalität zu sehen. Dann werden die berechtigten Einwände gegen eine solche NN-Kausalität hoffentlich auch diejenigen zum Nachdenken bringen, die eine durchaus vergleichbare Zurechnung per Statistik derzeit den Ärzten anlasten.
18
Kudrich NJW 2013, 917, 919. Schroth NStZ 2013, 437, 442. 20 Dazu Schroth NStZ 2013, 437, 442, der den Versuch am Vorsatz scheitern lässt: „Ein Arzt, der Krankenakten manipuliert, um ein Organ für seinen Patienten zu erhalten, erkennt sicherlich – vielfach – die Beeinträchtigung einer Gesundheitschance eines anderen, er geht aber nicht davon aus, dass er durch sein Handeln fremdes Leben zerstört. Das Sehen einer Gesundheitsgefahr für einen unbekannten Kranken, deren Intensität und Qualität er gar nicht kennen kann, begründet möglicherweise einen Gefährdungs-, nicht jedoch einen Verletzungsvorsatz.“ 21 StA Bielefeld: Versuchter Todschlag (s.o.), StA Regensburg und München: Manipulation der Anwartschaftsliste durch Datenveränderungen per se nicht strafbar. Vgl. Kudrich NJW 2013, 917. 22 http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/transplantationen-zahl-der-organspendenweiter-eingebrochen-a-943628.html [letzter Abruf: 17.3.2014]. 19
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V. Marktmanipulation nach § 38 WpHG Auf einem ganz anderen Gebiet hat der Gesetzgeber selbst einen Straftatbestand geschaffen, der das Problem der statistischen Kausalität und objektiven Zurechnung bereits im entscheidenden Tatbestandsmerkmal angelegt hat. Es geht um das einzige Tatbestandsmerkmal, bei dessen Vorliegen ein ansonsten als Ordnungswidrigkeit zu ahndender (und in seinen Merkmalen auch schon ziemlich unbestimmter) Gesetzesverstoß zum strafbaren Vergehen wird: Nach § 38 Abs. 2 WpHG ist gesetzliche Voraussetzung der Strafbarkeit, dass derjenige, der eine in § 39 Abs. 2 Nr. 11 WpHG bezeichnete vorsätzliche Handlung vornimmt, dadurch auf den inländischen Börsenpreis eines Finanzinstruments „einwirkt“, d.h. er muss durch die Ordnungswidrigkeit den Börsenkurs kausal verändert haben, wobei es gleichgültig ist, ob ein Kursanstieg oder ein Kursabfall bewirkt wurde. Das Gesetz enthält auch keine Beschränkung auf die Fälle einer erheblichen Veränderung des Börsenpreises.23 Der frühere Vorstandsvorsitzende der Mittelstandsbank IKB wurde vom Landgericht Düsseldorf zu 10 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, weil er in der Frühphase der Finanzkrise (20. Juli 2007) eine Presseerklärung zu verantworten hatte, mit der er die an der Börse gelistete, aber überwiegend von der öffentlichen Hand getragene Bank vor den Turbulenzen der damals aufgekommenen Gerüchte um die Betroffenheit der Bank von amerikanischen „Subprime-Verbriefungen“ bewahren wollte. Die in vier Absätzen auf einer DIN-A4-Seite abgefasste Erklärung enthielt im Wesentlichen drei Kernaussagen: 1. Die Quartalszahlen sehen so aus, dass wir unser prognostiziertes gutes Jahresergebnis werden halten können. 2. Ratingagenturen haben einige Papiere des amerikanischen Verbriefungsderivatemarktes auf die „WatchList“ gesetzt, aber noch nicht herabgestuft. 3. Im Falle einer Herabstufung wären „wir“ (das konnte heißen: die IKB AG oder auch: Die IKB unter Einschluss einer ausgelagerten und in der Bilanz nicht zu erfassenden „Zweckgesellschaft“) allenfalls mit einem 1-stelligen Millionenbetrag betroffen. Nach der Anklage und letztlich auch den Feststellungen des Gerichts waren die Aussagen 1 und 2 nicht zu beanstanden und die Aussage 3 nur dann richtig, wenn man sie in dem Sinne verstand, dass sie sich nur auf die konsolidierungspflichtigen Konzerngesellschaften (also „die IKB AG“) bezog. Auch wenn sie so zu verstehen gewesen wäre, dass damit auch die im Portfolio der außerbilanziellen Zweckgesellschaft gehaltenen Papiere mit einem Nennwert in 3-stelliger Millionenhöhe gemeint waren, konnte die maximale Auswir-
23 Vgl. dazu und zur Frage, ob und ggf. wie Bagatellfälle von der Strafbarkeit auszunehmen sind Assmann/Schneider/Vogel, 5. Aufl. 2009, § 38 WpHG Rn. 51 sowie Assmann/ Schneider/Vogel, 4. Aufl. 2006, § 38 WpHG Rn. 21.
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kung eines Downgrades auf die Bilanz der IKB nur einen einstelligen Millionenbetrag ausmachen.24 Im hier behandelten Zusammenhang war die Frage zu klären, wie man bei unterstellter Ordnungswidrigkeit der Aussage 3 („irreführend“ i.S.d. § 39 Abs. 2 Ziff. 11 i.V.m. § 20a Abs. 1, S. 1 Nr. 1, 1. Alt. WpHG) ein nach § 38 Abs. 2 WpHG zur Begründung der Strafbarkeit zusätzlich erforderliches „Einwirken“ auf den Börsenkurs, also die Kausalität, beweisen soll. Dass der Kurs der IKB-Aktie am Tag nach der Presseerklärung vorübergehend um 1,9 % höher lag als am Vortag, als die Presseerklärung verbreitet wurde, kann – so die Argumentation der Verteidigung – auch an der erfreulichen und wahrheitsgemäßen Aussage 1 („wir werden unser prognostiziertes Ergebnis erreichen“) liegen. Das Gericht hatte drei Analysten als Zeugen vernommen und einen Sachverständigen angehört, der eine sog „Ereignisstudie“ vortrug, in der viel von Statistik, aber nichts von konkreten Geschäftsabschlüssen die Rede war. Den Umstand, dass damals schon ein hoher Anteil der Börsengeschäfte auf dem Wege des automatisierten Hochgeschwindigkeitshandels stattfand, kam dabei ebenso wenig zur Sprache wie die Antwort auf die Frage, welchen Einfluss auf die vermeintliche Kausalität die Algorithmen der High-Speed-Trading-Maschinen hatten und inwieweit die Aussage 3 in der fraglichen Presseerklärung in derartige mathematischen Programme eingeflossen sein mögen. Über der damit auch aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage, wie ein solches Verständnis des Straftatbestandes des WpHG mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein soll, brütete man beim BVerfG nach Einreichung der Verfassungsbeschwerde gegen den OU-Beschluss des BGH im IKB-Fall 25 mehr als zwei Jahre, um dann durch Kammerbeschluss 26 ohne jede Begründung zu entscheiden: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.“
24 Dazu jetzt auch BGH ZIP 2014, 513. In BGHSt 48, 373, 384 hatte der 1. Strafsenat noch dazu ermuntert, es mit dem Kausalitätsnachweis nicht zu genau zu nehmen: „Für die Beurteilung der Frage, ob durch die marktmanipulative Handlung tatsächlich eine Einwirkung auf den Kurs eingetreten ist, dürfen angesichts der Vielzahl der – neben Tathandlung – regelmäßig an der Preisbildung mitwirkenden Faktoren keine überspannten Anforderungen gestellt werden, weil der Tatbestand des § 38 Abs. 1 Nr. 4 WpHG ansonsten weitgehend leerliefe. Vergleiche von bisherigem Kursverlauf und Umsatz, die Kurs- und Umsatzentwicklung des betreffenden Papiers am konkreten Tag sowie die Ordergröße können eine Kurseinwirkung hinreichend belegen. Eine Befragung der Marktteilnehmer ist dazu nicht veranlasst.“ 25 BGH ZIP 2011, 5. 26 BVerfG, Beschl. v. vom 18.9.2013, 2 BvR 1885/11.
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VI. „Abo-Fallen“ im Internet Vor dem Bundesgerichtshof sind mehrere Verfahren anhängig, in denen massenhafter Betrug an einer Vielzahl von Internetnutzern vorgeworfen wird.27 Die Täter sollen Internetseiten trickreich so gestaltet haben, dass die Nutzer beim Anklicken eines bestimmten Buttons, mit denen sie eine vermeintlich kostenlose Leistung abrufen, in Wahrheit einen kostenpflichtigen Vertrag abschließen. Solche Fälle konnten bis zum Inkrafttreten des § 312g BGB28 dann leicht unter den Betrugstatbestand gefasst werden, wenn ausdrücklich eine Gratisleistung versprochen wurde und es dann mithilfe des Opferzeugen gelingt, seinen Irrtum, die dadurch bewirkte Vermögensverfügung und den schon durch das Entstehen der (wiewohl anfechtbaren) Verbindlichkeit ausgelösten Vermögensschaden nachzuweisen. Nun hatte der BGH am 5. März 2014 über einen „Altfall“ zu entscheiden,29 in dem schon das Merkmal Täuschungshandlung deshalb zweifelhaft war, weil die betreffende Web-Seite, auf der man einen Routenplaner abonnieren konnte, alle für die autonome Bestellentscheidung erforderlichen Informationen enthielt, wenn auch hinsichtlich der Entgeltlichkeit „nicht auf den ersten Blick“ erkennbar. Die Zumutung an den Nutzer, der seine persönlichen Adressdaten und den Geburtstag eingeben musste (zwecks Überprüfung der Geschäftsfähigkeit und Zusendung der Rechnung – wofür sonst?), bei entsprechend kleiner Bildschirmdarstellung bis zu der Stelle, wo der Vierteljahrespreis (59,50 €) sichtbar wurde, „herunter zu scrollen“, hatte dieselbe Strafkammer des Landgerichts noch in einem Nichteröffnungsbeschluss als hinnehmbare Folge einer sachgerechten Risikoverteilung30 angesehen. Dem trat dann aber das OLG Frankfurt auf die Beschwerde der StA entgegen, indem es den hinreichenden Tatverdacht auch hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale bejahte,31 obwohl sich – wie auch später in der Hauptver27 Daneben gibt es die Fälle der Millionenfachen Anrufe durch sog. Callcenter, in denen den Telefonanschlussinhabern durch täuschend auftretende Mitarbeiter von Call-Centern vorgespiegelt wird, es gehe um (kostenpflichtige) Einträge in „Gewinnspiellisten“. Vgl dazu jetzt BGH Urt. v. 22.1.2014, 5 StR 468/12. 28 Fassung durch Gesetz vom 10.5.2012 (BGBl. I S. 1084). Sog. „Buttonlösung“: Verträge, bei denen die Kostenpflicht und der Preis dem Nutzer nicht eindeutig und gleichsam unübersehbar vor dem Betätigen der entscheidenden vertragsauslösenden virtuellen Taste deutlich gemacht wurde, sind danach nichtig. 29 Urt. v. 5.3.2014, StR 616/12: Die Revision des Angeklagten wurde verworfen. Die Gründe liegen auch 3 Monate nach der Verkündung nur in der Kurzform einer BGHPressemitteilung Nr. 43/14 vom 6.3.2014 vor. 30 Vgl. dazu jetzt auch Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 263 Rn. 28b, der solche Internetnutzer als nicht schutzbedürftig ansieht, die ernsthaft von der irrationalen Hoffnung beseelt sind, es gäbe in dem anonymen millionenfachen Massenmarkt „Wohltäter, die Waren- oder Dienstleistungen praktisch verschenken“. 31 OLG Frankfurt NJW 2011, 398 mit zust. Anm. Hansen.
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handlung – nicht ein einziger Kunde finden ließ, der sowohl konkret in einen Irrtum versetzt worden war, als auch einen tatsächlichen Schaden erlitten hatte. Also wich die Strafkammer, die den Betreiber der Seite zu einer Bewährungsstrafe verurteilte, auch hier auf den Schuldspruch wegen versuchtem Betrug aus. Und wieder haben wir es mit einer Fallgruppe zu tun, bei der ein auf individuellen Rechtsgüterschutz zielender Straftatbestand ausgeweitet wird auf statistische NN-Kausalitäten. Das wurde besonders deutlich in der Hauptverhandlung vor dem 2. Strafsenat am 5. Februar 2014, als der Senatsvorsitzende Thomas Fischer zu bedenken gab, ob ein Vertriebsmodell, das geradezu darauf angelegt ist, bei dem „dummen“ Teil der Internetnutzer („und seien es auch nur die unteren 10 % in der Scala der über- und unterdurchschnittlich intelligenten“) einen falschen Eindruck entstehen zu lassen, nur deshalb nicht den Tatbestand des (versuchten) Betruges erfüllen soll, weil keine Aussicht besteht, jemals bezogen auf solche „Irgend-jemanden-wirdes-schon-treffen-Opfer“ eine Vollendung zu beweisen. Wir haben als Verteidiger dem entgegengehalten, dass man mit derselben Logik auch jemanden wegen versuchten Betruges verurteilen könnte, der alle Anforderungen an eine idealtypisch aufgebaute Web-Seite erfüllen würde und bei dem Millionenpublikum, das er mit seinem Angebot anspricht, darauf spekuliert, dass sich unter den Bestellern auch ein paar besonders flüchtige Nutzer finden werden, denen der Vertragscharakter ihres „Klickens“ immer noch entgeht. Außerdem sei die Versuchsstrafbarkeit nun einmal nicht dazu da, dem Strafrichter die individuellen Zurechnungsprobleme zu ersparen. Will der Gesetzgeber dem in der Bevölkerung und der Rechtspolitik bestehenden Bedürfnis, so etwas wie einen anonymen Verbraucherschutz mit den Mitteln des Strafrechts zu betreiben, Rechnung tragen, so mag man prüfen, ob man auch hier noch ein weiteres abstraktes Gefährdungsdelikt schafft. Dabei wird zu berücksichtigen sein, ob nicht durch die jetzt geltende zivilrechtliche Lösung doch schon alles an Prävention erreicht ist, was auch eine neue Strafdrohung nicht besser leisten könnte. Aber die Erfolgsdelikte mit der trickreichen Variante der Versuchsstrafbarkeit so anzuwenden, als wären sie selbst abstrakte Gefährdungsdelikte, ist sicher der falsche Weg.
VII. Kartell-Ordnungswidrigkeitsrecht Sage niemand, das Ordnungswidrigkeitsrecht greife weniger einschneidend in die Rechte der Betroffenen ein als das Strafrecht i.e.S.! Der Kartellsenat des OLG Düsseldorf stellte im Februar 2014 ein im April des Vorjahres nach einer fast 3-Jährigen Hauptverhandlung mit 132 Verhandlungstagen verkündetes Urteil zu, durch das eine Reihe von Unternehmen, die auf den Verkauf von Flüssiggas spezialisiert sind, mit Geldbußen in gestaffelter Höhe zwischen
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30.000 und 100.000.000 Euro (hundert Millionen) Euro belegt wurden,32 nachdem das Bundeskartellamt zuvor niedriger Sanktionen festgesetzt hatte und es in diesem Falle ausnahmsweise nicht gelungen war, die Akzeptanz „konsensual“ zu erzwingen.33 Der Vorwurf bezog sich nicht auf Preisabsprachen, sondern auf eine mehr oder weniger stillschweigende Vereinbarung, wonach die Konkurrenten darauf verzichteten, Bestandskunden der Wettbewerber aktiv abzuwerben (Kundenschutzabsprachen).34 Da ein unmittelbarer Bezug der Kartellabsprache zur Preisgestaltung auch nach den Feststellungen des OLG fehlte, bedurfte der Nachweis eines kartellbedingten „Mehrerlöses“ als Voraussetzung für die Festsetzung eines daran auszurichtenden Bußgeldes (§ 81 Abs. 5 GWB 2007 i.V.m. § 17 Abs. 4 OWiG) einer besonders sorgfältigen Begründung. Stattdessen bezieht sich an dieser Stelle das OLGUrteil auf angeblich eigenes Erfahrungswissen mit folgenden Worten: „Der Senat ist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit (!) gewiss, dass die Kartellabsprache und ihre Umsetzung im Tatzeitraum zur Entstehung von individuellen kartellbedingten Mehrerlösen … geführt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt der beweisrechtliche wirtschaftliche Grundsatz, dass die Gründung eines Kartells grundsätzlich der Steigerung des Mehrerlöses („Kartellrendite“) der am Kartell beteiligten Unternehmen dient … Deshalb spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Kartell gebildet und erhalten wird, weil es höhere als am Markt erzielbare Preise erbringt. Je länger, nachhaltiger und flächendeckender ein Kartell praktiziert wird, desto höher sind die Anforderungen, um ausnahmsweise einen wirtschaftlichen Vorteil aus der Kartellabsprache verneinen zu können. … Der wechselseitig versprochene Kundenschutz bewirkt – ebenso wie eine Quotenabsprache – eine Aufteilung und ausschließliche (exklusive) Zuweisung der vorhandenen und neu erworbenen Kundenstämme. … Der Umstand, dass der Bundesgerichtshof noch keine Gelegenheit hatte, die Anwendung des beweisrechtlichen Grundsatzes auch für Kundenschutzabsprachen festzustellen, steht der Anwendung des beweisrechtlichen Grundsatzes im Streitfall nicht entgegen.“ 32
Urt. v. 15.4.2013, Vl-4 Kart 2 – 6/10 OWi. In den meisten Kartellverfahren findet wegen des Kronzeugen-Bonus-Systems eine Art „Windhunderennen“ auf die Sanktionsfreiheit oder -milderung statt, die als „Entlohnung“ für den Verzicht auf den Nemo-tenetur-Grundsatz gewährt wird, während gegen diejenigen Betroffenen, die mit ihrem „Marker“ zu spät kommen, teilweise extrem hohe Geldbußen verhängt oder „ausgehandelt“ werden. BKartA, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen, Bonusregelung v. 7.3.2006; vgl. dazu Bach/Klumpp NJW 2006, 3524. 34 Also einer Regel, zu deren Einhaltung wir Rechtsanwälte schon durch unser tradiertes Berufsrecht gezwungen sind, ohne dass jemals die Auffassung vertreten worden wäre, dies diene der Erlangung eines kollektiven Mehrerlöses gegenüber einem Anwaltsmarkt, bei dem es erlaubt wäre, sich gegenseitig Mandanten „abzujagen“. 33
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Was hier abwechselnd einmal „wirtschaftlicher“ und/oder „beweisrechtlicher“ Grundsatz genannt wird, ist wieder nichts anderes als die bloße Behauptung von der Existenz einer statistischen Regel, aus der sogar noch im Wege einer Wahrscheinlichkeitsaussage auf eine Kausalität geschlossen werden soll. Das NN-Element aus den oben geschilderten Fallgruppen fehlt hier nur scheinbar, weil auch die Vermutung eines kartellbedingten Mehrerlöses auf einer virtuellen Gleichung mit vielen Unbekannten beruht, deren Entschlüsselung die Benennung zahlreicher unbekannt bleibender Akteure und Faktoren (Kundenverhalten, Preise von Nichtkartellanten, Vertriebswege, Kosten im Falle von Lieferantenwechsel usw.) voraussetzen würde, die aufzuklären, der Senat sich entgegen darauf gerichteter Beweisanträge weigerte.35
VIII. Aufgabe der Strafrechtswissenschaft Die vorstehend geschilderten Erscheinungsformen des „modernen“ Strafrechts wurden mit ihrem gemeinsamen Merkmal des nur statistisch definierten Opferbezugs bzw. Erfolgseintritts bislang noch kaum von der Strafrechtswissenschaft zur Kenntnis genommen. Dabei ist zuzugeben, dass das hier von einem Praktiker beschriebene „Störgefühl“ schwer in dogmatisch sauber abgegrenzte theoretische Kategorien einzuordnen ist. Will man nicht den Umstand, dass zum Zeitpunkt der „Tathandlung“ auch für den Täter noch nicht feststeht (z.B. weil es ihm egal ist), wen das Erfolgsdelikt am Ende treffen wird, allein schon als Spezifikum ansehen (das wäre nicht Wert, dass man darüber einen Aufsatz in einer Festschrift – zumal für Bernd Schünemann – schreibt), so muss durchaus die Frage, ob überhaupt das vorgeworfene Handeln oder Unterlassen auf den von der Rechtsordnung missbilligten Unwert-Erfolg zielt, so offen bleiben, dass das Überspringen der Beweislücke mithilfe materiell-rechtlich semantischer Rhetorik als Charakteristikum des hier beschriebenen Phänomens gelten könnte. Aber ich bin mir auch bewusst, dass dieser Befund nur der erste Schritt bei der Entlarvung eben jener argumentativen Verkleisterungen und Pseudoausfüllungen von dogmatischen Hohlräumen wäre, die ich selbst nicht leisten kann.
35 Sogar ein gem. §§ 220, 245 StPO präsentierter Sachverständiger für Marktpreisanalyse wurde unter Hinweis darauf wieder nach Hause geschickt, im OWi-Recht gelte gemäß § 77 OWiG § 245 StPO nicht und das Gericht verfüge über ausreichende eigene Sachkunde.
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IX. Gegenprobe: Freispruch bei „Containern“ Vielleicht könnte aber bei der dogmatischen Bewertung der hier geschilderten Strafrechtskonstellationen ein Blick auf die Praxis in einem aktuellen „kleinen Fall“ helfen, in dem es um eine ganz besonders moderne Form der unter Diebstahlsaspekten zu prüfenden Rechtsbrüche geht: das sog „Containern“. Darunter versteht man das Stöbern in Abfallbehältern, um sich noch genießbare Lebensmittel mit überschrittenem Verfallsdatum zuzueignen. Manche Menschen begehen derartige Freveltaten aus Not, andere wollen damit die Verschwendung von Lebensmitteln anprangern. „50 Prozent unserer Lebensmittel werden weggeworfen. Wir wollen die Gesellschaft dafür sensibilisieren“. Mit diesen Worten hatte sich ein solcher Angeklagter vor dem Amtsgericht Eschwege verteidigt. Er war einer von drei Studenten, in deren Auto die Polizei große Mengen solcher „Abfälle“ gefunden hatte. Die Waren trugen noch Preisauszeichnungen, die bewiesen, dass sie vor Ablauf des Verfallsdatum bei einem Filialisten („Tegut“) in den Verkaufsregalen angeboten worden waren, sodass alles dafür sprach, dass die Angeklagten die mit hohen Zäunen gesicherten Abfallcontainer erstiegen und daraus die Waren gestohlen hatten. Nach einem Pressebericht 36 hat das Amtsgericht die ursprünglich durch Strafbefehl verhängten drakonisch hohen Geldstrafen aufgehoben und die Angeklagten durch Urteil vom 20.02.2014 freigesprochen, nachdem in der Beweisaufnahme nicht geklärt werden konnte, aus welcher Filiale das „Diebesgut“ stammte. Diebstahl aus der NN-Filiale einer bekannten Handelskette reichte dem Amtsrichter nicht als Tatnachweis aus. So stellt man sich ein Strafrecht vor, das sich streng an den Intentionen des Gesetzgebers und dem Wortlaut des Gesetzes orientiert. Wie gut, dass der Richter in Eschwege nicht auf den Gedanken kam, seine Beweisnot mit einem Schuldspruch wegen versuchten Diebstahls zu überwinden!
X. Statt eines Fazits Ich habe die Zuversicht, dass Bernd Schünemann es versteht, entweder einen Weg zur Lösung der von mir zuletzt offen gelassenen dogmatischen Aufgabe zu zeigen, oder dem Autor dieser Zeilen nachzuweisen, dass er hier „Gespenster sieht“ und ein Scheinproblem ausgebreitet hat. Letzteres glaube ich irgendwie nicht, aber in beiden Fällen wäre es mir den Versuch wert gewesen, dem Jubilar eine Freude zu seinem runden Geburtstag gemacht zu haben.
36 http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/prozess-wegen-containernsso-ein-muell-12812474.html [letzter Abruf: 17.3.2014].
Freiheit als Deliktsvoraussetzung Rolf Dietrich Herzberg I. Der „synkretistische“ oder „soziale“ Schuldbegriff: das Können anderer zur Begründung individueller Schuld Ein gutes Jahrzehnt ist es her, dass Bernd Schünemann in der ihm eigenen temperamentvoll-streitfreudigen und zugleich gedankenscharf-eindringlichen Weise seine Sicht „Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Strafrechtsschuld“ dargelegt hat.1 Nach einer reverenzhaft-festschriftgemäßen Einleitung fasst er sogleich den als „herrschend“ wahrgenommenen „Schuldbegriff“ ins Auge, den er den „synkretistischen“ nennt.2 Das ist keine freundliche Kennzeichnung. „Synkretistisch“ ist eine Theorie oder Lehre im Geiste des „Synkretismus“, worunter man Folgendes zu verstehen hat: „die Vereinigung von Gedanken verschiedener Herkunft zu einem Ganzen, das innere Einheit und Widerspruchslosigkeit vermissen lässt; besonders gern auf die spätantike Religionsmischung angewandt. Synkretisten hießen im 16. Jahrhundert die Philosophen, die zwischen Platon und Aristoteles vermitteln wollten“.3 Schünemann findet die Skizze im Jescheck-Weigend’schen Lehrbuch4 besonders geeignet, den „in Deutschland herrschende(n)“ Synkretismus – in Gestalt einer „Supervereinigungstheorie“ – dem Leser vor Augen zu führen. „Der Schuldgrundsatz“, so referiert er mit Hinweis auf die Fundstellen im Lehrbuch, „hat danach die Entscheidungsfreiheit des Menschen zur logischen Voraussetzung (S. 407 f.), soll aber nicht daran scheitern, daß die Begründung des Schuldvorwurfs durch die Freiheit des Menschen als individueller Person für unbeweisbar gehalten wird (S. 409). Denn es genüge, daß ein anderer anstelle des Täters bei intakter Steuerungsfähigkeit als frei behandelt werde (S. 411). Gegenstand des Schuldurteils sei die Tat im Hinblick auf die in ihr aktualisierte, rechtlich mißbilligte Gesinnung (S. 422, 425), wobei in erster Linie die Einzeltatschuld maßgeblich sein, aber etwa bei der Vermeid-
1
Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537–559. So in der Überschrift auf S. 538: „II. Der herrschende synkretistische Schuldbegriff und seine Kritik.“ 3 Schmidt, Philosophisches Wörterbuch, neu bearbeitet von Schischkoff, 21. Aufl. 1982, „Sykretismus“. 4 Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996. 2
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barkeit des Verbotsirrtums auch die Lebensführungsschuld relevant werden soll (S. 423).“5 Schünemann nennt diesen „synkretistischen“ etwas später auch den „sozialen Schuldbegriff“, kennzeichnet ihn ganz kurz mit dem Relativsatz „der auf die Vermeidbarkeit der Tat durch den Normalbürger abstellt“ und sieht ihn unter seiner Kritik wie einen „Koloss auf tönernen Füßen“ zusammenbrechen.6 Denn „wenn Schuld“, so das Kernstück dieser Kritik, „die Freiheit zum Andershandeln voraussetzt, so wird diese Freiheit mit dem Hinweis darauf, daß andere Personen als der Täter anders gehandelt hätten, offensichtlich nur fingiert“.7 Ich gebe dem Kritiker recht. Das Vorliegen einer Straftat kann vom Gegebensein einer bestimmten Fähigkeit abhängen. Z.B. vom Schwimmenkönnen des Zwanzigjährigen, der ein Kind im See ertrinken sieht. Kein Jurist käme auf die Idee, dem jungen Mann, auch wenn er nicht schwimmen kann, ein Unterlassungsdelikt vorzuwerfen mit der Begründung, dass in seiner Lage ein „normaler“ Zwanzigjähriger fähig gewesen wäre, hinauszuschwimmen und den Tod des Kindes abzuwenden. Es kommt auf die Fähigkeit gerade der Person an, nach deren Strafbarkeit wir fragen. Und wie bei der Tatbestands-, so bei der Schuldprüfung. Wer getreu dem herrschenden Dogma den Schuldvorwurf an die Voraussetzung bindet, dass der Täter die rechtswidrige Tat hätte vermeiden können (vereinfacht und ungenau: dass er „Willensfreiheit“ hatte), darf sich nicht damit begnügen, dass andere Menschen in vergleichbarer Lage erfahrungsgemäß die Tat nicht begangen hätten. Z.B. die sexuelle Handlung, die der Täter an einem Kind vorgenommen hat (§ 176 Abs. 1 StGB). Hat man das Dogma erst einmal akzeptiert, gibt es kein Entrinnen mehr. Entweder begründet man und überzeugt zumindest sich selbst davon, dass auch dieser Täter trotz seines sexuellen Begehrens fähig war, der Versuchung zu widerstehen und die Tat zu vermeiden, oder man geht – mit Überzeugung oder „im Zweifel“ – davon aus, dass das nur andere gekonnt hätten, dass es dem Täter aber unmöglich war. Je nachdem ist es konsequent, am Schuldstrafrecht festzuhalten oder sich davon zu verabschieden.
II. Gesetzliche Fiktion des Anderskönnens? Manche versuchen, mit einem „vielleicht“ zurecht zu kommen. „Dass es Willensfreiheit nicht gibt, ist nicht erwiesen, dass es sie gibt, freilich ebenfalls nicht.“8 Diese Non-liquet-Feststellung verbindet sich dann mit der These, 5
Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 538. Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 544, 546. 7 Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 539. 8 Hillenkamp in: Fuchs/Schwarzkopf (Hrsg.), Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, 2010, S. 391, 410. 6
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auf der Basis der herrschenden Prämisse habe sich der Gesetzgeber, was ihm freistehe, „für die Annahme von Freiheit entschieden“9; oder: er setze die Freiheit „‚pragmatisch‘ voraus“10; oder gelehrter: aufgrund seiner „Einschätzungsprärogative“ habe er eine „absolute Determiniertheit des menschlichen Handlungsvollzugs“ verneint.11 Das ist nicht einleuchtend. Wenn das herrschende Dogma auch für den Gesetzgeber das Fundament des Schuldstrafrechts wäre, dann hätte er es mit einer Vorschrift bestätigt. Diese könnte etwa lauten: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat unfähig ist, die Tat zu vermeiden.“ Oder: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat sich nicht dagegen entscheiden kann.“ Es ist offensichtlich und mit manchen Äußerungen zu belegen, dass der Gesetzgeber in der philosophischen Frage keine Stellung bezogen hat. Er ist in Sachen Willensfreiheit – als einer menschspezifischen Gegebenheit und als Schuldvoraussetzung – weder zu einer Überzeugung gelangt noch hat er den Gewaltakt einer Fiktion vollzogen, die ja nur einen Sinn gehabt hätte im Falle der Überzeugung, das Schuldstrafrecht setze ein indeterministisches Weltbild voraus. Der Gedankengang derer, die die Fiktion wahrhaben wollen, ist nicht ganz frei von Arroganz. Denn in der Sache sagen sie: Nach unserer herrschenden und richtigen Meinung kann schuldig nur werden, wer willensfrei handelt. Dem Gesetzgeber ist natürlich zu unterstellen, dass er unsere richtige Meinung teilt. Sein Schuldstrafrecht setzt mithin die Willensfreiheit voraus. Diese ist aber nicht beweisbar. Also musste der Gesetzgeber sie fingieren. – Die Arroganz liegt in der Unterstellung. Sicher ist nur, dass der Gesetzgeber im Determinismusstreit eine Überzeugung weder gesucht noch gefunden hat, aber bei rechtswidrigen Taten trotzdem unterscheidet zwischen solchen, die schuldlos, und anderen, die schuldhaft begangen werden. Das ist die Basis. Auf ihr dem Gesetz eine ungeschriebene Fiktion entnehmen, heißt die eigene Prämisse für unanzweifelbar erklären. Angemessen ist eine ganz andere Annahme: Der Gesetzgeber teilt die herrschende Prämisse nicht. Er meint vielmehr, dass es auf die Frage der Willensfreiheit, die ja vielleicht generell zu verneinen ist, nicht ankommt; dass man eine rechtswidrige Tat schuldhaft auch begehen kann, ohne sich mit Willensfreiheit für sie entschieden zu haben. Wie plausibel diese Annahme ist, das erkennt, wer an Delikte denkt, die der Täter unbewusst fahrlässig begeht. Darauf ist zurückzukommen (s.u. VI). Natürlich bereitet dieser Befund denen arge Verlegenheit, die sowohl am Schuldstrafrecht wie am Dogma des Vermeidenkönnens als Schuldvoraussetzung festhalten wollen, aber – anders als Bernd Schünemann – von diesem Vermeidenkönnen nicht überzeugt sind. Indes sollten sie sich fragen, wel-
9 10 11
Hillenkamp in: ders. (Hrsg.), Neue Hirnforschung, neues Strafrecht?, 2006, S. 85, 110. Fischer, Strafgesetzbuch, 61. Aufl. 2014, § 20 Rn. 3. Jäger GA 2013, 1, 11.
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chen Wert sie, von ihrem Standpunkt aus, einer Fiktion, einem Machtwort des Gesetzgebers, und sei es ausdrücklich gesprochen, eigentlich beimessen könnten. Wer den Schuldvorwurf ernstlich an das Vermeidenkönnen des Täters bei Tatbegehung, an seine Freiheit, sich gegen die Tat zu entscheiden, an seine „Willensfreiheit“ bindet und einräumt, dass diese Voraussetzung vielleicht niemals erfüllt ist, dass die Deterministen vielleicht recht haben, der darf sich doch nicht mit der Fiktion des Könnens, und sei es einer gesetzlichen, beruhigen. Man denke sich einmal eine solche Fähigkeitsfiktion für den Fall, dass zweifelhaft bleibt, ob der Angeklagte fähig war, den Tod des verunglückten Opfers abzuwenden. In meinem Beispiel kann vielleicht der Zwanzigjährige wirklich nicht schwimmen, vielleicht aber simuliert er nur, die Sache ist nicht aufklärbar. Wer käme da auf die Idee, zwar nicht dem Richter, wohl aber dem Gesetzgeber das „Prärogativ“ zuzugestehen, sich über den Grundsatz „in dubio pro reo“ hinwegzusetzen und festzulegen, dass angesichts des unauflöslichen Zweifels die Schuld- und Strafvoraussetzung als erfüllt zu betrachten, das Schwimmenkönnen zu unterstellen sei?
III. Zum angemessenen Verständnis des Freiheitsbegriffs Bernd Schünemann ist Indeterminist und kein Agnostiker. Er schiebt nicht, durch die Fiktion einer Fiktion, dem Gesetzgeber den Schwarzen Peter zu, sondern wagt die Behauptung des wirklichen Anderskönnens und hält für möglich, sie philosophisch und empirisch als wahr zu erweisen. Ich habe ihm widersprochen,12 sehe aber doch in der Frage der „Willensfreiheit“ einen gemeinsamen Nenner, wenn man dem Begriff, durchaus weiterhin als Schuldvoraussetzung verstanden, einen etwas anderen Sinn gibt. Stellen wir uns einmal den Fall vor, dass ein Patentanwalt durch Entführung und Freiheitsberaubung unter Druck gesetzt wird, ein ihm anvertrautes Geheimnis i.S. des § 203 Abs. 1 StGB zu offenbaren. Er schwankt lange, welches Übel er wählen soll, die Begehung der Unrechtstat oder – Schlimmeres droht ihm nicht – auf längere Zeit eingesperrt zu bleiben. Schließlich entscheidet er sich für die Geheimnisoffenbarung. Einem Indeterministen könnte so ein Fall geradezu als Paradefall dienen, an das „Freiheitsgefühl“ zu appellieren und den Determinismus als „realitätsfernes Gedankenspiel“ und „Donquichotterie“13 zu verscheuchen. Denn der Glaube an die Wahlfreiheit nährt sich ja – im Grunde ausschließlich – von der Betrachtung der Fälle bewussten Wählens zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten, die beide (oder allesamt) für den 12
Herzberg FS Achenbach, 2011, S. 157, 162 ff. So Schünemanns Bewertung der „aus der Richtung des Determinismus vorgetragenen Angriffe auf den Schuldgedanken im Strafrecht“ in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 135, 163, 166. 13
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Betroffenen „in Betracht kommen“. Einem freundlichen und ganz uninteressierten Besucher gegenüber das Geheimnis auszuplaudern wäre dem Patentanwalt, wenn ihn der Gedanke gestreift hätte, „unmöglich“ erschienen; so wie der Leser dieser Zeilen, mit einem Rasierwasser in der Hand im SBLaden stehend, sich unter normalen Umständen unfähig sähe, das Stehlen statt des Bezahlens zu beschließen. Eine Unfähigkeit der Willensbildung, die dem Indeterministen nicht in den Kram passt, denn er muss natürlich in der Theorie darauf beharren, dass der Leser mit seiner menschlichen Entscheidungsfreiheit „auch anders“, d.h. sich auch für den Diebstahl entscheiden und die Tat des Bezahlens, die zu begehen er vorzieht, vermeiden könnte. Der Fall des genötigten und wägenden Patentanwalts verschafft den Indeterministen jedoch Oberwasser. Der Geheimnisträger war in beide Richtungen motiviert, war vielleicht schon fast entschlossen, die Geheimnisoffenbarung unter Inkaufnahme weiterer Gefangenschaft abzulehnen, und hatte durchaus das Gefühl, die Tat, die zu begehen er dann doch vorzog, auch vermeiden zu können. Er hatte das vom Indeterministen immer wieder beschworene „subjektiv-individuelle Freiheitserlebnis“14, denn dieses entfällt nicht etwa deshalb, weil nur Schmerzliches zur Wahl stand. Wer wie Bernd Schünemann philosophisch der Wahlfreiheit Raum gibt,15 kann diese Freiheit natürlich nicht auf gleichgültige oder erfreuliche Alternativen begrenzen; wie etwa beim Bestellen eines Taxis die Wahl des einen oder anderen Unternehmens oder im Restaurant die Entscheidung für diesen oder jenen Rotwein. Als frei gefasst muss der Indeterminist genauso den Entschluss des Patienten betrachten, in eine riskante Operation einzuwilligen, nachdem er lange geschwankt hat, und die Entscheidung des Patentanwalts, der um seiner Freiheit willen schweren Herzens das Geheimnis preisgibt. Aber nun betrachte man diesen Fall doch einmal unter dem Aspekt strafrechtlicher Verantwortlichkeit! Wir haben hier eine bewusste, wohlüberlegte, im Gefühl der Freiheit „getroffene Entscheidung für das Unrecht“. Natürlich kommt sie unter Druck zustande, aber ihn gleicht annähernd der Gegendruck aus, den die starke Rechts- und Berufspflicht erzeugt. Der Patentanwalt erwägt ja ernstlich, auf die Befriedigung seines Freiheitsdrangs zu verzichten und seine gefühlte Fähigkeit zur Normbefolgung mit einem entschiedenen „Nein“ zu nutzen. Haargenau passt auf seine Situation, was Bernd Schünemann i.S. seiner sprachphilosophischen Theorie für den Idealfall klaren Erkennens zur Begründung von Freiheit und ggf. Schuld sagt: „Kants berühmtes Diktum ‚Du kannst, denn du sollst‘ […] kann in diesem 14
Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 547. Soweit ich sehe, beschränkt sich diese Annahme auf den Menschen, vielleicht sogar auf den Homo sapiens. Andere Primaten, Nashörner oder Raben gelten unstreitig bei allen Handlungs- und Unterlassungsentschlüssen ungeachtet ihrer Intelligenz als streng determiniert. 15
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Sinne als die empirische Aussage verstanden werden, daß der bewußte Verzicht auf die Befriedigung eines Triebbedürfnisses deshalb möglich ist, weil die im Bewußtsein hergestellte Einsicht in das Verbot eine vom Bewußtsein gesteuerte Normbefolgungshandlung ermöglicht […].“16 Doch siehe! Ob tatsächlich oder nur im Gefühl gegeben, die Wahlfreiheit und das Auchanders-Können des Täters, angeblich doch im Strafrecht fundamental wichtig, interessieren bei der Schuldprüfung gar nicht. Vielmehr stellt sich allein die Frage der Subsumtion unter § 35 Abs. 1 StGB, also ob dem Gesetz unter den gegebenen Umständen der Druck des zur Tat treibenden Motivs genügt, die Schuld zu verneinen. Durchaus mag man sagen, eine „Freiheit“ des Täters sei für die Schuldfrage relevant. Wäre er bei der Bildung seines Willens, das Geheimnis zu offenbaren, frei gewesen von dem Druck des Begehrens, seine Gefangenschaft zu beenden, dann gäbe es keinen Zweifel an seiner Schuld. Denn allein § 35 StGB kommt als schuldverneinende Vorschrift in Betracht und die dort gezogenen Grenzen sind entscheidend. Grundsätzlich genügt danach zur Schuldausschließung auch die Motivierung des Täters durch eine gegenwärtige, nicht anders als durch die Tatbegehung abwendbare Gefahr für die „Freiheit“. Das Gesetz entscheidet! Vor 1975 hätte diese Motivierung nicht genügt.17 Blicken wir rasch noch auf zwei andere Vorschriften! Ein Dreizehnjähriger geht nachts zum Haus seines Mathematiklehrers, wo dessen Auto auf der Straße steht, kämpft mit sich, ob er es wirklich tun soll, und zersticht schließlich wie geplant alle vier Reifen. Er hätte es auch lassen können, sagen die Indeterministen, die ihm seine „Willensfreiheit“ natürlich nicht erst ab null Uhr an seinem 14. Geburtstag zuschreiben. Aber für das Gesetz spielt auch hier diese „gefühlte“ Freiheit nicht die geringste Rolle. Vielmehr kommt es ihm an auf das Freisein von Ungestüm und Hemmungsschwäche der frühen Lebensjahre. Ob man dem Unrechtstäter diese Freiheit absprechen oder zuschreiben muss, richtet sich beim Kind nach einer starren und beim Jugendlichen nach einer flexiblen Regel: § 19 StGB und § 3 JGG. Hier ist § 19 StGB entscheidend, der Junge begeht die rechtswidrige Sachbeschädigung (§ 303 StGB) schuldlos.
IV. Das positivistische Verständnis „Freiheit als Deliktsvoraussetzung“: Wann sieht das Gesetz sie gegeben und erfüllt? Nicht, wenn der Täter bei Begehung der Tat „Wahlfreiheit“ hatte oder gefühlt hat, denn danach fragt es nicht. Vielmehr ist die Willensfreiheit, auf die es ankommt, dann zu bejahen, wenn der Täter bei der Willensbildung, 16 17
Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 549, Fn. 39. Vgl. §§ 52, 54 StGB a.F., die eine „Gefahr für Leib oder Leben“ voraussetzten.
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ganz allgemein gesprochen, frei war von bestimmten Faktoren der Beeinflussung. Es geht um antreibende und enthemmende Faktoren, die nach allgemein-menschlichem Maß und nach gesetzlicher Festlegung die Tat verzeihlich erscheinen lassen; etwa Lebensgefahr, kindlich-jugendliche Unreife, Geisteskrankheit, Unkenntnis des Verbotes. Den Gegensatz bilden Faktoren, die dem individuellen Charakter anzulasten sind, wie Pädophilie, Satyriasis, Donjuanismus, Sadismus, Habgier oder Rachsucht. Beispielhaft: Nicht die charakterliche Jähzornsveranlagung und die akut hervorbrechende Wut sind es, die den Täter unfrei machen. Darum handelt auch der cholerischste und erregteste Lehrer nach rechtlichem Maß in Freiheit, wenn er dem 13-jährigen Schüler die Faust ins Gesicht schlägt. Wohl aber macht nach gesetzlicher Festlegung die Unreife des kindlichen Alters unfrei, sodass im umgekehrten Fall der Schüler schuldlos handelt. Dieses positivistische Verständnis des Begriffs „Willensfreiheit“ kann im Einzelfall, wie das Beispiel zeigt, das herkömmliche Verständnis nahezu umkehren. Denn es kann ja sein, dass der Schüler gezögert und sich von seinem Gewissen gehemmt gefühlt hat, die ungeheuerliche Tat zu begehen, während umgekehrt dem Lehrer „die Pferde durchgingen“ und er „einfach nicht an sich halten konnte“; die Alltagssprache schreibt dann das Vermeidenkönnen dem schuldunfähigen Schüler zu und lässt die schuldhaft begangene Tat des Lehrers als ein unvermeidbares Geschehen erscheinen. Damit deutet sich an, dass ich – aus meiner Sicht! – der (gefühlten) Wahlfreiheit nicht einmal den bescheidenen Platz einer conditio sine qua non einräumen kann. Dass sie bei gegebener Unrechtstat keine zureichende Bedingung der Schuld ist, zeigen sowohl das Beispiel des Patentanwalts wie das des Schülers. Muss der Indeterminist sich aber nicht sogar eingestehen, es sei mit dem geltenden Recht bereits unvereinbar, für das „Unwerturteil der Schuld“, wie es der BGH tut, auch nur die notwendige Bedingung aufzustellen, dass der Täter sich in Freiheit „für das Unrecht entschieden“18 hat? Für Bernd Schünemann „steht die Freiheit eines normalen Menschen, sich in einer normalen Situation so oder so und damit auch rechtskonform zu verhalten, […] als Teil der gesellschaftlichen Realität fest“, und zwar einer „durch Sprache konstituierten, für alle sprachgebundenen gesellschaftlichen Verrichtungen unhintergehbaren Realität“.19 Aber bietet uns die Sprache nicht schon für das affektive Vorsatzdelikt des Lehrers weit eher Ausdrucksformen an, die das Zuschlagen als eine unfreie Handlung hinstellen, als ein „unbeherrschtes“ Verhalten des Täters, dem die Hand „ausgerutscht“ ist?
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BGHSt 2, 194, 200. Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 549.
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V. Kein Vermeidenkönnen ohne Vermeidemotiv – zur Relevanz der Unrechtseinsicht Und wie nun erst, wenn ein Täter nicht einmal ahnungsweise oder unterbewusst erfasst, dass er eine verbotene Tat begeht! Schünemann will das kantische „Du kannst, denn du sollst“ als eine „empirische Aussage“ mit den Worten einleuchtend machen, dass bei einem Triebbedürfnis der „bewußte Verzicht […] deshalb möglich ist, weil die im Bewußtsein hergestellte Einsicht in das Verbot eine vom Bewußtsein gesteuerte Normbefolgungshandlung ermöglicht“20. Dem kann auch der Determinist zustimmen – aber nur für den Fall, dass der Getriebene tatsächlich verzichtet und die Norm tatsächlich befolgt. Denn wer ein Verbot erkennt und es deshalb befolgt, beweist eben dadurch, dass ihm seine Einsicht die Befolgung „ermöglicht“ hat. Was man tatsächlich vermeidet, war man zu vermeiden auch fähig. Schünemann will aber sagen, dass man zur Vermeidung auch fähig war, wenn man trotz Einsicht in das Verbot die verbotene Tat begeht. Das ist die Lehre des Indeterminismus, die der BGH in seinem bekannten Grundsatzurteil bestätigen zu müssen geglaubt hat: Wer „sich für das Unrecht entschieden hat“, verdient im Regelfall den Schuldvorwurf, weil „er sich rechtmäßig (hätte) verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“, weil er „befähigt“ war, „das rechtlich Verbotene zu vermeiden“21. War das auch der Pastor, der in christlicher Verantwortung und eingedenk der Sprüche Salomos und des Hebräerbriefs seinen 10-jährigen Sohn wegen dessen Übeltat verprügelt in der Überzeugung, kraft seines väterlichen Züchtigungsrechtes auch nach weltlichem Gesetz und Recht so handeln zu dürfen? Wenn es die „im Bewußtsein hergestellte Einsicht in das Verbot“ ist, die die „vom Bewußtsein gesteuerte Normbefolgungshandlung ermöglicht“ (hier den Verzicht auf das Schlagen), dann muss man in casu die Normbefolgung für unmöglich befinden und damit jedenfalls für Fälle des Verbotsirrtums den Er-konnte-nicht-anders-Standpunkt einnehmen. Das ist ganz in meinem Sinn, und bezogen auf den konkreten Fall kann ich der Begründung, die sich bei Schünemann andeutet, nur zustimmen. Der Pastor war motiviert, den Sohn erzieherisch zu bestrafen. Er hätte schon, dank rechtzeitiger Belehrung über § 1631 Abs. 2 BGB, die „Einsicht in das Verbot“ erlangen müssen. Das hätte ein Gegenmotiv geschaffen und dem Pastor vielleicht „die Normbefolgung ermöglicht“. Mit dieser Betonung der „Einsicht in das Verbot“ als Voraussetzung des Vermeidenkönnens scheint mir Schünemann etwas Entscheidendes anzuerkennen: Damit es zum Vermeiden eines bestimmten Verhaltens kommen kann, bedarf es eines Vermeidemotivs. Das wird besonders
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Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 549 Fn. 39. BGHSt 2, 194, 200.
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deutlich, wenn wir nach der Vermeidbarkeit eines korrekten und wünschenswerten Verhaltens fragen. Wer seine schöne Nachbarin verehrt, ist nicht im Geringsten motiviert, ihren Gruß unerwidert zu lassen oder im Vorübergehen ihr Auto zu zerkratzen. Darum kann er das korrekte Verhalten nicht vermeiden. Das ungehörige (das Nichtgrüßen und das Zerkratzen) mag er sich zum Spaß einmal ausmalen, aber er kann es nicht beschließen und ausführen. Ausführen könnte er es natürlich ganz leicht, wenn er es beschlösse, aber das Beschließen eben ist ihm unmöglich – unter normalen, nicht unter allen Umständen! Mit Geld z.B. ist auch der korrekteste Bürger zu manchem zu bewegen. Der Vergleich hinkt natürlich, aber dem Pastor ist ein maßvolles Züchtigen, was dem Nachbarn das Grüßen. Ohne die „Einsicht in das Verbot“ fehlt dem Pastor jedes Motiv, das Schlagen, welches er für geboten hält, zu unterlassen. Also keine Möglichkeit der „Normbefolgung“, keine Schuld, obwohl wir doch diesem akademisch gebildeten Täter gewiss nicht zubilligen, dass er seinen Verbotsirrtum i.S. des § 17 S. 1 StGB „nicht vermeiden“ konnte? Schünemann ist viel zu sehr auch praktischer Jurist, als dass er aus einer philosophischen Theorie eine Straflosigkeit folgern würde, die das Gesetz offensichtlich nicht will. In der Tat glaube ich, demselben Beitrag, der theoretisch die „Einsicht in das Verbot“ als Voraussetzung der Normbefolgungsmöglichkeit nennt, für die praktische Fallbeurteilung etwas anderes entnehmen zu müssen: Der Autor würde im Fall des Pastors die Schuld nicht verneinen. Denn er streift sowohl den „Verbotsirrtum“ wie ganz am Ende den „Erlaubnistatbestandsirrtum“22, ohne für diese Fälle generelle Straflosigkeit einzufordern; aber im einen wie im anderen Fall fehlt, auch wenn wir „Vermeidbarkeit“ bzw. „Fahrlässigkeit“ konstatieren, die „Einsicht in das Verbot“! Durch die Vermeidung von Konsequenzen korrigiert sich hier stillschweigend die Theorie – aus Achtung vor dem Gesetz, welches nun einmal bestimmt, dass der Täter auch ohne „Einsicht in das Verbot“, auch ohne „Entscheidung für das Unrecht“ schuldig und strafbar werden kann.
VI. Unbewusste Fahrlässigkeit und strafrechtliche Schuld Und es bestimmt dies sogar für Fälle, in denen der Täter, anders als der Pastor, sich nicht einmal einer Rechtsgutsbeeinträchtigung bewusst ist und seinem Verhalten keinerlei soziale Erheblichkeit beimisst. Gemeint sind selbstverständlich die Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit. Ich las einmal von einem Vater, dem die fahrlässige Tötung seines Kindes vorgeworfen wurde. Er hatte den Säugling im Auto mitgenommen, um ihn auf dem Weg
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zur Arbeit in einer Kindertagesstätte zu übergeben. Das Kind lag in einer Tragetasche auf dem Rücksitz und schlief. Von anderen Dingen abgelenkt, vergaß der Vater es, fuhr an der KITA vorbei und schloss auf dem Parkplatz seiner Firma gedankenlos den Wagen ab. Der Säugling blieb unbemerkt und kam bei starker Sonne in der stickigen Hitze des Autos ums Leben. – Beim Pastor mag man sich noch mit der Feststellung beruhigen, er habe immerhin gewählt und sich bewusst entschieden: gegen die Verschonung des Sohnes und für dessen körperliche Misshandlung. Der Vater des Säuglings aber hat schlicht vergessen – was ihm freilich nicht hätte passieren dürfen. Entschieden hat er sich weder für ein Unrecht noch für ein irgendwie das Kind betreffendes Verhalten. Trotzdem ist dahin gehend zu urteilen, dass er „durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht“ hat und einer fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) schuldig ist.23 Man sieht: Die Lehre, dass die willensfreie Entscheidung für das Unrecht eine Schuldvoraussetzung sei, kann gar nicht die Grundlage des geltenden Strafrechts sein. Sie ist viel zu eng zugeschnitten auf die mit Überlegung und Unrechtsbewusstsein begangenen Straftaten. Es begegnet uns hier, wie so oft, der Fehler, bei der Betrachtung von Straftaten, sei es schlechthin oder in einem speziellen Bereich, primär auf die „ganz klaren“ Fälle im Zentrum zu blicken und von daher Definitionen oder eine „Wesensbestimmung“ vorzunehmen24, die dann naturgemäß auf die „Auch-noch-Straftaten“ am Rande des betrachteten Feldes nicht passen. Nehmen wir, pars pro toto, die Tötungsdelikte! Wenn ich erkennen will, was bei allen die Schuld des Täters ausmacht, d.h. worin für die Schuld das Allgemeingültige liegt, darf ich es natürlich nicht im qualifizierten Delikt des Totschlags (§ 212 StGB) suchen, sondern muss zunächst auf das Grunddelikt (§ 222 StGB) blicken25 und hier wieder die Schwachform (unbewusste Fahrlässigkeit) ins Auge fassen. Ich finde dann keine „willensfrei“ getroffene „Entscheidung“ für den Tod eines Menschen (die man schon für die Fälle des bedingten Vorsatzes bestreiten kann), sondern ich muss mich mit weniger begnügen. Die strafrechtliche Schuld eines Tötungstäters besteht im Kern darin, dass er rechtswidrig (= sorgfaltspflichtwidrig) den Tod eines Menschen verursacht, ohne dass eine Gesetzesvorschrift ihm eine Unfreiheit zubilligt, 23 Zur Begründung der Fahrlässigkeit in Fällen des Vergessens treffend Jakobs FS Kühl, 2014, S. 281, 293. 24 Beispiel: An der Absicht (zu töten, zu zerstören) orientiert ist die Definition des Vorsatzes, wonach der Vorsatztäter um die Tatbestandsverwirklichung nicht nur „wissen“, sondern sie auch „wollen“ muss. Es gibt aber unstreitig Vorsatzdelikte, deren Täter den drohenden Deliktserfolg keineswegs wollen und sogar Vorkehrungen treffen, ihn hintanzuhalten („bedingter“ Vorsatz). 25 Dieses Verhältnis zwischen dem einen und dem anderen Delikt ist so umstritten wie selbstverständlich. Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, verletzt wissentlich die Sorgfaltspflicht, die er seinen Mitmenschen zur Bewahrung ihres Lebens schuldet. Die Annahme, der Totschläger habe diese Pflicht nicht verletzt, sondern erfüllt, ist geradezu absurd.
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die seine Schuld entfallen lässt (z.B. akute Lebensgefahr, kindliche Unreife oder schwere Demenz, §§ 35, 19, 20 StGB). Die „Einsicht in das Verbot“ und die „Entscheidung für das Unrecht“ des ursächlichen Verhaltens, die wir in Fällen der bewussten Fahrlässigkeit und des Vorsatzes feststellen, steigern die Schuld, ohne ihre Voraussetzung zu sein und ohne ihr „Wesen“ auszumachen.
VII. Deliberation als Freiheits- und Schuldvoraussetzung? Müssen wir nun die Feststellung strafrechtlicher Schuld durch das Nadelöhr der äußerst fragwürdigen Annahme zwängen, dass der Täter die Freiheit hatte, die Tat zu vermeiden? Müssen wir deshalb ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir daran nicht glauben und trotzdem am Schuldstrafrecht festhalten? Die Zahl derer, die das behaupten, ist Legion. „In der Tat“, lesen wir etwa bei Udo Ebert, „ist als Voraussetzung für strafrechtliche Verantwortlichkeit und damit auch für den solche Verantwortlichkeit begründenden Schuldvorwurf zu fordern, dass der Täter den Vorwurf und seine strafrechtlichen Konsequenzen vermeiden konnte; und das bedeutet: dass er die Freiheit hatte, anders zu entscheiden und zu handeln als er entschieden und gehandelt hat.“26 Eine Sicht, deren vordergründige Plausibilität Arthur Kaufmann zu dem befremdenden Satz verleitet hat, die Dinge so zu sehen sei „so unumstößlich richtig, dass es eines Beweises nicht bedarf“.27 Das haben in alter Zeit die Philosophen auch vom geozentrischen Weltbild gesagt. Aber wenn es auf „die Freiheit“ tatsächlich ankommen sollte: Wann ist sie anzunehmen? Bei besonderer „Beteiligung des Ich“, antwortet Ebert, bestehend „in Deliberation unter Suspension der Befriedigung unmittelbarer Wünsche, in Mit-sich-zu-Rate-Gehen, Klären und Abwägen von Gründen, Bewerten, Stellungnehmen und Wählen.“28 Dazu ist mehreres zu sagen. Erstens: Selbstverständlich kann man sich hinsichtlich derjenigen Entscheidungen und Handlungen, die aus „Deliberation“, Besinnung, Abwägung usw. hervorgehen, terminologisch darauf einigen, dass sie „in Freiheit“ oder „willensfrei“ getroffen und ausgeführt werden; z.B. der vom Professor P nach Prüfung der Regen- und Windstärke zögernd gefällte Beschluss, auf den Spaziergang lieber zu verzichten und ins Haus zurückzukehren. Aber eine solche Freiheitsbehauptung drückt keine Erkenntnis aus. Aus der Besonnenheit einer Entscheidung kann man nicht ableiten, wie diese zustande kommt. Dass sie dank ihrer Besonnenheit der
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Ebert FS Kühl, 2014, S. 137, 155. Kaufmann Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 192. Ebert FS Kühl, 2014, S. 137, 150.
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Zwangsherrschaft des Kausalgesetzes enthoben sei, ist ein abwegiger Gedanke. P’s Beschluss geht ja nicht aus einem metaphysischen Kausalitätsvakuum hervor. Ihn verursacht ein Motiv, d.h. im hier gegebenen Widerstreit dasjenige, welches zuletzt stärker wirkt. Dies tut der Wunsch, von Wind und Regen verschont zu bleiben, und dieses stärkere Motiv muss siegen, es zwingt zur Umkehr, wie der Beweggrund des Rückschlags im Tennis den vorwärts strebenden Ball zum Rückflug zwingt. Darum ist es unsinnig zu sagen, P hätte sich doch ebenso gut für das Gegenmotiv und den Spaziergang entscheiden können, dies habe ihm freigestanden. Das Faktum der Rückkehr ins Haus zeigt, dass unter den jetzt und hier gegebenen Umständen der Vorwärtsdrang des P – wie der des Tennisballs – keine hinreichende Kraft hatte. „So kann es auf Messers Schneide stehen“, habe ich in einem früheren Beitrag gesagt, „welche Kraft sich durchsetzt, aber die, die es tut, tut es mit Notwendigkeit. Wie beim Baum, den der Druck des Sturmes motiviert, sich hinzulegen, und dessen Beharrungsdrang dagegenwirkt. Wenn der Baum am Ende nachgibt und sich hinlegt, dann erweist sich der Druck als das bestimmende (= determinierende) Motiv, und niemand wird sagen, der Baum habe die Freiheit gehabt standzuhalten, so sehr er doch sichtbarlich darum gerungen hat.“29 Zweitens: Vom Verstand geleitete, aus Besinnung und Abwägung hervorgehende Entscheidungen gibt es auch bei Tieren. So mag es sein, dass Ps alter Hund sich im Haus noch gefreut hat, draußen aber sich weigert und für die Rückkehr entscheidet, weil es ihm zu nass und kalt ist. Welche anthropologische Anmaßung, bei gleichen Gefühlen und Wünschen das eine Säugetier unerbittlich der Zwangsläufigkeit von Ursache und Wirkung, von Motiv und Entscheidung, unterworfen zu sehen, das andere aber in philosophischem Wunschdenken davon freizusprechen! Wie denkt man sich die Sache im Einzelnen? Genoss P seine Willensfreiheit auch schon als vierjähriges Kind? Und erfreute sich ihrer auch schon der Neandertaler? Hier kann nur die Willkür Grenzen ziehen, weil das Einzugrenzende nichts objektiv Gegebenes ist. Der Journalist Jürgen Zimmer hat einmal in der ZEIT seinen gesunden Menschenverstand fragen lassen, „was eigentlich zur Annahme berechtigt, seelische Vorgänge unterlägen anderen Gesetzmäßigkeiten als die gesamte übrige Natur. Freiheit des Willens würde doch bedeuten, dass der Mensch aus dem allgemeingültigen Kausalitätsprinzip herausspringen könnte, weil die freie Entscheidung ihrer Definition nach eine Wirkung ohne Ursache wäre“.30 Drittens: die unbewusste Fahrlässigkeit. Der Vater in meinem Beispiel „deliberiert“ nicht und trifft keine „Entscheidung“, macht sich aber trotzdem einer fahrlässigen Tötung schuldig. Es kann also nicht richtig sein, für
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Herzberg FS Kühl, 2014, S. 259, 279 f. DIE ZEIT Nr. 25 v. 22. Juni 1962.
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die strafrechtliche Schuld ein bewusstes Sichentscheiden des Täters vorauszusetzen. Jedenfalls hier, wo doch unstreitig nach gesetzlicher Festlegung (§ 222 StGB) strafrechtliche Schuld entsteht, kann schlechterdings keine sinnvolle Rede sein von jener indeterministischen Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Täters, die ihn vermeidefähig gemacht habe. Wer sein Kind auf dem Rücksitz vergessen hat, kann nicht aus dem Nichts seines Vergessenhabens heraus die Entscheidung treffen, plötzlich an das Kind zu denken und umzukehren. Das Kind muss ihm einfallen; das kann jederzeit geschehen, aber er kann nicht darüber entscheiden, ob es geschieht. Wie wir auch sonst Menschen oft dafür verantwortlich und ihnen daraus einen Vorwurf machen, dass sie etwas nicht wissen und sich an etwas nicht erinnern. Denken wir an eine mündliche Prüfung im juristischen Examen! Je nachdem, ob der danach Befragte weiß, was § 935 BGB mit seinen beiden Absätzen anordnet, wird er gelobt oder getadelt. Obwohl man die Erinnerung, wenn sie fehlt, nicht herbeirufen kann – man muss sich erinnern, der Kandidat an die Vorschrift, der Vater an das Kind. Andernfalls wird getadelt – nicht wegen einer falschen Entscheidung, sondern wegen eines Defizits an Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Ein Vorwurf, der, gegen den Vater erhoben, auch im Falle der bösen Absicht berechtigt bleibt. Denn wer sein Kind ermordet, erfüllt keineswegs sorgfältig und gewissenhaft seine Vaterpflichten.
VIII. Ergebnis Meine These lautet: Die Freiheit, die eine Deliktsvoraussetzung bildet, besteht nicht in einer Wahl- und Entscheidungsfreiheit, die den Straftäter fähig macht, das Delikt zu vermeiden. Diese Freiheit und Fähigkeit hat der Straftäter nicht. Es hat sie nur, wer nicht Straftäter wird, d.h. wer das Delikt tatsächlich vermeidet, etwa indem er der Versuchung, ein Kind zu missbrauchen, widersteht.31 Voraussetzung jeder Straftat ist vielmehr eine Freiheit i.S. des Freiseins von Gegebenheiten, die für die Willensbildung erheblich sind und die das Gesetz festlegt oder umschreibt. So muss der Täter einer rechtswidrigen Tat frei sein von gesetzlich definierter kindlicher Unreife; ist er es nicht (weil bei Begehung noch keine vierzehn), kann seine Tat kein Delikt sein.
31 Eine Freiheit der Vermeidung, die natürlich mit Unfreiheit verbunden ist. Auch der Korrekte hat keine Wahl, was allgemein gilt, aber bei Fehlen von Versuchung besonders deutlich wird. Drückt mir jemand einen Stein in die Hand mit der Aufforderung, ihn seinem Feind an den Kopf zu werfen, dann verfüge ich nur über die „Einbahnfreiheit“, es nicht zu tun. Den Wurf zu beschließen und auszuführen bin ich – unter gewöhnlichen Umständen! – unfrei und unfähig. Ob Indeterministen und Libertarier das anders sehen, ist mir nicht klar.
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Bernd Schünemann sieht einen fundamentalen Einwand gegen meinen Standpunkt darin, dass „in einem deterministischen System“ die Tatbegehung beweise, dass „die Strafandrohung in concreto zwecklos war“,32 weil der Täter sowieso nicht anders konnte. Ich antworte: So mag man es sehen; aber bewiese dann die Tatbegehung in einem indeterministischen System nicht genau dasselbe? Die Angst vor der Sanktionsdrohung, um ein Beispiel zu bilden, schafft für die Frau im Bus ein Motiv, ihr Ticket zu entwerten. Tut sie es nicht, dann hat sich das gegenläufige Motiv, Geld zu sparen, durchgesetzt. Diese Feststellung muss jeder treffen, ob er an die Wahlfreiheit glaubt oder sie bestreitet. Nur dass der Gläubige behauptet, die Frau hätte sich auch anders entscheiden können. Aber eine Möglichkeit der Normbefolgung, die ungenutzt bleibt, ist für die Gesellschaft genauso wenig wert, genauso „zwecklos“ wie eine Möglichkeit, die gar nicht besteht. Es läuft im einen wie im anderen „System“ aufs selbe hinaus: Die Sanktionsdrohung schafft beim Bedrohten ein Motiv und für die Gesellschaft die Hoffnung, dass es sich durchsetzt. Der Unterschied ist ein rein philosophischer: Setzt es sich nicht durch und fährt die Frau schwarz, dann sagt Schünemann, sie habe sich auch anders entscheiden können, während ich das bestreite. Denn ich sehe auch den Menschen dem Kausalgesetz unterworfen, wonach quidquid fit necessario fit. So, wie die Frau unter den gegebenen Umständen (Charakter, Einkommen, Risikoeinschätzung) motiviert war, bewog der Vorteil der Ersparnis sie stärker als alles, was für das Bezahlen sprach. Das stärkere Motiv aber muss über das schwächere siegen, wie z.B. beim Hund, der zur verlockenden Hündin läuft, obwohl sein Herr ihm zu bleiben befiehlt; er kann nicht anders, d.h. er kann sich nicht für die Normbefolgung entscheiden. Das sieht Bernd Schünemann anders – zwar nicht für Hunde, wohl aber für manche Menschen und manche Situationen, worin sie zu entscheiden haben.33 Er meint, dass auf deterministischer Grundlage das Schuldstrafrecht zusammenbräche. Dem setze ich meine Überzeugung entgegen: Es verhält sich genau umgekehrt. Wo strafrechtliche Schuld aus einer Entscheidung hervorgeht, da muss die Entscheidung unfrei, d.h. von einem Motiv verursacht sein, in strenger Bindung an das Kausalgesetz. Andernfalls wäre sie ein Wun-
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Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 546, Fn. 29. Die Einschränkungen, die die Indeterministen ihrer Behauptung der menschlichen Willensfreiheit geben, sind ebenso beträchtlich wie verschwommen. Ich vermute, dass diese Freiheit nach der Geburt eine ungewisse Zeit lang und später bei vielen konkreten Entscheidungen und manchen seelischen Störungen fehlen soll. Genaueres erfährt man nirgends. Schünemann behilft sich mit der Qualifizierung durch das Wort „normal“: „die Freiheit eines normalen Menschen, sich in einer normalen Situation so oder so und damit auch rechtskonform zu verhalten“, FS Lampe, 2003, S. 537, 549. Nun gut; aber hatte z.B. der „normale“ Vierjährige, der ein Streichholz entflammt, auch die Freiheit dem Verbot seiner Mutter zu gehorchen? 33
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der und könnte dem, in dem sie sich ursachlos ereignet, nicht als von ihm hervorgebracht zugerechnet werden.34 Mit dem Jubilar, meinem Freund und Weggefährten, bin ich mir einig im Willen, am geltenden Schuldstrafrecht festzuhalten.35 Aber auf dieser Basis muss, damit die Schuld des Unrechtstäters bejaht werden kann, zur kausalgesetzlichen Unfreiheit, die apriorisch feststeht und uns vor der Nichtzurechenbarkeit des Wunders bewahrt, eine strafgesetzliche Freiheit kommen. Insoweit erst wird faktisch ermittelt und juristisch subsumiert. Bernd Schünemann ist ein Jurist von echtem Schrot und Korn. Sind wir auch Kontrahenten im Determinismusstreit, so wird er mir doch gewiss darin zustimmen, dass keine Philosophie, sondern allein das Gesetz entscheidet, wann hinreichende Freiheit und strafrechtliche Schuld anzunehmen sind.
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Näher dazu Herzberg, ZStW 124 (2012), 12, 59; ders. FS Kühl, 2014, S. 259, 279 f. Es fehlt mir der Raum, mich angemessen auseinanderzusetzen mit der Kritik am Schuldstrafrecht und besonders mit Tatjana Hörnles Schrift „Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf“, 2013. 35
Über den „Ausnahmevorbehalt“ zu § 25 I 1. Alt. StGB Thomas Hillenkamp I. Roma locuta? § 25 I 1. Alt. ordnet seit 1975 an, dass als Täter bestraft wird, wer die Straftat selbst begeht. Hiermit sollte dem „Gedanken der Tatherrschaft Raum“ gegeben werden. Dass dadurch „eine gewisse Unsicherheit in der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme bestehen“ bleibe, wurde eingeräumt, die Frage, ob wer „alle Tatbestandsmerkmale in seiner Person verwirklicht …, nicht etwa wegen fehlenden Täterwillens (nur) Teilnehmer sein“ könne, davon aber ausgenommen; der Text mache „deutlich, daß, wer die Tat selbst begeht, stets Täter“ sei.1 Bernd Schünemann teilt diesen Standpunkt. Für ihn ist „mit Vorbedacht gegen die extrem subjektive Theorie“ entschieden und weder der Gesetzgebungsgeschichte noch dem Wortlaut „der geringste Anhaltspunkt für einen Ausnahmevorbehalt“ zu entnehmen.2 „Größere oder geringere Schuld“ seien allein „bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.“ Selbst bei Mord, wo das nicht möglich sei, sei es „nach dem neuen § 25 Abs. 1 nicht mehr zulässig, die Täterschaft aus Gründen der Schuldminderung in eine Beihilfe umzudeuten.“3 Bevor man der Rechtsprechung empfiehlt, sich dem anzuschließen, lohnt es sich noch einmal zu fragen, ob es für die Praxis nicht doch sinnvoll ist, sich „ein letztes Schlupfloch offen“ zu halten.4 Ergäbe sich hierfür etwa aus „Gerechtigkeits-“5 oder aus Gründen der Tatbestandsfassung Bedarf, wäre zu entscheiden, ob ihm durch eine Ausnahme zu § 25 I oder ob ihm auf anderen Ebenen zu begegnen ist. Dem soll hier nachgegangen und dazu noch ein1
E 1962, S. 147 f., 149 zu § 29; ebenso AE AT, 2. Aufl. 1969, S. 67 zu § 27. Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 54. 3 LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 57, 58; für ihn ist das weitaus h.M., s. dort Fn. 107; ebenso Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 388 ff. 4 Für „extreme Ausnahmefälle“ so BGH NStZ 1987, 224 f.; abl. LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 53. 5 BGHSt 18, 87, 93 verwirft den Tatherrschaftsgedanken als „eine bedenkliche Vergröberung und damit die Gefahr, nicht mehr jeden Tatbeteiligten möglichst gerecht beurteilen zu können“; s. dazu auch Roxin in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. IV, 2000, S. 177, 180, 185 f.; OGHBZ 1, 95, 102. 2
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mal die einschlägige Rechtsprechung aufgezeigt werden. Dabei wird die Zeit vor 1975 nicht ausgespart. Denn wenn auch § 25 I 1. Alt. eine gewichtige Zäsur enthält, hat sie die Frage doch nicht erst hervorgebracht. Auch zuvor war das Dogma von zwingender Täterschaft bei eigenhändiger Tatbestandsverwirklichung schon weit verbreitet.6
II. Causa finita? Die Rechtsprechung bietet zu unserer Frage ein vierteiliges Bild. Als Geburtsstunde des angewendeten Ausnahmevorbehalts wird verbreitet der Badewannenfall 7 angesehen, in dem das RG dem LG vorwarf, es habe „die Beschwerdeführerin nur deshalb als Täterin … schuldig erkannt, weil sie die tatbestandsmäßige Handlung selbst ausgeführt“ hatte. Nicht das, sondern ob sie „die Ausführungshandlung mit Täterwillen unternommen“ habe, gebe den im Fall auf Beihilfe weisenden Ausschlag. Dass diese Zuspitzung der subjektiven Theorie vermied, „das junge Mädchen dem Henker zu überantworten“, war ihr Motiv.8 Dass die gemachte Ausnahme neu war,9 ist aber nicht richtig. Denn dafür, dass das LG „der ständigen Rechtsprechung des RG“ widersprach, hätte das Gericht fünf Entscheidungen anführen können, in denen es den vollen Tatbestand Ausführende zu Gehilfen herabgestuft hatte. Und dabei handelte es sich keineswegs um extreme Ausnahmesituationen, sondern um Fälle ganz banaler Alltagskriminalität.10 An diese Rechtsprechung hat der OGHBz angeknüpft. Er erklärte 1948 einen die Tötung verlangenden H in einem Erschießungsfall zum Täter, weil er die Tat als eigene gewollt habe, den W, „der selbst den tödlichen Schuß abgegeben, also die Ausführungshandlung selbst vorgenommen“ hatte, aber nur zum Gehilfen, weil ihm ein solcher Wille fehlte. 11 Ebenso entschied der OGH in zwei Fällen der „Tötung von Geisteskranken auf Grund des Hitlererlasses vom 1.9.1939“.12 Welzel stimmte zu, weil die Tatherrschaft nicht der ausführende Gehilfe, sondern „der befehlende Vorgesetzte“ habe,13 Hartung
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S. nur Frank StGB, 18. Aufl. 1931, 3. Abschnitt, II. vor §§ 47 ff.; Kohlrausch/Lange StGB, 43. Aufl. 1961, 3. Abschnitt, Vorbem. I zu § 47. 7 RGSt 74, 84. 8 Hartung JZ 1954, 430. 9 Nahegelegt durch Graf zu Dohna DStR (= GA) 1940, 120 und Klee ZAkDR 1940, 188; zur Relativierung im Text s. Sax JZ 1963, 329, 331. 10 S. RGSt 31, 80; 42, 151; 44, 69; 57, 274; RG HRR 1937, 131; dazu abl. Kohlrausch FS Bumke, 1939, S. 39, 44; Lange Der moderne Täterbegriff und der deutsche Strafgesetzentwurf, 1935, S. 47. 11 OGHBZ 1, 95, 98 f., 102. 12 OGH MDR 1949, 370; OGH NJW 1950, 151. 13 Welzel MDR 1949, 373.
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mit der Bemerkung, RGSt 74, 84 scheine „also doch nicht ganz so abwegig gewesen zu sein, wie es ein Teil der Kritik hingestellt habe.“14 Dass diese Rechtsprechung bei der Aburteilung zahlloser Tötungsverbrechen des Dritten Reichs maßstäblich blieb, hat neben dem Königsteiner Kreis 15 z.B. auch Hanack beanstandet, wenn er schreibt, dass „die große Masse der im unteren Befehlsbereich Tätigen … selbst bei eigenhändiger Tötung nicht wegen Täterschaft bestraft“ worden sei.16 Dafür zitiert er aus unveröffentlichten Urteilen des BGH. 1951 hatte Dallinger noch gemeint, ein ähnlich verfahrendes Urteil erlaube „wegen der besonderen Ausnahmesituation … keine Rückschlüsse“ darauf, dass „sich der BGH etwa grundsätzlich der Entscheidung des RG in Bd. 74, 84 … angeschlossen hätte.“ 17 Andere Urteile sprechen aber doch recht eindeutig dafür.18 Das gilt namentlich für den Staschynskij-Fall.19 Dass bei denen, deren „Denken und Handeln … sich mit dem der eigentlichen Taturheber“ deckt, bei eigenhändiger Tatverwirklichung Täterschaft vorliegt, wird betont,20 der Ausnahmevorbehalt aber verteidigt21 und aus bekannten Gründen angewandt.22 Obwohl die Gefahr gesehen wurde, dass das „die >Beihilferechtsprechung< vieler Schwurgerichte in Einsatzgruppenprozessen versteinern“ und „das deutsche Volk“ zu einem „Volk von Gehilfen“ machen könnte, hat die Entscheidung auch Zustimmung erfahren.23 Dafür, dass es rechtsirrig sei zu sagen, „der Angekl. habe Gehilfenvorsatz gehabt, müsse aber als Täter bestraft werden, weil er alle Tatbestandsvoraussetzungen in eigener Person erfüllt“ habe, berief sich im selben Jahr der BGH in einem ganz „unpolitischen“ Fall 14
Hartung NJW 1950, 156. S. Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II, Teil C: Probleme der Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Sonderveranstaltung des 46. DJT, 1967, C 7, 8 f. Zum häufigen („über 50 %“) Verbleiben des Strafmaßes „in der Nähe der unteren Grenze des gesetzlichen Strafrahmens“ s. Rückerl, C 34 f. 16 Hanack Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, 1967, S. 34; s. dazu auch Rogall in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. IV, 2000, S. 383, 396 ff. 17 Dallinger MDR 1951, 273. 18 S. etwa BGHSt 2, 251; 16, 111; BGH NJW 1954, 1374; BGH, Urt. v. 5.7.1951, 3 StR 333/51. Zu weiteren unveröffentlichten Entscheidungen s. Friesenhahn Verhandlungen des 46. DJT (Fn. 15), C 20 f.; Just-Dahlmann/Just Die Gehilfen, 1988, S. 206 ff. 19 BGHSt 18, 87. 20 BGHSt 18, 94. 21 „Es besteht kein Grund, von“ der nur „grundsätzlich“ – also „Ausnahmen für rechtlich möglich“ ansehenden – Rechtsprechung „abzurücken“, BGHSt 18, 92. 22 BGHSt 18, 95; dazu folgt dann eine nähere Konkretisierung dieser Behauptungen. 23 S. Baumann NJW 1963, 561 ff.; zu den Bedenken s. auch Rogall (Fn. 16), S. 400 („Adolf Eichmann kein Täter, sondern Gehilfe“). Für Sax JZ 1963, 329, 330 ist „die >Rückkehr< des BGH zur extremen Rechtsprechung des RG … weder leichtfertig, noch überraschend, noch unverständlich“, wenn auch unhaltbar, für Roxin GA 1963, 193 ff. ein „Irrweg“. Abl. auch LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 24, 58. 15
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von Mord wieder darauf, dass „der Erfolg der Tat“ allein im Interesse dessen gelegen habe, dem der die Tat Ausführende zu Gefallen war.24 Als letztes Glied dieser Kette wird verbreitet ein Urteil 25 angeführt, in dem der BGH die Verurteilung eines 16-Jährigen wegen mittäterschaftlichen Mordes beanstandete, weil das erst nach dem Ausruf „Sei kein Feigling, komm stich auch“ erfolgte „eigenhändige Zustechen in dem Bestreben, nicht als Feigling in den Augen der anderen zu erscheinen“, dafür spreche, dass er sich dem Willen der anderen untergeordnet habe und daher nur Gehilfe sei. Beachtlich ist, dass die Berufung auf einen Ausnahmefall – wie schon in vielen Fällen zuvor – fehlt und sich der Sachverhalt als solcher auch nicht einordnen lässt. Mit solchen Allerwelts-Sachverhalten haben wir es nun aber auch nach dem Inkrafttreten des § 25 I 1. Alt. noch zu tun. Die Behauptung, es lasse sich nach 1975 kein Fall 26 mehr finden, in dem vergleichbar entschieden worden sei, dient zwar der These, dass „im Bereich eigenhändiger Tatausführung die subjektive Theorie“ durch die Rechtsprechung „zugunsten der Tatherrschaftstheorie aufgegeben“27 sei und sich auf diesem Feld „die Tatherrschaftslehre … durchgesetzt“ habe.28 Hiermit bleibt aber ausgeblendet, dass sich die Rechtsprechung auf zwei Feldern bis heute vorbehält, trotz eigener Tatbestandsverwirklichung auf Beihilfe zu erkennen, und hiervon auch (ohne „Ausnahmesituation“) regen Gebrauch macht. Zum einen betrifft das den Tatbestand des Handeltreibens nach § 29 I Nr. 1 BtMG.29 Hier hat der Große Senat daran festgehalten, dass unter Handeltreiben „jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit“30 zu verstehen sei. Da diese Auslegung des Begriffs, „die … jede noch so entfernte Mitwirkung als unmittelbar tatbestandserfüllend beurteilt und daher, wenn man die eigenhändige Tatbestandserfüllung als täterschaftsbegründend ansieht, praktisch zum Einheitstäterbegriff führen müßte,“ schränkt für Roxin die Rechtsprechung die Täterschaft wieder ein, indem sie „mit Hilfe der von ihr … auch sonst verwendeten … Kriterien teils Täterschaft, teils Teilnahme bejaht.“31 Der Weg in die Einheitstäterschaft werde folglich „mit der Ausnahme von dem Prinzip der Täterschaft bei
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BGH GA 1963, 187, 188. BGH MDR 1974, 547 bei Dallinger. 26 S. dazu allerdings den Hinweis von Weber JR 2011, 454, 455 auf einen Beschluss des 5. Senats v. 26.1.2011, 5 StR 555/10 zum Anbauen von BtM. 27 LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 26. 28 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 643; für ihn bleibt nur noch zu wünschen, dass die Rechtsprechung ihren hypothetischen Vorbehalt zu extremen Ausnahmefällen aufgibt, s. Roxin (Fn. 5), S. 189. 29 Zu einer Parallele zum „Entwickeln“ in § 19 I Nr. 1, § 20 I Nr. 1, § 20 a I Nr. 1 KWKG s. den Hinweis von Weber JR 2007, 406 auf BGHR KWKG § 19 Entwickeln 1. 30 BGHSt 50, 252, 256. 31 Roxin (Fn. 28), S. 627. 25
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eigenhändiger Tatbestandserfüllung … vermieden.“32 Entscheidungen, die so verfahren, sind Legion. Sie heben Urteile auf, die nach gelungener Subsumtion unter den weitgefassten Begriff Handeltreiben und damit Täterschaft bejahen, ohne nach der Subsumtion noch zu fragen, ob sich nicht nach „allgemeinen Grundsätzen über die Abgrenzung zwischen diesen Beteiligungsformen“ nur eine Beihilfe ergebe.33 Diese schon ältere Rüge 34 zu beachten, hatte das „Kurier“-Urteil noch einmal mit der Begründung angemahnt, dass die vom Großen Senat bestätigte „Weite des Begriffs des Handeltreibens … nicht dazu verleiten“ dürfe, „eine mit den Grundsätzen der §§ 25 ff. StGB nicht zu vereinbarende Einheitstäterschaft einzuführen, indem jede unter das Handeltreiben subsumierbare Tätigkeit … mit täterschaftlichem Handeltreiben gleichgesetzt“ werde.35 Auch wenn diese Rechtsprechung als „eine Korrektur einer zu weiten Tatbestandsausdehnung“ deutbar ist 36 und man ihr deshalb den Verzicht auf den Ausnahmevorbehalt durch eine täterschaftliches Verhalten besser erfassende Definition nahelegen kann,37 so ist doch die Folgerung problematisch, man könne aus ihr „keine Rückschlüsse auf das Eigenhändigkeitsproblem“ ziehen. Denn dass diese Rechtsprechung „wie eine Rückkehr zur extrem-subjektiven Theorie“ nicht nur aussieht,38 sondern in ihrer Kernthese eine ist, ist kaum bestreitbar, behauptet sie doch, dass Beihilfe trotz eigenhändiger Tatbestandserfüllung möglich und sogar in einer beachtlichen Zahl der zu entscheidenden Fälle gegeben ist.39 Zum anderen ist auf die Rechtsprechung zur Abgrenzung von Täterschaft zur Beihilfe im Bereich des Unterlassens hinzuweisen. Da „§ 25 den Begriff der Täterschaft gleichermaßen für alle Delikte verwendet“,40 müsste eigentlich auch hier gelten, dass wer selbst alle Tatbestandsmerkmale des Unterlassungsdelikts verwirklicht, nach § 25 I 1. Alt. Täter ist.41 Liegen „die Ver-
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Weber Kommentar BtMG, 4. Aufl. 2013, § 29 Rn. 625. S. nur BGHR BtMG § 29 Abs.1 Nr.1 Handeltreiben 75. 34 S. z.B. BGHR § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG Handeltreiben 14; BGH NStZ 1999, 451, 452. 35 BGHSt 51, 219, 221; s. dazu Winkler NStZ 2005, 313. 36 So Roxin (Fn. 28), S. 627. 37 So LK/Schünemann (Fn. 2), Vor § 25 Rn. 16 nach den von ihm zu den sog. Organisationsdelikten entwickelten Maßstäben; s. auch – hieran anknüpfend – Schnürer Das Gesamtgeschäft beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, 2014, 4.Teil C. Ein anderer Vorschlag findet sich bei Roxin StV 1992, 517 ff. 38 So aber Roxin (Fn. 28), S. 627. 39 Übereinst. Weber (Fn. 32), § 29 Rn. 624, der dem Weg gleichwohl i.E. zustimmt (Rn. 625); s. auch ders. JR 2007, 406; 2011, 455. Abl. gegenüber dieser „Sonderdogmatik“ Krack JR 2008, 343. 40 LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 39 verweist hierfür auf Bottke in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 196 f.; das gilt auch für § 22, s. LK/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, Vor § 22 Rn. 101. 41 Zur Problematik dieser Schlussfolgerung s. Mosenheuer Unterlassen und Beteiligung, 2009, S. 92 ff., 96 ff. 33
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letzung der tatbestandsbegründenden Erfolgsabwendungspflicht und die Erfüllung der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen … vor, ist der Unterlassungstatbestand verwirklicht. Da Täterschaft Tatbestandserfüllung ist, kann für sie nicht mehr gefordert werden“, schreibt Roxin. Das klingt wie eine auf das Unterlassen zugeschnittene Umformulierung des Textes, dass (immer) Täter ist, wer die Tat selbst begeht.42 Ob deshalb nicht schon § 25 I 1. Alt. dazu zwingt, den einen Begehungstäter nicht hindernden Garanten stets als Täter anzusehen,43 ist eine hier nicht auslotbare Frage. Ihre Beantwortung hängt u.a. davon ab, ob man für ein Selbst-Begehen voraussetzt, dass es zur Erfolgsherbeiführung keinerlei fremden Handelns bedarf,44 oder ob man von unmittelbarer Täterschaft auch spricht, wenn dem Unterlassenden „aufgrund der Verletzung des Erfolgsabwendungsgebots“ das Verhalten des Begehungstäters „zugerechnet werden kann“.45 Die Rechtsprechung hat sich auf diese Frage nicht eingelassen. Mustert man die einschlägigen Entscheidungen,46 so ergibt sich aber ein Bild, das dem der Rechtsprechung zum Handeltreiben auffällig ähnelt. Auch hier folgt der Subsumtion unter den Unterlassungstatbestand die Aufforderung, die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme gleichwohl noch „nach denselben Kriterien vorzunehmen wie bei den Begehungsdelikten,“47 nicht selten mit dem Ergebnis bloßer Beihilfe.48 Deutlich wird die Annahme einer unmittelbaren Alleintäterschaft, wo es im Fall der Nichthinderung einer Selbsttötung für die Rechtsprechung um eine Fremdtötung durch Unterlassen geht.49 Auch auf diesem Feld wird aber trotz gleicher Sachlage bezüglich aller anderen Tatbestandsmerkmale auch eine (straflose) Beihilfe nicht ausgeschlossen.50 In der zweiten Fallgruppe verschließt sich die Rechtsprechung dem Ausnahmevorbehalt nicht, wendet ihn aber nicht an. So hat es der BGH 1951 im Fall eines Raubmords dahinstehen lassen, „ob es … rechtlich möglich“ sei, „jemand nur als Gehilfen und nicht als Mittäter anzusehen, der“ wie der Angekl. „den vollen inneren und äußeren Tatbestand verwirklicht,“ denn die
42 Roxin (Fn. 3), § 31 Rn. 140 leitet seine Aussage bekanntlich nicht aus § 25 I 1. Alt. StGB, sondern aus seiner Lehre von den Pflichtdelikten ab; i.E. übereinstimmend Herzberg Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 82 ff. 43 S. zum weitgehend ohne Bezug zu dieser Problematik bestehenden Streitstand Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 14. Aufl. 2012, 20. Problem. 44 So z.B. Bottke FS Rudolphi, 2004, S. 15, 36 f.; diff. Mosenheuer (Fn. 41), S. 96 ff. 45 So z.B. Haas ZIS 2011, 392, 396 f. 46 Übersichten bieten LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 206; Roxin (Fn. 3), § 31 Rn. 124 ff.; ergänzend Haas ZIS 2011, 392 f.; Mosenheuer (Fn. 41), S. 160 ff. 47 BGHSt 43, 381, 396; BGH NStZ 2012, 379. 48 S. z.B. BGH NStZ 1992, 31; NStZ 2009, 321; NJW 2009, 3173; NStZ 2012, 329; für Täterschaft nach diesen Maßstäben z.B. BGH NJW 1966, 1763; StV 1986, 59. 49 So z.B. in BGHSt 2, 150; BGH MDR 1960, 939; BGHSt 32, 367. 50 S. BGHSt 13, 162.
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Voraussetzungen dafür lägen nicht vor.51 Auch im Saale-Ufer-Fall widerspricht der BGH nur der Art, in der im Badewannen-Fall der Täterwille zu einer rein inneren Tatsache gemacht wurde, nicht aber dem Ausnahmevorbehalt.52 Vor 1975 wird schließlich im Hanke-Fall bestätigt, eigenhändige Tatbegehung begründe Täterschaft „im Regelfall …, aber … nicht ausnahmslos.“53 Nach 1975 hebt der BGH hervor, er habe die durch § 25 n.F. bestärkte „strenge Auffassung“, als Gehilfe sei ausgeschlossen, wer selbst tatbestandsmäßig handelt, „so bisher nicht vertreten“, müsse dazu aber auch nicht Stellung beziehen, weil für eine „Ausnahme … keine Anhaltspunkte“ vorlägen.54 Übersehen wird schließlich bisweilen, dass der BGH auch im Mauerschützen-Urteil den Ausnahmevorbehalt zwar nicht angewandt, seine Anwendung aber erwogen hat. Nur weil die Angekl. „nicht nur alle Tatbestandsmerkmale erfüllt“, sondern „einen gewissen Handlungsspielraum gehabt“ hätten, sei ihr Verhalten Täterschaft. Es müsse deshalb nicht entschieden werden, „ob und in welcher Weise die Neufassung … des § 25 Abs. 1 StGB … eine Beurteilung ausschließt, wie sie … BGHSt 18, 87 zugunsten bloßer Teilnahme vorgenommen“ habe.55 Kurz zuvor hatte auch der 3. Senat seine Klarstellung, dass auch der „selbst alle Tatbestandsmerkmale“ verwirklichende Mittäter schon unmittelbarer Täter nach § 25 I 1. Alt. sei, mit dem Hinweis auf die „denkbaren Abweichungen in extremen Ausnahmefällen“ verbunden.56 Deshalb wird auch in dieser Entscheidung, in der es um die Einfuhr von Betäubungsmitteln geht, nach der Feststellung, dass der Angekl. „eigenhändig alle Tatbestandsmerkmale“ verwirklicht habe, vor dem Schluss auf Täterschaft „Tatherrschaft“ und der „Wille, diese Tat so zu begehen“, festgestellt. Freilich wird angedeutet, dass bei eigenhändiger Einfuhr kaum je den so Handelnden etwas aus der Täterschaft entlasse.57 Dieser Fall leitet damit zu der dritten Gruppe über, in der der Ausnahmevorbehalt nicht mehr erwähnt oder ihm eine (stillschweigende) Absage erteilt wird. Schon vor BGHSt 38, 315 wurde zur Einfuhr rigoroser „außer Frage“ gestellt, dass „derjenige, der mit Willen und Wollen alle Tatbestandsmerkmale mit eigener Hand erfüllt, Täter“ sei.58 Nach BGHSt 38, 315 ist das in
51 BGH NJW 1951, 120, 121. BGH bei Dallinger MDR 1954, 529 ist insoweit nicht vergleichbar klar. 52 BGHSt 8, 393, 397 sieht deshalb keine Unvereinbarkeit mit BGH NJW 1951, 323. Im LS heißt es auch nur: „Wer mit eigener Hand einen Menschen tötet, ist grundsätzlich …Täter …“; bestätigt in BGHSt 14, 123, 129; BGH GA 1963, 183. 53 OLG Stuttgart JZ 1964, 101, 103. 54 BGH NStZ 1987, 224, 225. 55 BGHSt 39, 1, 31 f.; die Behauptung Roxins (Fn. 28), S. 643, die „Möglichkeit einer Beihilfe“ sei nicht „auch nur in Erwägung gezogen worden“, trifft also nicht zu. 56 BGHSt 38, 315, 316. 57 BGHSt 38, 315, 318, 319. 58 BGHR BtMG § 29 Abs.1 Nr. 1 Handeltreiben 25.
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Fällen der Einfuhr mit dem Zusatz aus der Saale-Ufer-Entscheidung wiederholt worden, dass das auch für den gelte, der „unter dem Einfluß und in Gegenwart eines anderen nur in dessen Interesse“ handele.59 Außerhalb dieser zum Handeltreiben im Kontrast stehenden BtM-Rechtsprechung hatte der 1. Senat 1990 in einem Fall, in dem der Angekl. „sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 178 Abs. 1 StGB“ selbst verwirklicht hatte, überraschend apodiktisch festgestellt, dass „kraft Gesetzes“ für eine Wertung, der Täter habe auch in einem solchen Fall „nicht mit Täterwillen“ gehandelt, „kein Raum“ mehr bleibe60 und das 1999 in einem Geldwäsche-Fall in vergleichbar sparsamer Weise wiederholt.61 Lediglich das OLG Stuttgart hat diesen Standpunkt wenigstens mit einem mit Zitaten belegten Satz in einem Fall begründet, in dem die Angekl. „alle Merkmale des § 267 StGB in eigener Person verwirklicht“ hatte. Es sagt, „für eine rein subjektive Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme“ lasse „§ 25 I StGB keinen Raum mehr.“62 Dass das dahinter stehende Dogma schon lange vor § 25 n.F. von nicht weniger als sechs OLGn aufgestellt worden war, wird in all diesen Entscheidungen nicht berichtet. Die Begründung der OLGe schwankt zwischen bei Eigenhändigkeit denknotwendigem Täterwillen63 und einer Absage an die Interessentheorie.64 Ob diese Ablehnung des Ausnahmevorbehalts auch viertens Fällen zugrunde liegt, deren (extremer) Ausnahmecharakter die nicht genutzte Gelegenheit bot, ihn jedenfalls aufzugreifen, entzieht sich unserer Kenntnis. Roxin schließt hieraus, dass der Vorbehalt für die Rechtsprechung selbst offenbar „obsolet“ geworden sei. Von den „zwei Konstellationen, … die als >extreme Ausnahmefälle< hätten gelten können“, dann aber „im Sinne einer Täterschaft der Ausführenden entschieden“ worden seien, „ohne die >Denkbarkeit< einer bloßen Teilnahmebestrafung auch nur zu erwähnen“, muss der Mauerschützen-Fall65 allerdings ausscheiden, weil dort der Vorbehalt bedacht und nur nicht angewendet worden ist.66 Im Katzenkönig-Fall67 hätte es 59 LS BGHSt 8, 393, zitiert schon in BGHSt 38, 315, 317. Aufgenommen von BGH NStZ 1993, 138; BGHR § 29 Abs.1 Nr. 1 Einfuhr 34; BGH NStZ-RR 2000, 22. 60 BGHR StGB § 178 Abs. 1 Mittäter 1. 61 BGH NStZ 1999, 83. Warum der Gegensatz zu der Ausnahmevorbehaltsrechtsprechung vollständig übergangen wird, erschließt sich nicht. 62 OLG Stuttgart NJW 1978, 715, 716. 63 So OLG Kiel DRZ 1947, 134; ähnlich HansOLG Bremen NJW 1947/48, 312, 315 (NS-Fall); s. auch OLG Celle HESt 1, 12, 15 (Forstdiebstahls-Fall). 64 So in Fällen von Bewirtschaftungsverbrechen nach § 1 KWVO OLG Gera SJZ 1947, 673, 674; OLG Köln NJW 1947/48, 148, 149. In einem Euthanasie-Befehls-Fall (s. dazu Hillenkamp in: Anderheiden/Eckart (Hrsg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 1, 2012, S. 350, 359 f.) ebenso OLG Frankfurt SJZ 1947, 621, 630 mit Anm. Radbruch. 65 Dazu Roxin (Fn. 5), S. 189. 66 S. dazu (bei) Fn. 55. 67 BGHSt 35, 347.
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aber in der Tat nahe gelegen, für den Tatausführenden bloße Beihilfe zu erwägen.68 Das ist nicht geschehen.69 Beihilfe erwogen ist bisher auch in den tragischen Fällen nicht, in denen ein Mensch einen Anderen auf dessen Verlangen nur deshalb eigenhändig tötet, weil dieser Andere nur physisch nicht in der Lage ist, sich über die Schwelle zum Tod zu stoßen. Da die Rechtsprechung es mit der Annahme einer Täterschaft nach § 216 „einem vollständig bewegungsunfähigen, aber bewusstseinsklaren moribunden Schwerstbehinderten … weitgehend verwehrt, ohne strafrechtliche Verstrickung Dritter aus dem Leben zu scheiden und für ihn dadurch das Lebensrecht zur schwer ertragbaren Lebenspflicht“ macht, ist das ein Fall, der sich als Kandidat für den Ausnahmefall aufdrängt. Nur die Annahme einer Beihilfe kann hier sicher zur Straflosigkeit führen.70
III. Neque locuta, neque finita! Die Frage, wie sich die Rechtsprechung künftig zum Ausnahmevorbehalt stellen sollte, kann nach der Bilanzierung ihrer Aussagen auf drei Ebenen beantwortet werden. Die erste Ebene wird durch den Rechtsgedanken der §§ 121, 132 GVG bestimmt. Wenn hiernach erreicht werden soll, „im Interesse der Rechtssicherheit … eine verschiedenartige Beantwortung der gleichen Rechtsfrage durch die letztinstanzlich entscheidenden oberen Gerichte auszuschließen“,71 dann darf es beim beschriebenen status quo der Rechtsprechung nicht bleiben. Es kann nicht sein, dass nach 1975 ergangene Entscheidungen für den Ausnahmevorbehalt kraft Gesetzes keinen Raum mehr sehen, andere – zum Handeltreiben oder Unterlassen – von ihm regelmäßigen Gebrauch machen, sich dieses Gebrauchmachen für den Ausnahmefall vorbehalten oder sich seiner Erörterung entziehen. Rechtssicherheit ist so nicht erreichbar, Rechtseinheitlichkeit fehlt. Man sollte diese Kritik auch nicht relativieren, indem man
68 LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 53 führt diesen Fall als Beispiel dafür an, dass extreme Ausnahmefälle „unter den gegebenen Verhältnissen kaum vorstellbar sind“, wenn man sie nicht einmal dort reflektiert. 69 Aus welchen Gründen nicht, ist spekulativ, möglicherweise aufgrund anderer Milderungsgründe. 70 S. zum Fall AG Tiergarten MedR 2006, 298; zum Zitat BGH NJW 2003, 2326, 2327 f. Zu denkbaren anderen Lösungen s. Feldmann Die Strafbarkeit der Mitwirkungen beim Suizid, 2009, S. 384 ff., zur Fallbesonderheit S. 489 f.; Hillenkamp FS Kühl, 2014, S. 521, 522 f.; zur auf Arzt zurückgehenden sog. Psychologischen Theorie als Ausweg s. Hillenkamp 40 Probleme aus dem Strafrecht, Besonderer Teil, 12. Aufl. 2013, 2. Problem. Vielleicht hat hier BGHSt 19, 135 mit seiner Hinwendung zur Tatherrschaftslehre frühzeitig den Weg zu „gerechteren Ergebnissen“ verlegt. 71 Löwe/Rosenberg/Franke StPO, 26. Aufl. 2010, § 121 Rn. 25; § 132 Rn. 2.
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den Hauptanwendungsfall im Nebenstrafrecht als Korrekturversuch einer zu weiten Tatbestandsbeschreibung der Nachsicht empfiehlt. Er bleibt auch als solcher, was er ist, nämlich ein Vorbehalts-Anwendungsfall. Die Rechtsprechung muss sich also entscheiden. Und dabei sollte sie sehen, dass sie den Vorbehalt, wo sie ihn anwendet, nicht auf den Ausnahmefall beschränkt, sondern von ihm in alltäglichen Fällen und nicht nur als „Ausnahme“ Gebrauch macht. Gewiss kann man viele Fälle als Ausnahmekonstellationen bezeichnen, seit früher Zeit aber doch – wie gezeigt – viele, in denen bis heute auf Beihilfe erkannt worden ist, eindeutig nicht. Auch um Mord mit seinem starren Strafrahmen geht es nicht immer. Deshalb wäre die Vorlegungsfrage zu eng, ob in extremen Ausnahmefällen ein den gesamten Tatbestand eigenhändig Erfüllender Gehilfe sein könne. Zu entscheiden ist vielmehr, unter welchen Voraussetzungen § 25 I 1. Alt. es generell zulässt, auf den, der alle Tatbestandsmerkmale verwirklicht, § 27 anzuwenden. Die zweite Ebene wird durch den Text des § 25 und seine Entstehungsgeschichte bestimmt. Hier fragt sich, ob mit beidem ein „Ausnahmevorbehalt“ nicht unvereinbar, oder wie der AE es sagt, „ausgeschlossen“ ist.72 Dann würde der Rat, der „nunmehr weitaus herrschenden Meinung“ zu folgen,73 in Wahrheit Rechtszwang bedeuten. Das kann hier nun nicht vertieft werden. Es sei aber daran erinnert, dass der von Roxin 1973 erstmalig behaupteten, später unter Auswertung der Materialien genauer begründeten und von Schünemann im LK dann beibehaltenen Auffassung, es sei nach Text und Geschichte „nicht mehr möglich … , jemanden, der den Tatbestand in eigener Person erfüllt, … ausnahmsweise nur als Gehilfen zu bestrafen“, 74 wiederholt aus gleichfalls Text und Geschichte betreffenden Gründen die Gefolgschaft versagt worden ist. Dass der Gesetzgeber der Übergewichtung des Tatinteresses entgegentreten wollte, wird allgemein eingeräumt, dass er der subjektiven Theorie und ihrer Möglichkeit, einen den Tatbestand selbst erfüllenden Teilnehmer nur als Gehilfen anzusehen, bewusst den Boden entzogen habe,75 aber nicht anerkannt. Das ist vor allem von Lesch unterlegt
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S. Fn. 1. Der Rat findet sich bei LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 53. Die Unvereinbarkeit behaupten erstmalig Roxin JuS 1973, 327, 334 und Herzberg JuS 1974, 237, 238, heute z.B. Krey/Esser Strafrecht AT, 5. Aufl. 2012, Rn. 871; Kühl Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 23; Lackner/Kühl StGB, § 25 Rn. 1; Matt/Renzikowski/Haas StGB, 2013, § 25 Rn. 2; Systematischer Kommentar StGB/Hoyer § 25 Rn. 31 (März 2000); Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, Rn. 515; für das Völkerstrafrecht s. Ambos Der AT des Völkerstrafrechts, 2. Aufl. 2003, S. 556 f. 74 Roxin JuS 1973, 327, 335. In LK/Roxin, 11. Aufl. 2003, § 25 Rn. 48 findet sich die von LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 53 übernommene Textstelle, für die Roxin auf Täterschaft und Tatherrschaft, 5. Aufl. 1990, S. 546–552 verweist. 75 Roxin JuS 1973, 335 glaubte, dass die subjektive Theorie „in Zukunft nicht mehr vertretbar sein wird.“ 73
Über den „Ausnahmevorbehalt“ zu § 25 I 1. Alt. StGB
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worden.76 Der These, dass „der Streit um die Abgrenzung … auch durch Abs. 1 nicht notwendig gegen die extreme Form der subjektiven Lehre entschieden“77 sei, haben sich deshalb manche mit Blick auf die Quellen, andere aus Sachgründen angeschlossen.78 Dass sich der Gesetzgeber im Text für „Wer … begeht“ statt „ausführt“ und damit für einen „normativen Begriff, der der Auslegung fähig“79 ist, entschieden und über die Ausnahmefälle kontrovers und – wie man hinzufügen muss – über den Ausnahmevorbehalt in Alltagsfällen überhaupt nicht debattiert hat, lässt hiernach jedenfalls den Vorwurf, der Vorbehalt verletze eindeutig Wortlaut und Gesetzgeberwillen, kaum zu. Vielmehr wird man einräumen müssen, dass zwar alles für eine gewollte Tendenzwende gegen eine extrem subjektive (Interessen)Theorie spricht, ein darüber hinaus behaupteter positivistischer Entscheid unserer Frage aber Gefahr läuft, den Wunsch zum Vater des Gedankens zu machen.80 Folgt daraus, dass sich die Rechtsprechung entscheiden muss und sich für die Beibehaltung des Vorbehalts ohne Gesetzesverletzung entscheiden kann, bleibt auf der dritten Ebene zu klären, wofür sie sich entscheiden soll. Dass die Antwort hierauf auch davon abhängt, wie man die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme vornimmt, ist klar, dass sie sich allein danach richtet, aber bestreitbar; denn die Evidenz beanspruchende, im Grundsatz für jede Theorie annehmbare und dem Streit daher vorgelagerte Kernthese, dass „Täterschaft Tatbestandserfüllung und demzufolge die unmittelbare Täterschaft ihr Prototyp ist“81, setzt für die Richtigkeit der aus ihr gewonnenen
76
Lesch Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 84 ff. So die noch von Lackner verantwortete Formulierung in Lackner/Kühl StGB, 23. Aufl. 1999, § 25 Rn. 1. 78 Genauere Auswertungen bei Baumann FS Jescheck, 1985, S. 105, 109 ff. und Schlösser JR 2006, S. 102, 108. Kursorischer, aber noch textbezogen, Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2001, § 29 Rn. 41–43 mit Fn. 67; Gössel GA 1977, 60; M. Heinrich Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 190 f.; LK/Jähnke, 10. Aufl. 1989, § 212 Rn. 6; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT/2, 7. Aufl. 1989, § 47 Rn. 64; Otto Grundkurs Strafrecht AT, 6. Aufl. 2000, § 21 Rn. 52 f.; ders. Jura 1987, 250; Schmidhäuser Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, 14. Kapitel Rn. 168. Offen für diese Deutung Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 647. In der Sache zust. Geerds Jura 1990, 176 f.; Jakobs GS Armin Kaufmann, 1989, S. 272 f., 286; Lampe ZStW 106 (1994), 683, 688 f.; Schild Täterschaft als Tatherrschaft, 1994, S. 44 ff.; H. Schumann Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 73; Vogel ZStW 114 (2002), S. 403, 413 mit Fn. 47; Weber ZStW 96 (1984), S. 376, 402. 79 Dreher Prot. V, 91. Sitzung v. 14.12.1967, S. 1825; s. zur Genese dieser Entscheidung Roxin (Fn. 28), S. 551. 80 Vgl. dazu Schmidhäuser (Fn. 78), 14. Kapitel Rn. 168 und Baumann (Fn. 78), S. 111; dass der Gesetzgeber „Recht und Macht“ hat, den Streit im Sinne einer „bindenden Anweisung“ an den Richter zu entscheiden – so LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 54 – ist damit nicht bestritten. 81 LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 55 mit Rn. 35. 77
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Thomas Hillenkamp
Ableitung, dass dann schon immer der, der den Tatbestand eigenhändig vollständig erfüllt, Täter ist,82 voraus, dass es dem Gesetzgeber gelingt, mit dem Tatbestand ausnahmslos und vollständig (nur) täterschaftliches Unrecht zu beschreiben. Dass dem so ist, wird man aber anzweifeln dürfen. Wenn unter Handeltreiben jede eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit und unter Einfuhr jedes Verbringen über die Grenze zu verstehen ist, dann lässt sich kaum behaupten, dass Alles, was darunter fällt, fraglos Täterunrecht und bloßes Beihilfeunrecht schon ab ovo ausgeschlossen ist. Vielmehr ist es so, „dass der Gesetzgeber durch die Fassung der einzelnen Tatbestände (auch) ein Ergebnis“ präsentieren kann, das der Beschreibung von „Einheitstäterschaft gleichkommt.“83 Dieses vom Idealtypus der ausschließlichen Täter- durch Tatbestandsbeschreibung abweichende Phänomen findet sich auch im Kernstrafrecht. Schünemann nennt dafür mit § 129 und § 265 zwei Delikte, die Beihilfeformen zur Täterschaft erheben. Dem kann man § 257, die Absatzhilfe des § 259, einzelne Tathandlungen der Geldwäsche (§ 261) oder auch die Förderung der Gefangenenbefreiung nach § 121 hinzuzählen, bei denen die Erhebung von Hilfeleistungen zur Täterschaft ja nicht entbehrlich macht, den bloßen Gehilfen vor der Täterstrafe zu bewahren. Auch die Delikte, bei denen der Gesetzgeber – wie in §§ 253, 263 oder 289 – schon immer oder – wie in §§ 242, 246, 248c, 292 – seit dem 6. StrRG altruistisches Verhalten egoistischem gleichsetzt, sperrt sich gegenüber dem Mechanismus, subsumierbares Verhalten von selbst als Täterschaft zu bezeichnen.84 Ob man diesem aus der Tatbestandsfassung fließenden Problem sektoral durch „eine die verfassungsrechtlichen Pönalisierungsbedingungen … respektierende allgemeine Neuinterpretation“ namentlich der Tatbestandshandlung begegnen kann,85 bleibt auszuloten, dass man ein nach den für richtig gehaltenen Kriterien vorgenommenes Abgrenzen von Täterschaft und Teilnahme trotz Subsumierbarkeit unter solche „Einheitstätertatbestände“ als Lösungsalternative (damit) ausschließt, aber ein kaum begründbarer Rat. Vielmehr gilt, dass gesetzgeberisches Zurückbleiben hinter der Idealfassung angemessen auch nach allgemeinen Maßstäben korrigierbar ist. Der Ausnahmevorbehalt, der hierauf verweist, bleibt für solche Deliktsgruppen sachadäquat. Ob man ihn darüber hinaus auch für „extreme Ausnahmefälle“ aufrechterhalten sollte, ist fragwürdiger, weil es des „Ausweichens“ auf Beihilfe jedenfalls aus „Gerechtigkeitsgründen“ angesichts anderer Strafmilderungs-
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So die als zwingend ausgegebene Deduktion bei Roxin (Fn. 28), S. 546 ff. LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 15. 84 Beispielhaft dazu Wessels/Hillenkamp Strafrecht BT 2, 36. Aufl. 2013, Rn. 167, 861. 85 So LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 16 für Straftatbestände, „die eine betriebliche Tätigkeit beschreiben.“ 83
Über den „Ausnahmevorbehalt“ zu § 25 I 1. Alt. StGB
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möglichkeiten oft nicht bedarf.86 Aber sollte man deshalb die Beihilfe aus dem Baukasten der Gerechtigkeit ganz herauswerfen? Dagegen spricht nicht nur, dass dann die Suche nach Ventilen – mit übergesetzlichen Milderungsgründen oder der Rechtsfolgenlösung beim Mord – oft selbst anfechtbare Blüten treibt.87 Vielmehr leuchtet auch nicht ein, dass eine den Tatbestand betreffende Figur, die die Beihilfe ist,88 für eine Berücksichtigung geringerer Schuld keinesfalls tauge. Sicher darf es nicht so sein, dass „nicht die Beteiligtenrolle über die mögliche Sanktion, sondern die erwünschte Sanktion über die Beteiligtenrolle entscheidet.“89 Wie die Strafzumessung bei bloßem Beihilfeunrecht in Einheitstätersystemen zeigt, gehört aber doch auch die Beihilfe dort, wo sie geregelt und mit Strafmilderung ausgestattet ist, nur zu den vorweggenommenen Strafzumessungsgründen,90 die mit geringerem Unrecht auch geringere Schuld berücksichtigen. Auch die negative Typenkorrektur korrigiert ja schon auf der Tatbestandsebene den Strafrahmen bei geringerer Schuld. Einen dogmatisch deplatzierten Fremdkörper gebiert der Ausnahmevorbehalt folglich nicht. Und er führt schließlich möglicherweise zu einem sachangemesseneren Ausstieg aus (überzogener) Strafe, als es ein Schuldausschließungs- oder (Straf)minderungsgrund tut. Das zeigt der hier zur vierten Gruppe angefügte § 216-Ausnahmefall. Gewiss kann man für ihn an Lösungen auf der Schuld- oder Straffolgenebene denken.91 Ihnen ist aber eine Kennzeichnung der eigenhändigen Tötung als bloße Beihilfe zum Suizid, wie sie ein Ausnahmevorbehalt zuließe, in einem solchen Fall als eine den sozialen Sinn- und den „Unrechtsgehalt“ sachadäquatere Beschreibung und Bewertung des Vorgangs doch überlegen, die allein das verfassungsrechtlich verbürgte Selbsttötungsrecht schützt. 92 Deshalb steht hier am Ende der Rat, den Vorbehalt nicht aufzugeben. Solange wir aus den Tatbestandsbeschreibungen keine absolute Sicherheit
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Vgl. nur LK/Schünemann (Fn. 2), § 25 Rn. 57 f.; Roxin (Fn. 28), S. 646 ff. Auf beides verweisen Schünemann und Roxin (jeweils wie Fn. 86); darauf, dass die „Erfindung“ von neuen Schuldminderungsgründen in den NS-Verfahren möglicherweise politisch noch mehr Schaden angerichtet hätte, als das Ausweichen auf Beihilfe, hat schon Hanack (Fn. 16), S. 35 f. hingewiesen. 88 S. Roxin (Fn. 28), S. 650 ff. 89 Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 12 Rn. 14. 90 S. dazu, dass „in den anerkannten Regeln des Allgemeinen Teils und in den gesetzlichen Typisierungen des Besonderen Teils ein benannter und beschriebener und verbindlich gewichteter Katalog von Strafzumessungsgründen steckt“, Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 235. 91 S. den bei Fn. 70 geschilderten Fall des AG Tiergarten; zu denkbaren Lösungen i.S. des Textes instruktiv Feldmann (Fn. 70), S. 384 ff., speziell zur Fallbesonderheit S. 489 f.; Roxin GA 2013, 313, 327. 92 Möglicherweise gebietet diesen Weg daher auch eine verfassungsbedingte Reduktion des Tatbestandes; s. zur Lösung auch Hillenkamp in: Anderheiden/Eckart (Hrsg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, 2012, S. 1045 f. 87
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gewinnen, wer eine Straftat als Täter die Tat selbst begeht, sollte kein Lager auf den Vorbehalt vollends verzichten.93 Vielmehr sollten wir es uns zur gemeinsamen Aufgabe machen, seinen Anwendungsbereich delikts- und fallgruppenspezifisch so einzugrenzen, dass er künftig dem Bestimmtheitsgebot besser genügt.
93 Also auch die Vertreter der Tatherrschaftslehre – wie Welzel MDR 1949, 373 trotz seiner Ablehnung der subjektiven Teilnahmelehre (s. Welzel SJZ 1947, Sp. 645 ff.) – nicht; zur dazu nicht hinreichend geklärten Rolle des § 47 MStGB s. Rogall (Fn. 16), S. 398 f.; vgl auch Salm Das versuchte Verbrechen, 1957, S. 59.
Die Lehre von der einverständlichen Fremdgefährdung als Grenzproblem zwischen Täter- und Opferverantwortung Christian Jäger
Der Jubilar ist ein Meister der Strafrechtsdogmatik, der zu fast allen wesentlichen Grundsatzfragen des Allgemeinen Teils Position bezogen hat. Dass dies die Suche nach einem geeigneten Thema in einer Festschrift zu seinen Ehren erleichtert, liegt auf der Hand. Wenn daher mit dem vorliegenden Beitrag einmal mehr das Thema der einverständlichen Fremdgefährdung untersucht werden soll, dann findet dieses Vorhaben eine doppelte Rechtfertigung: Zum einen hat sich der Jubilar selbst frühzeitig zu diesem Thema eindeutig und klar geäußert1 und zum anderen handelt es sich um einen der in den vergangenen Jahren meistbehandelten Problembereiche zum Allgemeinen Teil des Strafrechts, so dass der Streit um diese Rechtsfigur bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.
I. Die Abgrenzung von einverständlicher Fremdgefährdung und freiverantwortlicher Selbstgefährdung 1. Die in der Literatur behauptete Überflüssigkeit der Unterscheidung Zum Teil wird eine Unterscheidung zwischen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung für sinnlos gehalten, da in beiden Fällen die Entscheidung, sich in eine Gefährdungslage zu versetzen, eigenverantwortlich getroffen worden sei.2 Auch Schünemann hat sich im Ergebnis für eine solche Gleichstellung beider Rechtsinstitute ausgesprochen.3 Danach sei allein der freie Entschluss für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausschlaggebend, die Person des Durchführenden der Gefährdungshandlung für die strafrechtliche Zurechnung dagegen unbeachtlich. Bei gewollter Gefährdung könne somit nur das Opfer 1
Vgl. Schünemann JA 1975, 722 f. Hier und im Folgenden Otto Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 6 Rn. 62. 3 Schünemann JA 1975, 722. 2
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Christian Jäger
verantwortlich gemacht werden, gleichgültig, ob es die Gefährdung selbst verantwortet oder diese von einem Dritten ausgeht. 2. Die von der h.M. behauptete Notwendigkeit der Unterscheidung am Kriterium der Gefährdungsherrschaft Die h.M. geht demgegenüber davon aus, dass die Abgrenzung von freiverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung notwendig sei und sich nach denselben Kriterien zu richten habe, wie die Unterscheidung von Selbst- und Fremdtötung. So wie dort als ausschlaggebender Gesichtspunkt die Innehabung der Tatherrschaft zur Abgrenzung herangezogen wird, so sei auch bei der Unterscheidung von Selbstgefährdung und Fremdgefährdung das Kriterium der Gefährdungsherrschaft maßgeblich.4 Danach sei von einer Teilnahme an einer Selbstgefährdung auszugehen, wenn das Opfer selbst die Herrschaft über die Gefährdung innehat.5 Dagegen liege eine einverständliche Fremdgefährdung vor, wenn die Gefährdungsherrschaft von einem Dritten ausgeübt werde. 3. Die behauptete Undurchführbarkeit der Unterscheidung Auch wenn das Kriterium der Gefährdungsherrschaft im Großen und Ganzen eindeutige Abgrenzungen zulässt, kann die Unterscheidung freilich im Einzelfall große Schwierigkeiten bereiten,6 etwa im Fall des einverständlichen Geschlechtsverkehrs mit einem HIV-Infizierten.7 Deshalb wird eine trennscharfe Durchführbarkeit der Unterscheidung zum Teil bestritten.8 Richtigerweise wird man jedoch in Fällen des einverständlichen Geschlechtsverkehrs mit einem HIV-Infizierten von einer freiverantwortlichen Selbst-
4 Vgl. dazu BGHSt 53, 55, 60 ff.; BayObLG NJW 1990, 131, 132; mit unterschiedlicher Nuancierung auch Dölling GA 1984, 71, 75; Münchener Kommentar StGB/Duttge, 2. Aufl. 2011, § 15 Rn. 195; Helgerth NStZ 1988, 261, 262; Hellmann FS Roxin, 2001, S. 271; Kindhäuser Strafrecht AT, 6. Aufl. 2013, § 12 Rn. 61 ff.; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 211 Rn. 12; Murmann Grundkurs Strafrecht, 2. Aufl. 2013, § 23 Rn. 91; Rengier Strafrecht BT II, 14. Aufl. 2013, § 20 Rn. 14 jeweils m.w.N. 5 Näher zur freiverantwortlichen Selbstgefährdung Eisele JuS 2012, 577 ff. 6 Vgl. dazu etwa Christmann Jura 2002, 679, 680; Dölling GA 1984, 71 ff.; Eisele JuS 2012, 577, 581 f.; Grünewald GA 2012, 365 ff.; Kühl Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 88a; Leipziger Kommentar StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 233. 7 Wie im Fall von BayObLG NJW 1990, 131. Für eine freiverantwortliche Selbstgefährdung in einem solchen Fall etwa Dölling JR 1990, 474; LK/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 111; Rengier (Fn. 4), § 20 Rn. 6; Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 409; Wessels/Hettinger Strafrecht BT I, 37. Aufl. 2013, Rn. 270. Für eine einverständliche Fremdgefährdung dagegen Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 133; ihm folgend Helgerth NStZ 1988, 261, 262; Hellmann FS Roxin, 2001, S. 271, 273. 8 Näher dazu auch Grünewald GA 2012, 365 ff.
Die Lehre von der einverständlichen Fremdgefährdung
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gefährdung ausgehen müssen. Täter und Opfer teilen sich hier Verantwortung und Herrschaft über das Geschehen. Gerade weil der Täter hier keine Herrschaft über die mögliche Übertragung des HI-Virus hat, kommt eine Fremdgefährdung nicht in Betracht. Vielmehr ist der Fall vergleichbar mit derjenigen Konstellation, in der zwei Suizidwillige Auspuffgase ins Wageninnere leiten und verabredungsgemäß einer der beiden das Gaspedal tritt, damit hierdurch der gemeinsame Selbstmord ins Werk gesetzt wird.9 Wenn in diesem Fall die Opfer nach h.L. durch Einatmen des Gases „den Weg durch die Todespforte selbst gegangen“ sind,10 so liegt es auch im geschilderten Fall nahe, dass sich das Opfer durch Vollzug des Geschlechtsverkehrs selbst der Gefahr aussetzt. Jede andere Auffassung gerät in Widerspruch zur Anerkennung der im einverständlichen Geschlechtsverkehr zum Ausdruck kommenden sexuellen Selbstbestimmung, d.h. der Freiheit des Einzelnen, über Partner, Zeitpunkt sowie Art und Weise des Sexualkontakts selbst zu entscheiden.11 4. Eigene Stellungnahme anhand einschlägiger Fälle aus der Rechtsprechung Insgesamt liefert das Kriterium der Tatherrschaft, das auch bei der Abgrenzung von Fremd- und Selbsttötung verwendet wird, ein durchaus brauchbares Abgrenzungskriterium für die Unterscheidung von Selbst- und Fremdgefährdung. Eine Fremdherrschaft im genannten Sinne liegt dabei auch dann vor, wenn ein sterbewilliges Opfer einen Täter über die von seinem Verhalten ausgehenden tödlichen Gefahren täuscht. Entscheidend ist nämlich die reale Herrschaft über das todbringende oder gefährdende Geschehen und nicht eine rechtliche Herrschaft, die auch durch Täuschung begründet werden könnte, wie dies etwa bei der mittelbaren Täterschaft der Fall ist.12 Hierzu einige Fälle, die nicht nur vom Opfer gewollte Gefährdungen, sondern zum Teil auch Schädigungen betreffen:
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BGHSt 19, 135 (Gisela-Fall). So zutreffend Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 570; a.A. zu Unrecht BGHSt 19, 135 ff.; kritisch auch Murmann (Fn. 7), S. 350 f. Für eine Fremdgefährdung dagegen neuerdings auch T. Walter NStZ 2013, 673, 675, der dabei allerdings den Gesichtspunkt der realen Herrschaft des Opfers bis zum Hinübergleiten in die Bewusstlosigkeit wohl unterbewertet. 11 Vgl. dazu Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 177 Rn. 2. 12 Im Ergebnis – wenn auch ohne Hinweis auf die reale Herrschaft – ebenso T. Walter NStZ 2013, 673, 657, der für entscheidend hält, „von wem die letzte jener Handlungen stammt, und zwar Handlungen im Sinne eines aktiven Tuns, die den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges verursachen“. 10
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Christian Jäger
a) Der Müllsackfall nach BGH NStZ 2003, 537 Die Problematik der Abgrenzung von freiverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung sowie die Maßgeblichkeit der realen Herrschaft veranschaulicht der Müllsackfall.13 Ein Schwerbehinderter, der nur noch Mund und Zunge bewegen konnte und sich nach seinem eigenen Tod sehnte, brachte einen Zivildienstleistenden dazu, ihn unbekleidet und in Plastikmüllsäcken eingewickelt, in einen Abfallcontainer zu legen. Wider besseres Wissen belog der Schwerbehinderte den Zivildienstleistenden, dass er dadurch sexuell erregt werde und dies schon öfter gemacht habe. Er sei stets von Müllfahrern gefunden und aus dem Container geborgen worden. Der Zivildienstleistende ließ sich, um dem Schwerstbehinderten etwas Gutes zu tun, tatsächlich darauf ein, diesen – in zwei Müllsäcken verpackt – in einem Container abzulegen. Auf Wunsch des Behinderten verschloss er dabei bis auf eine kleine Öffnung dessen Mund mit Klebeband. Wie vom Opfer gewollt wurde er nicht von den Müllfahrern entdeckt und starb daher durch Erstickung und Kälteeinwirkung, da die Temperaturen, wie der Zivildienstleistende wusste, um den Gefrierpunkt lagen. Der BGH hat hier eine Strafbarkeit des Zivildienstleistenden wegen Aussetzung mit Todesfolge nach §§ 221 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3, 18 StGB angenommen und auch eine Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 223, 227 StGB bejaht. Hinsichtlich der Aussetzung mit Todesfolge sei nicht von einem Ausschluss der Zurechnung kraft freiverantwortlicher Selbstgefährdung auszugehen, da die Herrschaft über das Geschehen allein beim Zivildienstleistenden gelegen habe. Auch komme eine Zurechnungsunterbrechung kraft einverständlicher Fremdgefährdung nicht in Frage, da § 216 StGB zeige, dass das Einverständnis mit der Verwirklichung lebensgefährdender Handlungen den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht. Schließlich sei im Rahmen des § 227 StGB die Körperverletzung auch nicht durch Einwilligung gerechtfertigt, da die mit dem Verhalten des Zivildienstleistenden verbundene Lebensgefährdung eine Einwilligung wegen Sittenwidrigkeit nach § 228 StGB ausschließe. In der Literatur ist dieses Urteil auf erhebliche Kritik gestoßen, weil das Opfer die Gefährdungslage in Wahrheit besser überschaute als der Täter und die Herbeiführung des Todes daher als eigenes Werk des Opfers in Erscheinung trete.14 Aber diese Kritik ist unberechtigt, weil die Täuschung des Opfers selbstverständlich nur eine Vorsatzstrafbarkeit des Zivildienstleistenden aus §§ 212, 216 StGB (diesbezüglich erscheint das Opfer als mittelbarer Täter) ausschließen kann, nicht dagegen eine Strafbarkeit aus dem Delikt der fahrlässigen Tötung.
13 BGH NStZ 2003, 537 mit abl. Anm. Engländer JZ 2003, 745, 747; Stefanopoulou ZStW 124 (2012), 689. 14 Vgl. dazu ausführlich Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 126 m.w.N.
Die Lehre von der einverständlichen Fremdgefährdung
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b) Fränkisches Roulette nach OLG Nürnberg NJW 2003, 454 Noch deutlicher wird dies an einem anderen, ebenfalls der höchstrichterlichen Rechtsprechung entstammenden Fall,15 in dem ein Mann seine Ehefrau dazu aufgefordert hatte, eine auf ihn gerichtete Waffe abzudrücken, wobei er ihr in „Selbsttötungsabsicht“ versichert hatte, dass diese nicht geladen sei. Die Frau, die ihrem Mann glaubte, betätigte den Abzug. Durch den ausgelösten Schuss wurde der Mann auf der Stelle getötet. Auch hier hat das OLG Nürnberg zu Recht eine fahrlässige Tötung nach § 222 StGB bejaht. In der Literatur ist auch dies bestritten worden16 – aber zu Unrecht. Zwar liegt hier nicht nur eine einverständliche Fremdgefährdung, sondern sogar eine vom Opfer gewollte Fremdtötung vor. Jedoch kann die Täuschung des Mannes lediglich eine Vorsatzbestrafung der Ehefrau aus §§ 212, 216 StGB hindern, da der Ehemann diesbezüglich strukturell als mittelbarer Täter in Erscheinung tritt (mittelbare Täterschaft kraft Irrtumsherrschaft). Für das Delikt der fahrlässigen Tötung ist dagegen allein entscheidend, ob der Täter (hier die Frau) bei der real-herrschaftlichen Handlung (hier der Schussabgabe) fahrlässig im Hinblick auf die Erfolgsverwirklichung gehandelt hat.17 So ist etwa unbestritten, dass eine Fahrlässigkeitsbestrafung einer Krankenschwester möglich ist, auch wenn der Arzt sie als unvorsätzliches Werkzeug dafür eingesetzt hat, einem Patienten eine Todesspritze zu geben. Dann kann es sich aber nicht anders verhalten, wenn ein Mann seine Frau als unvorsätzliches Werkzeug dafür einsetzt, ihn selbst zu töten. In einem solchen Fall handelt es sich nicht nur um eine fahrlässige Beteiligung an fremdherrschaftlichem Selbstmord, sondern um eine eigenherrschaftliche fahrlässige Tötung.18 In der Literatur wird dies allerdings bestritten. So geht etwa Roxin für diesen Fall davon aus, dass „eine unvorsätzliche Beteiligung an einem Selbstmord sinnvollerweise nicht strafbar sein kann, wenn sogar die vorsätzliche Beteiligung daran straflos ist“.19 Aber dem ist entgegenzuhalten, dass es sich hier gerade nicht um eine fahrlässige Beteiligung an einer Selbsttötung, sondern um eine fahrlässige Fremdtötung handelt.
15 Nach OLG Nürnberg NJW 2003, 454 mit abl. Anm. Engländer JZ 2003, 745, 747; ders. Jura 2004, 234 ff.; Hecker/Witteck JuS 2005, 397 ff.; Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 129; zust. dagegen Herzberg NStZ 2004, 1; ders. Jura 2004, 670; Küpper JuS 2004, 757 ff.; Eisele Strafrecht BT I, 2. Aufl. 2012, Rn. 196 ff.; Rengier (Fn. 4), § 20 Rn. 25. 16 Engländer JZ 2003, 745, 747; Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 129. 17 A.A. Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 129. 18 Vgl. dazu bereits Jäger Examens-Repetitorium AT, 6. Aufl. 2013, Rn. 54c a.E.; wie hier auch Gössel/Dölling Strafrecht BT I, 2. Aufl. 2004, § 2 Rn. 104; ebenso Herzberg NStZ 2004, 1 ff.; ders. Jura 2004, 670. 19 Vgl. Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 130. Im Ergebnis ebenso Engländer JZ 2003, 745, 747.
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c) Der Autosurferfall nach OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325 Einen Fall einer einverständlichen Fremdgefährdung bildet der vom OLG Düsseldorf entschiedene Autosurferfall.20 Jugendliche hatten dort zum Freizeitspaß sog. „Autosurfen“ betrieben. Dazu hielten sie sich jeweils auf dem Dach liegend bei geöffneten Fenstern an den Türholmen des Autos fest und wechselten sich unter jeweiliger Erhöhung der Geschwindigkeit ab. Als A mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h durch eine leichte Kurve fuhr, entwickelte sich eine so starke Fliehkraft, dass B vom Wagen geschleudert wurde und schwere Verletzungen erlitt. Das OLG Düsseldorf hat hier eine fahrlässige Körperverletzung des A bejaht. Zwar komme eine einverständliche Fremdgefährdung in Betracht, wenn der Verletzte in Kenntnis der besonderen Gefahr in die Vornahme der an sich sorgfaltspflichtwidrigen Handlung und damit in die Gefährdung einwillige. Auch bedeute die Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h keinen Einwilligungsexzess, da die Steigerung des Risikos von allen Beteiligten gewollt war. Jedoch führe die Einwilligung im Ergebnis dennoch nicht zur Rechtfertigung der Körperverletzung, da die Tat nach § 228 StGB gegen die guten Sitten verstoßen habe.21 Auch diese Entscheidung hat in der Literatur zum Teil heftige Kritik ausgelöst. So heißt es etwa bei Roxin: 22 „Da die Jugendlichen, die sich auf dem Dach des fahrenden Wagens festzuhalten versuchten, das Risiko ihres lebensgefährlichen Verhaltens in demselben Maße übersahen wie der Fahrer und da alle Beteiligten auch sonst für das Geschehen dieselbe Verantwortung trugen, steht dieser Fall der einverständlichen Fremdgefährdung einer Selbstgefährdung gleich, ist dem Fahrer also nicht als fahrlässige Körperverletzung zuzurechnen. Denn da sogar die ‚fahrlässige‘ Mitwirkung an einer Selbsttötung straflos ist, ist die fahrlässige Mitwirkung an einer vorsätzlichen Selbstgefährdung ebenfalls dem Verantwortungsbereich des Gefährdeten zuzurechnen“. Indessen ist auch diese Kritik nicht zwingend. Zwar ist es richtig, dass die fahrlässige Mitwirkung an einer Selbsttötung straflos ist und daher die fahrlässige Mitwirkung an einer vorsätzlichen Selbstgefährdung erst recht straflos sein muss. Jedoch kann eine Fremdgefährdung eben nicht mit einer Selbstgefährdung gleichgesetzt werden. Vielmehr weist die Selbstgefährdung eine Nähe zur Selbsttötung auf, während die Fremdgefährdung durch eine Nähe zur Fremdtötung gekennzeichnet ist. Dann aber lässt sich bei der Fremdgefährdung der Schluss von der fahrlässigen Mitwirkung an einer Selbsttötung nicht ohne weiteres auf die Fremdgefährdung übertragen. Wollte man dies anders sehen, so würde die Unterscheidung zwischen einverständlicher
20 Nach OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325; dazu Geppert JK 98, StGB § 315b/7; Hammer JuS 1998, 785; Saal NZV 1998, 49. 21 Ebenso Saal NZV 1998, 49, 54, der diesbezüglich auf § 216 StGB zurückgreift. 22 Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 134.
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Fremdgefährdung und freiverantwortlicher Selbstgefährdung letztlich obsolet, wie dies überhaupt der Fall ist, wenn man einverständliche Fremdgefährdung und Selbstgefährdung identisch behandelt.23 d) Konstanzer Wagenrennen nach BGHSt 53, 55 Auch im Fall „Konstanzer Wagenrennen“ hat der BGH die Strafbarkeit des Täters nach Einwilligungsgrundsätzen beurteilt.24 Dort hatten zwei Autofahrer A und B auf einer zweispurigen Bundesstraße einen Beschleunigungstest durchgeführt. Zu diesem Zweck verursachten sie zunächst durch Herunterbremsen einen Stau und nutzten dann die dadurch entstehende freie Strecke vor ihnen, um das Wettrennen ungestört veranstalten zu können. Während der Fahrt tauchte überraschend doch ein Opel vor ihnen auf. Bei dem Versuch, den rechts fahrenden Opel gemeinsam auf der linken Spur zu überholen, geriet eines der Fahrzeuge auf den Grünstreifen und dadurch ins Schleudern, so dass sich das Fahrzeug überschlug. Dabei wurde der im Wagen des A befindliche C, der das Rennen filmte, getötet. Der BGH hat hier eine wirksame Einwilligung in das gefährliche Überholmanöver verneint, weil C niemals sein Einverständnis zu dem konkreten Vorgang (Überholen eines Dritten) gegeben habe, sondern nur ein Wettrennen unter Beteiligung von zwei Fahrzeugen gewollt war. In der Literatur wurde das Ergebnis zwar überwiegend begrüßt, jedoch wurde der Begründung entgegengehalten, dass die einverständliche Fremdgefährdung nicht nach Einwilligungsgrundsätzen beurteilt werden dürfe, da das Opfer jedenfalls in den Erfolg nicht eingewilligt habe.25 Man muss sich allerdings klar machen, dass die Verneinung von Einwilligungsgrundsätzen zu einer Zurechnungsunterbrechung geführt hätte, wenn auch C mit dem konkreten Überholmanöver einverstanden gewesen wäre. – Ein fragwürdiges Ergebnis, das bei Anwendung der Einwilligungsregeln vermieden wird. Denn der Überholvorgang war zweifellos konkret lebensgefährlich, so dass einer wirksamen Einwilligung in die Gefährdung auch in diesem Fall der Rechtsgedanke der §§ 228, 216 StGB entgegengestanden hätte.26
23 So aber etwa Otto Jura 1984, 536, 540; ders. FS Tröndle, 1989, S. 169 ff.; Schünemann JA 1975, 715, 722. 24 BGHSt 53, 55 m. Anm. Brüning ZJS 2009, 194 ff.; Duttge ZJS 2009, 359 ff.; Hauck GA 2012, 201 ff.; Jahn JuS 2009, 370 f.; Kühl NJW 2009, 1158 f.; Lasson ZJS 2009, 359 ff.; Murmann FS Puppe, 2011, S. 767 ff.; Puppe GA 2009, 486 ff.; Rengier StV 2013, 32 f.; Renzikowski HRRS 2009, 347 ff.; Roxin JZ 2009, 401 f.; ders. GA 2012, 666; Timpe ZJS 2009, 170 ff.; vgl. auch Hinderer/Brutscher JA 2011, 907 ff. 25 Roxin JZ 2009, 399, 401 f.; ders. GA 2012, 655, 666. 26 Ebenso Rengier (Fn. 4), § 20 Rn. 35. Auch T. Walter NStZ 2013, 679, sieht in der Anwendung des § 228 StGB einen Vorzug der Einwilligungslösung.
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e) Der Todesengel von Wuppertal nach BGH NStZ 1992, 34 Im Fall des sog. „Todesengels von Wuppertal“27, in dem eine Krankenschwester zahlreiche Mitleidstötungen an Patienten begangen hatte, ist eine mögliche Strafbarkeit des diensthabenden Arztes wegen fahrlässiger Tötung in der Literatur verneint worden, obwohl dieser trotz bestehender Verdachtsmomente nicht für eine Suspendierung der Schwester gesorgt und auf diese Weise mindestens noch eine weitere Tötung auf Verlangen ermöglicht hatte. So verneint etwa Roxin im konkreten Fall eine Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen28 und begründet dies damit, dass die freiverantwortliche Selbstgefährdung die Zurechnung zur fahrlässigen Tötung ausschließe und dies deshalb auch die qualifizierte Selbstgefährdung, als die sich das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten darstelle, erst recht tun müsse.29 Jedoch sprechen auch hier entscheidende Gründe für eine Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Tötung. Denn das ausdrückliche und ernstliche Verlangen der Getöteten ändert nichts an der Fremdtötung durch die Krankenschwester, die nicht mit einer qualifizierten Selbstgefährdung gleichgesetzt werden kann, ohne dass der Wille des Gesetzgebers umgangen würde. Die Beurteilung ändert sich auch nicht dadurch, dass §§ 222 und 216 StGB dieselbe Höchststrafe von fünf Jahren vorsehen. Roxin leitet hieraus zwar den Schluss einer Unanwendbarkeit des § 222 StGB ab, weil es nicht gerechtfertigt sei, den Arzt derselben Strafdrohung wie die Krankenschwester auszusetzen.30 Jedoch besagen die Strafrahmen über eine Anwendbarkeit des § 222 StGB im vorliegenden Fall nichts. Denn selbstverständlich muss die abstrakte Strafdrohung im konkreten Fall nicht zu einer Identität der konkreten Strafmaßentscheidung führen. Auch wäre es unbefriedigend, wenn § 216 StGB die Bestrafung eines Außenstehenden wegen fahrlässiger Tötung prinzipiell ausschließen müsste. Denn wenn der Gesetzgeber die Tötung eines anderen auch im Falle eines ausdrücklichen Verlangens unter Strafe gestellt hat, handelt es sich nur um eine folgerichtige Annahme, dass der Gesetzgeber auch die fahrlässige Bewirkung einer Tötung auf Verlangen unterbinden wollte.
II. Die Rechtsfolgen der einverständlichen Fremdgefährdung Die Behandlung der einverständlichen Fremdgefährdung ist nicht nur in ihren Voraussetzungen, sondern auch in ihren Rechtsfolgen weitestgehend umstritten. Schon in den Beispielsfällen (I. 4. a–e) ist dies angeklungen, auch
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BGH NStZ 1992, 34 beschäftigt sich nur mit der Strafbarkeit der Krankenschwester. Vgl. Roxin FS Schreiber, 2003, S. 399; a.A. Herzberg NStZ 2004, 1. So ausdrücklich Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 132. Vgl. hier und im Folgenden Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 132.
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wenn dort der Schwerpunkt der Betrachtung auf den Voraussetzungen der einverständlichen Fremdgefährdung lag. 1. Die Behandlung nach Einwilligungsregeln Die h.M. behandelt die einverständliche Fremdgefährdung nach den Regeln der Einwilligung.31 Hiergegen wurde jedoch in der Literatur eingewandt, dass sich die Einwilligung grundsätzlich auf den tatbestandsmäßigen Erfolg beziehen müsse.32 Unabhängig davon, ob man die Einwilligung auf Tatbestands-33 oder Rechtswidrigkeitsebene34 einordnet, setze die Einwilligung einen vollständigen Rechtsgutsverzicht voraus, sodass der Täter mit der Verwirklichung des Erfolges einverstanden sein müsse. Die Rechtsfigur der einverständlichen Fremdgefährdung erfasse dagegen Fälle, in denen das Opfer lediglich in die Rechtsgutsgefährdung einwilligt und daher prinzipiell auf ein Ausbleiben der Erfolgsverwirklichung vertraut.35 2. Die Behandlung nach den Regeln der freiverantwortlichen Selbstgefährdung Zum Teil wird dagegen in der Literatur vorgeschlagen, einverständliche Fremdgefährdung und freiverantwortliche Selbstgefährdung grundsätzlich rechtlich identisch zu behandeln.36 Soweit die einverständliche Fremdgefährdung in der Literatur als eigenständige Rechtsfigur überhaupt Anerkennung findet, wird diese daher ganz überwiegend – wie die freiverantwortliche Selbstgefährdung – als Zurechnungsausschlussgrund betrachtet. Zwar liege die Tatherrschaft bei der einverständlichen Fremdgefährdung auf Seiten des Täters, jedoch berechtige dies nicht zur Anwendung der Einwilligungsregeln,
31 Vgl. dazu etwa BGHSt 49, 34 ff.; 49, 166; 53, 55 (Konstanzer Wagenrennen); OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325; Frister Strafrecht AT, 6. Aufl. 2013, § 15 Rn. 14; Kühl (Fn. 6), § 17 Rn. 82 ff.; Systematischer Kommentar StGB/Rudolphi Vor § 1 Rn. 81a (Juni 1997); Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 32 Rn. 102 ff.; LK/Schröder, 12. Aufl. 2007, § 16 Rn. 180; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, Rn. 191. 32 So etwa Krey/Esser Strafrecht AT, 5. Aufl. 2012, Rn. 674; Renzikowski HRRS 2009, 347, 353; Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 121. 33 So etwa Jäger Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 22 f.; Roxin (Fn. 7), § 13 Rn. 1 ff.; Maurach/Zipf Strafrecht AT I, 8. Aufl. 1992, § 17 Rn. 30 ff. 34 In diesem Sinne etwa BGHSt 11, 111; 43, 308; OLG Karlsruhe NJW 1983, 352; Kühl (Fn. 6), § 9 Rn. 21; Rengier Strafrecht AT, 5. Aufl. 2013, § 23 Rn. 1; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, S. 376 ff. 35 Vgl. zur erfolgsbezogenen Einwilligung einerseits und zur gefährdungsbezogenen Fremdgefährdung andererseits Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 121. 36 So etwa Otto (Fn. 2), § 6 Rn. 61; Schünemann JA 1975, 715, 722 f.
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weil die Eingehung des Risikos durch das Opfer ausschlaggebend bleibe. Auch der Jubilar hat sich bereits vor fast 40 Jahren zu diesem Standpunkt bekannt. Die Tatherrschaft, so heißt es bei ihm, könne „für die rechtliche Bewertung … keinen Unterschied machen, weil Tatherrschaft überall dort, wo ein Abbruch des Zurechnungszusammenhanges überhaupt in Betracht kommt, vollständig funktionslos bleibt“.37 Man muss sich allerdings klar machen, dass sich eine Unterscheidung der beiden Rechtsfiguren dadurch in Wahrheit erübrigt. 3. Die Behandlung nach den Regeln der freiverantwortlichen Selbstgefährdung bei Vorliegen einer vergleichbaren Lage Roxin hat daher vorgeschlagen, die einverständliche Fremdgefährdung nur unter bestimmten Bedingungen einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung gleichzustellen. Dies sei dann der Fall, wenn der Schaden die Folge des eingegangenen Risikos und nicht hinzukommender anderer Fehler ist, wenn das Geschehen bezüglich der Eigenverantwortlichkeit des Gefährdeten einer Selbstgefährdung gleichsteht und wenn das Opfer das Risiko im selben Maße übersehen hat wie der Gefährdende.38 4. Die Behandlung als Pflichtwidrigkeitsproblem Eine weitere in der Literatur und früher auch in der Rechtsprechung vertretene Auffassung geht daher davon aus, dass die Problematik der einverständlichen Fremdgefährdung im Rahmen der Pflichtwidrigkeit des Täterverhaltens als Kriterium der objektiven Fahrlässigkeit zu behandeln sei.39 Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang der sog. Memelfall, wo ein Fährmann auf wiederholtes Drängen eines Fahrgastes sich bereit erklärt hatte, mit seinem Boot über die stürmische Memel zu setzen, obwohl er dieses Unternehmen für riskant gehalten und den Fahrgast darauf hingewiesen hatte. Das Reichsgericht40 hat den Fährmann im konkreten Fall vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, weil es bei einer bewussten Eingehung des Risikos durch den Fahrgast an einer Sorgfaltspflichtverletzung fehle. 37 Schünemann JA 1975, 715, 722; ders. NStZ 1982, 60, 61; Roxin FS Gallas, 1973, S. 241, 246; ders. (Fn. 7), § 11 Rn. 107; ders. JZ 2009, 399, 401; ders. GA 2012, 655, 660 f. 38 Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 123; ebenso Geppert Jura 2001, 490; Handkommentar Gesamtes Strafrecht/M. Heinrich, 3. Aufl. 2013, Vor § 13 Rn. 141; Hellmann FS Roxin, 2001, S. 271. 39 Krey/Esser (Fn. 32), Rn. 675; so bereits zuvor RGSt 57, 173 f.; BGHSt 4, 93; 7, 115; ebenso Fischer (Fn. 11), § 222 Rn. 3. 40 RGSt 57, 172 ff.
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5. Eigene Stellungnahme Zunächst ist eine Gleichstellung von freiverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung nicht zu befürworten, da sich die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung dadurch in Wahrheit erübrigt. Dies gilt selbst dann, wenn man eine Gleichbehandlung mit Roxin nur unter bestimmten Bedingungen zulässt, denn auch dann verliert die Rechtsfigur der einverständlichen Fremdgefährdung zumindest partiell ihren eigenständigen Charakter.41 Ebenso kann es nicht überzeugen, wenn die Pflichtwidrigkeit als Problem des Sorgfaltspflichtverstoßes eingeordnet wird, auch wenn bereits die Rechtsprechung des Reichsgerichts sowie die frühe Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs angenommen hat, dass die einverständliche Fremdgefährdung die Pflichtwidrigkeit des Täterverhaltens ausschließen soll.42 Zwar finden sich heute noch in der Literatur Stimmen, die diese Auffassung etwa im Memelfall (vgl. soeben 4.) unterstützen, indem auf das Kriterium des „erlaubten Risikos“ und das daraus resultierende Rechtsprinzip der Konkretisierung der Sorgfaltsanforderungen hingewiesen wird.43 Jedoch ist einer solchen Lösung über eine Relativierung der Sorgfaltspflichten zu widersprechen, weil die Fahrt über die Memel bei zu (!) stürmischem Wetter objektiv eindeutig als sorgfaltswidrig einzustufen war. Hieran vermag das Einverständnis des Opfers nichts zu ändern.44 Zu Recht hat die Rechtsprechung diese Auffassung daher mittlerweile aufgegeben und beurteilt die Fallgruppe der einverständlichen Fremdgefährdung ausschließlich nach Einwilligungsgrundsätzen. Soweit in der Literatur an der Verortung des Problems innerhalb der Pflichtwidrigkeit festgehalten wird, geschieht dies auch nur unter weiteren Voraussetzungen. So wird bei Krey/Esser gefordert, dass das Opfer sein Einverständnis freiverantwortlich erklärt, der Täter bei seinem gefährdenden Verhalten nicht in anderer Beziehung Sorgfaltspflichten verletzt und die Fremdgefährdung nicht gegen die guten Sitten verstößt. Letztgenanntes Kriterium soll sicherstellen, dass nicht in unverantwortlicher und moralwidriger Weise mit dem Leben anderer gespielt wird.45 Jedoch zeigt diese
41
Kritisch auch Krey/Esser (Fn. 32), Rn. 672. Vgl. RGSt 57, 173 f.; BGHSt 4, 93; 7, 115. 43 So Krey/Hellmann/Heinrich Strafrecht BT I, 15. Aufl. 2012, Rn. 124a und ausdrücklich Krey/Esser (Fn. 32), Rn. 675 unter Hinweis auf OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 74 betreffend die Verabreichung gefährlicher Dopingmittel an einverstandene Sportler. 44 Auch die Tatsache, dass das Opfer entgegen der Weisung des Fährmanns im Kahn von seinem Sitz aufsprang, dürfte entgegen T. Walter NStZ 2013, 673, 676 für sich gesehen nicht geeignet sein, aus einer Fremdgefährdung eine Selbstgefährdung zu machen. Entscheidend bleibt, dass der Fährmann das Boot gesteuert hat. 45 Krey/Esser (Fn. 32), Rn. 675. 42
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Einschränkung bereits, dass auch diese Auffassung nicht ohne einen Rückgriff auf Einwilligungsgrundsätze zurechtkommt und daher in Wahrheit auf den Rechtsgedanken des § 228 StGB zurückgreift. Dann aber erscheint es doch sinnvoller, die Regeln der Einwilligung prinzipiell anzuerkennen und diese lediglich auf das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts zu beziehen. Man muss sich nach allem bewusst machen, dass die Rechtsfigur der einverständlichen Fremdgefährdung nur beim Fahrlässigkeitsdelikt Relevanz entfalten kann, weil der Erfolg in derartigen Fällen nicht nur vom Opfer, sondern auch vom Täter nicht gewollt ist. Danach wird man eine Einwilligung immer dann annehmen können, wenn die Eingehung des Fremdrisikos aus der ex ante-Sicht lediglich zu leichteren Körperverletzungen führen kann oder aber objektiv erkennbare Gründe vorliegen, die aus der Sicht ex ante für eine spezifische Beherrschung des Risikos oder allenfalls für eine abstrakte Lebensgefährdung sprechen. Als Beispiel dient hier ein Fall von Krey/Esser, in dem sich die Artistin B im Zirkus an ein sog. Teufelsrad binden und mit Messern bewerfen lässt. Da der Messerwerfer durch einen Zuschauer erschreckt wird, trifft er die Frau tödlich.46 Hier hat der Messerwerfer durch langjährige Übung Bedingungen geschaffen, die ex ante ein Vertrauen rechtfertigen, dass der Messerwerfer die Artistin nicht tödlich treffen wird. Deshalb erscheint die Fremdgefährdung im konkreten Fall nicht als sittenwidrig i.S.v. § 228 StGB. Zwar ist der Fehlwurf als solcher sorgfaltspflichtwidrig; jedoch ist eine Rechtfertigung durch Einwilligung in die Gefährdung und damit in die Tathandlung der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB gegeben. Ebenso wird man eine wirksame Einwilligung bejahen müssen, wenn zwar keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass der Täter das Risiko beherrschen wird, jedoch aus sonstigen Gründen nur eine abstrakte Gefährdung anzunehmen ist. So liegt es etwa, wenn der erkennbar völlig betrunkene A den B auf dessen Wunsch nach Hause fährt und einen alkoholbedingten Unfall versursacht, bei dem B stirbt. Hier ist zwar eine Beherrschung des Risikos von vornherein nicht erkennbar, jedoch zeigt schon § 316 StGB, dass der Gesetzgeber hier allenfalls von einer abstrakten Gefährdung des Beifahrers ausgeht. Man wird daher die Einwilligung in die Tathandlung (Fahren im alkoholisierten Zustand) hier nicht als sittenwidrig, weil ex ante nur mit abstrakten Lebensgefahren verbunden, beurteilen müssen. Vergleichbar liegt es in dem vom OLG Zweibrücken entschiedenen Fall, in dem das Opfer auf seinen Wunsch hin vom Fahrer eines Pkw-Kombi im Laderaum mitgenommen wurde, in dem sich keine Sicherheitsgurte befanden. Auch hier bedeutete die Mitnahme nur eine abstrakte Gefahr für das Opfer, so dass man von einer Einwilligung ausgehen kann, die das Handlungsunrecht des § 222 StGB aus-
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Abgewandeltes Beispiel nach Krey/Esser (Fn. 32), Rn. 370.
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schließt.47 Der Fall ist insofern nicht vergleichbar mit dem Memelfall, in dem das Übersetzen mit dem Boot zweifellos konkret lebensgefährlich war. Sofern eindeutige Regeln, wie § 316 StGB, zur Abgrenzung von abstrakten und konkreten Lebensgefahren nicht existieren, kann zusätzlich auf einen von Zaczyk ins Feld geführten Gesichtspunkt zurückgegriffen werden. Nach ihm soll es für die Zulässigkeit der Fremdgefährdung darauf ankommen, ob ein Vertrauen hinsichtlich der Beherrschung der Gefährdung berechtigt war.48 Zaczyk verwendet dieses Kriterium zwar zu Unrecht für die Abgrenzung von Fremdgefährdung zur Selbstgefährdung und setzt es in der Weise ein, dass er von einer strafbaren Fremdgefährdung ausgeht, wenn das Opfer „in rechtlich fester Form darauf vertrauen“ konnte, dass der Täter das Risiko beherrscht.49 Jedoch ist die Schlussfolgerung Zaczyks, wonach im MemelFall eine zur Straflosigkeit führende Selbstgefährdung, bei Trunkenheitsfahrten dagegen eine strafbare Fremdgefährdung vorliegen soll, sofern der Fahrer nicht völlig unfähig zur Steuerung des Fahrzeugs war, kaum nachvollziehbar. Denn weder im einen noch im anderen Fall wird man von einer Beherrschung des Risikos ausgehen können. Dennoch verhält es sich geradezu entgegengesetzt zum Vorschlag Zaczyks: Der Autofahrer sollte, da er durch die Fahrt als solche nur eine abstrakte Gefährdung bewirkt, nicht nach § 222, 229 StGB strafbar sein, da sein Verhalten nicht als sittenwidrig zu bewerten ist (über eine mögliche Strafbarkeit nach § 315c StGB im Falle einer – ursprünglich nicht gewollten (!) – späteren Konkretisierung ist damit freilich noch nichts entschieden). Der Fährmann hat dagegen seinen Fahrgast durch das Übersetzen zweifellos in eine konkret lebensgefährliche Situation gebracht. Im Schiffsverkehr existiert gerade keine dem § 316 StGB entsprechende Norm, die nur für eine abstrakte Gefährdung sprechen könnte. Der Fährmann hat sich daher wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht, weil es sich um eine konkret lebensbedrohliche Fremdgefährdung handelte, die dem Rechtsgedanken der §§ 216, 228 StGB zuwider läuft. Hierin liegt gerade der Unterschied zum Zirkusartisten-Fall. Dort konnte aufgrund der langen Übung davon ausgegangen werden, dass der Messerwerfer sein Handwerk beherrscht, so dass von einer Sittenwidrigkeit der Einwilligung in das Handlungsunrecht des § 222 StGB nicht auszugehen war. Die h.M. wendet daher zu Recht die Regeln der Einwilligung auf die einverständliche Fremdgefährdung an. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die einverständliche Fremdgefährdung nur im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte problematisch werden und sich deshalb die Einwilligung naturgemäß
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Zumindest im Ergebnis wie hier Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 31), Rn. 191. Zaczyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993,
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Zu Recht kritisch gegenüber dieser Abschichtung Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 135.
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lediglich auf den Handlungsunwert beziehen kann.50 Darüber hinaus wäre es auch widersprüchlich, einerseits die Einwilligung nach § 228 StGB bei vorsätzlichen Körperverletzungen scheitern zu lassen, wenn das Täterverhalten eine Lebensgefährdung mit sich bringt und andererseits bei einer einverständlichen lebensbedrohlichen Fremdgefährdung diese Einwilligungsregel nicht heranzuziehen. Deshalb ist es durchaus zu befürworten, wenn die Rechtsprechung auch im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung für eine Anwendung des § 228 StGB eintritt.51
III. Resümee Meine Ausführungen sollten zeigen, dass die besseren Gründe für die Anwendung der Einwilligungsregeln auf Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung sprechen. Dies bedeutet freilich nicht, dass die einverständliche Fremdgefährdung nur zur Rechtfertigung führen kann. Vielmehr hängt die Rechtsfolge davon ab, ob man die Einwilligung als Zurechnungsausschließungs- oder als Rechtfertigungsgrund begreift. Dogmatisch streitet dabei vieles für die Annahme eines die Tatbestandsebene betreffenden Zurechnungsausschlusses. Ich habe dies an anderer Stelle ausführlich begründet52 und kann dieses Problem im hier gesteckten Rahmen nicht mehr vertiefen. Jedoch ist dies auch nicht erforderlich, weil für die hier behandelte Thematik viel entscheidender ist, dass sich die einverständliche Fremdgefährdung jedenfalls in ihren Voraussetzungen nach den Regeln der Einwilligung zu richten hat. Freilich widerspricht diese Sicht der Dinge derjenigen des Jubilars, der hierzu sicherlich Vieles zu sagen hätte und dem dieser Beitrag mit den herzlichsten Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist.
50 So im Ergebnis auch Schaffstein FS Welzel, 1974, S. 567; Ostendorf JuS 1982, 426, 432 und neuerdings auch T. Walter NStZ 2013, 673, 678; a.A. dagegen Roxin GA 2012, 655, 661. 51 Wie hier OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325; dazu Geppert JK 98, StGB § 315b/7; Hammer JuS 1998, 785; Saal NZV 1998, 49. 52 Jäger (Fn. 33), S. 22 f.
Abstrakte Gefährdungsdelikte und Resozialisierung Klaus Lüderssen
Der Versuch, die eigenartige Stellung des eingetretenen „Erfolges“ im Tatbestand unterzubringen, ohne diese Kategorie gleichzeitig zu sprengen, ist, wenn man ihn deliktssystematisch anlegt, wohl zum Scheitern verurteilt.1 Das Problem wird entweder nicht erkannt oder beiseite geschoben. Wenn im Folgenden ein weiterer Anlauf genommen wird, dann soll das durch Einbeziehung der Rechtsfolgen geschehen und mit einer gewissen Konzentration auf den Deliktstyp, bei dem die Fixierung des Erfolges gerade besonders schwierig ist; gemeint sind die abstrakten Gefährdungsdelikte. Zu fragen ist dann zunächst, ob, wenn – wie andernorts gefordert –2 die Zurechnung präventionsorientiert sein soll, gerade der Eintritt der Rechtsgutsverletzung die Resozialisierungsbedürftigkeit 3 des Täters offenbart. Die Anpassung an die populäre Vorstellung, wenn etwas passiert ist, dann ist es eben au fond schlimmer, müsste den Weg nehmen über die Relevanz dieser Vorstellungen für die Resozialisierungsbedürftigkeit des Täters. Soll in die Motivationsstruktur des zu Resozialisierenden der Schock über das Geschehene eingehen? Bei Fahrlässigkeitsdelikten wäre das ganz einfach zu konstruieren. Der Beinahe-Unfall wird mit Achselzucken registriert. Zwischen Tod und Leben bleibt eine kleine Momentaufnahme der Gefahr. Wer Glück gehabt hat, würde man sagen, kann nicht in den Kreis der Resozialisierungsbedürftigen einbezogen werden. Aber warum eigentlich? Vielleicht kann man die Antwort dort finden, wo es auf dieses Glück überhaupt nicht ankommt, weil der „Erfolg“ gar nicht zum Delikt gehört. Das sind nach einem gewissen Verständnis die so genannten abstrakten Gefährdungsdelikte, die keineswegs mehr eine Randerscheinung sind; die bloße Pflichtverletzung soll genügen beim Subventionsbetrug, beim Submissionsbetrug, aber auch bei der Korruption im Geschäftsleben. Wenn das allmählich die Regel würde im Strafrecht, wäre das Problem vom Tisch, scheint es. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man diese Delikte ganz ohne
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Lüderssen Rechtsfreie Räume?, 2012, S. 659 ff. mit Belegen. Lüderssen StV 2011, 377 ff. Zur Favorisierung dieses Präventionszwecks Roxin FS Volk, 2009, S. 601, 614 ff.
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Erfolgsbezug konstruieren würde. Das ist aber nicht der Fall. Das abstrakte Gefährdungsdelikt unterscheidet sich vom konkreten nur dadurch, dass der Angriffsweg, den man ins Auge fasst, für etwaige Pönalisierungen von Handlungen sehr weitläufig ist. Aber dass es auch bei Delikten am Schluss darum geht, ganz konkrete Erfolge zu verhindern, darf man nicht übersehen. Und daran ändert sich auch nichts, wenn man ein so genanntes Zwischenrechtsgut einschaltet, etwa in Gestalt des freien Wettbewerbes, gegen dessen Regeln zu verstoßen nicht unmittelbar einen speziellen Erfolg erkennen lässt, worauf es aber eben nicht ankommen soll. Der Gedanke, in einer Welt der abstrakten Gefährdungsdelikte, die im Wirtschaftsstrafrecht sogar zum Prototyp zu werden scheinen, brauche man sich um den Stellenwert des eingetretenen Erfolges nicht mehr zu kümmern, drängt sich auf, aber trägt nicht weit, denn irgendeine Art von Erfolg muss auch bei dieser Deliktsgruppe vorliegen, damit aus der unrechten Gesinnung ein greifbarer Handlungsunwert wird.4 Beim strafbaren Versuch wird das ganz deutlich in der Abgrenzung zur Vorbereitungshandlung. Es geht also gar nicht darum, überhaupt irgendeinen Erfolgsunwert für relevant zu erklären und nach einer Begründung dafür zu suchen, sondern darum, den jeweils ganz bestimmten, in den Tatbeständen vorausgesetzten „Erfolg“ als Haftungsvoraussetzung zu legitimieren. Dass die Alltagstheorie – „Es muss etwas passiert sein“ – hier eine Rolle spielt, ist klar. Aber erstens: warum entscheidet sie sich für eine ganz bestimmte Zäsur des Erfolgsverlaufs, und zweitens: lässt sie sich nicht doch durch aufgeklärte wissenschaftliche Erklärungen ersetzen? Durch die Orientierung der Zurechnungsvoraussetzungen an der Rechtsfolge der Strafe bekommt diese Frage nach der Staffelung der Erfolgsrelevanzen einen besonderen Akzent. Von welchem „Erfolg“ ab sozusagen, muss man sich mit dem Thema beschäftigen. Was ist der Grund, gerade jetzt und 4 Scharfsinnig erkannt von Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 99 ff. Aber in einem Punkt irrt Roxin meines Erachtens. Zwar hat er Recht mit dem Hinweis, dass es einen Unterschied macht, ob die Handlung nichts mit dem Erfolg zu tun hat, der gewissermaßen von der Seite hereinkommt und nicht zugerechnet werden kann, und dem Erfolg, der aus der Intention der Handlung hervorgeht. Nur: wenn der Täter gehandelt hat, steht sein Unrecht – die Verletzung eines Verbots – fest. Was infolge der Handlung dann noch passiert, ändert daran nichts. Eine andere Frage ist, was man an äußerem Geschehen braucht, um sagen zu können, hier liegt eine Handlung vor, und nicht nur eine – wenn auch vielleicht schon geäußerte – Gesinnung. Es könnte freilich sein, dass dieses Kriterium nur die Funktion eines Indizes oder Beweises hat, nicht essentiell ist für die Handlung. Dann ist es allerdings konsequent, wenn Samson dem Erfolgsmoment generell eine Indizfunktion zuschreibt (s. die Nachweise bei Lüderssen [Fn. 1], S. 669 und meine Ausführungen dort). Je schwerer das Delikt ist, umso früher kann ein „Erfolg“ als Indiz abgerufen werden. Wie auch immer man sich je im Einzelnen entscheidet, das bleibt eine prozessuale Lösung, die nicht zur herrschenden Lehre passt, die den Erfolg für einen Bestandteil des deliktischen Unrechts hält.
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nicht früher oder später einzugreifen? Es muss etwas gefunden werden, was eine Art höhere Kulturstufe gegenüber den Alltagstheorien darstellt, ein gereiftes Verständnis der Erfolgsrelevanz gewissermaßen. Was bisher in den Überlegungen gefehlt hat, ist die Erstreckung der Psychologie nicht nur auf die Normbefolgung; vielmehr muss auch gefragt werden nach der Psychologie der präventiven Resozialisierung. Was kann der Täter einsehen bei der Rückverfolgung der Ursachenkette im Sinne einer zukünftigen Vermeidbarkeit von Rechtsgutsverletzungen und -gefährdungen. Dazu bedarf es nicht nur der psychischen Möglichkeiten, sondern auch einer bestimmten Bewertung durch den Täter selbst. Welche Legitimationen sind realistisch im Sinne einer Einstellungsänderung oder Einstellungsneubegründung und normativ zumutbar? Kann man sagen, dass ein Täter den Anspruch darauf hat, zugebilligt zu bekommen, dass er Glück gehabt hat und deshalb keiner Resozialisierung bedarf, zum Beispiel wenn er im Straßenverkehr ein gefährliches Manöver schadlos übersteht. Die Alternative wäre fahrlässige Tötung gewesen. Braucht die Resozialisierung nicht genauso wie die anderen Relevanzeinschätzungen von Unrecht dieses „Es muss etwas passiert sein?“ wäre also folgenlose Fahrlässigkeit zu bestrafen illegitim? Die Resozialisierung soll sich ja auf Erfolgsvermeidung, nicht auf Gesinnungsänderung beziehen. Gesinnungsänderung ist nur in dem Maße gefordert, wie das zur Erfolgsvermeidung nötig ist. Wer erleben muss, dass ihm Glück nicht bescheinigt wird im Sinne eines Bonus (man verschont ihn mit der Sanktion), hat möglicherweise ein sozialisationskonträres Unrechtserlebnis. Der einfache Gedanke ist, dass, wenn man Glück hat, einem das gegönnt werden soll und man davon absieht, jetzt schon den Kern der Persönlichkeit zu betrachten, der fahrlässig verantwortungslos sein könnte. Die Resozialisierung ist eine Rechtsfolge, sie muss nicht identisch sein mit dem, was man moralisch fordern möchte. An welcher Stelle der Erfolgskette, die die Handlung durchläuft, man dabei einhakt, ist damit noch nicht gesagt. Was ist das Besondere der eingetretenen Verletzung? Im Grunde müsste man die Argumente für die Straflosigkeit des fahrlässigen Versuchs mobilisieren.5 Oder vielleicht am besten gleich das Umgekehrte tun: Die Begründung für die Strafbarkeit fahrlässiger Erfolgsverursachung suchen. Von der Fahrlässigkeitsdeliktskonstruktion her hat ja auch Welzel seinerzeit die Wandlung seines Standpunktes vollzogen. Wenn es so ist, wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 6 sagt, dass der dem freien Willen zugebilligte Entscheidungsspielraum, auch wenn er an sich existiert, doch durch viele äußere Fakten mitbestimmt wird, ja zur 5
Vgl. dazu Lüderssen FS Samson, 2010, S. 93 ff. Thomas Nagel, „Moralische Kontingenz“, in: ders., Letzte Fragen, Berlin 1996, S. 45 ff. 6
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quantité négligable werden kann, dann geht es vielleicht gar nicht darum, für die Umkehr des Kausalverlaufs unbedingt an diesen freien Willen anzuknüpfen, das kann auch was anderes sein; freilich kommt man auf diesem Wege schnell in die Konditionierung. Man nimmt die Masse der Ursachen, unter denen der freie Wille einer von vielen ist, am Ende sogar eine sehr geringfügige, und setzt sie prospektiv in Einflussfaktoren um, während der Gedanke, Freiheit und Resozialisierung miteinander zu vereinbaren, den Hauptakzent auf den freien Willen legt. Damit ist freilich eine Entscheidung getroffen, die von einigen Vertretern der modernen Hirnforschung grundsätzlichen Zweifeln ausgesetzt wird. Solange aber die Region, um die es sich mutmaßlich handelt, noch nicht hinlänglich erforscht ist, und es spricht viel dafür, die Fiktion des freien und damit schuldfähigen Willens aufrecht zu erhalten, vielleicht weil die (mit ebenfalls vielem Unbekannten verbundenen) Erfahrungen, die man mit Blick auf die subjektlose Konditionierung machen würde, die schlechtere Option wäre – sogar für den Fall des dermaleinstigen definitiven Ausfalls der Möglichkeit, eine zentrale gesteuerte Instanz im Gehirn nachzuweisen.7 Das Kunststück wäre also zu vollbringen, die Orientierung am Erfolg in diesen freien Willen zu integrieren, als einen internalisierten Motivationsfaktor. Man sperrt sich ja ganz allgemein gegen das Zufallsmoment des Erfolges. Auf dem Erfolg soll man, wenn er zufällig eintritt, nicht „sitzenbleiben“. Das ist die Parole bei Rücktritt und tätiger Reue.8 Man soll aber auch dann, wenn nichts passiert ist, straffrei bleiben. Das ist die Straflosigkeit folgenloser Fahrlässigkeit. Bei einer reinen Pflichtorientierung steht fest, dass ganz viele bestraft werden müssten, und das ist motivationsmindernd, löst Fatalismus aus. Deshalb klappt bei dieser Sachlage die Kalkulation des Vermeidewillens als Voraussetzung für spätere Resozialisierung nicht. Ähnlich verhält es sich in Fällen des Justizirrtums, weil das Gericht beispielsweise rein macht- und politisch-orientiert ist. Dann gibt man sich nur aus Angst erwischt zu werden Mühe, die Norm nicht zu verletzen; das Motiv, Recht tun zu wollen, kommt nicht auf, kann nicht aufkommen. Diese prognostische Vermutung ist nach den Erfahrungen, die mit der Schaffung und Anwendung von Normen gemacht werden, denen keine andere Wirkung zu bescheinigen ist als die der Furchteinflößung, unabweisbar. Man kann daher durchaus so weit gehen, mit dieser Fatalismuserwartung den unsicheren Raum aufzufüllen, der durch die Entscheidung für den freien Willen eröffnet ist. Solange und in dem Maße, wie die Menschen sich auf
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Vgl. Lüderssen FS Puppe, 2011, S. 65 ff. Dass das noch nicht ganz durchdekliniert ist, hat Muñoz Conde GA 1973, 33 ff. überzeugend dargetan (dazu Lüderssen FS Samson, 2010, S. 93, 95). 8
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Fatalismus nicht angewiesen sehen möchten, haben sie nur eine Chance, wenn sie sich mit der Annahme ihres freien Willens arrangieren. Über dessen Reichweite ist damit natürlich nichts gesagt. An dem Parallelogramm der Kräfte, so wie es Nagel skizziert, ändert sich nichts durch diese Annahme, das heißt, wie sich die Quantitäten von Fremdkonditionierung und Selbstkonditionierung zueinander verhalten, kann man nicht wissen. Plausibel ist aber, dass man den Menschen zubilligt, sich gegen die Zumutung des Fatalismus zu wehren. Wann und in welchem Maße er das tut, ist eine Sache der kasuistischen Verständigung, objektive Daten gibt es nicht. Mit dieser epistemologischen Belehrung versehen, kann man das Experiment fortsetzen, nach der Stelle zu suchen, wo man bei einem Handlungsund Motivationsgefüge mit der Relevanz eines eingetretenen Erfolges arbeiten möchte. Da man bei dieser Suche auf den eigentlichen Tatbestandserfolg nicht beschränkt ist, sind die Argumente, die für diese jenseits des eigentlichen Tatbestandserfolges liegenden Begrenzungskriterien sprechen, vielleicht ergiebiger als die bloß auf den Enderfolg abgestellten Argumente. Warum verlangt man das unmittelbare Ansetzen zur tatbestandlichen Verwirklichung beim Versuch? Warum greift man nicht früher zu? Die Antwort ist immer wieder dieselbe: die Haftungsfälle würden sich vervielfachen, Kriminalisierung in diesen Fällen würde fatalistisch ausgebremst. Aber wann setzt das Fatalismusargument ein, es könnte ja bei gewissen Vorbereitungshandlungen vielleicht doch schon negativ relevant werden, also entfallen. Umgekehrt ist das unmittelbare Ansetzen vielleicht immer noch zu wenig. Es müsste jemand gewissermaßen mittendrin stecken. Andererseits ist manches Delikt so formuliert, dass der Erfolg entweder überhaupt nicht da ist, oder gleich ganz und gar. Wahrscheinlich spielt der Wert des Rechtsguts eben doch eine Rolle. Je höher er ist, umso länger und verzweigter kann der Angriffsweg sein. Am deutlichsten kann man das am abstrakten Gefährdungsdelikt des Submissionsbetruges erkennen.9 Hier ist es die deltahafte Diffusität des Rechtsguts, die entscheidet. Man landet schließlich beim Als-ob-Wettbewerb. Die Furcht vor Störungen irgendwelcher Art auf diesem Gebiet des Geschäftslebens ist so groß, dass man eben früh ansetzt. Wenn die Resozialisierungsbedürftigkeit des Täters oberstes Kriterium sein soll, müsste man sagen: bei diesen Rechtsgütern ist rechtzeitige Umkehr des Täters durch Resozialisierung erforderlich, alles andere genügt nicht. Die Schwere der Rechtsgutsverletzung darf nur eben nicht allein den Ausschlag geben, sondern muss die zusätzliche Qualifikation der Resozialisierungsbedürftigkeit auslösen. Noch einmal mit anderen Worten: Die abstrakten Gefährdungsdelikte verzichten keineswegs auf ein Rechtsgut, es ist nur der längere Angriffsweg, der
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Vgl. Lüderssen BB-Beilage 1996, Nr. 11, 1 ff.
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fixiert wird, weil das Rechtsgut, um das es geht, etwas besonders Schutzwürdiges ist, und man deshalb ganz früh mögliche Gefahren, denen es durch die Strafdrohung ausgesetzt ist, abwenden möchte. Dem müsste das Resozialisationsmodell entsprechen: dass jemand lernt, sehr früh die Gefahren zu erkennen, die drohen können im Zusammenhang mit dem eigenen Verhalten, das den Beginn des langen Angriffswegs ausmacht, sodass entsprechende Lernprozesse relativ früh eingeleitet werden müssen. Die Verbindung zwischen Rechtsgutsverletzung und Strafzweck besteht hier also darin, dass man sagt, das Unrecht wiegt so schwer, dass Prävention nötig ist im Sinne von Resozialisierung, dass man es nicht darauf ankommen lassen kann, wenn dieser einzelne Fall nur mit den normalen Mitteln des Rechts, also außerhalb des Strafrechts abgewickelt wird. Es geht nicht darum, hier ein Vergeltungsinteresse geltend zu machen, sondern darum, dass bei Verstößen gegen die Rechtsordnung, die dieses Ausmaß und diese Schwere aufweisen, man sich um den Täter kümmern muss. Dass man das bei abstrakten Gefährdungsdelikten nicht ohne weiteres plausibel machen kann, spricht nicht gegen die Theorie der präventiven Zurechnung, sondern gegen die abstrakten Gefährdungsdelikte. Mehr noch, man kann die Theorie der Präventionierung gewissermaßen zum Kriterium auch dafür erheben, dass man kein abstraktes Gefährdungsdelikt haben möchte, wenn man weiß, dass die Folgen einer derartigen Institutionalisierung – tatorientierte Resozialisierung – nicht eintreten können. Vor jeder Sanktionierung eines Verhaltens mit Kriminalstrafe muss demnach die Frage beantwortet werden, ob dieses Verhalten hinreichend qualifizierte Bedingungen erfüllt, um mit der kommunikativen Folge der Resozialisierung sanktioniert zu werden. Verlangt ein Verhalten nur eine Sanktion als Normbestätigung, so ist eine Strafe regelmäßig nicht zu legitimieren. Passt das zur gegenwärtigen Konvention der Bevölkerung und auch der Strafverfolgungsbehörden über die Münze des Strafrechts? An dem Strafausspruch beispielsweise, ein Jahr und sieben Monate Gefängnis für Herrn Sommer wegen Steuerhinterziehung, soll die Schwere des Unrechts gewissermaßen abgelesen werden. Die Strafe ist der Stempel, gleichsam. Was zeichnet diesen Stempel aus? Kommt es zum Vollzug, dann sind die Strafzwecke gefragt, und da könnte man sagen, der Stempel bedeutet eine entsprechende Resozialisierungsnotwendigkeit. Das wäre die aufgeklärte Theorie, die man mit demokratischen Mitteln dann durchsetzen könnte. Wenn die Strafe aber ausgesetzt wird zur Bewährung, dann bedeutet der Stempel gleichsam die Androhung der Resozialisierungsnotwendigkeit – wenn man in diesem Schema bleibt. Das ist natürlich schwerer nachzuvollziehen als die Bewertung des Stempels als Androhung der Vergeltung. Es geht um die Zumutung oder Zumutbarkeit einer sofortigen Resozialisierung. Im Verkehrsstrafrecht sind diese Modelle ausgebildet. Wer den Führerschein zurückhaben möchte, muss sich einem großen Erziehungsszenario stellen. Macht er das und besteht die
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Prüfungen, dann ist die Resozialisierung da und der Zweck der Strafe erreicht, der eingeleitet wurde mit der Entziehung des Führerscheins. Wie man jetzt vielleicht sieht, muss nicht das Deliktsystem wegen der undefinierbaren Rolle des eingetretenen Erfolges neu konstruiert werden, sondern Thema und Praxis der Resozialisierung müssen den psychologischen Faktor des Erfolgseintritts als Teilelement der Motivationsstruktur der Resozialisierung aufnehmen und konkret ausgestalten. Es mag sein, dass in den Details der größeren Werke, die es über Resozialisierung schon gibt,10 die eine oder andere Anknüpfung ohnehin in dieser Weise auf den Erfolg bezogen ist. Aber eine Theorie, welche den Stellenwert jener Erfolgsorientierung genauer bezeichnet, fehlt noch. Sie fehlt allein schon deshalb, weil bisher niemand die entsprechende Frage aufgeworfen hat. Holt man das jetzt nach, dann wird es darauf ankommen, im Geflecht der Motivationen des Probanden die Punkte zu fixieren, die ein so oder so beschaffenes Denken in der Kategorie des Erfolges indizieren und ihnen einen Platz im Resozialisierungsprogramm zuzuweisen. Schaut man im Handbuch zur Resozialisierung nach,11 dann findet man nur Anknüpfungen an die Person des Probanden, nicht an seine Tat. Besserung, Erziehung, Sozialisation, Behandlung, (soziale) Indikation und Rehabilitation werden unterschieden.12 Aber alle diese Bemühungen gelten dem Gesamtverhalten, sie knüpfen nicht an die Tat an. Es entspricht einer gewissen Ethik des Behandlungsvollzuges, dass man gerade die Tat außer Acht lässt und die ganze Person ins Auge fasst. Die totalitäre Gefahr, die darin liegt, wird nicht unbedingt gesehen; auf diese Wahrnehmung weisen immer nur die Gegner der Resozialisierung hin, die Anhänger des Vergeltungsstrafrechts. Dass das Resozialisierungsstrafrecht sich diesem Einwand stellen muss, ist gewiss, und die Lösung einer tatbezogenen Resozialisierung scheint der einzige Ausweg zu sein, der rechtsstaatliche Begrenzung, Sicherheit für das Individuum und zweckmäßig ausgestaltete Sanktionen miteinander verbinden kann. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten kommt es darauf an, wie man sie konstruiert. Wenn, wie hier vorgeschlagen, der Verletzungserfolg keineswegs außer Acht bleibt, sondern in besonders schweren Fällen eben die Länge des Angriffsweges bedacht wird, dann geht es gerade um die Einübung dieser Perspektive. Erweist sich das als etwas Unmögliches, dann ist das zugleich ein Indiz dafür, dass die abstrakten Gefährdungsdelikte, weil ihre Zurech-
10 Überblick bei Nomos Kommentar StGB/Hassemer/Neumann, 4. Aufl. 2013, Vor § 1 Rn. 274 ff. 11 Cornel/Kawamura-Reindl/Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Resozialisierung, Handbuch, 3. Aufl. 2009. 12 Cornel in: Cornel/Kawamura-Reindl/Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Resozialisierung, Handbuch, 3. Aufl. 2009, S. 27 ff.
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nung eben nicht präventionsorientiert gedacht werden kann, nicht legitim sind. Das sind ganz neue Behauptungen (deren Konkretisierung und Begründung inzwischen ein ganzes Projekt gewidmet ist),13 bei denen es hier erst einmal bewenden muss. Die Diskussion wäre zunächst von Resozialisierungstheoretikern und Praktikern zu führen, ob sie überhaupt eine Möglichkeit sehen, eine derartige Tatorientierung bei den einzelnen Ausgestaltungen der Resozialisierung anzustreben. Zunächst müssten sie davon überzeugt werden, dass so etwas mindestens genauso zweckmäßig sein kann wie die Einfühlung in die gesamte Persönlichkeit. Im Übrigen müsste der Ernst der rechtsstaatlichen Begrenzung deutlich gemacht werden, ohne dass damit die Resozialisierung zur Illusion wird. Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass für die Resozialisierung, sofern sie das mit einer Maßnahme verfolgte Ziel ist, etwas anderes gelten kann, dass hier von vornherein eine persönlichkeitsorientierte, auf das Ganze ihrer Anlage und Beeinflussbarkeit abstellende Aktivität angemessen ist. Dass dann ganz neue rechtsstaatliche Probleme entstehen, ist gewiss; ebenso gewiss ist aber auch, dass die Resozialisierungstechniker und -praktiker daran wenig denken, sondern auch dieses Thema den Gegnern der Maßnahmen überlassen, die sie damit, dass die rechtsstaatliche Begrenzung fehlt, delegitimieren wollen. Das Problem einer eventuell auch tatbezogen arbeitenden Maßnahmepraxis bleibt in diesem Beitrag also ausdrücklich ausgeklammert; es sei nur angedeutet, dass die therapeutische Neigung, von der Tat ganz abzusehen und von vornherein ganzheitlich personenbezogen zu arbeiten, Ausdruck einer unzweckmäßigen Abstinenz ist. Der schonende, der quasi „Noli me tangere“-Blick des wohlmeinenden Sozialarbeiters birgt die Gefahr der Verdrängung der Maxime, dass auch bei Maßnahmen an die Legalbewährung und nicht an Änderung der Gesamtpersönlichkeit gedacht werden darf. Aber hier bedarf es gründlicher Untersuchungen, die im Rahmen dieses Beitrages nicht angestellt werden können. Zusammenfassend ist zu sagen: Für den tatbestandlichen Erfolg gibt es keine exklusive Fixierung, vielmehr sind fortlaufend neue Stadien zu registrieren.
13 Vgl. Lüderssen Einführung zum StV-Ringpublikationsprojekt – Präventionsorientierte Zurechnung? S. die Ankündigung in StV 2/2014, S. IV. Dort auch Hinweise auf die schon vorliegenden einschlägigen Arbeiten von Ostendorf Das Jugendstrafrecht als Vorreiter, Die Verknüpfung von Zurechnung und Prävention: Für ein einheitliches Maß bei Strafe und Maßregeln; Theile Prävention und Zurechnung – Folgerungen für Strafverfahren und Beweisrecht. Ferner sei hingewiesen auf die noch nicht angekündigte Arbeit von Lüderssen Resozialisierung und Tatschuld – Zu einem verborgenen Paradigmenwechsel im Strafrecht (gekürzter Vorabdruck in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.8.2013 unter dem Titel „Aus der Untat lernen“).
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Auch abstrakte Gefährdungsdelikte haben diese Struktur, wenn man erkennt, dass sie die weitläufigen Wege erfassen, auf denen ein Rechtsgut angegriffen werden kann. Die tatorientierte Resozialisierung liefert Kriterien dafür, welches Stadium der Erfolgsrealisierung für die Zurechnung relevant ist. Die Tatorientierung der Resozialisierung ermöglicht eine Vereinigung von Strafzumessungserwägungen und Vollzugspraxis. Das, was § 46 Abs.1 Satz 1 Strafgesetzbuch vorsieht (die Schuld des Täters ist Grundlage der Strafe), ist in § 2 Strafvollzugsgesetz nicht erwähnt, kann aber über die tatbezogene Resozialisierung, insbesondere durch den präventionsorientierten Schuldbegriff aufgefangen werden. Der Richter wiederum kann gemäß § 46 über den präventionsorientierten Schuldbegriff seiner Aufgabe, dem Vollzug eine verlässliche Basis zu verschaffen, gerecht werden. Dabei muss man sich darüber klar sein, dass die tatorientierte Resozialisierung die Abkehr von einer auf die Gesamtpersönlichkeit des Täters zielenden Behandlung bedeutet. Ob und in welchem Maße diese Schwerpunktverlagerung auch für das Maßnahmenrecht Geltung beanspruchen dürfte, bleibt ausgeklammert. Die Unsicherheiten mit Blick auf die Annahme eines freien Willens werden relativ, wenn man auf den Konsens setzen kann, dass Fatalismus bei der Resozialisierung keine Rolle spielen darf. Deliktskonstruktionen, die eine tatorientierte Resozialisierung ausschließen, verlieren ihre Legitimation.
Entschuldigung aus subjektiver strafrechtlicher Unzumutbarkeit Diego-Manuel Luzón Seit schon vierzig Jahren halte ich eine ununterbrochene, enge Beziehung und eine feste Freundschaft zu Bernd Schünemann, unserem verehrten und lieben Jubilar. Ihm sei also als Zeichen dieser fruchtbaren Freundschaft und auch meiner tiefen Bewunderung für einen der ganz großen Strafrechtler unserer Zeit die vorliegende Arbeit dargebracht.
I. Herkunft, Entwicklung und systematische Stellung der Begriffe Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit 1. Herkunft und Entwicklung der Begriffe Die Herkunft des Gebrauchs der Begriffe Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit geht bekanntermaßen auf den sog. „normativen Schuldbegriff“ zurück, der seit Frank Anfang des 20. Jahrhunderts allmählich entwickelt wurde; demnach setzt schuldhaftes Handeln voraus, dass die Tat dem Täter vorwerfbar ist. Die Vorwerfbarkeit lässt sich jedoch nicht bereits mit der Zurechenbarkeit des Taterfolges, mit Vorsatz oder Fahrlässigkeit oder gar der Möglichkeit des Anders-Handeln-Könnens begründen. Es muss vielmehr die Nicht-Abnormität der Lage hinzukommen, die seit Goldschmidt und Freudenthal als die Zumutbarkeit eines anderen Verhaltens bezeichnet wird: die Zumutbarkeit also, von der Verwirklichung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens abzusehen. Ist es dem Täter wegen seiner persönlichen oder den die Tat begleitenden Umständen unzumutbar, von der tatbestandlichen Handlung abzusehen, so handelt er nach dieser Ansicht nicht schuldhaft. Wenn es Zumutbarkeit gibt, d.h. wenn dem Täter ein solches Absehen (Lassen) rechtlich zugemutet werden konnte, so handelte er nach dieser Auffassung schuldhaft, wenn ihm aber wegen seiner persönlichen und der begleitenden Umstände das Absehen von der Tat unzumutbar war, wird er entschuldigt. Nach der normativen Schuldauffasung, die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt und später zur herrschenden Lehre wurde, setzt schuldhaftes Handeln die „Vorwerfbarkeit“ der Tat voraus. Dem Täter muss anhand normativer Maßstäbe ein individueller Vorwurf in Bezug auf sein Handeln zu
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machen sein. Frank hat 1907 den Begriff der Vorwerfbarkeit1 – im Sinne der Möglichkeit, jemandem einen persönlichen Vorwurf wegen der Tat zu machen – als Charakterisierung der Schuld eingeführt. Hiernach ist Schuld das Merkmal, das ein auf dem Normgebot beruhendes Werturteil über die interne Seite der Tat ermöglicht. Denn obgleich der Täter vorsätzlich handelt, also trotz psychischen Zusammenhangs mit der Tat, handelt er nicht schuldhaft, wenn sie ihm nicht auch vorwerfbar ist, so etwa, wenn er in einer Notstandssituation handelt oder wegen seiner geistigen Verfassung, d.h. aus Unzurechnungsfähigkeit, entschuldigt ist.2 Der normative Schuldbegriff, der offensichtlich von der Prämisse der Willensfreiheit oder des Anders-Handeln-Könnens des Täters ausgeht,3 wurde von Goldschmidt entwickelt: Er betont, dass es nicht auf das Urteil über die subjektive Beschaffenheit oder Qualität der Tat (ein äußeres Urteil über die Tat) ankomme, sondern auf die fehlerhafte Willensbeschaffenheit,4 und er vertritt die Auffassung, dass die Vorwerfbarkeit auf der Pflichtwidrigkeit und auf der hinzukommenden Kategorie der Zumutbarkeit beruhe.5 Nach ihm kann eine Verletzung der Pflichtnorm jedoch ein Handeln ohne Schuld bedeuten, sofern man sich auf einen Entschuldigungsgrund berufen kann, und die Entschuldigungsgründe auf Nichtzumutbarkeit beruhen.6 Der normative Schuldbegriff wurde von Hegler weiterentwickelt,7 und von Freu1 Frank Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, S. 11–14. Auf S. 12 betont er, dass drei Elemente verlangt werden: 1) die normale geistige Beschaffenheit des Täters, also Zurechnungsfähigkeit, 2) eine konkrete psychische Beziehung des Täters zu der Tat: deren Tragweite zu übersehen oder übersehen zu können (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) und 3) die normale Beschaffenheit der Umstände, unter welchen der Täter handelt. 2 Vgl. Frank (Fn. 1), S. 6 ff., 12 ff. 3 Sonst kann man ihnen ihre Tat nicht vorwerfen. Diese Prämisse wird stillschweigend schon im von Frank und Goldschmidt verwendeten Vorwerfbarkeitsbegriff impliziert und ausdrücklich als Ausgangspunkt von Hegler ZStW 36 (1915), 184, 191 und Freudenthal Schuld und Vorwurf, 1922, S. 25 formuliert. Später setzt Frank StGB, 18. Aufl. 1931, Vor § 51 II, S. 128, Vorwerfbarkeit und Schuld mit der „Freiheit“ als positivem Schuldmerkmal in Verbindung. 4 Goldschmidt Österreichische Zeitschrift für Strafrecht (= ÖstZStr) IV 1913, 129, 224 ff.; vgl. eingehend dazu: Achenbach Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 113 ff. 5 Vgl. Goldschmidt ÖstZStr IV 1913, 129, 162 ff. (s. 162 f.: Notstand bei einer Lebensgefahr, in der die Rechtsordnung einem keinen Heroismus zumutet); ders. FG Frank I, 1930, S. 428 ff. 6 Goldschmidt ÖstZStr IV 1913, 129, 162 ff. (S. 162: die Entschuldigungsgründe finden ihren Grund „in einer, um mit Frank zu sprechen, ‚anormalen Motivierung‘, in einem subjektiv überwiegenden und gebilligten Motiv, in einer Lage, in der […] dem Täter den Umständen nach nicht zugemutet werden konnte, sich dem Pflichtmotiv zu fügen“, „in einem subjektiv überwiegenden und gebilligten Motiv“. 7 So Goldschmidt JW 1922, 256 f., 252 ff.; vgl. Achenbach (Fn. 4), S. 145. Auch schreibt Goldschmidt FG Frank I, 1930, S. 442 zusammenfassend, dass Pflichtwidrigkeit vorliege, wenn sich der Täter trotz Zumutbarkeit der gebotenen Handlung nicht hat motivieren lassen, diese vorzunehmen.
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denthal, der den Begriff der Unzumutbarkeit eines normgemäßen Verhaltens zu einem allgemeinen (manchmal gesetzlichen, aber auch übergesetzlichen) Grund der Schuldausschließung erweiterte.8 Der normative Schuldbegriff ist seitdem rasch herrschende Lehre geworden – sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern – und zwar bis heute, wenn auch in verschiedenen Varianten hinsichtlich der konkreten Formulierung und ihrer Begründung9 sowie der Reichweite der Vorwerfbarkeitsausschließung. 2. Systematische Stellung der Unzumutbarkeit Während der Begriff der Unzumutbarkeit, der bei Goldschmidt und Freudenthal noch subjektiv geprägt ist – außergewöhnliche Umstände, unter denen der Handelnde die Begehung der Tat nicht vermeiden kann – behaupten eben jene auch, dass unter solchen Umständen niemandem Heroismus zugemutet werden kann. Sie verwenden also einen generalisierenden Unzumutbarkeitsbegriff.10 Auch in der folgenden Entwicklung wurde häufig angemerkt, dass das subjektivistische Verständnis der Unzumutbarkeit Gefahren für die Gleichheit und Rechtssicherheit berge, weshalb man zunehmend für einen generalisierenden Begriff der Unzumutbarkeit plädierte. Als Maßstab sollte nunmehr auf die Motivationsfähigkeit eines normalen Durchschnittsmenschen abgestellt werden.11 Weiterhin bestand Uneinigkeit darüber, ob die Unzumutbarkeit ein allgemeiner (sogar übergesetzlicher) Entschuldigungsgrund sei, oder ob sie nur als regulatives Prinzip zulässig sei,12 wobei ersteres aufgrund mangelnder Bestimmtheit unzulässig sein könnte. Seit Henkel vertritt jedoch mit Recht ein Teil der Lehre, dass die Unzumutbarkeit ein allgemeines regulatives Rechtskriterium ist, das auch in anderen Rechtsgebieten und im Strafrecht innerhalb der verschiedenen Elemente des Verbrechensaufbaus einwirkt. Im Falle der individuellen Unzumutbarkeit ist die Schuld ausgeschlossen; handelt es sich jedoch um einen Fall der allgemei8 Vgl. Freudenthal (Fn. 3), passim; s. auch Goldschmidt FG Frank I, 1930, S. 428, 442. Freudenthal (Fn. 3), S. 25 ff., vertritt die Meinung, dass nicht vorwerfbar und nicht strafwürdig die Handlung des Täters ist, der nach den Umständen der Tat ihre Begehung nicht vermeiden konnte. Anders ausgedrückt (S. 7 ff.) fehle es am Können und damit am Vorwurf der Schuld, wenn „zur Nichtbegehung der Straftat ein Maß von Widerstandskraft gehört hätte, wie man es normalerweise niemandem zumuten kann“. 9 Zu den verschiedenen Ansichten Jescheck AT, 4. Aufl. 1988, S. 454 ff.; Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 142 ff. 10 Vgl. die Nachweise in Fn. 3–7 u. 9. 11 So z.B. Wegner JR 1925, 581 f.; Goldschmidt FG Frank I, 1930, S. 428, 448 ff.; E. Schmidt in: Mitteilungen der IKV, NF, 1931, 164, 131 ff.; Henkel Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, 1932, S. 62; vgl. dazu Achenbach (Fn. 4), S. 147 ff.; auch Jescheck (Fn. 9), S. 454. 12 Vgl. Achenbach (Fn. 4), S. 143 ff.; Jescheck (Fn. 9), S. 454 ff.; Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 142 ff.
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nen Unzumutbarkeit, schließt sie die Rechtswidrigkeit aus.13 Ich selbst bin noch einen Schritt weiter gegangen und habe folgende Auffassung entwickelt: Ergibt sich die Unzumutbarkeit konkret aus den besonderen Umständen des Handelnden, macht sie einen bloßen Entschuldigungsgrund aus, handelt es sich aber um allgemeine Unzumutbarkeit – wenn also niemandem zugemutet werden kann oder soll, unter diesen Umständen von der Begehung der Tat abzulassen – schließt dies die Rechtswidrigkeit oder Strafrechtswidrigkeit (oder sogar die Tatbestandsmäßigkeit) aus.14 Eine solche allgemeine oder individuelle Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit wird nach sozialen und rechtlichen Kriterien entschieden, die manchmal ausdrücklich im Gesetz aufgenommen, manchmal aus allgemeinen Rechts- oder Strafrechtsgrundsätzen abgeleitet worden sind.
II. Entschuldigung aus individueller (subjektiver) strafrechtlicher Unzumutbarkeit 1. Die eigene Auffassung a) M.E. muss man die von ihren Erfindern (Goldschmidt und Freudenthal) gegebene und üblicherweise von den Anhängern dieses Kriteriums wiederholte Formulierung der Unzumutbarkeit noch nuancieren: Einerseits ist es ungenau, prinzipiell den Maßstab der allgemeinen Unzumutbarkeit oder des Durchschnittsmenschen als Begründung der Entschuldigung anzuführen, denn m.E. muss man grundsätzlich von der individuellsubjektiven Unzumutbarkeit (etwa aus subjektiv unüberwindbarer Angst) ausgehen.15 Zudem kann man die Schuldlosigkeit nicht schlechthin mit der Unzumutbarkeit begründen: Man kann nicht sagen, dass in abnormen oder extremen Lagen das Recht dem Täter ein anderes Verhalten nicht zumuten
13 Vgl. Henkel FS Mezger, 1954, S. 249, 303 ff.; ihm folgend Roxin FS Henkel, 1974, S. 171, 184; Luzón Peña Aspectos esenciales de la legítima defensa, 1978, S. 22 f.; auch annehmend, dass die Zumutbarkeit innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit und der Rechtswidrigleit wirken kann Sainz Cantero La exigibilidad de conducta adecuada a la norma en DP, 1965, S. 65 ff., 122 ff.; ders. Lecciones DP PG, 3. Aufl. 1990, S. 724; Cuello Contreras, DP PG I, 2002, XI/281. 14 Allgemeine rechtliche Unzumutbarkeit = Rechtfertigungsgrund; aber allgemeine strafrechtliche Unzumutbarkeit = Ausschließungsgrund der Straftatbestandsmäßigkeit (des Strafunrechts) – vgl. zu dieser Kategorie Luzón GA 2006, 317 ff., die aber nicht die außerstrafrechtliche Rechtshaftung ausschließt. Diese Unterscheidung habe ich seit Luzón Cuadernos de Política Criminal (= CPC) 1988, S. 634 ff. vorgeschlagen. Danach habe ich sie eingehend in verschiedenen Fallgruppen und mit zahlreichen Beispielen dargestellt: in Curso PG I, 1996, S. 568 ff., 648 ff.; Lecciones PG, 2. Aufl. 2012, 20/50 ff., 22/231 ff., 26/40 ff., 28/22 ff.; mir folgend Roso in: Luzón (Ed.), Enciclopedia Penal Básica, 2002, S. 952 f. 15 Vgl. näher Luzón Lecciones PG (Fn. 14), 28/49–52.
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kann. Denn wenn jemand, mag er auch noch so motiviert von einer Situation extremer Schwierigkeit sein, höhere oder überwiegende Interessen verletzt, was rechtlich nicht erlaubt ist, erachtet es die Rechtsordnung nicht als heroisch, sondern als etwas Gesolltes, das strafrechtliche Verbot zu beachten. Deswegen kann und darf das Recht dem Täter zumuten, vom verbotenen Verhalten abzusehen, mag dies auch unter diesen Umständen noch so schwierig sein. Es bleibt in solchen Fällen die allgemeine rechtliche Zumutbarkeit bestehen. Aber subjektiv wird unter solchen Bedingungen die strafrechtliche Zumutbarkeit für diesen Täter verneint. b) In der Tat verhält es sich in solchen Fällen folgendermaßen: Erstens kann die strafrechtliche Norm faktisch den Handelnden in einer besonderen oder abnormen Situation nur unter enormen Schwierigkeiten motivieren oder bestimmen.16 Es ist deshalb weder angemessen noch möglich, ihm das normgemäße Verhalten unter Strafandrohung zuzumuten, da er immerhin in seiner Selbstbestimmung und Freiheit höchst eingeschränkt ist. Und zweitens wird normativ diese anormale Lage (etwa Angst, Handeln auf Befehl, nahe Verwandtschaft mit der zu rettenden Person), die den Handelnden in ein Motivierungsdilemma stürzt, sozial und rechtlich zwar nicht positiv aber auch nicht völlig negativ bewertet und als menschlich verständlich erachtet. Daher wird das Verhalten des Einzelnen verstanden, erklärt und entschuldigt, wenn er in einer solchen Lage die Norm verletzt, obwohl das Verhalten objektiv mißbilligt, negativ bewertet und weiter verboten bleibt. Und deshalb gilt die Nichtbegehung als individuell nicht strafrechtlich zumutbar, das heißt, es ist unangemessen, sie ihm unter Strafdrohung zuzumuten. Innerhalb der Schuld meint die individuelle Unzumutbarkeit, wie gesagt, nicht rechtliche Unzumutbarkeit: Bei der (Ausschließung der) Schuld handelt es sich um individuelle strafrechtliche Unzumutbarkeit, deren materielle Gründe das Effektivitätsprinzip und das Schuldprinzip mit ihrer verfassungsrechtlichen Basis sind.17 c) Das Kriterium der individuellen Zumutbarkeit ist von axiologischen und teleologischen Erwägungen, die den Strafnormen zugrunde liegen, geprägt, sodass die Annahme oder Ablehnung dieses Entschuldigungsgrundes
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Frank (Fn. 1), S. 11 ff. So Luzón Curso PG I (Fn. 14), S. 568 f.; ders. Lecciones PG (Fn. 14), 28/22 ff. (in 28/24: Effektivitätsprinzip und Schuldprinzip mit ihrer verfassungsrechtlichen Basis als deren materieller Grund), auch 20/50, 26/40; ebenso mir folgend Roso Cañadillas (Fn. 14), S. 952 f. Ohne die Präzisierung der „strafrechtlichen“ Unzumutbarkeit sagt auch Morales in: Quintero/Morales (Eds.), Comentarios CP, 6. Aufl. 2011, S. 238 ff.; Quintero/Morales PG, 4. Aufl. 2010, S. 594 ff., dass es sich beim Schuldausschluss aus Unzumutbarkeit um subjektive Unzumutbarkeit bzw. Zumutbarkeit handele. 17
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in Fällen mit vergleichbarer Intensität der Drucksituation doch unterschiedlich ausfallen kann. So wird z.B. die Entschuldigung bei Umständen akzeptiert, die wie etwa bei Angst oder anderen asthenischen (schwachen) Affekten oder bei einem extremen Gewissenskonflikt keine sehr negative Wertung oder Zensur verdienen. Dagegen wird bei parallelen, aber als Besorgnis erregenden oder besonders negativ bewerteten Umständen wie sthenischen oder gewalttätigen Affekten oder Überzeugungstaten die Entschuldigung abgelehnt (unten III. 1., IV.). 2. Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Auffassungen Die hier dargestellte eigene Auffassung weicht offensichtlich in manchen Aspekten von den üblichen Meinungen ab. Sie hat jedoch auch einige Berührungspunkte und gewisse Ähnlichkeiten mit anderen in der Literatur vertretenen Auffassungen. Zwar ist die Präzisierung, dass es bei der subjektiven Unzumutbarkeit um eine strafrechtliche geht, soviel ich sehen kann, unter den zahlreichen Verteidigern der Unzumutbarkeit als gemeinsame Basis der Entschuldigungsgründe nicht zu finden. Aber hinsichtlich der beiden materiellen Grundlagen der subjektiven strafrechtlichen Unzumutbarkeit gibt es doch gewisse Gemeinsamkeiten. Hinsichtlich der faktischen Grundlage der Unzumutbarkeit, also der Abnormität der Situation, die eine normale Bestimmung durch die Norm stört, gibt es im Allgemeinen eine weite Übereinstimmung. Bereits vor Einführung des (Un-)Zumutbarkeitsgedankens zählte Frank zu den Schuldelementen – außer Vorsatz oder Fahrlässigkeit – nicht nur die normale geistige Beschaffenheit des Täters, sondern auch die „normale Beschaffenheit der Umstände, unter welchen der Täter handelt“.18 Dadurch erweiterte er den Gedanken von Liszts, der Normalität/Anormalität der Bestimmbarkeit oder Motivierung als Grundlage für das Vorliegen oder Fehlen von ,Verantwortlichkeit‘ ansah.19 Und seit der Einführung des Kriteriums der Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit von Goldschmidt und Freudenthal wiederholt sich eine solche Charakterisierung,20 und zwar sowohl unter den Anhängern wie unter den Nicht-Anhängern der Unzumutbarkeit als materieller Grundlage der Entschuldigungsgründe. Die Auffassungen divergieren jedoch in dem Punkt, ob die anormale Gestaltung der Lage durch Druck, Not, Gefahr usw. das Können, die Möglichkeit der
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Vgl. Frank (Fn. 1), S. 12 ff. Vgl. v. Liszt Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 1905, S. 43, 85: Verantwortlichkeit verlange geistige Gesundheit, d.h. „normale Bestimmbarkeit durch Motive“, S. 48: „Wer in anormaler Weise, d.h. anders als der normale Durchschnittsmensch, auf Motive reagiert, der ist nicht zurechnungsfähig“. 20 Vgl. Goldschmidt ÖstZStr IV 1913, 162 ff.; Freudenthal (Fn. 3), S. 7 ff.; s. näher oben Fn. 5–7, 9. 19
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Bestimmung durch die Norm ausschließt, was früher häufiger vertreten wurde,21 oder ob diese anormale Lage in vielen Fällen die Motivierbarkeit lediglich erheblich stört und dadurch die Schuld nur mindert. Hinzu kommt eine weitere Minderung der Schuld, da das Unrecht der Tat wegen der Rettung anderer Rechtsgüter oder aus sonstigen positiv zu bewertenden Motiven reduziert ist. Dies führt im Ergebnis zur Entschuldigung: so die heute herrschende Lehre der doppelten Schuldminderung.22 M.E. schließt das Vorliegen von Gründen subjektiver strafrechtlicher Unzumutbarkeit manchmal die Bestimmbarkeit durch die Norm vollkommen aus, in anderen Fällen stören solche Gründe freilich nur erheblich diese normale Bestimmbarkeit. Aber die positive, oder jedenfalls nicht völlig negative Bewertung der Lage ermöglicht Nachsicht, Verständnis und die Entschuldigung der Tat. Nicht so häufig wird in der Lehre zusätzlich das Vorliegen einer nicht negativen Bewertung der anormalen Motivationslage gefordert. Man kann gleichwohl einige Beispiele in diesem Sinne anführen. So hat schon Goldschmidt die Meinung vertreten, dass die Entschuldigungsgründe, die eine anormale Motivation beinhalten und die Zumutbarkeit ausschließen, ihren Grund in einem „subjektiv überwiegenden und gebilligten Motiv“ finden.23 Das geht m.E. etwas zu weit: Es genügt, dass sozial und auch rechtlich eine solche Lage nicht völlig negativ bewertet wird. Viel üblicher ist die Verwendung des Prädikats „verständlich, verstehbar“ oder „erklärbar“ und daher verzeihbar für die Begehung einer Tat in einer für den Handelnden sehr schwierigen, anormalen Lage.24 Schließlich kann man darauf hinweisen, dass die Auffassung Roxins, nach der die Ausschließung der „Verantwortlichkeit“, als einer nach der Schuld hinzutretenden Kategorie, auf dem Fehlen sowohl der generalpräventiven als auch der spezialpräventiven Strafbedürfnisse beruht25 – eine Auffassung, die Schünemann, unser verehrter Jubilar, teilt26 – von einem anderen Ausgangspunkt her sachlich eine ziemlich weitgehende Übereinstimmung mit dem 21 Das wird besonders deutlich bei Freudenthal (Fn. 3), S. 7 ff., 25 ff.: Entschuldbar ist das Handeln desjenigen, der nach den Umständen der Tat ihre Begehung nicht vermeiden konnte. 22 Vgl. näher z.B. Bernsmann „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 204 ff.; Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 9; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 32 Rn. 111. 23 Goldschmidt ÖstZStr IV 1913, 162; vgl. Achenbach (Fn. 4), S. 118. 24 Solche Bezeichnungen werden so häufig gebraucht, dass sich Einzelnachweise erübrigen; beispielsweise sei auf Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 33 („verstehbares Motiv“, Nachsicht), Rn. 88 („nahe liegend“, „verzeihlich“), Rn. 30, 35, 50, 135 („Verständnis“ in der Öffentlichkeit oder Allgemeinheit), hingewiesen. 25 Skizziert von Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, S. 33 ff.; von ihm entwickelt seit ders. FS Henkel, 1974, S. 171, 182 ff. und ders. FS Bockelmann, 1979, S. 279 ff. bis ders. (Fn. 9), §§ 19–22. 26 Vgl. Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 169.
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hier vertretenen Standpunkt darstellt. Denn wenn keine (general- und spezial-)präventive Notwendigkeit besteht, wird diese Handlung sicher nicht negativ oder zumindest nicht völlig negativ bewertet. Aber meine Auffassung erlaubt eine weitergehende Entschuldigung. 3. Kriterien und Charakteristiken der subjektiven strafrechtlichen Unzumutbarkeit; ihre gesetzliche Anerkennung oder Nichtregulierung Die subjektive strafrechtliche Unzumutbarkeit, wie auch die entsprechende Strafmilderung aus verminderter subjektiver strafrechtlicher Zumutbarkeit, wird nach gesellschaftlichen und – zwar auf sozialen Wertungen beruhenden – strafrechtlichen Kriterien entschieden. Bei den gesetzlich anerkannten Entschuldigungsgründen aus subjektiver strafrechtlicher Unzumutbarkeit gibt es vielfach eine gewisse Verallgemeinerung und es kann eine gesetzliche Vermutung solcher subjektiven Unzumutbarkeit geben (so etwa im spanischen Recht bei der persönlichen Strafausschließung für die Schwangere in gewissen Abtreibungsfällen, bei der Strafvereitelung und Begünstigung von Angehörigen oder nahen Verwandten, s. unten III. 2). Zu nennen sind hier auch die Regelungen des entschuldigenden Notstands bei Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit (für sich selbst oder eine nahestehende Person) oder des Notwehrexzesses aus bestimmten Affekten, die ausdrücklich im deutschen StGB sowie verwandten Gesetzbüchern als Strafausschließungsgrund aufgenommen sind. Eine solche Verallgemeinerung und gesetzliche Vermutung ist aber z.B. in den Regelungen zur Angst als Strafausschließungsgrund bei Vorschriften wie Art. 20 Abs. 6 span. Código Penal (= Strafgesetzbuch; CP) oder Art. 32 Abs. 9 kolumb. CP nicht gegeben, die eine unüberwindbare Angst und daher die individuelle Feststellung der Unüberwindbarkeit verlangen.27 Dagegen gibt es in den Fällen, in denen individuell-subjektive strafrechtliche Unzumutbarkeit als Fall eines übergesetzlichen Entschuldigungsgrundes behandelt wird (unten IV.), keine Verallgemeinerung und gesetzliche Vermutung der Unschuld, sodass jeweils für den konkreten Täter und die konkrete Tat eine solche Unzumutbarkeitslage festgestellt werden muss.
27 So in der span. Lehre (gegen eine auch verbreitete objektive Auslegung der Unüberwindbarkeit) Córdoba Las eximentes incompletas en el CP, 1966, S. 245 ff.; ders. Comentarios CP I, 1972, S. 336 ff.; Jiménez de Asúa Tratado DP VI, 1962, S. 862 f., 897, 908, 913; Quintero PG, 1986, S. 494; 1989, S. 510 f.; Silva in: Luzón/Mir (Eds.), Cuestiones actuales de la teoría del delito, 1999, S. 155 ff.; Muñoz Conde/García Arán PG, 8. Aufl. 2010, S. 391; Roso (Fn. 14), 26/49 f.
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III. Gesetzlich anerkannte Fälle individueller strafrechtlicher Unzumutbarkeit 1. Im Allgemeinen Teil Individuelle Unzumutbarkeit in strafrechtlicher Hinsicht ist die Grundlage der Strafausschließung aus unüberwindbarer Angst, die im spanischen CP (Art. 20.6) und in anderen lateinamerikanischen Strafgesetzbüchern – etwa in Art. 32 Abs. 9 kolumb. CP 2000, Art. 34 Abs. 6 nicar. CP 2008; etwas anders Art. 34.2 argent. CP – trotz des Nichtvorliegens eines Rechtfertigungsgrundes gewährt wird. Dasselbe geschieht beim gesetzlichen sog. „entschuldigenden Notstand“ des § 35 dt. StGB: entschuldigt wird danach bei dringender Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit sogar die Rettung eines im Verhältnis zum verletzten Interesse weniger wichtigen Interesses. In Art. 20 Abs. 5 span. CP deckt dagegen die Strafbefreiung nur die Verletzung eines gleichwertigen, aber nicht eines höheren Interesses („… dass das verursachte Übel nicht gröber als das abzuwendende ist …“); die mehrheitliche Lehre hält den Notstand beim Konflikt gleichwertiger Interessen für einen Entschuldigungsgrund. Ein nicht unerheblicher Teil der Lehre nimmt jedoch angesichts einer einheitlichen gesetzlichen Regelung des Notstandes in allen Fällen Rechtfertigung oder Unrechtsausschluss an.28 Jedenfalls fällt die Verletzung höherwertiger Interessen nicht unter Art. 20 Abs. 5 span. CP, sodass sie nur übergesetzlich aus Unzumutbarkeit entschuldigt werden könnte, wenn sie wegen der Notwendigkeit, ein höchst wichtiges Interesse von sich oder einer sehr nahestehenden Person zu bewahren, verständlich ist (s. unten IV.). In manchen Gesetzen, wie in § 33 dt. StGB, Art. 33 Abs. 2 portug. CP und ausnahmsweise in Art. 59 span. CP 1928,29 wird die Notwehrüberschreitung aus Angst, Bestürzung, Verwirrung, Störung, Furcht oder Schrecken (d.h. aus asthenischen Affekten), und zwar ohne das Erfordernis der Unüberwindbarkeit, von Strafe freigestellt; obwohl diese Vorschriften teilweise für persönliche Strafausschließungsgründe gehalten werden, sind sie richtigerweise als Entschuldigungsgründe aus subjektiver Unzumutbarkeit zu erachten.30 Solche Strafgesetzbücher behandeln die „asthenischen“, schwachen,
28 Statt aller Cerezo DP, PG, 2008, S. 577 ff.; Mir PG, 9. Aufl. 2011, 17/21–24, betont besonders nachdrücklich, dass, anders als in § 35 StGB, Art. 20.5 span. CP die Verletzung eines höheren Interesses nicht deckt. 29 So Art. 33, 2 portug. CP: Der Handelnde wird nicht bestraft, „wenn der Exzess aus nicht tadelnswerter Bestürzung, Angst oder Schrecken erfolgt“. Art. 59 span. CP 1928 lautete: „Die Notwehrüberschreitung ist nicht strafbar, wenn sie aus dem Terror oder der Bestürzung des Moments, unter Berücksichtigung der Umstände …, erfolgt“. 30 Vgl. zur Grundlage, der systematischen Stellung und denVoraussetzungen des Strafausschlusses: im dt. StGB Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 68 ff.; im portug. CP Figueiredo Dias PG I, 2. Aufl. 2007, S. 622 ff.
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Affekte, nicht aber die „sthenischen“, also kräftigen, gewalttätigen Affekte wie Wut, Zorn, Eifersucht, Rache usw. unter gewissen Umständen als entschuldbar.31 Der die Willensfreiheit beeinträchtigende Einfluss kann zwar bei beiden Arten von Affekten gleichermaßen stark sein. Hinsichtlich der strafrechtlichen Unzumutbarkeit und Entschuldigung wegen der Nachvollziehbarkeit der Tat ist die strafrechtliche Wertung jedoch großzügiger gegenüber jenen Affekten aus Schwäche (umso mehr, wenn es um die Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff geht: deswegen wird nicht verlangt, dass die Wirkung der Affekte unüberwindbar ist) als gegenüber den aggressiven Affekten, die größere Besorgnis und Ablehnung wegen ihrer Gefährlichkeit32 und also ein geringeres Verständnis erregen. In anderen Gesetzgebungen sind noch Fälle entschuldigten Handelns aus pflichtwidrigem Gehorsam oder sogar ein allgemeiner Entschuldigungsgrund aus Unzumutbarkeit zu finden.33 Und teilweise wird auch der unvermeidbare Verbotsirrtum als ein Entschuldigungsgrund aus Unzumutbarkeit betrachtet.34 2. Im Besonderen Teil Es gibt auch Entschuldigungsgründe aus individueller Unzumutbarkeit im Besonderen Teil, d.h. mit einem nur auf ein Delikt oder auf konkrete Deliktsgruppen begrenzten Umfang. So werden im deutschen Recht z.B. die Fälle unterlassener Anzeige gegen Angehörige, der Strafvereitelung für sich oder für Angehörige und des Verwandtenbeischlafs unter Minderjährigen diskutiert.35 Aus dem spanischen Recht kann man folgende Beispiele erwähnen: 31 So interpretiert die deutsche h.L. den Umfang der Verwirrung: vgl. Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 75 f.; dagegen Leipziger Kommentar StGB/Spendel, 11. Aufl. 2003, § 33 Rn. 58 ff., der glaubt, dass die Verwirrung meist durch einen asthenischen Affekt, aber manchmal durch einen sthenischen wie den gerechten Zorn ausgelöst wird. 32 In diesem Sinne Roxin FS Henkel, 1974, S. 181, 189, der als Argument hinzufügt, dass, wenn die Notwehrgrenzen aus einem asthenischen Affekt überschritten werden, der Täter sozial integriert ist und es auch nicht der Generalprävention bedarf. 33 In Portugal sieht Art. 37 CP Gehorsam gegenüber einem nicht verbindlichen Befehl als Entschuldigungsgrund für alle Beamten bei Nichtkenntnis der nicht offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Tat vor. Auf das Militärrecht beschränkt, regelt in Deutschland § 5 WStG diesen Fall des Gehorsams im Irrtum ähnlich. Vgl. Figueiredo Dias PG I, 2. Aufl. 2007, S. 645 ff.; Roxin (Fn. 9), § 21 Rn. 74. Eine eigentümliche Regelung enthält Art. 34. 10 nicarag. CP 2008, der nach anderen konkreten Fällen die Unzumutbarkeit anderen Verhaltens allgemein als Strafbefreiungsgrund anführt. 34 Denn die Entschuldigung beruht eher auf einer gewissen normativen Großzügigkeit als auf völliger Unmöglichkeit der Motivierung durch die Norm. So etwa Bustos PG, 4. Aufl. 1994, S. 481 ff., 489 ff., 509 ff.; Zaffaroni/Alagia/Slokar PG, 2. Aufl. 2002, S. 723 ff.; Roxin (Fn. 9), § 19 Rn. 57, § 21 Rn. 39; Díaz y García Conlledo El error sobre elementos normativos del tipo penal, 2008, S. 174 f.; Luzón Lecciones PG (Fn. 14), 28/1, 4, 9 ff. 35 Vgl. dazu Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 134 ff.
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Bei der Abtreibung wird in gewissen Fällen eine persönliche Strafbefreiung für die Schwangere vorhergesehen, die aus denselben Gründen wie der entschuldigende Notstand als Entschuldigung ausgelegt werden kann. Dies ist seit 2010 für die fahrlässige Abtreibung in Art. 145 Abs. 3 CP geregelt: „Die Schwangere wird nicht nach dieser Vorschrift bestraft“ (eine persönliche Strafbefreiung, die die Frau bei vorsätzlicher Abtreibung bei Nichterfüllung der formellen Erfordernisse der Indikationen im vorherigen System des Art. 417 bis Abs. 2 CP 1944/1973 begünstigte,36 eine Vorschrift, die bis zur Einführung des Fristensystems durch die Reform von 2010 galt). Ebenfalls im Besonderen Teil findet man den Entschuldigungsgrund wegen subjektiver Unzumutbarkeit (angesichts der persönlichen Nähe und der besonderen Beziehung bei Verwandtschaft), der sich auf Strafvereitelung mit Begünstigung naher Verwandten bezieht, Art. 454 CP.37 In diesen Fällen ist es besonders nachvollziehbar, dass derjenige, der mit der baldigen Verhaftung und Ahndung eines Verwandten durch die Strafjustiz rechnet, unter erheblichem Druck steht und auch unter dem Aspekt enormer Motivationsschwierigkeit eine Entschuldigung wegen Unzumutbarkeit eingreifen muss.38 Man kann also verstehen, dass es sich hier um eine gesetzliche iuris et de iure Mutmaßung der Schuldlosigkeit handelt, die keinen Gegenbeweis zulässt.39 Außerhalb des CP kann man auf die Art. 261, 416 Nr. 1 und 418 Ley de Enjuiciamiento Criminal (= span. StPO; LECr) hinweisen, die jeweils die Nichtverpflichtung anerkennen, bestimmte nahe Verwandte anzuzeigen oder gegen sie vor dem Strafrichter auszusagen. Der Sachgrund der persönlichen Straflosigkeit in den entsprechenden Delikten gegen die Strafjustiz scheint wiederum die individuelle strafrechtliche Unzumutbarkeit zu sein.
36 Bei dieser Regelung des vorherigen CP verteidigte ich bereits (Luzón CPC 1988, 659 ff.), dass dieser Umstand einen persönlichen Entschuldigungsgrund aus individueller Unzumutbarkeit bedeutet. Für die Regelung in Art. 145 CP 1995 Luzón Lecciones PG (Fn. 14), 28/28. 37 Dieselbe Straflosigkeit existierte schon in Art. 18 CP 1944/73 und im vorherigen span. CP. Näher dazu Cerezo PG, 2008, S. 865–867; auch Sainz Cantero La exigibilidad, 1965, S. 128 ff.; ders. Lecciones (Fn. 13), S. 743 f. Dennoch hält eine andere Meinung die Vorschrift für einen persönlichen Strafausschließungsgrund um des Schutzes der Familie willen: vgl. Faraldo Las causas de levantamiento de pena, 2000, S. 186 ff. 38 So geregelt im vorherigen wie im heutigen CP, u.a. Rodríguez Muñoz Notas a Mezger II, 2. Aufl. 1946, S. 6 ff.; Jiménez de Asúa (Fn. 27), S. 1012 ff. (auf S. 1013 die Regelung in den lateinamer. CP darlegend); Sainz Cantero La exigibilidad, 1965, S. 127 ff.; Cerezo PG, 2008, S. 866, Sentencia del Tribunal Supremo (= STS) 24-2-1976. 39 So verteidigen es z.B. Antón Oneca DP I, 1949, S. 318; Quintero in: Quintero/Muñoz Conde (Ed.), La reforma penal de 1983, 1983, S. 99; Sainz Cantero Lecciones (Fn. 13), S. 744; Cerezo PG, 2008, S. 866; STS 24-2-1976.
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IV. Fälle übergesetzlicher oder analoger Schuldausschließungsgründe aus individueller strafrechtlicher Unzumutbarkeit Wenn sich die Unzumutbarkeit nicht aus gesetzlichen Regelungen, sondern aus Strafrechtsprinzipien, nämlich aus dem Effektivitätsgrundsatz und dem Schuldprinzip herleitet – s. oben II. 1. b) a.E. – bildet sie einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund, oder, wenn man diese Begründung vorzieht, einen Entschuldigungsgrund aus Analogie zu den anderen gesetzlichen Entschuldigungsgründen. Es handelt sich um konkrete Fälle – wie die vorangehend erwähnten – einer ausgeprägten, mit einer, verglichen mit gesetzlich anerkannten Fällen, identischen oder analogen Motivationsschwierigkeit, also um konkrete übergesetzliche Entschuldigungsgründe, die wegen individueller strafrechtlicher Unzumutbarkeit eingreifen. Dies bedeutet nicht, dass die individuelle strafrechtliche Unzumutbarkeit ohne Grenzen und auf verschwommene Weise als generischer übergesetzlicher Entschuldigungsgrund zu begreifen ist. Es gibt hier weder eine gesetzliche Mutmaßung noch eine Verallgemeinerung a priori der entschuldigenden Lage, sondern der Richter muss im konkreten Fall das Vorliegen einer Situation strafrechtlicher Unzumutbarkeit für diesen Täter in dieser Tatsituation feststellen. Außerdem ist auch hier eine nicht negativ oder nicht völlig negativ zu bewertende Motivationslage erforderlich, damit das Verhalten menschlich verständlich und somit entschuldbar ist. Als Fälle übergesetzlicher oder analoger Entschuldigungsgründe aus individueller strafrechtlicher Unzumutbarkeit kann man, keineswegs abschließend, die Folgenden erwähnen: das nicht pflichtgemäße, entschuldigte Handeln auf Befehl sowohl im Amt wie bei Unternehmen und das nicht etwa durch ein Verweigerungsrecht gerechtfertigte, aber entschuldigte Handeln aus Gewissensgründen (im Gegensatz zu der ihrer negativen Bewertung wegen nicht entschuldigten Überzeugungstat). Weiterhin auch der im spanischen Recht nicht gesetzlich geregelte entschuldigende Notstand, sofern der Täter zur Abwendung einer ihm oder einer ihm nahestehenden Person drohenden Lebensgefahr ein höherwertiges Rechtsgut verletzt (Verursachung eines größeren Übels).40 Schließlich werden in der Lehre andere Konstellationen behandelt, die von Notstand oder anderen gesetzlichen Entschuldigungsgründen nicht gedeckt sind, aber gleichwohl andere Fälle übergesetzlicher oder analoger Entschuldigungsgründe aus individueller Unzumutbarkeit darstellen könnten.41 40 Zu meiner Auffassung vgl. näher Luzón Lecciones PG (Fn. 14), 28/58–61, 55–57. Zur Entschuldigung bei Gewissenstaten Luzón FS Wolter, 2013, S. 431 ff.; zum gerechtfertigten Handeln aus Gewissensgründen ders. FS Imme Roxin, 2012, S. 757 ff. 41 Vgl. näher zur Lehre und Rspr. und seiner eigenen Meinung Roxin (Fn. 9), § 22 Rn. 142 ff., Rn. 145–169; Jiménez de Asúa (Fn. 27), S. 985 ff.
Der Täter hinter dem Gewissenstäter und das Prinzip der Tatherrschaftsstufen Ioannis Morozinis I. Einleitung Vor 35 Jahren befasste sich der Jubilar Bernd Schünemann mit der strafrechtlichen Behandlung der politisch motivierten Kriminalität.1 Bei solchen Straftaten ergeben sich besondere Fragen auf der Ebene der Rechtfertigung sowie der Schuld.2 Schünemann erörterte „die Frage nach der Rechtfertigung, dem Schuldausschluss oder auch nur der Schuldminderung unter dem Gesichtspunkt der Überzeugungstat“.3 Der Problematik des „Täters hinter dem Täter“ hat der Jubilar auch besonders Rechnung getragen, indem er die Theorie der Tatherrschaftsstufen aufgestellt hat.4 Danach komme es bei der mittelbaren Täterschaft nicht entscheidend auf die Verfassung des Mittelsmannes, sondern auf die Macht des Hintermannes über die Tatbestandsverwirklichung an.5 Zugleich versuchte der Jubilar die „stürmische Ausdehnung“ der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft zu zügeln.6 Diese Rechtsfigur kann gewiss nicht alle Fälle des Einsatzes eines Gewissenstäters bewältigen. Es kommen tatsächlich Gruppierungen vor, die einem die Tatherrschaft verleihenden organisatorischen Machtapparat 7 nicht nahe liegen. Fraglich ist also, ob eine andere Erscheinung von gestuften Tatherrschaften vorliegt. Die Diskussion über den Gewissenstäter erfährt in den letzten Jahren eine Wiederbelebung.8 In den folgenden Ausführungen möchte ich also in aller 1 Schünemann in: de Boor (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität – echte Kriminalität?, 1978, S. 49 ff. 2 Schünemann (Fn. 1), S. 49 f. 3 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 50 f.; ders. GA 1986, 293, 305. 4 Schünemann FS Schroeder, 2006, S. 401 ff. (erschienen auch in ZIS 2006, 301 ff.); Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 65 ff. 5 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 65. 6 Schünemann FS Schroeder, 2006, S. 401, 405 f.; ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 349, 362 ff. 7 Zuletzt Roxin GA 2012, 395 ff.; Morozinis Dogmatik der Organisationsdelikte, 2010, S. 206 ff. 8 Vgl. etwa: Roxin GA 2011, 1 ff.; Frisch GA 2006, 273 ff.; ders. FS Schroeder, 2006, S. 11 ff.; Otto FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 21 ff.; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531 ff.;
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gebotenen Kürze versuchen, zunächst einige Unzulänglichkeiten dieser Diskussion anzusprechen, um sodann die Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft im Falle einer Gewissenstat des Vordermanns zu untersuchen.
II. Gewissenstäter Gemäß der gängigen Definition ist als Gewissensentscheidung „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.9 Auf einer solchen Gewissensentscheidung beruht die Gewissenstat. Vom schlichten Überzeugungstäter ist der Gewissenstäter zu unterscheiden, weil der Überzeugungstäter zu einer strafrechtswidrigen Handlung aufgrund moralischer, naturrechtlicher, religiöser oder sonstiger Legitimation (schlicht) berechtigt zu sein meint, während der Gewissenstäter zu einer solchen Handlung gegen die positive Rechtsordnung sogar verpflichtet zu sein glaubt.10 Die Gewissensentscheidung kennzeichnet sich durch die existentielle Qualität der unbedingten inneren Verpflichtung, die in den Mittelpunkt der Fragestellung im Hinblick auf ihre Konsequenzen für die strafrechtliche Zurechnung rückt.11 Unumstritten ist ferner, dass die strafrechtliche Prüfung der Gewissenstat auf eine inhaltliche Bewertung der Gewissensentscheidung in irgendeinem Sinn nicht abstellen darf, da diese Bewertung verfassungsrechtlich unzulässig ist.12 Der Jubilar stellt das Gewissen mit dem Über-Ich gleich, das die Selbstbestimmungsfreiheit (d.h. die Abwägung vor einer Handlung, die im Ich stattfindet) vereitelt, „wenn ein stark dominantes Über-Ich ein gesetzeswidriges
Böse ZStW 113 (2001), 40 ff.; Radtke GA 2000, 19 ff.; Höcker Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht, 2000. Im vorliegenden Beitrag wird auf Verweise auf die ältere Literatur aus Raumgründen möglichst verzichtet; S. Hinweise in Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 12 Fn. 5; zur Dogmengeschichte Schünemann (Fn. 1), S. 49, 69 ff. 9 BVerfGE 12, 45, 55; 23, 191, 205; 48, 127, 173; Nomos Kommentar StGB/Neumann, 4. Aufl. 2013, § 17 Rn. 44; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, Vor §§ 32 ff. Rn. 118; Münchener Kommentar StGB/Schlehofer, 2. Aufl. 2011, Vor §§ 32 ff. Rn. 259; LK/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 361; Hirsch Strafrecht und Überzeugungstäter, 1996, S. 9, 16; Roxin GA 2011, 1, 3; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 12 f. 10 NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 40, 42; MK/Joecks, 2. Aufl. 2011, § 17 Rn. 21; Radtke, GA 2000, 19, 21. 11 NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 42; Otto FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 21, 24 f., 29; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 13. 12 BVerfGE 12, 45, 55 f.; 33, 23, 30; eingehend Schünemann (Fn. 1), S. 49, 87 ff.; Roxin GA 2011, 1, 3; NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 44; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 13; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 535.
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Verhalten verlangt“.13 Nach verbreiteter Auffassung führt das Verhalten gegen die Gewissensentscheidung zur Zerstörung des Kerns der sittlichen Persönlichkeit, weil das Individuum seine Selbstachtung verliert.14 Der Jubilar bestritt dennoch die Unterscheidung zwischen Gewissenstätern und (bloßen) Überzeugungstätern und deutete auf einen epochalen Wandel des Gewissensbegriffs, dem eine verkappte Bewertung des Gewissensinhalts zugrunde liegt.15 Da eine inhaltliche Bewertung der Gewissensentscheidung verfassungsrechtlich unzulässig ist und bereits logisch ad absurdum führt,16 muss also eine genuin strafrechtliche Lösung entwickelt werden. Für die strafrechtliche Prüfung ist nämlich grundsätzlich relevant, ob die Gewissensentscheidung einen solchen existentiellen Charakter aufweist, der die Möglichkeit zum Andershandeln, mithin das strafrechtliche Schuldurteil, beeinflusst. Mit der Ausschaltung jeder Diskriminierung gegenüber der politischen Überzeugung und dem Hinweis darauf, dass diese Unterscheidung lediglich einen rechtfertigungs- und insbesondere einen schuldrelevanten Gesichtspunkt andeutet, kann dieser Einwand zurückgewiesen werden. Als tragendes Merkmal der rechtlich relevanten Gewissensentscheidung (und dementsprechend der Gewissenstat) erweist sich der endogene psychische Zwang.17 In seinen beiden grundlegenden Entscheidungen, die auch Schünemann zitiert,18 hat das BVerfG gerade diesen Gesichtspunkt angesprochen und als Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Prüfung herausgehoben. Zunächst erwähnte das BVerfG einen unüberwindlichen psychischen Zwang19 und im zweiten renommierten Urteil eine seelische Bedrängnis.20 An diesen endogenen psychischen Zwang sollen die normativen Auswirkungen der Gewissensentscheidung auf die Normbefolgungsfähigkeit anknüpfen.21 Dieser Zwang kann entweder unüberwindlich sein, was die Normbefolgungsfähigkeit durchaus ausschließt, oder überwindlich, was die Normbefolgung lediglich erschwert.22 Die Frage nach der Funktion der Grundrechtsgarantie von Art. 4 Abs. 1 GG im strafrechtlichen Bereich scheint folglich an Bedeu-
13
Schünemann (Fn. 1), S. 49, 99 ff.; vgl. auch Otto FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 21, 35. Peters FS Mayer, 1965, S. 257, 271; Ebert Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975, S. 41, 43, 60; Müller Dietz FS Peters, 1974, S. 91, 95; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 534 f.; krit. Otto FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 21, 24 f., 35 ff. 15 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 89 ff.; ders. GA 1986, 293, 308. 16 Wie Fn. 12. 17 Ebert (Fn. 14), S. 60; Kühl Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 12 Rn. 116. 18 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 81 ff. 19 BVerfGE 23, 127, 133. 20 BVerfGE 32, 98, 109. 21 Ähnlich NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 46 („normativ ausgezeichnete Beeinträchtigungen des psychischen Könnens“); vgl. ferner Frisch GA 2006, 273, 279. 22 Vgl. Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 26. 14
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tung zu verlieren, denn prima facie scheint ein Rückgriff auf das Schuldprinzip ausreichend und zugleich unerlässlich.23 Nach der h.M. wird das Grundrecht der Gewissensfreiheit durch immanente Schranken begrenzt, nämlich durch die Grundrechte anderer und die Rechtsnormen, deren Befolgung im Interesse der Erfüllung elementarer, von der Verfassung anerkannter Gemeinschaftsaufgaben unerlässlich ist.24 Die nötige Abwägung von Freiheits- und Staatsschutzrechten sowie von gegenstrebenden Grundrechtspositionen ist aus strafrechtssystematischer Sicht in der Rechtswidrigkeitsebene zu verankern.25 Die grundrechtlich geschützte Gewissensbetätigung wird als Rechtsausübung durch einen Erlaubnissatz gedeckt und ist nach dem Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht rechtswidrig.26 Unzweifelhaft ist diese rechtfertigende Wirkung von sehr geringer praktischer Relevanz, weil die Betätigung der Gewissensfreiheit nicht zum Eingriff in Rechte anderer berechtigt.27 Die Gegenauffassung (sog. Entschuldigungslösung) will die Gewissensentscheidung durchaus auf der Schuldebene berücksichtigen und aus Art. 4 Abs. 1 GG nur einen Entschuldigungsgrund herleiten.28 Beim Gewissenstäter mangelt es jedoch nicht an Rechtseinsicht, was einen Verbotsirrtum ausschließt.29 Eine direkte oder analoge Anwendung der gesetzlichen Entschuldigungsgründe scheidet ebenfalls aus.30 Die Lösung liegt allerdings nicht ausschließlich im Grundrecht der Gewissensfreiheit und seinen immanenten Schranken, denn bei Überschreitung dieser Schranken scheidet die Strafbefreiung aus Art. 4 Abs. 1 GG immer aus. Wenn die Entschuldigung „bis zu 23 Vgl. Schünemann (Fn. 1), S. 49, 96 f.; Frisch GA 2006, 273, 279. Über die Funktion und die verfassungsrechtliche Verankerung des Schuldprinzips entsprechend Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 153 ff.; Hörnle FS Tiedemann, 2008, S. 325 ff. 24 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 81; MK/Schlehofer (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 260, 271; LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 361; Roxin GA 2011, 1, 3 f.; Frisch GA 2006, 273, 276; ders. FS Schroeder, 2006, S. 11, 17 ff.; Otto FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 21, 25 ff., 29 ff. 25 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 61; Frisch GA 2006, 273, 274 f.; vgl. auch LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 367; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 17 ff. 26 LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 366 f.; NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 43a, 45; Frisch GA 2006, 273, 274, 276 ff.; ders. FS F.C. Schroeder, 2006, S. 11, 16 ff.; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 537 ff.; Radtke GA 2000, 19, 33 f.; Hirsch (Fn. 9), S. 13 ff. 27 Frisch GA 2006, 273, 277; ders. FS Schroeder, 2006, S. 11, 17 ff.; LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 362, 364; Schünemann (Fn. 1), S. 49, 68; Roxin GA 2011, 1, 4, 6. 28 Roxin GA 2011, 1, 4 ff.; MK/Schlehofer (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 257 ff.; Lackner/ Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 32 Rn. 32; Kühl (Fn. 17), § 12 Rn. 109 ff. 29 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 102 f.; NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 12, 40 ff.; MK/ Joecks (Fn. 10), § 17 Rn. 21; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 22; LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 369. 30 Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 22 ff.; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 543 f.; Roxin GA 2011, 1, 9 f.; LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 371; MK/Schlehofer (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 271.
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den auch insoweit zu ziehenden Schranken des Grundrechts … erwägenswert“ bleibt,31 dann stecken die immanenten Schranken sowohl den Rechtfertigungs- als auch den Entschuldigungsbereich ab.32 Dass die immanenten Schranken den Rechtfertigungsbereich praktisch minimieren und zugleich eine weiter reichende Entschuldigung zulassen, ist also ein Trugschluss.33 Die besonders aktuelle strafrechtliche Fragestellung betrifft gleichwohl hauptsächlich Gewissensbetätigungen, die die Grenzen der Gewissensfreiheit deutlich überschreiten.34 Die Verlagerung der verfassungsrechtlichen Argumentation über die Strafbefreiung des Gewissenstäters von der Rechtfertigungsebene auf die Schuldebene hindert eine selbständige strafrechtsspezifische Beurteilung der Gewissenstat, die mit Figueiredo Dias durch ihre „Dekonstitutionalisierung“ erfolgen kann und „innerhalb der generellen Strafrechtsdoktrin“ auf der Schuldebene durchzuführen ist.35 Mit Recht behauptet daher Frisch, das Grundrecht der Gewissensfreiheit sei zur Begründung der Exkulpation des Gewissenstäters weder genügend noch wirklich erforderlich.36 Die Beschränkung der Auswirkungen der Grundrechtsschranken nur auf die Rechtfertigung lässt freien Spielraum für eine weitere normative Einschätzung der Gewissensentscheidung im Rahmen des Schuldvorwurfs. Die Entschuldigungslösung läuft dagegen auf den ausnahmsweisen Ausschluss des Gewissenstäters von der allgemein geltenden Schuldlehre hinaus, da die Heranziehung der verfassungsrechtlichen Schranken das strafrechtliche Schuldurteil am Maßstab des Anders-Handeln-Könnens verdrängt.37 Der Gewissenstäter wird demzufolge im Vergleich zu Gemeintätern schlechter gestellt, was mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Gewissensfreiheit und mit dem Gleichheitsgrundsatz unvereinbar ist. Die Schuld kann weder von der Wichtigkeit der Eingriffe in die grundrechtlich geschützten Positionen anderer abhängen noch die Abwägung von Verfassungsgütern im Wege praktischer Konkordanz einschließen.38 Der Einwand gegen die übermäßige Abhängigkeit der Exkulpation von der subjektiven Befindlichkeit des Gewissenstäters und die unzureichende Berück-
31
Roxin GA 2011, 1, 8. Radtke GA 2000, 19, 35; vgl. auch LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 360 f.; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 542; NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 43a. 33 A.A. Roxin GA 2011, 1, 8. 34 NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 43a; LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 369; vgl. auch Schünemann (Fn. 1), S. 49, 81; ders. GA 1986, 293, 308. 35 Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 538, 541 f.; ähnlich Frisch GA 2006, 273, 278 f.; ders. FS Schroeder, 2006, S. 11, 25 ff. 36 Frisch GA 2006, 273, 279; ders. FS Schroeder, 2006, S. 11, 24 f. 37 Ersichtlich in Roxin GA 2011, 1, 9 ff., 15; MK/Schlehofer (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 271. 38 NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 43a, 45 f.; contra Roxin GA 2011, 1, 10 f.; MK/Schlehofer (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 271. 32
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sichtigung der objektiven Auswirkungen seines Handelns im Hinblick auf den Schutz der beeinträchtigten Rechtsgüter 39 ist also abzuweisen. Denn er stellt ein Bekenntnis zur Etablierung einer Sonderschuld für den Gewissenstäter dar, die nicht als individuelle, sondern als auf objektive bzw. nicht personenbezogene Gesichtspunkte Bezug nehmende Zurechnung konzipiert wird.40 Diese Sonderschuldlehre bejaht eine Entschuldigung ausschließlich aufgrund objektiver Umstände.41 Hätte man diesen Schluss nicht auf den Gewissenstäter beschränken wollen, dann würden die Verbrechensstufen Rechtwidrigkeit und Schuld ineinander verschwimmen, sowie die Aufgabe der Schuld im Sinne einer persönlichen „Vorwerfbarkeit der Tat im Hinblick auf die ihr zu Grunde liegende rechtlich tadelnswerte Gesinnung“42 propagiert. Außerdem lassen sich die Vertreter der Entschuldigungslösung eine Hintertür für eine unzulässige qualitative Bewertung der Gewissensentscheidung offen, wenn sie positiv zu bewertende Charakteristika im Hinblick auf die Verfassungswertordnung für die Exkulpation verlangen.43 Strafe setzt Schuld voraus, Schuld ist „Anders-Handeln-Können“ und aus diesem Schuldprinzip folgen gemäß dem Jubilar sowohl der qualitative Satz „keine Strafe ohne die Möglichkeit des Andershandelns“ als auch der von ihm implizierte quantitative Satz „Bemessung der Strafe nach dem Grad der Möglichkeit des Andershandelns“, die sich aus den §§ 20, 21 StGB erschließen lassen.44 Jede Einschränkung der Möglichkeit des Andershandelns stelle infolgedessen nach den Wertungen unseres Strafrechts einen Schuldminderungsgrund dar.45 Folglich ist ein Schuldausschluss entsprechend anzunehmen, wenn die Gewissensentscheidung einen psychischen Zustand hervorgerufen hat, der in den Ausschluss der Motivierbarkeit durch die Anforderungen des Strafgesetzes, mithin des Anders-Handeln-Könnens eingemündet ist.46 Indessen schließt Schünemann aus diesen Prämissen nur einen Schuldminderungsgrund, „wenn der Täter sich durch sein Gewissen zur Tat verpflichtet gefühlt hat und durch diese Pflichtüberzeugung in seiner Handlungsfreiheit, d.h. seiner Motivierbarkeit durch die Anforderungen des staatlichen Gesetzes, eingeschränkt gewesen ist“.47
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Roxin GA 2011, 1, 14 f. Vgl. NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 45 f. 41 Roxin GA 2011, 1, 15. 42 Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, Rn. 394 ff., 400 ff. 43 Wie etwa Roxin GA 2011, 1, 14. 44 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 97. 45 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 97; vgl. Sch/Sch/Lenckner/Eisele, 28. Aufl. 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 119. 46 Vgl. NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 46; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 25 f. 47 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 98; ders. GA 1986, 293, 308; auch LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 371; Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 25 f.; Sch/Sch/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 116. 40
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Hier ist allerdings eine Differenzierung zwischen Schuldausschluss und Entschuldigung angebracht, die die Theorie bisher nicht genügend klar berücksichtigt hat. Eine Entschuldigung, die Schünemann wahrscheinlich auch im Sinne hatte,48 ist vorwiegend abzulehnen, da die Gewissensentscheidung (meistens) zwar eine erhebliche Schuldminderung bewirkt, allerdings keine hinzukommende Unrechtsminderung.49 Das gilt a fortiori, wenn eine Unrechtssteigerung wegen doppelter Rechtsgutsbeeinträchtigung bei der zusätzlichen Gefährdung eines Kollektivrechtsgutes vorliegt, die als zugleich schuldsteigernder Umstand die schuldmindernde Wirkung der Pflichtüberzeugung wettmacht.50 Jenseits der schlichten Entschuldigung ist aber der (totale) Ausschluss des Anders-Handeln-Könnens aufgrund eines unüberwindlichen endogenen psychischen Zwangs, mithin der Schuld für einen ganz beschränkten Fallbereich zu erwägen. Aus dem Schuldprinzip folgt diese ganz beschränkte, doch vorhandene Möglichkeit, einen solchen übergesetzlichen Schuldausschluss anzuerkennen, immer wenn der Gewissenszwang das Anders-Handeln-Können nicht bloß erheblich herabsetzt, sondern absolut ausschließt.51 Im Ergebnis ist ein solcher Schuldausschluss äußerst selten. Der Gewissenstäter muss sich also in der Regel mit einer schlichten Schuldminderung begnügen.52
III. Mittelbare Täterschaft bei einer Gewissenstat Der „Terrorismus aus Pflichtüberzeugung“ 53 unserer Zeit kennzeichnet sich durch den bemerkenswerten Einsatz unmittelbarer Gewissenstäter von willensübergeordneten Rädelsführern. Hier ist das Prinzip der Tatherrschaftsstufen anzuwenden, das der Jubilar aus dem primären Strafrechtszweck ableitet. Indem man aus der Grundidee des Strafrechts, nämlich durch Generalprävention Rechtsgüterschutz zu bewirken, auf die Möglichkeit des gleichzeitigen Auftretens verschiedener Täterschaftsformen schließe, sofern sich mehrere Personen nebeneinander in einer Schlüsselposition für die Unversehrtheit des Rechtsgutes befinden würden, liege es nahe, die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen nach seiner Position zum Rechtsgut zu bestimmen und 48
Explizit aber Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 27 Fn. 81. LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 371; Sch/Sch/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 117 ff.; Radtke GA 2000, 19, 35 f. 50 Schünemann (Fn. 1), S. 49, 58 ff., 104. 51 In Griechenland vertreten von Androulakis Poiniko Dikaio – Geniko Meros I, Athen 2006, S. 563 ff. Vgl. auch Frisch FS Schroeder, 2006, S. 11, 15, 26, 28; Sch/Sch/Lenckner/ Sternberg-Lieben (Fn. 9), Vor §§ 32 ff. Rn. 115, 119. 52 LK/Rönnau (Fn. 9), Vor § 32 Rn. 372; Hirsch (Fn. 9), S. 24, 26; Schünemann GA 1986, 293, 308. 53 So Schünemann (Fn. 1), S. 49, 80. 49
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nicht notwendig davon abhängig zu machen, dass die Verantwortlichkeit eines anderen vollständig verneint werde.54 Es genügt demnach eine – sei es auch nur relativ – höherstufige Geschehenskontrolle durch den Hintermann, der in irgendeiner Hinsicht das Geschehen besser überblickt und dadurch in höherem Maße als der Vordermann steuert. Diese Grundidee des Tatherrschaftsstufenprinzips ist schon als implizite ratio decidendi in der Rspr. des BGH über den Täter hinter dem Täter vorhanden.55 Dem Verantwortungsprinzip wird in diesem Kontext eine Doppelrolle zugewiesen, „einmal zur Bezeichnung einer zwar nicht notwendigen, aber hinreichenden Bedingung für die mittelbare Täterschaft des Hintermannes, und sodann als eine primafacie-Regel, der zufolge die Konstellationen des Täters hinter dem Täter stets einer besonderen Begründung bedürfen“.56 In den kaum praktisch Aufsehen erregenden Fällen einer Rechtfertigung der Gewissenstat durch Art. 4 Abs. 1 GG sowie in den seltenen Ausnahmefällen eines Schuldausschlusses (bzw. einer Entschuldigung) des Gewissenstäters instrumentalisiert der Hintermann einen nicht rechtswidrig oder nicht schuldhaft handelnden Vordermann und eine mittelbare Täterschaft liegt problemlos vor.57 Es bleibt dann der eigentlich interessante Regelfall übrig, dass dem Gewissenstäter nur eine Schuldminderung zukommt. Hier würde es wortgetreu um einen Täter hinter dem (noch strafrechtlich verantwortlichen) Gewissenstäter gehen. Die relativ überlegene Geschehenssteuerung koppelt Schünemann mit einer Schuldminderung des Tatmittlers und führt im Anschluss das Beispiel des vermeidbaren Verbotsirrtums an: Wenn der Vordermann für das Geschehen strafrechtlich noch verantwortlich sei, seine Kontrolle über das Geschehen aber reduziert und deshalb auch seine Schuld vermindert sei, so müsse ein Strafrecht, dem es um optimalen Rechtsgüterschutz gehe, den dieses Defizit des Vordermanns beherrschenden Hintermann gleichfalls für verantwortlich erklären, was wiederum durch die Annahme einer bloßen Anstiftung nicht angemessen ausgedrückt werde.58
54 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 65; ders. FS Schroeder, 2006, S. 401, 409 f.; vgl. ferner Roxin ZStrR 125 (2007), 1, 11. 55 Schünemann FS Schroeder, 2006, S. 401, 407. 56 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 67. 57 Schünemann FS Schroeder, 2006, S. 401, 402 ff.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 42), Rn. 537 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 28), § 25 Rn. 4. 58 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 65; ders. FS Schroeder, 2006, S. 401, 411; gemäß MK/Joecks (Fn. 10), § 17 Rn. 22: „Wer verblendet erzogen wurde und deshalb kein anderes Recht als das von Fanatikern interpretierte göttliche Recht anerkennen will, dem fehlt die Unrechtskenntnis“; auch LK/Schroeder, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 20; contra NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 40. Dieser Ansicht folgend könnte man mittelbare Täterschaft aufgrund eines vermeidbaren Verbotsirrtums des Tatmittlers annehmen.
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Bei den herkömmlichen Grundkonstellationen der mittelbaren Täterschaft kraft Nötigungs- oder Irrtumsherrschaft nutzt der Hintermann entweder die mangelnde Widerstandskraft oder die fehlende Einsicht des Tatmittlers für seine Zwecke aus.59 Allerdings hat der Jubilar die Idee einer kompletten Ausdehnung der mittelbaren Täterschaft auf alle Fälle der Benutzung eines im Zustande verminderter Schuldfähigkeit handelnden Werkzeuges 60 nun aufgegeben und sich der von Roxin entwickelten Lösung auf der Grundlage der Theorie der Tatherrschaftsstufen angeschlossen.61 Dem (normativen) Verantwortungsprinzip gesteht Schünemann jetzt eine absolute „sektorale“ Geltung im Bereich der Nötigungsherrschaft zu.62 Wenn nur das Hemmungsvermögen (die „Fähigkeit …, nach dieser Einsicht zu handeln“) des Unrechtseinsicht habenden Ausführenden vermindert ist, kommt nach Schünemann nur Teilnahme für den Außenstehenden in Betracht, sofern nicht sonstige Umstände ihm die Tatherrschaft verleihen, weil die schlichte Schuldminderung wegen einer Erschwerung der verantwortlichen Selbstbestimmung des Vordermanns die Herrschaftsstruktur des Vorgangs nicht modifiziert.63 Die Orientierung am Gesetz (§ 35 StGB) wird dementsprechend als die einzige praktikable Abgrenzung behauptet.64 Der BGH habe daher mit Recht die verminderte Schuldfähigkeit des unmittelbaren Täters im „Katzenkönig“Fall (BGHSt 35, 347, 349) für sich allein noch nicht ausreichen lassen, um dem Hintermann die mittelbare Täterschaft zuzusprechen.65 Ich vertrete die Auffassung, dass hier eine Ausnahme angebracht ist. Denn es bestehen hinzuzudenkende Umstände, die dem hinter einer Gewissenstat steckenden Drahtzieher Tatherrschaft verleihen. Diese Auffassung steht auch mit der Theorie der Tatherrschaftsstufen als allgemeinem Strukturprinzip für die mittelbare Täterschaft in Einklang. Schünemann gibt nämlich an anderer Stelle zu: „Zwar wäre es nach der Theorie der Tatherrschaftsstufen (Rn. 65 f.) nicht begrifflich ausgeschlossen, bei einer unter der Schwelle der Exkulpation verbleibenden Einschränkung der Entscheidungsfreiheit des Vordermannes den Hintermann als Täter hinter dem Täter verantwortlich zu machen. Man müsste dann aber (in Ermangelung markanter Zwischenstufen) jegliche Nötigung hierfür ausreichen lassen, wofür neben einer Erfassung dieses spe59
LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 67; NK/Schild, 4. Aufl. 2013, § 25 Rn. 76. Schünemann NStZ 1982, 60, 63. 61 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 117 Fn. 264; a.A. Schaffstein NStZ 1989, 153, 157 f. 62 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 65 f., 117; ders. FS Schroeder, 2006, S. 401, 402 f., 408; Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 143 ff., 685 f.; ders. Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 49 ff., 150. 63 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 115; ders. FS Schroeder, 2006, S. 401, 408 f.; Roxin AT II (Fn. 62), § 25 Rn. 49 ff., 150; Sch/Sch/Heine, 28. Aufl. 2010, § 25 Rn. 41; MK/Joecks, 2. Aufl. 2011, § 25 Rn. 58 f., 62. 64 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 70; MK/Joecks (Fn. 63), § 25 Rn. 62. 65 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 118. 60
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zifischen Unrechts durch die Anstiftung (§ 26) zur Haupttat in Idealkonkurrenz mit Nötigung (§ 240) kein kriminalpolitisches Bedürfnis besteht.“66 Das kriminalpolitische Bedürfnis, den Hintermann als Täter zu brandmarken, ist beim Gewissenstäter allerdings, anders als bei der Herbeiführung einer entschuldigenden Notstandslage, vom Strafrechtszweck her begründet und eine per saldo Erfassung des spezifischen Unrechts kommt nicht in Frage. Außerdem stellt das Vorliegen einer Gewissensentscheidung beim Vordermann eine „markante Zwischenstufe“ dar, die eine praktikable Abgrenzung unabhängig von der Orientierung am Gesetz ermöglicht. In diesem Fall kann der Willenseinfluss ausnahmsweise zur Willensherrschaft auch außerhalb eines organisatorischen Machtapparats erhoben werden.67 Die Kategorie der mittelbaren Täterschaft kraft eines mit verminderter Schuld handelnden Tatmittlers hatte bereits F. C. Schroeder thematisiert und dazu auch die Ausnutzung „eines der gesetzlich umrissenen Zurechnungsunfähigkeit ähnlichen Zustands“ wie u.a. „seelischer Druck oder Zwang“ zugeordnet.68 Sie war ferner im erwähnten „Katzenkönig“-Urteil des BGH von Relevanz. Schumann führt die verminderte Schuldfähigkeit sowie die darauf beruhende Tatherrschaft der Hintermänner ausdrücklich auf eine Gewissensentscheidung des Tatmittlers zurück: Die Frage, die der Fall aufwerfe, sei vielmehr die, ob mittelbare Täterschaft durch Einsatz eines erheblich vermindert steuerungsfähigen Gewissenstäters möglich sei.69 Schaffstein schließt über das vom BGH abgehandelte kontroverse Hauptproblem der mittelbaren Täterschaft bei vermeidbarem Verbotsirrtum des Tatmittlers hinausgreifend auch die Frage des Täters hinter dem Täter bei verminderter Schuldfähigkeit des Tatmittlers in die Erörterung ein.70 Er vertritt die Auffassung, eine Teilung der Tatherrschaft und Verantwortung unter mehrere müsse insbesondere dann möglich sein, wenn nach dem Gesetz die Verantwortlichkeit des Tatmittlers zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber doch gemindert sei, also gerade in den Fällen verminderter Schuld nach § 17 und § 21 StGB.71 Nach dieser Ansicht hat der Hintermann Tatherrschaft, wenn er eine beim Vordermann vorliegende weitgehende „Entsteuerung“ ausnutzt, was „durch Wertung aller Umstände des konkreten Einzelfalles“ zu entscheiden ist.72 Diese Wertung will Schaffstein durch die Heranziehung einer weiteren Voraussetzung beschränken, nämlich dass „die verminderte
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LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 71. Vgl. LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 70; MK/Joecks (Fn. 63), § 25 Rn. 62; Roxin Täterschaft (Fn. 62), S. 143 f. 68 Schroeder Der Täter hinter dem Täter, 1965, S. 120 ff. 69 Schumann NStZ 1989, 32, 35. 70 Schaffstein NStZ 1989, 153, 155, 157 f. 71 Schaffstein NStZ 1989, 153, 156. 72 Schaffstein NStZ 1989, 153, 157 f.; krit. LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 116. 67
Der Täter hinter dem Gewissenstäter
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Schuldfähigkeit des Tatmittlers durch den Hintermann absichtlich und missbräuchlich herbeigeführt worden ist“.73 Im „Katzenkönig“-Fall wurde ferner ein Entschuldigungsirrtum in der Sonderform eines Irrtums über die sachlichen Voraussetzungen eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes erwogen, weil die Überzeugung des Angeklagten, durch die Tötung des Opfers den „Katzenkönig“ besänftigen und folglich Millionen anderer Menschen retten zu können, bei Unterstellung ihrer Richtigkeit einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund oder einen Entschuldigungsgrund durch analoge Anwendung des § 35 Abs. 2 StGB darstellen würde.74 Unter der Prämisse des Gerichts, „dass eine gewissenhafte Prüfung des Vorliegens der Notstandssituation stattgefunden hat“, akzeptiert Schünemann, dass die Bestrafung des Tatmittlers genauso wie beim vermeidbaren Verbotsirrtum die mittelbare Täterschaft des Hintermanns nicht ausscheiden lässt.75 Beim Gewissenstäter sind vergleichbare kognitive Gesichtspunkte vorhanden, die per se die Relevanzgrenze in Bezug auf seine Schuld nicht überschreiten. Allerdings kommen sie zu seinem bereits durch den Gewissenszwang eingeschränkten Hemmungsvermögen hinzu und verschaffen dem besseren Überblick habenden Hintermann Tatherrschaft. Beim Gewissenstäter liegt nämlich eine irrige Annahme entschuldigender Tatumstände nahe.76 In allen diesen Fällen ergebe sich nach Schünemann eine mittelbare Täterschaft daraus, dass dem Handelnden, wenn er sich auf Grund eines Sachverhaltsirrtums genötigt fühle und entschuldigt glaube, der rechtlich-soziale Bedeutungsgehalt seines Tuns verschlossen sei, während der Hintermann kraft eines besseren Wissens den Irrenden in der Hand habe.77 Es geht um einen Fall des Täters hinter dem (sich bloß entschuldigt wähnenden) Täter, und zwar um Irrtumsherrschaft.78 Demzufolge weist die Instrumentalisierung einer Gewissensentscheidung des Vordermanns Züge von beiden erwähnten Grundkonstellationen der mittelbaren Täterschaft auf.79 Diese Mischform von Willens- und Irrtumsherrschaft birgt eine besondere Dynamik im Hinblick auf die Rechtsgutsbeeinträchtigung, da sie dem Hintermann eine Kontrolle über das tatbestands73
Schaffstein NStZ 1989, 153, 158. LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 94, Fn. 218; Schaffstein NStZ 1989, 153, 154; Roxin AT II (Fn. 62), § 25 Rn. 92; Sch/Sch/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 51), Vor §§ 32 ff. Rn. 117; Kühl (Fn. 17), § 13 Rn. 84. 75 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 94; auch Schaffstein NStZ 1989, 153, 154. 76 Vgl. Sch/Sch/Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 49), Vor §§ 32 ff. Rn. 117; Figueiredo Dias FS Roxin, 2001, S. 531, 545 ff.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 42), Rn. 487 ff. 77 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 94 f.; Roxin AT II (Fn. 62), § 25 Rn. 91 f.; Sch/ Sch/Heine (Fn. 63), § 25 Rn. 34; NK/Schild (Fn. 59), § 25 Rn. 84, 86, 109. 78 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 96; Roxin AT II (Fn. 62), § 25 Rn. 91 f. 79 Vgl. Schaffstein NStZ 1989, 153, 157. 74
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mäßige Geschehen verleiht, die jene einer herkömmlichen Irrtums- oder Willensherrschaft per se deutlich übersteigt. Der Hintermann, der die Gewissensentscheidung etwa durch Indoktrination und ideologische Verblendung anreizt und/oder unter Kontrolle stellt, verfügt über eine relativ überlegene Stellung und dementsprechend über eine höherstufige Tatherrschaft. Beim Selbstmordattentäter wird beispielsweise eine Schuldminderung im Sinne eines verminderten Hemmungsvermögens allenfalls durch seine Entscheidung, das Schicksal seiner Opfer zu teilen, indiziert.80 Das Ziel seines grausamen Vorhabens wird ihm aber meistens von einem Vermittler des „göttlichen Auftrags“ mitgeteilt, der die Rettung höchstpersönlicher „Güter“ in die Abwägung hineinzieht. Dieser Hintermann ist selbst oft ein gefährlicher Überzeugungstäter (nicht aber Gewissenstäter, weshalb die erwähnten schuldrelevanten Gesichtspunkte nicht einschlägig sind81). Er verfügt über einen intensiven faktischen Einfluss auf das Geschehen, dessen Normativierung ihm Tatherrschaft verleiht.
IV. Fazit Die Strafrechtsdogmatik darf sich in Bezug auf die Schuld des Gewissenstäters nicht hinter den Schranken von Art. 4 Abs. 1 GG verschanzen. Die Entschuldigungslösung läuft auf die Etablierung einer Sonderschuldlehre für Gewissenstäter hinaus. Jenseits der unbeträchtlichen Rechtfertigung durch die Grundrechtsgarantie muss der Gewissenstäter anhand von genuin schuldstrafrechtlichen Maßstäben beurteilt werden. Dem Hintermann kann eine überlegene Stellung zugesprochen werden, die auf der Instrumentalisierung des Gewissenzwangs und der sich daraus ergebenden Schuldminderung beruht. Ihm steht eine höherstufige Tatherrschaft gemäß dem Prinzip der Tatherrschaftsstufen zu und er ist mittelbarer Täter. In diesem Beitrag habe ich versucht, Gedanken fortzuführen, die ich zunächst in Arbeiten unter der Betreuung meines verehrten Doktorvaters, Bernd Schünemann, aufgegriffen habe, und diese mit seinen Lehren in Einklang zu bringen. Akademischer Nachlass des Rechtslehrers sind die Wege, die er dem wissenschaftlichen Nachwuchs geebnet hat. Das können wir Bernd Schünemann gewiss verdanken!
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Vgl. Otto FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 21, 37. Vgl. NK/Neumann (Fn. 9), § 17 Rn. 12, 42 f.
Mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten Raúl Pariona Arana
Schünemanns Beitrag zur Täterschaftslehre ist fundamental. Seine Abhandlungen hierzu sind auf einem sehr hohen dogmatischen Niveau und haben international viel Resonanz erfahren. Sein Werk hat in erster Linie dazu beigetragen, dass das internationale Strafrecht von der deutschen strafrechtlichen Dogmatik geprägt wurde. Die vorliegende Arbeit, die ich dem Jubilar in tiefer Verbundenheit und Verehrung herzlich widme, beschäftigt sich mit dem im Bereich der Täterschaftslehre intensiv diskutierten Thema der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten.
I. Einleitung Die Pflichtdeliktslehre1 hat sich nicht nur in der Strafrechtswissenschaft 2 etabliert, sondern inzwischen auch in der Rechtsprechung Vertreter gefunden. Gegenstand zahlreicher Diskussionen sind dabei nach wie vor ihre Begründung, Prämissen, Reichweite sowie ihre dogmatischen Konsequenzen. Der Pflichtdeliktslehre zufolge ist allein die Pflichtverletzung das maßgebliche Kriterium für die Bestimmung und Abgrenzung der Täterschaft bei Pflichtdelikten. Nicht mehr erforderlich ist hingegen die Tatherrschaft. Dieser Wechsel der Kriterien von „Tatherrschaft“ zur „Pflichtverletzung“ führt zu einem neuen Täterbegriff: Täter bei Pflichtdelikten ist derjenige, der die tatbestandliche Handlung verwirklicht, indem er eine Sonderpflicht verletzt; Teilnehmer ist derjenige, der ohne die Sonderpflicht innezuhaben, zu den kriminellen Geschehnissen beiträgt, indem er zu dem Delikt Beihilfe leistet. Mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten ist die Deliktsverwirklichung durch eine dritte Person, die die tatbestandliche Handlung konkretisiert. Die Handlung dieser Person wird dabei dem mittelbaren Täter zugerechnet, da er durch Verletzung seiner Sonderpflicht das Delikt ausgelöst hat. Anders 1 Im Jahr 1963 entwickelte Roxin in seiner Abhandlung „Täterschaft und Tatherrschaft“ die Pflichtverletzung als weiteres Kriterium zur Bestimmung und Abgrenzung von Täterschaft. 2 Für eine Darstellung der Pflichtdeliktslehre vgl. Pariona Täterschaft und Pflichtverletzung – Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der Abgrenzung der Beteiligungsformen bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten, 2010; ders. FS Roxin, 2011, S. 853 ff.
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betrachtet besteht die Struktur der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten demnach in der Zurechnung des Verhaltens des Vordermanns zum Hintermann, weil letzterer seine Sonderpflicht verletzt hat, indem er sich des Vordermanns zur Verwirklichung des Delikts bedient hat. In der Literatur wird die Möglichkeit der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten teilweise verneint, und zwar nicht nur von Autoren, die die Pflichtdeliktslehre grundsätzlich ablehnen, sondern auch von solchen, die der Pflichtdeliktslehre an sich zustimmen. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die vom Verfasser vertretene, die mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten bejahende Ansicht darzulegen. Im Lichte dieser Auffassung werden anschließend die hiervon abweichenden Auffassungen in der Literatur diskutiert.
II. Erste Überlegungen Gemäß § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB ist mittelbarer Täter derjenige, der die Straftat „durch einen anderen begeht“.3 Der mittelbare Täter bedient sich somit einer anderen Person zur Verwirklichung des Tatbestandes und damit fremder Hand zur Begehung seiner eigenen Tat.4 Die Handlung des Werkzeugs wird dem Hintermann dabei zugerechnet. Das Delikt kann daher im Sinne eines globalen kriminellen Ereignisses als das Werk des Hintermannes angesehen werden. Die mittelbare Täterschaft setzt also immer ein Einschreiten von zwei Personen voraus: des Hintermannes und des Vordermannes. Dabei wird das Verhalten des Vordermannes dem Hintermann zugerechnet, da dieser zur Erreichung seiner eigenen kriminellen Ziele den Vordermann instrumentalisiert hat. Das normative Prinzip der mittelbaren Täterschaft besteht dementsprechend in der Verwirklichung des Delikts durch einen anderen, wobei dessen Verhalten dem Hintermann aufgrund von Tatherrschaft oder aufgrund einer Sonderpflichtverletzung zugerechnet wird. Aus dem Blickwinkel des Herrschaftsgedankens kann „Straftatbegehung durch einen anderen“ als Herrschaft über dessen deliktisches Handeln angesehen werden. Der Hintermann setzt den Vordermann ein, um den tatbestandlichen Erfolg zu schaffen, indem er den Vordermann nötigt oder täuscht und ihn auf diese Weise zum bloßen Werkzeug seiner Pläne macht.5 Daraus 3 Schünemann gibt eine ausführliche Darstellung der mittelbaren Täterschaft, vgl. Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 60 ff. 4 Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht AT, 5. Aufl. 2004, § 12 Rn. 30, betonen in diesem Sinne, dass es um Konstellationen gehe, in denen jemand als Herr des tatbestandserfüllenden Geschehens erscheint, obwohl er die Tat eben nicht mit eigener Hand begeht. Die historische Relevanz der Struktur der mittelbaren Täterschaft wird bei Hruschka ZStW 110 (1998), 595 ff. erläutert. 5 Zur mittelbaren Täterschaft durch Organisationsherrschaft vgl. Schünemann FS Roxin, 2011, S. 799, 803; Greco ZIS 2011, 9, 11.
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ergibt sich die Herrschaft des Hintermannes.6 Der Beitrag des Vordermannes zur Tatbestandserfüllung wird dem Hintermann als sein eigenes Werk zugerechnet. Dabei bildet die Einbeziehung des fremden Tatanteils in den eigenen Verwirklichungswillen die Grundlage dafür, dass die Tat als das „Werk“ des Hintermannes erscheint. Das, was der Tatmittler zur Tatbestandserfüllung beiträgt, wird dem mittelbaren Täter wie eigenes Handeln zugerechnet.7 Daraus lässt sich auch entnehmen, dass dem Hintermann nicht die Herrschaft zugerechnet wird, sondern das Verhalten des Vordermanns. Der Hintermann hat von Anfang an die Herrschaft über das deliktische Geschehen inne. Die Handlung des Vordermanns kann deswegen nicht als Herrschaft bezeichnet werden. Zwar hat beispielsweise derjenige, der in einem Irrtum handelt, die volle Kontrolle über seine Handlung. Diese Handlung stellt jedoch keine Herrschaft dar, mittels derer die Täterschaft bestimmt werden könnte. Die Handlung ist somit kein Täterschaftskriterium. Das lässt sich am folgenden Beispiel eines Boten erklären: Ein Bote arbeitet für einen Geschäftsmann, der in Wirklichkeit ein Terrorist ist. Aufgrund einer Weisung seines Arbeitsgebers liefert der Bote persönlich eine Briefbombe an einen Bürgermeister, ohne jedoch den Inhalt des Briefes zu kennen. Der Bürgermeister stirbt infolge der Detonation der Briefbombe. Es ist offensichtlich, dass der Arbeitgeber hier die Herrschaft über das kriminelle Ereignis hatte. Sein kriminelles Ziel, den Bürgermeister zu töten, hat er verwirklicht, indem er den Boten mittels Täuschung instrumentalisiert hat. In diesem Zusammenhang wird auch klar, dass der Bote zwar die Kontrolle über seine eigene Person und seine Handlungen hatte – insbesondere über die Lieferung der Briefbombe. Diese Art der „Kontrolle“ ist jedoch keine Tatherrschaft im Sinne einer Herrschaft über das kriminelle Ereignis. Im Rahmen des globalen kriminellen Ereignisses ist diese „Herrschaft“ nicht relevant. Die Bezeichnung als Herrschaft ist daher verfehlt, da diese Herrschaft nicht die Täterschaft begründet. Aus Sicht der Täterlehre ist die Handlung des Boten (genau betrachtet) keine Tatherrschaft, sondern ein bloßer kausaler Prozess, weshalb der Bote auch kein Täter ist. Die Herrschaft als Kriterium der Täterschaft (und nur das ist ausschlaggebend) hat in der Regel nur der Hintermann. Die Struktur der mittelbaren Täterschaft besteht demnach aus zwei Elementen: zum einen aus der Zurechnung des Verhaltens des Vordermannes zum Hintermann, zum anderen aus der Tatherrschaft des Hintermannes, die die Zurechnung des Verhaltens des Vordermannes zum Hintermann begründet.
6 Küpper GA 1998, 519, 522, betont, der materielle Grund der Dominanz des Hintermannes liege in seiner Stellung gegenüber dem Vordermann. Die Tatherrschaft liege vor, wenn ein an Wissen unterlegenes Werkzeug nach der Direktive des Hintermanns agiert. 7 Wessels/Beulke Strafrecht AT, 37. Aufl. 2007, Rn. 536.
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III. Die mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten – die neue Zurechnungsstruktur 1. Der Grund für die Zurechnung Das normative Prinzip der mittelbaren Täterschaft besteht in der Zurechnung des Verhaltens des Werkzeuges zum Hintermann. Dieses Prinzip gilt auch bei den Pflichtdelikten. Der Grund für die Zurechnung ist hier jedoch nicht mehr die Herrschaft, sondern die Pflichtverletzung. Die neue Struktur der mittelbaren Täterschaft liegt also in dem Grund für die Zurechnung: Der Maßstab der Zuweisung der Täterschaft ist hier nicht die Tatherrschaft über das Geschehen, sondern die Verletzung der rechtlichen Sonderpflicht durch den pflichtigen Hintermann.8 Der Pflichtige erfüllt den Tatbestand, indem er pflichtverletzend die materielle rechtsgutsschädigende Handlung einem anderen überlässt.9 Der Hintermann verhält sich also pflichtwidrig, während der Vordermann den äußeren Beitrag zur Tatbestandverwirklichung leistet. So verhält es sich beispielsweise im Fall eines Richters, der einen nicht verbeamteten Dritten zu einer der Parteien des Prozesses schickt, damit diese dazu veranlasst werde, sich eine „günstige“ Entscheidung des Richters zu erkaufen (§ 332 StGB). Hier hat der Richter das Delikt „durch einen anderen“ begangen. Er allein ist der Täter, denn nur er hat die Sonderpflicht inne und nur er hat diese auch verletzt, indem er durch den Dritten das Gewähren des Vorteils erfragt hat. Der Dritte hat die äußere Handlung des Vorteilsersuchens vollzogen, die Durchführung der Förderung lag allein in seinen Händen. Dieses Verhalten des Dritten wird dem Richter zugerechnet, da er den Dritten hierzu pflichtverletzend verleitet hat. Die Annahme von mittelbarer Täterschaft ist daher aufgrund der dogmatischen und kriminalpolitischen Bestimmungen auch bei Pflichtdelikten unentbehrlich. Daher ist die Annahme von mittelbarer Täterschaft in Konstellationen, in denen sich ein Intraneus eines Extraneus für die Verwirklichung des Delikts bedient, in der Lehre heute10 wie früher11 auch weitgehend auf Zustimmung gestoßen. 8
Pariona (Fn. 2), S. 145 ff. In diesem Sinne auch Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 360 f. 10 Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 271 ff.; Herzberg Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 32. Aus der Perspektive des Herrschaftsgedankens vgl. Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 669 f.; LK/Schünemann (Fn. 3), § 25 Rn. 133 (Garantenherrschaft). Im Ergebnis auch Spendel FS Lange, 1976, S. 147, 155; Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 505 f.; Roeder ZStW 69 (1957), 225, 226, s. auch dort Fn. 12; Münchener Kommentar StGB/Voßen, 2. Aufl. 2014, § 343 Rn. 41; Jäger Strafrecht AT, 2. Aufl. 2006, § 6 Rn. 250; Gropp Strafrecht AT, 2. Aufl. 2001, § 10 Rn. 55. 11 Vgl. nur Liszt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 3. Aufl. 1888, S. 210 f.; Merkel Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1889, S. 141; Nagler Die Teilnahme am Sonderverbrechen, 1903, S. 69. 9
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2. Der „persönliche“ Charakter der Pflichtverletzung Die Sonderpflichten der Pflichtdeliktslehre, bei deren Verletzung der Pflichtige zum Täter wird, haben strafrechtlichen Charakter. Es handelt sich hierbei um an bestimmte Personengruppen gerichtete Pflichten, deren Einhaltung insoweit rechtlich einklagbar ist und die in die strafrechtlichen Tatbestände übernommen wurden. Da es sich bei der Beziehung zwischen einer Person und ihrer Pflicht stets um eine höchstpersönliche und unmittelbare Beziehung handelt, ist selbstverständlich, dass auch die Verletzung dieser Pflichten persönlich und unmittelbar sein muss. Die Pflichtenstellung und ihre Verletzung sind somit wie bei unmittelbarer Täterschaft auch bei mittelbarer Täterschaft an die Person gebunden. Im Hinblick auf den individuellen Charakter des täterschaftsbegründenden Maßstabs kann man auch eine gewisse Ähnlichkeit zu den Herrschaftsdelikten feststellen. Bei diesen ist das Innehaben der Herrschaft persönlich und Täter ist, wer das deliktische Geschehen beherrscht – sei es durch unmittelbare oder mittelbare Täterschaft; nur der Täter hat die Herrschaft hinsichtlich des in Frage stehenden kriminellen Geschehens inne. Der Tatmittler ist dagegen nur ein Instrument, er dominiert das deliktische Geschehen nicht. Allenfalls beherrscht er seine konkrete Handlung, diese „Herrschaft“ ist jedoch keine die Täterschaft begründende Herrschaft. So beherrscht zwar beispielsweise der im Irrtum handelnde Bote seine Handlung, wenn er dem Bürgermeister die Briefbombe übergibt, die ihm zuvor vom Terroristen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gegeben wurde. Diese „Herrschaft“ begründet jedoch keine Täterschaft, weil sie keine Herrschaft über das konkrete deliktische Geschehen darstellt. Aus der Sicht der Täterschaftslehre stellt die Handlung des Boten (strikt gesehen) keine Herrschaft dar, sondern einen bloßen kausalen Prozess. Die mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten stützt sich dementsprechend nicht auf eine mittelbare Verletzung der Sonderpflicht. Der persönliche Charakter der Pflichtenstellung schließt – schon begrifflich – eine mittelbare Pflichtverletzung aus. Es geht hier vielmehr um eine mittelbare Deliktsbegehung. Die Struktur „Tatbestandverwirklichung durch einen anderen“ gestaltet sich hier als eine „Verwirklichung des äußeren tatbestandlichen Erfolgs durch einen anderen“. Schickt der Richter in dem oben geschilderten Beispielsfall einen nicht verbeamteten Dritten zu einer der Prozessparteien, um einen finanziellen Vorteil zu erlangen, verletzt er unmittelbar seine Sonderpflicht. Er erfüllt jedoch nicht allein den strafrechtlichen Tatbestand („einen Vorteil fordern“ gemäß § 332 StGB). Der Beitrag zur tatbestandlichen Erfüllung wird vielmehr vom nichtpflichtigen Dritten geleistet. Dieser nimmt die äußere Handlung vor, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen.
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3. Die normative Struktur als Kriterium für die Bestimmung mittelbarer Täterschaft Bei Pflichtdelikten bestimmt das Kriterium der Pflichtverletzung die Täterschaft. Sind mehrere an einem kriminellen Ereignis beteiligt, ist Täter derjenige, der die Sonderpflicht verletzt hat, und Teilnehmer derjenige, der, ohne die Sonderpflicht innezuhaben, zur Verwirklichung des Delikts beiträgt. Bei Pflichtdelikten bestimmt man die Täterschaft somit anhand der Pflichtverletzung. Die Art der Täterschaft wird aber abhängig von den gesetzlich vorgesehenen normativen Strukturen der verschiedenen Arten von Täterschaft bestimmt. Das Gesetz kennt drei Arten von Täterschaft: die unmittelbare Täterschaft, die mittelbare Täterschaft sowie die Mittäterschaft. Demzufolge gibt es die Struktur der eigenhändigen Begehung (§ 25 Abs. 1 S. 1 StGB), der Begehung durch einen anderen (§ 25 Abs. 1 S. 2 StGB) sowie der gemeinschaftlichen Begehung (§ 25 Abs. 2 StGB). Die Form der Täterschaft ist davon abhängig, unter welche dieser normativen Strukturen die Handlung des Täters subsumiert werden kann. Die faktische Gestaltung der deliktischen Handlung ist somit für die Bestimmung der Täterschaftsform relevant. Hieraus folgt, dass die Pflichtverletzung als Kriterium der Täterschaft gerade dazu dient, eine Antwort auf die Frage zu finden, wer der Täter des Pflichtdeliktes ist. Demgegenüber ist die normative Struktur der Täterschaft das Kriterium, um die jeweilige Täterschaftsform zu bestimmen. Für die Subsumtion unter eine der drei Täterschaftsformen ist dabei das tatsächliche deliktische Verhalten, also die persönliche, mittelbar durch andere oder gemeinschaftliche Verwirklichung des Delikts, von Bedeutung. Es ist somit nach zwei Kriterien zu unterscheiden: einerseits dem Kriterium zur Bestimmung der Täterschaft und andererseits demjenigen zur Feststellung der Form der Täterschaft. Nach der Pflichtdeliktslehre ist das Kriterium zur Bestimmung der Täterschaft allein die Sonderpflichtverletzung, sowohl im Fall der unmittelbaren, der mittelbaren als auch der Mittäterschaft. Die Erscheinungsform der Täterschaft hängt demgegenüber von der Subsumtion der deliktischen Tat unter die verschiedenen normativen Strukturen der Täterschaft, also von der Deliktsstruktur, ab. Bei der mittelbaren Täterschaft ist die gesetzliche normative Struktur die „Begehung des Deliktes durch andere“. Die mittelbare Täterschaft bezieht sich auf das Handeln zweier Personen – des Hintermannes und des Vordermannes. Das Verhalten des Vordermannes wird dem Hintermann wie eigenes Handeln zugerechnet, da er pflichtverletzend mithilfe des Vordermanns seine kriminellen Ziele materialisiert hat. Folglich liegt eine mittelbare Täterschaft vor, wenn die Handlung in diese deliktische Struktur subsumiert werden kann.
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IV. Das Infragestellen der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten Die vorliegende Arbeit soll die Gründe für eine mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten aufzeigen. Die Struktur der „Tatbestandsverwirklichung durch andere“ gilt uneingeschränkt sowohl bei Herrschaftsdelikten als auch bei Pflichtdelikten und ist für beide Deliktsgruppen gleichermaßen legitim wie adäquat. Die Existenz der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten wird dennoch von Teilen der Literatur, darunter auch Vertretern der Pflichtdeliktslehre, abgelehnt. Ausgehend von der Prämisse, dass Gegenstand des Meinungsstreits nicht nur bloße Terminologie ist, soll im Folgenden eine Auseinandersetzung mit diesen Ansichten erfolgen. 1. Fehlkonstruktion? (Stratenwerth) Zum ersten Mal wurde die Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten von Stratenwerth12 kritisiert. In der ersten Auflage seines Allgemeinen Teils (1970) bemerkte er kritisch, dass die „Mitwirkung des Sonderpflichtigen am Delikt, auch die Verleitung oder Unterstützung Dritter, Täterschaft“13 sei. Sie sei jedoch nicht mittelbare, sondern „unmittelbare Täterschaft“. Diese Auffassung wird von Stratenwerth/Kuhlen weiterhin vertreten.14 Ihrer Auffassung nach sei im Falle des § 266 StGB der Intraneus, der andere dazu veranlasst oder ihnen dabei hilft, das ihm anvertraute Vermögen zu schädigen, der Täter. § 266 StGB umschreibe nämlich keine bestimmte Handlung, so dass die Annahme mittelbarer Täterschaft hier eine Fehlkonstruktion sei. Abgesehen von dieser bloßen Behauptung, liefern Stratenwerth und Kuhlen keine Argumente, um ihre These zu begründen. Weder wurde von ihnen ein Nachweis dafür geliefert, dass die mittelbare Täterschaft eine Fehlkonstruktion sei, noch wurde aufgezeigt, an welcher Stelle der Fehler in der Struktur „Tatbestandverwirklichung durch andere“ bei Pflichtdelikten liege. Ferner wurden auch nicht die Gründe für die Existenzberechtigung der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten, namentlich ihre Möglichkeit, ihre Angemessenheit und ihre Notwendigkeit15 in Frage gestellt. Dennoch konnte diese Ansicht einige Anhänger für sich gewinnen.16 12
Stratenwerth Strafrecht AT I, 1. Aufl. 1970, § 13 Rn. 856. Stratenwerth (Fn. 12), § 13 Rn. 856. 14 Die Kritik von Stratenwerth wurde bis heute beibehalten, vgl. Stratenwerth (Fn. 12), § 13 Rn. 856; 2. Aufl. 1976, § 12 Rn. 799; 3. Aufl. 1981, § 12 Rn. 797; 4. Aufl. 2000, § 12 Rn. 40; 5. Aufl. 2004, § 12 Rn. 40. 15 Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 4), § 12 Fn. 51, haben kurze Zeit danach ihre Kritik entkräftet, indem sie eingeräumt haben, dass sich die Kritik am Ende in einer Frage der Terminologie erschöpft. Ähnlich auch Sánchez-Vera Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 164. 16 Hauptsächlich Beleza in: Schünemann (Hrsg.), Bausteine des europäischen Straf13
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2. Verletzung der Pflicht „durch einen anderen“? (Pizarro Beleza) Pizarro Beleza17 griff die Kritik an der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten auf und begründete diese damit, dass man die Pflichtverletzung nicht „durch einen anderen“ begehen könne. In ihrer Arbeit über die „Täterschaftsstruktur bei Pflichtdelikten“ bemerkte sie fragend: „Wäre es der Logik der Pflichtdeliktslehre folgend nicht korrekter, Fälle, in denen ein Intraneus einen mit Vorsatz handelnden Extraneus zur Tat anstiftet, als Fälle der unmittelbaren und nicht der mittelbaren Täterschaft zu betrachten?“18 Wenn „bei den Pflichtdelikten die Täterschaft ausschließlich von der außerstrafrechtlichen Pflichtträgerschaft bestimmt wird, ist es dann sinnvoll, zu untersuchen, ob das Verhalten eigenhändig oder fremdhändig war, um daraus zu schließen, welche Art der Täterschaft vorliegt? Liegt hier nicht in gewisser Weise ein Zugeständnis an Kriterien der Jedermannverbrechen oder Herrschaftsverbrechen vor?“ Es wäre folglich nicht nachzuvollziehen, dass „die Pflichtverletzung selbst ‚durch einen anderen‘ vollzogen (begangen) wird.“19 Nach der hier vertretenen Pflichtdeliktslehre erfolgt die Pflichtverletzung bei mittelbarer Täterschaft jedoch nicht „durch einen anderen“. Was „durch einen anderen“ verwirklicht wird, ist „die Begehung des Deliktes“. Täter ist nach der Pflichtdeliktslehre daher derjenige, der die (dem strafrechtlichen Tatbestand zugrunde liegende) Sonderpflicht unmittelbar in eigener Person verletzt. Der Vordermann dagegen beschränkt sich lediglich darauf, einen äußeren Teil der Handlung zu vollziehen. Pizarro Beleza kritisiert weiterhin, es wäre nicht sinnvoll zu untersuchen, ob das Verhalten eigenhändig war oder durch die Hand eines anderen vorgenommen wurde, um dann aus dem gefundenen Ergebnis darauf zu schließen, welche Art der Täterschaft vorliegt. Als Argument führt sie an, die Täterschaft sei ausschließlich von der außerstrafrechtlichen Pflichtträgerschaft bestimmt. Dem kann jedoch nicht zugestimmt werden, denn die Erscheinungsform der Täterschaft (unmittelbare, mittelbare oder Mittäterschaft) hängt nicht vom Täterkriterium ab. Maßgeblich ist vielmehr die reelle Gestaltung der Tat und ihre Subsumtion unter die gesetzlich vorgeschriebenen Strukturen (§ 25 StGB), so bei der mittelbaren Täterschaft unter die normative Struktur des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB. Der Deliktsstruktur der mittelbaren Täterschaft sind zwei Handlungen immanent: einerseits die Handlung des qualifizierten Hintermannes (Intraneus) und andererseits diejenige des nicht-
rechts, Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, S. 267 ff., und Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 162 ff. 17 In ihrem Vortrag über die „Täterschaftsstruktur bei Pflichtdelikten“; vgl. Beleza (Fn. 16), S. 267 ff. 18 Beleza (Fn. 16), S. 273 f. 19 Beleza (Fn. 16), S. 274 Fn. 18.
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qualifizierten Vordermannes (Extraneus), wobei das Verhalten des Extraneus dem Intraneus zugerechnet wird. Dort, wo diese Struktur existiert, liegt folglich mittelbare Täterschaft vor. Herrschaft lässt sich nicht allein durch die äußere Gestaltung der Handlung definieren. Vielmehr muss die Bewertung der äußeren Handlung als Herrschaft (Herrschaftshandlung) oder als Pflichtverletzung (Pflichtverletzungshandlung) normativ abhängig von der gewählten Deliktsstruktur erfolgen. Nach der Pflichtdeliktslehre ist der qualifizierte Hintermann der Täter, denn er allein hat die Pflichtenstellung inne und entsprechend verletzt auch er allein die Sonderpflicht. Schließlich ist auch die Behauptung Pizarro Belezas unzutreffend, die Pflichtverletzung verwirkliche sich in der „Tathandlung des anderen“.20 Ihrer Auffassung nach ist in der Konstellation der mittelbaren Täterschaft das Verhalten des Extraneus die Tathandlung, in der sich die Pflichtverletzung realisiere. Dies trifft jedoch nicht zu. „Durch andere“ erfolgt lediglich die äußere Begehung des Delikts (die Tathandlung), also das globale kriminelle Ereignis. In dieser äußeren Tathandlung verwirklicht sich jedoch nicht die Pflichtverletzung. Denn wie bereits dargelegt wurde, kann nur der Intraneus die Sonderpflicht verletzen. Die Pflichtverletzung erfolgt zu dem Zeitpunkt, in dem der Intraneus den Extraneus zur Begehung des Delikts bestimmt. Es sei also nochmals hervorgehoben: „Durch andere“ erfolgt die Begehung des Delikts, nicht jedoch die Pflichtverletzung. Die Sonderpflicht wird durch den Intraneus verletzt, dieser ist somit Täter. 3. Verbindung (durch Herrschaft) zwischen Hintermann und Vordermann? (Sánchez-Vera) Die Existenz der mittelbaren Täterschaft wird auch von Sánchez-Vera21 verworfen, wobei seine Argumentation derjenigen von Pizarro Beleza ähnelt. Seine Begründung basiert auf folgendem Gedanken: Ist bei Pflichtdelikten die Tatherrschaft zur Erlangung der mittelbaren Täterschaft nicht erforderlich, fehle es an einer Verbindung (durch Herrschaft) zwischen dem „Hintermann“ und dem „Vordermann“, so dass eine mittelbare Täterschaft streng genommen nicht möglich sei. Die Figur der mittelbaren Täterschaft sei nicht dazu geeignet, um bei einer Mitwirkung eines Intraneus an der Tat eines Extraneus die unmittelbare Haftung des Intraneus erklären zu können. Die Pflicht des Intraneus beziehe sich „ausschließlich auf den Schutz des ihm anvertrauten Rechtsgutes, ohne Rücksicht darauf, woher und auf welche Weise diesem Gefahren drohen. Aus dieser positiv unmittelbaren Bindung ergebe sich dann auch die unmittelbare Haftung des verpflichteten Hinter-
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Beleza (Fn. 16), S. 274 Fn. 18. Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 162 ff.
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mannes, ohne dass es auf die Figur der mittelbaren Täterschaft ankäme.“22 Aus seiner Sicht könne man zwar aus rein didaktischen Gründen die Formulierung nach der Erscheinung des Delikts (Phänotyp) vornehmen und das Ganze als mittelbare Täterschaft bezeichnen.23 Diese Bezeichnung sei jedoch nicht zwingend.24 Diese Ansicht von Sánchez-Vera ist ebenfalls nicht überzeugend und daher abzulehnen. Zunächst sprechen bereits methodologische Gründe gegen diese Auffassung. Denn Sánchez-Vera setzt einerseits voraus, dass die Verbindung zwischen dem Hinter- und dem Vordermann durch Herrschaft erfolgt, andererseits übt er aber im selben Zuge Kritik an dieser scheinbaren Bedingung. Die „Verbindung“ zwischen Hintermann und Vordermann besteht jedoch gerade nicht durch Herrschaft! Einen Nachweis für seine Argumentation lässt Sánchez-Vera daher auch vermissen. Es handelt sich vielmehr um eine bloße Behauptung, was an eine petitio principii erinnert. Darüber hinaus muss aber auch inhaltliche Kritik an der Ansicht von Sánchez-Vera geübt werden: Bei Pflichtdelikten ist die Tatherrschaft als Täterschaftskriterium irrelevant und kann daher auch nicht zur Bestimmung der mittelbaren Täterschaft dienen. Die Verbindung zwischen Hintermann und Vordermann erfolgt vielmehr „durch Pflichtverletzung“. Beispielsweise in Fällen, in denen ein Richter seinen Assistenten anweist, von einer der Prozessparteien einen Vorteil zu fordern (Bestechlichkeit), oder indem ein zur Wahrung fremder Vermögensinteressen Verpflichteter einen Assistenten damit beauftragt, fremde Gelder zu entnehmen (Untreue). In beiden Fällen hat der Hintermann keine Herrschaft über den Vordermann, sondern bestimmt diesen durch eine Bitte oder eine Weisung zur Begehung der tatbestandlichen Handlung. In dieser Bestimmungshandlung liegen zugleich die Pflichtverletzung und die Verbindung zwischen dem Hinter- und dem Vordermann. Hier sei nochmals auf das oben Gesagte verwiesen: Die mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten ist die Verwirklichung des Delikts durch eine andere Person, die die tatbestandliche Handlung konkretisiert. Ihre Handlung wird dem mittelbaren Täter zugerechnet, da dieser sie durch eine Sonderpflichtverletzung zur Begehung des Delikts bestimmt hat. Wie bereits aufgezeigt, erfolgt auch die Verbindung des Extraneus mit dem Handlungsobjekt (beispielsweise den entzogenen Vermögenswerten aufgrund eines Auftrags des zur Wahrung dieser Vermögenswerte Pflichtigen) nicht durch Herrschaft. Denn die Handlung des Extraneus ist weder Tatherrschaft noch Pflichtverletzung, sondern lediglich eine bloße kausale Hand-
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Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 162 f. Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 163. Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 163 f.
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lung. Die Bezeichnung als Herrschaft oder Pflichtverletzung ist nur dann sinnvoll, wenn es sich um die Bestimmung der Täterschaft handelt, so dass diese Begriffe nur hier zu verorten sind. Herrschaft und Pflichtverletzung verbinden also den Täter mit dem globalen kriminellen Ereignis. Auch trifft es nicht zu, dass die mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten – wie von Sánchez-Vera25 behauptet – die unmittelbare Haftung des verpflichteten Hintermannes nicht widerspiegelt. Vorliegend wurde ausführlich dargelegt, dass sich die Pflicht des Intraneus auf den Schutz des ihm anvertrauten Rechtsgutes bezieht sowie dass die Pflichtenstellung und Pflichtverletzung stets persönlich sind. Daraus ergibt sich die unmittelbare Haftung des verpflichteten Hintermannes. Die Haftung ist also nicht deshalb unmittelbar, weil die Täterschaft unmittelbar und nicht mittelbar ist und der unmittelbare Täter haftet auch nicht in einem stärkeren Grad als der mittelbare Täter. Die Art der Täterschaft spiegelt nicht den Grad der Haftung wider. Maßgeblich für die Haftung ist lediglich, dass Täterschaft vorliegt.26 Die Tatsache, dass die Haftung des Intraneus immer unmittelbar ist, steht somit nicht in einem Widerspruch zur Annahme einer mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten. Die mittelbare Täterschaft drückt lediglich aus, dass das Delikt nicht unmittelbar begangen wurde, sondern dass der tatbestandliche Erfolg durch einen anderen eingetreten ist. Die Sonderpflicht wird aber stets unmittelbar vom Intraneus (dem Hintermann) verletzt und nicht mittelbar durch den Extraneus. Was eine unmittelbare von einer mittelbaren Täterschaft unterscheidet, ist somit nicht die unmittelbare Haftung als Täter, sondern die Form der Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolges. Der Annahme der mittelbaren Täterschaft bei Pflichtdelikten setzt Sánchez-Vera schließlich auch folgendes Argument entgegen: Die „Pflicht des positiv Verpflichteten bezieht sich ausschließlich auf den Schutz des ihm anvertrauten Rechtsgutes, ohne Rücksicht darauf, woher und auf welche Weise diesem Gefahren drohen.“27 Die unmittelbare Haftung des verpflichteten Hintermannes sei demnach eine Konsequenz aus dieser unmittelbaren Bindung, „ohne dass es auf die Figur der mittelbaren Täterschaft ankäme“. Die Feststellung einer unmittelbaren (Schutz-)Bindung zwischen Intraneus und Rechtsgut und der sich daraus ergebenden unmittelbaren Haftung widerlegt nicht die Möglichkeit der mittelbaren Täterschaft. Vielmehr wird die Unmittelbarkeit der Bindung und der Haftung auch von der hier vertre-
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Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 162. Dasselbe geschieht bei Herrschaftsdelikten: Sowohl bei unmittelbarer als auch bei mittelbarer Täterschaft haftet der Täter direkt als Täter, denn in beiden Fällen hat er die Herrschaft. Das Werkzeug hat nie die Herrschaft, sonst wäre es ja auch Täter. 27 Sánchez-Vera (Fn. 15), S. 162 f. Das Argument des gesamten Schutzes des Rechtsgutes wird auch von Witteck vertreten; vgl. Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht, 2004, S. 120. 26
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tenen Ansicht bejaht. Die Pflichtdeliktslehre lehnt dagegen eine Gleichstellung von mittelbarer Täterschaft mit mittelbarer Haftung ab, da die Täterschaft – sei es unmittelbare oder mittelbare – bei Pflichtdelikten stets mit einer unmittelbaren Haftung verbunden ist. Diese Gleichstellung nimmt jedoch Sánchez-Vera vor – ohne einen Nachweis hierfür zu erbringen. 4. Zur jüngsten Diskussion über die mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten (Witteck, Schild) In den letzten Jahren haben Witteck28 und Schild 29 die Diskussion über die Existenzberechtigung mittelbarer Täterschaft bei den Pflichtdelikten wieder entfacht. a) Die Auffassung von Witteck Wittecks Ansicht zufolge lässt sich die Annahme mittelbarer Täterschaft des Intraneus in Fällen der Verwendung eines Extraneus zur Tatausführung nicht halten. Er untermauert seine These mit dem folgenden Gedanken: „Die Bezugnahme darauf, ob das Verhalten des Sonderpflichtigen eine eigenhändige Vornahme darstellt oder eine fremdhändige Ausführung der tatbestandlichen Handlung ermöglicht, ist ausschließlich unter Tatherrschaftsgesichtspunkten von Bedeutung, nicht jedoch für die Frage, ob in seiner Person eine alleine die Täterschaft begründende Pflichtverletzung vorliegt.“30 Anschließend führt er aus, „korrekter wäre daher die Bestrafung des Sonderpflichtigen als unmittelbarer Täter, was sich auch daraus ergibt, dass er das ihm anvertraute Schutzgut vor Gefährdungen jeder Art schützen muss.“31 Die Auffassung von Witteck ist abzulehnen. Sein erster Vorwurf (die Eigenhändigkeit oder Fremdhändigkeit des Verhaltens des Sonderpflichtigen sei ausschließlich unter Tatherrschaftsgesichtspunkten von Bedeutung) beschränkt sich auf eine bloße Behauptung, zu deren Begründung er keine Argumente vorbringt. Zudem ist die Behauptung auch nicht richtig. Die Eigen- oder Fremdhändigkeit bei der Deliktsbegehung stellt die faktische Tat dar, die als Basis für das normative Kriterium dient; dieses Kriterium fällt in die gesetzliche Struktur der mittelbaren Täterschaft nach § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB. Die faktischen Daten ermöglichen also die Feststellung des Vorliegens einer bestimmten Deliktsstruktur. Sein zweiter Vorwurf (ob das Verhalten des Sonderpflichtigen eine eigenhändige oder fremdhändige Vornahme darstellt, sei nicht von Bedeutung für
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Witteck (Fn. 27), S. 120. Nomos Kommentar StGB/Schild, 2. Aufl. 2005, Vor §§ 25 Rn. 29, 71, 219, § 25 Rn. 56. Witteck (Fn. 27), S. 120. Witteck (Fn. 27), S. 120.
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die Frage, ob in seiner Person eine Pflichtverletzung vorliege) ist in Wirklichkeit gar keiner. Er kritisiert vielmehr etwas, das von der Pflichtdeliktslehre nie behauptet wurde, denn die Pflichtdeliktslehre hat zu keinem Zeitpunkt postuliert, dass die Eigen- oder Fremdhändigkeit für die Pflichtverletzung von Bedeutung sei. Die hier vertretene Pflichtdeliktslehre besagt vielmehr, dass das einzige täterschaftsbegründende Kriterium die Pflichtverletzung sei und diese stets persönlich stattfinde. Witteck32 behauptet auch, aus der Bestrafung des Sonderpflichtigen als unmittelbarer Täter ergebe sich, dass der Intraneus das ihm anvertraute Schutzgut vor Gefährdungen jeder Art schützen müsse. Das ist jedoch nicht notwendigerweise so. Die Art der Täterschaft zeigt nicht (gezwungenermaßen) den Umfang der Schutzpflicht des Rechtsguts. Es ist nicht etwa so, dass unmittelbare Täterschaft mit umfangreichem Schutz und mittelbare Täterschaft mit weniger umfangreichem Schutz korrespondiert. Vielmehr liegt in beiden Fällen Täterschaft vor und in beiden Fällen hat der Täter die gleiche Schutzpflicht. b) Die Auffassung von Schild Für Schild müssten die Konstellationen der Pflichtdelikte zwangsläufig zur Annahme unmittelbarer Täterschaft des Intraneus führen.33 Seine Ansicht erklärt er anhand der Tatbestände der §§ 203, 266 StGB. Nach § 203 StGB könne nur ein Angehöriger eines näher umschriebenen Berufs ein Privatgeheimnis offenbaren; nach § 266 StGB könne nur derjenige, der die Pflicht hat, fremde Vermögensinteressen zu betreuen, den tatbestandsmäßigen Vermögensschaden herbeiführen. Der Extraneus könne niemals den Tatbestand erfüllen und somit die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung begehen. Wenn er „ein Privatgeheimnis ausplaudert oder eine vermögensschädigende Aktion durchführt, berührt dies nicht die Sphäre der Tatbestandsmäßigkeit der §§ 203, 266 [StGB]. Es ist immer nur der Intraneus, der die Tatbestandshandlung und damit das Handlungsunrecht begehen kann, freilich dadurch, dass er sich eines Extraneus als (s)eines Werkzeugs bedient.“34 Die kritische Auffassung von Schild ordnet sich nicht in das Konzept Stratenwerths und seiner Anhänger 35 ein. Im Gegenteil: Schild schlägt eine eigene Lösung vor. Er empfiehlt die Fälle, bei denen sich der Intraneus eines Extraneus bedient, aus dem Bereich der mittelbaren Täterschaft herauszunehmen und sie in einer neuen Erscheinungsform der Täterschaft als „Selbst“begehung durch einen Helfer aufzufassen.36 Infolgedessen „würde § 25 [StGB] 32 33 34 35 36
Witteck (Fn. 27), S. 120. NK/Schild (Fn. 29), Vor §§ 25 Rn. 219, § 25 Rn. 56. NK/Schild (Fn. 29), § 25 Rn. 56. Vor allem Beleza und Sánchez-Vera. NK/Schild (Fn. 29), § 25 Rn. 56.
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insgesamt vier Gestalten der Tatbestandshandlung regeln: die „Selbst“-Vornahme der Handlung, das Handeln ‚durch einen anderen‘, das Handeln mit Hilfe eines anderen, das Handeln gemeinschaftlich mit einem anderen“.37 Der Gedankengang von Schild ist zwar richtig, er zieht jedoch die falschen Schlussfolgerungen. Freilich – und das wurde hier auch festgestellt – kann nur der Intraneus den Tatbestand erfüllen, weswegen auch nur er Täter sein kann. Dies ist ja die Hauptaussage der Pflichtdeliktslehre! Der Extraneus kann jedoch zum Delikt des Intraneus beitragen. Zwar kann er nie den Tatbestand erfüllen, aber er kann bei der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung Hilfe leisten. Demnach lässt sich nicht erkennen, wo hier ein Hindernis für die Annahme mittelbarer Täterschaft des Intraneus liegen soll. Auch sein Lösungsvorschlag kann nicht überzeugen: Die Begehung eines Pflichtdeliktes durch andere stellt nach seiner Ansicht die neue „Selbst“begehung durch einen Helfer dar.38 Seine Lösung ist damit ein rein formaler Wechsel der Terminologie, und zwar von der Begehung durch andere zur Selbstbegehung. Denn die inhaltliche Struktur, nämlich dass sich der Intraneus zur Begehung des Pflichtdelikts eines Extraneus bedient, bleibt dieselbe. Zudem beinhaltet sein Vorschlag sogar einen Widerspruch: Wie kann man von Selbstbegehung sprechen, wenn man das Delikt durch einen Helfer begeht? Festzustellen ist jedoch, dass sein Ergebnis – der Sache nach – eine notwendige Konsequenz der hier vertretenen Pflichtdeliktslehre ist: Der Intraneus ist der Täter, während der Extraneus ein einfacher Gehilfe ist.
V. Schlusswort Die Struktur der Deliktsbegehung „durch einen anderen“ und damit die Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft sind sowohl bei Herrschaftsdelikten als auch bei Pflichtdelikten gegeben. Die Deliktsstruktur der mittelbaren Täterschaft beinhaltet zwei Handlungen: diejenige des Hintermannes und diejenige des Vordermannes. Mittelbare Täterschaft bei Pflichtdelikten ist dabei die Deliktsverwirklichung durch einen anderen, der die tatbestandliche Handlung konkretisiert und dessen Handlung dem mittelbaren Täter deshalb zugerechnet wird, weil letzterer durch die Verletzung seiner Sonderpflicht das Delikt herbeigeführt hat.
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NK/Schild (Fn. 29), Vor §§ 25 ff. Rn. 220. NK/Schild (Fn. 29), § 25 Rn. 56.
Die Wirkung des error in persona des Täters auf die Haftung des Anstifters: zur Möglichkeit einer ausreichend differenzierten Lösung * Enrique Peñaranda Ramos
„Sehr umstritten ist die Frage, ob und ggf. wie sich ein error in persona bzw. in objecto des Täters auf die Strafbarkeit des Anstifters auswirkt. Mehr als 130 Jahre lang hat der vom Preußischen Obertribunal entschiedene Fall Rose-Rosahl die Diskussion bestimmt“.1 Mit diesen Worten beginnt unser Jubilar die Behandlung dieser Frage in der 12. Auflage des Leipziger Kommentars. Der vom Preußischen Obertribunal vor 155 Jahren entschiedene Fall RoseRosahl 2 ist in der Tat weiterhin einer der berühmtesten Fälle der deutschen Rechtsprechung, und die Diskussion über das in ihm behandelte Hauptproblem hat seitdem in Deutschland und auch im Ausland nicht aufgehört. Die Aufmerksamkeit, die dieser Fall auslöst, entspringt nicht seiner Praxisrelevanz – denn solche Fälle beschäftigen die Gerichte selten 3 –, sondern vielmehr den Schwierigkeiten für eine für alle akzeptable Lösung, die die Tatsache mit sich bringt, dass bei ihm mehrere noch nicht abschließend geklärte Fragen sowohl der objektiven als auch subjektiven Zurechnung zusammentreffen und noch dadurch erschwert werden, dass es um die Beteiligung mehrerer Personen geht. In meinem Beitrag zur Ehrung von Professor Schünemann werde ich einige der bislang vorgeschlagenen Lösungen des Problems kritisch untersuchen, um mich schließlich für eine Lösung auszusprechen, die aufgrund ihres ausreichenden Differenzierungsgrades eine angemessene Antwort auf die verschiedenen denkbaren Sachverhaltsvarianten erlaubt. Da Schünemann selbst der Ansicht ist, dass „im Ergebnis … eine differenzierende Lösung am Platze [ist]“,4 hoffe ich, dass eine Lösung dieser Art das
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Deutsche Fassung von Manuel Cancio Meliá (Universidad Autónoma de Madrid). Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 26 Rn. 84. 2 Preußisches Obertribunal, Urt. v. 5.5.1859, wiedergegeben in GA 7 (1859), 322 ff. Zu diesem Fall in spanischer Sprache Peñaranda Ramos in: Sánchez-Ostiz (Ed.), Casos que hicieron doctrina en Derecho Penal, 2011, S. 61 ff. und ders. Libertas 0-2012, 126 ff. 3 Vgl. Puppe NStZ 1991, 124. 4 LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 89. 1
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Wohlwollen eines Autors finden kann, der sich immer darum bemüht hat, dass dogmatische Konstruktionen auch im Hinblick auf die Wirklichkeit formuliert werden.5
I. Der Stand der Diskussion Wie bekannt hat das Gericht in Halle, das den Fall Rose-Rosahl am 18.2.1859 erstinstanzlich abzuurteilen hatte, Rose für schuldig erkannt, Harnisch vorsätzlich und mit Überlegung getötet zu haben, obwohl er ihn mit Schliebe verwechselte, dessen Tötung ihm von Rosahl aufgetragen worden war. Auch Rosahl wurde für die Tat verantwortlich gemacht. Infolgedessen wurden beide zum Tode verurteilt: Rose als Täter eines vollendeten Mordes, Rosahl als Teilnehmer („Anstifter und Gehülfe“) an demselben Delikt. Das Preußische Obertribunal bestätigte die in erster Instanz ergangene Entscheidung. Das von ihm verwandte Hauptargument wurde von einem rigiden Verständnis der Akzessorietät der Teilnahme beeinflusst: 6 Da „nach dem § 35 des [preußischen] Strafgesetzbuchs auf den Theilnehmer an einem Verbrechen dasselbe Strafgesetz anzuwenden [ist], welches auf den Thäter Anwendung findet“, hänge die Haftung des Anstifters dergestalt vom Verhalten des Ausführenden ab, dass nur ausnahmsweise dasjenige, was einen wirklichen (quantitativen oder qualitativen) Exzess des letzteren darstelle, ersterem nicht zuzurechnen sei. Ein solcher Exzess liege aber nicht vor, wenn, wie in dem vorliegenden Fall, ein gedungener Mörder im Glauben handele, den erhaltenen Auftrag auszuführen und bei der Ausführung einem irrelevanten error in persona erliege, denn bei dieser Lage stelle sich die Tat des Ausführenden trotz allem als Folge der Anstiftung dar.7 1. Die Entwicklung der deutschen Lehre Von Anfang an war sich die deutsche Lehre uneins bezüglich der Frage, wie dieser und ähnliche Fälle zu behandeln sind. Ein anfangs überwiegender Teil der Lehre schloss sich – wenn auch mit verschiedenen Argumenten8 – der Lösung des Preußischen Obertribunals an.9 Ein anderer, zu Beginn klei5 Vgl. in diesem Sinne nur Schünemann in: Cerezo/Serrano (Eds.), Modernas tendencias en la Ciencia del Derecho Penal y en la Criminología, 2000, S. 643, 660 ff. 6 S. Peñaranda Ramos La participación en el delito y el principio de accesoriedad, 1990, S. 216 f. (zum preußischen StGB von 1851), 231 und 245 ff. 7 PrOT GA 7 (1859), 331 ff., 336 f. 8 Vgl. Bemmann MDR 1958, 817 ff. 9 U.a. vertraten die Irrelevanz des error in persona des Angestifteten für den Anstifter Hälschner GA 7 (1859), 433ff.; Birkmeyer Die Lehre von der Teilnahme und die Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts, 1890, S. 165; Berner Lehrbuch des deutschen
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nerer Sektor, vertrat hingegen die Ansicht, dass der error in persona des Täters, obwohl er für ihn selbst irrelevant war, für die Anstifter eine aberratio ictus,10 oder jedenfalls einen Exzess des ersteren darstellt, für den letztere als solche nicht einzustehen hätten.11 Diese Position, die später die „klar herrschende Lehre“ werden sollte,12 wurde in zwei unterschiedlichen Versionen formuliert, denn unter ihren Anhängern bestand keine Einigkeit – und dies hat sich nicht geändert – darüber, welche Behandlung solcher Formen von Abweichung oder Exzess angebracht ist: Anstiftung zu einer versuchten Haupttat 13 oder versuchte Anstiftung 14? Es ist nicht einfach, den gegenwärtigen Stand der Diskussion in Deutschland zusammenzufassen. Denn einerseits meinen einige Autoren, dass nach einem überwiegenden Teil der Lehre der error in persona des Täters so irrelevant für den Anstifter ist wie für ersteren.15 Es sind aber andererseits auch sehr relevante Autoren16 zu verzeichnen, die annehmen, dass immer noch die Ansicht vorherrscht, nach der in diesem Fall Haftung des Anstifters wegen einer versuchten Anstiftung nach § 30 I StGB anzunehmen sei. Wie auch immer, Puppe ist zuzustimmen, wenn sie darauf hinweist, dass es nicht mehr sicher ist, dass dies die Position einer klaren Mehrheit der deutschen Strafrechtswissenschaftler ist.17 In Wirklichkeit ist die deutsche Lehre in diesem Zusammenhang gespaltener denn je. Hierzu haben zwei miteinander verbundene Faktoren beigetragen: einerseits die Kritik Puppes an der unterschiedlichen Behandlung von aberratio ictus und error in persona und sogar an die-
Strafrechtes, 18. Aufl. 1898, S. 165; Beling Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 428; von Bar Gesetz und Schuld im Strafrecht II,1907, S. 679; Frank Das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, S. 123; und von Liszt-Schmidt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 26. Aufl. 1932, S. 343 Fn. 6. 10 In diesem Sinne bereits z.B. von Hippel Deutsches Strafrecht II, 1930, S. 464 Fn. 1. 11 So schon Schütze Die nothwendige Teilnahme am Verbrechen, 1869, S. 265 ff. und Binding Die Normen und ihre Übertretung III, 1918, 210 ff. 12 Vgl. Roxin FS Spendel, 1992, S. 289, 300. 13 So u.a. von Hippel (Fn. 10), S. 464 Fn. 1; Schmidhäuser Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, § 14 Rn. 123 (vgl. aber folgende Fn.); Stratenwerth FS Baumann, 1992, S. 57 ff.; Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht AT I, 6. Aufl. 2013, § 8 Rn. 98. Vgl. auch Münchener Kommentar StGB/Joecks, 2. Aufl. 2011, § 26 Rn. 84. 14 So z.B. Bemmann MDR 1958, 817, 821; ders. FS Stree-Wessels, 1993, S. 397 ff.; Hillenkamp Die Bedeutung der Vorsatzkonkretisierungen bei abweichendem Tatverlauf, 1971, S. 63 ff.; Letzgus Vorstufen der Beteiligung, 1972, S. 54 ff.; Alwart JuS 1979, 351 ff.; Schmidhäuser Strafrecht AT (Studienbuch), 1982, § 10 Rn. 126; Roxin JZ 1991, 680 f.; ders. FS Spendel, S. 289 ff.; LK/ders., 11. Aufl. 1993, § 26 Rn. 90 ff.; ders. Strafrecht AT II, 2003, § 26 Rn. 116 ff.; und LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 84 ff. m.w.N. 15 Hierzu übereinstimmend, obwohl sie sonst entgegengesetzte Positionen vertreten, MK/Joecks (Fn. 13), § 26 Rn. 67 ff. und Schönke/Schröder/Heine StGB, 28. Aufl. 2010, § 26 Rn. 23, beide m.w.N. 16 So LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 85. 17 Vgl. Nomos Kommentar StGB/Puppe, 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 108.
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ser Unterscheidung überhaupt, sei es allgemein (wie nach Ansicht dieser Autorin) oder in besonderen Sachverhalten wie dem Rose-Rosahl-Fall.18 Andererseits die Entscheidung des BGH in einem neuen Fall, der wegen seiner Ähnlichkeit zum Ausgangsfall „Rose-Rosahl redivivus“ 19 genannt wird. 2. Rose-Rosahl redivivus: der Hoferbenfall Der Sachverhalt dieses Falles 20 war in der Tat demjenigen des 130 Jahre vorher entschiedenen sehr ähnlich. Das LG Bielefeld folgte aber der damals herrschenden Lehre und verurteilte den Anstifter wegen versuchter Anstiftung zum Mord unter der Annahme, der Tod sei nicht von seinem Vorsatz gedeckt gewesen. Der BGH hob die Entscheidung auf und verurteilte ihn als Anstifter des durch den Täter vollendeten Mordes. Im Unterschied zum Fall Rose-Rosahl scheint der Gedanke der akzessorischen Natur der Teilnahme eine weniger relevante Rolle gespielt zu haben. Es wird ausdrücklich zugestanden, dass solche Akzessorietät keinen absoluten Charakter aufweise. Trotzdem wird auch hier behauptet, dass wegen der normativen Verbindung zwischen Täterschaft und Teilnahme „im Prinzip“ ein irrelevanter Irrtum des Täters auch nicht bezüglich des Anstifters zu berücksichtigen sei,21 und dass es in dem zu entscheidenden Fall angebracht sei, sich an dieses allgemeine Kriterium zu halten, da einerseits die Abweichung zwischen der von dem Anstifter vorgestellten Tat und der tatsächlich von dem Täter ausgeführten innerhalb „der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren“ 22 geblieben sei, und andererseits die Regeln der aberratio ictus hier nicht zur Anwendung kämen, weil diese für Fälle konzipiert worden seien, bei denen der Täter das Angriffsobjekt in seinem Sichtfeld habe.23 Diese Entscheidung hat harsche Kritik geerntet, ist aber von einem anderen Teil der neueren deutschen Lehre positiv aufgenommen worden 24 und hat der Erarbeitung von verschiedenen differenzierenden Lösungsversuchen Vorschub geleistet.25
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Grundlegend dazu Puppe GA 1981, 1 ff.; dies. GA 1984, 101 ff., 120 f.; dies. NStZ 1991, 124 ff.; dies. FS Spinellis, 2001, S. 911 ff. (= ZIS 2007, 234 ff.). Vgl. auch dies. Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, § 27 Rn. 5 ff.; und NK/dies. (Fn. 17), § 16 Rn. 93 ff. und 107 ff. 19 So der Titel des Beitrags von Roxin zur FS Spendel, 1992, 289 ff. 20 BGHSt 37, 214. 21 BGHSt 37, 214, 217 f. 22 BGHSt 37, 214, 218. 23 BGHSt 37, 219, mit Bezug auf Puppes (GA 1984, 121) Stellungnahme in diesem Sinne. 24 Abgesehen von Puppe (vgl. Fn. 18) haben sich u.a. für diese Lösung Streng JuS 1991, 910, 914 ff.; ders. ZStW 109 (1997), 862, 896 mit Fn. 115; Geppert Jura 1992, 163 ff.; Gropp FS Lenckner, 1998, S. 55 ff.; Frister Strafrecht AT, 3. Aufl., 2008, § 28 Rn. 27 und Sch/Sch/Heine (Fn. 15), § 26 Rn. 23 ausgesprochen. 25 Zu diesen z.B. Roxin AT II (Fn. 14), § 26 Rn. 127 ff. und LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 86 ff., 90.
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3. Kurze Bezugnahme auf Lehre und Rechtsprechung in Spanien Die spanische Lehre hat diese Problematik nicht so intensiv behandelt.26 Es steht zu bezweifeln, dass dies auf die beschränkte Anzahl von Gerichtsentscheidungen zur Frage zurückzuführen ist,27 denn es sind mehrere so oder ähnlich gelagerte Fälle zu nennen, bei denen die spanischen Gerichte sich mit der hier behandelten Problematik befasst haben. Diesen Entscheidungen lässt sich eine klare Tendenz entnehmen, den error in persona des Täters auch für den Anstifter für irrelevant zu halten. Einige dieser Fälle beziehen sich auf Sachverhalte der Freiheitsberaubung, deren eigenartige Struktur zu Besonderheiten bei der Behandlung einiger Spielarten des error in persona führt.28 Von Interesse ist jedenfalls eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes,29 bei der einer der Verurteilten – der Auftraggeber – gegen die Verurteilung wegen vollendeter Freiheitsberaubung (des „falschen“ Opfers) mit der Einlassung in Kassation ging, der error in persona der Ausführenden mache die begangene Tat zu einem Exzess in Bezug auf den Auftrag. Das Tribunal Supremo wies dieses Argument mit der Begründung ab, dass auch für den Anstifter „der error in persona irrelevant ist, wenn es sich um die Verletzung desselben Rechtsguts handelt“. In Spanien sind auch einige Fälle entschieden worden, bei denen es um einen error in persona im Zusammenhang mit einem Mord ging. Hier sind zwei Entscheidungen zu nennen, die trotz einiger unterschiedlicher Umstände im Vergleich zum Fall Rose-Rosahl – oder vielleicht gerade deswegen – in diesem Zusammenhang von Interesse sein können. In einem von diesen Fällen
26 Ein wichtiger Teil der Lehre neigt dazu, die Irrelevanz des error in persona des Täters für den Anstifter zu behaupten (der deshalb in einem Fall wie Rose-Rosahl als Anstifter eines vollendeten Mordes zu bestrafen wäre): in diesem Sinne u.a. Rodríguez Mourullo in: Córdoba/ders. (Hrsg.), Comentarios al Código Penal I, 1972, S. 857 und Olmedo Cardenete La inducción como forma de participación accesoria, 1999, S. 786. Hingegen halten den error in persona des Täters für eine aberratio ictus des Anstifters u.a. del Rosal Blasco La provocación para cometer delito en el derecho español,1986, S. 386; Gómez Rivero La inducción a cometer el delito, 1995, S. 515 ff., 522 ff. und Blanco Cordero in: Arroyo/ Berdugo (Eds.), LH Barbero Santos, 2001, S. 823, 845 ff. Für eine Anstiftung zum Mordoder Totschlagsversuch zumindest in einigen Fällen Silva/Corcoy/Baldó Casos de la jurisprudencia penal con comentarios doctrinales. Parte General, 1996, S. 422. 27 So Blanco Cordero (Fn. 26), S. 823. 28 Gerade deshalb ist die bekannte Entscheidung im „Fall Marey“ (STS [= Sentencia del Tribunal Supremo] 2/1998 vom 29.7.) nicht einschlägig: Die ausführenden Täter waren eingangs einem Irrtum bezüglich der entführten Person erlegen, doch sowohl sie als auch die anderen Beteiligten entschieden sich dafür, das Opfer weiterhin festzuhalten, obwohl sie des Irrtums gewahr wurden. 29 STS 421/2003 vom 10.3. Es ging hier um mexikanische Täter, denen gegen Entgelt aufgetragen worden war, einen Unternehmer zu entführen und einzuschüchtern, den sie aber mit einem seiner Angestellten verwechselten, da dieser zufällig einen Wagen derselben Marke, Modell und Farbe wie die Zielperson besaß.
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(Taxifahrer von Ibiza) entschied der Täter, der sich anfänglich in der Person des Opfers geirrt hatte, danach aber den Irrtum festgestellt hatte, das „falsche“ Opfer zu töten.30 Im anderen Fall (äquatorialguineischer Oppositioneller) gab es eine ganze Reihe von (übrigens verständlichen) Irrtümern bei der Identifizierung des Opfers, denen verschiedene Beteiligte sukzessiv erlagen, und zusätzlich blieb die Ausführung (auch gegenüber dem „falschen“ Opfer) im Versuchsstadium stecken.31 30 STS 791/1998 vom 13.11.: José R. wollte dem Leben von Santiago, der als Taxifahrer auf Ibiza beschäftigt war, ein Ende bereiten, und nahm dazu mit zwei Männern – José B. und Francisco – Kontakt auf, die sich einverstanden erklärten, diesen gegen Geld zu töten. José R. informierte beide mit Hilfe seiner Tochter Susana über die Gewohnheiten Santiagos und insbesondere über die Orte, an denen sie ihn auffinden konnten; Susana begleitete sogar José B. an einen dieser Orte, eine Bar, um ihm die Person, die er töten sollte, zu zeigen. Am für die Tat bestimmten Tag ließen Francisco und José B. ein Motorrad in einem außerhalb der Stadt gelegenen Gehölz zurück. Francisco begab sich danach zu der Taxihaltestelle, an der Santiago – mit dem Taxi Nr. 38 – üblicherweise auf Fahrgäste wartete; als Francisco dieses Taxi kommen sah, benachrichtigte er José B., der es daraufhin bestieg und dem Fahrer bedeutete, ihn zu besagtem Gehölz zu bringen. Auf dem Wege dorthin bemerkte José B. aber, dass der Fahrer nicht Santiago war, entschied sich aber weiterzumachen und den Taxifahrer zu töten, um so nicht auf das ihm versprochene Entgelt verzichten zu müssen. Er schoss also dem Fahrer in den Kopf – es handelte sich um einen José C. – und bewirkte damit seinen Tod. Danach ergriff er mit dem Motorrad die Flucht. Das LG Palma de Mallorca verurteilte José B. als Täter eines Mordes, José R. wegen „Provokation“ (= versuchte Anstiftung) derselben Straftat, Francisco wegen Vorbereitung (conspiración) der Begehung und sprach Susana frei, da es davon ausging, dass ihr Verhalten im Stadium einer bloßen versuchten Beihilfe geblieben sei. Der Tribunal Supremo bestätigte die Entscheidung des LG. Der Tribunal Supremo führte weiterhin aus, dass die drei Angeklagten hingegen voll „als Teilnehmer … gehaftet hätten, wenn José B. den José C. aufgrund eines error in persona (Verwechslung mit Santiago) getötet hätte (…), da in diesem Fall das verbrecherische Vorhaben des Ausführenden keine Änderung erfahren hätte, so dass die Teilnehmer, die dieses angenommen hatten, für die von dem Abgesprochenen abweichenden Folgen, die durch diesen Irrtum herbeigeführt worden wären, hätten einstehen müssen“. 31 STS 256/2008 vom 14.5. A, ein spanischer Unternehmer mit Interessen in Äquatorialguinea, entschied sich, den B zu töten, einen äquatorialguineischen Bürger, der in der Opposition gegen das Regime in seinem Heimatland tätig gewesen war und in der Nähe von Madrid wohnhaft war. Hierzu trat er mit C in Kontakt, dem er Geld und Geschäftsoptionen gegen seine Unterstützung bei der Durchführung des Plans anbot. A setzte sich ebenfalls mit D in Verbindung, der jemanden ausfindig machen sollte, der zur Ausführung des Vorhabens bereit wäre. E, F und G sagten D zu, B gegen Geld zu töten. Am zur Begehung der Tat bestimmten Tag unterrichtete C – der die Ankunft des Wagens von B bei ihm zu Hause erwartete – E telefonisch davon, dass das Opfer bald eintreffen würde, und wenig später leitete E die Information an F weiter, „die Zielperson komm[e] in Begleitung einer Frau in einem Wagen“. F gab die Nachricht seinerseits an G weiter, der – nachdem er ein Messer ergriffen hatte, dass er zu diesem Zweck bei sich führte – sich dem Mann näherte, der aus dem Wagen gestiegen war, und führte im Glauben, es handele sich um B, einen Messerstich gegen ihn, der ihn aber nicht voll, sondern nur an der Seite traf, weil die ihn begleitende Frau ihn rechtzeitig durch einen Warnruf auf den Angriff aufmerksam machen konnte. Der Verletzte, der durch diesen Umstand das Leben retten konnte, war H, ein Bruder des B, der eben aus Kanada, wo er lebte, angereist war. In seiner Entscheidung vom
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II. Einige Überlegungen zu den vorgeschlagenen Lösungskriterien 1. Anstiftung zu einem vollendeten Delikt? Der These, der error in persona des Täters müsse jedenfalls auch für den Anstifter irrelevant sein, ist oft vorgeworfen worden, dass sie zu offensichtlich absurden Ergebnissen führe. Das bekannteste dieser Argumente ad absurdum, das sogenannte „Blutbadargument“, stammt von Binding: diese Ansicht führe zu dem „ungeheuerlichen Ergebnis, auch wenn Rose dutzende von falschen Schliebes erschlagen hätte, immer in der Meinung, nun endlich den richtigen zu treffen, so sei Rosahl der Anstifter zu den ganzen Gemetzel“.32 Selbstverständlich wäre ein solches Ergebnis völlig inakzeptabel, doch in Wirklichkeit handelt es sich gar nicht um eine notwendige Folge der These, die mit diesem Argument der Kritik zu unterziehen versucht wird: Wie Puppe gezeigt hat, ist das Ergebnis weder an die Ausgangsthese gebunden, noch ließe es sich mit einer bestimmten Lehre zum Konkretisierungsgrad des Teilnehmervorsatzes vermeiden, da diese Materie nicht hier, sondern bei der Lehre vom (quantitativen) Exzess des Täters liegt, wie sich zeigt, wenn man den Ausgangsfall dahingehend modifiziert, dass Rose statt in Dutzende von sukzessiven errores in persona zu fallen, beim Angriff auf den echten Schliebe Dutzende von aberrationes ictus beginge: Auch in diesem Fall wäre es „ungeheuerlich“, dem Anstifter alle diese Mordversuche zuzurechnen. Aus welcher Perspektive auch immer, kann dem Anstifter nur ein Todeserfolg (zum Vorsatz) zugerechnet werden, wenn er mit dem Täter die Durchführung nur einer Tötung verabredet hat.33 Auch ein anderes Argument ad absurdum, das ebenfalls auf Binding zurückgeht,34 vermag nicht zu überzeugen: In dieser Variante ist es Rosahl, der bei der Überprüfung, ob sein Auftrag, Schliebe zu töten, richtig ausgeführt wird, von Rose mit diesem verwechselt (und verletzt) wird. Es wäre unangemessen, in diesem Falle Rosahl die ihm zugefügten Verletzungen als Anstifter zuzurechnen – und auch nicht einen Mordversuch an sich selbst35 –, doch hierfür ist es erneut nicht notwendig, eine bestimmte Position bezüglich des Einflusses des error in persona des Täters einzunehmen, denn die
9.4.2007 verurteilte das LG Madrid alle Beteiligten als Mittäter eines versuchten Mordes mit der Argumentation, es habe eine „funktionale Tatherrschaft“ aller vorgelegen. Der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Entscheidung. 32 Binding (Fn. 11), S. 214 Fn. 9. 33 NK/Puppe (Fn. 17), § 16 Rn. 112. Insoweit übereinstimmend Dehne-Niemann/Weber Jura 2009, 373, 377. 34 Binding (Fn. 11), S. 214 Fn. 9. 35 Eine andere Frage ist, ob die Handlung Roses auch als ein Versuch, einen anderen zu töten, aufgefasst werden könnte. Darüber ist im Anschluss an den „Verfolgerfall“ (BGHSt 11, 268) rege diskutiert worden: vgl. z.B. Dehne-Niemann ZJS 2008, 351 ff.
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Lösung dieses Falles entspringt gerade der nur relativen Akzessorietät der Haftung von Anstiftern und sonstigen Teilnehmern: Diese, wie der ausführende Täter selbst, können nur für den Angriff auf das Rechtsgut haften, wenn dieses auch ihnen gegenüber geschützt wird.36 Auch wenn die These der vollständigen Irrelevanz des error in persona des Täters für die Haftung des Anstifters oder anderer Beteiligter sich wie gesehen erfolgreich solcher Einwände erwehren kann, weist sie ihrerseits keine positive Begründung auf, die überzeugen könnte. Gegen den Rückgriff auf die Akzessorietät spricht gerade der nur relative Charakter der Abhängigkeit, die die Teilnahme gegenüber der Haupttat aufweist.37 Auch nicht schlagend ist das eher kriminalpolitische denn dogmatische Argument, die Annahme der Relevanz des error in persona des Täters für den Anstifter könne ein Privileg für letzteren, oder sogar einen Anreiz darstellen, damit ein potentieller Täter für die Anstiftung optiere, um so das Risiko, einem solchen Irrtum zu erliegen, auf den Angestifteten zu verlagern:38 Erstens ist es sehr unwahrscheinlich, dass solchen Überlegungen ein relevantes Gewicht bei der Entscheidung, die eine oder andere Rolle bei der Deliktsbegehung anzunehmen, haben kann; und andererseits wäre dies nicht der einzige Fall, bei dem solche „Privilegien“ oder „Anreize“ gegeben sein können, denn der Anstiftung ist eine Beschränkung der Haftung bezüglich qualitativer oder quantitativer Variationen der Tat, die (nur) dem Täter zurechenbar sind, eigen. Schließlich ist auch nicht gesichert, dass diese These einem komplexeren Verständnis als das „mechanische Modell“, das der Gegenmeinung zugrunde liegen soll, entspringt.39 Gerade die Betrachtung des Angestifteten als verantwortlich Handelndem, und nicht als bloßes Werkzeug in Händen des Anstifters, stellt einen guten Grund dar, diesem nicht jeden Einfall des Ausführenden zuzurechnen, auch wenn dieser davon überzeugt ist, im Rahmen des erhaltenen Auftrages zu handeln. Deshalb ist entgegen Puppe 40 neben dem vorsätzlichen Exzess auch dem „fahrlässigen“ – das heißt, einer objektiven Abweichung von dem, was Anstifter und Angestifteter vereinbart haben – Relevanz zuzuerkennen: Auch ein Exzess dieser Art ist ein Hindernis, um das Geschehene objektiv als vollendete Tat der Anstiftung zuzurechnen.41
36 So wiederum NK/Puppe (Fn. 17), § 16 Rn. 111 und Dehne-Niemann/Weber Jura 2009, 373, 377 f. 37 Vgl. in diesem Sinne Peñaranda Ramos (Fn. 6), S. 247 f. S. auch Dehne-Niemann/ Weber Jura 2009, 373, 375 f. 38 Wie u.a. Backmann JuS 1971, 113, 119 f. und Müller-Dietz/Backmann JuS 1971, 412, 416 annehmen. S. auch Weßlau ZStW 104 (1992), 112 f. und Gómez Rivero (Fn. 26), S. 524 f. 39 So aber Puppe GA 1984, 101, 120 f. 40 Vgl. Puppe ZIS 2007, 234, 243 f. 41 In diesem Sinn bereits Bemmann MDR 1958, 817, 820 und Roxin AT II (Fn. 14), § 26 Rn. 116 ff. („nicht vorsätzlicher Exzess“). Vgl. auch Dehne-Niemann/Weber Jura 2009, 373, 378.
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2. Anstiftungsversuch oder Anstiftung zu einem Versuch? Ein Teil der Lehre vertritt die Ansicht, dass bei der Ausführung der Tat (z.B. im Rose-Rosahl-Fall, die von Rose unternommene) auf das „falsche Objekt“ (Harnisch) kein Versuch auf das „richtige Objekt“ (Schliebe) vorliege, so dass bezüglich letzterem eine versuchte Haupttat fehle, für die der Anstifter (Rosahl) einstehen könne.42 Es sollte aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Handlung Roses zum Begehungszeitpunkt aus beiden Perspektiven betrachtet werden kann: als der Versuch, den Menschen, den er vor sich hatte (Harnisch) zu töten, aber auch als der Versuch, denjenigen (Schliebe) zu töten, dessen Tötung der Anstifter in Auftrag gegeben hatte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Rose zwei Morddelikte zuzurechnen gewesen wären – eine vollendete Tat gegen Harnisch und eine versuchte gegen Schliebe43 –, denn es ist klar, dass keine Mehrfachzurechnung möglich ist, wenn der Täter die Absicht hat, nur eine Person zu töten und irrtümlicherweise dieser Eigenschaften zuschreibt, die zwei verschiedenen Menschen zukommen.44 Doch der Umstand, dass die zweite dieser Definitionen des Verhaltens von Rose schlussendlich für seine eigene Haftung irrelevant ist (da die erste – die sich ex post facto als zutreffend herausstellt – ausreicht, um ihm einen vollendeten Mord zuzuschreiben), bedeutet nicht, dass dies auch für die Haftung des Anstifters irrelevant zu sein hat (wenn ihm die Vollendung dieses Delikts nicht zurechenbar ist): Die Akzessorietät der Teilnahme ist nur relativ, und ist deshalb damit zu vereinbaren, dass bezüglich ein und derselben Tat differenzierende Bewertungen bezüglich verschiedener Beteiligter zu treffen sind.45
42 So u.a. Roxin FS Spendel, 1992, S. 289, 301. Das ist im Ergebnis auch die Ansicht Toepels JA 1997, 248 ff., 344 ff. (348 ff.), da er stets (sowohl zur Zurechnung der vollendeten als auch der versuchten Tat zum Anstifter) die ex post-Beschreibung des Objekts und nicht die ex ante-Beschreibung für entscheidend hält. 43 So aber Alwart JuS 1979, 354. 44 Soweit zutreffend die Kritik Puppes, NK/dies. (Fn. 17), § 16 Rn. 110, gegen die „Milchmädchenrechnung“, die sich aus der Konfusion verschiedener Beschreibungen ein und desselben Objekts mit verschiedenen Beschreibungen verschiedener Objekte ergebe. Vgl. ebenfalls in diesem Sinne Roxin FS Spendel, 1992, S. 289, 301 und LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 90. 45 So Stratenwerth FS Baumann, 1992, S. 57, 68, der zu Recht vor den Fehlschlüssen warnt, zu denen die Verdinglichung von Bedeutungen führen kann. Roxin AT II (Fn. 14), § 26 Rn. 122, bedenkt, eine solche alternative „Wertung“ der Haupttat bezüglich des Anstifters mit dem Grundsatz der Akzessorietät der Teilnahme unvereinbar sei, „denn dieser (der Grundsatz der limitierten Akzessorietät) setzt für eine Anstiftung zum versuchten Mord das reale Vorliegen eines Versuchs voraus“ (im Ergebnis übereinstimmend LK/Schünemann [Fn. 1], § 26 Rn. 90). Diesem Bedenken liegt meines Erachtens aber gerade eine solche „verdinglichte“ Sicht der Straftat (und des Versuchs) zugrunde, da man ihr so ungerechtfertigtermaßen eine den natürlichen Phänomenen identische Existenz zuschreibt: vgl. hierzu
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Im Übrigen glaube ich, dass Stratenwerth zuzustimmen ist, wenn er ausführt, dass die Zurechnung des vom Täter begangenen Versuchs zum Anstifter nicht davon abhängen kann, ob bei diesem Versuch objektiv die Erwartungen erfüllt werden, die dieser bezüglich der Tat haben sollte, denn wenn man so weit geht, müsste die Möglichkeit, dem Anstifter jeden Versuch zuzurechnen, und jedenfalls jene, die sich ex post als untauglich qua Fehlen eines geeigneten Objekts herausstellen, ausgeschlossen werden.46 Andererseits denke ich auch, dass zu wenig für die Zurechnung des Versuchs verlangt wird, wenn hier die bloße Vorstellung des Angestifteten ausreichen soll, diejenige Tat auszuführen, die ihm der Anstifter aufgetragen hatte.47 Wäre dies genug, so wäre in der Tat der Grad der Abweichung zwischen der von dem Täter ausgeführten und der vom Anstifter vorgeschlagenen Tat bedeutungslos: „selbst wenn der Täter den Vorschlag des Anstifters missverstanden hat und deshalb ein anderes Tatobjekt wählt, als der Anstifter meinte“, wären alle Voraussetzungen für die entsprechende Haftung des Anstifters gegeben, „mag man auch diese Irrtumskonstellation wegen des gewissermaßen mechanischen Charakters des Übermittlungsfehlers noch am ehesten als eine aberratio ictus des Anstifters bezeichnen“.48 Meiner Meinung nach muss aber noch ein zusätzliches Element vorliegen, um die Zurechnung eines Versuchs der Haupttat an den Anstifter zu rechtfertigen: dass die Handlung des Täters zum Begehungszeitpunkt (ex ante) sich – nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv – als ein einigermaßen geeigneter Versuch, die verabredete Tat zu begehen, darstellt. Dem steht der Umstand, das zudem noch das Risiko eines Exzesses besteht, also das Risiko, dass eine fehlerhafte Individualisierung des Opfers durch den Täter zu einem Hergang führt, der sich ex post als eine andere Tat herausstellt, nicht entgegen.
Peñaranda Ramos Concurso de leyes, error y participación en el delito, Madrid 1991, S. 25 ff., 30 ff., und ebenfalls Puppe ZIS 2007, 246 („die Zurechnung ist kein Naturprozess … Er ist ein Urteil über ein Ereignis“). Es ist deshalb erstaunlich, dass diese Autorin demselben „naturalistische[n] Missverständnis“ erliegt, wenn sie in NK/Puppe (Fn. 17), § 16 Rn. 109 behauptet: „Ist … der Versuch des Täters dem Anstifter zuzurechnen und führt er zu einem Erfolg, der dem Täter als Vollendung seines Versuches zuzurechnen ist, so folgt die Zurechnung auch dieses Erfolges für den Anstifter aus den Regeln der Akzessorietät“. 46 Stratenwerth FS Baumann, 1992, S. 57, 68. Ebenfalls Freund Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 132 und MK/Joecks (Fn. 13), § 26 Rn. 84. 47 So aber Streng ZStW 109 (1997), 862, 889, 894 ff. Vgl. schon Stratenwerth FS Baumannn, 1992, S. 57, 68. 48 So Puppe GA 1984, 101, 121, die folgerichtig davon ausgeht, dass auch in solchen Fällen die (volle) „Erfolgshaftung des Anstifters“ angebracht sei.
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III. Fazit: die Notwendigkeit einer ausreichend differenzierten Lösung Aus den vorstehend angestellten Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, die Haftung des Anstifters genauer an die verschiedenen Sachlagen, die sich ergeben können, sowie an die eigentümliche Struktur der Zurechnung bei Beteiligung und insbesondere bei der Anstiftung anzupassen. Eine differenzierte Lösung tut also not, nach der je nach den Umständen des Sachverhalts der Anstifter für Anstiftung zu einer vollendeten Straftat, für Anstiftung zu einem Versuch oder für eine bloße versuchte Anstiftung zu haften hat.49 Im Anschluss sind noch als Schlussfolgerungen die Grundlinien der hier vorgeschlagenen Lösung zusammengefasst: (1) Wenn sich der Täter ohne weiteres an die vom Anstifter bezüglich der Identifizierung der Person, die durch die Handlung getroffen werden soll, gegebenen Anweisungen hält, kann von einem Exzess nicht die Rede sein, so dass beide wegen vollendeter Tat zu bestrafen sind (selbstredend, wenn die Tat denn vollendet wurde). Liegt ein Identifizierungsfehler vor,50 handelt es sich um einen error in persona, dem schon der Anstifter erlegen ist, den man so irrelevant für ihn wie für den Ausführenden zu halten hat.51 (2) Ist der Täter aber vollständig von diesen Anweisungen abgewichen – sei es bewusst oder im Glauben, noch im Rahmen der Vorgaben des Anstifters zu handeln52 –, kann die von ihm begangene Tat dem Anstifter nicht mehr – nicht einmal als Versuch – objektiv zugerechnet werden, und dieser kann nur für eine versuchte Anstiftung zur Rechenschaft gezogen werden. (3) Wenn der Täter hingegen ohne völlig von den erhaltenen Anweisungen abzuweichen, diese auf eigene Faust präzisiert, vervollständigt oder entwickelt, kann objektiv aus der von ihm zum Begehungszeitpunkt eingenom-
49 Diese Lösung weist einige Gemeinsamkeiten mit denen von MK/Joecks (Fn. 13), § 26 Rn. 85 und Kindhäuser Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 41 Rn. 31 ff. formulierten auf, weicht aber von ihnen in dem Sinne ab, dass hier zusätzliche Unterscheidungen vorgeschlagen werden. In der spanischen Lehre sprechen sich für differenzierende Lösungen – die ebenfalls nur teilweise mit der hiesigen übereinstimmen – Gómez Rivero (Fn. 26), S. 522 f.; Blanco Cordero (Fn. 26), S. 845 ff.; und Silva/Corcoy/Baldó (Fn. 26), S. 422 aus. 50 Wie derjenige des Grafen von Savern im berühmten Gedicht Schillers „Der Gang nach dem Eisenhammer“ (vgl. Bemmann MDR 1958, 817, 820 Fn. 62) oder in einer modifizierten Version des Sachverhaltes der STS vom 13.11.1998 (Fn. 30), wenn José R. den José B. lediglich dazu angestiftet hätte, „den Fahrer des Taxis Nr. 38 der Stadt Ibiza“ zu töten. 51 Vgl. in diesem Sinne u.a. schon Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 22. Abschnitt Rn. 29 und LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 89. 52 Dies wäre z.B. der Fall gewesen, wenn in einer weiteren Variante des Taxifahrers von Ibiza José B. gedacht hätte, dass er den Fahrer des Taxis Nr. 48 töten sollte, oder den des Taxis Nr. 38, aber einer anderen Stadt.
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menen Perspektive sowohl die Möglichkeit bestehen, dass die von ihm begangene Tat am Ende mit der ihm aufgetragenen übereinstimmt, als auch diejenige, dass eine fehlerhafte Konkretisierung dieser Anweisungen zu einer Abweichung von dieser führt. Bei solchen Konstellationen, die wohl am häufigsten sind und tatsächlich im Fall Rose-Rosahl, beim Hoferbenfall und bei dem spanischen Fall des äquatorialguineischen Oppositionellen vorlagen – und die z.B. auch beim Fall des Taxifahrers auf Ibiza gegeben gewesen wären, wenn der Ausführende nicht den neuen Fahrer als solchen erkannt hätte –, hängt die Lösung davon ab, welche der beiden Hypothesen sich verwirklicht hat: Stimmt die ausgeführte Tat mit dem erhaltenen Auftrag überein, ist der solcherart vollendete Totschlag oder Mord dem Anstifter zuzurechnen; wird hingegen ex post festgestellt, dass die ausgeführte Tat von der aufgetragenen abweicht, ist dem Anstifter nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Versuch dieser Straftat zuzurechnen.53 Dies wäre übrigens jedenfalls dann angemessen, wenn die Haupttat selbst im Versuchsstadium verblieben ist.54 (4) Zudem erlaubt die hier vertretene These die angemessene Behandlung jener Fälle, bei denen nach dem Angriff auf die „falsche“ Person der Täter den Identifizierungsfehler bemerkt und die Tat erneut gegen das „richtige“ Opfer begeht (und vollendet):55 Die Anstiftung zum vollendeten Delikt erfasst den Unwert der versuchten Anstiftung und denjenigen der Anstiftung zur versuchten Haupttat vollständig und verdrängt deswegen (aufgrund von Gesetzeskonkurrenz) diese anderen möglichen Subsumtionen des Verhaltens des Anstifters.
53 In diese Richtung geht vermutlich auch Freund (Fn. 46), § 10 Rn. 132a: „Für die vollendete Anstiftungstat muss die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat (in vollendeter oder versuchter Form) die spezifische Folge des vorsätzlichen Anstiftungsverhaltens sein“. 54 Wie in dem Fall des äquatorialguineischen Oppositionellen geschehen, vgl. Fn. 31. 55 Vgl. LK/Schünemann (Fn. 1), § 26 Rn. 87 und MK/Joecks (Fn. 13), § 26 Rn. 83.
Zurück in die Steinzeit? – Aporien der Tatherrschaftslehre Joachim Renzikowski I. Einleitung In der Dogmatik der Beteiligungsformen kann die Tatherrschaftslehre in der Form, die ihr Roxin in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1963 über „Täterschaft und Tatherrschaft“ gegeben hat, als führende Ansicht in der Strafrechtsliteratur bezeichnet werden.1 Demnach ist Täter derjenige Beteiligte, der als „Zentralgestalt des deliktischen Geschehens“ die Herrschaft über die Tat ausübt.2 Demgegenüber formiert sich seit einiger Zeit grundsätzliche Kritik, die nicht nur einzelne Aspekte, sondern die Methode schlechthin in Frage stellt. So könne ein „Begriff der Täterschaft[, der] aber auch insofern dialektischer Art [ist], als er sich durch Gegensätze hindurch entfaltet“3, die von Roxin angestrebte Systembildung mittels eines strukturbildenden Verfahrens nicht gewährleisten. Als Beispiel wird insbesondere die mittelbare Täterschaft bemüht. Um die Willensherrschaft kraft Nötigung zu begründen, operiert Roxin mit dem „Verantwortungsprinzip“. Danach führt der vom Hintermann ausgeübte Druck dann zu seiner Tatherrschaft, wenn er den Voraussetzungen des § 35 StGB entspricht. Die Tatherrschaft des Hintermannes stützt sich somit darauf, dass das Gesetz den Vordermann von der strafrechtlichen Verantwortung befreit.4 Das ist ein normatives Verständnis der Tatherrschaft. Eine Verabsolutierung des Verantwortungsprinzips lehnt Roxin freilich ab, was sich in der Fallgruppe der sog. „Organisationsherrschaft“ zeigt. Hier behandelt er die Tatherrschaft rein faktisch, wenn er damit argumentiert, dass der vom Hintermann gesteuerte Apparat die Erfolgsherbeiführung mit hoher Wahrscheinlichkeit sicherstelle.5 Daran kritisiert
1 S. nur die Nachw. bei Schönke/Schröder/Heine/Weißer StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 25 ff. Rn. 57. 2 Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 10. 3 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 529. 4 Roxin (Fn. 3), S. 143 ff.; ders. AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 48; s. auch Schünemann FS Roxin, 2011, S. 799, 811: „logisch zwingend“. 5 So Roxin FS Schroeder, 2006, S. 388, 391 f., 398 f.
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etwa Volker Haas: „Die Tatherrschaftslehre oszilliert in durchaus inkohärenter … Weise zwischen Normativität und Faktizität.“6 Schünemann hat jüngst auf diese Kritik repliziert und Haas einen Rückfall „in die methodologische Steinzeit der Begriffsjurisprudenz“ vorgeworfen. Es sei ein grundlegendes Missverständnis, bei der Abgrenzung der Beteiligungsformen auf klassifikatorische Begriffe zu setzen. Angesichts der Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse und der deshalb für jeden Begriff der Täterschaft notwendigen Abstraktionsstufe könne man nur mit einem „Typusbegriff“ weiterkommen, „der also nicht im klassischen Sinne definiert, sondern nur durch fallgebundene Ähnlichkeitsregeln konkretisiert werden kann, bei denen die unterschiedlichen Dimensionen mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen vertreten sind und also etwa die schwache Ausprägung eines Merkmals durch die besonders starke Ausprägung eines anderen Merkmals in dem Sinne kompensiert werden kann, dass der konkrete Fall immer noch als eine Erscheinungsform des Typus anzusehen ist“.7 Beruht also die Kritik an der Tatherrschaftslehre auf einem Missverständnis? Im Folgenden soll zunächst allgemein an Grundsätze der Bildung von Begriffen und ihre Anwendung auf die Wirklichkeit – was immer das auch sei – erinnert werden (II.). Sodann geht es um den „Typusbegriff“ (III.), wobei sich herausstellen wird, dass Begriffe mit graduierbaren Merkmalen keineswegs ungewöhnlich sind. Für die Begründung der Tatherrschaftslehre leistet dieser methodische Ansatz jedoch nichts. Der Beitrag schließt mit einer Bemerkung zur „Begriffsjurisprudenz“ (IV.).
II. Begriffe Ein sprachlicher Ausdruck, etwa das Wort „Ball“, wird zu einem Begriff dadurch, dass sein Anwendungsbereich definiert wird. Bei dieser Operation geht es darum, Merkmale festzulegen, die den Begriff von anderen unterscheiden, etwa einen „Ball“ von einem „Würfel“ oder von einem „football“. Auf diese Weise ermöglichen uns Begriffe, die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, zu unterscheiden und so die Welt zu ordnen. Weil diese Ordnung das Ziel jeder Wissenschaft ist, kommt keine ohne Begriffe aus. Dasselbe gilt für das Recht, weil durch es die Welt ebenfalls in einer bestimmten Weise geordnet werden soll. In der Alltagslogik wird gewöhnlich nach dem Grundsatz definiert „definitio fit per genus proximum et differentia specifica.“8 Demzufolge wird ein Begriff danach bestimmt, was die wesentlichen Eigenschaften des Gegen6 7 8
Haas Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 26. Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 38. Diese Formel geht zurück auf Aristoteles Topik, I, 8.
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stands sind, den der bezeichnen soll. Diese Eigenschaften sind essentiell, weil ohne ihr Vorliegen nicht erkennbar ist, was es denn ist, das bezeichnet wird. Für eine weitere Differenzierung können diese Essentialia durch Akzidentien ergänzt werden, das sind diejenigen Eigenschaften, die einem Gegenstand nur kontingenterweise zukommen. So ist beispielsweise die „Rundheit“ für einen Ball essentiell, während er nicht notwendigerweise eine bestimmte Farbe haben muss. Obwohl es jedoch möglich ist, den Begriff eines roten Balles zu bestimmen, ist es nicht möglich, ein Einzelding gleichsam „auf den Begriff zu bringen“. In der Welt aber existieren Dinge nur als einzelne. Beispielsweise kann man den Ball, den der Nürnberger Spieler Nilsson am 21.12.2013 in der 76. Minute des Bundesligaspiels gegen Schalke 04 an die Latte köpfte, von dem Ball unterscheiden, mit dem der Spieler Thiago von Bayern München am selben Tag im Endspiel der Vereinsweltmeisterschaft gegen Raja Casablanca das 2 : 0 erzielte. Da die akzidentiellen Eigenschaften durch universale Begriffe angegeben werden, sind Individualbegriffe zwar logisch möglich. Weil aber die Akzidentien, durch die sich einzelne Gegenstände unterscheiden, unendlich sind, kann man Individualbegriffe nicht vollständig analysieren.9 Im Beispiel kann man daher nur auf die Bälle zeigen oder ihnen, wenn man wollte, Namen geben. Im Hinblick auf den Begriff „Fußball“ unterscheiden sie sich in ihren wesentlichen Eigenschaften dagegen nicht und sind somit identisch, was heißt: im selben Sinn Fußbälle. Damit stellt sich das Problem, wie man einen einheitlichen Begriff von verschiedenen Einzeldingen gewinnen kann und wie man von einem Begriff zum Einzelding gelangt, das der Begriff bezeichnen soll. Wie bereits erwähnt, müssen Begriffe die wesentlichen Eigenschaften des Gegenstands angeben, auf den sie sich beziehen. Man muss also die verschiedenen Einzeldinge miteinander vergleichen und unter Absehung von den Akzidentien nach invarianten Merkmalen suchen, die auf alle Gegenstände zutreffen, die unter denselben Begriff fallen sollen.10 Die so gewonnene Definition darf nicht selbstwidersprüchlich sein, etwa indem der Ball als rund und eckig zugleich bezeichnet wird.11 Eine solche „Definition“ wäre sinnlos, weil kein solcher Gegenstand gedacht werden und es demzufolge auch keinen Gegenstand in der Welt geben kann, der damit bezeichnet wird. Ansonsten ist der Definierende theoretisch frei und wird praktisch nur durch das Ziel einer sinnvollen Ordnung beschränkt. Das gilt auch für das Recht, das die soziale Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen muss, wenn es beanspruchen will, eine sinnvolle
9 Das kann bekanntlich nur Gott, denn „bei euch sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt“ (Matthäus 10, 30). 10 S. dazu etwa Thiel in: Prätor (Hrsg.), Aspekte der Abstraktionstheorie, 1988, S. 36 ff. 11 S. auch Kant Kritik der Reinen Vernunft, 1781, in: Kants gesammelte Schriften, Band 4, Berlin 1911, A 151: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht.“
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Ordnung zu sein.12 Umgekehrt ist die Anwendung eines (allgemeinen) Begriffs als mentale Entität auf ein Einzelding kein logisch zwingender Schluss, weil ein solcher nur von Begriffen auf andere – untergeordnete – Begriffe möglich ist. Gewissheit kann allein bei universalen Urteilen durch eine Analyse des Subjektterms erreicht werden. Dagegen kann die Wahrheit von singulären synthetischen Urteilen nicht logisch bewiesen werden.13 Man kann nur eine Hypothese mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit generieren, deren Grad sich aus einem Vergleich des Begriffs mit der konkreten Wahrnehmung des in Bezug genommenen Einzeldings ergibt. Stimmen Begriff und Wahrnehmung in dem Sinn überein, dass vernünftige und nicht bloß denktheoretische Zweifel nicht mehr aufkommen, dann kann das Vorliegen der Merkmale des Begriffs bei dem Einzelding als gegeben behandelt werden. Es besteht – subjektive – praktische Gewissheit. Das damit verbundene Problem der Anwendung von Begriffen auf einen Sachverhalt wird unter dem Stichwort „species facti“ bereits in der Aufklärung diskutiert.14 Gegenüber der klassischen Konzeption, der zufolge Begriffe anhand einer endlichen Zahl von Merkmalen eindeutig bestimmt werden können, hat Wittgenstein auf das Konzept der „Familienähnlichkeit“ hingewiesen. Er zeigt am Beispiel „Spiele“, dass es keinen Satz von Merkmalen gibt, der auf alle zutrifft. Seiner Ansicht nach lässt sich noch nicht einmal eine genaue Grenze dafür angeben, wann etwas ein Spiel ist und wann nicht.15 Nun enthalten in der Tat viele Begriffe unserer Alltagssprache keine exakten Definitionen, sondern besitzen eine gewisse Vagheit. Ein oft gebrauchtes Beispiel ist der Begriff „Haufen“, bei dem sich nicht angeben lässt, aus wieviel gleichartigen Teilen ein „Haufen“ mindestens bestehen muss.16 Gleichwohl bleibt es dabei, dass ein Begriff seine Merkmale angeben muss. Beim „Haufen“ etwa kommt es nicht auf eine bestimmte Anzahl an – die man als Jurist immerhin auch vorschreiben könnte –, sondern darauf, ob es sinnvoll ist, die einzelnen Elemente einer Menge abzuzählen. Die Schwierigkeit mit bloßen „Familienähnlichkeiten“ besteht nämlich darin, dass man damit nichts ordnen kann,
12 Vgl. statt vieler Radbruch Rechtsphilosophie, 1932, § 9 zu Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit als Bestandteile der Rechtsidee. 13 Der sog. „Subsumtionsschluss“, der genau diese Operation verlangt, ist damit, anders als es üblicherweise angesehen wird (vgl. etwa Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 152 f.), kein logischer Schluss im strengen Sinn. Statt um logische Deduktion geht es hier um praktische Urteilskraft, näher dazu Wieland Urteil und Gefühl, 2001, S.149 ff. 14 Näher dazu Hruschka in: Schröder (Hrsg), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik, 2001, S. 203 ff.; Aichele Rechtstheorie 42 (2011), 495 ff. 15 Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, krit. genetische Edition, hrsg. v. Schulte, 2001, §§ 66 ff.; s. dazu auch Kuhlen Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 136 ff. 16 Ausführlich zu solchen „Sorites-Paradoxien“ Williamson Vagueness, London 1994, S. 8 ff. et passim.
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wenn und weil man ihre Grenzen nicht angeben kann. Es ist freilich auch möglich, die Intension eines sprachlichen Ausdrucks lexikalisch festzulegen, indem seine Verwendung bestimmt wird, etwa durch eine bestimmte Konvention.17 Ein Beispiel im Recht sind die „Legaldefinitionen“. Bloße „Familienähnlichkeiten“, deren Grenzen niemand angeben kann,18 sind schon allein wegen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 Abs. 2 GG) problematisch.
III. Typusbegriffe und Tatherrschaft 1. Typusbegriffe als Sonderfall? Der Klassiker der Typuskonzeption im Recht ist Karl Larenz. In seiner „Methodenlehre“ stellt er Typus als besondere Begriffs- und Denkform den Klassenbegriffen gegenüber, die durch Merkmale definiert werden, so dass unter sie subsumiert werden kann. Im Gegensatz zu den so geschlossenen Klassenbegriffen seien Typusbegriffe offen und nicht definierbar. Man könne daher auch keine Sachverhalte unter sie subsumieren, sondern dem Typus nur „mehr oder weniger“ zuordnen.19 Auch Schünemann verwendet den Typusbegriff in diesem Sinn, indem er unter Verweis auf Puppe 20 und Kuhlen 21 zwei Charakteristika hervorhebt: Typusbegriffe zeichnen sich durch abstufbare Merkmale aus, denen das Merkmalsprofil des zu entscheidenden konkreten Falles aufgrund eines Ähnlichkeitsvergleichs zugeordnet werden kann.22 Nach dem bisher Gesagten ist das aber durchaus nichts Besonderes. Vielmehr dürften unscharfe und vage Begriffe mit graduierbaren Merkmalen in der Umgangssprache die Regel sein. Das ändert aber nichts daran, dass sie den Regeln der Logik unterliegen – oder es handelt sich nicht mehr um Begriffe.23 Folglich muss eine graduierbare Eigenschaft, so schwach wie auch immer, vorliegen, um die Begriffsanwendung zu rechtfertigen, oder sie ist kein Merkmal des fraglichen Begriffs. Ebenfalls wurde bereits ausgeführt,
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Zur Gebrauchstheorie der Sprache Wittgenstein (Fn. 15), § 43. Immerhin hält Wittgenstein (Fn. 15), § 68 eine Definition von Familienähnlichkeitsprädikaten für möglich. 19 Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 333 ff.; s. auch Arthur Kaufmann Analogie und „Natur der Sache“, 1965, S. 48; zur Kritik Kuhlen (Fn. 15), S. 99 ff., 120 ff. 20 Puppe GS Armin Kaufmann, 1989, S. 15, 25 ff. 21 Kuhlen in: Herberger/Rüßmann (Hrsg.), Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, 1992, S. 101, 119 ff. 22 Schünemann FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 209, 305 ff. 23 Vgl. auch Lege Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 422. 18
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dass Begriffe, sofern sie sich auf Gegenstände in der Wirklichkeit beziehen, mittels eines Ähnlichkeitsvergleichs gebildet und auch auf diese Weise angewendet werden. Wenn Roxin also vorschlägt, in einem Durchgang durch den gesamten Rechtsstoff im Wege des Ähnlichkeitsvergleichs die maßgeblichen Kriterien der Täterschaft zu entwickeln, so ist das durchaus der übliche Weg der Bildung von Begriffen. Der entscheidende Fortschritt von Roxins Lehre liegt gerade darin, dass er die Bezüge zwischen den Beteiligten anhand des Verbrechensbegriffs systematisch beschrieben und damit als Erster überhaupt in ein Fallsystem eingeordnet hat. Dahinter führt kein Weg zurück. 2. Die Tatherrschaft und der Begriff der Tat Die Tatherrschaftslehre definiert die Tatherrschaft in Anlehnung an eine auf Maurach zurückgehende Metapher als das „vom Vorsatz umfasste Inden-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufes“.24 Demzufolge ist die Tatherrschaft ein Relationsbegriff; sie wird auf eben die Tat i.S. der Tatbestandsverwirklichung bezogen, die vom Täter beherrscht wird. In diesem Sinn muss jede Beteiligungsformenlehre beim Tatbestand beginnen. Hier gerät die Tatherrschaftslehre jedoch in Schwierigkeiten, denn wie sich zeigen wird, verfügt sie über keinen Begriff der Tat. Nach dem herkömmlichen Verständnis enthält der Tatbestand eines einfach gelagerten Erfolgsdelikts, geradezu der Prototyp der sog. „Herrschaftsdelikte“25, drei Elemente: die Handlung, den Erfolg sowie eine Beziehung zwischen Handlung und Erfolg derart, dass der Erfolg als Resultat der tatbestandsmäßigen Handlung erscheint, oder anders ausgedrückt: Kausalität und objektive Zurechnung. Soweit bekannt stellt kein Vertreter der Tatherrschaftslehre dies in Frage. Als kausal gilt eine Handlung nach der nahezu unangefochtenen Äquivalenztheorie der Kausalität dann, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg entfiele.26 Dieser Kausalitätsbegriff enthält zwei Komponenten: Zum einen wird die Ursache als condicio sine qua non definiert; zum anderen ist jedes Ereignis, welches diesen Test erfüllt, gleichermaßen Ursache („äquivalent“). Eine Differenzierung zwischen Ursachen und bloßen Bedingungen wird ausdrücklich abgelehnt.27 Die so verstandene Kausalität reicht außerordentlich weit. Nicht nur der Mörder ist demnach ursächlich für den Tod des Opfers, sondern auch das Opfer selbst, ferner Produzent und Verkäufer der Tatwaffe, die Vorfahren dieser Personen (durch Zeugung und Geburt) usw.; kurz: Alles ist 24 Maurach Deutsches Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1958, S. 492, 517; s. ferner Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 26 m.w.N. 25 Roxin AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 13. 26 S. Kühl (Fn. 24), § 4 Rn. 9 m.w.N. 27 Vgl. Sch/Sch/Eisele, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 13 ff. Rn. 76 m.w.N.
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für alles (mit-)ursächlich. Darin soll gerade der Vorzug dieses Kausalbegriffs liegen.28 Auf der Basis dieses Kausalbegriffs kann man also nicht zwischen verschiedenen Beteiligungsformen unterscheiden.29 Aber auch eine tatbestandsmäßige Handlung lässt sich nicht identifizieren. Verbindet man nämlich die willkürliche Körperbewegung als Mindestvoraussetzung 30 mit der äquivalenten Kausalität, dann entsteht ein (kausaler) Handlungsbegriff, der kein Ende kennt.31 Nun wird diese Uferlosigkeit der äquivalenten Kausalität durchaus als problematisch angesehen. Ihre Korrektur erfolgt jedoch nicht durch eine angemessene Fassung des Kausalitätsbegriffs, sondern mit Hilfe von normativen Gesichtspunkten durch die sog. „objektive Zurechnung“. Da die Rechtsordnung nicht jede Verursachung schlechthin verbietet – was etwa für die Zeugung des späteren Mörders und seines Opfers sofort einleuchtet –, setzt die objektive Zurechnung eines Erfolges voraus, dass der Täter mit seiner Handlung ein unerlaubtes Risiko für ein Rechtsgut geschaffen und dass sich gerade dieses unerlaubte Risiko in dem eingetretenen Erfolg niedergeschlagen hat.32 Auf diese Weise wird die Äquivalenz der Bedingungen durch die Äquivalenz der unerlaubten Risiken ersetzt. Äquivalente unerlaubte Kausierung beschreibt somit den objektiven Tatbestand eines schlichten Erfolgsdelikts. Damit aber wird eine Unterscheidung zwischen verschiedenen unerlaubten Gefahren unmöglich, denn Anstifter und Gehilfe setzen im selben Maß ein unerlaubtes Risiko wie der Täter selbst. Im Hinblick auf die Normwidrigkeit ihres Verhaltens sind sie ununterscheidbar, d.h. identisch. M.a.W.: Alles ist ein und dieselbe Tat.33 Zwar hat Maiwald vorgeschlagen, die Beteiligungsformenlehre in die objektive Zurechnung zu integrieren.34 Immerhin wird bereits unter dem Schlagwort „Eigenverantwortlichkeit“ diskutiert, ob und inwieweit die objektive Zurechnung des Erfolgs für den Hintermann ausgeschlossen ist, wenn die Rechtsgutsverletzung unmittelbar auf dem Verhalten eines Dritten oder des Opfers selbst beruht.35 Dementsprechend könnte man etwa ein
28
So Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 27; zur Kritik s. nur Aichele ZStW 123 (2011), 260, 263 ff. 29 Vgl. Roxin (Fn. 3), S. 28, 30, 327 f.; eingehend gegen ein „Regressverbot“ ders. FS Tröndle, 1989, S. 177 ff. 30 Vgl. etwa Sch/Sch/Eisele (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 37 m.w.N. 31 Genau genommen kann ein Begriff der Handlung überhaupt nicht mehr gebildet werden, wenn jedes Ereignis die notwendige Folge anderer Ereignisse ist, s. auch von Wright Erklären und Verstehen, 2. Aufl. 1984, S. 136 f. 32 S. Sch/Sch/Eisele (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 92 m.w.N. 33 S. auch Aichele ZStW 123 (2011), 269 f.; vgl. bereits RGSt 21, 76, 77: Täterschaft ist die Herbeiführung derjenigen Bedingungen, „unter welchen der mit Strafe bedrohte Tatbestand eintritt“. 34 Maiwald FS Miyazawa, 1995, S. 465, 480 f. 35 Näher dazu Matt/Renzikowski/Renzikowski StGB, 2013, Vor § 13 Rn. 118 ff. m.w.N.
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„Verantwortungsprinzip“ fruchtbar machen, um die Beteiligungsformen zu systematisieren.36 Man könnte ferner zwischen unmittelbarer und mittelbarer Verursachung unterscheiden, aber es ist nicht zu sehen, auf welche Weise diese Ansätze in das Konzept der objektiven Zurechnung integriert werden könnten. Wie sollte sich auch die rechtliche Gleichwertigkeit aller unerlaubten Bedingungen und zugleich ein objektiver Unterschied – nämlich das Vorliegen oder Fehlen von Tatherrschaft ohne Widerspruch behaupten lassen?37 Dieser Selbstwiderspruch ist zudem deshalb bemerkenswert, weil die Äquivalenztheorie gerade die Basis der von der Tatherrschaftslehre bekämpften subjektiven Tätertheorie bildet. Nun könnte man in Betracht ziehen, die Tatherrschaft, da sie das spezifische Handlungsunrecht des Täters begründet, als Tatbestandsmerkmal sui generis aufzufassen38 und in die objektive Zurechnung zu integrieren. Aber wie gezeigt wird die objektive Zurechnung auch auf den Teilnehmer bezogen und sie knüpft ebenfalls an die äquivalente Kausalität an. Da folglich der Begriff der Tat nicht weiter definiert wird, bleibt fraglich, worauf sich die Herrschaft letztlich beziehen soll.39 Tatherrschaft ist Begehung ebendieser Tat mit Tatherrschaft, das ist selbstbezüglich. Selbstbezügliche Definitionen ergeben keinen Sinn, was nichts damit zu tun hat, ob die Tatherrschaft als Typus verstanden werden sollte. 3. Die Herrschaft über den Grund des Erfolgs Dieses Dilemma scheint Schünemann vermeiden zu können. Er führt für Roxins „Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens“40, die die allgemeine Struktur des einheitlichen Grundprinzips aller Formen strafrechtlicher Täterschaft für die unterschiedlichen Deliktstypen bezeichnen soll, den Begriff der „Herrschaft über den Grund des Erfolgs“ ein.41 Der Begriff der „Tat“ kommt in dieser Bezeichnung nicht vor, er wird durch den „Grund des Erfolgs“ ersetzt. Was Schünemann darunter versteht, erläutert er so: „Der
36 So jüngst Puppe GA 2013, 514 ff.; dagegen aber Roxin AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 177; LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 13; weitere Kritik bei Greco ZIS 2011, 9, 11 ff. 37 Haas (Fn. 6), S. 41 ff. 38 Vgl. Bloy Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, S. 123 f., 204 f. et passim; ders. ZStW 115 (2007), 3, 7: Tatherrschaft als Chiffre der Prägung der Tat durch die Person des Täters; s. ferner Roxin AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 29; LK/Schünemann (Fn. 7), Vor § 25 Rn. 14: „materielle Erfüllung des Tatbestands“; ders. FS Roxin, 2011, S. 799, 809: Täterschaft als „Herrschaft über den Grund des (strafrechtlichen) Erfolges“. Krit. Haas (Fn. 6), S. 35 ff. 39 Freund Strafrecht. AT, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 46 f., 66; Haas ZStW 119 (2007), 519, 526 ff. 40 Roxin (Fn. 3), S. 25 ff. 41 LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 39.
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entscheidende Zurechnungsgrund ist … die Beziehung zwischen dem personalen Steuerungszentrum und der den Erfolg verursachenden Körperbewegung. Diese Beziehung ist der sachlogische Grund für die Zurechnung des durch die Handlung verursachten Erfolges an den Täter … Das … entscheidende Wesen des Verhältnisses zwischen Person und Körperbewegung … besteht in der absoluten Herrschaft der Person über den Körper. (…) Wir können damit die Zurechnung eines Erfolges an eine Person qua Handlung als Verbesonderung des allgemeinen Prinzips begreifen, einen Erfolg derjenigen Person zuzurechnen, die die Herrschaft über den Grund des Erfolges ausübt.“42 Es geht also um Zurechnung.43 Schünemanns Ansatz ist deshalb attraktiv, weil er die allgemeine Struktur der Täterschaft für alle Delikte auf den Begriff zu bringen verheißt oder m.a.W., weil ein allgemeines Zurechnungsprinzip in Aussicht gestellt wird. So folge aus dem Schutz der Rechtsgüter als Aufgabe des Strafrechts, dass die Verhaltensnorm an diejenigen adressiert werden müsse, die die wesentlichen Entscheidungen über den Eintritt der Rechtsgutsverletzung treffen und dadurch ihren Eintritt beherrschen könnten („funktional-teleologische Herleitung“). Diese Entscheidung könne durch eigenes Handeln oder durch einen unter der eigenen Herrschaft stehenden anderen oder in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit einem anderen vorgenommen werden („sachlogische Herleitung“).44 Wie die weitere Konkretisierung zeigt, ist der Begriff der „Herrschaft über den Grund des Erfolgs“ jedoch nicht konsistent. So versteht Schünemann beispielsweise die Sicherungsgarantenpflicht als „Herrschaft über eine wesentliche Erfolgsursache“.45 In diesem Sinn wird etwa dem Waffenbesitzer, der eine Schusswaffe und die Munition entgegen § 36 WaffG nicht sicher aufbewahrt, Herrschaft über den „Grund des Erfolgs“ zugerechnet, wenn ein anderer sich diese Waffe beschafft und damit einen Menschen tötet. Infolgedessen ist er Täter (hier: eines Unterlassungsdelikts), weil für Schünemann die Täterschaft aus der Verletzung der Sonderpflicht folgt.46 Wenn dagegen der Waffenbesitzer dem Attentäter die Tatwaffe sogar aushändigt, wird er dadurch keineswegs zum Täter eines Begehungsdelikts, sondern bleibt Gehilfe der von einem anderen ausgeführten Tötung. Pflichtwidrige Untätigkeit begründet somit Herrschaft über den Erfolg, pflichtwidrige Tätigkeit dage-
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Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 235 f. Wobei die berühmte kantische Definition der Zurechnung als „Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird“ (Kant Metaphysik der Sitten, 1797, in: Kants gesammelte Schriften, Band 6, Berlin 1907, S. 203, 227) präziser ist als die etwas unklare Redeweise vom personalen Steuerungszentrum. Es dürfte aber dasselbe gemeint sein. 44 LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 38. 45 Schünemann (Fn. 42), S. 281. 46 LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 42; s. auch Roxin AT II (Fn. 2), § 31 Rn. 140 ff. 43
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gen nicht, obwohl das Unrecht eines Tuns schwerer wiegt als das Unrecht einer Unterlassung. Ein weiteres Beispiel ist die Geschäftsherrenhaftung zur Verhütung von betriebsbezogenen Straftaten Untergebener. Schünemann begründet die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vorgesetzten mit der Herrschaft über „partiell Unmündige“.47 Wer also als Vorgesetzter betriebsbezogene Straftaten Untergebener nicht verhindert, macht sich demnach strafbar. Damit passt es nicht zusammen, dass der Inhaber eines Unternehmens, der solche Straftaten sogar anweist, nicht als mittelbarer Täter haften soll,48 ist doch seine Herrschaft über „partiell Unmündige“ gerade der Grund für die Ausführung seiner Befehle. Für diese Inkonsistenzen spielt der Typus keine Rolle. 4. Das Problem der sog. „Organisationsherrschaft“ Die letzte Bemerkung leitet zur „Organisationsherrschaft“ als Ausprägung der mittelbaren Täterschaft über. Mit dieser Konstruktion sollen diejenigen erfasst werden, die einen hierarchisch geordneten Machtapparat lenken. Der die Organisation beherrschende Hintermann ist mittelbarer Täter, weil die Organisation des Apparates den regelmäßigen Vollzug seiner Befehle garantiert.49 Zweifelhaft ist jedoch, ob diese Überlegung die Zurechnung der Ausführung des Befehls zum Hintermann tragen kann und ob sich die Organisationsherrschaft überhaupt in die mittelbare Täterschaft integrieren lässt. Die Besonderheit der Organisationsherrschaft besteht darin, dass der Vordermann die Straftat, für die der Hintermann ebenfalls als Täter zur Rechenschaft gezogen werden soll, voll verantwortlich selbst begeht. In allen anderen Konstellationen der mittelbaren Täterschaft setzt die Tatherrschaft des Hintermanns dagegen eine wie auch immer geartete Einschränkung der Verantwortung des Vordermannes voraus, sei es aufgrund eines Irrtums, sei es aufgrund einer Nötigung.50 Die Gründe hierfür sind normativ,51 und daher ist es problematisch, wenn die Tatherrschaft bei der Organisationsherrschaft damit begründet wird, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Herbeiführung des Erfolges bestehe. Denn tragendes Kriterium ist hier die „Fun47 Schünemann (Fn. 42), S. 328; ders. Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 102; ablehnend Heine Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 117 f. 48 Gegen die Übertragung der sog. „Organisationsherrschaft“ auf Unternehmen LK/ Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 130 f. 49 S. Roxin (Fn. 3), S. 244 ff.; ders. AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 107; ebenso LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 122 f. m.w.N. 50 Vgl. Roxin AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 46. 51 Vgl. auch Jakobs GA 1997, 553 ff.; Haas (Fn. 6), S. 84 ff.; Kindhäuser FS Bemmann, 1997, S. 339, 346.
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gibilität des Tatmittlers“: Der konkret Ausführende erscheint lediglich als „auswechselbares Rädchen im Getriebe“. Da er jederzeit durch andere Mitglieder der betreffenden Organisation ersetzt werden kann, kommt es auf ihn nicht weiter an. Vielmehr stellt die Organisationsstruktur die Ausführung von Befehlen sicher, gerade weil die individuelle Person des Ausführenden jederzeit substituiert werden kann.52 Zunächst setzt jede Pflicht voraus, wenn sie eine sinnvolle Regelung zu sein beansprucht, dass der gebotene Geschehensablauf einerseits möglich ist und andererseits nicht ohnehin notwendig stattfinden wird.53 Für die „Organisationsherrschaft“ bedeutet das: Wenn der Schreibtischtäter als Hintermann dafür verantwortlich gemacht werden soll, dass ein Vordermann seinen Befehl ausgeführt hat, muss die Ausführung des Befehls real möglich, d.h. wahrscheinlich sein. Aus der Wahrscheinlichkeit der Befehlsausführung folgt für sich genommen aber überhaupt nichts, und daher wird der Höhe der Verwirklichungschance auch sonst für die Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme keine Bedeutung zugemessen.54 Beispielsweise dürfte die Chance eines Anstifters, seinen Mordplan zu verwirklichen, höher einzuschätzen sein, wenn er einen Profikiller beauftragt, als wenn jemand ein unzurechnungsfähiges oder irrendes Werkzeug benutzt. Gleichwohl bezweifelt kein Anhänger der Tatherrschaftslehre, dass im ersten Fall Anstiftung und im zweiten Fall mittelbare Täterschaft gegeben ist. Der Gegeneinwand, dass die Zurechnung bei der Organisationsherrschaft im Gegensatz zur Anstiftung auf regelhafte Abläufe in einer Hierarchie zugeschnitten sei,55 offenbart ein weiteres Problem: Man kann aus statistischen Relationen kein singuläres (Zurechnungs-)Urteil ableiten.56 Es ist schließlich auch nicht einzusehen, weshalb es für die Organisationsherrschaft darauf ankommen soll, ob der unmittelbar Ausführende ein unersetzlicher Spezialist ist – dann keine „Fungibilität“ – oder nur ein jederzeit auswechselbares Rädchen im Getriebe.57 Ambos hat daher vorgeschlagen, die Fungibilität als Kombination tatsächlicher und normativer Aspekte zu verstehen. Die faktische Steuerungsmacht des Hintermannes sei nur der Ausgangspunkt und habe abstrakten Charakter. Normativ handle es sich um die Zuweisung der Verantwortlichkeit zum
52
Roxin GA 1963, 193, 199 ff.; ders. (Fn. 3), S. 244 ff.; ders. AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 107. Zur Bedeutung von „Sollen impliziert Können“ instruktiv Moritz Theoria 19 (1953), 131, 142 ff.; von Wright Norm und Handlung, 1979, S. 114 ff. 54 Haas (Fn. 6), S. 26; Herzberg ZIS 2009, 576, 578; Murmann GA 1996, 269, 274; Radtke GA 2006, 350, 355. 55 So Roxin AT II (Fn. 2), § 25 Rn. 119. 56 S. dazu in einem anderen Zusammenhang Keil Handeln und Verursachen, 2000, S. 213 ff. 57 So die jüngste Einschränkung von Roxin FS Krey, 2010, S. 449, 461; abw. LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 127. 53
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Hintermann aufgrund seines Einflusses auf die Organisation.58 Sieht man von der unklaren Ausdrucksweise ab, so geht es um Folgendes: Die Steuerungsmacht des Hintermannes folgt aus seiner Stellung in der Hierarchie; er ist der „Boss“ – oder einer der „Bosse“ –, nach dessen Anweisungen sich alle zu richten haben. Der normative Grund der Zurechnung liegt also in der Anweisung selbst, die gegebenenfalls mit einer Sanktion bei Nichtbefolgung verknüpft ist. Darauf beruht die „Steuerungsmacht“ des Hintermannes.59 Die Tatherrschaftslehre verdunkelt diesen Zusammenhang. Demgegenüber würden nach Schünemann, „bei der Konkretisierung der Tatherrschaft nicht etwa inkohärente, sondern ergänzende normative und empirische Argumentationen miteinander verknüpft“, was geradezu der „Normalfall der Konkretisierung von Typusbegriffen“ sei.60 Fraglich ist jedoch, ob man beliebige Merkmale auf beliebige Weise miteinander kombinieren kann, um einen Begriff zu bilden. Spätestens seit Hume 61 sollten alle Warnlämpchen blinken, wenn man deskriptive und präskriptive Terme miteinander verbinden möchte, auch wenn sich beide Arten von Termen auf dieselbe Welt beziehen. Das Dilemma ist aber noch größer. Wenn die „Tatherrschaft“ nur mittels der Wittgensteinschen „Familienähnlichkeiten“ konkretisiert werden kann, dann stellt sich die Frage, weshalb man überhaupt etwa die Merkmale der Organisationsherrschaft – Rechtsgelöstheit, strukturelle Zwangsausübung, Fungibilität und Ausführungsbereitschaft, ergänzt durch „Steuerungsabhängigkeit“ 62 – als relevant akzeptieren sollte, handelt es sich doch lediglich um den vorgeschlagenen Gebrauch eines Kunstwortes,63 das der Gesetzgeber an keiner Stelle definiert hat und das auch das Gesetz nicht benutzt. Gründe müssen verallgemeinerbar sein – und verweisen eben dadurch letztlich doch wieder auf Begriffe. Es kann in keiner Weise verwundern, dass die Rechtsprechung die „Organisationsherrschaft“ dankbar aufgegriffen und auf die strafrechtliche Verarbeitung der Wirtschaftskriminalität ausgedehnt hat.64 Die Anhänger der Tatherrschaftslehre können dem letztlich nur entgegenhalten, dass die von ihnen erfundenen Merkmale in den von der Rechtsprechung entschiedenen Konstellationen nicht vorlägen.65 Wenn aber 58
Ambos Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 27. Ausführlich Haas (Fn. 6), S. 86 ff. 60 Schünemann FS Roxin, 2011, S. 812. 61 Hume A Treatise of Human Nature, London 1739/40, III. 1. 62 Schünemann FS Roxin, 2011, S. 806 m. Fn. 43. 63 Aber nur eine Sammelbezeichnung verschiedener Problemlösungsvorschläge soll die „Tatherrschaft“ ja gerade nicht sein, s. Roxin (Fn. 3), S. 119 ff., 532 ff., 671; LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 38. 64 Vgl. BGHSt 43, 219, 231 f.; 48, 331, 342; 49, 147, 163 f. 65 Vgl. Roxin FS Schroeder, 2006, S. 396 f.; ebenso Morozinis Dogmatik der Organisationsdelikte, 2010, S. 297 ff., 404 ff.; LK/Schünemann (Fn. 7), § 25 Rn. 123, 130 f.; Sch/Sch/Heine/Weißer, 29. Aufl. 2014, § 25 Rn. 30; der Rspr. zustimmend etwa Hefendehl GA 2004, 575, 582 ff. 59
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sogar diese Merkmale graduierbar sind und noch nicht einmal vollständig gegeben sein müssen, wird diese Kritik sehr geschwächt. Es ist ja auch nicht so, dass es keine Alternativen gäbe. So hat Volker Haas unter Verweis auf die gemeinrechtliche Lehre vom mandatum vorgeschlagen, die Verantwortlichkeit des Auftraggebers für die Ausführung seines Befehls auf den Auftrag selbst zu stützen. Indem der Tatmittler sich dem Willen des mittelbaren Täters unterwirft, besorgt er „stellvertretend für diesen gleichsam dessen Geschäft“.66 Das ist ein klarer Begriff. Man macht es sich zu leicht, Haas einen Anschlag auf die gesamte moderne Entwicklung des Strafrechts und seine Degeneration „zu einer Kümmerfigur am Rande des Zivilrechts“ vorzuwerfen.67 Eine „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“68 ist für einen akzessorischen Rechtsschutz durch Strafrecht der falsche Weg. Stattdessen müssen die Straftatbestände die ihnen zugrunde liegenden, vom Zivil- und öffentlichen Recht vorgegebenen Rechtsverhältnisse abbilden, auch wenn die Reichweite der (strafrechtlichen) Verhaltensnormen mit ihnen nicht deckungsgleich ist. Man müsste schon einen Mangel aufzeigen, der Haas bei seiner Begriffsbildung unterlaufen wäre – ungeachtet dessen, dass man seine Lehre aus anderen Gründen kritisieren kann.69
IV. Eine abschließende Bemerkung zur Begriffsjurisprudenz Die Begriffsjurisprudenz war ein bedeutender rechtsmethodischer Ansatz im vom römischen Rechtsdenken und einem stringenten Systemdenken geprägten 19. Jahrhundert. Heutzutage scheint ihr die gleiche Funktion zuzukommen wie dem „schwarzen Mann“ bei Kindern. Sie dient nur noch dazu, angehende Juristen zu erschrecken. Für ein Totschlagsargument aber war ihr Programm viel zu wichtig. Die für die Rechtsordnung angestrebte Geschlossenheit und Lückenlosigkeit ist das Ideal jeder Wissenschaft schlechthin, denn nur dadurch lässt sich Widerspruchsfreiheit gewährleisten. Auch war die Vorstellung einer Axiomatisierung der Rechtsordnung in dem Sinne, dass sich aus wenigen Begriffen und Grundsätzen alle Rechtssätze deduktiv ableiten lassen,70 keineswegs neu. Bereits Spinoza formuliert das 66
Haas (Fn. 6), S. 85. So Schünemann FS Roxin, 2011, S. 813. 68 So der Titel der zutiefst antiliberalen Schrift von Bruns aus dem Jahr 1938. 69 Etwa dass § 26 StGB diese Fälle der Anstiftung zuschlägt. Das portugiesische Recht ordnet beispielsweise in Art. 26 CCP die Anstiftung der Täterschaft zu; eingehend dazu Figueiredo Dias FS Frisch, 2013, S. 633 ff. – aber das ist lediglich ein positivistischer Einwand. 70 Vgl. Savigny Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 28: „Rechnen mit Begriffen“; Puchta Cursus der Institutionen, Bd. I, 3. Aufl. 1850, S. 37: „Product einer wissenschaftlichen Deduction“; Jhering Der Geist des römischen Rechts, Zweiter Theil, zweite Abtheilung, 2. Aufl. 1869, S. 340 ff. 67
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Programm eines „ius de more geometrico“71, einer Ethik nach euklidischem Vorbild. Die berechtigte Kritik an der zirkulären Inversionsmethode der Begriffsjurisprudenz braucht hier nicht wiederholt zu werden.72 Nun sind alle diese Versuche vor allem an der Unschärfe der Sprache und der Vielfalt der zu regelnden Sachverhalte gescheitert. Das Material potentieller Rechtsfälle ist schlicht unüberschaubar. Das alles ändert aber nichts daran, dass das Kernanliegen der Begriffsjurisprudenz berechtigt ist: Jede Rechtsordnung muss die Regeln der Logik beachten, sonst hört sie auf, eine Ordnung zu sein. Erst Begriffe können überhaupt die rechtliche Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte gewährleisten.73 Es ist kein Rückfall in die Steinzeit, sondern vielmehr eine Rückbesinnung auf gute Traditionen, Widerspruchsfreiheit bei der strafrechtlichen Begriffsbildung einzufordern. Die Diskussion der Tatherrschaftslehre hat sich also keineswegs erledigt. Es ist geradezu kennzeichnend für den wissenschaftlichen Diskurs, sich nicht mit dem Überkommenen zu begnügen, sondern ständig zu prüfen, „ob sich nicht doch was besseres findet“.
71
Spinoza Ethica Ordine Geometrico demonstrata, 1677; s. ferner die deduktive Systematik des Naturrechts eines Christian Wolff Institutiones juris naturae et gentium, 1750, „in quibus ex ipsa hominis natura continuo nexu omnes obligationes et jura omnia deducuntur“, wie es im Untertitel heißt. 72 Für eine abgewogenere Bewertung der Begriffsjurisprudenz s. Röhl/Röhl (Fn. 19), S. 67 ff. 73 Lege (Fn. 23), S. 496.
Pflichtdelikte und Tatherrschaft Claus Roxin I. Entstehung und Aufnahme der Lehre von den Pflichtdelikten In meiner Habilitationsschrift über „Täterschaft und Tatherrschaft“1 habe ich vor nunmehr 50 Jahren die Kategorie der „Pflichtdelikte“ in die strafrechtliche Diskussion eingeführt. Es geht dabei um die Bestimmung der Täterschaft. Sie wird nach meiner – und auch nach der herrschenden – Lehre in erster Linie durch die in dem genannten Buch umfassend ausgearbeitete „Tatherrschaft“ über das Geschehen begründet. In anderen Fällen beruht sie jedoch, wie ich damals ausgeführt habe, allein auf einem Verstoß gegen eine besondere Pflichtenstellung. So wird z.B. als Täter einer Untreue (§ 266 StGB) – unabhängig davon, wer die Tatherrschaft ausübt – nur bestraft, wer als Inhaber einer Vermögensfürsorgepflicht den Eigentümer des zu betreuenden Vermögens schädigt. Ebenso kann den Tatbestand der Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB) nur der als Täter verwirklichen, den eine Schweigepflicht trifft. Ich habe diese Lehre damals mit den Worten eingeführt,2 bei der täterschaftsbegründenden Pflicht handele es sich „um einen Gesichtspunkt, der von dem der Tatherrschaft zu trennen ist und der zu wesentlich anderen Abgrenzungen führt. Man könnte, um die in Frage kommenden Tatbestände in ihrer Bedeutung für die Täterlehre zusammenfassend zu kennzeichnen, von ‚Pflichtdelikten‘ sprechen. Die Tatbestände, bei denen sich Täterschaft und Teilnahme nicht durch besondere Pflichtenstellungen, sondern durch die Tatherrschaft voneinander abheben, könnte man demgegenüber als ‚Herrschaftsdelikte‘ kennzeichnen.“ Die Besonderheit der Pflichtdelikte liegt nach dieser Konzeption darin, dass man auch ohne jeden Anteil an der Tatherrschaft Täter eines Pflichtdelikts sein kann. Der Vermögensverwalter (Intraneus), der Bestandteile des von ihm zu betreuenden Vermögens durch einen Dritten (Extraneus) unter Schädigung des Eigentümers beiseiteschaffen lässt, ist (mittelbarer) Täter einer Untreue, obwohl ihm die Tatherrschaft fehlt. Dagegen ist der die Tat Ausführende nur Gehilfe, obwohl er die alleinige Tatherrschaft innehat. 1 2
Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963, 8. Aufl. 2006. Roxin (Fn. 1), 1.–8. Aufl., S. 354 f.
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Entsprechendes gilt für die Mittäterschaft. Wenn der Amtsträger bei einer Aussageerpressung (§ 343 StGB) die Misshandlung durch einen Nicht-Amtsträger durchführen lässt, ist der Extraneus nur Gehilfe, obwohl er im Ausführungsstadium einen wesentlichen Beitrag geleistet hat und deshalb Mitträger der Tatherrschaft ist. Zu den Pflichtdelikten gehören nach meiner Lehre auch die unechten Unterlassungstaten. Die Verletzung der Garantenpflicht allein macht den Unterlassenden zum Täter, auch wenn die Tat als solche von einem anderen ausgeführt wird. Der Vater, der gegen Misshandlungen, die seinem Kleinkind von Seiten eines Dritten zugefügt werden, nicht einschreitet, ist danach als Täter einer Körperverletzung und nicht nur wegen Beihilfe durch Unterlassen zu bestrafen. Die Lehre von den Pflichtdelikten hat also erhebliche praktische Bedeutung. Diese Bedeutung ist mit der Entwicklung des Wirtschafts- und Umweltstrafrechts in den letzten Jahrzehnten noch erheblich gewachsen. Denn gerade für Delikte in Unternehmen und Betrieben, bei denen den Vorgesetzten eine Sonderpflicht trifft, kann die mittelbare Täterschaft durch Inanspruchnahme eines qualifikationslosen dolosen Werkzeuges eine wichtige Rolle spielen. So wird man etwa in § 327 StGB (unerlaubtes Betreiben von Anlagen) den „Betreiber“ als Sonderpflichtigen ansehen müssen.3 Er ist dann mittelbarer Täter, wenn er den Angestellten eines Chemiewerks zu nicht genehmigten Luftverschmutzungen veranlasst. Die Pflichtdelikte ermöglichen also eine sachgerechte „Verteilung von Verantwortlichkeit für Rechtsgutsverletzungen, die aus „komplex organisierten Systemen heraus“4 entstanden sind. Die Konstruktion der Pflichtdelikte ist von der Rechtsprechung bisher nicht ausdrücklich, wenngleich bisweilen der Sache nach rezipiert und in der Literatur unterschiedlich, aber vielfach befürwortend aufgenommen worden. Gleichwohl ist sie in vielfältiger Hinsicht umstritten geblieben. So resümiert etwa Jakobs:5 „Die Deliktsgruppe der Pflichtdelikte wurde von Roxin entwickelt … Prinzip und Einzelheiten sind höchst streitig.“ Schünemann sagt:6 „In der Wissenschaft wird die Lehre von den Pflichtdelikten teilweise anerkannt, aber selten gründlich diskutiert.“ Und in meiner letzten Stellungnahme 7 heißt es, die Konzeption sei „bisher kaum auf grundsätzliche Ablehnung gestoßen, andererseits aber auch vielfach zögernd und nur punktuell rezipiert oder kritisiert worden“.
3
Wie Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von den Pflichtdelikten, 2004, S. 188 ff. im Einzelnen herausgearbeitet hat. 4 Witteck (Fn. 3), S. 114. Von ihm stammt auch das Beispiel des Textes. 5 Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21. Abschnitt Rn. 119. 6 Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 44 mit zahlreichen Belegen. 7 Roxin (Fn. 1), 8. Aufl. 2006, S. 739 f. mit ebenfalls umfangreichen Nachweisen.
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Immerhin hat die Kategorie der Pflichtdelikte zwei gründlich ausgearbeitete, untereinander schroff divergierende Abwandlungen durch Schünemann8 und Jakobs9 erfahren. Beide Autoren fußen zwar auf meiner Lehre, weichen aber in der Begründung, in der Terminologie und teilweise auch in den Ergebnissen von ihr ab. Auch sind in den letzten 15 Jahren vier Dissertationen über die Pflichtdelikte erschienen: von Sánchez-Vera 10, Chen11, Witteck 12 und Pariona 13, die sich auf beachtlichem Niveau, aber ebenfalls mit unterschiedlichen Ergebnissen um eine vertiefte Begründung der Lehre von den Pflichtdelikten bemüht haben. Dieser Diskussionsstand scheint es mir zu rechtfertigen, dass ich nach einem halben Jahrhundert auf meine frühe, auch von mir seither weiterentwickelte Konzeption noch einmal zurückkomme, zumal da Bernd Schünemann, der verehrte Jubilar, ein wichtiger Gesprächspartner bei diesem Bilanzierungsversuch ist. Ich werde mich dabei – auch wegen der Umfangsbegrenzungen, die einem Festschriftbeitrag gesetzt sind – im Wesentlichen auf eine Auseinandersetzung mit Schünemann und Jakobs beschränken, die meine Konzeption in eigenständiger Weise weiterentwickelt haben. Dagegen will ich in diesem Rahmen nicht näher auf die Autoren eingehen, die die Lehre von den Pflichtdelikten verwerfen oder dem Pflichtkriterium allenfalls neben der Tatherrschaft Bedeutung beimessen.14 Denn da nicht nur Schünemann und Jakobs, sondern auch alle genannten Dissertationen zu dem Ergebnis kommen, dass die Existenzberechtigung der Pflichtdelikte „als eigenständige Deliktsgruppe nicht länger bezweifelt werden kann“15, erscheint es als fruchtbarer, sich der nach wie vor ungeklärten Begründung dieser Lehre und ihren praktischen Folgerungen zuzuwenden. Dabei lasse ich die Frage der „besonderen persönlichen Merkmale“ (§ 28 StGB), die ein Spezialthema bildet, beiseite.16 8 Die letzte Fassung von Schünemanns Lehre findet sich in: LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 39–44, 51 f. Es gibt aber mehrere weitere Stellungnahmen Schünemanns zur Problematik. 9 Jakobs (Fn. 3), 21. Abschnitt Rn. 115–119; 29. Abschnitt Rn. 57 ff. Jakobs hat das Thema auch in mehreren Abhandlungen erörtert. 10 Sánchez-Vera Pflichtdelikt und Beteiligung. Zugleich ein Beitrag zur Einheitlichkeit der Zurechnung bei Tun und Unterlassen, 1999. 11 Chen Das Garantensonderdelikt. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der Unterlassungsdelikte und der Sonderdelikte, 2003. 12 Witteck (Fn. 3). 13 Pariona Täterschaft und Pflichtverletzung. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der Abgrenzung der Beteiligungsformen bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten, 2009. 14 Insoweit verweise ich auf mein Buch Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 739–757 sowie auf mein Lehrbuch Strafrecht AT, Bd. II, 2003, 106–113. 15 Witteck (Fn. 3), S. 143. 16 Ausführlich dazu Roxin AT II (Fn. 14), § 27, 232–264.
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II. Die von mir ursprünglich gelieferte Begründung Bei der Entwicklung meiner Konzeption hatte mich der Gedanke geleitet, dass die Täterschaft bei Pflichtdelikten auf der Verletzung einer in den Tatbestand integrierten, aber ihm logisch vorgelagerten außerstrafrechtlichen Pflicht beruhe. Dahinter standen zwei Überlegungen. Es ging mir einerseits darum, die täterschaftskonstituierende Pflicht von der Vermeidepflicht (also der Unterlassungs- oder Handlungspflicht) abzugrenzen, die jeder Strafrechtsnorm zugrunde liegt. Daher heißt es im Jahre 1963 in der ersten Auflage meines Tatherrschaftsbuches:17 „Es ist nicht die aus der Strafrechtsnorm entspringende Pflicht gemeint, deren Missachtung die im Tatbestand vorgesehene Sanktion auslöst. Diese Pflicht besteht bei jedem Delikt. Vor allem erstreckt sie sich auch auf nichtqualifizierte Anstifter und Gehilfen; denn wenn die Teilnehmer nicht als Normadressaten von der Verpflichtungswirkung erfasst würden, ließe sich ihre … Strafbarkeit nicht begründen … Vielmehr handelt es sich bei dem … über die Täterschaft entscheidenden Element um die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht, die sich nicht notwendig auf jeden Deliktsbeteiligten erstreckt, die aber für die Tatbestandserfüllung erforderlich ist. Dabei geht es allemal um Pflichten, die der Strafrechtsnorm logisch vorgelagert sind und die im Allgemeinen anderen Rechtsgebieten entspringen. Die … öffentlich-rechtlichen Beamtenpflichten, die standesrechtlichen Schweigegebote und die zivilrechtlichen Unterhalts- oder Treueverpflichtungen sind nur Beispiele dieser Art. Für sie alle ist charakteristisch, dass die Träger dieser Pflichten sich unter den sonstigen Mitwirkenden durch eine besondere Beziehung zum Unrechtsgehalt der Tat auszeichnen und dass der Gesetzgeber sie deshalb allein um dieser Verpflichtung willen als Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens und damit als Täter ansieht.“ Andererseits schien mir, als ich mich im Jahre 1970 zum zweiten Mal mit dem Thema beschäftigte,18 die Bezugnahme auf außerstrafrechtliche Pflichten auch zur Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernisses (Art. 103 Abs. 2 GG) notwendig: „Der nulla-poena-Satz wird … dadurch gewahrt, dass der Gesetzgeber sich auf Pflichten bezieht, die im außerstrafrechtlichen Bereich zwischen den Beteiligten festgelegt sind.“ Daneben habe ich auch versucht, die „besondere Beziehung zum Unrechtsgehalt der Tat“, die ich schon beim ersten Zugriff als für die Täterschaft bei Pflichtdelikten kennzeichnend hervorgehoben hatte, näher zu charakterisieren. Bei den Pflichtdelikten komme es nicht auf „die äußere Beschaffenheit des Täterverhaltens“ an, „weil der Grund der Sanktion darin
17 18
Roxin (Fn. 1), S. 354. Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, S. 17. Hier auch das weitere Zitat.
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liegt, daß jemand gegen die Leistungsanforderungen einer von ihm übernommenen sozialen Rolle verstößt“. Es seien19 „rechtlich schon durchgeformte Lebensbereiche (die Beziehungen zwischen Vermögensfürsorger und Auftraggeber, Aufseher und Gefangenen, Rechtsanwalt und Mandanten), deren Funktionsfähigkeit durch die Tatbestände geschützt werden soll; bei den Handlungsdelikten bricht der Täter in friedensstörender Weise von außen (z.B. durch Totschlag, Raub, Öffnung fremder Briefe, heimliche Tonbandaufnahmen usw.) in Bezirke ein, die er von Rechts wegen unangetastet zu lassen hätte“. Ich habe daraus nicht nur die schon anfangs geschilderten Folgerungen für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme gezogen, sondern auch die These abgeleitet, dass bei Pflichtdelikten die Abgrenzung von Tun und Unterlassen ihre Bedeutung verliert:20 „Ob der Aufseher, der einem Gefangenen zur Freiheit verhelfen will, pflichtwidrigerweise durch positives Tun die Tür zur Haftanstalt öffnet oder sie entgegen der Vorschrift zu schließen unterlässt, macht für den Tatbestand des § 346 StGB21 keinerlei Unterschied, ebenso wenig wie es eine Rolle spielt, ob der Anwalt den Parteiverrat durch aktive Machenschaften oder durch Unterlassen notwendiger Maßnahmen begeht.“ Entsprechendes lässt sich am Tatbestand der Untreue (§ 266 StGB) demonstrieren. Die vorstehend skizzierten Umrisse meiner Konzeption habe ich in den folgenden Jahrzehnten im Wesentlichen aufrechterhalten (auf einzelne Modifikationen gehe ich später ein). Wenn ich im Folgenden zunächst die Lehren von Schünemann und Jakobs in aller Kürze darstelle, so sei dem der bemerkenswerte Befund vorangestellt, dass Schünemann zwar den praktischen Ergebnissen meiner Auffassung in allen Punkten folgt, ihr aber eine abweichende Begründung unterlegt, während Jakobs entscheidende Thesen meiner Darstellung aufnimmt und ausbaut, aber in mehrfacher Hinsicht zu anderen Ergebnissen kommt.
III. Die „Garantensonderdelikte“ in der Lehre Schünemanns Während ich den Täter in einer Herrschafts- und Pflichtdelikte umfassenden Form als „Zentralgestalt“ des tatbestandsmäßigen Geschehens gekennzeichnet habe, will Schünemann 22 das einheitliche Grundprinzip der strafrechtlichen Täterschaft „etwas konkreter, als ‚Herrschaft über den Grund des
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Roxin (Fn. 18), S. 17 f. Roxin (Fn. 18), S. 18. Heute: § 120 Abs. 2 StGB. LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 39.
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Erfolges‘, charakterisieren“. Diese bestehe 23 bei Begehungsdelikten „in der besonderen Form der Herrschaft über die eigene (den Erfolg zurechenbar verursachende) Körperbewegung als Tatherrschaft i.e.S.“ und setze bei den unechten Unterlassungsdelikten, wenn der Erfolg dem Täter mit gleicher Berechtigung als sein Werk zugerechnet werden solle, ebenfalls „eine Erscheinungsform der Herrschaft über den Grund des Erfolges als allgemeiner Struktur der Täterschaft“ voraus. Die Täterschaft bei unechten Unterlassungsdelikten – also bei „Pflichtdelikten“ nach meiner Terminologie – könne in zwei Formen auftreten: 24 als „Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsguts(objekts) (mit den einzelnen Garantenstellungen der Lebensgemeinschaft, Gefahrengemeinschaft und Obhutsübernahme) und der Herrschaft über eine wesentliche Erfolgsursache (mit den einzelnen Garantenstellungen der Verkehrspflichten und der Herrschaft über gefährliche Personen oder Verrichtungen einschließlich der Geschäftsherrenhaftung). Dadurch werde die heute weithin anerkannte Zweiteilung der Garantenstellungen in Schutz- und Überwachungsgarantenstellungen „mit einer den Entstehungsgrund hervorhebenden Grundlage versehen“. Schünemann überträgt diese Konstruktion auf die Pflichtdelikte, indem er sagt: 25 „Dieselben Strukturen lassen sich auch bei den Sonderdelikten finden, bei denen nur eine regelmäßig durch ihren sozialen Status im Tatbestand bezeichnete Person … als Täter qualifiziert ist.“ Er nennt als Hauptbeispiele die echten Amtsdelikte (vor allem §§ 331 f., 336 ff.), ferner §§ 203, 266, 327. Seine Ansicht, dass nicht eine außerstrafrechtliche Pflicht, sondern die von ihm gekennzeichnete Herrschaftsbeziehung das Kriterium der Täterschaft bildet, demonstriert er am Beispiel des „Treueverhältnisses“ in § 266 StGB: „Weil die Täterqualifikation hier ausdrücklich nicht durch zivilrechtliche Rechtsverhältnisse, sondern auch durch ein „tatsächliches Treueverhältnis“ begründet wird, ging es dem Gesetzgeber des § 266 ersichtlich nicht um eine … Bestrafung der Verletzung zivilrechtlicher Pflichten, vielmehr soll der Treubruchstatbestand ganz allgemein die schädigende Ausübung der durch einen Vertrauensakt eingeräumten Obhutsstellung im Sinne einer Herrschaft über fremdes Vermögen pönalisieren, so dass also die Herrschaft und nicht deren zivilrechtliche Form für die strafrechtliche Täterstellung das entscheidende Kriterium darstellt.“ Ähnlich wie bei den Garantenstellungen der Unterlassungsdelikte die Ersetzung der Kategorie des Vertrages durch die tatsächliche Übernahme nahezu unstreitig sei, müsse deshalb „auch bei den Sonderdelikten das Täter-
23 24 25
LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 40. LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 41. LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 42; hier auch die folgenden Zitate.
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kriterium nicht auf der Verletzung einer formellen außerstrafrechtlichen Rechtspflicht, sondern in einer mit der Tatherrschaft bei Begehungsdelikten typologisch vergleichbaren Herrschaftsbeziehung über das Geschehen gesucht werden“. Schünemann spricht daher nicht von „Pflichtdelikten“, sondern von „Garantensonderdelikten“ 26 und bezeichnet 27 seine Lehre „als Materialisierung des von Roxin begründeten Verständnisses der Sonderdelikte als Pflichtdelikte“. Meine aus der Lehre von den Pflichtdelikten abgeleiteten Folgerungen für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme erwiesen sich jedoch28 „auch in der Doktrin der Garantensonderdelikte als zutreffend und erfahren hierin eine verstärkte Untermauerung. Das gilt insbesondere durch den Nachweis der Verwandtschaft zu den unechten Unterlassungsdelikten, weil dadurch sowohl die Begehung durch Unterlassen seitens des intraneus als auch die analoge Anwendung des § 13 Abs. 2 über die fakultative Strafmilderung ohne Weiteres plausibel gemacht wird.“
IV. Die Pflichtdelikte in der Lehre von Jakobs Jakobs unterscheidet zwischen Herrschafts- und Pflichtdelikten nach der Art des dem Täter vorgeworfenen Verhaltens. Die „von jedermann begehbaren Erfolgsdelikte bei Begehung durch einen Jedermann“29 werden durch das Täterkriterium der Tatherrschaft charakterisiert. Hier geht es also um die bloße Schädigung anderer, d.h., wie Jakobs sich ausdrückt, darum, dass jemand „mit dem tatherrschaftlichen Verhalten seinen Organisationskreis zu Lasten des vom Delikt Betroffenen gestaltet“. „Es gibt jedoch auch Delikte“, fährt Jakobs 30 dann fort, „bei denen bestimmte Personen überhaupt für den Bestand eines Gutes einzustehen haben und nicht nur dafür, dass der eigene Organisationskreis nicht schädigend tangiert (Pflichtdelikte). In diesen Fällen sei die Beziehung des Beteiligten zum Gut „stets täterschaftlich“. Er sei „mindestens Unterlassungstäter und bei auch nur beiläufigem Beitrag durch Tun Täter per Begehung“; die Differenzierung „Begehung – Unterlassung“ verliere „also ihren Sinn“31.
26 Dieser Begriff bildet denn auch den Titel der Dissertation seines Schülers Chen (Fn. 11), in der die Lehre Schünemanns weiter ausgearbeitet wird. 27 LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 43. 28 LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 44. 29 Jakobs (Fn. 5), 21. Abschnitt Rn. 115; hier auch das folgende Zitat. 30 Jakobs (Fn. 5), 21. Abschnitt Rn. 116; hier auch das folgende Zitat. 31 Einlässliche Darstellung auch bei Jakobs Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1996.
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Jakobs will aber nur eine bestimmte Gruppe von tatbestandlichen Pflichtenstellungen für die Annahme eines Pflichtdelikts ausreichen lassen: „Zu den Pflichtdelikten zählen alle Delikte, deren Täter als Garanten zu institutionell abgesicherter Fürsorge für ein Gut verpflichtet sind.“ Er verdeutlicht das nur durch ein einziges Beispiel: „Der Vormund, der einer dritten Person den erfolgreichen Rat gibt, wie das anvertraute Mündelvermögen durch die dritte Person entzogen werden kann, ist Täter der Untreue, auch wenn ihm bei der Entziehung die Tatherrschaft fehlt.“ Im Übrigen verweist er auf die im Rahmen der Unterlassungsdelikte behandelten „Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit“32, zu denen er das Eltern-Kind-Verhältnis (und „Ersatzverhältnisse“ wie Adoption und Vormundschaft), die Ehe, besondere Vertrauensbeziehungen und genuin staatliche Pflichten zählt. Es handelt sich also bei diesen institutionellen Pflichten um einen Teil der Beziehungen, die man allgemein als Schutzgarantenstellungen bezeichnet und bei denen Schünemann von einer Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsgutsobjekts spricht. Freilich gilt dies nur, soweit die Verpflichtung auf einer institutionellen Bindung beruht. In diesen Fällen ist für Jakobs jeder Beteiligte „ohne akzessorische Vermittlung“33 Täter, so dass er die Pflichtdelikte genauer als „Delikte mit akzessorietätsüberspringender Pflicht“34 bezeichnen will. Dagegen sind Überwachungsgarantenstellungen (in seiner Terminologie: Garantenstellungen kraft Organisationszuständigkeit) für Jakobs Herrschaftsdelikte und folgen bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme den für diese geltenden Regeln. Obwohl nicht selten darauf hingewiesen wird, dass sich viele meiner Begründungselemente bei Jakobs wiederfinden,35 weist seine Lehre gegenüber der von mir entwickelten Position doch bemerkenswerte Unterschiede auf. Das gilt vor allem in vier Punkten.36 Erstens dehnt Jakobs die Kategorie der Pflichtdelikte auf Jedermanndelikte (wie §§ 212, 211 StGB) aus, wenn sie durch Garanten begangen werden:37 „Die Tötung ihres minderjährigen Kindes ist für die Eltern Pflichtdelikt, so dass ohne Blick auf das Ob und das Maß der Beteiligung stets Täterschaft vorliegt.“ Am praktischen Beispiel:38 „Der Ehemann, der das Mittel zur Tötung seiner Frau hingibt, ist Täter.“ Zweitens schränkt Jakobs aber den Kreis der Pflichtdelikte dadurch ein, dass er sie auf den Bereich der von ihm sog. institutionellen Zuständigkeiten
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Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 57 ff. Jakobs (Fn. 5), 21. Abschnitt Rn. 116. Jakobs (Fn. 5), 21. Abschnitt Rn. 119. Vgl. etwa Sánchez-Vera (Fn. 10), S. 33; Witteck (Fn. 3), S. 163. Dazu auch Sánchez-Vera (Fn. 10), S. 34 ff. Jakobs (Fn. 5), 21. Abschnitt Rn. 118. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 106.
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beschränkt. Pflichten aus Organisationszuständigkeit (etwa Verkehrssicherungspflichten) führen im Falle ihrer Verletzung nach seiner Lehre also nicht ohne Weiteres zur Täterschaft:39 „Wer nur dafür Garant ist, dass gefährliche Gegenstände unverfügbar gehalten oder gefährdete Objekte gesichert werden …, wird in der Regel nur Gehilfe sein.“ Drittens will Jakobs 40 auch solche Delikte nicht als Pflichtdelikte anerkennen, bei denen eine Beschränkung des Täterkreises allein deshalb erfolge, weil nur dem Täter „tatbestandsmäßiges Handeln überhaupt oder in praktisch relevanter Weise möglich“ sei, oder weil eine Person „als einzige … ein Gut in besonders leichter oder praktisch relevanter Art und Weise angreifen“ kann. Dazu zählt er Tatbestände wie die Vereitelung der Zwangsvollstreckung (§ 288 StGB) oder die Unfallflucht (§ 142 StGB). Viertens schließlich ist für Jakobs die Pflichtverletzung der Strafgrund der Pflichtdelikte, während nach meiner Auffassung die Pflichtverletzung nur die Täterschaft bestimmt, der Strafgrund aber in der Rechtsgutsverletzung liegt. Die „Gleichsetzung … von Straftat und Rechtsgüterverletzung“ versagt nach Jakobs 41 „hauptsächlich … bei Delikten mit einer Sonderpflicht aus institutioneller Zuständigkeit“.
V. Zu Schünemanns Lehre von den Garantensonderdelikten 1. Anzuerkennende Grundthesen Schünemann verdient, soweit er die von mir gelieferte Charakterisierung der Pflichtdelikte kritisiert, zunächst einmal darin Zustimmung, dass die täterschaftsbegründende Pflicht sich nicht allemal auf außerstrafrechtliche Regeln zurückführen lässt. Das zeigt nicht nur der Hinweis auf das in § 266 StGB in Bezug genommene „Treueverhältnis“, sondern auch der Umstand, dass namentlich bei den Obhutsgarantenstellungen heute nicht mehr, wie man es früher tat, auf einen zivilrechtlichen Vertrag, sondern auf die tatsächliche Übernahme einer Schutzfunktion abgestellt wird; diese führt zur Täterschaft, auch wenn gar kein Vertrag existiert oder dieser nichtig ist.42 Ich spreche deshalb in meinen neueren Publikationen43 nur noch davon, dass „die Verletzung einer tatbestandsspezifischen Sonderpflicht die Täterschaft begründet“.
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Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 102. Jakobs (Fn. 5), 23. Abschnitt Rn. 24. 41 Jakobs (Fn. 5), 2. Abschnitt Rn. 16. 42 Gegen die Herleitung der Pflichtdelikte aus außerstrafrechtlichen Pflichten auch mein Schüler Pariona (Fn. 13), S. 81 ff.; ders. FS Roxin, 2011, S. 853 ff. 43 Vgl. nur Roxin (Fn. 1), 8. Aufl. 2006, S. 739. 40
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Freilich bleibt bestehen, dass der Gesetzgeber sich oft auch auf „durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft“, eingeräumte Befugnisse (§ 266 StGB), auf zivil- oder vollstreckungsrechtliche Belange (§§ 142, 177, 288 StGB), auf verwaltungsrechtliche Gegebenheiten (§ 327: „ohne die erforderliche Genehmigung oder entgegen einer vollziehbaren Untersagung“) oder amtliche Verpflichtungen (§§ 331 ff.) bezieht und auf diese Weise die täterschaftsbegründenden Pflichten konkretisiert. Recht zu geben ist Schünemann 44 sodann auch darin, dass es „nicht auf die Pflicht als solche“ ankommt, „sondern auf die pflichterzeugende soziale Struktur“. Jedenfalls lässt sich die Pflicht nur in Verbindung mit der sozialen Grundlage erklären, aus der sie erwächst. Das ist derselbe Gesichtspunkt, auf den sich meine schon erwähnte These bezieht, dass es bei Pflichtdelikten darum gehe, die Funktionsfähigkeit rechtlich schon durchgeformter Lebensbereiche zu sichern. In dieselbe Richtung zielt Jakobs‘ Bezugnahme auf eine institutionell abgesicherte Fürsorge, die durch die Pflichtdelikte gewährleistet werden solle. Es gibt also zwischen den drei hier behandelten Konzeptionen durchaus auch Ähnlichkeiten in der Begründung. Man muss Schünemann auch gegen den Vorwurf verteidigen, der daraus abgeleitet wird, dass die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ etwas anderes sei als die Tatherrschaft bei den Begehungsdelikten. So sagt etwa Witteck: 45 „Diese verschiedenartige Interpretation des Begriffs der Herrschaft erscheint weniger als eine noch vom Wortlaut gedeckte Auslegung eines Begriffs, sondern vielmehr als eine über diesen hinausgehende Form der Analogie.“ Diese Kritik berücksichtigt nicht, dass Schünemann selbst 46 nur von einer „mit der Täterschaft bei Begehungsdelikten typologisch vergleichbaren Herrschaftsbeziehung über das Geschehen“ spricht und selbst betont,47 die Anwendung des Herrschaftsgedankens auf Sonderdelikte erfolge „selbstverständlich nicht in einer mit dem Tatherrschaftsbegriff bei den Begehungsdelikten identischen Weise“. Die bloße Ähnlichkeit mit der von Schünemann sog. Tatherrschaft im engeren Sinne ist also in dessen Konzeption schon berücksichtigt. 2. Zur Verteidigung des Pflichtkriteriums Wenn ich trotzdem den eingeführten Begriff der Pflichtdelikte (anstelle der Bezeichnung als Garantensonderdelikte) beibehalten möchte, so leiten mich dabei verschiedene Überlegungen.
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LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 44. Witteck (Fn. 3), S. 139. LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 42. LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 16.
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a) Die Problematik der einseitigen Bindung an unechte Unterlassungen Erstens erscheint mir die enge Verknüpfung der Pflichtdelikte mit den begehungsgleichen Unterlassungen, in der Schünemann 48 sogar eine „verstärkte Untermauerung“ dieser Deliktsgruppe sieht, der Eigenart der Pflichtdelikte nicht immer gerecht zu werden. Die Parallele trifft natürlich zu, wo die Pflichtverletzung in einer Unterlassung besteht, weshalb die Rechtsprechung denn auch hier mit Recht eine fakultative Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB gewährt.49 Wenn aber z.B. ein Beamter Vorteile annimmt (§ 331 StGB) oder sich bestechen lässt (§ 332 StGB) oder wenn ein Soldat Fahnenflucht begeht (§ 16 WStG), kann man das schwerlich als mangelnde Beaufsichtigung einer vom Täter beherrschten Gefahrenquelle oder als Herrschaft über die Hilflosigkeit eines Rechtsgutsobjekts deuten. Es handelt sich vielmehr um normale Begehungsdelikte, bei denen aber die Täterschaft auf Menschen beschränkt ist, die in der Pflichtbindung als Beamter oder Soldat stehen. Hinzu kommt: Die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten hat einen guten Sinn, weil § 13 Abs. 1 StGB die Gleichstellung an ein Entsprechungsverhältnis bindet. Der Begriff der „Kontrollherrschaft“ ist für diese Aufgabe recht gut geeignet,50 auch wenn, wie ich zeigen will, der Gedanke der Pflicht daneben selbst bei Unterlassungen seine eigenständige Bedeutung behält. Aber bei den Pflichtdelikten geht es gerade nicht um Ähnlichkeiten mit den Herrschaftsdelikten, sondern um eine deutliche Unterscheidung,51 wie sie sich in den völlig abweichenden Regeln für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ausdrückt. Das die Unterschiede der Täterqualifikation bei Herrschafts- und Pflichtdelikten überwölbende gemeinsame Kriterium wird deshalb besser als durch die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ durch den von mir gewählten Begriff der „Zentralgestalt“ charakterisiert, der die Einheit der Täterschaft, aber auch die Verschiedenheit ihrer Erscheinungsformen hervortreten lässt. b) Die konkretisierende Funktion des Pflichtbegriffes Ich möchte auf den Begriff der Pflichtdelikte auch deshalb nicht gern verzichten, weil bei dieser Deliktsgruppe der Täter selbst dort, wo er den Kontrollanforderungen einer Gefahrenquelle oder einer Schutzbeziehung nicht hinreichend gerecht geworden ist, seine Täterstellung doch nur der Verletzung einer aus der Kontrollherrschaft erwachsenen spezielle Pflicht ver48
LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 44. BGHSt 36, 227. 50 Weshalb ich in meinem Lehrbuch (Fn. 14), § 32 Rn. 17 ff. Schünemann auch insoweit zugestimmt habe. 51 Das habe ich in meinem Lehrbuch (Fn. 14), § 32 Rn. 20 nicht ausreichend beachtet. 49
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dankt. Die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ ist nicht selbst das täterbegründende Merkmal, sondern nur eine Voraussetzung der Tatbestandsverwirklichung, die ihrerseits in einer Verletzung der aus der Kontrollherrschaft hervorgehenden Pflichten besteht. Das bedarf deshalb der Hervorhebung, weil das Herrschaftsprinzip als solches zu vage ist, um eine Zurechnung tatbestandlicher Erfolge zu ermöglichen. Wenn etwa in einem Handwerksbetrieb ein Mitarbeiter zu Schaden kommt, ist der Inhaber nicht schon deswegen einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig, weil er die Kontrolle über den Betrieb hatte. Er muss vielmehr eine dadurch begründete ganz konkrete Pflicht, etwa zur Instandhaltung der Maschinen, zur Treppeneinrichtung oder zur Gewährleistung vorschriftsmäßiger Brandschutzanlagen, verletzt haben. Das macht das Merkmal der Kontrollherrschaft nicht überflüssig, rückt es aber doch aus dem Zentrum der Täterschaftsbegründung. Die konkretisierende Funktion der Pflicht wird auch noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Denn es ist ja nicht so, dass jeder, der in einem Betrieb faktische Kontrollmöglichkeiten hat, deshalb für alle Schäden strafrechtlich verantwortlich ist, die aus Mängeln dieses Bereichs entstehen. Er muss vielmehr für die Überwachung und Beseitigung der Mängel zuständig sein, um als Täter für daraus entstehende Tatbestandsverwirklichungen verantwortlich zu sein. Auch Schünemann sagt 52 beispielsweise, „dass der Amtsträger aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Staatsmacht eine qualifizierte Kontrolle über das Geschehen im Rahmen seiner Zuständigkeit ausübt und deshalb selbst einer strengeren strafrechtlichen Kontrolle unterliegt“. Die hier in Bezug genommene „Zuständigkeit“ aber ist eine Pflichtzuweisung, auf die für die Begründung der Täterschaft nicht verzichtet werden kann. c) Selbständige Elemente der Pflicht im Verhältnis zur Kontrollherrschaft Das Prinzip der Pflichtenstellung hat außerdem, so wenig es von seinen sozialen Grundlagen gelöst werden darf, doch eine gegenüber der tatsächlich ausgeübten Herrschaft selbständige Bedeutung. So fragt etwa Maiwald:53 „Wie steht es mit dem Einbrecher, der, während die Eltern im Kino sind, in die Wohnung eindringt und faktisch die schlafenden Kinder ‚beherrscht‘: Rückt er zu ihren Gunsten in eine Garantenstellung ein? Ist er beispielsweise (über § 323c hinaus) verpflichtet, wenn er im Kinderzimmer ausströmendes Gas bemerkt, den Gashahn abzudrehen?“ Dieser Einbrecher ist, wenn er untätig bleibt, sicher nicht als Garant verantwortlich, woraus sich ergibt, dass die aus der Eltern-Kind-Beziehung resultierenden Pflichten zwar in einer 52 53
LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 42. Maiwald JuS 1981, 473, 486.
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tatsächlichen Kontrollherrschaft wurzeln, sich aber darin nicht erschöpfen, sondern eine darüber hinausgehende normative Dimension haben. Das zeigt sich auch daran, dass man schwerlich die Meinung vertreten kann, man könne sich einer täterschaftsbegründenden Pflicht dadurch entziehen, dass man die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ aufgibt. Wenn eine Mutter sich auf eine Weltreise begibt und ihren Säugling allein im verschlossenen Haus zurücklässt, ist sie, wenn das Kinder verhungert, wegen eines Totschlags durch Unterlassung zur Verantwortung zu ziehen, obwohl sie eine Kontrollherrschaft über das Kind nicht mehr besaß. Die Pflicht überdauert also das tatsächliche Obhutsverhältnis. Ein „Aussteigen“54 aus einer einmal übernommenen Pflichtenposition ist vielmehr nur nach den dafür vorgesehenen Regeln (etwa bei der vereinbarungsgemäß festgesetzten Beendigung des Obhutsverhältnisses oder beim Ausscheiden aus dem zu überwachenden Betrieb) möglich. Zulässig ist dagegen die Delegation von Pflichten, etwa der Kinderbeaufsichtigung an einen Babysitter oder an eine Kindertagesstätte. Freilich bleibt auch in diesen Fällen die subsidiäre Aufsichtspflicht der ursprünglich zuständigen Personen erhalten. Wenn also der Babysitter den abwesenden Eltern einen Unfall des Kleinkindes meldet, müssen sie die notwendigen Maßnahmen ergreifen und in der Regel zurückkehren. Sie müssen auch intervenieren, wenn sie erfahren, dass ihr Kind in der Tagesstätte misshandelt wird. Das alles lässt sich strafrechtlich nur mit Hilfe eines differenzierenden Pflichtbegriffs und nicht durch Rückgriff auf die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ erfassen. Entsprechendes gilt für den in der Literatur diskutierten Fall, dass die Eltern ins Kino gehen, während die Kinder allein im Hause bleiben. Schünemann55 hält hier „Abgrenzungsdetails“ für erörterungsbedürftig und bejaht eine, wenngleich reduzierte „faktische Obhutsherrschaft der Eltern“, die sich aus dem Besitz des Wohnungsschlüssels sowie der Kenntnis der Gefahrenquellen der Wohnung und des Aufenthaltes der Kinder ergebe. Aber das alles nützt ja nichts, wenn die Kinder während des Kinobesuchs hilfsbedürftig werden. Entscheidend für eine etwaige Unterlassungstäterschaft der Eltern muss deshalb sein, dass ihre Aufsichtspflicht weiterbesteht und dass sie dieser Pflicht gerecht werden müssen, indem sie etwa Hausbewohner bitten, von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen, oder dass sie – bei größeren Kindern – per Handy erreichbar sind, wenn etwas Ungewöhnliches vorfällt.56 Die
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Näher dazu Sánchez-Vera (Fn. 10), S. 142 ff. Schünemann in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 49, 78 mit Anm. 130. 56 Zur Diskussion des Falles vgl. auch Maiwald (Fn. 53), 480; Witteck (Fn. 3), S. 140. 55
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Erfüllung dieser Pflichten entlastet, während ihre Vernachlässigung eine strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann. Ein Streit um die Grenzen der „Herrschaft“ führt hier nicht weiter. 3. Eigener Versuch einer Umschreibung der Pflichtdelikte Ich möchte deshalb meine ursprüngliche Kennzeichnung der Pflichtdelikte in einer Weise weiterentwickeln, die auf eine Inbezugnahme außerstrafrechtlicher Regeln als einer notwendigen Voraussetzung verzichtet und ihre von Schünemann mit Recht betonte soziale Grundierung hervorhebt, den Gedanken der Sonderpflichtverletzung aber in seiner täterschaftsbegründenden Bedeutung beibehält. Man könnte dann etwa sagen: Pflichtdelikte sind Straftatbestände, bei denen die Täterschaft dadurch gekennzeichnet wird, dass jemand die ihm aus seiner sozialen Rolle erwachsende Pflicht missbraucht oder vernachlässigt und auf diese Weise eine tatbestandsmäßige Rechtsgüterverletzung herbeiführt. Durch das Kriterium des Verstoßes gegen die Anforderungen einer sozialen Rolle, das ich schon im Jahre 1970 als für die Pflichtdelikte charakteristisch hervorgehoben hatte,57 soll ein Merkmal der Pflichtdelikte gekennzeichnet werden, das für sie und ihre Abgrenzung von den Herrschaftsdelikten auch nach der Auffassung Schünemanns wesentlich ist: dass nämlich der Täter gegen eine schon vor der Tat bestehende, über die jedermann treffende Deliktsvermeidungspflicht hinausgehende rechtlich-soziale Beziehungsanforderung verstoßen haben muss. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich viele Anregungen Schünemanns gerne aufnehme, die Konzeption der Pflichtdelikte aber in der geschilderten modifizierten Form aufrechterhalte. Da wir in den Ergebnissen weitgehend einig sind, geht es nur um – praktisch freilich nicht ganz bedeutungslose – Begründungsvarianten, die weiterer Diskussion bedürfen.
VI. Zu Jakobs’ Lehre von den Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit 1. Der Begriff der Institution als Grundlage der Pflichtdelikte Jakobs sieht die Pflichtdelikte wie oben (IV.) schon dargestellt, als Fälle „institutioneller Zuständigkeit“ an. Dabei wird, wie er sagt,58 „Institution … im sozialwissenschaftlichen Sinn als dauerhafte und rechtlich anerkannte Beziehungsform einer Gesellschaft verstanden, die der Disposition des ein57 58
Roxin (Fn. 18), S. 17 f. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 57.
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zelnen Menschen entzogen ist“. „Dabei können Pflichten aus einer solchen Institution nur begehungsgleich sein, wenn die Institution für den gesellschaftlichen Bestand von demselben elementaren Gewicht ist“ wie die Folgenverantwortung bei Organisationsdelikten. Die von ihm für hinreichend wichtig gehaltenen Institutionen sind schon genannt worden. Sánchez-Vera 59 hat darauf hingewiesen, dass meine Zuordnung der Pflichtdelikte zu „rechtlich schon durchgeformten Lebensbereichen“ der Institutionenlehre von Jakobs „im Ansatz“ entspreche. Auch Witteck 60 sagt, Institutionen der von Jakobs bezeichneten Art ließen sich in den von mir in Bezug genommenen rechtlich schon „durchgeformten Lebensbereichen finden“. Diese Ähnlichkeiten lassen sich nicht leugnen. Abgesehen davon aber, dass ich auch bei der Zuständigkeit für die Überwachung von Gefahrenquellen – anders als Jakobs – von Pflichtdelikten spreche, scheint mir der Begriff der Institution doch als zu starr und angesichts seiner Beschränkung auf staatswichtige, der individuellen Disposition entzogene dauerhafte Verbindungen auch als zu eng, um alle sozialen Beziehungen erfassen zu können, die ggf. Grundlage von Pflichtdelikten sind. Insbesondere will mir nicht recht einleuchten, dass das „besondere Vertrauen“, dessen Verletzung Jakobs ggf. als Pflichtdelikt beurteilt,61 eine „Institution“ in dem von ihm benannten Sinne begründen soll. Dass ein solches Vertrauen, wie Jakobs 62 meint, „im venire contra factum proprium eine stabile rechtliche Wurzel hat“, macht es noch nicht zu einer Institution. Wieso entsteht beispielsweise durch die „Aufnahme pflegebedürftiger Personen zur Pflege in den eigenen Haushalt“ oder die „Führung fremder Geschäfte (als Arbeiter, Beamter etc.)“63 oder durch eine „Gefahrengemeinschaft“ bei riskanten Unternehmen64 eine „Institution“ mit der Wirkung, dass ein Verstoß gegen ihre Regeln ein Pflichtdelikt begründet? Es handelt sich doch hier nicht, wie Jakobs es verlangt, um dauerhafte, für den gesellschaftlichen Bestand wesentliche und der individuellen Disposition entzogene Beziehungsformen! Eine ähnliche Kritik übt Schünemann,65 wenn er sagt, „besonderes Vertrauen“ sei „keine konkrete gesellschaftliche Institution, sondern ein Teilaspekt unterschiedlichster sozialer Interaktionen“. Nicht folgen kann ich Jakobs auch darin, dass er die institutionelle Zuständigkeit von ihrem sozialen Fundament ablöst. So sagt er über die aus der Ehe entspringenden Pflichten:66 „Die Pflichten sind nicht daran gebunden, dass 59 60 61 62 63 64 65 66
Sánchez Vera (Fn. 10), S. 33, 85. Witteck (Fn. 3), S. 147. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 67 ff. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 58. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 70. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 71. Schünemann (Fn. 55), S. 61. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 64.
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eine eheliche Lebensgemeinschaft praktiziert wird; denn die Gemeinschaft soll praktiziert werden, und das genügt rechtlich.“ Wenn aber die Eheleute, ohne geschieden zu sein, getrennt und entfernt voneinander leben, kann eine persönliche Fürsorgebeziehung mit den daraus entspringenden Pflichten von den tatsächlichen Voraussetzungen her nicht existieren (die Unterhaltspflicht steht auf einem anderen Blatt und ist in § 170 StGB gesondert geregelt). Andererseits ist es ebenso wenig billigenswert, wenn Jakobs 67 die „Begehungsgleichheit der Garantenstellung aus Ehe zweifelhaft“ findet, seitdem die Ehescheidung erleichtert „und in der Hauptsache zur formalisierten Kündigung geworden ist“. Denn an der „gemeinsamen Weltgestaltung“, die Jakobs 68 mit anspruchsvollem Vokabular als Voraussetzung institutioneller Pflichtenbindung beschreibt, ändert sich bei einer intakten Ehe nicht das Geringste durch gesetzliche Scheidungsformalitäten, die für die gelebte Gemeinschaft gleichgültig sind. Schon das in solchen Fällen fraglos vorliegende „besondere Vertrauen“ müsste doch eine täterschaftsbegründende Pflichtenstellung gewährleisten! Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass der von mir verwendete Begriff der „sozialen Rolle“ und der Verstoß gegen die daraus erwachsenden Pflichten besser als der Begriff der Institution geeignet sind, sämtliche Fälle einer die Täterschaft konstituierenden Pflichtenstellung zu erfassen. 2. Die zutreffende Anwendung der Pflichtdeliktsregeln auf aktives Handeln von Garanten bei Jedermanndelikten Einen Erkenntnisfortschritt sehe ich darin, dass Jakobs die Möglichkeit eines täterschaftlichen Begehungs-Pflichtdeliktes auch dann bejaht, wenn das Delikt von jedermann begangen werden kann, eine Täterschaft also auch ohne Sonderpflicht möglich ist. Wird ein Kind oder eine Ehefrau getötet, ist der Vater bzw. Ehemann also auch dann Täter (und nicht bloß Gehilfe), wenn er nur einen geringfügigen, nicht herrschaftsbegründenden aktiven Tatbeitrag leistet. Sánchez-Vera 69 und Witteck 70 haben das im Anschluss an Jakobs eingehend begründet. Wenn schon das bloße Unterlassen eines Sonderpflichtigen die Täterschaft begründet, was heute auch von der Rechtsprechung in zunehmendem Maße anerkannt wird,71 dann kann ein über das Unterlassen hinausgehendes aktives Handeln, auch wenn es ohne Tatherrschaft erfolgt, nicht als
67
Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 58 Anm. 117. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 58. 69 Sánchez-Vera (Fn. 10), S. 149–158, 159. 70 Witteck (Fn. 3), S. 153–158. 71 Siehe BGHSt 41, 113 ff. für den Fall eines Vaters, der gegen Kindesmisshandlungen durch die Mutter nicht einschreitet. 68
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bloße Beihilfe beurteilt werden. Um eine solche handelt es sich zwar unter dem Gesichtspunkt der Tatherrschaft. Aber die täterschaftsbegründende Pflichtenstellung umfasst nach dem Grundprinzip der Pflichtdelikte alle Formen der Mitwirkung. Chen 72 meint, eine solche Annahme verstoße gegen das Analogieverbot. „Denn die Möglichkeit unmittelbarer Begehungstäterschaft … ist angesichts der explizit zur Täterschaft erhobenen Fälle der Teilnahme etwa bei der Körperverletzung im Amt gemäß § 340 oder der Untreue gemäß § 266 als unbestrittene Fälle der Pflichtdelikte … e contrario ausgeschlossen.“ Aber solche Bestimmungen legitimieren keinen Umkehrschluss, sondern lassen „auf das allgemeine Prinzip der Pflichtdelikte schließen“, das auch dort gilt, wo, wie etwa in § 343 StGB, „der Tatbestand nicht alle Tatbeiträge expressis verbis gleichstellt“73, oder wo, wie bei Jedermanndelikten, dies gar nicht möglich ist. Freilich ist die praktische Bedeutung der Annahme einer Begehungstäterschaft in solchen Fällen nicht besonders groß. Denn wenn man den aktiven Tatbeitrag nur als Beihilfe beurteilen würde, bliebe doch im Regelfall eine Täterschaft durch Unterlassen übrig. Da von der Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 StGB bei einer über das Unterlassen hinausgehenden Mitwirkung kaum Gebrauch gemacht werden würde, würden sich im Strafmaß wohl keine Unterschiede ergeben. Freilich kann ein Unterlassungsversuch auch nach der hier im Anschluss an Jakobs vertretenen Meinung selbständige Bedeutung gewinnen, wenn der aktive Beitrag nicht bis in Versuchsstadium gelangt. 3. Kritik des Ausschlusses der Pflichten kraft Organisationszuständigkeit aus dem Bereich der Pflichtdelikte Nicht zustimmen kann ich Jakobs bei der Reduzierung der Pflichtdelikte auf Fälle der institutionellen Zuständigkeit unter Ausschluss der Pflichten kraft Organisationszuständigkeit, also der Überwachungsgarantenstellungen im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs. Er will überwachungspflichtige Garanten, die eine Begehungstat durch das Nichtverschließen von Türen oder die mangelnde Behütung von Kindern vorsätzlich geschehen lassen, „in der Regel“ nur als Gehilfen bestrafen, „da die Tatgestalt durch … das Fehlen der Sicherung nicht im gleichen Maße bestimmt wird wie durch die Haupttat“74. Auch wer „Garant dafür ist, dass ein bestimmtes Gift nicht frei verfügbar ist“, wird nach Jakobs, wenn er es einem Totschläger durch Unterlassen
72 73 74
Chen (Fn. 11), S. 61. Roxin AT II (Fn. 14), § 25 Rn. 285. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 102.
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überlässt („Nicht-Sichern, Nicht-Revozieren“) in der Regel nur als Gehilfe bestraft.75 Im selben Sinne will auch Sánchez-Vera 76 einen Sprengmeister, der absichtlich nicht eingreift, „als er bemerkt, dass ein Terrorist T Sprengstoff aus der Pulverkammer entwendet, um ein Attentat zu verüben“, nur wegen Beihilfe durch Unterlassen bestrafen. Ebenso soll im Hingeben von Gift oder Sprengstoff durch die Garanten nur eine Beihilfe liegen. Jakobs 77 relativiert diese Einschränkung der Täterschaft aber auch wieder, „wenn mehrere Haftungsgründe zusammenkommen … Wer zu einer Körperverletzung ein Tatmittel hingibt, zu dem die ihm unabhängig davon obliegende Sicherung des Tatobjekts und die ihm wiederum unabhängig von den vorgenannten Haftungsgründen obliegende Alarmierung von Hilfe unterlässt, ist in der Regel Mittäter. Mittäter sind deshalb auch die Eltern an den geduldeten Straftaten der ihrer Sorge unterstehenden minderjährigen Kinder. Sie sind Garanten für das Ausbleiben deliktischer Entschlüsse ihrer Kinder wie für das Ausbleiben von Taten jeder Gestalt.“ Eine solche Zweiteilung der unechten Unterlassungsdelikte in Fällen institutioneller und organisatorischer Zuständigkeit, von denen die ersten als Pflicht- und die letztgenannten als Herrschaftsdelikte zu beurteilen sind, ist aber schwer plausibel zu machen. Ich nenne nur drei Punkte, die eine solche Unterscheidung in Frage stellen. a) Die gesetzliche Gleichwertigkeit aller Einstandspflichten Zunächst kennt der Gesetzgeber für alle Formen der unechten Unterlassung gemäß § 13 Abs. 1 StGB nur eine einheitliche Einstandspflicht. Wer dafür einzustehen hat, dass „Kinder behütet“78 werden, haftet als Täter einer vorsätzlichen Körperverletzung, wenn diese bei einem riskanten Unternehmen verunglücken und er dies in Kauf genommen hat. Warum sollte es anders sein, wenn der Aufseher einer vorsätzlichen Verletzung der Kinder durch dritte Personen, die er hätte verhindern können, absichtlich nicht entgegentritt? Die Pflichtverletzung ist in beiden Fällen von gleichem Gewicht; und das Dazwischentreten einer vorsätzlichen Begehungstat im zweiten Fall hindert eine Täterbestrafung nicht, weil diese, wie gerade Jakobs betont, bei Pflichtdelikten „akzessorietätsüberspringend“ ist. Auch der Bundesgerichtshof nimmt bei Überwachungsgarantenpflichten (Pflichten kraft Organisationszuständigkeit) in seiner neueren Rechtsprechung eine Unterlassungstäterschaft auch beim Vorliegen gleichzeitiger Be-
75 76 77 78
Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 101. Sánchez-Vera (Fn. 10), S. 153 Anm. 22. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 102. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 102; siehe auch schon oben bei Fn. 74.
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gehungsdelikte an. So sagt er zum Tatbestand der Gewässerverunreinigung:79 „Der Bürgermeister einer hessischen Gemeinde hat im Aufgabenbereich der Abwasserbeseitigung eine Garantenstellung, kraft derer ihn die Verpflichtung trifft, rechtswidrige, von ortsansässigen Grundstückseigentümern ausgehende Gewässerverunreinigungen abzuwenden.“ Das Gericht kommt dann zu dem Ergebnis:80 „Demgemäß hat der Angeklagte den Tatbestand der Gewässerverunreinigung (§ 324 Abs. 1 StGB) durch Unterlassen verwirklicht, soweit die pflichtwidrige Verabsäumung der von ihm zu ergreifenden Maßnahmen für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs ursächlich war.“ Die Möglichkeit einer bloßen Beihilfe durch Unterlassen wird hier nicht einmal erwähnt. In der Tat ist nicht einzusehen, warum der Garant einem milderen Strafrahmen unterliegen soll, wenn er Umweltsünder gewähren lässt, als wenn er gegen gewässerverunreinigende Naturereignisse nichts unternimmt. Eine soziale Rolle hat auch der zu erfüllen, der zur Überwachung von Gefahren auf den Posten gestellt ist. Wenn man also der hier vertretenen Auffassung folgt, dass die Täterschaft bei den Pflichtdelikten auf dem Verstoß gegen die Anforderungen einer sozialen Rolle beruht, kann in Fällen der Verletzung von Organisationspflichten kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um Pflichtdelikte handelt. b) Die Relativierung der Beihilfelösung bei Jakobs Sodann rücken Jakobs‘ eigene Relativierungen der Beihilfelösung die Unterscheidung ins Ungewisse, weil er auch hier eine Täterschaft des Garanten annimmt, wenn „mehrere Haftungsgründe zusammenkommen“81. Wenn aber jemand verschiedene Erfolgsabwendungsmöglichkeiten außer Acht lässt, wiegt das nicht schwerer, als wenn er die einzige, mit Sicherheit wirksame Verhinderungshandlung nicht vornimmt. Mehr als eine Vermeidungsoption hätte er ohnehin nicht zu ergreifen brauchen. Auch liegen doch, wenn in Fällen der Organisationszuständigkeit aktive Hilfeleistungen nur Beihilfe begründen sollen, notwendig immer schon zwei Haftungsgründe vor (das Unterlassen und das Tun), was der These widerspricht, dass „mehrere Haftungsgründe“ zur Täterschaft führen. Ganz seltsam ist auch die Begründung, die Jakobs dafür gibt, dass Eltern für die von ihnen geduldeten Straftaten der ihrer Sorge unterstehenden minderjährigen Kinder immer als Täter haften: dass sie nämlich Garanten sowohl „für das Ausbleiben deliktischer Entschlüsse ihrer Kinder wie für das Ausbleiben von Taten“ seien. Wenn damit „mehrere Haftungsgründe“ beschrieben werden sollen, so wird dabei übersehen, dass Deliktsentschlüsse als 79 80 81
BGHSt 38, 325 ff. (Zitat aus dem Leitsatz). BGHSt 38, 337. Siehe die Beispiele oben bei Fn. 77.
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innere Vorgänge in der Regel von den Eltern überhaupt nicht verhindert werden können und dass außerdem ein Entschluss und seine Ausführung zusammengenommen immer nur eine Tat sind, deren Nichtverhinderung auch immer nur einen Haftungsgrund abgibt. c) Die Problematik der Abgrenzung verschiedener Formen von Sicherungspflichten Schließlich ist auch die Abgrenzung von Organisationszuständigkeit und institutioneller Zuständigkeit namentlich bei Schutzverpflichtungen schwer durchführbar und in ihren abweichenden Konsequenzen nicht überzeugend. Jakobs 82 unterscheidet zwischen einer Pflichtenübernahme im engeren Sinne, die neben einer Begehungstat nur eine Beihilfe begründen soll, und einer Übernahme im weiteren Sinne, die zu einer institutionellen Zuständigkeit und damit zur ausnahmslosen Täterschaft führt. Zur ersten Gruppe, also zur Übernahme im engeren Sinne, zählt er z.B. den Bergführer, der „vereinbarungsgemäß den unerfahrenen Touristen auf einer schwierigen Route“ begleitet, oder den Babysitter 83 und den „Bademeister am Strand“84. In diesen Fällen soll außerdem eine Garantenstellung nur entstehen, wenn die Übernahme einen Schutz ersetzt, der sonst bestanden hätte. Die Babysitterin wird demnach nicht „Garant per Übernahme“, wenn „die Eltern das Kind notfalls allein gelassen hätten“. Der Bademeister sei „auch per Übernahme Garant für diejenigen Badegäste, die von seiner Existenz nichts wissen; dies gilt jedoch nur in dem Maß, in dem seine Wache nach einem ex-anteUrteil effektiven anderen Schutz verhindert hat“. Schon diese Beschränkung der Übernahmepflicht leuchtet mir nicht ein. Denn was die Eltern getan hätten, wenn sie keinen Babysitter engagiert hätten, ist eine unbeantwortbare hypothetische Frage. Auch kann diese Frage nichts daran ändern, dass so oder so eine konkrete Schutzverpflichtung übernommen worden ist. Auch wenn ein Bademeister zum Schutz der Schwimmenden bestellt ist, erscheint es mir nicht sinnvoll, diese Verpflichtung davon abhängig zu machen, was beim Fehlen dieser Bestellung geschehen wäre. Schutzverpflichtungen kraft institutioneller Zuständigkeit mit täterschaftsbegründender Wirkung für jede Art der Beteiligung leitet Jakobs dagegen aus „besonderem Vertrauen“85 oder aus „genuin staatlichen Pflichten“86 ab. Das Spektrum besonderen Vertrauens umfasst die schon genannten Fälle 87 der 82 83 84 85 86 87
Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 46. Beide Beispiele Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 48. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 49. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 67 ff. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 74 ff. Oben bei Fn. 63.
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Pflege und Geschäftsführung, aber auch 88 die „Gefahrengemeinschaft“, also die Durchführung eines gefährlichen Unternehmens „mit der Abrede gegenseitiger Hilfe im Notfall“. Ein Beispiel für eine täterschaftsbegründende institutionelle Zuständigkeit kraft staatlicher Verpflichtung ist etwa die Tätigkeit der Polizei: „Die Polizei ist … Garant zum Schutz vor Delinquenz.“89 „Der Polizist, der eine Anstiftung zu einem Delikt nicht hindert …, ist Täter des Delikts.“90 Diese Konzeption führt zu Differenzierungen bei der Beteiligungsform, deren Sinn sich mir nicht erschlossen hat. Wenn z.B. eine Gruppe von Bergsteigern unter Leitung eines Bergführers eine gefährliche Gipfelbesteigung unternimmt und in einer heiklen Situation ein Beteiligter die Nerven verliert und ein Mitglied der Gruppe angreift, müssen die anderen ihm beistehen und werden, wenn sie untätig bleiben, kraft institutioneller Zuständigkeit (aus besonderem Vertrauen) als Täter einer Körperverletzung durch Unterlassen bestraft. Der Bergführer dagegen, bei dem nur die Übernahme einer Verpflichtung im engeren Sinne vorliegt, soll lediglich wegen Beihilfe zur Körperverletzung zur Verantwortung gezogen werden, obwohl er bei lebensnaher Betrachtung der Hauptverantwortliche für den ordnungsmäßigen Ablauf des Unternehmens ist. Wenn ein Polizist gegen eine Gewalttat, die sich vor seinen Augen abspielt, nicht einschreitet, bestraft Jakobs ihn, obwohl die Garantenstellung des Polizisten umstritten ist, nach meiner Auffassung mit Recht 91 als Täter eines Unterlassungsdelikts. Warum aber ein eigens zum Personenschutz engagierter Leibwächter, weil es sich bei ihm um eine bloße Pflichtenübernahme im engeren Sinne handelt, im Falle seiner Untätigkeit nur wegen Beihilfe bestraft werden soll, wie Jakobs dies annehmen müsste, ist mir nicht verständlich. Denn die Beziehung des Leibwächters zu seiner Schutzperson ist näher und enger als die des Polizisten. Vage und unklar bleibt auch der Übergang von einer durch Übernahme (im engeren Sinn) erfolgenden Schutzverpflichtung kraft Organisationszuständigkeit zu einer institutionellen Schutzverpflichtung aus „besonderem Vertrauen“. So sagt Jakobs etwa:92 „Wer anfängt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen, etwa als Samariter, kann an den Rollenerwartungen unter Umständen so festgehalten werden, dass für ihn eine Rechtspflicht zu rollenkonformem Verhalten entsteht. Dabei geht es um ein qualifiziertes Vertrauen in die Konstanz von Verhaltensschemata, also um eine Haftung kraft institutioneller Zuständigkeit. Anders bei der Übernahme im engeren Sinn …“ 88 89 90 91 92
Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 71. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 77d. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 106. Näher Roxin AT II (Fn. 14), § 32 Rn. 85 ff. Jakobs (Fn. 5), 29. Abschnitt Rn. 46.
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Welches aber im Einzelnen die „Umstände“ sind, bei denen einer Pflichtenübernahme ein „besonderes Vertrauen“ unterlegt werden kann, wird nicht näher erklärt. Sachgerecht erscheint demgegenüber die Annahme, dass, wenn jemand „anfängt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen“, er allemal einer „Rechtspflicht zu rollenkonformem Verhalten“ unterstellt wird. Das von mir befürwortete Verständnis der Pflichtdelikte als strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen, bei denen der Täter den Anforderungen einer besonderen sozialen Rolle nicht gerecht wird, bietet keinen Raum für die Unterscheidung sozialer Rollen von verschiedener Qualität. 4. Zur Problematik der Sonderdelikte ohne besondere Pflichtenbindungen Jakobs scheidet aus dem Bereich der Pflichtdelikte außer den durch die Organisationszuständigkeit erwachsenden Pflichten auch noch „Sonderdelikte ohne besondere Pflichtenbindungen“93 aus, bei denen es um eine Beschränkung des Täterkreises auf bestimmte Situationen und Begehungsweisen geht.94 Das ist ein an sich zutreffender Gedanke. So kann z.B. Täter des § 183 StGB (Exhibitionismus) nur ein Mann sein, der die Tat in eigener Person begeht; es handelt sich also um ein eigenhändiges Delikt. Aber die Tat besteht nicht in dem Verstoß gegen eine schon vor ihrer Begehung bestehende soziale Pflichtenbindung; sie setzt nur phänotypisch die Begehung durch einen Mann voraus. Es handelt sich also nicht um ein Pflichtdelikt. Entsprechendes gilt für die Gefangenenmeuterei (§ 121 StGB) oder die Schiffsgefährdung durch Anbordbringen von Bannware durch den Reeder (§ 297 StGB). Jakobs will aber auch Tatbestände aus dem Bereich der Pflichtdelikte ausscheiden, bei denen der Täter sehr wohl durch eine pflichtbegründende soziale Rolle gekennzeichnet wird. Das gilt z.B. für die Vereitelung der Zwangsvollstreckung (§ 288 StGB). Hier agiert der Täter in der sozialen Rolle eines Vollstreckungsschuldners, aus der ihm die Pflicht erwächst, sein Vermögen ggf. für die Befriedigung des Gläubigers bereitzuhalten. Befindet er sich auf Reisen und beauftragt er seinen Freund, Vermögensstücke beiseitezuschaffen, so ist er mittelbarer Täter des § 288 StGB, während der Freund als qualifikationsloses doloses Werkzeug als Gehilfe zu bestrafen ist.95 Die Gegenmeinung, die in einem solchen Fall die Straflosigkeit beider befürwortet, führt, wie Fischer 96 mit Recht sagt, zu einem nicht akzeptablen Ergebnis. „Diese Lösung müsste die kriminelle Energie potentieller Täter auf 93 So die Formulierung von Lesch Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 295 unter Anlehnung an die Formulierung von Jakobs (Fn. 5), 23. Abschnitt Rn. 24. 94 Vgl. zur näheren Kennzeichnung schon oben bei Fn. 40. 95 Ausführlich LK/Schünemann, 12. Aufl. 2008, § 288 Rn. 41. 96 Fischer StGB, 60. Aufl. 2013, § 288 Rn. 5.
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die risikolose Gewinnung von außenstehenden Komplizen verlagern.“ Freilich ist es schwer, in einem Fall solcher Art eine institutionelle Zuständigkeit zu begründen, während der weitergefasste Begriff der sozialen Rolle diese Konstellation ohne Weiteres abdeckt. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die zahlreichen strittigen Tatbestände im Einzelnen zu analysieren. Aber von den Tatbestände, bei denen Jakobs den Täter nicht als „Träger besonderer Pflichten“ anerkennt,97 wird man doch den unbefugten Gebrauch von Pfandsachen durch den Pfandleiher (§ 290 StGB), den Bankrott (§ 283 StGB mit den anschließenden Tatbeständen) und auch die Unfallflucht (§ 142 StGB)98 als Pflichtdelikte anerkennen müssen. Denn in allen diesen Fällen befindet sich der Täter schon vor der Tat in einer bestimmten sozialen Rollenbeziehung (als Pfandleiher, Schuldner und potentieller Schadensersatzpflichtiger) und verletzt durch sein tatbestandsmäßiges Handeln eine daraus erwachsende Pflicht. 5. Die Pflichtverletzung als Strafgrund der Pflichtdelikte? Nicht zustimmen kann ich auch der These von Jakobs, dass die Verletzung der tatbestandsspezifischen Pflicht nicht allein die Täterschaft der Pflichtdelikte begründe, sondern auch ihren Strafgrund bilde. Vielmehr ist darauf zu bestehen, dass bei dieser Deliktsgruppe eine Rechtsgutsbeeinträchtigung genauso den Strafgrund abgibt wie bei den Herrschaftsdelikten. Da Jakobs Pflichtdelikte nur im Rahmen institutioneller Bindungen anerkennt, liegt der Strafgrund dann also im Verstoß gegen die Verhaltensregeln der Institution. Das kann deshalb nicht richtig sein, weil ja keineswegs – um nur diese Beispiele herauszugreifen – jeder beliebige Eheverstoß oder jede Vernachlässigung einer institutionellen Fürsorgeverpflichtung strafbar ist. Vielmehr bestraft der Gesetzgeber nur ganz bestimmte Rechtsgutsverletzungen, die aus solchen Pflichtverfehlungen entstehen. Mit Recht betont daher Witteck,99 die „strafrechtlich bewehrte Solidarität in Bezug auf die Institutionen“ dürfe nicht „von deren Aufgabe – dem Schutz menschlicher Güter“ abgekoppelt werden. Institutionen – und Entsprechendes gilt für Schutzgarantenstellungen im Sinne der üblichen Terminologie – begründen eine besondere Verpflichtung zur Bewahrung der Rechtsgüter, die in diese Beziehung eingebracht werden. Der Verpflichtete ist Täter, weil er diesen Rechtsgütern nähersteht als dies bei Personen der Fall ist, die außerhalb der Pflichtenbindung stehen. „Auf Grund seiner besonderen sozialen Stellung hat der zu der Institution Zugehörige
97 98 99
Jakobs (Fn. 5), 23. Abschnitt Rn. 24. Dazu besonders instruktiv LK/Schünemann (Fn. 6), § 25 Rn. 51. Witteck (Fn. 3), S. 152.
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direkten Zugriff auf die jeweiligen Rechtsgüter und kann sie in einfacherer und erheblicherer Weise als alle Außenstehenden schädigen.“100 Schünemanns „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ kommt insoweit also der ratio der Pflichtdelikte näher als die Konzeption von Jakobs.
VII. Schluss Damit schließe ich meine Studie, in der ich versucht habe, die ganz unterschiedliche Weiterentwicklung meiner Pflichtdeliktslehre durch Schünemann und Jakobs aus meiner Sicht kritisch zu würdigen. Ich habe von beiden gelernt. Sie haben manches gesehen, was mir vor mehr als 50 Jahren bei der erstmaligen Befassung mit dem Thema noch nicht bewusst war, so dass ich meine ursprüngliche Position in einigen Punkten revidiert habe. Trotzdem habe ich in zahlreichen Fragen meine eigene Sicht in Auseinandersetzung mit meinen Mitstreitern verteidigt und mich um eine vertiefte Begründung bemüht. Ich glaube nicht, dass damit das letzte Wort gesprochen ist. Aber vielleicht kann ich einen Anstoß zur weiteren Diskussion des wichtigen und in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur immer noch unzureichend behandelten Themas geben. Mein besonderer Glückwunsch gilt Bernd Schünemann, meinem Freund und ehemaligen Schüler, dem dieser Beitrag zum 70. Geburtstag gewidmet ist. Ich bekenne gern, dass ich stolz auf diesen „Schüler“ bin: Er ist, wie ich jenseits freundschaftlicher Befangenheit glaube sagen zu dürfen, einer der bedeutendsten Strafrechtler unserer Tage. Der Umfang seines Werkes, die Vielfalt seiner Themen, die die Gesamtheit des Straf- und Strafprozessrechts umfassen, und vor allem die Kreativität, mit der er – nicht ohne leidenschaftliches Engagement – immer neue und eigenständige Problemlösungen entwickelt, suchen Ihresgleichen. Wir sind in vielen Grundfragen einig, aber manchmal streiten wir auch ein wenig (wie es sich gehört und wie auch dieser Beitrag zeigt). Mögen ihm Gesundheit, Schaffenskraft und familiäres Glück und uns beiden unsere Freundschaft lebenslänglich erhalten bleiben!
100
Witteck (Fn. 3), S. 152.
Objektive Zurechnung und Rechtfertigungsgründe. Versuch einer Differenzierung* Jesús-María Silva Sánchez I. Einführung 1. Der Ausdruck „objektive Zurechnung und Rechtfertigungsgründe“ kann zwei verschiedene Bedeutungen haben. Es kann einerseits „objektive Zurechnung (des Rechtfertigungserfolgs) innerhalb der Rechtfertigungsgründe“ und andererseits „Rechtfertigungsgründe bei der objektiven Zurechnung des Tatbestandserfolgs“ bedeuten.1 Beide Bedeutungen beziehen sich auf jeweils unterschiedliche Untersuchungsgegenstände.2 2. Mit dem Ausdruck „objektive Zurechnung innerhalb der Rechtfertigungsgründe“ ist hier folgendes Problem gemeint: Ist es sinnvoll, die Modelle, die auf die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos (tatbestandsmäßiges Verhalten) und auf der Verwirklichung des Risikos im Erfolg (objektive Zurechnung) basieren, von der Lehre des Deliktstatbestands auf den Bereich der Lehre vom Erlaubnistatbestand mutatis mutandis zu übertragen? 3 3. Dementgegen ist mit dem Ausdruck „Rechtfertigungsgründe im Zusammenhang der objektiven Zurechnung“ ein ganz anderes Problem gemeint: nämlich ob das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds für das Verhalten des Täters die objektive Zurechnung des Erfolgs zu diesem Verhalten ausschließt. Diese Perspektive lässt mindestens noch zwei mögliche Deutungen zu. Einerseits könnte damit gemeint sein, dass das Vorliegen eines Recht* Übersetzung von Dr. Teresa Manso Porto, mag. iur. comp., Referentin für Spanien am MPI in Freiburg. 1 So Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 113 ff. 2 Üblicherweise wird die Fragestellung über den Zusammenhang zwischen objektiver Zurechnung und Rechtfertigungsgründen auf Puppe JZ 1989, 728 ff. und Kuhlen FS Roxin, 2001, S. 331 ff. zurückgeführt; so Hefendehl FS Frisch, 2013, S. 465 ff; erkannt wurde die erste Bedeutung schon von Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 20. 3 Kritisch zur Möglichkeit einer solchen Fragestellung Hefendehl FS Frisch, 2013, S. 465, 469 f.
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fertigungsgrunds das Bestehen eines rechtlich missbilligten Risikos (tatbestandsmäßigen Verhaltens) ausschließt. In diesem Fall könnte die Zurechnung des rechtsgutsverletzenden Erfolgs zu jenem Verhalten nicht begründet werden. Andererseits könnte angenommen werden, dass das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds zwar weder das Bestehen des rechtlich missbilligten Risikos noch die Zurechnung des rechtsgutsverletzenden Erfolgs (Verletzungserfolg) zu jenem Risiko ausschließt, wohl aber die Zurechnung eines „Unrechtserfolgs“, d.i. ein Begriff aus der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand.4 Beide Möglichkeiten schließen sich gegenseitig aus, was allerdings einer Annahme von bestimmten Nuancen innerhalb der jeweiligen Positionen nicht entgegensteht. Diese können sich aus der Berücksichtigung (i) des vom geschützten Rechtsgut des jeweiligen Deliktstypus erreichten Normativierungsgrads, (ii) des vom tatbestandsmäßigen Verhalten der jeweiligen Straftat erreichten Normativierungsgrads oder schließlich (iii) der Besonderheiten der unterschiedlichen Rechtfertigungsgründe ergeben.
II. Die objektive Zurechnung des Rechtfertigungserfolgs beim Erlaubnistatbestand 1. In der Dogmatik der Rechtfertigungsgründe ist die objektiv-subjektive Inkongruenz (irrige Annahme der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds; Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements) ausführlich untersucht worden. Etwas anderes gilt für die Kongruenz zwischen dem (ex ante betrachteten) Rechtfertigungsverhalten und dem (ex post betrachteten) Rechtfertigungserfolg. Eine Ansicht vertritt, dass es bei Rechtfertigungsgründen allein auf die ex ante-Perspektive ankomme.5 Die ex post-Perspektive sei dagegen bedeutungslos. Eine andere Meinung legt die Aufmerksamkeit auf die ex post-Perspektive, mit Ausnahme einiger Prognose-Elemente, die beim jeweiligen Rechtfertigungsgrund vorliegen könnten.6 Im Rahmen der Lösung mit der ex post-Perspektive wird also als einzige Kongruenz üblicherweise nur diejenige zwischen dem objektiven ex post und der subjektiven Ebene geprüft.7 Tritt ex post ein Rechtfertigungserfolg ein und
4 Zu dieser mit der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen eng verwandten Doktrin siehe Hefendehl FS Frisch, 2013, S. 465, 473 ff. 5 Zur Herkunft dieser Ansicht im Werk Armin Kaufmanns vgl. Roxin (Fn. 1), § 14 Rn. 88 f. m.w.N. 6 Siehe Beispiele in Roxin (Fn.1), § 14 Rn. 88; anscheinend auch Matt/Renzikowski/ Engländer, StGB, 2013, Vor §§ 32 ff. Rn. 5. 7 Vgl. etwa Matt/Renzikowski/Engländer (Fn. 6), Vor §§ 32 ff. Rn. 8; Leipziger Kommentar StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 82; Pawlik Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 208.
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der Täter kannte ihn nicht, so wird bloß vom Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements gesprochen. 2. Eine Übertragung der im Bereich der objektiven Zurechnung stricto sensu verfolgten Methode auf die Rechtfertigung würde allerdings dazu führen, dass man auch hier vor der Prüfung der subjektiven Seite des Erlaubnistatbestands ex ante das Vorliegen einer Rechtfertigungslage und das einer für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs adäquaten Rechtfertigungshandlung berücksichtigen müsste. Im Bereich der objektiven Zurechnung stricto sensu gilt, dass die bloße Verursachung eines verletzenden Erfolgs (etwa bei einer objektiv unvorhersehbaren Abweichung des Kausalverlaufs) für die objektive Zurechnung dieses Erfolgs zum Verhalten unzureichend ist, wenn das Verhalten ex ante dazu ungeeignet war. Eine Anwendung dieses Kriteriums auf den Bereich der Rechtfertigungsgründe würde ergeben, dass, wenn das Täterverhalten im jeweiligen Kontext ex ante für die Herbeiführung eines Rechtfertigungserfolgs ungeeignet ist, dieses selbst dann nicht dem Täterverhalten zugerechnet werden könnte, wenn der rettende Erfolg auf Grund unvorhersehbarer Kausalverläufe einträte. Dies würde bedeuten: der Täter könne weder von einem positiven Zufallsfaktor begünstigt, noch von der zufälligen Herbeiführung einer Verletzung in ungeeigneter Weise benachteiligt werden. Die Frage ist, ob eine solche methodologische Übertragung richtig ist. Die Antwort erfordert folgende Analyse. 3. Das Paradigma des gerechtfertigten Verhaltens ist in einer Fallkonstellation (1) gegeben, in welcher das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante objektiv geeignet war, dieser Rechtfertigungserfolg in einer der Rechtfertigungshandlung objektiv zurechenbaren Weise ex post herbeigeführt wird und das subjektive Rechtfertigungselement vorliegt.8 In einer zweiten Fallkonstellation (2) treten schon Probleme auf, wenn das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante objektiv geeignet scheint, das subjektive Rechtfertigungselement vorliegt, der Rechtfertigungserfolg ex post jedoch nicht eintritt. In einem dritten Aufbau (3) ist das Verhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante objektiv geeignet, das subjektive Element liegt vor, und der rettende Erfolg tritt ex post zwar ein, aber rein zufällig, in einer der Rechtfertigungshandlung nicht zurechenbaren Weise. Die nächste Variante ist in einer vierten Konstellation (4) gegeben, in welcher das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs objektiv ex ante geeignet war, der Rechtfertigungserfolg in einer der Rechtfertigungshandlung ex post objektiv zurechenbaren Weise eintritt, das subjektive Element der Rechtfertigung jedoch fehlt. Dieser Fall (4) ist reichlich bekannt, sowie auch seine Lösung nach herrschender 8
Wolter (Fn. 2), S. 134, 139.
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Meinung: direkte Anwendung der Regel des untauglichen Versuchs.9 Es gibt noch eine weitere Variante (5), in welcher das Täterverhalten zur Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante als objektiv geeignet scheint, der Rechtfertigungserfolg ex post jedoch nicht eintritt und das subjektive Rechtfertigungselement außerdem fehlt. Und es gibt noch eine letzte Fallkonstellation (6), in welcher das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante objektiv geeignet scheint, der rettende Erfolg ex post zwar tatsächlich eintritt, allerdings in einer der Rechtfertigungshandlung objektiv nicht zurechenbaren Weise, und das subjektive Element der Rechtfertigung fehlt. 4. Der Vollständigkeit halber sind noch vier weitere Fallkonstellationen zu analysieren. Das Paradigma des nicht gerechtfertigten Verhaltens ist in folgender Situation (7) gegeben, in welcher das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs schon objektiv ex ante ungeeignet scheint, der Rechtfertigungserfolg ex post nicht eintritt und das subjektive Rechtfertigungselement auch nicht vorliegt. Zudem gibt es noch die Konstellation (8), in der das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs objektiv ex ante ungeeignet ist, der rettende Erfolg ex post zwar eintritt, allerdings in einer der Rechtfertigungshandlung objektiv nicht zurechenbaren Weise, und außerdem das subjektive Rechtfertigungselement nicht vorliegt. Ferner ist ein Aufbau (9) denkbar, in welchem das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs objektiv ex ante ungeeignet ist, der Rechtfertigungserfolg ex post nicht eintritt, das subjektive Rechtfertigungselement jedoch vorliegt. Diese Anordnung wurde üblicherweise unter der Bezeichnung „irrige Annahme über das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds“ oder „Erlaubnistatbestandsirrtum“ analysiert. Überwiegend wird dieser Fall als Tatbestandsirrtum behandelt, sodass Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit bestehen bleibt, wenn der Irrtum vermeidbar war, während der subjektive Tatbestand entfällt, wenn der Irrtum persönlich unvermeidbar war. Zuallerletzt gibt es eine Konstellation (10), in welcher das Täterverhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs objektiv ex ante ungeeignet scheint, der rettende Erfolg zwar ex post eintritt, allerdings in einer der Rechtfertigungshandlung objektiv nicht zurechenbaren Weise,10 und das subjektive Rechtfertigungselement vorliegt.
9
Wolter (Fn. 2), S. 134 f.; Schünemann GA 1985, 341, 373 f. Die Lösung des untauglichen Versuchs in dieser Konstellation setzt allerdings erstens die Annahme einer subjektivistischen Konzeption des Versuchs, sowie zweitens die Übernahme der Lehre vom Gesamttatbestand voraus. 10 Bei einem für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante ungeeigneten Verhalten gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder tritt der Erfolg nicht ein, oder er tritt zwar ein, aber in einer dem Verhalten objektiv nicht zurechenbaren Weise.
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5. Diese strukturelle Analyse hebt hervor, dass es manche problematische Konstellationen gibt. Insbesondere gilt das für die Varianten (2) und (3), die Varianten (5) und (6) und die Varianten (8) und (10). Die Varianten (2) und (3) dürften für die Lehrmeinung unproblematisch sein, für die bei der Prüfung über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds die Berücksichtigung der ex ante-Perspektive ausreicht. Diese Meinung leugnet nicht, dass die volle Rechtfertigung einen Ausgleich des objektiven und subjektiven Handlungsunwerts, sowie des Erfolgsunwerts, verlangt. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass der Erfolgsunwert mangels Erfolgsunrechtszusammenhang nicht zurechenbar ist,11 wenn der Handlungsunwert ausgeglichen wird (wie es hier der Fall ist, da sowohl die ex ante Geeignetheit für den Rechtfertigungserfolg als auch das subjektive Element der Rechtfertigung vorliegen).12 Allerdings fordern die Konstellationen (2) und (3) die Kohärenz derjenigen Autoren heraus, die einen Rechtfertigungserfolg für die Annahme des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrunds verlangen. Für sie sollte in der Konstellation (2) keine (oder zumindest keine volle) Rechtfertigung anerkannt werden. Die Frage ist, wie aus dieser Perspektive diese Konstellation behandelt werden soll, die ja eigentlich eine „versuchte Rechtfertigung“ darstellt. Ähnlich liegt es bei der Struktur (3), denn diese Autoren müssten verlangen, dass der Rechtfertigungserfolg der Rechtfertigungshandlung objektiv zurechenbar war. Besteht kein objektiver Sinnzusammenhang zwischen Rechtfertigungshandlung und -erfolg, wie das in der Struktur (3) der Fall ist, müssten sie die volle Rechtfertigung ebenfalls ablehnen. Beispiel: T schießt auf A in einer zur Tötung geeigneten Weise, nachdem er beobachtet hatte, wie A sich anschickte, die Wohnung des Behinderten O zu betreten, um ihn zu ermorden. Der Schuss verfehlt sein Ziel. Vom Schock erholt, möchte A sein Vorhaben vollenden. Der Schuss hatte aber zufällig ein elektrisches Stromkabel des Hauses getroffen. Als A das Haus betritt und das Licht auszuschalten versucht, damit O ihn nicht sehen kann, berührt er das beschädigte Stromkabel und erhält einen tödlichen Stromschlag. O bleibt unversehrt.13 6. Die Varianten (5) und (6) stellen wiederum Herausforderungen an beide Sichtweisen über die Rechtfertigungsgründe, das heißt, sowohl an diejenige Auffassung, die von einer ex ante Perspektive ausgeht, als auch an diejenige,
11
Wolter (Fn. 2), S. 139 f. Was keine Rettungsintention, sondern eine „reale Chance zur Rechtsgutsbewahrung“ voraussetzt: Schünemann JA 1975, 435, 438 f.; Wolter (Fn. 2), S. 137. 13 Die hiesige Position lautet: gerechtfertigte versuchte Tötung. Denn weder der Verletzungserfolg noch der Rechtfertigungserfolg sind objektiv zuzurechnen. Viel problematischer ist die Variante, in der der Verletzungserfolg objektiv zurechenbar wäre, der Rechtfertigungserfolg dagegen nicht. 12
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die das Geschehen aus einer ex post Perspektive beurteilt. In der Tat lässt sich aus der ex ante Perspektive feststellen, dass es mangels subjektiver Seite an einer Rechtfertigungshandlung fehlt. Aus der ex post Perspektive fehlt der Rechtfertigungserfolg (5) bzw. dieser ist dem ex ante objektiv zur Rettung geeignete Verhalten nicht objektiv zurechenbar (6). Beispiel: T schießt in einer zur Tötung geeigneten Weise auf seinen Feind A, ohne zu ahnen, dass dieser dabei ist, das Haus des behinderten O zu betreten, um ihn zu ermorden. Der Schuss geht jedoch fehl. Vom Schock erholt, möchte A sein Vorhaben vollenden. Der Schuss hatte aber zufällig ein elektrisches Stromkabel des Hauses getroffen. Als A das Haus betritt und das Licht auszuschalten versucht, damit O ihn nicht sehen kann, berührt er das beschädigte Stromkabel und erhält einen tödlichen Stromschlag. O bleibt unversehrt. T ist voll verantwortlich. Er macht sich allerdings nur wegen eines Tötungsversuchs an A strafbar, da ihm der Todeserfolg (wegen der Abweichung vom Kausalverlauf) nicht objektiv zurechenbar ist. Außerdem ist der Tötungsversuch in keiner Weise gerechtfertigt, da der rettende Erfolg auch nicht dem Schuss des T objektiv zuzurechnen ist. Und obwohl sein Verhalten zur Rettung des O ex ante objektiv geeignet war, ist ihm diese Dimension der Handlung subjektiv nicht zurechenbar.14 7. Die Variante (8) könnte allein aus der Perspektive des mangelnden subjektiven Rechtfertigungselements betrachtet werden. Das wäre allerdings falsch. Der paradigmatische Fall, den die Lehre als Ausgangspunkt für die Diskussion um das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements nimmt, ist der, in dem das Verhalten für die Herbeiführung des Rechtfertigungserfolgs ex ante objektiv geeignet scheint und dieser ex post in objektiv zurechenbarer Weise eintritt; nur, dass der Täter es absolut verkennt.15 Das entspricht unserer Konstellation (4). Das Entscheidende in der Variante (8) ist dagegen, dass das Verhalten für den Rechtfertigungserfolg schon ex ante nicht geeignet ist. Tritt der Rettungserfolg ein, ist dies einer Abweichung vom Kausalverlauf oder dem objektiv unvorhersehbaren Eingriff Dritter geschuldet; das heißt, es geschieht in objektiv nicht zurechenbarer Weise. Das Problem ist also nicht subjektiv, unabhängig davon, dass der Täter sich zusätzlich keinen rechtfertigenden Vorgang vorgestellt hat. Vielmehr handelt es sich hier um ein Problem der objektiven Zurechnung des Rechtfertigungserfolgs.
14 Paradoxerweise führt dies zur völligen Irrelevanz eines (nur) objektiv ex ante für die Rettung geeigneten Verhaltens. 15 Nur in Bezug auf diese Struktur kann behauptet werden, dass der Täter „objektiv sachgemäß, aber in Unkenntnis der Rechtfertigungslage“ gehandelt hat: Roxin (Fn. 1), § 14 Rn. 104.
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Es geht darum, dass eine Verursachung des rettenden Erfolgs geschehen ist, die dem Täter nicht objektiv zuzurechnen ist. Beispiel: Wegen einer akuten Gasvergiftung befindet sich O in Lebensgefahr in seinem Wohnzimmer. Der ahnungslose Randalierer T wirft mit Steinen auf das Wohnzimmerfenster, was für die Luftreinigung und die Vermeidung des Todes ungeeignet ist, aber dennoch ermöglicht, dass der Passant D, der durch den Lärm alarmiert wird, sich nähert, das Gas riecht, das Haus betritt und O rettet. T macht sich einer vollendeten, ungerechtfertigten Sachbeschädigung schuldig. 8. Soweit ersichtlich, entspricht dieser Lösungsvorschlag nicht der herrschenden Lehre. Beispielsweise vertritt Wolter, dass auch ohne ex anteGeeignetheit des Täterverhaltens und ohne Tätervorstellung über den Verhaltenssinn die Verursachung des Erfolgswerts in Betracht gezogen werden müsse. Es mangele in diesen Fällen nicht am Erfolgswertzusammenhang, sodass die objektive Zurechnung dieses Erfolgswerts bejaht werden könne. Sein Lösungsvorschlag für diese Fälle ist die Bestrafung wegen tauglichen Versuchs.16 Unklar ist jedoch, warum die bloß kausale (und zufällige) Verursachung eines „rettenden“ Erfolgs ohne Sinnzusammenhang mit einer in diesem Fall nicht bestehenden Rechtfertigungshandlung den Täter einer tatbestandsmäßigen Handlung begünstigen soll. Richtig ist, dass der Zufall – in Form einer unvorhersehbaren Nicht-Verursachung des Erfolgs – im Tatbestandsbereich im engeren Sinne den Täter sehr wohl begünstigt. Doch sollte der Abschied vom naturalistischen Denken und die Orientierung an der sozialen Bedeutung zur Formulierung folgender Regel führen: so wie für die Unrechtsbegründung der Verletzungserfolg in einem objektiven Zurechnungszusammenhang mit einem tatbestandsmäßigen Verhalten stehen muss, so muss auch der rettende Erfolg, der den Verletzungserfolg neutralisiert, in einem objektiven Zurechnungszusammenhang mit einem Rechtfertigungsverhalten stehen, um eben das Unrecht ausschließen zu können.17 9. Dieselbe Debatte kann im Zusammenhang mit der Konstellation (10) angestoßen werden, in der das Verhalten des Täters ex ante nicht objektiv geeignet war, um einen Rechtfertigungserfolg herbeizuführen, dieser aber trotzdem in objektiv unvorhersehbarer Weise ex post eintritt. Dabei glaubt der Täter, dass sein Verhalten für die Rettung ex ante geeignet ist. Nun würde die hier kritisierte Meinung in diesen Fällen zur Straflosigkeit führen, da eine (mangels Vorstellung über die ex ante Geeignetheit des eigenen Verhaltens
16
Wolter (Fn. 2), S. 140 Fn. 312. In diesem Sinne kann Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 321, zugestimmt werden (siehe auch S. 323). 17
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für die Rettung) bloß fahrlässige und (wegen der Verursachung des Rettungserfolgs nicht vollendete, sondern) bloß versuchte Tat nicht strafbar ist. Aus den oben genannten Gründen sind hier die Regeln des Tatbestandsirrtums anzuwenden (als ob der rettende Erfolg nicht eingetreten wäre).
III. Zur Lehre des Gesamtunrechtstatbestands 1. Die Lehre hat, soweit ersichtlich, den Kriterien der objektiven Zurechnung innerhalb der Dogmatik der Rechtfertigungsgründe jede Relevanz abgesprochen. Dagegen finden sich in der Literatur Elemente für die Anerkennung einer gewissen Bedeutung der Rechtfertigungsgründe innerhalb der Dogmatik der objektiven Zurechnung. Tatsächlich wird die objektive Zurechnung von einer Lehrmeinung nicht nur als Lehre des spezifischen Tatbestandsunrechts, sondern als Lehre des Gesamtunrechtstatbestands verstanden.18 Das stünde auch im Einklang mit der Tatsache, dass die Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand – deren Verteidigung unseren Jubilar auszeichnet 19 – tatsächlich zur herrschenden Lehre über den Tatbestandsbegriff und seinen Zusammenhang mit der Rechtswidrigkeit aufsteigt.20 Diese Position führt unerbittlich zur (zukünftigen) Konstruktion einer Makrotheorie des tatbestandsmäßigen Verhaltens und der Zurechnung des Erfolgs oder, um es genauer auszudrücken, des „gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhaltens“ und der „Zurechnung des Gesamtunrechtserfolgs.“21 2. Aus der Sicht einer solchen Makrotheorie ist klar, dass das ex anteBestehen einer objektiv-subjektiv rechtfertigenden Lage das gesamtunrechtstatbestandsmäßige Verhalten ausschließt und zur vollen Rechtfertigung führt. Lediglich beim Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements könnte die Existenz eines gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhaltens in Form eines untauglichen Versuchs im subjektiven Sinne bejaht werden. 3. Nach der Festlegung des gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhaltens soll analysiert werden, wie die objektive Zurechnung des Gesamtunrechtserfolgs verstanden werden soll. Das setzt zunächst eine Definition des Begriffs des Gesamtunrechtserfolgs selbst voraus. Wie oben schon angedeutet,
18
Dazu Pawlik (Fn. 7), S. 195 ff. Beispielsweise Schünemann GA 1985, 341, 348 ff.; ders. in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Coimbra-Symposium f. Roxin, 1995, S. 149 ff., 174 ff.; Schünemann/Greco GA 2006, 777, 788 ff; alle m.w.N. 20 Vgl. die Belege bei Schünemann/Greco GA 2006, 777, 782 Fn. 25; LK/Rönnau, Vor § 32 Rn. 10 ff.; auch bei Pawlik (Fn. 7) S. 204, Fn. 329. 21 Um die – etwas geänderte – Terminologie von Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, zu verwenden. 19
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resultiert der Gesamtunrechtserfolg aus erstens dem Vorliegen eines Verletzungserfolgs und zweitens dem Nicht-Vorliegen eines Rechtfertigungserfolgs. Das erste Element soll näher präzisiert werden: tritt ein Verletzungserfolg ein, der aber nicht dem tatbestandsmäßigen Verhalten zuzurechnen ist, muss in der Tat derselbe Schluss gezogen werden, wie wenn der Verletzungserfolg nicht eingetreten wäre, nämlich: es gäbe keinen Gesamtunrechtserfolg. Nun: muss auch das zweite Element näher präzisiert werden? Die Antwort müsste auf den ersten Blick „Nein“ lauten. Sobald der Eintritt eines (wenn auch bloß kausierten) Rechtfertigungserfolgs festgestellt wird, fehlt es automatisch an einem Gesamtunrechtserfolg und dem gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhalten wäre objektiv nichts zuzurechnen (d.h.: tauglicher Versuch). Allerdings stellt sich meiner Meinung nach die Frage, ob an diesem Punkt nicht eine weitere Präzisierung notwendig ist. Dies würde der Doktrin des Gesamtunrechtstatbestands nicht widersprechen. Es ist in der Tat so, dass das Bestehen eines Rechtfertigungserfolgs den Gesamtunrechtserfolg ausschließt. Dafür ist es jedoch notwendig, dass jener einer Rechtfertigungshandlung zugerechnet werden kann. Man könnte behaupten, dass das Ausbleiben des Verletzungserfolgs auf die mangelnde Kausalität zurückzuführen ist; und das stimmt. Dies ist ebenso richtig wie die Tatsache, dass das Erscheinen des Verletzungserfolgs in der sinnhaften Welt nicht außerhalb dieser anhand bloßer kausaler Vorgänge kompensiert werden kann. Die Gegenmeinung kann diese Schlussfolgerung nicht abstreiten: besteht ein (objektiv zugerechneter) Verletzungserfolg in der sinnhaften Welt, vermischt derjenige, der behauptet, dass sowohl der einer Rechtfertigungshandlung objektiv zurechenbare, als auch der zufällig verursachte Rettungserfolg die Herbeiführung eines „Gesamtunrechtserfolgs“ gleichermaßen verhindern, in willkürlicher Weise im selben Begriff Sinn und Zufall. Beim Bestehen eines vorsätzlichen, gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhaltens, eines objektiv zugerechneten Verletzungserfolgs und eines objektiv nicht zurechenbaren Rechtfertigungserfolgs soll von Vollendung die Rede sein. 4. Es gibt noch eine Lehrmeinung, die darauf hinweist, dass der Ausschluss der objektiven Zurechnung des von einem gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhalten hervorgerufenen (Unrechts-)Erfolgs noch in einem anderen Kontext anzunehmen wäre, nämlich bei Berücksichtigung des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Hier scheint z.B. der Kern der Argumentation um die rechtfertigende Wirkung der sog. hypothetischen Einwilligung zu liegen.22 Eine Argumentation, welche – wie die Lehre seit Puppe hervorge22 Die Literatur, die über die ärztliche Haftung entstanden ist, wird schwer überschaubar. Das Werk von Kuhlen ist hier insbesondere zu unterstreichen. M.w.N. Swoboda ZIS 2013, 18, 20 f. m. Fn. 16 und 17; in den Kommentaren: Matt/Renzikowski/Engländer (Fn. 6), Vor §§ 32 ff., Rn. 27; LK/Rönnau, Vor § 32 Rn. 230 ff.
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hoben hat 23 – auf andere Rechtfertigungsgründe ausgeweitet werden könnte. Aber die Argumentation führt eigentlich zur folgenden Behauptung: der Erfolg eines tatbestandlichen Verhaltens kann diesem (ungeachtet der Tatsache, dass rechtswidrig bzw. mit Rechtfertigungsmängeln gehandelt wurde) nicht objektiv zugerechnet werden, wenn dieser Erfolg hypothetisch auch dann hätte eintreten können, wenn der Täter voll gerechtfertigt gehandelt hätte. In diesem Fall fehlt die objektive Zurechnung des Erfolgs zum rechtswidrigen Verhalten, weil kein Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht. So ausgedrückt, bewegt sich die Formel nicht mehr im Bereich der Lehre von der objektiven Zurechnung des Gesamtunrechtserfolgs, sondern innerhalb der Lehre der objektiven Zurechnung des Verletzungserfolgs.24 5. Das bisher Gesagte führt eigentlich zu der Frage, welche Lehre der objektiven Zurechnung (oder besser: des objektiven Tatbestands) der Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale oder des Gesamtunrechtstatbestands zugrunde liegt. Vorwiegend hat sich die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen als Irrtumslehre gehalten;25 zugleich hat sie zur Klärung der materiellen Identität zwischen dem tatbestandsmäßigen und dem gerechtfertigten Verhalten entscheidend beigetragen, wobei man hier richtigerweise vom „unrechtstatbestandslosen Verhalten“ bzw. „gesamtunrechtstatbestandslosen Verhalten“ sprechen sollte. Allerdings fehlt ihr eine klare Positionierung hinsichtlich der Lehre von der objektiven Zurechnung, oder besser: hinsichtlich der Lehre vom gesamtunrechtstatbestandsmäßigen Verhalten und von der Zurechnung des Gesamtunrechtserfolgs.
IV. Rechtfertigungsgründe und objektive Zurechnung des Verletzungserfolgs 1. Mit den bisherigen Überlegungen zur Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand ist noch nicht alles über die Auswirkungen der Rechtfertigungsgründe auf die Lehre von der objektiven Zurechnung gesagt worden. Die Fragestellung, die im Folgenden analysiert werden soll, ist, ob die Rechtfertigungsgründe schon auf die objektive Zurechnung des (Rechtsguts-)Verletzungserfolgs Einfluss haben können.26 Es geht also darum, ob die Rechtfertigungsgründe in irgendeiner Weise in die Lehre des (positiv) tatbestandlichen Verhaltens integriert werden können. 23
Puppe JZ 1989, 728 ff., im Zusammenhang mit der Notwehr. Dazu unten IV. 25 Dies wird anerkannt von Schünemann/Greco GA 2006, 777, 792. 26 Auf die Ansicht Kuhlens, die auch von anderen vertreten wird, wird nicht weiter eingegangen, wobei sie auch eine Variation des hier Dargestellten ist. 24
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2. Diesbezüglich sollten zumindest drei große Perspektiven differenziert werden. Einerseits geht ein Vorschlag davon aus, dass in manchen Fällen das Bestehen eines Rechtfertigungsgrunds die Behauptung erschwert, ein Rechtsgut sei verletzt worden. Diese Aussage steht in Zusammenhang mit hoch normativierten (oder zu normativierenden) Rechtsgütern, in denen das naturalistische Substrat seine juristische Relevanz weitgehend oder sogar vollständig verloren hat. Sie könnte allerdings insofern verallgemeinert werden, als das Rechtsgut als rechtlich geschützte Freiheitssphäre definiert wird. Dieser Definition ist eine relativierende Dimension eigen: eine Freiheitssphäre kann gegenüber einem bestimmten Subjekt und nicht gegenüber einem anderen Subjekt, das über Eingriffsrechte in eine fremde Freiheitssphäre verfügt, rechtlich geschützt sein.27 So gesehen, würde derjenige kein Rechtsgut verletzen, der in eine fremde Freiheitssphäre unter Ausübung eines Grundrechts, in Erfüllung einer rechtlichen Pflicht oder gar mit einer öffentlichen Genehmigung eindringt. 3. Andererseits wird die Meinung vertreten, dass die objektive Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs zum Täterverhalten, beispielsweise bei Notwehr, auszuschließen sei. Ein Argument wäre, dass in solchen Fällen der Verletzungserfolg beim Angreifer seiner eigenen Organisationssphäre zuzurechnen sei.28 Das schlösse die Zurechnung des Erfolgs zum Verhalten des Opfers aus. Allgemeiner wird sogar vertreten, dass diejenigen Erlaubnissätze, die auf einem „Zurechnungs-“ bzw. „Verantwortungsausschluss“ basieren, als Tatbestandsausschließungsgründe verstanden werden sollten. Als Rechtfertigungsgründe sollen dagegen nur diejenigen Erlaubnissätze gelten, die auf einem Abwägungsprinzip basieren.29 4. Diese Unmöglichkeit der Tatbestandsverwirklichung beim Vorliegen von Rechtfertigungsgründen zeigt sich drittens in einer großen Zahl von Straftatbeständen;30 darunter insbesondere solche, in denen der Gesetzgeber das tatbestandsmäßige Verhalten mit Hilfe von gesamttatbewertenden Merk-
27 Vgl. Renzikowski Notstand und Notwehr, 1994; ders. FS Hruschka, 2005, S. 643, 651 ff. anlässlich der sog. intrasystematischen Rechtfertigungsgründe: „Im Notstandsfall verschieben sich die Grenzen der dem einzelnen zugewiesenen Freiheitssphären“; „der Notstandstäter hat also das Rechtsgut überhaupt nicht verletzt, da das Eingriffsgut in seiner Zuordnung zur Sphäre des Eingriffsopfers keinen rechtlichen Schutz genießt“; ebenso Silva Sánchez GA 2006, 382, 384 f. 28 Vgl. insbesondere Palermo La legítima defensa. Una revisión normativista, Barcelona 2006, S. 333 ff.; Jakobs System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 45 f. 29 Jäger Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 21; kritisch Pawlik (Fn. 7), S. 212 Fn. 382. 30 Vgl. dazu etwa Schlehofer FS Puppe, 2011, S. 953, 963 f.; LK/Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 14.
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malen definiert.31 Bei solchen Tatbeständen schließt das Vorliegen irgendeines oder zumindest bestimmter Rechtfertigungsgründe (zweifelsohne die Ausübung eines Rechts oder die Erfüllung einer Pflicht) das tatbestandsmäßige Verhalten selbst aus, und damit die objektive Zurechnung des Verletzungserfolgs. Konkret setzt die objektive Zurechnung des Erfolgs zum Täterverhalten voraus, dass dieser Erfolg insofern den Ausdruck des Verhaltens darstellt, als es solche Merkmale verwirklicht. Durchbrechungen des objektiven Zurechnungszusammenhangs können in diesem Punkt nicht ausgeschlossen werden. 5. Die eigentliche Fragestellung lautet, ob man der Lehre von der objektiven Zurechnung zufolge nicht sogar zu dem Schluss kommen könnte, dass alle Tatbestandsarten sich langsam aber unerbittlich als Tatbestände mit gesamttatbewertenden Merkmalen konstruieren lassen. Im Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung ist die Bezeichnung des tatbestandsmäßigen Verhaltens als Schaffung eines „rechtlich missbilligten Risikos“ oder, noch deutlicher, eines „unerlaubten Risikos“ üblich.32 Die „rechtliche Missbilligung“ oder die „rechtliche Unerlaubtheit“ können in voller Hinsicht gesamttatbewertende Merkmale konstituieren. Dementsprechend und von der gesetzlichen Formulierung mal abgesehen, führt die teleologisch-normativistische Rekonstruktion der Tatbestände des Besonderen Teils zur fortschreitenden Einführung von Elementen der Rechtfertigungsgründe in die Lehre des tatbestandsmäßigen Verhaltens und der objektiven Zurechnung des Erfolgs.33 6. In der Tat hat sich der Gedanke festgesetzt, dass das tatbestandslose und das gerechtfertigte Verhalten für das Strafrecht substantiell gleich sind. Außerdem hat die Normativierung des objektiven Tatbestands dazu beigetragen, dass die Unterscheidung zwischen tatbestandsausschließenden Gründen und Rechtfertigungsgründen immer künstlicher wird. Eine andere Frage ist allerdings, ob man so weit gehen würde, der Eigenständigkeit der Tatbestandsmäßigkeit jeden dogmatisch-systematischen Sinn abzusprechen, um sich auf einer lediglich didaktischen, strukturellen oder pragmatischen Ebene zu bewegen.34 Gerade derjenige, der – wie es hier der Fall ist – einen zweiteiligen Verbrechensaufbau und dementsprechend das Verständnis von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung als – immer stärker miteinander vermengte –Teile eines Ganzen ansieht, muss darauf bestehen, nicht auf die
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Roxin (Fn. 1), § 10 Rn. 45 ff. Roxin (Fn. 1) § 11 Rn. 53 ff. Pawlik (Fn. 7), S. 212 f; dazu schon Lesch Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 264 ff. Pawlik (Fn. 7), S. 203, 205.
Objektive Zurechnung und Rechtfertigungsgründe
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notwendigen Unterscheidungen zu verzichten.35 Und zwar nicht nur, weil diese Komplexität reduzieren,36 sondern auch und vor allem weil, wie Schünemann wiederholt hervorgehoben hat, wir ohne sie gerade das Spezifische unserer systematischen Tradition aufgeben würden,37 nämlich die Gewährung einer kohärenten, gleichen und vorhersehbaren Behandlung in der größtmöglichen Anzahl von Fällen. Ad multos annos!
35 So Köhler (Fn. 17), S. 236: „Unrechtstatbestand und Rechtfertigungsgrund stehen somit in einem logischen und sachlichen Verhältnis unterschiedlicher Stufen der Normkonkretisierung aus dem Rechtsverhältnis.“ 36 LK/Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 15 ff., 19. 37 Schünemann FS Roxin, 2001, S. 1, 2 ff; ders. GA 2006, 378 ff.
Der Irrtum bei den Unterlassungsdelikten Juarez Tavares I. Handlungsbedarf Die Einladung, Bernd Schünemann zu ehren, ist herzlich willkommen. Damit habe ich die Möglichkeit, nicht nur einen lieben und stets hilfsbereiten Freund zu grüßen, sondern auch an seine wesentlichen Beiträge zur Rechtswissenschaft zu erinnern, die in der ganzen Welt Resonanz gefunden haben und vor allem für die Beziehung zwischen dem brasilianischen und dem deutschen Strafrecht von großer Bedeutung sind. In diesem Aufsatz wird die Problematik des Irrtums bei den Unterlassungsdelikten untersucht. Das Thema ist von entscheidender Bedeutung für das brasilianische Strafrechtsystem, das nicht nur die Behandlung des Tatbestands- (Art. 21 bStGB) und Verbotsirrtums gesetzlich regelt (Art. 21 bStGB), sondern die Darlegung der Kausalität der Unterlassung (Art. 13 bStGB) verlangt und sich für ein Modell entscheidet, in dem die Quellen einer Garantenstellung gesetzlich bestimmt werden (Art. 13, § 2 bStGB).
I. Das Problem Es mag befremden, dass ich, um das Problem des Irrtums bei den Unterlassungsdelikten zu betrachten, zunächst die Diskussion über die Kausalität aufgreife. Aber wenn das Strafrecht den Nachweis dieser Kausalität verlangt und Objekt des Irrtums das Bewusstsein über das Vorliegen jener Merkmale ist, die die Verantwortung für die Verletzung einer allgemeinen Hilfspflicht oder einer besonderen Pflicht, das Ergebnis zu vermeiden, begründen, wird es wichtig zu untersuchen, ob zwischen diesen beiden Elementen eine Beziehung besteht. Diese Frage ist komplex, besonders weil sie für die echten Unterlassungsdelikte nicht zu dem Ergebnis führen kann, dass auf jedwede Prüfung der Kausalität verzichtet wird. Wenn aber der Tatbestandsirrtum sich in der abweichenden Vorstellung von typischen Elementen der Unterlassung ausdrückt, scheint es notwendig, dass er sich nicht nur auf die Tatsachen beziehen soll, die das Gebot zum Handeln begründen, sondern auch auf den Zusammenhang zwischen der Nicht-Realisierung jener gebotenen Handlung und der Pflichtverletzung. Der Tatbestand der unterlassenen
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Hilfeleistung erfasst Situationen, in denen eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Opfers besteht; dies begründet eine Hilfspflicht. Es besteht also bei diesen Delikten ein Zusammenhang zwischen einer typischen Gefahrensituation und der Notwendigkeit zu handeln, der zur Verantwortung des nichthandelnden Täters führt. Die Nicht-Durchführung der gebotenen Handlung und die Verletzung der Hilfspflicht sind mit dem faktischen Element verbunden, das die Haftung für die Unterlassung rechtfertigt. Da der Tatbestandsirrtum sich auf Tatbestandsmerkmale bezieht, soll er alle Umstände umfassen, die sich auf die Situation, die Notwendigkeit einer Rettungshandlung und die gebotene Handlung selbst beziehen. Unter den Voraussetzungen der Begründung einer Hilfspflicht soll sich der Irrtum auf den Zusammenhang zwischen der Gefahrensituation und der Hilfspflicht selbst erstrecken. Da es einen notwendigen Zusammenhang zwischen der empirischen Situation und der Hilfspflicht gibt, muss man auch erklären, welcher Art dieser Zusammenhang ist. Handelt es sich um einen rein logischen, rein axiologischen, normativen oder eben rein kausalen Zusammenhang?
II. Der instrumentelle Handlungsbegriff 1. Um diese Beziehung besser zu verstehen, könnte man hier einen von Habermas formulierten bedeutenden Unterschied zwischen Arten des Handelns nutzen. Das Strafrecht arbeitet immer mit einem Handlungsmodell, das unter der Terminologie Habermas‘ als instrumentelle Handlung bezeichnet werden kann, weil es sich auf den Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck konzentriert.1 In diesem Sinne soll der Tatbestand den Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg erfassen. Auch bei den Tätigkeitsdelikten ist es nicht anders, weil hier ein nicht geschriebenes Ergebnis hinzuzudenken ist, das sich an der Beziehung zur Handlung orientiert. Die instrumentelle Handlung betrifft nicht nur die Produktion eines empirischen Erfolgs, sondern auch eine Rechtsgutsverletzung. Dieses Modell ist nicht eine reine Ausarbeitung des Kausaldogmas, es betrifft auch einen finalen Handlungsbegriff. Der finale Handlungsbegriff enthält ganz deutlich einen Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg, so auch die kausale Handlungstheorie. Diese instrumentelle Handlung entspricht einem Handlungsmodell, das sich an einem individuellen Täter orientiert. Selbst wenn man sagt, die Kausalität sei blind und die Finalität sehend, ist dieses Modell zutreffend für den kausalen und den finalen Handlungsbegriff. Finaltäter ist
1 Habermas Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1995, S. 176.
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derjenige, dessen Handlung auf einen Erfolg ausgerichtet ist, selbst wenn er dieses Ziel nicht erreicht. Aber auf der Basis einer instrumentellen Handlung ist es schwer, bei den Unterlassungsdelikten einen Kausalzusammenhang zu begründen. Und zwar besonders schwer bei den echten Unterlassungsdelikten, bei denen es keinen offenbaren Erfolg gibt und kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Handlung und Zweck besteht. Man kann auch nicht sagen, dass die Nicht-Realisierung der gebotenen Handlung eine Beziehung zu einem Zweck erforderlich macht. Diesen Zweck kann man aus kriminalpolitischer Sicht als erwartetes Ergebnis beschreiben, aber nicht als ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal. Wichtig ist hier nur die Steuerbarkeit der Handlung. Die Gegenmeinung stößt auf zwei berechtigte Einwände: erstens, die Finalität bei der Unterlassung ist nicht real, sondern nur potentiell; zweitens, wenn die Handlung hier nicht steuerbar ist, ist es auch nicht möglich, einen Zusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und der empirischen Notsituation festzustellen. 2. Die Handlung kann bei Erfolgsdelikten besser als instrumentell verstanden werden. Bei diesen richtet sich jede Handlung auf einen Erfolg, der sowohl eine Veränderung der empirischen Welt im kausalen Sinne als auch ein rein final antizipiertes Ziel implizieren kann. Um die instrumentelle Handlung zu kennzeichnen, reicht es zu überprüfen, wie sich die Willensbetätigung des Täters in der äußeren Welt ausdrücken kann. Diese Willensbetätigung kann effektiv eine empirische Veränderung der Tatsachen verursachen oder einfach eine Art der Handlungsorientierung sein. 3. Wird die instrumentelle Handlung als strafrechtliches Verhaltensmodell angenommen, entsteht das Problem seiner Anpassung an den Unterlassungsbegriff. Bei der unterlassenen Hilfeleistung ist die Unterlassung mit einer Rettungspflicht verbunden. So unterlässt es hier der Täter, eine Rettungshandlung durchzuführen, die empirisch mit dem normativen Ziel verbunden ist zu vermeiden, dass jemand, der in einer Notlage ist, physisch zu Schaden kommt. Obwohl es sich um eine empirische Gegebenheit bezüglich der Existenz einer Gefahr oder Not handelt, die eine Handlungspflicht begründet, ist aus instrumenteller Sicht schwer zu sagen, dass hier ein Kausalzusammenhang zwischen jener Gegebenheit und der Pflicht besteht. Unter der Prämisse eines instrumentellen Handlungsbegriffs muss nur die Notwendigkeit zu handeln dargelegt werden und dann die Handlungspflicht als ihre Ableitung verstanden werden. Gemäß diesem instrumentellen Handlungsbegriff werden die tatbestandsmäßige Situation und andere typische Merkmale der Unterlassungsdelikte eben nur normative Voraussetzungen der Gebotsnorm zum Ausdruck bringen. Es gibt zwar einige Auffassungen, die diese direkte Mittel-Zweck Beziehung überwinden wollen. Aber auch die bleiben mit
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einer hypothetischen Erfolgsvermeidbarkeit verbunden. Dies ist der Fall bei der negativen Handlungstheorie, die auch zu einem instrumentellen Begriff führt.2 Angesichts der Probleme eines solchen Handlungsbegriffs hat schon Roxin bemerkt, dass es sich bei der Unterlassung nicht um einen rein empirischen, sondern um einen strategischen Handlungsbegriff handelt, der die empirischen Gegebenheiten aus einem normativen Gesichtspunkt betrachtet, so dass das personale Empirische als erwartete Handlung auch eine direkte Verbindung mit der Handlungspflicht impliziert.3 4. Aber der instrumentelle Handlungsbegriff kann sich an die Realität des sozialen und des strafrechtlich relevanten Handelns nicht richtig anpassen. Seit dem Beitrag von Max Weber sollen soziale Handlungen als strategisches Handeln angesehen werden, welches als Merkmal nicht die Mittel-Zweck Beziehung, sondern einen Bezug auf andere Personen enthält. Diese anderen können entweder ein bestimmtes oder unbestimmtes Individuum oder auch eine unbestimmte Gemeinschaft sein. Beim strategischen Handeln wird immer eine andere Person in Betracht gezogen.4 Andererseits kann man mit der Speech-Act-Theorie behaupten, dass die strategische Handlung ein illokutionärer Akt ist, in dem der Täter mit anderen Menschen interagiert. Zumal er irgendeinen Effekt auf andere erzeugt oder von anderen ein Verhalten verlangt, kann man sagen, dass diese Handlung einen perlokutionären Akt bildet. Die Einfügung des perlokutionären Aktes in den Handlungsbegriff kann die Gründe und die Natur der Unterlassung und die im Tatbestand bestehende Beziehung besser erklären. In der unterlassenen Hilfeleistung ist die Nicht-Realisierung der gebotenen Handlung mit einem Kontext verbunden, in dem der Protagonist nicht nur der Täter ist, sondern auch derjenige, der sich in der Gefahrensituation befindet. Es wird deutlich, dass die tatbestandsmäßige Situation einer relevanten Tatsache für das Verhalten des Täters entspricht, der sich an dieser Tatsache orientieren muss, wenn er die Gebotsnorm nicht verletzen will. Wenn die tatbestandsmäßige Situation eine Referenz zum Handeln oder ein Gegenstand ist, an dem der Täter sich orientieren kann, darf ihre Einfügung in den Tatbestand nicht als zufälliger Zusatz, sondern sie muss als wesentliches Element angenommen werden. Dieses Element ist essenziell in der Beziehung des Täters zum anderen und auch wesentlich, um die Handlungspflicht zu begründen. Zutreffend Klaus Günther: „Zurechnen kann in dieser Weise nur, wer weder sich selbst noch seine KoSubjekte nur als Durchgangsstation von Ursache-Wirkungsrelationen erfährt
2 Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 174; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 6. Abschnitt Rn. 33. 3 Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 55 f. 4 Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, I, II.
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und behandelt, sondern wer sich zu seiner eigenen Natur in der beschriebenen Weise reflexiv verhält, weil und insofern er weiß, dass die anderen ihn in dieser Reflexivität bestätigen.“ 5
III. Der Kausalzusammenhang 1. Der Kausalzusammenhang wurde im Strafrecht stets gemäß den Aussagen der Bedingungstheorie, der Adäquanztheorie, der Relevanztheorie oder neuerdings der Suffizienztheorie behandelt. In dem Maße, in dem die Suche nach einem allgemeinen Kausalgesetz überwunden wurde,6 gelten alle diese Theorien als logische oder epistemische Erklärungsform des Kausalzusammenhangs, aber ohne eine Korrespondenz zu seinem nomologischen Substrat zu etablieren. Die nomologische Grundlage kann erst von einem Sachverstand behauptet werden, der unter Wahrscheinlichkeitskriterien arbeitet. Im nomologischen Sinn ist der Kausalzusammenhang eine Art von Wahrscheinlichkeit, die im Strafrecht nur unter den funktionalen Aussichten derjenigen Normen wirken kann, die ihre Begrenzung zeichnen. Im Grunde genommen ist der Kausalzusammenhang ein Verfahren, das die Verantwortung für einen bestimmten Fall empirisch objektiven und subjektiven, auf der Wahrscheinlichkeit basierten Daten unterordnet. Unter solchen Umständen, die auch epistemisch interpretierbar sind, kann eine unendliche Kette entstehen. Genau wegen dieser unendlichen Kette ist es wichtig, Effekte zu begrenzen, wie es schon mit Hilfe der objektiven Zurechnungskriterien geschieht. 2. Im Allgemeinen wird die Kausalität als eine Form von Wahrscheinlichkeit angesehen, mit dem Ziel, die Verantwortung eines Täters für die Erzeugung eines Effektes oder für die Beurteilung einer Handlung zuungunsten anderer zu begründen. Deshalb ist das Bewusstsein ihrer Bedeutung und Relevanz notwendigerweise mit dem jeweiligen Handlungsbegriff verbunden. Wenn es um eine instrumentelle Handlung geht, hat die Kausalität eine empirische Basis auf der Mittel-Zweck-Beziehung. Wenn es aber um eine strategische oder perlokutionäre Handlung geht, lässt sich die Kausalität nicht mehr durch die Mittel-Zweck-Beziehung erklären, sondern nur als eine Kommunikationsform zwischen Norm und Empfängern, durch die der Gesetzgeber eine Orientierung für individuelles Verhalten liefert.
5 Günther in: Forst/Hartmann/Jaeggi/Saar (Hrsg.), Sozialphilosophie und Kritik, 2009, S. 271. 6 Peitgen in: Prigogine (Ed.), Chaos: the New Science, Lanham 1993, S. 36 f.; Prigogine in: ders. (Ed.), a.a.O, S. 58 f.
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Wenn der Gesetzgeber eine Handlung verbieten will, bezeichnet er auch das Verfahren, das nicht eingesetzt werden darf, damit der Erfolg nicht eintritt. Die Information über dieses Verfahren, das als kausales Verfahren bezeichnet werden kann, gibt dem Normempfänger einen Referenzgegenstand, an dem er sein Verhalten orientieren kann. Die Kausalität lässt sich in diesem Fall nicht als empirischer Gegenstand, sondern als Referenzorientierungsgegenstand verstehen. Dieser der Kausalität gegebene Sinn ermöglicht ihre Übertragung auch auf die Unterlassungsdelikte, weil sie nicht mehr ein ausschließlich auf der Mittel-Zweck-Beziehung basiertes Element, sondern eine Referenz ist, damit der Täter handeln kann. In diesem Sinne kann die Kausalität als eine Abhängigkeitsbeziehung zwischen Gegenständen verstanden werden, die als Beziehung zwischen der tatbestandsmäßigen Situation und dem gebotenen Handeln zustande kommt. Man kann sagen, dass es sich hier nicht mehr um eine Mittel-Zweck-Beziehung, sondern um eine Funktionsbeziehung handelt, die die Gegenstände einer systemischen funktionalen Kohärenz unterordnet.7 Die Erforderlichkeit einer Kausalität bei den Unterlassungstatbeständen ergibt sich aus der Notwendigkeit, dem Täter referenzielle Parameter für sein Handeln zu geben. Diese Erforderlichkeit setzt eine Legitimierung der Gebotsnorm voraus, in dem Maße, in dem sie in einem Rechtsgutsverletzungssystem integriert wird. Eine Norm kann keine Handlungspflicht bestimmen, ohne auch die Umstände und Gegenstände zu bestimmen, die diese Pflicht rechtfertigen und das Verhalten des Täters leiten können.
IV. Die Merkmale des Irrtums 1. Wenn der Kausalzusammenhang als Zusammenhang der Handlungsorientierung und nicht als eine Beziehung zwischen Bedingung und Wirkung betrachtet werden soll, kann er sich bei den Unterlassungsdelikten auf die Objekte beziehen, die die Inhaltsmerkmale des Irrtums konstituieren.8 In diesem Fall irrt der Täter über die Beziehung zwischen der Gefahrensituation und der Notwendigkeit zu handeln und über die Handlungspflicht. Dieser Kausalzusammenhang ist auch relevant, um dem Gebotsirrtum eine empirische Basis zu geben: Der Täter irrt mit der Vorstellung, dass er keine Rettungspflicht hat, aber seine Unterlassung hängt immer von der Gefahrensituation ab, die vor dem Hintergrund dieser Pflicht steht und sein Bewusstsein prägt. Es wäre nicht möglich, einen Gebotsirrtum anzunehmen, wenn keine Gefahrensituation vorläge. Jeder Täter hat als Grund seiner Unterlassung eine Pro-
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Pearl Causality, Cambridge 2000, S. 226. A.A. Greco ZIS 2011, 674.
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jektion ihrer Effekte auf die anderen. Bei dieser Projektion hat auch der Täter das Bewusstsein des Inhalts der Norm, die eine Handlungspflicht für ihn bestimmt. Die Handlungspflicht koexistiert im Bewusstsein des Täters mit dem Kausalzusammenhang zwischen der tatbestandsmäßigen Situation und der Notwendigkeit zu handeln. Die Vornahme einer gebotenen Handlung darf nicht abgespalten werden, so dass sich Kausalzusammenhang und Handlungspflicht trennen. Zutreffend behauptet Fabricius im Anschluss an Badcock und Ciompi: „Die Rolle des Bewusstseins ist nicht, einen spezifischen Willensakt zu initiieren, sondern vielmehr unter den Ergebnissen des Wollenssystems auszuwählen und sie zu kontrollieren.“9 Wenn die Beziehung zwischen der tatbestandsmäßigen Situation und der Handlungspflicht die Konsequenz eines einzelnen Kommunikationsverfahrens ist, ist es nicht möglich, die Handlungspflicht zu verstehen, ohne zuerst die tatbestandsmäßige Situation mit einzuschließen. Es ist auch nicht möglich, die tatbestandsmäßige Situation allein, ohne Berücksichtigung der Handlungspflicht, zu verstehen. Die Wahrnehmung der tatbestandsmäßigen Gefahr und der Notwendigkeit zu handeln würde, ohne das Bewusstsein der Handlungspflicht, keine Handlungsorientierung geben. Sie wäre einfach ein statisches und irrelevantes Element, das nur beobachtet werden könnte, ohne auf irgendeine erwartete Handlung hinzuweisen. Was ihr eine typische Relevanz gibt, ist ihre Verbindung mit der Handlungspflicht. Jeder Irrtum entspricht einer falschen Wahrnehmung der Realität. Aber die Realität wird nicht mehr als eine rein instrumentelle konfiguriert, sondern innerhalb einer Lebenswelt, die auch die normativen Verpflichtungen einbeziehen soll. Das führt zu einer Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Bewusstsein der Umstände einer typischen Gefahrensituation und dem Bewusstsein der Handlungspflicht. In der kommunikativen Auffassung ist es nicht möglich, eine Gefahrensituation normativ zu thematisieren, ohne sie mit der Handlungspflicht zu verknüpfen. Diese enge Beziehung zwischen empirischen Gegebenheiten und normativer Pflicht führt zu einer Einheit auch im Bereich des Bewusstseins, sodass es sich hier nicht mehr um einen reinen Tatbestandsirrtum oder um einen reinen Gebotsirrtum handelt, sondern um einen Irrtum sui generis, der Unrechtsirrtum genannt werden kann. 2. Im Tatbestand der echten Unterlassungsdelikte gibt es zwei Abhängigkeitsbeziehungen: zwischen der typischen Gefahrensituation und der Notwendigkeit zu handeln einerseits und zwischen der Notwendigkeit zu handeln und der Handlungspflicht andererseits. Dies sind funktionale Abhängigkeitsbeziehungen (Variable), bei denen ein Kausalzusammenhang besteht. Eine
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Fabricius Kriminalwissenschaften: Grundlagen und Grundfragen, Bd. I, 2011, S. 196.
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Notwendigkeit zu handeln wird nicht von Nichts hervorgerufen. Die Notwendigkeit zu handeln entsteht aus den empirischen konkreten Bedingungen, die ihre Konturen definieren und dem Täter das Material liefern, mit dem er sein Verhalten an der Norm orientieren kann. Die Notwendigkeit zu handeln begründet eine Pflicht des Täters zu handeln. Eine Unterlassung kann dem Täter nur zugerechnet werden, wenn eine Notwendigkeit zu handeln besteht. Aber die Bestimmung einer Pflicht ergibt nur einen Sinn, wenn sie zugleich in empirischen Gegebenheiten verankert ist, die nicht nur die Notwendigkeit zu handeln, sondern auch die Orientierung für den Täter, wie er die Handlungspflicht zu erfüllen hat, rechtfertigen können. So gesehen scheint es nicht möglich, diese Reihenfolge zu unterbrechen, als ob das Bewusstsein der Tatbestandsgegenstände anders wäre als das Bewusstsein der Gebotsnorm. Bei einer Analyse der Bewusstseinsbildung über Gegebenheiten der empirischen und der normativen Realität kann man sehen, dass die Tatsachenerklärung und das Normenverständnis in der Sozialisation des Täters integriert sind; sie werden schon in der frühen Kindheit durch familiäre Sozialisation angelegt und entwickeln sich während des Lebens durch Vorschläge, Verbote und Gebote. Die Sozialisation ist nie abgeschlossenen. Gemäß der fortgesetzten und unbestimmten Verschiedenheit der sozialen Beziehungen lebt der Täter in einem fortlaufenden Lernprozess. Damit er seine sozialen Handlungen richtig durchführen kann, muss er sich der empirischen Realität und der Gegenstände, welche die Norm für seine Handlungsorientierung liefert, bewusst sein. Wenn die Sozialisierung aus einem fortlaufenden Lernprozess hervorgeht, ist eine Darstellung der Existenz einiger auf die Gefahr hinweisenden Gegebenheiten unzureichend, um eine Verantwortlichkeit zu begründen. Dazu muss man auch die Art der Abwendung dieser Gefahr oder der folgenden Verletzung durch eine bestimmte Handlung hinzufügen. Genau in dieser Beziehung zwischen der auf eine Gefahr hinweisenden Gegebenheit und der Abwendungsmöglichkeit einer solchen Gefahr oder Verletzung durch eine gebotene Handlung liegt die Handlungspflicht. In diesem Bereich erscheint und entwickelt sich das individuelle Bewusstsein und verstärkt sich das Sozialisationsverfahren des Täters. Deshalb ist das Bewusstsein der empirischen Gegebenheiten allein unzureichend, um den Täter verantwortlich zu machen, und somit auch unzureichend, den subjektiven Teil des Unterlassungstatbestands zu erfüllen. Bei der unterlassenen Hilfeleistung besteht die Verantwortung des Täters darin, dass er bei einer Gefahrensituation für andere keine Rettungshandlung vorgenommen hat, die notwendig gewesen wäre, um diese Gefahr abzuwenden. Seine Verantwortung kann in diesem Fall aufgrund eines Irrtums ausgeschlossen werden, wenn der Täter die Gefahrensituation nicht erkannte, wenn er seine Handlung nicht für notwendig hielt oder wenn er annahm, dass keine Handlungspflicht für ihn bestand. Dies ist der Fall, wenn der Täter
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die Existenz oder die Fortdauer der Gefahr nicht erkennt, z.B. wenn er nicht weiß, dass das Opfer ertrinkt oder verletzt ist, oder dass es von niemandem gerettet wird; auch wenn der Täter glaubt, dass das Opfer nicht gerettet werden muss, weil es vor einem Polizisten steht und deshalb keine Hilfe braucht; endlich, wenn er annimmt, dass das Opfer doch in Gefahr ist, aber nicht gerettet werden muss. In allen diesen Fällen wird deutlich, dass die Relation zwischen den empirischen Gegebenheiten und der Handlungspflicht eine enge ist. Falls der Täter annimmt, dass er keine Hilfe leisten muss, weil das Opfer schon gerettet wird oder weil es vor einem Polizisten steht, bezieht sich der Irrtum auf das Handlungsgebot, so dass er nicht von dem Bewusstsein der Existenz einer Gefahr getrennt werden kann. Wenn der Täter keine Kenntnis von der Gefahr hat, kann er sich auch nicht der Handlungspflicht bewusst sein. Das Bestehen einer Handlungspflicht ergibt nur einen Sinn, wenn sie im Zusammenhang mit einer Sozialisation betrachtet wird, die die empirischen und normativen Daten vereint. Wenn keine Sozialisation stattgefunden hat, gibt es auch keine Verantwortung. In einigen Ländern gibt es keine strafrechtliche Verantwortung wegen unterlassener Hilfeleistung.10 Ein Einwohner eines dieser Länder, der sich in Deutschland aufhält, wird nicht entsprechend sozialisiert sein, um solche Verhaltensnormen zu internalisieren. Man kann das so verstehen, dass er sich nicht der Handlungspflicht bewusst ist, andere zu retten. Der Täter irrt sich in diesen Fällen nicht nur bezüglich der Norm, sondern auch bezüglich des Unrechts, das in seinem Sozialisationsverfahren nicht mit einbezogen wurde. 3. Dasselbe kann bei den unechten Unterlassungsdelikten der Fall sein. Hier unterlässt der Täter eine Handlung, die wegen der empirischen Gegebenheiten einer Begehung entsprechen muss. Obwohl die Strafrechtslehre einer Entsprechungsklausel wenig Relevanz zugesteht – lediglich bei Delikten, die eine besondere Begehungsform tatbestandlich voraussetzen –, scheint sie doch unentbehrlich zu sein (besonders im brasilianischen Recht, das den Kausalzusammenhang für die Unterlassung verlangt) in dem Sinne, dass sie die Kausalität wie bei einer vorgenommenen Handlung erzeugen kann.11 Wenn bei den Begehungsdelikten die Darlegung eines Kausalzusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg verlangt wird, muss das auch für das Unterlassungsdelikt gelten, dessen Tatbestand von dem Begehungsdelikt abgeleitet wird. Daraus folgt, dass die Unterlassung in diesem Fall einer Begehung entsprechen muss.
10 Von Hirsch in: ders./Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 115. 11 Dasselbe gilt für das italienische Recht (Codice penale, Art. 40).
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Die Äquivalenz zwischen Unterlassung und Handlung verlangt, dass der Täter das Bewusstsein sowohl der empirischen Gegebenheiten als auch der normativen Elemente haben muss; z.B. muss die Mutter wissen, dass sie das Kind nicht füttert und es deshalb sterben kann, und dass die Norm eine Erfolgsabwendungspflicht für sie bestimmt, weil sie sonst als Begehungstäterin bestraft wird, obwohl man in diesem Fall einerseits zwischen empirischen Daten und normativer Pflicht trennen kann, andererseits das Bewusstsein der Erfolgsabwendungspflicht nicht von dem Bewusstsein der Äquivalenz zwischen Unterlassung und Handlung getrennt werden kann. Die Erfolgsabwendungspflicht hat nur einen Sinn, wenn die empirischen Bedingungen auch darauf hinweisen, dass die Unterlassung den Erfolg produziert. Wenn der Täter davon ausgeht, dass er nicht handeln muss, weil ihn die Erfolgsabwendungspflicht nicht trifft (wenn etwa der Stiefvater denkt, dass er nicht handeln muss, weil er mangels Blutsverwandtschaft keine Garantenstellung innehat), irrt er nicht bezüglich der Norm, sondern auch bezüglich der Beziehung zwischen der Garantenstellung und der kausalen Herbeiführung des Erfolgs. In diesem Fall ist die Garantenstellung auch ein Element der Sozialisation, die sich immer auch auf die Beziehung zu empirischen Gegenständen beziehen muss. Die Garantenstellungen – die im brasilianischen Recht normiert sind – sind mit der sozialen Funktion verbunden, Rechtsgutsverletzungen präventiv entgegenzuwirken. Wer bezüglich der Garantenpflicht irrt, irrt auch bezüglich der Auswirkungen dieses Irrtums, d.h. bezüglich der Konsequenzen, falls er den Erfolg nicht abwendet. Das Tätigwerden, um den Erfolg abzuwenden, ergibt nur vor dem Hintergrund einer einschlägigen Garantenpflicht Sinn. Das Bestehen dieser Pflicht wiederum lässt sich nur vor dem Hintergrund eines übergeordneten Systems von Aufsicht und Schutz sinnvoll herleiten. Wer z.B. Vasen am Fenster stehen hat, ist hypothetisch verantwortlich für eine Gefahrenquelle für den sich unter dem Fenster befindlichen Verkehr. Vom Besitzer wird daher verlangt, Vorkehrungsmaßnahmen zu treffen – in unserem Beispiel etwa müssten die Vasen bei starkem Wind vom Fenster weggestellt werden. Wenn z.B. der Bewohner denkt, dass er als Mieter keine Pflicht hat, die Vasen aus dem Fenster herauszunehmen, um die Gefahr abzuwenden, gilt Folgendes: Damit die Pflicht besteht, muss sich der aktuelle Quellenbesitzer, also der Mieter, im Klaren sein, dass die Gefahr besteht und dass seine Unterlassung dem Werfen der Vasen aus dem Fenster äquivalent ist. Die Notwendigkeit, den Erfolg abzuwenden, verhindert, dass der Mieter sie aus seiner Beziehung zu der Gebotsnorm abziehen kann. Die Gebotsnorm ergibt hier nur einen Sinn, wenn sie mit der Notwendigkeit zu handeln gekoppelt ist. Niemand kann sich bezüglich einer Norm irren, ohne auch bezüglich der Tatsachen zu irren, die ihren Tatbestand ausmachen. Es handelt sich um einen Unrechtsirrtum, weil er empirische und normative Daten mit einschließt (Gefahr, Kausalität, Handlungsnotwendigkeit, Garantenstellung, Garantenpflicht und die Pflicht, den Erfolg abzuwenden).
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4. Die fundamentale Prämisse des Irrtums bei den Unterlassungsdelikten als Unrechtsirrtum besteht darin, dass der Täter, um sein Verhalten zu steuern, die empirischen Gegebenheiten und normativen Gebote nicht getrennt wahrnehmen kann. Das folgt aus der Verschiedenartigkeit und Instabilität dieser Daten, die seine Unrechtseinsicht beeinflussen. Das Recht kann nicht ignorieren, dass die menschliche Realität, welcher es entsprechen soll, auch kontingent ist. Um vom menschlichen Verhalten rational etwas zu verlangen, muss die Norm dieses Verhalten auch „in Bezug auf die Umwelt und eine erweiterte Perspektive“ erschließen12 in dem Sinne, dass der Täter für seine Entscheidung nur verantwortlich sein kann, wenn er keinen Zweifel hat, was eigentlich von ihm verlangt wird.13 Nach Essers Darstellung, „[gehören] die Menschen meist ja nicht nur einem, sondern mehreren Kontexten zu …“ und diese Kontexte „[sind] kaum abgrenzbar und oft sehr instabil“, obwohl es klar sei, dass es auch stabile Kontexte gibt, aber „eher in statischen und segmentierten vormodernen Gesellschaften, kaum jedoch in den komplexen sozialen Systemen der Moderne.“14 Gerade weil das Leben sehr dynamisch ist, kann der Mensch sein Verhalten nur an einer Norm orientieren, wenn er ihr Gebot selbst aus den empirischen Gegebenheiten ableiten kann, aus denen sich für ihn die Notwendigkeit des Handelns ergibt, um einen bestimmten Erfolg zu verhindern. Er muss sich weiterhin im Klaren sein, dass eine Unterlassung in dieser Situation der Vornahme einer Handlung zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges entspricht. Das Bewusstsein der Erfolgsabwendungspflicht ist dann in breading des Bewusstseins der empirischen Gegebenheiten, die die Garantenstellung begründen, der Notwendigkeit zu handeln und auch des besonderen Umstands, dass seine Unterlassung kausal für den Erfolg ist, weil sie einer Handlung entspricht. Die Interdependenz zwischen der Erfolgsabwendungspflicht und der Notwendigkeit zu handeln bestimmt das Wesen des Gebotsirrtums. Deshalb ist es notwendig, dass das Gebotsbewusstsein sich mit den Unrechtsmerkmalen vereinbaren lässt. Damit der Mensch sein Verhalten steuern und seine Handlungspflicht beachten kann, muss er in enger Beziehung zu den Nahumwelten stehen, die seine Kontexte bilden. In diesem Sinne sagt Esser: „Die Soziologie ist voll von Hinweisen darauf, dass Menschen ohne funktionierende soziale Nahumwelten nicht geordnet handeln können und dass sie erst durch sie auch einen Sinn in ihrem Tun finden.“15 Auch Campbell und Alexander haben gezeigt, wie die norma-
12
Fabricius (Fn. 9), S. 197. Zum Verbotsirrtum Leite GA 2012, 688, 698. 14 Esser Soziologie, spezielle Grundlagen, Bd. 1: Situationslogik und Handeln, 2002, S. 457. 15 Esser (Fn. 14), S. 461. 13
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tiven Bestimmungen erst auf die sozialen Handlungen einwirken, wenn die sozialen Kontrollen in einem Kommunikationsverfahren arbeiten.16 Anders gesagt, die Handlungsorientierung kann erst beachtet werden, wenn der Täter das Bewusstsein der Erfolgsabwendungspflicht in das Bewusstsein der empirischen Gegebenheiten der Unterlassung mit einschließt. 5. Wird der Unrechtsirrtum konfiguriert, soll er auf der gleichen Ebene wie der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund behandelt werden. Beim Unrechtsirrtum kann der Täter sowohl über die empirischen Gegebenheiten als auch über die normativen Elemente irren. In jedem Falle denkt er nicht, dass er gegen die Rechtsordnung handelt, sondern dass sein Handeln nicht rechtswidrig ist – entweder, weil ihm die empirischen Gegebenheiten, die eine Notwendigkeit einzuschreiten begründen, nicht bewusst sind, oder er die Bedingung, die ihm eine Pflicht zum Handeln auferlegt, nicht erkannt hat. In diesem Fall soll die Relevanz des Irrtums nicht ausschließlich von den Kriterien der Abwendbarkeit abhängig gemacht werden, sondern auch von der Effizienz der Norm, dem Täter mehr oder weniger eine Orientierung zu geben. Wenn der Irrtum unvermeidbar ist, wird das Unrecht auch ausgeschlossen; wenn der Irrtum vermeidbar ist, wird der Vorsatz ausgeschlossen, aber die Verantwortung für fahrlässiges Handeln soll unter die Beziehung zwischen dem Täter und den Tatumständen im Hinblick auf die sich aus dem Kontext ergebende Handlungspflicht untergeordnet werden. Die Abwendbarkeit schließt auch die Fahrlässigkeit aus, falls der Täter sein Handeln nicht an der Norm orientieren kann, weil sie nicht bestimmt genug ist, um die Grenzen des autorisierten Risikos zu ziehen.
V. Fazit 1. Die Unterlassungsdelikte sind nicht kompatibel mit einem instrumentellen Handlungsbegriff, sondern mit dem Konzept einer in einem Kommunikationskontext situierten strategischen oder perlokutionären Handlung. 2. Der Tatbestandsirrtum und der Gebotsirrtum bei den Unterlassungsdelikten bilden gemeinsam einen Irrtum sui generis, der Unrechtsirrtum genannt werden kann. Bei den echten Unterlassungsdelikten umfasst der Irrtum sowohl die tatbestandsmäßige Situation als auch die Notwendigkeit zu handeln und die allgemeine Hilfspflicht. Bei den unechten Unterlassungsdelikten schließt der Irrtum die Quellen der Garantenstellung, die Notwen-
16
Esser (Fn. 14), S. 461.
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digkeit, den Erfolg durch eine Handlung abzuwenden, den Kausalzusammenhang zwischen der Unterlassung und dem Erfolg im Hinblick auf seine Äquivalenz zu einer Handlung und die Handlungspflicht als Garant mit ein. Als Unrechtsirrtum soll er nach den Regeln des Irrtums über Rechtfertigungsgründe behandelt werden.
Abgrenzung von Beihilfe und Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten Keiichi Yamanaka I. Einleitung In der deutschen Wissenschaft ist die Lehrmeinung herrschend, die die Täterschaft in diejenige bei Herrschaftsdelikten und diejenige bei Pflichtdelikten unterteilt und die Unterlassungsdelikte neben den Fahrlässigkeitsdelikten in die letztere Kategorie einordnet. In Japan hingegen hat die Konzeption der Pflichtdelikte fast keine Anhänger unter den herrschenden Autoren,1 nachdem nunmehr auch Naka2 von dieser Meinung Abstand genommen hat. Der Jubilar hat in seiner Dissertation von 1971 die Theorie entwickelt, die Begehungsgleichheit der unechten Unterlassungsdelikte aus der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ herzuleiten.3 Freilich erkennt auch er die Kategorie der Pflichtdelikte an. Seiner Auffassung folgend hat der unterlassende Täter keine „Tatherrschaft“ wie ein Begehungstäter, die erst mit der Steuerbarkeit des Kausalgeschehens begründet wird. Die bloße Erfolgsvermeidbarkeit begründet keine Tatherrschaft des Unterlassenden. Die „Tatherrschaft“ sei kein Differenzierungskriterium zwischen dem Täter und der Teilnahme bei den Unterlassungsdelikten.4 Er sieht jedoch die Unterlassung als eine Pflichtverletzung an, die die Täterschaft begründet.5 Die Unterschei1 Seiji Saito vertritt zwar den Pflichtdeliktsgedanken bei den Unterlassungsdelikten in einem Aufsatz (Unterlassungsdelikte und Teilnahme in: Law School Nr. 14, S. 19 ff.). Aber er begründet seine Meinung nicht. Er unterstützt lediglich die Lehre von Rudolphi und Roxin (Rudolphi Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 257 ff.; Roxin Täterschaft und Teilnahme, 1977, § 6, I, II). 2 Vgl. Yoshikatsu Naka FS Chihiro Saeki, 1968, S. 463, 474 ff. Seine Meinung hat er in seinem Lehrbuch später zurückgenommen (Naka Hanzai Soron [Straftatlehre], 1980, S. 235). Er begründete seine neue Theorie danach in seinem Sammelband Keihoujo no Shomondai (Strafrechtliche Probleme), 1991, S. 330 ff. 3 Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 236 ff. Er differenziert seine Figur der „Herrschaft über den Grund des Erfolgs“ in die „Herrschaft über eine wesentliche Erfolgsursache“ und die „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers“ (vgl. Schünemann a.a.O., S. 280); vgl. auch ders. in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 49. 4 Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 209. 5 Er lehnt die „strenge Täterschaftstheorie“ ab, LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 210.
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dung der „Herrschaft über eine wesentliche Erfolgsursache“ und der „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers“ begründet auch nicht direkt den Unterschied zwischen Beihilfe und Täterschaft bei den Unterlassungsdelikten. Schünemann vertritt die sog. „materielle Garantentheorie“:6 Nicht durch die Arten der formalen Garantenpflichten, sondern dadurch, ob die Garantenpflichten im Vorbereitungsstadium oder im Ausführungsstadium liegen, werden Täterschaft und Beihilfe voneinander abgegrenzt. Nachfolgend soll zunächst die praktische Lösung in der japanischen Judikatur untersucht werden. Sodann wird diese Lösung mit den theoretischen Ansätzen, die in Japan vertreten werden, konfrontiert. Schließlich werde ich meine eigene Auffassung dazu entwickeln, wobei ich auch die Meinung des Jubilars kritisch in Betracht ziehen werde.
II. Japanische Judikatur Zuerst möchte ich Sachverhalte und Entscheidungen in der japanischen Rechtsprechung vorstellen, in denen es um die Frage nach Täterschaft (Mittäterschaft) oder Beihilfe bei einer Beteiligung durch Unterlassen geht. 1. Beschützungspflicht und Hinderungspflicht Eine Entscheidung des OG Tokyo ist besonders interessant, da hier zwischen „Beschützungspflicht“ und „Hinderungspflicht“ differenziert wurde. Das Urteil erkennt an, dass diese Differenzierung eine Rolle bei der Unterscheidung zwischen Tätern und Gehilfen bei den Unterlassungsdelikten spielt.7 Der Angeklagte X war Geschäftsführer des Game-Zentrums8 M, das zu einer Gesellschaft gehörte, die auch das Pachinko-SpielautomatenGeschäft N betrieb, in dem der Angeklagte A als Angestellter arbeitete. Der Angeklagte A hatte mit anderen Personen einen Raub an dem Spielautomaten-Geschäft N geplant und dem Angeklagten X diesen Tatplan offenbart. X hatte darauf nichts unternommen. A und die anderen Personen nahmen dem Kassierer des Geschäfts N den gesamten Tagesumsatz unter Einsatz körperlicher Gewalt weg. Die erste Instanz verurteilte X wegen Beihilfe zum Raub und Körperverletzung (§ 240 jStGB) durch Unterlassen. Um das Unterlassen der Verhinderung einer fremden Straftat als Beihilfe einzustufen, ist es erforderlich, dass man überhaupt zur Verhinderung ver6
LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 211. Urteil des OG Tokyo v. 29.1.1999, Hanrei Jiho 1683, 153. 8 Ein Game-Zentrum ist eine Halle, in der man verschiedene Spiele spielen kann. Ein Pachinko-Spielautomaten-Geschäft ist auch eine Spielhalle, in der man aber nur ein bestimmtes Spiel mit der Bezeichnung „Pachinko“ spielen kann. 7
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pflichtet ist. Solche Pflichten zur Verhinderung von Straftaten werden auf zwei verschiedene Weisen begründet: zum einen mit der Pflicht zur Beschützung des durch die Straftat des Täters verletzten Rechtsgutes (= Beschützungspflicht) und zum anderen mit der Pflicht zur direkten Verhinderung der Straftaten des Täters (= Hinderungspflicht). Im Urteil war daher zu prüfen, ob die Pflicht des X auf Grund des Arbeitsvertrages im Hinblick auf seine Position als Angestellter bei dem Geschäft M eine Beschützungs- oder eine Hinderungspflicht umfasst. Im Ergebnis wurden sowohl eine Beschützungs- als auch eine Hinderungspflicht verneint. Denn der Angeklagte X habe keine Hinderungspflicht, weil er kein Vorgesetzter von A war; und er habe keine Beschützungspflicht, weil er kein Angestellter des Geschäfts N war. 2. Die Beihilfe-Fälle a) Urteil des LG Kushiro von 1999 9 Die Angeklagte wohnte mit ihren Kindern A und B sowie ihrem Bekannten X zusammen. X züchtigte die Kinder A und B regelmäßig mit Gewalt. Eines Tages dachte die Angeklagte, dass der X wie immer B misshandeln würde. Trotzdem bereitete sie weiter in der Küche das Abendessen vor. X begann damit, B zu misshandeln. Er schlug ihm fünfmal mit der Faust gegen den Kopf. Daraufhin fiel B vor Schmerzen schreiend zu Boden, wurde bewusstlos und verstarb später. Die Angeklagte war damals schwanger. Es stellte sich für die Richter die Frage, ob die Angeklagte wegen Beihilfe zur Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt werden konnte, da sie es unterlassen hatte, einzuschreiten. Das LG hat eine Handlungsmöglichkeit der Angeklagten verneint. Nach der Ansicht des Gerichts ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass eine gewaltsame Verhinderungshandlung der Angeklagten die Gewalttätigkeiten des X gehindert hätte. Es wäre für sie allerdings „sehr schwer gewesen, die Gewalttätigkeiten des X durch eigene Gewaltanwendung zu verhindern. Man darf daher ihre Unterlassung nicht einer Körperverletzung mit Todesfolge durch Tun gleichsetzen.“ b) Urteil des OG Sapporo von 2000 Die zweite Instanz hat demgegenüber die Möglichkeit zur Erfolgsvermeidung durch einen Rettungsakt der Angeklagten bejaht. Wenn sie, für X sichtbar, das Geschehen beobachtet hätte, so hätte dies auf ihn psychischen Druck ausüben können. So hätte die Möglichkeit bestanden, die Misshandlungen zu verhindern. Es sei außerdem hinreichend wahrscheinlich, dass schon durch
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Urteil des LG Kushiro v. 12.2.1999, Hanrei Jiho 1675, 148.
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bloße Überredung X an der Misshandlung hätte gehindert werden können. Die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Gesundheit des Embryos sei niedrig gewesen. Somit lasse sich nicht feststellen, dass die Angeklagte sich insoweit in einer derart schwierigen Lage befand, dass sie die Misshandlung des B nur mit Gewalt hätte verhindern können. c) Urteil des OG Nagoya von 200510 Die Angeklagte hatte Umgang mit dem Gymnasiasten X. Er suchte sie öfters in ihrer Wohnung auf, wo sie mit ihrem vierjährigen Sohn A zusammenlebte. X begann damit, gegen A Gewalt auszuüben. Als X eines Tages A mit dem Fuß trat, war die Angeklagte im selben Zimmer. Sie verhinderte die Gewaltanwendung nicht, infolge derer A später verstarb. Im Urteil wurde die Handlungspflicht der Angeklagten damit begründet, dass sie trotz ihrer Position als Beschützerin ihres Kindes die Gefährdung von A durch X geduldet hat. „Die Beihilfe umfasst alle Handlungen, die die Begehung der Tat durch den Täter erleichtern, und es genügt für eine Beihilfehandlung, wenn die Handlung zum Erfolg der Tat beitragen kann. Daher genügt es auch bei der Beihilfe durch Unterlassen, wenn der Gehilfe die Unrechtstat des Täters erleichtert.“ In diesem Fall hat die Angeklagte die „Lage, in der A gefährdet wird“ geschaffen. Dadurch wurde ihre Handlungspflicht, eine solche Gefahr zu beseitigen, begründet. Das Urteil hält es bei der Beihilfe für nicht erforderlich, durch die mögliche Handlung den Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindern zu können. In einem solchen Fall sei es angemessen, dass die Verhinderungspflicht der Angeklagten sogar so weit geht, dass sie die Gewalttätigkeiten des X unter Gefährdung ihrer eigenen körperlichen Unversehrtheit verhindern muss. Daher wurde in diesem Fall die Verhinderungspflichtwidrigkeit bejaht. 3. Beihilfe und Mittäterschaft/LG und OG Hiroshima (2004 und 2005)11 Die Angeklagte wohnte mit ihren zwei Kindern, dem Jungen A (6 Jahre alt) und einem Mädchen B (4 Jahre alt), zusammen. Der neue Partner X der Angeklagten misshandelte die beiden Kinder, die an den Folgen verstarben. Die Angeklagte ist nie eingeschritten. Angesichts des Todes des A (Fall A) hat das LG12 die Tat der Angeklagten als mittäterschaftliche Körperverletzung mit Todesfolge beurteilt. Dagegen hat das OG Mittäterschaft zum Totschlag bejaht. Was den Tod des B anbelangt (Fall B), so hat das LG die Angeklagte wegen Beihilfe zur Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Die
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Urteil des OG Nagoya v. 7.11.2005, Kokeisoku 2005, 292. Urteil des OG Hiroshima v. 19.4.2005, LEX/DB. Urteil des LG Hiroshima v. 7.4.2004, LEX/DB.
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unterschiedliche Beurteilung der beiden Fälle ist den abweichenden Umständen geschuldet, unter denen die Kinder zu Tode kamen. Im Fall A dauerten die Misshandlungen durch X schon seit etwa zwei Monaten an. Während dieser Zeitspanne hat die Angeklagte die Taten des X nicht verhindert, sondern sich sogar teilweise an den Misshandlungen beteiligt. Am Tag der Tat begann X damit, gegen A Gewalt auszuüben. Als er dem A befahl, in eine große Sporttasche hineinzukriechen, stand die Angeklagte daneben und beobachtete das Geschehen. Als X die Tasche schloss und A um Hilfe schrie, unternahm sie nichts. Das LG hat eine stillschweigende Vereinbarung zur Körperverletzung mit Todesfolge zwischen der Angeklagten und X bejaht. Dagegen hat das OG „mittäterschaftlichen Totschlag“ angenommen, weil die Angeklagte es in Kauf genommen habe, dass A durch das Verschließen der Tasche zu Tode kommen könnte. Beide Instanzen haben im Fall A die Tat der Angeklagten nicht einfach als Unterlassung eingestuft. Denn es gab auch aktive Momente während der gesamten Umstände ihrer Tat. Im Gegensatz zu Fall A wurde der Fall B vom LG Hiroshima als Beihilfe zur Köperverletzung mit Todesfolge gewertet. Die Angeklagte hatte die Misshandlungen durch den Täter schon seit einigen Tagen mit angesehen, ohne etwas zu unternehmen. Im Fall B hatte sie nicht zuvor selbst mit dem Täter zusammen Gewalt ausgeübt. 4. Die Mittäterschaft (Urteil des OG Osaka v. 2001)13 Die Angeklagte war Mutter des Mädchens A. Zunächst misshandelte sie das Mädchen mit ihrem Mann X viele Male, um es schließlich dadurch, dass sie ihm Nahrung vorenthielt, vorsätzlich zu töten. Die Angeklagte hat außerdem ein weiteres Mädchen (B) misshandelt und zu Tode kommen lassen. Sie hatte das Kind bis auf Schulterhöhe hochgenommen und sich vor einen holzverkleideten Heizungsapparat gestellt. Zu ihrem Mann, der sich im Zimmer aufhielt, sagte sie: „Ich weiß nicht, wie es verlaufen wird, wenn Du mich nicht abhältst“. Der X reagierte nicht auf ihre Ankündigung, sondern wandte sich gleichgültig ab, woraufhin die Angeklagte das Mädchen gegen den Heizkörper schleuderte. Das Kind erlitt eine Kopfverletzung, an der es im Krankenhaus verstarb. Das OG hat vorsätzlichen Mord zu Lasten der B bejaht und die Angeklagte wegen mittäterschaftlicher Begehung mit X verurteilt. X habe die Tat nicht nur nicht verhindert. Durch sein Sich-Abwenden habe er die Angeklagte mit dazu veranlasst, B gegen den Heizkörper zu schleudern. Für unsere Untersuchungen ist das Verhalten des X interessant. Im Urteil wurde nicht festgestellt, ob es ein Tun oder Unterlassen ist. Die Angeklagte und X hatten dem Opfer schon seit langem die Nahrung verwehrt und damit
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Urteil des OG Osaka v. 21.6.2001, Hanrei Times 1085, 292.
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den Hungertod des Kindes in Kauf genommen. Außerdem hatte X die B bereits heftig misshandelt. Aus diesem Grund ist das OG von (Komplott-) Mittäterschaft ausgegangen.14 Soweit es dieser Theorie gefolgt ist, war es für das OG möglich, Mittäterschaft zu bejahen, ohne danach zu fragen, ob es sich um Tun oder Unterlassen handelte. 5. Würdigung Ein theoretisches Kriterium für die Unterscheidung zwischen Beihilfe und Mittäterschaft wurde durch die vorstehend behandelten Entscheidungen nicht klar aufgezeigt. Man könnte jedoch die für die Unterscheidung wichtigen Umstände aus den Fällen induzieren. So gab es eine Entscheidung, in der der Wahrscheinlichkeitsgrad des Erfolgseintritts als maßgeblich angesehen wurde, und zwar, ob der Angeklagte den Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können (dann Täter) oder durch das erforderliche aktive Tun vielleicht den Erfolgseintritt erschwert (dann Gehilfe). Im Folgenden sind diese Fragen näher zu analysieren.
III. Japanische Lehrmeinungen Zunächst sind die Lehrmeinungen in der japanischen Wissenschaft im Hinblick auf die Frage nach Täterschaft oder Beihilfe eines unterlassenden Beteiligten zu überprüfen. Im Allgemeinen lässt sich dabei feststellen, dass diese Lehrmeinungen auf der Basis der deutschen Theorie entwickelt wurden. 1. Teilnahmetheoretischer Ansatz Bei diesem Ansatz kommt in der Regel nur Beihilfe in Betracht, was unterschiedlich begründet wird. a) Lehre der ontologischen Begründung der Beihilfe Zuerst ist die Lehre der ontologischen Begründung – nach meiner eigenen Bezeichnung – der Beihilfe zu nennen. Hiernach hat die Unterlassung ontologisch die Charakterzüge einer Beihilfe. Z.B. haben in einem Fall, in dem ein 14 Dazu vgl. Yamanaka in: Eser/Yamanaka (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 127 ff. Nach dieser Lehre lässt sich Mittäterschaft feststellen, wenn der vorherige Komplott von beiden gemacht wurde und einer von beiden die Tat durchgeführt hat. Deswegen spielt das Tun oder Unterlassen der ersten Person eigentlich keine Rolle. Denn auch derjenige, der selbst keine Tatausführung begangen hat, lässt sich nach dieser Theorie als Mittäter bestrafen.
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Kind ertrunken ist, die natürlichen Umstände, die zum Ertrinken geführt haben, täterschaftlichen Charakter und die Unterlassung der Eltern, die das Kind nicht gerettet haben, trägt die Charakterzüge eines Gehilfenverhaltens. Der Unterlassende ist nur das die natürlichen Umstände unterstützende Sein und deswegen als Gehilfe zu beurteilen.15 Der Unterlassende ist mit anderen Worten nur der Gehilfe, weil und wenn der Begehende die positive Ursache für den Erfolgseintritt gesetzt hat. Aber diese Lehre scheitert bereits im Ansatz, weil sie für eine Unterscheidung zwischen Täter und Gehilfen bei den Unterlassungsdelikten überhaupt ungeeignet ist. Denn es erscheint absurd, dass der Unterlassende auch dann Gehilfe ist, wenn es gar keinen Täter gibt. b) Lehre der normativen Begründung für die Beihilfe Außerdem gibt es die Lehre der normativen Begründung, die für alle Fälle Beihilfe annimmt. Nach dieser Lehre liegt die Lösung des Problems in der Normentheorie: Sie bestimmt das normative Übergewicht nach der jeweiligen Normenart und schließt daraus, ob es sich um einen Unterlassungstäter oder einen Begehungstäter handelt. Der normative Befehl spielt bei den Begehungsdelikten die „Hauptrolle“. Dagegen ist der normative Befehl, der sich an den Unterlassungstäter richtet, nur „sekundär“ auf die Hinderung der Rechtsgutsverletzung bezogen. Deshalb muss die Tat des Unterlassenden jedenfalls immer dann Beihilfe sein, wenn außer ihm auch ein Begehungstäter beteiligt ist. Gegen diese Lehre ist einzuwenden, dass sie nicht klärt, warum die Norm den Begehungstäter dem Unterlassungstäter vorzieht. aa) Differenzierungslehre nach dem Erfolgsvermeidbarkeitsgrad Diese Lehre widmet ihre Aufmerksamkeit dem wesentlichen Unterschied zwischen der Kausalität der Täterschaft für den Erfolg einerseits und der Kausalität von Beihilfe für den Erfolg andererseits: Bei der Täterschaft ist Kausalität nach der Bedingungstheorie erforderlich, während dies bei der Beihilfe nicht notwendig ist, sondern „die Förderung oder Erleichterung des Taterfolgs“ genügt. Diese Lehre wendet das Prinzip auch auf die Beihilfe durch Unterlassen an. Es ist danach für die Beihilfe durch Unterlassen nicht notwendig, dass der Erfolgseintritt „mit Sicherheit“ vermieden werden kann, wenn man die gebotene Handlung vornehmen würde, sondern es genügt, wenn man den Erfolgseintritt durch die betreffende Handlung erschweren könnte. Dagegen führt die Unterlassung dann zur Täterschaft, wenn man mit Vornahme der gebotenen Handlung den Erfolgseintritt „mit Sicherheit“ vermeiden kann.16
15 16
Fumiaki Uchida Keiho 1 (Strafrecht 1), 1979, S. 296. Noriyuki Nishida Keiho Soron (Strafrecht AT), 2. Aufl. 2010, S. 362.
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Diese Lehre ist schon in ihrem Ausgangspunkt nicht richtig, wenn sie zwischen Täterschaft und Beihilfe nach dem Grad der Kausalität unterscheiden will.17 Denn es gibt insofern keinen Unterschied zwischen Täterschaft und Beihilfe. Es gibt im Grunde überhaupt keinen Unterschied zwischen „Verursachungskausalität“ und „Förderungskausalität“.18 bb) Potenzielle Tatherrschaftstheorie Die Mehrheit in der japanischen Theorie folgt dieser Lehre. Sie wurde schon von Gallas19 theoretisch begründet und ist auch in Deutschland herrschende Meinung.20 Der Unterlassende ist danach in der Regel Gehilfe.21 Täter ist derjenige, der auch im Falle des Unterlassens den Geschehensablauf in seinen Händen hält. Derjenige, der „Tatherrschaft“ hat, ist Täter.22 Derjenige dagegen, der hinter dem Begehungstäter im Hintergrund bleibt und dessen Straftat nicht verhindert, ist in der Regel nur Gehilfe. Die Entscheidungsmacht zur Tatausführung hat nur der Begehungstäter. Auch die Rechtsprechung folgt ohne entsprechende Begründung dieser Theorie, jedenfalls seitdem das Urteil des OG Sapporo23 im Ergebnis dieser Lehre gefolgt zu sein scheint. 2. Unterlassungsdeliktischer Ansatz Anders als die Lehren, die bisher vorgestellt wurden, gibt es auch solche, die von der Eigentümlichkeit der Unterlassungsdelikte ausgehen. a) Pflichtdeliktslehre Die Pflichtdeliktslehre wird auch in Japan vertreten, wobei sich die Auffassungen im Wesentlichen an der deutschen Lehre orientieren. Nach dieser 17 Diese Lehre hat relativ viele Anhänger. Vgl. z.B. Minoru Oya Keiho Kogi Soron (Strafrecht-Vorlesung AT), 4. Aufl. 2012, S. 446; Masahide Maeda Keiho Soron Kogi, 5. Aufl. 2011, S. 518. 18 Vgl. dazu schon Yamanaka Keiho niokeru Ingakankei to Kizoku (Kausalität und Zurechnung im Strafrecht), 1984, S. 186 ff., insb. S. 197 ff.; vgl. in der deutschen Literatur schon die Kritik Bockelmanns (DR 1941, 988). 1969 hat Class den Begriff der „Zuflussoder Verstärkungskausalität“ verwendet, vgl. Class FS Stock, 1966, S. 115 ff. Aber dieser Begriff wurde als unbestimmt und vage kritisiert. 19 Gallas JZ 1952, 372. 20 Vgl. Schwab Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungen, 1996, S. 72 ff. 21 Ryuichi Hirano Keiho Soron (Strafrecht AT) II, S. 396.; Hitoshi Otsuka Keiho Gaisetsu (Grundriss des Strafrechts AT), 4. Aufl. 2008, S. 321; Hiroshi Kawabata Keiho Soron Kogi, 3. Aufl. 2013, S. 600 f. 22 Vgl. Yoshihiro Matsubara Keiho Soron, 2013, S. 433. 23 Urteil des OG Sapporo v. 16.3.2000, Hanrei Jiho 1711, 170; Urteil des LG Kushiro v. 12.2.1999, Hanrei Jiho 1675, 148 (Urteil der ersten Instanz).
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Lehre lassen sich nicht nur die Pflichtdelikte, sondern auch die eigenhändigen Delikte und die Zueignungsdelikte nicht durch Unterlassen begehen. Bei den ersteren Delikten sei der Unterlassende, der zur Verhinderung des Erfolgseintrittes verpflichtet ist, der Täter, wenn er den Erfolg nicht verhindert. Bei letzteren und in dem Fall, in dem eine fremde Beihilfe nicht verhindert werde, sei der Unterlassende ein Gehilfe. Fraglich ist, ob die Pflichtdeliktskonzeption bei den Unterlassungsdelikten gerecht ist. b) Pflichtinhaltslehre Diese Lehre unterscheidet zwischen Täterschaft und Teilnahme nach der Art der Garantenpflicht. Aber die Garantenpflicht wird nicht in Beschützungspflicht und Überwachungspflicht unterteilt, sondern in Beschützungsund Deliktsverhinderungspflicht. In Japan wird die Problematik allerdings schon von Beginn an auf die Fälle eingeschränkt, in denen die Gefahrsituation für das Opfer nicht durch die Natur, Tiere oder Sachen hervorgerufen wird, sondern durch einen Begehungstäter.24 Problematisch ist bei dieser Lehre, dass der Unterlassende, jedenfalls in den Fällen der Beschützungspflichten – wie bei der Pflichtdeliktslehre – nur Täter sein kann. Wenn man dieser Lehre folgt, wäre derjenige Täter, der nicht verhindert, dass ein anderer sein Kind tötet. Dagegen wäre derjenige, der dem Täter ein Messer aushändigt, um sein Kind schneller töten zu können, Gehilfe. c) Modifizierte Pflichtinhaltslehre Diese Lehre modifiziert die zuletzt genannte Lehre. Die Verletzung einer Straftatverhinderungspflicht bedeutet nach dieser Lehre zwar immer eine Beihilfe. Aber die Verletzung einer Beschützungspflicht bedeutet nicht immer Täterschaft. Neben dem Begehungstäter ist der Unterlassende in der Regel Gehilfe. In bestimmten Fallgruppen ist sein Beitrag aber doch als Täterschaft zu bewerten.25 Dieser Ansatz mag im Kern richtig sein; er bedarf jedoch einer anderen Begründung.
24 Junji Abe Beihilfe durch Unterlassen, Keiho Zasshi Bd. 17, H. 3/4, S. 1 ff.; Yoshikatsu Naka Keihoujo no Shomondai (Strafrechtliche Probleme), 1991, S. 332 ff.; Minoru Nomura Keiho Soron, 1998, S. 422. Diese Lehre differenziert in der deutschen Literatur zwischen Beschützergarant (Täter) und Überwachungsgarant (Gehilfe). 25 Takaaki Matsumiya Keiho Soron Kogi, 4. Aufl. 2012, S. 275.
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3. Kombinationstheorie Das Problem ist im Grunde nur durch Kombination beider Ansätze, also des teilnahme- und des unterlassungstheoretischen Ansatzes, zu lösen.26 Mein Ausgangspunkt ist dabei die Pflichtinhaltstheorie. Bei einer Verletzung der Beschützungspflicht ist der Unterlassende jedoch nicht stets Täter, sondern vielmehr fast immer Gehilfe.27 Denn der Begehungstäter fungiert gleichsam als normatives Hindernis, das eine Täterschaft des Unterlassenden ausschließt. Wenn der Unterlassende sich dagegen nach der Tatausführung des Begehungstäters an dem Delikt beteiligt, ist er immer Täter. Im Folgenden soll eine nähere Begründung für diese Lehre gegeben werden. Dabei liegt mein Ausgangspunkt bei den Grundbegriffen von Täterschaft und Teilnahme.
IV. Verursachungsdelikte und Herrschaftsdelikte 1. Verursachungsdelikte Die Prinzipien des „Tatstrafrechts“ und des „Rechtsgüterschutzes“ bilden die Basis des modernen Strafrechts. Taten sind erst dann strafwürdig, wenn das Rechtsgut durch eine menschliche Handlung beeinträchtigt oder gefährdet wird.28 Fraglich ist, ob die Unterlassung eine Rechtsgutsverletzung verursachen kann. Nach der herrschenden Meinung in der Strafrechtswissenschaft hat die Unterlassung zwar keine natürliche oder physische Kausalität im Hinblick auf den Erfolg, aber im sozialen und normativen Kontext ist ein objektiv zurechenbarer Zusammenhang zwischen einer Unterlassung und dem Erfolg anzuerkennen. Die Unterlassung kann den Erfolg im sozialen und normativen Sinne verursachen. Dieser Zusammenhang wird auch als „Quasi-Verursachung“, die mit der physischen Verursachung fast gleichwertig ist, bezeichnet. Deswegen ist eine Straftat dasjenige Tun oder Unterlassen, das ein Rechtsgut verletzt oder gefährdet. Das gilt in der Regel auch für die Teilnahme. Dieses Prinzip ist als „Verursachungsprinzip“29 zu bezeichnen. Dieses Verursachungsprinzip gilt für alle Täter und Teilnehmer.30 Beim Täter 26 Yamanaka Journal of Law School, Kansai Universität, Nr. 6, 2011, 78 ff.; bei Geheimnisdelikten (§ 134j StGB) ist der qualifizierte Unterlassende, der den nicht-qualifizierten Handelnden nicht gehindert hat, Täter (S. 81). 27 Es ist klar, dass der Aufsichtsgarant keineswegs Gehilfe ist, wenn kein anderer dazwischen tritt. 28 M.a.W. müssen die Straftaten immer das Schadens-Prinzip (harm-principle) erfüllen. 29 Zum Begriff der „Verursachungsdelikte“ vgl. Yamanaka Journal of Law School, Nr. 6, 76 ff. 30 Der Begriff der „Verursachungsdelikte“ wird durch die Verletzung der Verursachungsnormen normativ begründet. Die Verursachungsnormen verbieten die Verursachung
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gilt aber außerdem noch das Prinzip der „Tatherrschaft“ mit Ausnahme der Fahrlässigkeitsdelikte. 2. Herrschaftsdelikte Die „Tatherrschaftlehre“ ist heutzutage auch in Japan wohlbekannt und herrschende Meinung, auch wenn ihr Inhalt unterschiedlich verstanden wird.31 Die Deliktsgruppe, bei denen die Tatherrschaft Täterschaftsmerkmal ist, ist als Gruppe der „Herrschaftsdelikte“ zu bezeichnen. Sie ist von der Gruppe der „Pflichtdelikte“ zu unterscheiden, bei denen der wesentliche Inhalt der Delikte in der Pflichtwidrigkeit zu sehen ist. Meiner Ansicht nach gibt es bei der Tatherrschaft einerseits die „kausale Tatherrschaft“, die durch die Gestaltung und Steuerung des Geschehens ohne Dazwischentreten einer Person, die als normatives Hindernis der Tatausführung fungieren kann, gekennzeichnet ist, und andererseits die „soziale und normative Tatherrschaft“32, die nur die Person, die eine Sonderpflicht trifft, haben kann.33 Als Täterschaftskriterium bei den Unterlassungsdelikten gilt auch die Tatherrschaft, aber sie ist genauer gesagt nur eine (quasi-)kausale Tatherrschaft. Wenn der zur Handlung Verpflichtete seine Erfolgsvermeidungshandlung auch dann nicht ausführt, wenn der Kausalverlauf zum Erfolg ohne Dazwischentreten einer als normatives Hindernis im Hinblick auf den Erfolg fungierenden Person in Gang gesetzt wurde, hat der Unterlassende eine sog. „potenzielle Tatherrschaft“. Der Unterlassende ist dann der Unterlassungstäter. In Deutschland wird dagegen behauptet, dass der Tatherrschaftsbegriff für die Unterlassungsdelikte nicht gelte. „Die Tatherrschaft setzt notwendig ein aktiv beherrschendes Steuern des Kausalverlaufes voraus und kann durch bloßes Nichtstun nicht erlangt werden.“34 Aber im Falle unseres oben genannten potenziellen Tatherrschaftsbegriffs35 hat der Unterlassende insofern keine Tatherrschaft, als der Begehungstäter den Kausalverlauf hin zum Erfolg beherrscht. Man könnte dies auch dadurch erklären, dass die Ent-
der Rechtsgutsverletzung. Die Verhaltensnorm steht mit der Verursachungsnorm in einem Mittel-Zweck-Verhältnis. Als Mittel zur Vermeidung der Rechtsgutsverletzung ist die Verhaltensnorm vorhanden. Zu den verschiedenen Arten der Normen vgl. Ast Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 16 ff. 31 Der Begriff der Tatherrschaft wurde am Anfang mit dem Schuldbegriff verbunden. Wenn der direkte Täter keine Schuld (oder: keinen Vorsatz) hat, hat der Dahinterstehende die Tatherrschaft, wenn er die Schuld-Anforderung erfüllt. Dazu vgl. Schroeder Täter hinter dem Täter, 1965, S. 59; vgl. Haas ZIS 2011, 392, 393. 32 Dazu vgl. Yamanaka Journal of Law School, Nr. 6, 73, 77 ff. 33 Vgl. Yamanaka Journal of Law School, Nr. 6, 73, 79. 34 Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 133. 35 Gallas JZ 1960, 687.
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scheidungsherrschaft und die Gestaltungsherrschaft des Begehungstäters die potenzielle Tatherrschaft des Unterlassenden ausgeschlossen haben. Weil er den Erfolg ohne die Begehung des aktiven Täters nicht verursachen kann, ist seine Erfolgsverursachungskraft im Vergleich mit der des Begehungstäters relativ schwach. Dagegen kann er die potenzielle Tatherrschaft haben, wenn er z.B. sein ertrinkendes sechsjähriges Kind, das von starkem Wind vom Flussufer weg getrieben wurde, nicht rettet.
V. Mittäterschaft durch Unterlassen und Beihilfe durch Unterlassen 1. Unterscheidung nach dem Ausführungsstadium des Begehungstäters Die Beteiligung des Unterlassenden vor dem Ausführungsstadium des Begehungstäters bedeutet eine Beihilfe, weil die Strafbarkeit der Teilnahme zur Begehung des Täters akzessorisch ist. Erst dann, wenn der Begehungstäter seine Tat ausführt, kann der Unterlassende bestraft werden, sofern er eine Handlungsmöglichkeit zur Abwendung des Erfolges hat. Ab dem Stadium der Tatausführung bis zur Beendigung hat der Begehungstäter die Tatherrschaft. Der Unterlassende könnte nur durch Verhinderung der Begehung des Täters oder durch direkte Rettung des Opfers den Erfolgseintritt vermeiden. Bis zur Beendigung der Tatausführung durch den Täter kann der Unterlassende jeder Zeit die Begehung durch den Täter potenziell kontrollieren und steuern. Deswegen bleibt die Unterlassung einer solchen Verhinderungshandlung eine Beihilfe. Ist die Tatausführung durch den Begehungstäter beendet, löst sich das normative Hindernis, das durch die Begehungstäterschaft aufgebaut worden ist, auf. Der Unterlassende erlangt, weil die Tatherrschaft des Begehungstäters verschwindet, die potenzielle Tatherrschaft bis die Erfolgsvermeidung unmöglich wird.
2. Mittatherrschaft oder bloße Verursachung? Die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe ist in den Fällen einer Verständigung unter den Beteiligten ein schwieriges Problem: Allein die psychische Kausalität zwischen dem Beitrag des Unterlassenden und der Handlung des Begehungstäters genügt natürlich nicht für die Mittäterschaft. Man könnte jedoch erwägen, dass sich die Täterschaft in diesen Fällen aus der Zusammenschau der Beiträge des Unterlassenden ergibt. Das Unterlassen während der Ausführung der Tat und sein aktiver Beitrag im Vorfeld haben die Tat des Begehungstäters verursacht. Damit vermag die Gesamtheit seiner Beiträge Mittäterschaft zu begründen. Das Prinzip der Tätigkeitsanrechnung, das grundsätzlich bei Mittäterschaft Anwendung findet, lässt sich jedoch nicht einfach auf die Fälle übertragen, in denen der Unterlassende
Abgrenzung von Beihilfe und Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten
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bloße psychische Beiträge geleistet hat, d.h. Verständigung, Beratung oder Duldung. Er muss die Gefahrensituation für das Opfer konkret mit schaffen. Dies zeigen z.B. in der japanischen Judikatur die Kindesmisshandlungsfälle: Wenn die Mutter eines Kindes gegenüber der tödlichen Misshandlung ihres Kindes durch ihren Mitbewohner in einem Zimmer, in dem sie sich auch aufhält, nichts unternimmt, sie sich aber im Vorfeld an den Misshandlungen beteiligt hat oder seine Gewalttätigkeiten dadurch gefördert hat, dass sie das Kind gefesselt oder es zum Tatort gebracht hat (oder auch dann, wenn sie das Kind nicht gefüttert oder es sonst vorher geschwächt hat, damit die Misshandlung effektiver wird), ist sie Mittäterin. Sie muss die konkrete Gefahrensituation für das Kind mit geschaffen haben, damit ihre Gesamttat als Mittäterschaft bewertet werden kann.36 Die Tatsache, dass die Mutter den Täter überhaupt erst in die Familie gebracht hat, ist zwar in solchen Misshandlungsfällen kausal für den späteren Tod des Kindes. Sie vermag jedoch noch keine Tatherrschaft im Sinne einer täterschaftlichen Beteiligung zu begründen, da sie noch nicht die konkrete Gefahrensituation für das Kind geschaffen hat.37
VI. Fazit In der deutschen Strafrechtswissenschaft ist der Gedanke der Pflichtdelikte herrschende Meinung. Bei den Unterlassungsdelikten führt dies zu dem Resultat, dass fast alle Unterlassenden eigentlich Täter sein müssten, wenn sie neben einem Begehungstäter die Erfolgsverhinderung unterlassen. Aber dieses Ergebnis ist beim Aufsichtsgaranten vor allem deshalb nicht angemessen, weil er eigentlich nur Gehilfe ist, wenn er seinem Kind bei der Begehung einer Straftat Hilfe leistet.38 Der Jubilar vertritt die „materielle Garantentheorie“. Nach ihr ist der Garant im Ausführungsstadium Unterlassungstäter. Dagegen ist die Unterlassung im Vorbereitungsstadium nur Beihilfe.39 Dabei „wird es in der Regel um eine Unterlassung im Ausführungsstadium gehen, während eine Aufsichtsgarantenstellung aus Herrschaft über eine wesentliche Station des Kausalverlaufs häufiger nur im Vorbereitungsstadium eine Rolle spielen wird“. Als erstes Beispiel nennt Schünemann einen Fall, in dem ein Apotheker, der Gift aufbewahrt, nicht verhindert, dass der Freund sich
36
Vgl. Yamanaka Hogaku Ronshu Bd. 58, H. 4, 16. Deswegen ist die Mutter keine Gehilfin, wenn sie nur den zukünftigen Misshandlungstäter in die Familie gebracht hat (vgl. das obige Urteil des OG Nagoya von 2005). 38 Auch die andere Meinung, die nicht auf dem Gedanken der Pflichtdelikte beruht, kommt öfter zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall der Unterlassende der Täter ist. Vgl. Haas ZIS 2011, 392, 397. 39 LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 211. 37
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Keiichi Yamanaka
selbst bedient, um seine Schwiegermutter zu vergiften. Wenn der Halter eines gehorsamen Pitbull-Terriers dagegen nicht verhindert, dass sein Freund ihn auf dessen Schwiegermutter hetzt, wird der Halter des Hundes nach Schünemann40 zum Unterlassungstäter. In beiden Fällen handelt es sich jedoch meines Erachtens nur um Beihilfe durch Unterlassen. Beim Beispiel des Pitbull-Terriers ist der Freund der Begehungstäter, während der Halter Gehilfe durch Unterlassen ist. Denn der Freund hat die Entscheidungsherrschaft und die Geschehenssteuerungsherrschaft und der Halter hat die potenzielle Tatherrschaft wegen des Monopols der Tatherrschaft des Begehungstäters nicht in seiner Hand. Wenn der Pitbull-Terrier dagegen ohne Hetze des Freundes seine Schwiegermutter angreift, ist der Halter ein Unterlassungstäter. Wenn der Halter mit seinem Freund vereinbart, die Schwiegermutter zu töten, und wenn er sogar den Pitbull-Terrier vorher trainiert, den Befehlen seines Freundes zu folgen, oder die Eigenschaft des Pitbull-Terriers, fremde Menschen zu beißen, kennt und trotzdem mit seinem Pitbull-Terrier zum Tatort des Freundes kommt, dann ist er Mittäter der Tötung. Wenn der Begehungstäter seine Ausführung beendet und der Unterlassende das Rechtsgut nicht rettet, sollte ein Beschützergarant Täter durch Unterlassen sein. Der Gedanke der „Pflichtdelikte“ scheint dabei das entscheidende „theoretische Hindernis“ für den Jubilar zu sein, der sonst mit meiner Ansicht übereinstimmen würde.
40
LK/Schünemann (Fn. 4), § 25 Rn. 211.
Besonderer Teil des Strafrechts
Die Freiheitsberaubung als „Raub“ der Fortbewegungsfreiheit Semantische, systematische und viktimodogmatische Untersuchungen zur Untergrenze des § 239 StGB
Knut Amelung
1. Der Tatbestand der Freiheitsberaubung i.S.d. § 239 StGB gehört zu den relativ einfach gebauten Normen im Besonderen Teil unseres Strafgesetzbuches. Wie in anderen Bereichen auch, stellt der Gesetzgeber die eindrücklichste Begehungsweise, die „Einsperrung“, an den Anfang seiner Regelung. Danach überlässt er es dem Interpreten, zu prüfen, ob eine Handlungsweise in einem „anderen Fall“ dem Gewicht der Einsperrung entspricht. Ein solches Vorgehen verspricht allerdings nur dann befriedigende Ergebnisse, wenn die konkrete Tatbestandsvariante des geschilderten Vergleichs – hier also die Einsperrung – hinreichend deutlich formuliert ist. Alle Kommentare bemühen sich deshalb um eine scharfkantige Definition des „Einsperrens“.1 Jeder Kommentator ergänzt aber diese Definition durch den Zusatz, absolute Unüberwindbarkeit der Sperren sei nicht erforderlich; eine Einsperrung liege auch dann vor, wenn dem Opfer ein Verlassen seines Aufenthaltsortes schwer gemacht werde und ihm nicht zuzumuten sei, den dadurch eröffneten Ausweg zu nutzen.2 Damit wird aus dem rein deskriptiv daherkommenden Tatbestand des § 239 StGB unter der Hand eine stark normativ formulierte Strafvorschrift. Das ist nicht unbedingt zu begrüßen. Normativen Tatbestandsmerkmalen fehlt ein Vorzug von Deskriptionen. Diese sind meist leichter zu handhaben, weil sie an äußere Grenzen ihres Gegenstandes anknüpfen, die relativ leicht zu erkennen sind. So ist es auch hier. Wann man sich im unteren Grenzbereich des Delikts befindet, bleibt ähnlich unklar wie es unsicher ist, was dem 1 Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 239 Rn. 7 ff.; Matt/Renzikowski/Eidamm StGB, 1. Aufl. 2013, § 239 Rn. 1 ff.; Schönke/Schröder/Eser/Eisele, 29. Aufl. 2014, § 239 Rn. 5 ff.; Maurach/Schroeder Strafrecht BT 1, 10. Aufl. 2009, S. 163 ff.; Krey/Hellmann/Heinrich Strafrecht BT 1, 15. Aufl. 2012, Rn. 351 ff.; abw. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, S. 255 Rn. 8 f. 2 S.o. Fn. 1.
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Knut Amelung
Opfer eigentlich zugemutet werden kann. Denn das Merkmal der „Unzumutbarkeit“ enthält für sich gesehen keinerlei lenkende Kraft.3 Dies gilt nicht nur für das „Einsperren“, sondern auch und erst recht für die „anderen Fälle“. Das diese Fälle prägende Merkmal der Einsperrung kann nicht mehr an Genauigkeit übertragen, als ihm selbst innewohnt. Fazit: Man müsste wohl die herrschende Auslegung des § 239 StGB als verfassungswidrig verwerfen,4 wenn sie sich zur Abschließung des Tatbestandes nach unten allein auf die Zumutbarkeit stützt. 2. Bevor man jedoch das harte Urteil der Verfassungswidrigkeit fällt, muss man zunächst danach suchen, ob es nicht eine Legaldefinition gibt, die klarer zum Ausdruck bringt, wann der Tatbestand des § 239 StGB gegeben ist, und vor allem, wo er endet. Nahe liegt es, hiernach in den anderen Freiheitsdelikten, wie § 232 StGB und §§ 239a ff. StGB, zu fahnden. Denn sie alle haben eine Einschränkung der Freiheit des Fortbewegens zum Gegenstand. Keine dieser Normen enthält jedoch eine Definition des Merkmals „rauben“. Insoweit liegt es daher näher, auf den Tatbestand des „Raubes“ i.S.d. § 249 StGB zurückzugreifen. Diese Norm regelt zwar kein Freiheitsdelikt im engen Sinne dieses Wortes,5 und deshalb hat sich in mehr als 140 Jahren der Geltung des StGB, soweit ersichtlich, noch niemand mit der Konkretisierung des § 239 durch den Raubtatbestand befasst. Geht man aber von der allgemeinen Auslegungsregel aus, dass ein und dasselbe Wort in ein und demselben Gesetz im Zweifel dieselbe Bedeutung hat, so erscheint § 249 StGB durchaus als tauglich, den Inhalt des Wortes „rauben“ in § 239 StGB näher zu bestimmen. Nach dieser Regel wäre die Freiheitsberaubung ein Delikt, das die Fortbewegungsfreiheit des Opfers durch Gewalt oder gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben beschränkt. Unterschiede ergeben sich in erster Linie aus dem Rechtsgut: In § 249 StGB stellt das Gesetz den gewaltsamen Entzug einer fremden Sache, in § 239 StGB dagegen den Entzug einer Handlungsmöglichkeit unter Strafe. Durch die Unterschiede zwischen den betroffenen Opferinteressen gerät der Begriff des „Raubens“ in unterschiedliche Kontexte. In § 249 StGB formt das Wort „rauben“ die Art und Weise der Erlangung des geschützten Gutes. In § 239 StGB geht es dagegen in erster Linie um die Aufrechterhaltung einer Herrschaftsbeziehung, die Herrschaft über den
3
Vgl. dazu Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 67 ff. Zur Frage der Anwendbarkeit des Bestimmtheitsgebotes auf Rechtsprechungsergebnisse vgl. BVerfGE 92, 1 ff.; Amelung NJW 1995, 2584 und Roxin (Fn. 3), § 5 Rn. 79 m.w.N. 5 Die Raub- und die Freiheitsdelikte sind durch die Erstreckung des § 239a auf Zweierbeziehungen aber enger zusammengerückt; vgl. dazu BGHSt 39, 36 ff.; Renzikowski JZ 1994, 492 ff.; Amelung/Boch JuS 2000, 261 ff.; Fischer (Fn. 1), § 239a Rn. 8 m.w.N. 4
Freiheitsberaubung als „Raub“ der Fortbewegungsfreiheit
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Aufenthaltsort des Opfers. In Sonderfällen spielt jedoch die Aufrechterhaltung einer rechtswidrigen Lage auch bei § 249 StGB eine Rolle – man denke an die Einschließung des Bankpersonals, um eine Bank ungestört ausrauben zu können.6 Umgekehrt gibt es auch Fälle, in denen § 239 StGB auf die Erlangung einer Herrschaftsbeziehung Anwendung findet – man denke an den Raub der Sabinerinnen. Es gibt also in beiden Tatbeständen Überschneidungen von Akten der Erlangung und der Aufrechterhaltung der Herrschaft über das Opfer. Dies zeigt, dass das Wort „rauben“ mit gleicher Bedeutung in beide Tatbestände passt. Für den Fall der Aufrechterhaltung erlangter Herrschaft sagt dies auch die Vorschrift über den räuberischen Diebstahl. § 252 StGB betrifft die gewaltsame Verteidigung der gewahrsamsähnlichen Herrschaftslage an einer gerade gestohlenen Sache. Hier wird die Aufrechterhaltung des Besitzes der gewaltsamen Erlangung praktisch gleichgestellt. Steht insoweit die Identität des Raubbegriffs in beiden Tatbeständen trotz Unterschiedlichkeit der Kontexte seines Gebrauchs fest, so bleibt die Frage, ob die „Anwendung von Drohungen mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben“ ebenfalls zu § 239 StGB passt. Der Anwendung von Drohungen mit einer Gefahr für Leib oder Leben entsprechen bei § 239 StGB Fälle, in denen Selbstbefreiungsversuche des Opfers Leib oder Leben gefährden. Die Drohung erfolgt hier sozusagen implizit, durch Einsperrung des Opfers in einen Raum, der nur unter Inkaufnahme entsprechender Risiken verlassen werden kann. Man denke an die Einsperrung eines Mannes in ein Zimmer, das im 2. Stock eines wilhelminischen Gebäudes „nur“ fünf Meter über dem Erdboden liegt. Hier stellt sich für das Opfer die Frage, ob es die Eigenschaften des Hauses zur Selbstbefreiung durch Herabklettern nutzen soll. Nur die Aufstellung von Hindernissen, die mindestens solche Eigenschaften haben, fallen unter § 239 StGB. Freilich müssen die genannten Risiken „gegenwärtig“ sein. Schwierigkeiten ergeben sich hier daraus, dass der Sinn dieses Tatbestandsmerkmals schon bei der Auslegung des § 249 StGB lange Zeit unklar war. Erst die Dissertation von Nikolas Blanke hat hier Klarheit gebracht.7 Blanke geht davon aus, dass das Gegenwärtigkeitskriterium im Besonderen Teil des StGB regelmäßig nur den Übergang von einem straflosen zu einem strafbaren Tun kennzeichnet. In § 249 und § 177 StGB schafft es dagegen einen Sondertatbestand für ein ohnehin bereits strafbares Verhalten in Gestalt einer Nötigung. Das Merkmal der Gegenwärtigkeit hat bei diesen Delikten daher die Aufgabe, sie zu qualifizieren. Sinn dieser Qualifikation ist es, strafschärfend zu berücksichtigen, dass
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Dazu allgemein Ingelfinger FS Küper, 2007, S. 197 ff. Blanke Das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, 2007. 7
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Knut Amelung
in diesen Fällen dem Opfer keine Zeit zu vernünftiger Überlegung bleibt. Wer damit bedroht wird, dass er in vier Wochen vom Täter verprügelt werden wird, wenn er diesem nicht zu Willen ist, kann Vorkehrungen zu seinem Schutz ergreifen. Das kann der mit einer „gegenwärtigen“ Gefahr Bedrohte nicht. Diese Erwägung trifft aber auch für die Qualifizierung der Nötigung gemäß § 239 StGB zu. Sie hat auch in dieser Norm den Sinn, dem Rechtsanwender ins Bewusstsein zu rufen, dass eine „gegenwärtige“ Gefahr das Opfer zu einer schnelleren, weit weniger überlegten Reaktion zwingt, als irgendein anderes Risiko. Diese Deutung passt auch auf § 239 StGB. Eine „gegenwärtige“ Gefahr zwingt das Gefährdungsopfer auch hier zu einer raschen und daher eher fehleranfälligen Reaktion. Die Drohung, das Opfer vier Monate später zu erschießen, begründet nur eine Nötigung oder eine Bedrohung. Fazit: § 239 Abs. 1 StGB ist also wie folgt zu lesen: Wer einen Menschen einsperrt oder ihm die Freiheit der Fortbewegung nimmt, indem er Gewalt gegen eine Person übt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben ausnutzt, wird … bestraft. Die hervorgehobenen Teile sind Ausfluss der Konkretisierung des Tatbestandmerkmals „Rauben“ durch § 249 Abs. 1 StGB. Das durch Auslegung dieses Begriffs gewonnene „neue“ Kriterium der Anwendung von „Gewalt“ umfasst in erster Linie die Einsperrung in Mauern und ähnlichen Anlagen, aber z.B. auch das Anlegen von Hand- und Fußfesseln. Das durch Auslegung des Wortes „Rauben“ gewonnene Kriterium der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben umfasst in erster Linie die Fälle der geltenden Fassung, aber auch der „Lücken“ in der Einsperrung, die die herrschende Lehre durch das Kriterium der Unzumutbarkeit nur scheinbar füllt. 3. Welche Auswirkungen hat die entwickelte Formel in der Praxis? Dies soll im Folgenden anhand einiger Fälle und Entscheidungen demonstriert werden, die in der Literatur eine gewisse Rolle spielen. Fall 1: Susanna im Bade An einem warmen Sommerabend sucht die schöne, aber etwas prüde Susanna O Kühlung in einem Kiessee. Zu diesem Zwecke wirft sie ihre Kleidung ab. Susanna ist noch nicht einmal eine halbe Runde geschwommen, als der Jogger T erscheint. T erkennt sofort die Sachlage und nimmt die Kleider der O an sich, um sie zu zwingen, sich ihm nackt zu zeigen. Diesen Gefallen will O aber ihm nicht tun. Sie setzt deshalb ihre Runden fort, bis die Nacht einbricht. Das hatte T in Kauf genommen und war entschwunden, bevor es völlig dunkel war.
Schon dieser aus den Apokryphen zum Alten Testament stammende Fall 8 ist streitig. Das Reichsgericht hat ursprünglich § 239 StGB bejaht,9 ist aber
8 9
Vgl. Altes Testament, Dan 13, 1–64. RGSt 6, 231.
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später davon abgerückt. Krey 10 wendet bis heute § 239 StGB an und erwähnt nur am Rande die Gegenmeinung.11 Diese Uneinheitlichkeit der Lösungen ist eine Folge der Unbestimmtheit der herrschenden Auslegung des § 239 StGB. Nach der dargestellten Formel ist eine Freiheitsberaubung hier ausgeschlossen. O verbleibt im Wasser nicht aufgrund von Gewalt oder einer Drohung mit einer Gefahr für Leib oder Leben, sondern allein ihrer „Ehre“ wegen; heute würde man wohl sagen: „zur Verteidigung ihres Allgemeinen Persönlichkeitsrechtes“. Fall 2: Der Direktorfall O 1, ein 64-jähriger Oberschuldirektor, wohnt in einem 10 Kilometer entfernten Dorf. Er pflegt mittags mit dem Bus nach Hause zu fahren. Eines Tages verspätet sich O 1 im Unterricht, sodass ihn die Sorge überkommt, rechtzeitig seinen Bus zu erreichen. Er geht daher schnell noch in das Lehrerzimmer, um seine Sachen zusammenzusuchen. Das sieht der Schüler T und dreht schnell den Schlüssel zum Lehrerzimmer um. Als O 1 das Geräusch des Umdrehens hört, überlegt er, ob er aus dem halb geöffneten, drei Meter über dem Boden liegenden Fenster klettern soll. Um sein im Krieg verletztes Bein fürchtend, lässt er das schließlich. Alsbald schließt ein Lehrer die Tür wieder auf, aber O 1 verpasst seinen Bus.
In diesem Fall liegt eine vollendete Freiheitsberaubung vor. O 1 hat berechtigte Sorge um seine Gesundheit. Der Schüler T hat ihm die Fortbewegungsfreiheit „geraubt“. Zwar hat er den O 1 nicht entführt, also nicht mit Gewalt die Herrschaft über ihn gewonnen. Doch genügt für die Annahme von § 239 StGB, dass er Gewalt zur Aufrechterhaltung der Einsperrung nutzte. Die Gewalt ergibt sich aus den Mauern und der nicht unüberwindbaren Lücke des Fensters.12 Fall 3: Sportlehrerfall Wie Fall 2. Opfer des Anschlages von T ist dieses Mal ein 27jähriger Sportlehrer, O 2. Für ihn ist es ein Leichtes, das Fenster zu öffnen und gefahrlos herauszuspringen. Freilich tut er dies unter dem Gejohle von Schülern, denen T von der versuchten Einsperrung erzählt hatte.
Hier ist fraglich, ob O 2 durch Gewalt im Zimmer gehalten wird. M.E. ist das zu verneinen. Auch das ehrverletzende Gejohle der Mitschüler von T ändert an der Straflosigkeit wegen Freiheitsberaubung nichts. Der Vergleich der Fälle 2 und 3 zeigt außerdem, dass unter Umständen Differenzierungen auf der Opferseite die Tatbewertung verändern. Fall 4: Der Turmzimmerfall T ist Eigentümer eines Schlosses, wo er national und international hochangesehene Reitturniere veranstaltet. Aufgrund einer Aufforderung der Spitze des Reiterver-
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Krey/Heinrich Strafrecht BT 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 313 f. (von Krey bearbeitet). Nachweise zu dieser bei Sch/Sch/Eser/Eisele (Fn. 1), § 239 Rn. 6. S.o. Fn. 1.
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bandes lädt er den berühmten Reiter O zur diesjährigen Teilnahme an dem Turnier ein. Er tut dies ungern, weil O die Chancen des Sohnes von T, das Turnier zu gewinnen, sehr mindert. Als O kurz vor dem Turnier bei T eintrifft, führt dieser ihn in ein als Unterkunft fungierendes Turmzimmer des Schlosses. Das Zimmer wird tagsüber nur durch angebrachte Glasbausteine beleuchtet, die in 3,50 m Höhe angebracht sind. Als er O verlässt, dreht er den Schlüssel, der in den Korridor führt, lautlos um. O merkt aber alsbald, dass er, wie er meint, eingesperrt ist. Er übersieht bei der Suche nach einem Ausgang allerdings eine Tapetentür, die durch ein bis zum Boden reichendes Bild eines Vorfahren von T verstellt ist. Nachdem das Turnier beendet ist, wird O befreit.
Die herrschende Lehre wertet das Verhalten des T als Freiheitsberaubung.13 Dies ist mit allem Nachdruck zurückzuweisen. Wer über eine Einsperrung täuscht, spiegelt das Vorliegen des objektiven Tatbestandes nur vor. Der Fall gelangt deshalb gar nicht in den Anwendungsbereich des § 239 StGB. Eine Strafbarkeit nach dieser Norm scheitert schlicht am Fehlen des objektiven Tatbestandes. Es ist zuzugestehen, dass sich der sich eingesperrt Fühlende psychisch in der gleichen Lage befindet wie ein tatsächlich Eingesperrter. Bei der Änderung des Tatbestandes der Bedrohung i.S.d. § 241 StGB hielt man aber eine Ergänzung um den Täuschungsfall für notwendig. Es ist nicht einzusehen, dass dies bei § 239 StGB anders sein sollte, schließlich gibt es im Grundgesetz ein Gesetzlichkeitsprinzip.
13 Vgl. RGSt 8, 210; BGH NStZ 2001, 420; kritisch Sch/Sch/Eser/Eisele (Fn. 1), § 239 Rn. 6 m.w.N.
Strafbarkeit der Suizidbeteiligung Schließung einer Schutzlücke oder kriminalpolitischer Irrweg?
Armin Engländer I. Einleitung Bei der strafrechtlichen Bewertung unterscheidet das deutsche Recht de lege lata strikt zwischen der einverständlichen Fremdtötung einerseits und der Beteiligung am Suizid andererseits. Während die erstere im Grundsatz stets eine Straftat darstellt, die lediglich unter den Voraussetzungen des § 216 StGB privilegiert wird, ist die letztere, sofern die Selbsttötung freiverantwortlich erfolgt,1 nie strafbar.2 Diese Dichotomie wirft freilich nicht nur schwierige Abgrenzungsfragen im Einzelnen auf.3 Sie ist zudem unter Legitimitätsgesichtspunkten in den letzten Jahren gleich von zwei Seiten in Zweifel geraten. Zum einen besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass in den Fällen der indirekten Sterbehilfe und des vom Patienten gewollten Behandlungsabbruchs die aktive Verursachung des Todes zumindest gerechtfertigt und damit nicht strafbar ist.4 Daneben nimmt die Anzahl derjenigen zu, die für besondere Ausnahmesituationen auch eine Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe neben dem Behandlungsabbruch befürworten.5 Zum anderen gibt es, seit Sterbehilfe-Vereine wie „Dignitas“ und „EXIT“ öffentlich verstärkt in Erscheinung getreten sind, die gegenläufige Bestrebung, die kommerzielle oder noch weitergehend die organisierte Beteiligung am Suizid unter Strafe zu stellen. So hat das BMJ im Sommer 2012 einen Referentenentwurf zur
1 Zur Diskussion über den Maßstab der Freiverantwortlichkeit s. Münchner Kommentar StGB/Schneider, 2. Aufl. 2012, Vor §§ 211 ff. Rn. 37 ff.; Nomos Kommentar StGB/Neumann, 4. Aufl. 2013, Vor § 211 Rn. 64 ff. 2 Zur historischen Entwicklung Feldmann Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlungen am Suizid 2009, S. 9 ff. 3 Vgl. dazu NK/Neumann (Fn. 1), Vor § 211 Rn. 50 ff. 4 Grundlegend nun BGHSt 55, 191 mit Bspr. Engländer JZ 2011, 513. 5 Vgl. etwa Hoerster Sterbehilfe im säkularen Staat, 1998; Jakobs Arthur FS Kaufmann, 1993, S. 459, 470 f.; Neumann FS Herzberg, 2008, S. 575, 580 ff.
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„Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ vorgelegt.6 Zwar ist in der im Oktober 2013 zu Ende gegangenen Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz nicht mehr verabschiedet worden und die Vorlage damit dem Diskontinuitätsprinzip anheimgefallen. Allerdings haben Politiker der Regierungsparteien, z.B. Gesundheitsminister Hermann Gröhe,7 erklärt, die Pläne zur Einführung eines Straftatbestandes weiterzuverfolgen. Im Einzelnen unterscheiden sich die Vorstellungen derjenigen, die eine strafrechtliche Regelung der Suizidbeteiligung befürworten, freilich nicht unerheblich. So wollen manche nur ein „gewerbsmäßiges Handeln“ 8 oder noch enger allein ein Handeln „aus Gewinnsucht“ 9 unter Strafe stellen. Anderen geht das nicht weit genug. Sie fordern, jede „geschäftsmäßige“10, „organisierte“11 oder „gewohnheitsmäßige“12 Mitwirkung an der Selbsttötung zu pönalisieren. Vereinzelt werden auch noch umfassendere Vorschläge vertreten, die ebenfalls die nicht-organisierten Formen der Suizidbeteiligung – etwa durch Familienangehörige oder Freunde – in die Strafbarkeit einbeziehen.13 Dem stehen wiederum nicht wenige gegenüber, die eine Pönalisierung generell ablehnen und für die Beibehaltung der gegenwärtigen Gesetzeslage votieren.14 Will man die Frage beantworten, welche Auffassung zur Strafbarkeit der Beteiligung am Suizid den Vorzug verdient, erscheint es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf die einverständliche Fremdtötung zu werfen und zu klären, welche Gründe ihre Strafbarkeit rechtfertigen. Anschließend soll dann untersucht werden, ob und wie weit diese Gründe auch für die Teilnahme an der Selbsttötung gelten. Dabei ist zu beachten, dass sich die Problematik der 6
BT-Drucks. 17 / 11126. FAZ v. 20.1.2014, S. 5. 8 Referentenentwurf des BMJ, BT-Drucks. 17 / 11126, S. 5. 9 „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB)“ GA 2005, 553, 581 f. 10 „Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung“ (… StrRÄndG), BR-Drucks. 230 / 06, S. 1. 11 Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Referentenentwurf des BMJ, BTDrucks. 17 / 11126, S. 4 (http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/StellBAeK_ Selbsttoetung_10122012.pdf [letzter Abruf dieses und aller folgenden Links: 3.3.2014]). 12 Schwarz Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJ, BT-Drucks. 17 / 11126, S. 2 (http://webarchiv.bundestag.de/archive/2013/1212/bundestag/ausschuesse17/a06/ anhoerungen/ archiv/35_Selbstt__tung/04_Stellungnahmen/Stellungnahme-Schwarz.pdf). 13 Christdemokraten für das Leben (CDL) ZfL 2012, 47; Feldmann GA 2012, 498; Kubiciel JZ 2009, 600, 608. 14 Roxin GA 2013, 313, 322 ff.; Rosenau Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJ, BT-Drucks. 17 / 11126 (http://webarchiv.bundestag.de/archive/2013/1212/bundestag/ ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/35_Selbstt__tung/04_Stellungnahmen/ Stellungnahme_Rosenau.pdf); Saliger Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJ, BT-Drucks. 17 / 11126 (http://webarchiv.bundestag.de/archive/2013/1212/bundestag/ ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/35_Selbstt__tung/04_Stellungnahmen/ Stellungnahme-Saliger.pdf). 7
Strafbarkeit der Suizidbeteiligung
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Mitwirkung am Suizid nicht nur im Kontext der Sterbehilfe stellt. In der aktuellen Debatte wird das nicht selten übersehen. Dadurch droht indes eine unzulässige Verkürzung der Thematik. Erforderlich ist es deshalb, das gesamte Spektrum der Suizidbeteiligung im Blick zu behalten, aus dem die Fälle der Sterbehilfe lediglich einen – wenn auch wichtigen – Teil bilden.
II. Die Strafbarkeit der einverständlichen Fremdtötung Dass die einverständliche Fremdtötung eine Straftat darstellt, versteht sich bei näherer Betrachtung keineswegs von selbst. Normalerweise nimmt die Zustimmung des Rechtsgutsinhabers dem Handeln des Täters den Unrechtscharakter. Weshalb ist das beim Rechtsgut des Lebens anders? Warum kann der einzelne hier nicht wirksam in seine eigene Tötung einwilligen? Über die Gründe hierfür wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Allgemein kann man dabei zwischen zwei Begründungsansätzen unterscheiden, einem individualistischen und einem überindividualistischen.15 Die überindividualistische Konzeption will die Strafbarkeit der einverständlichen Fremdtötung mit Belangen der Allgemeinheit rechtfertigen. Angeführt werden in diesem Zusammenhang insb. das Selbsterhaltungsinteresse der Gesellschaft16, die Bekämpfung von sonst drohenden Missbrauchsgefahren17 und die positiv-generalpräventive Bekräftigung des Tötungsverbots.18 All diese Begründungsargumente sind jedoch, was hier nicht näher dargelegt werden kann, mit zahlreichen Problemen behaftet; sie vermögen einer kritischen Überprüfung im Ergebnis nicht standzuhalten.19 Dagegen führt der individualistische Ansatz zur Rechtfertigung der Einwilligungssperre die Belange des Rechtsgutsinhabers ins Feld. Freilich stellt sich die Frage, weshalb der Einzelne auch gegen seinen eigenen aktuellen Willen geschützt werden soll. Soweit hier auf die „Heiligkeit“ des Lebens20, die Unverzichtbarkeit des Grundrechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG 21 und die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG 22 abgestellt wird, sind diese Überlegungen ebenfalls durchschlagenden Einwänden ausgesetzt.23 15
Näher Engländer Grund und Grenzen der Nothilfe 2008, S. 118 ff. Weigend ZStW 98 (1986), 44, 66. 17 Hillgruber Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 85. 18 Antoine Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 379 ff.; Hirsch FS Lackner, 1987, S. 597, 613. 19 Näher Engländer (Fn. 15), S. 132 ff.; Kubiciel JZ 2009, 600, 601 ff. 20 So aber Rilinger GA 1997, 418, 420 ff. 21 Schroeder ZStW 106 (1994), 565, 573 f. 22 Maatsch Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß, 2001; Wilms/Jäger ZRP 1988, 41. 23 S. dazu Engländer (Fn. 15), S. 119 ff. 16
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Prinzipiell tragfähig erscheint allerdings der Gedanke des Übereilungsschutzes. Ihm zufolge handelt es sich bei dem strafbewehrten Verbot der einverständlichen Fremdtötung um einen Schutzmechanismus vor einer vorschnellen Verfügung über das eigene Leben.24 Dieses ist nämlich kein Gut wie jedes andere. Wer sein Leben verliert, verliert buchstäblich alles. Deshalb hat die Auslöschung des Lebens für den Betroffenen eine ganz andere Tragweite als die Zerstörung aller anderen Güter. Und darüber hinaus ist dieser Verlust auch absolut irreversibel. Weder lässt er sich rückgängig machen, noch kann für das verlorene Leben ein funktionaler Ersatz beschafft werden. Aufgrund dieser Besonderheiten besteht ein gesteigertes Bedürfnis des Einzelnen, sich vor einer voreiligen Preisgabe seines Lebens zu schützen. Die Einwilligungsvorbehalte der Urteilsfähigkeit und der Kenntnis der Tragweite der Einwilligung allein reichen dazu nicht aus. So kann jemand, der sterben will, weil er kürzlich seine Familie bei einem tragischen Unfall verloren hat, trotz der psychischen Ausnahmesituation, in der er sich befindet, durchaus noch urteilsfähig sein und die Tragweite seines Entschlusses überblicken. Indes ist davon auszugehen, dass der Sterbewunsch nach einer gewissen Zeit wieder vergehen wird und der Betreffende neuen Lebensmut schöpft. Um in solchen Situationen Fehlentscheidungen mit fatalen Konsequenzen möglichst zu verhindern, liegt es im Interesse eines jeden, sich vorab selbst zu binden und eine wirksame Einwilligung in die eigene Tötung – zumindest grundsätzlich – auszuschließen. Zwar wird gegen den Gedanken des Übereilungsschutzes eingewendet, in ihm liege eine paternalistische Anmaßung. Er ignoriere die Autonomie des Betroffenen und beanspruche, an seiner Stelle zu bestimmen, welches seine „wahren“ Interessen seien.25 Dieser Vorwurf wäre jedoch nur berechtigt, wenn dem Rechtsgutsinhaber unabhängig von seinen tatsächlichen subjektiven Präferenzen einfach irgendwelche „objektiven“ Interessen zugeschrieben würden. Darum geht es beim Übereilungsschutz aber gerade nicht. Es sind nicht irgendwelche von dritter Seite vorgegebene Interessen, sondern die real existierenden subjektiven Präferenzen des Rechtsgutsinhabers, die die Unzulässigkeit der einverständlichen Fremdtötung legitimieren sollen. So verstanden zielen die Einwilligungsschranken nicht auf eine Fremdbestimmung des Einzelnen, sondern sie ziehen seinem Handeln nur solche Grenzen, die er sich als eigeninteressiert handelnder Akteur in Wahrnehmung seiner Interessen vorab selbst auferlegen würde.26 Sie stellen damit ein Instrument zur Optimierung der persönlichen Interessenverfolgung dar. 24 Vgl. Brunhöber JuS 2011, 401, 406; Hoerster (Fn. 5), S. 27 ff.; Merkel Früheuthanasie, 2001, S. 408 ff.; ähnlich auch Jakobs FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 459, 467 f. 25 So Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, 2001, S. 155 f. 26 Teilweise spricht man hier auch von „weichem“ Paternalismus; dazu Feinberg Harm to Self, New York 1986, S. 12 ff. Eingehend zur Paternalismus-Diskussion v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.) Paternalismus im Strafrecht, 2010.
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Freilich: Gerechtfertigt sind die Verfügungsbeschränkungen nur solange, wie sie die wirklichen Interessen des Rechtsgutsinhabers tatsächlich sichern. Ein Güterschutz jenseits dieser Präferenzen wird vom Gedanken des Übereilungsschutzes nicht gedeckt. Nun liegt zwar das Weiterleben im Regelfall im tatsächlichen Interesse des Betroffenen. Gleichwohl ist das nicht immer so. Es gibt durchaus Fälle, in denen der Einzelne selbst nach reiflicher Überlegung und bei voller Kenntnis der Faktenlage sterben möchte – so etwa, wenn eine seit einem Unfall völlig bewegungsunfähige Person nach langem Nachdenken zu der Auffassung gelangt, dass unter diesen Umständen ihr Leben für sie nicht mehr lebenswert ist und der Tod für sie eine Erlösung darstellen würde. Ein absolutes Verbot der einverständlichen Fremdtötung lässt sich mit dem Gedanken des Übereilungsschutzes daher nicht legitimieren.27 Das hat zur Folge, dass entweder durch eine teleologische Reduktion des § 216 StGB in den entsprechenden Ausnahmefällen eine Einwilligung in die Fremdtötung ermöglicht werden muss oder, falls eine solche teleologische Reduktion methodisch nicht korrekt begründet werden kann, der Gesetzgeber aufgefordert ist, eine gesetzliche Ausnahmeklausel zu schaffen.
III. Die Beteiligung am Suizid im Licht des Übereilungsschutzes 1. Der Bedarf nach einem Übereilungsschutz beim Suizid Die Legitimation des § 216 StGB mit dem Gedanken des Übereilungsschutzes hat nicht nur für die Reichweite des Verbots der einverständlichen Fremdgefährdung Konsequenzen. Sie ist auch für die rechtspolitische Diskussion über eine Strafbarkeit der Mitwirkung an der Selbsttötung relevant. Denn die Gefahr einer voreiligen Verfügung über das eigene Leben besteht zumindest auf den ersten Blick nicht nur bei der einverständlichen Fremdtötung, sondern gleichfalls beim Suizid. Am Beispiel: Ist aus Gründen des Übereilungsschutzes die Strafbarkeit desjenigen geboten, der jemanden, der kürzlich seine gesamte Familie bei einem tragischen Unfall verloren hat, auf dessen Wunsch hin erschießt, müsste das an sich ebenso für denjenigen gelten, der einer solchen Person die Waffe besorgt, mit der diese sich dann selbst tötet. So wie jeder ein Interesse hat, nicht aufgrund einer vorschnellen Einwilligung durch einen anderen getötet zu werden, besitzt er schließlich auch ein Interesse daran, nicht von einem anderen bei der Umsetzung eines übereilten Selbsttötungsentschlusses unterstützt zu werden. Prima facie spricht daher alles dafür, neben der einverständlichen Fremdtötung zugleich die Beteiligung am Suizid zu pönalisieren.28 27 Ebenso Hoerster (Fn. 5), S. 36 ff.; Jakobs FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 459, 470 f.; Merkel (Fn. 24), S. 412 f. 28 In diesem Sinne z.B. Hoerster (Fn. 5), S. 55 ff.; Kubiciel JZ 2009, 600, 608.
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Im Schrifttum wird allerdings z.T. bezweifelt, dass es bei der freiverantwortlichen Selbsttötung eines strafrechtlichen Übereilungsschutzes bedarf. Zwar bestehe die Gefahr einer vorschnellen Verfügung über das eigene Leben in den Fällen, in denen der Einzelne den Vollzug der unmittelbar todesverursachenden Handlung an einen anderen delegiere. Denn womöglich wäre er selbst in letzter Sekunde von der Durchführung seines Vorhabens doch noch zurückgeschreckt. Nehme aber jemand im Zustand der Freiverantwortlichkeit die unmittelbar todesverursachende Handlung eigenhändig vor, könne dies als Beleg für die Unbedingtheit und Unwiderruflichkeit seines Sterbewillens gesehen werden. Das erkläre, weshalb der Gesetzgeber die einverständliche Fremdtötung unter Strafe gestellt habe, die Beteiligung am Suizid dagegen nicht.29 Dem ist indes zu widersprechen. Nach den Erkenntnissen der empirischen Suizidforschung handelt es sich bei Selbsttötungen bzw. Selbsttötungsversuchen größtenteils um sog. Appellsuizide oder sonstige Kurzschlussreaktionen;30 sie beruhen also zumeist gerade nicht auf einem wohlüberlegten Entschluss. Echte Bilanzsuizide sind demgegenüber relativ selten. Die Eigenhändigkeit beim Suizid bildet daher keineswegs ein verlässliches Indiz für die Unbedingtheit und Unwiderruflichkeit des Sterbewillens.31 Andere Stimmen aus dem Schrifttum räumen zwar ein, dass Selbsttötungen zumeist keine Bilanzsuizide darstellen. Sie halten eine Pönalisierung der Suizidbeteiligung zum Schutz des Einzelnen allerdings gleichwohl für entbehrlich. In den Fällen, in denen die Voraussetzungen für einen Bilanzsuizid nicht vorlägen, d.h. der Selbsttötungsentschluss nicht nach reiflicher Überlegung und Abwägung aller Umstände getroffen werde, sei die Entscheidung des Suizidenten nämlich nicht freiverantwortlich. Wer sich vorsätzlich an einem solchen Suizid aktiv beteilige, mache sich deshalb regelmäßig schon wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft strafbar. Damit bestehe aber bereits ein ausreichender strafrechtlicher Schutz, so dass es eines weiteren Straftatbestands hier nicht bedürfe.32 Auch diese Argumentation verdient jedoch keine Zustimmung. Ihr liegt eine kurzschlüssige Übertragung des an medizinischen Erfordernissen orientierten psychiatrischen Freiheitsverständ-
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Roxin GA 2013, 313, 318 f. S. dazu Feldmann (Fn. 2), S. 168 ff. m.w.N. 31 Dass jemand sich eigenhändig tötet, ist also keine hinreichende Bedingung für die Unbedingtheit und Unwiderruflichkeit seines Sterbewillens. Bei der Eigenhändigkeit handelt es sich aber auch um keine notwendige Bedingung. Es kann Fälle geben, in denen die Delegation der Vornahme der unmittelbar todesverursachenden Handlung allein dem Umstand geschuldet ist, dass der Betreffende über keine Möglichkeit mehr verfügt, sich selbst zu töten. Roxins Rechtfertigung der gegenwärtigen Gesetzeslage vermag daher auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu überzeugen. 32 Duttge ZfL 2012, 51, 52; Rosenau (Fn. 14), S. 4. 30
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nisses auf das Recht zugrunde.33 Es geht zu weit, jedwede vorschnelle Entscheidung eines Suizidenten zu pathologisieren und ihr die Freiverantwortlichkeit im rechtlichen Sinne abzusprechen.34 Nicht jede fehlerhafte Bestimmung der eigenen Interessenlage bei einer Entscheidung in einer persönlichen Krisensituation begründet schon einen wesentlichen Willensmangel.35 Und ebenso wenig erscheint es sachgerecht, den sich an einem übereilten Suizid bzw. Suizidversuch vorsätzlich Beteiligenden stets gleich als mittelbaren Täter eines vollendeten oder versuchten Totschlags zu bestrafen. In Fällen, in denen der Entschluss des Suizidenten trotz Übereiltheit nicht unter einem wesentlichen Willensmangel leidet, ist eine Anwendung der §§ 211, 212 StGB unverhältnismäßig; die zunächst freiheitsfreundlich scheinende Auffassung („kein Straftatbestand der Suizidbeteiligung“) entpuppt sich hier infolge übersteigerter Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit als unangemessen bestrafungsexzessive Konzeption. Richtigerweise sind drei Kategorien der Selbsttötung zu unterscheiden: (1) der nicht freiverantwortliche Suizid, (2) der freiverantwortliche, aber übereilte Suizid sowie (3) der freiverantwortliche und wohlüberlegte Suizid. Während in den Fällen der ersten Kategorie der strafrechtliche Schutz in der Tat regelmäßig schon durch die Bestrafung des Beteiligten wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts in mittelbarer Täterschaft gewährleistet wird und in den Fällen der dritten Kategorie die Schutzbedürftigkeit fehlt, besteht in den Fällen der zweiten Kategorie bislang eine Schutzlücke. Insoweit existiert durchaus ein Bedarf für einen Übereilungsschutz durch einen eigenen Straftatbestand. 2. Pönalisierung des Suizidversuchs? Gegen eine Pönalisierung der Suizidbeteiligung könnte freilich sprechen, dass sie womöglich in einem Widerspruch zur rechtlichen Zulässigkeit der Selbsttötung als solcher 36 steht. Allerdings entfiele diese Problematik, wenn unter dem Gesichtspunkt des Übereilungsschutzes neben der Mitwirkung an der Selbsttötung auch der (versuchte) Suizid selbst unter Strafe gestellt oder zumindest rechtlich verboten werden müsste. Bei näherer Betrachtung ist das 33
Zutreffend Feldmann GA 2012, 498, 513 f. Teilweise wird behauptet, 90–95 % aller Selbsttötungen seien unfrei; so etwa Leipziger Kommentar StGB/Jähnke, 11. Aufl. 2005, Vor § 211 Rn. 27 m.w.N. Noch weitergehend wird vereinzelt bestritten, dass es überhaupt freiverantwortliche Suizide gibt – so tendenziell Christdemokraten für das Leben (CDL) ZfL 2012, 47, 48. Kritisch gegenüber einer umfassenden Pathologisierung Bottke GA 1983, 22, 30 f. 35 Näher Matt/Renzikowski/Engländer StGB, 2013, Vor §§ 32 ff. Rn. 21. 36 Vgl. dazu NK/Neumann (Fn. 1), Vor § 211 Rn. 37 ff.; a.A. BGHSt 46, 279, 285, der die Selbsttötung als zwar straflos, aber gleichwohl rechtswidrig ansieht – krit. dazu Duttge NStZ 2001, 546, 547. 34
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jedoch zu verneinen. Einer Pönalisierung des Suizidversuchs steht zumindest das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG entgegen.37 Zwar unterliegt dieses Grundrecht einem Schrankenvorbehalt, doch vermag der Gedanke des Übereilungsschutzes eine solche Schranke nicht zu begründen. Das zeigt sich, wenn man die Legitimationsgrundlage der strafbewehrten Verletzungsverbote bei Individualrechtsgütern näher in den Blick nimmt. Diese besteht in einem System reziproker Verpflichtungen der Rechtsgutsinhaber.38 Als rationales Individuum akzeptiert ein jeder die Pflicht, seine Mitmenschen nicht zu schädigen, weil er ein Interesse daran hat, von ihnen ebenfalls nicht geschädigt zu werden. Die Verpflichtung, die Güter anderer nicht zu verletzen, ist der Preis, den jedermann zahlen muss, wenn er will, dass jene wiederum seine eigenen Güter nicht beeinträchtigen. Ein solcher Reziprozitätszusammenhang liegt indes nur bei der Fremdschädigung, nicht aber auch bei der Selbstschädigung vor. Zwar ist es aus der Sicht des Einzelnen durchaus wünschenswert, die eigenen Güter nicht vorschnell zu beschädigen oder zu zerstören. Er hat aber kein Motiv, sich gegenüber den anderen dazu zu verpflichten (und die Befolgung der Pflicht durch Sanktionen abzustützen). Weder liegt die Verpflichtung als solche in seinem Interesse. Noch verfügt er über eine allgemeine Präferenz, dass die anderen ihren Gütern keinen Schaden zufügen; dies ist ihm vielmehr in den meisten Fällen völlig gleichgültig. Somit besteht für ihn auch keine Veranlassung, seine Freiheit zur Selbstschädigung deshalb aufzugeben, damit die anderen es ihm gleichtun. Das erklärt, warum sich strafbewehrte Nichtschädigungspflichten, die ein jeder übernimmt, nicht auf die eigenen Güter, sondern nur auf die Güter anderer beziehen.39 Eine Rechtspflicht zum Weiterleben lässt sich folglich auch unter Berücksichtigung des Übereilungsschutzgedankens nicht begründen. Dem Einzelnen steht es deshalb rechtlich jederzeit frei, seiner Existenz ein Ende zu setzen. Ist aber an der rechtlichen Zulässigkeit der Selbsttötung als solcher festzuhalten, bedarf nun doch der Klärung, ob eine Strafbarkeit der Suizidbeteiligung damit in Einklang gebracht werden kann. Gleich mehrere Einwände gegen eine Pönalisierung der Mitwirkung an der Selbsttötung sind denkbar.
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Ausf. zum verfassungsrechtlichen Diskussionsstand Antoine (Fn. 18), S. 218 ff. Näher Engländer (Fn. 15), S. 74 ff. 39 Eine scheinbare Ausnahme bilden § 109 StGB und § 17 WStG. Diese Strafvorschriften dienen allerdings nicht dem Schutz der körperlichen Integrität, sondern der Erhaltung des personellen Potenzials der Landesverteidigung und damit einem Interesse der Allgemeinheit. 38
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3. Einwände gegen eine Pönalisierung der Suizidbeteiligung Ein erster Einwand könnte sich aus der Akzessorietät der Teilnahme ergeben. Mit dieser begründet die ganz h.M., dass sich derjenige, der eine frei verantwortliche Selbsttötung vorsätzlich veranlasst, ermöglicht oder fördert, de lege lata nicht strafbar macht. Da der Suizid nicht unter den Tatbestand des § 212 StGB falle, gebe es auch keine strafbare Teilnahme an ihm.40 Die Reichweite dieses formalen Arguments bleibt freilich begrenzt. Aus der Tatbestandslosigkeit der Selbsttötung folgt nur, dass die Mitwirkung an ihr nicht als Anstiftung oder Beihilfe zum Totschlag und damit nicht als Teilnahme an fremdem Unrecht bestraft werden kann. Keineswegs ausgeschlossen ist damit aber, die Beteiligung an der Selbsttötung als ein eigenes Unrecht anzusehen, das in einem eigenständigen Straftatbestand mit Strafe bedroht werden sollte.41 Die Akzessorietät der Teilnahme jedenfalls steht dem nicht entgegen.42 Als zweiter Einwand kommt das Argument der Wertungskonsistenz in Betracht. So wird teilweise gegen eine Strafbarkeit der Suizidbeteiligung vorgebracht, es sei wertungswidersprüchlich, die Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung einer Handlung zu pönalisieren, die die Rechtsordnung als nicht rechtswidrig ansehe.43 Dem ist indes zu widersprechen. Der Umstand, dass eine unmittelbar rechtsgutsverletzende Handlung nicht gegen das Recht verstößt oder zumindest nicht unter einen Straftatbestand fällt, schließt es keineswegs prinzipiell aus, ein sie mitverursachendes Verhalten eines anderen als strafbares Unrecht zu bewerten. So ist zwar die Selbstschädigung grds. nicht rechtswidrig; wer das Opfer vorsätzlich zu ihr nötigt, wird aber als mittelbarer Täter bestraft.44 Gleiches gilt für denjenigen, der einen anderen gezielt in eine Situation versetzt, in der die Verletzung eines Dritten gerechtfertigt ist 45 – daher macht sich wegen Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft strafbar, wer absichtlich die Polizei zu einer von § 127 Abs. 2 StPO gedeckten vorläufigen Festnahme verleitet, indem er einen dringenden Tatverdacht gegen einen Unschuldigen schafft. Es ergibt sich auch nichts anderes, wenn der Beteiligte im Unterschied zu den eben angeführten Fällen
40 Vgl. nur BGHSt 24, 342; 32, 367, 371; Rengier Strafrecht BT II, 14. Aufl. 2013, § 3 Rn. 9; Wessels/Hettinger Strafrecht BT 1, 37. Aufl. 2013, Rn. 43. 41 Zutreffend Kubiciel JZ 2009, 600, 608. 42 Das zeigt auch ein Blick auf die fahrlässige Suizidbeteiligung. Aufgrund des bei den Fahrlässigkeitsdelikten geltenden Einheitstäterprinzips ist die Straflosigkeit hier nicht allein mit dem formalen Akzessorietätsargument begründbar. Zumeist wird argumentiert, es wäre wertungswidersprüchlich, eine fahrlässige Mitverursachung zu bestrafen, die als vorsätzliche Beteiligung nicht strafbar sei; vgl. BGHSt 24, 342, 344; 32, 262, 264. 43 Duttge ZfL 2012, 51. 44 Näher Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 54 ff. 45 Vgl. Rengier Strafrecht AT, 5. Aufl. 2013, § 43 Rn. 23 ff.
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der mittelbaren Täterschaft keine „Tatherrschaft“ über die Rechtsgutsverletzung besitzt, sondern wie ein Teilnehmer eher „am Rand“ des Geschehens steht.46 Wiederum kennt das deutsche Strafrecht durchaus Konstellationen, in denen eine Mitwirkung strafbar ist, obgleich derjenige, der das Geschehen beherrscht, zumindest kein Strafunrecht verwirklicht. So fällt die Selbstbefreiung des Gefangenen nicht unter den Tatbestand des § 120 StGB. Sehr wohl macht sich indessen nach dieser Vorschrift strafbar, wer ihn zum Entweichen verleitet oder dabei fördert. Die Flucht des Straftäters stellt keine Strafvereitelung gem. § 258 StGB dar, die von einem anderen dazu geleistete Hilfe jedoch schon. Und das Verwerten der Diebesbeute durch den Dieb erfüllt nicht den Tatbestand des § 259 StGB. Wer ihm beim Absetzen hilft, ist dagegen der Hehlerei schuldig. Das alles zeigt: Der Vorwurf des Wertungswiderspruchs ist nicht begründet. Beachtung verdient allerdings der Umstand, dass gerade der Rechtsgutsinhaber selbst sich aus freien Stücken das Leben nimmt. Das führt zu einem dritten Einwand. Einer Pönalisierung der Suizidbeteiligung könnte das Eigenverantwortlichkeitsprinzip entgegenstehen. So wird im Schrifttum argumentiert, als Kehrseite des Autonomieprinzips sei es Sache des Einzelnen, im Umgang mit seinen eigenen Gütern die nötige Sorgfalt walten zu lassen.47 Schädige er sich freiverantwortlich selbst, müsse er deshalb auch allein für die nachteiligen Konsequenzen seines Tuns einstehen. Andere dürften daher für diese Folgen strafrechtlich nicht haftbar gemacht werden.48 Auch dieses Argument dringt indes nicht durch. Zwar verdient die Anerkennung des Eigenverantwortlichkeitsprinzips als Zurechnungsausschließungsgrund grundsätzlich Zustimmung. Jedoch begründet der Gedanke des Übereilungsschutzes bei der Selbsttötung gerade eine Einschränkung dieses Prinzips. Weil die Einzelnen um die Fehleranfälligkeit ihrer Entscheidungen wissen, nehmen sie sich aufgrund der besonderen Tragweite des Suizids ausnahmsweise wechselseitig in die Pflicht, womöglich vorschnelle Selbsttötungen nicht zu unterstützen oder gar zu veranlassen. Dass der Suizident die unmittelbar todesverursachende Handlung selbst vollzieht, entlastet die an diesem Geschehen Beteiligten daher hier nicht. Nun zu einem vierten Einwand: Bezweifelt wird auch die Pönalisierungsnotwendigkeit der Suizidbeteiligung. So lasse sich bei „Sterbehilfe-Vereinen“ wie „Dignitas“ oder „EXIT“ der Schutz vor einer übereilten Preisgabe des Lebens genauso gut oder sogar noch besser durch verwaltungsrechtliche Ver-
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So aber Duttge ZfL 2012, 51. Zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung vgl. Pawlik Das Unrecht des Bürgers 2012, S. 219 f. 48 Allgemein zum Eigenverantwortlichkeitsprinzip bei der objektiven Zurechnung Kühl AT, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 83 ff.; im Kontext der Selbsttötung Ingelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots 2004, S. 222 ff. 47
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bote gewährleisten, die ggf. polizeilich durchgesetzt werden könnten. Die Schaffung eines Straftatbestandes sei damit unverhältnismäßig.49 Freilich trifft das allenfalls auf die kommerzielle bzw. organisierte Mitwirkung an der Selbsttötung zu. Nicht erfassen lässt sich damit die nicht-organisierte Suizidbeteiligung durch Angehörige, sonst nahestehende Personen oder andere Dritte. Hier wird nun allerdings eingewendet, gerade in diesen Fällen sei eine Kriminalisierung ganz verfehlt, handelten diese Personen doch regelmäßig aus Mitgefühl, um dem Suizidenten in einer hoffnungslosen Lage beizustehen.50 Das mag nun in Sterbehilfe-Kontexten richtig sein, so dass sich dann die Frage nach einer Ausnahme stellt (dazu sogleich). Es gilt aber keineswegs für die Suizidbeihilfe allgemein. Ohne weiteres sind Konstellationen vorstellbar, bei denen weniger edle Beweggründe wie Habgier oder der Wunsch, für einen neuen Partner frei zu werden, im Spiel sind, die keine Gewähr dafür bieten, dass eine Mitwirkung bei einem übereilten Suizidentschluss unterbleibt. Um hier für einen ausreichenden Schutz zu sorgen, bedarf es angesichts der besonderen Bedeutung des Lebens für den Einzelnen des Instruments des Strafrechts. Es bleibt noch ein fünfter, letzter Einwand: das Argument der mangelnden Wirksamkeit. Kritiker einer Pönalisierung der Suizidbeteiligung bringen vor, dass entsprechende Regelungen in anderen Ländern – wie bspw. § 78 öStGB – in der Praxis nahezu wirkungslos geblieben seien; es handele sich somit um bloße symbolische Gesetzgebung.51 Diesem durchaus ernstzunehmenden Einwand lassen sich allerdings die folgenden Überlegungen entgegenhalten: Zunächst ist die Problematik des Übereilungsschutzes angesichts der nach wie vor erheblichen Anzahl an Selbsttötungen und Selbsttötungsversuchen, die jährlich unternommen werden,52 keineswegs rein theoretischer Natur – mag auch die Anzahl der Fälle, in denen der Suizident nicht allein handelt, sondern Beteiligte involviert sind, deutlich geringer sein. Ferner verlangt ein strafbewehrtes Verbot der Suizidbeteiligung von den Normadressaten nichts, was sie nicht leisten könnten. Auch entspricht ein solches Verbot, wie dargelegt, durchaus der Interessenlage des Einzelnen. Insoweit liegt es dann schlicht an den Strafverfolgungsorganen, etwaige Verstöße zu verfolgen, um so der Regelung Wirksamkeit zu verleihen. Gründe, die dies von vornherein ausschließen oder unmöglich machen, sind nicht ersichtlich.
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Roxin GA 2013, 313, 325. Roxin GA 2013, 313, 322. 51 Neumann/Saliger HRRS 2006, 280, 288. 52 Für das Jahr 2012 nennt das Statistische Bundesamt eine Zahl von 9890 vollendeten Selbsttötungen. 50
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4. Beschränkung auf organisierte bzw. kommerzialisierte Suizidbeteiligung? Wie eingangs erwähnt, wollen die meisten Befürworter einer Pönalisierung der Mitwirkung an der Selbsttötung nicht jede Beteiligungshandlung unter Strafe stellen. Vielmehr zielt ihr Bestreben darauf ab, allein die organisierte bzw. – noch enger – nur die kommerzialisierte Suizidbeteiligung durch Strafandrohung zu unterbinden. Aus der Sicht eines am Übereilungsschutz orientierten Ansatzes erscheint das jedoch nicht überzeugend. Die Gefahr einer vorschnellen Selbsttötung entfällt nicht dadurch, dass der Beteiligte nicht „gewerbsmäßig“, „geschäftsmäßig“ oder „gewohnheitsmäßig“ handelt. So kann bspw. gerade eine enge persönliche Verbundenheit dazu führen, dass sich jemand dem Suizidenten kritiklos fügt und ihn bei der Verwirklichung seines übereilten Suizidentschlusses unterstützt. Ganz im Gegenteil liegt das Risiko bei der nicht-organisierten Mitwirkung an der Selbsttötung womöglich sogar noch höher, eine vorschnelle Entscheidung zu ermöglichen oder zu fördern, denn bei den organisierten Formen der Suizidbeteiligung existiert immerhin die Möglichkeit, prozedurale Sicherungen zu implementieren. Es besteht daher kein Anlass, das strafbewehrte Verbot der Suizidbeteiligung nur auf organisierte oder gar kommerzialisierte Formen der Mitwirkung an der Selbsttötung zu beschränken. 5. Grenzen eines strafbewehrten Verbots der Suizidteilnahme Bejaht man unter dem Gesichtspunkt des Übereilungsschutzes die Einführung eines neuen Straftatbestandes, der die Beteiligung am Suizid prinzipiell mit Strafe ahndet, stellt sich als nächstes die Frage nach den Grenzen des strafbewehrten Verbots. Hier gilt das zur einverständlichen Fremdtötung Gesagte entsprechend.53 Ein absolutes Verbot lässt sich nicht rechtfertigen, denn es gibt Fälle, in denen der Einzelne klarerweise nicht vorschnell, sondern nach reiflicher Überlegung und Abwägung seiner Interessen in voller Kenntnis der Tragweite seiner Entscheidung seinem Leben ein Ende setzen möchte. Zu denken ist hier etwa an eine Person, die unter einer unheilbaren Erkrankung im Endstadium verbunden mit schlimmsten Schmerzen leidet, die auch durch palliativmedizinische Maßnahmen nicht mehr ausreichend gemildert werden können. Unter solchen Voraussetzungen besteht kein Anlass, die Mitwirkung an der Selbsttötung unter Strafe zu stellen; ein strafbewehrtes Verbot liefe hier auf einen illegitimen harten Paternalismus hinaus. In eine Strafvorschrift der Suizidbeteiligung ist daher eine Ausnahmerege-
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Ebenso Kubiciel JZ 2009, 600, 608, der die Einschränkungen allerdings restriktiver fassen will als hier vorgeschlagen.
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lung aufzunehmen, die die Beteiligung an einem auf freier und reiflicher Überlegung beruhenden Suizid rechtfertigt.54 Damit lässt sich auch dem Einwand begegnen, die Pönalisierung der Suizidbeteiligung nehme einem schwerstkranken Sterbewilligen in aussichtsloser Situation die Möglichkeit, durch Inanspruchnahme fremder Hilfe auf menschenwürdige Weise aus dem Leben zu scheiden, treibe ihn in den „Brutalst-Suizid“ etwa in Form eines Sich-vor-den-Zug-Werfens55 und bringe Angehörige oder sonst nahestehende Personen in den Gewissenskonflikt, ihn auf seinem letzten Weg allein lassen zu müssen.56 6. Die aktuellen Regelungsvorschläge im Lichte des Übereilungsschutzes Wie sind nun vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen die derzeit in der rechtspolitischen Diskussion befindlichen Reformvorschläge zu bewerten? Aus der Perspektive einer am Übereilungsschutz orientierten Perspektive erscheinen sie gleich in zweierlei Hinsicht kritikwürdig. Einerseits greifen sie zu kurz, indem sie nur die „gewerbliche“, „geschäftsmäßige“, „organisierte“, „gewerbsmäßige“ oder „aus Gewinnsucht“ vorgenommene Suizidbeteiligung pönalisieren wollen. Die Kritiker einer Pönalisierung verdienen insoweit Zustimmung, als diese Merkmale keine geeigneten Anknüpfungspunkte für eine Strafbegründung darstellen.57 Freilich ist daraus nicht die Konsequenz zu ziehen, auf eine Pönalisierung zu verzichten, sondern es ist im Gegenteil grds. jede Form der Mitwirkung an der Selbsttötung unter Strafe zu stellen. Andererseits gehen die Reformvorschläge zu weit. Das betrifft zwei Punkte. Zunächst fehlt eine Ausnahmeklausel für die Beteiligung an einem auf freier und reiflicher Überlegung beruhenden Suizid. Denn ein absolutes Verbot der Suizidbeteiligung lässt sich, wie dargelegt, nicht begründen. Besonders problematisch sind in diesem Zusammenhang die Regelungsvorschläge, die auch die ärztliche Mitwirkung an der Selbsttötung bestrafen wollen.58 Schwerstkranken Patienten in auswegloser Lage wäre damit die Möglichkeit genommen, ihrem Leben auf eine menschenwürdige Weise ein Ende zu setzen. Über das Ziel hinaus schießt ferner auch die Ausgestaltung der Straftat als abstraktes Gefährdungsdelikt im Referentenentwurf des BMJ. Danach
54 Korrekturbedürftig ist vor diesem Hintergrund auch das kategorische Verbot ärztlicher Suizidassistenz in den ärztlichen Standesregeln. Näher dazu Lindner NJW 2013, 136. Vgl. auch den Regelungsvorschlag in § 4 AE-Sterbebegleitung GA 2005, 553, 586. 55 Rosenau (Fn. 14), S. 3. 56 Roxin GA 2013, 313, 322. 57 Duttge ZfL 2012, 51, 52 f.; Neumann/Saliger HRRS 2006, 280, 287 f.; Saliger (Fn. 14), S. 2 ff. 58 Christdemokraten für das Leben (CDL) ZfL 2012, 47, 51.
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soll bereits das (gewerbsmäßige) Gewähren, Verschaffen oder Vermitteln einer Gelegenheit zur Selbsttötung genügen, unabhängig davon, ob es tatsächlich zu einem Suizid oder zumindest einem Suizidversuch kommt.59 Eine solche Vorverlegung der Strafbarkeit passt nicht zur Systematik der Tötungsdelikte60 und ist unter dem Gesichtspunkt des Übereilungsschutzes nicht geboten.
IV. Fazit Die prinzipielle Straflosigkeit der Suizidbeteiligung im deutschen Strafrecht erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Übereilungsschutzes als nicht überzeugend. Es bedarf daher einer Revision, der die derzeit diskutierten Reformvorschläge indes nur unvollständig und in fehlerhafter Weise Rechnung tragen. Eingeführt werden sollte eine Strafvorschrift, die prinzipiell jede Mitwirkung an der vollendeten oder versuchten Selbsttötung unter Strafe stellt,61 sie allerdings dann als gerechtfertigt ansieht, wenn der Suizid auf freier und reiflicher Überlegung beruht.
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Vgl. BT-Drucks. 17 / 11126, S. 9. Saliger (Fn. 14), S. 10. 61 Dabei empfiehlt sich eine Subsidiaritätsklausel, nach der der Straftatbestand nur zur Anwendung kommt, wenn die Tat nicht – wegen der Unfreiheit des Suizids bzw. Suizidversuchs – in §§ 211, 212 StGB mit Strafe bedroht ist. Der Strafrahmen hat sich grds. an § 216 StGB zu orientieren. Bei der Strafuntergrenze ist aber zu berücksichtigen, dass mit dem Ermöglichen oder Fördern des Suizids materiell Beihilfehandlungen pönalisiert werden, die gegenüber der täterschaftlichen Fremdtötung einen geringeren Unrechtsgehalt aufweisen. Daher sollte der Strafrahmen keine im Mindestmaß erhöhte Strafe vorsehen. Nach oben hin spricht dagegen alles für eine Übernahme der Obergrenze des § 216 StGB, da mit dem Verleiten zum Suizid materiell auch Anstiftungshandlungen erfasst werden, die nach der Wertung des § 26 StGB einem täterschaftlichen Verhalten gleich stehen. 60
Zur Strafbarkeit des Verbreitens von Schriften im Internet Manfred Heinrich
In zahlreichen medienstrafrechtlich relevanten Strafnormen findet sich als zentrale Tathandlung das „Verbreiten“ von Schriften i.S.d. § 11 Abs. 3 StGB – etwa1 das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen in § 86 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 StGB, von volksverhetzenden Schriften in § 130 Abs. 2 Nr. 1 lit. a StGB, von gewaltverherrlichenden bzw. -verharmlosenden Schriften in § 131 Abs. 1 Nr. 1 StGB sowie von pornografischen Schriften in §§ 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB.2 Gerade im Hinblick auf das Verfügbarmachen derartiger Inhalte ist freilich längst weniger das gegenständliche Verschaffen drucktechnisch oder in ähnlicher Form hergestellter Informationsträger von entscheidender Bedeutung, als vielmehr das Übertragen von Daten über das Internet. Die Frage ist nur, ob sich diese moderne Form der Informationsvermittlung auch unter das Merkmal des „Verbreitens“ von Schriften subsumieren lässt. Nach dem herkömmlichen Verständnis von „Verbreiten“ ist dies an sich zu verneinen (nachfolgend I.). Dessen ungeachtet wird die Frage jedoch vom BGH bejaht (II.), freilich – so die berechtigte Kritik hieran (III.) – nicht nur mit geradezu abenteuerlicher Begründung (III. 1., 2.), sondern letztlich auch ohne Not (III. 3.) – vielleicht aber ja im Ergebnis doch zumindest in Teilen akzeptabel (IV.).
1 Vgl. aber auch §§ 80a, 90 Abs. 1, 90a Abs. 1, 90b Abs. 1, 91 Abs. 1 Nr. 1, 111 Abs. 1, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 140 Nr. 2, 166 Abs. 1, Abs. 2, 176a Abs. 3, 219a Abs. 1 StGB, § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 BtMG. 2 Nicht zu verwechseln mit dem weiter gefassten Begriff „Verbreitung pornografischer Schriften“ in den Überschriften der §§ 184–184c StGB.
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I. Das Verbreiten von Schriften nach herkömmlichem Verständnis In Gleichklang mit dem für die Verbreitung von Druckwerken maßgeblichen presserechtlichen Verbreitensbegriff 3 versteht man seit ehedem auch im Hinblick auf Schriften unter Verbreiten „eine Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, die Schrift ihrer körperlichen Substanz nach durch Weitergabe einem größeren Personenkreis zugänglich zu machen“.4 Nimmt man die Vorgabe des Gesetzes ernst, dass die Schrift selbst (die Gedankenverkörperung) und nicht nur ihr Inhalt (der verkörperte Gedanke) Gegenstand des Verbreitens sein muss,5 so ergibt sich ohne Weiteres, dass mangels körperlichen Zugänglichmachens weder das Vorlesen von Texten und Vorzeigen von Bildern, gar das bloße Rezitieren einer Schrift aus dem Gedächtnis genügen,6 noch das Abspielen einer Tonaufnahme, das Vorführen eines Films oder das Ausstrahlen eines Ton- oder Bilddokuments über Rundfunk.7 Doch auch das über das bloße Körperlich-zugänglich-Machen hinausreichende Erfordernis der körperlichen Weitergabe der Schrift,8 der gegenständlichen Übertragung,9 angesichts dessen auch das (zwar körperlich zugänglich machende, aber weitergabefreie) Anschlagen eines Plakats auf dem Marktplatz, Auslegen eines Romans in der Buchhandlung oder Führen eines (beleidigenden) Aufklebers am Auto aus dem Erfassungsbereich des Verbreitens von Schriften herausfallen,10 macht Sinn. Denn gerade im Weiterreichen einzelner Exemplare einer i.d.R. ja in zahlreichen Stücken vorhandenen Schrift liegt die besondere Gefahr der Schaffung immer neuer Keimzellen noch wieder weiterer Verbreitung bzw. weiteren Zugänglichmachens: Wird ein Plakat angeschlagen, bleibt seine Ausstrahlungswirkung örtlich begrenzt. Dagegen besteht bei einer Schrift, die nicht fest vor Ort belassen, sondern – womöglich in einer Vielzahl von Exemplaren – körperlich weitergetragen 3 Näher zu diesem M. Heinrich Medienstrafrecht, 2014, Rn. 702 ff.; Mitsch Medienstrafrecht, 2012, § 7 Rn. 38. 4 Eisele Computer- und Medienstrafrecht, 2013, § 6 Rn. 36, 101; entspr. Leipziger Kommentar StGB/Laufhütte/Kuschel, 12. Aufl. 2012, § 86 Rn. 19; Schönke/Schröder/Perron/ Eisele StGB, 28. Aufl. 2010, § 184b Rn. 5; Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 86a Rn. 15a; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, § 74d Rn. 5; s.a. BGH NJW 1999, 1979, 1980, in Anlehnung an BGHSt 13, 257, 258; 18, 63, 64. 5 Vgl. nur Mitsch (Fn. 3), § 3 Rn. 12: „Nicht ausreichend ist die bloße Inhaltsvermittlung“; ebenso Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 36. 6 RGSt 15, 118, 120 f.; BGHSt 18, 63, 64 f.; 19, 308, 310; Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 36; Mitsch (Fn. 3), § 3 Rn. 11; Sch/Sch/Perron/Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 5. 7 Vgl. etwa RGSt 46, 390, 391 (Tonaufnahme); Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 36 (Film). 8 Mitsch (Fn. 3), § 3 Rn. 11, 20; Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 36, 101; Sch/Sch/Perron/Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 5; Fischer, (Fn. 4), § 86a Rn. 15a, § 184b Rn. 8. 9 Hilgendorf/Valerius Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012, Rn. 301. 10 Näher M. Heinrich (Fn. 3), Rn. 802 ff.
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wird, die Gefahr breit gefächerter Einnistung an beliebigen anderen Orten mit entsprechend großem Streupotential. So lässt sich also sagen, dass jedenfalls außerhalb des Internets in all den Fällen der Schriftenverbreitung der eherne Grundsatz gilt, dass die Schrift dem Empfänger ihrer Substanz nach, d.h. körperlich in die Hand gegeben werden muss – und steht denn auch bisweilen in aller Klarheit zu lesen: „Dieses »Körperlichkeitskriterium« ist nach h.M. unverzichtbar“.11 Was nun die Kommunikation im Internet anlangt, so erfolgt sie nicht körperlich. Über das Internet werden keine körperlichen Gegenstände weitergegeben, sondern – höchst unkörperlich – Daten ausgetauscht. Damit ist im Grunde schon überhaupt die Möglichkeit (und erst recht die Strafbarkeit) eines „Verbreitens von Schriften im Internet“ in Frage gestellt12 – und zwar gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind „Daten“ schon per se keine Schriften i.S.d. § 11 Abs. 3 StGB (nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes sind dies nur „Datenspeicher“), es fehlt also insoweit schon am tauglichen Objekt einer Schriftenverbreitung; zum anderen erscheint es im Hinblick auf das dem „Verbreiten von Schriften“ immanente Körperlichkeitserfordernis offenkundig: Körperlose Daten können nun einmal schon ihrer Natur nach nicht körperlich weitergegeben und damit auch nicht im Rahmen der Schriftenverbreitungstatbestände durch körperliche Weitergabe „verbreitet“ werden.
II. Die Auffassung des BGH Von jenen Bedenken unberührt geht jedoch der BGH seit geraumer Zeit – mit sorgenvollem Blick insb. auf die mittlerweile nahezu vollständig zum reinen Internetdelikt gewordene Verbreitung kinderpornografischer Schriften des § 184b StGB – von der Möglichkeit strafbarer Schriftenverbreitung im Internet aus,13 indem er ein die soeben benannten Klippen umschiffendes internetspezifisches Begriffsverständnis14 in den Raum stellt – und zwar sowohl im Hinblick auf das Merkmal der „Schrift“ selbst, wie auch dasjenige des „Verbreitens“. Zum einen behauptet er in geradezu dadaesk anmutender Weise die „Gleichstellung gespeicherter Daten mit Schriften“:15 „Den … Schriften stehen Datenspeicher gleich (§ 11 Abs. 3 StGB). Digitalisierte Fotos, die ins Internet gestellt werden, sind Datenspeicher in diesem Sinne; genauer: auf einem Speichermedium – in der Regel der Festplatte des Servers – gespeicherte Daten“.16 11 12 13 14 15 16
Lackner/Kühl (Fn. 4), § 74d Rn. 5. I.d.S. auch Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 301. Vgl. BGHSt 47, 55, 58 ff., sowie erst jüngst BGH NStZ-RR 2014, 47. Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 302. So explizit BGHSt 47, 55, 58. BGHSt 47, 55, 58.
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Zum anderen konzipiert er unter ausdrücklichem Verzicht auf das Erfordernis körperlicher Weitergabe einen internetspezifischen Verbreitungsbegriff:17 „Ein Verbreiten im Internet liegt danach dann vor, wenn die Datei auf dem Rechner des Internetnutzers – sei es im (flüchtigen) Arbeitsspeicher oder auf einem (permanenten) Speichermedium – angekommen ist“.18 Dabei soll es nicht maßgeblich sein, ob die Daten vom Anbieter gezielt an den Nutzer „geschickt“ wurden (Upload) oder dieser sie nur bei jenem „abgeholt“ hat (Download):19 Es sei „unerheblich“, so der BGH, ob der Internetnutzer „die Möglichkeit des Zugriffs auf die Daten genutzt oder ob der Anbieter die Daten übermittelt hat“.20 Dies alles hat nun durchaus auch Befürworter im Schrifttum gefunden21 – und angesichts der verbreiteten Überzeugung, gerade im Internet dubiosen Aktivitäten möglichst effektiv entgegentreten zu müssen,22 hat es auch gute Chancen, sich in der Praxis durchzusetzen. So weit, so gut. Nur: Richtiger wird es dadurch nicht.23
III. Zur Kritik der BGH-Auffassung Das soeben beschriebene internetspezifische Begriffsverständnis des BGH ist gleich mehrfach zu kritisieren24: Zum einen schon hinsichtlich seiner Gleichsetzung von Daten und Datenspeichern (nachfolgend 1) sowie dem vollständigen Verzicht auf das Körperlichkeitserfordernis (2), zum anderen aber auch aufgrund des Fehlens jeglicher Notwendigkeit der vom BGH vorgenommenen wesensverändernden Uminterpretation des Verbreitensbegriffs (3).
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Von „spezifischem Verbreitungsbegriff“ spricht auch BGHSt 47, 55, 59, selbst. BGHSt 47, 55, 59. 19 BGHSt 47, 55, 59, spricht selbst von „geschickt (Upload)“ und „abholt (Download)“. 20 BGHSt 47, 55 (59). 21 Matzky ZRP 2003, 167 (169); LK/Laufhütte/Kuschel (Fn. 4), § 86 Rn. 28; Lackner/ Kühl (Fn. 4), § 184 Rn. 5; Münchener Kommentar StGB/Steinmetz, 2. Aufl. 2012, § 86 Rn. 31. 22 Zur unterschwelligen Angst gerade vor Internetkriminalität und dem – bisweilen überzogenen – Drang, sich ihr mit Verve entgegenzustemmen, M. Heinrich NStZ 2005, 361. 23 Abl. denn auch weite Teile des Schrifttums, vgl. nur Kudlich JZ 2002, 310, 311; Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206 ff.; Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 303; Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 38, 101, 126; Sch/Sch/Perron/Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 5; Sch/Sch/Eser/Hecker (Fn. 4), § 11 Rn. 67; Systematischer Kommentar StGB/Rudolphi/Stein § 11 Rn. 62 (Februar 2005); krit. auch Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 35. 24 Vgl. schon M. Heinrich (Fn. 3), Rn. 838 ff. 18
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1. Die Gleichsetzung von „Datei“ mit „Datenspeicher“ Nicht nachvollziehbar ist es schon, dem in § 11 Abs. 3 StGB genannten „Datenspeicher“ die auf dem Speichermedium gespeicherten Daten gleichzusetzen und so – letztlich in der abstrusen Vorstellung von der „Datei“ als einem auf einem Datenspeicher gespeicherten Datenspeicher gipfelnd25 – die grundlegende Unterscheidung zwischen Schrift und Inhalt zu verwischen.26 Gerade auf dieser Unterscheidung beruht doch der Unterschied zwischen dem „Verbreiten“ einer Schrift und dem bloßen „Zugänglichmachen“ ihres Inhalts.27 Gibt man jene preis, ebnet man auch diesen ein.28 Warum dies – anders als sonst bei „Schrift“ und „Inhalt“ – bei „Datenspeicher“ und „gespeicherten Daten“ der Fall sein soll, erschließt sich nicht. Ganz im Gegenteil erweist doch das Nebeneinander von „Verbreiten“ und dem – erst 1997 durch Art. 4 Nr. 3 des (vom BGH selbst erwähnten) IuKDG29 ins Gesetz eingefügten – „Öffentlich-zugänglich-Machen in Datenspeichern“ in § 86 Abs. 1 StGB deutlich, dass das Gesetz gerade auch bei Datenspeichern diese Differenzierung zugrunde legt.30 So ist denn auch die Behauptung des BGH, gerade eben „mit dem IuKDG“ – wobei er meint: mit Einfügung des „Datenspeichers“ in § 11 Abs. 3 StGB durch Art. 4 Nr. 1 IuKDG – sei eine „Gleichstellung der so gespeicherten Daten mit Schriften … eingeführt“ worden,31 ersichtlich nicht zutreffend. Immerhin war dem Gesetzgeber des IuKDG der Begriff „Daten“ durchaus bekannt (etwa aus §§ 202a, 303a StGB); hätte er also „Daten“ gemeint, hätte er auch von „Daten“ gesprochen.32 Und wenn in der Begründung zum IuKDG33 – auf die der BGH ausdrücklich Bezug nimmt – davon die Rede ist, mit der Ausweitung des Schriftenbegriffs auf „Datenspeicher“ seien nunmehr auch Inhalte in Datenträgern bzw. elektronischen Arbeitsspeichern erfasst, so ist damit nicht etwa die Erstreckung des Schriftenbegriffs auf diese Inhalte gemeint, sondern nur, dass jetzt auch diese Inhalte (etwa pornografi-
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So krit. Fischer (Fn. 4), § 11 Rn. 36a. Vgl. Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 303; i.d.S. auch Kudlich JZ 2002, 310, 311; Hörnle NStZ 2010, 704, 706; Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 38; Sch/Sch/Eser/Hecker (Fn. 4), § 11 Rn. 67; Sch/Sch/Perron/Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 5; krit. auch Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 35. 27 I.d.S. Bornemann MMR 2012, 157, 159; Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 305. 28 Vgl. Gercke MMR 2001, 678, 680. 29 Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz – IuKDG) vom 22. Juli 1997, BGBl. I, 1870. 30 I.d.S. auch Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206, 208. 31 BGHSt 47, 55, 58. 32 I.d.S. ganz richtig Kudlich JZ 2002, 310, 311; H.E. Müller MMR 2010, 344 f. 33 Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informationsund Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz – IuKDG), BT-Drucks. 13 / 7385, S. 36. 26
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scher Art) – wenn auch nur mittelbar über den Begriff des sie enthaltenden Datenspeichers – einer Subsumtion unter Tatbestände offenstehen, die an das Merkmal „Schrift“ anknüpfen. Und auch der (per se zutreffende34) Vermerk des BGH, der Gesetzgeber habe mit Einfügung des „Datenspeichers“ in § 11 Abs. 3 StGB beabsichtigt, „nicht nur Datenträger, sondern auch elektronische Arbeitsspeicher“ im Schriftenbegriff mit zu erfassen,35 gibt insofern nichts für die Einbeziehbarkeit auch körperloser Daten in den Schriftenbegriff her, als die Frage von Permanenz (Datenträger) oder Flüchtigkeit (Arbeitsspeicher) der Speicherung nichts mit der Frage der Körperlichkeit des Datenspeichers zu tun hat:36 Auch der Arbeitsspeicher eines PCs ist ja „kein virtuelles Gebilde“,37 sondern eben ein in der Hardware des PCs gegenständlich zu verortender „Datenspeicher“, der sehr wohl „in Gestalt etwa eines Speichermoduls körperliche Dimensionen aufweist“.38 Vor allem jedoch bedeutet eine Gleichsetzung von Datenspeicher und gespeicherten Daten eine klare Überschreitung der Wortlautgrenze:39 Wie beim „Glas Wasser“ ist nach natürlichem Sprachgebrauch der Inhalt (das Wasser, die Datei) nicht mit dem Behälter (dem Glas, dem Datenspeicher) identisch. Der damit zu verzeichnende eklatante Verstoß gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG macht eine Einbeziehung von Dateien in den Schriftenbegriff des Art. 11 Abs. 3 StGB unzulässig.40 2. Der Verzicht auf das Körperlichkeitserfordernis Nicht zu überzeugen vermag aber auch der vollständige Verzicht auf das Körperlichkeitskriterium beim „Verbreiten im Internet“ als solcher – der übrigens keineswegs (auch wenn die Ausführungen des BGH in diese Richtung weisen) nur einfach als logische Konsequenz einer Einbeziehung auch von „Daten“ in den Schriftenbegriff zu verstehen ist. Es ist doch die eine Frage, ob auch Daten als „Schriften“ zu begreifen sind, eine ganz andere aber, ob zur „Verbreitung von Schriften“ deren körperliche Weitergabe gehört oder nicht: So ließe sich auch bei Aufnahme der Daten in den Kreis der „Schriften“ (die freilich abzulehnen ist, vgl. soeben 1) ohne Weiteres – und ohne damit den Sinn dieser Erweiterung in Frage zu stellen – einerseits
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Vgl. den IuKDG-Entwurf (Fn. 33), S. 36. BGHSt 47, 55, 58. 36 So zu Recht Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 304: „Dies verkennt der BGH“. 37 Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 303. 38 Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 303; i.d.S. auch Kudlich JZ 2002, 310, 311; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 35. 39 SK/Rudolphi/Stein (Fn. 23) § 11 Rn. 62; s.a. MK/Hörnle, 2. Aufl. 2012, § 184b Rn. 19. 40 So auch Bornemann MMR 2012, 157, 159. 35
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am Körperlichkeitserfordernis des „Verbreitens“ festhalten und andererseits hinsichtlich der (körperlosen) Daten (ausschließlich) auf die Anwendbarkeit des in den meisten Schriftenverbreitungstatbeständen ebenfalls genannten „Zugänglichmachens“ rekurrieren41 – eben so, wie es in § 86 Abs. 1 StGB in dem gezielten Nebeneinander von „Verbreiten“ (für körperliche Schriften) und „Öffentlich-zugänglich-Machen in Datenspeichern“ (für deren körperlose Inhalte, sprich: die gespeicherten Daten) ausdrücklich vorexerziert wird. Nicht jedenfalls verfängt angesichts dessen die im Kern auf das (vermeintliche) Wesen des „Datenspeichers“ abstellende Argumentation des BGH:42 „Wegen der … Gleichstellung des Datenspeichers mit Schriften kann die Rechtsprechung, wonach ein Verbreiten von Schriften nur dann vorliege, wenn die Schrift ihrer Substanz nach … zugänglich gemacht wird (…), auf Publikationen im Internet nicht übertragen werden. … Gerade die Einbeziehung des (flüchtigen, unkörperlichen) Arbeitsspeichers zeigt, dass es hier auf eine Verkörperung nicht mehr ankommen soll.“ Ganz abgesehen davon, dass der BGH hier wieder allzu kurz von der „Flüchtigkeit“ des Arbeitsspeichers (richtiger: der im Arbeitsspeicher nur vorübergehend gespeicherten Inhalte) auf dessen „Unkörperlichkeit“ schließt, behauptet er in freier Schöpfung ein unauflösbares Junktim zwischen der inhaltlichen Ausdehnung des Schriftenbegriffs des § 11 Abs. 3 StGB auf der einen und den Voraussetzungen des „Verbreitens“ einer Schrift auf der anderen Seite.43 Wenn nun aber der historische Gesetzgeber des IuKDG tatsächlich auch die Absicht hatte, mit dem „Datenspeicher“ auch den „elektronischen Arbeitsspeicher“ dem Schriftenbegriff einzubeschreiben, so ist damit noch längst nicht gesagt, dass er damit zugleich von einer Anwendbarkeit gerade des „Verbreitens“ auf eben diesen Arbeitsspeicher ausgegangen ist. Viel näher liegt es doch, dass er die in vielen Tatbeständen neben dem „Verbreiten“ genannte Strafbarkeit des „Öffentlich-zugänglich-Machens“ auch auf Arbeitsspeicher bzw. die in ihnen (wenn auch nur vorübergehend) enthaltenen Daten erstrecken wollte44 – was nicht nur in abstracto Sinn macht, sondern sich auch mit der (nicht von ungefähr) zeitgleichen Einfügung der dem „Verbreiten“ von Schriften zur Seite gestellten Strafbarkeit des „Öffentlichzugänglich-Machens in Datenspeichern“ in § 86 Abs. 1 StGB deckt.45 Vor allem aber verbietet es der Wortlaut des § 11 Abs. 3 StGB, im bloßen Transferieren von Dateien über das Internet von einem PC zu einem anderen –
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I.d.S. auch Kudlich JZ 2002, 310, 311; Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 305. BGHSt 47, 55, 59. 43 Gegen ein solches Junktim u.a. Kudlich JZ 2002, 310, 311; Sch/Sch/Perron/Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 5. 44 I.d.S. auch Kudlich JZ 2002, 310, 311. 45 I.d.S. auch die Erläuterungen zu Art. 4 Nr. 3 IuKDG in IuKDG-Entwurf (Fn. 33), S. 36. 42
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bzw. beim „Ankommen“ der übermittelten Dateien – ein „Verbreiten“ von Schriften zu erblicken. Denn geht man davon aus, dass § 11 Abs. 3 StGB, wenn er von „Datenspeichern“ spricht, tatsächlich auch „Datenspeicher“ – und nicht die in diesen gespeicherten Daten – meint, so müssen eben die „Datenspeicher“ selbst (die mit Dateien bespielten DVDs oder Festplatten) und nicht nur ihre Inhalte „verbreitet“ werden. In dieser Erkenntnis liegt es letztlich begründet, dass der BGH den Begriff „Datenspeicher“ um jeden Preis mit dem der gespeicherten „Daten“ in eins zu setzen versucht. 3. Die fehlende Notwendigkeit der Uminterpretation des Verbreitensbegriffs Was vielleicht im Hinblick auf den vom BGH propagierten internetspezifischen Verbreitungsbegriff am meisten verwundert, ist der Umstand, dass für die mit ihm verbundene radikale Abkehr vom tradierten Verständnis im Sinne körperlichen Verbreitens keinerlei Notwendigkeit besteht.46 Denn es ist ja nicht etwa so, dass beim Ausfall der „Verbreitens“-Strafbarkeit eine empfindliche Strafbarkeitslücke entstünde.47 Vielmehr ist in den einschlägigen Delikten dem „Verbreiten“ das „Öffentlich-zugänglich-Machen“ bzw. das (dies mit umfassende) „öffentliche“ Begehen zur Seite gestellt, so dass auch bei „Versagen“ der Verbreitens-Variante zumindest in aller Regel – immer jedenfalls bei (als „öffentlich“ zu wertendem) Bereitstellen von Inhalten auf einer jedermann zugänglichen Internetseite – eine Strafbarkeit des Übermittelns inkriminierter Inhalte im Internet aufgrund des darin liegenden Öffentlich-zugänglich-Machens gewährleistet ist.48 Auch der BGH selbst konzediert denn auch in dem von ihm zu entscheidenden Fall die tatbestandliche Erfassbarkeit als „Zugänglichmachen“.49 Was bleibt, ist jener Bereich, in dem die Inhalte nur „nicht-öffentlich“ bereitgestellt bzw. übermittelt werden und somit über das „Öffentlichzugänglich-Machen“ nicht zu erfassen sind, sehr wohl aber mittels des – gerade nicht auf „öffentliches“ Verbreiten beschränkten50 – internetspezifischen Verbreitensbegriffs zu erfassen wären.51 Nur ist dieser Bereich nicht-öffentlichen, vertraulichen „Verbreitens“52 weitaus kleiner, als es auf 46 Vgl. Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 303; Kudlich JZ 2002, 310, 311 f.; Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206. 47 Vgl. Sieber JZ 1996, 494, 495 f.; Gercke MMR 2001, 676, 679; Hilgendorf/Valerius (Fn. 9), Rn. 301. 48 So neben den in Fn. 47 Genannten auch Sch/Sch/Perron/Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 5; Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 39, 101, 126. 49 BGHSt 47, 55, 60; ebenso im Fall BGH NStZ-RR 2014, 47. 50 Vgl. M. Heinrich (Fn. 3), Rn. 824 ff. 51 MK/Hörnle (Fn. 39), § 184b Rn. 20. 52 Näher M. Heinrich (Fn. 3), Rn. 825.
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den ersten Blick erscheinen mag: Denn eingedenk der dem Verbreitensbegriff jedweden Zuschnitts immanenten Breitenwirkung ist auch das Verbreiten im Internet an das Erfordernis gebunden, die Inhalte „einem größeren Personenkreis“ zugänglich zu machen 53 (vgl. oben I.) – so dass die gezielte Übermittlung von Dateien an einzelne oder eine überschaubare Gruppe handverlesener Adressaten – etwa per E-Mail oder durch Gewährung des Abrufs von verschlüsselten Seiten – schon deswegen nicht zur Strafbarkeit wegen „Verbreitens“ führen kann.54 Ob es nun angesichts der nach alledem nur geringen praktischen Relevanz des „internetspezifischen Verbreitungsbegriffs“ ratsam ist, den aus guten Gründen an das Körperlichkeitserfordernis gekoppelten überkommenen Verbreitungsbegriff aufzukündigen, erscheint mehr als fraglich – ein gehobenes kriminalpolitisches Bedürfnis dafür ist zumindest nicht erkennbar. Dass jedenfalls der historische Gesetzgeber des IuKDG – auf gerade dessen Intentionen der BGH sich mehrfach beruft55 – hier keine schließungsbedürftige Lücke erblickt hat, ergibt sich (wiederum) in aller Deutlichkeit daraus, dass er in § 86 Abs. 1 StGB dem – von ihm im herkömmlichen Sinne verstandenen und als in diesem Sinne weiterbestehend akzeptierten56 – „Verbreiten“ ganz gezielt nur das „öffentliche“, nicht aber ein jedes (also auch das „vertrauliche“) Zugänglichmachen in Datenspeichern an die Seite stellte.
IV. Das Verbreiten im Internet als Bewirken substanzieller Verankerung beim Empfänger Unbeschadet aller Kritik an dem – entschieden zu weit gehenden – internetspezifischen Verbreitensbegriff des BGH ist aber doch einzuräumen, dass in Fällen, in denen die nichtkörperliche Übermittlung inkriminierter Inhalte über das Internet derjenigen mittels körperlicher Weitergabe im Ergebnis weitestgehend gleichkommt, es unbefriedigend erscheint, einen Tatbestand wie den des § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB in zentralen Bereichen faktischen Geschehens – eben den Übermittlungen im Internet – vollständig leer laufen zu lassen. Ein solches weitestgehendes Gleichkommen ist jedoch nicht bereits dann gegeben, wenn die Dateien nur irgend beim Empfänger ankommen – und dies verkennt der BGH, insoweit deutlich über das Ziel hinausschießend –, sondern erst dann, wenn zum einen die Übermittlung der Dateien vom Verbreitenden ausgeht und zum anderen die beim Ankommen noch höchst 53 54 55 56
Vgl. Gercke MMR 2001, 678, 679; Eisele (Fn. 4), § 6 Rn. 36. So die in Fn. 53 Genannten; i.E. ebenso MK/Hörnle (Fn. 39), § 184b Rn. 19, 20. BGHSt 47, 55, 58. Vgl. Gercke MMR 2001, 678, 679.
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„flüchtigen“ Inhalte auf dem PC des Empfängers mittels auf dessen Festplatte erfolgender Abspeicherung eine dauerhafte Verkörperung erfahren. Denn erst bei Vorliegen einer solchen auf Betreiben des Informationsinhabers erfolgenden substanziellen Verankerung beim Empfänger ist mehr geschehen, als die dem „Zugänglichmachen“ entsprechende bloße Ermöglichung inhaltlicher Kenntnisnahme, nämlich die verbreitenstypische Schaffung einer neuen Keimzelle noch wieder weiterer Verbreitung (vgl. schon oben I.). 1. Das Erfordernis des Auf-den-Weg-Bringens Zum einen ist dem BGH also darin zu widersprechen, dass es „unerheblich“ sei, ob der Internetnutzer „die Möglichkeit des Zugriffs auf die Daten genutzt oder ob der Anbieter die Daten übermittelt hat“.57 Denn anders als beim „Zugänglichmachen“, bei dem typischerweise die aus der Schrift zu erlangende Informationen vom Adressaten „abgeholt“ werden und sich die Tätigkeit des Zugänglichmachenden in eben der Bereitstellung zur Abholung erschöpft (man denke an das Anschlagen eines von interessierten Passanten zu lesenden Plakats), ist „vom Wortsinn her … für das Verbreiten ein zielgerichtetes, die Kenntnisnahme durch den angesprochenen Empfänger bezweckendes aktives Tun des Inhabers der zu verbreitenden Schrift erforderlich, an dem es beim Download gerade fehlt“.58 Aber auch, „damit die vom Begriff des Verbreitens erfassten Verhaltensweisen durchweg einen der maßgeblich vom Zusatz der Öffentlichkeit geprägten Alternative des Zugänglichmachens vergleichbaren Unrechtsgehalt aufweisen, ist stattdessen für ein Verbreiten zu fordern“, dass der übermittelte Inhalt „bereits durch das Tätigwerden des Anbieters dessen Informationssphäre verlässt und in diejenige des Empfängers eintritt“.59 Auch außerhalb des Internets kommt es demgemäß entscheidend auf das Auf-den-Weg-Bringen (etwa das Versenden) der Schrift an. Am Erfordernis des vom Täter ins Werk gesetzten Auf-den-Weg-Bringens fehlt es nun insbesondere beim bloßen – mit aktivem Versenden gerade nicht vergleichbaren – Einstellen von Dateien ins Internet 60 und ebenso beim Setzen eines sog. Hyperlinks 61 (nicht aber beim Versenden von Emails), so dass diese Handlungsweisen schon deswegen nicht unter den Verbreitenstatbestand zu subsumieren sind. 57
BGHSt 47, 55, 59. Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206, 208; „aktives Tun“ verlangt auch Hilgendorf JuS 1997, 323, 330. 59 Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206, 208; statt „Inhalt“ ist dort aber von „Datenträger“ die Rede. 60 Anders BGHSt 47, 55, 60: „ schon mit dem Einrichten des Links wird der Anbieter aktiv.“ 61 I.d.S. auch Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206, 208; s.a. Löhnig JR 1997, 496, 497. 58
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2. Das Erfordernis substanzieller Verankerung beim Empfänger Entgegen der Auffassung des BGH ist aber auch zu verlangen, dass (auf Betreiben des Übermittelnden) am Empfänger-PC i.S.d. BGH „angekommene“ Daten dort auch perpetuiert, sprich: aus dem „flüchtigen“ Arbeitsspeicher heraus auf der Beständigkeit gewährenden Festplatte des Empfänger-PCs abgespeichert werden. Denn erst damit erfolgt die über ein bloßes „Ankommen“ hinausgehende – für das jeweils geschützte Rechtsgut mit Abstand gefährlichere – Schaffung einer auf dem PC des Empfängers angesiedelten, in dessen Festplatte eingenisteten neuen Keimzelle noch wieder weiterer Verbreitung (vgl. oben I.): Zwar kann auch die im Arbeitsspeicher des Empfänger-PCs „angekommene“ und dort nun in flüchtiger Form präsente Datei an Dritte weitergeleitet werden, aber eine dauerhafte Verankerung auf dem PC und damit ein auch auf längere Sicht beständiger Quell erneuter Weiterverteilung – etwa auch als Ort des Zugänglichmachens für Dritte – ist damit noch nicht gegeben. Man führe sich nur einmal vor Augen, was denn passiert, wenn eine Datei am Empfänger-PC „angekommen“ ist, sich also zunächst einmal nur erst in dessen Arbeitsspeicher befindet – und nunmehr der PC ausgeschaltet wird: Die Datei hört auf zu existieren, der Inhalt geht verloren. Ein solch geringes Maß an Beständigkeit ist mit keinem irgend über das bloße vorübergehende Zugänglichmachen hinausgehenden Verbreitensbegriff kompatibel. Entscheidend ist damit, dass die ehedem (nur) auf der Festplatte des Ursprungs-PCs gespeicherten Dateien vom Verbreitenden an den Empfänger-PC versendet werden und nunmehr auf der Festplatte des EmpfängerPCs zur Abspeicherung gelangen, so dass – im Sinne gewissermaßen des Erzeugens eines Duplikats beim Empfänger – am Ende nicht nur an der Quelle, sondern auch am Ziel ein diese Inhalte sowohl verkörpernder, wie auch sie perpetuierender Datenspeicher existiert. 3. Das Erzeugen eines Duplikats beim Empfänger Damit ist zugleich auch die Antwort auf die Frage gegeben, ob die eben angestrengten Überlegungen nicht letztlich daran scheitern müssen, dass die Übertragung von Inhalten im Internet doch eben naturgegeben unkörperlich erfolgt (vgl. oben I.). Denn, so die Überlegung, was ist denn eigentlich essenziell für das dem „Verbreiten“ immanente Körperlichkeitserfordernis? Ist es die Körperlichkeit des Verschaffungsvorgangs als solchem? Ich meine nein! Entscheidend ist vielmehr allein, dass am Ende dem Empfänger die zu verbreitende Schrift körperlich in die Hand gegeben ist – ohne dass es nun aber, so meine These, darauf ankommt, ob es sich dabei um das Original der Schrift oder aber um ein Duplikat handelt. Auf welchem Wege (durch körperliche Übergabe oder durch unkörperliche Übermittlung) der Empfänger
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„sein“ Exemplar der Schrift (Original oder Kopie) in die Hand bekommen hat, ist demgegenüber ohne Bedeutung. Will man die unkörperliche Vermittlung des Inhalts eines Datenspeichers – in den Fällen aktiven Auf-den-Weg-Bringens (vgl. oben 2.) – dem „Verbreiten“ unterstellen, genügt es mithin vollauf, die Unkörperlichkeit des Übertragungsvorgangs zu akzeptieren unter Beibehaltung des Erfordernisses, dass sowohl am Ausgangspunkt der Übertragung, wie auch an ihrem Endpunkt der von der Quelle ans Ziel übertragene Inhalt in verkörperter Form (als Inhalt eines Datenspeichers) vorliegt: Verbreiten eines „Datenspeichers“ über das Internet also nicht als körperlose Übertragung einer körperlosen Datei (so der BGH), sondern in dem Sinne, dass auf dem PC des Empfängers ein dem an der Quelle vorhandenen körperlichen Datenspeicher entsprechender neuer körperlicher Datenspeicher desselben Inhalts erzeugt wird. Dieser Gedanke ist nun bereits auch jenseits der Internet-Problematik im Grunde nicht neu, hat doch schon das RG ein „Verbreiten“ bei der Verschaffung handschriftlicher oder hektographischer Vervielfältigungsstücke ohne Weiteres bejaht62 und muss dies nicht minder auch für die Weiterreichung mittels moderner Vervielfältigungsverfahren erstellter Kopien gelten, ja selbst für die Übersendung eines Faxes.63 Dies ist sachgerecht, da die Verschaffung eines Vervielfältigungsstücks bzw. eines Duplikats sich bezüglich des Wirksamwerdens der Schrift in keiner relevanten Weise von der Weitergabe des Originals unterscheidet: Auch mit Verschaffung des Duplikats wird nicht bloß der Inhalt der Schrift vermittelt, sondern dem Empfänger ein dem Original auch in funktioneller Hinsicht als Keimzelle weiterer Verbreitung (vgl. oben I.) gleichkommendes körperliches Äquivalent in die Hand gegeben. Wenn es damit also schon ganz allgemein nicht auf die Weiterreichung im Original, also des originalen Stückes selbst, ankommt, sondern nur darauf, dass dem Empfänger mit der Abschrift (der Kopie, dem Fax) ein dem Original entsprechendes Stück verschafft wird, so kann dies bei der Erzeugung eines dem Original entsprechenden Datenspeichers beim Empfänger einer Internet-Übertragung nicht anders sein. Dies umso mehr, als ja auch beim Kopieren eines Schriftstückes mit einem Kopiergerät (bzw., noch deutlicher, beim Überspielen einer CD oder DVD auf einen Rohling) oder gar bei der über die Telefonleitung erfolgenden Übersendung eines Faxes stets ein inhaltsvermittelnder körperloser Datenfluss zwischen Original und Duplikat zu verzeichnen ist – nicht anders als bei der Übertragung einer Datei über das Internet.
62 63
RGSt 9, 71; zust. LK/Laufhütte/Kuschel (Fn. 4), § 86 Rn. 24. Näher hierzu M. Heinrich (Fn. 3), Rn. 812 f.
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V. Ergebnis Als Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass – anders, als der BGH dies sieht – weder das bloße (hinsichtlich des Übermittlungsvorgangs) passive Bereithalten von Dateien auf einem Server, die dann von jemandem von dort mittels Downloads „abgeholt“ werden, ein „Verbreiten“ darstellt, noch das aktive Versenden von Dateien über das Internet, soweit es nur in ein „Ankommen“ im flüchtigen Arbeitsspeicher des Empfänger-PCs, nicht aber in eine perpetuierende Abspeicherung auf dessen Festplatte einmündet. Sehr wohl aber ist – anders nunmehr, als die dem BGH konträre Gegenauffassung es bislang zugesteht – ein „Verbreiten“ über das Internet dann möglich, wenn jemand Dateien mittels Uploads aktiv an einen anderen versendet und auf dessen PC dann eine die übermittelten Inhalte substanzielle Verankerung erfolgt, so dass der Empfänger nunmehr insoweit (d.h. im Hinblick gerade auf die hier wie dort gespeicherten Daten) über ein Duplikat des Quelldatenspeichers verfügt. Ein „Verbreiten“ ist damit insbesondere für den Fall des Versendens (einer Vielzahl) von Emails anzunehmen, die nach ihrem Eingang – automatisch – zur späteren Lektüre durch den Email-Adressaten abgespeichert und somit dupliziert werden. Mit diesem ohne Brüche an die bisherige Interpretation des Verbreitungsbegriffs anknüpfende Konzept der substanziellen Verankerung durch Erzeugung eines Duplikats beim Empfänger wird einerseits der den Grundsatz körperlichen Verbreitens vollständig negierenden Auffassung des BGH eine klare Absage erteilt, ohne andererseits aber die Augen zu verschließen vor den Anforderungen einer sich ständig weiterentwickelnden Kommunikationstechnologie. Doch mehr noch: Diese Konzeption vermag es, im Grunde ganz im Sinne des BGH,64 geradezu punktgenau eben jene Strafbarkeitslücken zu schließen, die sich tatsächlich auftun zwischen dem „Verbreiten“ herkömmlichen Verständnisses einerseits und dem in den meisten Verbreitungstatbeständen ebenfalls genannten „Öffentlich-zugänglich-Machen“ bzw. „öffentlichen“ Begehen andererseits: Ist in dem für jedermann frei zugänglichen Bereitstellen von Dateien im Internet ein „Verbreiten“ nicht anzunehmen, so ist dies unschädlich, da in diesen Fällen ausnahmslos ein „öffentliches“ Zugänglichmachen bzw. Begehen vorliegt und damit eine Strafbarkeit in diesem Bereich gewährleistet ist. Führt hingegen das in die Abspeicherung auf dem MailServer des Adressaten einmündende, an einen größeren Personenkreis erfolgende Versenden von Emails als Erzeugung von Duplikaten des QuellDatenspeichers beim Empfänger zur Bejahung eines „Verbreitens“, so ist
64
Vgl. BGHSt 47, 55, 58 f.
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damit gerade der Bereich typischerweise nicht-öffentlichen, vertraulichen – und deswegen nicht unter „Öffentlich-zugänglich-Machen“ bzw. „öffentliches“ Begehen subsumierbaren – Übermittelns erfasst, bei dem ohne Eingreifen einer „Verbreitens“-Strafbarkeit eine Strafbarkeitslücke zu verzeichnen wäre. Was bleibt, ist, dem verehrten Jubilar, dem ich die vorstehenden Überlegungen mit tief empfundenem Respekt widme – und der sich übrigens auch selbst bereits mit medienstrafrechtlich relevanten Handlungsweisen wie dem „öffentlichen Mitteilen“ (in § 201 StGB) oder dem „Offenbaren“ (in § 203 StGB) beschäftigt hat 65 – zu gratulieren und ihm von Herzen ein noch viele Jahre währendes Fortdauern seiner so bewundernswerten Schaffens- und Überzeugungskraft zu wünschen.
65
LK/Schünemann, 12. Aufl. 2010, § 201 Rn. 26 ff., § 203 Rn. 41 ff.
Drohungen und Versprechungen Lothar Kuhlen I. Fälle Drohungen und Versprechungen spielen im Strafrecht eine erhebliche Rolle.1 Ihre Unterscheidung bereitet vielfach Schwierigkeiten. Diese werden meist mit Blick auf die Nötigung und dort die Drohung mit einem Unterlassen erörtert. Dieses Problem sei zunächst an zwei Fällen verdeutlicht. 1. Drohung mit einem Unterlassen? Fall 1: Kaufhausdetektivfall Kaufhausdetektiv A bot der bei einem Ladendiebstahl ertappten B an, die Strafanzeige „unter den Tisch fallen zu lassen“, falls sie mit ihm schlafe.2 Der BGH bejahte eine (versuchte) Nötigung. Jedenfalls habe A mit einem empfindlichen Übel gedroht, wenn er B ankündigte, ggf. Anzeige zu erstatten. Das Gleiche gelte, wenn er in Aussicht stellte, ggf. die Anzeige nicht zurückzuziehen. Denn ebenso wie die Ankündigung eines rechtmäßigen Tuns könne auch die eines rechtmäßigen Unterlassens eine Drohung mit einem Übel sein (weiter Drohungsbegriff).3 Der BGH erkennt die damit verbundene erhebliche Ausweitung des Nötigungstatbestandes, meint jedoch, 1 Als Drohung bzw. Versprechung bezeichne ich Ankündigungen einer Person A gegenüber einem Adressaten B (die folgende Analyse beschränkt sich auf dieses Zweipersonenverhältnis). Nimmt B eine Versprechung des A an, entsteht ein Versprechen (Nomos Kommentar StGB/Kuhlen, 4. Aufl. 2013, § 333 Rn. 4 f.). Bereits das (einseitige) Anbieten eines Vorteils bei §§ 333 f., 299 Abs. 2 (Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB) ist also eine Versprechung, ebenso das Fordern eines Vorteils bei §§ 331 f., 299 Abs. 1 (mit dem ein dienstliches Handeln bzw. eine unlautere Bevorzugung in Aussicht gestellt wird). Auch beim Wucher (§ 291) ist, obwohl das Gesetz darauf abstellt, ob jemand einen Vermögensvorteil sich versprechen oder gewähren lässt, „Anknüpfungspunkt“ der Tat das Versprechen einer Leistung durch den Täter selbst (Leipziger Kommentar StGB/Wolff, 12. Aufl. 2008, § 291 Rn. 2). 2 BGHSt 31, 195 m. Anm. Horn NStZ 1983, 497; Roxin JR 1983, 333; Schroeder JR 1983, 284; Schubarth NStZ 1983, 312. 3 Zu dieser heute h.M. Hillenkamp 40 Probleme aus dem Strafrecht BT, 12. Aufl. 2013, S. 33 f. Streng genommen ist, wie sich zeigen wird, der hier abkürzend so genannte weite Drohungsbegriff ein weiter Begriff der Drohung mit einem Übel.
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sie sei durch die Verwerflichkeitsprüfung, nicht aber „eine dem Wortlaut zuwiderlaufende Einengung des Merkmals der ‚Drohung mit einem empfindlichen Übel‘“ zu korrigieren.4 Nach der Pflichttheorie 5 kann demgegenüber nur in der Ankündigung eines pflichtwidrigen Unterlassens die Drohung mit einem Übel liegen. Hiernach kommt es darauf an, wie A’s Äußerung auszulegen ist. Hat er ein aktives Tun (Anzeigeerstattung) angekündigt, hat er mit einem Übel gedroht, egal ob dieses Tun pflichtwidrig oder (wie im Fall) erlaubt war. Die Ankündigung, die bereits veranlasste Anzeige nicht zu unterdrücken, wäre dagegen keine Drohung mit einem Übel, weil dieses Unterlassen erlaubt war. Das OLG Hamburg hatte deshalb in einem ähnlichen Fall eine Nötigung verneint, weil dort lediglich ein erlaubtes Unterlassen in Aussicht gestellt wurde.6 Nach einer dritten Auffassung hat A jedenfalls keine Nötigung begangen. Denn § 240 schütze nur die rechtlich garantierte Freiheit, B aber habe eine Strafanzeige dulden müssen. Also sei die Ankündigung, Anzeige zu erstatten, ebenso tatbestandslos wie die, die bereits veranlasste Anzeige nicht rückgängig zu machen.7 Nach dieser normativen Nötigungstheorie ist also8 weder die Ankündigung eines erlaubten Tuns, noch die eines erlaubten Unterlassens eine Drohung mit einem Übel. Fall 2: Chefarztfall Der renommierte Chefarzt A operierte die Kassenpatientin B, die keinen Anspruch auf eine Behandlung durch ihn hatte. Die „außer der Reihe“ erfolgende Operation machte er von einer Spende abhängig. B spendete, weil sie davon ausging, eine baldige Operation durch A werde ihre Überlebenschance erheblich erhöhen. Das LG Essen verurteilte A wegen Nötigung, der BGH verwarf die dagegen gerichtete Revision.9 Nach Auffassung des LG drohte A der B, ohne Spende eine zeitnahe Operation zu unterlassen. Dass er zu dieser Operation 4
BGHSt 31, 195, 200. Zu dieser bis BGHSt 31, 195 h.M. Hillenkamp (Fn. 3), S. 31 f. mit Unterscheidung zwischen „allgemeiner“ und „Garantenpflichttheorie“. Letztere wurde schon früh von „Gerichtsreferendar Bernd Schünemann, wissenschaftlicher Assistent in Göttingen“ vertreten (in MschrKrim 53 [1970], 250, 261). 6 OLG Hamburg NJW 1980, 2592 m. Anm. Volk JR 1981, 274. Dort hatte A der B angekündigt, er werde die bereits bei der Staatsanwaltschaft angelangte Anzeige wegen Ladendiebstahls unterdrücken, falls B mit ihm schlafe. 7 So Horn NStZ 1983, 497, 499. Grundlegend Jakobs FS Peters, 1973, S. 69; ders. GS Hilde Kaufmann, 1986, S. 791; weiterhin Gutmann Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001, S. 268 ff.; Lesch FS Rudolphi, 2004, S. 483. 8 Wenn man sie, wie das hier geschieht, dem Begriff der Drohung mit einem Übel zuordnet. 9 BGH MedR 2012, 187 m. Anm. Grosse-Wilde. 5
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nicht verpflichtet war,10 sei nach h.M. belanglos.11 Allerdings habe der BGH erwogen, die tatbestandsmäßige Drohung mit einem erlaubten Unterlassen auf Fälle der Eingriffs-Unterlassung zu beschränken.12 Auch deren Voraussetzungen seien jedoch erfüllt, da sich nach Darstellung des A ohne baldige Operation B’s Lage empfindlich verschlechtert hätte.13 Nach Grosse-Wilde ist die Entscheidung der Gerichte falsch und zeigt, „dass die rein psychologisierende Nötigungsdogmatik der Rechtsprechung in eine Sackgasse geraten ist“.14 2. Versprechen eines Unterlassens? Während die Fälle 1 und 2 die Frage aufwerfen, ob Äußerungen, die sich zwanglos als Versprechungen auffassen lassen,15 (auch) als Drohungen zu betrachten sind, steht der folgende Fall für die umgekehrte Frage, ob Ankündigungen, die man unbefangen als Drohungen ansehen wird, mit Versprechungen verbunden sind. Fall 3: Führerscheinfall A forderte vom Amtsträger B die rechtswidrige Ausstellung eines Führerscheins. B kam dem nach, weil A ankündigte, andernfalls werde er offenbaren, dass sich B in früheren Fällen bestechlich gezeigt hatte. A ist wegen Bestechung (§ 334 Abs. 1), B wegen Bestechlichkeit (§ 332 Abs. 1) strafbar, wenn B einen ihm von A versprochenen Vorteil angenommen hat. A hat B
10 Was nach der Pflichttheorie wie der normativen Nötigungslehre eine Drohung ausschließt. 11 So LG Essen MedR 2012, 188 unter Berufung auf BGHSt 31, 195. 12 So im Ausreise-Fall, wo der wegen Erpressung angeklagte (und vom LG Berlin verurteilte) Rechtsanwalt A einem Ehepaar die Ermöglichung der Ausreise aus der DDR nur unter der Bedingung zugesagt hatte, dass die Eheleute zuvor ihre Grundstücke verkauften. Das entsprach der damaligen Praxis, nach dem Recht der DDR bestand kein Anspruch auf Ausreise ohne vorherigen Grundstücksverkauf (Lagodny/Hesse JZ 1999, 313, 314 f.; Sinn NStZ 2000, 195, 196 f.). Der BGH erwog im Anschluss an LK/Herdegen, 11. Aufl. 2005, § 253 Rn. 4, die tatbestandsmäßige Drohung mit einem rechtmäßigen Unterlassen auf Fälle zu beschränken, in denen sich ohne Eingreifen des A die Situation von B verschlechtern würde (Eingriffs-Unterlassungsdrohung), als tatbestandslos dagegen die Ankündigung eines rechtmäßigen Unterlassens zu betrachten, wenn es (wie im Fall) ohne Eingreifen des A beim status quo von B bliebe (BGHSt 44, 68, 75). Der Senat ließ offen, ob wirklich die h.M. derart einzuschränken sei, da A angesichts der Praxis der DDR-Behörden jedenfalls nicht verwerflich gehandelt habe. 13 LG Essen MedR 2012, 188. 14 Grosse-Wilde MedR 2012, 189, 190. 15 In Fall 1 verspricht A, ggf. die Strafanzeige „unter den Tisch fallen“ zu lassen, in Fall 2, ggf. „außer der Reihe“ zu operieren.
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mit einem empfindlichen Übel gedroht.16 Zwar hat er auch angekündigt, bei Erteilung des Führerscheins auf die Bekanntmachung zu verzichten. Nach einer verbreiteten Auffassung kann jedoch „die bloße Vermeidung eines Übels … an sich nicht als ein Vorteil angesehen werden“.17 Der BGH betrachtete demgegenüber A’s Ankündigung „zugleich“ als Versprechen eines Vorteils, nämlich als Zusage, B’s „berufliche Situation ungestört zu erhalten“ (weiter Versprechensbegriff).18 Marcelli hat dem BGH darin zugestimmt, „dass das Vermeiden eines Nachteils ein Vorteil ist“, denn „die Androhung eines Übels für den Fall des Nichterfüllens einer Forderung“ enthalte „begrifflich zugleich das Gegenteil, nämlich das Versprechen, die Drohung nicht zu verwirklichen, wenn dem Verlangen nachgekommen wird“.19 Allerdings sei es „mit dem normalen Sprachverständnis … schwer nachzuvollziehen“, dass „derjenige, der dem Druck der Drohung nachgibt, gleichzeitig den ,Vorteil annimmt, sich versprechen lässt oder fordert‘“.20 Wagner hat der Entscheidung vorgeworfen, sie schenke „dem Wortlaut der §§ 331 ff. keinerlei Beachtung“, denn wo ein Übel in Aussicht gestellt wird, könne man „nicht ernsthaft“ sagen, dass ein Vorteil versprochen werde.21 3. Zusammenfassung Die Fälle zeigen, dass die Begriffe des Drohens und des Versprechens strafrechtliche Probleme bereiten, die miteinander verknüpft sind. Es ist deshalb unabdingbar, beide Begriffe in ihrem Zusammenhang zu analysieren.
II. Begriffsanalyse Drohungen und Versprechungen sind elementare Bestandteile des sozialen Lebens. Es ist deshalb sinnvoll, sich ihrer sozialen Bedeutung und der mit ihr verknüpften umgangssprachlichen Begriffsverwendung zu vergewissern, bevor man überlegt, ob deren strafrechtliche Modifikation ange16 Anders nur die normative Nötigungslehre, da B keinen Anspruch auf Geheimhaltung seiner Verfehlungen hatte. 17 So RGSt 64, 374, 375 mit der Maßgabe, je nach „Lage des einzelnen Falles“ könne der Hinweis auf eine bestimmte Folge, „wenn er auch zunächst im Gewande der Androhung eines Übels erscheint, doch nach seinem Inhalt und Wesen zugleich als das Versprechen eines ‚Vorteils’ erscheinen“. 18 So BGH NStZ 1985, 497, 499 unter Berufung auf RGSt 64, 374. 19 Marcelli NStZ 1985, 500. 20 Marcelli NStZ 1985, 500, 501. 21 Wagner JZ 1987, 594, 603 f. Die Entscheidung ablehnend auch NK/Kuhlen (Fn. 1), § 331 Rn. 42 f.
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bracht ist.22 Diese Verwendung ist in der analytischen Philosophie eingehend untersucht worden. Die dort erzielten Klärungen sind auch strafrechtlich hilfreich. 1. Drohen und Versprechen in der analytischen Philosophie Das Hauptinteresse der philosophischen Analyse gilt dem Versprechen, weil man daraus möglicherweise Verpflichtungen ableiten und so die Kluft zwischen Sein und Sollen überbrücken kann.23 Der Vergleich von Versprechungen und Drohungen ergibt, dass beide Äußerungen sind, die eine Intention des A zum Ausdruck bringen, deren Gegenstand eine eigene24 zukünftige Handlung ist.25 Dass es nur für Versprechungen eine eigene Formel gibt („Ich verspreche es“), erlaubt keine Unterscheidung.26 Einen ersten Unterschied sieht man überwiegend darin, dass die versprochene Handlung dem B (nach Auffassung des A) erwünscht, die angedrohte unerwünscht ist.27 Das wird zwar bestritten,28 verdient aber Zustimmung.29
22 Dies ergibt sich schon aus der strafrechtlichen Bedeutung, die der Umgangssprache wegen des Analogieverbots zukommt. Vgl. dazu Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978, S. 19 ff.; Schünemann FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 299, 311 ff. 23 Searle Sprechakte, 1971, S. 88 ff.; Anwander Versprechen und Verpflichten, 2008, S. 9 ff. 24 Oder doch dem A zurechenbare. 25 Árdal Philosophical Quarterly 18 (1968), 225, 226 ff.; Peetz Mind 86 (1977), 578; Nicoloff Journal of Pragmatics 13 (1989), 501, 504; Seligman Southern Journal of Philosophy 1995, 83; Anwander (Fn. 23), S. 61. Kein Versprechen in diesem Sinn ist die bloße Zusicherung künftiger Verläufe („Ich verspreche Ihnen, dass die Waschmaschine 10 Jahre halten wird“), Árdal a.a.O., S. 225 f.; Peetz a.a.O., S. 578. 26 Denn ohne Verwendung dieser Formel kann man ebenfalls etwas versprechen und mit ihr kann man auch eine Drohung bekräftigen, Árdal Philosophical Quarterly 18 (1968), 225, 227 ff.; Nicoloff Journal of Pragmatics 13 (1989), 501, 504 f.; Seligman Southern Journal of Philosophy 1995, 83, 85. 27 So Searle (Fn. 23), S. 89 ff.; Árdal Philosophical Quarterly 18 (1968), 225, 231; Nicoloff Journal of Pragmatics 13 (1989), 501, 503; Seligman Southern Journal of Philosophy 1995, 83, 85 ff. unter Hinweis darauf, dass hiernach eine Äußerung mit mehreren Adressaten für die einen eine Versprechung, für die anderen (wegen anderer Präferenzen) eine Drohung sein kann. 28 So mit Blick auf das Versprechen von Anwander (Fn. 23), S. 27 ff., 62 f., der als Beispiel das Versprechen der Nichte nennt, ihrem Onkel zu Weihnachten eine selbst gebastelte Kerze zu schenken. Der Onkel kann dieses Versprechen annehmen, obwohl ihm an der Kerze nichts liegt, und auch wenn die Nichte das weiß, ändert dies nichts an ihrem Versprechen. Aber auch hier stellt m.E. nach dem Sinn ihrer Äußerung, auf den es bei Drohungen wie Versprechungen als kommunikativen Handlungen ankommt, die Nichte mit einem Geschenk immerhin etwas sozial generell Erwünschtes in Aussicht. Zur parallelen Frage bei der Drohung vgl. Schroeder NJW 1996, 2627, 2629. 29 In der Folge vernachlässige ich weitere Differenzierungsmöglichkeiten und beschränke mich auf den Fall, dass A und B übereinstimmend das von A angekündigte Verhalten als
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So wird man trotz ihrer Formulierung die Äußerung „Ich verspreche, dass ich Ihnen eine schlechte Note geben werde, falls Sie Ihre Arbeit nicht rechtzeitig abliefern“ nicht als Versprechung, sondern nur als Drohung (oder Warnung) bezeichnen können.30 Und umgekehrt kann man einem anderen allenfalls ironisch „androhen“, man werde etwas ihm Erwünschtes tun.31 Allgemein betont wird in der philosophischen Analyse32 ein zweiter Unterschied. Versprechen begründen, anders als Drohungen, prima facie eine moralische Verpflichtung.33 Sie entsteht mit dem Versprechen, also dann, wenn B die Versprechung des A annimmt.34 Dann hat er, anders als der Adressat einer Drohung, einen Anspruch auf Einhaltung des Versprechens. Ein Versprechen kann man halten oder brechen, eine Drohung lediglich wahr machen oder nicht wahr machen. Wer ein Versprechen bricht, muss deswegen mit moralischer Kritik rechnen. Wer eine Drohung nicht wahr macht, muss sich dagegen allenfalls die strategische Kritik gefallen lassen, er sei ein „Papiertiger“.35 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Versprechungen eine normative Dimension haben, die Drohungen fehlt. Insgesamt scheinen danach Drohungen und Versprechungen wenig gemeinsam zu haben.36 Warum ihre Unterscheidung dennoch Schwierigkeiten bereitet und welche dies sind, wird erst bei weiterer Differenzierung deutlich. dem B erwünscht oder unerwünscht betrachten und dass das subjektiv von B als erwünscht bzw. unerwünscht betrachtete Verhalten des A auch objektiv für B vorteilhaft bzw. nachteilig ist. 30 So das Beispiel von Searle (Fn. 23), S. 90. Für abwegig halte ich es, die Äußerung „I promise to kill you“ (wenn nicht der Adressat getötet werden will) als Versprechen zu bezeichnen (so aber – „promise without a promisee“ – Peetz Mind 86 [1977], 578, 581). 31 Solche ironischen Verwendungen bieten sich gerade wegen der Differenz zwischen erwünschten und unerwünschten Ankündigungen an, so wenn A dem B „androht“, bei dessen Jubiläum eine Rede zu halten, obwohl er annimmt, B werde sich darüber freuen, oder wenn umgekehrt B auf die als Versprechung gemeinte und so von ihm auch verstandene Ankündigung der Rede mit der Frage reagiert, ob A seine „Drohung“ wirklich wahr machen wolle. 32 Anders als in den gängigen strafrechtlichen Definitionen der Drohung und des Versprechens. 33 Grant Mind 58 (1949), 359, 360; Peetz Mind 86 (1977), 578, 581; Nicoloff Journal of Pragmatics 13 (1989), 501, 504 f.; Seligman Southern Journal of Philosophy 1995, 83, 85 f.; Anwander (Fn. 23), S. 33 ff., 63 f. Da diese Verpflichtung nur prima facie besteht, kann es letztlich moralisch geboten sein, ein Versprechen nicht einzuhalten bzw. eine Drohung wahr zu machen. Dazu Árdal Philosophical Quarterly 18 (1968), 225, 229 ff. 34 Dass zu einem Versprechen zwei Personen (Promittent und Promissar) gehören, betont Anwander (Fn. 23), S. 23 ff. Ob es auch für atypische Fälle, wie das Wahlversprechen eines Politikers gilt, mag dahinstehen (dazu Anwander [Fn. 23], S. 33 ff.). Jedenfalls im Strafrecht geht es, bei den Korruptionsdelikten wie beim Wucher, um Versprechen im Sinne einer gegenseitigen Vereinbarung, auf die auch schon die jeweilige Versprechung (etwa das Fordern oder Anbieten eines Vorteils bei §§ 331 ff.) gerichtet sein muss. 35 So Nicoloff Journal of Pragmatics 13 (1989), 501, 505. 36 So ausdrücklich Anwander (Fn. 23), S. 65.
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2. Unbedingte und bedingte, starke und schwache Drohungen und Versprechungen Drohungen und Versprechungen sind bedingt, wenn A die Ausführung der angekündigten Handlung von einer Bedingung abhängig macht, unbedingt, wenn dies nicht der Fall ist. a) Die Unterscheidung zwischen unbedingten Versprechungen und Drohungen ist unproblematisch.37 Kündigt A aus Rache dem B Prügel an, so droht er, verspricht aber nichts. Kündigt er ihm aus Dankbarkeit ein Geschenk an, so ist dies eine Versprechung, aber keine Drohung. In beiden Fällen stellt A ein aktives Tun in Aussicht, man kann hier von starken Ankündigungen sprechen.38 Eine (bedingte oder unbedingte) starke Versprechung hat zum Inhalt: „Ich werde Dich besser stellen, als Du ohne mein Zutun39 stündest“. Eine starke Drohung kündigt an: „Ich werde Dich schlechter stellen, als Du ohne mein Zutun stündest“. Schwache Ankündigungen stellen lediglich ein Unterlassen in Aussicht. Eine schwache Drohung hat den Inhalt: „Ich werde Dich nicht besser stellen, obwohl ich es könnte“. Eine schwache Versprechung kündigt an: „Ich werde Dich nicht schlechter stellen, obwohl ich es könnte“. Auch schwache Ankündigungen lassen sich ohne weiteres unterscheiden, solange sie unbedingt erfolgen. Stellt A seiner Frau B auf deren Bitte in Aussicht, sich beim nächsten Familienfest nicht zu betrinken (also ein erwünschtes Unterlassen), so ist das ein Versprechen, das A halten oder brechen und dessen Bruch B kritisieren kann. Aber es ist weder eine starke noch eine schwache Drohung. Und kündigt A aus Verärgerung über B an, er werde ihr nichts zum Geburtstag schenken (also ein unerwünschtes Unterlassen), so verspricht er B nichts, sondern droht ihr.40 Unbedingte Drohungen und Versprechungen sind also, seien sie schwach oder stark, zueinander exklusiv. b) Strafrechtlich interessieren Drohungen und Versprechungen vor allem als Mittel der Verhaltensbeeinflussung. Sie nehmen dann die Form einer Ankündigung an, die dadurch bedingt ist, dass ihr Adressat sich in der gewünschten Weise verhält oder nicht verhält, also kooperiert oder nicht 37 Und bereitet deshalb keine Schwierigkeiten, wo solche Ankündigungen unter Strafe gestellt sind, wie in § 241 Abs. 1 (Bedrohung mit einem Verbrechen). 38 Die Unterscheidung von starken und schwachen Ankündigungen hat nichts mit deren Wirkung auf den Adressaten zu tun, sondern betrifft den Inhalt der Ankündigung. Man könnte stattdessen auch von Handlungs- und Unterlassungsankündigungen sprechen. Natürlich können hier die bekannten Probleme der Abgrenzung von Tun und Unterlassen auftreten. Vgl. dazu nur Kuhlen FS Puppe, 2011, S. 669 ff. 39 D.h.: ohne mein aktives Tun bzw. Tätigwerden. 40 Wobei man von einer ernsthaften Drohung nur in dem Maße sprechen kann, wie das Unterlassen des Schenkens von einer sozialen Erwartung abweicht.
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kooperiert.41 Hier ist besonders deutlich, dass und weshalb Drohungen ein unerwünschtes, Versprechungen ein erwünschtes Verhalten ankündigen.42 Denn man kann nicht erwarten, einen anderen durch die Ankündigung eines Verhaltens zu motivieren, das diesem egal, also ihm weder erwünscht noch unerwünscht ist. Will A den B etwa zur Preisgabe einer Information bewegen, so kann er ihm Geld dafür anbieten. Das ist eine bedingte starke Versprechung. Sie hat die allgemeine Form der Implikation: Wenn Du kooperierst, werde ich Dich besser stellen, als Du ohne mein Zutun stündest.43 Stattdessen kann A auch ankündigen, er werde B schlagen, falls er nicht kooperiert. Das ist eine bedingte starke Drohung. Sie hat die allgemeine Form: Wenn Du nicht kooperierst, werde ich Dich schlechter stellen, als Du ohne mein Zutun stündest.44 Bedingte starke Drohungen und Versprechungen schließen einander aus. Die Ankündigung der Schläge ist eine starke Drohung, aber keine starke Versprechung, die der Geldzahlung eine starke Versprechung, aber keine starke Drohung. Auch bedingte schwache Drohungen und Versprechungen sind zueinander exklusiv. Kündigt A an, er werde B bei Kooperation nicht schlagen, so ist dies eine schwache Versprechung, aber keine schwache Drohung. Und stellt A in Aussicht, er werde B bei Kooperationsverweigerung nichts schenken, so ist das eine schwache Drohung, aber keine schwache Versprechung. 3. Die „Umkehrtechnik“ Nach dem weiten Drohungs- und Versprechensbegriff sind bedingte Drohungen mit einem Übel notwendig mit bedingten Versprechungen eines Vorteils verbunden und umgekehrt. Diese für die h.M. entscheidend wichtige Auffassung hängt von einer „Umkehrtechnik“45 ab, die auch nach Ansicht von Kritikern logisch unanfechtbar ist. Bei näherer Betrachtung ergibt sich allerdings, dass eine „Umkehrung“ bedingter Drohungen in Versprechungen und umgekehrt nur möglich ist, wenn die bedingten Ankündigungen derart verschärft werden, dass aus einer Implikation eine Äquivalenz wird.46 Die bedingte starke Drohung nimmt 41 Nicoloff Journal of Pragmatics 13 (1989), 501, 503 f.; Hoyer GA 1997, 451, 454 f., der freilich ebenso wie etwa Schroeder NJW 1996, 2627, 2629 zu Unrecht nur bedingte Ankündigungen als Drohungen bezeichnen will. Dagegen – unter Hinweis auf § 241 – zu Recht Herzberg GA 1998, 211 213, der aber seinerseits zu Unrecht annimmt, für die Nötigung genüge auch eine unbedingte Drohung. 42 Was für Randbereiche des unbedingten Versprechens bestritten wird (Fn. 28). 43 Abgekürzt: k→v. Vgl. Joerden Logik im Recht, 2. Aufl. 2005, S. 12. 44 Abgekürzt: ¬k→n. 45 So Schroeder JZ 1983, 284, 286. 46 Dazu Joerden (Fn. 43), S. 15, 21.
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dann die Form an: „Genau dann (also: dann und nur dann), wenn Du nicht kooperierst, werde ich Dir einen Nachteil zufügen“,47 das bedingte starke Versprechen die Form: „Genau dann, wenn Du kooperierst, werde ich Dir einen Vorteil gewähren“48. Dann ist mit der Androhung von Prügeln bei Nichtkooperation die Ankündigung verbunden, bei Kooperation nicht zu prügeln,49 also eine schwache Versprechung. Und mit dem Zahlungsversprechen ist die Ankündigung verbunden, bei Kooperationsverweigerung nicht zu zahlen,50 also eine schwache Drohung. a) Dieser Übergang von der Implikation zur Äquivalenz ist51 freilich nicht immer möglich. Man kann für den Fall der Kooperation etwas versprechen und für den der Nichtkooperation etwas androhen, ohne anzukündigen, dass man im gegenteiligen Fall anders handeln würde. A kann also dem B mit Schlägen drohen, falls der ihn nicht informiert, und offen lassen, ob er ihn auch dann schlagen wird, wenn B kooperiert.52 Und er kann ihm dafür Geld anbieten, ohne sich festzulegen, ob er auch bei Verweigerung der Information zahlen wird oder nicht. Derart einseitig bedingte Ankündigungen enthalten entweder eine Drohung oder eine Versprechung, aber nicht beides zugleich. Sie sind allerdings praktisch wenig bedeutsam, und das ist kein Zufall. Denn die motivierende Kraft einer Drohung wie einer Versprechung ist für einen rational entscheidenden Adressaten größer, wenn der Vorteil bzw. der Nachteil genau für den Fall der Kooperation bzw. Kooperationsverweigerung angekündigt wird. Dann nämlich hat die Kooperation im Verhältnis zur Nichtkooperation den größeren Nutzen für ihn. B wird deshalb eher kooperieren, wenn er davon ausgeht, A werde nur bei Kooperation die erwünschte Entscheidung treffen. b) Hierauf beruht es, dass typischerweise53 A den jeweiligen Vorteil/ Nachteil genau für den Fall der Kooperation/Nichtkooperation ankündigt (zweiseitig bedingte Ankündigung). Auch in diesem praktischen Standardfall sind Drohungen und Versprechungen begrifflich unterschieden.54 Aber sie stimmen extensional überein, denn die zweiseitig bedingte Ankündigung ent-
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Abgekürzt: ¬k↔n. Abgekürzt: k↔v. 49 Also: k→¬n. 50 Also: ¬k→¬v. 51 Entgegen Marcelli NStZ 1985, 500; Kuhlen FS Lüderssen, 2002, S. 649, 651. 52 Anders wohl Schroeder NJW 1996, 2627, 2629. 53 Und etwa auch in allen eingangs angeführten Fällen. 54 Denn A kündigt hier zweierlei an: ein erwünschtes Verhalten bei Kooperation des B (Versprechung) und ein unerwünschtes bei Nichtkooperation (Drohung). 48
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hält begrifflich notwendig sowohl eine Drohung als auch eine Versprechung. Allerdings hat sich gezeigt, dass mit starken Drohungen/Versprechungen keine starken, sondern lediglich schwache Versprechungen/Drohungen verbunden sind. Diese haben jedoch in der sozialen Praxis durchaus ihre Bedeutung. Es trifft deshalb nicht den entscheidenden Punkt, wenn Schroeder die „Umkehrtechnik“ als „ausgesprochen spitzfindige Konstruktion“ kritisiert, die zwar nicht „der Sprache, wohl aber der natürlichen, unverbildeten Betrachtung sozialer Vorgänge“ widerspreche.55 Zwar trifft es zu, dass man ungezwungen auch die zweiseitig bedingte Ankündigung von Schlägen primär als (starke) Drohung und die entsprechende Ankündigung eines Geschenks in erster Linie als (starke) Versprechung auffassen wird. Aber das muss die h.M. nicht bestreiten, weil sie nur behauptet, mit derartigen Drohungen seien zugleich auch Versprechungen verbunden und umgekehrt. Dies aber ist bei ungezwungener Betrachtung nicht zu beanstanden. Das zeigt sich, wenn A ankündigt, B genau bei Nichtkooperation zu schlagen, und ihn dennoch schlägt, nachdem er kooperiert hat. A muss sich dann moralisch kritisieren lassen, weil er sein (schwaches) Versprechen gebrochen hat. Und wenn er ein Geburtstagsgeschenk genau für den Fall von B’s Kooperation ankündigt und anschließend trotz Kooperationsverweigerung den B beschenkt, muss er sich sagen lassen, er sei ein „Papiertiger“, weil er seine (schwache) Drohung nicht wahr gemacht hat.
III. Drohungen und Versprechungen im geltenden Strafrecht Die h.M. ist also mit der umgangssprachlichen Verwendung der Begriffe „Drohung“ und „Versprechung“ durchaus verträglich. Ihr wirkliches Problem besteht darin, dass sie schwache Ankündigungen als Drohungen und Versprechungen im strafrechtlichen Sinne genügen lässt, obwohl dadurch die ansonsten bestehende Exklusivität beider Ankündigungsarten für den Bereich der zweiseitig bedingten Ankündigungen aufgehoben und durch deren extensionale Identität ersetzt wird. 1. Wortsinn des Gesetzes Ob diese Auffassung mit dem geltenden Recht vereinbar ist, erscheint schon nach dem Wortsinn der Drohungs- und Versprechungstatbestände als zweifelhaft. Für die Nötigung genügt nicht jede (empfindliche) Drohung, erforderlich ist vielmehr die Drohung mit einem (empfindlichen) Übel. Da jede Drohung ein nachteiliges Verhalten ankündigt, stellt sich die Frage, was
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zusätzlich gefordert wird, wenn man die Drohung mit einem Übel verlangt.56 Eine nahe liegende Antwort darauf lautet, dass eine Drohung mit einem Übel nur in A’s Ankündigung liegt, B ein Übel zuzufügen, d.h. ihn schlechter zu stellen, als er ohne A’s Zutun stünde. Das aber ist, wie dargelegt, eine starke Drohung. Schwache Drohungen sind hiernach keine Drohung mit einem Übel. Die aktiven Korruptionsdelikte erfordern die Versprechung eines Vorteils. Es drängt sich geradezu auf, etwa bei der Vorteilsgewährung (!) nur A’s Ankündigung genügen zu lassen, er werde B einen Vorteil gewähren, d.h. ihn besser stellen, als er ohne A’s Zutun stünde. Das aber ist eine starke Versprechung. Hiernach wird mit schwachen Versprechungen kein Vorteil versprochen.57 Dieses Verständnis hat zur Folge, dass auch die zweiseitig bedingte Ankündigung nur entweder Drohung mit einem Übel oder Versprechung eines Vorteils ist.58 Und es hat zur Konsequenz, dass die „Umkehrtechnik“ bei Drohungen mit einem Übel und Versprechungen eines Vorteils nicht funktioniert. Denn sie erlaubt, wie gezeigt wurde, keine „Umkehrung“ von starken Drohungen in starke Versprechungen und umgekehrt.59 Lässt man dagegen mit BGHSt 31, 195 schon die mit einer bedingten starken Versprechung verbundene schwache Begleitdrohung als Androhung eines Übels genügen, so bleibt dem (unselbständigen) Tatbestandsmerkmal des Übels keine den Tatbestand eingrenzende Funktion.60 Denn dass irgendein unerwünschtes Verhalten, sei es eine aktive Verschlechterung oder das Unterlassen einer Verbesserung, angekündigt werden muss, ergibt sich schon aus dem Begriff der Drohung. Das Nachteilsmerkmal dient damit nur noch
56 Bei isolierter Betrachtung der Begriffe „Übel“ bzw. „Nachteil“ und „Vorteil“ erschließt sich das nicht. Denn dass ein Vorteil nicht eintritt, ist vergleichsweise ein Nachteil, und dass ein Nachteil nicht eintritt, ein Vorteil. Aber diese Begriffe sind in den entsprechenden Tatbeständen keine selbständigen Tatbestandsmerkmale, sondern unselbständige Bestandteile komplexer Drohungs- und Versprechensbegriffe. Dazu Kuhlen NStZ 1988, 433 ff. 57 Denn „die bloße Vermeidung eines Übels …, das angedroht worden ist, kann an sich nicht als ‚Vorteil’ … angesehen werden“, so RGSt 64, 374, 375, freilich mit der Einschränkung, im Einzelfall könne es sich anders verhalten. 58 Ausdrücklich für diese Exklusivität Pelke Die strafrechtliche Bedeutung der Merkmale „Übel“ und „Vorteil“, 1990, S. 97 ff., 123. Auch Wagner JZ 1987, 594, 603 bezeichnet die Drohung mit einem Übel als „das genaue Gegenteil“ einer Vorteilszusicherung. 59 Entgegen Marcelli NStZ 1985, 498 lässt sich also gegen die h.M. „von der Logik her“ durchaus „etwas einwenden“. Pelke (Fn. 58), S. 87 ff. geht ebenfalls zu Unrecht zunächst davon aus, dass jede Drohung mit einem Übel das Angebot eines Vorteils enthält (S. 95), gelangt dann aber über eine Einschränkung der Begriffe „Übel“ und „Vorteil“ zu einem Ausschlussverhältnis von § 240 und §§ 331 ff. (S. 97 ff.). 60 Es ist deshalb stark verfehlt, wenn BGHSt 31, 195, 200 die Pflichttheorie als „dem Wortlaut zuwiderlaufende Einengung“ des Tatbestandsmerkmals „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ bezeichnet.
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als sprachlicher Aufhänger für das Erfordernis der Empfindlichkeit.61 Hierfür wäre es allerdings entbehrlich, denn wenn es nur darum ginge, hätte es genügt, für § 240 Abs. 1 eine „empfindliche Drohung“ zu verlangen. Ebenso wird das Tatbestandsmerkmal des Vorteils funktionslos, wenn man neben der starken Versprechung auch die schwache Versprechung, ggf. die Lage des anderen nicht zu verschlechtern, als Versprechung eines Vorteils genügen lässt.62 Denn dass irgendein erwünschtes Verhalten, sei es eine aktive Verbesserung oder das Unterlassen einer Verschlechterung, in Aussicht gestellt werden muss, ergibt sich jedenfalls bei der bedingten Versprechung schon aus deren Begriff. Dem BGH ist also zu Recht vorgeworfen worden, dass seine Entscheidung im Führerscheinfall sich über den Wortsinn des Gesetzes hinwegsetzt.63 2. Systematische Auslegung Durchschlagende Kraft gewinnt dieser Einwand bei systematischer Auslegung, wenn man also die Gesamtregelung betrachtet, die bedingte Drohungen und Versprechungen im StGB gefunden haben. Jede Herbeiführung einer Kooperation durch Drohung mit einem Übel ist als Nötigung des Adressaten strafbar, wenn das angedrohte Übel empfindlich und seine Androhung zu dem angestrebten Zweck verwerflich ist (§ 240).64 Neben der Drohung sieht das Gesetz als Tatmittel der Nötigung lediglich die Gewalt, nicht aber das Versprechen von Vorteilen vor. Die Nötigung und ihre Abwandlungen65 richten sich gegen Rechtsgüter des Adressaten.66 Dieser ist deshalb Opfer, nicht aber Täter oder Teilnehmer der Tat. Die strafgesetzliche Regelung des bedingten Versprechens von Vorteilen bietet ein ganz anderes Bild. Einem anderen etwas zu versprechen, um ihn zu
61 So BGHSt 31, 195, 201: „Inhalt der Drohung muß ein empfindliches Übel, also ein Nachteil von solcher Erheblichkeit sein, dass seine Ankündigung geeignet erscheint, den Bedrohten im Sinne des Täterverlangens zu motivieren“. 62 So BGH NStZ 1985, 497, 499. 63 So Wagner JZ 1987, 594, 603 f. Die bisherige Argumentation aus dem Wortsinn ist m.E. stark, aber für sich genommen nicht zwingend. So könnte man ihr – freilich alles andere als überzeugend – entgegnen, die Forderung nach „Drohung mit einem Übel“ bzw. „Versprechen eines Vorteils“ solle nur klarstellen, dass es um die Ankündigung unerwünschten bzw. erwünschten Verhaltens geht. 64 Dagegen ist die unbedingte, also nicht auf Kooperation abzielende, Drohung lediglich ausnahmsweise, nämlich als Bedrohung eines anderen mit der Begehung eines gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten Verbrechens strafbar (§ 241 Abs. 1). 65 Wie die Erpressung oder sexuelle Nötigung. 66 Ebenso verhält es sich bei der Wählernötigung (§ 108). In anderen Fällen strafbarer Drohungen, wie bei § 105 (Nötigung von Verfassungsorganen), § 106 (Nötigung des Bundespräsidenten und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans), § 107 (Wahlbehinderung) geht es dagegen primär um den Schutz allgemeiner Rechtsgüter.
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einem erwünschten Verhalten zu veranlassen, ist grundsätzlich straflos und als Tat zu Lasten des Adressaten nur ausnahmsweise als Wucher strafbar,67 was vom Gesetz an enge Voraussetzungen geknüpft wird.68 Ansonsten steht das Versprechen eines Vorteils (nicht aber die Drohung mit einem Nachteil) nur als Korruption unter Strafe, so nach §§ 333, 334, § 299 Abs. 2, § 108b Abs. 1. Meist geht es auch hier um Versprechungen, die einen anderen zu einem zukünftigen Verhalten motivieren sollen.69 Die Korruptionstatbestände schützen allgemeine Rechtsgüter wie die Integrität der öffentlichen Verwaltung (§§ 333 f.) oder den Wettbewerb (§ 299 Abs. 2), nicht aber den Adressaten. Dieser ist deshalb nicht Opfer einer Korruptionsstraftat, sondern, wenn er auf die Versprechung des Vorteils eingeht, seinerseits Täter.70 Bedingte Drohungen und Versprechungen sind also im StGB völlig unterschiedlich geregelt. Das beruht auf einer inhaltlich plausiblen Konzeption. Nach ihr ist, soweit es um den Schutz des Einzelnen geht, die bedingte Versprechung von Vorteilen grundsätzlich straflos, weil sie dem Adressaten Optionen eröffnet, über deren Wahrnehmung er selbst entscheiden mag. Eine Grenze findet diese Straflosigkeit erst beim Wucher. Die bedingte Drohung mit einem (empfindlichen) Übel ist dagegen immer strafbar, wenn sie verwerflich ist. Denn solche Drohungen engen den Entscheidungsspielraum des Adressaten ein oder setzen ihn doch durch Einschüchterung unter Druck. Das Versprechen von Vorteilen steht unter Strafe, wo der Schutz vor Korruption eine Ausnahme von der Zulässigkeit freier individueller Vereinbarungen fordert. Dass hier grundsätzlich71 nur das Versprechen von Vorteilen, nicht aber die Drohung mit Nachteilen strafbar ist, mag zunächst überraschen. Denn sicherlich ist es nicht weniger strafwürdig, etwa die Ausstellung eines Führerscheins durch Bedrohung des zuständigen Beamten mit einem Übel zu erlangen als durch Versprechen eines Vorteils. Aber auch diese 67 Nach h.M. schützt § 291 jedenfalls auch das Vermögen des Ausgebeuteten, LK/Wolff (Fn. 1), § 291 Rn. 3 m.w.N. 68 B muss das Angebot des A annehmen. A muss sich Vermögensvorteile versprechen lassen (woran es z.B. im Kaufhausdetektivfall fehlt). Diese müssen in einem auffälligen Missverhältnis zur Gegenleistung stehen. Und schließlich muss A eine besondere Schwächesituation des B ausbeuten. 69 Daneben erfassen §§ 333 f. auch das Versprechen von Vorteilen für ein bereits vollzogenes dienstliches Handeln, also unbedingte Versprechen. 70 Vgl. §§ 331, 332, 299 Abs. 1, 108b Abs. 2. Auch § 108e (Abgeordnetenbestechung) stellt mit dem Kaufen oder Verkaufen einer Stimme auf das Versprechen eines (materiellen) Vorteils ab. 71 Ausnahmsweise stellt etwa § 108 im öffentlichen Interesse die Wählernötigung unter Strafe, und zwar neben der Wählerbestechung (§ 108b), was nur deshalb sinnvoll ist, weil die Drohung mit einem empfindlichen Übel (§ 108) nicht ohne Weiteres von dem Anbieten eines Vorteils (§ 108b) begleitet wird und umgekehrt (vgl. Pelke [Fn. 58], S. 98).
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Entscheidung des Gesetzgebers ist sachlich nachvollziehbar. Denn die Drohung ist ja bereits als Nötigung strafbar und dabei kann es sein Bewenden grundsätzlich auch dort haben, wo die Nötigung wegen der Stellung ihres Adressaten öffentliche Interessen berührt. Es ist deshalb vertretbar und hinzunehmen, dass 1970 der Tatbestand der Beamtennötigung (§ 114 a.F.) gestrichen wurde, weil er neben § 240 überflüssig sei.72 Damit wird aufgrund einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers das öffentliche Interesse am Unterbleiben einfacher Nötigungen73 nur noch durch wenige, praktisch unbedeutende Straftatbestände erfasst.74 Diese Gesamtregelung von bedingten Drohungen und Versprechungen im StGB wird ad absurdum geführt, wenn man mit der h.M annimmt, dass praktisch75 jede bedingte Androhung eines Übels zugleich mit der bedingten Versprechung eines Vorteils (Unterlassen der Nachteilszufügung bei Kooperation) verbunden ist und dass umgekehrt praktisch jede bedingte Versprechung eines Vorteils von einer bedingten Drohung mit einem Übel (Unterlassen der Vorteilsgewährung bei Nichtkooperation) begleitet wird. Denn das hätte zur Folge, dass praktisch jede bedingte Versprechung eines erheblichen Vorteils76 auch eine tatbestandsmäßige Nötigungshandlung und damit bei Verwerflichkeit strafbar wäre, ohne dass die engen Voraussetzungen des Wuchers erfüllt sein müssten.77 Erfolgt eine solche Versprechung zu Korruptionszwecken, müsste man sie zudem wegen dieser Zwecksetzung doch jedenfalls in den Fällen des § 334 grundsätzlich als verwerflich einstufen und deshalb regelmäßig den Bestechenden auch wegen Nötigung des Amtsträgers bestrafen, wenn er ihm ein verlockendes Angebot macht. Ebenso wäre praktisch jede zur Verhaltensbeeinflussung erfolgende Drohung mit einem Übel auch als Anbieten eines Vorteils im Sinne der Korruptionsdelikte anzusehen, obwohl sich das, wie der Führerscheinfall zeigt, vom Deliktstypus der Korruption als privatem Tausch, der allein gegen öffentliche Interessen verstößt, weit entfernt. Der Sache nach würde damit die Nötigung von Amtsträgern zu einem dienstlichen Verhalten zusätzlich über die Korruptionsdelikte erfasst und damit strenger bestraft als die Nötigung Privater, obwohl der Gesetzgeber diesen Unterschied durch die Abschaffung des Tat72
BT-Drucks. 6 / 502, S. 3 f. D.h. solcher, die die Drohung mit einem empfindlichen Übel als Tathandlung genügen lassen. 74 Vgl. §§ 106, 108. 75 Also außerhalb der praktisch vernachlässigbaren einseitig bedingten Drohung und Versprechung. 76 Wenn man die Erheblichkeit des Vorteils als begriffliches Pendant zur Empfindlichkeit des Übels betrachtet, so dass das Unterlassen der Vorteilsgewährung den Adressaten empfindlich trifft. 77 Schünemann MschrKrim 53 (1970), 250, 261; weiterhin zum Verhältnis von Nötigung und Wucher Arzt FS Tröndle, 1987, S. 641 ff.; Gutmann (Fn. 7), S. 304 ff. 73
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bestandes der Beamtennötigung aufheben wollte.78 Insgesamt ist also die h.M. mit der starken, bewusst getroffenen und sachlich nachvollziehbaren Differenzierung des Gesetzes zwischen Drohungen mit einem Übel und Versprechungen eines Vorteils als unterschiedlichen Mitteln der Verhaltensbeeinflussung nicht verträglich. c) Respektiert man die Grenzen, die das geltende Recht der Strafbarkeit bedingter Drohungen und Versprechungen zieht, so kann das allerdings zu Strafbarkeitslücken, also dazu führen, dass als strafwürdig betrachtete Handlungen straflos bleiben. Insbesondere können auch schwache Drohungen in verwerflicher Weise Druck auf Andere ausüben, wie der vom OLG Hamburg entschiedene Kaufhausdetektivfall zeigt.79 Ist es nicht sachlich gerechtfertigt, in solchen Fällen die schwache Drohung des A im Vertrauen darauf als Nötigung zu bestrafen, dass nicht strafwürdige Fälle wegen fehlender Verwerflichkeit (§§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2) straflos bleiben?80 Die Frage ist schon deshalb zu verneinen, weil es nicht nur um ein Problem der Nötigung und Erpressung geht. Schon bei anderen Drohungsdelikten wie der Wählernötigung (§ 108) fehlt aber die Möglichkeit, unangemessene Tatbestandsausweitungen mit Hilfe einer Verwerflichkeitsklausel zu korrigieren.81 Das Gleiche gilt für die Ausdehnung der Korruptionstatbestände, die etwa im Führerscheinfall nicht nur dazu führt, dass neben die Strafbarkeit des A wegen Nötigung die wegen Bestechung tritt, sondern auch dazu, dass B vom straflosen Opfer einer Nötigung zum Täter einer Bestechlichkeit wird, obwohl er kein verlockendes Vorteilsangebot angenommen, sondern sich einer verwerflichen Drohung mit einem empfindlichen Übel gebeugt hat. 3. Verfassungswidrigkeit der h.M. Die bisherigen Überlegungen führen zu Frage, ob die h.M mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) vereinbar ist. Diese Frage ist eindeutig zu verneinen. Schroeder hat es bereits in seiner Anmerkung zu BGHSt 31, 195 als „bedenklich“ bezeichnet, den „Umfang der Tatbestände der §§ 240, 253 StGB ins Uferlose zu erweitern und die eigentliche Abgrenzung auf die schwammige Verwerflichkeitsklausel zu verlagern“.82 Der BGH 78 Und obwohl zur Beamtennötigung gem. § 114 a.F. nie die Ansicht vertreten wurde, sie könne mit einer aktiven Bestechung gem. § 333 a.F. einhergehen (Pelke [Fn. 58], S. 98). 79 In dem es jedenfalls um das bedingte starke Versprechen eines Vorteils und nur um die schwache Drohung ging, bei Nichtkooperation keinen Vorteil zu gewähren (OLG Hamburg NJW 1980, 2592). 80 So die von BGHSt 31, 195, 201 f. favorisierte Lösung. 81 Vgl. Schroeder JZ 1983, 284, 287. 82 Und hinzugefügt, diese Klausel könne „dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit wegen ihrer Unbestimmtheit nur entgehen, wenn sie sich auf die Korrektur von Rand-
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hat die verfassungsrechtliche Problematik seiner Entscheidung offenbar gar nicht gesehen83 und damit einen weiteren Beleg für die von Schünemann einige Jahre zuvor diagnostizierte „in der Rechtswirklichkeit vorherrschende Geringschätzung des Analogieverbots“84 geliefert. Seitdem hat allerdings das Analogieverbot in der Rechtsprechung des BGH und vor allem des BVerfG erheblich an Bedeutung gewonnen und ist dabei präzisiert und verschärft worden.85 Es verbietet jede „Rechts-Anwendung“, „die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm“ hinausgeht,86 also deren möglichen Wortsinn oder auch nur die Bedeutung überschreitet, die ein Begriff „im Zusammenhang des Normgefüges“ hat.87 Und es ist auch dann zu beachten, wenn dadurch Fälle unbestraft bleiben, die „ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten“.88 Dass der weite Begriff der Drohung mit einem Übel diesen Maßstäben nicht genügt, ergibt sich nach der vorstehenden Analyse mit aller Deutlichkeit aus der Sitzblockadenentscheidung des BVerfG,89 die den weiten Gewaltbegriff der strafgerichtlichen Judikatur als Entgrenzung des Nötigungstatbestandes und damit als Verstoß gegen das Analogieverbot einstufte.90 Der weite Begriff der Drohung mit einem Übel nimmt dem Merkmal des Übels seine den Nötigungstatbestand eingrenzende Funktion,91 indem er die „Dro-
phänomenen beschränkt, nicht aber, wenn sie zum eigentlichen Kernbereich der Subsumtion wird“ (Schroeder JZ 1983, 284, 286 f.). Nach Klein Zum Nötigungstatbestand – Strafbarkeit der Drohung mit einem Unterlassen, 1988, S. 119, begegnet die h.M. im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz „erheblichen Bedenken“. 83 Jedenfalls wird sie dort ebenso wenig thematisiert wie im Führerscheinfall. Immerhin angedeutet wird sie im Ausreisefall (BGHSt 44, 68, 74 f.). 84 Schünemann (Fn. 22), S. 4. 85 Vgl. dazu nur die Hinweise bei Kuhlen Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 45 ff., 83 ff. sowie BVerfGE 126, 170 m. Anm. Saliger NJW 2010, 3195; Kuhlen JR 2011, 246. 86 So die st. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 92, 1, 12; 126, 170, 197. 87 So BVerfGE 92, 1, 16 im Hinblick auf den Gewaltbegriff des § 240 Abs. 1. Damit verstößt nicht nur die Überschreitung des möglichen, sondern auch die des durch systematische Auslegung ermittelten Wortsinnes gegen das Analogieverbot. 88 BVerfGE 126, 170, 197. 89 Darauf weist bereits Gutmann (Fn. 7), S. 302 ff. hin. Die strafrechtliche Diskussion über verfassungsrechtliche Konsequenzen von BVerfGE 92, 1 für die Nötigung durch Drohung konzentrierte sich demgegenüber auf die Frage, ob die Restriktion des Gewaltbegriffs zu einer gleichheitswidrigen Friktion mit der Nötigung durch Drohung führe (Amelung NJW 1995, 2584, 2590; Schroeder NJW 1996, 2627 f.; Hoyer GA 1997, 451 ff.). 90 BVerfGE 92, 1, 16 ff. Zur – inhaltlich belanglosen – Frage, ob das BVerfG einen Verstoß gegen das Analogieverbot oder das Bestimmtheitsgebot annahm, vgl. Amelung NJW 1995, 2584, 2586 f.; Kuhlen in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 429, 436 Fn. 21. 91 „Die ‚Auslesefunktion‘ des gesetzlichen Tatbestandes verkümmert hier weitgehend“ (Wessels/Hettinger Strafrecht BT 1, 37. Aufl. 2013, Rn. 409).
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hung mit einem empfindlichen Übel“ mit einer „empfindlichen Drohung“ gleichsetzt. Bereits darin liegt eine gegen das Analogieverbot verstoßende „Verschleifung“ zweier Tatbestandsvoraussetzungen.92 Dadurch erweitert die h.M. zugleich den gesetzlich vorgesehenen Kreis der Nötigungsmittel, was auch dann unzulässig ist, wenn die neu hinzugefügten Mittel „eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer haben wie die beiden im Gesetz pönalisierten“.93 Denn sie hat zur Folge, dass neben der Drohung mit einem (empfindlichen) Übel auch die bloße (empfindliche) Begleitdrohung eines Vorteilsversprechens genügt, obwohl diese keine Übelszufügung androht, sondern nur das Unterlassen einer Vorteilsgewährung. Die h.M. nimmt damit neben der Gewalt und der Drohung mit einem empfindlichen Übel als dritte Nötigungshandlung das „Versprechen eines Vorteils genau bei gewünschtem Verhalten“ an. Durch diese Entgrenzung des Nötigungstatbestandes führt sie „zwangsläufig zahlreiche als sozialadäquat betrachtete Verhaltensweisen in den Tatbestand ein, deren Strafbarkeit erst durch das Korrektiv der Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB ausgeschlossen wird“.94 Entgegen der Auffassung des BGH ist dieses Korrektiv jedoch „nicht geeignet, die rechtsstaatlichen Bedenken zu zerstreuen“, denen die Ausweitung des Nötigungstatbestandes begegnet.95 Entsprechendes gilt für den weiten Begriff der Versprechung eines Vorteils. Er entgrenzt die Korruptionstatbestände, indem er die schwache Versprechung, die praktisch jede bedingte Drohung mit einem Übel begleitet, genügen lässt, obwohl diese keinen Vorteil verspricht, sondern nur das Unterlassen einer Nachteilszufügung. Das nimmt dem Merkmal des Vorteils seine tatbestandseingrenzende Funktion und verschleift es mit dem des Versprechens.96 Und es erweitert den Kreis der Tatmittel, also des Anbietens, Versprechens und Gewährens eines Vorteils um die gesetzlich nicht vorgesehene „Androhung eines Übels genau bei Unterlassen des gewünschten Verhaltens“. 4. Alternativen zum weiten Begriff der Drohung und der Versprechung Zur Frage, welche andere Auffassung an die Stelle der bislang h.M. treten sollte, sind an dieser Stelle nur noch zwei Anmerkungen möglich. a) Bisher wurde als Drohung mit einem Übel nur die Ankündigung eines aktiven Tuns betrachtet. Nach einhelliger und zutreffender Auffassung liegt jedoch auch in der Ankündigung, pflichtwidrig ein vorteilhaftes Verhalten zu 92
BVerfGE 126, 170, 198. BVerfGE 92, 1, 16. 94 BVerfGE 92, 1, 17. 95 BVerfGE 92, 1, 17. 96 Das gilt etwa bei §§ 333 f. für das Anbieten, Versprechen und Gewähren eines Vorteils gleichermaßen. 93
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unterlassen, die Drohung mit einem Übel. Diese normativ begründete Erweiterung des Begriffs „Drohung mit einem Übel“ ist sachlich angemessen und verfassungsrechtlich unproblematisch, solange man mit der Pflichttheorie oder normativen Nötigungstheorie nur diese Form der schwachen Drohung als Drohung mit einem Übel anerkennt.97 Wie weit man mit dieser „Normativierung“ gehen sollte,98 ergibt sich aus der vorstehenden Analyse nicht. Sie verdeutlicht aber immerhin zweierlei. Zum einen erweitern auch die Pflichtund die normative Nötigungstheorie durch die Einbeziehung schwacher Drohungen den Begriff der Drohung mit einem Übel gegenüber dessen sprachlich nahe liegendem Verständnis, ohne ihn freilich wie die h.M. zu entgrenzen. Dass dieses Verständnis jede starke Drohung umfasst, macht zum anderen begreiflich, dass die Pflichttheorie auch die starke Drohung mit einem erlaubten Verhalten genügen lässt.99 b) Im Ausreisefall hat der BGH die Lehre von der Eingriffs-Unterlassungsdrohung in Erwägung gezogen. Hiernach ist die Ankündigung eines zulässigen Unterlassens Drohung mit einem Übel, „wenn mit Vornahme der Handlung ein dem Adressaten sonst bevorstehendes Übel abgewendet werden würde“, nicht dagegen, wenn angekündigt wird, „es beim status quo (beim alten) zu belassen“.100 Dieser 101 Eingrenzungsversuch ist 102 abzulehnen103. Für ihn wird angeführt, eine Eingriffs-Unterlassungsdrohung beeinträchtige die Autonomie des
97 Denn dann bleibt den Begriffen „Drohung mit einem Übel“ und „Versprechen eines Vorteils“ jeweils ein substantieller und klar abgegrenzter Eigenbereich. Das gilt insbesondere dann, wenn man korrespondierend als Vorteil mit der h.M. nur eine Besserstellung ansieht, auf die kein Rechtsanspruch besteht (vgl. NK/Kuhlen (Fn. 21), § 331 Rn. 39 ff.). Hiernach droht etwa A dem B, wenn er ankündigt, ihn genau bei Kooperationsverweigerung pflichtwidrig nicht freizulassen, mit einem Übel (obwohl es sich um eine schwache Drohung handelt), aber er verspricht ihm keinen Vorteil (obwohl es sich um eine starke Versprechung handelt). 98 Ob also die Pflichttheorie oder die normative Nötigungstheorie den Vorzug verdient. 99 Womit sie aus der Sicht der normativen Nötigungslehre auf halbem Wege stehen bleibt. 100 So BGHSt 44, 68, 75 unter Berufung auf LK/Herdegen, 11. Aufl. 2005, § 253 Rn. 4. Herdegen knüpft seinerseits an Roxin JR 1983, 333 an, wo allerdings der Gedanke der Eingriffs-Unterlassung mit dem der Beherrschung des Geschehens durch den Täter verbunden wird. Die Ankündigung eines zulässigen Unterlassens soll nämlich nur dann Drohung mit einem Übel sein, wenn „der Drohende die Verwirklichung eines von ihm oder einem Dritten in Gang gesetzten empfindlichen Übels als Mittel der Drohung benutzt“ (Roxin JR 1983, 333, 336). Hiernach wurde im Chefarztfall nicht mit einem Übel gedroht. 101 Hilfsweise auch vom LG Essen im Chefarztfall berücksichtigte. 102 Ebenso wie das völlig ohne Angabe von Sachkriterien erfolgende Abstellen auf den Einzelfall (RGSt 64, 374, 375). 103 So auch Jäger FS Krey, 2010, S. 193, 198, freilich mit dem verfehlten Argument, die „status quo-Verschlechterung“ sei „eine Grundvoraussetzung einer jeden Drohung“.
Drohungen und Versprechungen
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Adressaten, während die Ankündigung, es im Falle der Kooperationsverweigerung beim status quo zu belassen, den Handlungsspielraum des Adressaten sogar erweitere104. Das ist jedoch unzutreffend. Das Angebot des A erweitert, wenn er nicht zum Tätigwerden verpflichtet ist, B’s rechtlich garantierten Handlungsspielraum ebenso dann, wenn ohne A’s Eingreifen die Situation des B unverändert bliebe, wie dann, wenn sie sich sonst verschlechtern würde. Es ist auch nicht so, dass A bei ohnehin zu erwartender Verschlechterung der Situation des B größeren Druck auf ihn ausüben könnte als in anderen Fällen. Auch der status quo kann als unerträglich empfunden werden, wie der Ausreisefall zeigt, in dem die ausreisewilligen Eheleute doch wohl einem größeren Druck ausgesetzt waren als etwa ein Sparer, dessen Vermögenslage sich wegen wachsender Inflation zunehmend verschlechtert.105 Und dass der Patient im Chefarztfall wegen der drohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes unter starkem Druck stand, ist sicher richtig, gilt aber doch gleichermaßen etwa für einen Querschnittsgelähmten, dessen gesundheitliche Situation stabil ist.106 Dass die Unterscheidung zwischen Eingriffs- und anderen Unterlassungsdrohungen schon im Ansatz völlig unplausibel ist, ergibt sich aus der Funktion bedingter Ankündigungen als Mittel der Verhaltensbeeinflussung. Für B ist A’s Ankündigung, er werde etwas tun oder unterlassen, nur insoweit interessant – und damit geeignet, sein Verhalten zu beeinflussen –, wie das angekündigte Verhalten des A einen für B nachteiligen oder vorteilhaften Unterschied gegenüber dem Verlauf macht, der sich ohne dieses Verhalten ergibt. Dafür spielt es keine Rolle, ob dieser Verlauf zur Fortdauer, Verbesserung oder Verschlechterung von B’s status quo107 führen wird. Da der Unterschied zwischen Eingriffs- und anderen Unterlassungsdrohungen sachlich bedeutungslos ist, lässt sich die Annahme einer Nötigung im Chefarztfall auch nicht damit rechtfertigen, dass es dort um eine Eingriffs-Unterlassungsdrohung ging. Sie ist daher ebenso verfehlt – und nach der hier vertretenen Auffassung: verfassungswidrig – wie die Annahme einer Bestechlichkeit im Führerscheinfall.108
104
BGHSt 44, 68, 75; LK/Herdegen (Fn. 100), § 253 Rn. 4. So dass das durch eine Honorarzahlung bedingte Hilfsangebot eines versierten Finanzberaters – anders als das des A im Ausreise-Fall – eine Eingriffs-Unterlassungsdrohung enthält. 106 So dass das durch eine Spende bedingte Heilungsangebot einer medizinischen Kapazität keine Eingriffs-Unterlassungsdrohung ist. 107 Also seiner im Zeitpunkt der Ankündigung bestehenden Lage. 108 Der Kaufhausdetektivfall wurde dagegen im Ergebnis zutreffend entschieden, da das Verhalten des A angemessen als Ankündigung zu deuten war, bei Nichtkooperation das bereits begonnene Anzeigeverfahren fortzusetzen, also als starke Drohung. So zu Recht Roxin JR 1983, 333; Schubarth NStZ 1983, 312 f. 105
Das „gebeugte Recht“. Anmerkungen zu Tatobjekt und Tathandlung des § 339 StGB Ulfrid Neumann I. Einleitung Die Zahl der Verurteilungen nach dem Tatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) ist in der Gerichtspraxis der Bundesrepublik verschwindend gering.1 Der Grund dafür liegt zumindest auch darin, dass sich der BGH bisher gegen eine konsequente Anwendung des § 339 StGB, wie sie dem Wortlaut der Bestimmung entsprechen würde, sperrt. Wenn man den Tatbestand auf „extreme Ausnahmefälle“ einer klar gesetzwidrigen („unvertretbaren“) richterlichen Entscheidung beschränkt,2 bleibt die deutliche Mehrzahl der gesetzwidrigen Entscheidungen, mit denen eine Partei bewusst benachteiligt oder bevorzugt wird, zwangsläufig ohne strafrechtliche Sanktion. Faktisch wird durch die restriktive Rechtsprechung des BGH nicht erst die Zahl der Ab- und Verurteilungen, sondern schon die der nach § 339 StGB geführten Ermittlungen weitgehend eingeschränkt, weil die Staatsanwaltschaften sich folgerichtig weigern, Ermittlungsverfahren einzuleiten, wenn die Rechtsprechung in der fraglichen gesetzwidrigen Entscheidung aller Voraussicht nach keinen „elementaren“ Verstoß gegen die Rechtspflege sehen würde.3 Diese – unten näher darzustellende – restriktive Interpretation des Tatbestands durch den BGH hat sich inzwischen zu einer ständigen Rechtsprechung verfestigt. Wenn die Diskussion hier gleichwohl noch einmal aufgenommen wird, so vor allem aus drei Gründen. Zum einen findet diese Rechtsprechung inzwischen im Kreise der Richter des BGH selbst Widerspruch und Kritik.4 Ferner könnte sich die Rechtsprechung genötigt sehen, ihre bisherige Position in Hinblick auf die anstehende Frage einer strafrechtlichen Sanktionierung von Verstößen gegen die Regelung zur strafprozessualen Absprache (§ 257c StPO) zu überdenken, nachdem die vom BVerfG
1 Nach Giehring wurden in den Jahren 2006–2010 in der Bundesrepublik 7 Amtsträger nach § 339 StGB verurteilt (Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 701). 2 BGHSt 41, 247, 251. 3 Exemplarisch die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die Richter im Fall „Mollath“ durch die Augsburger Staatsanwaltschaft (SZ v. 1./2. Juni 2013). 4 Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 339 Rn. 15–15d.
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erwogene Möglichkeit einer Anwendung des § 348 StGB5 auf erhebliche Bedenken stößt6 und im Übrigen auch nur einen Teil der Gesetzesverstöße erfassen würde, die sich im Rahmen einer strafprozessualen Absprache ergeben können. Vor allem aber ist zu beachten, dass sich diese Rechtsprechung in einer Phase der Spruchtätigkeit des BGH verfestigt hat, in der es das Gericht vor allem mit der Frage der Strafbarkeit ehemaliger Richterinnen und Richter der Gerichte der DDR zu tun hatte.7 Hinsichtlich dieser Fälle war die restriktive Handhabung des Tatbestands der Rechtsbeugung durch den BGH, wie zu zeigen sein wird, im Ergebnis durchaus angemessen. Sie konnte jedenfalls partiell der Gefahr steuern, bei der Bewertung von Urteilen, die im Rahmen eines anderen Rechts- und Justizsystems gesprochen wurden, den Rechtsbegriff und damit auch das positive Recht dieses Systems zu verfehlen. Aus der internen Perspektive, also bei dem Blick auf das eigene Rechtssystem dessen, der über das Vorliegen einer Rechtsbeugung zu urteilen hat, besteht diese Gefahr nicht, wenn der Begriff des „Rechts“ im Tatbestand des § 339 StGB angemessen bestimmt wird.
II. Der Begriff des Rechts in § 339 StGB 1. Theorienstreit Die Frage, wie das Recht als Gegenstand der „Rechtsbeugung“ in § 339 StGB zu definieren ist, ist schon im Ansatz umstritten. Während die „objektive Theorie“ bei der Bestimmung der Rechtsbeugung (und damit des Rechts) eine generalisierende Perspektive einnimmt, stellt die „subjektive Theorie“ auf die Rechtsüberzeugung des Richters ab und interpretiert die Beugung des Rechts damit als Abweichung des Richters von seiner rechtlichen Überzeugung. Die „Pflichtverletzungslehre“ schließlich setzt, unter klarer Distanzierung von der subjektiven Theorie,8 grundsätzlich objektiv an und bejaht den Tatbestand – in Übereinstimmung mit der objektiven Theorie – dann, wenn eine Entscheidung einer klaren und eindeutigen Rechtsnorm widerspricht.9 Sie will den Tatbestand darüber hinaus aber auch auf die Fälle erstrecken, in denen sich das Urteil zwar im Rahmen des objektiv Vertretbaren hält, der Richter aber aus sachfremden Erwägungen heraus entschieden hat.10 Entsprechendes soll auch bei Ermessensentscheidungen gelten, die
5 6 7 8 9 10
BVerfGE 133, 168, 213 f. Stuckenberg ZIS 2013, 212, 215. BGHSt 40, 30, 40; 40, 169, 178; 40, 272, 283; 41, 247, 251. Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 624 ff. Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 613. Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 616.
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zwar den Spielraum, der dem Richter eingeräumt ist, nicht überschreiten, aber aus sachfremden Erwägungen getroffen wurden.11 Das Schrifttum folgt ganz überwiegend der objektiven Theorie.12 Auch die Rspr. setzt grundsätzlich „objektiv“ an, auch wenn sie teilweise Elemente der Pflichtverletzungslehre einbezieht.13 Dieser „objektive“ Ansatz verdient grundsätzlich Zustimmung. Denn es geht, wie auch Vertreter der Pflichtverletzungslehre betonen, um die „Herrschaft des wirklichen Rechts“14. Der Tatbestand dient der Durchsetzung der Rechtsordnung, und, sei es im Sinne des Schutzes eines eigenen Rechtsguts15 oder eines Schutzreflexes, dem Interesse der Partei an einer rechtmäßigen Entscheidung. § 339 StGB ist kein Gesinnungsdelikt, das die Abweichung des Richters von seiner eigenen Rechtsauffassung bestrafen soll. Die objektive Theorie bietet aber nur dann eine taugliche Basis für die Anwendung des Tatbestands, wenn es ihr gelingt, dem Begriff des „Rechts“ in § 339 StGB eine hinreichend präzise Kontur zu geben und damit das Argument der subjektiven Theorie, die objektive Theorie scheitere an der mangelnden Bestimmbarkeit des Rechtsbegriffs des § 339 StGB, zu entkräften. Funktional dürfte sich der Begriff in diesem Zusammenhang durch den der „Rechtslage“ ersetzen lassen. Wie aber ist diese Rechtslage, deren Missachtung den objektiven Tatbestand verwirklichen würde, zu bestimmen? Rechtstheoretisch gibt es dafür schon im Ansatz unterschiedliche Möglichkeiten. Man kann die Rechtslage im Sinne der Theorie der „einzig richtigen Entscheidung“ als eine vorgegebene präzise rechtliche Normierung verstehen; jedes Urteil, das die in dieser Weise programmierte „einzig richtige Entscheidung“ verfehlt, wäre damit objektiv eine Abweichung von dem vorgegebenen Recht.16 Man kann die Rechtslage auf der anderen Seite durch die Menge der „vertretbaren“ Entscheidungen definieren, also durch die Gesamtheit der Entscheidungen, die in dem Rechtssystem nicht als fehlerhaft gewertet werden.17 Denkbar wäre schließlich auch, das objektive Recht anhand der „herrschenden Meinung“ oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu bestimmen.18
11
Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 623. Nachw. bei Fischer StGB (Fn. 4), § 339 Rn. 9a. 13 Vgl. etwa BGHSt 47, 105, 113 (Kriterium der „sachfremden Erwägungen“). 14 Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 613, 626 f. 15 So etwa Giehring FS Wolter, 2013, 699, 724. Näher dazu unter 4. a). 16 Dazu Saliger ARSP-Beiheft 104 (2005), 138, 141 ff. 17 Für die „Unvertretbarkeit“ als Kriterium der Rechtsbeugung die h.M. im Schrifttum (Nachw. bei Leipziger Kommentar StGB/Hilgendorf, 12. Aufl. 2009, § 339 Rn. 47 ff.). 18 Nachw. zu entsprechenden Vorschlägen bei Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 614. 12
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2. Konstruktionen der „Rechtslage“ a) Die Theorie der einzig richtigen Entscheidung Die im rechtsphilosophischen Schrifttum prominent vertretene Theorie der einzig richtigen Entscheidung19 lässt sich als „regulative Idee“ richterlichen Handelns verteidigen;20 als Basis für die Anwendung eines Straftatbestands der Rechtsbeugung kommt sie wegen der mit ihr verbundenen Idealisierungen nicht in Betracht.21 Recht hat keine ideale, es hat nur eine soziale Existenz. Es besteht aus den in einer Gesellschaft als rechtlich verbindlich anerkannten Normen, Interpretationsregeln und Entscheidungen. Soweit sich auf dieser Grundlage für den konkreten Fall keine eindeutige Entscheidung gewinnen lässt, sind mehrere Urteile vertretbar. Idealisierungen, wie sie in dem Modell der „einzig richtigen Entscheidung“ zum Ausdruck kommen, dürfen wegen ihrer kontrafaktischen Implikationen nicht dazu herangezogen werden, verfassungsrechtlich garantierte Freiheitsrechte zu verkürzen.22 Bei der Bestimmung der Verbotsmaterie eines Straftatbestands scheiden sie deshalb aus. b) Gesetzesverletzung (§ 337 Abs. 1, 2 StPO; §§ 549 Abs. 1, 550 ZPO) Aus dem gleichen Grund kann auch der Begriff der „Gesetzesverletzung“ in den revisionsrechtlichen Vorschriften nicht zur Interpretation des objektiven Tatbestands des § 339 StGB herangezogen werden. Nicht jeder revisible „Rechtsfehler“ ist zugleich ein Verstoß gegen das Recht im Sinne des § 339 StGB.23 Der Revisionsrichter ist bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Gesetzesverstoßes notwendigerweise ein Verfechter der Theorie der einzig richtigen Entscheidung, soweit er nicht ausnahmsweise die Revisibilität der Rechtsfrage mit der Begründung verneint, dass es in der vorliegenden Fallkonstellation (etwa bei der Anwendung unbestimmter Begriffe im Grenzbereich) kein „richtig“ oder „falsch“ gebe.24 Da es nach der internen Logik des Rechtsmittelsystems bei dem Revisionsurteil um eine Überprüfung der Richtigkeit der Entscheidung der Vorinstanz, nicht aber darum geht, eine „vertretbare“ Rechtsauffassung der Vorinstanz durch eine andere vertretbare Entscheidung zu ersetzen,25 muss der Revisionsrichter die Aufhebung des Urteils der Vorinstanz als Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung interpretieren. Das ändert aber nichts an der rechtstheoretischen Einsicht, dass unterschiedliche Urteile zu derselben Fallkonstellation in glei19
Dworkin Law’s Empire, Cambridge 1986, S. 11 ff. u.ö. Näher dazu Alexy in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 109, 121 f.; Neumann Wahrheit im Recht, 2004, S. 39 ff. 21 Überzeugend dazu Saliger ARSP-Beiheft 104 (2005), 138, 143. 22 Näher dazu Neumann (Fn. 20), S. 58 ff. 23 Münchener Kommentar StGB/Uebele, 2. Aufl. 2014, § 339 Rn. 25, 30. 24 Dazu etwa Mosbacher FS Seebode, 2008, S. 227, 246. 25 Näher dazu Neumann FS Hassemer, 2010, S. 143, 152 ff. 20
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cher Weise vertretbar sein können, weil es kein kontrolliertes Verfahren zur Feststellung der einzig richtigen Entscheidung gibt. Versteht man den Begriff der „unrichtigen Rechtsanwendung“ im Sinne der revisionsrechtlichen Bestimmungen (z.B. § 337 StPO), so ist unbestreitbar, dass nicht jede „unrichtige“ Rechtsanwendung den objektiven Tatbestand des § 339 StGB verwirklicht.26 c) „Vertretbarkeit“ der Entscheidung In der Konsequenz der Einsicht, dass das Modell der einzig richtigen Entscheidung auf einer Idealisierung beruht, die nur in spezifischen Kontexten richterlichen Entscheidens akzeptabel ist, liegt es, bei der Interpretation des Tatbestands der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) auf das Verfehlen nicht der „richtigen“, sondern der „vertretbaren“ Entscheidung abzustellen. Das entspricht der im Schrifttum herrschenden Meinung.27 Diese Position ist allerdings nur dann praktikabel, wenn es ihr gelingt, hinreichend präzise Kriterien für die Vertretbarkeit bzw. Unvertretbarkeit einer Entscheidung anzugeben. aa) Rechtsprechung und Rechtswissenschaft als Bezugsgrößen der „Vertretbarkeit“ Hier ist zunächst zu entscheiden, ob es bei der Bestimmung der relevanten Kriterien allein auf die Entscheidungs- und Begründungspraxis der Gerichte oder aber auch auf die im wissenschaftlichen Schrifttum vertretenen Positionen ankommen soll. Diese Frage lässt sich nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf die konkrete Struktur des Rechtsdiskurses in der Gesellschaft beantworten. Es ist ohne weiteres denkbar, dass in einer Gesellschaft das System der Justiz von dem der Rechtswissenschaft so klar getrennt ist, dass die Vertretbarkeit einer richterlichen Entscheidung allein anhand der in der Rechtsprechung repräsentierten Rechtsauffassungen bestimmt werden kann. Im deutschen Rechtssystem ist eine solche Trennung nicht festzustellen. Hier beruft sich die Rechtsprechung häufig auf das wissenschaftliche Schrifttum, und die akademische Rechtswissenschaft setzt sich mit der Urteilspraxis der Gerichte auseinander. Die gemeinsame Basis, auf der beide – Rechtspraxis und Rechtswissenschaft – arbeiten, ist eine bestimmten Argumentationsstandards verpflichtete Rechtsdogmatik. Diese Verschränkung von Justiz und Rechtswissenschaft im rechtsdogmatischen Diskurs rechtfertigt es, die Vertretbarkeit einer richterlichen Entscheidung auch mit dem Verweis auf eine in der Wissenschaft vertretene Position zu begründen. Eine Begrenzung auf die „herrschende Meinung“ besteht dabei ebenso wenig wie eine Pflicht, sich im Falle der Existenz einer ständigen Rechtsprechung an dieser zu orientieren.28 26 27 28
Herdegen NStZ 1999, 456. Vgl. Fn. 18. MK/Uebele (Fn. 23), § 339 Rn. 24 m.w.N.
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bb) „Vorfindbarkeit“ oder „Begründbarkeit“ einer Rechtsauffassung? Damit sind zunächst allerdings nur die allgemeinen Bezugsgrößen (Rechtspraxis und Rechtswissenschaft) für die Bewertung der Vertretbarkeit einer Entscheidung markiert. Noch nicht festgelegt ist, auf welche konkreten Kriterien bei dieser Entscheidung abzustellen ist. Denkbar wäre, jede Rechtsauffassung für vertretbar zu erklären, die von irgendeinem Gericht oder von irgendeinem wissenschaftlichen Autor einmal vertreten wurde. Dieses Kriterium wäre aber einerseits extrem weit; andererseits würde es die Fälle nicht erfassen, in denen eine überzeugende Rechtsauffassung erstmals vertreten wird. Vorzugswürdig dürfte deshalb sein, sich an dem Kriterium der Begründbarkeit der Entscheidung zu orientieren. d) Das Kriterium der Begründbarkeit aa) Relevanz des Begründungsansatzes Danach kommt es für die Vertretbarkeit einer Entscheidung maßgeblich darauf an, ob diese Entscheidung anhand der anerkannten juristischen Argumentationsstandards zu begründen ist. Maßgeblich sind insoweit nicht dogmatische Positionen, sondern Regeln der Urteilsbegründung.29 „Begründbarkeit“ ist dabei nicht im Sinne der abstrakten Möglichkeit zu verstehen, ein Urteil anhand der anerkannten juristischen Argumentationsstandards zu rechtfertigen. Es kommt vielmehr darauf an, ob sich das Urteil auf der Basis der von dem Richter gewählten Argumentation begründen lässt. Das bedeutet: Eine bestimmte, das Urteil tragende Rechtsauffassung kann mit einer Argumentation vertretbar, mit einer anderen unvertretbar sein. An einem Beispiel: Hätte eine Strafkammer im Jahre 1980 gegen einen wegen Mordes (§ 211 StGB) verurteilten Angeklagten statt der gesetzlich zwingend vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe verhängt, und dafür lediglich die Begründung gegeben, dass „Lebenslänglich“ angesichts der konkreten Umstände des Falles „zu hart“ erscheine, so hätte man wohl nicht gezögert, jedenfalls den objektiven Tatbestand des § 339 StGB zu bejahen. Die ausführlich begründete Entscheidung des BGH vom 19. Mai 1981, in der der Große Senat für Strafsachen für bestimmte Fallkonstellationen der „Unverhältnismäßigkeit“ die Möglichkeit einer Verurteilung des Mörders zu einer zeitigen Freiheitsstrafe eröffnet 30, lässt sich dagegen – bei aller Kritik, die im Schrifttum an dieser Entscheidung teilweise geübt wird31 – nicht unter den Tatbestand des § 339 StGB subsumieren. Der
29
Im Ansatz ähnlich Nomos Kommentar StGB/Kuhlen, 4. Aufl. 2013, § 339 Rn. 57 und die dort nachgewiesenen Autoren. 30 BGHSt 30, 105. 31 Nachw. bei NK/Neumann, 4. Aufl. 2013, Vor § 211 Rn. 162 m. Fn. 509.
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entscheidende Unterschied liegt nicht darin, dass sich der Große Senat des BGH auf die Befugnis zur Rechtsfortbildung berufen kann, die ihm nach § 132 Abs. 4 GVG zusteht. Maßgeblich ist vielmehr, dass die „Begründung“ der Strafkammer in dem fiktiven Beispiel den Standards juristischen Argumentierens nicht einmal im Ansatz genügt. Hätte sich die Strafkammer unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG zur lebenslangen Freiheitsstrafe32 auf die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung 33 des § 211 StGB berufen, wäre der Vorwurf der Rechtsbeugung nicht zu begründen. Die hier skizzierte „Begründbarkeitstheorie“ zieht für die Frage der Vertretbarkeit eines richterlichen Urteils die Konsequenz aus der Einsicht, dass die Richtigkeit einer Entscheidung für das postmetaphysische Rechtsdenken eine Funktion der Argumentation ist, mit der diese Entscheidung begründet wird bzw. begründet werden kann.34 Für die Vertretbarkeit einer Entscheidung gilt das Gleiche. Die Begründbarkeit eines Urteils lege artis ist für die Vertretbarkeit dieses Urteils nicht indiziell, sondern konstitutiv. Das heißt: Vertretbar ist ein Urteil, wenn und weil es anhand der anerkannten Standards juristischen Argumentierens begründet werden kann. Dabei genügt es nicht, dass sich für das Urteil irgendeine vertretbare Begründung finden ließe, die in der Urteilsbegründung aber nicht thematisiert wird. Vielmehr kommt es darauf an, ob die in der Entscheidungsbegründung gewählte Argumentationslinie valide bzw. validierbar ist.35 bb) Verhältnis zum Kriterium der „Pflichtverletzung“ Im Verhältnis zur „Pflichtverletzungslehre“ ergeben sich gewisse Parallelen, aber auch gewichtige Differenzen. Übereinstimmung besteht insofern, als auch die „Pflichtverletzungslehre“ darauf abstellt, ob der Richter lege artis verfahren ist.36 Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass die „Pflichtverletzungslehre“ maßgeblich auf den Prozess der Herstellung der Entscheidung und damit auf die Motivation des Richters abstellt, während es nach der „Begründbarkeitstheorie“ auf die Darstellung, also auf die Gangbarkeit des von dem Entscheider beschrittenen Argumentationswegs ankommt. Die Frage, ob der Richter die Entscheidung aus sachfremden Motiven getroffen hat, ist deshalb entgegen der Auffassung der „Pflichtverletzungslehre“ nicht von Bedeutung. Relevant ist insofern nur, ob er es mit sachfremden Erwägungen begründet hat. 32
BVerfGE 45, 187. In diesem Fall keine Vorlagepflicht (und -möglichkeit) nach Art. 100 Abs. 1 GG (BVerfGE 76, 100, 105). 34 Arthur Kaufmann in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 2. Aufl. 1993, S. 79, 88. 35 Dazu schon vorstehend. 36 Rudolphi ZStW 82 (1970), 610, 613. 33
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3. Die Feststellung der „Rechtslage“ in vergangenen Rechtsordnungen – Beispiel DDR a) Auslegungsmethoden Die Frage, ob eine bestimmte Rechtsauffassung mit der für sie vorgetragenen Argumentation methodengerecht begründbar ist oder nicht, lässt sich nur anhand der Auslegungs- und Argumentationsregeln beurteilen, die in dem jeweiligen Rechtssystem anerkannt sind. Ein säkulares Rechtssystem verfügt über andere Argumentationsstandards als eine nach ihrem Selbstverständnis religiös geprägte Rechtsordnung, ein Rechtssystem, das sich einem „demokratischen Zentralismus“ und einer durch das Prinzip der Parteilichkeit der Rechtsanwendung geprägten „sozialistischen Gesetzlichkeit“ verpflichtet fühlt 37, über andere Standards als ein Staat, der Gewaltenteilung und Neutralität der Rechtsanwendung als konstitutive Elemente einer rechtsstaatlichen Ordnung betrachtet. Es hat deshalb aus Sicht der „Begründbarkeitslehre“ seinen guten Sinn, wenn der BGH bei der Aburteilung von Richtern der ehemaligen DDR hinsichtlich des Vorwurfs der Rechtsbeugung (§ 244 StGB-DDR) bei der Entscheidung über die Vertretbarkeit der Auslegung und Anwendung eines DDRGesetzes grundsätzlich auf die in der DDR selbst anerkannten Auslegungsmethoden Bezug genommen hat.38 Allerdings ist der BGH wenig konsequent, wenn er in Fällen, in denen er in Gerichtsurteilen der DDR-Justiz eine offensichtliche und schwere Menschenrechtsverletzung sieht, darauf abstellt, ob eine „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ auch nach den in der DDR anerkannten Interpretationsmethoden möglich gewesen wäre.39 Denn für die Frage, ob das Urteil nach den Maßstäben der DDR-Rechtsordnung begründbar war oder nicht, kommt es nicht darauf an, ob eine solche „menschenrechtsfreundliche“ Auslegung nach den in der DDR anerkannten Interpretationsregeln möglich war, sondern darauf, ob sie nach diesen Regeln zwingend geboten war.40 Die bloße Möglichkeit, auch eine abweichende Entscheidung methodengerecht zu begründen, macht ein Urteil noch nicht unvertretbar. b) Naturrecht Tatsächlich verlässt der BGH an diesem Punkt das Prinzip einer immanenten, an Standards der DDR-Rechtsordnung orientierten Bewertung von Urteilen der DDR-Justiz und greift auf die Denkform des überpositiven 37
Art. 19 Abs. 1 S. 2 DDR-Verfassung (dazu BGHSt 41, 247, 261). BGHSt 40, 30, 41 ff.; 40, 272, 278 ff.; 41, 247, 260 ff. 39 BGHSt 40, 30, 42; 41, 247, 259 ff. Überzeugende Kritik bei Schünemann FS Kühl, 2014, S. 457, 458 f. 40 In diesem Sinne auch Stanglow JuS 1995, 971, 977. 38
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Rechts zurück. Das entspricht seinem mehrfach explizit formulierten Anspruch, auch die Verletzung (angeblicher) naturrechtlicher Normen als Rechtsbeugung zu bestrafen.41 Aber dieser Anspruch kann im Rahmen eines rechtsstaatlichen Strafrechts nicht aufrechterhalten werden. Er kollidiert zwangsläufig mit dem für den Rechtsstaat konstitutiven Verbot rückwirkender Bestrafung.42 Einem vergangenen Rechtssystem, das unter „Recht“ nur das gesetzte Recht verstanden hat, Normen eines überpositiven Rechts zu inkorporieren, läuft auf eine schlechte Fiktion hinaus.43 Anders liegt es dann, wenn das Rechtssystem, in dessen Rahmen das Urteil gefällt wurde, die Berücksichtigung bestimmter naturrechtlicher Normen zwingend gebot und der (damalige) Richter dieses Gebot missachtet hat. In diesem Fall waren die entsprechenden Normen des überpositiven Rechts Bestandteil des damaligen Rechtssystems und deshalb für den Richter verpflichtend. Dass das Rechtssystem der DDR in diesem Sinne einem naturrechtlichen Denken verpflichtet gewesen wäre, wird aber, soweit ersichtlich, nicht behauptet.44
III. Die „Beugung“ des Rechts 1. Die Rechtsprechung des BGH Nach der st. Rspr. des BGH soll es für die Strafbarkeit eines Richters oder sonstigen Amtsträgers wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) nicht genügen, dass der Amtsträger vorsätzlich zum Vorteil oder Nachteil einer Partei entgegen der Rechtslage entschieden hat. Für die Verwirklichung des objektiven Tatbestands reiche die bloße Unvertretbarkeit der Rechtsauffassung des
41 BGHSt 39, 1, 23; 40, 272, 276 ff.; 41, 157, 163 ff.; 41, 247, 257 ff.; BGH NStZ 1996, 386. Zust. etwa Fischer StGB (Fn. 4), § 339 Rn. 13; Schönke/Schröder/Heine StGB, 28. Aufl. 2010, § 339 Rn. 5; Bemmann JZ 1995, 123. 42 Ausführliche Begründung bei Neumann in: ders. (Hrsg.), Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 163 ff. Gegen den Rückgriff auf Naturrecht zur Begründung von Strafansprüchen in diesem Kontext auch NK/Kuhlen (Fn. 29), § 339 Rn. 40; Hoenigs KritV 2003, 303, 304; Kargl FS Hassemer, 2010, S. 849, 854; Kraut Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaats, 1997, S. 118 ff. Vgl. auch schon Coing SJZ 1947, 61, 63 f. 43 Ausf. Kritik der auf die „Radbruchsche Formel“ gestützten Rspr. des BGH bei Schünemann FS Kühl, 2014, 457 ff. Auf das in diesem – nach Fertigstellung meines Textes erschienenen – Beitrag von Schünemann entwickelte alternative Modell, das sich an den Kriterien der „öffentlichen Regelkommunikation“ und der „Kulturadäquanz“ orientiert, kann hier nicht mehr eingegangen werden. 44 Zu den grundsätzlichen methodologischen Problemen, auf die alle Versuche stoßen, die „wirkliche“ Rechtslage in einer vergangenen Rechtsordnung festzustellen, vgl. Neumann in: Wert und Wahrheit in der Rechtswissenschaft, ARSP-Beiheft 2014 (unter Hinweis auf Georg Jellinek und Gustav Radbruch).
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Richters nicht aus.45 Erforderlich sei vielmehr, dass sich der Amtsträger „bewusst und in schwerwiegender Weise“ von Recht und Gesetz entfernt habe.46 Nach Auffassung des BGH soll der Tatbestand des § 339 StGB nur den „elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege“ unter Strafe stellen.47 Zur Begründung verweist der BGH zunächst auf die der Mindeststrafdrohung des § 339 StGB und die mit ihr verbundene Folge des Amtsverlusts, die sich für den Richter (§ 24 Nr. 1 DRiG) oder sonstigen Amtsträger (§ 41 BRRG) im Fall einer Verurteilung nach § 339 StGB regelmäßig ergebe.48 Ferner beruft er sich auf die richterliche Unabhängigkeit, die im Falle einer strikten Interpretation des Tatbestands gefährdet sei.49 Schließlich wird auch das Argument der Rechtssicherheit ins Feld geführt. Eine „neuerliche Überprüfung von Rechtsprechungsakten“ im Rahmen eines Strafverfahrens, das wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung geführt werde, müsse in Hinblick auf die Erfordernisse der Rechtssicherheit von „hohen Schranken“ abhängig sein.50 2. Kritik Diese restriktive Interpretation des BGH ist im Schrifttum teilweise auf Zustimmung51, ganz überwiegend aber auf Kritik52 gestoßen. In der Tat sind die Argumente des BGH großenteils wenig überzeugend.53 a) Richterliche Unabhängigkeit Dass die richterliche Unabhängigkeit gefährdet sein soll, wenn die Bindung des Richters an das Gesetz, die nach der Systematik des Verfassungsrechts die „Zwillingsschwester“ der richterlichen Unabhängigkeit darstellt (Art. 97 Abs. 1 GG), auch strafrechtlich abgesichert wird, will nicht einleuchten. Auch die Befürchtung, es könne eine strikte Interpretation des § 339 StGB geeignet sein, „die wünschenswerte verantwortungs- und pflichtbewusste Entscheidungsfreude des Richters zu lähmen“54, erscheint jedenfalls 45
BGHSt 41, 247, 251; 43, 183, 190; 47, 105, 109. BGHSt 42, 343, 345; 47, 105, 108 f.; BGH NStZ 2013, 655. 47 BGH NStZ 2013, 648. 48 BGHSt 38, 383 u.ö. 49 BGHSt 47, 105, 110; BGH NStZ 1988, 218, 219. 50 BGHSt 41, 247, 251. 51 Zust. etwa Lackner/Kühl StGB, 28. Aufl. 2014, § 339 Rn. 5; NK/Kuhlen (Fn. 29), § 339 Rn. 56, 68; Kühne GA 2013, 39, 46; Volk NStZ 1997, 412. 52 Vgl. etwa Fischer StGB (Fn. 4), § 339 Rn. 15a; Matt/Renzikowski/Sinner StGB, 2013, § 339 Rn. 22; Bemmann JZ 1995, 123, 127; Dallmeyer GA 2004, 540, 548; Krehl NStZ 1998, 409; L. Schulz StV 1995, 206, 208 f.; Seebode FS Lenckner, 1998, S. 585, 605 ff.; w. Nachw. bei MK/Uebele (Fn. 23), § 339 Rn. 33 m. Fn. 147 ff. 53 Ausführliche Kritik bei Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 716 ff. 54 Böttcher NStZ 2002, 146, 147. 46
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dann nicht berechtigt, wenn man im Sinne der hier zugrunde gelegten „Begründbarkeitslehre“ auch bei Urteilen, die mit vertretbarer Begründung neue Wege gehen, eine Beugung des objektiven Rechts verneint. b) Rechtssicherheit Völlig verfehlt ist das Argument der Rechtssicherheit, weil es das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit in einer Weise auflösen will, die den Wertungen widerspricht, die der Justierung des Verhältnisses dieser beiden Elemente der Rechtsidee in den Regelungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens in den §§ 359, 362 StPO zugrunde liegen. Wenn nach der Wertung des Gesetzgebers schon eine fahrlässige Verletzung der Eidespflicht des Zeugen genügt, die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten (§ 359 Nr. 2 StPO) oder zulasten (§ 362 Nr. 2 StPO) des Abgeurteilten zu begründen, dann ist kein Grund ersichtlich, warum eine vorsätzliche Missachtung des Rechts durch den Richter nicht genügen sollte, das Verfahren neu aufzurollen. Indem der BGH gerade unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit eine qualifizierte (vorsätzliche) Missachtung des Rechts durch den Richter verlangt, vernachlässigt er die Wertungen, die der Gesetzgeber in den Regelungen zum strafprozessualen Wiederaufnahmeverfahren bei dem Ausgleich der Anforderungen der Rechtssicherheit einerseits, der Gerechtigkeit andererseits zugrunde gelegt hat. 3. Die Schwere der Sanktion als Ansatzpunkt einer restriktiven Interpretation a) Der Schluss von der Rechtsfolge auf den Tatbestand Von Gewicht ist nach alledem nur der Hinweis des BGH auf die hohe Mindeststrafdrohung des § 339 StGB und die Konsequenzen, die sich für den betroffenen Amtsträger gemäß den richter- oder beamtenrechtlichen Bestimmungen daraus ergeben.55 Selbstverständlich ist auch dieses Argument gegen Einwände nicht gefeit – so kann man ihm entgegen halten, Mindeststrafe und daraus resultierende Rechtsfolgen seien vom Gesetzgeber gewollt und könnten deshalb keinen Anlass für eine restriktive Interpretation des Tatbestands darstellen.56 Aber das hermeneutische Prinzip, dass eine hohe Strafdrohung eine enge Auslegung eines Straftatbestands nahelegt, ist nach dem Prinzip sachgerechter Gesetzesinterpretation gut begründbar und aus anderen strafrechtsdogmatischen Kontexten vertraut.57 Richtig ist zwar, dass der Wortlaut 55
Ebenso Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 725. In diesem Sinne Seebode FS Lenckner, 1998, S. 585, 607. 57 Vgl. etwa zum Tatbestand des „Räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer“ Lackner/Kühl StGB, 28. Aufl. 2014, § 316a Rn. 1 m. Nachw. 56
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der Bestimmung eine Beschränkung des Tatbestands auf „elementare“ Verstöße gegen die Rechtspflege nicht nahe legt; andererseits schließt der Begriff der „Beugung“ eine solche restriktive Interpretation aber auch nicht kategorisch aus, und der BGH kann sich für seine Position immerhin auf Gesetzesmaterialien berufen, die es nahe legen, den Begriff in einem engeren, nicht jede unrichtige Rechtsanwendung erfassenden Sinne zu verstehen.58 b) Die Unbestimmtheit des Kriteriums der „schwerwiegenden“ Abweichung Es bleibt der Einwand, die Voraussetzungen des „elementaren“ Verstoßes gegen die Rechtspflege, der „bewussten und schwerwiegenden“ Abweichung von Gesetz und Recht seien zu unbestimmt, um eine hinreichende Konturierung des Tatbestands zu ermöglichen.59 Hier ist zunächst das Kriterium der „bewussten“ Rechtsverletzung auszuscheiden, das seinen systematischen Ort nicht im objektiven, sondern im subjektiven Tatbestand hat 60 und nach der Gesetzesgeschichte nicht anders denn im Sinne einer zumindest mit bedingtem Vorsatz begangenen Rechtsbeugung verstanden werden kann.61 Was die vom BGH geforderte „Schwere“ des Verstoßes betrifft, so bleibt in der Tat unklar, worauf es bei der Gewichtung ankommen soll – auf die Bedeutung der verletzten Rechtsnorm, den Grad der Abweichung von dieser Norm oder das Gewicht des einer Partei zugefügten Vor- bzw. Nachteils.62 4. Folgenorientierte Bestimmung der Schwere der Rechtsverletzung a) Das Rechtsgut des § 339 StGB Die Antwort auf diese Frage hängt eng mit dem Problem des Rechtsguts zusammen, das durch den Tatbestand des § 339 StGB geschützt werden soll. Die derzeit noch herrschende Auffassung sieht dieses Rechtsgut allein in der Rechtspflege; die mit einer korrekten Rechtsprechung verbundene Wahrung der Rechte und Interessen der Parteien wird lediglich als „Schutzreflex“ eingeordnet.63 Aber diese institutionenbezogene Sichtweise wird dem Gewicht, das in einem normativ an dem Einzelmenschen und seinen Interessen orientierten demokratischen Rechtsstaat den subjektiven Rechten des Bürgers, zukommt, nicht gerecht. Rechtsbeugung ist nicht nur Verletzung der Rechtsordnung mit der Folge der rechtswidrigen Benachteiligung oder Bevorzu-
58 59 60 61 62 63
BGHSt 32, 357, 364. Dazu etwa Fischer StGB (Fn. 4), § 339 Rn. 15a. Zutr. MK/Uebele (Fn. 23), § 339 Rn. 34. Dazu LK/Hilgendorf (Fn. 17), § 339 Rn. 86. Näher dazu Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 707 ff. Lackner/Kühl (Fn. 51), § 339 Rn. 1; NK/Kuhlen (Fn. 29), § 339 Rn. 15.
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gung bestimmter Interessen; sie ist im demokratischen Rechtsstaat auch und vor allem die Verletzung subjektiver Rechte und rechtlich garantierter Interessen durch fehlerhafte Rechtsanwendung. Zustimmung verdient deshalb die im Vordringen begriffene Auffassung, der zufolge der Tatbestand in gleicher Weise den Schutz individueller Rechte und Interessen des einzelnen Bürgers intendiert, diese also nicht nur als Objekte von „Schutzreflexen“, sondern als eigenständige Rechtsgüter des Tatbestands anzusehen sind.64 Das Gegenargument, § 339 StGB erfasse auch die Fälle, in denen aus der Missachtung des Rechts lediglich Vorteile für eine Partei, aber keine komplementären Nachteile für eine andere Partei erwachsen,65 hat Gewicht, lässt sich aber mit dem Hinweis relativieren, dass jedenfalls typischerweise den Vorteilen der einen Partei Nachteile der anderen korrespondieren.66 b) Der „Nachteil“ als Gewichtungsfaktor Sieht man in diesem Sinne auch die subjektiven Rechte und rechtlich anerkannten Interessen der Bürger als von § 339 StGB geschützte Rechtsgüter an, dann muss es bei der Gewichtung des Rechtsverstoßes (im Sinne der „Schweretheorie“ des BGH) maßgeblich auf die Folgen dieses Rechtsverstoßes ankommen.67 In der Rspr. des BGH gibt es für diese Wertung bisher lediglich (aber immerhin) Ansätze. So soll nach einer Entscheidung des 5. Senats bei der Frage, ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliege, einem Freiheitsentzug ein größeres Gewicht als einem wirtschaftlichen Schaden zukommen.68 Allerdings liegt es für eine Sichtweise, die den Schutz von Rechtspositionen des Bürgers als zentrale Funktion des § 339 StGB betrachtet, nahe, hier jede (vorsätzlich) rechtswidrige Benachteiligung einer Partei genügen zu lassen. In diesen Fällen erscheinen auch die dienstrechtlichen Folgen einer Verurteilung nach § 339 StGB durchaus angemessen. Wer als Richter oder sonstiger Amtsträger bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache denjenigen, dessen Rechte er durchsetzen oder jedenfalls wahren soll, (vorsätzlich) in seinen Rechten verletzt, sollte nicht weiter in dieser Stellung tätig sein.
64 Matt/Renzikowski/Sinner (Fn. 52), § 339 Rn. 2; Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 723 f.; Kargl FS Hassemer, 2010, S. 849, 861; tendenziell auch Satzger/Schluckebier/Widmaier/Kudlich StGB, 2. Aufl. 2014, § 339 Rn. 6. 65 Fischer StGB (Fn. 4), § 339 Rn. 2; NK/Kuhlen (Fn. 29), § 339 Rn. 15. 66 Matt/Renzikowski/Sinner (Fn. 52), § 339 Rn. 2 m. Hinw. auf Scholderer Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat, 1993, S. 194 ff. und SSW/Kudlich (Fn. 64), § 339 Rn. 6. 67 In diesem Sinne auch Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 725. 68 Nachw. bei Giehring FS Wolter, 2013, S. 699, 708 m. Fn. 32.
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c) Asymmetrie von Vor- und Nachteilen Es liegt in der Konsequenz der hier vorgeschlagenen Interpretation des § 339 StGB, dass Nachteile, die einem Betroffenen aus der rechtswidrigen Entscheidung erwachsen, bei der Bewertung der Schwere des Rechtsverstoßes von größerem Gewicht sind als numerisch gleichwertige Vorteile. So macht es hinsichtlich der Frage, ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, einen wesentlichen Unterschied, ob der Richter wegen einer vom Betroffenen offenkundig nicht begangenen Ordnungswidrigkeit (vorsätzlich) zu Unrecht eine Geldbuße festsetzt oder aber das Verfahren zu Unrecht nach § 47 Abs. 2 OWiG einstellt.69 Dort, wo dem Vorteil der einen Partei ein komplementärer Nachteil der anderen Partei entspricht, wie etwa typischerweise beim Urteil im Zivilprozess, stellt sich das Problem selbstredend nicht. Dagegen kann im Strafverfahren problematisch sein, ob und inwieweit einem rechtswidrigen Vorteil des Beschuldigten ein rechtswidriger Nachteil der Staatsanwaltschaft bzw. des Staates korrespondiert. d) Die Staatsanwaltschaft als benachteiligte Partei? Nach herrschender Auffassung ist im Strafverfahren auch die Staatsanwaltschaft eine „Partei“ im Sinne des § 339 StGB, so dass der Tatbestand auch in Gestalt einer Beugung des Rechts zum Nachteil der Staatsanwaltschaft verwirklicht werden könnte.70 Aber das ist wenig überzeugend. Stellt man allein auf die prozessuale Rollenverteilung ab, so ist verwunderlich, dass zwar die Staatsanwaltschaft, nicht aber ihr prozessualer Widerpart, die Strafverteidigung (bzw. der Strafverteidiger), im Sinne des § 339 StGB „Partei“ sein soll.71 Orientiert man sich an dem „Interesse“ der Verfahrensbeteiligten an dem Ergebnis des Strafverfahrens, der gerichtlichen Entscheidung, so erscheint die Einbeziehung der Staatsanwaltschaft in den Bereich der durch § 339 StGB zu schützenden Parteien erst Recht als wenig plausibel. Denn die Staatsanwaltschaft verteidigt im Strafprozess kein eigenes Interesse, das komplementär zu dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner Freiheit und seiner Vermögenswerte wäre. Der Staatsanwalt ist nach der Struktur des deutschen Strafverfahrens auch nicht in dem Sinne der Gegenspieler des
69 Krit. zur Strafverfolgung nach § 339 StGB in Fällen einer Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG NK/Kuhlen (Fn. 29), § 339 Rn. 56 mit Beispielen aus der Rspr. Zu der Fallkonstellation, dass die Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG an die Stelle des nach Sachlage gebotenen Freispruchs tritt, vgl. Uwe Schulz NJW 1999, 3471. 70 BGHSt 42, 343, 352; MK/Uebele (Fn. 23), § 339 Rn. 58; SSW/Kudlich (Fn. 64), § 339 Rn. 25. 71 Lackner/Kühl (Fn. 51), § 339 Rn. 4; MK/Uebele (Fn. 23), § 339 Rn. 58; Matt/Renzikowski/Sinner (Fn. 52), § 339 Rn. 26.
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Beschuldigten, dass jeder Vorteil für den Beschuldigten per definitionem ein Nachteil für die Staatsanwaltschaft wäre. Wenn man der Staatsanwaltschaft ein Interesse zuordnen will, das ihrer Stellung und ihrer Funktion im deutschen Strafverfahren entspricht, dann ist es das Interesse an einer sachlich richtigen Entscheidung. Die Verletzung dieses Interesses aber wird schon durch das Tatbestandsmerkmal der „Beugung des Rechts“ erfasst, so dass die Begrenzungsfunktion des Merkmals des Handelns zum Nachteil einer Partei insofern leer laufen würde. An diesem Ergebnis ändert sich nichts, wenn man, wie neuerdings vorgeschlagen, anstelle der Staatsanwaltschaft den Staat als potentiell benachteiligte Partei im Strafverfahren ansieht.72 Denn das Interesse des Staates erschöpft sich erst Recht in dem Interesse an einer sachlich richtigen Entscheidung, dessen Verletzung schon in dem Merkmal der Beugung des Rechts vorausgesetzt wird. Dass etwaige finanzielle Interessen des Staates in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen dürfen, sollte keiner Hervorhebung bedürfen.
IV. Ergebnis und Folgerungen Die Rspr. des BGH zu § 339 StGB verdient im Ergebnis insoweit Zustimmung, als sie für die Anwendung des Tatbestands neben dem qualitativen Moment der unvertretbaren (nach dem vorgeschlagenen „Begründbarkeitskriterium“: anhand der anerkannten juristischen Argumentationsstandards nicht mehr begründbaren) Entscheidung zusätzlich ein abstufend wertendes Element verlangt, das mit den Formulierungen umschrieben wird, es müsse sich um einen „elementaren Rechtsverstoß“ handeln, der Richter müsse sich „in schwerwiegender Weise“ von Recht und Gesetz entfernt haben.73 Zu rechtfertigen ist diese restriktive Interpretation des Tatbestands aber nur mit zwei Einschränkungen. Die erste betrifft die vom BGH vorgetragenen Argumente: Die restriktive Interpretation des § 339 StGB lässt sich weder auf den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit noch auf das Prinzip der Rechtssicherheit stützen; tragfähig ist allein das Argument der hohen Mindeststrafdrohung, die nach anerkannten Auslegungsstandards eine restriktive Interpretation des Tatbestands nahe legt. Die zweite Einschränkung bezieht sich auf die Kriterien für die Gewichtung der Rechtsverletzung. Bei der Entscheidung, ob ein schwerwiegender Rechtsverstoß vorliegt, kommt es maßgeblich darauf an, ob und in welchem Maße einer Partei aus dem (vorsätzlichen) Rechtsverstoß ein Nachteil erwächst.
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LK/Hilgendorf (Fn. 17), § 339 Rn. 72. Oben bei Fn. 46, 47.
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In der Konsequenz dieser „kritischen Verteidigung“ der Rechtsprechung des BGH liegt es, dass das Ausmaß der ganz überwiegend angenommenen „Sperrwirkung“ des Rechtsbeugungstatbestands74 neu bestimmt werden muss. Für eine überzeugende Beantwortung der Frage, inwieweit die Nichtanwendbarkeit des § 339 StGB den Rückgriff auf andere Tatbestände blockiert, kommt es auf die Begründung der Funktion der „Sperrwirkung“ des § 339 StGB ebenso an wie auf die Kriterien, mit denen der Anwendungsbereich des § 339 StGB festgelegt wird. Dies näher auszuführen, würde aber die vorgegebenen Grenzen dieses Beitrags sprengen, der Bernd Schünemann in Hochschätzung und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist.
74 MK/Uebele (Fn. 23), § 339 Rn. 71 m zahlr. Nachw.; and. etwa Systematischer Kommentar StGB/Rudolphi/Stein, § 339 Rn. 22a, 22b (September 2011); Wassermann DRiZ 1992, 161.
Gesetzliche Vermutungen und Beweislastregeln im Wirtschaftsstrafrecht Jens Puschke I. Einleitung Das Wirtschaftsstrafrecht steht häufig im Verdacht, althergebrachte Prinzipien des Strafrechts und des Strafprozessrechts zu verletzen, die der Jubilar gegen den „Niedergang des rechtsstaatlichen Strafrechts und des rechtsstaatlichen Strafverfahrens“1 wie kein Zweiter verteidigt. Rechtmäßige und rechtswidrige Verhaltensweisen könnten kaum voneinander abgegrenzt werden, das Schuldprinzip und der Bestimmtheitsgrundsatz würden nicht hinreichend beachtet und mit Blick auf das Strafverfahren sei es gerade das Wirtschaftsstrafrecht, das wegen seiner Komplexität den In-dubio-pro-reoGrundsatz aushöhle und den Siegeszug des sog. Deals eingeleitet habe. Mit rechtsstaatlichen Einwänden sehen sich häufig auch solche Normen des Wirtschaftsstrafrechts konfrontiert, bei denen einzelne Tatbestandsmerkmale einen Rückgriff auf zivil- oder öffentlich-rechtliche Vorschriften nahelegen. Noch größere Skepsis scheint angebracht, wenn es sich bei diesen Vorschriften um Vermutungsregelungen bzw. Regelungen zur Beweislast handelt. Im Zivil- und Verwaltungsrecht als Mittel zur gerechten und zumutbaren Sicherung der Durchsetzbarkeit subjektiver Rechte und als Ausdruck gesetzlicher Bewertungen von Freiheitsinteressen weitgehend anerkannt,2 gilt im Strafrecht der Grundsatz, dass der Vorwurf einer Straftat zu belegen ist. Die nunmehr seit mehreren Jahrzehnten feststellbaren Veränderungen des allgemeinen Strafrechts und des Wirtschaftsstrafrechts begünstigen demgegenüber Einschränkungen strafrechtlicher Prinzipien.3 Der Fokus wird zunehmend auf Prävention und weniger auf Reaktion gelegt wird. Gesichert
1 Schünemann in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat – 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins, 2009, S. 827, 829. 2 S. P. Feigen Beweislastumkehr im Strafrecht, 1998, S. 64; Schoch/Schneider/Bier/ Dawin VwGO, § 108 Rn. 107 (April 2013). 3 Vgl. nur Lindemann Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, 2012, S. 229 f.
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geglaubte strafrechtliche Garantien treten wegen kriminalpolitischer Begehrlichkeiten in den Hintergrund oder werden als kontraproduktiv wahrgenommen, wenn es um die vermeintlich optimale Entfaltung von Steuerungskraft geht.4 Auch sog. Ungewissheitssituationen könnten aus dieser Perspektive eher zu Lasten des Normadressaten zu lösen sein.5
II. Neue strafrechtliche Vermutungsregelungen durch das Trennbankengesetz? Jüngere Beispiele dieser Entwicklung bilden § 54a KWG und § 142 VAG. Diese Normen wurden durch das Trennbankengesetz6 eingeführt und sind zum 2. Januar 2014 in Kraft getreten. Sie dienen der strafrechtlichen Flankierung unterschiedlicher Konzepte, die eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation von Kredit- und Versicherungsinstituten gewährleisten sollen und aufgrund von Schlussfolgerungen aus der sog. Finanzkrise eingeführt wurden.7 Neben der Nichtumsetzung des gesetzlich umschriebenen Konzeptes setzen die Strafnormen einen tatbestandlichen Erfolg voraus. Für die Strafbarkeit nach § 54a KWG liegt dieser Erfolg in einer Bestandsgefährdung des Instituts. Zur Definition, wann eine Bestandsgefährdung vorliegt, schweigt § 54a KWG. Abhilfe könnte § 48b Abs. 1 KWG bereithalten.8 Hier ist der Begriff der Bestandsgefährdung in Satz 1 als „die Gefahr eines insolvenzbedingten Zusammenbruchs des Kreditinstituts für den Fall des Unterbleibens korrigierender Maßnahmen“ legaldefiniert. Gem. § 48b Abs. 1 S. 2 KWG wird eine Bestandsgefährdung zudem (unwiderleglich)9 vermutet, wenn die Vorgaben der Nr. 1–4 erfüllt sind. Die normierten Bedingungen, die die Vermutung auslösen, beziehen sich auf Elemente einer Unterfinanzierung.10 Die strafrechtlichen Neuregelungen haben viel berechtigte Kritik erfahren. So werden verfassungsrechtliche Bedenken in Bezug auf das Schuldprinzip und das Bestimmtheitsgebot geltend gemacht.11 Zudem wird auch die rechts4
S. auch Heine JZ 1995, 651. Hierzu Heine JZ 1995, 651 f. 6 Gesetz zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen vom 7. August 2013, BGBl. I, 3090. 7 Vgl. § 25c Abs. 4a, 4b S. 2 KWG sowie § 64a Abs. 7 VAG; s. zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzkrise Schünemann (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder globale organisierte Kriminalität, 2010. 8 Für § 142 VAG ergibt sich eine ähnliche Konstellation nur in Bezug auf den Begriff der Zahlungsunfähigkeit, s. zu der Vermutungsregel des § 17 Abs. 2 S. 2 InsO unter V. 2. b). 9 Vgl. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fridgen KWG, 4. Auflage 2012, § 48b Rn. 6. 10 BT-Drucks. 17/3024, S. 63. 11 S. Ahlbrecht BKR 2014, 98, 100 ff.; Kasiske ZIS 2013, 257, 261; Wegner in: Schork/ Groß (Hrsg.), Bankstrafrecht, 2013, § 6 Rn. 675 f.; Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins NZG 2013, 577, 580. 5
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tatsächliche Bedeutung der Strafnormen angezweifelt.12 In Anbetracht der Gesamtkritik nimmt es nicht wunder, dass die Vermutungsregelungen für die Feststellung der Strafbarkeit mit unterschiedlichen Begründungen regelmäßig für unanwendbar gehalten werden.13 In dieser und ähnlichen Konstellationen bleibt dennoch die Frage im Raum, ob Vermutungs- und Beweislastregeln wirklich keine Rolle bei der Feststellung der Strafbarkeit spielen dürfen oder ob nicht eine stärkere Differenzierung in der Begründung angebracht ist.
III. Weitere Eingrenzung des Themas Betrachtet werden soll die Anwendbarkeit von Regelungen, die eine Vermutung für das Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter strafrechtlich relevanter Umstände zu Lasten des Normadressaten formulieren bzw. dem Normadressaten aufbürden, dass diese Umstände als gegeben anzunehmen sind. Der Fokus liegt dabei auf dem Wirtschaftsstrafrecht. Die Komplexität der Materie begünstigt Konstellationen, in denen Non-liquet-Situationen entstehen können. Die enge Verquickung wirtschaftsstrafrechtlicher Normen mit außerstrafrechtlichen Rechtsgebieten lässt zudem einen Rückgriff auf Tatbestände, die um Vermutungs- und Beweislastregelungen erweitert sind, grundsätzlich denkbar erscheinen.14 Vermutungs- und Beweislastregelungen haben einen vergleichbaren Regelungsinhalt, wobei erstere, sofern sie widerleglich sind, als Unterfall letzterer zu klassifizieren sind.15 Beide legen fest, dass unter bestimmten Voraussetzungen Tatbestandsmerkmale als erfüllt angesehen werden können oder müssen, obwohl deren Vorliegen nicht feststeht.16 Vermutungsregelungen setzen dabei die Feststellung eines Sachverhalts voraus (Vermutungsbasis), der nicht unmittelbar zum gesetzlichen Tatbestand gehört und aus dem sich die Vermutung des Vorliegens des Tatbestandsmerkmals ergibt.17 Das Beweisthema wird somit vom Tatbestandsmerkmal auf die Vermutungsbasis
12
Ahlbrecht BKR 2014, 98, 102 f.; Schork/Reichling CCZ 2013, 269, 271. Cichy/Cziupka/Wiersch NZG 2013, 846, 850; Schork/Reichling CCZ 2013, 269, 270; Wegner (Fn. 11), § 6 Rn. 679; Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins NZG 2013, 577, 580. 14 S. zu den Beweisproblemen im Wirtschaftsstrafrecht Hillenkamp in: Achenbach u.a. (Hrsg.), Recht und Wirtschaft, Band 1, 1985, S. 221, 225 ff.; differenzierend bzgl. der Auswirkungen der Unternehmensorganisation Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 41 ff. 15 Gottwald Jura 1980, 225, 235. 16 Musielak Grundkurs ZPO, 11. Aufl. 2012, Rn. 474. 17 S. Leipold Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 1966, S. 92 f., 141; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 11. 13
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verlagert.18 Beweislastregeln zu Ungunsten des Angeklagten bestimmen, dass bei Ungewissheit bzgl. des Vorliegens eines Tatbestandsmerkmals – ohne die Notwendigkeit weiterer außertatbestandlicher Sachverhaltsaufklärung – dieses als erfüllt anzusehen ist.19 Handelt es sich um eine unwiderlegliche Vermutung, wie bei § 48b Abs. 1 S. 2 KWG, so ist diese nicht als Beweislastregelung, sondern als eine Erweiterung des Tatbestandes, auf den sie sich bezieht, anzusehen.20 Der Beitrag wird beschränkt auf Regelungen zur sog. objektiven Beweislast 21 bezogen auf die Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verurteilung vorliegen. Insofern werden die Normen nur im Hinblick auf die Anwendbarkeit ihrer objektiven Beweislastkomponente bzw. bei unwiderleglichen Vermutungen bzgl. der Tatbestandserweiterung bewertet. Fragen der formellen Beweislast, die sich regelmäßig in Verfahren mit Verhandlungsmaxime ergeben,22 also etwa danach, wer einen Beweis beizubringen hat, bleiben außen vor.23 Daher muss das Gericht auch im Falle einer Anwendbarkeit der Beweislastregeln im Strafverfahren alle relevanten Tatsachen für die Beweiswürdigung von Amts wegen erheben.24 Soweit ersichtlich existieren in Deutschland keine unmittelbar in einer wirtschaftsstrafrechtlichen Norm geregelten Vorgaben zur Beweislast zuungunsten des potenziellen Täters (mehr).25 Aber auch außerstrafrechtliche Beweislastregelungen können grundsätzlich in zwei Konstellationen strafrechtliche Relevanz entfalten. Zum einen kann die Strafnorm an eine außerstrafrechtlich geregelte Verpflichtung, die eine Beweislastumkehr zu Lasten des Normadressaten beinhaltet, unmittelbar anknüpfen, wie es etwa in § 15a Abs. 4 InsO bzgl. der Antragspflicht gem. § 15a Abs. 3 InsO der Fall ist. Wesentlich häufiger werden jedoch Tatbestandsmerkmale einer Wirtschaftsstrafnorm außerhalb des Strafrechts legaldefiniert und mit einer Vermutungsregel verknüpft. In diesem Zusammenhang ist etwa § 17 Abs. 2 InsO zu nennen, bei dem sich die Frage stellt, ob die Definition von „zahlungsunfähig“
18
Gottwald Jura 1980, 225, 235. Musielak (Fn. 16), Rn. 479. 20 S. Gottwald Jura 1980, 225, 236. 21 S. zum Begriff Musielak (Fn. 16), Rn. 477. 22 S. hierzu Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 17), § 115 Rn. 4 ff. 23 Hierzu sind mit einer Mindermeinung auch die Nachweispflichten im Steuerverfahren zu zählen, so Münchener Kommentar StGB/Schmitz/Wulf, 1. Aufl. 2010, § 370 AO Rn. 167, zum Meinungsstand Rn. 160 ff. 24 S. auch Löwe-Rosenberg/Sander StPO, 26. Aufl. 2013, § 261 Rn. 66. 25 Vgl. auch Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht – Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 194; s. allerdings für das allgemeine Strafrecht § 186 StGB sowie etwa § 11 Abs. 2 BayPrG; zur früheren Rechtslage vgl. § 23 WiStrG a.F., hierzu BVerfGE 9, 167, näher unter V. 2. a). 19
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(Satz 1) und die Vermutungsregel (Satz 2) auch im Insolvenzstrafrecht, also etwa bei der Feststellung der Bankrottstrafbarkeit gem. § 283 StGB, Beachtung finden muss.
IV. Verstoß gegen den In-dubio-pro-reo-Grundsatz und die Unschuldsvermutung? Die Anwendung einer Beweislast zu Ungunsten des Angeklagten im Strafrecht stößt reflexartig auf Widerstand. Sie scheint einem der ehernen Grundsätze des deutschen Strafverfahrens, der In-dubio-pro-reo-Regel,26 ebenso wie der Unschuldsvermutung gem. Art. 6 Abs. 2 EMRK unmittelbar zu widersprechen.27 Dies mag Grund genug sein, die Anwendung von Beweislastregeln kritisch zu betrachten. Es fragt sich jedoch, ob hierin ein hinreichender Grund dafür gesehen werden kann, ihre Anwendbarkeit für das Strafrecht pauschal auszuschließen. Ein eigenmächtiger Verzicht des Strafgerichts auf seine Überzeugung von dem Vorliegen der tatrelevanten Merkmale bei der Verurteilung ist unbestritten als ein Verstoß gegen den In-dubio-Grundsatz zu werten und damit als unzulässig zurückzuweisen. Das materielle Strafrecht gibt insoweit vor, wovon das Gericht i.S.d. § 261 StPO überzeugt sein muss. Anders könnte demgemäß die Beurteilung ausfallen, wenn es sich um gesetzliche Vorgaben handelt. Bezüglich des Strafprozessrechts soll entsprechend der thematischen Begrenzung des Beitrages der Hinweis genügen, dass es seine weitgehende Immunität gegen Regelungen, die dem Angeklagten Nachweispflichten auferlegen, dem Grundsatz der Bindung des Verfahrensrechts an die Grundannahmen des materiellen Strafrechts zu verdanken hat.28 Jedenfalls rechtstatsächlich wird dies durch die Normierung der Absprachen29 und die Verlagerung des Strafverfahrens in Richtung des Ermittlungsverfahrens30 weitgehend unterlaufen. Diese gerade auch für das Wirtschafts26 S. nur Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 45 Rn. 57; krit. etwa Montenbruck In dubio pro reo, 1985; Kotsoglou ZIS 2014, 31 ff. 27 Die Anwendung mit dieser Begründung ablehnend etwa Graul Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 349; für § 17 Abs. 2 S. 2 InsO Nomos Kommentar StGB/Kindhäuser, 4. Aufl. 2013, § 283 Rn. 97; für § 15a Abs. 3 InsO MK InsO/Klöhn, 3. Aufl. 2013, § 15a Rn. 335; für § 10 UrhG Beck’scher Online-Kommentar UrhG/Sternberg-Lieben, § 106 Rn. 20 (1.2.2014). 28 Eb. Schmidt StPO, Teil 1, 1952, Nr. 16; Heine JZ 1995, 651, 652; Roxin/Schünemann (Fn. 26), § 1 Rn. 1, 13. 29 Hierzu exemplarisch Schünemann FS Baumann, 1992, S. 361 ff.; ders. FS Rieß, 2002, S. 525 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 26), § 44 Rn. 59 ff. 30 S. Schünemann (Fn. 1), S. 827, 836 ff.; ders. FS Katoh, 2008, S. 49, 56 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 26), § 39 Rn. 1.
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strafrecht auszumachenden Entwicklungen sind mit Blick auf die Suche nach der materiellen Wahrheit31, in Bezug auf die freie gerichtliche Beweiswürdigung und den In-dubio-Grundsatz zu kritisieren. Jedoch eröffnet das materielle Strafrecht ein mindestens ebenso weitgehendes Potenzial zur Beschränkung der Relevanz von in dubio pro reo. So können je nach Betrachtungsweise auch vielzählige materiell-rechtliche Regelungen des Strafrechts als eine praktische Abweichung vom Zweifelsatz angesehen werden. Diskutiert werden hier vorrangig die Problematik der Prognose,32 der Schätzung im Steuerstrafverfahren33 und die Strafnorm der Üblen Nachrede gem. § 186 StGB.34 Vor allem letztere Bestimmung ist ein zumindest im Grundsatz weitgehend als zulässig angesehenes35 Paradebeispiel für eine gesetzliche Regelung, die eine Entscheidung im Zweifel zu Lasten des Angeklagten vorschreibt.36 Weit weniger werden die abstrakten Gefährdungstatbestände sowie die Strafbarkeit einer fahrlässigen Tatbegehung unter diesem Aspekt diskutiert.37 Gerade hier jedoch hat sich der Gesetzgeber zum Teil explizit mit dem Argument der Beweisschwierigkeiten dafür entschieden, auf objektive Tatbestandsmerkmale und auf den Vorsatz zu verzichten.38 Im Vergleich zu den Normen, die entsprechende Merkmale und damit deren Nachweise voraussetzen, stellen auch sie eine Regelung zu Lasten des Normadressaten dar. In diese Kategorie materieller Normen passen sich mit der herrschenden Meinung auch Vermutungs- und Beweislastregeln ein, da sie dem Rechtsgebiet angehören, auf deren Rechtssatz sie sich beziehen.39
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S. Arzt Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, 1997, S. 10 ff. S. Montenbruck (Fn. 26), S. 131 ff.; Löwe-Rosenberg/Sander (Fn. 24), § 261 Rn. 106; Systematischer Kommentar StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 95; grundlegend Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; ders. in: Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, S. 55 ff. 33 S. etwa Dürrer Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafrecht, 2010, S. 105 ff. 34 Stree In dubio pro reo, 1962, S. 49 ff.; s. insgesamt Walter JZ 2006, 340 ff. 35 S. nur Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 186 Rn. 11; Schubarth Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, 1978, S. 7 f.; a.A. etwa Bock Begriff, Inhalt und Zulässigkeit der Beweislastumkehr im materiellen Strafrecht, 2001, S. 249 f. 36 Roxin/Schünemann (Fn. 26), § 45 Rn. 57 weisen zu Recht darauf hin, dass es nicht um eine Schuldvermutung geht, sondern um die Struktur des materiellen Tatbestandes als Risikodelikt. 37 S. etwa Arzt (Fn. 31), S. 16 ff.; Detzner Rückkehr zum „klassischen Strafrecht“ und die Einführung einer Beweislastumkehr, 1998, S. 302 ff. 38 S. für die Einführung der Leichtfertigkeit in § 261 StGB BT-Drucks. 12/989, S. 27; für die Legitimation des § 264 StGB vgl. Fischer (Fn. 35), § 264 Rn. 2. 39 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 17), § 115 Rn. 31; Keßeböhmer Beweis steuermindernder Tatsachen im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren, 1995, S. 82; Klein Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast im Steuerrecht und im Strafrecht, 1989, S. 55 ff.; a.A. etwa Lürssen Die §§ 159–161 AO und das Steuerstrafrecht, 1993, S. 115 f. 32
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Viele der erwähnten Regelungen weisen hohes Kritikpotenzial auf. Diese Kritik auf ihre Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz in dubio pro reo und der Unschuldsvermutung zu konzentrieren, würde jedoch das Verhältnis von materieller Strafnorm und der Frage des strafprozessualen Nachweises des Vorliegens ihrer Tatbestandsmerkmale missachten. Denn obwohl der Grundsatz in dubio pro reo ebenso wie die Unschuldsvermutung auf verfassungsund menschenrechtliche Maximen rückführbar sind,40 können sie bzgl. der Feststellung strafbaren Verhaltens stets nur im Verhältnis des Strafverfahrens zum materiellen Strafrecht absolute Gültigkeit besitzen.41 Das materielle Strafrecht gibt dabei vor, wofür die Grundsätze gelten und wofür sie keine Beachtung finden können. Es definiert das Beweisthema. Insoweit haben gesetzliche Beweislastregeln die Folgen bei Zweifeln gerade zum Gegenstand.42 Ob contra reum zu entscheiden ist, ist eine Frage der Auslegung des materiellen Strafrechts43 in den Grenzen legitimer Strafe. Was heißt das in der Folge für die Anwendbarkeit von Beweislastregeln im Strafverfahren? Zunächst nur, dass sie jedenfalls nicht wegen eines Verstoßes gegen in dubio pro reo oder gegen die Unschuldsvermutung generell unmöglich sein muss. Einem Gesetzgeber, der bei der Erschaffung neuer Strafnormen auf ganze Tatbestandsmerkmale verzichten darf, sofern hierin nicht ein Verstoß gegen höherrangiges Recht zu sehen ist,44 kann es nicht per se verwehrt sein, zwar Tatbestandsmerkmale vorauszusetzen, sie jedoch in bestimmten Fällen im Zweifel als erfüllt anzusehen.45 Wenngleich Vermutungsund Beweislastregeln eng mit Fragen des In-dubio-Grundsatzes und der Unschuldsvermutung verknüpft sind, ist die Auseinandersetzung um ihre strafrechtliche Anwendbarkeit daher im materiellen Recht auszutragen. Bzgl. der Anwendung außerstrafrechtlicher Regeln, die die Beurteilung einer Vorfrage der Strafbarkeit betreffen, ist zudem auf einfachgesetzlicher Ebene § 262 StPO zu beachten. Gem. § 262 StPO sind für die Beurteilung außerstrafrechtlicher Vorfragen die für das Verfahren und den Beweis in
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Stree (Fn. 34), S. 16; Löwe-Rosenberg/Kühne, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. J, Rn. 74; Roxin/Schünemann (Fn. 26), § 45 Rn. 56. 41 Vgl. Arzt (Fn. 31), S. 6, 16 ff.; Walter JZ 2006, 340, 346; Zopfs Der Grundsatz „in dubio pro reo“, 1999, S. 285 ff.; zur Unschuldsvermutung als Verbot der Desavouierung des Verfahrens Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1997, S. 530 ff.; anders für die Unschuldsvermutung als Verfahrenssicherungsrecht allerdings mit Vorrang vor dem materiellen Recht etwa P. Feigen (Fn. 2), S. 88, 121 ff.; vergleichbare Einwände ergeben sich nach hiesiger Unterteilung daraus, dass strafwürdiges Unrecht als Legitimitätsbedingung für Strafrecht gefordert wird, s. unter V. 42 S. Walter JZ 2006, 340, 341, 346; Arzt (Fn. 31), S. 12. 43 Löwe-Rosenberg/Sander (Fn. 24), § 261 Rn. 66 Fn. 383; Eb. Schmidt (Fn. 28), Nr. 307. 44 S. unter V. 45 So auch Stree (Fn. 34), S. 48; anders Bock (Fn. 35), S. 239 ff.
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Strafsachen geltenden Vorschriften anzuwenden. Die freie strafgerichtliche Beweiswürdigung genießt diesbezüglich somit Vorrang.46 Die hier diskutierten objektiven Beweislastregeln betreffen jedoch weder das Verfahren, da es sich um Normen handelt, die dem materiellen Recht zuzurechnen sind, noch sind es Beweisregeln.47 Sie greifen, sofern sie widerlegbar sind, erst bei einer Non-liquet-Situation als Ergebnis der freien Beweiswürdigung ein,48 betreffen aber weder die Beweisaufnahme noch die Beweiswürdigung selbst.49 Für die Beweiswürdigung könnten sie allenfalls indizielle Bedeutung haben.50 Auch unwiderlegliche Vermutungen bzw. Fiktionen51 schränken den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht ein, sondern erweitern das Beweisthema auf die Vermutungsbasis. Für die zu diskutierenden Beweislastregeln des materiellen Rechts hängt die Frage ihrer strafrechtlichen Anwendbarkeit somit an zwei Prämissen. Zum einen darf ihre Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Vorgaben aus anderen Rechtsgebieten auch für das Strafrecht gelten.
V. Gesetzliche Beweislastregelungen und legitimes Strafrecht 1. Allgemeines Die erste Prämisse führt zunächst zu der grundlegenden Thematik, welche Anforderungen an die Legitimität von Strafnormen im Allgemeinen zu stellen sind.52 Eine grundsätzliche Unbeachtlichkeit der außerstrafrechtlichen Beweislastregeln kann nur dann angenommen werden, wenn sich hieraus die Bestrafung nicht strafwürdigen Verhaltens ergeben kann, was an verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen ist. Ein gesetzlich normiertes Risiko der Verurteilung für nicht strafwürdiges Verhalten kann nicht mit Erwägungen zur effizienten Strafverfolgung aufgewogen werden und muss daher stets
46 Vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 57. Aufl. 2014, § 262 Rn. 1; zur Frage der Anwendbarkeit von § 262 StPO auch auf nicht zivilrechtliche Regelungen s. nur Heidelberger Kommentar StPO/Julius, 5. Aufl. 2012, § 262 Rn. 1. 47 S. hierzu Leipold (Fn. 17), S. 128 f.; für das Steuerstrafverfahren Klein (Fn. 39), S. 53 ff.; Keßeböhmer (Fn. 39), S. 82. Auch wenn Beweislastregeln als Verfahrensregeln interpretiert würden, bliebe die durch Auslegung zu ermittelnde Frage, ob es sich um Vorfragen handelt oder um Normen des Strafrechts. 48 P. Feigen (Fn. 2), S. 13 f. 49 S. Rosenberg Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 62 f.; Dürrer (Fn. 33), S. 63; Karlsruher Kommentar StPO/Ott, 7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 37. 50 S. Löwe-Rosenberg/Sander (Fn. 24), § 261 Rn. 68. 51 S. hierzu Gottwald Jura 1980, 225, 236. 52 S. auch Stuckenberg (Fn. 41), S. 529.
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unzulässig sein.53 Mit anderen Worten: Die Strafnorm muss auch dann schuldhaft begangenes Unrecht zum Gegenstand haben, wenn das wegen der gesetzlichen Regelung als erfüllt geltende Tatbestandsmerkmal tatsächlich nicht verwirklicht wurde. 2. Beweislastregeln als Verstoß gegen Legitimitätsbedingungen des Strafrechts Zwei eng miteinander verbundene Konstellationen sollen betrachtet werden, in denen die Anwendung von Vermutungs- oder Beweislastregeln im Strafrecht zur Illegitimität der Strafnormen führen würde und daher nicht zulässig wäre. a) In der ersten Konstellation würde ihre Anwendung unmittelbar gegen das verfassungsrechtlich verankerte Schuldprinzip54 verstoßen.55 Hierunter fallen solche Vermutungs- und Beweislastregelungen, die sich auf Merkmale beziehen, die unmittelbare Relevanz für den individuellen Schuldvorwurf haben. Die Anwendung dieser Regeln im Strafrecht ist dann ausgeschlossen, wenn hierdurch die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit besteht, dass die Strafnorm als erfüllt anzusehen ist, ohne dass dem Normadressaten ein Schuldvorwurf gemacht werden kann.56 Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Sorgfaltspflichtverletzung oder die Kenntnis von Tatumständen vermutet wird. Ein Beispiel für das Unterstellen einer Sorgfaltspflichtverletzung bildete der 1954 außer Kraft getretene57 § 23 WiStG a.F. Danach konnte bei Zuwiderhandlungen gegen Bestimmungen des Wirtschaftsstrafgesetzes in einem Betrieb gegen den Inhaber des Betriebes eine Geldbuße festgesetzt werden, wenn dieser nicht nachweist, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt angewendet zu haben, um die Zuwiderhandlung zu verhüten. Das Bundesverfassungsgericht sah in dieser Regelung keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz. Es begründet dies außer mit der historischen Bedeutung des Tatbestandes und seiner allgemeinen Akzeptanz primär damit, dass es sich bei § 23 WiStG a.F. um eine reine Ordnungswidrigkeit handele, somit kein Verfolgungszwang herrsche und deswegen Härten vermieden werden könnten, die sich bei einer Abweichung von dem Grundsatz 53 S. Stree (Fn. 34), S. 45 f.; Stuckenberg (Fn. 41), S. 528, 556. Ein faktisches Risiko eines entsprechenden Fehlurteils bleibt demgegenüber immer bestehen. 54 Vgl. nur BVerfGE 90, 145, 173; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Hofmann GG, 12. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 73. 55 Grundsätzlich die Anwendbarkeit von Vermutungsregeln im Strafrecht wegen eines Verstoßes gegen das Schuldprinzip ablehnend Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 40 f. 56 S. auch Walter JZ 2006, 340, 346. 57 Vgl. Wirtschaftsstrafgesetz vom 9. Juli 1954, BGBl. I, 175.
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„in dubio pro reo“ aus dem Legalitätsprinzip (also bei Straftaten) ergeben würden.58 Eine solche Begründung dürfte heute wohl kaum mehr als tragfähig angesehen werden59 und lässt zudem keine unmittelbaren Rückschlüsse auf Straftatbestände zu. Vielmehr muss hier gelten: eine schuldbegründende Sorgfaltspflichtverletzung ist stets zur Überzeugung des Gerichts festzustellen. Das Beweisthema kann hier nicht auf das Fehlverhalten anderer verlagert oder die Pflichtverletzung allein wegen der Stellung im Betrieb angenommen werden.60 Entsprechende Einwände treffen grundsätzlich auch die gesetzliche Vermutung einer Kenntnis. Diesbezüglich verpflichtet § 15a Abs. 3 InsO jeden Gesellschafter einer GmbH bzw. jedes Mitglied des Aufsichtsrates einer Aktiengesellschaft oder einer Genossenschaft im Fall ihrer Führungslosigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen, wenn die juristische Person zahlungsunfähig oder überschuldet wird. Diese Pflicht ist gem. § 15a Abs. 4 und Abs. 5 InsO strafbewehrt. Die Pflicht zur Antragstellung besteht „es sei denn, diese Person hat von der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung oder der Führungslosigkeit keine Kenntnis.“ Die Formulierung „es sei denn“ ist eine zivilrechtliche Beweislastregel, nach der im Zweifel von der Kenntnis der Normadressaten ausgegangen wird.61 Ohne die Kenntnis oder im Sinne eines Fahrlässigkeitswurfs (Abs. 5) ein Kennenmüssen von der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung oder der Führungslosigkeit der Gesellschaft i.S.d. § 15a Abs. 3 InsO kann dem Gesellschafter bzw. dem Mitglied des Aufsichtsrates kein Schuldvorwurf gemacht werden, wenn der Eröffnungsantrag nicht gestellt wird.62 Die in58
BVerfGE 9, 167, 173 f. Tiedemann (Fn. 55), S. 40 f.; s. zur Geltung des Schuldgrundsatzes für das Ordnungswidrigkeitenrecht BGHSt 20, 333, 337; s. auch Karlsruher Kommentar OWiG/Bohnert, 3. Aufl. 2006, Einl. Rn. 116. 60 Insofern verstößt auch § 186 StGB in der Lesart der herrschenden Meinung gegen die Grundsätze legitimen Strafens. Zwar kann der Schutz der Ehre vor falschen Tatsachenbehauptungen im Sinne einer Gefährdung grundsätzlich dadurch strafrechtlich betrieben werden, dass auch wahre Tatsachenbehauptungen verboten werden, sofern ihr Wahrheitsgehalt nicht erweislich ist. Jedoch bedarf es bzgl. der Nichterweislichkeit, die das Unrecht der Handlung entscheidend trägt (a.A. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele StGB, 29. Aufl. 2014, § 186 Rn. 10), jedenfalls die schuldbegründende Möglichkeit ihrer Kenntnis. Wird daher die Nichterweislichkeit mit der herrschenden Meinung als objektive Bedingung der Strafbarkeit interpretiert (vgl. etwa BGHSt 11, 273, 274, sowie Fischer [Fn. 35], § 186 Rn. 13 m.w.N.), so müssen sich die Erfordernisse der Schuld auch hierauf erstrecken (s. hierzu Geisler Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip, 1998, S. 437 ff.). 61 S. Braun/Bußhardt InsO, 5. Aufl. 2012, § 15a Rn. 15. 62 S. hierzu auch Hefendehl ZIP 2011, 601, 606 f.; MK GmbHG/Wißmann, 2011, § 84 Rn. 224; ebenfalls ablehnend allerdings mit Bezug auf den In-dubio-Grundsatz MK InsO/ Klöhn (Fn. 27), § 15a Rn. 335. 59
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solvenzrechtliche Haftungserweiterung für den Fall nicht beweisbarer Unkenntnis kann damit nicht im materiellen Sinne strafbarkeitsbegründend sein. b) Die andere Konstellation betrifft Vermutungsregelungen, die sich auf einzelne objektive Tatbestandsmerkmale beziehen, die bei Vorliegen bestimmter definierter Bedingungen unterstellt werden. Anders als bei der Bezugnahme auf unmittelbar schuldrelevante Merkmale steht der Berücksichtigung dieser Form der Vermutungsregelung im Strafrecht nicht ohne weiteres der Schuldgrundsatz entgegen. Vielmehr könnte der Bezug auf die Vermutung auch im Sinne einer abstrakten Gefahr des Vorliegens des Merkmales interpretiert werden, die sich entsprechend den Folgen einer strafrechtlichen Normierung sog. abstrakter Gefährdungstatbestände auswirkt. Eine solche Konstruktion wäre vergleichbar mit Ergebnissen der strafrechtlichen Präsumtionstheorie,63 die für abstrakte Gefährdungstatbestände zu Recht zurückgewiesen wird.64 Jedoch geht es nicht darum, ob der Angeklagte den Gegenbeweis führen kann, sondern nur um die objektive Beweislast nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten. Abstrakte Gefährdungstatbestände führen nach herrschender Ansicht nicht zwingend zu einem Verstoß gegen den Schuldgrundsatz.65 Zudem ist im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips davon auszugehen, dass eine widerlegbare Vermutung bzgl. eines Tatbestandsmerkmals mit geringeren Grundrechtsbeschränkungen verbunden ist als der vollständige Verzicht auf das Merkmal als Strafbarkeitsvoraussetzung.66 Ein Verstoß gegen Legitimitätsbedingungen des Strafrechts kann daher nur angenommen werden, wenn der Tatbestand keinen hinreichenden Unrechtsbezug aufweist. Bei der strafrechtlichen Anwendung einer Vermutungsregel wäre dies jedenfalls dann der Fall, wenn das Vorliegen der die Vermutung auslösenden Bedingung nicht einmal zu einer Gefährdung des Rechtsgutes führt. § 17 Abs. 2 InsO definiert in Satz 1, dass ein Schuldner zahlungsunfähig ist, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Satz 2 gibt zudem vor, dass Zahlungsunfähigkeit in der Regel anzunehmen ist (widerlegliche Vermutung), wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Für das Insolvenzstrafrecht stellt sich die Frage, ob das Merkmal der Zahlungsunfähigkeit, etwa im Straftatbestand des Bankrotts gem. § 283
63 S. Schröder ZStW 81 (1969), 7, 14 ff.; ausführlich zu dieser Theorie Graul (Fn. 27), S. 151 ff. 64 Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 154; Schünemann JA 1975, 787, 797. 65 BVerfGE 28, 175, 188. 66 So für § 264 StGB Detzner (Fn. 37), S. 265 ff.
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StGB, auch die Vermutungsregel des Satzes 2 beinhaltet.67 Eine Zahlungseinstellung gem. § 17 Abs. 2 S. 2 InsO beschreibt jedoch nicht die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 Abs. 2 S. 1 InsO. Damit wird hierdurch in Kombination mit den Tathandlungen des § 283 StGB auch die Insolvenzmasse nicht negativ beeinträchtigt.68 Die Zahlungseinstellung lässt vielmehr Rückschlüsse auf den typischerweise korrelierenden Zustand der Zahlungsunfähigkeit zu, bedingt diesen jedoch nicht.69 Mit entsprechenden Einwänden ist etwa auch die Anwendung der Vermutung der Urheber- und Rechtsinhaberschaft des § 10 UrhG und der Rechtsinhaberschaft des § 28 Abs. 1 MarkenG, im Strafrecht abzulehnen.70 Anders fällt jedoch die Beurteilung für die gem. § 48b Abs. 1 S. 2 KWG vermutete Bestandsgefährdung aus. Bei Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen wird von einer Gefährdungslage für das Kreditinstitut ausgegangen, die eine Gefährdung des Finanzsystems verursachen kann.71 Ein solche (abstrakte) Gefährdung bedroht die dem Kreditinstitut anvertrauten Vermögenswerte und jedenfalls bei systemrelevanten Kreditinstituten72 die Stabilität des Finanzsystems,73 die durch § 54a KWG geschützt werden sollen.74 Allein die Verwirklichung der Vermutungsbasis stellt somit eine Gefahr für das strafrechtlich geschützte Rechtsgut dar. c) Der Verweis der Strafnormen erstreckt sich somit nicht auf außerstrafrechtliche Beweislastregelungen bzw. es besteht die Notwendigkeit einer strafrechtsspezifischen Modifikation, wenn sich ihre unmittelbare Anwendung im Strafrecht als Verstoß gegen höherrangiges Recht darstellen würde. 67 Befürwortend Beck’scher Online-Kommentar StGB/Beukelmann, § 283 Rn. 17, 17.1 (8.3.2013) mit Verweis auf ein Zivilrechtsurteil (BGH NZI 2012, 416); Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2013, Rn. 256; s. auch Weyand/Diversy Insolvenzdelikte, 9. Aufl. 2013, Rn. 52; ablehnend NK/Kindhäuser (Fn. 27), § 283 Rn. 97; Leipziger Kommentar StGB/Tiedemann, 12. Aufl. 2009, Vor § 283 Rn. 126; Wittig Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2014, § 23 Rn. 54; Lindemann (Fn. 3), S. 167 m.w.N. 68 S. zum Rechtsgut der Insolvenztatbestände Fischer (Fn. 35), Vor § 283 Rn. 3. 69 S. auch Fischer (Fn. 35), Vor § 283 Rn. 13. 70 S. zu Einwänden gegen mögliche strafrechtliche Auswirkungen der durch Art. 1 Nr. 2a EG-Richtlinie über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 28. Januar 2003) vorgeschriebenen objektiven und subjektiven Beweislastumkehr bzgl. der Definition einer Marktmanipulation Walter JZ 2006, 340, 346 f.; s. auch Schmitz ZStW 115 (2003), 501, 526; Vogel WM 2003, 2437, 2444; Schwark/Zimmer/Schwark Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 20a WpHG Rn. 55. 71 BT-Drucks. 17/3024, S. 63; Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fridgen (Fn. 9), § 48b Rn. 6. 72 S. zur Problematik, dass grundsätzlich alle Institute in den Straftatbestand einbezogen sind Schork/Reichling CCZ 2013, 269. 73 S. zur Notwendigkeit der Beachtung der Vertrauenskomponente bei Wirtschaftsdelikten Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 255 ff. 74 Zu den Schutzgütern BT-Drucks. 17/12601, S. 44; s. auch Cichy/Cziupka/Wiersch NZG 2013, 846, 847; Kasiske ZIS 2013, 257 f.
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§ 15a Abs. 4 und Abs. 5 InsO beziehen sich daher nicht auf die Beweislastregel des Abs. 3. Vielmehr ist die positive Kenntnis75 als subjektives Tatbestandsmerkmal nachzuweisen. Die Tatsache einer erfolgten Zahlungseinstellung i.S.d. § 17 Abs. 2 S. 2 InsO kann im Insolvenzstrafrecht nicht die Vermutung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auslösen, jedoch als Beweiszeichen für das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit i.S.d. „wirtschaftskriminalistischen Methode“76 von Bedeutung sein.77
VI. Auslegung der grundsätzlich zulässigen Fälle Es bleibt die Frage zu beantworten, ob diejenigen außerstrafrechtlichen Vermutungs- bzw. Beweislastregelungen, die nicht per se gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen, in das Strafrecht einzubeziehen sind. Der Gesetzgeber äußert sich selten dazu, inwieweit Bestimmungen außerhalb des Strafrechts bei der Auslegung von Straftatbeständen Beachtung finden sollen.78 Auch wird die Einbeziehung von Beweislastregeln in die Strafnorm nicht ausdrücklich angeordnet. Daher ist durch Auslegung der jeweiligen Normen zu ermitteln, ob sie im Strafrecht Beachtung finden müssen.79 Hierbei ist vor allem der Gesetzeszweck von Bedeutung.80 Am Beispiel des § 48b Abs. 1 S. 2 KWG: § 54a KWG soll mittels strafrechtlicher Sanktion die anvertrauten Vermögenswerte und die Stabilität des Finanzsystems schützen, indem der Eintritt einer Situation vermieden werden soll, bei der ein Zusammenbruch des Kreditinstituts droht. § 48b Abs. 1 S. 2 KWG beschreibt die Voraussetzungen, unter denen eine entsprechende Gefahrenlage seitens des Gesetzgebers regelmäßig angenommen wird. Die Zweckrichtung dieser Voraussetzungen, die ursprünglich im Zusammenhang mit der Übertragungsanordnung gem. § 48a KWG erlassen wurden, deckt sich daher grundsätzlich mit der strafrechtlichen Zweckrichtung.81 75
Vgl. Hefendehl ZIP 2011, 601, 606. BGH NJW 2000, 154, 156. 77 Vgl. BGH NJW 2014, 164, 165 mit Anm. Kudlich NStZ 2014, 107 ff. 78 So soll etwa der Begriff der „drohenden Zahlungsunfähigkeit“ (§ 18 Abs. 2 InsO, § 22 Abs. 2 InsO a.F.) auch konkretisierende Auswirkung auf das Insolvenzstrafrecht haben, vgl. BT-Drucks. 12/3803, S. 100; krit. hierzu Achenbach GS Schlüchter, 2002, S. 257 ff. Für Beweislastregelungen gibt es solche Hinweise in den Gesetzesmaterialen soweit ersichtlich nicht. 79 Für Nachweispflichten im Steuerstrafverfahren s. Keßeböhmer (Fn. 39), S. 88 ff.; Klein (Fn. 39), S. 64. 80 Zur Relevanz verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der Beurteilung konkreter Normen zur Abweichung von der allgemeinen Beweislastverteilung im Zivilprozess Reinhardt NJW 1994, 93 ff.; für das Strafrecht s. auch P. Feigen (Fn. 2), S. 65. 81 Im Rahmen der Strafzumessung ist grundsätzlich zu bedenken, dass sich Vermutungsregeln häufig auf ein Verhalten beziehen werden, das weiter von einer Rechtsguts76
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Dennoch stellt sich hier die Frage, ob eine strafrechtliche Beachtung der Vermutungsregeln angesichts der ohnehin bestehenden weitgehenden Unbestimmtheit der Strafnorm des § 54a KWG angezeigt sein kann.82 Unter diesem Gesichtspunkt erscheint allerdings nur die Anwendung von § 48b Abs. 1 S. 2 Nr. 4 KWG ausgeschlossen, nach dem bereits eine Prognose bzgl. der Vermutungsbasis der Nr. 1–3 ausreichen soll. § 48b Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 KWG konkretisieren demgegenüber vielmehr den vagen Begriff der Bestandsgefährdung.
VII. Fazit Vermutungs- und Beweislastregeln wirken wie Fremdkörper im Strafrecht. Um die dennoch bestehende Möglichkeit ihrer Anwendbarkeit beurteilen zu können, ist eine differenzierte Betrachtung nötig. Allein der Hinweis auf die entgegenstehenden Grundsätze in dubio pro reo und die Unschuldsvermutung reicht hierfür nicht aus. Die Beurteilung ist vielmehr auf der Ebene des materiellen Strafrechts vorzunehmen. Hier passt sich die Problematik in die Diskussion um die Grenzen legitimen Strafens ein und sollte auch in diesem Zusammenhang geführt werden. Verstößt die Anwendung der Vermutungs- und Beweislastregeln im Strafrecht generell gegen höherrangiges Recht, sind sie stets unbeachtlich. Aus diesem Grund können Merkmale eines Straftatbestandes, die unmittelbare Relevanz für den individuellen Schuldvorwurf besitzen, nicht Gegenstand einer Beweislastverteilung sein. Ebenso wenig kann ihr Vorliegen vermutet werden. Die Vermutung des Vorliegens objektiver Tatbestandsmerkmale ist für das Strafrecht jedenfalls dann unbeachtlich, wenn sich auf der Grundlage der Vermutungsbasis keine Rechtsgutsgefährdung begründen lässt. In den verbleibenden Fällen müssen die Regelungen unter Beachtung ihres Normzwecks ausgelegt und im Einzelfall geprüft werden, ob eine Einbeziehung einer für den Angeklagten ungünstigen Beweislastregel angezeigt sein kann.
beeinträchtigung entfernt ist als ein Verhalten, das unmittelbar das Tatbestandsmerkmal erfüllt. 82 Dies verneinend Wegner (Fn. 11), § 6 Rn. 679.
Geheimnisverrat durch Bundesminister? Eine Nachlese zur Edathy-Affaire Klaus Rogall I. Einführung Bernd Schünemann, der verehrte Jubilar, dem ich diesen Beitrag mit den herzlichsten Glückwünschen zu seinem Geburtstag widme, hat sich – ohne dass an dieser Stelle weitere Nachweise erforderlich wären – schon immer für rechtspolitische Fragen und politisch brisante Themen interessiert. Ich glaube daher gute Gründe für die Annahme zu haben, dass auch das hier aufzugreifende Thema sein Interesse wecken wird. Das gilt umso mehr, als sein imposantes Œuvre auch bedeutsame Beiträge zum strafrechtlichen Schutz von Geheimnissen umfasst. Insoweit ist z.B. an seinen Vortrag über den strafrechtlichen Schutz von Privatgeheimnissen auf der Strafrechtslehrertagung 1977 1 und an seine Kommentierung des § 203 StGB im Leipziger Kommentar 2 zu erinnern. In den Medien und in zahlreichen Talk-Shows sind die mit der EdathyAffaire verbundenen rechtlichen Fragen – soweit sie eine Strafbarkeit des ehemaligen Ministers Friedrich betreffen – vorwiegend, aber doch nur kursorisch unter dem Aspekt der Verletzung von Dienstgeheimnissen (§ 353b StGB) angesprochen worden. Das rechtfertigt eine genauere Befassung mit der Angelegenheit, wobei die Beurteilung mangels genauerer Sachverhaltskenntnis natürlich nur eine beschränkte Reichweite haben kann. Aus Raumgründen muss leider zudem eine Auseinandersetzung mit dem Tatbestand der Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 Abs. 2 S. 1 StGB) unterbleiben.3 Vom Sachverhalt her ist jedenfalls bisher lediglich bekannt, dass die Staatsanwaltschaft bei dem LG Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen HansPeter Friedrich wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen führt. Die erforderliche Ermächtigung zur Strafverfolgung ist vom Bundesminister des Innern
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Veröffentlicht in ZStW 90 (1978), 11–63. Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2010, § 203 Rn. 1 ff. 3 Insoweit befinde ich mich (vgl. Rogall NStZ 1983, 1, 6) mit dem Jubilar (vgl. LK/Schünemann [Fn. 2], § 203 Rn. 131 m.w.N.; ders. ZStW 90 [1978], 11, 61 f.) im Dissens darüber, ob § 193 StGB auf diesen Tatbestand anwendbar ist. 2
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am 11.03.2014 mit dem Caveat erteilt worden, dass mit der Ermächtigung keine rechtliche Bewertung des Friedrich vorgeworfenen Verhaltens verbunden sei.4
II. § 353b StGB als Ermächtigungsdelikt Von der Eigenschaft des § 353b StGB als Ermächtigungsdelikt ist in der öffentlichen Diskussion bisher nur wenig die Rede gewesen. Das ist deshalb verwunderlich, weil der vom Gesetz ins Auge gefasste Standardfall einer Verletzung von Dienstgeheimnissen sicher nicht derjenige ist, der hier in Rede steht. Auch wenn sich der BGH bereits mit dem Fall eines ministeriellen Geheimnisbruchs befasst hat,5 so lohnt sich es doch, hier etwas genauer hinzuschauen. Die Ermächtigung, deren Bedeutung in der Erklärung liegt, sich der Strafverfolgung nicht zu widersetzen („nihil obstat“),6 wird nämlich nach § 353b Abs. 4 S. 2 Nr. 2a StGB von der obersten Bundesbehörde erteilt, wenn dem Täter (Absatz 1) das Geheimnis – wie hier – während seiner Tätigkeit bei einer oder für eine Behörde oder bei einer anderen amtlichen Stelle des Bundes oder für eine solche Stelle bekanntgeworden ist. Oberste Bundesbehörde ist (bzw. war hier) das Bundesministerium des Innern.7 Die Ermächtigung wird im Unterschied zum Strafantrag, bei dem die Initiative vom Verletzten ausgeht, von der Strafverfolgungsbehörde von Amts wegen8 eingefordert (sog. „nachhinkender Strafantrag“9).10 Das Verfahren der Behörde ist in Nr. 212 RiStBV eingehend geregelt. 1. Diese Regelung über die für die Erteilung der Genehmigung zuständige Stelle wirft Probleme auf, wenn der beschuldigte Minister nach wie vor im Amt ist, Friedrich also z.B. nicht zurückgetreten wäre. Sollte er dann also selbst für die eigene Strafverfolgung sorgen müssen? Das dies nicht zutreffend sein kann, liegt auf der Hand. Aber woraus folgt das? Im Gesetz steht nur, dass die Erteilung der Ermächtigung zur Strafverfolgung der obersten Bundesbehörde obliegt, bei der dem Täter das Geheimnis bekanntgeworden
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Vgl. SZ v. 12.3.2014, S. 5. BGHSt 52, 220 ff. 6 Vgl. Systematischer Kommentar StGB/Rudolphi/Wolter, § 77e Rn. 1 (Juni 2004); Lehr- und Praxiskommentar StGB/Kindhäuser, 5. Aufl. 2013, § 77e Rn. 2; zur Unterscheidung vom Strafantrag vgl. Schlichter GA 1966, 353. 7 Vgl. Möhrenschlager JZ 1980, 161, 166. 8 RGSt 33, 66, 70 f. 9 Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Aufl. 1989, § 74 Rn. 30; Schlichter GA 1966, 353. 10 Vgl. dazu nur Nomos Kommentar StGB/Kargl, 4. Aufl. 2013, § 77e Rn. 3; LK/ Schmid, 12. Aufl. 2008, § 77e Rn. 2. 5
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ist. Das ist das Bundesministerium des Innern, das der jeweilige Bundesinnenminister „selbständig und unter eigener Verantwortung“ leitet (Art. 65 S. 2 GG). Geht man davon aus, dass die Ermächtigung zur Strafverfolgung einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG darstellt, der in einem Verwaltungsverfahren i.S.d. § 9 VwVfG ergeht, wäre Friedrich in diesem Verfahren von einer Mitwirkung ausgeschlossen, weil er durch die Tätigkeit oder durch die Entscheidung einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil erlangen kann (§ 20 Abs. 1 S. 2 VwVfG).11 Nun wird aber angenommen, dass die Ermächtigung gerade keinen Verwaltungsakt darstellt.12 Ob das zutrifft oder nicht, kann indessen offen bleiben. Denn selbst wenn die Ermächtigung kein Verwaltungsakt ist, hat die Behörde doch bei ihrem Entscheidungsprozess die Verfahrensgrundsätze des VwVfG zu berücksichtigen.13 Zumindest der Rechtsgedanke des § 20 Abs. 1 S. 2 VwVfG muss daher Anwendung finden. Dafür kann auch § 65 Abs. 1 BBG ins Feld geführt werden, wonach Beamte von solchen Amtshandlungen zu befreien sind, die sich gegen sie selbst richten. Minister Friedrich wäre also an einer Entscheidung über die Erteilung der Ermächtigung verhindert gewesen. Wie sich aus § 14 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GO BReg.)14 ergibt, tritt im Verhinderungsfall der zuständige Staatssekretär des Bundesinnenministeriums an die Stelle des Ministers. Diese Norm regelt die Vertretung des Ministers „als Leiter einer Obersten Bundesbehörde“. Das ist nicht zu verwechseln mit der Vertretung „in der Regierung“ (§ 14 Abs. 1 GO BReg.). Diese folgt den Maßgaben des (im Internet abrufbaren) Beschlusses der Bundesregierung vom 08.01.2014 über die gegenseitige Vertretung der Mitglieder der Bundesregierung. Nach diesem Beschluss wird der Bundesminister des Innern durch den Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz vertreten. Um diese Form der (politischen) Vertretung geht es hier aber nicht. 2. Nach dem Rücktritt von Minister Friedrich stellen sich die Probleme, die aus einer Verhinderung resultieren, nicht mehr. Die Zuständigkeit für die Erteilung der Ermächtigung liegt nunmehr bei seinem Nachfolger im Amt, Thomas de Mazière. Das Gesetz geht nämlich davon aus, dass die Entscheidungskompetenz auch nach dem Ausscheiden des Täters bei der Stelle verbleibt, bei der er das Geheimnis erfahren hat.15 11 Die Ausnahmeklausel des § 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG, die zur Unanwendbarkeit des VwVfG führen würde, dürfte hier nicht einschlägig sein. 12 BayObLGSt 1955, 225, 228 f.; LK/Schmid (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 8; NK/Kargl (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 16; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Rosenau, StGB, 2. Aufl. 2014, § 77a Rn. 8. 13 Vgl. Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 35 Rn. 173 m.N. 14 Vom 1.5.1951, GMBl. S. 137. 15 Vgl. dazu Möhrenschlager JZ 1980, 161, 166; Rogall NJW 1980, 751, 752 f.; Schönke/ Schröder/Perron StGB, 29. Aufl. 2014, § 353b Rn. 26.
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3. Die entscheidende Frage liegt nun darin, nach welchen inhaltlichen Kriterien sich die Entscheidung des Bundesministers des Innern über die Erteilung der Ermächtigung zu richten hat und welchen Bindungen er dabei unterliegt. Vor Beantwortung dieser Frage bedarf es jedoch einer klarstellenden Vorbemerkung, die auf Umstände hinweist, die in der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion zum Ermächtigungserfordernis zu kurz gekommen sind. Zu unterscheiden ist nämlich zwischen dem behördlichen Verfahren, dessen Ergebnis in der Entschlussfassung besteht, die Ermächtigung entweder zu erteilen16 oder nicht zu erteilen, und der auf der Grundlage dieser Entschlussfassung an die Strafverfolgungsbehörde gerichteten Erklärung. Betroffen sind insoweit zwei Wirklichkeitsräume:17 Der Bereich der behördlichen-verwaltenden Tätigkeit und der Bereich des Prozessrechts. Der Ermächtigung kommt in diesem Sinne eine doppelte Bedeutung zu. Sie ist einerseits eine hoheitliche Willensbekundung, die den Regeln der behördlichpolitischen Entscheidungsfindung unterliegt, und andererseits eine in das Strafverfahren hineinwirkende prozessuale Erklärung. Diese Verortungen der Ermächtigung sind bei ihrer rechtlichen Würdigung zu berücksichtigen. In strafprozessrechtlicher Hinsicht ist die Ermächtigung eine Prozesshandlung,18 die sich fachterminologisch als „Bewirkungshandlung“19 auffassen lässt. Sie hat zur Folge, dass eine bisher fehlende Prozessvoraussetzung (Sachurteilsvoraussetzung 20) nunmehr als vorhanden zu betrachten ist; fehlt sie, entsteht ein Verfahrenshindernis. Bewirkungshandlungen werden danach beurteilt, ob sie „beachtlich“ oder „unbeachtlich“ sind.21 Ob das eine oder andere der Fall ist, bemisst sich im prozessualen Wirklichkeitsraum allein nach Prozessrecht. Dem Gesetz ist in dieser Beziehung zu entnehmen, dass die Ermächtigung – wie bereits erwähnt – durch die Behördenleitung (Minister, Staatssekretär) zu erteilen ist.22 Die Entscheidung bedarf keiner Begründung und ist – mangels Verweisung auf § 77b StGB – nicht fristgebunden.23 Die Einhaltung der For16
Zur Möglichkeit ihrer Beschränkung vgl. die Nachweise in Fn. 26. Weiterführend in diesem Zusammenhang Sieber FS Claus Roxin, 2001, S. 1113 ff. 18 Zum Begriff der Prozesshandlung Eb. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Bd. I, 2. Aufl. 1964, Rn. 202 f.; Löwe/Rosenberg/Kühne StPO, Bd. I, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn K, Rn. 5 ff. 19 Eb. Schmidt (Fn. 18), Rn. 213, 220. 20 Zum Charakter der Ermächtigung als Prozessvoraussetzung vgl. BGHSt 11, 11, 14; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, § 77e Rn. 1; Sch/Sch/Sternberg-Lieben/Bosch StGB, 29. Aufl. 2014, § 77e Rn. 1; Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 77e Rn. 1. 21 Eb. Schmidt (Fn. 18), Rn. 241 m.w.N. insbesondere zu den Lehren von Goldschmidt, Sauer und Niese. 22 Ausfertigung und Übermittlung der Ermächtigung an die Strafverfolgungsbehörde können natürlich durch Behördenmitarbeiter erfolgen; s. auch BGHSt 35, 82, 86 (zu § 96 StPO). 23 Sch/Sch/Sternberg-Lieben/Bosch (Fn. 20), § 77e 5; NK/Kargl (Fn. 10), § 77e Rn. 1. 17
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men des § 158 Abs. 2 StPO ist nicht erforderlich.24 Die Ermächtigung kann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens zurückgenommen werden, im Falle der Rücknahme aber nicht neu angebracht werden (§ 77d Abs. 1 StGB i.V.m. § 77e StGB).25 Im Übrigen geht die h.M. – wohl zu Recht – davon aus, dass die Ermächtigung in persönlicher und sachlicher Hinsicht beschränkt werden kann.26 Dieser Befund führt zu der Erkenntnis, dass eine Ermächtigung, die ministeriell erteilt ist, in dem Umfang, in dem sie erteilt ist, für die Strafverfolgungsorgane „beachtlich“ ist und von ihnen nicht weiter „hinterfragt“ werden darf. Sie hat m.a.W. eine „Tatbestandswirkung“. Es kommt dabei auch nicht darauf an, ob die Erteilung oder Nichterteilung der Ermächtigung oder ihre persönliche oder sachliche Beschränkung etwa aus der Sicht der Betroffenen oder der Strafverfolgungsbehörde nachvollziehbar erscheint oder ob diese sogar (verfassungs-)rechtliche Bedenken hegen. Der in der Literatur geführte Streit darüber, ob die zuständige Behörde bei der Ermächtigung verfassungsrechtlichen Bindungen (Gleichheitssatz, Willkürverbot, Rechtsstaatsprinzip) unterliegt,27 deren Einhaltung von den Strafverfolgungsorganen zu überprüfen wäre (mit den kaum tragbaren Folgen, auf die Schmid 28 und Kargl 29 hingewiesen haben), ist daher auf prozessrechtlicher Ebene gegenstandslos und klar zu verneinen. Mängel des innerbehördlichen Entscheidungsprozesses können überhaupt nicht in den prozessualen Raum hineinwirken. Sie sind gar nicht Gegenstand eines strafprozessualen Prüfungsprogramms. Das haben Stree 30 und Tiedemann 31 gründlich verkannt, wenn sie im Falle von Verstößen gegen den Gleichheitssatz die erteilte Ermächtigung für nichtig halten. Was nun die innerbehördlichen Prozesse anbelangt, an deren Ende eine Entscheidung über die Erteilung der Ermächtigung steht, sollte klar sein, dass diese nicht im rechtsfreien Raum erfolgen. Die administrativ-politische Entscheidung über die Erteilung der Ermächtigung ist eine Ermessensentscheidung, die als Akt öffentlicher Gewalt an Recht und Gesetz zu orientieren ist (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 1 Abs. 3 GG).32 Es ist deshalb eigentlich ganz 24 RGSt 70, 356, 357; SK/Rudolphi/Wolter (Fn. 6), § 77e Rn. 1; S/S/W/Rosenau (Fn. 12), § 77e Rn. 5; Fischer (Fn. 20), § 77e Rn. 1. 25 Die Verweisungen auf § 77 und § 77d Abs. 2 sind im Wesentlichen gegenstandslos, vgl. dazu Münchener Kommentar StGB/Mitsch, 2. Aufl. 2012, § 77e Rn. 3; Fischer (Fn. 20), § 77e Rn. 3 ff. 26 Die Ermächtigung kann nach ganz h.M. sachlich und persönlich beschränkt werden, vgl. dazu BGHSt 16, 338, 341; LK/Schmid (Fn. 10), § 77e Rn. 3; Sch/Sch/Sternberg-Lieben/ Bosch (Fn. 20), § 77e Rn. 2; MK/Mitsch (Fn. 25), § 77e Rn. 5. 27 Vgl. dazu einstweilen NK/Kargl (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 16 m.w.N. 28 LK/Schmid (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 8. 29 NK/Kargl (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 16. 30 Stree DöV 1958, 172, 175. 31 Tiedemann GA 1964, 353, 358. 32 Vgl. OLG München NJW 2007, 2786, 2789 (zu § 129b StGB).
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selbstverständlich, dass bei der ministeriellen Entscheidung die für öffentlich-rechtliche Entscheidungen allgemein geltenden Ermessensschranken einzuhalten sind.33 Das bedeutet konkret, dass die Entscheidung auf sachlichen Gründen beruhen sowie dem Zweck der erteilten Ermächtigung entsprechen muss und jedenfalls nicht willkürlich sein darf.34 Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ist die getroffene Entscheidung, die unzweifelhaft einen Akt öffentlicher Gewalt darstellt, auch justiziabel, wenngleich die Erfolgsaussichten eines Rechtsschutzbegehrens, das seitens des Betroffenen darauf gerichtet sein müsste, die Ermächtigung nicht zu erteilen oder eine erteilte Ermächtigung wieder zurückzunehmen,35 wegen der im Gesetz nicht näher verlautbarten Entscheidungsparameter und der Begründungsfreiheit der Entscheidung grundsätzlich negativ zu beurteilen sind. 4. Damit sind wir bei der Frage angelangt, welche sachlichen Gründe es sein können, die dem zuständigen Minister Veranlassung geben können, sich für oder gegen die Erteilung einer Ermächtigung zur Strafverfolgung zu entscheiden. Dafür lohnt ein Blick in die Gesetzesmaterialien, soweit ihnen vorliegend Bedeutung zukommen kann. Die amtliche Begründung zur Novelle vom 2.7.1936,36 die zur Einführung des § 353b StGB in das StGB geführt hat,37 benennt als Zweck des Ermächtigungserfordernisses die Möglichkeit einer Verhinderung der Strafverfolgung in Fällen, in denen ein weiteres Bekanntwerden der preisgegebenen Geheimnisse „unerwünscht“ wäre.38 Zudem sollte offenbar auch die Auslegung des als recht unbestimmt empfundenen Tatbestandsmerkmals der „Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen“ durch die Einschaltung öffentlicher Behörden und den Rekurs auf die dort vertretene Rechtsmeinung erleichtert werden.39 33
Zutr. Lackner/Kühl (Fn. 20), § 77 Rn. 17. Für eine Orientierung am Gleichheitssatz OLG München NJW 2007, 2786, 2789; SK/ Rudolphi/Wolter (Fn. 6), § 77 Rn. 20 u. § 77e Rn. 1; Sch/Sch/Sternberg-Lieben/Bosch (Fn. 20), § 77 Rn. 44 u. § 77e Rn. 2; Matt/Renzikowski/Dietmeier StGB, 2013, § 77 Rn. 24; Lackner/ Kühl (Fn. 20), § 77 Rn. 17; vgl. auch S/S/W/Rosenau (Fn. 12), § 77a Rn. 8; a.A. LK/Schmid (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 8; NK/Kargl (Fn. 10), Vor § 77 Rn. 16; Fischer (Fn. 20), § 77a Rn. 1. 35 Nochmals zur Klarstellung: Streitgegenstand wäre allein die ministerielle Entscheidung. Die einmal erteilte Ermächtigung ist strafprozessual bindend und von den Strafverfolgungsbehörden zu beachten, solange sie nicht zurückgenommen ist. Den Strafverfolgungsbehörden ist es verwehrt, die Ausübung des administrativ-politischen Ermessens zu überprüfen. Das wird bei dem in Fn. 34 nachgewiesenen Streit offenbar verkannt. 36 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches v. 2.7.1936, RGBl. I, 532; vgl. dazu Probst Der strafrechtliche Schutz des Amtsgeheimnisses, 1939, S. 40 ff. 37 Zur Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung vgl. BVerfGE 28, 191 ff. Die Pönalisierung einer Verletzung von Dienstgeheimnissen wurde schon frühzeitig gefordert, vgl. etwa Preiser DJZ 1907, 874. Zum Ganzen auch Probst (Fn. 36), S. 11 ff. 38 DJ 1936, 997 f. 39 DJ 1936, 997 f.; s. dazu Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 195 f. (196). 34
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In der Begründung zum E 1962 (§ 471 E 1962) 40 wird das Ermächtigungserfordernis ebenfalls mit der Erwägung gerechtfertigt, es biete die Gewähr dafür, dass die Interessen des Öffentlichen Dienstes und damit die der Allgemeinheit nicht durch die Strafverfolgung gefährdet würden. Als weiteren Zweck benennt der Entwurf das Bestreben, die vorgesetzte Behörde in die Lage zu versetzen, es bei Taten mit geringerem Unrechtsgehalt gar nicht erst zur Strafverfolgung kommen zu lassen. Falls das verratene Dienstgeheimnis auch ein privates sei, habe es die verletzte Privatperson in der Hand, Strafantrag wegen Verletzung von Privatgeheimnissen zu stellen.41 An diesen Zweckbestimmungen hat der Gesetzgeber auch im Zuge der Verabschiedung des 8. StrÄndG 42 und des 19. StrÄndG 43 festgehalten. Danach verfolgt der Gesetzgeber mit dem Ermächtigungserfordernis einen doppelten Zweck: Es sollen einerseits nicht strafwürdige Fälle ausgeschieden44 und die Strafbarkeit auf schwerwiegende Fälle beschränkt werden, und es soll andererseits verhindert werden, dass die Durchführung des – öffentlichen – Strafverfahrens weitere Nachteile für das Staatswohl oder die Erfüllung öffentlicher Aufgaben mit sich bringt.45 Diese Sicht der Dinge erfährt auch in der Literatur Unterstützung.46 Aus alledem folgt, dass die Versagung einer Ermächtigung alternativ oder kumulativ auf zwei Gründe gestützt werden kann. Sie kann zum einen auf der Besorgnis beruhen, dass die Durchführung des Strafverfahrens weitere Nachteile für öffentliche Interessen 47 mit sich bringen würde. Insoweit handelt es sich um eine Abwägungsentscheidung mit prognostischen Elementen, in welche die durch die Offenbarung gefährdeten wichtigen öffentlichen Interessen einzustellen sind.48 Zum anderen kann die Versagung der Ermächtigung mit Erwägungen zur Strafbarkeit und zur Strafbedürftigkeit der Geheimnisoffenbarung gerechtfertigt werden. Die Behörde darf eine eigene Strafbarkeitsprüfung vornehmen, deren Ergebnis auch sein kann, dass ein Geheimnisbruch entgegen der Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft zu verneinen ist, wie z.B. dann, wenn die Behörde eine vorsätzliche oder fahrlässige Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen durch den Geheimnis-
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E 1962, Begr. S. 670. E 1962, Begr. S. 670. 42 RegE eines 8. StrÄndG, BT-Drucks. V / 898, S. 42. 43 RegE eines 19. StrÄndG, BT-Drucks. 8 / 3067, S. 6. 44 Auf den Zweck der Vermeidung unnötiger Strafprozesse weist auch BVerfGE 28, 191, 200 hin. 45 Der RegE (Fn. 43) verweist dabei auf die Anwendung des den §§ 153c Abs. 2, 3, 153d StPO zugrunde liegenden Rechtsgedankens. 46 Vgl. LK/Vormbaum, 12. Aufl. 2009, § 353b Rn. 1; MK/Graf, 2. Aufl. 2014, § 353b Rn. 95; S/S/W/Bosch, 2. Aufl. 2014, § 353b Rn. 17; Fischer (Fn. 20), § 353b Rn. 16. 47 Vgl. den bereits erwähnten Rechtsgedanken der §§ 54, 153c Abs. 2, 3 153d StPO. 48 Vgl. auch Krauth/Kurfess/Wulf JZ 1968, 731, 732. 41
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verrat für nicht gegeben erachtet.49 Die Behörde kann aber selbst bei grundsätzlicher Bejahung der Strafbarkeit von der Erteilung einer Ermächtigung absehen, wenn sie den Fall für nicht strafwürdig hält, insbesondere etwa dann, wenn sie der Meinung ist, dass disziplinarische Maßnahmen zur Ahndung ausreichen.50 In umgekehrter Formulierung ist mithin festzustellen, dass die Erteilung einer Ermächtigung in Betracht kommt, wenn (auch) die Behörde einen strafbaren und (!) auch strafwürdigen Fall der Verletzung des Dienstgeheimnisses annimmt. Im Falle Friedrich hängt die Entscheidung nach alledem davon ab, ob man hier eine strafwürdige Verletzung des Dienstgeheimnisses annehmen will. Insoweit kann man schon die Strafbarkeit des Verhaltens des früheren Bundesinnenministers und jedenfalls den Umfang einer etwaigen Strafbarkeit in Zweifel ziehen.51 Im Übrigen spricht aber vieles dafür, dass es sich jedenfalls nicht um eine strafbedürftige Gesetzesverletzung gehandelt hat, mag gegen einen Minister auch kein Disziplinarverfahren stattfinden können (§ 8 BMinG). Der Bundesminister des Innern hätte also gute Gründe gehabt (und hat sie immer noch), die Ermächtigung nicht zu erteilen oder eine erteilte Ermächtigung wieder zurückzunehmen. Doch bleibt die Erteilung der Ermächtigung auch in diesem Fall eine Entscheidung von erheblicher politischer Bedeutung.52
III. Der Tatbestand des § 353b Abs. 1 StGB Dass der ehemalige Minister Friedrich tauglicher Täter einer Straftat nach § 353b StGB ist, steht fest (§ 11 Abs. 1 Nr. 2b StGB, § 1 BMinG). Die ihm vom Präsidenten des BKA mitgeteilte – und damit anvertraute 53 – Tatsache, dass der Abgeordnete Edathy auf einer Liste der kanadischen Polizei mit 49 Wenn die Behörde die Ermächtigung erteilt, sind Staatsanwaltschaft und Gericht natürlich nicht an die der Ermächtigung ggf. zugrunde liegende Rechtsbeurteilung gebunden, so mit Recht BGHSt 10, 276, 277 f. (gegen RGSt 74, 110, 111 f.). 50 Vgl. E 1962, Begr. S. 669. 51 Dazu sogleich sub III., IV. 52 Vgl. dazu den Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zum 8. StrÄndG, BT-Drucks. V / 2860, S. 27. Der Vorwurf einer politischen Ausübung des Ermessens bei der Erteilung der Ermächtigung kann natürlich nie ausgeschlossen werden. Das mag dazu führen, dass eine Behördenleitung im Einzelfall davor zurückschreckt, die Ermächtigung zu versagen, wenn sie befürchten muss, der politischen Vetternwirtschaft geziehen zu werden. Trotz alledem ist am Ermächtigungserfordernis festzuhalten; zutr. MK/Graf (Fn. 46), § 353b Rn. 95. 53 „Anvertraut“ ist ein Geheimnis dann, wenn es dem Täter in der Erwartung und mit der Maßgabe zugänglich gemacht wird, er werde darüber dienstliche Verschwiegenheit bewahren. Vgl. dazu näher LK/Vormbaum (Fn. 46), § 353b Rn. 13; MK/Graf (Fn. 46), § 353b Rn. 29; NK/Kuhlen, 4. Aufl. 2013, § 353b Rn. 17, jeweils m.w.N.
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Bestellern offenbar pädophilen Bildmaterials auftaucht, ist auch als Geheimnis i.S.d. § 353b StGB zu bewerten. Zwar wird der Begriff des Dienstgeheimnisses im StGB nicht definiert,54 doch geht man allgemein und zutreffend davon aus, dass Geheimnisse i.S.d. § 353b StGB Tatsachen sind, die nur einem begrenzten Personenkreis bekannt sind und der Geheimhaltung bedürfen.55 Ob ein Geheimhaltungsbedürfnis besteht, richtet sich nach den bereichsspezifischen Geheimhaltungsbestimmungen. Bundesminister sind nach § 6 Abs. 1 S. 1 BMinG verpflichtet, über die ihnen amtlich bekanntgewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren. Das Gesetz geht damit selbst von der Geheimhaltungsbedürftigkeit ministeriell in Erfahrung gebrachter Tatsachen aus. Jedoch sind Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen, ausgenommen (§ 6 Abs. 1 S. 2 BMinG). Das entspricht der strafrechtlichen Beurteilung, weil in diesen Fällen schon gar kein Geheimnis vorliegt. Dass das Geheimnis umgekehrt eines solches wäre, an dem ein wichtiges öffentliches Interesse besteht,56 fordert das Gesetz nicht.57 Eine andere Betrachtungsweise würde unabhängige Tatbestandsmerkmale (Geheimnis, Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen) „verschleifen“ und wäre demnach verfassungsrechtlich nicht haltbar.58 Die Friedrich gegebenen Informationen bilden aber auch ein privates Geheimnis des Abgeordneten Edathy, in zwar in einer doppelten Richtung. Das betrifft zum einen die Tatsache, dass gegen ihn strafrechtlich ermittelt wird und zum anderen die aus dem Sachverhalt zu erschließende Tatsache, dass Edathy u.U. pädophilen Neigungen nachgegangen ist, die nach dem Urteil von Psychologen und Medizinern behandlungsbedürftig sein können. Der Umstand, dass hier auch ein Privatgeheimnis betroffen ist, ändert aber nichts an der Anwendbarkeit des § 353b StGB.59 Dienstliche Geheimhaltungsinteressen können auch an privatnützigen Geheimnissen bestehen, wie gerade an dem vorliegenden Fall deutlich wird. Denn bei strafrechtlichen Ermittlungen sind stets (auch) private Geheimnisse betroffen. Wollte man anders entscheiden, so wäre § 353b StGB beim Bruch von Ermittlungsgeheimnissen generell unanwendbar, was nicht richtig sein kann.
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Anders ist das beim Staatsgeheimnis, vgl. § 93 Abs. 1 StGB. Zum Geheimnisbegriff bei § 353b StGB vgl. BGH NJW 2013, 549, 551; NStZ 2000, 596, 598; BGHSt 10, 108; 46, 339, 340 ff.; 48, 126, 129; Maurach/Schroeder/Maiwald StrafR BT, Teilbd. 2, 10. Aufl. 2012, § 81 Rn. 19; SK/Hoyer, § 353b Rn. 4 (März 2011); Laufhütte GA 1974, 52, 58. 56 So aber Sch/Sch/Perron (Fn. 15), § 353b Rn. 6. 57 Zutr. BGHSt 46, 339 342 f. 58 Zum „Verschleifungsverbot“ vgl. BVerfGE 126, 170 (211) – zu § 266 StGB. 59 Sog. „Individualgeheimnis“, vgl. SK/Hoyer (Fn. 55), § 353b Rn. 4; LK/Vormbaum (Fn. 46), § 353b Rn. 8; BayObLG NStZ-RR 1999, 299; s. auch BVerfGE 55, 274, 297, 299. 55
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Die Weitergabe der erhaltenen Informationen an den Vorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, stellt auch ein Offenbaren von Dienstgeheimnissen dar. Offenbaren i.S.d. § 353b StGB ist ein Verhalten, das einer anderen Person Kenntnis von dem Geheimnis verschafft, die davon bisher keine sichere Kenntnis hatte, mag diese auch selbst schweigepflichtig sein.60 An einem normwidrigen Offenbaren fehlt es allerdings,61 wenn es sich um eine „Mitteilung im dienstlichen Verkehr“ (§ 6 Abs. 1 S. 2 BMinG) gehandelt hätte.62 „Dienstlicher Verkehr“ ist der inner- oder zwischenbehördliche Informationsaustausch.63 Um einen solchen Verkehr hat es sich hier aber nicht gehandelt, weil der Parteivorsitzende der SPD, auch soweit er Abgeordneter des Deutschen Bundestages ist, wie eine Privatperson zu behandeln ist.64 Der Täter des § 353b Abs. 1 StGB muss durch die Tat („und dadurch“) wichtige öffentliche Interessen konkret65 gefährdet haben. Nach Lage der Dinge, soweit sie bekanntgeworden sind, soll der Abgeordnete Edathy über die bevorstehenden Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden sein, so dass er in der Lage war, selbstbegünstigende Handlungen vorzunehmen. Die Gefährdung oder Vereitelung des Erfolgs von Strafverfolgungsmaßnahmen stellt eine Gefährdung (in Wahrheit schon eine Verletzung) wichtiger öffentlicher Interessen dar.66 Dieser konkrete Gefahrerfolg wäre dem Minister Friedrich aber nur zurechenbar, wenn Edathy über die Schiene Gabriel, Oppermann etc. gewarnt worden wäre. Das wird sich aber aller Voraussicht nach kaum nachweisen lassen, weil es durchaus andere Informationskanäle auf Länderebene gegeben haben kann. Unter dieser Prämisse kommt somit allenfalls eine versuchte Verletzung des Dienstgeheimnisses (mit fahrlässiger Erfolgskomponente) gemäß §§ 353b Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 11 Abs. 2 StGB in Betracht, wobei streitig ist, ob diese Versuchskonstruktion überhaupt dem
60
Sch/Sch/Perron (Fn. 15), § 353b Rn. 8; LK/Vormbaum (Fn. 46), § 353b Rn. 21. Diese Einschränkung ergibt sich aus den Regeln der objektiven Zurechnung. 62 Es besteht deshalb entgegen Kuhlen (NK/Kuhlen [Fn. 53], § 353b Rn. 20) in diesen Fällen kein Bedarf dafür, die Unbefugtheit der Offenbarung i.S.e. Tatbestandsausschlusses zu verneinen. 63 Düwel Das Amtsgeheimnis, 1965, S. 83; s. auch Battis BBG, 4. Aufl. 2009, § 67 Rn. 8. 64 Wieland („Staatsrechtler verteidigt Bundesminister Friedrich“, Handelsblatt v. 14.02. 2014) will dagegen ein Recht Gabriels auf Information aus Art. 38 Abs. 1 GG herleiten. Das geht jedoch fehl, richtig Schoch Information ist ein gefährliches Gut, FAZ v. 20.2.2014. 65 Vgl. BGH NJW 2013, 549, 550; BGHSt 46, 339, 343 = StV 2002, 24 m. Anm. Behm = JZ 2002, 48 m. Anm. Perron; BGHSt 48, 126, 132 = JR 2003, 511 m. Anm. Hoyer; Maurach/ Schroeder/Maiwald (Fn. 55), § 81 Rn. 21. 66 Zur Einwirkung auf den Gang der Ermittlungen als Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen vgl. BGHSt 10, 276 ff.; 46, 339 ff.; 52, 220 ff. Dass die Erfolgsaussichten des Ermittlungsverfahrens insoweit ohne Belang sind, stellt BGHSt 10, 276, 277 klar. Zur Geheimhaltungsbedürftigkeit von Einträgen im polizeilichen Informationssystem POLIS vgl. BGH NJW 2013, 549 ff. 61
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Gesetz entspricht.67 Nun lässt die Rechtsprechung bekanntlich auch eine mittelbare Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen genügen, falls durch die Offenbarung das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität der Behörde (hier: des Bundesministeriums des Innern) beeinträchtigt wäre.68 Bei der Prüfung der Frage, ob das der Fall sein kann, bedarf es der Berücksichtigung von Inhalt und Umfang der offenbarten Umstände, ihrer in Aussicht genommenen Verwendung und der Person des Amtsträgers selbst.69 Legt man diesen Maßstab an, so dürfte eine mittelbare Gefährdung i.S.e. Ansehensverlustes deutlich zu verneinen sein. Das gilt insbesondere mit Rücksicht auf die Person des Offenbarenden, den Zweck der Offenbarung und den Empfänger der Information, von dem Vertraulichkeit zu erwarten war. Aus diesem Grunde bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob die Rechtsfigur der mittelbaren Gefährdung überhaupt Anerkennung verdient oder nicht.70 Bleibt man also bei der Versuchskonstellation, so taucht die weitere Frage auf, ob man überhaupt von einem fahrlässigen Verhalten Friedrichs ausgehen kann. Er hat ersichtlich darauf vertraut, dass Gabriel über die ihm gegebene Information Stillschweigen bewahren werde.71 Der Fall liegt damit anders als bei einer Information der Presse oder bei direkter Information von Personen, die selbst von dem Geheimnis betroffen sind. Es spricht also vieles dafür, dass bereits der Tatbestand einer vollendeten oder versuchten Verletzung des Dienstgeheimnisses nicht erfüllt ist.
IV. Rechtfertigungsgründe? Nur vorsorglich sei deshalb die Frage angesprochen, ob das Verhalten des ehemaligen Bundesministers Friedrich auch ein unbefugtes war. Das Erfordernis der Unbefugtheit der Geheimnisoffenbarung nimmt Bezug auf Fälle, in denen der Täter eine Offenbarungspflicht oder ein Offenbarungsrecht hat.72 Diese Rechte und Pflichten können sich aus allgemeinen oder besonderen (bereichsspezifischen) gesetzlichen Vorschriften oder aus allgemeinen
67 Abl. LPK/Kindhäuser (Fn. 6), § 353b Rn. 16; NK/Kuhlen (Fn. 53), § 353b Rn. 42; LK/ Vormbaum (Fn. 46), § 353b Rn. 38; dafür Fischer (Fn. 20), § 353b Rn. 14; Sch/Sch/Perron (Fn. 15), § 353b Rn. 22; SK/Hoyer (Fn. 55), § 353b Rn. 9; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 55), § 81 Rn. 22; Maiwald JuS 1977, 353, 360. 68 Zur mittelbaren Gefährdung vgl. etwa RG DStR 1938, 321; BGH NStZ 2000, 596, 598; BGHSt 48, 126, 132. 69 BGH NStZ 2000, 596, 598; BGHR StGB § 353b Abs. 1 – Interessen, öffentliche 1. 70 Mit Recht abl. etwa Sch/Sch/Perron (Fn. 15), § 353b Rn. 9; NK/Kuhlen (Fn. 53), § 353b Rn. 28; SK/Hoyer (Fn. 55), § 353b Rn. 8. 71 Vgl. den Fall BGHSt 20, 342, 350 (Information eines Rechtsanwalts). 72 Sch/Sch/Perron (Fn. 15), § 353b Rn. 21.
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Rechtsgrundsätzen ergeben.73 In der Literatur ist umstritten, ob mit dem Merkmal „unbefugt“ – wie die h.L. annimmt74 – nur auf die Rechtswidrigkeit des Verhaltens (i.e. auf mögliche Rechtfertigungsgründe) verwiesen wird oder ob das Merkmal eine Doppelfunktion hat, ihm also sowohl für die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens als auch für seine Rechtswidrigkeit Bedeutung zukommt.75 Von dem Streit hängt praktisch wenig ab,76 doch sei an dieser Stelle angemerkt, dass die h.L. die besseren Gründe für sich ins Feld führen kann. Alle von den Gegenansichten benannten Problemfälle (insbesondere die Mitteilungen im dienstlichen Verkehr und die Aussagen nach Erteilung einer Aussagegenehmigung) lassen sich mit den Grundsätzen der objektiven Zurechnung ohne Weiteres lösen. Damit bleiben im Ergebnis nur Fälle übrig, die sämtlich auf der Rechtfertigungsebene gelöst werden können und im Übrigen auch gelöst werden müssen. 1. Was nun mögliche Rechtfertigungsgründe anbelangt, ist als erstes an eine Einwilligung zu denken.77 Das liegt deshalb nahe, weil Hans-Peter Friedrich als ehemaliger Bundesinnenminister als Geheimnisherr betrachtet werden könnte. Das scheitert aber wohl schon daran, dass Friedrich nicht selbst in eigenes Verhalten einwilligen kann, wie nach den entsprechenden Ausführungen zur Ermächtigung bereits deutlich geworden sein sollte. Darüber hinaus dürfte ihm das Verfügungsrecht über das hier betroffene Ermittlungsgeheimnis fehlen.78 Dass dies so ist, ergibt sich freilich auch aus einer anderen Erwägung. Bundesminister dürfen nämlich nach § 6 Abs. 2 BMinG über amtlich bekanntgewordene Angelegenheiten ohne Genehmigung der Bundesregierung 79 weder vor Gericht noch außergerichtlich aussagen oder Erklärungen abgeben. Damit scheidet eine Rechtfertigung kraft Einwilligung aus. 73
Der RegE eines EGStGB (BT-Drucks. 7 / 550, S. 243, 236) formuliert das dahingehend, „dass nach einschlägigen gesetzlichen Regelungen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu prüfen ist, ob das im übrigen tatbestandsmäßige Verhalten straflos ist.“ Das gilt mutatis mutandis auch für § 353b StGB. Vgl. dazu auch Rogall NStZ 1983, 1, 6. 74 LK/Vormbaum (Fn. 46), § 353b Rn. 29, 54; Fischer (Fn. 20), § 353b Rn. 18; SK/Hoyer (Fn. 55), § 353b Rn. 14; S/S/W/Bosch (Fn. 46), § 353b Rn. 11. 75 Dafür NK/Kuhlen (Fn. 53), § 353b Rn. 20 ff., 48, 51 ff.; MK/Graf (Fn. 46), § 353b Rn. 46; Kunze Das Merkmal „unbefugt“ in den Strafnormen des Besonderen Teils des StGB, 2014, S. 225 ff., 228 ff. 76 Bohnert NStZ 2004, 301, 303 m. Fn. 31: „Die Eingruppierung hat für das Verhältnis Einverständnis/Einwilligung Bedeutung.“ 77 Zur Einwilligung als Rechtfertigungsgrund bei § 353b StGB vgl. MK/Graf (Fn. 46), § 353b Rn. 47 f. m.w.N. Der E 1962 sah das Fehlen der Genehmigung des Dienstvorgesetzten als Tatbestandsmerkmal vor, vgl. E 1962, S. 669. 78 Vgl. dazu BGHSt 52, 220, 221. Allerdings hatte die zuständige Ministerin den Beschuldigten in diesem Fall unmittelbar angesprochen. Das ist ein erheblicher Unterschied zum Fall Friedrich. 79 D.h. nicht der Bundeskanzlerin allein. Wenn gesagt wird, Friedrich habe die Bundeskanzlerin unterrichten müssen (vgl. Schoch [Fn. 64]), so führt das nicht weiter.
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2. Es besteht damit nur noch die Möglichkeit einer Rechtfertigung nach § 34 StGB.80 Betrachtet man die abzuwägenden widerstreitenden Interessen, so stehen sich hier das im Ermittlungsgeheimnis verkörperte Strafverfolgungsinteresse und das Staatsinteresse an der Bildung einer funktionsfähigen Regierung, an der keine Personen beteiligt sind, gegen die strafrechtliche Ermittlungen angestrengt sind, gegenüber. Bei der Interessenabwägung wäre jedenfalls zu berücksichtigen, dass Friedrich seine Erkenntnisse keineswegs dem Beschuldigten selbst weitergegeben hat,81 sondern sich an den Vorsitzenden der SPD gewandt hat, von dem nicht zu erwarten ist, dass er sein Wissen dazu nutzt, Edathy vor Ermittlungen zu warnen. Das schließt zwar ein Offenbaren i.S.d. Gesetzes nicht aus, doch spricht nichts dagegen, diesen Umstand wie schon bei der Fahrlässigkeit auch bei der Interessenabwägung i.R.d. § 34 StGB zu berücksichtigen. Es erscheint deshalb nach Lage der Dinge durchaus nicht ausgeschlossen, im Ergebnis von einem wesentlichen Überwiegen der von Friedrich gewahrten Interessen auszugehen.82 Problematisch erscheint allerdings die Erforderlichkeit der zur Wahrung des geschützten Interesses vorgenommenen Warnung, und zwar unter zwei Aspekten. Zunächst könnte man fragen, ob der Minister Friedrich vor der Information Gabriels nicht die Genehmigung der Bundesregierung hätte einholen müssen. Freilich hätte das nur Sinn gemacht, wenn die Bundesregierung das Verfügungsrecht über das Ermittlungsgeheimnis gehabt hätte. Das ist jedoch ebenso wenig wie beim Bundesinnenminister selbst anzunehmen. Eine dennoch erteilte Genehmigung hätte danach keine entlastende Wirkung für Friedrich gehabt.83 Der zweite Aspekt ist ein zeitlicher. Hätte Friedrich nicht abwarten können und müssen, ob Edathy am Ende der Koalitionsverhandlungen überhaupt für ein Ministeramt oder ein Amt als Parlamentarischer Staatsekretär in Frage gekommen wäre? Hierüber kann man vielleicht ebenso wie bei der Frage des wesentlichen Überwiegens des geschützten Interesses geteilter Meinung sein. Die frühzeitige Information Gabriels lässt sich aber u.U. damit legitimieren, dass sich eine etwaige Kandidatur Edathys zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb der Partei und der SPD-Fraktion so verfestigt haben könnte, dass ein erhöhter und das Geheimnis noch mehr beeinträchti-
80 Diese Möglichkeit wird in der Literatur allgemein bejaht, jedoch stets am Beispiel des Verrats von illegalen Geheimnissen erörtert, wobei dann i.d.R. auf die Entscheidung BGHSt 20, 342 ff. verwiesen wird; vgl. dazu etwa LK/Vormbaum (Fn. 46), § 353b Rn. 35; MK/Graf (Fn. 46), § 353b Rn. 50 ff.; NK/Kuhlen (Fn. 53), § 353b Rn. 51 ff.; offen lassend BGHSt 48, 126, 131. 81 Wie im Falle BGHSt 52, 220, der deshalb hier als Referenz nicht taugt. 82 Eine Rechtfertigung durch Wahrnehmung berechtigter Interessen kommt bei § 353b StGB anerkanntermaßen nicht in Betracht, vgl. dazu nur Sch/Sch/Perron (Fn. 15), § 353b Rn. 21; NK/Kuhlen (Fn. 53), § 353b Rn. 51. 83 Vgl. dazu auch E 1962, S. 669. Eine Weisung der Bundesregierung an Friedrich scheidet hier aus.
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gender Aufklärungsbedarf für Friedrich entstanden wäre. Insgesamt wird man daher sagen können, dass eine Rechtfertigung nach § 34 StGB tatsächlich in Betracht kommt.
V. Ergebnis Der ehemalige Bundesminister des Innern Hans-Peter Friedrich hat sich nach Lage der Dinge weder wegen vollendeter noch wegen versuchter Verletzung von Dienstgeheimnissen (mit fahrlässiger Gefährdung) strafbar gemacht. Der Fall Friedrich/Edathy ist allerdings wieder einmal ein Musterbeispiel für die Unterschiede zwischen Recht und Politik, die vielleicht unvermeidlich, aber nicht immer erfreulich sind.
GmbH-Untreue durch insolvenzauslösende Zahlungen Thomas Rönnau I. Einleitung Einen Bogen zum wissenschaftlichen Lebenswerk von Bernd Schünemann zu schlagen, fällt nicht schwer. Er hat zu vielen Fragestellungen des Strafrechts sowie seinen rechtsphilosophischen und rechtssoziologischen Bezügen tiefschürfende und weiterführende Beiträge geschrieben. Dabei war es ihm im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts immer ein besonderes Anliegen, den überaus komplexen und praktischen Untreuetatbestand (§ 266 StGB) theoretisch stimmig zu erklären. Aus dem damit angesprochenen Reigen von Problemen möchte ich im Folgenden aus Platzgründen nur eine kleine Facette herausschneiden: die mögliche Untreuestrafbarkeit eines GmbHGeschäftsführers, der durch Zahlungen an Gesellschafter die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft verursacht. Für solche Leistungen sieht § 64 S. 3 GmbHG gesellschaftsrechtlich1 eine Ersatzpflicht des Geschäftsführers vor, „soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten“, es sei denn, dies war auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns nicht erkennbar (§ 64 S. 3 i.V.m. S. 2 GmbHG). Es geht demnach um Konstellationen, in denen der Geschäftsführer Liquidität an die Gesellschafter abführt und dadurch die Fähigkeit der Gesellschaft, ihre fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen, beseitigt. Praktisch ist hier u.a. die Rückzahlung von Darlehen, die der GmbH zuvor zur Finanzierung des Unternehmens oder zur Überwindung einer Krise von den Gesellschaftern gewährt wurden. Durch den „rechtzeitigen“ Abzug solcher Mittel vor dem endgültigen Zusammenbruch soll oft eine im Insolvenzverfahren drohende nachrangige Befriedigung (vgl. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) vermieden werden. 1 Nach der herrschenden Meinung, von der hier zunächst ausgegangen wird, verhält sich § 266 StGB akzessorisch zum vorgelagerten (i.d.R. Zivil-)Recht, weshalb zivilrechtlich erlaubtes Verhalten bereits in tatbestandlicher Hinsicht als Untreue ausscheidet; damit ist die Zivilrechtswidrigkeit notwendige, aber nicht ohne weiteres hinreichende Bedingung einer Pflichtverletzung. Bernd Schünemann hat demgegenüber stets die These von der sektoralen Zivilrechtsakzessorietät bzw. Zivilrechtsaffinität vertreten, der zufolge die Normen des vorgelagerten Rechts erst auf der Rechtsfertigungsebene wirken, s. dazu zuletzt Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2012, § 266 Rn. 92 ff. m.w.N.
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Bis zur großen Reform des GmbHG durch das am 1.11.2008 in Kraft getretene MoMiG spielte in diesem Zusammenhang vor allem das Eigenkapitalersatzrecht eine wesentliche Rolle.2 Die Rückzahlung eigenkapitalersetzender Darlehen, die trotz des formalen Charakters als Fremdkapital rechtlich weitgehend wie Eigenkapital behandelt wurden und einem Auszahlungsverbot analog § 30 GmbHG unterlagen,3 führte nach der herrschenden Meinung im Strafrecht zur Strafbarkeit wegen Untreue.4 Nachdem das MoMiG das Eigenkapitalersatzrecht abgeschafft hat5, ist die Frage aufgetreten, inwieweit Zahlungen i.S.d. durch dieselbe Reform eingeführten § 64 S. 3 GmbHG die Untreuestrafbarkeit begründen und auf diese Weise die entstandene „Schutzlücke“ füllen können6. Auch war die Untreuerelevanz der GmbH-rechtlichen Insolvenzverursachungshaftung jüngst Gegenstand einer Entscheidung des OLG Stuttgart7 sowie weiterer Beiträge aus der Feder von „Praktikern“8. Ziel dieses Aufsatzes ist es, das offensichtlich praktisch relevante Thema mit einem angemessenen theoretischen Rahmen zu unterfüttern. Es war nicht zuletzt der Jubilar, der die heute omnipräsente Organuntreue auf das Tableau der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion gebracht hat.9 Ihm war stets bewusst, dass damit eine Verlagerung der Auseinandersetzung weg von der über Jahrzehnte im Vordergrund stehenden ausreichenden Täterqualifikation hin zu Fragen der Pflichtverletzung und des Schaden einhergeht10 – eine Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahren mit einer geradezu beispiellosen Dynamik fortgesetzt hat.11 Auch in diesem Beitrag
2
Knapper Überblick m.w.N. bei Scholz/Verse GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 30 Rn. 107. Dazu grundlegend BGHZ 31, 258, 272 f. (dort aufgestellte Grundsätze später als sog. „Rechtsprechungsregeln“ bezeichnet). 4 BGH wistra 2008, 379, 380 m.w.N. aus dem Schrifttum; wistra 2006, 309, 310; NStZ 2003, 545, 546; ausf. Bittmann in: ders. (Hrsg.), InsolvenzstrafR, 2004, § 16 Rn. 118 ff., insb. Rn. 120 u. 123. 5 Im Zuge des MoMiG wurde die gesetzliche (Teil-)Regelung des Eigenkapitalersatzrechts in den §§ 32a/32b GmbHG a.F. ersatzlos gestrichen und die Fortführung der Rechtsprechungsregeln durch die Schaffung von § 30 Abs. 1 S. 3 GmbHG unterbunden (sog. „Nichtanwendungserlass“, vgl. Hölzle GmbHR 2007, 729, 732); ausführlich zur Neuregelung pars pro toto Scholz/K. Schmidt GmbHG, 10. Aufl. 2010, §§ 32a/b a.F. Nachtrag MoMiG Rn. 1 ff. 6 Dies erörtert Bittmann GmbHR 2007, 70, 73 f.; ders. wistra 2007, 321, 324 f.; weiterhin ders. NStZ 2009, 113, 118; ders. wistra 2009, 102, 103; Livonius wistra 2009, 91, 94 f. 7 OLG Stuttgart wistra 2010, 34. 8 Maurer/Wolf wistra 2011, 327 ff.; Weiß GmbHR 2011, 350 ff.; zur Untreue wegen eines Verstoßes gegen § 64 S. 3 GmbHG durch die Bestellung sog. upstream securities im Konzern ferner Mahler GmbHR 2012, 504 ff. 9 S. vor allem Schünemann Organuntreue. Das Mannesmann-Verfahren als Exempel?, 2004; weiterhin ders. NStZ 2006, 196 ff.; ders. NStZ 2005, 473 ff. 10 Schünemann NStZ 2006, 196. 11 Es ist daher alles andere als verwunderlich, dass sämtliche vom Verf. auf dem 3. Karlsruher Strafrechtsdialog im Jahr 2011 unter dem Titel „Die Zukunft des Untreuetatbestan3
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sollen Tathandlung und Taterfolg des § 266 StGB im Vordergrund stehen. Zunächst wird daher die Pflichtwidrigkeit12 von gegen § 64 S. 3 GmbHG verstoßenden Zahlungen geprüft (II.). Anschließend gilt es zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen diese Zahlungen den Eintritt eines Vermögensnachteils zur Folge haben können (III.), bevor der Beitrag unter IV. mit einem knappen Fazit endet. Dass der Geschäftsführer einer GmbH an sich tauglicher Täter der Untreue ist, bedarf hingegen keiner besonderen Erörterung.13 Um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, bleibt außerdem die in der wissenschaftlichen Diskussion zur GmbH-Untreue häufig im Vordergrund stehende Frage nach den Auswirkungen eines Einverständnisses der Gesellschafter(mehrheit) ausgeklammert.14 Auch beschränken sich die nachstehenden Ausführungen auf Fälle, in denen auf im Grundsatz fällige und einredefreie15 Verbindlichkeiten gezahlt wird (sog. kongruente Deckung). Inwiefern demgegenüber rechtsgrundlose Zahlungen unter § 266 StGB fallen können, ist ein weitgehend anders gelagertes Problem,16 von dessen Erörterung – obwohl reizvoll – hier ebenfalls abgesehen wird.
des“ thematisierten Fragen diese beiden Aspekte betrafen, vgl. Rönnau in: Jahn/Nack (Hrsg.), Gegenwartsfragen des europäischen und deutschen Strafrechts, 2011, S. 57 ff. 12 Der folgende Beitrag unterscheidet nicht zwischen Missbrauchs- und Treubruchsuntreue, sondern spricht einheitlich von „Pflichtwidrigkeit“ bzw. „Pflichtverletzung“, auch wenn der Jubilar die diesem Verständnis zu Grunde liegende (mittlerweile ganz herrschende) sog. streng monistische Untreuekonzeption stets mit Verve bekämpft hat, s. zuletzt LK/Schünemann (Fn. 1), § 266 Rn. 13 ff., der jedoch einräumt, dass aus Gründen der (verfassungsrechtlich verbürgten) Rechtssicherheit eine Abkehr von der ständigen Rechtsprechung nicht mehr zulässig sein dürfte; für die h.M. statt Vieler Satzger/Schluckebier/ Widmaier/Saliger StGB, 2. Aufl. 2014, § 266 Rn. 6 m.w.N. zum Streitstand. 13 Vgl. dazu nur Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 266 Rn. 48 m.w.N. 14 Dazu m.w.N. zum Streitstand Rönnau FS Amelung, 2009, S. 247 ff. (im Ergebnis für die GmbH der sog. strengen Gesellschaftertheorie folgend, wonach das Einverständnis aller Gesellschafter stets zum Wegfall der Pflichtwidrigkeit führt); weitgehend für die h.M. demgegenüber LK/Schünemann (Fn. 1), § 266 Rn. 249 ff., der das Einverständnis für unwirksam hält, wenn kumulativ das Stammkapital angegriffen und die Existenz konkret gefährdet wird (a.a.O. Rn. 253); zur weniger diskutierten Frage, ob bereits ein Mehrheitsbeschluss der Gesellschafter ausreicht, (bejahend) etwa Soyka Untreue zum Nachteil von Personengesellschaften, 2008, S. 169 ff.; krit. dazu u.a. Brand Untreue und Bankrott in der KG und GmbH & Co KG, 2010, S. 58 f. 15 Die Einredefreiheit wird insoweit eine Rolle spielen, als u.U. gerade die Tatsache, dass eine Zahlung gegen § 64 S. 3 GmbHG verstoßen würde, eine Einrede der Gesellschaft begründet. 16 Siehe jüngst BGH NJW 2013, 401 m. teils krit. Bespr. Wessing NZG 2013, 494 und abl. Bspr. Cornelius NZWiSt 2013, 166. Bei dieser Fallgruppe geht es neben dem ausreichenden Vermögensbezug der Pflicht vornehmlich um die Frage, ob allein die Rechtsgrundlosigkeit normativ zwingend den nachteiligen Charakter der Zahlung begründet oder nicht vielmehr der wirtschaftliche Wert einer etwaig erbrachten Leistung als Kompensation zu berücksichtigen ist.
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II. Insolvenzauslösende Zahlungen als Pflichtverletzung i.S.d. § 266 Abs. 1 StGB Verstöße eines vermögensbetreuungspflichtigen Täters gegen an ihn adressierte (außerstrafrechtliche) Normen sind i.d.R. nur dann Pflichtverletzungen gem. § 266 Abs. 1 StGB, wenn diese Vorschriften ihrer ratio legis nach einen hinreichenden Bezug zum Treugebervermögen aufweisen (1.). Daher wird zu untersuchen sein, inwieweit diese Voraussetzung bei 64 S. 3 GmbHG erfüllt ist (2.). Nicht behandelt werden kann hier aus Raumgründen die Frage, wann eine Leistung unter diese Vorschrift fällt. Insofern muss auf die gesellschaftsrechtliche Spezialliteratur verwiesen werden, in der – angesichts der relativ jungen Vorschrift wenig überraschend – bei weitem nicht alle Fragen abschließend geklärt sind.17 Allerdings ist Art. 103 Abs. 2 GG nach vorzugswürdiger Auffassung auf das dem Untreuetatbestand vorgelagerte Recht unabhängig davon anzuwenden, ob es sich bei der Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 266 StGB um ein normatives Tatbestandsmerkmal oder eine Blankettverweisung handelt.18 Daher ist eine Auslegung gesellschaftsrechtlicher Begriffe stets auf ihre Vereinbarkeit mit Analogieverbot und Bestimmtheitsgrundsatz zu überprüfen.19 1. Der Vermögensbezug der verletzten Primärnorm als Restriktionskriterium Das Verhalten einer an sich vermögensbetreuungspflichtigen Person ist im Grundsatz pflichtwidrig i.S.d. § 266 StGB, wenn es im Widerspruch zu dem Pflichtenprogramm steht, dem der Treunehmer unterworfen ist.20 Maßgeb-
17 Eine umfassende Darstellung der Norm aus der Zeit der Entstehungsgeschichte bietet Knof DStR 2007, 1536 ff. und 1580 ff.; eingehend ferner etwa Scholz/K. Schmidt GmbHG, 10. Aufl. 2010, § 64 Rn. 64 ff.; kürzere Beiträge z.B. bei Kleindiek GWR 2010, 75 ff. und Desch BB 2010, 2587 ff. 18 Vgl. dazu Rönnau ZStW 119 (2007), 887, 903 ff. m.w.N. (auch zur abweichenden h.M.). 19 Insoweit auch Bittmann wistra 2007, 321, 325. Indes kann eine tatbestandlich nicht von § 64 S. 3 GmbHG erfasste Handlung gleichwohl unter die (allgemeine) untreuestrafrechtliche Existenzvernichtungshaftung fallen, ebenso Bittmann NStZ 2009, 113, 118; zum Charakter des § 64 S. 3 GmbHG als Teilausschnitt der Existenzvernichtungshaftung s. BT-Drucks. 16/6140, S. 46; allg. zu dieser Fallgruppe aus untreuestrafrechtlicher Sicht unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen „Trihotel-Entscheidung“ Radtke/Hoffmann GA 2008, 535 ff.; für einen Wegfall der Existenzvernichtungshaftung aufgrund der dogmatischen Neuorientierung durch jene Entscheidung hin zu einer deliktsrechtlichen Innenhaftung (§ 826 BGB) Weller ZIP 2007, 1681, 1688 und Livonius wistra 2009, 91, 93 f.; dagegen überzeugend BGHSt 54, 52, 59 f. 20 Statt Vieler Fischer (Fn. 13), § 266 Rn. 28 (für die Missbrauchsvariante) und Rn. 58 (für die Treubruchsvariante).
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lich sind hier vornehmlich der Inhalt der individuellen Treuabrede, Satzungen sowie einschlägige gesetzliche Vorschriften, beim GmbH-Geschäftsführer vor allem solche des GmbHG. Demnach ist sowohl im Gesellschafts- als auch im Strafrecht zunächst der in § 43 Abs. 1 GmbHG für den Geschäftsführer fixierte zentrale gesellschaftsrechtliche Sorgfaltsmaßstab („Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“) das wesentliche Kriterium für die Bewertung möglichen untreuerechtlich relevanten Verhaltens.21 Bei Zahlungen, die unter § 64 S. 3 GmbHG fallen, ignoriert der Geschäftsführer eine an ihn adressierte gesetzliche Vorschrift, deren Beachtung ihm im Rahmen seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht (§ 43 Abs. 1 GmbHG) obliegt.22 Indes enthält nicht jeder Pflichtverstoß des Geschäftsführers zugleich die Verletzung einer qualifizierten Vermögensbetreuungspflicht i.S.d. Untreue. Die Rechtsprechung verlangte hier zunächst einen inneren Zusammenhang zwischen der konkret verletzten Pflicht und der spezifischen Vermögensbetreuungspflicht, um so insbesondere gewöhnliche Schuldnerpflichten, die auch durch einen nicht qualifiziert verpflichteten Täter verletzt werden können, aus dem Anwendungsbereich des § 266 StGB auszugrenzen.23 Vor allem im Zusammenhang mit der Organ-24 sowie der Parteienuntreue25 hat das Schrifttum dann ein differenzierteres Instrumentarium entwickelt und dabei die Forderung nach einem (Fremd-)Vermögensbezug der konkret verletzten Pflicht besonders hervorgehoben.26 Dieses Kriterium ist in der Rechtsprechung inzwischen mehrfach aufgegriffen worden.27 Ausgangspunkt war ein Beschluss des 1. BGH-Strafsenats, in dem das Gericht unter Anknüpfung an den Untreue-Beschluss des BVerfG aus dem Juni 201028 Leitlinien zum Anwendungsbereich der Organuntreue bei Verstößen gegen die gesellschaftsrechtliche Legalitätspflicht formuliert hat. Eine restriktivere Handhabung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals macht es danach erforderlich, dass bei Nichteinhaltung gesetzlicher Vor-
21 BGH NJW 2010, 3458, 3460; Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 43 GmbHG Rn. 3 (Februar 2006). 22 In diesem Sinne die Untreuerelevanz ohne vertiefende Auseinandersetzung bejahend OLG Stuttgart wistra 2010, 34, 37; Maurer/Wolf wistra 2011, 327, 329. 23 BGH wistra 1986, 256; NStZ 1986, 361, 362; NJW 1988, 2483, 2485; NJW 1992, 250, 251; auch bereits OLG Hamm NJW 1973, 1809, 1811. 24 S. etwa Knauer NStZ 2001, 399, 401 f. (zur Kredituntreue); ferner Kubiciel NStZ 2005, 353, 354 f.; Rönnau/Hohn NStZ 2004, 113, 114. 25 Vgl. insbesondere Saliger Parteiengesetz und Strafrecht, 2005, S. 48 ff.; angedeutet bereits bei Velten NJW 2000, 2852, 2853. 26 Knapper Überblick bei Rönnau (Fn. 11), S. 57, 59 ff. m.w.N.; vertiefend Satzger/ Schluckebier/Widmaier/Saliger (Fn. 12), § 266 Rn. 32 ff. 27 Siehe zuerst BGHSt 55, 288 = NJW 2011, 88 m. Anm. Bittmann = JR 2011, 394 m. Anm. Brand („AUB/Schelsky“); daran anknüpfend BGHSt 56, 203 = NJW 2011, 1747 m. Anm. Brand („Kölner Parteispendenaffäre“) sowie BGH NJW 2013, 401 („DT-AG“). 28 BVerfGE 126, 170 ff.
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schriften „die verletzte Rechtsnorm ihrerseits – wenigstens auch, und sei es mittelbar – vermögensschützenden Charakter für das zu betreuende Vermögen hat, mag die Handlung auch nach anderen Normen pflichtwidrig sein und unter Umständen sogar Schadensersatzansprüche gegenüber dem Treuepflichtigen auslösen“.29 Selbst der durch gesetzeswidriges Verhalten von Organen i.d.R. begründete Verstoß gegen (an sich ihrerseits durchaus vermögensschützende) gesellschaftsrechtliche Sorgfaltsnormen führt nach Ansicht des BGH nicht automatisch zur Strafbarkeit wegen Untreue.30 Diese Rechtsprechung verdient entgegen vereinzelter Kritik31 grundsätzlich Zustimmung. Allerdings ist das damit aufgestellte Kriterium noch konkretisierungsbedürftig.32 Bisweilen wird ein unmittelbarer Vermögensbezug gefordert,33 teils aber – wie auch vom BGH – bereits ein mittelbarer für ausreichend gehalten34. Das BVerfG hat es im Zusammenhang mit Verstößen gegen § 18 KWG sogar genügen lassen, dass diese Vorschrift „jedenfalls faktisch dem Schutz des Vermögens der Bank [dient], unabhängig von der Frage, in wessen Interesse dies letztendlich liegt“.35 Während nun aber die Forderung nach einem unmittelbaren Vermögensbezug zu restriktiv ist,36 geht das in der Formulierung des BVerfG angedeutete Verständnis zu weit. Der untreuespezifische Vermögensbezug einer (i.d.R. außerstrafrechtlichen) Norm setzt voraus, dass die Vorschrift ihrer – durch Auslegung zu ermittelnden – ratio legis nach den Schutz des Treugebervermögens zumindest mittelbar
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BGHSt 55, 288, 301. BGHSt 55, 288, 301 f.; krit. zu der dahinterstehenden Konstruktion Fischer (Fn. 13), § 266 Rn. 60a f. 31 Vor allem Brand/Sperling AG 2011, 233, 237 ff.; außerdem Fischer (Fn. 13), § 266 Rn. 60a f.; teilw. auch Krell NStZ 2014, 62, 64 ff., der eine „Rückbesinnung auf das Treueverhältnis“ fordert und die Bedeutung gesetzlicher Normen demgegenüber für gering hält. Daran ist zutreffend, dass Verstöße gegen Drittnormen keineswegs der einzige denkbare Anknüpfungspunkt für eine Pflichtverletzung sind. So ist in unserem Kontext über § 64 S. 3 GmbHG hinaus auch die weitergehende allgemeine (ungeschriebene) gesellschaftsrechtliche (dazu K. Schmidt GmbHR 2008, 449, 457 f.) Existenzvernichtungshaftung eine potentielle Grundlage für die untreuerechtliche Pflichtwidrigkeit. 32 Insoweit durchaus berechtigte Kritik bei Brand/Sperling AG 2011, 233, 239 f. 33 Dafür Bernsmann GA 2009, 296, 307; Corsten wistra 2010, 206, 207; Dittrich Die Untreuestrafbarkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Festsetzung überhöhter Vorstandsvergütungen, 2007, S. 192 ff.; wohl auch Dierlamm FS Widmaier, 2008, S. 607, 612 („genuin und spezifisch dem Vermögensschutz […] dient“); Loeck Strafbarkeit des Vorstands einer Aktiengesellschaft wegen Untreue, 2006, S. 38, der § 18 KWG als Maßstab für die Pflichtwidrigkeit ablehnt, weil dieser „zumindest nicht allein den Schutz des Vermögens der Kreditinstitute“ bezweckt; nicht näher spezifizierend Bosch/Lange JZ 2009, 225, 227. 34 Rönnau (Fn. 11), S. 57, 59; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Saliger (Fn. 12), § 266 Rn. 32a; Perron GA 2009, 219, 226. 35 BVerfGE 126, 170, 220. 36 S. bereits Rönnau (Fn. 11), S. 57, 59. 30
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(mit-)bezweckt, mögen auch andere Schutzzwecke im Vordergrund stehen.37 Ein rein faktischer Vermögensbezug, der lediglich darin besteht, dass der Treunehmer im Regelungsbereich der Norm tatsächlich mit dem zu betreuenden Vermögen umgeht, reicht dagegen nicht aus. Bei einem solchen Verständnis ginge jegliche Restriktionswirkung des Kriteriums verloren, da der Verstoß gegen jede Art von gesetzlicher Vorschrift immer dann schon unter § 266 StGB fiele, wenn der Treunehmer dabei Geld des Treugebers „in die Hand nimmt“. Es geht aber nicht um den tatsächlichen Vorgang der (gesetzeswidrigen) Weggabe von Treugebervermögen, sondern um die normative Schutzrichtung derjenigen konkreten Pflicht, gegen die der Treunehmer dabei verstößt. 2. Vermögensbezug bei § 64 S. 3 GmbHG Der Wortlaut des § 64 S. 3 GmbHG enthält als solcher keine klaren Anhaltspunkte für oder gegen die Einordnung der Vorschrift als vermögensbezogen. Auch die Systematik vermittelt kein wesentlich präziseres Bild.38 Aufschlussreicher scheint demgegenüber ein Blick in die Gesetzesbegründung der (als Teil des MoMiG) zum 1.11.2008 in Kraft getretenen Vorschrift. Darin heißt es, die Regelung solle „die bestehenden Mechanismen, welche die Gesellschaftsgläubiger gegen Vermögensverschiebungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern schützen“, ergänzen.39 Aber daraus folgt keineswegs automatisch, dass § 64 S. 3 GmbHG ausschließlich dem Schutz von Gläubigerinteressen (der Gläubigergesamtheit) dient, so dass ein Verstoß als Anknüpfungspunkt einer Untreuestrafbarkeit nicht in Betracht käme.40 Gläubigerschutz ist im GmbH-Recht allgegenwärtig, da er das notwendige Gegengewicht zum Prinzip der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten Haftung bildet.41 Mit anderen Worten: Vermögensschutz im GmbH-Recht 37
Satzger/Schluckebier/Widmaier/Saliger (Fn. 12), § 266 Rn. 32 ff. A.A. Weiß GmbHR 2011, 350, 356, der aber übersieht, dass der ex ante den Bestand des Gesellschaftsvermögens sichernde Charakter von § 64 S. 3 GmbHG (dazu sogleich im Haupttext) einen eventuellen systematischen Zusammenhang teleologisch überlagert. Ob im Übrigen § 64 S. 1 GmbHG tatsächlich keinen untreuespezifischen Vermögensbezug aufweist, wie Weiß dies für seine systematische Argumentation unterstellt (ausschließlich „Schutz der Gläubigergesamtheit“), ist keineswegs ausgemacht. Dieser Frage wird in einem gesonderten Beitrag nachgegangen. 39 BT-Drucks. 16 / 6140, S. 46. 40 So der Sache nach aber Weiß GmbHR 2011, 350, 356, der § 266 StGB gleichwohl unter Rückgriff auf das allgemeine Schädigungsverbot für anwendbar hält; ferner Mahler GmbHR 2012, 504, 506, die § 64 S. 3 GmbHG als ausschließlich gläubigerschützend ansieht und eine untreuebewehrte Pflicht des Geschäftsführers aus der allgemeinen Existenzvernichtungshaftung ableitet. 41 S. nur Meyer BB 2008, 1742, die den Gläubigerschutz als „zentralen Topos des GmbH-Rechts“ bezeichnet; die Funktion des Ausgleichs für die aus der Haftungsbeschrän38
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ist wesensmäßig stets (zumindest auch) Gläubigerschutz, weil das GmbHVermögen nicht zuletzt das von Gesetzes wegen zwingend (bis zur Höhe der Stammkapitalziffer) im Interesse der Gläubiger vorzuhaltende Haftkapital ist.42 Damit ist konstruktiv aber ohne weiteres denkbar (und plausibel), dass auch die Vermögeninteressen der Gesellschaft selbst geschützt werden, da das GmbH-Vermögen immer auch die Betriebsgrundlage der Gesellschaft bildet.43 Tatsächlich sprechen die besseren teleologischen Argumente für die Annahme, dass § 64 S. 3 GmbHG auch das Vermögen der GmbH als solches schützen soll.44 Angedeutet findet sich diese Sichtweise trotz der Betonung des Gläubigerschutzes bereits in der Begründung zum RegE des MoMiG, wonach sich die Neuregelung „gegen den Abzug von Vermögenswerten [richtet], welche die Gesellschaft bei objektiver Betrachtung zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten benötigt“ (Hervorhebung vom Verf.) und der Gefahr vorbeugen soll, „dass bei sich abzeichnender Zahlungsunfähigkeit […] Mittel kung resultierende Externalisierung von unternehmerischen Risiken beschreibt Spindler JZ 2006, 839, 840 m.w.N.; zur Entwicklung des Gläubigerschutzes im GmbH-Recht in der jüngeren Vergangenheit (insbesondere MoMiG) Schall Kapitalgesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz, 2009, S. 95 ff.; einen allgemeinen Überblick über die ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen bietet Haas Gutachten E für den 66. DJT, 2006, E 9 ff. 42 Zur untrennbaren Verknüpfung von Gläubiger- und Vermögensschutz s. nur Ulmer FS Pfeiffer, 1988, S. 853, 860; ferner Drenckhan Gläubigerschutz in der Krise der GmbH, 2006, S. 91: Schutz des Gesellschaftsvermögens ist „wesentlicher Bestandteil des gesetzlichen Gläubigerschutzsystems“. 43 Hier scheint es naheliegend, auf ein Argument der Anhänger der strengen Gesellschaftertheorie aus der Debatte um die Wirksamkeit des Einverständnisses der Gesellschafter zurückzugreifen, wonach es zu einer unzulässigen Rechtsgutsvertauschung führt, wenn die Untreue mit dem Verstoß gegen gesellschaftsrechtliche Gläubigerschutzvorschriften (insbesondere § 30 GmbHG) begründet wird. Indes dürfen insoweit unterschiedliche Fragestellungen nicht voreilig vermischt werden. Vorliegend geht es um die Frage, ob ein Verstoß gegen § 64 S. 3 GmbHG überhaupt Anknüpfungspunkt eines Pflichtwidrigkeitsvorwurfs sein kann. Dies ist logisch vorrangig zu prüfen (und zu bejahen), bevor sich die Frage nach den Auswirkungen eines Einverständnisses auf die so ermittelte Pflichtwidrigkeit, also nach einer möglichen Beseitigung der Pflichtwidrigkeit des Verstoßes gegen eine vermögensbezogene Norm durch die Gesellschafterzustimmung überhaupt stellt. Das zeigt, dass die ganz h.M. § 30 GmbHG – im Einklang mit der überwiegenden Auffassung im Gesellschaftsrecht (vgl. zum Schutzzweck des § 30 GmbHG Münchener Kommentar GmbHG/Ekkenga, 2010, § 30 Rn. 15 ff. m.w.N.) – als an sich zumindest auch vermögensschützend ansieht. Anderenfalls läge schon keine untreuespezifische Pflichtwidrigkeit vor und es käme auf die Wirksamkeit des Einverständnisses nicht an, vgl. insgesamt zutreffend in diesem Sinne Arloth NStZ 1990, 570, 572 ff. Spräche man gesellschaftsrechtlichen Schutzvorschriften in toto mangels Vermögensbezuges ihre Relevanz für die Untreue ab, folgte daraus das absurde Ergebnis, dass die Gesellschaft als Treugeberin und Rechtsgutsinhaberin per se über keine eigenen Vermögensinteressen verfügt. 44 Im Ergebnis wie hier Bittmann GmbHR 2007, 70, 73 f., der aber (zu weitgehend) „den Schwerpunkt“ beim Vermögensschutz setzt und Gläubigerinteressen lediglich als „mittelbar“ geschützt ansieht.
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entnommen werden“.45 Diese Ausführungen lassen erkennen, dass § 64 S. 3 GmbHG nicht ausschließlich darauf abzielt, ex post die Rückführung von zu Unrecht geleisteten Zahlungen in die Insolvenzmasse zu gewährleisten, sondern dass die Vorschrift jedenfalls auch ex ante verhindern soll, dass es überhaupt zum Eintritt der Insolvenzreife kommt.46 Die Norm sichert demnach (auch) den Bestand des Gesellschaftsvermögens als Betriebsgrundlage der GmbH, was weiterhin darin zum Ausdruck kommt, dass § 64 S. 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft begründet, so dass die (Darlehens-)Forderung des Gesellschafters nicht durchsetzbar ist.47 Ihrer ratio legis nach soll die Vorschrift somit neben Gläubigerinteressen das Vermögen der Gesellschaft vor seiner „Vernichtung“ durch insolvenzauslösende Zahlungen schützen. Verstöße gegen § 64 S. 3 GmbHG sind damit vermögensbezogen i.S.d. § 266 StGB.
III. Vermögensnachteil bei insolvenzauslösenden Zahlungen Fraglich ist, inwieweit durch entsprechend pflichtwidrige Zahlungen ein Nachteil i.S.d. § 266 StGB (also ein Vermögensschaden) eintritt. Dessen Ermittlung erfolgt bekanntlich im Wege eines Gesamtvermögensvergleichs vor und nach der Tathandlung, also einer Saldierung der Ab- und Zugänge im Treugebervermögen.48 Dabei kommt die Kompensation eines durch die Weggabe von Zahlungsmitteln verursachten Vermögensverlustes – in concreto einer Zahlung an einen Gesellschafter – grundsätzlich dadurch in Betracht, dass der Treugeber von einer Verbindlichkeit in entsprechender Höhe befreit wird.49 Somit könnte die Annahme eines Nachteils i.S.v. § 266 StGB aus-
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BT-Drucks. 16/6140, S. 46. Ähnlich Scholz/K. Schmidt (Fn. 17), § 64 Rn. 65 m.w.N.: Schutz gegen Ausplünderungen der Gesellschaft. Für Vermögens(gesellschafts)schutz spricht zudem folgender Gedanke: Ge-/Verbote, die verhindern sollen, dass die Gesellschaft in eine Situation kommt, wo sie den gesellschaftsschädigenden Eröffnungsantrag stellen muss (da Gesellschaft und Gesellschafter durch die Insolvenz häufig alles verlieren), zielen genau aus diesem Grunde auch darauf ab, die Gesellschaft/die Gesellschafter zu schützen. 47 Dafür nunmehr auch BGHZ 195, 42, 48 f.; zuvor bereits Hölzle GmbHR 2007, 729, 732; K. Schmidt GmbHR 2008, 449, 454 f.; ders. in: ders./Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 4. Aufl. 2009, Rn. 11.99; Scholz/ders. (Fn. 17), § 64 Rn. 91; Knof DStR 2007, 1536, 1537; Greulich/Rau NZG 2008, 284, 287; Ulmer/Habersack/Winter/Casper GmbHG, 2008, § 64 Rn. 113; a.A. noch OLG München ZIP 2010, 1236, 1237; OLG München ZIP 2011, 225, 226; auch Baumbach/Hueck/Haas GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 64 Rn. 107. 48 Pars pro toto BGH NStZ 2004, 205, 206 m.w.N. zur Rspr.; aus der Literatur Satzger/ Schluckebier/Widmaier/Saliger (Fn. 12), § 266 Rn. 58. 49 Aus der Rspr. s. nur BGHSt 49, 317, 333 f.; BGH NStZ 2004, 205, 206; BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 46; für das Schrifttum statt Vieler Fischer (Fn. 13), § 266 Rn. 115a. 46
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scheiden, wenn der Geschäftsführer die ihm gem. § 64 S. 3 GmbHG untersagte Zahlung mit Erfüllungswirkung auf eine bestehende (Darlehens-)Forderung des Gesellschafters leistet. Gegen diese Betrachtung sind jedoch mindestens zwei Einwände denkbar: Zum einen ließe sich darauf abstellen, dass die Forderung des Gesellschafters wegen der Krise der Schuldners (der Gesellschaft) nicht vollwertig ist; die Gesellschaft könnte also „zu viel“ zahlen, wenn sie den kompletten Nennbetrag leistet;50 zum anderen ist zu beachten, dass die Zahlung aufgrund des (herrschend) aus § 64 S. 3 GmbHG abgeleiteten Zahlungsverbotes nicht geleistet werden durfte und die Forderung des Gesellschafters dementsprechend nicht durchsetzbar ist. Von diesen beiden Gründen, mit denen eine Kompensation der Zahlung durch den Wegfall der korrespondierenden Verbindlichkeit ausgeschlossen werden könnte, erweist sich zwar nicht der erste, wohl aber – nach einer gebotenen Präzisierung – der zweite als durchschlagend. Zunächst: Die bloße Tatsache, dass sich der Schuldner einer (Geld-)Forderung in einer wirtschaftlichen Krise befindet, rechtfertigt noch keine Abwertung der das Schuldnervermögen belastenden Verbindlichkeit, selbst wenn der Gläubiger die ihm zustehende Forderung womöglich in ihrem Wert berichtigen müsste.51 Vielmehr sind Verbindlichkeiten auch in der Krise grundsätzlich vertragsgemäß, mithin bei Fälligkeit auch in voller Höhe zu bedienen.52 Etwas anderes gilt erst dann, wenn mit dem Gläubiger rechtswirksam eine Stundungs- oder (Teil-)Erlassabrede getroffen wurde.53 Das Ergebnis wird auch durch einen Blick in die bilanzrechtliche Praxis bestätigt, selbst wenn dieser mangels einer strengen Bilanzrechtsakzessorietät des strafrechtlichen Vermögensbegriffs gewiss keine zwingenden Schlussfolgerungen nach sich zieht.54 Im Jahresabschluss dürfen Verbindlichkeiten selbst bei 50
Bittmann GmbHR 2007, 70, 73 (vgl. aber jüngst ders. ZWH 2012, 100, 102); teilw. auch Maurer/Wolf wistra 2010, 327, 329 f. 51 Im Ergebnis ebenso Weiß GmbHR 2011, 350, 353, allerdings mit der zweifelhaften Begründung, dass sich das „Zahlungsverbot“ nicht an die GmbH, sondern an den Geschäftsführer richte. 52 S. BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 46, wonach es eine „Überstrapazierung des […] wirtschaftlichen Vermögensbegriffs“ wäre, „die Tilgung von Verbindlichkeiten, zu der die Rechtsordnung den Schuldner verpflichtet, als Vermögensschaden anzusehen“; zutr. auch Weiß GmbHR 2011, 350, 353; vgl. für das Insolvenzstrafrecht Nomos Kommentar StGB/ Kindhäuser, 4. Aufl. 2013, Vor § 283 Rn. 85; vgl. auch Schönke/Schröder/Heine/Schuster StGB, 29. Aufl. 2014, § 283 Rn. 4; z.T. einschränkend LK/Tiedemann, 12. Aufl. 2009, § 283 Rn. 29. 53 Konstruktiv denkbar (aber wenig praktisch) ist der Eintritt eines Nachteils, wenn der Geschäftsführer den vollen Betrag zahlt, obwohl bereits eine gesicherte Aussicht auf eine Erlassvereinbarung i.S.e. vermögenswerten Exspektanz bestand, vgl. dahingehend (ohne den Begriff der Exspektanz zu gebrauchen) Weiß GmbHR 2011, 350, 353. 54 Zur Bedeutung bilanzrechtlicher Maßstäbe im strafrechtlichen Vermögens-/Schadensbegriff unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung Rönnau (Fn. 11), S. 57, 66 ff. m.w.N.; Hefendehl wistra 2012, 325 ff.
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Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht ausgebucht werden.55 Ein Nachteil i.S.d. § 266 StGB lässt sich bei Zahlungen entgegen § 64 S. 3 GmbHG also nicht damit begründen, dass die Gesellschaft aufgrund ihrer Krise „zu viel“ zahlt, wenn sie den Nominalbetrag der Forderung an den Gesellschafter leistet. Fraglich bleibt damit wie es sich auswirkt, dass die Zahlung aufgrund des gem. § 64 S. 3 GmbHG bestehenden Zahlungsverbotes und des korrespondierenden Leistungsverweigerungsrechts auf eine einredebehaftete Schuld erfolgt. Soweit in Rechtsprechung und Literatur der Wegfall einer Verbindlichkeit als möglicher Kompensationstatbestand genannt wird, findet sich bisweilen der Hinweis, diese müsse „fällig und einredefrei“ sein.56 Ob daraus im Umkehrschluss folgt, dass die Zahlung auf nicht fällige bzw. nicht einredefreie Verbindlichkeiten den Eintritt eines Nachteils zur Folge hat, wird bislang wenig thematisiert. In jüngerer Zeit hat der 3. BGH-Strafsenat allerdings mit Blick auf nicht fällige Forderungen entschieden, dass deren Erfüllung keineswegs notwendig zu einem Nachteil i.S.d. Untreuetatbestandes führt.57 Dabei beruft sich der Senat explizit auf die vom BVerfG aufgestellte Forderung nach einer primär wirtschaftlichen Nachteilsfeststellung.58 Vor diesem Hintergrund könne der Wert einer noch nicht fälligen Forderung (bzw. der korrespondierenden Verbindlichkeit) nicht pauschal, sondern allenfalls aufgrund der Umstände des Einzelfalles herabgesetzt werden. Insbesondere dort, wo es „nur noch ‚eines Federstriches‘ [bedürfe], um die Fälligkeit herbeizuführen“, sei eine Bewertung unterhalb des Nominalwertes nicht angezeigt.59 Diese Gedanken aufgreifend spricht Vieles dafür, dass die Erfüllung einredebehafteter Forderungen ebenso wenig wie im Falle der fehlenden Fällig-
55
Münchener Kommentar zum Bilanzrecht/Hennrichs, 2013, § 246 HGB Rn. 105 m.w.N.; vgl. zu den allgemeinen Voraussetzungen, unter denen eine Verbindlichkeit im Jahresabschluss zu bilanzieren ist (Leistungszwang, wirtschaftliche Belastung sowie Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme), Beck’scher Bilanz-Kommentar/Schubert, 9. Aufl. 2014, § 247 HGB Rn. 201 ff. 56 So bei NK/Kindhäuser (Fn. 52), § 266 Rn. 103; Lackner/Kühl StGB, 28. Aufl. 2014, § 266 Rn. 17; Dölling/Duttge/Rössner/Duttge Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 263 Rn. 56; auf Fälligkeit beschränkt LK/Schünemann (Fn. 1), § 266 Rn. 169 und Rn. 186 sowie Satzger/Schluckebier/Widmaier/Saliger (Fn. 12), § 266 Rn. 58. Einen Nachteil durch die Erfüllung einer nicht fälligen Forderung bejaht BGH NStZ 2001, 542, 543 f., wobei der dortige Fall insoweit besonders gelagert war, als über die Höhe der zu erfüllenden Ansprüche zuerst durch Einigung der Vertragspartner oder durch gerichtliche Bestimmung entschieden werden sollte; ferner auf die Fälligkeit hinweisend BGH NStZ 2004, 205, 206; dagegen trotz vorfristiger Zahlung einen Nachteil verneinend BGH NStZ-RR 2006, 175, 176 sowie nunmehr vertiefend BGH NStZ-RR 2011, 312, 313 f. (dazu sogleich im Haupttext). 57 BGH NStZ-RR 2011, 312, 314. 58 BVerfGE 126, 170, 211 ff. 59 BGH NStZ-RR 2011, 312, 314.
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keit per se zu einem Nachteil i.S.d. Untreuetatbestandes führt. Denn eine Einrede ändert am rechtlichen Bestand der Forderung – und damit an der Belastung des Treugebervermögens mit einer Verbindlichkeit – zunächst nichts. Auch hier lohnt ein Blick in das Bilanzrecht. Im Jahresabschluss werden einredebehaftete Forderungen regelmäßig nicht ausgebucht.60 Allerdings muss eine verjährte Verbindlichkeit ausnahmsweise dann nicht passiviert werden, wenn damit zu rechnen ist, dass der Schuldner sich auf die Verjährung berufen und die Forderung somit nicht erfüllen wird.61 Hier bietet sich für das Strafrecht durchaus eine parallele Handhabung an. Ist die Erfüllung trotz der Verjährung für den Treugeber wirtschaftlich sinnvoll, etwa weil es um eine Schuld gegenüber einem wichtigen Geschäftspartner geht, scheidet bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung ein Nachteil aus, wenn trotz der Verjährung gezahlt wird. Die (erhobene) Einrede der Verjährung begründet indes ein dauerhaftes Hindernis bei der Durchsetzung des Anspruchs. Sofern eine Einrede dagegen lediglich vorübergehenden (dilatorischen) Charakter hat, wie es z.B. für Einreden gem. den §§ 273, 320 BGB, aber im Grundsatz auch für § 64 S. 3 GmbHG der Fall ist,62 liegt es (noch) weniger nahe, die Verbindlichkeit bei der Saldierung generell nicht zu berücksichtigen und ihr Erlöschen nicht als Kompensation zu werten.63 Denn die entsprechende Zahlung befreit den Treugeber – ähnlich der Konstellation einer Leistung auf eine nicht fällige Forderung – von einer Schuld, die er ohnehin zu einem späteren Zeitpunkt hätte begleichen müssen. Lässt man den heute überkommenen Gedanken beiseite, dass der Besitz von Geld mehr wert sein könnte als der Wegfall einer Verbindlichkeit,64 sind Gründe für einen kategorischen Kompensationsausschluss allein aufgrund der Existenz einer Einrede nicht ersichtlich.65 Jedoch beruht das durch § 64 S. 3 GmbHG begründete Leistungsverweigerungsrecht nicht zuletzt darauf, dass die Zahlung zur Insolvenz der Gesellschaft führen, also mit großer Wahrscheinlichkeit irreparable Folgen auslösen würde. In dieser Situation ist die Vornahme der verbotswidrigen Zahlung
60
MK-Bilanzrecht/Hennrichs (Fn. 55), § 246 HGB Rn. 109 m.w.N Winnefeld in: ders. (Hrsg.), Bilanz-Handbuch, 4. Aufl. 2006, Rn. 1590. 62 Selbstverständlich darf (und muss) der Geschäftsführer die fällige Forderung des Gesellschafters erfüllen, sobald die Zahlung nicht mehr zur Zahlungsunfähigkeit führt. 63 S. aus dem Bilanzrecht nur Beck’scher Bilanz-Kommentar/Schubert (Fn. 55), § 247 HGB Rn. 221: Zeitlich befristete Einreden hindern den Ansatz der Verbindlichkeit nicht. 64 Vgl. zu dieser Diskussion im Betrugskontext LK/Lackner, 10. Aufl. 1988, § 263 Rn. 155 m.w.N. 65 Indes verbietet sich auch insoweit (ähnlich wie bei der Verjährung) eine schematische Betrachtung. Z.B. kann die Leistung auf eine Forderung, gegenüber der dem Treugeber die Einrede des nichterfüllten Vertrages (§ 320 BGB) zusteht, dann wirtschaftlich nachteilig sein, wenn damit zu rechnen ist, dass der Gläubiger die seinerseits geschuldete Leistung dauerhaft nicht erbringen wird. 61
GmbH-Untreue durch insolvenzauslösende Zahlungen
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wirtschaftlich nachteilig – trotz Erfüllung einer rechtlich bestehenden Verbindlichkeit. Denn wo Liquidität zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit benötigt wird, ist die Erhaltung der Zahlungsfähigkeit mehr wert als die Befreiung von einer Verbindlichkeit, die zu diesem Zeitpunkt nicht bedient werden musste. Auch hierfür lässt sich eine Parallele im Bilanzrecht finden. Verbindlichkeiten sind im Jahresabschluss dann nicht zu passivieren, wenn der Gläubiger einen Erlass gegen einen sog. „Besserungsschein“ erklärt hat, also gegen eine Vereinbarung, die besagt, dass er einen Ausgleich für die erlassene Forderung allein aus künftigen Gewinnen oder Liquiditätsüberschüssen verlangen kann.66 Die Einrede des § 64 S. 3 GmbHG begründet gegenüber dem Gesellschafter eine ähnliche Situation. Er ist darauf verwiesen, seine Forderung erst dann geltend zu machen, wenn die Zahlung nicht mehr zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen würde. Solange dies aber der Fall ist, begründet die nicht zu erfüllende Verbindlichkeit für die Gesellschaft keine wirtschaftliche Last und die Erfüllung kompensiert den Verlust der Zahlungsmittel bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht.67
IV. Fazit Der vorstehende Beitrag hat ein – notwendig kursorisches – Schlaglicht auf eine Fallgruppe aus dem breiten Spektrum der GmbH-Untreue geworfen und zum Ergebnis geführt, dass Zahlungen von GmbH-Geschäftsführern, die gegen § 64 S. 3 GmbHG verstoßen, regelmäßig als Untreue strafbar sind. Dabei war nicht nur das in der gegenwärtigen Diskussion viel beachtete Problem des erforderlichen Fremdvermögensbezuges einer verletzten außerstrafrechtlichen Primärnorm anzusprechen, sondern auch die bisher kaum vertiefend erörterte Frage, inwieweit bei der Erfüllung einredebehafteter Forderungen ein Vermögensnachteil i.S.d. Untreuetatbestandes entsteht. Zugleich mussten in einer für die Organuntreue typischen Weise Verflechtungen zwischen Gesellschafts-, Insolvenz- und Strafrecht verarbeitet werden. An dieser Schnittstelle unterschiedlicher Interessen überzeugende Lösungen zu
66 Dazu näher Beck’scher Bilanz-Kommentar/Schubert (Fn. 55), § 247 HGB Rn. 237 m.w.N. 67 Dieser Sichtweise kann nicht der Vorwurf gemacht werden, sie führe zu einer „unzulässigen Verschleifung von Pflichtverletzung und Schaden“ (vgl. dazu BVerfGE 126, 170, 211). Zwar spielt die Vorschrift des § 64 S. 3 GmbHG sowohl bei der Begründung der Pflichtwidrigkeit als auch auf der Nachteilsebene eine Rolle. Aber es wird mitnichten aus der Pflichtverletzung auf den Eintritt des Nachteils geschlossen, sondern dieser wird anhand einer eigenständigen wirtschaftlichen Bewertung des Treugebervermögens vor und nach der Tathandlung ermittelt. Mehr verlangt auch die jüngste verfassungsgerichtliche Rechtsprechung nicht.
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entwickeln, hat dem Jubilar immer großes Vergnügen bereitet. Ich hoffe sehr, dass er die Rechtswissenschaft auch zukünftig mit seiner großen Expertise und schonungslosen Analyse dogmatischer Schwachstellen bereichern wird. Ihm und seiner Frau wünsche ich von ganzem Herzen Gesundheit, ein langes Leben sowie noch viele (Afrika-)Reisen!
Strafbarkeit bei der Manipulation der Organallokation Henning Rosenau I. Der Tod auf der Warteliste Die Schere zwischen der Zahl durchgeführter Organtransplantationen und Transplantationspatienten ist weit geöffnet. Bei der Leber stehen im Jahr 2012 1.097 Transplantationen ca. 1.800 auf der Warteliste geführte Patienten gegenüber.1 Und es ist nicht erkennbar, dass sich daran etwas ändern wird, im Gegenteil: Der Bedarf steigt schneller als das Angebot. So wurden 1.689 Neuanmeldungen zur Lebertransplantation vorgenommen, zugleich war die Transplantation postmortal gespendeter Lebern rückläufig. Dieser gravierende Organmangel hat zur fatalen Konsequenz, dass vielen Patienten ein Spenderorgan nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden kann. Tausend Patienten sterben jährlich, während sie auf ein Organ warten. Schon vor den Skandalen hat das bis zu 30 % aller wartenden Patienten betroffen.2 Grob formuliert: Täglich starben etwa drei Patienten den Tod auf der Warteliste.3 Mit den am 21.6.2012 von der Bundesärztekammer (BÄK) aufgedeckten Manipulationen in Göttingen, die dann kurz darauf breit aufgemacht publik gemacht wurden,4 hat sich die Problematik der knappen Ressource Organ deutlich verschärft. Die Zahlen der Spender sind dramatisch eingebrochen. 2013 hat es einen Rückgang um 16,3 % gegeben. Wir werden uns darauf einzustellen haben, dass nicht drei, sondern täglich bis zu vier Patienten auf der Warteliste sterben.
1
DSO Organspende und Transplantation in Deutschland 2012, 2013, S. 39. Rosenau in: Lilie u.a. (Hrsg.), Die Organtransplantation, 2011, S. 61. 3 Lilie DÄBl. 2007, A 1458, spricht vom „Organspende-Versagen“; Breyer vom Politikversagen in: Haarhoff (Hrsg.), Organversagen, 2014, S. 29, 53 f. 4 SZ vom 19.7.2012. 2
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Henning Rosenau
II. Der Göttinger Organspendeskandal als Organallokationsskandal 1. Organallokationsskandal Die gesamte Affäre firmiert landauf, landab unter „Organspendeskandal“. Das Skandalon hatte mit der Spende aber nichts zu tun. Es lag auf der Seite der Organverteilung, der sog. Organallokation. Die Auswirkungen waren aber, wie gezeigt, für die Spendebereitschaft deutlich gravierender als für die Organverteilung. 2. Manipulation des MELD-Scores Kurzgefasst hat ein Transplantationsmediziner am Göttinger Universitätsklinikum, Oberarzt O., den Gesundheitszustand seiner Patienten vorsätzlich falsch dokumentiert, um diese kränker erscheinen zu lassen und auf diese Weise eine vorrangige Aufnahme auf die Warteliste oder ein Vorrücken auf der Warteliste und infolge dessen eine schnellere Zuteilung eines Organs zu erreichen.5 Wenn man verstehen will, wie das möglich wurde, muss man sich mit den Regeln der Leberallokation vertraut machen. Die Leber ist nach § 12 Abs. 3 TPG nach dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zu vermitteln. Der Gesetzgeber spezifiziert das dahin, dass dabei den Kriterien „Erfolgsaussicht“ und „Dringlichkeit“ die entscheidende Rolle zukommt. Zugleich hat der Gesetzgeber nach § 16 Abs. 1 S. 5 TPG die BÄK ermächtigt, die Zuteilung nach dem medizinischen Standard in Richtlinien zu konkretisieren. Diese Richtlinien, die von der interdisziplinär besetzten Ständigen Kommission Organtransplantation erarbeitet werden, sehen u.a. ein Standardverfahren und für funktionsbeeinträchtigte Organe ein beschleunigtes Verfahren vor. Das Standardverfahren bei der Leber untergliedert sich im Wesentlichen in zwei Patientengruppen. Vorrangig werden die akut lebensgefährdeten Patienten (sog. high urgency-Patienten) berücksichtigt, die etwa an akutem Leberversagen leiden. Hier entscheidet ein kurzfristig erfolgendes Gutachterverfahren, ob der Patient vor allen anderen transplantiert werden darf. Bei der Masse der Patienten erfolgt die Reihung anhand des MELDScores, eines US-amerikanischen Systems, mit dem in Punktzahlen die Wahrscheinlichkeit abgebildet wird, dass ein Patient innerhalb der nächsten drei Monate versterben wird. MELD steht dabei für Model for Endstage Liver Disease. Der MELD-Punktestand wird mit einer komplexen Formel aus den Laborparametern Kreatinin, Bilirubin und Blutgerinnungszeit errechnet.6 5 6
OLG Braunschweig NStZ 2013, 593. Herzer u.a. DtschMedWochenschr 2013, 1471, 1472.
Strafbarkeit bei der Manipulation der Organallokation
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Diese Laborparameter ergeben den sog. labMELD. Für ihn sind im Internet Masken verfügbar, über die der Punktestand selbst errechnet werden kann. Wurde innerhalb der letzten Woche eine Dialyse durchgeführt, wird der Kreatininwert auf 4,0 hochgesetzt. Der Score ist so berechnet, dass er mit der Sterblichkeit der Patienten innerhalb von drei Monaten korreliert. Beim niedrigsten Punktwert von 6 liegt die Wahrscheinlichkeit der 3-Monats-Mortalität bei 1 %. Bei dem Punktwert von 40 beträgt die Wahrscheinlichkeit fast 100 %, innerhalb der kommenden drei Monate zu sterben.7 Für Sonderfälle sieht die Richtlinie weitere Algorithmen vor. Aus dem MELD-Score ergibt sich eine Reihung, mit der die Patienten auf der Warteliste geführt werden. Im Schnitt wird derzeit bei einem MELD von 34 transplantiert.8 Dieses MELD-System ist darauf angelegt, insbesondere den Faktor Dringlichkeit abzubilden, weil es den kränksten Patienten auf der Warteliste bevorzugt. Technisch umgesetzt wird das System durch Eurotransplant (ET) im niederländischen Leyden, wo aufgrund der Meldungen aus den Krankenhäusern die Warteliste geführt und ein eingehendes Organ dem priorisierten Empfänger zugewiesen wird. Diese Mechanismen hat O. in Göttingen manipulativ beeinflusst, indem er nach Leyden falsche Patientendaten gemeldet hat. Er hat Patienten wahrheitswidrig als Dialysepatienten gemeldet. Dabei hat er sich zu Nutze gemacht, dass dann automatisch der Kreatininwert, welcher die Nierenfunktion abbildet, fiktiv auf den höchstmöglichen Wert gesetzt wird. Das hat den medizinischen Hintergrund, dass die Dialyse zur Reduzierung des Kreatininwertes führt, obgleich sich die Leberfunktion selbst nicht verbessert hat. Indem nicht dialysierte Patienten als dialysepflichtig gemeldet wurden, schnellte deren MELD-Punktewert also noch oben. Wir wissen nicht, ob O. in der Internet-Maske sich die neuen, manipulierten Werte hat ausrechnen lassen. Jedenfalls hatte er Erfolg: In all diesen Fällen ist den Patienten, die bei ihrem regulären MELD-Score noch keine Chance auf eine Organzuteilung hatten, eine Leber alloziert worden. Es gab noch weitere systematische Manipulationen, auf die hier nicht eingegangen werden muss. 3. Zurechnung der Folgen des Organallokationsskandals Die Konsequenzen dieser Manipulationen wurden bereits skizziert. Ist O. für das Einbrechen der Spenderzahlen zur Verantwortung zu ziehen? Denken wir die Manipulationen hinweg, entfielen der Skandal und der Einbruch in den Spendezahlen. Indes können wir den Umstand, dass nun vielleicht vier Menschen auf der Warteliste sterben, nicht O. zurechnen. Er trägt eine mora7 8
OLG Braunschweig NStZ 2013, 593. Herzer u.a. DtschMedWochenschr 2013, 1471, 1476.
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lische Verantwortung. Er wird sich fragen lassen müssen, ob sein Handeln angesichts der fatalen Konsequenzen mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist. Für eine strafrechtliche Zuschreibung der Folgen für die Transplantationsmedizin fehlt es indes an einem hinreichenden Zurechnungszusammenhang. Zu viele andere Akteure haben mitgewirkt. Die Medien, wenn sie in Teilen die Vorgänge überzeichnend skandalisieren, die politischen Protagonisten, wenn sie diese für eigene politische Zwecke instrumentalisieren, und nicht zuletzt die potentiellen Organspender und insbesondere deren Angehörige, die verunsichert sind und eine Organspende verweigern. Die Öffentlichkeit akzeptiert es nicht, wenn der Eindruck erweckt wird, bei der Allokation gehe es nicht mit rechten Dingen zu.9 Dass auch fehlgeleitete Organe todkranken Patienten geholfen haben und eine Verweigerungshaltung eben solche Patienten in Mitleidenschaft zieht, die für die Manipulationen gar nichts können, gerät bei allem aus dem Blick. Nicht ins Kalkül gerät auch, dass die Unregelmäßigkeiten immer noch die Ausnahme darstellen. Bei vier Lebertransplantations-Zentren wurden entsprechende systematische Verstöße bei Prüfungen festgestellt: in Göttingen, Leipzig, München rechts der Isar und Münster. Die weiteren 20 Transplantationszentren in Deutschland haben regelgeleitet agiert.10 Es hat also die Makroebene zu verlassen und in die Realien der Mikroebene einzutauchen, wer danach fragt, ob sich O. strafbar gemacht hat.
III. Strafbarkeit der Manipulation der Patientendaten 1. Verstoß gegen § 19 TPG In § 19 Abs. 2a TPG findet sich eine Strafnorm, die unseren Fall erfasst. Wer sich durch den mit dieser Bestimmung ausgelösten Verweisungsdschungel gekämpft hat,11 kommt zum Ergebnis, dass die absichtlich falsche Dokumentation, die schriftliche Lüge also, und die falsche Übermittlung von Gesundheitsdaten im Hinblick auf die Organallokation strafbar sind. Freilich ist dieser Tatbestand eine Reaktion des Gesetzgebers auf die Unregelmäßigkeiten und erst seit dem 1.8.2013 in Kraft – O. wird von ihm wegen des lex praevia Gebotes als hartem Kern des Art. 103 Abs. 2 GG12 nicht erfasst. 2. Totschlag, § 212 StGB § 212 StGB ist ein Erfolgsdelikt, verlangt also, dass zwischen dem Verhalten des Täters und dem Eintritt des Todes Kausalität besteht und der Tod 9
Schroth NStZ 2013, 437, 438. Kommissionsbericht der Prüfungs- und Überwachungskommission in: http://www. bundesaerztekammer.de/ [letzter Abruf: 1.2.2014]; vgl. C¸alıs¸kan u.a. MedR 2014, 21 f. 11 Über § 10 Abs. 3 S. 2 TPG auf § 13 Abs. 3 S. 3 TPG, mittelbar dann auf § 12 Abs. 3 S. 1 TPG; vgl. Schroth MedR 2013, 645. 12 Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978, S. 6. 10
Strafbarkeit bei der Manipulation der Organallokation
693
dem Täter zuzurechnen ist. Zu klären wäre demnach, ob die Datenmanipulation des O. im Sinne seines Patienten dazu geführt hat, dass ein anderer Patient auf der Warteliste gestorben ist. Dabei kommen – das liegt auf der Hand – als mögliche Opfer nur solche Patienten in Betracht, die der Göttinger Patient überholt hat, die also auf der einheitlichen Warteliste zum Zeitpunkt der Manipulation vor jenem gelistet waren. Nr.
Angebote
Tx am
Status 2013
… 7
14.6.2010
8
3
–
Tod auf Warteliste
9
0
–
Tod am 19.6.2010
10
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13.7.2011
Tod nach Tx
11
7
–
Tod auf Warteliste
12
11
18.8.2011
Überleben
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6
–
Tod auf Warteliste
14
7
14.4.2011
Überleben
15
2
–
Abmeldung, nicht transplantabel
16
2
–
Abmeldung, nicht transplantabel
In der einfachsten Konstellation könnte das der Fall sein, wenn ein von seinem prioritären Listenplatz verdrängter Patient keine Leber erhält und daraufhin verstirbt. Schauen wir uns an einem Beispiel an, ob das in Göttingen der Fall war. Wir erkennen im obigen Manipulationsfall bei den verdrängten Patienten Nr. 12 und Nr. 14, dass diese am 18.8. bzw. 14.4.2011 ein Organ erhalten und die Transplantation erfolgreich überstanden haben. Bezüglich dieser beiden Patienten scheidet ein vollendetes Tötungsdelikt aus. Anders ist es beim Patienten Nr. 9, der ohne Organangebot auf der Warteliste tatsächlich verstorben ist. a) Tatbestandsmäßiges Verhalten Zunächst muss indes geklärt sein, wie wir das Verhalten des O. normativ einordnen; denn das hat Auswirkungen auf die Kausalitäts- und Zurechnungsfragen. Da bei den Erfolgsdelikten grundsätzlich jedes Verhalten als tatbestandsmäßige Tötungshandlung in Betracht zu ziehen ist, kann das auch ein Unterlassen sein.
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Henning Rosenau
Nun hat phänomenologisch O. aktiv Patientendaten gefälscht bzw. falsch dokumentiert. Diese aktive Handlung streitet zunächst für ein Tun. Das lässt sich auch gar nicht bestreiten, wenn wir das angestrebte Ziel des O. in Augenschein nehmen. Er hat seinen Patienten Nr. 7 auf der Warteliste noch oben hieven wollen. Die Organzuteilung kann er zwar nicht selbst erwirken. Denn diese wird von ET über einen computergestützten Algorithmus ins Werk gesetzt. Er nutzt aber ET als unvorsätzliches Werkzeug für seine Zwecke, so dass er – in strafrechtlichen Zurechnungskategorien gedacht – als mittelbarer Täter die Organzuteilung steuert. Problematisch wird es allerdings, wenn wir auf den verstorbenen, auf der Liste übergangenen Patienten Nr. 9 zurückkommen. Diesem ist ein Organ und damit eine Chance auf Überleben vorenthalten worden, obwohl er an sich an der Reihe gewesen wäre. Die durch die Manipulation herbeigeführte Nichtzuteilung einer gespendeten Leber durch ET stellt sich als ein Unterlassen dar.13 Dass die Abläufe bei ET durch die Manipulation der Patientendaten und folglich durch ein aktives Tun des O. ausgelöst worden sind, ändert an dieser Bewertung der unterlassenen Allokation eben als ein Unterlassen nichts. Der Ablauf stellt sich mit einem aktiven Handeln, welches ein Unterlassen bewirkt, als ein zweiphasiges Geschehen dar. Damit könnte O. insgesamt mittelbarer Täter eines Totschlags durch Unterlassen sein und somit selbst Täter eines unechten Unterlassungsdelikts, mit weitreichenden Folgerungen: dessen Strafbarkeit erforderte dann eine Garantenstellung gegenüber allen ihm völlig unbekannten Patienten auf der Warteliste, was sich nicht begründen ließe. Die Frage, wie die Herbeiführung eines Unterlassens beim Werkzeug zu bewerten ist, lässt selbst Schünemann in seiner grundlegenden Arbeit unberührt.14 Man könnte dessen Verhalten anhand der allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen bewerten und danach fragen, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt.15 Es spricht einiges dafür, diese beim aktiven Tun zu sehen. Denn wir halten dem O. im Kern die Vornahme der Manipulationen vor. Man wird die oft kritisierte, weil vage, die normativen Zusammenhänge verschleiernde und letztlich bekenntnishafte Schwerpunktformel16 gar nicht bemühen müssen. Denn das Verhalten des O. ist dadurch charakterisiert, dass er eine bereits von dritter Seite angelegte Rettungschance vereitelt. Der verstorbene Patient hätte von ET – wäre alles mit rechten Dingen zugegangen – ein Organ bekommen. Die Organallokation hätte ihn retten sollen. O. bricht 13 14 15 16
Schroth NStZ 2013, 437, 443. Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971. BGHSt 6, 49, 59; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 43. Aufl. 2013, Rn. 700. Vgl. nur Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 78 ff.
Strafbarkeit bei der Manipulation der Organallokation
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nun diesen rettenden – scheinbar – Kausalverlauf ab.17 Der Abbruch rettender Kausalverläufe wird nach ganz überwiegender Wertung zu Recht als Fall aktiven Tuns eingeordnet.18 b) Kausalität Die Kausalität aktiven Tuns bemisst sich nach der Äquivalenzformel. Danach sind alle Bedingungen gleichwertig und dann Ursache, wenn sie nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.19 Zu fragen ist demnach, was passiert wäre, hätte O. die Manipulationen nicht vorgenommen. Denkt man sich die Weitergabe der verfälschten Angaben an ET hinweg, wäre die reguläre Reihung zum Zuge gekommen. Der bevorzugte Patient des O. – im obigen Beispielsfall A der Patient Nr. 7 – hätte seinen fehlerhaften Listenplatz geräumt, der nachfolgende Patient wäre vorgerückt und wäre mit dem Organ versorgt worden. Allerdings ist das alles andere als gewiss. Vor dem verstorbenen Patienten Nr. 9 hätte Patient Nr. 8 das Organangebot erhalten. Erst wenn dieses zurückgewiesen worden wäre, etwa weil Nr. 8 am 19.6.2010 an einer Infektion litt und eine Transplantation daher nicht in Betracht kam, wäre die Leber an die Nr. 9 gegangen. Selbst dann ist eine sichere Kausalitätsfeststellung nicht möglich. Wir wissen nicht, ob nicht auch bei Patient Nr. 9 zum Zeitpunkt des potentiellen Organangebots am 19.6.2010 ein Hinderungsgrund bestanden hätte, sei es in seiner Person, sei es aufgrund der mangelnden Qualität des Organs, sei es aufgrund organisatorischer Umstände in der Klinik. Bei Patient Nr. 10 wurde gar in 11 Fällen das Organangebot abgelehnt. In gleicher Weise hätte es auch bei Patient Nr. 9 gar nicht zu einer Transplantation kommen können. Zwei weitere Aspekte treten hinzu: die Vergabekriterien lassen eine mathematisch exakte Bestimmung eines alternativen Empfängers nicht zu. Man kann im Kontext des derzeitigen Organverteilungsverfahrens nicht sicher sagen, wer derjenige ist, dem ein Organ letztlich zugeteilt werden wird. Das hängt u.a. auch mit dem beschleunigten Ermittlungsverfahren zusammen. Dieses wurde eingeführt, weil in Deutschland das Durchschnittsalter von Spendern enorm angestiegen ist. Durch das hohe Alter der postmortalen Organspender sind zahlreiche Organe mit eingeschränkter Qualität im Umlauf. Solche Organe können vielen morbiden Patienten auf der Warteliste nicht transplantiert werden. Sie werden zwar im Rahmen der Allokationsregeln angeboten, von den Zentren aber als ungeeignet abgelehnt. Nach drei Ablehnungen droht der Verlust des Organs, weil die Ischämiezeiten zu lang 17 Kudlich NJW 2013, 917, 918; Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 243; vgl. Schneider/ Busch NK 2013, 362, 365. 18 Satzger/Schluckebier/Widmaier/Kudlich StGB, 2. Aufl. 2014, § 13 Rn. 7. 19 BGHSt 49, 1, 3; Leipziger Kommentar StGB/Walter, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 73.
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werden. Dann kann die Allokation im Rahmen eines besonderen Verfahrens, eben im beschleunigten Vermittlungsverfahren erfolgen. Dieses Verfahren war keine Randerscheinung. Da es von der ärztlichen Beurteilung des angebotenen Organs abhängt, ist in keiner Weise vorhersagbar, ob es zu diesem Verfahren kommt und wo das Organ schließlich landen wird.20 Der zweite Einwand gegen die Annahme der Kausalität ist darin zu sehen, dass die Transplantation zwar zu einer Lebensrettung führen kann, sie muss es aber nicht. So können die transplantierten Lebern auch abgestoßen werden. Zwar soll auch genügen, dass es zu einer gewissen Lebensverlängerung kommt. Aber selbst das ist nicht gewiss. In einigen Fällen bewirkt die Transplantation sogar das Gegenteil, nämlich eine Lebensverkürzung, wenn der Patient bei oder kurz nach der Transplantation verstirbt, ohne diese aber noch geraume Zeit weitergelebt hätte. Damit verhindert auch der morbide Gesamtstatus des Patientenkollektivs eine sichere Kausalitätsfeststellung. Nun könnte man einwenden, dass diese Überlegungen dem zweiten Grundsatz der Kausalitätslehre widersprechen, wonach hypothetische Kausalverläufe oder Reserveursachen nicht berücksichtigt werden dürfen.21 Das kann aber nur für das Handlungsdelikt Geltung beanspruchen. Wir haben zwar vorliegend in der Manipulation durch O. ein Tun. Aber die dadurch bewirkte Nichtzuteilung von Organen stellt sich weiterhin als ein Unterlassen dar. Es ist anerkannt, dass beim Eingriff in rettende Kausalverläufe wie bei den Unterlassungsdelikten sehr wohl hypothetische Überlegungen zulässig sind.22 Denn schon die gedachte Zuteilung der Organe durch ET ist ja eine rein hypothetische Erwägung. Fächern wir die Kausalitätserwägungen nochmals analytisch auf, müsste man in zwei Ebenen denken. Zunächst müsste das Handeln des O., ein Tun, nach der conditio sine qua non-Formel eliminiert werden können, ohne dass die Zuteilungsentscheidung von ET an den unberechtigten Empfänger entfiele. Davon ist nicht auszugehen. O.s Handeln war für die konkrete Zuteilung im ersten Schritt kausal. Da wir die Nichtzuteilung von ET an den berechtigten Patienten als ein Unterlassen zu verstehen haben, wäre im zweiten Schritt dieses nach den Quasi-Kausalitätsregeln für die Unterlassungsdelikte zu bewerten. Es wäre nun zu fragen, ob wir die Zuteilung einer Leber an den Berechtigten hinzudenken können, so dass dessen Tod als Erfolg des § 212 StGB mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Diese Sicherheit – das haben die obi-
20 Schroth NStZ 2013, 437, 441. Mittlerweile wird auch im beschleunigten Verfahren zunächst patientenorientiert, also entlang der einheitlichen Warteliste, alloziert. 21 Gropp Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, S. 153. 22 Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, S. 619 f. Das übergeht Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 241.
Strafbarkeit bei der Manipulation der Organallokation
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gen Überlegungen gezeigt – besteht gerade nicht.23 Die angenommene Rettung durch die ET-Zuteilung erweist sich gerade nicht als ein Kausalverlauf. Nach allem lässt sich ein forensisch haltbarer Kausalitätsnachweis nicht führen. O. ist nicht für den Tod des Patienten Nr. 9 kausal geworden. Tatsächlich war es im Übrigen so gewesen, dass er schon kurz zuvor verstorben war, bevor das Organ zur Verteilung angestanden hatte. Zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt nur, wer auf die Risikoerhöhungslehre ausweicht. Diese ersetzt das Kausalitätserfordernis mit der hinreichenden Steigerung des Risikos für das Rechtsgut Leben. Dieser Ansatz ist, weil er im Ergebnis aus den Erfolgsdelikten Gefährdungsdelikte werden lässt, zu Recht auf überwiegende Ablehnung gestoßen.24 c) Objektive Zurechnung Wenden wir uns einem zweiten Beispielsfall in Göttingen zu. Nr.
Angebote
Tx am
Status 2013
… 4
4.5.2010
5
7
13.5.2010
Tod nach Tx
6
27
–
Abmeldung, Erholung
7
3
7.5.2010
Tod nach Tx
8
7
19.5.2010
Tod nach Tx
9
53
–
Abmeldung, nicht transplantabel
10
13
18.5.2010
Tod nach Tx
11
99
8.2.2011
12
7
23.6.2010
Tod nach Tx
13
86
–
Abmeldung, nicht transplantabel
Überleben
Hier ergibt sich das Phänomen, dass mehrere übergangene Patienten gestorben sind: die Patienten Nr. 5, 7, 8, 10 und 12. Alle haben aber mehrere Organangebote erhalten, und alle sind auch transplantiert worden. Hier stellt
23 Zutreffend Schneider/Busch NK 2013, 362, 366; Schroth NStZ 2013, 437, 442; Handkommentar Gesamtes Strafrecht/Duttge, 3. Aufl. 2013, § 15 Rn. 46; zweifelnd auch Kudlich NJW 2013, 917, 919; Böse ZJS 2014, 117, 118; HK-GS/Heinrich, 3. Aufl. 2013, Vor § 13 Rn. 33. 24 Dagegen Schünemann GA 1999, 207, 226.
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sich die Frage, ob sie womöglich mit dem Organ, das an ihnen durch O. an Patient Nr. 4 vorbeigelenkt wurde, möglicherweise länger gelebt bzw. sogar überlebt hätten. Die angesprochenen Kausalitätsprobleme stellen sich hier in gleicher Weise. Zusätzlich steht die objektive Zurechenbarkeit in Frage, die auch bei Vorsatzdelikten relevant ist.25 Es wird argumentiert, dass diese Patienten nicht mehr dem Schutzzweck der Verhaltensnorm, nämlich den Allokationsregeln, unterfielen.26 Aufgrund der Ungewissheit bei längeren Wartezeiten könne nicht jeder weiter hinten auf der Liste platzierte Patient vom Schutzbereich betroffen sein. Eine hinreichende Sicherheit auf die Chance einer späteren Organzuteilung kann nicht gesichert werden. Die Patienten könnten durch neu hinzutretende Patienten überholt werden. Sie könnten selbst intransplantabel werden oder umgekehrt könnte sich ihr eigener Zustand bessern, so dass sich eine Operation erübrigt. Diese Argumentation wirft allerdings die Frage auf, ab welcher Listenposition sich denn der Schutzzweck langsam verflüchtigt. Dass er gänzlich fehlen soll, und zwar auch für diejenigen, die sich im Rahmen eines überschaubaren Rankingbereichs bewegen, ist wenig plausibel. Zwar hat jeder Patient nur ein derivatives Teilhaberecht am Organverteilungssystem, kein subjektives Recht auf ein Organ. Daraus zu folgern, die im TPG vorgegebene Allokation nach medizinischen Kriterien wolle die betroffenen Patienten nicht schützen,27 scheint indes zu kurz gegriffen. Auch in anderen Konstellationen verlangen wir keine gesicherte Rechtsposition, um eine Strafbarkeit zu begründen. Wer dem unbeteiligten Passanten ein Bein stellt, der gerade einen Ertrinkenden retten will, ist strafbar, ohne dass der Ertrinkende einen umfassenden rechtlichen Anspruch auf Hilfe hätte. Ein solcher ließe sich vielleicht noch aus der allgemeinen Hilfeleistungspflicht aus § 323c StGB herleiten. Bei einem Menschen, der Hungernde in Afrika mit Lebensmitteln versorgen will, würden wir eine solche aber nicht mehr annehmen. Wer hier eingreift und die Nahrungsmittel mit Tötungsvorsatz vernichtet, macht sich strafbar. Eines rechtlich abgesicherten Anspruchs der Hungernden bedarf es dafür nicht. Die tatsächlich erfolgende Rettung, die verhindert oder gestört wird, genügt. 3. Versuchter Totschlag, §§ 212, 22, 23 StGB Es bleibt zu überlegen, ob O. wegen eines versuchten Tötungsdeliktes zur Verantwortung zu ziehen ist. Bekanntlich verlangt die Annahme des Tatentschlusses Vorsatz. Dieser setzt zunächst voraus, dass der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt hat. 25
Schünemann GA 1999, 207, 220. Kudlich NJW 2013, 917, 918. 27 Bülte StV 2013, 753, 755 u. 757 f.; so wohl auch Schroth NStZ 2013, 437, 443; wie hier Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 241; Böse ZJS 2014, 117, 120. 26
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a) Kognitives Vorsatzelement Das OLG Braunschweig argumentiert, dass es O. als einem ausgewiesenen Spezialisten bekannt gewesen sei, dass jeder Tag, sogar jede Minute lebenswichtig sei und jegliche Verzögerung dem auf die lebensrettende Transplantation wartenden Patienten „dem Tod unmittelbar näher“ bringe.28 Diese Argumentation blendet aber die bisherigen Überlegungen zur Kausalität völlig aus. Das ist unzulässig. Denn es ist wie beim vollendeten Delikt eine volle Kongruenz zwischen objektivem Tatbestand und Tatentschluss zu verlangen, so dass dieser auch den Kausalverlauf mit einschließen muss.29 Vorgestellte Handlungen, die wie beim abergläubischen Versuch außerhalb jeglicher Kausalität liegen, sind nicht Gegenstand des Strafrechts.30 Jedenfalls muss der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Zügen erfasst sein, lediglich unwesentliche Abweichungen wären vorsatzindifferent. Damit reicht die Strafbarkeit letztlich nicht weiter als bei der Vollendung.31 Ist der Kausalverlauf aufgrund der Vielschichtigkeit denkbarer Ausgänge bereits ex post nicht nachweisbar, kann dieser für den Täter ex ante regelmäßig nicht in seinen wesentlichen Zügen als möglich vorausgesehen werden.32 Die spezifischen Kenntnisse, auf die das OLG abstellt, sprechen nicht gegen, sondern gerade für O. Denn er überblickt die Zusammenhänge vollkommen, dazu ist er zu lange Teil des Systems gewesen. Damit ist ihm auch klar, dass eine Kausalitätsbeziehung zwischen seinen Manipulationen und dem Versterben von wartenden Patienten gerade nicht besteht. Über den Umweg des Tatentschlusses darf das Problem nicht nachweisbarer Kausalität nicht umgangen werden.33 Indem das OLG diese Frage ausklammert,34 läuft seine Argumentation auf eine Vorsatzfiktion hinaus. b) Voluntatives Vorsatzelement Ob darüber hinaus noch ein weiteres Element für den Vorsatz nötig ist und wenn ja, welches, ist in hohem Maße streitig. Dieser komplexen Auseinandersetzung kann hier nicht nachgegangen werden. Ich beschränke mich daher auf die Positionen, die ein weiteres voluntatives Vorsatzmoment ver-
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OLG Braunschweig NStZ 2013, 593, 595. Roxin (Fn. 16), § 29 Rn. 63 ff.; SSW/Kudlich/Schuhr, 2. Aufl. 2014, § 22 Rn. 16; LK/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, § 22 Rn. 30 f.; Welzel Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 189; wohl auch Struensee ZStW 102 (1990), 21, 41. 30 RGSt 33, 321, 323. 31 Kudlich NJW 2013, 917, 919. 32 Treffend Schneider/Busch NK 2013, 362, 368. A.A. Rissing-van Saan NStZ 2014, 233, 242. 33 Schneider/Busch NK 2013, 362, 367. 34 Rissing-van Saan zur debatte 2013/3, 25, 26. 29
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langen und fragen, ob der Täter die Rechtsgutsverletzung ernst nimmt und sich mit dieser abfindet.35 Die Feststellung dieses Vorsatzelementes ist sicher eine der größten Herausforderungen der forensischen Praxis. Der BGH verlangt eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände und schließt damit an Schünemann an, der im Gesinnungsmoment des Vorsatzes in gleicher Weise subjektive wie objektive Sachverhalte sieht.36 Die Tatgerichte haben sich eingehend mit der Persönlichkeit des Täters, dessen Tatmotivation und allen für das Tatgeschehen bedeutsamen Umständen auseinanderzusetzen.37 Dabei ist ein zentrales Kriterium die Gefährlichkeit des Handelns. Ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für den Erfolgseintritt stellt ein starkes Indiz dafür dar, dass der Täter sich mit dem Erfolg abgefunden hat.38 Interessanterweise lässt sich vorliegend auf statistischem Wege ein Wahrscheinlichkeitsgrad für den Erfolgseintritt bemessen. Das zeigt die folgende Graphik.
Diese bildet die Wahrscheinlichkeit ab, dass bei einem bestimmten MELDScore der Patient auf der Warteliste innerhalb der nächsten zwei Tage verstirbt. Sie liegt bei einem MELD-Score ab 36 bei etwa 4 %, bei den high urgencyPatienten trotz exponentiell ansteigender Transplantationswahrscheinlichkeit bei etwa 8,4 %. Reicht dieser Grad an Sterbewahrscheinlichkeit aus? Nun fragt
35 Jescheck/Weigend (Fn. 22), S. 299 f.; Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 27 ff.; auch die Rechtsprechung nutzt mittlerweile diese Formel, BGHSt 36, 1, 9; 57, 183, 186. 36 Schünemann FS Hirsch, 1999, S. 363, 372. 37 BGHSt 36, 1, 10; 57, 183, 188. 38 BGH NStZ 1992, 384; 1994, 585.
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gerade eine der vielen Vorsatztheorien ausdrücklich nach der Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Täter den Erfolg vorstellt. Eine konkrete Angabe, ab welchem Wahrscheinlichkeitsgrad der Vorsatz anzunehmen wäre, bleiben die Vertreter allerdings schuldig. Man belässt es bei allgemeinen Regeln wie mehr als bloß möglich, aber weniger als überwiegend wahrscheinlich.39 Ob 8 % Wahrscheinlichkeit genügten, bleibt unklar. Auf der anderen Seite lässt sich ein Defizit an objektiver Gefährlichkeit als Folge der typologischen Gesamtwürdigung durch andere Momente kompensieren. Auch bei geringer Erfolgswahrscheinlichkeit ließe sich danach die voluntative Vorsatzseite annehmen,40 wenn dieser unerträgliche, handlungsleitende Motive gegenüberstehen. Die hierzu von Schünemann erarbeiteten Kriterien legen das aber nicht nahe:41 Der Endzweck des Handelns durch O. ist die Lebensrettung eines Menschen; Tatherrschaft über die übergangenen fremden Patienten hat er nicht; das Risiko des Todes auf der Warteliste ist allgegenwärtig und wird sogar in dem Maße hingenommen, dass ohne Not Organspendeausweise unausgefüllt bleiben und Widerspruchslösungen42 politisch nicht durchsetzbar sind. Es dürfte also mehr dafür sprechen, dass der geringe Gefährdungsgrad nicht durch Umstände ausgeglichen wird, welche Rückschlüsse auf ein In-Kauf-Nehmen bei O. zulassen. c) Die sog. „Hemmschwellen-Theorie“ Hinzu könnte, so hat es der BGH jedenfalls in den letzten drei Dekaden oft judiziert, die „höhere Hemmungsschranke“ „vor dem Tötungsvorsatz“ treten. Es bestehe eine hohe Hemmschwelle für die Tötung eines Menschen, so dass trotz der evidenten Gefährlichkeit einer Handlung der Täter auf das Ausbleiben des Erfolges ernsthaft vertraut haben kann, also nicht vorschnell ein Tötungsvorsatz angenommen werden darf.43 Dieser Ansatz ist von Anbeginn als naturwissenschaftlich nicht belegbar bzw. unlogisch kritisiert worden.44 Spöttisch heißt es: „Vor dem Tötungsvorsatz steht zwar eine Hemmschwellentheorie, eine Hemmschwelle jedoch nicht.“45 Ein neues Urteil hat sich dieser Kritik angeschlossen und zugleich
39 H. Mayer Strafrecht AT, 1953, S. 251; Ross Über den Vorsatz, 1979, S. 84 ff.; Welzel (Fn. 29), S. 68. 40 Vgl. BGHSt 36, 1, 11 ff. 41 Vgl. Schünemann FS Hirsch, 1999, S. 363, 374. 42 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Widerspruchslösungen Rosenau (Fn. 2), S. 61, 69 ff. 43 BGH StV 1984, 187; NStZ 2010, 144, 145. 44 Schünemann FS Hirsch, 1999, S. 363, 375 Fn. 38; BGH NStZ 1992, 384; 1994, 585; Münchener Kommentar StGB/Schneider, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 53; Mandla NStZ 2012, 695, 696. 45 Mühlbauer Die Rechtsprechung des BGH zur Tötungshemmschwelle, 1998, S. 184.
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die ständige Rechtsprechung in deren Bedeutung heruntergespielt. Der Tötungsvorsatz könne ohne Rückgriff auf dieses Postulat festgestellt werden. Es sei ohne jegliches argumentative Gewicht und erschöpfe sich im Ergebnis in einem Hinweis auf eine saubere Beweiswürdigung.46 Die Triumphfanfaren der Literatur 47 über diesen höchstrichterlichen Rückzieher erscheinen voreilig. Wir sind darauf angewiesen, aus äußeren Umständen auf die unsichtbare Tatsache der inneren Einstellung eines Menschen zu schließen. Wenn uns der Hemmschwellen-Topos davon abhält, allzu schnell einen Vorsatz unterzulegen, erscheint er vernünftig 48 und hat dann ein besonderes Gewicht, wenn es um die Höchststrafen bei den Kapitalverbrechen geht. Was würde der Hemmschwellenansatz für O. bedeuten? Es ließe sich vorbringen: wenig oder nichts. Denn die fremden Patienten auf der Warteliste waren für O. anonyme Opfer im gesamten ET-Verbund. Das konnte keine Hemmung begründen. Es tritt die Sorge um das Wohl der eigenen Patienten hinzu – das war nach allem, was man weiß, eines der leitenden Motive für O. gewesen, das ihn umso leichter dazu verleitet hat, keinen Anteil an den gesichtslosen Rangplätzen auf der Warteliste zu nehmen.49 Das überzeugt nicht. Ärzte wollen generell Leben retten, nicht Leben zerstören.50 Diese von der Rechtsprechung immer wieder betonte Annahme verengt sich nicht auf die eigenen Patienten. Wer manipuliert, belegt damit sicher, dass er um die Bedeutung des Listenplatzes weiß, ohne dass er das Sterben anderer Patienten mit in sein Kalkül einbezogen haben muss.51 d) Rechtmäßigkeit der Richtlinien zur Organallokation Nach allem kommt es auf die rechtliche Bestandskraft der Richtlinien der BÄK, die das MELD-System vorsehen, nicht mehr an. Schon aus rein strafrechtsdogmatischen Gründen ist O. nicht für seine Manipulationen zur Verantwortung zu ziehen. Selbst wenn man der im Ergebnis nicht überzeugenden Auffassung folgen will, der Gesetzgeber habe über die Kriterien von Dringlichkeit und Erfolgsaussicht hinaus konkretere Vorgaben aufstellen müssen,52 wäre damit für die
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BGHSt 57, 183, 191 f. Heghmanns ZJS 2012, 826; Trüg JZ 2013, 179, 183; Sinn/Bohnhorst StV 2012, 661, 662; zutreffend dagegen Fischer ZIS 2014, 59, 60. 48 Schünemann JR 1989, 89, 93. 49 OLG Braunschweig NStZ 2013, 593, 595. 50 Schroth NStZ 2013, 437, 443. 51 A.A. Rissing-van Saan DÄBl. 2013, A 808, 809; dies. NStZ 2014, 233, 242. 52 S. zu dieser Kontroverse nur Höfling in: ders. (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 16 Rn. 25 sowie – mit geradezu kohlhaasschem Eifer – Gutmann in: Haarhoff (Hrsg.), Organversagen, 2014, S. 143, 148 ff. vs. Rosenau FS Deutsch 80. Geburtstag, 2009, S. 435, 444 ff. 47
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Frage der Strafbarkeit von Richtlinienverstößen nichts gewonnen. Weiterhin wäre der Transplanteur an den Standard medizinischen Handelns gebunden. So sagt es auch das TPG. Vieles spricht dafür, dass Manipulationen von Patientendaten niemals einem solchen Standard entsprochen hätten. Damit geht auch der Einwand mangelnder Bestimmtheit ins Leere. Der Maßstab des medizinischen Standards ist sehr offen und gerade nicht bestimmt. Jede Richtlinie der BÄK ist um ein Vielfaches bestimmter. Gleichwohl steht und fällt die Strafbarkeit eines Arztes regelmäßig mit der Einhaltung des Standards, sowohl bei fahrlässigen wie vorsätzlichen Delikten.53 Ein Bestimmtheitsproblem ist hier bislang noch nicht überzeugend behauptet worden. 4. Urkundendelikte In Betracht zu ziehen wäre schließlich eine Strafbarkeit des O. nach § 267 StGB oder § 278 StGB. Diese Tatbestände sind eindeutig nicht erfüllt. Auch in den Niederungen der Bagatellkriminalität bleibt O. straflos.
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Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 18a.
Untreue und Bilanz: Zur Bedeutung des Faktors Glück Franz Salditt I. Bilanzstichtag Der Vorstand einer Aktiengesellschaft investiert für diese aus deren Liquidität 500.000,00 € in Losen eines Glücksspiels. Die Anlage findet im Dezember 2012 statt, die Ausspielung im Januar 2013. Zum 31. Dezember 2012 wird bilanziert. Die befremdliche Maßnahme versteht sich als Erwerb von Gewinnchancen und wird als „sonstiger Vermögensgegenstand“ im kurzfristigen Umlaufvermögen (§ 266 Abs. 2 B. II 4. HGB) verbucht. Nach den Regeln für Umlaufvermögen müssen die Anschaffungskosten auf den niedrigeren Wert der Gewinnchancen abgeschrieben werden, der hier bei 25.000,00 € liegen soll (§ 253 Abs. 4 S. 1 HGB). Die Aktiengesellschaft, deren Geschäftsgegenstand der Maschinenbau ist, erleidet mithin im Jahr 2012 einen bilanziellen Nachteil von 475.000,00 €. Weil angenommen werden darf, dass der mutige Vorstand seine Befugnisse missbräuchlich überschritten hat, könnte der Tatbestand der Untreue (§ 266 StGB) erfüllt sein. Im Januar 2013 entfällt auf eines der so angeschafften Lose ein Gewinn von einer Mio. €. Das ist bei der Aufstellung des Vorjahresabschlusses im März 2013 bekannt. Nach § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB dürfen Gewinne aber, selbst wenn sie vor Aufstellung der Bilanz bekanntgeworden sind, im Abschluss des Vorjahres nur berücksichtigt werden, sofern sie am Stichtag, dem 31. Dezember 2012, realisiert waren. Der Schaden und der Gewinn entstehen also in unterschiedlichen Perioden; das macht eine Kompensation prima facie unmöglich. Da im Jahre 2013 mit diesem Gewinn nicht gerechnet werden konnte, wird der Vorstand wegen Untreue angeklagt.
II. Dynamischer Prozess Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 23. Juni 2010 darauf hingewiesen, „dass es sich bei der Entstehung von Vermögensnachteilen oder -schäden im Allgemeinen um einen dynamischen Prozess handelt …, dessen Beurteilung stark davon abhängen kann, welcher Zeitpunkt der
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Untersuchung zu Grunde gelegt wird.“1 Am Beispiel von Kreditforderungen einer Bank, die ebenfalls zum Umlaufvermögen gehören, hat das Bundesverfassungsgericht die Anwendung bilanzrechtlicher Regeln für angemessen gehalten. Sei wegen fehlender Bonität und fehlender Sicherheit der Schuldner konkret erkennbar, dass mit einem Forderungsausfall zu rechnen ist, müsse folglich eine Einzelwertberichtigung oder sogar eine Direktabschreibung vorgenommen werden, weshalb das Vermögen der Bank bei gebotener wirtschaftlicher Betrachtung bereits durch den Vertragsabschluss (die verbindliche Kreditzusage) wegen Minderwertigkeit des Gegenleistungsanspruchs negativ verändert werde.2 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht davor gewarnt, die (zukünftige) Verlustgefahr mit einem (gegenwärtigen) Schaden gleichzusetzen.3 Auch haben die Richter „komplexe wirtschaftliche Analysen“ für erforderlich gehalten, wenn darüber entschieden wird, ob ein Wert unterhalb der Anschaffungs- oder Herstellungskosten beigelegt werden soll, ohne über Börsenoder Marktpreise zu verfügen.4 Anerkannte Bewertungsverfahren und -maßstäbe seien zu berücksichtigen, die Hinzuziehung eines Sachverständigen könne geboten sein.5 Prognosen- und Beurteilungsspielräume seien „durch vorsichtige Schätzung auszufüllen.“6 Doch wird das bilanzrechtliche Stichtagsprinzip nicht grundsätzlich verworfen. In der Entscheidung heißt es: „… eine unvorhersehbare glückliche nachträgliche Entwicklung ist nicht geeignet, die wirtschaftliche Minderwertigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt – die sich, soweit erkannt, bei einer Veräußerung der betreffenden Vermögenswerte voll auswirken würde – nachträglich zu beseitigen.“ 7 Die strafrechtliche Bedeutung dieser Formulierung ist zu hinterfragen.
III. Glücklicher Misserfolg Bei Verletzungsdelikten, zu denen die Untreue gehört, spielt der Faktor Glück eine Rolle, mit der die zitierte Erwägung des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne weiteres vereinbar erscheint. Müller vergiftet seine Frau mit einem Stoff, der langsam wirkt und sich erst während des Urlaubs, den er für sich plant, entfalten soll. Alsbald nach der Beibringung stirbt die Ahnungs1
BVerfG NJW 2010, 3209, 3214 (Rn. 103). BVerfG NJW 2010, 3209, 3219 (Rn. 143). 3 BVerfG NJW 2010, 3209, 3220 (Rn. 150). 4 BVerfG NJW 2010, 3209, 3219 f. (Rn. 146). 5 BVerfG NJW 2010, 3209, 3220 (Rn. 151). 6 BVerfG NJW 2010, 3209, 3220 (Rn. 151). 7 BVerfGNJW 2010, 3209, 3219 (Rn. 144). Zur Bilanz als „heuristisches Hilfsmittel“ mit „Modellcharakter für die Schadensermittlung“Hefendehl FS Erich Samson, 2010, S. 295 ff., 301 ff. 2
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lose infolge eines Verkehrsunfalles, für den der Ehemann keine Verantwortung trägt. Obwohl der Tod der Ehefrau bereits vorher, nämlich zum Zeitpunkt der Vergiftung, feststand, wird der Täter nur wegen eines versuchten Tötungsdelikts und gefährlicher Körperverletzung bestraft.8 Hier sind es unvorhergesehene unglückliche (wenngleich für den Ehemann glückliche) Umstände, die den angestrebten Erfolg verhindert haben. Fällt der Säugling, den der eifersüchtige Liebhaber vom Balkon der Wohnung im zehnten Stock wirft, sacht und wohlbehalten in den Vorgarten, weil ihn das Geflecht eines bergenden Strauchs gebremst und aufgefangen hat, grenzt der Ablauf an ein Wunder. Während des Sturzes hätte niemand etwas anderes als den schnellen Tod des Kindes erwartet; dennoch bleibt es selbstverständlich beim Versuch. Ähnlich kommt es vor, dass Fortuna bei Vermögensdelikten interveniert. Der Testamentsvollstrecker eines Kunsthändlers verabscheut ein zum Nachlass gehörendes berühmtes (aber vulgäres) Aquarell Picassos. Er stellt es in die feuchte Waschküche. Untreue bleibt außer Betracht, wenn der Hausmeister das völlig intakte Kunstwerk noch an demselben Tag entdeckt und der Polizei unter Hinweis auf den Erbfall übergibt. In Sachen Picasso hilft das Glück sogar auf vollkommene Weise, denn § 266 StGB sieht eine Bestrafung des Versuchs nicht vor. Der Gesetzgeber, der dem Glück keinen Einfluss einräumen will, müsste solche Lücken ausfüllen oder bereits die Gefährdung zum Delikt erheben (wie im Falle des § 319 StGB, soweit bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Baues gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstoßen und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen gefährdet wird).
IV. Voraussichtlich dauernde Wertminderung Das im Handelsgesetzbuch geregelte Bilanzrecht hat die Funktion, „den unbedenklich ausschüttbaren Gewinn zu ermitteln.“9 Damit wird eine Begrenzung zum Schutz der Gläubiger, auch der Arbeitnehmer, angestrebt.10 Das verpflichtet den Kaufmann zur Vorsicht. Deshalb sind Vermögensgegenstände „höchstens“ mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten, vermindert um planmäßige Abschreibungen für Wertverzehr, anzusetzen (§ 253 Abs. 1 S. 1 HGB). Bei Vermögensgegenständen des Umlaufvermögens (zu dem die Lose des Eingangsfalles ebenso wie Kreditforderungen gehören) muss der niedrigere Wert angesetzt werden, „der sich aus einem Börsen- oder 8 § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB tritt tateinheitlich zur versuchten Tötung hinzu (BGHSt 44, 196), weil sonst der Unrechtsgehalt der Tat nicht hinreichend erfasst wird; Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 211 Rn. 107. 9 Hopt/Merkt, Bilanzrecht, 1. Aufl. 2010, Einl. Vor § 238 HGB Rn. 179. 10 Hopt/Merkt (Fn. 9), Einl. Vor § 238 HGB Rn. 179.
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Marktpreis am Abschlussstichtag ergibt“ (§ 253 Abs. 4 S. 1 HGB). Dieses strenge Niederstwertprinzip ist zwingend, „auch wenn wieder mit einer Wertsteigerung zu rechnen ist.“11 Bereits daraus folgt, dass der bilanzierende Ansatz von Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens eine auf Erholung gerichtete dynamische Entwicklung ignorieren muss, solange diese den Börsenoder Marktpreis noch nicht beeinflusst hat. Die Korrektur bleibt dann einer Wertaufholung in dem späteren Jahr vorbehalten, in dem der Börsen- oder Marktwert die Besserung widerspiegelt und indiziert (§ 253 Abs. 5 HGB). Das Gebot, die Bilanz mit der Gewinn- und Verlustrechnung zum Schluss eines jeden Geschäftsjahres aufzustellen (§ 242 HGB), sorgt für eine in regelmäßigen und kurzen Abständen stattfindende Überprüfung; sie stellt sicher, dass laufende Ausschüttungen sich fortwährend am Vorsichtsprinzip orientieren und den Schutz der Gläubiger nicht verletzen. Stetigkeit (§ 252 Abs. 1 Nr. 6 HGB) und Bilanzkontinuität (§ 252 Abs. 1 Nr. 1 HGB) gewährleisten im vorgesehenen Jahresrhythmus, dass die reduzierten Ansätze der Vorjahre etwa durch realisierte Gewinne oder erlaubte Wertaufholungen in den Folgejahren ausgeglichen werden. Dies führt, soweit sich die Verhältnisse bessern, zur nachträglichen Berichtigung der Bilanzansätze ex nunc. Entsprechendes gilt umgekehrt, wenn der niedrigere Wert durch zu viel Optimismus verfehlt worden sein sollte und eine Aufholung unterbleibt. Im Strafrecht gibt es, falls ein Vermögensschaden als Deliktsfolge festgestellt werden soll, aber keinen auf Korrektur und Ausgleich angelegten, sich regelmäßig wiederholenden Mechanismus kontinuierlicher Bilanzierung. Der einzelne Jahresabschluss hat im wirtschaftlichen Leben des Kaufmanns und in der Kette der Bilanzen, bezogen auf die lange Existenz des Unternehmens, nur den vorläufigen Charakter einer begrenzten Episode. Diese Regelung strahlt auf das Strafrecht nicht aus; sie beruht auf dem Versuch des handelsrechtlichen Gesetzgebers, das Entnahme- und Ausschüttungsverhalten laufend zu kontrollieren und einzuhegen. Ein rechtskräftiges Strafurteil mit seiner Schadensberechnung beansprucht dagegen ein für alle Mal Bestand. Bilanziert wird im Zweifel pessimistisch; der Strafrichter jedoch ist gehalten, den aufzuklärenden Wert eines Wirtschaftsguts in dubio pro reo zu bemessen. Steht Strafe an, gibt es bei dem Vermögensdelikt des § 266 StGB keine Rechtfertigung dafür, die Entscheidung am Gläubigerschutz und an dem handelsrechtlichen Ziel der Substanzerhaltung zu orientieren. Das Handelsrecht und das Strafgesetzbuch folgen mithin unterschiedlichen Prinzipien. Bei § 266 StGB sperrt der Bilanzstichtag den Faktor Glück nicht grundsätzlich aus.12 11 Hopt/Merkt (Fn. 9), § 253 HGB Rn. 15. Das „true and fair view“-Prinzip der Generalklausel des § 264 Abs. 2 HGB gilt für den Jahresabschluss insgesamt, nicht aber für jeden Teil (Hopt/Merkt (Fn. 9), § 264 Rn. 11; a.A. Hefendehl FS Erich Samson, 2010, S. 295, 302. 12 Hefendehl FS Erich Samson, 2010, S. 295, 303 f. betrachtet „glückliche Zahlungseingänge“ nach der Vermögensverfügung und wohl erst recht nach dem Bilanzstichtag tat-
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Ein Beispiel bieten die Wirtschaftsgüter im Anlagevermögen. Dazu zählen die auf Dauer betrieblich genutzten Grundstücke (§ 266 Abs. 2 A. II 1. HGB). Hier hat die Rechtslage einen anderen Inhalt als bei dem schon erwähnten Umlaufvermögen. § 253 Abs. 3 S. 3 HGB gewährt für das Anlagevermögen, wenn der Marktwert zum Bilanzstichtag gesunken ist, nur eine sehr eingeschränkte Befugnis und Pflicht zur außerplanmäßigen Abschreibung. Diese hängt davon ab, dass eine „voraussichtlich dauernde Wertminderung“ vorliegt. Im Umlaufvermögen hingegen müssen konjunkturelle Schwankungen nach unten nachvollzogen werden. Bei Geschäftsgrundstücken, also Anlagevermögen, bleiben vorübergehende Wertminderungen von vornherein irrelevant. Dies liegt an der Sache, nämlich daran, dass die Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens ex definitione „dauernd“ dem Geschäftsbetrieb zu dienen bestimmt sind (§ 247 Abs. 2 HGB). Die nur vorübergehende Wertminderung wird damit durch die Expektanz der späteren Wertaufholung neutralisiert. Eine (begrenzte) Ausnahme davon gilt für das Anlagevermögen nur dann, wenn eine Finanzanlage bewertet werden muss, zum Beispiel die Beteiligung an einer Gesellschaft, der das Geschäftsgrundstück gehört und die es an das Mutterunternehmen verpachtet hat.13 Sinkt der Marktwert dieser Immobilie und als Folge auch der Wert der Beteiligung an der Tochtergesellschaft, in der die Liegenschaft gehalten wird, hat der Kaufmann nur das gesetzliche Wahlrecht, eine außerplanmäßige Abschreibung dieser Beteiligung „auch bei voraussichtlich nicht dauernder Wertminderung“ vorzunehmen (§ 253 Abs. 3 S. 4 HGB). Dass aber die Entscheidung über ein bloßes Wahlrecht und die damit verbundene optionale Abschreibung kein Anknüpfungssachverhalt für ein zu § 266 StGB ergehendes Strafurteil sein können, liegt auf der Hand.
V. Prognose ex ante oder Feststellung ex post? Das Handelsrecht orientiert sich, wie zu zeigen war, in sehr differenzierter Weise am Zweck des zu bilanzierenden Gegenstands. Die Kreditforderungen, über die das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, gehören ähnlich wie das Glückslos des Eingangsfalles zum Umlaufvermögen.14 Dieses unterscheidet sich vom Anlagevermögen, dessen Wirtschaftsgüter dazu bestimmt sind, „dauernd dem Geschäftsbetrieb zu dienen“. Folglich geht es beim Um-
bestandlich als irrelevant. In dieser Allgemeinheit erscheint dies aber zweifelhaft, wie nachfolgend gezeigt werden soll. 13 § 266 Abs. 2 A. III Nr. 1 und 3 HGB. 14 BVerfG NJW 2010, 3209, 3219 (Rn. 141 und 143).
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laufvermögen um Gegenstände mit einem nur vorübergehenden und oft kurzfristigen Zweck, die verbraucht, eingelöst, verarbeitet oder alsbald veräußert werden sollen. Dieser Zweck deckt sich mit einem nur kurzen und am Bilanztakt orientierten Prognosezeitraum. Wird der Schuldner, dem im Jahre 2012 pflichtwidrig trotz fehlender Bonität ein Kredit ohne Sicherheit ausgezahlt worden ist, im Jahre 2013 durch überraschende Erbschaft solvent, kommt das Glück bilanzrechtlich zu spät. Das mögliche Spannungsverhältnis dieses Ergebnisses zum Strafrecht wird an dem Beispiel erkennbar, mit dem die vorliegende Betrachtung begonnen hat. Die Glückslose, die der Vorstand angeschafft hatte, sollten binnen weniger Tage ausgespielt werden. Dass der Bilanzstichtag zwischen dem Erwerb und der Ausspielung lag, war ein Zufall. Die hier geltende gesetzliche Vorschrift des § 253 Abs. 4 HGB, nämlich das für Umlaufvermögen angeordnete strenge Niederstwertprinzip, zwingt dazu, im Jahre 2012 eine Wertberichtigung und im Folgejahr einen umso höheren Gewinn in die Bilanz einfließen zu lassen. Das entspricht dem speziellen Ziel der beschriebenen Rechtslage, weil ein Gewinn 2012 bis zum Ende des Geschäftsjahres noch nicht angefallen war. Wären die Lose im Oktober gekauft und der Gewinn Anfang November erzielt worden, hätte es die kalendarische Trennung nicht gegeben. Der einheitliche Lebenssachverhalt, geprägt durch den auf die schnelle Ausspielung gerichteten einzigen Zweck des Vermögensgegenstands, würde in diesem Fall noch im Jahre 2012 als riskant erlangter, aber im Ergebnis doch glücklicher, Ertrag der Aktiengesellschaft erfasst. Der Schadensbegriff des Untreuetatbestands kann aber nicht davon abhängen, ob zwischen dem Erwerb des zum Umlaufvermögen zählenden Vermögensgegenstands und dem Zeitpunkt, an dem dieser seinem Zweck entsprechend verwertet wird, ein Bilanzstichtag gelegen hat. Vielmehr müssen die Ermittlung und Berechnung, deren Ergebnis über die Frage des Vermögensnachteils entscheidet, im Strafrecht unter Einbeziehung der Erkenntnisse vorgenommen werden, die innerhalb des Prognosezeitraums zur Verfügung stehen, der aus der Bestimmung des bilanziellen Wirtschaftsgutes abzuleiten ist. Gläubigerschutz und Ausschüttungssperre scheiden als Maßstäbe für die Schadensfeststellung nach § 266 StGB aus. Insoweit bleibt der Bilanzstichtag unerheblich. Bei Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens, zum Beispiel bei dem schon erwähnten Geschäftsgrundstück der Aktiengesellschaft, gilt eine ganz andere Perspektive als im Umlaufvermögen. Wegen ihrer Bestimmung, „dauernd dem Geschäftsbetrieb zu dienen“, hängt die außerplanmäßige Abschreibung nach § 253 Abs. 3 S. 3 HGB ausdrücklich davon ab, ob eine „voraussichtlich dauernde Wertminderung“ zu verzeichnen ist. Hier reicht der Prognosezeitraum weit in die Zukunft. Eine dauernde Wertminderung liegt nach herrschender Meinung nämlich nur vor, wenn zu erwarten ist, dass der zukünftige Wert des Wirtschaftsguts den bisher bilanzierten Ansatz während eines
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erheblichen Teils der Nutzungsdauer im Unternehmen verfehlen wird.15 Als dauernd in diesem Sinne wird eine Wertminderung folglich betrachtet, wenn ihr Fortbestand mindestens für die halbe Restnutzungszeit zu erwarten ist.16 Bei Geschäftsgebäuden dürfte dies in der Regel eine Prognose über viele Jahre hinaus erfordern. Der gebotene Blick in die Zukunft macht deshalb nicht am Bilanzstichtag Halt, auch nicht an dem Tag, an dem der Jahresabschluss aufgestellt wird. Kauft der Vorstand der Aktiengesellschaft ein neues Betriebsgebäude zu einem Preis, der um ein Viertel über den zu diesem Zeitpunkt herrschenden Werten auf dem Immobilienmarkt liegt, rechtfertigt allein diese Feststellung noch keine Wertberichtigung. Vielmehr muss über den Bilanzstichtag hinaus eingeschätzt werden, ob eine Wertaufholung innerhalb mindestens der halben Restnutzungsdauer des Geschäftsgebäudes unwahrscheinlich ist. Diese Rechtslage hat praktische Konsequenzen. Nach allen Erfahrungen befinden sich die Immobilienmärkte in einer stetigen Aufwärtsbewegung, die von jeweils nur kurzen und konjunkturell bedingten Abschwächungen unterbrochen wird. Je länger der Prognosezeitraum, desto größer wird der Einfluss dieser allgemeinen Erfahrung. Das spricht für Wertaufholung. Mutmaßlich vorübergehende Schwankungen werden deshalb hier durch eine positive (vom Handelsrecht anerkannte) Expektanz verdrängt. Diese Rechtslage beruht auf dem Zweck des Wirtschaftsguts, das bewertet werden muss, nicht aber auf dem Gläubigerschutz. Sie wurzelt in der Sache und ist folglich auch im Strafrecht zu bedenken. Aus den dargelegten bilanzrechtlichen Gründen sind die (am Tag des Geschäfts) überhöhten Anschaffungskosten für das neue Betriebsgebäude nicht abzuschreiben, sofern die Marktverhältnisse, über die sich die Parteien des Kaufvertrages hinweggesetzt haben, von einer nur als vorübergehend zu beurteilenden Abschwächung beeinflusst werden. Das Hindernis, das dann der (außerplanmäßigen) Wertberichtigung entgegensteht, hat im Strafrecht wie im Handelsrecht Bedeutung. Die Regelung, die prinzipiell Gläubigerschutz durch Ausschüttungssperre ermöglichen soll, weicht in diesem Fall schon handelsrechtlich einer realistischen, durch Vorsicht ungetrübten, Beurteilung. Diese wird von der Erkenntnis getragen, dass langfristig genutzte Wirtschaftsgüter ihrer Bestimmung nach gerade nicht alsbald wieder veräußert werden. Der entrichtete Mehrpreis hat deshalb Bestand, soweit erwartet wird, dass die ungünstigen Marktverhältnisse nicht über die halbe Restnutzungsdauer fortbestehen werden.
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Hopt/Merkt (Fn. 9), § 253 HGB Rn. 13. Hopt/Merkt (Fn. 9), § 253 HGB Rn. 13. Der Bundesfinanzhof hat mit Urteil vom 14. März 2006 (BStBl. 2006 II, 680) darauf hingewiesen, bereits der Wortlaut spreche dafür, „eine „dauernde Wertminderung“ nur dann anzunehmen, wenn der Teilwert des Wirtschaftsguts während seiner mutmaßlichen Nutzungsdauer im Betrieb überwiegend unter seinem Buchwert liegt. Anderenfalls liegt eine bloße Wertschwankung vor.“ 16
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Diesen normativen Maßstab muss auch der Strafrichter respektieren, der sich mit dem Vorwurf der Untreue befasst, die durch einen zu viel gezahlten Kaufpreis begangen worden sein soll. Das hat Folgen, die leicht übersehen werden, wenn der Blick auf die Zahlung fixiert bleibt. Der Strafrichter ist an Bilanzstichtage nicht gebunden, schon gar nicht an den Zeitpunkt der Bilanzaufstellung.17 Wird bei Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens spätestens vor dem Urteil eine (bis zum Ablauf der halben Restnutzungszeit eingetretene) Wertaufholung stattgefunden haben, steht diese Prognose der Annahme eines Schadens entgegen. Bei dem Untreuetatbestand handelt es sich um ein Verletzungsdelikt. Deshalb sind auch unvorhergesehene glückliche Entwicklungen, wenn sie innerhalb des die Dauer bestimmenden Zeitraums eintreten, geeignet, den sogenannten Erfolg auszuschließen. Bis zum Ende der Hauptverandlung müssen daher weitere Erkenntnisse über eine schon stattgefundene oder über eine zu prognostizierende Wertaufholung berücksichtigt werden. Ist der dafür maßgebende Zeitraum noch nicht verstrichen, muss der Richter die verbleibende künftige Entwicklung mit Hilfe eines Sachverständigen abklären. Soweit aber bereits auf die Jahre nach dem Ankauf zurückgeblickt werden kann, tritt an die Stelle der Prognose ex ante die Feststellung ex post. Beim volatilen Umlaufvermögen, namentlich bei Kreditforderungen, fehlt das normative Element „auf Dauer.“ Aus diesem Grund kann der einmal entstandene Schaden im Falle der vom Bundesverfassungsgericht betrachteten Kreditforderungen nicht durch künftige Wertaufholung aus der Welt geschafft werden. Geht es um Umlaufvermögen, wird mithin spätestens der Stichtag der jährlichen Bilanzierung zur endgültigen Zäsur, die mit der schnellen Taktung der einschlägigen Aktiva übereinstimmt. Anders als bei dem einheitlichen Lebenssachverhalt des Lotterieloses, bei dem der Tag des Erwerbs und der Tag der alsbald nachfolgenden und vom Zufall geprägten Ausspielung in einem besonders engen Zusammenhang stehen, werden bei der Kreditforderung die Weichen zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung gestellt. Deshalb entlastet die glückliche Erbschaft, die den insolventen Schuldner leistungsfähig macht, auch im Strafrecht nicht, nachdem der Darlehensvertrag schon als notleidend zu qualifizieren war. 17 Selbst das Bilanzrecht bindet sich nicht endgültig an die Vorschrift, wonach der Jahresabschluss „innerhalb der einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen“ ist (§ 243 Abs. 3 HGB). Dazu Hopt/Merkt (Fn.9), § 243 HGB Rn. 12: „Zieht sich die Bilanzaufstellung, wie üblich, über einen längeren Zeitraum hin, kommt es auf den Endzeitpunkt an, hA …“ Dies kann bedeuten, wenn sich die Aufstellung der Bilanz, aus welchen Gründen auch immer, über Jahre hinzieht, dass sogenannte wertaufhellende Tatsachen in dem Umfang berücksichtigt werden müssen, wie sie bis zum Tag der späten Aufstellung des Jahresabschlusses gewonnen wurden. Geht es um Tatsachen innerhalb des Prognosezeitraums nach § 253 Abs. 3 S. 3 HGB („voraussichtlich dauernde Wertminderung“) wird dann aus dem Gegenstand der Prognose der Gegenstand einer Feststellung.
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VI. Fazit Im Ergebnis ist daher zu unterscheiden. Die Verletzungsdelikte des Strafgesetzbuchs akzeptieren, durchaus anders als das Bundesverfassungsgericht meint, von Rechts wegen glückliche nachträgliche Entwicklungen; diese können verhindern, dass eine Vollendung des Tatbestandes eintritt. Das Handelsrecht der Bilanzierung folgt anderen Prinzipien. Hier steht insbesondere beim Umlaufvermögen der Bilanzstichtag einem solchen Glück zumeist im Wege. Bei Wirtschaftsgütern im Anlagevermögen dagegen kommt es, sollen sie abgewertet werden, normativ auf eine voraussichtlich „dauernde Wertminderung“ an. Diese Prognose muss sich weit über den nächsten Bilanzstichtag und über den Tag der Bilanzaufstellung hinaus erstrecken. Glückliche Wertaufholungen bis zum Tag des strafgerichtlichen Urteils sind unter diesen Umständen grundsätzlich geeignet, den Schadenserfolg auszuschließen. Bei dem auf Dauer investierten Anlagevermögen im Unternehmen haben vorübergehende Minderwerte, wenn sie nicht durch Veräußerung realisiert werden, normativ keine Bedeutung; sie werden durch die Expektanz kompensiert, die Grundlage der bilanzrechtlichen Regelung (§ 253 Abs. 3 S. 3 HGB) ist. Umlaufvermögen lässt einen solchen „Blick in die Zukunft“ nicht zu. Wie die eher seltene Ausnahme der Lotterielose zeigt, kann hier allenfalls ein sehr kurzfristig nach der Anschaffung vereinnahmter Gewinn den einheitlichen Vorgang zum (straflosen) Versuch werden lassen. Bei der Kreditgewährung, die den wirtschaftlichen Anforderungen nicht genügt, kommt der unerwartete Zuwachs an Leistungsfähigkeit, der im weiteren Verlauf durch Erbschaft eintritt, zu spät. Strafrechtliche Hilfe durch den Faktor Glück hängt für den Kaufmann im Ergebnis deshalb zumeist davon ab, ob ein Wirtschaftsgut im Anlagevermögen gehalten wird. Anders ausgedrückt: Der hier abgehandelte Faktor Glück setzt voraus, dass sowohl innerhalb des Bilanzrechts als auch zwischen diesem und dem Strafrecht nach dem Gegenstand, um den es geht, differenziert wird.
Wert als flüchtige und mehrdeutige Kategorie – Anmerkungen zum Vermögensschaden bei der Untreue Petra Velten I. Einleitung Schaden ist Wertverlust. Selbst wenn man sich auf diese Prämisse einigt, also Schaden weder als Substanzverlust noch als Rechtsverlust begreift, ist wenig geklärt. Die Bewertung von Gütern changiert je nach Gegenstand und Zeitpunkt. Bewertungen enthalten oft ein prognostisches Element: Bonität von Forderungen, erwartete Rendite oder vermutete Kursentwicklungen beeinflussen den jeweiligen Wert – die Bewertungskriterien sind auch unter Fachleuten höchst streitig. Volatilität ist ein Indiz für diese Bewertungsunsicherheiten, die spätere Bewertung dementiert oft die vorherige. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen, von denen der folgende Beitrag nur einigen nachgeht: Für den Tatbestand der Untreue widmet er sich den Fragen nach Bewertungsgegenstand und -zeitpunkt. Sieht man von den personalen Vermögensbegriffen ab,1 wird Schaden meist als negative Wertdifferenz definiert. Ich halte einen juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff in der Variante für vorzugswürdig, wie er im Wesentlichen z.B. auch von Schünemann und Hefendehl vertreten wird.2 Gegenstand des Vermögens sind nur rechtlich übertragbare 3 Güter. Inhaber des Vermögens ist, wem es gehört, nicht wer faktisch oder wirtschaftlich darüber bestimmen kann. Andernfalls würde z.B. im Fall einer Erpressung zugleich mit dem er-
1 Vgl. etwa Otto Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970, S. 35 f. und S. 70; vgl. auch Schmidhäuser Strafrecht BT, 2. Aufl. 1983, 11. Kapitel Rn. 1 ff.; Bockelmann JZ 1952, 461, 464 f.; Hardwig GA 1956, 6, 17 ff.; Heinitz JR 1968, 387 f.; Bockelmann FS Kohlrausch, 1944, S. 226, 238 ff.; kritisch dazu Münchener Kommentar StGB/Hefendehl, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 357–361; Nomos Kommentar StGB/Kindhäuser, 4. Aufl. 2013, § 263 Rn. 32 f.; Schönke/Schröder/Cramer/Perron StGB, 28. Aufl. 2010, § 263 Rn. 81. 2 MK/Hefendehl (Fn. 1), § 263 Rn. 374 ff.; Leipziger Kommentar StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2012, § 266 Rn. 166; teilweise übereinstimmend der funktionale Vermögensbegriff NK/Kindhäuser (Fn. 1), § 263 Rn. 35 ff. 3 Anders hinsichtlich Exspektanzen und Anwartschaften Hefendehl Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, S. 117 f.; LK/Schünemann (Fn. 2), § 266 Rn. 167.
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folgversprechenden Angriff die Vermögenszuordnung in Auflösung geraten. Der Wert des Vermögens ist wirtschaftlich durch den Tauschwert bestimmt, Schaden ist Wertminderung. Exspektanzen (wie z.B. der Patientenstamm einer Arztpraxis) sind nicht Gegenstand des Vermögens, bestimmen aber seinen Wert. Dennoch verbleiben bezüglich der Schadensberechnung noch viele Unklarheiten, von denen einige hier analysiert werden sollen.
II. Schadensberechnung: Gesamt- und Einzelsaldierung 1. Die Bedeutung der Gesamtsaldierung für die Fallgruppe der Zweckverfehlung Der zumeist verwendeten Definition zufolge liegt ein Schaden vor, wenn der Gesamtwert des Vermögens infolge der Verfügung vermindert wird (Prinzip der Gesamtsaldierung).4 Danach kommt es auf den Saldo der Werte vor und nach der Verfügung an.5 Zur Vermeidung der aufwändigen Gesamtbewertung des Vermögens greifen Rspr. und Lehre für die Berechnung zu einer Hilfskonstruktion. Sie saldieren nicht das Vermögen insgesamt, sondern Leistung und Gegenleistung.6 In Wirklichkeit führt diese vorgebliche Berechnungsvereinfachung jedoch zu einem eigenständigen Schadensmodell, das nicht den Bestand des Vermögens, sondern die Austauschgerechtigkeit schützt.7 Die Differenz lässt sich an einer Variante des Melkmaschinenfalls zeigen. Ein Gutsverwalter kauft namens des Vermögensinhabers, eines Bauern, der überwiegend Getreide anbaut und nebenher zehn Milchkühe hält, zum Marktpreis eine Melkmaschine für 40 000 €, die für 500 Kühe ausgelegt ist. Eine Melkmaschine für 10 Kühe koste 2000 €. Wenn der Marktwert der 4 Vgl. Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, § 263 Rn. 36; LK/Schünemann (Fn. 2), § 266 Rn. 168 f.; LK/Tiedemann, 12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 159; MK/Hefendehl (Fn. 1), § 263 Rn. 492; Sch/Sch/Cramer/Perron (Fn. 1), § 263 Rn. 106 f.; Systematischer Kommentar/ Hoyer, § 263 Rn. 183, 193 (Februar 2004); Fischer StGB, 61. Aufl. 2014 § 263 Rn. 110 f.; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, § 20 Rn. 89 f.; Bockelmann Strafrecht BT/1, 2. Aufl. 1982, S. 66; Gössel Strafrecht BT/2, 1996, § 21 Rn. 144 ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT/1, 10. Aufl. 2009, § 41 Rn. 107; Mitsch Strafrecht BT II/1, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 95; Welzel Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 374. Für die Rspr.: BGHSt 16, 220, 221 = NJW 1961, 1876; ferner etwa BGH NStZ 2008, 96, 98; BGHSt 45, 1, 4 = NJW 1999, 1485, 1486; BGHSt 34, 199, 203 = NJW 1987, 388, 389. 5 Vgl. etwa Sch/Sch/Cramer/Perron (Fn. 1), § 263 Rn. 99; SK/Hoyer (Fn. 4), § 263 Rn. 215; NK/Kindhäuser (Fn. 1), § 263 Rn. 262. 6 Vgl. MK/Hefendehl (Fn. 1), § 263 Rn. 493; SK/Hoyer (Fn. 4), § 263 Rn. 193; Sch/Sch/ Cramer/Perron (Fn. 1), § 263 Rn. 108; Joecks Der Kapitalanlagenbetrug, 1987, S. 140. Für die Rspr.: BGHSt 16, 220; 45, 1; 34, 199; BGH NStZ 2008, 96. 7 Vgl. dazu etwa Cramer Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. 49; Joecks (Fn. 6), S. 140; SK/Hoyer (Fn. 4), § 263 Rn. 193; MK/Hefendehl (Fn. 1), § 263 Rn. 492.
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Maschine dem gezahlten Kaufpreis entspricht, ist nach der herrschenden Berechnung kein Schaden entstanden. Fragt man hingegen, ob der Gesamtwert des Betriebs durch dieses Geschäft gleich geblieben ist, erzielt man ein anderes Ergebnis: Der Betrieb hat 70 000 € verloren und eine Melkmaschine erhalten, deren Funktion für den Betrieb einer Investition von 2000 € gleichkäme.8 Das Unternehmen wäre ohne diese Investition wertvoller. Die betriebswirtschaftliche Bewertung von Unternehmen kennt sehr verschiedene Berechnungsmethoden: Das Ertragswertverfahren (das die Bewertung im Hinblick auf die Erreichbarkeit der mit dem Unternehmen angestrebten Ziele vornimmt),9 das Marktwertverfahren (das den Verkehrswert aus am Markt erzielbaren Preisen für das Unternehmen oder Unternehmensbestandteile errechnet, er entspricht dem Tauschwert für das Unternehmen), das Liquidationswertverfahren (das den Wert bei Einzelverkauf der Vermögensmasse bestimmt) und das Substanzwertverfahren (das die Kosten der Wiederbeschaffung errechnet). Anders als bei der Einzelsaldierung stellt keine dieser Berechnungsmethoden auf die Einkaufspreise von Unternehmensbestandteilen ab. Diskutabel sind allein das Ertrags- und das Marktwertverfahren.10 Letzteres ist vorzuziehen, da es am ehesten den Reichtum des Vermögensinhabers misst. Es entspricht dem Tauschwert des Unternehmens, der das Vermögen als ökonomische Basis der Erfüllung von Bedürfnissen beliebiger Art charakterisiert. Die Unterschiede beider Berechnungsarten sind praktisch erheblich: Im Fall der Einzelsaldierung scheidet ein Schaden aus, sobald der Güteraustausch zum Marktpreis erfolgte. Anders bei Gesamtsaldierung: Den Wert eines Unternehmens als Gesamtheit kann eine Investition nicht nur schädigen, wenn sie zu teuer bezahlt wurde. Der Schaden kann auch dadurch eintreten, dass die Vermögensstruktur negativ geändert wird oder dass eine Investition ungeeignet ist.
8 Auch diese Darstellung ist eine Vereinfachung, in Wirklichkeit hat das Geschäft eine Tuns- und Unterlassenskomponente: Der Verwalter nimmt ein Geschäft vor, er tätigt eine Investition, welche prima vista das Gesamtvermögen nur dann senkt, wenn die Maschine durch den sukzessiven Verkauf der Milch nicht abgegolten werden kann; er unterlässt zugleich den Abschluss eines günstigeren Geschäfts, hinsichtlich dessen ihm an sich nur der Vorwurf gemacht werden kann, er habe es unterlassen, Gewinn zu erzielen. Unter den Bedingungen der Konkurrenz von Unternehmen geht allerdings normalerweise die zu teuer bezahlte Investition schon deshalb mit einem echten Wertverlust des Unternehmens einher, weil sie dessen Konkurrenzfähigkeit senkt. 9 Darauf hatte ich in meinem Aufsatz zur Spendenaffäre in der CDU (Velten NJW 2000, 2852, 2853) mit der Begründung abgestellt, es gehe um den Schutz dieser Vermögensinteressen. Dann wird, wie Hefendehl (MK/Hefendehl (Fn. 1), § 263 Rn. 495 f.) ausführt, tatsächlich eher die Dispositionsbefugnis geschützt. Nunmehr tendiere ich eher zum Marktwertverfahren, denn dieses fragt nach dem ökonomischen Tauschwert des Gesamtvermögens, nicht nach dem Gebrauchswert. 10 Vgl. dazu etwa Matschke/Brösel Unternehmensbewertung, 4. Aufl. 2013, S. 761.
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Gegen ein ähnliches Konzept zur Berechnung des Wertes „für das Unternehmen“11 wird eingewandt, sie verzichte auf das Wertmaß „Geld“ zugunsten des subjektiven Gebrauchswerts.12 Das trifft auf die hier vorgeschlagene Methode nicht zu. Das Gesamtvermögen wird in Geld gemessen, Bewertungskriterium ist dessen Tauschwert. Anders ist nur der Bewertungsgegenstand, nämlich das Unternehmen bzw. das Privatvermögen in seiner Gesamtheit anstelle der ausgetauschten Leistungen. Die Widmung des Vermögens (seine Funktion) prägt die Zusammensetzung des Kapitals in Gebrauchsund Produktionsgüter, daher prägt die Funktionalität dieser Komposition dessen Wert. Das hat nichts damit zu tun, wie der Vermögensinhaber selbst die Investition bewertet und ob er sie schätzt und will, führt also nicht zu einer Subjektivierung des Schadens und zum Schutz der Dispositionsfreiheit. Ob man dem Prinzip der Einzel- oder Gesamtsaldierung folgt, ist weder beliebig noch eine Frage des Einzelfalls. Es wäre eine Ungleichbehandlung, würde man der Berechnung mal den Tauschwert des Gesamtvermögens, mal den Tauschwert des einzelnen Guts, ein drittes Mal den Gebrauchswert oder den Wiederbeschaffungswert zugrunde legen. Die Entscheidung ist eine Frage des Schutzguts: Vergleicht man das Gesamtvermögen vor und nach der Vornahme des Geschäfts, dann verbietet man (im Falle der Untreue) Eingriffe in das Gesamtvermögen des Treugebers, im Falle der Einzelsaldierung soll die Norm (nur) inadäquate Austauschgeschäfte verhindern, verbietet also letztlich nur die Vermögensverschiebung (die Bereicherung) auf Kosten des Vermögensinhabers. § 266 StGB soll das Vermögen vor dem Zugriff von Personen schützen, denen es anvertraut ist.13 Normzweck ist nicht Austauschgerechtigkeit (also das Verhältnis zum Geschäftspartner) 14, sondern der Erhalt des Gesamtvermögens. Die Eignung einer Investition zum Werterhalt des Gesamtvermögens ist entscheidend.15 Fehlinvestitionen können den Vermögensinhaber (ein Unternehmen, eine betreute Person) auch dann schädigen, wenn sie angemessen bezahlt wurden: Wer das Vermögen des Machtgebers in Lotterielosen investiert, ersteht damit eine „Ware“, die auf dem Markt ihren Preis wert ist. Im Falle der Einzelsaldierung müsste man einen Schaden verneinen. Anders bei der Gesamtsaldierung: Gleichgültig, ob es sich um ein produktiv tätiges Unternehmen oder ein Privatvermögen han11 Vgl. dazu etwa LK/Lackner, 10. Aufl. 1988, § 263 Rn. 125: Es komme auf das „konkrete wirtschaftliche Gewicht an, das einem bestimmten Gut im Zusammenhang eines bestimmten Vermögens beizumessen sei“. Bei Lackner führt dies jedoch dazu, dass im Ergebnis je nach Fallgestaltung verschiedene Wertbegriffe verwendet werden. 12 Vgl. MK/Hefendehl (Fn. 1), § 263 Rn. 358–361, 690 und 731 ff.; NK/Kindhäuser (Fn. 1), § 263 Rn. 265. 13 Vgl. LK/Schünemann (Fn. 2), § 266 Rn. 1. 14 Anders für den Betrug Albrecht NStZ 2014, 17, 20 ff., die das Auseinanderfallen der Schadensbestimmung bei Betrug und Untreue kritisch einschätzt. 15 Insoweit ebenso LK/Lackner (Fn. 11), § 263 Rn. 125.
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delt, dessen Wert würde durch eine solche „Investition“ sinken. Ein potenzieller Käufer dieses Vermögens würde für einen Satz Lose weniger zahlen als für ein Guthaben auf der Bank oder einen (im Marktwert) äquivalenten Anteil an einem Wertpapier- oder Immobilienfonds. Das Vermögen ist in solchen Fällen nicht deshalb geschädigt, weil der Vermögensinhaber keine Lose haben will, sondern weil sein Vermögen für seine Zwecke (oder die entsprechenden Zwecke eines hypothetischen Käufers) nach der Investition objektiv weniger geeignet und damit ökonomisch weniger wert ist. Die nur subjektiv unerwünschte Investition schädigt nicht, solange sie den Tauschwert des Gesamtvermögens erhält. Kontraintuitiv scheinen die Ergebnisse der Gesamtsaldierung insbesondere bei der Bewertung von Geschäften für den Inhaber eines Privatvermögens. Der Kauf von Konsumgütern oder Dienstleistungen schmälert nämlich fast immer den Tauschwert des Gesamtvermögens, weil er Tauschwerte in Gebrauchswert umwandelt.16 Anders als nach den personalen Vermögensbegriffen ist der Schaden allerdings auf die Differenz zwischen Einkaufs- und Weiterverkaufspreis einschließlich des damit verbundenen Aufwandes beschränkt. Stutzen lässt einen, dass der Tauschwert ja nichts anderes ist als die Option auf diverse Güter gleichen Werts. Ändert sich diese Gleichung mit dem Erwerb eines dieser Güter? Wenn 100 Bücher im Laden 2000 € wert sind, warum sollten sie diesen Wert als Teil eines Privatvermögens, also letztlich durch den Eigentumswechsel verlieren? Dieser empirische Befund ist nicht geheimnisvoller als der weithin akzeptierte Umstand, dass der Wert einer Ware (als Marktpreis) je nach Handelsstufe schwankt. Mit dem Verkauf an den Endabnehmer ist eben in gleicher Weise ein Wertverlust verbunden wie mit dem Verkauf vom Großhändler an einen Zwischenhändler. Dieser Wertverlust schlägt sich im Gesamtwert des Vermögens nieder. Daher sichert im Ergebnis in vielen Fällen nur die Übereinstimmung mit den Dispositionen des Vermögensinhabers die Straflosigkeit und nicht schon der Umstand, dass ein Austauschgeschäft den Marktverhältnissen entsprach. Das beruht aber nicht darauf, dass erst die Übereinstimmung mit den Zwecken des Vermögensinhabers den Vermögenswert begründet, sondern darauf, dass ein Wertverlust eintritt, der aber gewollt ist (sodass keine Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht vorliegt).
16 Anderes ist das nur, wenn Konsumgüter unter Wert gekauft werden, sodass sie einen hohen Wiederverkaufswert haben oder wenn sie im Zeitverlauf eine Wertsteigerung erfahren.
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2. Einzel- und Gesamtsaldierung am Beispiel von Risikogeschäften Eine Nagelprobe für den Vermögensbegriff stellen Risikogeschäfte dar. Sie erfolgen auf der Basis unsicheren Wissens. Bei ihnen ist ex ante unklar, ob sie das Vermögen erhalten bzw. vermehren oder aber vermindern. Es werden Investitionen getätigt, deren Erfolg von ungewissen zukünftigen Entwicklungen des Marktes (z.B. bezüglich eines bestimmten Produkts, von Aktienoder Währungskursen) oder von der Begleichung einer Forderungen durch den Vertragsgegner abhängt. Dazu zählen nicht nur Spekulationsgeschäfte, bei denen mit späteren Kursschwankungen oder Preisveränderungen spekuliert wird und oft ein exorbitant hoher Gewinn erzielt werden kann, dessen Eintritt jedoch höchst unwahrscheinlich ist (der also zugleich mit einem besonders hohen Risiko des Verlusts des gesamten Einsatzes einhergeht). Für die Handhabung solcher Geschäfte haben sich insbesondere im Finanzsektor zwei heterogene Kategorien von Risikostrategien durchgesetzt, die kaum miteinander vereinbar sind: Die eine geht von der Berechenbarkeit der Wertschwankungen und Risiken aus und findet ihren Niederschlag in finanzmathematischen Analysen und Instituten wie dem „value at risk“. Diese liefern Prognosen über die Entwicklung von Aktienkursen, Wechselkursen oder die Bewertung von Wertpapieren und Finanzmarktprodukten. Das Risiko wird nach zahlreichen Risikofaktoren unterschiedlich gewichtet.17 Solche Prognosen sind anscheinend alles andere als solide. Zeitreihenuntersuchungen bescheinigen ihnen eine Trefferquote, die z.T. unterhalb der Rate von Zufallstreffern angesiedelt ist.18 Ihnen wird u.a. vorgeworfen, dass sie vorgaukeln, die Wahrscheinlichkeit extrem seltener Ereignisse (wie von Krisen) auf der Basis einer viel zu geringen Datenmenge vorhersagen zu können.19 17 Daraus ergibt sich eine besondere Anfälligkeit nach dem sog. „Bias-Varianz-Dilemma“: Komplexe Berechnungsmethoden, die eine hohe Varianz aufweisen, sind besonders anfällig gegenüber Schätzfehlern. Das kann nur durch eine besonders hohe Datenmenge kompensiert werden. In Fällen hoher Ungewissheit, zahlreicher sich wechselseitig beeinflussender Risikofaktoren und einer kleinen Datenmenge bedürfe es daher einfacher Risikostrategien; vgl. dazu Gigerenzer Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, S. 129 ff.; Kahnemann Schnelles Denken, langsames Denken, 2012, S. 276 f., 289 ff; Taleb Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, 2008, S. 279 ff., 331 ff.; Derman/Taleb Quantitative Finance, 5 (2005), 323; Goldstein/Taleb We Don’t Quite Know What We Are Talking About When We Talk About Volatility in: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=970480## [letzter Abruf: 30.1. 2014]; Ruffino/Treussard Derman and Taleb’s ‘The Illusions of Dynamic Replication’: A Comment in: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=890574 [letzter Abruf: 30.1. 2014]. 18 Vgl. Kahnemann (Fn. 17), S. 323 ff.; 417; Gigerenzer (Fn. 17), S. 119 ff.; Taleb (Fn. 17), S. 279 ff. und 331 ff., alle m.w.N. 19 Vgl. Taleb (Fn. 17), S. 330; ders. Der schwarze Schwan. Konsequenzen aus der Krise, 2010, S. 80 ff.; Gigerenzer (Fn. 17), S. 49 ff.; Kahnemann (Fn. 17), S. 317 ff. sowie 277 ff. Den Berechnungsmethoden wird in einer grundlegenden Kritik vorgeworfen, sie fielen der sog „Truthahn-Illusion“ anheim. Ein Truthahn fürchtet sich täglich vor dem den
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Andere Risikostrategien basieren auf der Annahme, dass die Berechnung derartiger Risiken nicht seriös möglich ist. Sie schließen das Worst-caseSzenario nicht aus, sondern begrenzen dessen Auswirkungen.20 Inhaltlich verlangen sie daher Risikostreuung, die Vermeidung von Klumpenrisiken (etwa bei Häufung von Ausfallrisiken mit ähnlichen Bedingungen auf der Seite der Geschäftspartner, also der von Kreditnehmern, Branchen, Regionen oder Märkten); unzulässig ist es, Liquiditäts- oder gar Bestandsrisiken einzugehen, bei denen der mögliche Verlust das Gesamtvermögen betrifft. Unzulässig sind in weitem Ausmaß auch hochspekulative Investitionen, bei denen (wie bei einer Lotterie) die Gewinnwahrscheinlichkeit äußerst gering ist. Die beiden Strategien sind widersprüchlich, werden aber konkurrierend diskutiert und sogar nebeneinander als Bewertungsinstrumente für Unternehmen eingesetzt. Herrschend dürfte trotz aller Kritik die erste Strategie sein. Auch bei Risikogeschäften macht es einen großen Unterschied, ob man dem Prinzip der Einzel- oder der Gesamtsaldierung folgt. Ein Beispiel wäre die Vergabe eines Kredits an eine in Not geratene Firma, um deren wirtschaftliches Überleben (durch die Aufrechterhaltung der Produktion) zu sichern (Sanierungskredit).21 Zum Zeitpunkt der Kreditvergabe schien es, als würde das Unternehmen in der nächsten Wirtschaftsperiode erheblichen Umsatz machen können. In diesem Fall hätte das Unternehmen die Kredite bedienen können. Ohne weiteren Kredit hätte die Insolvenz des Unternehmens bevorgestanden. Die Kreditvergabe auf der Basis unzureichender Sicherungen zu – für derartige Kredite – ungewöhnlich günstigen Konditionen erfolgte, um in der Vergangenheit bereits vergebene Kredite zu „retten“.22 In Folge der Finanzkrise brach der Umsatz ein und die Bedienung
Stall betretenden Menschen. Als dieser ihm aber an 99 Tagen in Folge bloß Futter und Wasser gibt, vertraut der Truthahn darauf, dass er dies auch an Tag 100 tun wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Truthahn richtig vertraut, ist hoch. Was er jedoch nicht weiß, ist, dass an jenem 100. Tag in Amerika Thanksgiving gefeiert wird und an diesem Tag traditionell Truthahn verzehrt wird. Und so brachte der 100. Tag nicht die erwartete Fütterung, sondern die Schlachtung des Vogels. Das Paradoxon zeigt, warum die Voraussage extrem unwahrscheinlicher Ereignisse (wie es Wirtschaftskrisen sind), auf der Basis der sog BayesRegel kaum möglich sind. Den Prämissen zufolge wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis sich wiederholt, mit seiner Wiederholung. Für den Truthahn erhöht sich also die Wahrscheinlichkeit, dass er weiterhin gefüttert wird, mit jeder neuerlichen Fütterung. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Truthahn erneut gefüttert werden wird, ist ausgerechnet am Thanksgiving Day, an dem er anstelle seiner Fütterung dem Schlachtermesser zum Opfer fällt, die bis dato höchste. Genauso werde kurz vor dem Eintritt der Krise die Wahrscheinlichkeit eines Kursverfalls mit der bisher geringsten Wahrscheinlichkeit errechnet. 20 Kahnemann (Fn. 17), S. 414 ff.; Gigerenzer (Fn. 17), S. 126 ff. 21 Vgl. LK/Schünemann (Fn. 2), § 266 Rn. 241. 22 Kahnemann (Fn. 17), S. 338 beschreibt, dass die Aussicht auf sichere Gewinne eine Risikoaversion hervorruft, während umgekehrt die Abwendung drohender Verluste zur
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der Kredite wurde notleidend. Ein zweiter Fall ist notorisch23: Der Geschäftsführer einer Bank hat 2007 Derivate zum aktuellen Marktpreis gekauft. Der Kauf erfolgte in der Erwartung eines kontinuierlichen Wertzuwachses. Die Papiere waren durch eine externe Ratingagentur mit AAA bewertet. Da es sich um ein Klumpenrisiko handelte, bei dessen Realisierung die Bank vor Liquiditätsproblemen stünde, war der Kauf nach § 11 KWG i.V.m. der LiquiditätsVO unzulässig. Durch den Verfall der Immobilienpreise wurden die Derivate im Zuge der Finanzkrise wertlos. Das ist ein Fall, bei dem ein Schaden objektiv evident zu sein scheint – allerdings führen auch gerade hier die Berechnungsmethoden zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. a) Einzelsaldierung Wenn man nur Leistung und Gegenleistung saldiert, wäre bei der Kreditvergabe allein entscheidend, ob ein Einzelgeschäft auf dem Markt zu den gleichen Preisen und Konditionen (Sicherungen) abgeschlossen worden wäre. Die Frage, wie das Geschäft als Investition zur Rettung zuvor vergebener Kredite vielleicht zu bewerten wäre, würde keine Rolle spielen. Tendenziell wäre also im Fall der Kreditvergabe ein Schaden zu bejahen.24 Im Fall des Derivatkaufs wäre ebenfalls nur entscheidend, ob die Derivate zum Marktpreis gekauft wurden oder ob zu viel gezahlt wurde. b) Gesamtsaldierung Anders sehen die Ergebnisse aus, wenn man das Gesamtvermögen der Bank saldiert. Auch hier wäre ein Schaden anzunehmen, wenn (1.) für das Geschäft mehr als der Marktpreis gezahlt wurde. Darüber hinaus kann ein riskantes Geschäft auch dann schädigen, wenn (2.) das Risiko seinen Preis nicht in dem Sinne „wert“ wäre, dass die Wahrscheinlichkeit von Gewinn und Verlust – unter Einbeziehung der Höhe der Verluste bzw. Gewinne – rechnerisch kein positives Verhältnis ergibt. Schließlich kann (3.) der Schaden auch dadurch eintreten, dass die Vermögensstruktur negativ geändert wird oder dass eine Investition ungeeignet ist. Denn in allen drei Fällen senkt das Geschäft den Marktwert der Bank.
Risikofreudigkeit führt: Für die geringe Wahrscheinlichkeit einen hohen Verlust zu vermeiden würde tendenziell die hohe Wahrscheinlichkeit in Kauf genommen, alles schlimmer zu machen. 23 Vgl. dazu eingehend: Kasiske in: Schünemann (Hrsg.), Die sog. Finanzkrise, 2010, S. 13 ff.; Schünemann in: ders. (Hrsg.), Die sog. Finanzkrise, 2010, S. 71 ff. 24 Anders – nämlich wie hier – LK/Schünemann (Fn. 2), § 266 Rn. 241.
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3. Zeitpunkt der Saldierung Angesichts rasanter Wertschwankungen ist der Zeitpunkt der Saldierung höchst bedeutend. Es kommen drei Zeitpunkte in Betracht: (1.) Der Zeitpunkt des missbräuchlichen Geschäfts, dann wird der Wert des Vermögens vor dessen Abschluss mit dem danach abgeglichen. (2.) Ist der Zeitpunkt der Geschäftsabwicklung maßgeblich, dann hängt der Eintritt des Schadens vom Resultat des Erfüllungsgeschäfts ab. (3.) Man kann aber auch auf die Verwertung des Vermögens oder des Vermögensanteils abstellen: Braucht der Kreditgeber sein eingesetztes Kapital nicht, erleidet es erst dann einen Schaden, wenn z.B. die Darlehenssumme endgültig nicht zurückgezahlt wird. Braucht er sein Kapital, d.h. muss er die Rückzahlungsforderung verkaufen oder als Sicherheit geben (Verwertung), tritt ein Schaden bereits ein, wenn sich die Forderung nicht oder nur mit Abschlägen verkaufen lässt. (1.) Im ersten Fall ist der Markt- oder Ertragswert des Unternehmens (nicht des gekauften Produkts) zur Zeit der Transaktion maßgeblich. Die Bewertung erfolgt auf der Basis der bei Geschäftsabschluss bekannten Fakten und Erfahrungssätze und finanzmathematischen Berechnungen – denn diese sind es, die den jeweiligen „Marktpreis“ des Unternehmens, hier der Bank, bestimmen. Maßgeblich ist daher stets die fremde Bewertung, und zwar die der herrschenden Ansicht. Diese Bewertung ist von der erstgenannten Risikostrategie geprägt: Risiken gelten als berechenbar, es regiert der „value at risk“. Ein durchschnittlicher Betriebswirt hätte eine Bank mit Derivaten im Portfolio im Jahr 2007 vermutlich für wertvoller gehalten als eine Bank, die auf ein solch lukratives Geschäft verzichtete – das ist letztlich eine empirische Frage. Dem hätte im konkreten Fall vermutlich nicht entgegengestanden, dass die Bank dann ein Klumpenrisiko eingegangen wäre, da die herrschende Risikoanalyse den Derivaten damals ja ein vernachlässigenswertes Risiko bescheinigte. Ein Schaden ließe sich kaum begründen. Im Fall der Kreditvergabe wäre das Risiko des Verlusts der gesamten bis dato gewährten Kredite mit der Chance, das Überleben des Unternehmens und damit langfristig die Rückzahlung sämtlicher oder doch der meisten Kredite gegenzurechnen. Dabei wäre wiederum auf die Perspektive vor Eintritt der Finanzkrise abzustellen.25 Der Absatzeinbruch in Folge der Krise wäre daher nicht zu berücksichtigen.
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Vgl. dazu im Einzelnen: Taleb (Fn. 17), S. 279 ff., 331 ff.; Derman/Taleb Quantitative Finance 5 (2005), 323; Goldstein/Taleb We Don’t Quite Know What We Are Talking About When We Talk About Volatility in: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id= 970480## [letzter Abruf: 30.1.2014]; Ruffino/Treussard Derman and Taleb’s ‘The Illusions of Dynamic Replication’: A Comment in: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm? abstract_id=890574 [letzter Abruf: 30.1.2014].
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(2.) Stellt man auf den Zeitpunkt der Geschäftsabwicklung ab, wäre die weitere Geschäftsentwicklung maßgeblich. Nun bestünde in beiden Fällen kein Zweifel mehr an dem Vorliegen eines Vermögensschadens. (3.) Zu in mancher Hinsicht abweichenden Ergebnissen kommt man, wenn man die Wertbestimmung zum Zeitpunkt der Verwertung des Vermögens oder doch von Bestandteilen des Vermögens durch dessen Inhaber vornimmt. Solange die Bank weder die Derivate noch den Rückzahlungsanspruch „braucht“, führt das Abstellen auf die Verwertung zum selben Ergebnis wie das Abstellen auf die Geschäftsabwicklung. Will (oder muss) die Bank diesen Anspruch jedoch verkaufen oder belasten, kann das Vermögen um den dadurch erlittenen Verlust schon vorzeitig geschädigt sein. Hat die Bank im ersten Beispiel langfristig laufende hochverzinste Derivate eingekauft, sie anschließend in kurzfristig laufende Papiere mit einem wesentlichen niedrigeren Zinssatz „umgewandelt“ und diese ausgegeben, um von der Zinsdifferenz zu profitieren26, so ist sie durch den Kauf von Derivaten in dem Moment geschädigt, in dem die von ihr selbst ausgegebenen Derivate (mit kurzfristiger Laufzeit) fällig wurden. Das ist nämlich für sie im Ergebnis der Zeitpunkt der Verwertung des Vermögens. Zu diesem Zeitpunkt ist der Saldo negativ und ein Schaden zu bejahen. Weitere Beispiele sollen illustrieren, was mit der Verwertung des Vermögens oder des jeweiligen Vermögensanteils gemeint ist. Erneuert der Geschäftsführer den Maschinenpark des von ihm vertretenen Unternehmens und kauft Maschinen, die eine Lebensdauer von 10 Jahren haben, so wird diese Investition in jedem Jahr um 1/10 „verwertet“. Zur Ermittlung des Schadens wird der Wertverlust durch die Investition auf deren Lebensjahre aufgeteilt und mit ihrem jeweiligen Ertrag für das Unternehmen gegengerechnet. Der Schaden entsteht in solchen Fällen sukzessive und hängt z.B. vom tatsächlichen Umsatz im jeweiligen Jahr ab. Gleiches gilt für die Vergabe von Darlehen. Hier ist im Grundsatz die Verwertung dieses Kapitals bis zur Rückzahlung des Kredits aufgeschoben.27 Der Schaden entsteht in solchen Fällen oft erst mit dem Ausfall der Rückzahlungsforderung, denn i.d.R. findet zu diesem Zeitpunkt erst wieder eine Verwertung des in den Darlehensbetrag geflossenen Kapitals statt. Anders ist dies, sobald das Unternehmen bzw. sein Inhaber sein Kapital auf andere Weise verwertet. Will der Inhaber das Unternehmen, das die Maschine gekauft oder den Kredit vergeben hat, im nächsten Jahr verkaufen, ist der Bewertungszeitpunkt für die Gesamtsaldierung der Zeitpunkt des Verkaufs. Bei der Preisbildung wird die gesamte Investition einschließlich ihres zu erwartenden Ertrages für die Bewertung
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Eingehend Kasiske (Fn. 23), S. 13 ff.; Schünemann (Fn. 23), S. 71 ff. Zur Relevanz der Bilanzierungsvorschriften für die Schadensberechnung vgl. im Einzelnen Hefendehl Vermögensgefährdung (Fn. 3), S. 166 ff.; LK/Schünemann (Fn. 2), § 266 Rn. 166; BVerfGE 126, 170, 212. 27
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des Unternehmens angesetzt (soweit die Maschine nicht bereits abgeschrieben ist), da der Verkauf das Vermögen in seiner Gesamtheit verwertet. Eine solche Verwertung ist auch als Teilverwertung des Vermögens möglich, wenn etwa das Unternehmen die Maschine bzw. die Bank die Derivate oder den Kredit veräußert, weil es (sie) liquide Mittel braucht. Eine (teilweise) Verwertung ist es auch, wenn das Unternehmen sein Vermögen durch Aufnahme eines Kredites nutzt, etwa nachdem die Maschine ein Jahr gelaufen ist. Bei der Wertberechnung müssen zu den Kosten der Investition (abzüglich ihrer Erträge) diejenigen Kosten hinzugerechnet werden, um die diese Fehlinvestition etwa den Kredit verteuert. Die Entscheidung, auf welchen Zeitpunkt es für die Bewertung des Vermögens bei Austauschgeschäften oder Investitionen ankommen soll, hängt davon ab, welches Interesse mit der Saldierung zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils bedient wird und welches Interesse bedient werden soll. Stellt man auf den Zeitpunkt unmittelbar nach Zustandekommen des Rechtsgeschäfts ab, erfasst man jeden – auch nur kurzfristigen – Wertverlust als Schaden. Es besteht kein Spielraum für die Nutzung von Volatilität. Geschützt wird das Interesse an der jederzeitigen Verwertung des Vermögens. Ein solcher Schutz geht jedoch oft zu weit: Wo langfristige Verwertungsinteressen existieren, ist es überflüssig, kurzfristige zu schützen. Zudem ist er kontraproduktiv: Mit seiner Bindung an die aktuelle betriebswirtschaftliche Perspektive pönalisiert er tendenziell antizyklisches Wirtschaften. Gegenüber der aktuellen Tendenz kritisches Wirtschaften würde unterbunden.28 Die aktuellen betriebswirtschaftlichen Berechnungsmethoden haben sich als wenig geeignet zur Voraussage von Volatilität, also von Kursschwankungen erwiesen.29 Gefördert wird zudem eine Strategie der Risikovermeidung selbst dort, wo es sinnvoll wäre, Risiken einzugehen: Entscheidungsträger, die damit rechnen, dass sie einer Kontrolle unterliegen, verhalten sich insofern risikoscheu, als sie tendenziell ein sicheres, d.h. konsentiertes Prozedere wählen.30 Der Zeitpunkt der Abwicklung des Geschäfts oder der Erfolg einer Investition verfehlt das Schutzgut des § 266 StGB. Er deckt sich der Sache nach mit der überkommenen Position, die zwischen Gefährdungsschaden und Schaden unterscheidet.31 Auf den ersten Blick scheint diese Position einleuchtend,
28 Die Vorhersehbarkeit der Finanzkrise bzw. vergleichbarer Krisen und von Kursentwicklungen und Einbrüchen wird sehr kontrovers beurteilt. Vgl. dazu im Einzelnen Taleb (Fn. 17), S. 330; ders. (Fn. 19), S. 80 ff.; Gigerenzer (Fn. 17), S. 49 ff.; Kahnemann (Fn. 17), S. 317 ff. sowie 277 ff. 29 Vgl. dazu u. a. die Nachweise bei Gigerenzer (Fn. 17), S. 56 ff., 118, 123 ff.; Kahnemann (Fn. 17), S. 297, 323 ff. 30 Kahnemann (Fn. 17), S. 250 ff m.w.N. 31 Vgl. nur RGSt 16, 1, 11 zu § 263 RStGB; 16, 77, 81 zu § 266 RStGB; BGHSt 44, 376, 384; 48, 354, 357; 51, 100, 113 f.
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da ein Verlust normalerweise erst dann spürbar wird. Der vorübergehende Wertverlust schränkt die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit nicht ein. Allerdings können sich Einbußen ebenso gut deutlich früher bemerkbar machen. Auch mit dem Hinweis auf einen bewussten Verzicht auf die Verfügbarkeit des Vermögens lässt sich dieser Schadensbegriff nicht legitimieren: Zumindest im Falle der Untreue basiert der Aufschub ja – zumindest was das einzelne Geschäft angeht – nicht auf der Entscheidung des Vermögensinhabers, sondern der (missbräuchlichen) seines Stellvertreters. Wenn ein Bevollmächtigter für den Machtgeber einen Kredit vergibt, der dessen Liquidität beschränkt, und dieser möchte nun den Rückzahlungsanspruch abtreten, um sie wiederzugewinnen, so wird seine wirtschaftliche Bewegungsfreiheit durch die mangelnde Bonität der Rückzahlungsforderung erheblich eingeschränkt. Saldiert man nach Abschluss des Geschäfts, wird dem Machthaber verboten, den jederzeitigen Wiederverkaufswert seines Unternehmens zu beeinträchtigen. Saldiert man erst nach Abwicklung, darf er nur dessen langfristige Wertentwicklung nicht gefährden. Richtig ist daher folgende Sicht: Ob ein Schaden eintritt, hängt von der Wertdifferenz zum Zeitpunkt der Verwertung des Kapitals oder von Teilen davon ab. Sobald das Gesamtvermögen (oder Teile davon) gebraucht wird und nicht mehr zur Verfügung steht, ist ein Schaden zugefügt. Wer Geld in Aktien investiert, deren Wert im Einzelfall zunächst stark sinkt, um danach massiv wieder anzusteigen, erleidet in dieser Konstellation einen Schaden, wenn er die Aktien, wie geplant, kurzfristig verkaufen wollte, um z.B. einen Hauskauf zu finanzieren. Bereichert ist er hingegen, wenn er die Aktien zum Zeitpunkt ihres maximalen Werts erfolgreich zur Finanzierung seiner Rente einsetzen kann. Dieser Berechnungszeitpunkt kommt materiell dem Schutzgut des § 266 StGB am nächsten. Formell weist er den Nachteil auf, dass er variieren, sukzessiv eintreten und von Entscheidungen des Vermögensinhabers nach der Tatbegehung abhängig sein kann. Das ist aber weder ungewöhnlich im Strafrecht, noch wird dadurch die Haftung des Täters zu weit ausgedehnt. In den meisten Fällen stehen die Verwertungsdispositionen des Vermögensinhabers durch die Widmung des Kapitals fest und werden durch die tatsächliche Verwertung letztendlich nur umgesetzt. Weicht der Vermögensinhaber im Verhältnis zum Vertreter, Organ oder Treuhänder von diesen Prämissen willkürlich oder unvorhersehbar ab, indem er z.B., nachdem er ihn beauftragt hat, sein Kapital zu Rentenzwecken anzulegen, diese plötzlich bereits ein Jahr nach der Anlage mit Verlust verkauft, so hat er zwar einen Schaden erlitten, aber sonst fehlen Voraussetzungen der Untreuestrafbarkeit: Oft wird es im Hinblick auf einen solchen Auftrag an einem Befugnismissbrauch bzw. der Verletzung einer Treuepflicht fehlen. Andernfalls ist der Schaden dem Machthaber nicht zurechenbar, weil sich der Machtgeber durch den vorzeitigen Verkauf selbst geschädigt hat, sodass es an der Risikorealisierung, mindestens aber an einem Schädigungsvorsatz fehlt. Insofern unterscheidet sich der Fall nicht von jenem, bei dem ein Tötungs-
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erfolg eintritt, weil das Opfer eine harmlose Verletzung durch grobe Nachlässigkeit in einen tödlichen Schaden „verwandelt“. Entscheidend ist also immer, welche Nachteile der Vermögensinhaber durch ein Geschäft zu dem Zeitpunkt erleidet, zu dem er sein Vermögen als Ganzes oder den der Investition entsprechenden Gegenwert verwertet. 4. Vorsatzinhalt und Schadensberechnung Der objektiv je unterschiedlichen Schadensberechnung korrespondiert auch ein anderer Vorsatzinhalt. Wenn Schaden die negative Bewertung des Geschäfts für das Gesamtvermögen zum Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses wäre, dann bezöge sich das Urteil des Täters lediglich auf eine fremde Prognose der Entwicklungen. Maßgeblich wäre, ob er es für möglich gehalten hat, dass bei betriebswirtschaftlicher Betrachtung aktuell ein Wertverlust der Bank eintritt. Entscheidend wäre also seine Einschätzung der betriebswirtschaftlichen Bewertung des Unternehmens durch den typischen Betriebswirt bzw. durch den Markt. Der einmal begründete Vorsatz wird dann also nicht dadurch ausgeschlossen, dass nach der Einschätzung des Täters der „wirkliche“ Wert des Unternehmens später steigen wird. Wer schlecht gerankte Papiere kauft, um sie später weiterzuverkaufen, der „weiß“, dass er nach aktuell herrschender Auffassung eine schlecht bewertete Investition tätigt, damit nimmt er auch an, er senke den Wert des Unternehmens. Sind umgekehrt die Papiere positiv gerankt, ändert auch sein Skeptizismus nichts daran, dass er bewusst eine wertsteigernde Investition tätigt. Kommt es hingegen auf den Zeitpunkt des Ausganges des Geschäfts oder auf die Verwertung des Vermögens an, dann begründet die eigene Prognose des Täters über diesen Ausgang den Vorsatz. Hätte sich diese nämlich realisiert, wäre die fremde betriebswirtschaftliche Bewertung positiv ausgefallen. Das ist ein signifikanter Unterschied. Insbesondere risikofreudige Machthaber, die ihre ängstlichen Mitbürger (deren betriebswirtschaftliche Bewertungen sie recht gut kennen) verachten und von deren defensiver Einstellung zu profitieren glauben, haben nach dieser noch h.L. selten Schädigungsvorsatz.
III. Fazit Kleine Unterschiede in der Berechnung des Schadens zeitigen große Folgen: Richtigerweise muss der Schaden im Falle der Untreue so berechnet werden, dass nicht Austauschgerechtigkeit geschützt ist, sondern der Wert des Gesamtvermögens. Bei der dazu erforderlichen strikten Gesamtsaldierung scheidet ein Schaden nicht schon aus, wenn Leistung und Gegenleistung gleichwertig sind. Gleichwertig müssen vielmehr das Gesamtvermögen vor und das nach der Transaktion sein. Dieser Wert kann auch durch mit dem Marktpreis
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bezahlte Fehlinvestitionen verringert werden. Zeitpunkt der Saldierung ist der Zeitpunkt, zudem der Wertverlust spürbar wird. Das ist der Moment, in dem das Vermögen (ganz oder teilweise) verwertet wird, ansonsten der Zeitpunkt der Geschäftsabwicklung.
Die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien nach § 226a StGB – Gesetzessymbolik ohne Anwendungsbereich? Mark A. Zöller I. Einführung Am 28. September 2013 ist nach einem langwierigen, fast zwei Legislaturperioden währenden Gesetzgebungsverfahren das 43. Strafrechtsänderungsgesetz1 in Kraft getreten, durch dessen Art. 1 Ziff. 3 mit § 226a StGB ein neuer Straftatbestand in das StGB eingefügt wurde.2 Er stellt die Verstümmelung weiblicher Genitalien unter Strafe, die im deutschen Sprachraum auch als „weibliche Beschneidung“ und im internationalen Kontext als „Female Genital Mutilation (FGM)“ oder „Female Genital Cutting (FGC)“ bezeichnet wird.3 Faktisch geht es um die teilweise oder vollständige Entfernung bzw. Beschädigung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane, wie sie durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Gestalt der folgenden vier Haupttypen näher umschrieben worden ist: 4 1. FGM-Typ I: die teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris (Klitoridektomie) und/oder der Vorhaut (Klitorisvorhautreduktion), 2. FGM-Typ II: die teilweise oder vollständige Entfernung (des äußerlich sichtbaren Teils) der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Schamlippen (Abtrennung/Exzision), 3. FGM-Typ III: die Verengung der Vaginalöffnung durch Zunähen bis auf eine kleine Öffnung und vollständige oder teilweise Entfernung/Beschneidung der äußeren Genitalien (Infibulation) und
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BGBl. I, S. 3671. Zu weiteren Inhalten des Änderungsgesetzes s. Zöller/Thörnich JA 2014, 167 m. Fn. 2. 3 Vgl. BT-Drucks. 17 / 12374, S. 5; BT-Drucks. 17 / 1217, S. 6; Hagemeier/Bülte JZ 2010, 406; Bauer Kindeswohlgefährdung durch religiös motivierte Erziehung, 2012, S. 181 f. 4 WHO Eliminating Female genital mutilation, 2008, S. 4; vgl. auch BT-Drucks. 17 / 1217, S. 6 f.; BT-Drucks. 17 / 12374, S. 5; Bauer (Fn. 3), S. 183 f.; Valentiner StudZR 2012, 461, 462; Wüstenberg KritV 2012, 463 f. 2
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4. FGM-Typ IV: weitere medizinisch nicht indizierte Eingriffe und Veränderungen an den weiblichen Genitalien wie Einschnitt und Einriss der Klitoris, Punktion, Piercing, Ätzungen oder Ausbrennen. Mit unterschiedlichem Schwere- und Verbreitungsgrad wird die Genitalverstümmelung überwiegend in Afrika und einzelnen Ländern Asiens, teilweise aber auch in Lateinamerika und im mittleren Osten praktiziert.5 Zu den traurigen „Spitzenreitern“ mit den höchsten Prozentsätzen beschnittener Frauen und Mädchen zählen nach neuesten Angaben von UNICEF Somalia (98 %), Guinea (96 %), Djibouti (93 %) und Ägypten (91 %).6 Alleine in denjenigen 29 Staaten in Afrika und im Mittleren Osten, in denen die Verstümmelung weiblicher Genitalien am stärksten verbreitet ist, sind insgesamt mehr als 125 Millionen Mädchen und Frauen betroffen.7 Überwiegend werden die Eingriffe vor dem 14. Geburtstag der Opfer durchgeführt, in manchen Staaten, z.B. in Nigeria, Mali, Eritrea, Ghana und Mauretanien, erfolgen sie in mehr als 80 Prozent der Fälle sogar schon vor dem 5. Geburtstag.8 Die Gründe für diesen häufig traumatisierenden Eingriff sind vielfältig. Vornehmlich sind traditionelle und kulturelle, daneben aber auch religiöse, politische oder ethisch-moralische Gründe zu nennen.9 In Ägypten etwa werden Klitoris und Schamlippen der Frau häufig als „schmutzig“ angesehen, so dass einer Beschneidung der Charakter einer „Reinigung“ zukommt. Vor allem aber soll einer „enthemmten weiblichen Sexualität“ entgegengewirkt werden, da die Sittsamkeit einer Frau den meisten Männern als Bedingung für eine Heirat gilt, die wiederum für die Familien soziale und finanzielle Absicherung bedeutet. Dass das Phänomen der Genitalverstümmelung in einer zunehmend globalisierten Welt nicht geografisch auf die genannten Staaten beschränkt bleiben kann, ist wenig überraschend. So ging auch die EU-Kommission bereits im Jahr 2009 davon aus, dass in Europa etwa 500.000 Frauen von Genitalverstümmelung betroffen sind.10 Die Opfer sind vor allem Migrantinnen, die 5 BT-Drucks. 17 / 1217, S. 6; BT-Drucks. 17 / 9005, S. 3; BT-Drucks. 17 / 12374, S. 4; BT-Drucks. 17 / 13707, S. 4; Bauer (Fn. 3), S. 182; Wüstenberg KritV 2012, 463; ders. FPR 2012, 452 f. 6 S. UNICEF Female Genital Mutilation/Cutting: A statistical overview and exploration of the dynamics of change, 2013, S. 2. 7 UNICEF (Fn. 6), S. 22. 8 UNICEF (Fn. 6), S. 47. 9 Vgl. Terre des Femmes Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung, 2005, S. 25 ff., 30 ff.; UNICEF (Fn. 6), S. 14 ff.; AnwaltKommentar StGB/Zöller, 2. Aufl. 2014, § 226a Rn. 2; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 168; Rosenke ZRP 2001, 377; Hahn ZRP 2010, 37; Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller ArchKrim 221 (2011), 1, 3; Valentiner StudZR 2012, 461, 463. 10 European Institute for Gender Equality Female genital mutilation in the European Union and Croatia, 2013, S. 25.
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während eines Besuchs in ihren Heimatländern beschnitten werden. Für Deutschland schätzt das Bundesministerium für Gesundheit, dass hier aktuell rund 30.000 Mädchen und Frauen leben, deren Genitalien verstümmelt sind.11 Vergleichbare Zahlen hat auch die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes e.V. im Jahr 2013 vorgelegt.12
II. Überblick über den Regelungsgehalt des § 226a StGB Nach dem vergleichsweise kurzen und schlichten Wortlaut des § 226a Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, „wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt“. In § 226a Abs. 2 StGB findet sich demgegenüber nur eine Strafzumessungsvorschrift für (unbenannte) minder schwere Fälle. 1. Rechtsnatur und geschütztes Rechtsgut Trotz der systematisch missverständlichen Eingliederung zwischen § 226 StGB und § 227 StGB13 handelt es sich bei der Verstümmelung weiblicher Genitalien angesichts des insoweit eindeutigen Wortlauts nicht um ein erfolgsqualifiziertes Delikt, sondern um ein Erfolgsdelikt.14 Das geschützte Rechtsgut ist mit Blick auf die Vielschichtigkeit des Phänomens weiblicher Genitalverstümmelung und der hierfür möglichen Beweggründe nicht ohne weiteres zu bestimmen. Im Hinblick auf die Einordnung der Norm im Siebzehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs und die Tatsache, dass § 226a StGB eine Qualifikation der einfachen vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223 StGB darstellt, wird man zunächst die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit von Personen weiblichen Geschlechts als Rechtsgut ausmachen dürfen.15 Daneben ist auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als spezielle Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts16 als Schutzgut anzuerkennen, da insbesondere die Entfernung der
11 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit Weibliche Genitalverstümmelung – auch eine Herausforderung für Deutschland in: http://www.bmg.bund.de/glossarbegriffe/g/ genitalverstuemmelung.html [letzter Abruf: 10.6.2014]. 12 S. insofern die aktuelle Statistik in: http://www.frauenrechte.de/online/images/ downloads/fgm/Statistik-FGM.pdf [letzter Abruf: 10.6.2014]; danach leben in Deutschland derzeit rund 25.000 Frauen und Mädchen mit Genitalverstümmelung, während rund 3.500 Frauen Mädchen zu den Gefährdeten zählen, für die eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit besteht, Opfer eines solchen Eingriffs zu werden. 13 Krit. zum systematischen Standort des § 226a StGB AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 6. 14 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 3. 15 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 3; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 169. 16 Vgl. nur BVerfGE 47, 46, 73 f.; 49, 286, 298 ff.
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Klitoris bzw. ihres äußerlich sichtbaren Teils häufig zum Verlust des sexuellen Empfindens und damit zu einer Beeinträchtigung der Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung der Frau führt.17 Im Ergebnis nicht überzeugend erscheint es demgegenüber, im Hinblick auf die schweren psychischen Schäden, die bei den betroffenen Mädchen und Frauen eintreten können, beispielsweise chronische Ängste und posttraumatische Belastungsstörungen, auch die psychische Integrität als geschütztes Rechtsgut anzusehen.18 Dagegen spricht zum einen der nach überwiegender Auffassung auch dem Grundtatbestand des § 223 StGB zugrundeliegende, somatologische Krankheitsbegriff.19 Zum anderen sind psychische Schädigungen eine häufige Folgeerscheinung sämtlicher intensiver Beeinträchtigungen von Individualrechtsgütern – z.B. der körperlichen Unversehrtheit oder Freiheit – und stellen somit keine Besonderheit des § 226a StGB dar. Es spricht mithin mehr dafür, die psychische Integrität von Mädchen und Frauen als „bloßen“ Rechtsreflex einzustufen, ohne diese zu einem eigenständigen Schutzgut zu erheben. 2. Tatbestandliches Unrecht Bei § 226a Abs. 1 StGB handelt es sich um ein Allgemeindelikt („wer“), das keine besonderen Voraussetzungen an die Tatsubjektqualität stellt. Täter können also nicht nur die den Eingriff vornehmenden Ärzte, sondern beispielsweise auch medizinische Laien, die Eltern des Opfers oder sonstige Personen sein. Durch die Bezugnahme auf „weibliche Personen“ als Tatobjekte ist zudem klargestellt, dass Mädchen und Frauen jeden Alters dem Schutz des Straftatbestandes unterfallen.20 Tathandlung des § 226a Abs. 1 StGB ist die Verstümmelung der äußeren Genitalien. Im Hinblick auf den subjektiven Tatbestand gilt § 15 StGB, so dass es sich um ein Vorsatzdelikt handelt, für dessen Verwirklichung jede Vorsatzform einschließlich dolus eventualis genügt. Mit dem Begriff „Genitalien“ nimmt der Gesetzgeber Bezug auf die primären weiblichen Geschlechtsmerkmale, zu denen die äußeren Schamlippen gehören, die mit der Schamspalte die kleinen Schamlippen, den Scheidenvorhof sowie die Klitoris samt Klitorisvorhaut einschließen.21 Mit der inhaltlichen Begrenzung auf die
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Wüstenberg ÄBW 2012, 490. So Hagemeier/Bülte JZ 2010, 406, 409. 19 S. dazu etwa BGH StV 1998, 76; NStZ-RR 2000, 106; Nomos Kommentar StGB/ Paeffgen, 4. Aufl. 2013, § 223 Rn. 3; AnwK/Zöller, 2. Aufl. 2014, § 223 Rn. 5; Wessels/ Hettinger, Strafrecht BT 1, 37. Aufl. 2013, Rn. 255 ff.; a.A. Systematischer Kommentar StGB/Horn/Wolters, § 223 Rn. 35 (August 2003); Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, § 223 Rn. 1. 20 BT-Drucks. 17 / 13707, S. 7. 21 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 9. 18
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„äußeren“ Genitalien sind medizinische Eingriffe an den inneren Genitalien, etwa an den Eierstöcken, Eileitern oder der Gebärmutter, vom Anwendungsbereich der Norm ausgeschlossen. Solche Eingriffe kommen im Zusammenhang mit genitalverstümmelnden Maßnahmen praktisch kaum vor. Außerdem führen sie regelmäßig zum Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit der Frau und damit zur Anwendbarkeit von § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB, so dass es der Anwendbarkeit von § 226a StGB nicht bedarf.22 Weitgehend im Unklaren bleibt allerdings, was der Gesetzgeber genau unter dem Begriff des „Verstümmelns“ versteht. Die diesbezüglichen Hinweise in den Gesetzesmaterialen sind eher verwirrend und in Theorie und Praxis kaum handhabbar.23 Auch lässt sich der im Rahmen der nach § 109 StGB strafbaren Wehrpflichtentziehung verwendete Begriff der „Verstümmelung“ nicht ohne weiteres auf § 226a StGB übertragen. Schließlich geht es im Rahmen von § 109 StGB um eine Verstümmelung des Gesamtorganismus mit der Folge, dass der hiervon Betroffene insgesamt seine Wehrtauglichkeit verliert. Demgegenüber bezieht sich das Verstümmeln in § 226a StGB unmittelbar auf die äußeren weiblichen Genitalien, ohne dass sexuelle Körperfunktionen oder gar der Gesamtorganismus eine Funktionseinbuße erleiden müssen. Daraus folgt das Erfordernis, den Verstümmelungsbegriff hier eigenständig zu bestimmen.24 Gewisse Anhaltspunkte zur Konturierung des tatbestandsmäßigen Verhaltens lassen sich durchaus aus dem Gesetzeswortlaut ableiten. Ein „Verstümmeln“ kann schon begrifflich nicht gegeben sein, wenn der Eingriff medizinisch indiziert war, beispielsweise bei Krebsbefall oder Ekzemen im Genitalbereich. In diesen Fällen handelt es sich um ärztliche Heileingriffe und die (straf-)rechtliche Behandlung folgt den hierzu entwickelten, wenn auch im Detail umstrittenen Leitlinien.25 Zudem ist mit Blick auf die Wortwahl des Gesetzgebers erkennbar, dass es sich um negative Veränderungen von einigem Gewicht handeln muss.26 Damit scheiden rein symbolische Bagatellverletzungen, kosmetisch motivierte Eingriffe wie „Schönheitsoperationen“ im Genitalbereich oder dem Modebewusstsein entspringende Intimpiercings aus dem objektiven Tatbestand des § 226a StGB aus.27 Versucht man sich vor diesem Hintergrund an einer positiven Definition, die den Intentionen des
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BT-Drucks. 17 / 13707, S. 6. Nach BT-Drucks. 17 / 13707, S. 6 soll der Begriff – unter Verweis auf die einschlägige Wörterbuchliteratur – zu verstehen sein als „gewaltsam (um einen Teil, Teile) kürzen, schwer verletzen, entstellen, schlimm/übel zurichten, durch Abtrennung eines/mehrerer Glieder schwer verletzen“. 24 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 10; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 170. 25 Dazu etwa AnwK/Zöller (Fn. 19), § 223 Rn. 16 ff. m.w.N. 26 BT-Drucks. 17 / 13707, S. 6; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 170. 27 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 11; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 170. 23
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Gesetzgebers gerecht wird,28 so lässt sich wie folgt formulieren: Verstümmelung ist jede medizinisch nicht indizierte und nicht nur unerhebliche, nachteilige und nachhaltige Veränderung der Gestalt und/oder Integrität der äußeren Genitalien durch äußere Einwirkung von Seiten des Täters.29 Ob die dadurch bewirkte Veränderung als nachteilig einzustufen ist, muss durch einen wertenden Vergleich zwischen Substanz und Erscheinungsbild vor und nach dem einwirkenden Verhalten ermittelt werden. Auf eine ästhetische Beurteilung der weiblichen Genitalien kann es dabei von vornherein nicht ankommen. Entscheidend ist vielmehr, ob deren natürlicher biologischer Zustand eine signifikante Einbuße erlitten hat. 3. Rechtfertigung Für eine Rechtfertigung des nach § 226a StGB tatbestandsmäßigen Verhaltens kommt allenfalls eine rechtfertigende Einwilligung in Betracht. Sofern es – was den Regelfall darstellt – allerdings an einer medizinischen Indikation fehlt, ist eine Einwilligung in genitalverstümmelnde Maßnahmen jedoch gem. § 228 StGB, §§ 1627 S. 1, 1631 Abs. 2 BGB sittenwidrig und damit unwirksam.30 Dies gilt sowohl für die Einwilligung der Eltern für ihr minderjähriges, nicht einsichts- und urteilsfähiges Mädchen als auch für die frei von jeglichem Zwang und auch ansonsten wirksam erklärte Einwilligung einer Erwachsenen.31 Eine Analogie oder Parallele zu § 1631d BGB ist aufgrund des eindeutigen, auf die Beschneidung eines männlichen Kindes begrenzten Wortlauts nicht zulässig. Vielmehr ist im Umkehrschluss aus § 1631d BGB davon auszugehen, dass das elterliche Recht zur Personensorge i.S.v. § 1627 BGB gerade nicht das Recht umfasst, in Maßnahmen zur Verstümmelung der Genitalien weiblicher Kinder einzuwilligen, die selbst (noch) nicht einwilligungsfähig sind. Dies führt vor dem Hintergrund von Art. 3 GG zu Wertungswidersprüchen, da von § 226a Abs. 1 StGB auch die der Beschneidung von männlichen Personen (sog. Zirkumzision) vergleichbare Verletzung oder Entfernung der Klitorisvorhaut erfasst wird.32 28 Zur Methodik der Gesetzesauslegung und Rechtsgewinnung im Besonderen Teil des StGB Schünemann FS Bockelmann, 1979, S. 117 ff.; ders. FS Klug, 1983, S. 169 ff. 29 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 10; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 170. 30 BT-Drucks. 17 / 12374, S. 4; BT-Drucks. 17 / 1217, S. 6, 8; AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 15; BeckOK-StGB/Eschelbach, § 223 Rn 9.17 (Juli 2013); Möller ZRP 2002, 186, 187; Hahn ZRP 2010, 37, 39; Wüstenberg FPR 2012, 452; ders. ÄBW 2012, 490; vgl. auch Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller ArchKrim 221 (2011), 1, 14 f. 31 A.A. für erwachsene, einwilligungsfähige Frauen, die sich aus freier, autonomer Motivlage für einen solchen Eingriff entscheiden, wenn sie nicht in konkrete Todesgefahr gebracht werden und die Folgen nicht an die des § 226 StGB heranreichen, Dettmeyer/Laux/ Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller ArchKrim 221 (2011), 1, 14 f. 32 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 6; BeckOK-StGB/Eschelbach (Fn. 30), § 223 Rn. 9.17; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 173.
Die Strafbarkeit der Genitalverstümmelung als Gesetzessymbolik?
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III. Anwendbarkeit deutschen Strafrechts? 1. Rechts- und Strafverfolgungspraxis So weit, so gut. Blickt man ausschließlich auf die tatbestandliche Ausformung des neuen § 226a StGB und die dahinter stehende gesetzgeberische Intention, so gibt es augenscheinlich einen bedeutsamen Fortschritt für den Schutz der Grund- und Menschenrechte der in Deutschland lebenden Migrantinnen zu feiern. Problematisch ist nur, dass dasjenige, was der deutsche Gesetzgeber in Gestalt eines neuen Straftatbestands geregelt hat und die tatsächliche Praxis weiblicher Genitalverstümmelung in weiten Teilen aneinander vorbeigehen. Die Situation gleicht zwei konzentrischen Kreisen, deren Überschneidungsbereich in Wirklichkeit viel geringer ist als man auf den ersten Blick vermutet. Hintergrund hierfür ist, dass genitalverstümmelnde Eingriffe typischerweise gar nicht in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden. Zwar erhalten offenbar auch deutsche Ärzte immer wieder Anfragen zur Durchführung einer weiblichen Genitalverstümmelung.33 Da solche Anfragen jedoch schon im Hinblick auf die einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer 34 kategorisch abgelehnt werden, handelt es sich regelmäßig um von Ausländern im Ausland begangene Straftaten. Selbst wenn auf Täter- oder Opferseite deutsche Staatsbürger beteiligt sind, finden derartige Eingriffe meist als sog. Auslands- oder Ferienbeschneidungen während eines Aufenthalts im Herkunftsland der Familie statt.35 2. Verzicht auf eine strafanwendungsrechtliche Spezialregelung Erstaunlicherweise hat der Gesetzgeber aber darauf verzichtet, begleitend zur Einführung des neuen § 226a StGB in den §§ 3 ff. StGB auch die durchgängige Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf solche typischen Auslandstaten sicherzustellen. Dies überrascht schon deshalb, weil das dahinter stehende praktische Problem auch im Deutschen Bundestag erkannt worden ist und zumindest in den Gesetzentwürfen der damaligen Oppositionsparteien mit Lösungsvorschlägen versehen worden war. So sah etwa der im Jahr 2011 vorgelegte Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Einfügung eines neuen § 5 Nr. 8a StGB vor.36 Dieser Ergänzungsvorschlag sollte sicher33 Hahn ZRP 2010, 37, 38; Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller ArchKrim 221 (2011), 1, 15. 34 Bundesärztekammer Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation), Stand: 25.11.2005, ergänzt am 18.1.2013. 35 Vgl. BT-Drucks. 17 / 12374, S. 1; BT-Drucks. 17 / 1217, S. 1; AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 2; Valentiner StudZR 2012, 461, 465. 36 § 5 Nr. 8a StGB-E lautete „… 8a. Schwere Körperverletzung im Fall des § 226 Absatz 1 Nummer 3, wenn der Täter Deutscher ist oder die Person, gegen die die Tat begangen wird, zur Zeit der Tat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat; vgl. BT-Drucks. 17 / 4759, S. 4.
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stellen, dass auch über den von den §§ 3, 7, 9 StGB erfassten Bereich der Geltung des deutschen Strafrechts hinaus Genitalverstümmelungen und ihre Veranlassung in Deutschland verfolgt werden können, wenn die Mädchen und jungen Frauen ins Ausland gebracht werden und dort diesen brutalen Eingriff erleiden.37 Auch der im Jahr 2013 vorgelegte Gesetzentwurf der SPD-Fraktion 38 sah die Strafverfolgung einer im Ausland begangenen Genitalverstümmelung insbesondere dann als problematisch an, wenn den Eltern keine Vorbereitungshandlungen in Deutschland nachgewiesen werden können. Um die Strafverfolgung zu gewährleisten, sollte auch ihrer Ansicht nach der neu zu schaffende Straftatbestand der Genitalverstümmelung in den Katalog des § 5 StGB aufgenommen werden.39 Beiden Entwürfen war trotz eines unterschiedlichen Regelungskonzepts 40 gemeinsam, dass der strafrechtliche Schutz nicht von der deutschen Staatsangehörigkeit und/oder der Legalität des gewöhnlichen Aufenthalts des Opfers in der Bundesrepublik abhängig gemacht werden sollte. Im zeitlich danach einzuordnenden und letztlich Gesetz gewordenen Entwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP 41 wird die Gefahr und Problematik einer fehlenden Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nicht einmal erwähnt. Der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses, worin dem Deutschen Bundestag dessen unveränderte Annahme empfohlen wurde, lässt sich lediglich entnehmen, dass die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag einer Aufnahme der Genitalverstümmelung in den Katalog des § 5 StGB ablehnend gegenüberstand, „da dies nur große Hoffnungen bei den Opfern wecken, in der Praxis jedoch zu keiner Verurteilung führen würde. Lücken in der Strafbarkeit entstünden nur in solchen Staaten, welche die Genitalverstümmelung nicht unter Strafe gestellt hätten. Deutsche Ermittlungsverfahren wegen in diesen Staaten begangenen Taten müssten aber immer eingestellt werden, da deutsche Ermittler im Ausland nicht tätig werden dürften und in solchen Staaten aufgrund der fehlenden Strafbarkeit keine Amtshilfe durch die örtlichen Behörden zu erwarten sei“.42 Die Fraktion der SPD erklärte im gleichen Zusammenhang zwar, sie halte „eine Aufnahme des eigenen Straftatbestands der Genitalverstümmelung in den Katalog des § 5
37
BT-Drucks. 17 / 4759, S. 6. BT-Drucks. 17 / 12374, S. 4. 39 Auch nach Ansicht der SPD sollte ein neuer § 5 Nr. 8a StGB mit folgendem Wortlaut eingefügt werden: „… 8a. Körperverletzung im Fall des § 224 Absatz 3, wenn die Tat sich gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort im Inland hat“; vgl. BT-Drucks. 17 / 12374, S. 3. 40 Während sich der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen für eine Erweiterung des bisherigen § 226 Abs. 1 StGB aussprach, favorisierte die SPD die Einfügung eines neuen § 224 Abs. 3 StGB. 41 BT-Drucks. 17 / 13707. 42 BT-Drucks. 17 / 14218, S. 7. 38
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StGB nach wie vor für wünschenswert“.43 Dennoch stimmte sie der heute geltenden Gesetzesfassung ohne spezielle Strafanwendungsklausel letztlich zu. Skepsis findet sich diesbezüglich letztlich nur bei der Fraktion Die Linke, die „eine möglicherweise eher symbolische Gesetzgebung nicht mittragen“ wollte und sich daher bei der Abstimmung zu allen vorgelegten Gesetzentwürfen der Stimme enthielt.44 3. Anwendbarkeit deutschen Strafrechts de lege lata Ohne eine Erwähnung von § 226a StGB im Katalog des § 5 StGB kann deutsches Strafrecht auf Fälle der Verstümmelung weiblicher Genitalien somit nur unter den allgemeinen Voraussetzungen der §§ 3 i.V.m. 9, 7 StGB zur Anwendung gelangen. Insofern gilt Folgendes: Sofern der genitalverstümmelnde Eingriff im Inland, d.h. auf deutschem Staatsgebiet vorgenommen wird, lässt sich über § 3 i.V.m. § 9 StGB ohne weiteres ein deutscher Handlungs- oder Erfolgsort begründen. Diese Vorgehensweise entspricht aber gerade nicht der üblichen Praxis der Beschneidung von Mädchen und Frauen. Sieht man einmal von möglichen Ausnahmefällen innerhalb abgeschotteter Parallelgesellschaften von Migranten in der Bundesrepublik ab, so müssen die Verstümmelungen praktisch schon deshalb im Ausland erfolgen, weil sich vor dem Hintergrund der in Deutschland vorherrschenden Moral-, Sozial- und Rechtsvorstellungen solche Eingriffe als schwerwiegende und strafbare Grund- und Menschenrechtsverletzungen darstellen, die von den hier tätigen Ärzten zwingend abzulehnen sind. Etwaige noch in Deutschland erbrachte Vorbereitungs- oder Beteiligungshandlungen – seien sie nun als Täterschaft, Anstiftung oder Beihilfe einzustufen – sind meist nur schwer nachzuweisen. Insbesondere die Eltern der betroffenen Mädchen tragen zur Vermeidung von Bestrafung gegenüber den Strafverfolgungsbehörden häufig vor, es habe sich im konkreten Fall um eine sog. Spontanbeschneidung gehandelt, bezüglich derer der Entschluss erst im Ausland gefasst worden sei.45 Nach alledem erscheint die Annahme eines inländischen Tatorts nach den §§ 3, 9 StGB in der Rechtspraxis so gut wie ausgeschlossen. Was bleibt, ist der Rückgriff auf § 7 StGB. Schließlich lässt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf Auslandstaten nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB auch bei deutschen Tätern und nach § 7 Abs. 1 StGB bei Betroffensein eines deutschen Tatopfers begründen. In Übereinstimmung mit den Vorgaben des geltenden Völkergewohnheitsrechts hat der deutsche Gesetzgeber die
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BT-Drucks. 17 / 14218, S. 7. BT-Drucks. 17 / 14218, S. 7. Vgl. BT-Drucks. 17 / 12374, S. 4.
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Vorschrift des § 7 StGB aber gerade nicht auf der Grundlage eines absoluten aktiven bzw. passiven Personalitätsprinzips ausgestaltet. Vielmehr wird im Sinne eines jeweils eingeschränkten Personalitätsprinzips grundsätzlich verlangt, dass die Tat auch am ausländischen Tatort nach dem dort geltenden Recht (lex loci) mit Strafe bedroht ist, um den sog. Nichteinmischungsgrundsatz und damit die Souveränitätsinteressen anderer Staaten zu wahren, die durch die Durchführung eines deutschen Strafverfahrens mit Auslandsbezug beeinträchtigt werden können.46 In einer nicht unerheblichen Zahl afrikanischer und asiatischer Staaten ist die Verstümmelung weiblicher Genitalien aber gerade nicht mit Strafe bedroht, so dass dort gegen oder durch deutsche Staatsbürger begangene Taten von vornherein nicht nach den Grundsätzen des passiven oder aktiven Personalitätsprinzips verfolgt werden können. Zu diesen Staaten zählen etwa Kongo, Gambia, Liberia, Nigeria, Sierra Leone, Indien, Indonesien, Malaysia, Pakistan oder Jemen.47 Und selbst in Staaten, die eine Strafandrohung vorsehen, bleibt zu prüfen, ob deren tatsächliche Ausgestaltung auch die Annahme rechtfertigt, dass die Tat i.S. von § 7 StGB „mit Strafe bedroht“ ist. Prüfungsmaßstab ist insoweit die gesamte ausländische Rechtsordnung einschließlich eventuell auch ungeschriebener Rechtssätze.48 Die Genitalverstümmelung muss somit zum Zeitpunkt der Tatbegehung am ausländischen Tatort mit Kriminalstrafe oder einer vergleichbaren Sanktion bedroht sein. Nach vorzugswürdiger Ansicht ist zwar keine Deckungsgleichheit zwischen dem ausländischen und deutschen Straftatbestand erforderlich. Eine Tatortstrafbarkeit ist aber jedenfalls dann zu verneinen, wenn die Tat nach den Maßstäben des ausländischen Rechts ein „völlig anderes rechtliches Gepräge“ besitzt.49 Insofern gerät letztlich der internationale ordre public zum entscheidenden Maßstab. Nicht zu beachten sind demgegenüber im Tatortstaat geltende prozessuale Verfolgungshindernisse wie z.B. Verjährung oder Amnestie.50 Wird die Verstümmelung weib-
46 Zur Völkerrechtskonformität dieser gesetzlichen Ausprägung des eingeschränkten aktiven bzw. passiven Personalitätsprinzips s. nur Münchener Kommentar StGB/Ambos, 2. Aufl. 2011, Vor §§ 3–7 Rn. 36 ff.; AnwK/Zöller, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 3, 12. 47 Vgl. BT-Drucks. 17 / 9005, S. 3. 48 MK/Ambos (Fn. 46), § 7 Rn. 6; AnwK/Zöller (Fn. 46), § 7 Rn. 6; Henrich Das passive Personalitätsprinzip im deutschen Strafrecht, 1994, 81; Scholten Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 StGB, 1995, S. 130. 49 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. 2013, § 5 Rn 89; a.A. BGHSt 2, 160 f.; BGH StV 1997, 70, 71; SK/Hoyer, § 7 Rn. 4 (Juni 1997); Oehler Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, Rn. 151a: Deckungsgleichheit; wiederum anders OLG Celle StV 2001, 516; MK/Ambos (Fn. 46), § 7 Rn. 6: weder Deckungsgleichheit noch vergleichbarer Schutzzweck erforderlich. 50 BGHSt 2, 160, 161; 20, 22, 27; BGH NStZ-RR 2000, 361; 2011, 245, 246; KG JR 1988, 345, 346; OLG Zweibrücken OLGSt § 7 Rn. 7; AnwK/Zöller (Fn. 46), § 7 Rn. 8; Scholten (Fn. 47), S. 154; Eser JZ 1993, 875, 878 ff.; a.A. Satzger (Fn. 49), § 5 Rn. 97 ff.; Rath JA 2007, 26, 34.
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licher Genitalien mithin im Tatortstaat eher im Sinne eines Bagatell- oder Kavaliersdelikts verfolgt oder ist als Rechtsfolge eine bloße Sühnemaßnahme oder eine Verwaltungssanktion vorgesehen, so fehlt es an der erforderlichen Tatortstrafbarkeit. Entsprechendes wird man auch annehmen müssen, wenn eine dem deutschen § 226a StGB vergleichbare Kriminalstrafe nur auf dem Papier besteht, in der Praxis aber keine Strafverfolgung stattfindet. So wird beispielsweise in Ägypten immer wieder die zu laxe Umsetzung des seit 2008 geltenden Verbots der Genitalverstümmelung bemängelt.51 Zweifelhaft erscheint es jedenfalls, die Straflosigkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien nach einer ausländischen Rechtsordnung unter dem Blickwinkel des § 7 StGB unter Verweis auf den ordre public allein wegen der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen zu ignorieren. Hierfür dürfte es mit Blick auf die betroffenen Staaten an einer völkervertraglichen bzw. völkergewohnheitsrechtlichen Grundlage fehlen. Keinen Ausweg aus diesem Dilemma vermag auch die Tatsache zu begründen, dass § 7 StGB – mangels beeinträchtigungsfähiger Souveränitätsinteressen – vom Erfordernis der Tatortstrafbarkeit dann absieht, wenn „der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt“. Zwar besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass zu solchen strafgewaltfreien Tatorten auch sog. failing oder failed states zu zählen sind, die zwar noch formal einer Hoheitsgewalt unterliegen, deren Regierung aber nicht mehr in der Lage ist, effektive Strafgewalt auszuüben.52 Allerdings liegen diese Voraussetzungen ungeachtet dessen, dass eine ganze Reihe afrikanischer oder arabischer Staaten vom westlichen Modell des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats teilweise erheblich abweichen, soweit erkennbar bislang in keinem der die Genitalverstümmelung praktizierenden Staaten vor. Selbst in von Bürgerkriegen geschüttelten Ländern wie Ägypten haben innere Krisen die Funktionsfähigkeit der Staatsgewalt als solche nicht erschüttern können. Schließlich könnte man noch auf die Idee kommen, die vom Tatbestand des § 226a Abs. 1 StGB erfassten Auslandstaten in Deutschland dann eben unter einem anderen rechtlichen Aspekt, beispielsweise dem einer (einfachen) Körperverletzung nach § 223 StGB zu verfolgen. Schließlich stellt § 226a einen qualifizierten Fall der Körperverletzung dar.53 Für eine Beschränkung der Strafverfolgung auf das Grunddelikt des § 223 StGB könnte sprechen, dass die vorsätzliche Körperverletzung in nahezu allen Rechtsord-
51
S. Backhaus Genitalverstümmelung: Der Nil heilt die Wunden nicht in: http://www. zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-11/aegypten-genitalverstuemmelung [letzter Abruf: 14.3.2014]. 52 Leipziger Kommentar StGB/Werle/Jeßberger, 12. Aufl. 2007, § 7 Rn. 53; MK/Ambos (Fn. 46), § 7 Rn. 18; NK/Böse, 4. Aufl. 2013, § 7 Rn. 9; AnwK/Zöller (Fn. 46), § 7 Rn. 9; Zöller Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 305. 53 AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 3.
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nungen weltweit unter Strafe stehen dürfte. Eine solche Vorgehensweise wäre jedoch wegen Verstoßes gegen den Nichteinmischungsgrundsatz als völkerrechtswidrig anzusehen. Die Tat, deren Strafbarkeit am Tatort i.S. von § 7 StGB festgestellt werden muss, ist ja gerade eine spezielle und besonders schwerwiegende Form der vorsätzlichen Körperverletzung. Würde man stattdessen auf das allgemeine, einfache und vorsätzliche Körperverletzungsdelikt abstellen, das darin notwendig enthalten ist, so würde man die vom ausländischen Staat aus bestimmten religiösen, kulturellen oder sonstigen national geprägten Gründen getroffene Wertentscheidung aushebeln, die Verstümmelung weiblicher Genitalien straflos zu stellen. Die „Tat“, deren Strafbarkeit nach dem Recht des ausländischen Tatortes zu prüfen ist, kann somit in diesem Rahmen immer nur das durch § 226a Abs. 1 StGB typisierte Verhalten sein.
IV. Fazit Ein näherer Blick auf die Rechtspraxis und das einschlägige deutsche Strafanwendungsrecht entlarvt den neuen § 226a StGB somit als „Mogelpackung“. Auf der tatbestandlichen „Hülle“ steht ein beachtlicher Fortschritt im Bereich des Grund- und Menschenrechtsschutzes, aber im rechtspraktischen Innenleben findet sich hiervon nur wenig. Den Gesetzgeber hat in seinem Reformeifer an der entscheidenden Stelle der Mut verlassen, indem er den für eine effektive Strafverfolgung unverzichtbaren Überlegungen zur Aufnahme des § 226a StGB in den Katalog des § 5 StGB letztlich eine Absage erteilte. Zu groß war offenbar die Befürchtung, dass die Strafverfolgungsbehörden einem weltweiten Geltungsanspruch des deutschen § 226a StGB nicht gerecht werden könnten. Dass für solche Fälle durchaus auch gewisse prozessuale Korrekturmöglichkeiten, etwa in Gestalt von Verfahrenseinstellungen nach den § 153c StGB bestehen, ist nicht einmal in Erwägung gezogen worden. Ein Strafrecht aber, das weniger auf den Schutz der jeweiligen Rechtsgüter angelegt ist als auf weiterreichende politische Wirkungen, hat Winfried Hassemer bereits im Jahr 1989 als „symbolisches Strafrecht“ gebrandmarkt.54 Insofern steht zu befürchten, dass eine im internationalen Medien- und Politikgeschäft positive Strahlkraft besitzende, aber auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erkennbare Halbherzigkeit der Pönalisierung einer jedenfalls aus westlicher Sicht barbarischen Beschneidungspraxis den Tatbestand des § 226a StGB in nicht unerheblichem Umfang zur faktischen Bedeutungslosigkeit verdammt. Verbleibende Strafbarkeitslücken werden sich nur unzureichend durch die allgemeinen Körperverletzungs-
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Hassemer NStZ 1989, 553, 559; vgl. auch ders. FS Roxin, 2001, S. 1001 ff.
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delikte der §§ 223 ff. StGB schließen lassen.55 Gut gemeint ist daher auch mit Blick auf das 43. Strafrechtsänderungsgesetz das Gegenteil von gut gemacht. Was als Hoffnungsschimmer für Opfer grausamer Grund- und Menschenrechtsverletzung begonnen hat, könnte daher schnell zum Bumerang werden, wenn diese erkennen, dass der tatsächliche Anwendungsbereich des Tatbestands der Genitalverstümmelung eng ist und der Arm des deutschen Gesetzes ihr persönliches Schicksal gar nicht zu erreichen vermag. Symbolisches Strafrecht mit Täuschungsfunktion verfehlt die Aufgabe rechtsstaatlicher Kriminalpolitik und untergräbt das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafrechtspflege.56 Der verehrte Jubilar, der sich in seinem beeindruckenden wissenschaftlichen Werk stets mit der ihm eigenen Vehemenz für das Gegenteil eingesetzt hat,57 weiß hiervon ohne Zweifel ein Lied zu singen.
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Zur lückenhaften Erfassung der Genitalverstümmelung durch die Körperverletzungsdelikte vor Einführung des § 226a StGB AnwK/Zöller (Fn. 9), § 226a Rn. 4; Zöller/Thörnich JA 2014, 167, 169. 56 Hassemer NStZ 1989, 553, 559. 57 Vgl. pars pro toto Schünemann FS Schmitt, 1992, S. 117 ff.; ders. GA 1996, 307 ff.
Kriminologie und Kriminalpolitik
Vielleicht hat die Linke doch recht … Ist Bernd Schünemann also ein Linker? Roland Hefendehl I. Hinführung zum Thema* Bernd Schünemann hat im Laufe seines Lebens als Strafrechtswissenschaftler immer wieder vielleicht nicht die Bescheinigung erhalten, recht (gehabt) zu haben. Denn ein solches Zugeständnis fällt der Strafrechtsgilde bei allem Pochen auf den Status ihrer Disziplin als Wissenschaft regelmäßig nicht leicht.1 Aber die profund abgesicherte Argumentationskraft des Jubilars ist auf nahezu allen Gebieten des Strafrechts Legion und nötigt in- wie ausländischen Kolleginnen und Kollegen immer wieder höchsten Respekt ab. Und auch die Praxis sieht sich gezwungen, sich fortwährend mit den Gedankengängen von Bernd Schünemann – fast ist man geneigt zu sagen – herumzuschlagen, weil ihnen wesentlich leichter zu folgen als zu begegnen ist und sie vielfach unbequeme Analysen enthalten. Ob Bernd Schünemann wiederum als Linker bezeichnet werden sollte, ist eine ganz andere – eher überraschende – Frage, die gemeinhin deshalb weder gestellt wird noch gestellt zu werden braucht, weil sich jedenfalls die so bezeichnete Strafrechtswissenschaft schon seit geraumer Zeit nahezu uniform als rechtsstaatlich-liberal bezeichnen und insoweit auf die Verfassung bzw. deren Grundsätze verweisen würde. In jeder Vorlesung wird der Hinweis auf die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts – im Einvernehmen mit dem BVerfG – enthalten sein. Damit ist aber natürlich keine politische Orientierung verbunden, sondern ließe sich das gesamte auf dem Boden der sog. freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehende Parteienspektrum für eine derartige Sichtweise benennen.
* Für wertvolle vorbereitende Unterstützung bei den Recherchen zu diesem Beitrag danke ich meinem Mitarbeiter Julian Sigmund herzlich. 1 Gerade dieser Umstand lässt übrigens wiederum Zweifel an der Möglichkeit echten Erkenntnisfortschritts in diesem Bereich aufkommen. Den Status der Rechtsdogmatik als Wissenschaft bezweifelnd Kiesow JZ 2010, 585 ff., Fischer FS Rissing-van Saan, 2011, S. 144, 146, 163, Möllers Verfassungsblog vom 8.1.2012 (http://www.verfassungsblog.de/de/achtthesen-zur-juristerei-als-wissenschaft) [letzter Abruf: 23.6.2014], ihn befürwortend Schünemann GA 2011, 445, 447; ders. FS Roxin, 2001, S. 1, 32.
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In der Kriminologie könnte man vielleicht noch eher an eine politische Verortung der sie betreibenden Vertreter/innen denken. Aber auch hier haben sich die ehemals scharfen (auch politischen) Gegensätze weitgehend eingeebnet und übt sich die kleine Schar der Verbliebenen2 eher in wechselseitiger Solidarität. Die konstruktivistischen Ansätze auf der einen Seite des Spektrums haben schon längst den Geruch des Defätistischen und explizit Linken abgestreift, auf der anderen Seite regiert ein pragmatischer Methodenmix, der wiederum vom gesamten Parteienspektrum zumindest bereichsweise getragen werden könnte. Warum also diese Assoziationen zur politischen Ausrichtung und zur Frage, wer recht haben könnte? Bernd Schünemann liefert sich mittlerweile seit mehr als einem Jahrzehnt mit der teilweise so bezeichneten strafrechtlichen Frankfurter Schule einen Kampf um die Frage, inwieweit das Strafrecht als ein Unterschichtsstrafrecht zu charakterisieren ist und welche Folgerungen man hieraus ableiten sollte. Gerade in der „kleinen Festschrift“ für Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag haben sich Klaus Lüderssen und Cornelius Prittwitz gegen dessen Sichtweise verwahrt,3 was aber wiederum Bernd Schünemann nicht davon abgehalten hat, in den darauffolgenden Jahren immer wieder für eine Beseitigung der von ihm ausgemachten Defizite bei einem Oberschichtsstrafrecht zu plädieren und dies insbesondere an der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzkrise(n) zu exemplifizieren.4 Neben diesen an eine politische Ausrichtung erinnernden Terminologien eines Ober- und eines Unterschichtsstrafrechts liefert die eben erwähnte strafrechtliche Frankfurter Schule entsprechende weitere Assoziationen, weil sie jedenfalls mit einer diffusen Affinität zu einem linken Spektrum kokettiert. Dieser Umstand hat den Jubilar einige Male zu süffisanten Äußerungen veranlasst, wenn er auf den überwiegend von den deutschen Banken getragenen neuen Frankfurter Universitäts-Leuchtturm in Gestalt des Institute for Law and Finance (ILF) verweist,5 dessen Strahlkraft schon längst das (Wirtschafts-)Strafrecht erfasst hat, während bezeichnenderweise die Kriminologie am Fachbereich weitgehend marginalisiert wurde (nachfolgend III.). Die dritte Assoziation schließlich stammt aus einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Jahre 2011 just von Frank Schirrmacher, den er mit: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ betitelte6 und 2 Zu den gegenwärtigen Problemen der Kriminologie vgl. Albrecht/Quensel MschrKrim 96 (2013), 73 ff., 276 ff. 3 Lüderssen in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 281 ff.; Prittwitz in: Hefendehl (Hrsg.) a.a.O., S. 287 ff. 4 S.u. IV. 2. b). 5 Schünemann in: ders. (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise, 2010, S. 71, 81, 85 ff.; ders. StraFo 2010, 1, 2; ders. FS Imme Roxin, 2012, S. 341, 349 Fn. 55. 6 Schirrmacher FAZ v. 15.8.2011 (http://www.faz.net/-gqz-6m1ki) [letzter Abruf: 23.6. 2014].
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der wiederum durch einen Artikel des politisch zweifelsfrei ausgerichteten (erzkonservativen) Charles Moore im Daily Telegraph inspiriert war.7 Dieser hatte aus politisch-ökonomischer Perspektive vor dem Hintergrund einer als enthemmt gebrandmarkten Finanzmarktökonomie die Frage gestellt, ob das derzeitige politische System nur den Reichen diene (nachfolgend IV.). Schirrmacher mit einem Kotau vor den Linken und das Frankfurter Strafrecht im Schlepptau von Law & Finance: Das ist das in der Schachterminologie unübersichtliche Mittelspiel, in dem sich Bernd Schünemann überhaupt erst wohlzufühlen beginnt.
II. Ober- und Unterschichtsstrafrecht bzw. -kriminalität 1. Die Argumentationsketten zu den beiden Begriffen des Ober- und des Unterschichtsstrafrechts sind mittlerweile auch deshalb komplex geworden, weil damit eine strategische Schlüsselstelle besetzt wird. Deren Ausgangspunkt bleibt indes relativ simpel: So betont Schünemann zu Recht, dass ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik den Schutz des Privateigentums als den archimedischen Punkt des klassischen Strafrechts zum Ausdruck bringt. Die Diebstahlsdelikte repräsentieren hier noch immer 40 % der Gesamtkriminalität.8 Auch wenn wir von der Ubiquität der Delinquenz und damit auch der Eigentumsdelinquenz ausgehen, sorgen ungleiche Zuschreibungsprozesse doch dafür, dass wir parallel zur Dominanz dieses Deliktsbereichs auch die Angehörigen der Unterschicht als die bevorzugte Klientel der Strafrechtspflege ausmachen.9 Man sollte vorsichtig sein, eine solche Einschätzung mit einer statistisch abnehmenden Relevanz der oben erwähnten Diebstahlskriminalität in Frage zu stellen10 und damit ein Gerechtigkeitsproblem als im Schwinden begriffen anzusehen. Denn dieser Befund lässt sich bereichsweise auch durch eine Verfeinerung technisch präventiver Maßnahmen sowie durch Aspekte der Selbststeuerung erklären und beruht symptomatischerweise auf verringerten Zahlen für den schweren Diebstahl.11 7 Moore Daily Telegraph v. 22.7.2011 (http://www.telegraph.co.uk/news/politics/ 8655106/Im-starting-to-think-that-the-Left-might-actually-be-right.html) [letzter Abruf: 23.6.2014]. 8 Bundeskriminalamt (= BKA) (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik – IMK-Bericht 2013, S. 7, 16. 9 Vgl. auch Schünemann in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 14, 20. 10 So sank der Anteil der Diebstahlsfälle an der Gesamtkriminalität nahezu ununterbrochen von 61,5 % im Jahr 1993 auf nunmehr 40 % im Jahr 2013, BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik – Berichtsjahr 1993, S. 16, bzw. BKA 2013 (Fn. 8), S. 7, 16. 11 Während der Anteil des einfachen Diebstahls an der Gesamtkriminalität in den vergangenen 20 Jahren relativ konstant bei etwa 20 % lag, sank der Anteil des Diebstahls unter
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Prittwitz relativiert diesen Ausgangspunkt nun dadurch, dass Unterschicht und untere Mittelschicht nicht nur das Gros der (verurteilten) Täter, sondern auch der bekannt gewordenen Opfer von Eigentumsverletzungen ausmachten.12 Und Lüderssen moniert, Schünemann habe nicht dartun können, weshalb die Frankfurter Skepsis gegenüber der Verfolgung bestimmter Typen von Wirtschaftskriminalität zur vermehrten und kritiklosen Verfolgung der Elendskriminalität geführt haben soll.13 Aber das hat niemand, schon gar nicht Schünemann, behauptet. Wenn man schon – reichlich spekulativ – mit Kapazitäten argumentieren möchte, so könnte man allenfalls auf die Absorbierung gewaltiger Ressourcen der Strafjustiz durch die Elendskriminalität hinweisen.14 Ferner ändert sich das Strafrecht in seiner Blickrichtung nicht dadurch, dass natürlich auch die Angehörigen am ökonomisch unteren Ende der Gesellschaft zu den Opfern der (notwendigerweise bagatellarischen) Eigentumsdelinquenz gehören, und zwar insbesondere auch deshalb, weil sie nicht über die Ressourcen verfügen, ihr Eigentum umfänglich zu sichern. 2. Was diese Diskussion in jedem Fall eindringlich zum Ausdruck bringt, ist der Schwerpunkt auf der Ebene der tatsächlichen Dimension der Delinquenz, während das strafrechtliche Instrumentarium und damit das Oberund Unterschichtsstrafrecht im eigentlichen Sinne eher ein Randdasein fristet.15 Eher überraschend wird dabei weder von Schünemann noch von Frankfurter Seite auf Sutherland und sein Credo bereits in den 40er Jahren rekurriert, dass sich die Kriminologie traditionell überproportional mit Phänomenen der sog. Unterschichtskriminalität befasst habe und ein entsprechender Perspektivenwechsel angezeigt sei;16 eine Sichtweise, die durch die sog. kritische Kriminologie zu einer eigenen Disziplin fortentwickelt wurde.17
erschwerenden Umständen von 37,7 % im Jahr 1993 auf 18,2 % im Jahr 2013; BKA 1993 (Fn. 10), S. 16, bzw. BKA 2013 (Fn. 8), S. 16. 12 Prittwitz (Fn. 3), S. 287, 290; valide Zahlen für diese plausible Vermutung liefert er freilich nicht. 13 Lüderssen (Fn. 3), S. 281, 282. 14 In diesem Sinne gerade Schünemann in: Finanzkrise (Fn. 5), S. 349, 356. 15 Hierzu die Überlegungen u. IV. 2. c). 16 Sutherland White Collar Crime, New Haven 1983 (orig. 1949). 17 Hierzu Sack in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 1993, S. 329 ff.; Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.), Kritische Kriminologie, 1974; vgl. auch Lamnek Theorien abweichenden Verhaltens II, 3. Aufl. 2008, S. 28 ff.
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III. Die strafrechtliche Frankfurter Schule und deren Perspektivenverschiebung 1. Fischer-Lescano ist nicht nur das Verdienst zuzuschreiben, die Analyse der Guttenbergschen Arbeit ins Rollen gebracht zu haben,18 er hat sich im Folgenden auf einer weit grundsätzlicheren Stufe in dankenswerter Klarheit auch der Abhängigkeit der Universitäten von den Finanzmärkten angenommen – und damit die sich im Zuge von Guttenberg einstellende scheinheilige Zufriedenheit über den Selbstreinigungsprozess der Wissenschaft jedenfalls der Sache nach getrübt. Nur auf den ersten Blick überrascht es, dass dieses zweite von Fischer-Lescano aufgebrachte Skandalon im Wesentlichen ein Internum blieb. Auf der einen Seite gab es schlicht nicht die medial aufgeheizte empörte Öffentlichkeit, die Köpfe rollen sehen wollte (welche auch?), auf der anderen Seite ist die Verwebung von Wirtschaft und Universitäten bereits derart intensiv vollzogen, dass man sich schlicht keinen anderen Zustand mehr vorstellen kann. Und mehr noch: Den Protagonisten einer solchen Vorgehensweise ist es sogar gelungen, den Einsatz der Ökonomie in der Wissenschaft als erstrebenswerte Auszeichnung im Bewusstsein der Internen und auch der Gesellschaft zu verankern. Tatsächlich führt die derzeitige Politik, die Finanzierung der Universitäten durch die Länder unter die Schmerzgrenze zu senken und andere Geldquellen – die Drittmittelförderung oder die Wirtschaft eben – ins Spiel zu bringen, in eine gefährliche Nähe zum Straftatbestand der Untreue, weil über diese Mittel notgedrungen die grundständige Ausbildung (en passant) mitabgedeckt wird und dies möglicherweise sogar intendiert ist. Nach Fischer-Lescano sind die Universitäten somit zu Kadettenanstalten der Finanzmärkte mutiert.19 Und er benennt gerade den Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt als Beispiel für eine Entfremdung von dessen eigentlicher Aufgabe, nämlich der Auseinandersetzung mit der Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Hier habe das ILF eine prägende Funktion eingenommen, das sich in seinem Selbstverständnis als Kaderschmiede für Unternehmen und Kanzleien sehe.20 Auch das Strafrecht ist in diesen Sog geraten. Die Einladungen zu den am besagten Institut stattfindenden Tagungen erfreuen die auf diesem Gebiet Tätigen der Praxis und der Wissenschaft in gleicher Weise, wobei dem Dialog der Disziplinen besondere Bedeutung zukommen soll. Aber ein solcher wird eben bezeichnenderweise eher mit der Ökonomie als mit der Kriminologie, geschweige denn mit der kritischen Kri18 Fischer-Lescano KJ 2011, 112 ff.; vgl. hierzu auch Becker in: Lepsius/Meyer-Kalkus (Hrsg.), Inszenierung als Beruf – Der Fall Guttenberg, 2011, S. 144. 19 Fischer-Lescano Blätter für deutsche und internationale Politik (= Blätter) 2/2012, 53, 54 f. 20 Fischer-Lescano Blätter 2/2012, 53, 54 f.
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minologie, gesucht. So erscheint es auch als kein Zufall, dass sich der Frankfurter Fachbereich bei der Nachfolge für den (kritischen) Kriminologen Peter-Alexis Albrecht dafür entschied, auf einen Ausweis der Kriminologie gleich ganz zu verzichten und das Wirtschaftsstrafrecht weiter zu stärken.21 Und wie sah es davor aus? Bei einer Charakterisierung der Frankfurter Schule (im eigentlichen Sinne) möchte ich mich in gleicher Weise zurückhalten wie bei derjenigen des Zivil- und Wirtschaftsrechts am Frankfurter Fachbereich vor der Ära des ILF. Aber ich mache doch jeweils gerade ein von Fischer-Lescano so bezeichnetes „Zusammendenken“ von Gesellschaftstheorie und Rechtswissenschaft aus, für das Rudolf Wiethölter untrennbar steht22 und das unter Heranziehung des Marxismus durch die Frankfurter Schule zu einer Kritik des bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftssystems geführt hat.23 Die strafrechtliche Frankfurter Schule wies bei aller Vielfalt im Detail einen Schwerpunkt in einem generellen Strafrechtsskeptizismus, im Hinweis auf Subsidiarität und Fragmentarität 24 sowie im Kampf gegen den strafrechtlichen Schutz kollektiver Rechtsgüter über abstrakte Gefährdungsdelikte auf. Das Strafrecht sei durch Maßnahmen der technischen Prävention sowie ein so bezeichnetes Interventionsrecht zurückzudrängen und habe sich auf den Schutz „klassischer“ personaler Rechtsgüter zu beschränken.25 In der Kriminologie schließlich hatte der konstruktivistische Ansatz in Frankfurt lange Jahre Konjunktur.26 2. a) Lassen wir einmal fiktiv die Vertreter des Frankfurter kriminalwissenschaftlichen Fachbereichs zu Wort kommen: Sie werden darauf verweisen, dass gerade die jüngeren Aktivitäten in loser Kooperation mit dem ILF, nicht in dessen Abhängigkeit, eben die Fortführung dieser Tradition in zeitgemäßem Gewande seien. Wenn man sich auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts mit systemischen Risiken befasse und sich den Feldern von Cor21 Vgl. auch den Hinweis von Thiel „Institute for Theorieschwund“, FAZ v. 1.3.2012 (http://www.faz.net/-gsn-6y14k) [letzter Abruf: 23.6.2014]. 22 Vgl. etwa Wiethölter Rechtswissenschaft, 1968. 23 Zum Frankfurter Institut für Sozialforschung und dessen von Horkheimer und Adorno entwickeltem und von Marcuse u.a. fortgeführtem theoretischen Fundament, der Kritischen Theorie (zu dieser Horkheimer Traditionelle und kritische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. IV, 1988), vgl. etwa Busch Geschichte der Frankfurter Schule, 2010, S. 13, 52 ff.; Kruse Geschichte der Soziologie, 2008, S. 276 ff. 24 Vgl. Jahn wistra 2013, 41. 25 Zum Konzept des Interventionsrechts mit unterschiedlicher Akzentuierung im Einzelnen vgl. etwa Hassemer Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1996, S. 20 ff.; Lüderssen FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 487 ff.; ders. Abschaffen des Strafens, 1995, S. 22 ff., 172, 387; zur personalen Rechtsgutslehre Hassemer ZRP 1992, 378, 379 f.; ders. FS Arthur Kaufmann, 1989, S. 85, 90 ff. 26 Hess KrimJ 1. Beiheft 1986, 24 ff.; ders./Scheerer KrimJ 29 (1997), 83 ff.; dies. in: Oberwittler/Karstedt (Hrsg.), Soziologie der Kriminalität, 2004, S. 69 ff.
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porate Governance und Compliance zuwende, so liege darin exakt der Frankfurter strafrechtsskeptische Weg im Dialog mit anderen Disziplinen und die Suche nach alternativen Interventionen. Wenn man sich zweitens gegen Versuche wende, sich mit neuartigen vagen Gefährdungsdelikten zum Schutze kollektiver Rechtsgüter gegen künftige Finanzmarktkrisen zu wappnen, so sei dies nichts anderes als die klassische Frankfurter Position. Wenn man schließlich drittens den Untreuetatbestand nicht überstrapazieren wolle, dann befinde man sich exakt auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts. b) Eine solche Replik lässt einen in der Tat zunächst stutzig werden, was es mit der hier behaupteten Perspektivenverschiebung auf sich hat. Bei einem weiteren Nachdenken besteht diese gleichwohl und ist die (fiktive) Erwiderung zurückzuweisen. aa) Dreh- und Angelpunkt für eine Einschätzung der Frankfurter Vorgehensweise ist der Status quo bei den Reaktionen auf die Wirtschaftskriminalität. Denn erst wenn dieser feststeht, wissen wir, was wir von Forderungen nach einer Subsidiarität des Strafrechts zu halten haben. Ohne dass wir uns an dieser Stelle auf die Suche nach einer exakten Definition der Wirtschaftskriminalität begeben müssen,27 so steht doch eines fest: Es handelt sich hierbei zumindest überwiegend um eine sog. Kriminalität der Mächtigen, die gerade auch im Fokus der Frankfurter strafrechtlichen Schule stand und steht. Der von Cornelius Prittwitz und weiteren herausgegebene Band hierzu sei nur beispielhaft genannt.28 Auf allen bisher am ILF ausgetragenen Strafrechtstagungen ging es um Fragen einer (Verhinderung der) Strafbarkeit bzw. Kriminalisierung des Unternehmens oder dessen maßgeblicher Führungspersonen. bb) Wie dargestellt, ist die „Entdeckung“ oder „Aufdeckung“ gerade dieser Kriminalität ein Verdienst der kritischen Kriminologie, die unter Verweis auf die Ubiquitätsthese29 Gerechtigkeitsdefizite benannte. Die Diskussion derartiger Ungleichheiten hat aber erstens – wie gesehen – nicht zu deren Beseitigung geführt und ist zweitens stets in Richtung einer ausgleichenden Kriminalisierung der Mächtigen und nicht in Richtung einer umfassenden Entkriminalisierung geführt worden. Hieraus lassen sich die folgenden Ableitungen vornehmen: Wer zum jetzigen Zeitpunkt unter Hinweis auf die ultima-ratio-Funktion bzw. die Subsi27
Vgl. hierzu etwa Hefendehl ZStW 119 (2008), 816, 818 ff. Prittwitz u.a. (Hrsg.), Kriminalität der Mächtigen, 2008. 29 Hierzu Sack Kriminalsoziologie, 1968, S. 431, 463 ff.; P.-A. Albrecht Kriminologie, 3. Aufl. 2005, S. 151 f.; Quensel in: Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.), Kritische Kriminologie, 1974, S. 132, 144 f. 28
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diarität des Strafrechts nach einem Stopp der Kriminalisierung der Mächtigen im Bereich des Wirtschaftens ruft, zementiert das erwähnte Gerechtigkeitsdefizit, was gegen die Idee der kritischen Kriminologie gerichtet wäre. Man könnte allenfalls dann eine Vereinbarkeit mit einem solchen Ansatz in Betracht ziehen, wenn eine Kriminalisierung generell mit einer abzulehnenden Herrschaftsstabilisierung gleichgesetzt würde – ein Gedanke, der in Frankfurt in den letzten Jahren aber bezeichnenderweise noch nicht einmal geäußert wurde und daher redlicherweise nicht als leitend bezeichnet werden kann.30 Gerade im Hinblick auf diese Problematik scheinen sich denn auch die Frankfurter Sichtweisen ganz entscheidend auseinanderzudividieren: Während Naucke eine Ausweitung des Makrokriminalitätsrechts hin zu einem politischen Wirtschaftsstrafrecht fordert und § 266 StGB einstweilen nicht mehr als einen Notbehelf ansieht,31 bläst Jahn in das bekannte Frankfurter Horn und warnt vor neuen Straftatbeständen im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts.32 Zudem habe das BVerfG auch dem Untreuetatbestand vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG deutliche Grenzen gesetzt.33 Aber diese Argumentationslinie hat eben nichts mit Stigmatisierungsprozessen oder den Gedanken der kritischen Kriminologie in dem Sinne zu tun, dass die Naucke-Position zu kurz greife. Mit anderen Worten müsste man für die Kriminalität der Mächtigen bei der beschriebenen Vorgeschichte der Ungleichheiten entweder eine politisch fundierte Gesellschaftstheorie zum Einsatz bringen statt vage auf systemische Zusammenhänge zu verweisen oder aber die herrschaftsstabilisierende Wirkung für das gesamte Strafrecht und nicht lediglich für einen schmalen Ausschnitt geißeln. cc) Nicht anders sieht es aus, wenn man Corporate Governance als Alternative für den Einsatz des Strafrechts forciert. Über derartige Forderungen würden die beschriebenen Gerechtigkeitsdefizite sogar noch verstärkt, sofern sie fast listig dazu genutzt würden, im Bereich der Unternehmenssteuerung auf strafrechtsfremde Gebiete wie Governance zu setzen, auf ein vergleichbares Ausweichen aber mangels entsprechender Möglichkeiten im Bereich des Kernstrafrechts – etwa eben beim stark überrepräsentierten Diebstahlstatbestand – zu verzichten. Zudem lassen die Compliance-Programme die Risk-Seeker innerhalb des Unternehmens unbehelligt und setzen auf einen vordergründigen Schein nach außen.34 30
Zu diesem unten IV. 2. a). Naucke Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat – Eine Annäherung, 2012, S. 52 ff. 32 Jahn wistra 2013, 41, 42 f. 33 Jahn wistra 2013, 41, 43 unter Heranziehung von BVerfGE 126, 170, 226 ff. 34 Zur systemtheoretisch fundierten Analyse der Steuerungswirkung von Strafrecht und nachgiebigeren Reglementierungssystemen Theile Wirtschaftskriminalität und Strafverfah31
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dd) Was die in diesem Kontext beobachtbaren, bei zurückhaltender Sichtweise als kurios zu bezeichnenden Kompetenzverschiebungen anbelangt – Anwaltsunternehmen übernehmen Ermittlungsaufgaben der Staatsanwaltschaft,35 Strafverteidiger forcieren eine offensichtlich bewusst vernachlässigte Strafverfolgung –,36 findet im Ergebnis ähnlich wie bei den Absprachen ein scheinbar demokratietheoretisch legitimierter Konsensprozess statt, der aber doch nur der Stabilisierung des Systems dient. So gewinnt das Unternehmen weiter an Definitionshoheit und im Hinblick auf seine Mitglieder an Unterdrückungsmacht weit jenseits arbeitsrechtlicher Optionen. c) Diese Aspekte bestätigen genau das, was Fischer-Lescano befürchtete. (Auch) die Systeme des Strafrechts und der Ökonomie haben sich miteinander im Sinne wechselseitiger Synergieeffekte arrangiert. Die ComplianceIndustrie hat einen lukrativen Markt generiert,37 von dem die Strafverteidiger, der Staat und im Ergebnis auch die Unternehmen selbst über Kontrollgewinne profitieren.
IV. Ein Strafrechtssystem für die Reichen – und was wäre die Konsequenz hieraus? 1. Und wie sieht es mit den Strafrechtsrisiken für die in der Wirtschaft Mächtigen aus? Haben wir also – parallel zu dem zu Beginn des Beitrags genannten Charles Moore und seiner selbstgrüblerischen Erkenntnis, das politische System diene nur den Reichen – ein Strafrechtssystem für ebendiese Klientel? Diese Frage ist nach dem Dargelegten gleich in zweierlei Hinsicht zu bejahen: Zum einen fehlt ein hinreichend mächtiges Wirtschaftsstrafrecht, ein solches nämlich, das einerseits gerade die Mächtigen ins Visier nimmt und andererseits die gewaltige Vertrauenskrise in der Gesellschaft aufgreift. Zum anderen hat sich die Praxis mit den existenten Strafbarkeitsrisiken – wie geschildert – bestens arrangiert, indem sie insbesondere für die
ren, 2009; krit. Schünemann StraFo 2010, 1, 3; ders. in: Finanzkrise (Fn. 5), S. 71, 99 f.; ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 349, 361 f. 35 Vgl. hierzu etwa Taschke NZWiSt 2012, 9 ff., 89 ff.; Schünemann GA 2013, 193, 196 f.; Arzt FS Stöckel, 2010, S. 15, 25 ff. 36 Vgl. etwa die Bemühungen von Strate zur Einleitung von Strafverfahren gegen Verantwortliche der Finanzkrise: Strate HRRS 2009, 441 ff.; ders. HRRS 2012, 416 ff.; zu dessen Strafanzeigen gegen Verantwortliche der HSH Nordbank und der Bayerischen Landesbank s. http://www.strate.net/de/dokumentation/aeltere.html; ferner hierzu Heiny FTD v. 4.3.2010 (http://www.strate.net/de/person/wie_juristen_die_finanzkrise_aufarbeiten.html) [letzter Abruf jeweils: 23.6.2014]. 37 Rotsch ZStW 125 (2013), 481, 485 ff.; Arzt FS Stöckel, 2010, S. 15, 35 f.
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Klientel der Mächtigen auf andere Bewältigungsstrategien als das Strafrecht verweist. 2. Aber was wäre die Konsequenz aus dieser Analyse, wenn wir nicht bereit wären, diese ausgemachten Gerechtigkeitsdefizite hinzunehmen? Nachfolgend soll – parallel zu unseren bisherigen Überlegungen – eine linke Sichtweise sowohl in kriminologischer als auch in strafrechtlicher Sicht nicht nur analytisch, sondern auch strategisch bemüht und fortentwickelt werden, bevor sich unsere ein wenig eigenartige Ausgangsfrage beantworten lässt: Ist Bernd Schünemann also ein Linker? Wir begnügen uns dabei nicht mit einer so bezeichneten linken Kriminalpolitik, die häufig nur als Chiffre vager Unzufriedenheiten verwendet wird. So führt etwa Silva Sánchez aus, eine solche Sichtweise agiere bei der Frage nach der Bedeutung des Strafrechts eher schizophren bzw. ambivalent:38 Die medial befeuerte gesellschaftliche Empörung gegenüber den Mächtigen aus Politik, Wirtschaft und Sport scheint dabei dem Strafrecht ebenso einen Schub zu verleihen wie unbefriedigende Zustände in der Gesellschaft, bei denen eher überraschend dem Strafrecht eine lenkende Vorreiterrolle zugedacht wird. Es bleiben aber noch immer drei verschiedene Lösungswege, die davon abhängen, welche Analyse bzw. Interpretation man in den Vordergrund rückt. Diese reichen von der extremen Forderung nach einer Reduktion bzw. sogar Abschaffung des Strafrechts über das gemäßigte Programm der Beseitigung von Gerechtigkeitsdefiziten bis hin zu einem Konzept eines im Hinblick auf die Gesellschaftsmitglieder deutlich aufgewerteten Strafrechts. a) aa) Wohin uns eine marxistische Kriminologie39 führen würde, bleibt deshalb ein wenig diffus, weil eine solche aus guten Gründen eben (auch heute) keine Konjunktur hat. Sie ginge doch wieder nur mit einer überkommenen ätiologischen, also ursachenbezogenen, Sichtweise einher. Die Kriminalität würde aus den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus und den damit einhergehenden sozialen Widersprüchen erklärt werden und ließe den kriminalitätsproduzierenden wie auch -reduzierenden Aspekt des Staates außen vor.40
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Silva Sánchez Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 31. Vgl. hierzu Werkentin/Hofferbert/Baurmann KJ 1972, 221 ff.; Baurmann/Hofferbert in: Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.), Kritische Kriminologie, 1974, S. 158 ff.; Greenberg (Ed.) Crime and Capitalism, Palo Alto 1981; zusammenfassende Darstellung der marxistischen Kriminologie bei Schneider in: ders. (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band XIV: Auswirkungen auf die Kriminologie, 1981, S. 63, 68 ff. 40 Zur Kritik marxistischer Ansätze vgl. Lamnek (Fn. 17), S. 37; Kaiser Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 32 Rn. 28; Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 6 Rn. 8. 39
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bb) Einer materialistisch-interaktionistischen Sichtweise im Sinne von Gerlinda Smaus gelingt es hingegen, eine im Kern marxistische Gesellschaftskritik um einen interaktionistischen Baustein zu ergänzen und damit die eben genannte Schwäche zu überwinden.41 Denn dieser Baustein enthält die Analyse des Labeling-Approach-Ansatzes, wonach über eine selektive und exemplarische Sanktionierung eine Demonstration und Verfestigung staatlicher Macht ermöglicht wird.42 cc) Hieraus würde für das Strafrecht ein Unterlassungsprogramm folgen. Der Ausbau des Wirtschaftsstrafrechts als systemisches Steuerungselement wäre zu stoppen. Denn diese Steuerung funktioniert vom Ansatz her nicht oder sie würde ein weiteres Mal systemstabilisierend durch exemplarische Pönalisierungen eingesetzt werden. Werden einzelne Exzesse wirtschaftlich Mächtiger öffentlichkeitswirksam bestraft, so wäre das Gefühl bekräftigt, das gesamte System zu beherrschen und im Sinne des gesellschaftlichen Wohls tatsächlich steuern zu können. b) aa) Für eine die ausgemachten Gerechtigkeitsdefizite bekämpfende (vergleichsweise gemäßigte) Sichtweise müssen wir gar nicht auf Karl Marx zurückgehen und die Schutzwürdigkeit des Privateigentums bzw. des Eigentums von Produktionsmitteln bestreiten, wie Bernd Schünemann zutreffend bemerkt hat.43 Wenn wir aber die aufgeworfenen Fragen der Gleichheit und damit auch der Gerechtigkeit vertiefen, so liefert gerade eine linke Gesellschaftstheorie die argumentative Basis dafür, den systemerhaltenden Einsatz des Strafrechts gegenüber bagatellarischen Übergriffen auf das Eigentum weiter zu beschneiden und ihn zudem nicht über eine Selbstkontrolle der Gesellschaft bzw. eine Überwachung von Räumen und Objekten zu substituieren. bb) Bernd Schünemann hat es indes hierbei nicht belassen, sondern mit der ihm typischen Argumentationsmacht 44 eine Lanze für den Untreuestraftatbestand als Mittel der wirtschaftsstrafrechtlichen Aufarbeitung gebrochen. Der Schutz des Eigentums gegen Angriffe von außen symbolisiere die beschriebene Unterschichtskriminalität, während die verantwortungslose Vernichtung von Vermögen durch eine vertrauensvoll eingesetzte und mit qualifizierten Kompetenzen ausgestattete Person die Oberschicht in ihren
41 Smaus KrimJ 1. Beiheft 1986, 179 ff.; vgl. auch die Zusammenfassung des Ansatzes bei Lamnek (Fn. 17), S. 133 ff. 42 Vgl. Lamnek (Fn. 17), S. 37 ff., 163. 43 Schünemann (Fn. 9), S. 14, 21. 44 So spricht er bei den zur Finanzkrise führenden Machenschaften von „global organisierter Kriminalität“, Schünemann in: Finanzkrise (Fn. 5), S. 71, 102.
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Fokus nehme.45 § 266 StGB sei das „konzeptionelle Zentraldelikt des modernen Wirtschaftsstrafrechts“ und der prägende Tatbestand der gegenwärtigen postmodern-spätindustriellen Epoche.46 Der Jubilar ist es auch gewesen, der alle Versuche, den Einsatz des Untreuetatbestandes im Rahmen der Finanzkrise zu diskreditieren, als überwiegend scheinheilig entlarvt hat: Der exzessive Kauf von MBS-Papieren durch Bankvertreter an den Regulierungen des Finanzmarktes vorbei ein für das Strafrecht irrelevantes systemisches Versagen?47 Eine Überstrapazierung des Untreuetatbestandes,48 wenn mit zweifelsfrei qualifizierten Befugnissen versehene Gesellschaftsorgane49 Vermögensnachteile herbeiführten, die im Rahmen der Untreue anders als beim Betrugstatbestand für eine verfassungswidrige generalklauselartige Weite stehen sollen?50 Die Existenz von unternehmerischen Anreizsystemen mit überzogenen Gewinnerwartungen schließlich gar als Freibrief, sofern man den Lockrufen nicht standzuhalten vermochte?51 cc) Das passt alles nicht zusammen und wirkt in der Vorgehensweise geradezu perfide, weil selbstbewusst auf der Klaviatur des guten, zurückgenommenen Strafrechts gespielt wird, während die Schieflagen unbenannt und damit erhalten bleiben. Es spricht also unter der Ägide des Strafrechts nichts gegen den Einsatz des Untreuestraftatbestandes bei vorsätzlicher Verletzung von Vermögensbetreuungspflichten und der Herbeiführung eines quantifizier-
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Schünemann StraFo 2010, 1, 2. Schünemann FS Imme Roxin, 2012, S. 341; ders. FS Frisch, 2013, S. 837, 839 f. 47 In diese Richtung Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, 2009, S. 241, 316; ders. StV 2009, 486, 494; Jahn JZ 2011, 340, 345; Vaubel in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral, 2010, S. 19, 24. 48 Eines klassischen Verletzungsdeliktes gegen ein Individualrechtsgut im Übrigen, womit sich auch die im Kern zutreffenden Bedenken etwa von Hassemer gegen zunehmend vage Rechtsgutskonstruktionen im Wirtschaftsstrafrecht (in: Kempf/Lüderssen/Volk [Hrsg.], Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, 2009, S. 29, 37) als nicht einschlägig erweisen. 49 Die Täterqualifikation bereitet in diesen Fällen also keinerlei Probleme; vgl. Schünemann in: Finanzkrise (Fn. 5), S. 71, 88. 50 Vgl. Ransiek ZStW 116 (2004), 634; Hamm NJW 2005, 1993; Lüderssen in: Handlungsfreiheit (Fn. 47), S. 21, 22; die Möglichkeiten einer verfassungsgemäßen Abgrenzung von schädigender Vermögensgefährdung und schlichten – tatbestandsirrelevanten – weiteren Risiken bestehen bei Betrug und Untreue in gleicher Weise, vgl. im Einzelnen (und unter Zustimmung des BVerfG) Münchener Kommentar StGB/Hefendehl, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 619 ff. 51 So etwa Deiters in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral, 2010, S. 132, 135 f.; ähnlich Gillmeister in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) a.a.O., S. 280, 289. 46
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baren, den Bedingungen des normativ-ökonomischen Vermögensbegriffs (und des Bundesverfassungsgerichts) genügenden Vermögensnachteils.52 c) aa) Die (Finanz-)Krise wäre allerdings nur unvollkommen beschrieben, wenn wir sie mit einem finanziellen Engpass gleichsetzen würden. Es geht vielmehr um eine Vertrauenskrise in die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte und damit zugleich in den Finanzkapitalismus. Und wenn wir diesen Blickwinkel einnehmen, wird uns die bedenkliche Fokussierung des derzeitigen Wirtschaftsstrafrechts offenbar. Hier ist man allenfalls auf das Vermögen der Banken ausgerichtet. Gerade dieses wird seitens des Staates nun immer wieder „aufgefüllt“,53 was aber natürlich das entscheidende Symptom der Finanzkrise, nämlich den beschriebenen Vertrauensverlust, eher noch befördert denn abbaut. bb) Wir müssen also ein wenig weiter ausgreifen, um aus der Warte einer linken Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Frage einer hinreichenden Abbildung des Wirtschaftsstrafrechts neu zu überdenken. Gerade hierin läge die von Fischer-Lescano ebenso vermisste wie angemahnte Vernetzung der Rechtswissenschaft mit einer Gesellschaftstheorie. Aus der Perspektive einer linken Wirtschaftspolitik wäre die zunehmende Privatisierung von vormals öffentlichen Unternehmen, Dienstleistungen und vor allem sozialen Sicherungssystemen zurückzunehmen sowie eine Schaffung öffentlichen, demokratisch kontrollierten Eigentums voranzutreiben. Öffentliche Leistungen bedürften mithilfe einer höheren Steuerbelastung für Gewinne und Kapitale des Ausbaus. Unter den gegebenen Bedingungen einer Marktwirtschaft wären zumindest die Voraussetzungen für ein Finanzsystem zu schaffen, das die Konzentration auf hochspekulative Geschäftsmodelle aufgäbe und sich auf seinen ursprünglichen öffentlichen Auftrag als Dienstleister der Realwirtschaft zurückbesönne. Der Finanzsektor müsste in dieser Interpretation seiner gesellschaftlichen Verantwortung etwa durch die Bildung ausreichenden Eigenkapitals, die Gewährung zinsgünstiger Mittelstandskredite und die Regulierung und Eindämmung von Hedgefonds und Rohstoff- bzw. Nahrungsmittelspekulationen gerecht werden. Die Forderung nach einer (weiteren) Verstaatlichung von Banken, einst als linksradikal verschrien, hat schließlich mittlerweile nicht nur vereinzelte Zustimmung erfahren, jedenfalls in Zeiten der Finanzkrise.54 52
Hierzu MK/Hefendehl (Fn. 50), § 263 Rn. 374 ff., 497 ff. Vgl. auch Moore (Fn. 7). 54 Vgl. die Darstellung der Vorschläge von Buiter in: Maisch Tabu-Brecher mit britischem Understatement, Handelsblatt v. 12.8.2009; zur Forderung des ehemaligen Deutsche Bank-Chefs Kopper nach einer Verstaatlichung s. http://www.zeit.de/online/2008/41/ kopper-deutsche-bank-finanzkrise; Endres Verstaatlicht die Banken, ZEIT ONLINE 53
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cc) Beim Aufgreifen dieser Überlegungen können rechtsgutstheoretische Überlegungen zum Tragen kommen, die ganz unterschiedliche Facetten kollektiver Rechtsgüter herausgearbeitet haben. Danach sind überindividuelle Rechtsgüter nicht eo ipso mit einer weiteren Sicherung des Staates gleichzusetzen, sondern können auch im Sinne einer von mir so bezeichneten sozialen bzw. linken Rechtsgutstheorie55 interpretiert werden. Damit schließt sich auch der Kreis der Analyse aus einer linken Perspektive. So strukturieren die kollektiven Vertrauensrechtsgüter das Strafrecht von der Gesellschaft her und greifen mit dem Vertrauen ein Phänomen auf, das ganz zu Recht als der archimedische Punkt der Finanzkrise bezeichnet worden ist.56 Der Gedanke eines gesellschaftlichen Kontingentdelikts wiederum könnte deshalb fruchtbar gemacht werden, weil der Straftatbestand der Untreue die gesellschaftliche Dimension des Bankenvermögens nicht hinreichend abzubilden vermag. Gerade in diese Richtung geht ein Gesetzesvorschlag von Kasiske, einem Schüler von Bernd Schünemann, der eine Bestandsgefährdung des Kreditinstitutes mit damit einhergehenden gravierenden Risiken für Anleger wie Finanzsystem als Strafbarkeitsvoraussetzung vorsieht.57 Auch der Gesetzgeber selbst hat 2013 durch die neuen Strafvorschriften in § 54a KWG und § 142 VAG zu einer erweiterten strafrechtlichen Haftung von Geschäftsleitern von Banken und Versicherungen bei Verstößen gegen Risikomanagementvorschriften und einer dadurch hervorgerufenen Existenzgefährdung von Banken bzw. Versicherungen in diese Richtung gedacht.58 Bernd Schünemann selbst sieht trotz des Brechens einer Lanze für den Untreuetatbestand59 diesen als nicht perfekt geeignet an, das durch die kasino- bzw. glücksspielartigen Investitionen realisierte Unrecht zu erfassen. So plädiert er dafür, den Bankrotttatbestand des § 283 StGB wegen seiner gegenüber § 266 StGB erweiterten Rechtsgüter für die Situation der Finanzkrisen einsetzbar zu machen, was bislang an dem Skandalon gescheitert sei,
v. 23.1.2009 (http://www.zeit.de/online/2009/05/banken-verstaatlichung); zu Forderungen aus dem „linken“ Lager s. das Programm der Partei DIE LINKE v. 21.–23.10.2011, S. 31, 39 (http://www.die-linke.de/fileadmin/download/dokumente/programm_der_partei_die_ linke_erfurt2011.pdf) [letzter Abruf jeweils: 23.6.2014]. 55 Hefendehl Revista Brasileira de Ciências Criminais n. 87, 2010, 103 ff. 56 Schröder Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 1141 ff. 57 Kasiske ZRP 2011, 137 ff. 58 Gesetz zur Abschirmung von Risiken und zur Planung und Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen („Trennbankengesetz“) v. 7.8.2013, BGBl. I, 3090; zu den üblichen Mechanismen der Diskreditierung s. http://anwaltverein.de/ downloads/Stellungnahmen-11/DAV-SN29-13.pdf [letzter Abruf: 23.6.2014]; weitere Kritik bei Jahn wistra 2013, 41, 42 f.; selbst Kasiske (ZIS 2013, 257 ff.) ist nur mit dem Grundansatz, nicht mit der konkreten Ausgestaltung der neuen Straftatbestände einverstanden. 59 S.o. IV. 2. b) bb).
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dass der Staat die Insolvenzen regelmäßig abgewendet habe. Die objektive Strafbarkeitsbedingung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei zu reformieren. Die Maßnahmen der Regierungen hätten die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit des Handelns der Bankvorstände „um keinen Deut“ verringert.60 dd) Eine auf diese Weise erfolgende Aufwertung des kollektiven Rechtsguts wäre die moderne und zugleich wesentlich mildere Variante einer Vergemeinschaftung der Banken und deren Vermögen. Sie würde zudem mit dem Missverständnis aufräumen, wonach sich der Grad der Freiheitlichkeit einer Gesellschaft allein nach der Relevanz der Individualrechtsgüter bemisst. Die Betonung des Kollektiven schließlich ginge mit dem hier untersuchten Ansatz konform, wonach den individuellen Nutzenmaximierern im Interesse der Gesellschaft Schranken aufzuerlegen sind.
V. Resümee Es war zu erwarten: Bernd Schünemann ist nicht in ein bestimmtes Schema zu pressen. Ihm geht die vorurteilsfreie Analyse stets vor die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Richtung. Und so sind seine Beiträge zu Grundfragen unserer Gesellschaft und zur Rolle des Strafrechts nie von vornherein einschätzbar. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass gerade auch im Strafrecht die linken Positionen vielschichtig sind. Was sich der Jubilar aber stets bewahrt hat, ist seine Hoffnung in die von ihm voller Leidenschaft betriebene Profession. Und um der Gerechtigkeit willen zeigt er sich bereit, das Strafrecht gegen die Mächtigen einzusetzen. Insbesondere im Kampf gegen die Wirtschaftsdelinquenz vermag er nichts mit der Forderung nach einem Zurückdrängen des Strafrechts anzufangen, wenn mit dieser im Ergebnis doch nur lobbyistische Interessen bedient werden und die Gerechtigkeitslücke immer gravierender ausfällt. Zwei Aspekte erscheinen mir bei diesem Kampf um das Strafrecht indes noch immer nicht ausgereizt zu sein: Zum einen die immerwährende, aber auch hier einmal mehr vergessene Alternative im Sinne eines Zurückdrängens des Strafrechts, weil dieses eben selbst beim Einsatz gegen die Mächtigen ein systemstabilisierendes Instrument im Sinne der Herrschenden bleibt. Zum anderen die Suche nach einem Strafrechtsschutz solcher kollektiver Rechtsgüter, die nicht beim Vermögen, sondern bei zentralen Funktionsbedingun60 Schünemann in: Finanzkrise (Fn. 5), S. 71, 101. Eleganter und kriminalpolitisch überzeugender sei jedoch die Schaffung eines Untreue-Qualifikationstatbestandes für den Fall, dass die Untreuehandlung zur Insolvenz des Geschäftsherrn führe oder eine solche nur durch eine staatliche Intervention abgewendet werde; ebd., S. 101 f.
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gen der Wirtschaft im Sinne der Gesellschaft ansetzen. Gerade der zweite Gesichtspunkt müsste Bernd Schünemann auch ein Anliegen sein, da dieser eben den Strafrechtsschutz kollektiver Rechtsgüter nicht von vornherein und pauschal verteufelt, sondern von ihm so bezeichnete kollektive Schaltstationen61 durch das Strafrecht besetzt wissen will.
61 Schünemann GA 1995, 201, 212 f. mit der an § 264a StGB exemplifizierten Kritik an der „prinzipiellen Verteufelung der abstrakten Gefährdungsdelikte“ durch die Frankfurter Schule.
Lebensschutz und Biopolitik im koreanischen Strafrecht seit 2000 Il-Su Kim I. Vorbemerkung Im September 2001 veranstaltete die Koreanische Gesellschaft für Strafrecht (KCLA) eine internationale Tagung von Strafrechtsgelehrten aus neun Ländern mit dem Hauptthema „Lebensschutz im Strafrecht“ in Seoul. Die einzelnen Themenbereiche reichten vom Embryonenschutz und Schwangerschaftsabbruch über Sterbehilfe und Organtransplantation bis zur Todesstrafe. Eigentlich war eine deutsche Veröffentlichung der Tagungsbeiträge zeitnah nach der Tagung geplant, was allerdings wegen einiger Komplikationen und Versäumnissen nicht geschah. Mit gut 10 Jahren Verspätung wurde dennoch die Publikation der hoch eingeschätzten Beiträge im Jahre 2013 ermöglicht.1 Herr Schünemann, der von mir sehr verehrte Jubilar, begleitete die Veröffentlichung mit Rat und Tat. Seine Unterstützung und Opferbereitschaft ließen die beinahe in Vergessenheit geratene Beitragssammlung wieder auferstehen und ans Licht treten. Anlässlich dieser Publikation stellte sich die Frage, inwieweit sich der „Lebensschutz im Strafrecht“ seit der Seouler Strafrechtskonferenz weiter entwickelt hat. Aus diesem Grunde sind wir zu dem Entschluss gekommen, ein Kolloquium 2 abzuhalten, um auf die weiteren Entwicklungen zum strafrechtlichen Lebensschutz in Deutschland und Korea in den letzten 10 Jahren zurückzublicken, eine Bilanz zu ziehen und so die Aktualität dieses Themas ins Bewusstsein zu rufen. In diesem Beitrag zur Festschrift für Bernd Schünemann, den sehr verehrten Jubilar, möchte ich auf diese Thematik zurückgreifen. Dabei wird zunächst das Schicksal der Todesstrafe in Korea (II.) und anschließend Genese und Werdegang des Bioethikgesetzes in Korea (III.) behandelt. Sodann sind die Problembereiche Embryonenschutz, Schwangerschaftsabbruch, Sterbe-
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Kim/Schünemann (Hrsg.), Lebensschutz im Strafrecht, Seoul 2013. Das Kolloquium fand im Mai 2013 in Seoul statt, wobei Herr Schünemann und ich jeweils ein Referat hielten, und zwar mit dem Thema „Lebensschutz im Strafrecht – Ein Jahrzehnt nach der großen Tagung in Seoul“ bzw. „Lebensschutz im koreanischen Strafrecht seit 2000“. 2
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hilfe und Organtransplantation zu erläutern, und zwar im Zusammenhang mit Gesetzgebung, Rechtsprechung und Lehre der letzten 10 Jahre (IV.). Abschließend soll geklärt werden, welche Bedeutung dem Lebensschutz im Strafrecht beizumessen ist (V.).
II. Die Lebenspolitik im Lichte der Todesstrafe Die Todesstrafe wird in Korea seit Dezember 1997 nicht mehr vollstreckt, obgleich Kriminelle wegen schwerer Verbrechen wie Mord (§ 250 KStGB), Aszendentenmord (§ 250 KStGB), Raubmord (§ 338 KStGB), Notzuchtmord (§ 301-2 KStGB), Brandstiftung an Wohngebäuden mit Todesfolge (§ 164 KStGB) usw. nicht selten zum Tode verurteilt worden sind. Zurzeit befinden sich noch 61 zum Tode Verurteilte in den Vollzugsanstalten, und obwohl die Mehrheit der Bevölkerung für die Hinrichtung dieser verurteilten Täter plädiert, werden die Urteile nicht mehr vollstreckt. Der Vollstreckungsprozess eines Todesurteils ist in der KStPO wie folgt geregelt: Die Todesstrafe wird auf Befehl des Justizministers vollstreckt (§ 462 KStPO); gleich nach Rechtskraft der Entscheidung zur Todesstrafe hat die Staatsanwaltschaft dem Justizminister ohne Verzug die Gerichtsakten vorzulegen (§ 463 KStPO); der Vollstreckungsbefehl des Justizministers soll innerhalb von 6 Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung zur Todesstrafe erlassen werden (§ 465 KStPO); auf den Vollstreckungsbefehl des Justizministers hin soll die Todesstrafe innerhalb 5 Tagen vollstreckt werden (§ 466 KStPO); die Todesstrafe wird in einer Strafvollzugsanstalt durch Erhängen vollzogen (§ 66 KStGB). Zur Zeit der liberalen Regierungen (1998–2008) schien die politische Stimmung dahin zu gehen, dass die Todesstrafe in Korea umgehend abgeschafft würde. Die liberale Regierung unter Präsident DJ Kim bzw. MH Roh hat sich jedoch gegen den Widerstand des konservativen Lagers nicht durchsetzen können. Nach 10 Jahren kam der Regierungswechsel zur konservativen Regierung von Präsident MB Lee. Das Justizministerium der Lee-Regierung wollte nun auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Todesstrafe weiterhin Anwendung finden solle, wobei sie sich auf die Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung zu dieser Frage gerade im Falle schwerster Verbrechen und die fehlende Durchsetzungskraft gegenüber gesellschaftlichen Positionen berief. Aber die Intention der Regierung konnte nicht wirklich in die Tat umgesetzt werden. Denn schon 2007 hatten sowohl die UN-Menschenrechtskommission als auch Amnesty International Korea als ein Land qualifiziert und anerkannt, das de facto die Todesstrafe abgeschafft hat. In diesem Zusammenhang haben die UN-Menschenrechtskommission und Amnesty International die koreanische Regierung darauf aufmerksam gemacht, dass Korea
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mit dem Versuch der Wiedereinführung der Todesstrafe den Standard international anerkannter Menschenrechtsrichtlinien verletzen könnte.3 Dieser Zustand erscheint uns jedoch aus manchen Gesichtspunkten sehr problematisch. Vor allem ist die Rechtsstellung der zum Tode Verurteilten unsicher; die fehlende Vollstreckung der Todesstrafen und damit die sog. „de facto-Abschaffung“ der Todesstrafe bedeutet aber auch insgesamt einen erhöhten Grad an Rechtsunsicherheit. Der koreanische Verfassungsgerichtshof (KVerfG) hat in Entscheidungen aus den Jahren 1996 und 2010 die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe bestätigt.4 Der Hauptgrund dafür liege zunächst darin, dass die Todesstrafe den besonderen Unwertgehalt schwerster Straftaten zu tilgen habe und potentielle Kriminelle von grausamen Straftaten abschrecken könne.5 Die durch die Todesstrafe geschützten Gemeinwohlinteressen seien zudem gewichtiger als das Lebensrecht des Hinzurichtenden.6 Es gab dennoch gesetzgeberische Bemühungen zur Abschaffung der Todesstrafe. So wurde am 7.12.1999 von 90 Abgeordneten ein Sondergesetz zur Abschaffung der Todesstrafe im koreanischen Parlament eingebracht, das die Todesstrafe ausnahmslos durch die lebenslange Freiheitsstrafe ersetzen sollte. Auch im Anschluss wurde im Parlament eine Reihe von Gesetzesvorlagen bis November 2010 eingebracht, die auf eine Ersetzung der Todesstrafe durch lebenslange Freiheitsstrafe ohne bedingte Entlassung und Begnadigung abzielten. Leider haben diese Gesetzesvorlagen bislang noch keinen Erfolg gehabt. Der provisorische Zustand der sog. „de facto-Abschaffung“ der Todesstrafe stellt zwar eine unsichere Lage dar, er ist jedoch nicht zu unterschätzen, denn auch diese de facto-Rechtslage vermag immerhin der Achtung des Lebenswerts zu dienen. Ein derartiges Provisorium kann jedoch kein Dauerzustand sein. Die scheinbar gesetzwidrige Aussetzung der Vollstreckung der Todesstrafe in Korea lässt sich im Lichte der Lebenspolitik der Staatsregierung erklären. Die linksliberale Regierung von DJ Kim (1998–2003) hat im Hinblick auf Menschenrechte, Demokratie und Lebenspolitik auf verschiedenen Ebenen einen politischen Umbruch sowie eine radikale Sozialreform in Gang gesetzt. Im Rahmen dieses politischen Umbruchs hat auch eine Humanisierung der Strafrechtspolitik stattgefunden, in deren Zusammenhang auch die Abschaffung der Todesstrafe vorangetrieben werden sollte. Bei Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe spiegelte sich der persönliche Wille, die persönliche Überzeugung und Erfahrung des Präsidenten DJ Kim wider, der selbst als
3 Vgl. dazu Kim Juristische Zeitschrift der Korea Universität 56 (2010), 519 ff.; ders. in: Internationales Symposion der Todesstrafe, Zhielin Universität China, 26.2.2012, S. 5 f. 4 Unter den Abolitionisten gibt es Länder, in denen die Todesstrafe durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts abgeschafft wurde - etwa in Rumänien von der neuen Regierung im Jahr 1990. 5 KVerfGE 1996.11.28, 95 Hyunba 1. 6 KVerfGE 2010.2.25, 2008 Hyunga 23.
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Oppositionsführer und politischer Dissident wegen eines angeblichen Versuchs des Staatsverrats im Mai 1980 durch das Militärregime zum Tode verurteilt worden war. Aus dieser persönlichen Erfahrung hatte er eine kriminalpolitische Lehre gezogen und ließ seinen „lebenspolitischen Willen“ in die Kriminalpolitik seines Justizministeriums mittelbar und unmittelbar einfließen. Die vorbildlichen Moralvorstellungen eines Staatsoberhauptes vermochten zwar der Vollstreckung der Todesstrafe vorläufig einen Riegel vorzuschieben, konnten dieser Praxis aber kein endgültiges Ende setzen. Die ungeklärte Rechtslage um die Todesstrafe blieb so weiterhin unverändert. Das Leben der zum Tode Verurteilten befindet sich in der Tat in einem „souveränen Ausnahmezustand“ und ist als „nacktes Leben“ völlig dem Handeln staatlicher Macht ausgesetzt, wie es Agamben für den „homo sacer“ beschreibt.7 Um dieser ruhelosen Situation in der Rechtsordnung Herr zu werden, gilt es, einen Schritt weiter hin zu einem „Strafrecht ohne Todesstrafe“ zu gehen. Denn es geht dabei um das Leben als den höchsten Wert in der strafrechtlichen Rechtsgüterordnung, den zu schützen und zu achten die Aufgabe aller Staatsgewalt ist.
III. Das sog. „Bioethikgesetz“: Gesetzgeberische Hintergründe und Gesetzesnovellen Auf politischer Ebene wurde der koreanische Gesetzgeber schon Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Bereich der Bioethik aktiv. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Regierung das Anliegen zu eigen gemacht, wodurch das sog. Bioethikgesetz ins Leben gerufen worden ist. 1. Gesetzesinitiativen der Regierung seit 2000 (2000–2003) Seit 2000 entwickelten die koreanischen Regierungen, und zwar das Ministerium für Wissenschaft und Technik und das Ministerium für Soziales und Gesundheit, jeweils eigene Gesetzesinitiativen. Vor dem Hintergrund, dass der Durchbruch im Humangenomprojekt, also die Entschlüsselung des Genoms des Menschen, nahe stünde, bezogen Gesetzesinitiativen seit 2000 weitere Themen wie z.B. Genanalyse sowie -therapie ein, während sich Gesetzesinitiativen vor 2000 hauptsächlich auf die Fragen des Klonens von Menschen und von Embryonen bezogen. Im Juli 2002 veranlasste die Nachricht, dass die Geburt eines Klonbabys kurz bevorstünde, die beiden Ministerien, die sich bislang nicht auf eine gemeinsame Gesetzesvorlage einigen konnten, zur wirksamen Kooperation, sodass dem Sozialministerium die Zuständigkeit zur Gesetzeseinbringung zuerkannt wurde. Trotz Koordinationsschwierigkeiten, die aufgrund von 7
Agamben Homo sacer, 9. Aufl. 2002, S. 19 f.; vgl. Prömmel KrimJ 2006, 242 ff.
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Meinungsverschiedenheiten der beiden Ministerien auftraten, kam es zu einer langsamen Annäherung. So wurde im September 2002 der Regierungsentwurf zum „Gesetz über Bioethik und Sicherheit“ durch das Sozialministerium ins Parlament eingebracht. Das sog. „Bioethikgesetz“ trat dann am 1.1.2005 in Kraft. 2. Das „Bioethikgesetz“ in seinen Grundzügen Das „Gesetz über Bioethik und Sicherheit“ (GBS) verbietet grundsätzlich die Verwendung von HES-Zellen (§ 20 GBS), lässt sie aber unter bestimmten Bedingungen ausnahmsweise für Forschungszwecke zu (§ 29 GBS a.F.). Die Nationale Ethikkommission (NEK), die als eine am Präsidialamt angesiedelte Institution aus 16 bis 20 Mitgliedern besteht, prüft Anträge auf Stammzellenforschung sowie andere Forschungen, die in Verbindung mit bioethischen bzw. Biosicherheitsfragen stehen, und entscheidet über deren Genehmigung. Die Nationale Ethikkommission berät im Übrigen die Regierung über ethische, rechtliche und wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Auswirkungen der biotechnologischen Forschungen und Entwicklungen (§ 7 GBS). Die Legitimität von Forschung am Menschen beruht auf einem „informed consent“ der Probanden (§ 3 GBS), so wie auch der internationale Bioethikdiskurs derzeit durch das Konzept des „informed consent“ dominiert wird. Das Gesetz stellt damit fest, dass das Interesse und das Wohlergehen des Einzelnen einen klaren Vorrang haben, und zwar gegenüber dem Interesse der Gesellschaft und der Wissenschaft.
IV. Strafrechtlicher Lebensschutz im Einzelnen 1. Embryo Die aktuelle Diskussion über den Status des menschlichen Embryos zeichnet sich durch drei unterschiedliche Positionen aus. Der australische Philosoph Peter Singer billigt frühen Embryonen keinen ethischen Status zu und damit auch nicht das Recht auf Leben.8 Die christliche Kirche betrachtet dagegen das Leben des Menschen als das Geschenk Gottes überhaupt, das es in jeder Hinsicht zu schützen gilt. Auch der befruchtete Embryo hat hiernach schon ein unverletzliches Recht auf Leben.9 Der dritte Ansatz als eine „vermittelnde“ Position beurteilt den Status des menschlichen Embryos je nach dem Zeitpunkt der embryonalen Entwicklung im Mutterleib.10 8
Singer Praktische Ethik, 2. Aufl. 1994, S. 197. IS Kim in: ders./Schünemann (Hrsg.), Lebensschutz im Strafrecht, 2013, S. 22 f.; DI Syn Kriminalpolitik für den Schutz von Embryonen, KIC 2003, S. 41 ff. 10 Lee Journal of Criminology 13 (2002), 17 f.; Lee Viktimologische Forschung 11 (2003), 76 ff. 9
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Das Bioethikgesetz (GBS) regelt die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen. Es erlaubt die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen zu genehmigungspflichtigen und wissenschaftlichen Forschungszwecken. Gleichzeitig werden menschliche Embryonen durch eine strafbewehrte Verbotsnorm geschützt, indem z.B. das Klonen von Menschen (§ 20 Abs. 1), die Verschmelzung von Menschen und Tieren (§ 21), die Herstellung von humanen Embryonen nicht zu Fortpflanzungszwecken (§ 23 Abs. 1), die kommerzielle Verwendung der humanen Eizellen (§ 23 Abs. 3), die Gentherapie usw. unter Strafe gestellt werden. Die Risiken ethisch-moralischer Natur scheinen im Rahmen der Gesetzgebung nicht richtig eingeschätzt worden zu sein. Der Gesetzgeber beabsichtigte zwar unmissverständlich, das Klonen der Menschen zu verhindern, jedoch ist dieses Ziel höchst problematisch umgesetzt, indem auch die Forschung an menschlichen Embryonen durch das Gesetz ermöglicht wurde. Mit der Genehmigung der humanen Embryonenforschung (§ 29 GBS) hat sich schon das koreanische Verfassungsgericht (KVerfG) beschäftigt. Streitig war, ob die Regelung den menschlichen Embryo wirklich als Träger von Rechten erfasse und strafbewehrt schütze. Das KVerfG stellte fest, dass überzählige menschliche Embryonen keine rechtlichen Schutzgegenstände darstellen. Die Argumentationslinie des KVerfG ist wenig überzeugend. § 29 GBS hat auch als eine pragmatische Kompromisslösung keinen eindeutigen Lösungsweg gezeigt. Im Jahr 2006 gelang es Shinya Yamanaka mit der Kombination von vier Genen die Zellen in einen pluripotenten Zustand zurückzuversetzen.11 2007 konnte diese Rückprogrammierung von differenzierten somatischen Zellen in den pluripotenten Zustand nachvollzogen werden. Wissenschaftlich bedeutet dies, dass wir nunmehr in der Lage sind, menschliche Stammzellen selbst herzustellen, ohne menschliche Embryonen zu vernichten, so dass mit den induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) keine ethischen Konflikte mehr in der Forschung einhergehen könnten, wie manche Bioethiker glauben. Um die iPS-Zellen sowohl klinisch als auch experimentell verwenden zu können, muss deren Pluripotenz in einem Nachweisverfahren wissenschaftlich belegt werden, zu dem z.B. der molekulare Nachweis zählt. Zur Herstellung und Überprüfung von den iPS-Zellen stößt man also auf ein rechtliches oder ethisches Problem im Nachweisverfahren. Bislang wurden Experimente zu iPS-Zellen nur an Tieren durchgeführt. Die Frage, ob die Ergebnisse auf die humanen iPS-Zellen übertragbar sind, ist noch nicht eindeutig beantwortet.
11
Yamanaka hat 2012 dafür mit John Gurdon den Nobelpreis für Medizin erhalten.
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2. Fötus Der Schwangerschaftsabbruch ist in Korea zwar grundsätzlich strafbar, jedoch unter bestimmten Voraussetzungen (§ 14 Mutterschaftsschutzgesetz = MuSchG) straffrei gestellt. Die Rechtfertigungsgründe des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der ersten 24 Schwangerschaftswochen erfassen im koreanischen Strafrecht folgende Konstellationen: die eugenisch- bzw. genetischmedizinische Indikation bei der Schwangeren oder dem biologischen Vater (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG), die epidemisch-medizinische Indikation bei Feststellung einer anzeigepflichtigen Infektionskrankheit bei der Schwangeren oder des biologischen Vaters (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 MuSchG), die kriminologische Indikation, wenn die Schwangerschaft auf einem Sexualdelikt beruht (§ 14 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG), die ethische Indikation, wenn die Schwangerschaft aus sexuellen Beziehungen zwischen blutsverwandten oder sonst eng verwandten Personen entstanden ist (§ 14 Abs. 1 Nr. 4 MuSchG), und die gynäkologische Indikation, um eine erhebliche Lebensgefahr der Schwangeren bei Fortsetzung der Schwangerschaft zu vermeiden (§ 14 Abs. 1 Nr. 5 MuSchG). Die Debatte über das Thema Schwangerschaftsabbruch wird bestimmt durch die Diskrepanz zwischen feministisch-pragmatischen und religiösmoralischen Vorstellungen, die sich scheinbar unvereinbar gegenüber stehen. Das feministische Lager fordert, insbesondere unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht, mehr Rechte für die Schwangeren und will die einzelnen Betroffenen über den Abbruch als eine eher private Angelegenheit persönlich entscheiden lassen. „Hilfe statt Strafe“ wird hier als eine neue Kompromisslösung vorgeschlagen, wofür man allerdings eine systemwidrige Ausnahme verkraften müsste, denn sie würde gegen das geltende Recht verstoßen (vgl. § 14 MuSchG i.V.m. §§ 269, 270 und 271 StGB).12 Demgegenüber stellt die Rechtsphilosophie in der Diskussion über die Abtreibung auf den ethischen Status des Fötus ab, wobei diesem das Recht auf Leben zuerkannt wird.13 Weder die koreanische Verfassung, noch der koreanische Gesetzgeber, noch die internationalen Abkommen versagen dem Fötus ein Recht auf Leben. Der koreanische oberste Gerichtshof hatte 1976 ein „eigenes Lebensrecht des Ungeborenen ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung der Zellkerne“ statuiert, was in jüngster Zeit (2012) auch durch das KVerfG bestätigt wurde. Anders als die Obersten Gerichtshöfe von England, Frankreich, Kanada, Belgien, Holland und den USA hat die koreanische höchstgerichtliche Judikatur grundsätzlich daran festgehalten, dass der Fötus vom Zeitpunkt der Empfängnis an die der menschlichen Spezies eigene Potentialität hat, eine Person zu
12 HA Yang Koreanische Frauen, Bd. 21 Heft 1, 2005, S. 5 ff.; IY Lee in: Yang (Ed.), Vom Abtreibungsdelikt zum Reproduktionsrecht, 2005, S. 95 f. 13 Schünemann in: Kim/ders. (Hrsg.), Lebensschutz im Strafrecht, 2013, S. 299 f.
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werden. Die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs stellt einen schwierigen Komplex dar, denn ein vergleichbar umstrittener Rechtsgegenstand ist nicht zu finden. Es handelt sich schlicht um eine aggressive Handlung gegen einen anderen Menschen.14 Der Fötus ist allerdings nicht einfach ein „Anderer“, da er im Körper einer Frau in völliger Abhängigkeit von ihr existiert, während sein Leben rechtlich als unabhängig anerkannt wird.15 Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber im gesellschaftlichen Kontext in Korea darin, dass es noch nicht gelungen ist, einen Konsens über den moralischen Wert des fötalen (oder embryonalen) Lebens zu finden. Wie sich die Politik der modernen Gesellschaften „aus pragmatischen Aspekten“ häufig einer Abhilfe bedient, so ist auch die koreanische Indikationslösung durch das MuSchG als eine Kompromisslösung anzusehen, welche schon im Vorfeld der Gesetzgebung heftig kritisiert und sogar als konzeptuell grundlegend falsch verurteilt wurde. Der Erlass des MuSchG vom 8.2.1972, das in der Bevölkerung praktisch als Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verstanden wurde, stand im Zeichen einer repressiven Bevölkerungspolitik des Staates. Nach gut 40 Jahren ist es nun ein Hauptanliegen des Staates, die zurückgegangene Geburtenrate wieder zu heben. Nach wie vor halte ich es für falsch, dass man im Abtreibungsverbot des § 269 KStGB ein bevölkerungspolitisches Instrument sehen sollte.16 Das koreanische MuSchG ist ohnehin nicht zeitgemäß und dazu noch untauglich zum Schutz der Mutterschaft und des fötalen Lebensrechts.17 Die „Indikationsbereiche“ sind zu umfassend, sodass der Schutzzweck (§ 1 MuSchG), nämlich der Schutz des Rechts des Fötus auf Leben und der Gesundheit der Schwangeren, praktisch leer läuft. Es empfiehlt sich, die ethische Indikation nach sorgfältiger Überprüfung aus der Regelung herauszunehmen. Auch der Fötus unterliegt fraglos dem staatlichen Gebot, das Leben zu schützen.18 Bei der Anwendung der Präimplantationsdiagnostik (PID) herrscht noch rechtliche Unsicherheit, denn es gibt bis heute kein Gesetz zur Regelung der PID oder Pränataldiagnostik (PND). § 49 GBS knüpft die Zulässigkeit einer Gendiagnostik an bestimmte Erkrankungen. Wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Nachkommen eines Paares an einer schwerwiegenden Erbkrankheit oder einer genetischen Schädigung leiden würden, darf PID angewendet werden. Im Gegensatz zu Deutschland eröffnet PID in Korea einen einfachen Weg zum Schwangerschaftsabbruch mit Hilfe des § 14 MuSchG. Eine „Wertungskonsistenz“ zu den Regelungen des Schwanger-
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IS Kim Das koreanische Strafrecht BT III, 1994, S. 131. OstGHSt 2007.6.29, Urteil 2005 Do 3832; OstGHSt 2009.7.9, Urteil 2009 Do 1025. 16 Dazu schon IS Kim (Fn. 14), S. 121. 17 DI Syn in: Kim et al. (Hrsg.), Plädoyer für den Schutz vor frühen menschlichen Leben, 2012, S. 46 f. 18 IS Kim FS Sunju Oh, 2001, S. 272 ff. 15
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schaftsabbruchs könnte mit der Zulässigkeit der PID bzw. PND noch weitergehend erreicht werden, so dass die Abtreibung eines Embryos durch die PID und der Schwangerschaftsabbruch durch die PND noch erleichtert würden. 3. Sterbehilfe Heute werden als Sterbehilfe vielfach nicht nur Handlungen bezeichnet, die an unheilbar Kranken im Endstadium des Lebens vorgenommen werden,19 sondern auch solche in fortgeschrittenen Krankheitsstadien, wie bei Wachkomapatienten, Alzheimerpatienten oder Patienten mit Locked-in-Syndrom usw.20 In Korea gibt es bislang keine spezifische Regelung zur Sterbehilfe. Tötung auf Verlangen oder mit Einwilligung (§ 252 Abs. 1 KStGB) und Teilnahme an der Selbsttötung (§ 252 Abs. 2 KStGB) könnten jedoch als aktive Sterbehilfe strafbar sein, weshalb manche eine gesetzliche Klarstellung in diesem Bereich fordern. Die Beurteilung der Unterlassung medizinischer Eingriffe aufgrund von Patientenverfügungen ist juristisch noch umstritten. Eine Behandlung nach dem bestimmten Willen des sterbenden Patienten könnte den Straftatbestand der Tötung auf Verlangen des § 252 Abs. 1 KStGB erfüllen, während das Sterbenlassen einer Person durch Unterlassen medizinischer Hilfe entgegen den Therapiewünschen des betroffenen Angehörigen den Straftatbestand der Tötung erfüllen kann (der „Boramae“-Krankenhaus-Fall). Ein solcher Fall könnte entsprechend als passive Sterbehilfe gewertet werden.21 Die Beihilfe zum Suizid ist in Korea – anders als in Deutschland – strafbar.22 Mit großer Mehrheit für eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe und der Verbindlichkeit der Patientenverfügung haben die Koreanische Gesellschaft für Medizin und die Koreanische Ärztliche Gesellschaft am 12.10.2009 zuletzt den „Sonderausschuss für die Fassung der Richtlinie zum Behandlungsabbruch“ eingerichtet. Durch die Richtlinie sollten Behandlungsabbrüche und Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen vor der Sterbephase rechtlich zulässig oder gerechtfertigt sein. Klar gestellt werden sollte im Übrigen, dass sich Ärzte in solchen Fällen ausnahmsweise nicht strafbar machen. Das Oberste Gericht hat in einem Grundsatzurteil vom 21.5.2009 (der „Severance“-Krankenhaus-Fall) das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt, indem es bejaht, dass eine mutmaßliche Einwilligung des bewusstlosen Patienten das Unterlassen weiterer lebenserhaltender Maßnahmen rechtfertige.
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Roxin/Schroth Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 319 f. Roxin Lebensschutz im Strafrecht – Einführung und Überblick, 2001, S. 11 f. OLG Seoul v. 7.2.2002, 98no1310. IS Kim FS Sung Jin Jung, 2010, S. 180 f.
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Die palliativmedizinische Diskussion verlief fast ausschließlich auf rechtswissenschaftlich-theoretischer Ebene. In rechtlicher Hinsicht steht der Schutz des Lebens immer im Vordergrund. Sowohl in der Lehre als auch in der Praxis wird die aktive Sterbehilfe in Korea prinzipiell als unzulässig angesehen.23 In rechtlicher Hinsicht scheint das koreanische Strafrecht den Lebensschutz noch stärker in den Mittelpunkt zu rücken als das deutsche.24 Denn der koreanische Gesetzgeber schiebt der Teilnahme am Suizid einen Riegel vor und macht somit für die Unrechtsqualität keinen Unterschied zwischen Tötung auf Verlangen und Teilnahme am Suizid. Insoweit bekennt sich der koreanische Gesetzgeber klar zum Grundsatz „in dubio pro vita“. Das Verbot der Tötung auf Verlangen steht ersichtlich nicht dem Selbstbestimmungsrecht der konkret Handelnden zur Seite, sondern zielt auf „Gewährleistung von Achtung und Respekt für Mitmenschen“. Dazu gehört zuvorderst die Anerkennung und Bewahrung des Lebensrechts des anderen. Die bedingte Rechtfertigung der Sterbehilfe bildet einen im Einzelfall legitimierbaren Kompromiss im Wertekonflikt zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht. 4. Organtransplantation Über das rechtliche Konzept vom Tod wurde in Korea Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts besonders lebhaft diskutiert. Seit 2000 regelt das koreanische Transplantationsgesetz (TPG) die Zulässigkeit von Organspenden, und zwar sowohl beim Lebenden als auch beim Verstorbenen (§ 22 TPG). Das Gesetz hat die Allokation der Organe, also die Verteilung an Patienten und die Aufnahme von Patienten auf die Warteliste, nicht im Detail vorgeschrieben, sondern verweist auf ein Experten-Komitee (§ 26 TPG). Der Handel mit Organen ist verboten, während die Lebendorganspende in § 22 Abs. 1 TPG geregelt ist. Transplantationen sind nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich: Zu nennen sind die Altersgrenze (über 16: § 11 Abs. 3 TPG), die Einwilligung nach Aufklärung (§ 12 Abs. 1 TPG) sowie die Gebotenheit, ohne dass eine über den Eingriff hinausgehende Gefahr geschaffen wird (§ 23 TPG). Beschränkt ist auch der Spenderkreis bei einer Lebendorganspende, nämlich auf enge Verwandte, Ehegatten oder andere Personen, die dem Spender persönlich besonders verbunden sind. Gegenüber der postmortalen Spende ist die Lebendorganspende subsidiär. Das Transplantationskomitee (KONOS) führt die Warteliste der Patienten, die ein
23
Dagegen W Lim Strafr g Bd. 16. Sonderheft, 2001, S. 257 f.; ders. KJuS 1999/12, 43 f. IS Kim FS Sung Jin Jung, 2010, S. 184.; dazu YW Kim Die gegenwärtige Diskussion um die Sterbehilfe in Korea. Anhand eines aktuellen Falles, Referat auf dem 25. IVR World Congress v. 15.–20. August 2011, S. 8 ff. 24
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Spenderorgan benötigen (§ 8 TPG). Die Entscheidung über die Reihenfolge von Organ- und Gewebespenden erfolgt nach medizinischen Kriterien oder Dringlichkeitskriterien. Auf finanzielle oder soziale Kriterien kommt es also nicht an (§ 2 TPG). Die Zulässigkeit der postmortalen Organspende trägt dem über den Tod hinaus fortwirkenden Selbstbestimmungsrecht Rechnung, so dass die frühere Einwilligung des postmortalen Spenders beschränkt zu berücksichtigen ist. Bei der Entscheidung über eine mutmaßliche Einwilligung des möglichen Organspenders ist die gesetzliche Regelung besonders zu beachten (§ 22 Abs. 3 TPG), die praktisch der Zustimmungslösung entspricht. Liegt dem Arzt weder eine schriftliche Einwilligung noch ein Widerspruch des möglichen Organspenders vor, wird ihm eine besondere Pflicht auferlegt, dessen nächsten Angehörigen zu befragen, ob ihm eine Erklärung zur Spendebereitschaft des möglichen Organspenders bekannt ist. Das TPG stellt auf den „Gesamthirntod“ als Kriterium zur Feststellung des Todes des potentiellen Spenders ab und entspricht damit dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Der Gesamthirntod bedeutet einen irreversiblen Totalausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Seit etwa 1968 existiert dieser Begriff, da damals die Organverpflanzung technisch überhaupt erst möglich wurde. Ob ein Mensch aber damit wirklich tot ist? Im Fall des „Erlanger Babys“ 1992 zeigte sich eine neue Konstellation, in der das ursprüngliche Kriterium zur Feststellung des Todes (der Herztod) wieder aktuell wurde. Der Kardiologe Paolo Bavastro aus Stuttgart kritisiert den Begriff Hirntod als „arglistige Täuschung“.25 Er meint, dass es sich bei „Menschen im Hirntod um schwerstkranke, sterbende Menschen, aber noch keine Toten“ handle. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass z.B. auch Menschen, die ein besonders schweres Schädel-Hirntrauma erlitten haben, nicht zum Tode verurteilt sein müssen. Auch solche Patienten haben Anspruch und die Chance auf eine Rehabilitation. Es gibt also noch heute kein überzeugendes Argument für die Allgemeingültigkeit des Hirntod-Konzepts.26 Abgesehen von diesen Erkenntnissen trägt die große Kluft zwischen der hohen Nachfrage nach menschlichen Organen und dem nicht ausreichenden Angebot dazu bei, dass kriminelle Geschäftemacher mit der Organknappheit Profit machen. Die Formierung des Organschwarzmarkts ist meistens Gesetzeslücken geschuldet. Die internationale Gemeinschaft sollte Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Regelungen zur Organspende weltweit ethischen Richtlinien folgen. Die Deklaration von Istanbul von 2008 hat schon ein fundamentales Prinzip für den Schutz der Menschlichkeit im Hinblick auf Organhandel und Transplantationstourismus aufgestellt. Der Appell
25 26
Süddeutsche Zeitung vom 9.7.2012 „Wie tot sind Hirntote?“. Roxin (Fn. 20), S. 14 f.
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an die nationalen Gesetzgeber, das Prinzip jeweils durch ein Durchführungsgesetz national umzusetzen, richtet sich auch eindringlich an den koreanischen Gesetzgeber, der dies bislang unterlassen hat.
V. Schlussbemerkung Das Grundkonzept des Lebensschutzes im koreanischen Strafrecht richtet sich danach, dass das Leben in der Pyramide der Rechtsgüter zu den höchsten Rechtsgütern überhaupt zählt, die zu achten und zu schützen der Staat verpflichtet ist. Dies ist auch eine selbstverständliche Schlussfolgerung aus der Verfassungsordnung, welche die Würde des Menschen und das Recht auf Leben als ihre oberste Prämisse benennt. Allerdings ist auch die eine oder andere Modifikation des Grundkonzepts erforderlich, um im Sinne einer praktischen Konkordanz im sog. „Herrschaftsbereich des Lebens“ mittelbar oder unmittelbar einen Ausgleich kollidierender Interessen zu erzielen. So spricht das koreanische Strafrecht in einzelnen Fällen, in denen der Schutz von Embryonen, Föten oder der Beteiligten im Falle der Sterbehilfe sowie in Organtransplantationsfällen mit anderen Rechtsgütern kollidiert, weder ein klares Ja noch ein klares Nein aus. Im Prinzip steht es zwar konsequent für den Schutz des Lebens, es bemüht sich jedoch im Einzelnen um eine praktische Anpassung: So schützt das koreanische Strafrecht z.B. den Embryo, jedoch nicht wie einen geborenen Menschen. Der Embryo wird als „Leben“ geschützt, aber die Forschung an ihm zu Therapiezwecken erlaubt. Das Leben des Fötus wird im Verhältnis zum Recht der Schwangeren abgeschwächt geschützt. Unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Patienten sowie dessen Selbstbestimmungsrechts kann ein Behandlungsabbruch zugelassen werden. Zugunsten des Lebens des anderen wird die Entnahme und Transplantation von Organen zugelassen. Trotz solcher Eingeständnisse gilt das strafrechtliche Prinzip des Lebensschutzes, das vom Staat auch neue Gesetzesinitiativen sowie Maßnahmen zur Erfüllung des staatlichen Auftrages zum Lebensschutz fordert. In diesem Rahmen wurde die Forderung von sozialer Sicherung zum besseren Schutz der Frauen und der Patienten erhoben. Im selben Kontext steht auch die Gesetzgebung zur Transplantation, die Organtransplantation unter staatliche Kontrolle stellt. Im Übrigen stellt die Diskussion über den Lebensschutz bzw. die Biopolitik einen Berührungspunkt des Rechts mit der Kultur dar. So ist z.B. bei Behandlungsabbruch lebenserhaltender Maßnahmen die Äußerung der Familienangehörigen ausschlaggebend, während eine Organtransplantation gegen den Willen der Familienangehörigen erfolgen kann. Eine derartige Orientierung an familiären Strukturen im Strafrecht steht offenbar mit der konfuzianistischen Kultur in Verbindung. Die gemeinschaftsorientierte Rechtskultur zeigt aber auch z.T. ihre Schattenseite, z.B. darin, dass die Forschung an
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Embryonen im staatlichen Interesse zugelassen wurde. Wo allerdings die Hilflosigkeit der Einzelnen permanent zunimmt, kann sich die gemeinschaftsorientierte Rechtskultur auch für den Lebensschutz im Strafrecht positiv auswirken. In diesem Sinne ist die Auslegung und Reform des Strafrechts voranzutreiben.
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Bernd Schünemann steht für das Programm einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“. Er hat – und auch deshalb verdient seine wissenschaftliche Arbeit die höchste Wertschätzung – nicht nur rechtsdogmatisches, kriminalpolitisches und philosophisches Denken seit jeher zu verbinden gewusst, sondern darin stets auch psychologisch-sozialwissenschaftliche Elemente integriert. Dies zeigt sich in seinen eigenen empirischen Untersuchungen (namentlich im strafprozessualen Bereich), aber auch in seiner Offenheit gegenüber Strafrechtssoziologie und Kriminologie. Dokumentiert wird das etwa durch seine 1979 erschienene Monographie zu „Unternehmenskriminalität und Strafrecht“. Die Studie, die den Anfang der heutigen, noch unabgeschlossenen Debatte um ein deutsches Unternehmensstrafrecht markiert, beruht auf einer vorbildlichen Methodik, indem sie ein soziales Phänomen empirisch analysiert, sodann rechtsdogmatisch die Bedingungen seiner aktuell möglichen juristischen Behandlung dekonstruiert und daraus rechtspolitische Schlüsse zieht. Mittels einer sozialwissenschaftlichen Literaturanalyse wird dabei die besondere Problematik der Unternehmensdevianz in der „kriminellen Verbandsattitüde“ identifiziert und gebündelt.1 Diese Figur hat Bernd Schünemann unter etlicher Zustimmung 2 über die 1990er Jahren hinweg 3 bis 1 Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 18–29; ders. wistra 1982, 41, 43. 2 Bspw. Dannecker GA 2001, 101, 103; Hefendehl MschrKrim 86 (2003), 27 ff.; KirchHeim Sanktionen gegen Unternehmen, 2007, S. 46 ff.; Mittelsdorf, Unternehmensstrafrecht im Kontext, 2007, S. 14 f., 43 f.; Schmitt-Leonardy Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, 2013, Rn. 150 ff., 171 ff.; zur Debatte auch Lampe ZStW 106 (1994), 683, 698 f., 708 f., 731 ff.; Erhardt Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S. 146 ff., 161 ff.; Bottke wistra 1997, 241, 248; Lewisch/Parker Strafbarkeit der juristischen Person, Wien 2001, S. 50 ff.; Bock Criminal Compliance, 2011, S. 92 ff., 394 ff. 3 Schünemann in: International Association of Penal Law (Ed.), The Taiwan/ROC Chapter, International Conference on Environmental Criminal Law, Taipei 1992, S. 433, 437, 469; ders. in: ders./Suárez González (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 265–295; ders. in: ders. (Hrsg.), Unternehmenskriminalität, Deutsche Wiedervereinigung, Band III, 1996, S. 129, 131 f.; ders. in: Eser/Heine/Huber (Ed.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities, 1999, S. 293, 295. Zu den hier erfolgenden kriminalpolitischen Präzisierungen Fn. 19.
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heute aufrechterhalten.4 Angesichts der seither vergangenen 35 Jahre stellt sich allerdings die Frage, ob die kriminelle Verbandsattitüde vor der zwischenzeitlichen wirtschaftskriminologischen Entwicklung unvermindert Bestand haben kann.
I. Kriminelle Verbandsattitüde und Verbandssanktion Gegenstand von Bernd Schünemanns Überlegungen ist das Corporate Crime – kriminologisch gesprochen ein Verhalten „of employees acting on behalf of a corporation, which is proscribed and punishable by law“.5 Aus seiner Sicht kommt es hierzu ganz unabhängig von den Merkmalen der involvierten Person. Die fraglichen Mitarbeiter seien nicht nur austauschbare Organisationselemente, sondern im Allgemeinen normkonforme Akteure, deren Deliktseinbindung ausschließlich auf der Verstrickung in die kriminelle Verbandsattitüde beruht.6 Je stärker ihr Unternehmen hiervon geprägt sei, desto mehr ginge ihre personal sonst wirksame Deliktshemmung verloren (was durch eine Reihe von Faktoren weiter begünstigt werde: durch die Gewissensindifferenz vieler Wirtschaftsdelikte, die individuelle Abhängigkeit vom Unternehmen sowie durch die innerorganisatorische Einschränkung im subjektiven Folgen- und Verantwortungserlebnis).7 Um ein hierdurch charakterisiertes Unternehmensdelikt handele es sich bei einer sanktionsbedrohten Aktivität von Organisationsmitgliedern immer dann, wenn ein Vorteil für das Unternehmen bezweckt sei und jene Leitungs-/ Aufsichtsmaßnahmen, durch die sich das Geschehen unterbinden ließe, ganz oder teilweise ausgeblieben sind.8 Diese Formel biete indes nur eine operationale Definition (bzw. beweiserleichternde Vermutung), um die Feststellbarkeit eines Unternehmensdeliktes, das auf den schwer rekonstruierbaren Mechanismen der kriminellen Verbandsattitüde beruhe, rechtspraktisch gewährleisten zu können.9 In der Sache wirkmächtig sei jedoch jener spezifische „Gruppengeist“, den die Mitarbeiter in Lernprozessen erwürben und
4 Schünemann GS Dieter Meurer, 2002, S. 37, 55; ders. FS Hans-Joachim Rudolphi, 2004, S. 295, 303; ders. FS Klaus Tiedemann, 2008, S. 429, 439 f.; Leipziger Kommentar StGB/ders., 12. Aufl. 2007, Vor § 25 Rn. 21; ders. Zur Frage der Verfassungswidrigkeit und der Folgen eines Strafrechts für Unternehmen, 2013, S. 20. 5 Braithwaite Corporate Crime in the Pharmaceutical Industry, London 1984, S. 6; für eine Typologie vgl. Friedrichs Trusted Criminals, 4. Aufl., Belmont 2010, S. 64 ff. 6 Vgl. Schünemann (Fn. 1), S. 22; ferner ders. FS Klaus Tiedemann, 2008, S. 429, 439. 7 Näher Schünemann (Fn. 1), S. 22 ff. 8 Schünemann (Fn. 1), S. 254; ders. in: ders./Suárez González (Fn. 3), S. 265, 287. 9 Insbesondere zur Abgrenzung von „Exzesstaten“ der Mitarbeiter – kriminologisch: Occupational Crimes –, die nicht auf die Verbandsattitüde, sondern allgemeine kriminogene Faktoren zurückgehen (Schünemann (Fn. 1) S. 27, 253).
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durch den sie sich sozialschädlich verhielten.10 Er äußere sich in überindividuellen Rationalisierungs- und Neutralisierungsstrategien11 bzw. in „deviant values and rules“ der Unternehmensmitglieder 12 und laufe so auf eine interne Ordnung hinaus, die die Verhaltensrelevanz von Rechtsnormen relativiert.13 Letztlich bezeichnet die kriminelle Verbandsattitüde also (in Orientierung an Sutherland)14 eine kollektive Haltung, die die Rechtsbefolgung davon abhängig macht, dass die Normkonformität für die ökonomischen Interessen des Unternehmens nützlich oder jedenfalls nicht hinderlich ist.15 Für eine kriminelle Verbandsattitüde sei im Übrigen immer auch ein Defizit an internen Kontrollen und Korrekturen kennzeichnend, weil sich der besagte Gruppengeist anders gar nicht herausbilden kann.16 Ein Unternehmen, das derartige Merkmale aufweise, werde „ähnlich wie ein Rückfallverbrecher immer wieder eine Quelle für die Verletzung von Rechtsgütern“.17 Das Individualstrafrecht habe dem (zu) wenig entgegenzusetzen. Selbst wenn die typische Zurechnungs- und Beweisführungsproblematik ausgeräumt und somit eine strafrechtliche Haftung der Unternehmensmitarbeiter gewährleistet wäre, würde die hiervon ausgehende Präventivwirkung durch die Übermacht der kollektiven Verbandsattitüde nachdrücklich geschwächt.18 Zur Eindämmung von Corporate Crimes bedürfe es folglich der Implementierung einer hinzutretenden „kumulativen“ Verbandssanktion.19 Die individualstrafrechtliche Wirksamkeitsschwäche werde nämlich nur durch eine Gegengröße auf eben jener (Organisations-)Ebene kompensiert, auf der die kriminogenen Faktoren lozieren.20 Ebenso, wie man den
10 LK/Schünemann (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 21; ders. in: AIDP (Fn. 3), S. 433, 437; ders. in: ders./Suárez González (Fn. 3), S. 265, 271. 11 Schünemann (Fn. 1), S. 20. 12 Schünemann in: Eser/Heine/Huber (Fn. 3), S. 293, 295. 13 Schünemann FS Hans-Joachim Rudolphi, 2004, S. 295, 303. 14 Sutherland White Collar Crime, New York 1949. 15 Kennzeichnend hierfür der Hinweis Schünemanns (etwa in FS Klaus Tiedemann, 2008, S. 429, 438) auf die Kompatibilität seines Konzeptes mit einem Verständnis, das im Unternehmen ein sich selbst autonom regulierendes System sieht, das in seiner ökonomischen Handlungslogik die Außenrahmungen des Rechts allein als betriebswirtschaftliche Entscheidungsaspekte wahrnimmt. 16 Schünemann (Fn. 1), S. 26 f. 17 Schünemann GS Dieter Meurer, 2002, S. 37, 55. 18 Schünemann (Fn. 1), S. 56 ff.; ders. in: AIDP (Fn. 3), S. 433, 441, 469; LK/ders. (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 21. Wegen der konformen Sozialisierung der verstrickten Mitarbeiter wirke Strafrecht auch spezialpräventiv kaum. 19 Schünemann in: ders./Suárez González (Fn. 3), S. 265, 287 f.; ders. FS Klaus Tiedemann, 2008, S. 429, 440; LK/ders. (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 21; für Subsidiarität gegenüber Individualstrafe aber noch ders. (Fn. 1), S. 236 ff., 244 ff.; entschieden gegen eine Verbandsstrafe im Übrigen ders. (Fn. 4), 4 ff. 20 Schünemann in: ders./Suárez González (Fn. 3), S. 265, 278 f.; ders. FS Klaus Tiedemann, 2008, S. 429, 439.
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bösen Wille des Einzelnen mit der Aussicht auf die individuelle Bestrafung konfrontiere, sei die Verbandssanktion an den besagten „Gruppengeist“ adressiert: Als Nachteilsdrohung hebe sie nicht nur jene Organisationsvorteile auf, die den Mitarbeitern sonst als Deliktsmotiv oder Rechtfertigung dienen könnten, sondern gebe zugleich einen Anlass, den Betrieb durch verstärkte Kontrollen vor Haftungslasten zu schützen.21 Dafür eigne sich die Unternehmenskuratel besser als die betriebswirtschaftlich kompensierbare Geldbuße.22
II. Einordnung in die unternehmenskriminologische Forschung Diese rechtspolitische Begründungslinie ist voraussetzungsreich, insofern sie auf einer Reihe von empirischen Annahmen beruht und somit von deren Bestätigung abhängen muss. Eine dahingehende Überprüfung ist (zumindest teilweise) möglich. Zwar gehört die Unternehmensdelinquenz zu den unterforschten Bereichen der Kriminologie, doch sind Beobachtungen und Analysen jedenfalls so weit gediehen, dass dies einen Abgleich mit dem Konzept der Verbandsattitüde erlaubt.23 1. Zentrale Befunde Wegen der besonderen Schwierigkeiten, die Häufigkeit und Verteilung von Unternehmensdelikten zu messen, liegen bislang nur wenige systematischquantitative Untersuchungen vor. Diese vorhandenen Arbeiten haben allerdings – auch wenn sie ausschließlich auf Hellfelddaten beruhen – zu relativ klaren Befunden geführt. Zum einen variiert die Prävalenz von Corporate Crimes hiernach zwischen den verschiedenen regulativen Arenen. In manchen Regelungsbereichen herrscht die korporative Normkonformität (bisweilen gar Überkonformität) eindeutig vor, wohingegen die Abweichungsraten in anderen Feldern erheblicher sind. Zum anderen werden „Täter-Unternehmen“ vielfach rückfällig, so dass ein Großteil der Normverstöße aus einer relativ kleinen Gruppe von Organisationen hervorgeht.24 Die hierdurch aus21
Etwa Schünemann in: Eser/Heine/Huber (Fn. 3), S. 225, 231. Zumal sie die von der Unternehmenssanktion unschuldig mitbetroffenen Anteilseigner vergleichsweise wenig beeinträchtigt. Zum Ganzen Schünemann in: AIDP (Fn. 3), S. 433, 471; ders. in: ders./Suárez González (Fn. 3), S. 265, 291; ders. in: Eser/Heine/Huber (Fn. 2), S. 293, 296 ff. 23 Zur Diskussion um die dadurch allerdings nicht überprüfbare normative Legitimierung der Verbandssanktion (Schünemann in: ders./Suárez González (Fn. 3) S. 265, 287 f.: Veranlassungsprinzip und Rechtsgüternotstand) vgl. etwa Lampe ZStW 106 (1994), 683, 731. 24 Zum Forschungsstand Simpson Ohio State Journal of Criminal Law 8 (2011), 481, 485; ergänzend Boers in: ders./Nelles/Theile (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, 2010, S. 17, 29 ff. 22
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gewiesene Existenz von mehr- und stark auffälligen Unternehmen entspricht dem Verbandsattitüden-Konzept. Dies gilt auch für die Annahme, dass die korporative Devianz in der Regel nicht auf die individuellen Merkmale der ausführenden Mitarbeiter zurückgeführt werden kann.25 Aus den hierzu (freilich nur vereinzelt) vorliegenden Studien ergibt sich vielmehr die soziale und psychologische Unauffälligkeit des fraglichen Personals.26 Risikofaktoren hat die kriminologische Forschung eher auf den Organisations- und Kontext-Ebenen ausmachen können.27 Danach korrespondiert die Mehrbelastung von Unternehmen mit: – der Zugehörigkeit zu einer Branche mit geringen Profitmargen, – der Zugehörigkeit zu einer durch wenige Großunternehmen dominierten Branche (widersprüchliche Befunde), – Marktstrukturen oder politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen, die zu devianten Transaktionen drängen oder Gelegenheitsstrukturen eröffnen,28 – Ertragsdefiziten oder finanziellen Schwierigkeiten des Unternehmens (widersprüchliche Befunde), – der Unternehmensdimension (nur relativ zum Größenverhältnis mehr/ weniger Delikte), – der innerorganisatorischen Komplexität (Zahl der Einheiten, Hierarchieebenen und Standorte) und dezentralen Entscheidungsstrukturen (widersprüchliche Befunde), – sowie einem Management ohne eigene Unternehmensanteile.29
25 Stellvertretend Simpson/Piquero Law & Society Review 36 (2002), 509, 510 ff.; abweichend Baucus Journal of Management 20 (1994), 699, 714 ff.; speziell zur „self-selectionThese“, wonach deliktisch anfällige Unternehmen für entsprechend disponierte Personen besonders attraktive Arbeitgeber seien, vgl. Apel/Paternoster in: Simpson/Weisburd (Ed.), The Criminology of White Collar Crime, New York 2009, S. 15. 26 Dazu m.w.N. Simpson Annual Review of Sociology 39 (2013), 309, 315, 317; dies. u.a. Journal of Criminal Law and Criminology 103 (2013), 231, 241 (allerdings vorwiegend anhand individueller White Collar-Crimes). Für Befunde zur deliktischen Vorbelastung im Management auffälliger Unternehmen allerdings Davidson/Dey/Smith Executives ‘OffThe-Job’ Behavior, Corporate Culture, and Financial Reporting Risk, Cambridge 2012. 27 Zum Folgenden die Auswertung der Forschungslage bei McKendall/Wagner Organization Science 8 (1997), 624, 625 ff.; Snider in: Tombs/Whyte (Ed.), Unmasking the Crimes of the Powerful, New York u.a. 2003, S. 49, 54 ff.; Yeager in: Pontell/Geis (Ed.), International Handbook of White-Collar and Corporate Crime, New York 2007, S. 25, 27 ff; Wang/Holtfreter Journal of Research in Crime and Delinquency 49 (2012), 151, 158 ff.; Simpson u.a. Journal of Criminal Law and Criminology 103 (2013), 231, 240 ff. 28 Bspw. Machtverhältnisse und ökonomischer Druck in Lieferketten und Konkurrenzlagen, politisch-kulturelle Handlungsräume (Korruptionsüblichkeit); Gelegenheitsstrukturen (Subventionsbereich). Vgl. Tillman Crime, Law and Sozial Change 51 (2009), 73–86; Simpson Ohio State Journal of Criminal Law 8 (2011), 481, 492 ff. 29 Hierzu Alexander/Cohen Journal of Corporate Finance 5 (1999), 1.
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Diese Beobachtungen weisen auf den Einfluss von ökonomischen Bedingungen, von Gelegenheitsräumen und innerorganisatorischen Kommunikationsbeziehungen hin. Damit beziehen sie sich freilich auf Faktoren, die mit der kriminellen Verbandsattitüde nicht identisch, sondern allenfalls für deren Herausbildung förderlich sind. Etwas anders verhält es sich mit jenen Befunden, denen zufolge die Effektivität unternehmenseigener ComplianceMaßnahmen abhängig ist von einem unterstützenden Verhalten der Führungskräfte („tone from the top“), von der Integration der Programme in die betriebliche Kommunikationswirklichkeit und von der Verbreitung gesellschaftlich anerkannter Werte im Unternehmen. Wenn hiernach also eine konformitätsorientierte Unternehmenskultur als deliktshemmender Faktor fungiert, der obendrein für die Präventionseffizienz innerbetrieblicher Kontrollen ausschlaggebend ist,30 so deutet dies ganz im Sinne Bernd Schünemanns auf die Relevanz des „Gruppengeistes“ hin. Seine Annahmen wären aber insofern zu präzisieren, als mit einer devianten korporativen Kultur nicht notwendig gerade ein Aufsichtsdefizit korrespondiert, sondern ebenso gut die Ineffizienz eines nur-formalen Kontrollsystems.31 Ergebnisse mit dem engsten Bezug zur kriminellen Verbandsattitüde ergeben sich im Übrigen aus einigen qualitativ vorgehenden „Case Studies“. Nach deren Beobachtung sind die Handlungsentscheidungen des Personals, die direkt oder über längere Verlaufsketten in Corporate Crimes münden, oftmals keine Abweichungen, sondern Bestandteile von Standardoperationen im Unternehmen. Sie erfolgen sehenden Auges – allerdings auf Grundlage einer Handlungsbewertung, in der der Normbruch eine Normalisierung und Rationalisierung durchläuft: Er ist je nach Konstellation erwartungsentsprechend,32 üblich, notwendig, gerecht, unproblematisch oder tolerabel.33
30 Umfassende Literaturanalyse bei Kölbel in: Rotsch (Hrsg.), Handbuch Criminal Compliance, 2014 (im Erscheinen). 31 Vgl. die aufschlussreichen Erhebungen von Weaver/Treviño/Cochran Academy of Management Journal 42 (1999), 539; Parker/Nielsen Administration & Society 41 (2009), 3; Kaptein Journal of Business Ethics 99 (2011), 233. 32 Speziell zu Gehorsamseffekten vgl. Piquero/Piquero Criminology 44 (2006), 397, 404 ff. 33 Zusammenfassend Slapper/Tombs Corporate Crime, Harlow 1999, S. 41 ff.; Yeager (Fn. 27), S. 25, 32 ff.; zu Neutralisierungsprozessen im unternehmensdeliktischen Kontext Passas Contemporary Crisis 14 (1990), 157, 165 ff.; Hochstetler/Copes in: Shover/Wright (Ed.), Crimes of Privilege, New York/Oxford 2001, S. 210–222; Piquero/Brezina/Turner Deviant Behavior 26 (2005), 159; Heath Journal of Business Ethics 83 (2008), 595, 605 ff.; zur Eingewöhnung in Nachlässigkeiten Vaughan The Challenger Launch Decision, Chicago 1996.
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2. Aktuelle Deutungsmodelle Insgesamt findet sich das, was unter krimineller Verbandsattitüde firmiert, in den empirischen Daten also wieder. Gemessen an den danach maßgeblichen Organisationsfaktoren wird damit jedoch nur ein (und auch nicht unbedingt der wichtigste) Ausschnitt erfasst. Dass die Unternehmenskriminologie vielfach andere Schwerpunkte setzt, wird noch sichtbarer in den von ihr diskutierten Erklärungskonzepten. Belegstücke bieten die folgenden, oft diskutierten Ansätze, die jeweils die Person des Mitarbeiters und deren Interaktion im organisationellen Kontext in den Mittelpunkt rücken und somit für die kriminelle Verbandsattitüde an sich anschlussfähig sind.34 a) Rational Choice-Modell Für unternehmenskriminologische Konzepte, die das Rational ChoiceModell adaptieren,35 sind korporative Delikte, da sie auf den Handlungsentscheidungen der für das Unternehmen tätigen Mitglieder beruhen, über die jeweils individuell herangezogenen Entscheidungsaspekte rekonstruierbar.36 Die Unternehmensmitarbeiter beurteilen hiernach die Handlungskonsequenzen, die sie von ihren normwidrigen/-konformen Optionen erwarten, und wählen die Variante mit der besten Bilanz. Maßgeblich sind die Ausprägungen und Wahrscheinlichkeiten der für sie persönlich eintretenden Folgen.37 Absehbare Nach- und Vorteile für ihr Unternehmen – etwa formelle Sanktionen, Renommeeschäden, Gewinn- oder Produktivitätssteigerungen, Marktpositionen, Senkung von Herstellungskosten usw. – berücksichtigen sie dabei ebenfalls, sofern sie mit sich hieraus ergebenden persönlichen Konsequenzen rechnen oder wenn sie sich die Unternehmensbelange aus anderen Gründen zu Eigen machen (Commitment).
34 Es handelt sich um adaptierte „General Theories“, wobei die im hiesigen Zusammenhang als unergiebig geltende Selbstkontrolltheorie (Simpson/Piquero Law & Society Review 36 (2002), 509; m.w.N. auch Simpson Annual Review of Sociology 39 (2013), 309, 315 f.) unberücksichtigt bleibt. Zu white collar-spezifischen Konzepten Slapper/Tombs (Fn. 33), S. 110 ff.; 131 ff. sowie Piquero Crime & Delinquency 58 (2012), 362, 365. 35 Vgl. Paternoster/Simpson in: Clarke/Felson (Ed.), Routiny Activity and Rational Choice, New Brunswick 1993, 40 ff.; dies. Law & Society Review 30 (1996), 549, 553 ff.; Piquero u.a. Justice Quarterly 22 (2005), 252; Shover/Hochstetler Chosing White-Collar Crime, Cambridge 2006, S. 118 ff.; Smith/Simpson/Huang Business Ethics Quarterly 17 (2007), 633, 638 ff.; Piquero Crime & Delinquency 58 (2012), 362; Simpson Annual Review of Sociology 39 (2013), 309, 317 f. 36 Für Unternehmensentscheidungen auf Organisationsebene ist das Modell ungeeignet, weil die Partikularrationalitäten der beteiligten Unternehmensbereiche keine konsistente Gesamtlogik ergeben (Boers (Fn. 24), S. 53). 37 Eintreten/Ausbleiben von Individualsanktionen, Karriererisiken, sozialer Ablehnung, etwaigen Schamgefühlen bzw. Boni, Karriereschritten, sozialer Anerkennung, Selbstbildbestätigungen usw.
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Unternehmensdelikte werden, auch wenn sie in einer Abfolge von Individualakten entstehen, demnach wegen spezifischer Anreizstrukturen bewusst in eine deviante Richtung gelenkt. Allerdings ergehen die fraglichen Mitarbeiterentscheidungen nach den jeweils biografisch geprägten Präferenzen und den subjektiven Folgenbewertungen. Ferner variieren die Nachteils-/Nutzenwerte situativ: Je nach organisationsexternem Umfeld (Marktlage, Regulierungssituation etc.) und organisationsinternen Gegebenheiten (Unternehmenslage, Unternehmensklima, unternehmensinterne Kontrollen usw.) stellen sich für die Mitarbeiter die „Abwägungsposten“ anders dar. Zudem können normative Aspekte ihre instrumentelle Logik überformen und eine vorteilhafte Deliktsoption aus moralischen Gründen verschließen. Maßgeblich hierfür ist bspw. die kontextspezifische Akzeptabilität des Normbruchs in den Mitarbeiteraugen (oder die wahrgenommene Normvernünftigkeit, aufsichtsbehördliche Fairness usw.). Vornehmlich an diesem Punkt zeigt sich die Integrierbarkeit der kollektiven Wert-, Einstellungs- und Neutralisierungsstrukturen, auf die das Verbandsattitüden-Konzept rekurriert: Sie verkörpern den sozialpsychologischen Grund, aus dem die normative Korrektur der Kosten-Nutzen-Kalküle und der hierauf gestützten Deliktsentscheidung unterbleibt. Von primärer Relevanz sind für das Rational Choice-Modell dann aber doch ganz andere Aspekte: nämlich die Rahmenbedingungen, die die ökonomischen Implikationen korporativer Devianz konstituieren und nach einer innerorganisatorischen Übersetzung auch die persönlichen Deliktsanreize und -gelegenheiten konstituieren. b) Control-Balance-Theory In ihrer allgemeinen Fassung38 geht die Theorie davon aus, dass Menschen unabhängig vom Maß ihrer vorhandenen Autonomie nach deren Erweiterung streben und daher versuchen, ihre eigene Umweltherrschaft zulasten ihrer sozial, wirtschaftlich oder strukturell bedingten Verhaltenseinschränkungen zu erweitern. Insbesondere ein Ungleichgewicht zwischen der erfahrenen Begrenzung und der selbst realisierbaren Kontrolle weckt, wenn dies der Person vor Augen geführt wird, die Bereitschaft, die eigene Kontrolle auch auf deviantem Wege zu stärken.39 Die Umsetzung dieses Motivs setzt aber nicht nur von einer entsprechenden Möglichkeit ab, sondern auch davon, welche Kontrollgewinne und Kontrolleinbußen erwartbar sind und welche persönliche Tatinvolvierung erforderlich ist.40 38 Tittle Control Balance, Boulder 1995, S. 142 ff., ders. Theoretical Criminology 8 (2004), 395. 39 Bei ausgewogener Balance von ausgeübter/erfahrener Kontrolle lebt die Person unter Umständen, die deviante Motive selten entstehen lassen und unter denen Devianz zu Reaktionen führt, die Kontrollgewinne nivellieren. 40 Entscheidungsrelevant sind auch moralische Vorstellungen, Erfahrungen, Vorlieben. Bei gering ausgeprägter Selbstkontrolle kann das Bedürfnis nach Kontrollgewinnen im
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Bezogen auf Unternehmensdelikte 41 geht das Konzept davon aus, dass die hierfür verantwortliche Person meist eine innerorganisatorische und soziale Position mit einer hohen Gestaltungsmacht innehat (Überschuss der ausübbaren gegenüber der erfahrenen Kontrolle). Wird ihr dies durch eine wahrnehmbare Tatgelegenheit bewusst gemacht oder fühlt sie sich darin umgekehrt nach ihrem Eindruck beschränkt (durch störende regulative Anforderungen; durch neue Leistungsvorgaben oder ökonomischen Optimierungsdruck), sieht sie sich dazu veranlasst, ihr Autonomiepotenzial zu erweitern oder sich seiner wenigstens zu versichern. Dass die deviante Umsetzung nicht mittels herkömmlicher, sondern gerade durch Wirtschafts- und Unternehmenskriminalität erfolgt, ist für ihre Lage typisch. Einmal sind hierüber besonders attraktive Kontrollzuwächse (hohe wirtschaftliche Gewinne) realisierbar – und zwar ohne persönliche Involvierung (sondern durch Einsatz von Infrastruktur und Personal, „to do their dirty work“). Und zum anderen sorgt ihre organisatorisch-hierarchische Stellung dafür, dass Gegenmaßnahmen, von denen ihnen Kontrolleinbußen drohen, trotz des Schadenspotenzials unwahrscheinlich bleiben. Die hier nur fragmentarisch referierbare, insgesamt aber als vielversprechend geltende Theorie ist hinsichtlich der Corporate Crimes augenscheinlich erst in Grundzügen ausgearbeitet. Schon in ihrer bisherigen Fassung erklärt sie aber individuelles Handeln ersichtlich mit strukturellen Gegebenheiten, die das individuelle Kontroll(un)gleichgewicht („Control-Ratio“) bedingen und damit sowohl die Basis für ein aktivierbares Deliktsmotiv schaffen, als auch die jeweils verfügbare Art der deliktischen Kontrollsteigerung determinieren. Dagegen ist das, was die kriminelle Verbandsattitüde akzentuiert (kollektive Neutralisierungen, innerorganisatorische Werte), in der Control-Balance-Theory bislang überhaupt nicht ausgebildet. c) Strain Theory Ein letztes Beispiel bietet die allgemeine Strain Theory, die ebenfalls auf korporative Delinquenz bezogen und hierfür angepasst worden ist.42 Unternehmensdelikte lassen sich hiernach als Transaktionsformen verstehen, deren Wahrscheinlichkeit in unternehmensintern „umgelegten“, ökonomischen Drucksituationen steigt. So steht ein Unternehmen, das infolge von MarktÜbrigen zu überstürzten Reaktionen auf die Provokation führen (mit der Folge geringer Kontrollgewinne oder schwerer Kontrolleinbußen). 41 Zum Folgenden Tittle Theoretical Criminology 8 (2004), 395, 406; näher Piquero/ Piquero Criminology 44 (2006), 397, 403 ff.; vgl. auch Friedrichs (Fn. 5), S. 234 f.; Singelnstein MschrKrim 95 (2012), 52, 61 f. 42 Grundlegend Agnew/Piquero/Cullen in: Simpson/Weisburd (Fn. 25), S. 35–60; vgl. auch Kölbel in: ders. (Hrsg.), Abrechnungsverstöße in der stationären medizinischen Versorgung, 2013, S. 20 ff.
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bedingungen, Führungsentscheidungen usw. die angestrebte Entwicklung (Rentabilität, Gewinne, Marktpositionen) nicht erreichen kann („blockage of economic goals“) oder gar in wirtschaftliche Turbulenzen gerät („threat of economic problems“), unter erheblichem Druck. Hierdurch wird es zu innovativen Reaktionen gedrängt. Sofern sich die regulären betriebswirtschaftlichen Optionen (Einsparungen und andere „conventional coping ressources“) dabei aus hausgemachten oder Umweltgründen als unzureichend erweisen, steigt das Risiko einer „concomitant utilization of legitimate (i.e., legal) and illegitimate (i.e., illegal) means“.43 Dies gilt vornehmlich in einem unterregulierten Umfeld mit günstigen Tatgelegenheitsstrukturen. Dass und wie das Unternehmen auf den „extra-organizational Strain“ anspricht, wird jedoch durch seine Binnengegebenheiten moderiert. Maßgeblich ist, ob und in welchem Maße die Unternehmensmitarbeiter einem „intra-organizational Strain“ (also rigorosen Erfolgs- und Leistungszielen) ausgesetzt sind.44 Ob es hierzu kommt, hängt von der Ertragsorientierung des Managements und von dessen mikropolitischer Durchsetzungsfähigkeit ab (wobei ein solcher Innen- durch den ökonomischen Außendruck wahrscheinlicher wird, aber auch selbstständig entstehen kann).45 Können Abteilungen und Mitarbeiter den Binnenerwartungen mit den verfügbaren Mitteln nicht entsprechen, unterliegen sie einem Innovationszwang, der (in Ermangelung konventioneller Alternativen) zu delinquenten Formen der (wenigstens kurzfristigen) Zielerreichung führen kann. Unternehmensdelikte gelten also weniger als Resultat von dahingehenden top-down-Direktiven als von notorischen organisationsinternen Stress-Konstellationen – was eine deliktsanfällige Grundausrichtung des Alltagsbetriebs und dadurch auftretende, gewissermaßen unorganisierte Delikte auslöst. Allerdings wird dies durch subtile Organisations-und Leitungsstrukturen (Erwartungsklima, finanzielle Anreize, defizitäre interne Kontrollen) verstärkt. Und die dahingehende Empfänglichkeit des Personals beruht auf einer Vielzahl ebenso untergründiger Mechanismen: auf Identifizierung und Verbundenheit (affektives Commitment); auf Unterordnung und Gehorsam; auf dem Interesse an Aufstieg und Jobsicherheit (instrumentelles Commitment). Dies trägt dazu bei, auf die entsprechenden Management-Anstöße anzusprechen, sich in die grenzwertigen „ways of doing things“ einzugewöhnen und diese
43 Robinson/Murphy Greed is Good. Maximization and Elite Deviance in America, Lanham 2009, S. 3. 44 Dazu Baucus Journal of Management 20 (1994), 699, 705 f.; Simpson/Koper Journal of Quantitative Criminology 13 (1997), 373; Faßauer/Schirmer Soziale Welt 57 (2006), 351. 45 Vgl. Passas Contemporary Crisis 14 (1990), 157, 163. Aufschlussreich Mishina u.a., Academy of Management Journal 53 (2010), 701: Bei erfolgreichen Firmen entsteht kriminogener Strain durch Erwartungen der Märkte oder Anteilseigner, die wirtschaftliche Situation aufrechtzuerhalten.
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zu normalisieren und in der Unternehmenspraxis zu verstetigen.46 Dabei ist auch die kriminelle Verbandsattitüde von Belang, insofern die davon bezeichneten (überindividuell fortwährend reproduzierten und individuell ganz selbstverständlich verwendeten) Deutungsmuster (oben II. 1.) für die Selbstbildverträglichkeit der deliktischen Verhaltensweisen sorgen: Mit Blick auf beispielsweise „wirtschaftliche Zwänge“, die „Sachwidrigkeit“ regulativer Vorgaben oder die „schikanöse Praxis“ der Aufsichtsbehörden wird das Vorgehen organisationsintern unproblematisch interpretier- und kommunizierbar, weil es den Mitarbeitern akzeptabel, gerechtfertigt und angemessen erscheint.47 3. Verbandssanktion und Prävention von Corporate Crimes Obwohl die in der kriminellen Verbandsattitüde aufgegriffene Problemdiagnose aus der heutigen Warte als etwas verengt erscheinen muss, wird mit ihr gerade ein solcher Aspekt namhaft gemacht, der sich als relevante Effizienzhürde der individualstrafrechtlichen Präventionswirkung herauskristallisiert hat. Die von Bernd Schünemann angesprochenen unternehmensspezifischen Umdeutungs-, Werteverschiebungs-, Neutralisierungs- und Normalisierungsprozesse gelten auch in der neueren Unternehmenskriminologie als Ursache einer normativen Unempfänglichkeit der Mitarbeiter, denn sie geben diesen das Gefühl, konform zu agieren und von einer einschlägigen Strafnorm gewissermaßen gar nicht angesprochen zu sein.48 Ob gerade deshalb die individualstrafrechtliche Steuerungseffizienz tatsächlich geringer als in anderen Lebensbereichen ist, wurde empirisch allerdings nicht speziell untersucht. Und auch auf die Frage, ob die Unternehmenssanktion im Sinne von Bernd Schünemann eine überlegene regulative Eignung aufweist, lässt der bisherige Forschungsstand keine gesicherten Antworten zu: Immerhin stellt die Governance-Debatte hierzu einige Arbeiten bereit, von denen die Eignung der Command and Control-Regulierung untersucht und speziell die Funktionalität von punitiv orientierten und kooperationsorientierten Enforcement-Stilen verglichen wurde.49 Deren Befunde sind allerdings uneinheitlich und weisen nur bei manchen Regulierungsgegenständen und Verbänden auf eine Abschreckungswirkung korporationsgerichteter
46 Fallstudie bei Brief u.a., in: Turner (Ed.), Groups at Work: Theory and Research, Mahwah 2001, S. 471–499. 47 Dazu das empirische Material bei Kölbel/Sulkiewicz in: Kölbel (Fn. 42), S. 94 ff. 48 Näher Vaughan, Law & Society Review 32 (1998), 23. 49 Fairman/Yapp Law & Policy 27 (2005), 491; Burby/Paterson Journal of Policy Analysis and Management 12 (1993), 753; Stafford Journal of Policy Analysis and Management 31 (2012), 533.
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Sanktionsdrohungen hin.50 Studien auf der individuellen Management-Ebene zeigen wiederum ein variierendes Motivbündel auf, das – vor oder jedenfalls neben der Furcht vor Sanktionierung des eigenen Unternehmens – für eine konforme Transaktionsausrichtung maßgeblich ist (etwa die andernfalls befürchtete Amtsüberwachung; drohende Reputationsschäden; Billigung der normativen Erwartung usw.).51 Aus eher kriminologischen Arbeiten geht ferner hervor, dass eine als wahrscheinlich erwartete Unternehmenssanktion (neben der persönlichen Strafe) bei den Mitarbeitern durchaus deliktshindernd wirkt, doch wird dies überlagert durch moralische Erwägungen und die Furcht vor informellen Konsequenzen.52 Der Steuerungseffekt der Verbandssanktion bleibt also diffus. Als am ehesten berechtigt gilt daher derzeit die Erwartung, dass die Einführung einer Verbandssanktion im Unternehmen selbst-regulative Prozesse auslösen kann. Ob sich eine konformitätsorientierte Unternehmenskultur als insofern entscheidende Funktionsbedingung in dieser Weise evozieren lässt, ist allerdings eine gleichermaßen offene Frage.53
III. Fazit Dass sich die Annahmen von Bernd Schünemann auch nach 35 Jahren noch in den unternehmenskriminologischen Diskurs einbinden lassen, belegt seine imponierende Weitsichtigkeit. Auch wenn die empirische Forschung inzwischen zusätzliche und teilweise auch andere Schwerpunkte setzt (II. 1. und 2.) und sich mit seiner Begründungslinie (I.) nur teilweise deckt, entzieht sie der dort hergeleiteten Notwendigkeit der Verbandssanktion jedenfalls auch nicht die empirische Basis (II. 3.). Insgesamt ist die dahingehende Befundlage unentschieden – was zu den vertrauten Problemen einer rationalen Kriminalpolitik zählt.
50 Zusammenfassend Gunningham in: Baldwin/Cave/Lodge (Ed.), The Oxford Handbook of Regulation, New York 2010, S. 123 ff.; vgl. auch den Forschungsüberblick Simpson Ohio State Journal of Criminal Law 8 (2011), 481, 490, f.; dies. Annual Review of Sociology 39 (2013), 309, 324. 51 Baldwin Modern Law Review 67 (2004), 351; Gunningham/Thornton/Kagan Law & Policy 27 (2005), 289; Nielsen/Parker Journal of Law and Society 35 (2008), 309; Simpson u.a., Journal of Criminal Law and Criminology 103 (2013), 231. 52 Paternoster/Simpson Law & Society Review 30 (1996), 549; Smith/Simpson/Huang Business Ethics Quarterly 17 (2007), 633. 53 Eingehend zum Problemkreis Kölbel ZStW 125 (2013), 499 ff.
Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in der modernen Strafrechtsgeschichte und dem strafrechtlichem Zeitgeschehen Francisco Muñoz Conde
Anfang der vierziger Jahre sagte der damals im Exil lebende deutsche Komponist Paul Hindemith (Aufgaben für Harmonieschüler, deutsche Ausgabe 1949, S. 5): „Unsere altvertraute Harmonielehre, einst als unentbehrliche, unübertreffliche Lehrmethode angesehen und gepriesen, hat von dem Piedestal heruntersteigen müssen, auf das die Verehrung sie gestellt hat.“ Können wir dasselbe in Bezug auf die traditionelle deutsche Strafrechtsdogmatik sagen? Es ist selbstverständlich, dass die heutige Strafgesetzgebung und die Rechtsprechung Wege gegangen sind, auf denen ihnen die traditionelle Strafrechtsdogmatik nicht folgen konnte. Konstruktionsbegriffe wie der Handlungs- oder der Rechtsgutsbegriff, Unterschiede wie diejenigen zwischen Handlung und Unterlassung, direktem Vorsatz und Eventualvorsatz, abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten, Tatbestands- und Verbotsirrtum und die strenge Bindung an den Gesetzlichkeitsgrundsatz sind im Bereich der Strafrechtsdogmatik in Bezug auf das Nebenstrafrecht und das sogenannte „moderne“ Strafrecht durch universelle Rechtsgüter, objektive Zurechnung ohne Feststellung der Kausalität, Zurechnung von Unterlassen anhand von mehreren unbestimmten Klauseln, technische Begriffe und Blankettstrafgesetze ersetzt worden. Das sind unter anderem die Ursachen des Zurückbleibens der traditionellen Strafrechtsdogmatik im Wettlauf zwischen Praxis und Theorie. „Sollten wir alle davon überzeugt sein, dass die Strafrechtsdogmatik deutscher Prägung immer noch die am tiefsten und am weitesten entwickelte Grammatik der strafrechtlichen Zurechnung ist“, wie Silva Sánchez es kürzlich gesagt hat,1 dann muss bewiesen werden, dass sie auch im Stande ist, mit ihren Instrumenten auf die Herausforderungen und Anforderungen dieser Zeit angemessen zu reagieren. In den letzten Jahren sind Reformen auf dem Gebiet des Strafrechts vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber auch strafrechtliche Instrumente zur Bekämpfung moderner Großrisiken einsetzt: Wirtschaft, 1
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Umwelt, Datenverarbeitung, öffentliches Gesundheitswesen, Produktverantwortung, Steuer, Korruption, organisierte Kriminalität. Das spanische Strafgesetzbuch (Código Penal) von 1995 und die anschließenden Reformen bis zum heutigen Tag bieten ein gutes Beispiel dafür.2 Auch die Rechtsprechung wird durch die technische und gesellschaftliche Entwicklung vor neue Probleme gestellt, wie sich in der Bundesrepublik etwa an den Konstellationen der Holzschutzmittel oder Ledersprays, in Spanien an der Verunreinigung von Speiseöl zeigt.3 Es ist klar, warum die klassische Strafrechtsdogmatik auf solche Anforderungen nicht richtig oder nicht in genügender Weise reagieren konnte. Sie verlangte eine Zurechnung des Unrechts an eine einzelne menschliche Person, nicht an eine juristische Person oder an eine Gruppe von Personen; sie bestand auf präziser Ermittlung und Feststellung kausaler Verknüpfungen zwischen Handlung und Schaden, auf Unterschieden zwischen Handlung und Unterlassung, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Täterschaft und Teilnahme. Deshalb hat Winfried Hassemer seit Anfang der Modernisierung des Strafrechts die Frage gestellt, ob man das Strafrecht in seinen Garantien und Instrumenten den modernen technischen Entwicklungen anpassen oder ob man nach rechtlichen Instrumentarien suchen soll, welche auf diese Entwicklungen besser reagieren können als das Strafrecht (Interventionsrecht).4 Diese Alternative führt in die Grundlagen der Strafrechtsdogmatik und sie steht immer im Zusammenhang mit den konkreten kriminalpolitischen Bedürfnissen, welche sie angestoßen haben. Im Zentrum der Diskussion stehen zentrale strafrechtsdogmatische Begriffe wie Rechtsgut, Schuldprinzip, individuelle Zurechnung, Kausalität, Irrtum, Haftung mehrerer. Es gibt eigentlich keine strafrechtsdogmatische Grundkategorie, die nicht davon berührt ist. Wie in diesem Zusammenhang optiert wird, ist auch für die Strafrechtsdogmatik außerordentlich folgenreich. Es geht um die Gegenüberstellung eines auf die herkömmlichen Garantien achtenden, zurückhaltenden Strafrechtssystems einerseits und eines Strafrechts anderseits, welches auf die modernen Herausforderungen wirksam reagieren kann. Wie kann hier die Strafrechtsdogmatik reagieren? Sie kann die Ausweitung des Strafrechts begrüßen und sich bereit zeigen, die traditionellen Begriffe zu verändern und neue Begriffe (also universelle Rechtsgüter, abstrakte Gefähr-
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Vgl. Muñoz Conde FS Imme Roxin, 2012, S. 789 ff. Siehe z.B. das Urteil des BGH (BGH NJW 1990, 2560, 2562) im „Lederspray-Fall“, dazu Hassemer Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 1994, S. 32 ff. und das Urteil des spanischen Obergerichts (Tribunal Supremo) im „Speiseöl-Fall“ (STS 24.6.1992), dazu Muñoz Conde in: Hassemer/Muñoz Conde (Ed.), La responsabilidad por el producto en Derecho penal, Valencia 1995; ders. in Nijboer/Reintjes (Ed.), Proceedings of the first World Conference on New Trends in Criminal Investigation and Evidence, Den Haag 1997. 4 Vgl. Hassemer (Fn. 3), S. 1 ff. 3
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dungsdelikte usw.) einführen, um sich dem „modernen“ Strafrecht anpassen zu können. Oder sie kann diese Tendenzen kritisieren und, auf sich selber angewiesen, zentrale Begriffe wie Kausalität, Verletzungsdelikte, Schuld usw. als unübersteigbare Schranke diesen Tendenzen entgegenhalten. Die Diskussion ist in vollem Gange, und mit Sicherheit ist zu erwarten, dass sie auch zu einer Umformulierung der Grenzen und Folgen der Dogmatik führen wird. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn die Strafrechtsdogmatik die Kriminalpolitik, d.h. die neuen kriminalpolitischen Tendenzen, mit einbezieht und auf dieser Grundlage neue Begriffe und Instrumente entwickelt, um imstande zu sein, an der Lösung der Probleme der modernen Gesellschaft auch mit dem Strafrecht produktiv mitzuwirken. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Beziehung zwischen Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in der modernen Strafrechtsgeschichte keine idyllische, sondern vielmehr eine konfliktreiche Beziehung gewesen ist und auch im strafrechtlichen Zeitgeschehen zweifelhaft, fragil und konfliktreich bleiben wird.5 Wenn man die deutsche Strafrechtsdogmatik in der Nachkriegszeit betrachtet, kann man wohl sagen, dass sie anscheinend keinerlei Beziehung zur Kriminalpolitik hatte. Die stufenweise kategoriale Gliederung des Verbrechensbegriffes in die Grundelemente Handlung, Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, die seit Beling als ein Baustein der deutschen Strafrechtsdogmatik betrachtet werden kann, stand nach dem Zweiten Weltkrieg weiter außer Diskussion. Auch die Einordnung der Straffreistellungen in die Kategorien der Rechtfertigung und der Entschuldigung, die einen Grundgedanken der deutschen Strafrechtsdogmatik bildet, ist übernommen worden.6 Wie ich in meiner Abhandlung „Edmund Mezger, Beiträge zu einem Juristenleben“7 dargestellt habe, war das Hauptthema der Strafrechtsdogmatik in der deutschen Strafrechtswissenschaft der Nachkriegszeit die Diskussion über den ontologischen Handlungsbegriff und die systematische Einordnung des Vorsatzes in die Verbrechenslehre. Wenn man sich an die leidenschaftliche Polemik zwischen den Anhängern der kausalen und der finalen Handlungslehre während der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik erinnert, hat man sofort den Eindruck, dass der wich-
5 Zu den Unterschieden zwischen moderner Strafrechtsgeschichte und strafrechtlichem Zeitgeschehen siehe Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2010, S. 22 f. 6 Dazu Schünemann in: ders. (Hrsg.) Bausteine des europäischen Strafrechts, CoimbraSymposium für Claus Roxin, 1995, S. 161; ders. FS Roxin, 2001, S. 1 ff.; Muñoz Conde, Universalizing Criminal Law, Tulsa Law Review 2005; ders. in: He Bingsong (Ed.), Reflection and reconstruction of the theoretical System of Criminal Law in the Age of Globalisation, Peking 2008. 7 Muñoz Conde Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben, 2007.
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tigste Vertreter der kausalen Handlungslehre, Edmund Mezger, damit auch eine „problematische Vergangenheit“ während des Nationalsozialismus verdecken wollte. Nach so vielen Sünden erlegte man sich eine lange und harte Strafe auf. Das auserwählte Mittel der Disziplinierung war eine strafrechtliche Dogmatik, zu der Mezger während der Weimarer Republik – also noch vor der Machtergreifung Hitlers – in seinem Lehrbuch „Strafrecht“ (1. Aufl. 1931, 2. Aufl. 1933) exemplarisch beigetragen hatte. In den fünfziger Jahren wollte er diese Dogmatik wieder aufgreifen und machte sie zum zentralen Thema seiner Untersuchungen in einer Monographie, die als Aktualisierung seines Lehrbuchs (3. Aufl. 1949, textidentisch mit der 2. Aufl.) dienen sollte: „Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik“ (1950). Auf der ersten Seite dieser Monographie heißt es nach dem Zitat aus Goethes Faust: „Am Anfang war der Sinn“: „Die Strafrechtsdogmatik ist lange Zeit für das strafrechtliche Interesse abseits gestanden. Ihre jüngere und mondänere Schwester, die Kriminalpolitik, hat sie in den Schatten gestellt. Hierin ist neuerdings ein Wandel eingetreten. Es macht sich wieder eine erhöhte Anteilnahme an dogmatischen Fragen geltend“.8 Während er zur Zeit des Nationalsozialismus noch die „Ausmerzung der Social- und Rassenschädlinge“ zur kriminalpolitischen Aufgabe des Strafrechts machen wollte,9 beteiligte er sich nunmehr mit wahrem Enthusiasmus an der Debatte über den ontologischen Handlungsbegriff und die systematische Einordnung des Vorsatzes in die Verbrechenslehre, die er in gewisser Weise mit dieser Monographie initiierte – wenn auch mit weniger Eifer als dem, den er bei der Zusammenarbeit mit dem Nazi-Regime in den dreißiger und vierziger Jahren an den Tag gelegt hatte.10 Zwanzig Jahre später behauptete Hans Welzel, ein Vertreter der finalen Handlungslehre und Opponent von Mezger im Streit um den ontologischen Handlungsbegriff sogar, dass die Strafrechtsdogmatik den Umbruch des Nationalsozialismus nur dadurch habe überstehen können, dass sie „einen neutralen Raum“ geschaffen hatte: „Aber an den Schicksalen, die die Dogma8
Mezger Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik, 1950, S. 1. Vgl. z.B. das Vorwort zu Mezger Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage, 1934; dazu Muñoz Conde (Fn. 7), S. 3 ff., 15 ff. 10 Dass Mezger nicht völlig auf manche Lehren verzichtete, die er während des Nationalsozialismus und in Einklang mit der nationalsozialistischen Kriminalpolitik vertreten hatte, kann man noch bei seiner Abhandlung „Moderne Wege“ (1950) und bei seinem Studienbuch (ab 1950, mehrere Auflagen) sehen, wo er in Bezug auf die Behandlung des Rechtsirrtums die sog. eingeschränkte Vorsatzlehre („Rechtsblindheit“) vertrat, die er schon in der FS Kohlrausch (1944, 180 ff.) vorgeschlagen hatte, um „crimina odiosa“ (Hassverbrechen), wie Rassenschande, Abtreibung und Durchführung homosexueller Handlungen mit der Vorsatzstrafe zu bestrafen. Auch seine Teilnahme als Vizepräsident der Großen Strafrechtskommission in den fünfziger Jahren beweist, dass er auch nach dem Krieg immer noch an der Kriminalpolitik interessiert war und das kriminalpolitische Interesse in die Strafrechtsdogmatik einführen wollte. Dazu Thulfaut Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1883–1962), 1999, S. 291 ff.; Muñoz Conde (Fn. 7), S. 5 Fn. 18. 9
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tik im Dritten Reich erlebt und durchgestanden hat, zeigt sich noch ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt. Dass sie den politischen Sturm überstanden hat, dass die Wissenschaft nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches an sie praktisch unversehrt wieder anknüpfen und sie weiterführen konnte, hat seinen Grund darin, dass sie einen ideologisch neutralen Raum geschaffen hatte. Die Dogmatik vermag in einem optimalen Maße den ideologisch sehr anfälligen Bereich des Rechts, speziell des Strafrechts, zu neutralisieren“.11 Ob dies wirklich zutrifft, mag hier dahinstehen. Eines ist aber sicher: Mit der Subjektivierung des Strafrechts gerät die finale Handlungslehre Welzels in die Nähe des „Willens- und Gesinnungsstrafrechts“ und vielleicht auch in das Fahrwasser des nationalsozialistischen Strafrechts. Sie führt zu einer Ausweitung der Strafbarkeit, etwa durch die subjektive Versuchstheorie, die lediglich eine fakultative Strafmilderung vorsieht, die Anerkennung subjektiver Rechtfertigungselemente mit der Konsequenz, dass das objektive Vorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht ausreicht, und die Trennung von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum mit der für den Täter nachteiligeren Behandlung des Verbotsirrtums.12 Das sind kriminalpolitische Konsequenzen der finalen Handlungslehre, deren Welzel sich wohl bewusst gewesen sein dürfte, und die beweisen, dass die nur anscheinend reine strafrechtsdogmatische Lehre auch bestimmte kriminalpolitische Ziele anstrebt. Es ist aber klar, dass die damalige strafrechtsdogmatische Diskussion auch zu einer Art „refugium peccatorum“ für manche wurde, die auf eine direkte oder indirekte Art und Weise den kriminalpolitischen Tendenzen des Nationalsozialismus gefolgt waren. Die Rückkehr zur Dogmatik und die Diskussion über die ontologische Handlungsstruktur konnten daher auch als Verschleierung der Vergangenheit dienen. Oder wie Winfried Hassemer es gesagt hat: „Wer nämlich in der Nachkriegszeit auf eine Naturrechtdebatte zurückgreift und das Strafrecht auf apriorische Sicherheiten und logischmaterielle Strukturen gründet, richtet den wissenschaftlichen Fokus auf einen zeitlosen Aspekt und kann vor unbequemen Fragen nach der jüngsten Vergangenheit sicher sein“.13 Aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls geriet, wie Vormbaum sagt,14 „nach 1945 … ein beachtlicher Teil der Strafrechtswissenschaft und -praxis in das Fahrwasser des konservativen Naturrechts der Ära Adenauer; im Strafrecht bedeutete dies die Renaissance einer harten Sühnetheorie.“ Eine hochartifizielle Strafrechtsdogmatik verstand
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Welzel FS Maurach, 1972, S. 3, 5. Vgl. Vormbaum (Fn. 5), S. 247 f., der jedoch verneint, dass diese Subjektivierung zwingend in die Nähe des „Gesinnungsstrafrechts“ gerät. 13 Vgl. Hassemer in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 21 ff. 14 Vormbaum (Fn. 5), S. 245. 12
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sich als Reaktion auf die „ganzheitliche und intuitiv-wertefühlige Erkenntnismethode“ der NS-Zeit. Aber in der Nachkriegszeit haben auch die damals einflussreichsten Strafrechtsdogmatiker, unter anderen Edmund Mezger und Hans Welzel, als Mitglieder der großen Strafrechtskommission an der Strafrechtsreform teilgenommen und dabei manchmal zu kriminalpolitischen Fragen, die anscheinend nur strafrechtsdogmatische waren, wie z.B. der Behandlung des Verbotsirrtums, Stellung genommen und darüber sogar mit (kriminal-)politischen Argumenten diskutiert.15 Das betraf vor allem manche Bereiche des Besonderen Teils des aus der großen Strafrechtsreformkommission hervorgegangenen Entwurfs 1959, in denen kriminalpolitische Fragen eine große Rolle spielten, wie z.B. die als Folge des „Kalten Krieges“ vorgenommene Ausweitung des Staatsschutzstrafrechts, das Berufsverbot und die Verurteilung von Tausenden Kommunisten; und im Bereich des Sexualstrafrechts die Erhaltung der Strafbarkeit des Ehebruchs, der Homosexualität zwischen Erwachsenen und der Unzucht mit Tieren oder die Einführung der heterologen Insemination als Straftat. Dies sind Beispiele, die beweisen, wie stark der konservative Geist die Kriminalpolitik damals immer noch beherrschte.16 Andererseits wollte man auch manche (kriminal)politische Probleme mit Hilfe der Dogmatik lösen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Ansatz bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. So hat z.B. damals die Rechtsprechung streng an einer subjektiven Lehre von Täterschaft und Teilnahme festgehalten, wobei eine bloße Beihilfe dann angenommen wurde, wenn die Person, die die Tatbestandsmerkmale verwirklicht hatte, den Befehlen eines anderen (Hitler, Himmler) folgte und nicht aufgrund eigenen Interesses handelte. So war es selbst in Fällen schwersten Unrechts möglich, eine Freiheitsstrafe von geringer Dauer zu verhängen und diese zum Teil sogar noch zur Bewährung auszusetzen.17 Dazu kam eine verdeckte Amnestierung dieser Gehilfen beim Erlass des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitsgesetz von 1968, die mit einer Reform des § 50 Abs. 2 StGB die Verjährung für Beihilfe zum Mord erlaubte, der zuvor rückwirkend als unverjährbar erklärt worden war.18 15 S. Thulfaut (Fn. 10), S. 309 ff., der die Auseinandersetzung zwischen Welzel und Mezger innerhalb der großen Strafrechtskommission in Bezug auf die Behandlung des Irrtums beschreibt, in der Welzel der von Mezger vertretenen eingeschränkten Vorsatzlehre den Vorwurf machte, dass es eine direkte Verbindung zwischen den Thesen Mezgers und der nationalsozialistischen Diktatur gebe. 16 Vgl. Jescheck Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform, 1957. 17 Vgl. Just-Dahlmann/Just Die Gehilfen, 1988, S. 174. 18 Siehe Greve in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 4 (2002/2003), S. 295 ff.; dazu Vormbaum (Fn. 5), S. 229 ff., der die verschiedenen Strategien beschreibt, die es damals für die strafrechtstheoretische und strafrechtsdogmatische Behandlung der NS-Verbrechen gab.
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Eine andere Mentalität bezüglich der strafrechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit eines diktatorischen Regimes setzte sich erst durch, als die Lehre von Roxin, die solche Konstellationen als mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate betrachtete,19 endlich vom BGH aufgenommen wurde, der sie in den Prozessen gegen einige hohe Regierungsvertreter der ehemaligen DDR anwendete, in denen die Tötungen von Republikflüchtigen an der Berliner Mauer durch Grenzposten abgeurteilt wurden.20 Lehren wie die von Roxin oder die Figur des dolus eventualis bei der Rechtsbeugung, die bei der Aburteilung von NS-Verbrechen noch abgelehnt worden sind, wirkten sich später bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit aus.21 Das sind nur Beispiele, die beweisen, wie stark der Einfluss der Kriminalpolitik auf manche Konstruktionen der Strafrechtsdogmatik sein kann, obwohl diese, wie Welzel es sagte, nur rein systematisch erforscht und studiert wurde, „um die Rechtsanwendung über Zufall und Willkür“ hinauszuheben.22 In den sechziger Jahren hat sich jedoch in der deutschen Strafrechtswissenschaft eine Wende vollzogen, indem sie der Kriminalpolitik immer mehr Interesse entgegenbrachte. Ein Grund dafür war die Reform des StGB, die Ende der fünfziger Jahre begann und nach mehreren Entwürfen (1959/1960) in den Entwurf 1962 mündete. Dieser Entwurf wurde bald von einer Gruppe von Strafrechtswissenschaftlern wegen seiner konservativen Haltung kritisiert, die als Folge einen Alternativ-Entwurf veröffentlichten. Darüber hinaus wurden ab 1969 verschiedene Gesetze zur Reform des Strafrechts, nicht nur des Allgemeinen Teils (unechte Unterlassungsdelikte, Tatbestands- und Verbotsirrtum, Versuch, Täterschaft und Teilnahme, aber auch das Sanktionssystem), sondern auch des Besonderen Teils erlassen (Streichung nicht mehr zeitgemäßer Vorschriften wie Ehebruch, Zweikampfregelungen, Unzucht mit Tieren und Modifikationen der Religionsdelikte, der Sexualdelikte unter der Überschrift „Schutz der sexuellen Selbstbestimmung“, der Demonstrationsdelikte, der Abtreibung usw.).23 Selbstverständlich stehen, wenn von einer Reform der Strafgesetzgebung die Rede ist, die kriminalpolitischen, nicht die strafrechtsdogmatischen Pro-
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Roxin GA 1963, 193 ff. BGHSt 40, 268; dazu Muñoz Conde FS Wolter, 2013, S. 1415, 1427. 21 Vgl. Vormbaum (Fn. 5), S. 234. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von DDRRichtern wegen Rechtsbeugung, siehe auch Vormbaum Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik, 2011, S. 157 ff.; Spendel Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984, S. 55 ff. 22 Welzel Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 11. Aufl. 1969, S. 1. 23 Zu den verschiedenen Gesetzen zur Reform des Strafrechts von 1969 bis 1975 siehe Vormbaum (Fn. 5), S. 242 f.; zu den Reformentwürfen von 1959 bis 1966, einschließlich dem Alternativ-Entwurf, siehe Vormbaum/Rentrop Reform des Strafgesetzbuches, 2008, Bd. 3, S. 1 ff., 367 ff. 20
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bleme im Vordergrund. Die Bedeutung der Strafrechtsdogmatik, insoweit sie als eine rein systematische, esoterische Dogmatik verstanden wird, ist bei einer Strafrechtsreform sehr begrenzt. Aber Anfang der siebziger Jahre hat Roxin, als Mitverfasser des Alternativ-Entwurfs, bereits dazu aufgerufen, in die dogmatische Ausarbeitung der Straftatlehre auch die kriminalpolitische Zweckmäßigkeit einzubeziehen.24 Roxin hatte schon die nur systeminternen Folgen der finalen Handlungslehre 1962 stark kritisiert25 und in seiner Schrift von 1970 das traditionelle Strafrechtssystem mit der Kriminalpolitik konfrontiert: „Was hilft aber die Lösung eines Rechtsproblems, die mit schöner Eindeutigkeit und Gleichmäßigkeit kriminalpolitisch verfehlt ist? Sollte sie wirklich einer befriedigenden, wenn auch systematisch nicht integrierbaren Einzelfallentscheidung vorzuziehen sein?“.26 Nach dem Motto: „Rechtliche Gebundenheit und kriminalpolitische Zweckmäßigkeit dürfen einander nicht widersprechen, sondern müssen zu einer Synthese gebracht werden“27 wollte Roxin die systemexternen (kriminalpolitischen) Folgen in das Strafrechtssystem einbeziehen und es zur Aufgabe der Strafrechtsdogmatik machen, die einzelnen Deliktskategorien „von vornherein unter dem Blickwinkel ihrer kriminalpolitischen Funktion zu sehen, zu entfalten und zu systematisieren“.28 Seit dieser Zeit kann man nicht mehr sagen, dass die deutsche Strafrechtsdogmatik keine Beziehung zur Kriminalpolitik hat.29 Auf der anderen Seite hatte die sogenannte Frankfurter Schule, mit Hassemer, Naucke und Lüderssen an der Spitze, seit Beginn der achtziger Jahre auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die eine allzu pragmatische Kriminalpolitik für Garantien und Rechte des Bürgers gegenüber der Strafmacht des Staates, für den Charakter der „ultima ratio“ und für das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs des Strafrechts darstellt, wenn sie, koste es, was es wolle, mit Hilfe des Strafrechts Probleme lösen will, die nicht dem Strafrecht eigen sind, oder die auf weniger radikale Weise in anderen Rechtszweigen oder durch Anwendung rein technischer Maßnahmen befriedigend gelöst werden könnten (etwa bei schweren Umweltverschmutzungen oder der Verantwortlichkeit für fehlerhafte Produkte).30 Wie dem auch sei, kriminalpolitische Probleme haben sich nicht nur für Politiker, die mit der Ausarbeitung von Strafnormen beschäftigt sind und gegenüber ihren Wählern 24
Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtsystem, 1. Aufl. 1970. Vgl. Roxin ZStW 64 (1962), 515 ff. 26 Roxin (Fn. 24), S. 4. 27 Roxin (Fn. 24), S. 10. 28 Roxin (Fn. 24), S. 15. 29 Dazu Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 ff.; ders. in: ders. (Hrsg.), Claus Roxin: Person – Werk – Epoche, 2003, S. 53 ff. 30 Vgl. Hassemer (Fn. 3), S. 1 ff.; dazu kritisch Schünemann GA 1995, 201, 203 ff.; ders. FS Triffterer, 1996, S. 437 ff. 25
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und der öffentlichen Meinung die Wirksamkeit ihrer Vorgehensweise vorweisen müssen, zu grundlegenden Problemen des modernen Strafrechts gewandelt, sondern auch für Theoretiker, Professoren und politische Berater. Eine Dogmatik, die nur starr durch Anwendung der klassischen Prinzipien mit systematischer Genauigkeit objektive und subjektive Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit festlegt, kann niemals den kriminalpolitischen Zielen, die der Anwendung des Strafrechts zugrunde liegen sollen, gerecht werden. Sie kann nur kontraproduktiv im Hinblick auf eine pragmatische Kriminalpolitik sein, die das Strafrecht als gewichtiges Instrument zur Gestaltung des sozialen Lebens und zur Lösung von gesamtgesellschaftlichen Problemen machen will, die der technologische Fortschritt und die wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringen. Aber im Kontrast zu einer rein dogmatischen Orientierung des Strafrechts, welche dem bekannten Satz von Liszts entsprach, wonach das Strafrecht „die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“ ist,31 hat sich bald, im Einklang mit den Zeichen der Zeit, eine Strömung entwickelt, welche die strafrechtliche Dogmatik, ihre Begriffe und ihre systematischen Konstruktionen den neuen kriminalpolitischen Notwendigkeiten anpassen wollte. So wurde begonnen, den Kausalitätsbegriff nach und nach durch die objektive Zurechenbarkeit zunächst zu ergänzen und später zu ersetzen; die Unterschiede zwischen Handlung und Unterlassen wurden immer verwaschener, wenn nicht vollends zu Gunsten einer normativen Konstruktion aufgehoben, welche die objektive Zurechnung nicht so sehr auf das gründet, was der Betreffende tut oder nicht tut, sondern auf die besonderen Pflichten, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Der Vorsatzbegriff wurde auf die reine Kenntnis der Gefährlichkeit der Handlung reduziert, indem auf voluntative Bezüge zum Erfolg verzichtet und so der Anwendungsbereich zulasten der Fahrlässigkeit enorm erweitert wurde. Der traditionelle Rechtsgutsbegriff, der sich in erster Linie auf die Entwicklung und Selbstverwirklichung der Einzelperson bezog und mit einem materiellen Gehalt ausgestattet war (Leben, Freiheit, Vermögen), wurde durch den der Einheit der sozialen Funktion oder durch vage Konzepte sozialer oder universeller Art ohne bestimmbaren materiellen Zusammenhang ersetzt, wie etwa Umwelt, Gleichgewicht des Finanzsystems, sozioökonomische Ordnung oder territoriale Regelung. Gegen das Verletzungsdelikt oder das konkrete Gefährdungsdelikt wurde das Modell des abstrakten Gefährdungsdelikts entwickelt, das immer mehr Platz einnimmt. Auch der Norm-Ungehorsam als materieller Inhalt der Rechtswidrigkeit und das Legalitätsprinzip sowie der Gesetzesvorbehalt 31 Dass von Liszt nicht immer konsequent mit dieser begrenzende Funktion des Strafrechts der Kriminalpolitik gegenüber war, vor allem in Bezug auf die Behandlung der Rückfälligen und Gewohnheitsverbrecher, ist schon wiederholt gesagt worden, vgl. nur Muñoz Conde FS Hassemer, 2010, S. 535 ff.
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wurden wie ein Schweizer Käse durchlöchert durch neue Strafnormen, in denen auf Verwaltungsbestimmungen von niedrigerem Rang verwiesen wird, und durch die als „Blankettnorm“ bekannte Technik ersetzt, die sich im Wirtschafts-, Umwelt-, Arbeits-, Städtebau-, Gesundheits- und Lebensmittelstrafrecht zu einer allgemeinen Form der Klassifizierung dieser neuen Tatbestände entwickelt hat. Ein Blick auf die Strafnormen der letzten zwanzig bis dreißig Jahre in den meisten technisch und ökonomisch weit entwickelten Ländern zeigt, dass diese neuen Techniken hier gehäuft zu finden sind. Für einen Teil der Strafrechtsdogmatik war diese Anpassung der Grundkonzepte an die neuen kriminalpolitischen Notwendigkeiten eine unausweichliche Konsequenz eines funktionalistischen Ansatzes des Strafrechts, in dem das Strafrecht nicht mehr ist als ein Subsystem der Zurechnung innerhalb der globalen Einheit des weltweiten Sozialsystems, zu dessen Gleichgewicht es wiederherstellend beitragen und mit der Strafsanktionierung desjenigen, der eine Strafnorm gebrochen hat, das Vertrauen der übrigen gesetzestreuen Bürger stärken soll.32 Gleichgültig, welche Ansicht man hinsichtlich dieser neuen Tendenzen vertritt, haben diese zweifelsohne die stets leidenschaftlich geführte Debatte über die Beziehungen zwischen Strafrechtsdogmatik (verstanden als von den geltenden Strafrechtsnormen ausgehendes System der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortung) und der Kriminalpolitik (Erreichung von bestimmten sozialen Wirkungen durch das Strafrecht) befruchtet. Heutzutage stellt niemand oder fast niemand mehr das notwendige Verhältnis, das zwischen der einen und der anderen Form der Ausgestaltung der Strafmacht des Staates herrschen muss, in Frage, obwohl jedem bewusst ist, dass es sich um eine schwierige Beziehung handelt, die nur mühsam auf ein übergeordnetes Konzept einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“ zurückführbar ist, wie sie von Liszt vorschwebte.33 Während sich die Diskussion in den letzten Jahren innerhalb des durch die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Rechtsstaats vorgegebenen Rahmens abspielte und national und international anerkannte Menschenrechte nicht in Frage stellte, ist die Auseinandersetzung um die Aufgaben der Dogmatik im Hinblick auf die neuen Richtungen des sogenannten „modernen“ Strafrechts (ein geglückter Ausdruck, der von Winfried Hassemer zur Charakterisierung dieses neuen Phänomens geprägt wurde)34 nicht mehr eine rein akademische bzw. theoretische Auseinandersetzung. Denn nun geschah es, dass der überzeugteste und bedeutendste Vertreter der funktionalistischen Richtung in der 32 Dazu Jakobs Schuld und Prävention, 1976; ders. Strafrecht AT, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1. Aufl. 1983. 33 Dazu Muñoz Conde FS Hassemer, 2010, S. 535 ff. 34 Vgl. Hassemer (Fn. 3), S. 1 ff.
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Strafrechtsdogmatik, Günter Jakobs, in einem Vortrag auf einem Kongress, der Anfang Oktober 1999 in Berlin zum Thema „Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende“ stattfand,35 klar und deutlich und mit Nachdruck, vielleicht auch mit einem gewissen Maß an Provokation, darlegte, man müsse erkennen und billigen, dass es in den heutigen Gesellschaften, neben einem Strafrecht, das in mehr oder weniger flexible bzw. funktionalistische Konzepte eingebettet sei und dessen einzige Aufgabe es sei, durch die Strafsanktion die Gültigkeit der durch den Straftäter verletzten Norm und das Vertrauen der Bürger in das Recht wiederherzustellen (normative Sicherheit), noch ein weiteres Strafrecht geben müsse: ein „Feindstrafrecht“, mit welchem der Staat gegenüber bestimmten Subjekten, die sich schwerwiegend und wiederholt gegen grundlegende, die Gesellschaft bestimmende Normen wendeten und eine Bedrohung für diese darstellten, viel schlagkräftiger reagieren müsse. Dies geschehe dann nicht mehr, um die normative Sicherheit und das normative Vertrauen, sondern um die „kognitive Sicherheit“ wiederherzustellen. Im Rahmen dieses „Feindstrafrechts“ schreitet laut Jakobs der Staat mit unverhältnismäßigen und drakonischen Strafen ein, um wirksam gegen den Feind zu kämpfen, erklärt an sich unschädliche Handlungen oder solche, die weit davon entfernt sind, eine Bedrohung oder eine Gefahr für ein Rechtsgut darzustellen, für strafbar, und – was am schwersten wiege – er beseitige oder reduziere bestimmte Garantien und Rechte des Beschuldigten im Strafprozess auf ein Minimum. Dieser These gegenüber kann man meiner Ansicht nach36 nicht gleichgültig bleiben oder sich darauf beschränken, ihre Existenz als etwas Unvermeidliches anzusehen, an das man sich gewöhnen müsse. Man muss vielmehr eine eindeutige Position hierzu beziehen und zeigen, dass eine derartige Konstruktion nicht vereinbar ist mit grundlegenden Prinzipien und Rechten, die das nationale und internationale Zusammenleben wesentlich gestalten. Dies ist meiner Meinung nach auch für einen rein funktionalistisch-systematischen Ansatz eine Frage des inneren Zusammenhangs des strafrechtlichen Subsystems mit dem allgemeineren globalen Rechtssystem, das durch die grundlegend anerkannten Rechte und Prinzipien der Verfassung und der universalen Erklärungen der Menschenrechte gebildet wird. Wenn man von diesem System eine Ausnahme zulässt, muss man sich konsequenterweise das Scheitern des Gesamtsystems eingestehen, mit allen Konsequenzen, die sich hieraus ergeben. Niemand leugnet ja die Existenz des „Feindstrafrechts“; was aber zu diskutieren bleibt, ist, ob es mit dem Rechtsstaatsprinzip und mit der Anerkennung und Respektierung fundamentaler Rechte vereinbar ist oder 35 Jakobs in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47 ff. 36 Vgl. Muñoz Conde Über das Feindstrafrecht, übers. v. Vormbaum, 2007, S. 15 ff.; ders. FS Volk, 2009, S. 495 ff.; ders. in: Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009.
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nicht. Es muss nunmehr in befriedigender Weise das gespaltene Verhältnis der Repräsentativsten und Mächtigsten der internationalen Gemeinschaft zu den fundamentalen Rechten und den Grundsätzen des Rechtsstaates geklärt werden, vor allem, wenn dieses gespaltene Verhältnis sich aus der wiederholten Verletzung letzterer seitens einiger Staaten ergibt. Damit sind wir im strafrechtlichen Zeitgeschehen angekommen. Nach dem oben Gesagten lässt sich nicht leugnen, dass die Strafrechtsdogmatik, insoweit sie auf ihr Umfeld verweist und Erwartungen thematisiert, die sich aus diesem Umfeld an sie richten, in engem Zusammenhang mit der Kriminalpolitik steht und dass sie auch auf die Herausforderungen ihrer Zeit antworten muss.37 Das Problem ist nicht nur, dass die Strafrechtsdogmatik auch kriminalpolitische Ziele mit berücksichtigen und sich diesen kriminalpolitischen Zielen anpassen muss, sondern, von welcher Kriminalpolitik die Rede ist. Wenn die Kriminalpolitik zu einer Expansion, Funktionalisierung und Intensivierung des Strafrechts, einer Lockerung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes und einer Reduzierung der strafverfahrensrechtlichen Garantien des Angeklagten tendiert,38 wie es z.B. manche Theorien wie die des Feindstrafrechts und der „Zero Tolerance“ vorschlagen, dann ist die Strafrechtsdogmatik der Gefahr ausgesetzt, eine Strafverfolgungsdogmatik zu werden; d.h. ein nur technisches Hilfsmittel zur Effektivierung der Strafverfolgung.39 Aber wenn die Kriminalpolitik, im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, rationale, demokratische Zwecke verfolgt, dann ist nicht mehr das Strafrecht, sondern, wie Vogel sagte, die Verfassung „die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“40. So kann auch die Strafrechtsdogmatik als Strafbegrenzungswissenschaft41 die liberale Rolle spielen, der rohen Strafgewalt eine Grenze zu setzen, der Zweckmäßigkeit Geltung zu verschaffen und die kriminalpolitischen Zwecke in sich einzubeziehen. Natürlich sind beide Begriffe, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, nur Teile der Strafrechtwissenschaft, deren Bereiche und Definitionsmacht in der Realität nicht immer sauber zu unterscheiden sind und, wie Hassemer schon vor 40 Jahren warnte,42 sind manche Übergriffe zwischen beiden nicht auszuschließen. Eine abstrakte Trennung von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik ist heutzutage in der aktuellen Strafrechtswissenschaft nicht mehr möglich.
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Vgl. Hassemer (Fn. 13). Dazu Vormbaum (Fn. 5), S. 281. 39 In diesem Sinne warnend Vormbaum (Fn. 5), S. 282. 40 Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, S. 100: „Grenze der Kriminalpolitik ist im Verfassungsstaat nicht das Strafrecht, sondern die Verfassung“. 41 Vormbaum (Fn. 5), S. 281. 42 Siehe Hassemer Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974, S. 195 ff. 38
Die (Un-)Angemessenheit einer Kriminalisierung der Chantage José Milton Peralta I. Einleitung: die Ähnlichkeit zwischen Chantage und harten Verhandlungen Das Unrecht der Chantage stellt ein sowohl moralisches als auch juristisches Rätsel dar. Hierbei versucht der Täter (T) das Opfer (O) zu einer erlaubten Handlung zu bewegen unter Androhung, dass er andernfalls selber eine erlaubte Handlung, die für O unerwünscht ist, vornehmen wird. Das Paradebeispiel für eine solche Straftat ist das der Geliebten, die ihrem verheirateten Liebhaber erklärt: „Wenn du mich verlässt, erzähle ich alles deiner Frau.“ Eine erste Interpretation lässt darauf schließen, dass T durch Nötigung O in seiner Entscheidungsfreiheit einschränkt. Dennoch hält diese Analyse einer tieferen Untersuchung nicht stand. Um die Freiheit von O tatsächlich einzuschränken, müsste T dessen Handlungsmöglichkeiten insofern beschneiden, dass O Alternativen rechtmäßigen Verhaltens verwehrt werden. Dies ist bei der Chantage nicht der Fall. O hat keinen Anspruch darauf, dass T eine Enthüllung unterlässt. Es geht hier um eine Handlung, die O gegebenenfalls zu dulden hat. Wenn T die Handlung nicht einfach ausführt, sondern anbietet, sie zu unterlassen, mit der Bedingung, dass O eine andere Handlung als Gegenleistung vornimmt, ist T weit davon entfernt, die Freiheit von O einzuschränken; mehr noch, er erweitert sie. Nun verfügt O über eine Alternative, die er zuvor nicht hatte. Jetzt kann er rechtmäßig von T fordern, die Preisgabe der Information zu unterlassen.1 Dies bedeutet zwar nicht, dass O mit der Lage, in die er versetzt wurde, glücklich wäre. Bestimmt bevorzugt er, ein solches Angebot nie erhalten zu haben und mit der Diskretion T’s ohne Gegenleistung rechnen zu können. Aber da die Dinge nun einmal so liegen (T verfügt über diese Information) und angesichts der Befugnisse, die das Recht uns verleiht (T darf die Information preisgeben), kann sich O nicht in seiner Freiheit eingeschränkt sehen. Übrigens werden wir im täglichen Geschäftsleben oft solchen Situationen,
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die keine Straftat darstellen, ausgesetzt. Man nennt sie neuerdings „harte Verhandlungen“ (hard bargaining). Z.B.: Sie errichten einen Betrieb für den Verkauf von Agrochemikalien und wollen eines meiner Produkte mit meinem höchst renommierten Warenzeichen verkaufen. Ich erkläre mich dazu bereit, Ihnen dies zu gestatten, allerdings unter einer Bedingung: dass Sie zusätzlich ein anderes, no-name-Produkt mit wenig Absatzmöglichkeiten verkaufen. Das ist für Sie äußerst ungünstig, da es zum stagnierenden, finanziell schwer zu tragenden Kapital wird. Willigen Sie aber nicht ein, verweigere ich Ihnen die Möglichkeit, mein Produkt zu verkaufen und gestatte Ihrem Konkurrenten dieses Recht, was für Sie umso schlimmer wäre. In diesem Fall möchte ich eine erlaubte Handlung gegen eine ebenfalls erlaubte Handlung eintauschen. Wahrscheinlich ziehen Sie es vor, meine Waren bedingungslos zu vermarkten. Aber da die Situation gegeben ist (ich besitze das Produkt) und angesichts der Befugnisse, die uns das Recht verleiht (ich kann mein Produkt Konkurrenten verkaufen), stellen meine Bedingungen zusätzliche Handlungsmöglichkeiten für Sie dar. In der Tat ist das bei jedem geschäftlichen oder tariflichen „Gefeilsche“ der Fall.2 Trotz dieser Ähnlichkeit bestehen die meisten Theoretiker darauf, dass Chantage eine Straftat zu sein hat, harte Verhandlungen jedoch erlaubt sein dürfen.3 Zur Begründung bemühen sie sich darum, einen Wertungsunterschied zwischen beiden Handlungen zu finden. Viele tun es, indem sie fragen, was die Chantage an sich so verwerflich macht. Andere hingegen untersuchen die Folgen bzw. Konsequenzen einer Chantage-Erlaubnis. Ich habe mich zu einer anderen Gelegenheit eingehend mit der ersten Möglichkeit beschäftigt.4 Ich bin der Meinung, dass solche Versuche bisher unfruchtbar waren. Deswegen werde ich mich hier mit den konsequentialistischen Theorien auseinandersetzen. Diese können verschiedenartig sein. Einige postulieren, die Erlaubnis zur Chantage würde zu mehr Straftaten führen (II.), andere, dass die Legalisierung der Chantage einen Ansporn zu Verletzungen der Privatsphäre darstellen würde (III.) und eine dritte Gruppe vertritt schließlich die Ansicht, die Erlaubnis solcher Handlungen sei sozial ineffizient (IV.). Meine Schlussfolgerung wird lauten, dass auch diese Theorien für eine Begründung der Strafbarkeit von Chantage unbefriedigend sind.
2 Epstein University of Chicago Law Review (= U. Chi. L. Rev.) 50 (1983), 553, 557; Green Washburn Law Journal 44 (2005), 553, 553 ff.; Gorr Philosophy & Public Affairs 21 (1992), 43, 57; Shavell University of Pennsylvania Law Review (= U. Pa. L. Rev.) 141 (1993), 1877, 1893 ff. 3 Ausnahmen bei Mack Philosophical Studies 41 (1982), 273, 283; Block/Kinsella/Hoppe Business Ethics Quarterly 10 (2000), 593, 593 und passim. 4 Peralta ZStW 124 (2012), 881, 881 und passim.
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II. Die Chantage als Gewerbe Richard Epstein erkennt Ähnlichkeiten zwischen der Chantage und den harten Verhandlungen an.5 Er behauptet, die Chantage könne nicht „allein aufgrund ihres Wesens“ strafbar gemacht werden, sondern man müsse auch berücksichtigen, „wohin die Chantage notwendigerweise führe.“6 Um dies zu beurteilen, sei es nötig, von jeder einzelnen Handlung Abstand zu nehmen und sich zu fragen „wie die Welt aussehen würde, wäre die Chantage legal.“ 7 Epsteins eingehende Beschreibung kann in zwei Punkten zusammengefasst werden: a) Zunächst vertritt er die Ansicht, dass die Erlaubnis der Chantage einen Markt für verschiedene Institutionen freigeben würde, die von dieser erlaubten Tätigkeit profitieren könnten. Da gebe es genug Raum für Unternehmen, die das Geschäft mit Informationen kommerzialisieren könnten. Eine solche „Chantage AG“ könnte Anzeigen für den Kauf von Informationen aufgeben, um sie wiederum an O zu verkaufen. Die ermittelte Information müsste in Verträgen festgehalten werden, die den Parteien Pflichten auferlegen. Die Chantage AG müsste überprüfen, wie sie in den Besitz der Information gekommen ist und ob sie zutreffend ist. Auch müsste sie Klagemöglichkeiten für den Fall unrichtiger Behauptungen oder Vertragsbruch prüfen.8 Und all dies dank der verwerflichen Tätigkeit der Chantage. Noch wurde nichts darüber gesagt, warum die Chantage so verwerflich ist. Bislang ging es lediglich darum, dass ihre Erlaubnis zu mehr Chantage führen würde – was wahrscheinlich bei vielen strafbaren Handlungen, würde ihr Verbot aufgehoben, der Fall wäre. Dies erklärt jedoch nicht, warum sie verboten werden sollte. Hier fügt Epstein hinzu, dass diese Eigenschaft dadurch entsteht, dass die Chantage einem Dritten, entweder einer Privatperson oder einer Gesellschaft, dadurch schadet, dass ihm bzw. ihr die verborgene Information vorenthalten wird.9 b) Andererseits würde die Legalisierung der Chantage zu Delikten anderer Art führen. Da in der Regel Geld gefordert wird, könnte O in Schwierigkeiten geraten, wenn er über den fraglichen Betrag nicht verfügt. Zuerst würde er wohl Darlehen in Anspruch nehmen, bis ihm keines mehr gewährt würde. Danach käme er vielleicht er auf den Gedanken, sich Geld bei Ver-
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Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 557. Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 566. 7 Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 562. 8 Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 563; auch Shavell U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1877, 1891. 9 Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 565 ff. 6
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wandten zu leihen. Aber spätestens bei der Frage, wozu er das Geld benötige, würde auch diese Möglichkeit verworfen. Schließlich sähe er sich gezwungen, Betrug, Diebstahl oder sonstige Delikte gegen das Eigentum zu begehen, um die Gläubiger zu befriedigen.10 Dies könnte der Fall bei irgendeiner Chantage sein, aber die Dinge würden sich besonders ausgeprägt entwickeln, wenn die Chantage AG die Verhandlungen übernehmen würde. Das Unternehmen würde bestimmt über professionelle Gutachter verfügen, die den größten Nutzen aus dem Geheimnis ziehen könnten. Es sind die Konsequenzen der Legalisierung von Chantage, die sie von der harten Verhandlung unterscheidet. Trotz der Wirkung einer solchen Vorstellung überzeugt Epsteins These nicht. Ich werde jeden Punkt getrennt behandeln. Zu a) lautet der Haupteinwand, dass, trotz der Behauptungen Epsteins, die Kriminalisierung der Chantage einer deontologischen Rechtfertigung bedarf, damit seine Argumente nachvollziehbar sind. Man muss wissen, warum jede Chantagehandlung an sich schlecht ist, damit die Unternehmungen der Chantage AG strafbar gemacht werden können. Wenn Chantage an sich nicht falsch ist, ist es schwer nachzuvollziehen, wie mehr oder bessere Chantagen dazu führen könnten, diese als unrichtig zu beurteilen. Epstein bemerkt das auch und behauptet, Chantage gleiche einer Art Täuschung eines Dritten, dem Informationen vorenthalten werden. Dieser Erklärung sind viele Einwände entgegenzusetzen.11 Ginge es jedoch nur darum, scheinen konsequentialistische Argumente für eine Strafbarkeit nicht notwendig zu sein. Chantage wäre aus genau demselben Grund verboten, wie irgendeine andere Straftat, die Dritten einen Schaden zufügt. Eine Möglichkeit, Epsteins Argument zu verteidigen, ist der Gedanke, dass jede Chantagehandlung für sich allein für eine Strafbarkeit unzureichend ist, ähnlich dem Bagatelldelikt, aber wenn sie wiederholt auftritt zum sozialen Ärgernis wird. Da das Argument konsequentialistisch ist, ist die Frage, ob jeder Straftäter die ihm auferlegte Strafe verdient, unsachgemäß. Es interessiert allein, ob die Strafe notwendig ist, um dem zu verhindernden Übel entgegenzuwirken.12 Das zentrale Problem dieser letzten Ausführung besteht darin, dass es zweifelhaft erscheint, dass eine Kriminalisierung der Chantage die von Epstein vermuteten Schäden reduziert. Charakteristisch für die Chantage ist gerade, dass, wenn T nicht die Möglichkeit hätte, O zu chantagieren, T sowieso keine Informationen preisgeben würde. Wie wir später sehen wer-
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Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 564. Vgl. hierzu Peralta ZStW 124 (2012), 881, 891. Smart in: ders./Williams, Utilitarianism, For and Against, Cambridge 1973, S. 3, 54.
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den, steht diese kontrafaktische Erwartung bei den Theorien im Mittelpunkt, die die Position vertreten, das Problem der Chantage bestehe in ihrer Ineffizienz.13 Die Gründe, die zu einer solchen Annahme führen, sind unterschiedlich, dennoch sind die wichtigsten zu erwähnen: T hat kein persönliches Interesse an der Offenlegung der Information (ihm ist gleichgültig, ob Dritte „getäuscht“ werden) und es fällt ihm schwer, einen anderen Käufer als O zu finden (potenzielle Kunden sind nicht genau zu bestimmen und der Verkauf von Informationen, ohne sie zuvor zu verraten, ist kompliziert).14 Das bedeutet, dass die Täuschung, die T und O wegen der Verheimlichung von Informationen vorzuwerfen ist, sowieso stattfinden würde. Es erscheint unvernünftig, besonders aus konsequentialistischer Sicht, das gesamte staatliche Strafrechtssystem in Bewegung zu setzen, nur damit die Lage danach genauso aussieht wie davor. Andererseits neigt man zu dem Gedanken, dass das Hauptaugenmerk des Staats darauf gerichtet sein sollte, einfach die Verheimlichung der Information zu vermeiden, unabhängig davon, ob eine Chantage oder eine einfache unentgeltliche Übereinkunft zu diesem Zweck stattgefunden hat.15 An dieser Stelle spielt das zweite Argument Epsteins eine Rolle. Die Chantage verursacht nicht dieselben Konsequenzen wie eine unentgeltliche Übereinkunft. Gemäß Punkt b) besteht ein weiteres Problem der Chantage darin, dass sie zu Delikten gegen das Eigentum seitens O führt. Dazu können zwei Dinge angeführt werden. Erstens ist die Chantage nicht die einzige Tätigkeit, die das Potenzial besitzt, zu Taten dieser Art zu führen. Die Aufnahme von Hypotheken oder Darlehen, besonders solche, die durch ausschweifende Angebote der Kreditinstitute und Kreditkartenunternehmen gefördert werden, Glücksspiele und die allgemeine Leidenschaft für kostspielige Vergnügungen führen die Menschen dazu, Straftaten zu begehen. Dennoch sind diese Handlungen nicht verboten. Allerdings würde ein verantwortungsbewusster Staat einige dieser Tätigkeiten regulieren, aber er würde sie deswegen nicht zu Straftaten erklären. Die Behauptung also, dass der Chantage die gesteigerte Gefahr innewohnt, zu weiteren Straftaten zu führen, ist rein spekulativ.16 Andererseits ist Epsteins These unterinklusiv. Eine Chantage begeht auch jemand, der gegen Schweigen z.B. einen sexuellen Gefallen verlangt. Dennoch entsteht hierdurch nicht die Gefahr späterer Straftaten.17 13
S. unten IV. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 5; auch Arzt FS Lackner, 1987, S. 641, 654; im entgegengesetzten Sinne DeLong U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1663, 1673. 15 Lindgren Columbia Law Review (= Colum. L. Rev.) 84 (1984), 670, 684; GómezPomar/Ortiz de Urbina-Gimeno Chanaje e Intimidación, Navarra 2005, S. 63. 16 Andere Kritiken zu Epstein bei Gómez-Pomar/Ortiz de Urbina-Gimeno (Fn. 15), S. 64. 17 So Berman U. Chi. L. Rev. 65 (1998), 795, 816; Green Washburn Law Journal 44 (2005), 553, 560. 14
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III. Chantage und Verletzung der Privatsphäre Jeffrie Murphy entwickelt ebenfalls eine Theorie zugunsten der Kriminalisierung von Chantage, die von den Konsequenzen ihrer Erlaubnis ausgeht. Er behauptet, Chantage sei unmoralisch, weil T die Schwäche von O ausnutzt.18 Dennoch fügt er hinzu, dass allein das Unmoralische an einer Handlung nicht ausreicht, um eine Strafe zu rechtfertigen.19 Sie müsse auch einen sozialen Schaden verursachen. Dies sei bei der Chantage der Fall, da sie einen Unnutzen (disutility) verursache.20 An anderer Stelle habe ich untersucht, wie schwierig es ist, uns klarzumachen, worin das Unmoralische liegt, die Schwächen eines anderen auszunutzen.21 Darüber können wir hinweggehen, es soll das konsequentialistische Argument diskutiert werden. Welchen Unnutzen könnte die Erlaubnis der Chantage hervorbringen? Nach Murphy bestünde er in einem „ökonomischen Anreiz“ für die Verletzung der Privatsphäre der Menschen oder für die Verheimlichung wertvoller Informationen.22 Für diese Erklärung unterscheidet er zwischen drei verschiedenen Subjekten: den Privatpersonen, den Berühmtheiten und den Beamten. Bezüglich der ersten Gruppe bemerkt er, „dass es keinen bedeutenden ökonomischen Markt“ für die Information über deren Privatleben gebe und sich deswegen niemand besonders für das Verletzen der Privatsphäre jener Personen interessiere.23 Wenn aber die Chantage erlaubt wäre, dann entstünde womöglich so ein Markt, denn dann könnte man gleichsam anderen die Information über deren Privatsphäre, in Form von Stillschweigen, verkaufen. Informationen über Privatpersonen zu sammeln hätte auch keinen öffentlichen Wert und die Information würde sowieso nicht offenbart, wenn die Chantage erfolgreich verliefe.24 Ihre Erlaubnis würde Schaden verursachen, ohne jeglichen sozialen Nutzen. Hinsichtlich der Berühmtheiten lautet die Antwort ganz anders. Hier gibt es einen Markt für Informationen über ihr Privatleben: die Medien, die über sie berichten. Das Chantageverbot würde die Medien von einer Verletzung der Privatsphäre nicht abhalten, da dies bereits aus unabhängigen Gründen geschieht.25 Ein Verbot ergebe nur Sinn, wenn auch solche Medien verboten
18 Im selben Sinne Peralta ZStW 124 (2012), 881, 892 ff.; Altman U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1639, 1641, 1644 f. 19 Murphy The Monist 63 (1980), 156, 163. 20 Murphy The Monist 63 (1980), 156, 163. 21 Peralta ZStW 124 (2012), 881, 900 ff. 22 Murphy The Monist 63 (1980), 156, 164. 23 Murphy The Monist 63 (1980), 156, 163 f. 24 Murphy The Monist 63 (1980), 156, 164. 25 Murphy The Monist 63 (1980), 156, 164.
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würden. Aber Murphy ist der Ansicht, dass die Existenz dieser Medien zur Pressefreiheit gehört und wir sie deswegen in Kauf nehmen müssen.26 Hier müsse Chantage also erlaubt sein, andernfalls würden wir allein O schaden, der nicht verhindern könnte, dass Informationen über ihn verbreitet werden. Diese Logik funktioniert allein, wenn der geforderte Preis den Marktpreis nicht übersteigt. Ist das Gegenteil der Fall, gebe es einen zusätzlichen Ansporn für eine Verletzung der Privatsphäre dieser Personen, was nicht zugelassen werden dürfe.27 Im Fall der Beamten, anders als bei den ersten beiden Personengruppen, ist eine Untersuchung ihres Lebens wünschenswert. Der Nutzen liegt darin, dass man bestimmen kann, ob ihr Image der Wirklichkeit entspricht. Es ist richtig, dass auch auf die Bereiche ihres Privatlebens geschaut wird, die nichts mit ihrer Rolle als Personen in einem öffentlichen Amt zu tun haben, aber, so Murphy, dies sei ein zahlbarer Preis im Vergleich zu den erwähnten Vorteilen.28 Die Konsequenz daraus ist, dass auch hier die Chantage strafbar sein muss. Aber nicht, um vor Verletzungen der Privatsphäre abzuschrecken, sondern um die Verheimlichung von sozial relevanten Informationen zu verhindern. Eine übliche Kritik an Murphys Argument lautet, dass es nicht erklärt, warum die Strafgesetzbücher und unser Moralgefühl dazu neigen, sowohl die Chantage mit gezielt aufgespürter Information als auch mit unwillkürlich erhaltener Information gleichermaßen zu missbilligen.29 Die Bestrafung der Chantage, wenn T an der Herbeiführung der Chantage-Situation aktiv mitgewirkt hat (wie beim anfänglichen Beispiel der Geliebten), oder wenn T als Opportunist handelt (gegenüber dem der verheiratete Liebhaber mit seinen Liebschaften geprahlt hat), schreckt nicht von Verletzungen der Privatsphäre ab, weil es nicht um solche Handlungen geht.30 Man könnte zu seiner Verteidigung anführen, dass, wenn das Gesetz eine solche Unterscheidung treffen würde, T gegebenenfalls in einem späteren Gerichtsverfahren mit der Schwierigkeit der Beweiserbringung spekulieren würde. Viele „Privatsphärenverletzer“ würden aus Mangel an Beweisen unbehelligt davonkommen. Um diesen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, bestraft der Staat jedwede Chantage. Es handelt sich hierbei um ein effizienteres Gesetz im Hinblick auf die Vorbeugung von Straftaten, aber dafür muss es zu viel bestrafen – und büßt dabei an Effizienz ein.
26 27 28 29
Murphy The Monist 63 (1980), 156, 164 f. Murphy The Monist 63 (1980), 156, 165. Murphy The Monist 63 (1980), 156, 164 f. Lindgren Colum. L. Rev. 84 (1984), 670, 689 f.; Berman U. Chi. L. Rev. 65 (1998), 795,
818. 30
Lindgren Colum. L. Rev. 84 (1984), 670, 691.
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Dennoch geht es bei der Kritik an Murphy um etwas Anderes. Erstens scheint er mit dem Sinn des Wortes „Verletzung“ (invasion) zu spielen. Die Verwendungsweise lässt vermuten, dass es sich um eine unerlaubte Handlung handelt, die de lege lata nicht eine solche ist. Wenn von Chantage die Rede ist, geht es immer um Information, die auf zulässige Weise erhalten wurde. Wenn man die Daten rechtswidrig erlangt hätte, dann wäre das, und selbstverständlich auch deren Enthüllung, an sich schon illegal. Die Androhung einer rechtswidrigen Handlung ist keine Chantage, sondern Nötigung.31 Aber abgesehen davon, müsste man, damit die Theorie nachvollziehbar ist, de lege ferenda, zuerst die Verletzung der Privatsphäre verbieten. Die beste Art, die Verletzung der Privatsphäre zu vermeiden, ist eben durch die Kriminalisierung eines solchen Verhaltens. Das wollen wir nicht. Wenn wir aber die Verletzung der Privatsphäre nicht bestrafen wollen, dann können wir schlecht die Chantage mit dem Argument bestrafen, dass sich dies günstig auf die Abschreckung auswirkt. Ähnlich verhält es sich mit Murphys Argumentation, wenn er Gründe anführt, die Chantage von Beamten zu verbieten. Wenn die Unterlassung der Informationsoffenlegung über öffentliche Bedienstete so falsch ist, dass man ein derartiges Verhalten kriminalisieren müsste, so müsste man erst recht das Schweigen darüber bestrafen. Dies aber ist erlaubt 32 und eine solche Kriminalisierung bzw. Strafbarkeit wäre abstoßend.
IV. Chantage als ineffiziente Tätigkeit 1. Arten ineffizienter Chantage Effizienzorientierte Autoren behaupten, „dass ein Gesetzgeber, der wirtschaftliche Effizienz im Sinne hat, Chantage in seinem Strafgesetzbuch berücksichtigen würde.“ 33 Warum? a) Nach Robert Nozick, weil Chantage unproduktiv ist. „Produktive Tätigkeiten sind solche, in denen es den Käufern besser geht, als wenn der Verkäufer nichts mit ihnen zu tun hätte.“ 34 Andererseits ist eine Tätigkeit unproduktiv, wenn ihr Nichtvorhandensein oder das Nichtvorhandensein der ausführenden Person niemanden in eine schlechtere Lage versetzt. Um dies zu erklären, führt Nozick das Beispiel einer Person (P) an, die auf einem Grundstück, dessen Eigentümerin sie ist, bauen möchte. Der Bau ist
31 32 33 34
Vgl. Peralta ZStW 124 (2012), 881, 883 ff. Lindgren Colum. L. Rev. 84 (1984), 670, 693. Ginsburg/Shechtman U. Pa. L. Rev. 141 (1992–1993), 1849, 1850. Nozick Anarchy, State, and Utopia, Malden 1974, S. 84.
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aber so groß, dass er den Nachbarn (N) beeinträchtigen würde, weil dieser um die Helligkeit und den schönen Blick von seinem Grundstück gebracht wird. P hat das Recht, den Bau fortzuführen,35 aber statt dies zu tun, schlägt er N vor, gegen Geld das Bauwerk zu verkleinern. Ist diese Handlung produktiv oder unproduktiv? Wenn P den großen Bau ohne jegliche Interaktion mit N vorantreiben möchte, dann ist die Tatsache, dass er auf N zugeht und ihm das Angebot unterbreitet, produktiv. N ist durch das Angebot des P nunmehr besser gestellt. Anderenfalls müsste N den Bau dulden. Eine andere Situation liegt vor, wenn P gar nicht daran denkt, so einen großen Bau durchzuführen, aber beschließt, N damit zu drohen, allein, um von ihm zu kassieren. Hier ist die Tätigkeit unproduktiv, denn wenn P sich anderen Geschäften widmen würde, ginge es N besser.36 N könnte die Helligkeit und den Blick ohne Gegenleistung behalten. Paradigmatische Chantagefälle besitzen, anders als harte Verhandlungen, diese Struktur.37 T droht nur, um von O Geld zu erhalten. Könnte er mit O nicht in Kontakt treten, so würde er die Information nicht offenlegen.38 Die Gründe, derentwegen T wahrscheinlich nichts sagen würde, sind dieselben, die wir zur Kritik an Epstein angeführt haben: Der Chantagist hat in der Regel kein Interesse an der Enthüllung, und es wäre schwierig, die Information an jemand anderen als O zu verkaufen.39 Seine These hängt von der Annahme einer faktischen Erwartung ab: Wenn die Chantage unmöglich wäre, würde T auch keine Mitteilung machen.40 Gewiss ist dies kontingent. Aber damit die These plausibel ist, genügt eine solche Dynamik in den meisten Chantage-Fällen. Wenn es aber klar ist, dass wir vor einer anderen Situation stehen, wie bei der Chantage zu Marktpreisen – die etwa Berühmtheiten betrifft –, meint selbst Nozick, dass sie nicht bestraft werden kann.41 Einige Autoren 42 behaupten, dass Nozick zu kontraintuitiven Ergebnissen gelangt, da er sich gezwungen sieht, die Rechtmäßigkeit von Verhalten anzuerkennen, die wir alle als verwerflich empfinden würden. Dies ist der Fall, wenn T zeitgleich mit seinem Angebot verhindert, dass ein anderer Informationen enthüllt. Berman führt folgendes Beispiel an: „Stellen Sie sich einen Ehebrecher vor, der beschließt, seine Geliebte zu verlassen, welche dann wie35
Nozick (Fn. 34), S. 84. Nozick (Fn. 34), S. 85. 37 Im selben Sinne Altman U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1639, 1657; Shavell U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1877, 1901. 38 Nozick (Fn. 34), S. 85. 39 Arzt FS Lackner, 1987, S. 641, 654 und 656. 40 Im selben Sinne Arzt FS Lackner, 1987, S. 641, 654 und 656; Altman U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1639, 1640. 41 Nozick (Fn. 34), S. 85. 42 Berman U. Chi. L. Rev. 65 (1998), 795, 828; so auch Lindgren Colum. L. Rev. 84 (1984), 670, 700. 36
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derum beschließt, die Affäre seiner Frau zu offenbaren. Aber eine Werbung der Chantage AG bringt sie dazu, ihren Entschluss zu überdenken. Obwohl die Verlassene ihrem Ex-Geliebten gern schaden würde, kommt ihr das Geld gelegen. Sie verkauft ihre Liebesbriefe an die Profichantagisten, welche sie wiederum an den Ehebrecher weiterverkaufen.“ Hier ist die Chantage AG für O vorteilhaft, und deshalb produktiv. Ich bin der Meinung, dass ein solches Beispiel Nozick keine weiteren Schwierigkeiten bereitet. Es handelt sich nur um ein weiteres Beispiel, in dem die faktischen Erwartungen darauf hinauslaufen, dass, wenn es keine Chantagemöglichkeit gäbe, T tatsächlich die Information offenbaren würde (wie bei Chantage zu Marktpreisen). Wenn die Chantage AG dies verhindern kann, tut die Firma damit O einen Gefallen. Allenfalls würde das Unternehmen, von dem Epstein sprach, nicht nur in diesen Fällen eingreifen, sondern auch in solchen, wo T, wenn es die Chantage AG nicht gäbe, die Information nicht offenbaren würde. In diesem Fall ist ihr Dasein unproduktiv. Da diese die häufigsten Fälle sind, fördert die Chantage AG exponentiell unproduktive Verhaltensweisen. Nozick dürfte keine Schwierigkeiten damit haben, ihr Dasein zu kriminalisieren. Nozicks Hauptproblem ist ein anderes. Er scheint bereit zu sein, die Opportunisten zu bestrafen, also jemanden, der kostenlos bestimmte Dinge preisgeben würde, aber, mit der Aussicht darauf, seine Unterlassung zu Geld zu machen, plötzlich beschließt, seine Informationen zu verkaufen. Obwohl der Opportunismus wahrscheinlich ineffizient ist, stellt er normalerweise keine Straftat dar.43 b) Für Ginsburg und Shechtman ist die Chantage – im Gegensatz zu harten Verhandlungen – ineffizient, da sie zu einer Verschwendung von Mitteln führt. Sie verursacht Kosten und bringt keine gesellschaftlichen Vorteile ein. Ihren Worten folgend, „wird Müll zu einem festzustellenden Wert ausgegraben, um ihn dann wieder zu vergraben“, ohne jeden erkennbaren Sinn. Die Bestrafung einer solchen Handlung würde dazu beitragen, dass die Chantagisten „einen alternativen Job suchen“, der gesellschaftlich vorteilhafter wäre.44 Die einzige zulässige Ausnahme ähnele der von Nozick: Gebe es einen zum Kauf der Information willigen Dritten, der nicht O ist, so müsse die Chantage erlaubt sein.45 An dieser Stelle können zwei Kritiken formuliert werden: Eine davon richtet sich an die These im Allgemeinen und die andere an die Ausnahme. Bezüglich der These im Allgemeinen müssen sich diese
43 Und einschließlich nicht opportunistischer Verhalten, die aber auch diese Struktur aufweisen würden Block/Kinsella/Hoppe Business Ethics Quarterly 10 (2000), 593, 601. 44 Ginsburg/Shechtman U. Pa. L. Rev. 141 (1992–1993), 1849, 1860. 45 Ginsburg/Shechtman U. Pa. L. Rev. 141 (1992–1993), 1849, 1860.
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Autoren mit einer ähnlichen Kritik auseinandersetzen, wie sie bei Murphy formuliert wurde, weil sie die Fälle ausklammern müssen, in denen mit zufällig erhaltenen Informationen chantagiert wird.46 Es scheint in dem eben beschriebenen Sinne keine kostspielige Aktivität zu sein. Ginsburg und Shechtman sehen sich zur Behauptung gezwungen, dass es unrichtig sei, dass die Chantage sowieso Verhandlungs- und Übertragungskosten 47 verursachen würde und dass zudem dieses Verhalten im Sinne Nozicks unproduktiv sei.48 Sie fügen hinzu, es bestehe ein Risiko darin, dass T seine Drohungen wahr macht, allein um die Seriosität seiner Drohung zu bekräftigen, ohne jeglichen Nutzen daraus zu ziehen.49 Abgesehen von der Ungewissheit, wie ineffizient wird dies doch sein, wenn die Information enthüllt wird! Richtig ist allerdings, dass sie hier ihre Rechtfertigung vollkommen geändert haben. Dennoch kann ich an dieser Stelle keine eingehendere Analyse durchführen. Und die Ausnahme ist nicht verständlich. Gleichsam ineffizient scheint es, auszugraben, um wieder einzugraben, obgleich ein Dritter dazu bereit wäre, die Information zu kaufen. Wenn schon der ganze Aufwand, dann doch lieber die Chantage erlauben, damit die Information preisgegeben wird, und nicht verbieten, damit sie verborgen bleibt. c) Schließlich bietet Posner ein drittes effizienzorientiertes Argument.50 Er untersucht sieben verschiedene Chantage-Fälle. Da ich meinen Beitrag eingrenzen muss, werde ich mich mit den drei häufigsten auseinandersetzen, um die Gedanken des Autors zu verdeutlichen. aa) Zunächst spricht er über die Drohungen, eine Straftat bekannt zu geben, für die O bereits bestraft wurde. In diesem Fall „interferiert die Chantage mit den rechtlich vorgesehenen Strafen“,51 da Schmerz und soziale Kosten hinzukämen, die keinen Nutzen hätten. Wenn mehr Schmerz notwendig gewesen wäre, so hätte der Staat, der den Strafanspruch besitzt, dies bereits bei der ersten Strafverhängung getan.52 Außerdem gleiche nichts diese Kosten aus, da die Chantage in diesen Fällen keine Vorteile hervorbringen würde.53 46
Lindgren Colum. L. Rev. 84 (1984), 670, 695. Ginsburg/Shechtman U. Pa. L. Rev. 141 (1992–1993), 1849, 1863; im selben Sinne bei Coase Virginia Law Review (= Va. L. Rev.) 74 (1988), 655, 672 und 674; ebenfalls Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 4; Shavell U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1877, 1879 und 1894 ff.; dazu auch Gómez-Pomar/Ortiz de Urbina-Gimeno (Fn. 15), S. 60 ff. 48 Für eine eingehende Erläuterung dieser Autoren s. Ginsburg/Shechtman U. Pa. L. Rev. 141 (1992–1993), 1849, 1861 ff.; ähnlich Coase Va. L. Rev. 74 (1988), 655, 670. 49 Ginsburg/Shechtman, U. Pa. L. Rev. 141 (1992–1993), 1849, 1863 ff. 50 Obwohl er sich prinzipiell auch den erwähnten Autoren anschließt, Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 2 ff. 51 Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 5 f. 52 Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 5. 53 Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 5 f. 47
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In der Tat ist eine Privatstrafe von Personen, die bereits die öffentliche Strafe verbüßt haben, ziemlich üblich. Die Menschen neigen dazu, mit Vorbestraften keine Verträge abzuschließen und sich aus Freundschaftsbeziehungen zurückzuziehen. Müssten all diese Verhaltensweisen kriminalisiert werden? 54 bb) Im zweiten Fall wird damit gedroht, nicht aufgespürte Straftaten aufzudecken.55 Auch hier verursache die Chantage Missverhältnisse. Sei das optimale Gleichgewicht zwischen Bestrafungsintensität und Bestrafungsmöglichkeit gegeben, so entfalteten sich die Variablen in die entgegengesetzte Richtung. Erhöhe man die Strafe, so könne die Wahrscheinlichkeit verringert werden, dass die Straftat begangen werde (wegen des Abschreckungseffekts einer schärferen Strafe). Mildere man jedoch die Strafe, müsse ihre Wirkungskraft erhöht werden. Diese Chantagisten bewirkten gleichsam als private enforcers, dass sich die Variablen in dieselbe Richtung entfalten. Je höher die Strafe, desto mehr Anreiz hätten sie, potenzielle Kunden aufzuspüren und zu chantagieren, da jene mehr Angst davor hätten, dass ihre Straftat publik werde. Umso höher also die Strafe, desto aufwendiger die Mittel, die man brauche, damit sie aufgedeckt werden könne. So gesehen sei die Lage funktionsgestört.56 Außerdem werde die staatliche Strafverfolgung kostenintensiver, da die Chantage dazu führe, dass öffentliche Informationen schwerer zugänglich seien.57 Es sei richtig, behauptet er, dass angesichts der Ineffizienz der öffentlichen Bestrafung die Chantage dazu dienen könne, von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Denn zusätzlich zur Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung trete die Möglichkeit, Opfer einer Chantage zu werden.58 Angesichts der Pro- und Kontraargumente ist Posner der Ansicht, dass es keine guten Gründe gebe, die Chantage in diesen Fällen zu erlauben.59 cc) Schließlich beschäftigt er sich mit der Chantage auf der Grundlage unmoralischer Handlungen ohne rechtliche Bedeutung.60 Prinzipiell scheint es sich um eine ineffiziente Chantage zu handeln, da Informationen aufgespürt werden, die später wieder verheimlicht werden. Andererseits regt sie zur Einhaltung moralischer Normen an.61 Aber, so Posner, es gebe eine
54 55 56 57 58 59 60
Lindgren Colum. L. Rev. 84 (1984), 670, 698. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 7 f. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 8. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 8. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 9; Shavell U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1877, 1891. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 9; Shavell U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1877, 1891. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 12 ff.; Shavell U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1877,
1892. 61
Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 17.
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kostengünstigere und nützlichere Art, diese Einhaltung herbeizuführen: Klatsch und Tratsch (gossip). Dadurch wird die Information ohne Aufwand verbreitet.62 Posner gibt jedoch zu bedenken, dass nicht klar ist, ob diese Art Chantage effizient ist oder nicht, und angesichts der Ungewissheit „gebe es keine stichhaltigen Gründe, diese Art von Erpressung zu entkriminalisieren.“63 Abgesehen von einigen generellen Bemerkungen, die zu den effizienzorientierten Argumenten gemacht werden könnten, fällt in den letzten beiden Fällen auf, wie wenig Posner der Einsatz des Strafinstruments kümmert. Er schlägt Bestrafung sogar vor, wenn er nicht weiß, ob sie überhaupt notwendig ist.64 2. Die Ineffizienz effizienzorientierter Thesen Abgesehen von den Einwänden, die man gegenüber jeder Effizienzthese formulieren könnte, können alle einer gemeinsamen Kritik unterzogen werden: Vielleicht beweisen sie, dass eine Welt ohne Chantage in Bezug auf die Effizienz besser wäre. Aber nirgends wird gezeigt, dass das Strafrecht die geeignete Methode wäre, um dieses Ziel zu erreichen. In der Tat fällt auf, wie wenig die Kosten von strafrechtlichen Maßnahmen untersucht werden. Es ist von Verbot und Strafbarkeit die Rede, als ob es sich um dasselbe handeln würde, obwohl die Kriminalisierung, einschließlich bezogen auf ihre Effizienz, einer stärkeren Rechtfertigung bedarf.65 Bevor man sich dazu entschließt, Chantage mit Freiheitsstrafe zu bedrohen, sollten effizienzorientierte Theoretiker andere Vorgehensweisen erwägen, um solches Verhalten zu vermeiden. Ein Bußgeld ist z.B. nicht so aufwendig. Man könnte die Chantage auch erlauben und für jedes Geschäft eine entsprechende Steuer erheben. Auf der einen Seite würde dies die Chantage reizloser machen und auf der anderen Seite würde sie dadurch sozial produktiver werden. Und außerdem müsste man noch die positiven sozialen Folgen berücksichtigen, die eine Chantage-Erlaubnis verursachen würde. Es scheint eine gute Methode zu sein, sozial unerwünschte Verhalten unattraktiv zu machen.66 Dieser Punkt wird erst recht nicht ernst genommen, wie insbesondere die Position von Posner beweist. Aber selbst wenn man zugibt, dass Chantage ineffizient ist, dass eine Steuer nicht genügend Ausgleich darstellt und dass eine Geldstrafe niemanden vom Chantagieren abhalten würde, scheint die Duldung von Chantage die bessere Alternative als die Freiheits62 63 64 65 66
Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 18. Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 18. Im selben Sinne Bermans Kritiken, U. Chi. L. Rev. 65 (1998), 795, 809. Berman U. Chi. L. Rev. 65 (1998), 795, 810 ff. Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 561.
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strafe zu sein. Denn sonst wird der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.67 Posner ist wahrscheinlich der Einzige, der sich in diesem Fall darum bemüht, eine Strafe zu rechtfertigen. Er behauptet, das liege daran, dass Chantage vorbedacht und schwer aufzudecken sei.68 Mit Sicherheit hat die Besorgnis um den Vorbedacht nichts mit der Effizienz zu tun. Und die Schwierigkeiten der Chantageaufdeckung ändern nichts an dem soeben Gesagten: Wenn eine Chantageverfolgung zu teuer ist, dann wäre es wohl besser, sie zu tolerieren. Aber das scheint von Anfang an ausgeschlossen zu sein.
V. Schlussfolgerung: die Inkonsequenz konsequentialistischer Thesen Man fühlt sich zur Behauptung geneigt, dass die Konsequentialisten den Nagel nicht auf den Kopf treffen, wenn sie die Kriminalisierung von Chantage rechtfertigen wollen. Man geht davon aus, dass ein solches Verhalten eine Straftat ist, weil es an erster Stelle wesentlich unrichtig ist. Aber eine solche Kritik wäre an dieser Stelle unangebracht. Es ist sinnlos, konsequentialistische Argumente zu untersuchen, wenn man von vornhinein mit ihnen nicht einverstanden ist.69 Z.B. bedeutet der Einwand, dass allein die Ineffizienz der Chantage sie nicht so unmoralisch macht, dass das Strafrecht eingreifen muss, mit den Prämissen dieser Theorien nicht einverstanden zu sein. Solche Fragen sind für diese Theorien Teil einer „metaphysischen Sinnlosigkeit“, die sich ihren Interessen entzieht. Worum es ihnen eigentlich geht, ist der Vorteil einer bestimmten staatlichen Maßnahme.70 Die Untersuchung solcher Argumente war tatsächlich verführerisch, gerade weil sie die Unrichtigkeit der Chantage an sich nicht zu erklären brauchen, um ein Verbot zu rechtfertigen. Was bereits vorher von anderen Wissenschaftlern untersucht wurde, schien keine guten Ergebnisse eingebracht zu haben und die konsequentialistischen Theorien analysierten einen neuen, vielversprechenden Weg. Die Darstellungen und Kritiken, die bis zu diesem Zeitpunkt vorgenommen wurden, zeigen, dass konsequentialistische Argumente nicht funktionieren; zumindest nicht die, die wir hier untersucht haben. Was ich aber hervorheben möchte, ist, dass nicht einmal ihre Vertreter ernst nehmen, dass die Chantage an sich harmlos ist. Im Gegenteil, sie scheinen der Meinung zu sein, dass Chantage falsch ist, und zwar, weil sie O
67 Tatsächlich gibt es viele ineffiziente Handlungen, die wir dulden, vgl. Block/Kinsella/ Hoppe Business Ethics Quarterly 10 (2000), 593, 603 f. 68 Posner U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1, 19. 69 S. für eine ähnliche Untersuchung vom Standpunkt der Straftheorien Greco in: ders./ Martins (Eds.), Dereito penal como crítica da pena, Madrid 2012, u.a. S. 263, passim. 70 Smart (Fn. 12), S. 54.
(Un-)Angemessenheit einer Kriminalisierung der Chantage
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benachteiligt. Ginsburg und Shechtman reden von einem „change of heart“ bei T, wenn bei der Chantage zu Marktpreisen zuerst O statt den Medien ein Angebot unterbreitet würde und Posner behauptet, Chantage sei eine Art Erpressung, obwohl er diese Behauptung nie begründet. Man kann dies am besten erkennen, indem man sieht, dass keinem von ihnen eingefallen ist, einen solchen Handel zu bestrafen, wenn die Initiative von O ausginge.71 Und mehr noch, man müsste O direkt bestrafen.72 Das scheint eine ebenso angemessene Maßnahme zu sein, um die Chantage zu vermeiden, wie T zu bestrafen. Wenn es nicht darum geht, wer die Strafe verdient, sondern wann sie nützlich sein kann, warum nicht? Wenn die Strafe Verhalten abschrecken kann, könnte sie ebenso gut bei T wie bei O angemessen sein. Wenn sie diese Möglichkeit von Anfang an ausschließen, dann nicht mehr aus konsequentialistischen Gründen.
71 So DeLong U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1663, 1664 ff.; Block/Kinsella/Hoppe Business Ethics Quarterly 10 (2000), 593, 601 f., 603 f. 72 Ähnlich Altman U. Pa. L. Rev. 141 (1993), 1639, 1656. Epstein U. Chi. L. Rev. 50 (1983), 553, 555 f. denkt zwar daran, gibt aber keine befriedigende Begründung für diese Einschränkung an.
Das Umweltstrafrecht heute: ein bloßes Alibi-Instrument? Hero Schall I. Ausgangslage 1. Die Frontalkritik Die Frage, ob das Umweltstrafrecht sich als bloßes Alibi-Instrument erweise, wurde bereits zu einem Zeitpunkt gestellt, als die mit großen Erwartungen1 erfolgte Implementation der §§ 324 ff. StGB durch das 1. UKG von 1980 2 gerade einmal eine Bewährungsprobe von knapp zehn Jahren hinter sich hatte. Und sie wurde von einigen beachtlichen Stimmen nicht nur bejaht, sondern sogar mit der radikalen Forderung nach Abschaffung des Umweltstrafrechts verbunden.3 Ähnlich kritische Stimmen und Radikalforderungen sind in heutiger Zeit erneut zu hören: So kritisiert etwa Fischer jüngst das Umweltstrafrecht abschätzig als „geradezu lächerlich ineffektiv“ und als „Appendix verwaltungsrechtlicher Genehmigungslabyrinthe“;4 den Umweltstraftaten bliebe an materieller Substanz wenig mehr als ein bloßer Ordnungsverstoß.5 Für einen generellen Rückzug in das Ordnungswidrigkeitenrecht plädiert auch Ransiek, der Kriminalstrafe lediglich für schwere Fälle
1 Zu den Zielsetzungen des Gesetzgebers s. RegE BT-Drucks. 8 / 2382, S. 1, 9 f.; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 8 / 3633, S. 19, 21 f.; zu der auch in der Folgezeit konsentierten Zielsetzung s. nur Rogall in: Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 795, 800 ff.; Schall wistra 1992, 1; s. auch Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 324 Rn. 6a m.w.N. 2 Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 28.3.1980, BGBl. I S. 373. 3 So vor allem von Hassemer Neue Kriminalpolitik 1989, 46, 47; ders. ZRP 1992, 378 ff.; ders. NStZ 1989, 553, 554, 558; ebenso Albrecht KritV 1988, 182, 188 ff.; Backes in: 12. Strafverteidigertag (1988), 1989, S. 153, 161 ff.; Herzog Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 141 ff.; Hohmann Das Rechtsgut der Umweltdelikte – Grenzen des strafrechtlichen Umweltschutzes, 1991, S. 188 ff., 196 ff.; ders. GA 1992, 76, 84 ff.; Rüther in: 12. Strafverteidigertag (1988), 1989, S. 128 ff.; aus der nachfolgenden Zeit: Müller-Tuckfeld in: Albrecht (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 461, 481 ff.; Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, 1998, S. 17 ff., 215; ders. wistra 1999, 321 ff., 368 ff. 4 Fischer FS Frisch, 2013, S. 31, 41 Fn. 42. 5 Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, Vor § 324 Rn. 4.
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i.S.d. §§ 330, 330a StGB vorbehalten will.6 Auch Schmitz beklagt die Beschränkung auf bloße Bagatellkriminalität und hält deshalb jedenfalls „einen teilweisen Rückzug des Strafrechts (für) empfehlenswert.“ 7 Aus dem Kreis derer, die das Umweltstrafrecht grundsätzlich in Frage stellen,8 ist insbesondere Albrecht hervorzuheben, der dem Gesetzgeber vorwirft, mit der Kriminalisierung lediglich politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und damit den Bürger zu täuschen.9 2. Kernpunkte der Kritik Dass das Umweltstrafrecht schon so frühzeitig in Misskredit geraten ist und seine Existenzberechtigung auch in neuerer Zeit wieder bestritten wird, wird vor allem mit den Defiziten in der Praxis der Strafverfolgung10 und den normativen Einschränkungen des Umweltstrafrechts11 begründet. a) Registrierung und Verfolgung der Umweltdelikte Die schon in den 80er Jahren durchgeführten empirischen Untersuchungen ergaben, dass die Zahl der polizeilich bekanntgewordenen Umweltstraftaten zwar eklatant anstieg, die meisten von ihnen aber, nämlich ca. 75 %, bereits im Ermittlungsverfahren eingestellt wurden: der größte Teil gem. § 170 Abs. 2 StPO, die übrigen gem. § 153 und § 153a StPO.12 Dieser Trend 6 Nomos Kommentar StGB/Ransiek, 4. Aufl. 2013, Vor § 324 Rn. 36, 38; s. auch Rn. 6 („… auch im Unternehmensbereich … keine Bedeutung“). 7 Schmitz in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 512, 528 ff., 534; nicht ganz so eindeutig Münchener Kommentar StGB/Schmitz, 2. Aufl. 2014, Vor § 324 Rn. 16: „… vielleicht nicht das gesamte Umweltschutzstrafrecht, jedoch die mehrfach erfolgten Verschärfungen der strafrechtlichen Haftung“ müssten als „symbolische Gesetzgebung“ gedeutet werden. 8 Lübbe-Wolff in: Hansjürgens/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Symbolische Umweltpolitik, 2000, S. 25, 28 ff.; s. auch Kim Neue Tatbestandstypen im Umweltstrafrecht, 2009, S. 186 ff., 200 ff., der von einer „Akzeptanzkrise des Umweltstrafrechts“ spricht und eine weitgehende Entkriminalisierung fordert. 9 Albrecht Kriminologie, 4. Aufl. 2010, § 2 B I. 3, § 6 C IV. 10 Ausführlich dazu Schall FS Schwind, 2006, S. 395 ff., 397 ff.; s. ferner Dölling FS Kohlmann, 2003, S. 111 ff.; Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 47 Rn. 55 ff.; Hellmich Kooperation statt Konfrontation als Alternative bei der Bekämpfung der Umweltkriminalität, 2008, S. 9 ff.; Pfohl in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2011, § 54 Rn. 334 ff. 11 Zur grundlegenden Einschränkung durch die Verwaltungsakzessorietät s.u. unter I. 2. b); zu den weiteren Einschränkungen s. den Überblick bei Kim (Fn. 8), S. 162 ff.; Schmitz (Fn. 7), S. 512, 528 ff. 12 Siehe dazu insbesondere Meinberg ZStW 100 (1988), 112, 139 ff.; weitere Nachw. und Vergleichszahlen zum allgemeinen Strafrecht bei Schall NJW 1990, 1263 f. und Schirrmacher Neue Reaktionen auf umweltdeliktisches Verhalten, 1998, S. 23 ff., 28 ff., 345; s. auch Hellmich (Fn. 10), S. 20 ff.
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setzte sich auf der gerichtlichen Ebene fort und fand seine Bestätigung in der extrem geringen Zahl von Verurteilungen und einem bemerkenswert niedrigen Sanktionsniveau.13 Dieses Bild hat sich allerdings seit etwa Ende der 90er Jahre nicht unerheblich verändert:14 Zwar ist die Anklagewahrscheinlichkeit in Umweltstrafverfahren immer noch deutlich geringer als im allgemeinen Strafrecht, jedoch weist die vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Staatsanwaltschaftsstatistik, die seit 1998 auch die Erledigung in Umweltstrafsachen gesondert aufführt, eine deutliche Annäherung an die Einstellungsquote im allgemeinen Strafrecht aus.15 Die gleiche Entwicklung ist seit den 90er Jahren auch auf gerichtlicher Ebene zu beobachten, auf der zudem auch im Hinblick auf die Quote der Freisprüche und die Art und Höhe der verhängten Sanktionen eine insgesamt strengere Erledigungspraxis zu beobachten ist.16 Als Indiz für die abnehmende oder gar fehlende Bedeutung des Umweltstrafrechts wird auch die Tatsache gewertet,17 dass die Zahl der polizeilich registrierten Umweltdelikte nach dem starken Anstieg auf 41.381 im Jahr 1998 kontinuierlich zurückgegangen ist auf zuletzt 12.749 im Jahr 2012.18 b) Das Hemmnis der Verwaltungsakzessorietät Ein weiteres Argument, das für die Abschaffung oder zumindest für die Bedeutungslosigkeit des Umweltstrafrechts ins Feld geführt wird, ist die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung der umweltstrafrechtlichen Normen, also der Umstand, dass die Verletzung der Umweltgüter in den §§ 324 ff. StGB nur dann für strafbar erklärt wird, wenn sie auch gegen verwaltungs-
13 Detaillierte Übersicht bei Dölling FS Kohlmann, 2003, S. 111, 122 f., 131; Franzheim/ Pfohl Umweltstrafrecht, 2001, Rn. 30 ff.; s. ferner Hellmich (Fn. 10), S. 24 ff.; Schall NJW 1990, 1263 f.; Schirrmacher (Fn. 12), S. 32 f. 14 Ausführlich zu dieser Trendwende Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 398 ff.; s. auch Hellmich (Fn. 10), S. 20 ff., 24 ff. m.w.N.; NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 28 ff.; Pfohl NuR 2012, 307, 312 ff.; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 340 ff., 355; Saliger Umweltstrafrecht, 2012, Rn. 62, 534, 540. 15 Siehe Staatsanwaltschaftsstatistik, Fachserie 10. Reihe 2.6, Tab. 2.2.1 (Allgemeines Strafrecht) und Sonderauswertung zu Staatsanwaltschaften (Sachgebiet „Umweltstrafsachen“), hrsg. von Statistisches Bundesamt Wiesbaden, ab 1998 fortlaufend (differenzierte Auswertung bis 2003); weitere Angaben bei Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 408 ff. 16 Vgl. dazu die detaillierte Übersicht bei Dölling FS Kohlmann, 2003, S. 111, 122 f., 131, sowie die Zahlen bei Pfohl NuR 2012, 307, 312 f., 314; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 340 ff.; Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 411 f.; in der Bewertung zurückhaltender NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 29 f. 17 Vgl. etwa NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 27, 36; andeutungsweise auch bei Schmitz (Fn. 7), S. 512, 531 f. 18 Siehe zuletzt PKS 2012, hrsg. von Bundeskriminalamt, Wiesbaden 2013, S. 275 f.; zur Entwicklung ab 1985 s. Systematischer Kommentar StGB/Schall Vor § 324 Rn. 8 m.w.N. (April 2012).
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rechtliche Vorgaben verstößt. Da aber die Inanspruchnahme der Umweltgüter ganz überwiegend durch verwaltungsrechtliche Vorschriften oder verwaltungsbehördliche Genehmigungen erlaubt werde, also legal erfolge, könne sich das Umweltstrafrecht zwangsläufig nur gegen einen extrem geringen Bereich von Umweltverschmutzungen richten, die sich zudem als bloße Bagatellen erwiesen.19 Außerdem würden aufgrund der Verwaltungsakzessorietät Taten erfasst, deren Unrecht sich in der Missachtung der verwaltungsrechtlichen Kontrolle erschöpfe und die sich daher als bloßer Verwaltungsungehorsam darstellten.20 Die prinzipielle Abhängigkeit von den umweltpolitischen und den verwaltungsbehördlichen Entscheidungen schränke die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung so sehr ein, dass sich das Umweltstrafrecht letztlich als wirkungslos und damit als bloßes Symbolstrafrecht erweise.21
II. Das Umweltstrafrecht erneut auf dem „Prüfstand“ Die ersten Forderungen nach „ersatzloser Streichung der derzeitigen Umweltstrafbestimmungen“22 (oben I. 1.) wurden bereits zu Beginn der 90er Jahre überwiegend kritisch beurteilt und gerade auch von dem Jubilar Bernd Schünemann ebenso temperamentvoll wie überzeugend zurückgewiesen.23 Dass auch den neuerlichen Forderungen nach Abschaffung bzw. Rückzug des Umweltstrafrechts eine Absage zu erteilen ist, das Umweltstrafrecht sich vielmehr weiterhin als unverzichtbar erweist, sollen die nachfolgenden Aus-
19 Pointiert Fischer (Fn. 5), Vor § 324 Rn. 5a: „Dass etwa das Einleiten von 100.000 Tonnen tensidhaltiger Abwässer in einen Fluss ‚befugt‘ ist, wenn es der Konkurrenzfähigkeit eines Waschmittelproduzenten dient, das Ausleeren eines Eimers Seifenlauge aber kriminelles Unrecht, wenn es dem Autowaschen am Flussufer dient, kann nur der akzeptieren, dem es auf die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Ungehorsam letztlich nicht ankommt.“ Siehe auch Backes (Fn. 3), S. 164; Kloepfer/Vierhaus Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2002, Rn. 205; MK/Schmitz (Fn. 7), Vor § 324 Rn. 16; NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 36; Schmitz (Fn. 7), S. 512, 528 f., 532, 533 f. 20 Fischer (Fn. 5), Vor § 324 Rn. 4; vgl. auch Herzog (Fn. 3), S. 141 ff., 147 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 1), Vor § 324 Rn. 3. 21 Albrecht KritV 1988, 182, 188 ff.; Backes (Fn. 3), S. 153, 161 ff.; Hassemer Neue Kriminalpolitik 1989, 46 ff.; Herzog (Fn. 3), S. 141 ff.; 12. Strafverteidigertag, StV 1988, 275, 276. 22 Backes (Fn. 3), S. 153 ff., 164. 23 Schünemann FS Triffterer, 1996, S. 437 ff.; ders. GA 1995, 201, 203 ff.; erneute Bekräftigung in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 349, 358 ff.; weitere ablehnende Stellungnahmen aus dieser Zeit: Kindhäuser FS Helmrich, 1994, S. 967, 976 ff.; Kuhlen ZStW 105 (1993), 697, 701 ff.; Rengier in: L. Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 1991, S. 33, 40 f.; Rogall ZfU 1997, 35, 51 f.; Schall wistra 1992, 1, 2 f.; Stratenwerth ZStW 105 (1993), 679, 685 ff.
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führungen bekräftigen. Dabei kann allerdings in dem hier vorgegebenen Rahmen nicht auf das grundlegende Problem der verwaltungsakzessorischen Ausgestaltung des Umweltstrafrechts eingegangen werden, was sich aber damit rechtfertigen lässt, dass jedenfalls zu der Grundsatzfrage neuer Erkenntnisgewinn nicht zu erwarten ist. Denn dass die Verwaltungsakzessorietät zu ganz erheblichen Beschneidungen eines strafrechtlichen Schutzes der Umwelt führt, ist ebenso unbestritten wie die Erkenntnis, dass es zu der verwaltungsrechtlichen Anbindung der Umweltstrafnormen keine Alternative gibt.24 Die Forderung nach Abschaffung des Umweltstrafrechts bzw. der Vorwurf der bloßen Alibi-Funktion ist somit nicht schon wegen dieser zwangsläufigen Einschränkung berechtigt, sondern wäre es erst dann, wenn sich das Umweltstrafrecht wegen dieser Abhängigkeit als wirkungslos erwiesen hätte. Im Mittelpunkt steht daher die Frage nach der generalpräventiven Wirksamkeit des geltenden Umweltstrafrechts (unten II. 2.). 1. Die Umwelt in der strafrechtlichen Rechtsgüterordnung Dass die Umwelt in ihren Medien Wasser, Luft und Boden sowie in ihren Erscheinungsformen als Tier- und Pflanzenwelt zu den elementaren Lebensbedingungen der Menschheit gehört 25 und schon aus diesem Grund in den Kreis der auch vom Strafrecht zu schützenden Rechtsgüter aufzunehmen ist, dürfte heute jedenfalls im Grundsatz unbestritten sein.26 Keine Rolle spielt insoweit der Streit zwischen den verschiedenen Ansätzen zur Bestimmung des Rechtsguts der §§ 324 ff. StGB. Denn ebenso wie der Gesetzgeber bei der Implementation der Umweltstrafvorschriften in das StGB den Schutz der „elementaren Lebensgrundlagen wie Wasser, Luft und Boden als Bestandteile des menschlichen Lebensraums“ betont,27 aber gleichzeitig den einzelnen Umweltmedien ausdrücklich originären Geltungsanspruch zuerkannt hat, so wird auch die Bedeutung der Umwelt als natürliche Lebensgrundlage des
24 Siehe dazu nur die zahlr. Nachw. bei Fischer (Fn. 5), Vor § 324 Rn. 6; MK/Schmitz (Fn. 7), Vor § 324 Rn. 50; SK/Schall (Fn. 18), Vor § 324 Rn. 58. 25 Ausführlich und nachdrücklich dazu Schünemann FS Triffterer, 1996, S. 437 ff.; vgl. darüber hinaus nur Bloy ZStW 100 (1988), 485, 487 ff.; Kareklas Die Lehre vom Rechtsgut und das Umweltstrafrecht, 1990, S. 5 ff., 10 ff. m.w.N.; Kloepfer Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 1 Rn. 19 ff. m.w.N.; Kühl in: Nida-Rümelin/v.d. Pfordten (Hrsg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2. Aufl. 2002, S. 245 ff.; Rogall FS Universität Köln, 1988, S. 505, 510 ff.; Stratenwerth FS Lüderssen, 2002, S. 373, 377 f.; Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 127 ff., 339; kritisch insoweit NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 36. 26 Zur Legitimation des strafrechtlichen Schutzes auch kollektiver Rechtsgüter s. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 208 ff., 306 ff.; Müssig Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz, 1994, S. 149 ff., 209 ff. 27 BT-Drucks. 8 / 2382, S. 9 f.; 8 / 3633, S. 19.
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Menschen zwar nur von dem ökologisch-anthropozentrischen Ansatz in den Vordergrund gerückt, aber auch von den anderen Ansätzen zur Bestimmung der Rechtsgüter letztlich nicht geleugnet.28 Die Legitimation des strafrechtlichen Einsatzes zum Schutz der Umwelt ist somit jedenfalls unter dem Aspekt der Strafwürdigkeit eindeutig zu bejahen. Denn ungeachtet der unterschiedlichen Auffassungen über Inhalt und Funktion der Kategorien Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit29 ist ein Verhalten dann als strafwürdig zu qualifizieren, wenn es „über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist“ und seine Belegung mit dem „sozialethischen Unwerturteil“ der Strafe angemessen erscheint.30 2. Generalpräventive Wirkungslosigkeit des Umweltstrafrechts? Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Verletzung der Umweltgüter auch strafbedürftig ist, ob also Strafandrohung und Strafverhängung „geeignet und erforderlich“ sind, um die Umwelt „gerade mit den Mitteln des Strafrechts“ zu schützen und die Rechtsordnung zu bewähren.31 Da die Kriminalstrafe innerhalb des Instrumentariums des Gesetzgebers zur Unterdrückung sozialschädlichen Verhaltens die einschneidendste Maßnahme darstellt, darf sie nur als „ultima ratio“ eingesetzt werden, d.h. nur dann, „wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können“.32 Der so verstandene Grundsatz der Subsidiarität des Strafrechts33 wäre jedenfalls dann verletzt, wenn das Umweltstrafrecht – wie von den Kritikern behauptet – 34 generalpräventiv keine Wirkung gezeigt hätte und sich in einer
28 Siehe dazu nur SK/Schall (Fn. 18), Vor § 324 Rn. 12 ff., 18 ff. m.w.N.; im Ergebnis ebenso Schünemann FS Triffterer, 1996, S. 437, 452 f.; vgl. auch Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT 2, 10. Aufl. 2012, § 58 Rn. 19 ff. 29 Vgl. dazu nur Ivo Appel Verfassung und Strafe, 1998, S. 395 ff., 401 ff.; zahlr. Nachw. auch bei Lackner/Kühl (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 3, und Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn. 37 ff. 30 BVerfGE 120, 224, 240 (Inzest-Beschluss); s. auch BVerfGE 6, 389, 432 ff.; 39, 1, 45 ff.; s. auch Hillenkamp FS Kirchhoff, 2013, S. 1349, 1356 f. 31 BVerfGE 120, 224, 240; s. auch Otto Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 1 Rn. 48 ff. m.w.N.; zu den unterschiedlichen Auffassungen über den Begriffsinhalt der Strafbedürftigkeit s. Appel (Fn. 29), S. 395 ff., 401 ff. 32 BVerfGE 120, 224, 240. 33 Vgl. dazu nur Roxin (Fn. 29), § 2 Rn. 97 ff. m.w.N.; zur Analyse der drei zumeist bedeutungsgleich verwendeten Begriffe „ultima ratio, subsidiär, fragmentarisch“ s. Kühl FS Tiedemann, 2008, S. 29, 41 ff.; Prittwitz in: Albrecht (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 387 ff. 34 Siehe oben unter I.
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bloßen Alibi-Funktion erschöpfte. Dieser Vorwurf steht im Mittelpunkt der neueren Kritik und soll daher auch hier einer genaueren Überprüfung unterzogen werden. Zweifel an der Effektivität des Umweltstrafrechts – und damit an der notwendigen Subsidiarität des Strafrechts – drängen sich insofern auf, als die Strafverfolgung der Umweltdelikte weit hinter den mit der Einführung sowohl des 1. UKG von 1980 als auch des 2. UKG von 1994 verfolgten Zielen35 zurückgeblieben ist.36 Gleichwohl rechtfertigen diese Defizite nicht den Vorwurf der gänzlichen Wirkungslosigkeit, der bloßen Alibi-Funktion des Umweltstrafrechts. Vielmehr zeigt die Rechtswirklichkeit, dass das Umweltstrafrecht trotz der Erledigungsdefizite durchaus im Sinne der positiven Generalprävention37 in Erscheinung getreten ist. Dieser Befund lässt sich teils an konkreten Fakten, teils an deutlichen Indizien festmachen: a) Anstieg und strengere Erledigungspraxis Sichtbar wird die generalpräventive Wirkung zunächst einmal an dem nach Aufnahme der Umweltstrafnormen in das StGB steilen und bis 1998 kontinuierlichen Anstieg der umweltstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren sowie an der seit etwa Mitte der 90er Jahre zu beobachtenden deutlichen Annäherung der staatsanwaltlichen und gerichtlichen Einstellungsquoten an die Erledigungspraxis in allgemeinen Strafsachen.38 b) Teilerfolg im Unternehmensbereich Der von den Skeptikern immer wieder zu hörende Einwand, dass das Umweltstrafrecht fast ausschließlich bei Bagatellen – etwa der Nichtbeseitigung von Hundehaufen oder dem Verbrennen von Gartenabfällen – zur Anwendung käme,39 geht an der Rechtswirklichkeit vorbei und daher unter dem Aspekt der Notwendigkeit des Umweltstrafrechts ins Leere. Denn wie die bisher vorliegenden Untersuchungen erkennen lassen, betrifft ein Großteil der Umweltstrafverfahren Tatverdächtige aus gewerblichen und indus-
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Siehe oben Fn. 1. Vgl. dazu nur Hellmich (Fn. 10), S. 17 ff.; Schall NJW 1990, 1263 ff.; Schirrmacher (Fn. 12), S. 23 ff., 343 ff. – jeweils m.w.N. über empirische Arbeiten. 37 Heute vielfach als Integrationsprävention bezeichnet und verstanden als Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung, mit dem Ziel der Veranlassung zu insoweit legalem Verhalten. Vgl. dazu nur Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 68 f.; Roxin (Fn. 29), § 3 Rn. 26 ff.; umfassend Schünemann/v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998. 38 Siehe dazu bereits oben unter I. 2. a). 39 So insbesondere NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 36; Schmitz (Fn. 7), S. 512, 532; s. auch schon oben Fn. 19. 36
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triellen Unternehmen.40 Dass derartige Verfahren eher selten zu einer gerichtlichen Verurteilung führen,41 vielmehr häufig gem. § 153a StPO eingestellt werden, mindert zumindest dann nicht die Bedeutung des Umweltstrafrechts, wenn dieser Verfahrensabschluss – wie in der Praxis häufig – nur dadurch zustande kommt, dass die Unternehmensverantwortlichen bereits vorher aufgrund der immer mehr zunehmenden Eigenkontrolle42 bzw. der Einrichtung eines Umweltmanagementsystems 43 oder im Wege der Auflagenerfüllung umweltschonende Maßnahmen ergreifen (z.B. Einbau einer Filteranlage, Einrichtung eines Rückhaltebeckens u.ä.), um nachhaltigere Eingriffe des Strafrechts, insbesondere eine reputationsschädigende Hauptverhandlung zu vermeiden.44 40 Nach der empirischen Auswertung von Umweltstrafverfahren durch Meinberg waren ca. 70 % der von einem Ermittlungsverfahren Betroffenen Gesellschafter, Vorstandsvorsitzende oder leitende Angestellte (ZStW 100 (1988), 112, 127); grundlegend dazu Busch Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997, S. 71 ff., 106 ff. mit detaillierter Auswertung der empirischen Arbeiten; Hoch Die Rechtswirklichkeit des Umweltstrafrechts aus der Sicht von Umweltverwaltung und Strafverfolgung, 1994, S. 204 ff.; s. ferner Hellmich (Fn. 10), S. 14 ff. m.w.N.; Saliger (Fn. 14), Rn. 62; Schirrmacher (Fn. 12), S. 118 ff. m.w.N.; Taschke NZWiSt 2012, 9, 11; Umweltbundesamt (Hrsg.), Umweltdelikte 2004 – Eine Auswertung der Statistiken, Texte 19/06 des Umweltbundesamtes, 2006, S. 17 ff.; a.A. (aber ohne Belege) Schmitz (Fn. 7), S. 512, 528, 532; Wohlers (Fn. 25), S. 44. – Bestätigt werden diese Untersuchungen durch die in Fn. 41 genannten Entscheidungen, die durchweg unternehmensbezogene Umweltstraftaten zum Gegenstand haben. 41 Dass es sie gibt und sie z.T. auch zu nachdrücklichen Strafen führen, zeigen die viel diskutierten Entscheidungen des BGH: BGHSt 37, 21 (betr. Verseuchung des Erdreichs durch Verantwortliche einer Erdölraffinerie); BGHSt 38, 325 (Fall des „hessischen Bürgermeisters“); BGHSt 39, 381 (Fall des „effizienten Abfallmanagers“); BGHSt 40, 79 und 84 („Falisan-Fall“); BGHSt 43, 219 (betr. Geschäftsführer einer Firma zur Aufbereitung von Schredderrückständen); s. auch OLG Frankfurt NJW 1987, 2753 (betr. Gewässerschutzbeauftragte und Dezernenten für Gewässeraufsicht); OLG Karlsruhe ZfW 1996, 406 (betr. Leitenden Angestellten einer Chemiefabrik); LG Kleve NStZ 1981, 266 (betr. Produktionsleiter, Schichtführer und Schichtarbeiter); vgl. i.Ü. die Zusammenstellung der Urteile bei Sack Umweltschutz-Strafrecht, § 324 Rn. 254 (Juli 2009), § 326 Rn. 346 (Januar 2012). 42 Zur Zunahme der (teils freiwilligen, teils zwingend vorgeschriebenen) Selbstüberwachungsmaßnahmen s. nur Pfohl NuR 2012, 307, 314; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 335; Rogall ZfU 1997, 35, 52 f.; Schall FS Samson, 2010, S. 483 ff.; SK/Schall (Fn. 18), Vor § 324 Rn. 160 ff.; ausführlich zu unternehmensinternen Ermittlungen Salvenmoser in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, XV Rn. 1 ff. 43 Heute zumeist in der Form des sog. Öko-Audits praktiziert; grundlegend dazu Hölzen Auswirkungen des Öko-Audits auf das Umweltstrafrecht, 2011; s. auch Schall GS Schindhelm, 2009, S. 469 ff.; SK/Schall (Fn. 18), Vor § 324 Rn. 157 ff. m.w.N. 44 Siehe dazu Hölzen (Fn. 43), S. 16 m.w.N., 139 f., 189 f., 199 f., 204; Hüper FS Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, 1992, S. 371, 385; Leipziger Kommentar StGB/Steindorf, 11. Aufl. 1997, Vor § 324 Rn. 8f; Pfohl NuR 2012, 307, 314 f.; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 336; Rogall ZfU 1997, 35, 52 f.; Schall GS Schindhelm, 2009, S. 469, 479 ff. m.w.N.; Taschke NZWiSt 2012, 9, 11; Tiedemann/Kindhäuser NStZ 1988, 337, 339; ausführlich zu den Gründen und Motiven für eine Einstellung nach § 153a StPO Schirrmacher (Fn. 12), S. 95 ff. m.w.N.
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Diese Fälle offenbaren sogar eine doppelte Präventivwirkung des Umweltstrafrechts: Die Bereitschaft zu umweltschützenden Vorsorge- oder Wiedergutmachungsmaßnahmen erwächst vornehmlich aus der Sorge um das (allein schon wegen der Existenz der §§ 324 ff. StGB drohende) Strafverfahren und den damit verbundenen Imageschaden.45 Die Tatsache aber, dass die Unternehmen im Fall einer Umweltverletzung so sehr bemüht sind, möglichst schnell aus der publizistischen „Schusslinie“ herauszukommen (oder gar nicht erst in eine solche hineinzugeraten), wird man wiederum nur mit einem durch die Strafandrohung der §§ 324 ff. StGB jedenfalls gestärkten Umweltbewusstsein der Bevölkerung erklären können.46 Und schließlich ist auch der Sanktionierung einer Umweltverletzung in Form des § 153a StPO als solcher eine (spezial- und general-)präventive Wirkung dann nicht abzusprechen, wenn die Auflagen einen umweltspezifischen Bezug aufweisen.47 c) Keine Beschränkung auf Bagatellen Dass das Umweltstrafrecht keineswegs – wie die Skeptiker glauben machen wollen – völlig wirkungslos geblieben ist und sich im Wesentlichen nur auf Bagatellen beschränkt hat, zeigen sowohl publizierte höchstrichterliche Entscheidungen48 als auch Presseberichte über spektakuläre bzw. gravierende Fälle, in denen z.B. die illegale Entsorgung riesiger Giftmüllmengen zu nachhaltigen Schäden für Boden und Gewässer, zum Teil auch für die Gesundheit der jeweiligen Anwohner führte.49 In diesen Fällen wurden denn 45 Möglicherweise auch schon aus dem durch die Kriminalisierung der Umweltverstöße gestärkten Umweltbewusstsein der Unternehmensverantwortlichen; s. Pfohl NuR 2012, 307, 314, 315; Rogall ZfU 1997, 35, 52 f.; Tiedemann/Kindhäuser NStZ 1988, 337, 339; vorsichtig zustimmend auch Schmitz (Fn. 7), S. 533. 46 Zum Zusammenhang zwischen Umweltbewusstsein, Presseberichterstattung und Anzeigemotivation s. Rüther Ursachen für den Anstieg polizeilich festgestellter Umweltschutzdelikte, 1986, S. 99 ff.; Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 395 f., 403 ff. m.w.N. 47 Zu den Möglichkeiten und Voraussetzungen umweltspezifischer Auflagen im Rahmen des § 153a StPO grundlegend Schirrmacher (Fn. 12), besonders S. 155 ff., 173 ff., 207 ff.; vgl. dazu auch BGHSt 38, 325, 329 f. (Auflage zum Einbau einer Kleinkläranlage). 48 Siehe dazu Fn. 41. 49 Um nur einige zu nennen: „Ansbacher Giftmüllprozess“ wegen der Entsorgung von 2.500 Tonnen giftiger Industrieabfälle auf landwirtschaftlichen Flächen (taz vom 21.7.2004); „Frankfurter Giftmüllprozess“ betr. illegale Giftmüllentsorgung in riesigem Ausmaß (u.a. 18.000 Tonnen in einem bayrischen Landschaftsschutzgebiet und Giftmüllverbringung mit 1.840 Tanklastzügen nach Brandenburg; s. Neue Osnabrücker Zeitung vom 26.11.1997; Die Zeit vom 1.11.1996); sog. Kresol-Fall betr. Ablassen von 5.000 Liter der hochgiftigen Chemikalie Kresol auf einem Autobahnrastplatz, was nicht nur zur Verseuchung des Bodens und des Grundwassers führte, sondern auch zu Gesundheitsschäden der Anwohner (s. Lübecker Nachrichten und FAZ vom 11.10.1989); zu weiteren besonders schweren Fällen illegaler Abfallentsorgung, die regelmäßig einen Sanierungsaufwand von mehreren Mio. Euro nach sich ziehen, s. Wirtschaftsstrafrechtliche Nachrichten – Juni und September 1999; zum aktuellen Prozess gegen den Geschäftsführer und leitende Mitarbeiter des Re-
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auch zum Teil empfindliche Sanktionen verhängt, z.B. mehrjährige vollstreckbare Freiheitsstrafen, nicht selten verbunden mit einem Berufsverbot oder einer Verfallsanordnung, so dass jedenfalls hier durchaus der Eindruck vermittelt werden konnte, dass das Strafrecht mit schneidigem Schwert gegen die Umweltkriminalität zu Felde zieht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Hinweis auf diese und zahlreiche andere Fälle, in denen es zu einer strafrechtlichen Verfolgung von Umweltdelikten gekommen ist,50 soll keineswegs den Eindruck eines ausreichend effizienten Einsatzes des Umweltstrafrechts erwecken, wohl aber den Vorwurf eines weitgehend oder gar gänzlich wirkungslosen Umweltstrafrechts entkräften. Dies gilt der Sache nach auch für die Beurteilung der weiteren Sanktionsdefizite des Umweltstrafrechts: Sie sind durchaus vorhanden, müssen aber wegen der veränderten Erledigungspraxis seit Mitte der 90er Jahre 51 und gerade auch im Vergleich mit der Sanktionierung anderer Straftaten sehr viel differenzierter beurteilt werden als bisher.52 d) Hintergrund der „Trendwende“ Wasser auf die Mühlen der Skeptiker könnte freilich der seit Ende der 90er Jahre stetige Rückgang der polizeilich registrierten Umweltstraftaten sein.53 Gleichwohl wird man auch diese Entwicklung durchaus differenzierter interpretieren müssen:54 Der Hauptgrund für die Trendwende dürfte in den zum Teil massiven Reduzierungen der verwaltungsbehördlichen und der polizeilichen Kontrolltätigkeit liegen.55 Hinzu kommt ein – aufgrund der Überlagerung der Umweltbelange durch die Themen Wirtschaft und
cyclingunternehmens Envio vor dem LG Dortmund wegen illegaler Giftmüllentsorgung (die auch zur Vergiftung von Mitarbeitern und Anwohnern mit krebserregendem PCB geführt haben soll) s. Spiegel Online vom 9.5.2012 (http://www.spiegel.de/wissenschaft/ mensch/pcb-skandal-in-dortmund-prozess-gegen-envio-mitarbeiter-beginnt-a-832129.html) [letzter Abruf: 6.3.2014]. 50 Siehe dazu die Auflistung bei Sack (Fn. 41), § 324 Rn. 254 (Juli 2009), § 326 Rn. 346 (Januar 2012). 51 Siehe oben unter I. 2. a), II. 2. a). 52 Näher dazu Pfohl NuR 2012, 307, 312 ff.; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 340 ff.; Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 410 ff.; s. auch Franzheim/Pfohl (Fn. 13), Rn. 35 f.; Rogall ZfU 1997, 35, 51; Sack MDR 1990, 286. Zu der auch in anderen Deliktsbereichen existenten, die Notwendigkeit strafrechtlichen Schutzes aber nicht in Zweifel ziehenden Bagatellkriminalität überzeugend Schünemann in: Hefendehl u.a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 133, 153. 53 Siehe oben unter I. 2. a). 54 Ausführlich dazu Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 400 ff.; s. auch Pfohl NuR 2012, 307, 313 f.; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 335 ff.; Saliger bei Gartz, ZUR 2013, 316. 55 Eindrucksvoll dazu der Erfahrungsbericht aus Baden-Württemberg von Pfohl NuR 2012, 307, 313 f.; wie hier auch Saliger (Fn. 14), Rn. 62, 530.
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Arbeitslosigkeit – restriktiveres Anzeigeverhalten der Bevölkerung56 sowie die mit dem Paradigmenwechsel im Abfallrecht 57 einhergehende Erweiterung der Möglichkeiten preiswerter legaler Abfallentsorgung, die den früher empfundenen Anreiz zu illegaler Abfallentsorgung deutlich reduzieren, wenn nicht gar gänzlich entfallen lassen. Da die Umweltkriminalität schon seit langem vom Delikt des unerlaubten Umgangs mit (gefährlichen) Abfällen gem. § 326 StGB dominiert wird und beide Entwicklungskurven seit Anfang der 90er Jahre nahezu parallel verlaufen,58 liegt es nahe, die Ursache für die Trendwende gerade auch in diesen spezifischen Bedingungen der Abfallkriminalität zu sehen.59
III. Fazit Würdigt man die hier aufgezeigten Entwicklungsstrukturen und Auswirkungen des Umweltstrafrechts in ihrer Gesamtheit, so erweist sich seine Abqualifizierung als bloßes Alibi-Instrument ebenso als unbegründet wie der Vorwurf an den Gesetzgeber, er habe lediglich „legislative und exekutive Promptheit und Handlungsfähigkeit“ demonstrieren wollen, indem er durch ein voraussehbar ineffektives Gesetz den Eindruck erweckt habe, dass zur Bekämpfung unerwünschter Zustände etwas geschähe.60 Man wird vielmehr dem Umweltstrafrecht eine generalpräventive Wirkung – jedenfalls grundsätzlich –61 nicht absprechen und es z.B. zumindest als Teilerfolg 62 verbuchen können, wenn die Angst vor einem Umweltstrafverfahren Vorstände und Leitungspersonen in Industrieunternehmen dazu veranlasst hat, vorsorgende
56 Ebenso MK/Schmitz (Fn. 7), Vor § 324 Rn. 16; Pfohl NuR 2012, 307, 313 f.; Saliger (Fn. 14), Rn. 62, 530. 57 Vgl. dazu nur Kloepfer (Fn. 25), § 20 Rn. 9 ff., 150. 58 Siehe Schall FS Schwind, 2006, S. 395, 399 f.; s. auch die Übersicht bei Schwind Kriminologie, 22. Aufl. 2013, S. 487. 59 Zustimmend Pfohl NuR 2012, 307, 313 f., der zu Recht auch auf die unterschiedliche, zum Teil restriktiv angewandte Eignungsklausel des § 326 Abs. 1 Nr. 4 StGB gerade bei den in der Praxis häufigen Fällen illegal abgestellter Autowracks hinweist. 60 Hassemer Neue Kriminalpolitik 1989, 46, 47; ebenso Albrecht (Fn. 9), § 2 B I. 3., § 6 C IV. 61 Dass insofern noch erhebliche Defizite zu verzeichnen sind, ist unbestritten. Daher bleibt auch die nähere Ausgestaltung des Umweltstrafrechts „für die Wissenschaft eine Daueraufgabe“ (Maurach/Schroeder/Maiwald [Fn. 28], § 58 Rn. 6). 62 Dies konzediert auch MK/Schmitz (Fn. 7), Vor § 324 Rn. 16; ebenso Schmitz (Fn. 7), S. 512, 533; einen generalpräventiven Effekt des Umweltstrafrechts insgesamt bestätigen auch Franzheim/Pfohl (Fn. 13), Rn. 30 ff.; Pfohl NuR 2012, 307, 313 ff.; ders. (Fn. 10), § 54 Rn. 353 ff.; Rogall (Fn. 1), S. 795, 804 ff., 813 ff.; Taschke NZWiSt 2012, 9, 11; weitere Nachw. bei Schall FS Schwind, 2006, S. 395 ff.
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Umweltschutzmaßnahmen zu ergreifen.63 Fundamentale Forderungen nach Abschaffung des Umweltstrafrechts oder nach Rückzug ins Ordnungswidrigkeitenrecht sind daher nicht nur durch die europarechtlichen Vorgaben zum Schutz der Umwelt durch das Strafrecht 64 überholt, sondern auch in der Sache eindeutig verfehlt. Die mit der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte immer dringlicher gewordene Aufgabe, „der irreversiblen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen“65 entgegenzuwirken, kann ohne das Strafrecht nicht bewältigt werden. Um es in der kraftvollen Sprache des Jubilars auszudrücken: „Heute, im Zeitalter des unermeßlichen Plunders, zu dessen Produktion der ständige Raubbau an den natürlichen Ressourcen betrieben wird, muß eine Zuordnung der Vermögensdelikte zum strafrechtlichen Kernbereich bei gleichzeitiger Verweisung der meisten Umweltdelikte in den Ordnungswidrigkeitenbereich, wie es die Frankfurter Schule propagiert, geradezu als atavistisch erscheinen.“66 – Meinen Glückwunsch zum 70. Geburtstag des langjährigen Freundes und Kollegen Bernd Schünemann verbinde ich, in der Erinnerung an viele anregende und stimmungsvolle Treffen, mit der Hoffnung, dass er diese kraftvolle Stimme auch weiterhin zu den wichtigen strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Themen der Zeit erheben wird.
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Siehe zu diesem Befund die Nachw. in Fn. 44. Siehe „Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt“, ABl. EU 2008 Nr. L 328/28; näher zum Einfluss des Europarechts auf das nationale Umweltstrafrecht MK/Schmitz (Fn. 7), Vor § 324 Rn. 8 ff.; NK/Ransiek (Fn. 6), Vor § 324 Rn. 57 ff.; SK/Schall (Fn. 18), Vor § 324 Rn. 5 ff., 186 ff. – jeweils m.w.N. 65 Stratenwerth FS Lüderssen, 2002, S. 373, 378. 66 Schünemann GA 1995, 201, 207. 64
Schuldausgleich im Zweckstrafrecht? – Befunde und Überlegungen zu Schuld, Vergeltung und Generalprävention Franz Streng I. Einleitung In mehreren Publikationen hat Schünemann dazu aufgefordert, den Gedanken der Vergeltung aus dem Strafrecht zu verbannen. Er steht damit in der Tradition der Strafrechtsreformbewegung der 1960er Jahre. Damals hatte etwa Klug den „Abschied von Kant und Hegel“ gefordert.1 Im Jahre 1984 griff Schünemann die schnell abgeebbte Kritik an der herkömmlichen Straftheorie auf und begründet dies damit, dass „die Idee einer ihren Zweck in sich tragenden Schuldvergeltung durch Strafe zur Herstellung der Gerechtigkeit nicht nur für sich selbst hochproblematisch ist, sondern auch auf ein metaphysisches Programm hinausläuft, das den Staat in einer pluralistischen, weltanschaulich neutralen Demokratie nichts angeht und jenseits der zulässigen Staatsaufgaben liegt“.2 Im Jahre 1989 betonte er: „aus einem Vorwurf kann man auch unter pragmatischen Aspekten nur die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung oder einer Besserung des Täters ableiten, nicht aber die rein destruktive Vergeltung, die ihre Herkunft aus der Rache auch unter dem Aspekt der Sühne nicht verleugnen kann“. In der Folge der also abzulehnenden Tatvergeltung bleibe für Schuld „die Legitimation einer aus anderen, nämlich präventiven Gründen erforderlichen Strafe“.3 Damit befindet sich Schünemann – jedenfalls im Grundsatz – in Übereinstimmung mit dem Ansatz Roxins, der der Schulddimension lediglich dann Bedeutung zumisst, wenn Strafe aus präventiven Aspekten überhaupt geboten ist.4 1
Klug in: Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, S. 36 ff.; eine späte, dafür umso schärfere Kritik an Klugs Ausführungen bei Hruschka ZStW 122 (2010), 493 ff. 2 Schünemann in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153, 158. 3 Schünemann in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 147, 156. – Weitergehend Hörnle Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013, S. 10, die einen Verzicht sogar auf den Schuldvorwurf befürwortet; noch weitergehend G. Merkel FS Herzberg, 2008, S. 3, 25 ff. 4 Vgl. Roxin FS Henkel, 1974, S. 171, 182 ff.; ders. Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 3; dazu Schünemann (Fn. 2), S. 168 ff.; Hörnle FS C. Roxin, 2011, S. 3 ff.
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Die für eine Diskussion dieser Positionen sich auftuenden Fragestellungen führen nur zu leicht in Vertiefungen und Weiterungen, die den Rahmen eines Festschriftbeitrages sprengen müssten. Angesichts der von daher angesagte Beschränkung soll im Folgenden nur auf zwei Aspekte näher eingegangen werden: zum einen auf die Frage, ob man Tatvergeltung tatsächlich mit guten Gründen als Rache-Relikt delegitimieren darf; zum anderen auf die Frage, wie das Verhältnis von Schuld und Prävention bzw. von „Vorwerfbarkeit“ und „Zumutbarkeit“5 in einer straftheoretisch angemessenen Form ausformuliert werden kann.
II. Dimensionen der Tatvergeltung 1. Der Ausgangspunkt: Schuld und Vergeltung Der früher dominierenden „absoluten Straftheorie“ zufolge galt es als die Aufgabe des Strafrechts, gerechten Tatausgleich herzustellen.6 Kennzeichnend für die klassische Vergeltungs- oder Gerechtigkeitstheorie ist, dass weitergehende Zwecke, welche auf eine Instrumentalisierung des Straftäters zur Verbrechensverhütung hinauslaufen könnten, nicht verfolgt werden. Diese Lehre ist vor allem mit dem Namen Kant und auch Hegel verbunden.7 Allerdings wird dabei oft unzulässig verkürzt, wenn diesen Vertretern einer am Schuldausgleich8 orientierten Strafmaßbestimmung ohne Weiteres unterstellt wird, sie würden eine präventive Grundlage des Strafrechts zur Gänze leugnen.9 In der neueren deutschen Strafrechtswissenschaft wurde die Gerechtigkeitstheorie als „relative Vergeltungstheorie“ zumeist mit der durchwegs nicht näher begründeten Vorstellung verknüpft, dass die gerechte Strafe auch die am 5 Vgl. Schünemann FS Rudolf Schmitt, 1992, S. 117, 133; ders. in: Lahti/Nuotio (Hrsg.), Strafrechtstheorie im Umbruch. Finnische und vergleichende Perspektiven, 1992, S. 157, 170. 6 Vgl. noch Arthur Kaufmann Das Schuldprinzip, 1961, S. 201 ff., 208 ff.; dazu Roxin FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 519 ff. 7 Vgl. etwa Eb. Schmidt Zuchthäuser und Gefängnisse, 1960, S. 16 ff.; Naucke in: Blühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, S. 27 ff.; Seelmann JuS 1979, 687 ff.; Schild FS E. A. Wolff, 1998, S. 429 ff.; Kahlo FS Hassemer, 2010, S. 383, 408 ff., 417 f., 420 f. 8 Der im Weiteren genutzte Begriff des Schuldausgleichs ist im Sinne „gerechten Tatausgleichs“, also einer schuldangemessenen Sanktion, zu verstehen. Der alternativ in Betracht zu ziehende Begriff des Tatausgleichs könnte hingegen auch einem tatproportionalen Ansatz (unten Fn. 37) zugeordnet werden. 9 Die strafrechtliche Zweckverfolgung im Sinne von Generalprävention und die Strafmaßbestimmung im Kant’schen Strafverständnis nachdrücklich unterscheidend Byrd/ Hruschka Kant’s Doctrine of Right, Cambridge/UK 2010, S. 261 ff.; Hruschka ZStW 122 (2010), 493, 499 ff.
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besten das Rechtsgefühl der Allgemeinheit stärkende Strafe sei.10 Mehr oder minder betont wurde und wird die Legitimation schuldausgleichender Strafen so mit generalpräventiven Hilfserwägungen abgestützt.11 Solche neueren Varianten der klassischen Lehre betonen weiterhin, ganz in der Tradition von Hegels Idee einer „Wiederherstellung des Rechts“ durch Strafe,12 als zentrale Funktion von Strafe, „den Rechtsbruch symbolisch aufzuheben“.13 Zentraler Bezugspunkt der Vergeltungs- oder Gerechtigkeitstheorie ist die Schuld des Täters: Auf Willensfreiheitspostulaten aufbauend, verstehen die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur Schuld als höchstpersönlichen sittlichen Tadel wegen freier, individuell vermeidbarer Fehlsteuerung des Handelns.14 Angesichts der Vorstellung, der Täter habe die gesellschaftlichen Reaktionen sehenden Auges und freiverantwortlich provoziert, ist der Weg zu einer relativ hoch ausfallenden Strafe gebahnt. Gefühle wie Ärger, Wut oder eine Identifizierung mit dem Leiden eines Opfers können bei Fehlen systemimmanenter Ansätze einer Hinterfragung solcher Empfindungen in die richterliche Entscheidung Eingang finden.15 Von daher erscheint die von Schünemann behauptete Herkunft der Vergeltung „aus der Rache“ alles andere als fernliegend. Wohl überwiegend bezieht man sich – im Vergleich zu jenem Freiheitspostulat zurückhaltender – auf die Annahme nur eines persönlichen AndersHandeln-Könnens im Sinne einer Entscheidungsfreiheit des gesunden Menschen; auch diese soll einen individuellen Tadel gegen den Täter legitimieren. Wegen der allseits eingeräumten Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit, individuelle Freiheit festzustellen, begnügt die herrschende Lehre sich für die Freiheitszuschreibung mit einem „Analogieschluss“ im Sinne des Vergleichens mit einem gedachten Durchschnittsmenschen: Wenn ein in die Tätersituation versetzter „maßgerechter Mensch“ die Tat hätte vermeiden können, 10 Vgl. etwa Gallas Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 4, 14; Armin Kaufmann Die Aufgabe des Strafrechts, 1983, S. 6 ff.; Arthur Kaufmann Jura 1986, 225, 230; Köhler Der Begriff der Strafe, 1986, S. 64 f.; Gössel FS Pfeiffer, 1988, S. 3, 22 ff.; T. Walter ZIS 2011, 636 ff. 11 Dazu Haffke FS C. Roxin, 2001, S. 955, 972 ff.; Stratenwerth Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, S. 12 ff.; Roxin FS Volk, 2009, S. 601, 613; Naucke FS Hassemer, 2010, S. 559, 561 ff. 12 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, hrsg. von J. Hoffmeister, 4. Aufl. 1955, § 99 und auch §§ 101 ff.; dazu Streng ZStW 92 (1980), 637, 640 f. (mit Fn. 13); Klesczewski Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1991, S. 232 ff.; Pawlik FS Jakobs, 2007, S. 469, 483 ff. 13 Stratenwerth Was leistet die Lehre von den Strafzwecken?, 1995, S. 19 f.; ähnl. Frisch in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 125, 140, 143; Jakobs Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 107 f. 14 BGHSt 2, 194, 200 f.; BVerfGE 123, 267, 413; ferner Rudolphi FS Henkel, 1974, S. 199, 200; Arthur Kaufmann Jura 1986, 225, 226 f.; Landau NStZ 2011, 537, 538; Jäger GA 2013, 3, 6 ff. 15 Vgl. Streng ZStW 92 (1980), 637, 661 ff.; ferner Hörnle (Fn. 3), S. 65.
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dann soll ein Zurückbleiben hinter diesem „Maß an Rechtsgesinnung und Willenskraft“ dem Täter als schuldhaft zugerechnet werden.16 Damit verliert man aber jede Legitimation für einen auf Freiheitsmissbrauch gestützten, individualethischen Tadel gegen diese Täter. Denn dass gerade dieser Mensch in der Tatsituation hätte anders handeln können, wird nicht einmal behauptet.17 Legitimiert werden kann derart allein der Ausspruch eines sozialen Tadels im Sinne einer Kennzeichnung normwidrigen und daher strafbedürftigen Verhaltens. Auch Schünemanns Konzept einer in elementaren Sprachstrukturen verankerten und von daher realen Willensfreiheit18 ist diesem Einwand ausgesetzt. Eine Selbstwahrnehmung als frei begünstigt es zwar, (ggf. auch die eigene) Bestrafung als gerecht und normbestätigend wahrzunehmen, ändert aber nichts daran, dass mit der Freiheitsempfindung keine Aussage darüber getroffen ist, ob der Täter sich wirklich „frei“ – nämlich anders als geschehen – hätte entscheiden können. Es liegt nahe, bei Zugrundelegung eines solchen „sozialen Schuldbegriffs“ beim Strafen zurückhaltend zu verfahren. Dass der Täter die Strafe auch wirklich „verdient“ hat, bleibt nämlich offen. Die Strafe wird aus Gründen sozialer bzw. präventiver Notwendigkeiten verhängt. Von daher könnte man sogar von einer „Aufopferung“ des Verurteilten zugunsten der Allgemeinheit sprechen.19 Der Begriff der Vergeltung verliert hier seine herkömmlich enge Verzahnung mit dem individualethischen Tadel und damit auch seine Schärfe. Es lässt sich demnach festhalten, dass der Vergeltungsbegriff unterschiedlichen Gehalt hat bzw. haben sollte, je nachdem ob man einen auf Willensfreiheit gestützten Schuldbegriff oder einen sozialen Schuldbegriff zugrunde legt. Da der klassische freiheitsorientierten Schuldbegriff erheblich an Boden verloren hat, könnte man auf die Idee kommen, dass Schünemanns kritischer Stellungnahme zum der Rache verwandten Vergeltungsansatz eher historische als aktuelle Bedeutung zukommt. Ob dem tatsächlich so ist, soll im Weiteren untersucht werden.
16 Vgl. Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 39 III; ebenso etwa Otto ZStW 87 (1975), 539, 583; Schreiber Der Nervenarzt 48 (1977), 242, 245; Ida Die heutige japanische Diskussion über das Straftatsystem, 1991, S. 146 f. 17 Kritisch dazu Engisch Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 1963, S. 24 ff., 40 f.; Lackner FS Kleinknecht, 1985, S. 245, 251 f.; Streng ZStW 101 (1989), 273, 276 ff.; Schünemann FS Lampe, 2003, S. 537, 545 f.; Hillenkamp in: ders. (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, 2006, S. 85, 104; Roxin AT 1 (Fn. 4), § 19 Rn. 22; Duttge in: ders. (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 13, 37 ff. 18 Vgl. Schünemann (Fn. 3), S. 151 ff.; ders. FS Rudolf Schmitt, 1992, S. 117, 134; ders. FS Lampe, 2003, S. 537, 546 ff.; ferner Leferenz ZStW 70 (1958), 25, 27 f.; Burkhardt FS Lenckner, 1998, S. 3, 5 ff.; ders. FS Maiwald, 2010, S. 79, 82 ff. 19 Vgl. Krümpelmann ZStW 88 (1976), 6, 33; Schmidhäuser FS E. A. Wolff, 1998, S. 443, 458; ferner Weigend in: Radtke (Hrsg.), Muss Strafe sein?, 2004, S. 181, 191.
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2. Befunde zum Strafzweck Vergeltung a) Empirische Untersuchungen aa) Befragung von Jura-Studienanfängern Für die empirische Untersuchung werden zunächst Daten aus schriftlichen Befragungen von Jura-Studienanfängern herangezogen. Hierbei ging es um Berufs- und Ausbildungsaspekte, Kriminalitätswahrnehmungen, Strafphilosophie und Sanktionsvorstellungen. Die Befragten waren aufgefordert, ihre Erfahrungen und Meinungen wiedergeben, nicht aber etwas in der Vorlesung Gelerntes. Diese Erhebungen wurden zunächst in Konstanz (1989) und dann elfmal in Erlangen (ab 1993 bis 2012) im Rahmen der Vorlesung bzw. des Grundkurses „Strafrecht – Allgemeiner Teil“ durchgeführt. Genutzt wurde ein weitestgehend standardisiertes Erhebungsinstrument, das über die Jahre im Kern unverändert blieb. Die Rücklaufquote der ausgegebenen Fragebogen betrug jeweils knapp 100 %; erfasst wurden insgesamt 3.133 Befragte.20 Die Studierenden wurden zu ihren Strafzweckpräferenzen mit folgender Formulierung befragt: „In welchem Maße sollte, Ihrer Meinung nach, staatliches Strafen an folgenden Zwecken ausgerichtet sein?“ Genannt wurden „Besserung/Resozialisierung des Täters“, „Sicherung der Allgemeinheit durch Verwahrung des Täters“, „Abschreckung des Täters“, „Abschreckung Dritter (Tatgeneigter)“, „Normbekräftigung/Verdeutlichung der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung“ und „Vergeltung oder/und Sühne“. Auf einer Skala von „gar nicht“ über „etwas“, „mittel“ bis „stark“ sollten sie ihre Einschätzung dieser etablierten Strafzwecke dokumentieren. Die Zusammenfassung von „Vergeltung“ mit „Sühne“ in einer Frage erscheint straftheoretisch durchaus problematisch. Freilich wird Sühne in der Rechtsprechung und wohl überwiegend auch in der Lehre als beschönigendes Substitut für Vergeltung genutzt.21 Auf diese Problematik verweist im oben wiedergegebenen Zitat Schünemanns auch die Wendung, dass Vergeltung „ihre Herkunft aus der Rache auch unter dem Aspekt der Sühne nicht verleugnen kann“.22 Da von den Befragten als juristischen Anfängern eine größere Klarheit im Umgang mit den Begriffen nicht zu erwarten war, als von den – insoweit unzulänglich differenzierenden – erfahrenen Strafjuristen, erschien die auf Vergeltung und Sühne zugleich abzielende Fragestellung unabweisbar.
20 Vgl. zur Befragungsmethodik auch Streng Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität im Wandel, 2014, S. 3 ff. 21 Näher dazu Streng Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 221; ders. ZStW 106 (1994), 60, 72 ff.; Grommes Der Sühnegedanke in der Rechtsprechung, 2006, S. 180 ff. 22 Vgl. oben Fn. 3.
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Schaubild 1 belegt das Akzeptanzniveau und dessen Entwicklung über die Jahre bei den vier Strafzwecken mit den größten Akzeptanzveränderungen. Nachgewiesen sind hier jahrgangsweise die arithmetischen Mittelwerte (aus „0 = gar nicht“ bis „3 = stark“). Im Akzeptanzniveau führen Sicherung, Resozialisierung und spezialpräventive Abschreckung. Den stärksten Akzeptanzanstieg weist die Einschätzung des Sicherungsgedankens aus, den zweitstärksten bereits Vergeltung/Sühne – wenngleich von einem zunächst recht niedrigen Akzeptanzniveau ausgehend. Schwächer fällt der Anstieg bei spezialpräventiver Abschreckung aus. Der große Verlierer ist der Resozialisierungszweck. Relativ wenig Veränderung ergab sich in der Akzeptanz der hier nicht dargestellten Strafzwecke der generalpräventiven Abschreckung und der Normbekräftigung (Mittelwerte 2,1 bzw. 1,9). Schaubild 1: Entwicklung der Strafzweckakzeptanz
Tabelle 1 zeigt die aus den Studierendenbefragungen errechneten Zusammenhänge zwischen dem Strafzweck „Vergeltung oder/und Sühne“ und den restlichen Strafzwecken. In die Berechnungen gingen von den 3.133 Befragten der Jahre 1989–2012 die Antworten von mindestens 2.951 Befragten ein. Es zeigen sich Zusammenhänge der Art, dass das Hochschätzen von Vergeltung/ Sühne einhergeht mit einer Geringschätzung von Resozialisierung, hingegen
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mit einer befürwortenden Haltung zu Sicherung, Abschreckung und Normbekräftigung.23 Demnach lässt sich eine Vergeltungsorientierung als Bestandteil einer umfassenderen punitiven Haltung des jeweiligen Befragten interpretieren. Tabelle 1: Strafzweck Vergeltung/Sühne × andere Strafzwecke Strafzwecke
NormAbschre- Abschrebekräfti- ckung ckung des gung Dritter Täters
ReSichesoziali- rung sierung des Täters
Korrelation Signifikanz
.15 .000
–.22 .000
Strafzweck Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark)
.17 .000
.21 .000
.26 .000
Die Diskussion um den Sinn von Strafe ist freilich nicht stehen geblieben. Insbesondere der Aspekt der Wahrung von Opferinteressen hat an Beachtung gewonnen.24 In den Befragungsterminen 2005, 2007 und 2012 sind daher auch derartige Aufgaben bzw. Rechtfertigungen des Strafrechts abgefragt und zugleich drei herkömmliche Strafziele etwas anders formuliert worden als bei der konventionellen Strafzweckabfrage. Die Frageformulierung lautete: „In welchem Maße sollte, Ihrer Meinung nach, staatliches Strafen an folgenden Zielen ausgerichtet sein?“ „An der Gerechtigkeit“, „an Genugtuungsbedürfnissen des Tatopfers“, „an Schadensersatzinteressen des Tatopfers“, „an der Wiedereingliederung des Straftäters“ und „am Schutz der Gesellschaft vor dem Straftäter“. Die Skala reichte wiederum von 0 („gar nicht“) bis 3 („stark“). Tabelle 2 weist die Zusammenhänge zwischen dem Strafzweck „Vergeltung oder/und Sühne“ und den eben benannten Strafzielen nach. In die Berechnungen gingen von den 818 Befragten der Jahre 2005, 2007 und 2012 die Antworten von mindestens 770 Befragten ein. Tabelle 2: Strafzweck Vergeltung/Sühne × Strafziele Strafziele
Gerechtigkeit
Genugtuung für Opfer
Schadens- Wiederersatz für einglieOpfer derung Täter
Schutz der Gesellschaft
Korrelation Signifikanz
.07 .063
.30 .000
.10 .004
.16 .000
Strafzweck Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark)
–.18 .000
23 Die Zusammenhänge sind jeweils hochsignifikant, wie aus Tabelle 1, untere Zeile, zu entnehmen ist. 24 Dazu Meier Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009, S. 337 ff.; Streng Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 27 ff., 577 ff.
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Besonders bemerkenswert ist der aus Tabelle 2 zu entnehmende Befund, dass zwischen den Angaben zu Vergeltung/Sühne und der Einschätzung des Gerechtigkeitsziels lediglich ein ganz schwacher, nicht signifikanter Zusammenhang besteht. Vergeltungsorientierte Befragte zeigten keine nennenswert stärkere Gerechtigkeitsorientierung als weniger am Schuldausgleich orientierte. Wenn zudem Vergeltung/Sühne mit Wiedereingliederung des Täters negativ korreliert, hingegen besonders stark positiv mit Berücksichtigung von Genugtuungsbedürfnissen der Opfer 25 und auch mit Gesellschaftsschutz, dann beinhaltet das Vergeltungs- bzw. Sühneverständnis der Befragten vor allem den Wunsch nach Revanche gegen den Täter aus einer Identifikation mit Opferbelangen heraus und ist verknüpft mit sicherungsorientierten Ausgrenzungstendenzen. Der Gerechtigkeitsaspekt von Schuldausgleich tritt hingegen ganz zurück. Dass der Zusammenhang von Vergeltung/Sühne mit dem Gerechtigkeitsziel ein nur schwacher, wenngleich inhaltlich positiver ist, findet eine Bestätigung in der Korrelation zwischen den Stellungnahmen zum Strafzweck Vergeltung/Sühne und zum Gerechtigkeitsdenken, wie man es aus Angaben zur Aufgabe des Juristen ermitteln kann.26 Nach all dem ist davon auszugehen, dass die straftheoretisch begründbare Idee von der „gerechten Vergeltung“ im Kopf der Studierenden – wie auch der Bevölkerung sonst – nur als „Vergeltung“ ankommt. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass das Vergeltungsdenken in den Jahren seit 1989 quantitativ erheblich zugenommen hat, wie Schaubild 1 belegt. Man mag von daher die Frage aufwerfen, ob etwa in der universitären Lehre die Problematik einer Willensfreiheits-Unterstellung als eigentliche Vergeltungsgrundlage und im Zusammenhang damit die Problematik der Vergeltungsidee als Teil einer punitiven Haltung nicht klar genug dargestellt wurde. Ausschließen lässt sich das nicht. Denn angesichts der im deutschen Jurastudium dominierenden Fallklausuren-Orientierung wird der insoweit wenig hilfreichen Straftheorie dann auch in der Ausbildung wohl insgesamt zu wenig Beachtung geschenkt. Zudem mag der Trend zu kürzeren Studienzeiten sich darin auswirken, Grundlagenfragen zu wenig Beachtung zu schenken. Unterschiede in der Lehre einzelner Dozenten sind in den vorliegenden Befunden jedenfalls nicht maßgeblich geworden: Fünf der zwölf Befragungen wurden in Vorlesungen von Kollegen des Verfassers durchgeführt, wobei zwischen den Befragungen in den fremden und in den eigenen Vorlesungen keine nennenswerten Unterschiede in den hier dargestellten Korrelationen beobachtbar sind.
25
Zur neueren Diskussion um die Anerkennung der Genugtuung als Aufgabe des Strafrechts vgl. Weigend Rechtswissenschaft 2010, 39, 41 ff.; Streng (Fn. 24), Rn. 27 ff. 26 Aufgabe des Juristen (Gerechtigkeit / Konfliktmanagement) × Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark): R = –.09, p = .000.
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bb) Befragung von Strafrichtern und Staatsanwälten Ergänzungen der aus den Studentenbefragungen gewonnen Befunde ergeben sich aus einer bereits 1979–1980 durchgeführten schriftlichen Befragung von 522 Strafrichtern und Staatsanwälten Niedersachsens; das waren 64 % der angeschriebenen 821 Justizjuristen.27 Es zeigte sich, dass eine Hochschätzung von „Vergeltung oder/und Sühne“ sich insbesondere bei denjenigen Befragten fand, die der Willensfreiheits-Annahme zustimmten.28 In der Konsequenz standen diejenigen, die in strafrechtlicher Schuld einen ethischmoralischen Vorwurf sahen, der Vergeltung/Sühne positiver gegenüber, als diejenigen, die von einem sozialen Schuldbegriff oder einem rein rechtstechnischen Schuldverständnis ausgingen.29 Tabelle 3 zeigt die mittels der Daten der Justizbefragung errechneten Zusammenhänge zwischen dem Strafzweck „Vergeltung oder/und Sühne“ und den restlichen Strafzwecken. Fragenformulierung und Variablen-Kodierung zu den Strafzwecken waren identisch mit der – oben detailliert geschilderten – späteren Studierendenbefragung. In die Berechnungen gingen von den 522 Befragten die Antworten von mindestens 483 Befragten ein. Es erweist sich, dass die Zusammenhänge strukturell den bei den Jura-Studienanfängern anzutreffenden entsprechen, d.h. die Befürwortung von Vergeltung/Sühne erscheint als Teil einer insgesamt punitiven Einstellung. Dabei fallen die Zusammenhänge von Vergeltung/Sühne mit Normbekräftigung und mit den Abschreckungszwecken stärker aus als bei den Studierenden. Tabelle 3: Strafzweck Vergeltung/Sühne x andere Strafzwecke Strafzwecke
NormAbschre- Abschrebekräfti- ckung ckung des gung Dritter Täters
ReSichesoziali- rung sierung des Täters
Korrelation Signifikanz
.28 .000
–.18 .000
Strafzweck Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark)
.26 .000
.27 .000
.20 .000
Auch der Zusammenhang von Vergeltungsdenken und Gerechtigkeitsorientierung entspricht in etwa demjenigen bei den Studierenden, wenn man bei den Justizpraktikern für die Gerechtigkeitsdimension die erfragte Ein-
27 Beschreibung der Datenerhebung und Nachweis der Grundauszählung bei Streng Strafzumessung (Fn. 21), S. 75 ff., 364 ff. 28 Willensfreiheit (ja/eingeschränkt/gar nicht) × Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark): R = –.27, p = .000. 29 Schuld (Vorwurf/anderes Verständnis) × Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark): R = –.28, p = .000.
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stufung des Gerechtigkeitsgefühls als Richter- bzw. Staatsanwaltseigenschaft heranzieht. Diejenigen, die Vergeltung/Sühne hochschätzten, stuften das Gerechtigkeitsgefühl nicht signifikant stärker als wesentliche Eigenschaft für die eigene Berufstätigkeit ein als die dem Vergeltungsdenken abgeneigten.30 b) Konsequenzen An die dargestellten Befunde lässt sich die Mahnung anschließen, den Vergeltungsbegriff als enthemmenden Legitimationsbegriff für Strafe nach Möglichkeit zu meiden. Denn eine straftheoretische Begründbarkeit des Konzepts „gerechter Vergeltung“ ändert an möglichen Negativwirkungen eines popularisierten Vergeltungsbegriffs nichts. Freilich beruhen derartige Überlegungen zur Entschärfung des Vergeltungsdenkens auf der Prämisse, dass eine spezifische Strafphilosophie nicht folgenlos bleibt, nämlich zu einer unter Präventionsaspekten sinnlosen Strafschärfung 31 veranlassen kann. Man könnte also Entwarnung geben, wenn diese Prämisse nicht zu bestätigen wäre und eine Präferenz für Vergeltung oder/und Sühne sich als rein theoretisch bleibende Strafideologie erweisen würde. Befunde für eine Klärung dieser Fragestellung lassen sich aus der Studierendenbefragung entnehmen. In Tabelle 4 findet sich das Ergebnis einer multiplen Regressionsanalyse zum Errechnen eines optimalen Erklärungsmodells für eine Neigung zum Befürworten hoher Strafen. Zu erklärende Variable war die per Faktorenanalyse gebildete zusammenfassende Variable „Strafhärte übergreifend“ zu Strafmaßvorstellungen bezüglich eines Affekttotschlags, zur Einschätzung lebenslanger Freiheitsstrafe sowie zur Berücksichtigung von Schadensersatz als Strafäquivalent. Zur Erklärung der Varianz in der Strafhärte herangezogen waren unabhängige Variablen aus den Bereichen: sozio-demographische Dimensionen, ausbildungs- und berufsbezogene Vorstellungen, Kriminalitätsfurcht, Viktimisierungen, Strafzweckpräferenzen und Befragungsjahr. Datenbasis waren die Angaben aus den Befragungsterminen 1993/II bis 2012.32
30 Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark) × Gerechtigkeitsgefühl (gar nicht … stark): R = .08, p = .10. Bei Berücksichtigung allein der Richter fällt der Zusammenhang etwas stärker und sehr signifikant aus: R = .16, p = .006. 31 Näher dazu BMI/BMJ (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 684 ff., 690; Heinz ZJJ 2012, 129, 141 ff.; Streng (Fn. 24), Rn. 324 ff.; Nomos Kommentar StGB/ Villmow, 4. Aufl. 2013, Vor § 38 Rn. 68 ff. 32 Der Ausschluss der Befragungen 1989 und 1993/I war dadurch bedingt, dass die Schadensersatz-Variable erst ab der Befragung 1993/II eingesetzt worden war.
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Tabelle 4: Regressionsanalyse Strafhärte Abhängige Variable: Strafhärte übergreifend (niedrig … hoch) b-Wert
Signifikanz
Unabhängige Variablen: Strafzweck Sicherung (gar nicht … stark) Befragungsjahr (1993 … 2012) Strafzweck Resozialisierung (gar nicht … stark) Kriminalitätssituation (bedrohlich/nicht bedrohlich) Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark) Abschreckung des Täters (gar nicht … stark)
Modell- ErklärungsSignikraft fikanz (R2 × 100) .000
.23 .22
.000 .000
–.17
.000
–.13 .10 .10
.000 .000 .000
25,3 %
Durch die sechs erklärungskräftigsten Variablen lassen sich derart immerhin 25,3 % der Varianz der Strafhärte-Variable erklären. Auffallend ist, dass nicht weniger als vier der abgefragten sechs Strafzwecke hochsignifikante Zusammenhänge mit der abhängigen Variable aufweisen. Diese Korrelationen sind erwartungsentsprechend, weshalb etwa ein Hochschätzen von Vergeltung/Sühne, insbesondere aber des Strafzwecks der Sicherung, mit einer härteren Strafhaltung verknüpft sind. Es handelt sich bei Strafzweckpräferenzen also mitnichten um bloß theoretische Positionen ohne Praxisbedeutung. Die in Tabelle 4 recht erklärungsstarke Befragungsjahr-Variable erfasst eine über die Jahre verschärfte Strafhaltung der Studierenden, die nicht schon in den ebenfalls über die Jahre veränderten Strafzweckpräferenzen (vgl. oben Schaubild 1) enthalten ist. Als relevant erweist sich zudem eine der drei Kriminalitätsfurchtvariablen: Wer die allgemeine Kriminalitätssituation für bedrohlich hielt, votierte auch für härtere Strafen. Bereits die Befragung der niedersächsischen Strafrichter und Staatsanwälte 1979/1980 hatte im Wesentlichen entsprechende Ergebnisse hinsichtlich der Strafzumessungsrelevanz von Strafzweckpräferenzen erbracht. Das Hochschätzen von Vergeltung/Sühne erwies sich vor allem hinsichtlich der (anhand von sechs Fallschilderungen) befürworteten Anzahl vollstreckbarer Freiheitsstrafen als erklärungsstark.33
33 Vergeltung/Sühne (gar nicht … stark) × vollstreckbare Freiheitsstrafen (Anzahl): R = .19, p = .000. Vgl. auch Streng Strafzumessung (Fn. 21), S. 219, 221 ff., 227 ff.
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III. Schuldausgleich und Prävention 1. Einleitung Schünemann plädiert für das Aufgeben des Vergeltungszwecks, nicht aber für eine Verzichtbarkeit der Tatschuld als legitimierendes Element. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis bzw. Zusammenspiel von Schuld und Prävention bzw. von „Vorwerfbarkeit“ und „Zumutbarkeit“ 34. Dem Resozialisierungszweck will er lediglich eine „additiv wirkende Legitimationsfunktion“ zuerkennen.35 Die Notwendigkeit der Strafe lasse sich allein aus generalpräventiven Bedürfnissen oder solchen der Sicherung ableiten. Die vorauszusetzende Schuld als Vorwerfbarkeit binde jede Strafverhängung an ein Vermeidenkönnen der Straftat seitens des frei handelnden Täters. Die Dimensionierung der Strafe hingegen solle anhand des Prinzips der Tatproportionalität erfolgen.36 Der Versuchung, auf das strafzumessungsbezogene Prinzip der Tatproportionalität einzugehen,37 muss an dieser Stelle aus umfangsökonomischen Gründen widerstanden werden. Näher erörtert werden soll aber die Frage, ob die vorgeschlagene Reduzierung der Schuld auf eine Art Pförtnerfunktion für die Zulassung von Strafsanktionen befriedigen kann. Die Gegenhypothese38 wäre, dass auch in einem präventiv zu begründenden Strafrecht dem Schuldausgleich richtigerweise die Funktion zukommt, für das „Wie hoch“ der Strafe maßgeblich zu sein. Tatsächlich gibt im StGB der Schuldgedanke nicht nur eine Legitimation für die Verhängung von Strafen, sondern er liefert in § 46 Abs. 1 zugleich das Leitprinzip, anhand dessen der Richter die konkrete Strafe zu bestimmen hat. Sowohl der Schuldausgleich als auch die Verfolgung der Strafzwecke wurden durch den Gesetzgeber für legitim erklärt. In diesem Rahmen des Schuldangemessenen finden die anerkannten Strafzwecke ihren Platz. Dieser „Spielraumtheorie“ der Strafzumessung entspricht auf der straftheoretischen Grundlagenebene die sogenannte „Vereinigungstheorie“, wonach die strafrechtlich relevanten Zwecke nebeneinander in einen dem konkreten Fall angemessenen Ausgleich zu bringen sind.39 Dies steht in der Tradition des sog. Schulen-
34
Vgl. oben Fn. 5. Vgl. Schünemann in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik, 1987, S. 209, 225. 36 Vgl. Schünemann (Fn. 35), S. 224 ff. 37 Ausführl. von Hirsch/Jareborg Strafmaß und Strafgerechtigkeit, 1991; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung, 1999; Kritik bei NK/Streng, 4. Aufl. 2013, § 46 Rn. 109 ff.; vgl. auch die Beiträge in Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003. 38 Ausführl. Streng FS Heinz, 2012, S. 677, 679 ff. 39 Vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 16), § 8 V; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 3 Rn. 61 ff.; Roxin (Fn. 17), § 3 Rn. 33 ff. 35
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streits 40 vom Ende des 19. Jahrhunderts. Der damals erzielte pragmatische Kompromiss zwischen absoluter und relativer Straftheorie ist freilich immer wieder entschieden kritisiert worden: Eine nicht zu Ende geführte Grundlagendiskussion habe zu einem Patt geführt, nicht aber zu einem wohlbegründeten Ergebnis.41 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob bzw. wie weit diese Diskreditierung des Kompromisses zwischen absoluter und relativer Straftheorie wirklich berechtigt ist. Die hier vorzustellende Hypothese lautet, dass generalpräventive Präventionsorientierung und Orientierung am Schuldmaß ebenso unverzichtbar wie wechselseitig ergänzungsbedürftig sind. Freilich kann das bloße Postulat der „relativen Vergeltungstheorie“, dass nämlich die gerechte Strafe auch die unter dem Aspekt der Stärkung des Rechtsgefühls der Allgemeinheit wie des Täters richtige Strafe sei,42 nicht wirklich befriedigen. 2. Normbestätigung durch Strafe Tatsächlich haben die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Studien zur generalpräventiven Effizienz des Strafrechts die der relativen Vergeltungstheorie zugrunde liegenden Vermutungen gestützt: Für eine Wirksamkeit des Strafrechts im Sinne der Beeinflussung der Allgemeinheit ist weniger Abschreckung erfolgversprechend, als vielmehr Normbestätigung. Denn Abschreckungseffekte führen bei Tatgeneigten zunächst einmal nur zur Suche nach Risikovermeidung, nicht aber zu gesetzestreuem Verhalten; so bewirken sie weithin nur Verdrängungseffekte.43 Von daher erscheint es wenig erfolgversprechend, auf Abschreckung durch hohe Strafen zu setzen. Demgegenüber hat sich nachweisen lassen, dass umso weniger Straftaten von dem Einzelnen begangen werden, je mehr er an die Verbindlichkeit von Normen glaubt, d.h. je stärker er sich den von ihm internalisierten gesellschaftlichen Werten und Normen verpflichtet fühlt.44 40 Vgl. Frommel Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweckdiskussion, 1987, S. 42 ff.; Maurach/Zipf Strafrecht AT 1, 8. Aufl. 1992, § 6 Rn. 30 f.; Jescheck/Weigend (Fn. 16), § 8 V.1; Roxin (Fn. 17), § 4 Rn. 3 f.; Naucke FS Hassemer, 2010, S. 559 ff. 41 Vgl. Armin Kaufmann (Fn. 10), S. 10 f.; Köhler Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 20 ff., 24 ff.; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschnitt 1 Rn. 49 f.; v. Hirsch/Hörnle GA 1995, 261, 264; Lampe Strafphilosophie, 1999, S. 59 ff.; Kahlo FS Hassemer, 2010, S. 383, 419 ff.; NK/Hassemer/Neumann, 4. Aufl. 2013, Vor § 1 Rn. 287. 42 Vgl. Fn. 10. 43 Vgl. Streng (Fn. 24), Rn. 65. 44 Vgl. H.-J. Albrecht in: MPI Freiburg/Br. (Hrsg.), Empirische Kriminologie, 1980, S. 305, 318; Dölling in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, 1983, S. 51, 69 ff.; Schöch FS Jescheck, 1985, S. 1081, 1099 ff.; Schumann/Berlitz/Guth/Kaulitzki Jugendkriminalität und die Grenzen der Generalprävention, 1987, z.B. S. 137 f., 152, 158 f.; Hermann/Dölling Kriminalpräven-
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Mit als gerecht wahrnehmbaren Sanktionen leistet das Strafrecht einen Beitrag dazu, diese jeweils in der Primär- und Sekundärsozialisation von dem Einzelnen verinnerlichten Werte und Normen zu bestätigen, d.h. innere Kontrolle zu stärken. Eine unverständlich schwache Reaktion hingegen gefährdet die entsprechenden Werthaltungen und signalisiert im Extremfall, dass man die verletzten Rechtsnormen eigentlich nicht beachten müsse. Eine zu hohe Bestrafung signalisiert, dass das staatliche System sich selbst nicht an die akzeptierten Werte und Normen hält und von daher als Verteidiger des Systems keinen Respekt verdient.45 Für das, was zur Normstabilisierung im Einzelfall erforderlich ist, sind freilich keine unmittelbaren Anhaltspunkte erkennbar.46 Durch justizielle Anwendung des funktionalen Schuldbegriffs in der Ausformulierung von Jakobs 47, wonach unmittelbar auf die normstabilisierende Funktion abzustellen sei, würde also gefährliche Unsicherheit entstehen.48 Hingegen kann durch Orientierung an etablierten Wertungen die Rechtsanwendung sich von den weitgehend unsicheren Zweckeinschätzungen ein Stück weit unabhängiger machen.49 Dies gilt es festzuhalten, obschon auch Gerechtigkeitswertungen in einiger Hinsicht unsicher und schwankend ausfallen und für die Strafzumessungsentscheidung wiederum zweckorientierter Präzisierung 50 und insbesondere konsensgestützter Absicherungen51 bedürftig sind. Es gibt keine überzeugende Alternative dazu, Normbestätigung gerade durch solche Sanktionen erreichen zu wollen, die von der Allgemeinheit – und idealerweise auch vom Täter – als angemessen i.S.v. gerecht akzeptiert werden. Zentrale Bedeutung gewinnt hier das Rechtsgefühl, welches die gerechte Strafe prägt. In dieser Schuldwertung 52 konvergieren die Postulate der tatausgleichenden absoluten Straftheorie und des generalpräventiv-normbestätigenden Ansatzes. tion und Wertorientierungen in komplexen Gesellschaften, 2001, S. 74 ff.; Hermann Werte und Kriminalität, 2003, S. 122 ff., 185 ff., 195 ff., 332 f. 45 Vgl. auch Cancio Meliá ZStW 117 (2005), 267, 285 f.; Hörnle GA 2006, 80, 93 f. 46 Vgl. Streng ZStW 101 (1989), 273, 293 ff., 296; ders. FS Hruschka, 2005, S. 697, 707 ff. 47 Vgl. etwa Jakobs Schuld und Prävention, 1976, S. 31; Jakobs Das Schuldprinzip, 1993, S. 24; dazu Stratenwerth Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, S. 31 ff.; Schünemann (Fn. 2), S. 180 f.; ders. GA 1995, 201, 217 ff.; Neumann ZStW 99 (1987), 567, 588 ff.; Kindhäuser ZStW 107 (1995), 701, 708 f.; Streng NStZ 1995, 161, 162. 48 Zur Problematik solchen Vorgehens schon Luhmann AöR 94 (1969), 1, 16 ff. 49 Vgl. etwa Armin Kaufmann (Fn. 10), S. 17; Lampe FS C. Roxin, 2001, S. 45, 58 ff., 67; Neumann in: Jung/Neumann (Hrsg.), Rechtsbegründung – Rechtsbegründungen, 1999, 118, 122; Hilgendorf in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 83, 100; Hendrik Schneider Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten?, 2004, S. 78 f.; Sinn ZIS 2006, 107, 116. 50 Vgl. Streng FS Müller-Dietz, 2001, S. 875, 886 f. 51 Dazu näher Streng Strafzumessung (Fn. 21), S. 304 ff.; ders. (Fn. 24), Rn. 768 f. 52 Einen Unrechtsvorwurf anstelle eines Schuldvorwurfs befürwortet Hörnle (Fn. 3), 2013.
Schuldausgleich im Zweckstrafrecht?
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Davon ausgehend lässt sich schließlich auch eine Beziehung des Schuldausgleichs zum spezialpräventiven Resozialisierungsgedanken darstellen – soweit es dabei um die Stärkung des Rechts- und Verantwortungsgefühls des Verurteilten geht.53 Hinsichtlich der spezialpräventiven Zwecke bleibt freilich festzuhalten, dass diese lediglich eine sekundäre Ebene des Strafrechts darstellen können.54 Schon angesichts des großen Dunkelfelds der nicht entdeckten oder nicht aufgeklärten Straftaten und der entsprechend begrenzten spezialpräventiven Einwirkungsmöglichkeiten auf Straftäter liegt die Primärlegitimation des Strafrechts in seiner auf die Rechtstreue aller Bürger zielenden Aufgabe, also im vorbeugend-generalpräventiven Bereich. 3. Die Wurzeln der Strafgerechtigkeit: Selbststabilisierung durch Schuldausgleich Für eine abschließende Systematisierung mutet eine Interpretation als plausibel an, derzufolge die Vorstellungen des Einzelnen von gerechter und notwendiger Strafe durch die Funktion geprägt sind, die Geltung der verinnerlichten Werteordnung dieses Bürgers zu bewahren. Strafe dient also der gewissens- und verhaltensbezogenen Selbststabilisierung des Einzelnen. Auf gesellschaftliche Ebene gehoben, verteidigt das vom Richter stellvertretend für die Mitbürger gesprochene Schuldurteil die Werte und Normen der Sozietät. Angesichts dieses individualpsychologisch-autopoietischen und dadurch – auf gesellschaftlicher Ebene – zugleich generalpräventiven Ausgangspunkts hat die Orientierung an Gerechtigkeit eine dienende Funktion im Rahmen relativer Straftheorie. Das Gerechtigkeitsgefühl ist Ausdruck erforderlicher Normverteidigung und trägt zugleich das rechte Maß für die normbestätigende Sanktion bei. Dass ab einer bestimmten Tatschwere Strafe sein muss und in welcher ungefähren Höhenlage, ist auf der Gefühlsebene gewiss und insoweit „absolut“.55 Diese Empfindung lässt den rational begründeten Strafzwecken der Abschreckung, der Sicherung, der Resozialisierung und auch einer rational bemessenen „Verteidigung der Rechtsordnung“ nur begrenzt Raum. Wir haben es hierbei mit der sozialpsychologisch begründeten Variante einer relativen Straftheorie zu tun, in welcher Elemente einer absoluten Straftheorie enthalten sind. So gesehen wird die Unterschiedlichkeit von Schuldausgleich und Prävention in der Darstellungen der Straftheorien regelmäßig überzeichnet. Gerade um Kriminalität zu verhindern, muss man die begangenen Taten ins Auge 53 Vgl. Streng ZStW 106 (1994), 60, 86 ff.; ders. FS Heinz, 2012, S. 677, 686 ff.; ferner Hassemer ZJJ 2004, 344, 353. 54 Vgl. Schmidhäuser FS Wolff, 1998, S. 443, 449 f.; Kindhäuser FS Schroeder, 2006, S. 81, 92; Streng (Fn. 24), Rn. 44. 55 Vgl. Streng ZStW 92 (1980), 637, 648 f., 660 f.; ders. ZStW 101 (1989), 273, 287 f.
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fassen, um an ihnen die gesellschaftlichen Werte und Normen zu verdeutlichen, indem gerecht gestraft wird. Von der generalpräventiven Zwecksetzung her gelangt man zur Unverzichtbarkeit von schuldbezogenem Tatausgleich, jedenfalls wenn es um gewichtige Taten geht.
IV. Resümee Das Vergeltungsdenken ist beileibe nicht obsolet. Jura-Studienanfänger befürworten zunehmend eine Orientierung an Vergeltung oder/und Sühne. Angesichts lediglich schwacher Korrelationen mit anders erfragten Gerechtigkeitsvorstellungen, aber recht deutlichen Zusammenhängen mit repressiven Strafzwecken und mit einer ausgeprägten Opferorientierung, erscheint eine Vergeltungsorientierung regelmäßig als Bestandteil einer punitiven Gesamthaltung; hingegen geht es allenfalls am Rande um „gerechte Vergeltung“ im Sinne der Straftheorie. Bestätigt wird dies durch Ergebnisse einer älteren Befragung von Justizjuristen. Besondere Relevanz gewinnen diese Befunde dadurch, dass Strafzweckpräferenzen sich als leitend für Sanktionsentscheidungen erwiesen haben. Die einer Vergeltungsorientierung entsprechenden harten Strafen sind unter dem Aspekt präventiver Sinnhaftigkeit jedoch wenig plausibel, zumindest fehlt es insoweit an jedem Effizienznachweis.56 Der Vorschlag Schünemanns, auf den durch Racheaspekte mitgeprägten Vergeltungsansatz zu verzichten, ohne aber den Schuldgedanken aufzugeben, kann von daher überzeugen. Zu sehr zurückgenommen erscheint in Schünemanns Ansatz die Bedeutung der Tatschuld, wenn sie lediglich als Kriterium für die Zulässigkeit von Strafe dienen soll, aber nicht als Maßprinzip. Denn die als Aufgabe des Strafrechts zentral bedeutsame Normbestätigung verlangt nach einer hierfür tauglichen Sanktion. Mangels praxistauglicher wissenschaftlicher Befunde über das generalpräventiv Erforderliche beinhaltet derzeit allein das Rechtsgefühl als Gerechtigkeitswertung einen plausiblen und – abgesichert durch richterlichen Konsens – auch handhabbaren Maßstab für die notwendige Reaktion.57 Im Sinne des dargestellten Selbststabilisierungsansatzes ist Schuldausgleich mithin als Bestandteil eines generalpräventiv ausgerichteten Zweckstrafrechts legitim, nicht aber im Zusammenhang einer absoluten Straftheorie.
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Vgl. oben Fn. 31. Vgl. oben Fn. 51. – Inwieweit im Sinne eines Vorschlags von Schünemann ein Tatproportionalitätsprinzip die Gerechtigkeitswertung als Maßprinzip zu ersetzen vermag, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden; vgl. oben Fn. 36 sowie 37. 57
„Deutschlands Sicherheitsarchitektur – Drei Entwicklungstendenzen“ Heinrich Amadeus Wolff I. Ausgangslage: Die deutsche Sicherheitsarchitektur Zur Gewährleistung der Sicherheit innerhalb der staatlichen Gemeinschaft schaffen das Grundgesetz sowie Bundes- und Landesrecht ein Geflecht von Behörden, Aufgaben und Befugnissen,1 das verhältnismäßig klar 2 und weitgehend konstant ist. Diese „Sicherheitsarchitektur“ 3 basiert funktional auf den Prinzipien der Arbeitsteilung, des Grundrechtsschutzes durch Funktionsaufteilung, der Bundesstaatlichkeit und der Kooperation.4 1. Die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit Getrennt wird zunächst zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Die äußere Sicherheit meint die Verteidigung, d.h. die Abwehr eines militärischen Angriffs und die Sicherstellung des internationalen Friedens. Ihre Gewährleistung obliegt den Streitkräften (und dem Zivilschutz).5 1 S. dazu Bäcker/Giesler/Harms/Hirsch/Kaller/Wolff (= Regierungskommission) Bericht der Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland vom 28. August 2013 in: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ 2013/regierungskommission-sicherheitsgesetzgebung.html?nn=3316782 [letzter Abruf: 20.2. 2014], S. 57 ff.; Bruch/Jost/Müller/Vahldieck Abschlussbericht der Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus (= BLKR) vom 30. April 2013 in: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Broschueren/2013/abschlussbericht-kommission-rechtsterrorismus-lang. pdf?_blob=publicationFile [letzter Abruf 20.2. 2014], S. 27 ff.; Gusy Gutachten für den 2. Untersuchungsausschuss der 17. WP des Deutschen Bundestages zum Beweisbeschluss S 1 vom 20.03.2012, Materialien Deutscher Bundestag, 2. UA 17 WP, MAT A S-1 zu A-Drucks. 38; Wolff, Schriftliche Stellungnahme aufgrund des Beweisbeschlusses S 1 des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 17. Wahlperiode vom 24.03. 2012, Materialien Deutscher Bundestag, 2. UA 17 WP, MAT A S-1/1 zu A-Drucks. 38. 2 S. dazu etwa BLKR (Fn. 1), S. 28 ff. 3 S. z.B. Gusy VerwArch 101 (2010), 309 ff. 4 Gusy (Fn. 1), S. 1. 5 S. dazu Gramm Die Verwaltung 41 (2008), 375 ff.; Wolff in: Weingärtner (Hrsg.), Die Bundeswehr als Armee im Einsatz, 2010, S. 171 ff.; ders. ZG 2010, 209 ff.; ders. in: Kraus/ Wolff (Hrsg.), Freundesgabe für Quaritsch, 2010, S. 149 ff.; ders. ThürVBl 2003, 176 ff.
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2. Die Dreiteilung der inneren Sicherheit Die Sicherheitsarchitektur im Inneren ist dreigliedrig. Unterschieden wird zwischen repressiven, präventiv-polizeilichen und präventiv-nachrichtendienstlichen Sicherheitsgewährleistungen.6 a) Repressive Sicherheitsgewährleistung Die repressive Sicherheitsgewährleistung erfasst den Schutz der Rechtsordnung durch das Strafrecht und, in gemilderter Form, durch das Ordnungswidrigkeitenrecht. Sie obliegt hinsichtlich der Strafverfolgung den Strafverfolgungsbehörden, d.h. insbesondere den Strafgerichten und den Staatsanwaltschaften (§ 152 StPO) (und ausnahmsweise den Finanzbehörden), wobei zu ihrer Unterstützung die Polizei, die Zollfahndung und die Finanzbehörden tätig werden können. Das Besondere der repressiven Verfolgung liegt in der Sanktion, d.h. der Verhängung eines sozialethischen Unwerturteils.7 Wegen ihrer Schärfe gelten zugunsten des Betroffenen erhebliche rechtsstaatliche Sicherungen, die deutlich über das hinausgehen, was bei präventiven Maßnahmen erforderlich ist.8 b) Präventiv-polizeiliche Sicherheitsgewährleistung Die präventiv-polizeiliche Sicherheitsgewährleistung hat demgegenüber die Aufgabe, rechtswidrige Sachlagen durch staatliches Einschreiten zu verhindern, d.h. Kausalverläufe zu unterbrechen, um auf diese Weise abwehrend den Eintritt eines nicht gewünschten Zustandes zu verhindern oder dessen gegenwärtiges Andauern zu beenden.9 Anknüpfungspunkt für ein Einschreiten sind i.d.R. Gefahren für polizeiliche Schutzgüter. Polizeiliche Rechtsgüter sind u.a. die öffentliche Sicherheit und Ordnung. „Eine Gefahr [für diese] liegt vor, wenn bei ungehindertem, objektiv zu erwartendem Geschehensablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden eintritt“.10 Es ist von Verfassungs wegen nicht untersagt, die Polizeibehörden im Einzelfall auch vorgelagert tätig werden zu lassen, so dass die Gefahrenabwehr eine phänomenologisch zutreffende, aber verfassungsrechtlich nicht zwingende Beschreibung der Polizeizuständigkeit bedeutet. Bei der Gefahrenabwehr steht die Beseitigung tatsächlich bestehender Gefähr6 S. dazu Möstl Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 147 ff. 7 BVerfGE 90, 145, 172; s.a. BVerfGE 88, 203, 258; s. dazu nur Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 435 ff. 8 S. Möstl in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 2010, § 179 Rn. 52 ff. 9 Möstl (Fn. 6), S. 181. 10 Denninger in: Lisken/ders. (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, D Rn. 39.
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dungen im Vordergrund. Die Aufklärung des Sachverhalts ist eine wichtige Vorstufe, anders als im Strafrecht geht es aber nicht nur um die Feststellung des Sachverhalts und dessen anschließende Bewertung, sondern auch um die Beseitigung der Gefahr, d.h. um einen Eingriff in den erwarteten Lauf der Dinge.11 Die Abgrenzung wird dadurch erschwert, dass die Polizeibehörden selbst sowohl für die Verfolgung von Straftaten als auch für die polizeiliche Gefahrenabwehr zuständig sind. Diese Kombination rechtfertigt sich aber dadurch, dass häufig die Verfolgung konkreter Straftaten mit der Verhinderung künftiger Straftaten inhaltlich verbunden ist. c) Nachrichtendienstliche Sicherheitsgewährleistung Die präventive Sicherheitsgewährleistung durch die Polizeibehörden wird ergänzt um die nachrichtendienstliche Sicherheitsgewährleistung.12 Diese ist weder auf eine nachträgliche staatliche Bewertung eines Vorgangs, wie das Strafrecht, noch auf eine Veränderung von Kausalverläufen angelegt, sondern bezweckt Aufklärung, d.h. Informationsgewinnung für einen ausgewählten Kreis von Sicherheitsfeldern. Die Nachrichtendienste sollen aufklären:13 – Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, – sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten fremder Staaten, – den internationalen Terrorismus, – Vorgänge im Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung sind. Die Sicherheitsgewährleistung durch die Nachrichtendienste unterscheidet sich von der der Polizei durch drei Elemente. Ihr Aufgabenbereich ist im Vergleich zur Polizei zu einem deutlich größeren Anteil im Vorfeld der polizeilichen Gefahr angesiedelt, d.h. im Bereich der Verdachtslagen. Die Umgrenzung der Zuständigkeit ist dabei nicht so scharf wie diejenige, die der polizeiliche Gefahrenbegriff bewirkt. Die nachrichtendienstlichen Gesetze sprechen vielmehr von Bestrebungen gegen weit gefasste kollektive Schutzgüter, wie etwa den Bestand des Bundes oder eines Landes. Die zweite Besonderheit der Nachrichtendienste ist ihre Festlegung auf Informationssammlung. Die Nachrichtendienste sollen Strukturen, Zusammenhänge und Entwicklungspotentiale bestimmter Bestrebungen und Gruppen aufklären. Sie sollen keine Zwangsmaßnahmen durchführen.14 11
Möstl (Fn. 6), S. 163 ff. S. dazu Droste Handbuch des Verfassungsschutzrechts, 2007, S. 33; Möstl (Fn. 6), S. 404 ff.; Wolff Stellungnahme (Fn. 1), S. 11 ff. 13 Vgl. § 3 BVerfSchG; § 1 BNDG; § 1 MADG. 14 BLKR (Fn. 1), S. 28. 12
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Die Folge aus diesen beiden Unterschieden ist drittens, dass der Verfassungsschutz zumindest auch für rechtmäßige Handlungen und deren Aufklärungen zuständig ist. So ist etwa die Ermittlung der Tätigkeit nicht verbotener Parteien, deren Aktivität als legal zu qualifizieren ist, dennoch zulässiger Beobachtungsgegenstand der Verfassungsschutz-Behörden.15 d) Der Sinn der Gliederung Die Dreigliederung beruht auf zwei einfachen und wesentlichen Gründen:16 Durch die Aufteilung sollen die Freiheitsrechte des Bürgers geschützt werden, nach dem Motto: Die Behörde, die viel weiß (Nachrichtendienst), soll nicht alles dürfen und die Behörde, die viel darf (Polizei), soll nicht alles wissen. Die Aufteilung der Gefahrenabwehr wird effektiviert, weil der Teil der Sicherheitsgewährleistung der Behörde zugeordnet wird, die dafür am besten geeignet ist. 3. Trennungsgebot Diese Gliederung des Sicherheitsbereichs wird verstärkt und verfestigt durch das so genannte Trennungsgebot, das auf Bundesebene zumindest einfachrechtlich fixiert wird17 und auf Landesebene vielfach Verfassungsrang besitzt.18 Danach dürfen die Nachrichtendienste nicht mit Polizeibehörden zusammengelegt werden. Die Exekutivbefugnisse der Polizei dürfen nicht zu Gunsten der Nachrichtendienste im Wege der Amtshilfe eingesetzt werden. Weiterhin dürfen die Nachrichtendienste nach überwiegender Ansicht auch keine polizeilichen Befugnisse wie Verhaftung, Wohnungsdurchsuchung oder Mittel der Gewaltanwendung erhalten. Dagegen steht das Trennungsgebot einem geregelten Informationsaustausch nicht generell entgegen. Vielmehr lebt der Auftrag der Nachrichtendienste gerade davon, dass diese unter bestimmten Bedingungen ihre gewonnenen Informationen auch weitergeben dürfen.
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Gusy ZRP 2012, 230, 231. S. dazu schon Wolff Stellungnahme (Fn. 1), S. 67. 17 § 2 Abs. 2 S. 2 BVerfSchG; § 1 Abs. 1 S. 2 BNDG; § 1 Abs. 4 MADG. 18 S. dazu BVerfGE 100, 313, 369 f.; BVerfGE 97, 198, 217; BVerfG NJW 2011, 2417, 2420; ausführlich König Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2005, S. 151 ff.; Streiß Das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten, 2011, S. 153 ff.; Lang Das Antiterrordateigesetz, 2011, S. 141 ff.; Baumann DVBl 2005, 798, 801 ff.; Kutscha ZRP 1986, 194 ff.; grundlegend: Gusy ZRP 1987, 45 ff. 16
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4. Die föderale Gliederung Quer zu der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit und der Dreiteilung der inneren Sicherheit liegt die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die bundesstaatlich geprägt ist. Die föderale Aufteilung ist für alle Sicherheitsbereiche unterschiedlich:19 Im Bereich der äußeren Sicherheit besteht der Sache nach ein weitgehendes Monopol des Bundes. Im Bereich des Polizeirechts besteht wiederum ein weitgehendes Monopol der Länder. Der Bund ist nur ausnahmsweise zuständig. Im Bereich der Nachrichtendienste besitzen die Länder mit den Landesämtern für Verfassungsschutz eigene Zuständigkeiten. Der Sache nach besteht aber, sofern man auf die gesetzlichen Regelungen abstellt, ein deutliches Übergewicht der Kompetenzen des Bundes auf diesem Gebiet.
II. Verschiebungen durch die Stärkung des Präventionsgedankens Die Sicherheitsarchitektur ist nicht statisch, sondern hat sich in den letzten Jahren bewegt. Die Entwicklungstendenz wurde wiederholt verschärft und lässt sich als Bewegung hin zu einem Präventivstaat qualifizieren.20 Gemeint ist damit das stärkere Bemühen des Staates, seine Bürger vor dem Eintritt von Rechtsgutsverletzungen zu schützen. Dieses Bestreben ist mit intensiveren Ermittlungsbefugnissen im Vorfeld von Gefahrsituationen und mit der Schaffung von Straftatbeständen mit diffusen Rechtsgutsdefinitionen verbunden. Eine wesentliche Entwicklung im Bereich der präventiven Sicherheitsgewährleistung bildet dabei die Verwischung der Grenzen der unterschiedlichen behördlichen Zuständigkeiten und Tätigkeitsfelder. Zu nennen ist, dass – der Bund sich seit Jahrzehnten in kleinen Schritten um eine Stärkung seiner Kompetenzen im Sicherheitsbereich bemüht.21 – die Grenzen zwischen polizeilichen und nachrichtendienstlichen Befugnissen verwischt werden: Die Polizei erhält immer mehr nachrichtendienstliche
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S. dazu schon Wolff Stellungnahme (Fn. 1), S. 67; Gusy (Fn. 1), S. 4 ff. S. dazu aus der Sicht des Strafrechts Hassemer HRRS 2006, 130 ff.; Münchener Kommentar StGB/Joecks, Band 1, 2. Auflage 2011, Einleitung Rn. 110; aus der Sicht des Polizeirechts Manfred Baldus, Entgrenzungen des Sicherheitsrechts – Neue Polizeirechtsdogmatik, demnächst in Die Verwaltung, zitiert nach dem Typoskript, unter I. S. 1 ff. 21 S. dazu Gusy (Fn. 1), S. 6 ff.; Wolff in: Möllers/van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2006/2007, 2007, S. 229, 232 f. 20
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Befugnisse,22 indem die Eingriffsschwelle der Exekutivmaßnahmen ins Gefahrenvorfeld verlegt wird. Umgekehrt werden die Befugnisse der Nachrichtendienste mit dem Ziel der Verbesserung der Terrorabwehr ausgeweitet.23 Der Überschneidungsbereich wird dadurch weiter vergrößert.24 – die Trennung zwischen den drei Formen der Sicherheitsgewährleistungen (Strafverfolgung/Polizei/Nachrichtendienste) durch Formen informationeller Zusammenarbeit. Diese Entwicklung führte im Wesentlichen zu drei Veränderungen: erstens zur Verschiebung der dogmatischen Bedeutung institutioneller Fragen, zweitens zu einer Verbreiterung von Doppelzuständigkeiten und drittens zu einer Intensivierung der Zusammenarbeit.
III. Verlust der Bedeutung der institutionellen Trennung Die Entwicklung zur Stärkung des Präventionsstaates, vor allem beruhend auf politischen Entscheidungen, die in Reaktion auf eine wahrgenommene Veränderung der internationalen Sicherheitslage getroffen wurden, führte auch dazu, dass sich die wissenschaftliche Betrachtung der Sicherheitsarchitektur veränderte. Als Reaktion auf diese Verwischung der institutionellen Grenzen bildete sich die Erkenntnis heraus, dass die Bedeutung dieser Grenzen doch geringer war, als man anfänglich angenommen hatte. Die Grundannahme der sicherheitsrechtlichen Diskussion bestand darin, dass die organisatorische Aufteilung des Vorfeldbereichs an die Nachrichtendienste und des Gefahrenbereichs an die Polizei entweder verfassungsrechtlich gefordert sei oder zumindest zur Folge hätte, dass die Befugnisse der Nachrichtendienstbehörden verfassungsrechtlich anderen Maßstäben unterlägen als solche der Polizei.25 Diese Vorstellung ist verloren gegangen. Die Aufteilung in den Vorfeldbereich einerseits und den Gefahrenbereich andererseits ist ein möglicher, aber kein von der Verfassung geforderter Weg.26 Die Verteilung der Aufgaben 22 S. dazu Pieroth/Schlink/Kniesel Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Auflage 2012, § 1 Rn. 33; Mann/Fontana JA 2013, 734, 736 ff.; Möllers NVwZ 2000, 382 ff.; Wolff DÖV 2009, 597 ff. 23 Zöller JZ 2007, 763, 767; Wolff Stellungnahme (Fn. 1), S. 70 ff. S. zur Entwicklung der Sicherheitsgesetze: Regierungskommission (Fn. 1), S. 15–33. 24 S. dazu nur Regierungskommission (Fn. 1), S. 150 ff.; zum Strafrecht s. Deckers/ Heusel ZRP 2008, 169 ff.; ausführlich Söllner Die Verpolizeilichung, 2011. 25 S. Hoffmann-Riem JZ 1978, 335, 336; Lisken DRiZ 1987, 184, 188; Weßlau Vorfeldermittlungen, 1989, S. 225 ff. 26 Baldus ThürVBl 2013, 25, 28 f. m.w.N.; ders. (Fn. 20), III 1, S. 11 ff.; s.a. Schafranek Die Kompetenzverteilung zwischen Polizei und Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 157; Kral Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, S. 26 ff.
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der präventiven Sicherheitsgewährleistung, die Abgrenzung von Polizei- und Nachrichtendiensten und die Bestimmung der Reichweite der Überschneidungsbereiche ist viel weitgehender in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gestellt, als die Mehrheit der Stimmen dies vor zwanzig Jahren zuzugeben bereit gewesen wäre. Das Trennungsgebot kann nicht so verstanden werden, dass es ein Verbot enthalten würde, die Polizei mit nachrichtendienstlichen Mitteln oder Aufgaben zu betrauen, so wie es umgekehrt nicht verbietet, die Nachrichtendienste mit der Terrorabwehr zu beauftragen.27 Die Nachrichtendienste dürfen durchaus zur Terrorbekämpfung (im Wege der Aufklärung) tätig werden, ebenso wie der Polizei Vorfeldmaßnahmen zugewiesen werden können. Deutlich wird dies u.a. an der Begründung des Trennungsgebotes in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wegen der unterschiedlichen Informationserhebungsbefugnisse hat das Bundesverfassungsgericht aus den Grundrechten ein informationelles Trennungsgebot hergeleitet.28 Es hat damit die Herleitung über die Organisationsnormen (Art. 87, Art. 73 GG), die weitergehende Folgerungen nach sich gezogen hätte, konkludent abgelehnt. Zur Ehrenrettung der wissenschaftlichen Dogmatik wird man aber einen Gedanken einführen müssen. Die Relevanz der institutionellen Trennung der nachrichtendienstlichen und polizeilichen Sicherheitsgewährleistungen entstand in einer Zeit, in der der verfassungsrechtliche Datenschutz noch nicht entwickelt war. Getrennte Zuständigkeiten bildeten die erste Form eines Datenschutzes und des Schutzes vor der Erstellung von Persönlichkeitsbildern. Durch die Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Verarbeitung personenbezogener Daten hat sich die Notwendigkeit, eine Freiheitsgewährleistung zugunsten der Bürger durch Trennung von Aufgaben und Zuweisung bestimmter Aufgaben an verschiedene Behörden zu erreichen, verringert. An die Stelle der kategorialen Trennung zwischen nachrichtendienstlichen Aufgaben und ihrer Erfüllung einerseits und polizeilicher andererseits ist eine andere getreten, und zwar die Trennung zwischen verdeckten und offenen Informationserhebungsbefugnissen. Wird nicht an die Aufgabe und Institution angeknüpft, liegt es nahe, dass an die Eingriffsbefugnisse angeknüpft werden muss. Eingriffsnormen, die sich nicht an der Gefahrenabwehr ausrichten, stehen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit unter besonderem Rechtfertigungsdruck, wobei es, wenn überhaupt, nur einen minimalen Unterschied macht, ob die berechtigte Behörde der Polizei oder den Nachrichtendiensten zuzurechnen ist.29 In dieser Form neu ist dabei die 27
Baldus ThürVBl 2013, 25, 28 f. m.w.N. BVerfG NJW 2013, 1499, 1505. 29 Baldus ThürVBl 2013, 25, 28 f.; Wolff NVwZ 2010, 751, 754; Gasch Grenzen der Verwertbarkeit von Daten der elektronischen Mauterfassung zu präventiven und repressiven Zwecken, 2012, S. 94 ff. 28
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vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeitete diametrale Unterscheidung zwischen geheimen und offenen Informationseingriffen. Spezielle Meldepflichten, strengste Bestimmtheitsanforderungen und die Formulierung des Schutzes des absoluten Kernbereichs der Persönlichkeit gelten nur für die Normierung geheimer Informationseingriffe.30 Bei offenen Informationseingriffen geht das BVerfG nicht von diesem strengen Maßstab aus und gestattet der Sache nach die vollständige Durchsuchung einer Festplatte allein auf der Basis der allgemeinen Beschlagnahmenorm des § 94 StPO.31 Ganz auf dieser Linie, wenn auch nicht verfassungsrechtlich gefordert, liegt dabei die Tendenz des Gesetzgebers zur zeitlichen Befristung und zur Implementierung von Evaluationspflichten bei schweren Eingriffsbefugnissen, insbesondere wenn sie zu einer verdeckten Informationserhebung ermächtigen.32 Kann der Einzelne nur erschwert den Richter anrufen und entfällt auf diese Weise die durch die gerichtliche Entscheidung ermöglichte wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit der Verwaltungspraxis, ist es gut, wenn der Gesetzgeber, unterstützt durch die ihm eigenen Informationsbefugnisse, die Verwaltungspraxis im Rahmen einer Gesetzesevaluation überprüft.
IV. Problembereich Überschneidungsbereiche Mit der Verwischung der institutionellen Trennlinien ist ein weiteres Problem verstärkt worden, nämlich die Entstehung von Schnittstellen oder Überschneidungsbereichen. Überschneidungsbereiche gab es schon immer. Die Sicherheitsarchitektur ist nicht so gegliedert, dass es zu keiner Mehrfachzuständigkeit oder zu Überschneidungen benachbarter Zuständigkeiten kommen kann. Die Überschneidungen von Zuständigkeiten sind zum Teil sachlich bedingt, zum Teil hängen sie aber auch von der Ausgestaltung der Zuständigkeiten im Sicherheitsbereich ab. Es kommt wegen der mehrfach gegliederten Sicherheitsarchitektur und der bundesstaatlichen Kompetenzaufteilung dazu, dass für eine Gefährdungs- oder Verdachtslage mehr als eine Sicherheitsbehörde zuständig sein kann.33 Der Grund dafür ist einfach und wird nicht selten verkannt: Ein Verbot der Mehrfachzuständigkeit existiert
30 BVerfGE 112, 304 ff.; 110, 33 ff.; 113, 348 ff.; 115, 320 ff.; 120, 378 ff.; 120, 274 ff.; 125, 260 ff. 31 BVerfGE 124, 43 ff.; s. dazu Wolff in: Makowicz (Hrsg.), Gemeinsame Werte, voraussichtlich 2014, zitiert nach dem Typoskript. 32 S. dazu Albers in: ders./Weinzierl (Hrsg.), Menschenrechtliche Standards in der Sicherheitspolitik, 2010, S. 25, 29 ff.; Mundil/Wolff in: Möllers/van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2012/2013, 2012, S. 331, 332 f.; Gusy/Kapitza in: Gusy (Hrsg.), Die Evaluation von Sicherheitsgesetzen, voraussichtlich 2014, zitiert nach dem Typoskript. 33 Gusy (Fn. 1), S. 16 ff.
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weder verfassungsrechtlich noch einfachrechtlich.34 Die Überschneidungsbereiche haben sich dabei durch die Vorverlagerung der polizeilichen Tätigkeit und der Intensivierung der Terrorabwehr durch die Nachrichtendienste vergrößert. Mehrfachzuständigkeiten rufen folgende Probleme hervor: 35 – Es kann zu einem Informationssplitting auf verschiedene Behörden kommen. – Die Konzentration der Ressourcen auf eine Ermittlungszuständigkeit kann ggf. mehr Informationsgewinn erbringen als die Ressourcenaufteilung auf zwei parallel arbeitende Behörden. – Das Tätigwerden verschiedener Behörden folgt oft unterschiedlichen politischen Leitideen und unterschiedlichen Einsatzstrategien, mit der möglichen schlimmsten Folge, dass die beiden Sicherheitsbehörden sich gegenseitig behindern. – Die Kontrolle wird zersplittert, keine Instanz kann den staatlichen Einsatz mehr insgesamt kontrollieren, jede Kontrollinstanz ist gewissermaßen teilweise blind. – Es kommt zu Kompetenzgerangel, institutionellem Selbstschutz und Eitelkeiten vor dem Hintergrund, dass jede Behörde ein institutionelles Eigeninteresse besitzt. Das kann rein praktisch dazu führen, dass bei der Ermittlung zweier Behörden die Aufklärung schwerer fällt, als wenn nur eine Zuständigkeit gegeben wäre. – Die Behörden überwachen sich wechselseitig, teilweise in völliger Unkenntnis. – In die Grundrechte der Betroffenen wird gleich zweimal eingegriffen. Den Nachteilen stehen folgende Vorteile gegenüber: Unterschiedliche Behörden haben verschiedene Möglichkeiten, Informationen aus vertraulich arbeitenden verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu gewinnen. So unterscheidet sich etwa die Aufklärung und Abwendung einer Gefahrenlage durch die Polizei und die Aufklärung einer Verdachtslage durch die Nachrichtendienste, selbst wenn es um den gleichen Sachverhalt geht, aufgrund der unterschiedlichen Ausbildung, unterschiedlichen Informationsgrundlagen und unterschiedlicher Interessensausrichtung beider Behörden. Während die Polizeibehörden insbesondere einzelfallbezogen, personenbezogen und gefahrenbezogen agieren, gehen die Nachrichtendienste in vernetzten Strukturen vor und der Frage nach, ob weitere Bereiche als die schon bekannten betroffen sind. Es kann daher durchaus sinnvoll sein, beide Behörden mit demselben Sachverhalt zu
34 35
Denninger (Fn. 10), D Rn. 59. S. dazu schon Regierungskommission (Fn. 1), S. 155; s.a. Gusy (Fn. 1), S. 19 ff.
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befassen, weil die differenzierte Sichtweise beider Behörden in Kombination zu einer höheren Sicherheitsgewährleistung führen kann. Eine doppelte Informationsgewinnung des gleichen Zustands erlaubt, die Verlässlichkeit der gewonnenen Informationen zu überprüfen. Unterschiedliche Aufgabenbereiche und unterschiedliche behördliche Befugnisse rechtfertigen unterschiedliches Tätigwerden, obwohl es zu einer Parallelität kommt. Ob die Überschneidungsbereiche möglichst klein zu halten sind oder nicht, bildet die gegenwärtig am intensivsten diskutierte Frage. Aufgrund der Erkenntnisse, die bisher durch die Untersuchungsausschüsse in Sachen der Aktivitäten des Trios zum Nationalsozialistischen Untergrund aus Thüringen (NSU) gewonnen wurden,36 liegt die Annahme nahe, es sei ratsam, die Kompetenzbereiche strenger als bisher abzugrenzen und möglichst geringe Überschneidungsbereiche vorzusehen.37 Allerdings ist nicht völlig klar, ob diese Forderung wirklich auf einer sachlichen Erkenntnis und nicht eher auf dem Wunsch beruht, wenigstens in irgendeiner Form auf die Pleite zu reagieren, die die mangelhafte Verfolgung der NSU-Taten bildete.
V. Problem Informationsaustausch Die Aufteilung auf verschiedene Behörden besitzt auch den Zweck, den Informationsfluss zwischen den Stellen zu kontrollieren. Umgekehrt soll die Aufteilung nicht die Sicherheitsgewährleistung als solche verhindern, daher ist die rechtlich geformte und sachlich begründete Informationsweitergabe gewollt. Die heutige Sicherheitsarchitektur ruft die Gefahr der Abschottung der einzelnen Behörden aus verschiedenen Gründen hervor. Die Vielzahl der beteiligten Behörden mit teilweise eigenem institutionellen Interesse kann dazu führen, dass der Informationsfluss zwischen den Behörden nicht in einer Weise zustande kommt, der rechtlich möglich und gemeinwohlorientiert erforderlich wäre. Der Verlauf des letzten NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht darf als missglücktes Beispiel für diese Probleme verstanden werden.38 Die Ausweitung der Mehrfachzuständigkeiten 36 S. dazu Abschlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses („Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“) vom 22.08.2013, BT-Drucks. 17 / 14600; BLKR (Fn. 1), S. 123 ff.; Schäfer/Wache/Meiborg Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“ vom 14.05.2012 in: http://www. thueringen.de/imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf [letzter Abruf 20.2.2014]. 37 Gusy ZRP 2012, 230, 231. 38 Vgl. BVerfGE 107, 339 ff.
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hat diese Tendenz verstärkt und nicht abgeschwächt. Die gegliederte Struktur hat sich nach Einschätzung derer, die einen Einblick auch in die nicht offene Verwaltungspraxis besitzen, als nachteiliger für die Effizienz der Sicherheitsgewährleistung erwiesen, als es der freiheitsschützende Charakter der Gliederung verlangt. Daher versucht man nun, der Abschottung der Behörden voneinander entgegen zu steuern.39 Im Rahmen der Stärkung des Präventionsgedankens kam es auch zu einer Stärkung der informationellen Zusammenarbeit. Im Folgenden sollen zwei jüngere Institute genannt sein, und zwar die gemeinsamen Dateien und die gemeinsamen Abwehrzentren. 1. Die gemeinsamen Dateien Ein Institut für die verstärkte sicherheitsbehördliche Zusammenarbeit sind gemeinsame Verbunddateien, in denen mehrere Behörden ihre Informationen innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs abspeichern. Die Verbunddateien stellen Informationseingriffe dar und bedürfen immer einer speziellen gesetzlichen Grundlage.40 Die Eingriffstiefe von Dateien hängt von ihrer Ausgestaltung ab. Am geringsten ist sie bei reinen Kontaktanbahnungsdateien, die nur die wechselseitige Kontaktaufnahme ermöglichen sollen und bei denen der konkrete Datenfluss sich nach den jeweiligen speziellen Rechtsgrundlagen außerhalb der Datei richtet. Höhere Eingriffstiefe haben Dateien, bei denen die Behörden unmittelbar auf das dort gespeicherte Wissen zugreifen dürfen, obgleich es von anderen Behörden eingestellt wurde (Volltextdateien). Die dritte Zugriffsmöglichkeit ist die elektronisch kombinierte Recherche. Bei dieser sollen durch automatisiertes Nutzen der Daten mit Hilfe spezieller Programme Verknüpfungen erstellt und neue Erkenntnisse gewonnen werden. Ausgeworfen wird dabei notwendig nur das Ergebnis. Die datenschutzrechtlichen Probleme von gemeinsamen Dateien sind offensichtlich. Bei den gemeinsamen Dateien werden Daten, die zu einem bestimmten Zweck erhoben wurden, gegebenenfalls zu einem anderen Zweck verwendet. Die datenschutzrechtliche Zweckentfremdung ist ein selbständiger Eingriff, der einer selbständigen gesetzlichen Grundlage bedarf. Solange der Gesetzgeber bei den Gesetzen über gemeinsame Dateien nur Zweckentfremdungen zulässt, die er selbst überblicken kann und bei denen zugleich der rechtfertigende Weitergabezweck und die mit der Weitergabe verbundenen Eingriffe in die Rechtsposition des Betroffenen nicht außer Verhältnis stehen, bestehen gegen die Datei keine Bedenken.
39
S. z.B. BLKR (Fn. 1), S. 353 ff.; Weisser NZWehrR 2012, 198 ff. S. dazu Petri (Fn. 10), H Rn. 79; Regierungskommission (Fn. 1), S. 194 ff.; ausführlich Stubenrauch Gemeinsame Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten, 2009; s.a. Arzt NJW 2011, 352 ff. 40
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Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2013 die wesentliche Struktur der Antiterrordatei gebilligt.41 Die Antiterrordatei findet ihren Hauptzweck darin, dass die Sicherheitsbehörden untereinander erfahren, welche Stellen der anderen Sicherheitsbehörden Informationen über gewisse Personen und Vorgänge besitzen, ohne dass die Informationen selbst schon über die Datei ausgetauscht werden. Die Anforderungen an gemeinsame Dateien werden daher im Wesentlichen durch die Vorgaben des informationellen Trennungsgebotes begründet. Nach dem Bundesverfassungsgericht unterliegen Regelungen, die den Austausch von Daten der Polizeibehörden und Nachrichtendienste ermöglichen, angesichts der in der Rechtsordnung vorgesehenen Unterschiede zwischen Polizei und Nachrichtendiensten gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung folgt insoweit ein informationelles Trennungsprinzip. Danach dürfen Daten zwischen den Nachrichtendiensten und den Polizeibehörden grundsätzlich nicht ausgetauscht werden. Einschränkungen der Datentrennung sind nur ausnahmsweise zulässig. Soweit sie zur operativen Aufgabenwahrnehmung erfolgen, begründen sie einen besonders schweren Eingriff. Erforderlich ist ein herausragendes öffentliches Interesse, das den Zugriff auf Informationen unter den erleichterten Bedingungen, wie sie den Nachrichtendiensten zu Gebot stehen, rechtfertigt. Dies muss durch hinreichend konkrete und qualifizierte Eingriffsschwellen auf der Grundlage normenklarer gesetzlicher Regelungen gesichert sein; auch die Eingriffsschwellen für die Erlangung der Daten dürfen hierbei nicht unterlaufen werden.42 Das Bundesverfassungsgericht hat die Form dieses „speziellen Telefonbuches“ für spezielle Gefahrenbereiche zugelassen, auch wenn darin faktisch eine gewisse Relativierung der informationellen Trennung liegt, sofern es um abgegrenzte Bereiche mit großem Gefährdungspotenzial geht.43 2. Die Zusammenarbeit in Form von Abwehrzentren Eine neue Institution der Zusammenarbeit sind gemeinsame Abwehrzentren.44 Die Praxis zeigte wohl, dass rechtlich bestehende Möglichkeiten der Zusammenarbeit rein tatsächlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht durchweg genutzt werden. Daher kam es aufgrund von Organisationsmaßnahmen zur Errichtung gemeinsamer Zentren zu bestimmten spezifischen Sicherheitsbereichen. Die Zentren beruhen nicht auf gesetzlicher Grund-
41
BVerfG NJW 2013, 1499, 1507 ff. BVerfG NJW 2013, 1499, 1505. 43 BVerfG NJW 2013, 1499, 1511. 44 S. dazu Rathgeber DVBl 2013, 1009 ff.; Weisser NVwZ 2011, 142 ff.; Würz Kriminalistik 2005, S. 10 f.; Droste (Fn. 12), S. 580 ff.; Remberg Kriminalistik 2008, 82 ff.; Klee Neue Instrumente der Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2010, S. 112. 42
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lage, fassen die Behörden, die mit dem jeweiligen Aufgabenbereich zu tun haben, personell und räumlich zusammen, um auf diese Weise die Zusammenarbeit zu verbessern. Am bekanntesten ist das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ).45 Die Stärken der Zentren und Plattformen beruhen auf mehreren Umständen:46 – auf der personellen Nähe der Mitarbeiter, – auf dem gemeinsamen Interesse der beteiligten Behörden, – auf der Bündelung unterschiedlichen Sachverstandes, – auf der höheren Geschwindigkeit und der schweren Kontrollierbarkeit des Informationsaustausches. Alle Zentren und Plattformen weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie selbst keine feste Struktur besitzen, nicht als Behörde zu qualifizieren sind und keine gesetzliche Grundlage besitzen. Überwiegend geht man davon aus, die Zentren seien in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung rechtskonform. Dies beruht auf dem Gedanken, dass bei den Zentren für die Weitergabe der Informationen nur die Rechtsgrundlagen herangezogen werden, die sowieso schon bestehen. Die Zentren leben von dem Gedanken, dass die Vertreter der beteiligten Behörden sich bei Maßnahmen, die unter dem Gesichtspunkt des Vorbehalts des Gesetzes einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, an ihre jeweiligen Gesetze halten. Ganz so einfach dürfte die rechtliche Bewertung aber nicht ausfallen. Durch die Organisation der Zentren wird bewusst die erhöhte Gefahr geschaffen, dass die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Übermittlungsvorschriften missachtet werden. Wegen dieser Gefährdung bedarf die Einrichtung der Kompetenzzentren als solche einer gesetzlichen Grundlage.47 Weiter sind über die gesetzliche Grundlage hinaus auch organisatorische oder verfahrensrechtliche Maßnahmen zu verlangen, die in der Lage sind, der erhöhten Gefahr der Verletzung der konkreten Rechtsgrundlagen für die Datenweitergabe entgegenzuwirken, ohne dass dadurch die rechtlich zulässigen Vorteile der Zentren eingeschränkt werden.48
VI. Schluss Gerade im Sicherheitsbereich ist es wichtig, demokratische Legitimationsanforderungen, die durch Schaffung einer gesetzlichen Grundlage erfüllt werden, und rechtsstaatliche Grenzen in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. 45 46 47 48
Ausführlich Regierungskommission (Fn. 1), S. 165 ff. S. dazu schon Wolff Stellungnahme (Fn. 1), S. 25 f. Vgl. Regierungskommission (Fn. 1), S. 172 ff. Regierungskommission (Fn. 1), S. 175 ff., 183 ff.
Strafverfahrens- und Sanktionenrecht
Zeugnisverweigerungsrechte im Zusammenhang mit der anonymen Kindesabgabe Werner Beulke I. Zur Problemlage Deutschlandweit werden jährlich etwa 30–40 Kinder unmittelbar nach der Geburt ausgesetzt oder getötet.1 Jenseits der statistisch erfassten Fälle muss mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden. Um Frauen in ihrer für sie ausweglos erscheinenden Notlage beizustehen und so die Zahl der Neonatizide zu verringern, werden in Deutschland seit etwa 1999 unterschiedliche Formen anonymer Kindesabgabe von kirchlichen und anderen freien Trägern der Schwangeren-, Kinder- und Jugendhilfe sowie von Krankenhäusern angeboten. (1) Bei der anonymen Geburt wird das Kind in einem Krankenhaus zur Welt gebracht, sodass die medizinische Versorgung von Mutter und Kind vor, während und nach der Geburt gewährleistet ist. Die Mutter verlässt das Klinikum ohne Angabe von Personalien, sobald ihr gesundheitlicher Zustand dies zulässt. Der Träger des Klinikums informiert sodann zeitnah das Standes-2 und/oder Jugendamt. Letzteres kümmert sich um die Benennung eines Vormunds und die Auswahl einer Pflegefamilie. (2) Babyklappen eröffnen Müttern in Not die Möglichkeit, ihr ohne ärztliche Hilfe zur Welt gebrachtes Kind in ein hinter einer fensterförmigen Klappvorrichtung befindliches Wärmebett zu legen. Nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne, in der sich die Mutter unerkannt entfernen kann, wird der Bereitschaftsdienst der Einrichtung durch einen Alarm benachrichtigt, sodass das Findelkind aufgenommen und versorgt werden kann.3 (3) In Fällen (sonstiger) anonymer Übergabe übergibt die Mutter nach vorheriger Terminabsprache ihr Neugeborenes ohne Preisgabe ihrer Identität persönlich einem Mitarbeiter des jeweiligen Anbieters. 1 Vgl. Deutscher Ethikrat (Hrsg.), Das Problem der anonymen Kindesabgabe – Stellungnahme, 2009, S. 24, in: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-das-problemder-anonymen-kindesabgabe.pdf [letzter Abruf: 10.3.2014]. 2 Zur Fragen der Beurkundung in Fällen anonymer Kindesabgabe: Spindler StAZ 2012, 97 ff. 3 Empfehlungen zu Mindeststandards im Hinblick auf Babyklappen hat der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. aufgestellt; vgl. JAmt 2013, 569 ff.
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Keine dieser drei Formen „anonymer Kindesabgabe“ ist gesetzlich geregelt, weshalb sich sowohl die Anbieter als auch die Mütter, welche von den entsprechenden Angeboten Gebrauch machen, in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Um größere Rechtssicherheit zu schaffen, hat sich der Gesetzgeber auf Initiative der damaligen Bundesregierung 4 nach leidenschaftlich geführter politischer Debatte dazu durchgerungen, Schwangeren in schwieriger Lage alternativ ein (4) weiteres Hilfsangebot in Form der vertraulichen Geburt zu unterbreiten: Durch das am 01.05.2014 in Kraft getretene „Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt“ (SchwHiAusbauG) 5 wurden in §§ 25 ff. SchKG erstmals Regelungen eingeführt, welche Schwangeren die Möglichkeit eröffnen, ihr Kind unter einem Pseudonym zur Welt zu bringen. Anders als in den Fällen anonymer Geburt muss jedoch von einer Beratungsstelle i.S.d. § 3 SchKG ein Nachweis über die Herkunft des Kindes erstellt werden, der über die persönlichen Daten der Mutter Auskunft gibt und (zunächst) in einem verschlossenen Umschlag beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben hinterlegt wird. Hat das Kind das 16. Lebensjahr vollendet, steht ihm in der Regel das Recht zu, den Herkunftsnachweis einzusehen. Wird ihm dies unter Hinweis auf entgegenstehende Belange, welche seitens der (leiblichen) Mutter geltend gemacht wurden, verwehrt, entscheidet das Familiengericht. Gegenstand dieses Festschriftbeitrags soll nicht etwa sein, die unterschiedlichen Formen anonymer Kindesabgabe (abermals) einer (straf-)rechtlichen Würdigung zu unterziehen. Insofern existieren bereits zahlreiche Abhandlungen.6 Mit der Frage, wie das Ablegen eines Neugeborenen in einer Babyklappe aus strafrechtlicher Sicht zu bewerten ist, habe auch ich mich bereits vor einigen Jahren intensiv auseinandergesetzt.7 Ebenso wenig soll im Folgenden untersucht werden, ob das neu geschaffene Instrument der vertraulichen Geburt gegenüber den unterschiedlichen Formen anonymer Kindesabgabe in rechtlicher sowie tatsächlicher Hinsicht wirklich vorzugswürdig erscheint.8 Vielmehr möchte ich das Augenmerk auf eine andere Fragestel4
BT-Drucks. 17 / 13062. G. v. 28.8.2013 BGBl. I, 3458 ff; die hier verwendete Abkürzung ist keine amtliche; näher hierzu Becker FS Brudermüller, 2014, S. 1. 6 Exemplarisch: Badenberg Das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung unter Berücksichtigung der Problematik der anonymen Geburt, 2006; Dellert Die anonyme Kindesabgabe, 2009; Hamper Babyklappe und anonyme Geburt, 2010; Hassemer/ Eidam Babyklappen und Grundgesetz, 2011; Jancker Die anonyme Geburt, 2012; Thürkow Strafrechtliche Bewertung der anonymen Kindsweggabe in die Babyklappe in Deutschland, 2009; Wiesner-Berg Anonyme Kindesabgabe in Deutschland und der Schweiz, 2009. 7 Beulke FS Herzberg, 2008, S. 605. 8 Vgl. dazu die Studie von Coutinho und Krell vom Deutschen Jugendinstitut e. V., Anonyme Geburten und Babyklappen in Deutschland, 2011, in: http://www.dji.de/fileadmin/ user_upload/Projekt_Babyklappen/Berichte/Abschlussbericht_Anonyme_Geburt_und_ Babyklappen.pdf [letzter Abruf: 10.3.2014]. 5
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lung richten: Ob die Angebote der anonymen Kindesabgabe von (werdenden) Müttern in schwierigen Lebenssituationen tatsächlich genutzt werden, hängt maßgeblich davon ab, inwiefern die in Aussicht gestellte Anonymität bzw. Vertraulichkeit tatsächlich gewährleistet ist. Immer wieder treten indes Fälle auf, in denen die Strafverfolgungsbehörden ein vitales Interesse daran haben, auf die Daten von Mutter und/oder Kind zuzugreifen. Exemplarisch sei insofern auf folgende beiden Sachverhaltskonstellationen hingewiesen: Fallbeispiel 1: Nach Bekanntwerden einer „anonymen Kindesabgabe“ leiten die Strafverfolgungsorgane ein „Verfahren gegen unbekannt“ wegen des Verdachts der Personenstandsunterdrückung (§ 169 StGB) ein. Um Hinweise auf die Mutter zu erhalten, sollen die Mitarbeiter der entsprechenden Einrichtung vernommen bzw. die dort zu dem Vorgang vorhandenen Unterlagen beschlagnahmt werden. Fallbeispiel 2: Die Nachbarn einer Frau wenden sich an die Strafverfolgungsorgane, da Letztere in den vergangenen Monaten offenbar schwanger war, der Verbleib des Kindes nun aber unklar ist. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren gegen die Frau wegen des Verdachts der Aussetzung (§ 221 StGB) bzw. der Kindstötung (§ 212 StGB) ein. Die Beschuldigte wird vernommen und gibt an, ihr Neugeborenes in eine bestimmte Babyklappe gelegt zu haben. Die Strafverfolgungsorgane verlangen daraufhin vom Betreiber der Babyklappe einen Nachweis über den Verbleib der dort im fraglichen Zeitraum abgelegten Kinder, um prüfen zu können, ob die Behauptung der Beschuldigten der Wahrheit entspricht. In Fall 1 suchen die Strafverfolgungsorgane nach der Mutter, in Fall 2 nach dem Verbleib des Kindes. Die Nöte, in welche sie die Mitarbeiter der jeweiligen Betreuungsprojekte stürzen, sind gleichermaßen groß. Die erstrebte Zeugenaussage bzw. die ins Auge gefasste Beschlagnahme stellen das Fundament sämtlicher Formen anonymer Kindesabgabe infrage: Das Versprechen uneingeschränkter Anonymität, das nicht nur den Müttern hilft, sondern – wie die zweite Fallkonstellation zeigt – auch das Leben der anonym abgegebenen Kinder und deren Ersatzfamilien schützt. So können die Strafverfolgungsbehörden beispielsweise in Fall 2 bei allen in Frage kommenden Kindern DNA-Untersuchungen anordnen (§ 81c Abs. 2 StPO) und auf diese Weise womöglich bislang nicht offengelegte Adoptionen aufdecken. Unschwer sind die dadurch hervorgerufenen Irritationen vorstellbar. Selbst bei „erfolgreichen“ Recherchen lastet (sowohl in Fall 1 als auch in Fall 2) fortan ein schwerer Makel auf den Schultern der für die anonyme Kindesabgabe Verantwortlichen. Der – von staatlicher Seite erzwungene – „Bruch“ ihres Anonymitätsversprechens wird andere Frauen in Not davon abhalten, die Angebote einer anonymen Kindesabgabe zu nutzen. Im Zeitalter von Internet und Facebook sowie angesichts der Vorliebe der Medien für Themen der vorliegenden Art spricht sich mangelnde Diskretion der professionellen Helfer schnell herum. Die anonyme Kindesabgabe wird als „Täuschungsmanöver“
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empfunden – mögen die Journalisten noch so sehr betonen, dass die Frauen letztlich in der Regel doch nicht verurteilt würden.9 Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass vorrangig nicht die Bestrafung, sondern das Bekanntwerden der Mutterschaft befürchtet wird. Für mich ist es eine Horrorvorstellung, auf diesem Wege ohne Rücksicht auf die extreme psychische Situation der betroffenen Frauen die Überlebenschancen der gefährdeten Säuglinge zu mindern. Meines Erachtens geht es nicht nur um das Schicksal der durch das konkrete Strafverfahren Betroffenen, sondern um die Zukunft der anonymen Kindesabgabe schlechthin. Ziel kann deshalb nur ein möglichst umfassendes strafprozessuales Zeugnisverweigerungsrecht derjenigen sein, die im Zusammenhang mit einer solchen Kindesabgabe persönlichkeitsbezogene Daten der Mutter und/oder des Kindes erlangen. Nun gilt es im Detail zu klären, welche Rechte insofern schon heute unstreitig gewährt werden und in welchen Bereichen noch Auslegungs- und Ausweitungsbedarf besteht. Dabei erscheint es sachgerecht, die Babyklappe und die sonstigen Formen anonymer Kindesabgabe angesichts der gleichgelagerten Rechts- und Interessenlage als Einheit zu betrachten.
II. Zeugnisverweigerungsrechte bei der Babyklappe Begonnen sei mit der anonymen Kindesabgabe in Form der Babyklappe, da hier die Praxisprobleme am größten und die gegensätzlichen Positionen am offensichtlichsten sind. 1. Beschluss des LG Köln vom 9.11.2001 Bis heute wird in der Praxis ein Beschluss des LG Köln10 als Leitentscheidung herangezogen. Danach steht den Betreuern einer Babyklappe in dem gegen Unbekannt geführten staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren (Fall 1) bezüglich der Personalien der Mutter kein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Im konkreten Fall hatte die Mutter nach der Geburt ihres Kindes Kontakt zu der Einrichtung aufgenommen, um dort im Rahmen eines Babyklappen-Projekts ihr Kind abzugeben, und sie ist in diesem Zeitraum umfassend beraten worden. Die Bejahung einer Aussagepflicht wird vorrangig damit begründet, dass eine Erstberatung nach Abschluss der Schwangerschaft keine Schwangerschaftsberatung im Sinne der §§ 2, 3 SchKG darstelle, weshalb ein Zeugnisverweigerungsrecht auf Grundlage des § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO aus9 Vgl. etwa den Artikel in der Passauer Neuen Presse vom 09.02.2014, in: http://www. pnp.de/nachrichten/bayern/1165161_Saeugling-in-Babyklappe-Darum-ermittelt-diePolizei.html [letzter Abruf: 10.3.2014]. 10 LG Köln NJW 2002, 909 m. zust. Anm. Neuheuser JR 2002, 172 ff.
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scheide. Auch unmittelbar aus dem Grundgesetz ergebe sich kein Recht, das Zeugnis über die persönlichen Daten der beratenen Mutter zu verweigern, weil nach der Rechtsprechung des BVerfG nur ausnahmsweise und unter strengen Voraussetzungen eine Begrenzung des Zeugniszwangs unmittelbar aus der Verfassung folgen könne und ein derartiger Extremfall nicht gegeben sei. Auf seinen Gewissenskonflikt könne sich der Zeuge nicht berufen, denn in Konfliktfällen müsse der Schutz des privaten Lebensbereichs mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafrechtspflege abgewogen werden. Die der (noch) anonymen Mutter vorgeworfene Personenstandsunterdrückung 11 hält das LG Köln offensichtlich für eine so schwere Straftat, dass das Aufklärungsinteresse dem Anonymitätsinteresse der Mutter vorgehen muss. Unter dem Damoklesschwert der drohenden Erzwingung des Zeugnisses (§ 70 StPO) haben sich im Fall des LG Köln seinerzeit die Mitarbeiter der Babyklappe dazu durchgerungen, die ihnen tatsächlich bekannte Identität der Kindsmutter preiszugeben. Bedauerlicherweise zieht sich diese verfehlte Entscheidung bis heute wie ein roter Faden durch die Praxis der Handhabung einschlägiger Konflikte. In den Kommentaren zur Strafprozessordnung wird sie zumeist zustimmend referiert12 – mit fatalen Konsequenzen für die Betroffenen. Nach jeder anonymen Kindesabgabe arbeiten die Behörden auf Hochtouren, angetrieben vom redlichen Wunsch, dem Kind eine Zukunft ohne Kenntnis der eigenen Herkunft zu ersparen. Sobald es Anhaltspunkte dafür gibt, dass Betreuer etwas über den Namen der Mutter wissen, wird versucht, unter Missachtung der Anonymitätswünsche der Frauen auf dem Weg über die Erzwingung einer Zeugenaussage an die dringend benötigten Informationen zu gelangen. Eine der besonders absurden Konsequenzen dieser Strategie der Strafverfolgungsbehörden liegt auf der Hand: Anstatt die Mütter vor und nach der Geburt möglichst umfangreich zu betreuen (mit der Gefahr, dass dabei auch die Anonymität zumindest partiell aufgehoben wird), müsste die Beratungsstelle jedenfalls nach der Geburt des Kindes jeden engeren Kontakt vermeiden. Dass dieser Holzweg dem Schutz der Kinder zuwiderläuft, lehrt allein schon die Erfahrung, dass Kontakte zwischen Mutter und Kind nach vorangegangener Abgabe in der Babyklappe häufig ein Umdenken seitens der Mutter bewirken – im günstigsten Fall mit einer späteren vollen Verantwor-
11 Eine Strafbarkeit wegen Aussetzung gem. § 221 StGB scheidet wegen der gesicherten medizinischen Erstversorgung aus. 12 Satzger/Schluckebier/Widmaier/Eschelbach StPO, 2014, § 53 Rn. 25; Heidelberger Kommentar StPO/Gercke, 5. Aufl. 2012, § 53 Rn. 18; Beck’scher Online-Kommentar StPO/ Huber, § 53 Rn. 19 (30.9.2013); Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 57. Aufl. 2014, § 53 Rn. 21; Kleinknecht/Müller/Reitberger/Neuheuser, § 53 Rn. 19 (November 2010); Radtke/Hohmann/Otte StPO, 2011, § 53 Rn. 21; Karlsruher Kommentar StPO/Senge, 7. Aufl. 2013, § 53 Rn. 21; Handkommentar gesamtes Strafrecht/Trüg, 3. Aufl. 2013, § 53 StPO Rn. 11.
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tungsübernahme für das eigene Kind. Keinesfalls dürfen wir uns also mit der Rechtsansicht des LG Köln abfinden – und glücklicherweise besteht dazu auch keine Notwendigkeit, weil sich die Rechtslage inzwischen weiterentwickelt hat, sodass jedenfalls für die Zukunft ein Festhalten an dieser – m.E. schon immer verfehlten13 – Lösung nicht mehr zwingend erscheint. Die Praxis muss dies nur zur Kenntnis nehmen, wozu sie bisher noch nicht in ausreichendem Maße bereit zu sein scheint. Das dürfte nicht zuletzt an der rechtlichen Zersplitterung unterschiedlicher Fallvarianten liegen, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. 2. Differenzierung nach Art der Anbieter a) Identität von Schwangerschaftsberatungsstelle und Betreiber der Babyklappe Häufig – so auch im besprochenen Beschluss des LG Köln – werden Babyklappen gerade von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen offeriert. Wenn die dort tätigen Mitarbeiter Daten über den persönlichen Hintergrund der Schwangeren bzw. der Mutter erfahren, ergibt sich für sie ein Zeugnisverweigerungsrecht bereits aus § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO i.V.m. § 2 Abs. 3 SchKG. Das ist im Falle der Beratung vor und nach der Geburt des Kindes völlig unstreitig.14 Im Rahmen der telefonisch oder persönlich geführten Beratungsgespräche mit den Babyklappenbetreibern erbitten werdende Mütter nicht selten auch Informationen und Beratung zur Babyklappe. Einige Neugeborene werden dort gerade vor dem Hintergrund einer zuvor durchgeführten Schwangerschaftsberatung abgelegt. Wenn nun aber im Falle einer vorgeburtlichen Beratung auch die Phase nach Geburt des Kindes eindeutig dem Schutzbereich der §§ 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO, 2 Abs. 3 SchKG unterfällt, wäre es völlig systemfremd und willkürlich, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu verneinen, wenn sich die Mutter lediglich nach der Entbindung an die Beratungsstelle wendet. Die Notsituation der jungen Mütter nach der Geburt des Kindes ist weitgehend mit der im Vorfeld der Geburt identisch, sodass eine Einbeziehung beider Phasen jeweils auch einzeln betrachtet zwingend erscheint. Für die Anerkennung eines Zeugnisverweigerungsrechts i.S.v. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO der erst nach der Geburt eines Kindes tätig gewordenen Berater sprechen ferner verfassungsrechtliche Erwägungen. Dies kommt nicht zuletzt in einem Beschluss des BVerfG vom 28. Mai 1993 15 zum Aus13 Beulke FS Herzberg, 2008, S. 605, 621; abw. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 12), § 53 Rn. 21 mit der Anmerkung, meine Gegenposition enthalte den „beachtlichen Hinweis“ auf das Interesse des Lebensschutzes des Säuglings. 14 Siehe nur die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 3 SchKG, BT-Drucks. 12 / 2605, S. 20. 15 BVerfGE 88, 203.
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druck, wonach die Schutzpflicht für das ungeborene Leben auch Schutzmaßnahmen mit dem Ziel umfasst, „Notlagen im Gefolge einer Schwangerschaft zu vermeiden oder ihnen abzuhelfen“. Der aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG resultierende Schutzauftrag des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben verpflichte die staatliche Gewalt, „Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, die der Mutter während und nach der Schwangerschaft erwachsen können“. Anders als das LG Köln bezieht das BVerfG also – völlig zu Recht – auch die Konfliktsituation der Mutter nach der Geburt in den Bereich schützenswerter Anonymität mit ein. Zumindest seit § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO im Jahre 1995 in seiner jetzigen Form in Kraft getreten ist, ist die gegenteilige Ansicht überholt. In der Praxis gilt es nun aber ein Folgeproblem zu lösen: Wenn die Babyklappenbetreiber im obigen Fall 1 unter Hinweis auf § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO eine Zeugenaussage verweigern, halten die Strafverfolgungsorgane dem entgegen, dass sich nicht beweisen lasse, dass die gesuchte Mutter zu dem Kreis der Personen zähle, die sich vor oder nach der Geburt des Kindes habe beraten lassen – schließlich erfolge die Beratung zumeist anonym. Dem durch diesen Einwand für die Mitarbeiter der Schwangerschaftsberatungsstellen entstehenden Dilemma begegnen wir in verschärfter Form auch in Fall 2, in dem der Verbleib eines Kindes aufgeklärt werden soll und die Mutter gegenüber den Strafverfolgungsbehörden bekräftigt, sie habe überhaupt keine Beratung durch Betreuer der Babyklappe erfahren. Hängt das Zeugnisverweigerungsrecht davon ab, dass der Nachweis einer konkreten Beratung der Schwangeren bzw. Mutter gelingt (Fall 1) – bzw. müssen die Helfer beweisen, dass das in der Babyklappe abgelegte Kind, dessen persönliche Daten (Adoptionsfamilie, sonstiger Aufenthaltsort) die Strafverfolgungsbehörden erfahren möchten, gerade nicht von der Frau abstammt, die erklärt, nicht beraten worden zu sein (Fall 2)? Eine solche Argumentation ginge jedoch fehl, da sie – gleich einer petitio principii –bereits voraussetzt, was erst bewiesen werden soll: Ob es sich im Fall 1 bei einer bestimmten Person um die Mutter des in der Babyklappe abgelegten Kindes handelt, soll schließlich durch die Zeugenvernehmung herausgefunden werden. Ebenso ist die Rechtslage im Fall 2, bei dem die Mutter bekannt ist, nunmehr aber der Verbleib des Kindes aufgeklärt werden soll, denn ob die Frau tatsächlich die leibliche Mutter der in der Babyklappe abgelegten Kinder ist, muss erst geklärt werden. Vor der Zeugenvernehmung ist also völlig offen, ob zwischen der Person, deren Geheimnisschutz § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO in erster Linie bezweckt, und der Person, über welche die Strafverfolgungsorgane Aufklärung verlangen, Personenidentität besteht. Da der Schutzzweck des § 2 Abs. 3 SchKG jedenfalls dann, wenn die Schwangerschaftsberatung feststeht und dann, wenn dies nicht geklärt werden kann, der gleiche ist, muss den Anbietern, die zugleich im Rahmen der Schwangerschaftsberatung tätig sind, im Wege der verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a
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StPO ein generelles Zeugnisverweigerungsrecht bezüglich der betroffenen Mütter und Kinder zugebilligt werden, unabhängig davon, ob sich die Schwangere schon vor der Geburt oder erst danach oder sogar vielleicht überhaupt nicht von diesen Betreuern hat beraten lassen. Hierfür spricht auch, dass nach zutreffender Ansicht das Zeugnisverweigerungsrecht zugunsten der Mitarbeiter einer anerkannten Schwangerschaftsberatungsstelle nicht nur das konkrete personenbezogene Vertrauensverhältnis, also das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren, sondern auch die „Funktionstüchtigkeit der Einrichtung“16 schützt. b) Zeugnisverweigerungsrecht bei Anbietern von Babyklappen, die nicht zugleich als Schwangerschaftsberatungsstelle fungieren Sollte der als Zeuge in die Pflicht genommene Mitarbeiter einer Babyklappe nicht zugleich Beratungen i.S.d. SchKG durchführen, ist § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO nicht unmittelbar anwendbar. Ein Zeugnisverweigerungsrecht ergibt sich hier aber aus einer – im Lichte des Verfassungsrechts vorgenommenen – analogen Anwendung der genannten Vorschrift17 bzw. – sofern man auch dies ablehnt – unmittelbar aus der Verfassung. Bereits die bloße Befragung eines Zeugen stellt einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) dar, der – soll er gerechtfertigt sein – einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten muss. Ergebnis der erforderlichen Gesamtabwägung muss sein, dass das Interesse an der Aufklärung des in Rede stehenden Sachverhalts schwerer wiegt als die durch eine Aussage tangierten grundrechtlich geschützten Interessen des Zeugen bzw. Dritter. Dabei ist die Entscheidung, welchen Belangen im Rahmen der erforderlichen Abwägung Vorrang einzuräumen ist, nicht zwingend dem Gesetzgeber vorbehalten. Ob sich dieser mit der in Rede stehenden Problematik bereits befasst hat, ist allenfalls für die Frage von Bedeutung, ob die – auf einfachgesetzlicher Ebene offensichtlich bestehende – Regelungslücke planwidrig ist und infolgedessen Raum für eine Analogie bleibt. Selbst wenn man dies verneint, eröffnet sich eben immer noch die Möglichkeit, ein Zeugnisverweigerungsrecht unmittelbar aus der Verfassung abzuleiten.18 Es steht für mich außer Zweifel, dass Babyklappen ein geeignetes Instrument sind, Schwangeren und Müttern, die sich in einer schweren Krisensituation befinden, zu helfen und das Leben der Neugeborenen zu schützen.19 Seit der besagten Entscheidung des LG Köln aus dem Jahre 2001 hat die Sensibi16 S/S/W-StPO/Eschelbach (Fn. 12), § 53 Rn. 25; Löwe/Rosenberg/Ignor/Bertheau StPO, 26. Aufl. 2008, § 53 Rn. 40; s. auch Neumann Zeugnisverweigerungsrechte und strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 175. 17 So etwa Mittenzwei ZRP 2002, 452. 18 Vgl. nur BVerfG NJW 2007, 1865. 19 Äußerst kritisch insofern beispielsweise Frank StAZ 2012, 289 ff.
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lität für Hilfe suchende schwangere Frauen und das Schutzbedürfnis der gefährdeten Babys erheblich zugenommen.20 Auch die Begründung zu dem am 1.1.2012 in Kraft getretenen „Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen“21 enthält eine eindringliche Mahnung, den Anonymitätswunsch betroffener Frauen zu respektieren.22 Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber im Rahmen des eingangs erwähnten SchwHiAusbauG die Legitimität der unterschiedlichen Formen der anonymen Kindesabgabe – also auch die der Babyklappe – bestätigt hat. Trotz heftiger Gegenwehr seitens unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen konnten sich die Parlamentarier letztlich auf eine „Experimentierklausel“ einigen. In § 25 Abs. 5 SchKG n.F. heißt es: „Lehnt die Frau eine vertrauliche Geburt ab, so ist sie darüber zu informieren, dass ihr das Angebot der anonymen Beratung und Hilfen jederzeit weiter zur Verfügung steht.“ Damit wird sozusagen ex cathedra anerkannt, dass neben der vertraulichen Geburt auch die anderen Möglichkeiten anonymer Kindesabgabe weiterhin bestehen bleiben. Eine „Evaluierungsklausel“ (Art. 8 SchwHiAusbauG) verpflichtet die Bundesregierung dazu, nach drei Jahren einen Bericht vorzulegen, ob sich die vertrauliche Geburt bewährt hat und welche „Auswirkungen“ von ihr ausgehen. Darunter ist nicht zuletzt das Gebot zu verstehen, den Stellenwert der neuen gesetzlichen Lösung im Dreiklang von vertraulicher Geburt, anonymen Geburt und Babyklappe zu bestimmen. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber selbst hat die unterschiedlichen Angebote anonymer Geburt zumindest für eine dreijährige Übergangszeit „akzeptiert“. Hingewiesen sei ferner darauf, dass das LG Köln inzwischen ebenfalls anderen Sinnes geworden ist, wenn es in einer Entscheidung vom 25.9.2008 23 ausführt, dass im Falle der vom Staat gebilligten Babyklappe die Kindsmutter darauf vertrauen darf, „dass der Gesetzgeber […] das Identitätsfeststellungsinteresse der Betroffenen gegenüber dem Schutz der körperlichen Integrität des Kindes und dessen sicherer Unterkunft zurückstellt…“. Die auf Seiten der Gegner anonymer Kindesabgabe beliebte Methode, diesen Institutionen die Eignung zum Schutz des Lebens sowie der körperlichen Integrität Neugeborener abzusprechen, weil statistisch die Zahl der Kindestötungen mit zunehmender Anzahl einschlägiger Angebote nicht abnehme,24 geht schon deshalb ins Leere, weil die Zahlen viel zu gering sind, um valide Ergebnisse zu erzielen. Außerdem ist mein Plädoyer zugunsten der Baby20 21 22 23 24
Vgl. als Beleg bspw. Hassemer/Eidam (Fn. 6). G. vom 22.12.2011, BGBl. I, 2975. BT-Drucks. 17 / 5256, S. 30. LG Köln BeckRS 2010, 09133. Vgl. etwa Neuheuser ZfL 2011, 11, 12 mit Fn. 8.
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klappe ohnehin unabhängig von solch eher plumpen Zahlenspielen. Selbst wenn nur ein Kind durch diese Form der anonymen Kindesabgabe vor dem Tode gerettet werden könnte, lohnte sich der betriebene Aufwand.25 Auch die Tatsache, dass Frauen, die ihr Kind in einer Babyklappe abgelegt hatten, im Rahmen einer später durchgeführten anonymen Befragung mehrheitlich abgestritten haben, eine Tötung des Neugeborenen erwogen zu haben, belegt nicht die fehlende Effektivität dieses Angebots. Natürlich werden sich die betroffenen Frauen nicht als „potentielle Mörderinnen“ outen. Es geht auch gar nicht allein um die Bekämpfung vorsätzlicher Kindstötungen, sondern um Vermeidung aller Leibes- und Lebensgefahren für die Säuglinge, die mit einer Aussetzung oder einer sonstigen Panikreaktion der Mutter verbunden sind. Beeindruckende Schicksalsberichte betroffener Frauen belegen, dass das Angebot der Babyklappe nicht selten als einzige Alternative zur Kindsaussetzung betrachtet wird.26 Massenstatistisch ist zwar keinerlei Zusammenhang zwischen der Existenz von Babyklappen und der Anzahl tot aufgefundener Kleinkinder erwiesen.27 Zu denken geben sollte aber, dass inzwischen auch der 4. Strafsenat des BGH das Ablegen Neugeborener in einer Babyklappe gleich in zwei Entscheidungen als „alternative Möglichkeit“ zu Straftaten der Mutter bezeichnet hat.28 Zurück zum Dilemma der Betreuer von Babyklappen: Sie befinden sich in derselben Konfliktlage, die der Gesetzgeber für Mitglieder anerkannter Schwangerschaftsberatungsstellen mit Hilfe des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO entschärfen wollte: In beiden Fällen geht es um Mütter in einer schwierigen Notlage und psychischen Ausnahmesituation, in der ihnen von der Gesellschaft Hilfe angeboten wird, damit sie ihre Schwangerschaft nicht unbedacht abbrechen bzw. ihr Kind nicht aussetzen oder töten. Die Akzeptanz aller Hilfsangebote hängt jedoch entscheidend davon ab, dass die sie betreuenden Personen ohne Wenn und Aber einer Geheimhaltungspflicht unterliegen. Zweck des § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO ist es, bei der gesamten Tätigkeit der Schwangerenberatung der Erreichbarkeit schwangerer, hilfsbedürftiger Frauen Vorrang vor allen anderen Zielen einzuräumen, um überhaupt Einwirkungsmöglichkeiten zum Schutz der (ungeborenen) Kinder zu erlangen. Unter dieser Prämisse ist gerade auch die „Anonymitätsgarantie“ seitens der Betreiber von Babyklappen von besonderer Bedeutung! Keine Frau wird ihr Neugeborenes zukünftig noch einer Babyklappe anvertrauen, wenn sie die Möglichkeit nachträglicher staatlicher Intervention vor Augen hat.29 25
Ebenso Käßmann ZRP 2010, 63. Moysich, Und plötzlich ist es Leben, 2. Aufl. 2004. 27 Zu positiven Erfahrungen aus Österreich s. Medical Tribune v. 18.3.2010. 28 BGH NStZ-RR 2008, 309 u. NStZ 2009, 210. 29 Paradigmatisch BGH NStZ-RR 2008, 308: „Die Abgabe des Kindes in eine so genannte Babyklappe zog sie [die erstinstanzlich wegen Kindstötung verurteilte Angeklagte] 26
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Der staatliche Eingriff in Form einer zwangsweisen Durchsetzung der Zeugnispflicht wäre also letztlich mit einer verheerenden Beeinträchtigung des Schutzes werdender Mütter (Art. 6 Abs. 4 GG), des Anonymitätsanspruches der sich in einer psychischen Zwangslage befindlichen Schwangeren/ Mutter (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und des Schutzes des ungeborenen Lebens (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verbunden. Überdies wäre die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Babyklappenbetreiber in erheblichem Maße tangiert, da das Hilfsangebot deutlich an Attraktivität einbüßen würde, wenn potentiellen Nutzerinnen keine Vertraulichkeit mehr garantiert werden könnte.30 In den Fällen, in denen die Strafverfolgungsorgane Auskunft über den Verbleib des abgegebenen Kindes verlangen (Fall 2), ist darüber hinaus das Grundrecht der Adoptionsfamilie auf staatlichen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und ungestörte Ausübung der elterlichen Sorge (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) tangiert. Nicht ohne Grund statuiert § 1758 BGB ein Offenbarungs- und Ausforschungsverbot hinsichtlich Tatsachen, die geeignet sind, eine Adoption und ihre Umstände aufzudecken. Das Verfügungsrecht über die Adoptionsumstände liegt allein bei dem oder den Annehmenden und dem Kind.31 Die Entscheidung, wann und in welcher Form das Kind über seine Herkunft unterrichtet werden soll, obliegt den Erziehungsberechtigten, von Staats wegen oder von Seiten Dritter sollte insofern nicht eingegriffen werden.32 Wenn nun aber von staatlicher Seite mit Hilfe der Angaben der Betreuer an die neue Familie des adoptierten Kindes herangetreten würde, um einen DNA-Abgleich durchzuführen, würde diese Prämisse missachtet: Das Kleinkind wäre durch die Vorgänge erheblich irritiert, der familiäre Friede erführe eine empfindliche Störung. Wie dargelegt, garantiert auch das neue Gesetz zur vertraulichen Geburt dem Kind eine „Karenzzeit“ der unbeschwerten Jugend frei von jeder Abstammungsdiskussion bis zum Erreichen des 16. Lebensjahres (!). Es wäre sträflich zu ignorieren, dass Kinder, die in einer Babyklappe abgelegt wurden, in gleichem Maße schutzbedürftig sind. Als Zwischenfazit kann also festgehalten werden, dass grundrechtlich geschützte Interessen von werdenden Müttern und ihren Kindern, von Adoptionsfamilien und von den Betreibern der Babyklappen durch eine Aussagepflicht Letzterer gegenüber den Strafverfolgungsbehörden erheblich beeinträchtigt würden. Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege wäre jedoch durch die Zubilligung eines Zeugnisverweigerungsrechts insbesondere in
nicht in Betracht, weil sie glaubte, dass hierbei sie als Mutter des Kindes und H als dessen Erzeuger bekannt würden“. 30 Gestützt wird diese Argumentation m.E. nicht zuletzt auch durch einen Beschluss des BVerfG vom 24. Mai 1977, BVerfGE 44, 353. 31 Palandt/Diederichsen BGB, 73. Aufl. 2014, § 1758 Rn. 2. 32 BT-Drucks. 7 / 3061, S. 46.
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Fall 1 weniger tangiert,33 was schon an der relativ geringen Strafandrohung des § 169 StGB (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe) erkennbar wird. Auch das Informationsrecht des Kindes hinsichtlich seiner Abstammung muss m.E. gegenüber der Gefahr für das Leben des Säuglings zurücktreten.34 Zum selben Ergebnis führ die erforderliche Abwägung, wenn es sich wie in Fall 2 um ein Strafverfahren gegen die Mutter handelt, für die sich die Aussage des Betreuers über den Verbleib der abgegebenen Kinder im „Erfolgsfall“ (das Kind wird tatsächlich gefunden) strafentlastend auswirken würde. Eine Mutter, die ihr Kind in einer Babyklappe ablegt, entscheidet sich bewusst zugunsten einer anonymen Lösung, die Vor- und Nachteile für sie bringen kann. Die auf eigenem freiem Entschluss basierende Preisgabe ihrer Einwirkungsmöglichkeiten zeitigt möglicherweise Spätfolgen, die sie im Interesse des Kindes hinnehmen muss. Vor diesem Hintergrund kann m.E. kein Zweifel bestehen, wie das Ergebnis der erforderlichen Gesamtabwägung ausfällt: Eine Befürwortung der Zeugnispflicht der Mitarbeiter von Babyklappen würde in unverhältnismäßiger und damit nicht gerechtfertigter Weise in deren Grundrechte und diejenigen der dort abgegebenen Kinder eingreifen. Es ist deshalb sowohl in Fall 1 als auch in Fall 2 von einem uneingeschränkten Zeugnisverweigerungsrecht aller Mitarbeiter von Babyklappen bezüglich derjenigen Umstände auszugehen, die sich speziell aus der Anonymität des Hilfsangebots ergeben.
III. Zeugnisverweigerungsrechte bei der anonymen Geburt Die anonyme Geburt ist aufgrund der „Experimentierklausel“ des § 25 Abs. 5 SchKG zumindest für eine Übergangszeit von drei Jahren ebenfalls rechtlich abgesichert, wozu auch ein flankierendes Zeugnisverweigerungsrecht gehören sollte. Im Vergleich zur Babyklappe besteht der unschätzbare Vorteil einer fachkundigen medizinischen Versorgung von Mutter und Kind schon während der Geburt. Die Schwangeren, die ihre Situation als aussichtslos einstufen, werden in ihrer Verzweiflung aber auch die bessere medizinische Versorgung, welche die anonyme Geburt gewährleistet, nur in Anspruch nehmen, wenn trotz des mit dem Klinikaufenthalt notwendig verbundenen engen Kontakts zwischen Ärzten, Pflegepersonal etc. einerseits und der gebärenden Frau andererseits mindestens dasselbe Schutzniveau besteht wie bei der Babyklappe. Umso bedauerlicher erscheint es, dass auch gegen diese
33
Ebenso Hassemer/Eidam (Fn. 6), S. 40. Ausführlich Beulke FS Herzberg, 2008, S. 605, 619 ff ; ebenso Systematischer Kommentar StGB/Schall, § 169 Rn. 24 (November 2008); Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, 28. Aufl. 2010, § 169 Rn. 9. 34
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Variante der anonymen Kindesabgabe immer wieder der Vorwurf der Rechtswidrigkeit/Strafbarkeit/Verfassungswidrigkeit erhoben wird.35 Immerhin wird im Schrifttum inzwischen eine Rechtfertigung des Arztes gemäß § 34 StGB im jeweiligen Einzelfall in Betracht gezogen, etwa wenn er sich durch Verweigerung der Geburtshilfe wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB strafbar machen würde.36 Wie soll jedoch der Arzt prognostizieren, ob der Staatsanwalt/Richter später die Abwägung genauso vornehmen wird wie er? Eine Sicherheit, sich nicht auf der Anklagebank wiederzufinden, sieht anders aus. Nicht zuletzt deshalb lassen derzeit die meisten Kliniken in Deutschland die Finger von der anonymen Geburt und die Schwangeren müssen trotz der häufig gebotenen Eile oft längere Anfahrtswege in Kauf nehmen. Grabenkämpfe über den besten Weg der Vermeidung von Säuglingstötungen sollten jedoch keinesfalls auf dem Rücken der betroffenen Frauen ausgetragen werden. Was im Hinblick auf die Betreiber von Babyklappen sinnvoll ist, muss m.E. erst recht für das noch „bessere“ Konzept der anonymen Geburt gelten. Auch hier ist demnach von einem umfassenden Zeugnisverweigerungsrecht auszugehen, sei es, dass es sich bei der Klinik auch um eine Schwangerschaftsberatungsstelle handelt, sodass § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a StPO eingreift , sei es, dass den Bediensteten einer Klinik ohne diesen Status das Zeugnisverweigerungsrecht infolge einer analogen Anwendung der genannten Norm oder direkt aus der Verfassung zuerkannt wird.
IV. Zeugnisverweigerungsrechte bei der vertraulichen Geburt Damit ist im Grunde genommen auch schon die Antwort auf die Frage gefunden, inwiefern all denjenigen ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, die im Rahmen der vertraulichen Geburt an persönliche Daten gelangen, welche von den Strafverfolgungsorganen begehrt werden. Kommt es zu einer Vernehmung, muss ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht die durch §§ 25 ff. SchKG gewährleistete Vertraulichkeit der Herkunftsdaten absichern. Auch hier kann es nicht darauf ankommen, ob die Angaben von Mitgliedern einer Schwangerschaftsberatungsstelle verlangt werden oder ob es sich um sonstige Personen handelt. Der zuletzt genannte Personenkreis dürfte bei der vertraulichen Geburt angesichts des beträchtlichen Verwaltungsaufwandes und der Einschaltung verschiedener Behörden besonders groß sein, sodass sich auch die Gefahren für den Geheimnisbereich von Mutter und Kind 35
Statt aller: Scheiwe ZRP 2001, 368, 371. LK/Dippel, 12. Aufl. 2010, § 169 Rn. 27; SK-StGB/Schall, § 169 Rn. 26 (November 2008); vgl. auch NK/Frommel, 4. Aufl. 2013, § 169 Rn. 6; Münchener Kommentar StGB/ Ritscher, 2. Aufl. 2012, § 169 Rn. 22 ff. 36
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potenzieren. Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass die beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben im verschlossenen Umschlag hinterlegten persönlichen Daten der Mutter alsbald den Appetit der Strafverfolgungsorgane wecken werden. Unter Hinweis auf das angeblich schwerer wiegende Interesse an einer effektiven Strafverfolgung wird zur Mitteilung dringend benötigter Informationen aufgefordert werden – so z.B. im Falle einer Strafanzeige seitens des (angeblichen?) Vaters des Kindes gegen die Mutter wegen Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB) oder Kinderhandels (§ 236 StGB). Merkwürdigerweise enthält das SchKG keine Regelungen über Zeugnisverweigerungsrechte der im Rahmen der vertraulichen Geburt tätig werdenden Personen. Auch Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbote sucht man vergebens. Soll das bedeuten, dass sich die Strafverfolgungsbehörden anhand einer ihrerseits vorzunehmenden Abwägung für oder gegen die Einsichtnahme in die hinterlegten Daten entscheiden dürfen oder besagt die gesetzlich angeordnete Versiegelung, dass 16 Jahre lang wirklich niemand befugt ist, den Briefumschlag zu öffnen – mag das Interesse an einer Aufhebung des Geheimnisses auch noch so groß sein? Hält diese „Firewall“ selbst dann, wenn es um die Aufklärung eines (mutmaßlichen) Mordes geht? Ich plädiere trotz aller damit verbundener Folgeprobleme für ein uneingeschränktes Verbot, den versiegelten Umschlags vor Ablauf der gesetzlichen Frist zu öffnen. Aus dem Sachzusammenhang der §§ 25 ff. SchKG ergibt sich, dass unter keinen Umständen in das „Allerheiligste“ eingedrungen werden darf. Das von mir schon im Rahmen einer Sachverständigenanhörung vor dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages37 gerügte völlige Schweigen des Gesetzestextes sowie der Gesetzesbegründung hinsichtlich eines Zeugnisverweigerungsrechts der eingeschalteten Krankenhaus-, Beratungsstellen-, Jugendamts- und sonstigen Behördenmitarbeiter darf nicht als Alibi dafür genutzt werden, das gegenüber der Schwangeren abgegebene Vertraulichkeitsversprechen wie einen Schweizer Käse zu durchlöchern. Würde publik, dass die vertrauliche Geburt so „vertraulich“ dann doch nicht ist, wäre der gerade erst begonnene Modellversuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Jeder, dem der Schutz von Frau und Kind am Herzen liegt, sollte seine noch so legitimen Gegeninteressen hintanstellen. Nur so gibt man dem Kompromiss zwischen den Anonymitätsinteressen der Mutter einerseits und denen des Kindes auf Information über seine Herkunft andererseits, auf den sich der Gesetzgeber erfreulicherweise hat einigen können, eine realistische Chance. Mit diesem Plädoyer zugunsten einer alle Bereiche abdeckenden Anonymitäts-/Vertraulichkeitsgarantie im Rahmen der anonymen/vertraulichen Kin-
37 Meine schriftliche Stellungnahme ist abrufbar unter http://www.sternipark.de/ fileadmin/content/17_13_265f_Prof__Dr__Werner_Beulke.pdf [letzter Abruf 10.3.2014].
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desabgabe sei der vorliegende Beitrag abgeschlossen. Ich hoffe auf das Interesse unseres Jubilars, der nicht nur zu den profundesten Kennern des materiellen Strafrechts zählt, sondern sich auch im Strafprozessrecht wie ein Fisch im Wasser tummelt. Ich kenne den leidenschaftlichen, rede- und schreibgewandten Wissenschaftler Bernd Schünemann seit Studententagen und wir sind uns bis heute in herzlicher Freundschaft verbunden. Ich erhoffe mir, dass dies auch in Zukunft so bleiben möge und wünsche ihm noch viele Lebensjahre in Gesundheit und ungebrochener Schaffenskraft.
Die Urteilsabsprachen als Signum einer rechtlichen Steuerungskrise Gunnar Duttge I. Das Strafverfahrensrecht in der Sackgasse Manchmal lohnt ein Blick zurück, um die Gegenwart besser einschätzen zu können: Als der verehrte Jubilar in seinem Gutachten zum 58. Deutschen Juristentag1 das Ausmaß der lange Zeit im Verborgenen ihr Eigenleben entfaltenden informellen Absprachen in quantitativer wie qualitativer Hinsicht ohne jedweden Anflug von Beschönigung zur Sprache brachte, konnte er sich eines gewiss sein: dass sich der Beifall in Grenzen halten und seine pointierte Kritik von der kompromissgestimmten Mehrheit als „überzogen“ aufgefasst (und äußerstenfalls mit Nichtbeachtung gestraft) würde.2 Wer heute dagegen davon spricht, „dass die informellen Verständigungen zum wichtigsten (…) Teil als echte Absprachen über das künftige Prozessverhalten praktiziert werden, die unter Verletzung zahlreicher Verfahrensnormen und -garantien Formen des plea-bargaining-Verfahrens unter Meidung der öffentlichen Hauptverhandlung in den (…) hierfür nicht aufnahmefähigen deutschen Strafprozess einbauen; dass das Ergebnis der Aushandlungsprozesse nach dem Prinzip der Durchsetzung des Stärkeren gefunden wird und keine rechtlichen Garantien für Ausgewogenheit und Gleichmäßigkeit bestehen; dass die Hauptverhandlung (…) weitgehend zur Farce und die Stellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt ausgehöhlt wird (…); dass dadurch ausgerechnet das Strafverfahren (…) in einen unerträglichen Zustand der Gesetzesmissachtung und Normlosigkeit (…) gestürzt worden ist“3, der kann sich auf keine geringere Autorität als die des Bundesverfassungsgerichts berufen: Denn in seiner mit Spannung erwarteten Grundsatzentscheidung hat es bekanntlich eine hinreichende empirische Basis für die Annahme gesehen, „dass Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidigung in einer hohen Zahl von
1 Schünemann Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen. Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, 1990. 2 Vgl. auch die weit zurückhaltenderen Beschlüsse und den Kurzbericht zum Tagungsverlauf (NJW 1990, 2985 ff., 2991 ff.); Schünemann FS Wolter, 2013, S. 1107, 1108. 3 Schünemann (Fn. 1), S. 141.
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Fällen die gesetzlichen Vorgaben [scil.: des Verständigungsgesetzes 2009] 4 missachten und die Rechtsmittelgerichte der ihnen zugewiesenen Aufgabe der Kontrolle der Verständigungspraxis nicht immer in genügendem Maße nachgekommen sind“5, also eine Rechtsanwendungspraxis bestehe, die „in verfassungswidriger Weise“ die geltenden Rechtsregeln und -prinzipien verletze.6 Dass eine derartige „Schuld“-Zuweisung angesichts des redlichen Bemühens des Bundesgerichtshofs um Eindämmung des rechtswidrigen „Deals“ 7 wohl nicht ganz fair sein dürfte, ist eine Sache; dass diese Strategie des Bundesverfassungsgerichts, gewählt um der Normerhaltung (des Verständigungsgesetzes) willen, der Suche nach dem Ausgang aus der Sackgasse aber womöglich sogar im Wege stehen könnte, macht die Sache noch viel schlimmer. Denn auch dem Bundesverfassungsgericht blieb am Ende nur der – teils lockende, teils mit drohendem Unterton belegte – Appell, doch endlich wieder zur Normtreue zurückzukehren.8 Lässt sich das aber ernstlich von einer Rechtspraxis erwarten, der cum grano salis das Stigma der „Verfassungswidrigkeit“ angeheftet wird und die im Übrigen seit Jahrzehnten (und nicht erst seit Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes) – vorsichtig formuliert – an den Grenzen der StPO agiert und die neuen Regelungen deutlich vernehmbar als „bevormundend“, „bürokratisch-formalistisch“ und per saldo als „praxisuntauglich“ ablehnt?9 Da erscheint es fast wie aus Grimms Märchen10, mit den Karlsruher Richtern daran zu glauben, dass es nur eines besser „ausgeprägten Bewusstseins“ der Rechtspraktiker 11 und einer Beseitigung ihrer „interessengeleiteten Missverständnisse“12 (wodurch?) bedarf, damit es nicht mehr zu einer Umgehung des Gesetzes (noch dazu: in seiner z.T. restriktiveren Deutung durch das Bundesverfassungsgericht, etwa zur „zwingen-
4 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 (BGBl. I, 2353). 5 BVerfG NJW 2013, 1058, 1069 (Rn. 117). 6 BVerfG NJW 2013, 1058, 1070 (Rn. 118). 7 Insbesondere durch den 4. Strafsenat in BGHSt 43, 195 ff.; weiterhin BGHSt (GS) 50, 40 ff.; vertiefend Meyer-Goßner in: Böttcher (Hrsg.), Verfassungsrecht – Menschenrechte – Strafrecht, 2004, S. 161 ff. und ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 235 ff. 8 Mit Recht skeptisch Meyer NJW 2013, 1850, 1852: „kein hinreichend wirksames Mittel der Impulskontrolle“. 9 Vgl. Caspari DRiZ 2013, 6, 9; Leipold NJW-Spezial 2013, 248. 10 Siehe auch Fezer HRRS 2013, 117, 118: „weltfremd, gleichsam zwischen Himmel und Erde schwebend“. 11 Treffend Stuckenberg ZIS 2013, 212, 217: „(…) sollte man an sich annehmen dürfen, dass Juristen in der Lage wären, ein relativ unkompliziertes Gesetz, das zentrale Aspekte ihrer Berufsausübung betrifft, in weniger als drei Jahren zu begreifen und zu verinnerlichen“. 12 BVerfG NJW 2013, 1058, 1063 (Rn. 71).
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den“ Überprüfungsbedürftigkeit eines Geständnisses)13 komme. Und wenn nicht? Die Antwort des Senats offenbart die vorherrschende Ratlosigkeit: Dann müsse „der Gesetzgeber der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken“14 – als hätte dieses wie selbstverständlich auf die strahlende Autorität des Rechts setzende Denken im hiesigen Kontext auch nur irgendeinen Erfolg gezeitigt. Trotz des sichtlichen Bemühens sowohl des Bundesgerichtshofs als auch des Gesetzgebers, den – tatsächlichen oder vermeintlichen – „Bedürfnissen der Rechtspraxis“ bis zu den Grenzen ihrer Gestaltungsmacht entgegenzukommen, also trotz beachtlicher Normativierung des Faktischen, hat sich die Rechtspraxis bislang nicht von den Netzen des Rechts einfangen lassen. Und es besteht wohl auch keinerlei Grund anzunehmen, dass dem Urteil des Bundesverfassungsgericht am Ende nicht dasselbe widerfahren wird. Welche Option bleibt dann aber noch, wenn alles Pochen auf die normative Bestimmungsmacht des Rechts, selbst von den höchsten Autoritäten ausgesprochen,15 und das Schreckensbild einer „untergehenden Strafprozesskultur“16 offenbar nichts wesentlich zum Besseren verändern?
II. Zur Genese der Fehlsteuerung Statt voreilig eine ad-hoc-Antwort zu formulieren, lohnt es sich, zunächst einmal die möglichen Ursachen aufzudecken, die zu der jetzigen Lage geführt haben – freilich ohne jedwede „Schuld“-Zuweisung, allein in analytischer Absicht: Zu Beginn war es bekanntlich die korrumpierende Heimlichkeit zuerst einzelner, dann immer zahlreicher werdender „Detlef Deals aus Mauschelhausen“17, die verhinderte, dass ein Obergericht frühzeitig Gelegenheit erhielt, die Geschehnisse de jure unmissverständlich einzuordnen und strikte Grenzen zu ziehen. Diese Erfahrung wirkt bekanntlich bis heute fort, indem sowohl der Bundesgerichtshof als auch der Gesetzgeber – selbst Friktionen mit der Dogmatik des Rechtsmittelrechts in Kauf nehmend – nachdrücklich Gewicht auf den Umstand legten, dass der Weg zur revisions13
BVerfG NJW 2013, 1058, 1070 (Rn. 120). BVerfG NJW 2013, 1058, 1070 (Rn. 121). 15 BVerfG NJW 2013, 1058, 1070 (Rn. 119 a.E.); BGHSt (GS) 50, 40, 48 ff. 16 Schünemann StV 1993, 657 ff.; siehe auch ders. FS Pfeiffer, 1988, S. 461 ff.; ders. FS Baumann, 1992, S. 361 ff.; ders. FS Rieß, 2002, S. 525 ff.; ders. Strafprozessuale Absprachen in Deutschland – Der Weg in die Bananenrepublik?, 2005; ders. Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur: Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, 2005; ders. FS Heldrich, 2005, S. 1177 ff.; ders. AnwBl. 2006, 439 ff.; ders. FS Katoh, 2008, S. 49 ff.; ders. ZRP 2009, 104 ff. und ders. ZIS 2009, 484 ff. 17 Deal StV 1982, 545 ff. 14
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gerichtlichen Kontrolle offen bleiben müsse (vgl. jetzt § 302 Abs. 1 S. 2 StPO). Als die ersten Fälle den Bundesgerichtshof erreichten, beschränkte sich dieser entsprechend seiner Rolle im gewaltengeteilten Rechtsstaat auf die Beurteilung der jeweils entscheidungserheblichen konkreten Rechtsfrage,18 auch weil der allgemeine Eindruck vorherrschte, dass sich hierin lediglich singuläre, für das Gesamt der Verfahrenswirklichkeit nicht repräsentative „Ausreißer“ zeigten („Schwarze-Schafe-Theorie“). Die Strafrechtswissenschaft ging über lange Zeit hinweg offenbar ganz ähnlich davon aus, dass die in der Praxis gängigen „Absprachen“ im Regelfall bloß der Vermeidung unnötig langwieriger und/oder umständlicher Strafverfahren zum Wohle der Beschuldigten wie der Opfer dienten, ohne dabei jedoch die zentralen Prozessprinzipien wie Unschuldsvermutung, nemo-tenetur-Grundsatz, Pflicht zur gerichtlichen Wahrheitsermittlung, Schuldprinzip und Öffentlichkeitsmaxime anzutasten.19 Es bestand deshalb weithin Konsens, dass – natürlich – „an der Schuld des Angeklagten kein vernünftiger Zweifel bestehen“ dürfe, der Strafausspruch „den anerkannten Grundsätzen der Strafzumessung folgen“ müsse und die gerichtliche Aufklärungspflicht durch ein Geständnis des Angeklagten nicht suspendiert werde.20 Und infolgedessen glaubte in der Frühphase der Entwicklung auch das Bundesverfassungsgericht, sich in einer Kammerentscheidung und unter Verweis auf die „besondere Sachverhaltsgestaltung“ (einer Hauptverhandlung mit erschöpfender Beweisaufnahme und einer „Verständigung“, die nicht gerichtsseitig, sondern vom Verteidiger zwecks Erzielung einer Strafmilderung initiiert wurde) auf ein Benennen der hehren Prinzipien beschränken zu dürfen, ohne sich näher festzulegen, wann denn eigentlich genau die rote Linie zum verbotenen „Handel mit der Gerechtigkeit“21 überschritten sei. Als sich schließlich der 4. Strafsenat veranlasst sah, in extensiver Handhabung seines Rechts zur richterlichen Rechtsfortbildung anstelle des eigentlich dazu berufenen Gesetzgebers endlich die zentralen Leit- und vor allem Grenzlinien im Ganzen zu formulieren, fand er sich in seinem Gestaltungswillen nicht nur durch die unverändert fortgeltende („grundsätzlich vergleichsfeindlich ausgestaltete“)22 StPO eingeengt, sondern zugleich durch die sich inzwischen breit machende Überzeugung, dass die Urteilsabsprachen bloße Folge einer Art von „justizphysikalischem Naturgesetz“23 und deshalb
18 Vor allem BGHSt 36, 210 ff.; 37, 10 ff.; 37, 99 ff.; 37, 298 ff.; 38, 102 ff.; 42, 46 ff.; 42, 191 ff.; BGH NStZ-RR 1997, 173; NJW 1997, 2691 f. 19 Siehe Beschlüsse B. I. 3.–4., II. 6.–9. des 58. DJT (NJW 1990, 2991, 2992 f.). 20 Beschlüsse B. II. 9.1, 9.2. des 58. DJT. 21 BVerfG NJW 1987, 2262, 2263. 22 BGHSt 43, 195, 203. 23 Treffend Hamm StV 2013, 652, 654; ganz in diesem Sinne bereits Meyer-Goßner NStZ 1992, 167 f.
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bei Aufrechterhaltung der Überlast „nicht mehr wegzudenken“ seien.24 In dem erkennbaren Bestreben, vor diesem Hintergrund seine Autorität nicht zu verspielen, versuchte er sich an der „Quadratur des Kreises“25, indem er einerseits – in der Funktion eines „Ersatzgesetzgebers“ – ein Grundgerüst scheinbar fester Regeln formulierte, diese aber andererseits zugleich mit Einschränkungen, absprachefreundlichen Interpretationshilfen und Zugeständnissen versah; infolgedessen konnte die Praxis die Botschaft unschwer dahin verstehen, dass sie per saldo eigentlich nicht allzu viel ändern müsse, sofern es nur künftig „transparent“ geschehe. Hatte der Senat doch seinen „Abspracheregeln“ explizit seine Grundposition vorangestellt, wonach „die Strafprozessordnung Verständigungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten (…) nicht generell untersag(e)“26. Dann brauchten aber nicht mehr die hehren „Grundsätze“ zu interessieren, sondern es war nur noch von Belang, wie weit diese mit dem Segen des Bundesgerichtshofs „flexibel“ gehandhabt werden durften. Die Details sind hinlänglich bekannt und brauchen hier nicht in allen Facetten nochmals in Erinnerung gerufen zu werden:27 So beansprucht etwa § 136a StPO natürlich auch bei Verständigungsgesprächen unbedingte Geltung ebenso wie das ihm zugrunde liegende Verbot eines Zwangs zur Selbstbelastung; wenn das Gericht aber dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafmilderung in Aussicht stelle, soll „nicht bereits darin“ das „Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils“ liegen – wann aber dann überhaupt noch? Gewiss widerspricht es dem Öffentlichkeitsgrundsatz, wenn „eine Absprache aus der öffentlichen Hauptverhandlung hinausverlagert“ und diese „zur bloßen Fassade“, zur „reinen Show“28 wird; geschieht letzteres aber nicht auch dann, wenn es „vor oder außerhalb der Verhandlung zu Vorgesprächen zwischen den Beteiligten kommt“, in denen alles Wesentliche bereits „vorbesprochen“ und angebahnt wird? Zweifelsohne müssen in Verständigungen über den Verfahrensabschluss sämtliche Verfahrensbeteiligte einbezogen werden; doch was bleibt von diesem Mitwirkungserfordernis substantiell noch übrig, wenn es am Ende genügt, dass das Ergebnis der Vorgespräche „in der Hauptverhandlung offengelegt“ und allen zuvor nicht Beteiligten (i.d.R. also den Laienrichtern und dem Angeklagten) lediglich zur Kenntnis gegeben (sowie der guten Ordnung halber protokolliert) 29 werden muss? Das Verdikt gegenüber dem „Deckmantel der Heimlichkeit und Unkontrollierbarkeit“ gerät auf diese Weise doch wahrlich 24
So ausdrücklich Meyer-Goßner ZRP 2004, 187. Weigend NStZ 1999, 57, 59. 26 BGHSt 43, 195, 202. 27 Zum Folgenden BGHSt 43, 195, 204 ff. und die Kritik hieran bei Rönnau wistra 1998, 49 ff. („halbherzig“); Weigend NStZ 1999, 57, 59 ff. 28 Eschelbach ZAP 2013, 1249: „reiner Showeffekt“. 29 In BGHSt 43, 195, 206 bezieht sich die Protokollierungspflicht lediglich auf das „Ergebnis der Absprache“. 25
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zur „bloßen Rhetorik“, weil damit de facto Billigung erfährt, dass „die Hauptverhandlung zum bloßen Erörterungs- oder gar nur (Geständnis-)Vollzugsund Verkündungstermin degeneriert“30. Und wie ernst ist das Verbot der Punktstrafe (aufgrund unzulässiger gerichtlicher „Vorwegbindung“)31 eigentlich noch zu nehmen, wenn es zugleich unschädlich sein soll, dass die tatsächlich verhängte Strafe mit der ursprünglichen „Prognose“ (in Bezug auf die Strafobergrenze) punktgenau übereinstimmt? Aus der Perspektive einer interessengesteuerten Rechtspraxis32 ließ das Grundsatzurteil des 4. Strafsenats daher erfreulicherweise unbeantwortet, wann das Locken mit der strafmildernden Wirkung eines Geständnisses im Zusammenwirken mit der Drohwirkung einer deutlich höheren Strafsanktion „bei streitiger Verhandlung“ (sog. „Sanktionenschere“) ggf. doch in den Anwendungsbereich des § 136a StPO fällt, wann die öffentliche Hauptverhandlung so sehr entleert ist, dass die Öffentlichkeitsmaxime tatsächlich einmal verletzt sein könnte, auf welche Weise und anhand welcher Bezugsgröße ein Geständnis „auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüft werden“ müsse,33 um der gerichtlichen Aufklärungspflicht gerecht zu werden, wie sich das Unterlaufen des Verbots einer „Punktstrafe“ durch – denklogisch ja ebenfalls unzulässige – stillschweigend-einvernehmliche Vorabfestlegung verhindern lassen sollte und wie sichergestellt werden könnte, dass der Strafausspruch „den Boden schuldangemessenen Strafens“34 nicht verlässt. All diese Fragen hätten, um die hehren Grundsätze, die nicht aufgegeben werden sollten, wirklich zu sichern, durch deutliche Markierung konkreter Grenzlinien beantwortet werden müssen, um dem mutmaßlichen strategischen Ziel einer „goldenen Brücke in die Legalität“ eine gewisse Erfolgsaussicht zu verleihen. Dies ist, vielleicht auch im fortwirkenden Vertrauen auf die Professionalität und den beruflichen Ethos der Strafjustiz, jedenfalls nicht hinreichend geschehen, ebenso wie zu der Frage, wie sich eine konkludente oder über den Verteidiger „outgesourcte“ Bindung des Angeklagten hinsichtlich des erwarteten Rechtsmittelverzichts effektiv verhindern lassen soll. Die Einsicht, dass die bloße Verbotserklärung in Bezug auf ein ausdrückliches gerichtliches „Verlangen“ bzw. „Sichversprechenlassen“ 35 nicht ge30
Weigend NStZ 1999, 57, 59; siehe auch Hauer NJ 2013, 93, 96: „bloßer Beurkundungstermin“. 31 Notabene: Auch in der Bekanntgabe bloß einer Strafober- (und ggf. -unter-)grenze liegt natürlich schon eine vertrauensbegründende Teilbindung, und dies umso mehr, wenn wegen der darin bereits einberechneten geständnisbedingten Milderung „oftmals die später im Urteil verhängte Strafe diese Strafhöhe erreichen“ müsse (so BGHSt 43, 195, 208). 32 Zur Interessenlage der Beteiligten statt vieler nur Schoop Der vereinbarte Rechtsmittelverzicht, 2006, S. 52 ff. 33 BGHSt 43, 195, 204. 34 BGHSt 43, 195, 208. 35 Hierauf beschränkt BGHSt 43, 195, 204 f.
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nügen werde, provozierte bekanntlich (nach zwischenzeitlicher Kontroverse zwischen den einzelnen Senaten) die zweite Grundsatzentscheidung, jetzt des Großen Strafsenats, und in der Sache die Erweiterung des Verbots um ein sonstiges aktives „Hinwirken“ sowie die Sanktionierung eines potentiellen Regelverstoßes mit der Rechtsfolge einer – grundsätzlichen – Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts.36 Die Abwendbarkeit dieser Folge durch Erteilung einer „qualifizierten Belehrung“ schaffte jedoch wiederum eine Hintertüre und weckte Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Unterfangens, da es doch nicht um die Beseitigung eines Informationsdefizits, sondern vielmehr einer sozialpsychologischen Nötigungslage gehen musste.37 Vor allem aber erteilte der Große Strafsenat jetzt den Urteilsabsprachen von höchster Warte aus explizit eine grundsätzliche Absolution und nahm der Rechtspraxis damit unter Verweis auf die „knappen Ressourcen“ etc. endgültig ihr schlechtes Gewissen,38 änderte dabei aber in einzelnen Details zugleich nochmals die „Abspracheregeln“ (insbesondere hinsichtlich der gelockerten Bindungswirkung des Gerichts), was das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Rechts zwangsläufig untergraben musste, noch dazu in Verbindung mit dem gleichzeitigen Eingeständnis der Unvollständigkeit dieser Regeln, mit der sich der nachdrückliche Appell in Richtung des Gesetzgebers verband.39 Dieser hat schließlich ein weiteres Mal die Regeln teilweise verändert (z.B. hinsichtlich der Strafuntergrenze), jedoch zentrale Fragen weiterhin unbeantwortet gelassen,40 was mittlerweile wiederum die Rechtsprechung zur – nicht immer widerspruchsfreien – fortlaufenden kasuistischen Rechtsfortbildung nötigt, die zunehmend unüberschaubar zu werden droht.41 Wie kann es da aber noch ernstlich überraschen, wenn die Rechtspraxis nach einer langen Phase der Toleranzerfahrung, als ein klares Wort zunächst ausblieb und sodann die Bedingungen eher weich und veränderbar erschienen, sich nur schwer an die neuen Protokollierungs- und Mitteilungspflichten (vgl. §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1a StPO) gewöhnen mag, zumal diese ja augenfällig auch nur den formalen Anschein eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens produzieren?
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BGHSt (GS) 50, 40, 56 f. und 60 f. Dazu bereits krit. Duttge/Schoop StV 2005, 421 ff.; von BGHSt (GS) 50, 40, 60 durchaus gesehen: „Zugzwang“. 38 BGHSt (GS) 50, 40, 53 f. 39 BGHSt (GS) 50, 40, 51 ff. und 63 f. 40 Z.B.: „geeignete Fälle“ i.S.d. § 257c Abs. 1 S. 1 StPO, Vereinbarkeit mit § 244 Abs. 2 StPO, Zugehörigkeit der „minder schweren Fälle“ zur Schuld- oder Rechtsfolgenfrage, notwendige Verteidigung, Reichweite des Verwertungsverbots nach § 257c Abs. 4 S. 3 StPO, Beruhenszusammenhang bei Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 257c Abs. 5 StPO usw. 41 Allein seit Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes 2009 sind (nach eigener Zählung) mindestens 33 bundes- und obergerichtliche Entscheidungen ergangen (Stand: Februar 2014). 37
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III. „Prozeduralisierung“ als Lösung? Gewiss war es dem Gesetzgeber erklärtermaßen von besonderer Wichtigkeit, die „Transparenz“ des Strafverfahrens sowohl zugunsten aller Verfahrensbeteiligten als auch zugunsten der Öffentlichkeit sicherzustellen: Die „Verständigung“ müsse sich „im Lichte der öffentlichen Hauptverhandlung offenbaren“ und dürfe nicht (weiterhin) im Dunkel der Heimlichkeit stattfinden.42 Mit Blick auf eine evtl. revisionsgerichtliche Kontrolle ging der Gesetzgeber sogar so weit, auch ein „Negativtestat“ zu verlangen (§ 273 Abs. 1a S. 3 StPO), um eine zweifelsfreie Beweissituation darüber herbeizuführen, dass eine Verständigung wirklich nicht stattgefunden hat. Allerdings neigt die Rechtspraxis bislang nicht dazu, diese Verfahrensregel zu beachten, die offenbar allenthalben als „bevormundende Förmelei“ empfunden wird: Die „Altenhain-Studie“, in die aufgrund der Erhebungsmethode (Befragung) eher ein regelaffiner bias eingeflossen sein dürfte, spricht nüchtern davon, dass diese Verfahrensvorgabe „weithin unbeachtet bleibt“43. Dann aber ist die Transparenz gerade nicht gesichert und muss das tatsächliche Geschehen ggf. erst mühsam im Wege des Freibeweisverfahrens ermittelt werden. Ähnlich liegt es hinsichtlich der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO, wenngleich hier das Gesetz – insoweit der Praxis entgegenkommend, aber systematisch im Verhältnis zu § 273 Abs. 1a StPO nicht ganz stimmig – eine „Negativmitteilung“ nur bei gescheiterten Verständigungsgesprächen verlangt.44 Einer Mitteilung bedarf es aber ohnehin nur dann, wenn die im Vorfeld bzw. außerhalb der Hauptverhandlung vonstatten gegangenen „Erörterungen“ (vgl. §§ 202, 212 StPO) die Möglichkeit einer „Verständigung“ (§ 257c StPO) zum „Gegenstand“ hatten, d.h. selbige dürfen von Gesetzes wegen sehr wohl intransparent bleiben, wenn aus Sicht des Vorsitzenden „nur solche Gespräche stattgefunden haben, die dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert und von ihm nicht betroffen sind“45 – als gäbe es im Rahmen eines Strafverfahrens auch die „unverbindliche Plauderei“!46 Mit anderen Worten ist damit die Möglichkeit gesetzlich implementiert, die gewiss nicht trennscharfe und je nach Kommunikationsgeschick durchaus verschiebbare Abgrenzung dieser beiden Typen von „Erörterungen“ so zu manipulieren, dass die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO (und dementsprechend auch die Protokollierungspflicht) nicht besteht. Dies gilt umso mehr, als der Bundesgerichtshof offenbar einer restriktiven Deutung des
42
Vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 8, 12; BVerfG NJW 2013, 1058, 1064 f. (Rn. 82). Altenhain/Dietmeier/May Die Praxis der Absprachen in Strafverfahren, 2013, S. 154: „Fast 70 % aller Richter halten eine Protokollierung für nicht erforderlich“. 44 So jetzt ausdrücklich BGH NJW 2013, 3045 ff. 45 BGH NJW 2013, 3045, 3046. 46 Mit Recht krit. Harrendorf/König Anwbl. 2013, 321, 322. 43
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§ 243 Abs. 4 StPO zuneigt und eine gerichtliche „Einschätzung der Sach- und Rechtslage“ noch längst nicht als hinreichendes Beweisanzeichen für die „Vorbereitung einer Verständigung“ ansieht.47 Auch hier ist die erhoffte Transparenz somit keineswegs sichergestellt und kann ein Revisionsvorbringen unter Verweis auf § 344 Abs. 2 StPO unschwer als unzulässig zurückgewiesen werden, weil nicht bestimmt genug dargelegt ist, „in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form und mit welchem Inhalt Gespräche stattgefunden haben, die auf eine Verständigung abzielten“ 48 – was der Revisionsführer womöglich gar nicht wissen und im Übrigen sicher auch nicht so leicht belegen können wird. Davon abgesehen wird der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO nicht ganz ohne Pathos der Zweck zugeschrieben, einen „Informationsgleichstand sämtlicher Verfahrensbeteiligter“ herzustellen,49 was in der Sache freilich nichts anderes bedeutet als eine Art Kompensation dafür, dass einzelne Verfahrensbeteiligte (i.d.R. auch der Angeklagte) von den „Vorgesprächen“ ausgeschlossen waren. Ganz ähnlich soll die Belehrungsvorschrift des § 257c Abs. 5 StPO den Angeklagten in die Lage versetzen, eine „autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung [zu] treffen“50: „Die Erwartung der Bindung des Gerichts [an seine Strafmaßprognose] bildet (…) Anlass und Grundlage der Entscheidung des Angeklagten über sein prozessuales Mitwirken; damit entsteht eine wesentlich stärkere Anreiz- und Verführungssituation, als es mangels Erwartung einer festen Strafobergrenze etwa in der Situation von § 136 Abs. 1 oder § 243 Abs. 5 StPO der Fall ist. Der Angeklagte muss deshalb wissen, dass die Bindung keine absolute ist (…)“51. Ebenso wie schon bei der „qualifizierten Belehrung“ greift es jedoch auch hier wesentlich zu kurz anzunehmen, dass einer sozialpsychologischen „Anreiz- und Verführungssituation“ die bloße Informationsgabe hinreichend entgegenwirken und gar die „Autonomie“ eines Angeklagten gewährleisten könne. In Wahrheit geht es doch weit weniger um die Eröffnung einer echten Partizipation, sondern weit mehr darum, den „informierten Angeklagten“ für sein Votum, zu dem er ohne sein Mitwirken gedrängt worden ist (vgl. § 257c Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 StPO: „Das Gericht kann …“, 47 So BGH NStZ 2013, 724, 725; s. dagegen BVerfG NJW 2013, 1058, 1065 (Rn. 84), wonach zu den Gesprächen, die nicht unter die Mitteilungspflicht fallen, allein solche zählen, „die ausschließlich (!) der Organisation sowie der verfahrenstechnischen Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung dienen, etwa der Abstimmung der Verhandlungstermine“. 48 KG StV 2014, 78. 49 BGH NStZ 2013, 724; OLG Celle NStZ 2012, 285, 286; Weider in: Niemöller/ Schlothauer/Wieder (Hrsg.), Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil C Rn. 37. 50 BGH NStZ-RR 2013, 350. 51 BVerfG NJW 2013, 1058, 1071 (Rn. 126); ebenso BVerfG NStZ-RR 2013, 315, 316.
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„Das Gericht gibt bekannt …“), verantwortlich machen (und sich selbst damit zugleich beruhigen) zu können. Wollte man schon dies als hinreichenden Ausdruck „autonomen“ Handelns betrachten, so wäre etwa im Kontext ärztlicher Heileingriffe den Anforderungen an die hier zentrale „Patientenautonomie“52 bereits dann Genüge getan, wenn man den Patienten – natürlich nach vorheriger Aufklärung – dazu drängen würde, entweder die große oder die kleinere Operation hinzunehmen. Zweifelsohne trifft die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts zu, dass die Mitteilungs-, Belehrungs- und Dokumentationsvorschriften gleichsam den „Kern des gesetzlichen Regelungskonzepts“ 53 ausmachen: Dass sie durch Schaffung (vermeintlich) „vollumfänglicher Transparenz“ aber eine „Einhegung“ der Urteilsabsprachen bewirken, so dass sich die damit „verbundenen Risiken für die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Vorgaben an den Strafprozess (…) minimieren“, ist nurmehr Ausdruck des „Prinzips Hoffnung“. Denn Verfahrensregeln dienen in erster Linie der Verfahrensgerechtigkeit („Fairness“), von ihnen führt aber ohne einen übergreifenden inhaltlichen Kompass kein Weg zur erstrebten Ergebnisrichtigkeit. Der bloße Konsens der konkret Beteiligten lässt bekanntlich erst dann auf ein „vernünftiges“ bzw. aus materiellen Gründen „akzeptierbares“ Resultat hoffen, wenn erstens die materiellen Beurteilungsmaßstäbe zweifelsfrei und für alle verbindlich vorgegeben und zweitens alle Beteiligten hinreichend willig und befähigt sind, ihre Beurteilung auch danach auszurichten.54 Die „Legitimität des Verfahrens“ ist damit zwar durchaus eine notwendige, aber noch längst keine hinreichende Bedingung für die „Richtigkeit“ bzw. begründete „Zustimmbarkeit“55 der am Ende getroffenen Entscheidung.56 Das sieht selbstredend auch der Gesetzgeber so, denn sonst hätte er seinen verfahrensbezogenen „Abspracheregeln“ nicht eine Reihe von materiellen „Tabunormen“ hinzugefügt: dass z.B. nicht über den Schuldspruch disponiert und die Pflicht zur Wahrheitsermittlung nicht geschmälert werden dürfe. Gewiss wird man letzteres als performativen Selbstwiderspruch ansehen müssen, weil doch schon der originäre Sinn der auf beschleunigte Verfahrensbeendigung abzielenden „Verständigung“ gerade darin liegt, sämtliche nach weiteren Erkenntnissen strebende Bemühungen bewusst vorzeitig einzustellen.57 Doch ist im hiesigen Kontext viel bedeutsamer, dass die hehren Bekenntnisse aller
52 Dazu jüngst umfassend Simon/Wiesemann (Hrsg.), Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – praktische Anwendungen, 2013. 53 Hierzu wie zum Folgenden BVerfG NJW 2013, 1058, 1066 (Rn. 96); ähnlich BGH NStZ 2012, 347. 54 Dazu näher Duttge ZStW 115 (2003), 539, 547 ff. (m.w.N.). 55 Habermas in: Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion, 1973, S. 211, 219. 56 Wie hier bereits Neumann ZStW 101 (1989), 52, 70. 57 Dazu bereits Duttge Meijo Law Review 61 (2012), Nr. 4, S. 1 ff. (m.w.N.).
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Autoritäten des Rechts (Bundesgerichtshof, Gesetzgeber, Bundesverfassungsgericht) auf der Prinzipienebene (Schuld-, Aufklärungsgrundsatz, nemo tenetur-Grundsatz usw.) stehenbleiben, ohne halbwegs konkrete Grenzkriterien zu deren Operationalisierung zu nennen und wirksame (externe) Kontrollmechanismen zu etablieren, abgesehen vielleicht von den Revisionsgerichten, die sich freilich insoweit, also jenseits der Feststellung konkret sichtbarer Verfahrensverstöße, verständlicherweise weit schwerer tun (sofern sie nicht durch eine Rücknahme des Rechtsmittels58 oder Verstreichenlassen der Frist ohnehin „ausgebootet“ werden). Auf diese Weise ist daher der Schein- oder Als-ob-Charakter des heutigen Strafprozesses geradezu vorprogrammiert. Den stärksten Grund gegen die mit dem Verständigungsgesetz 2009 sichtlich angelegte „Prozeduralisierung“ des Problems bildet jedoch der Umstand, dass dadurch (allein) das eigentlich verfolgte Anliegen dennoch nicht erreicht werden kann: dass nämlich „informelle Absprachen“ und „Gentlemen’s Agreements“ künftig verlässlich unterbleiben. Gewiss muss schon dem Vorhandensein des gesetzlichen Regelungskonzepts denklogisch entnommen werden, dass es abschließend den Raum des Zulässigen markieren soll,59 mithin jeder, der jenseits dessen agiert, per definitionem gerade nicht auf die Schutzmechanismen des Rechts hoffen kann. Das ändert jedoch nichts an der Schutzbedürftigkeit insbesondere des Angeklagten, der einem rechtswidrigen „Dealen“ ohne das Recht schutzlos ausgeliefert wäre. Diese Paradoxie hat das OLG München dazu veranlasst, das Rechtsmittelverzichtsverbot des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO auch – und sogar „erst recht“ – bei „informellen Verständigungen“ für anwendbar zu erklären.60 Das lässt sich im Ergebnis leicht nachvollziehen, denn in der gegenteiligen Wertung läge ja „geradezu eine Aufforderung (…), die gesetzliche Regelung zu umgehen“61. Nur ergibt sich dieses Wunschergebnis gerade nicht aus dem Gesetz (das vielmehr ganz im Gegenteil auf „Verständigungen“ im Sinne des § 257c StGB verweist) 62, muss sich jede dahingehende Argumentation also notwendig in Widersprüche verheddern 63 und führt ungeachtet aller gesetzlicher Transparenzvorgaben am Ende kein Weg daran vorbei, dass sich bei deren bewusster Missachtung nur noch mit Mühe und ohne klare Kriterien (im Wege einer „Gesamtschau“) freibeweislich das Vorliegen einer „informellen Verständigung“ ermitteln 58 Die nach BGH NJW 2010, 2294 f. ungeachtet der damit bewirkten Umgehung des Verzichtsverbots aus § 302 Abs. 1 S. 2 StPO wirksam ist. 59 Dezidiert BVerfG NJW 2013, 1058, 1064 (Rn. 75 ff.). 60 OLG München NJW 2013, 2371, 2375; dem sich ausdrücklich anschließend OLG München StV 2013, 493, 494; siehe dazu auch Kudlich NJW 2013, 3216 ff. 61 Meyer-Goßner StV 2012, 141, 145. 62 Zutr. Niemöller NStZ 2013, 19, 22. 63 Vgl. OLG München NJW 2013, 2371, 2374: entsprechende Anwendung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO, weil die Verständigung durch das Gesetz eine abschließende Regelung erfahren hat?
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lässt. Mit anderen Worten können also die konkret Verfahrensbeteiligten, solange zwischen ihnen Einvernehmen besteht, auch weiterhin begründeter Hoffnung sein, dass das eigene „Dealen“ ungeachtet der anders lautenden gesetzlichen Vorschriften „relativ unbemerkt vonstattengehen kann“64. Im Ganzen erinnert das doch sehr an das niederländische Euthanasiegesetz, das in gleicher Weise mit dem Mittel der Transparenz die zuvor heimlich vollzogene Praxis der Mitleidstötung einhegen wollte, freilich mit dem zweifelhaften Erfolg, dass heute eben offen und guten Gewissens dasjenige geschieht, was man dennoch mit guten Gründen arg bedenklich finden kann.65
IV. Vom „regulatorischen“ zum „reflexiven Recht“ Angesichts des absehbaren Fehlschlages der sich mit dem Verständigungsgesetz 2009 verbindenden Hoffnungen auf eine „Rückkehr in die Legalität“ (nicht etwa nur verfahrensrechtlich, sondern mit Blick auf die zentralen Zwecksetzungen eines Strafverfahrens) ist eine Klärung der rechtspolitischstrategischen Frage längst überfällig, welche alternativen Optionen denn überhaupt noch bleiben. Nach dem Vorstehenden lässt sich wohl leicht einsehen, dass es ein „Weiter so“ nicht geben sollte und auch die Hoffnung auf eine Art von „Selbstreinigung“, sei es durch appellativen Verweis auf den „Berufsethos“ der Richterschaft 66 oder auf die normative Wächterrolle der Staatsanwaltschaft als „Garantin für Rechtsstaatlichkeit und gesetzmäßige Verfahrensabläufe“67, durch die zurückliegende Entwicklung längst zerstoben ist. Sie erscheint angesichts des quantitativen und qualitativen Ausmaßes des Problems ähnlich illusorisch wie die vorgebliche Selbstreinigung im Bereich der Ärzte- und Pharmakorruption etwa durch Verabschiedung sog. Ethik-Kodizes.68 Dass gerade derjenige Berufsstand, dessen nicht immer prinzipientreues „Eigenleben“ und dessen Einbuße an selbstkritischer Vorsicht gegenüber den eigenen Gewissheiten in Frage steht, vermehrt dienstaufsichtliche Maßnahmen (§ 26 Abs. 2 DRiG) ergreifen oder gar staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) 69 einleiten wird, steht nicht zu erwarten; abgesehen von den schwierigen Abgrenzungs-
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Berichtet im Verfahren des OLG München NJW 2013, 2371, 2375. Dazu etwa Duttge u.a. Preis der Freiheit. Reichweite und Grenzen individueller Selbstbestimmung zwischen Leben und Tod, 2006, S. 21 ff., 52 f. 66 Dahin Beulke JZ 2013, 662, 672. 67 BVerfG NJW 2013, 1058, 1066 (Rn. 92); harsch abl. Harrendorf/König Anwbl. 2013, 321, 322: würde „Bock zum Gärtner“ gemacht. 68 Dazu die Beiträge in Duttge (Hrsg.), Tatort Gesundheitsmarkt. Rechtswirklichkeit – Strafwürdigkeit – Prävention, 2011. 69 Dazu bereits Schünemann (Fn. 1), S. 131 ff. 65
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fragen vor dem Hintergrund der richterlichen Unabhängigkeit und dem Umstand, dass hiermit natürlich stets bloß die ärgsten „Ausreißer“ erfasst werden könnten (und ansonsten nur der gute Glaube an eine abschreckende Wirkung bleibt), wäre eine Reduktion des Problems auf die reine Repression mit Blick auf die bestehenden Unsicherheiten bei den konkreten (materiellen) Grenzkriterien weder fair noch ausreichend. Noch weniger zielführend ist es freilich, die Not schlankweg zur Tugend zu erklären, auf dass die Probleme gleichsam von selbst verschwinden. Eben dies ist jedoch die Strategie jener, die den (realen) „Konsens“ als neues Paradigma des Strafprozesses70 und die Informalität des auf beschleunigte Verfahrensbeendigung zielenden Kommunikationsgeschehens gleichsam als längst fällige Modernisierung des überkommenen – „patriarchalisch-konfrontativen“ – Strafprozesses feiern.71 Das verkennt von Grund auf, dass sich die „soziale Funktion eines Strafprozesses“ schlechterdings nicht ohne die allgemeine Strafgerechtigkeit denken lässt.72 Wer dies nicht sehen will, setzt die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Strafjustiz im Verständnis der Rechtsgemeinschaft aufs Spiel. Umgekehrt besteht jedoch (auch) im hiesigen Kontext ganz offensichtlich eine eklatante „Steuerungskrise“ des – sei es richterrechtlichen oder gesetzten – (Straf-)Rechts,73 die sich nicht durch ein kindisches Verharren im normativistischen Steuerungsanspruch oder gar noch Steigern der Regulierungsdosis („more of the same“) bis hin zu einem kategorischen Verbot realiter beseitigen lässt.74 Die Gründe hierfür liegen vor allem darin, dass sich die Praxis zu einem erheblichen Teil offenbar dazu berechtigt glaubt, auf eigenen Wegen der „Verständigung“ zu einem beschleunigten Verfahrensabschluss zu gelangen, und zwar – so das in der Regel vorherrschende Selbstverständnis – ohne Einbußen an Wahrheitsermittlung, schuldangemessenem Strafen etc. Ein kluger Gesetz- oder Ersatzgesetzgeber wird dieses Selbstverständnis nicht autoritär übergehen, zumal er ja selbst mitnichten den Anspruch auf umfassendes lückenloses Vorauswissen über die angemessenen Grenzmarkierungen erheben kann – die Regelungsarmut des Verständigungsgesetzes zu den zentralen Aspekten spricht dabei ebenso Bände wie die Fülle an fortlaufend sich ergießender Judikatur,75 welche die weiten Spielräume – freilich am eigenen Vorverständnis ausgerichtet – auszu-
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Siehe etwa Jahn ZStW 118 (2006), 427 ff. m.w.N. So zuletzt Bittmann NJW 2013, 3017 ff. 72 Wie hier bereits Weigend ZStW 113 (2001), 271, 304; s. auch Harms FS Nehm, 2006, S. 289, 294: „Schuldangemessene, den Grundsätzen der Spezial- und Generalprävention verpflichtete Strafen, die von der Bevölkerung erwartet werden, sind in der Regel im Konsens nicht zu erzielen“. 73 Dazu allgemein Eicker Die Prozeduralisierung des Strafrechts, 2010, S. 49 ff. m.w.N. 74 Erfrischend Meyer NJW 2013, 1850 ff. 75 Oben Fn. 41. 71
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füllen versucht. Man kann hierin zwar durchaus eine Variante der vorsichtigexperimentierenden Gesetzgebung (i.w.S.) „case to case“ erkennen, freilich mit der Gefahr einer sich widersprechenden oder am Ende gänzlich unübersichtlich werdenden Kasuistik, die vielleicht Einzelfallgerechtigkeit, aber keine Rechtssicherheit mehr zu geben vermag. Zudem bleibt es insoweit natürlich bei der autoritativ-regulativen Idee von Rechtsetzung, welche die hiesige Problemstellung aber nicht konstruktiv auflösen kann. In dieser Lage empfiehlt es sich, den Prozeduralisierungsgedanken gleichsam auf die Ebene der Rechtsetzung zu heben und – weg von der bisherigen Konfrontationsstellung – zu einem strukturierten Prozess der Rechtsgewinnung im konzertierten Zusammenwirken von Theorie und Praxis zu gelangen.76 Darin liegt die Idee des „reflexiven Rechts“77, das sich – auch mit Blick auf die unüberschaubare Vielfalt möglicher Konstellationen und Komplexität der Zusammenhänge – der Begrenztheit einer dirigistischen Rechtsetzung „vom grünen Tisch“ bewusst ist und deshalb die Erfahrungen und Erkenntnisse der weit näher am Rechtsgeschehen befindlichen Protagonisten einzubeziehen bestrebt ist. Es geht dabei freilich nicht darum, auf materielle Vorgaben zu verzichten und sich auf Verfahrensregeln zu beschränken, die gleichsam flexibel und mehr oder weniger nach Belieben gehandhabt werden könnten. „Reflexives Recht“ verzichtet zwar (zunächst) auf eine direkte Außensteuerung, aber nicht mit Ziel eines Verzichts auf Steuerung, sondern um dem Recht unter Einbeziehung all seiner Protagonisten die Möglichkeit seiner eigenen Reproduktion zu eröffnen:78 Reflexives Recht ist also „der Versuch, dem Paradox steigender Verrechtlichung und gleichzeitig steigender Ineffizienz [dadurch] zu entkommen“, dass das rechtliche Entscheidungsprogramm nicht autoritativ gesetzt, sondern gleichsam als gemeinsames „Lernprogramm“79 begriffen wird. Auf den hiesigen Kontext bezogen führt somit jedes eindimensionale Verständnis von Rechtsetzung – sei es wie tradiert entweder „von oben“ oder aber „von unten“80 – gleichermaßen in die Sackgasse; vielmehr bedarf es eines fruchtbaren Zusammenwirkens im Sinne einer gemeinsamen Reflexion darüber, unter welchen materiellen wie verfahrensmäßigen Bedingungen eine verfahrensbeschleunigende „Verständigung“ aus Sicht aller beteiligten Rollentypen wie (nicht zuletzt auch) aus der Perspektive der Rechtsgemeinschaft akzeptiert werden kann. Es liegt auf der Hand, dass daran auch die Strafjustiz ein elementares Interesse haben muss, nicht
76 Zu diesen zwei Bedeutungen des Begriffs „Prozeduralisierung“ etwa Eder ZfRSoz 1987, 193 f. 77 Dazu aus rechtssoziologischer Sicht etwa Luhmann ZfRSoz 1985, 1 ff.; Teubner ARSP 1982, 13 ff. 78 Vgl. Eder ZfRSoz 1987, 193, 195 f. 79 Eder ZfRSoz 1986, 1, 27. 80 Zu diesen Regulierungstypen etwa Baer Rechtssoziologie, 2011, § 6 IV 1.
Urteilsabsprachen als Signum einer rechtlichen Steuerungskrise
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zuletzt auch mit Rücksicht auf ihren eigenen Anspruch auf Gleichbehandlung. Und es liegt ebenso auf der Hand, dass zur kritisch-anleitenden Begleitung niemand anderes als die „kritischen Geister“ der Strafprozessrechtswissenschaft berufen sein können. Wer sonst sollte hierzu aber zuvörderst gehören, wenn nicht der verehrte Jubilar, der seit Jahrzehnten unermüdlich und unverdrossen eine „rechtsstaatlich ausgewogene Lösung“81 einfordert.
81
Schünemann FS Wolter, 2013, S. 1107, 1129.
Zur Entwicklung der Strafrahmen des StGB vom 1.1.1872 bis zum 31.12.2013 Wird das Strafrecht milder oder strenger? Michael Hettinger * I. Bernd Schünemann zum Zustand der Strafrahmen des StGB 1977 Die „fortschreitende Unbestimmtheit der gesetzlichen Tatbestandsbildung macht … fast noch einen maßvollen Eindruck, wenn man sie mit der Realität der fünften Konkretisierungsstufe, nämlich dem Gebot der vorherigen gesetzlichen Festlegung der verwirkten Strafe, konterkariert. Von einer Bindung des Richters durch den Gesetzgeber kann in dieser Hinsicht schon auf der Ebene der abstrakten Strafrahmen kaum noch die Rede sein. Denn was soll man davon halten, wenn der Totschlagsstrafrahmen einen Spielraum zwischen sechs Monaten und lebenslanger Freiheitsstrafe lässt1 und wenn der Richter bei einem Diebstahl die Wahl zwischen 10,- DM Geldstrafe und 10 Jahre Freiheitsstrafe hat?“2 Schünemann schließt diesen Abschnitt mit folgender „Conclusio“: „Bezüglich der Strafverhängung hat der Richter in jeder Hinsicht plein pouvoir, und eine echte Garantiefunktion von nulla poena sine lege ist hier nirgends erkennbar“.3 Entsprechend erbaulich klingt dann auch * Herrn Sören Lichtenthäler danke ich herzlich für die Erstellung der StrafrahmenÜbersichten für die Jahre 1871/72, 1977 und 2013 sowie die zum Entwurf 1962. 1 Schünemann, Nulla poena sine lege? Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, 1978, S. 7. In Fn. 30 fügt der Autor an „unter Einbeziehung der unbenannten Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründe in §§ 212 II, 213“; gemeint ist hier wie auch im Folgenden, soweit nicht Abweichendes vermerkt ist, das StGB. – Das 6. StrRG vom 26.1.1998 hat in § 213 die Mindeststrafe von sechs Monaten auf ein Jahr und die Höchststrafe von fünf Jahren auf zehn Jahre erhöht; s. BGBl. 1998 I, 165, 174. Damit hat der Spielraum sich um sechs Monate verringert und sich ein Überschneidungsbereich von fünf Jahren neu ergeben; krit. hierzu Hettinger FS Küper, 2007, S. 95, 105 f., 110 ff. 2 In Fn. 31 wird auf §§ 242, 243, 40 hingewiesen und zu § 243 angemerkt: „Weil § 243 nur eine auf der Regelbeispielstechnik aufbauende und daher letztlich unbenannte Strafzumessungsvorschrift ist, wird das richterliche Ermessen hierdurch kaum beschränkt; zu den Versuchen im Schrifttum, § 243 einem echten Qualifikationstatbestand anzunähern, vgl. zuletzt Calliess JZ 1975, 112 ff.“. 3 Schünemann (Fn. 1), S. 8.
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sein „Zwischenresümee“, „daß von den fünf Konkretisierungen4 des nullapoena-Satzes … das Bestimmtheitsgebot weitestgehend preisgegeben sowie von den Garantien für die poena so gut wie gar nichts mehr übrig geblieben ist“.5 Nicht nur, weil es sich hier um ein Zwischenfazit handelt, sondern weil der Autor Schünemann heißt, ist jedem klar, dass auch dies noch nicht das letzte Wort zum Gegenstand war; denn wenn er etwas seines Erachtens Missbilligenswertes am Kanthaken hat, macht er tabula rasa. So auch hier, Nietzsches Zarathustra folgend, „was fällt, das soll man auch noch stoßen“. So heißt es denn im vorletzten Abschnitt dieses Vortrags, seiner Mannheimer Antrittsvorlesung: „… angesichts der exorbitant weiten Strafrahmen des Besonderen Teils sowie der zusätzlichen generalklauselartigen Variationsvorschriften des Allgemeinen Teils (ist) praktisch überhaupt nichts mehr übrig geblieben … Daß dies mit der rechtsstaatlichen Schutzrichtung von Art. 103 GG nicht zu vereinbaren ist, liegt auf der Hand, denn die Höhe der Strafe ist für das soziale Schicksal eines Menschen oft wichtiger als die Strafverhängung überhaupt und darf infolgedessen nicht völlig dem richterlichen Belieben überlassen werden“.6 Die vorgeschlagene Therapie: „Die exorbitanten Strafrahmen des Besonderen Teils müssen auf überschaubare Blöcke reduziert werden; eine Spanne zwischen einem halben Jahr und lebenslanger Freiheitsstrafe wie beim Totschlag ist beispielsweise verfassungswidrig. Als vertretbare Spannweiten kämen bei den Freiheitsstrafrahmen etwa 1 Monat bis 2 Jahre, ein halbes Jahr bis 5 Jahre, 1 Jahr bis 10 Jahre und 2 Jahre bis 15 Jahre in Betracht, und daß damit der Einzelfallgerechtigkeit noch genügend Spielraum bliebe, ist mir nicht zweifelhaft“.7 Im Übrigen werde der „unerträgliche Zustand einer regional vollständig zersplitterten Strafzumessung nur durch eine entschlossene Beschränkung des relevanten Strafzumessungssachverhalts auf uneingeschränkt rationale und mitteilbare Faktoren und durch eine darauf basierende Vereinheitlichung qua revisionsgerichtlicher Kontrolle beseitigt werden können“.8 Die Kritik an den „exorbitant weiten Strafrahmen“ bietet den Anlass, in einem kurzen Beitrag zu Ehren Schünemanns der Frage einmal nachzugehen,
4 Verbot der Analogie, des Gewohnheitsrechts, der Rückwirkung, der Unbestimmtheit („Willkür“) und Geltung dieser Garantien auch für das „Wie“ der Strafbarkeit, die Rechtsfolge, so Schünemann (Fn. 1), S. 3. 5 Schünemann (Fn. 1), S. 8. 6 Schünemann (Fn. 1), S. 37 f. (Hervorhebungen sind immer solche aus dem zit. Original). 7 Schünemann (Fn. 1), S. 38; „die drakonische Natur auch der heutigen gesetzlichen Strafrahmen“ kann s.E. auch noch um die Jahrtausendwende „gar nicht bezweifelt werden“, so ders. in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, S. 338. Weitere Nachw. bei Hettinger FS Küper, 2007, S. 95, 96 Fn. 8–12. 8 Schünemann (Fn. 1), S. 38 f.; die von ihm seinerzeit vorgeschlagenen Spannweiten haben die überhaupt s.E. zulässige oder sinnvolle Weite im Auge.
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ob und gegebenenfalls wie die Strafrahmen im deutschen Kernstrafrecht 9 sich seit 1872 verändert haben; hier soll insbesondere auch interessieren, ob, in welchen Bereichen und inwieweit sie „tendenziell“ strenger oder milder geworden sind. Dass die Antwort nur ein Teilergebnis sein kann, folgt schon daraus, dass über die Strenge oder Milde eines Strafrechts nicht die Strafrahmen allein entscheiden, weil auch andere Faktoren, etwa ein Institut wie die Strafaussetzung zur Bewährung, der Anwendungsbereich der Geldstrafe u.a.m. eine bedeutende Rolle spielen (können); dazu Näheres unter III. 1. Am Ausgangspunkt steht 1872, das Jahr des Inkrafttretens des RStGB. Sodann soll ein, aus „Raumeinsparungsgründen“ sehr verkürzter, Blick auf den Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) – Entwurf 1962 geworfen werden, der ja nach langen Vorarbeiten10 Ausgangspunkt einer neuen Ära werden sollte, aber nicht wurde.11 Da der Jubilar den zitierten Vortrag am 1.7.1977 gehalten hat, in jenem Jahr aber keine Änderung des StGB zu registrieren war, bildet 1977 den nächsten Vergleichspunkt, weil die Gesetzeslage zu dieser Zeit den Anlass der Kritik Schünemanns bildete; den Endpunkt markieren dann die Strafrahmen des derzeit geltenden StGB. Nachdem der Gesetzgeber des StGB seit 1949 unter der Kuratel des GG steht und der Verfassungsgeber das BVerfG als Kurator eingesetzt hat, ist zunächst, sehr gerafft, in Erinnerung zu rufen, welchen Rahmen dieses Gericht vorgegeben sieht, wie weit mithin die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers reicht.
II. Der dem Gesetzgeber vom BVerfG insoweit vorgezeichnete Rahmen Mit dem Schuldgrundsatz und seinen Ausstrahlungen hat das BVerfG sich in einer Reihe von hier interessierenden Entscheidungen befasst. In derjenigen zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord führt es insoweit aus: „Nach dem Schuldgrundsatz, der aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen) sowie
9 So verfuhr schon das 6. StrRG, das sich darauf beschränken wollte, „Strafrahmen (nur des StGB) zu harmonisieren“, so BT-Drucks. 13 / 8587, S. 1. – In diesem Beitrag gemeint sind insbesondere die Vergehenstatbestände und Strafzumessungsregelungen des StGB, die in der Gerichtspraxis dominieren oder zumindest in nennenswerter Häufigkeit verwirklicht werden. 10 Näher dazu Scheffler in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1; 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 174, 176 ff. m.w.N. 11 Zur Kritik s. Schönke/Schröder/Eser/Hecker StGB, 28. Aufl. 2010, Einführung Rn. 3; Fischer StGB, 61. Auflage 2014, Einleitung Rn. 5; Sturm JZ 1970, 61; zusf. Scheffler (Fn. 10), S. 174, 183 ff.
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aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, müssen Tatbestand und Rechtsfolge – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 20, 323, 331; 25, 269, 286; 27, 18, 29). Die angedrohte Strafe hat daher in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters zu stehen; die verhängte Strafe darf die Schuld des Täters nicht übersteigen. Wo die Tat verschiedene Grade des Verschuldens und der Schwere aufweisen kann, muss dem Richter grundsätzlich die Möglichkeit gelassen werden, die Strafe dem anzupassen (vgl. BayVerfGHE N.F. 3, 109, 114 …). Ein gegen das verfassungsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßendes Strafgesetz könnte nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung sein (BVerfGE 6, 389, 439)“.12 Auch zu den Grenzen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit nimmt es in dieser Entscheidung Stellung: „Es ist grundsätzlich zunächst Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden, wie er den verschiedenen Unrechts- und Schuldgehalt (: hier; M.H.) der Tötungshandlungen bei der Gestaltung der materiellen Strafnormen berücksichtigt. Durch Art. 3 Abs. 1 GG ist er dabei nur insoweit gebunden, als die gewählte Tatbestandsfassung und Strafandrohung durch sachliche Erwägungen hinreichend begründet sein müssen und nicht willkürlich sein dürfen. Welche Sachverhaltselemente so wichtig sind, daß ihre Verschiedenheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigt, hat regelmäßig der Gesetzgeber zu entscheiden. Sein Spielraum endet erst dort, wo die Ungleichbehandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt“.13 Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Bestimmung der Strafandrohung meint das BVerfG: „Die Festlegung eines Strafrahmens beruht auf einem nur in Grenzen rational begründbaren Akt gesetzgeberischer Wertung. Welche Sanktion für eine Straftat – abstrakt oder konkret – angemessen ist und wo die Grenzen einer an der Verfassung orientierten Strafdrohung zu ziehen sind, hängt von einer Fülle von Wertungen ab. Das Grundgesetz gesteht dem Gesetzgeber bei der Normierung von Strafdrohungen einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Dem trägt das BVerfG bei der inhaltlichen Überprüfung gesetzlicher Strafdrohungen Rechnung. Es kann in solchen Fällen einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot nur dann feststellen, wenn die gesetzliche Regelung – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – zu schlechthin untragbaren Ergebnissen führt (vgl.
12 BVerfGE 45, 187, 259 f.; zu „Strafe und Strafzwecke(n) in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ krit. Roxin FS Volk, 2009, S. 601; zu seinem abweichenden Ausgangspunkt ders. Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 37 ff.; zust. hingegen Hettinger GA 1995, 399, 408 f. 13 BVerfGE 45, 187, 267 f.
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BVerfGE 34, 261, 266)“.14 In der Entscheidung zur (verneinten) Vereinbarkeit der Vermögensstrafe mit dem GG hält der 2. Senat fest, dass das Gebot der Gesetzesbestimmtheit auch für die Strafandrohung gelte, „die in einem vom Schuldprinzip geprägten Straftatsystem gerecht auf den Straftatbestand und das in ihm vertypte Unrecht abgestimmt sein muss (BVerfGE 86, 288, 313)“.15 Freilich sei es „von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber bei der Festlegung der Strafrechtsfolgen auf ein abstraktes Höchstmaß an Präzision verzichtet … und stattdessen dem Richter die Festsetzung einzelner Rechtsfolgen innerhalb gesetzlich festgelegter Strafrahmen überlässt; im Blick auf die Besonderheiten des Einzelfalls kann nämlich regelmäßig erst der Richter die Angemessenheit der konkret bemessenen Strafe beurteilen … Da Straftaten regelmäßig nach dem Grad des Verschuldens und nach der Schwere des Unrechts verschieden sind, muss dem Richter grundsätzlich die Möglichkeit gelassen werden, die von ihm verhängte Strafe diesen Unterschieden anzupassen“.16 Im Weiteren weist der 2. Senat auf das Spannungsverhältnis hin, das hinsichtlich der Anforderungen an die Bestimmtheit von Rechtsfolgeregeln besteht: „Schuldprinzip und Einzelfallgerechtigkeit auf der einen Seite sowie Rechtsfolgenbestimmtheit und Rechtssicherheit auf der anderen Seite müssen abgewogen und in einen verfassungsrechtlich tragfähigen Ausgleich gebracht werden … Der Gesetzgeber ist gehalten, die grundsätzlichen Entscheidungen zu Art und Maß denkbarer Rechtsfolgen selbst zu treffen und dem Richter den Rahmen möglichst klar vorzugeben, innerhalb dessen er sich bewegen muss“.17 Dabei dürfe das gesetzliche Mindestmaß der Strafart „im Zusammenspiel mit der Sanktionsobergrenze nicht zu uferlosen Strafrahmen führen“.18 Die Wertungskriterien zur Auswahl der Strafart oder der Ausfüllung des konkreten Strafrahmens ergäben sich aus §§ 46 ff., mit deren Hilfe weite Strafrahmen rechtsstaatlich handhabbar seien.19 Der Strafrahmen vermittle einen verbindlichen Eindruck des Unwertgehalts des unter Strafe gestellten Verhaltens; „er gibt dem Richter damit eine normative Orientierung und definiert überdies den abgegrenzten Bereich, aus dem dieser mit Blick auf die konkrete Tat und den in ihr zum Ausdruck kommenden individuellen Unrechts- und Schuldgehalt unter Berücksichtigung der allgemeinen Strafzumessungskriterien nach § 46 StGB die konkrete Strafe entnehmen kann“.20 Zur Vermeidung allzu weit durchlaufender Strafrahmen für einen Deliktstyp hat der Gesetzgeber Wertstufen gebildet: neben schon immer als un14 15 16 17 18 19 20
BVerfGE 50, 125, 140. BVerfGE 105, 135, 153; dazu auch Kau FS Kriele, 1997, S. 761. BVerfGE 105, 135, 154. BVerfGE 105, 135, 155. BVerfGE 105, 135, 156. BVerfGE 105, 135, 156. BVerfGE 105, 135, 164.
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problematisch angesehenen Qualifikations- und Privilegierungstatbeständen21 auch Wertgruppen für besonders schwere und für minder schwere Fälle.22 Bei den Rechtsfolgemodifikationen für besonders schwere Fälle unterscheidet das Gesetz zwischen solchen mit Regelbeispielen und insgesamt unbenannten besonders schweren Fällen. Beide Techniken hat das BVerfG ohne Weiteres als mit der Verfassung vereinbar angesehen.23 Daneben hält das Gesetz in „§ 49 Besondere gesetzliche Milderungsgründe“ eine Straf(rahmen)milderungsnorm vor, nach deren Maßstäben beim Vorliegen eines „besonderen gesetzlichen Milderungsgrundes“ eine Milderung nach § 49 Abs. 1 erfolgen muss (so etwa nach §§ 27 Abs. 2, 28 Abs. 1, 35 Abs. 2 S. 2) oder kann (z.B. nach §§ 13 Abs. 2, 21, 23 Abs. 2); ferner kann das Gericht gem. § 49 Abs. 2 die Strafe (mit Ausnahme des § 211: den Strafrahmen) nach seinem Ermessen dort mildern, wo das Gesetz auf diese Vorschrift verweist, wie etwa in §§ 23 Abs. 3, 30 Abs. 1 S. 3, 84 Abs. 4, 113 Abs. 4 S. 1; auch Vorschriften zur tätigen Reue verweisen auf § 49 Abs. 2, so u.a. §§ 83a, 129 Abs. 4, 129a Abs. 7, 158 Abs. 1. Allzu hoch gestimmte Erwartungen an die Qualität der Sanktionsentscheidungen der Strafjustiz dämpft der 2. Senat des BVerfG mit wenigen, aber klaren Worten: Strafzumessung sei „grundsätzlich kein in seinen Einzelschritten überprüfbarer Rechenvorgang, sondern folgt aus einer umfassenden Gesamtwürdigung der für und gegen den Täter sprechenden bedeutsamen Umstände, die das Gesetz in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB beispielhaft aufführt. Der Strafzumessung, die zudem die Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters in den Blick nimmt (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB), liegt ein fester Maßstab nicht zu Grunde, der das Gewicht des verschuldeten Unrechts in eine bestimmte Dauer einer Freiheitsstrafe oder in eine konkrete Anzahl von Tagessätzen einer Geldstrafe einfach umsetzen ließe“.24
21
Sog. unselbständige Abwandlungen im Unterschied zu „eigenständigen Delikten“; dazu näher Hettinger FS Maiwald, 2010, S. 293, 297 ff.; zur „Entwicklung der Gesetzgebungstechnik“ sehr instruktiv Schroeder in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1; 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 381. 22 Zu dieser Wertgruppe näher Hettinger FS Pötz, 1993, S. 77. 23 BVerfGE 45, 363 zu § 94 Abs. 2 S. 1, S. 2 Nr. 2; BVerfG JR 1979, 28 mit Anm. Bruns zu § 212 Abs. 2; s. Hettinger FS Maiwald, 2010, S. 293, 307 ff. und eingehend Eisele Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht. Zugleich zur Lehre vom Tatbestand, 2004, S. 383 ff. 24 BVerfGE 105, 135, 169; zu einem bedeutsamen Ausschnitt aus dem Problembereich der Strafzumessung Hettinger FS Frisch, 2013, S. 1153. Vorschläge zur Beseitigung der aus seiner Sicht „Hauptgebrechen der heutigen Strafzumessungspraxis“ bei Schünemann in: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Pönometrie oder Irrationalität der Strafzumessung, Heft 3, 1977, S. 73, 75 ff.
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III. Ausgewählte Vergehen des StGB, durch die Zeiten betrachtet 1. Eingrenzung des Themas Das 1. StrRG vom 25. Juni 1969 bewirkt für den folgenden Strafrahmenvergleich eine Zäsur, weil es die Abschaffung der Strafarten Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung und Haft besiegelte und die sog. Einheitsfreiheitsstrafe eingeführt hat.25 Der Vergleich nur der rahmenmäßigen Bestimmungen der Freiheitsstrafe erfasst freilich lediglich – aber immerhin – einen Ausschnitt des für eine Gesamtbewertung zu Berücksichtigenden. Während im aktuellen StGB bei Vergehen mit Freiheitsstrafdrohungen ohne erhöhtes Mindestmaß nämlich die Verhängung von Geldstrafe „grundsätzlich“ bis „höchstens dreihundertsechzig volle Tagessätze“ (§ 40 Abs. 1) möglich ist, und § 47 für den unteren Bereich ihren Vorrang betont, sowie zunehmend Nachtatverhalten unterschiedlicher Provenienz strafmindernd berücksichtigt werden kann (§§ 46a, 46b; s. auch § 257c StPO), u.U. von Strafe abgesehen werden (§ 49 Abs. 2), und bis in den Bereich mittlerer Kriminalität hinein eine Bestrafung über § 153a StPO vermieden werden kann, hatte die Geldstrafe im RStGB noch bei Weitem nicht die Bedeutung, die ihr heute zukommt,26 gab es mit §§ 23–26 RStGB zwar bei längeren Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen (bei „guter Führung“) Regelungen zur vorläufigen Entlassung, wenn Dreiviertel, mindestens aber 1 Jahr der auferlegten Strafe verbüßt war (heute: Aussetzung des Strafrestes, §§ 57 ff.),27 aber noch keine Strafaussetzung zur Bewährung (i.S. § 56), und war von Einrichtungen wie den §§ 46a, 46b, 49 Abs. 2 StGB und § 153a StPO noch nicht die Rede. Auswirkungen auf die Sanktionspraxis haben mit Sicherheit die heutigen Bestimmungen zur Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff.).28
25
Gem. Art. 105 Nr. 2 des 1. StrRG traten die neuen Vorschriften am 1.4.1970 in Kraft. Leipziger Kommentar StGB/Häger, 12. Aufl. 2006, Vor §§ 40–43 Rn. 3 ff., 8, 33 ff.; zu § 47 s. Rn. 7 und LK/Theune, 12. Aufl. 2006, § 47 Rn. 1 f.; Streng Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 3. Aufl. 2012, Rn. 115 f. (der Anteil der Geldstrafe an den Hauptstrafen 1890 lag bei 29,4 %, derzeit bei 81,5 %), 124. – Bereits durch die Verordnung über Vermögensstrafen und Bußen vom 6.2.1924 war der Bereich der Geldstrafe durch § 27b erheblich ausgeweitet worden. – Eingehend zu allen Fragen Heinz Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882–2006 (http://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks06.htm [letzter Abruf: 19.3.2014]); zur Entkriminalisierung s. ebd., S. 8 ff., zur Entwicklung der Sanktionspraxis S. 35 ff., 40 ff., zur Geldstrafe S. 445 ff., zur Zurückdrängung der Freiheitsstrafen S. 50 ff. 27 Zur Entstehungsgeschichte der Aussetzungsvorschriften LK/Hubrach, 12.Aufl. 2008, Vor § 56 vor Rn. 1 und Rn. 1 ff.; Münchener Kommentar StGB/Groß, 2. Aufl. 2012, Vor § 56 Rn. 1 ff., 6. 28 § 59 sei – als Marginalie – immerhin erwähnt. 26
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Im Entwurf 1962 (künftig E 1962) war nun schon Etliches von dem vorgesehen, was heute geltendes Recht ist, bestand aber auch noch die Differenzierung der Freiheitsstrafen nach Zuchthaus, Gefängnis und Strafhaft. Nicht gab es in § 60 E 1962 bereits die Klausel des § 46 Abs. 1 S. 2 sowie die Bemühensklausel des § 46 Abs. 2 a.E.; erst recht fehlten Bestimmungen wie §§ 46a und 46b. Wohl aber war die Geldstrafe schon sehr detailliert geregelt (§§ 51 ff. E 1962). § 64 E 1962, der Vorläufer des § 49, enthielt bereits in Abs. 2 u.a. das Absehen von Strafe, § 66 E 1962 wie § 51 die Anrechnung von Untersuchungshaft und §§ 71, 79 E 1962 kannten die Strafaussetzung zur Bewährung und die Aussetzung des Strafrestes (heute §§ 56, 57) sowie mit § 80 E 1962 (wie § 58) eine Bestimmung zu Gesamtstrafe und Strafaussetzung. – Nimmt man hinzu, dass die „Möglichkeiten“ der §§ 153a, 257c StPO noch nicht zu Gebote gestanden hätten, so hätte der E 1962 – praktisch umgesetzt – u.U. „etwas strenger“ wirken können als die heutige Praxis. Das RStGB von 1871 kannte die Todesstrafe, Zuchthaus als lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe, dann höchstens 15 Jahre und mindestens 1 Jahr betragend (§ 14 RStGB) sowie Gefängnis von 1 Tag bis zu 5 Jahren (§ 16 RStGB). Die Festungshaft (§ 17 RStGB, lebenslang oder zeitig, dann 1 Tag bis zu 15 Jahren) 29 und die Haft (gem. § 18 RStGB 1 Tag bis zu 6 Wochen „einfacher“ Freiheitsentziehung) spielen im Weiteren keine Rolle. – Wo das Gesetz die Wahl zwischen Zuchthaus und Festungshaft gestattete, durfte auf Zuchthaus nur dann erkannt werden, wenn festgestellt war, „daß die strafbar befundene Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung entsprungen“ war (§ 20 RStGB). Auch der E 1962 sah Zuchthaus und Gefängnis vor, daneben Strafhaft (näher dazu unter III. 2. b). Ein Vergleich des heutigen mit dem bis zum 31.3.1970 geltenden StGB setzte hinsichtlich der bisherigen Zuchthausstrafen voraus, den „Umrechnungsschlüssel“ des § 21 (StGB i.d.F. vom 25.8.1953) zu akzeptieren, wonach eine „achtmonatliche Zuchthausstrafe … einer einjährigen Gefängnißstrafe, achtmonatliche Gefängnißstrafe einer einjährigen Festungshaft gleich zu achten“ war. Ein solcher Vergleich wird aber jedenfalls dadurch illusorisch, dass bei der Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe die Worte Zuchthaus oder Gefängnis gestrichen, aber die Dauer der je angedrohten Strafen kurzerhand übernommen wurde.30 Wollte man nach dem bisherigen Umrechnungs-
29 Das 3. StÄG vom 4.8.1953 hat die Festungshaft durch die „Einschließung“ ersetzt. Diese war angedroht beim Zweikampf, §§ 201 ff. StGB, sowie alternativ mit Zuchthaus bei Parlamentsnötigung und Hinderung von Parlamentsmitgliedern, §§ 105, 106 StGB. 30 Näher dazu Hettinger FS Pötz, 1993, S. 77, 104 ff. m.w.N.; vielleicht handelte es sich – in Erinnerung daran, dass die Große Strafrechtskommission an einem ihrer Hauptziele, der Neubestimmung der Strafdrohungen von Grund auf gescheitert war – um ein „taktisches Übersehen“. Die Folge: Eine Gesetzeslage, auf deren Durchdachtheit man in diesem Bereich vertrauen könnte, fehlt.
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schlüssel des § 21 die Einheitsfreiheitsstrafrahmen bestimmen, so müsste beispielsweise bei § 249 der Regelstrafrahmen nunmehr von 1 J 6 M bis zu 22 J 6 M Freiheitsstrafe reichen, wenn der Sonderstrafrahmen des § 249 Abs. 2 gleichbleiben sollte. Wegen dieser hier nicht auflösbaren Problematik soll der Vergleich sich im Wesentlichen auf praktisch bedeutsamere Vergehenstatbestände beschränken; Vollständigkeit wird schon nicht angestrebt. 2. Die Straftatbestände und ihre Strafrahmen zur Bemessung der Freiheitsstrafe a) RStGB (Stand 1.1.1872) – StGB (Stand 31.12.2013 31) aa) Vergehen mit milderen Strafrahmen im RStGB Im Bereich der Vergehen32 zeigt sich das RStGB bei vergleichbaren Deliktumschreibungen häufig milder als das geltende Recht. So waren §§ 123, 148 (aktuell § 147), 292 RStGB nur mit Gefängnis 33 bis zu 3 M (aktuell bis zu 1 J, 5, 3 J), §§ 136, 189, 241, 271, 296 RStGB mit Gefängnis bis zu 6 M (aktuell bis 1 J, 2, 1, 3, 2 J) und §§ 132, 240 Abs. 1, 257 Abs. 1 Hs. 1 Var. 2, 309 Hs. 1 RStGB mit Gef. bis zu 1 J bedroht (aktuell bis zu 2, 3, 5, 5 / 3 J). Gef. von 1 Tag bis zu 2 J sahen vor §§ 113, 130, 168, 230 (aktuell 229), 283 RStGB (aktuell bis zu 3, von 3 M bis zu 5, 3, 3, 5 J), von 1 Woche bis zu 2 J § 109 RStGB (aktuell § 108b: bis zu 5 J), von 1 Tag bis zu 3 J §§ 222, 223 I RStGB (aktuell jeweils bis zu 5 J), von 1 Woche bis zu 3 J § 108 RStGB (aktuell § 107a: bis zu 5 J). Von 1 Tag bis zu 5 J reichten die Strafen für §§ 133 I, 339 I RStGB (aktuell § 133 Abs. 1 [bis zu 2 J], 240 Abs. 4 Nr. 3 [6 M bis zu 5 J]), von 1 M bis zu 5 J die Sanktionen der §§ 239 Abs. 2 S. 2, 333 Abs. 1 RStGB (aktuell §§ 239 Abs. 5 Hs. 1 [6 M bis zu 5 J], 334 Abs. 1 [3 M bis zu 5 J]). Mit 3 M bis zu 5 J war § 239 Abs. 3 S. 2 RStGB (aktuell § 239 Abs. 5 Hs. 2 [von 1 J bis zu 10 J]) bewehrt, 6 M bis zu 5 J sahen vor §§ 213, 221 Abs. 2 RStGB (aktuell § 213, 221 Abs. 2 Nr. 1 [beide von 1 J bis zu 10 J]). bb) Vergehen mit schärferen Strafrahmen im RStGB Schärfer als die des StGB waren bei vergleichbaren Vergehen nur wenige Strafrahmen des RStGB ausgestaltet. So lautete die Strafdrohung des § 183 RStGB auf Gef. bis zu 2 J, die des geltenden § 183 auf Freiheitsstrafe bis zu 31
Im Weiteren ist mit „StGB“ immer zugleich dessen Stand am 31.12.2013 gemeint. § 1 Abs. 2 RStGB: „Eine mit Festungshaft bis zu fünf Jahren, mit Gefängniß oder mit Geldstrafe von mehr als fünfzig Thalern bedrohte Handlung ist ein Vergehen“. Aus den o.g. Gründen (III. 1.) wird von der Erwähnung der verschiedentlich alternativ angedrohten Geldstrafe abgesehen. 33 Im Folgenden steht Gef. für Gefängnis, M für Monat/e, J für Jahr/e/n. 32
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1 J. § 169 RStGB sah mit Gef. bis zu 3 J ein Jahr mehr vor als der derzeitige § 169. § 246 Abs. 1 RStGB hielt Gef. bis zu 5 J für erforderlich, während dem geltenden § 246 für den Grundtatbestand Freiheitsstrafen bis zu 3 J genügen und erst bei anvertrauten Sachen auch hier der Strafrahmen bis zu 5 J reicht. § 125 Abs. 1 RStGB drohte Gef. von 3 M bis zu 5 J an, § 125 hingegen nur Freiheitsstrafe bis zu 3 J. § 122 Abs. 1 RStGB stellte Gef. von 6 M bis zu 5 J in Aussicht, während sich § 121 mit einer Mindeststrafe von 3 M (bis zu 5 J) begnügt. § 216 RStGB war mit Gef. von 3 bis zu 5 J bewehrt, wo § 216 eine Mindeststrafe von 6 M genügt. Während die Doppelehe (§ 172) und der Beischlaf mit einem leiblichen Abkömmling (§ 173 Abs. 1) heute mit Freiheitsstrafe bis zu 3 J bedroht sind, ordnete das RStGB Zuchthaus von 1 bis zu 5 J an. cc) Vergehen mit gleichen Strafdrohungen in RStGB und StGB Hierzu gehören – wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit – u.a. die §§ 127 Abs. 1, 139, 151 (aktuell § 149 Abs. 1 Var. 2), 156, 160 Abs. 1, 164, 185, 186 (: oder Haft), 187 Abs. 1 Var. 1 (§ 187 Var. 1), 227 (aktuell 231), 242, 253 Abs. 1, 259, 263 Abs. 1, 266 Abs. 1, 267 Abs. 1, 303, 304 und 305. Der erst 1876 in das RStGB eingefügte § 223a sah Gef. von 2 M bis zu 5 J vor, die Nachfolgeregelung § 224 Abs. 1 hat 1998 Freiheitsstrafe von 6 M bis zu 10, für minder schwere Fälle von 3 M bis zu 5 J eingeführt. dd) Zwischenergebnis Soweit die verglichenen Strafdrohungen des RStGB für Vergehen von den heutigen abweichen, sind sie regelmäßig milder. Eine große Zahl von auch in der Praxis häufig verwirklichten Vergehen, darunter §§ 185, 186, 242, 253 Abs. 1, 259, 263 Abs. 1 und 303 weisen gleiche Strafrahmen auf. Was ins Auge springt: 1871/72 war die Vielfalt unterschiedlich bemessener Strafdrohungen gerade auch im unteren Bereich wesentlich größer als heute, Geldstrafe aber noch nicht überall alternativ vorgesehen. b) StGB-Entwurf 1962 Im E 1962 betrug neben dem lebenslangen Zuchthaus die Dauer des zeitigen 2 bis 20 J (§ 44 Abs. 2), die Gefängnishöchststrafe 10 J, die Mindestdauer einen Monat (§ 46 Abs. 1), die Strafhaft höchstens 6 M, mindestens 1 Woche (§ 47 Abs. 1). – Die Erhöhung der Höchststrafe von 15 auf 20 J und der Mindeststrafe von 1 J auf 2 sowie die für Gef. von 5 auf 10 J hätten „abstrakt“ betrachtet zu einer Anhebung des Strafniveaus zumindest dort führen müssen, wo der Entwurf die Obergrenze in den Normen nicht auf einen Teilausschnitt des Gesamtrahmens begrenzt hatte. Hier ist das Gesamtbild weniger eindeutig als im Vergleich des RStGB mit dem StGB. Das Verhältnis mildere/schärfere Strafrahmen beträgt 3: 2.
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aa) Vergehen mit milderen Strafrahmen im StGB Aus Platzgründen34 muss für den E 1962 eine genauere Auflistung unterbleiben. Etwas milder verfährt das StGB bei den §§ 160 Abs. 1 Var. 2, 243 und 315 Abs. 1, deutlich milder dann bei §§ 186 Var. 1, 183, 185, 161 Abs. 1, 204, 169 und 160 Abs. 1 Var. 1; ferner bei den §§ 120 Abs. 2, und 292 Abs. 2 Nr. 1. Die Obergrenze des Strafrahmens liegt um 1 J–2 J niedriger als im E 1962 bei den §§ 203 Abs. 5, 218 Abs. 1, 304 Abs. 1, 187 und 113 Abs. 1, um 5 J niedriger gar bei §§ 240 Abs. 4, 243, 181a, 113 Abs. 2 i.V. mit 114, und 7 J niedriger bei § 172. Für Fälle der §§ 173 Abs. 1, Abs. 2 und 232 Abs. 1, Abs. 5 sah der E 1962 sogar Zuchthaus von 2 bis zu 10 J vor. bb) Vergehen mit schärferen Strafrahmen im StGB Gerafft lässt sich sagen, dass die Strafrahmen der derzeitigen §§ 273, 323a, 231, 201, 125, 293, 145, 170, 248b, 142, 156, insbesondere aber der §§ 223, 239 Abs. 1, 242, 248c, 263 Abs. 1, 266, 271 Abs. 1 wesentlich strenger sind als die der entsprechenden Normen des E 1962. Bei den „insbesondere“ genannten §§ 223, 239 Abs. 1 usw. wies der E 1962 jeweils eine Höchststrafe von 3 J Gef. aus. Deutlich strenger ist das geltende StGB auch bei § 227,35 im Mindestmaß etwas strenger bei §§ 129 Abs. 4 S. 1, 315 Abs. 1 und 239 Abs. 3 Nr. 1; für Meineid war im E 1962 Gef. von 1 J bis zu 10 J angedroht. cc) Vergehen mit gleichen Strafrahmen im StGB und im Entwurf 1962 Nahezu alle bisher nicht genannten Vergehen mit gleicher oder doch nahezu gleicher Tatbestandsbeschreibung wiesen die gleichen Strafrahmen aus wie die des heutigen StGB. Das gilt etwa, um einige markante Delikte zu nennen, für die §§ 123, 303 Abs. 1, 323c, für §§ 303 Abs. 1, 315c Abs. 3, für §§ 229, 240 Abs. 1, 246 Abs. 1, 292 Abs. 1 sowie für §§ 253 Abs. 1, 257, 259 und §§ 244 Abs. 1, 260, 263 Abs. 3. dd) Zwischenfazit Es fällt auf, dass gerade praktisch sehr bedeutsame, weil sehr häufig begangene Delikte wie Körperverletzung, Diebstahl und Betrug entgegen der bisherigen Bestimmungen nur noch mit Gef. bis zu 3 J bedroht werden (sollten)
34 Die Herausgeber ersuchten einerseits „dringlich“ um Kürzung des Beitrags; ganz verzichten wollte ich andererseits nicht auf einen Blick in den E 1962. 35 E 1962 differenzierte hier nach Art der Körperverletzungsnormen: War der Tod Folge einer Körperverletzung i.S. des § 146 (= § 223): von 3 M bis zu 5 J (Nr. 1); war es eine gefährliche Körperverletzung i.S. § 148 (= § 224): von 6 M bis zu 10 J; war es eine schwere Körperverletzung i.S. des § 147 (= § 226): Zuchthaus von 2 bis zu 15 J.
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sowie die gefährliche und die Körperverletzung mit schwerer Folge wesentlich mildere Strafrahmen aufwiesen als die §§ 224, 226 Abs. 1, 227 Abs. 1. Der Meineid war zum Vergehen herabgestuft und ebenfalls deutlich milder sanktioniert als § 154 Abs. 1 des geltenden Rechts (ausgenommen die Höhe der Mindeststrafe in § 154 Abs. 2). Hingegen sollten nach dem E 1962 leichtfertiger Falscheid wie leichtfertige Versicherung an Eides Statt sowie das Herbeiführen einer falschen Aussage strenger bestraft werden als bisher (und derzeit). Auch die Ehre und gegen Widerstand wollten die Verfasser des Entwurfs stärker schützen. Hinsichtlich Blutschande, Abtreibung und Doppelehe schrieb man eben das Jahr 1962 … Im hier thematisierten Bereich der Vergehen dürfte der Entwurf auch unter Berücksichtigung der Neuerungen zur Geldstrafe, Bewährung usw. (s. oben III. 1.), gemessen am geltenden Recht, letztlich nicht einmal schlecht abschneiden. c) StGB 1977 – StGB Wie sieht nun – zu guter Letzt – das geltende Recht i.V. mit der Rechtslage aus, die Schünemann vorfand und 1977 zum Gegenstand seiner Antrittsvorlesung gemacht hatte? Betrachtet man die Entwicklung der Strafrahmen seit 1977, so ist sie gemessen am bisherigen Befund höchst „bemerkenswert“.36 Denn nach Milderungen muss man länger suchen. aa) Vergehen (und Verbrechen) mit milderen Strafrahmen im StGB 1977 Hierzu gehörten u.a. §§ 271 Abs. 1 (bis zu 1 J), 113 Abs. 1, 120 Abs. 1, 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 (jeweils bis zu 2 J), 223 Abs. 1, 223b Abs. 2 Hs. 2 (aktuell: 225 Abs. 4 Hs. 1), 306d (jeweils bis zu 3 J) sowie die §§ 174a Abs. 1, Abs. 2, 174b Abs. 1, 179 Abs. 1, 223a (jeweils bis zu 5 J). Mit Freiheitsstrafe von 3 M bis zu 5 J bewehrt waren die §§ 223b Abs. 1 (aktuell: 225 Abs. 1) und 315 Abs. 1; 6 M bis zu 5 J finden sich bei den §§ 129a Abs. 1, 213, 221 Abs. 2 (a.F.), 6 M bis zu 10 J bei § 235 Abs. 2 (aktuell: 235 Abs. 4 Nr. 2). Da dem Vergleich dieser Strafrahmen jeweils die 1970 eingeführte Einheitsfreiheitsstrafe zugrunde liegt, lohnt auch ein Blick auf Bestimmungen, die zumindest nach derzeit geltendem StGB Verbrechen i.S. des § 12 Abs. 1 sind. Gegenüber dem geltenden Recht mit milderen Strafdrohungen versehen waren 1977 die §§ 176 Abs. 5 (bis zu 3 J), 146 Abs. 2 (bis zu 5 J), 179 Abs. 2 Var. 2, 226 Abs. 2 (aktuell: 227 Abs. 2 [3 M bis zu 5 J]), 225 Abs. 2 (aktuell: 226 Abs. 3 [6 M bis zu 5 J]), 224 Abs. 1 (aktuell: 226 Abs. 1) und 250 Abs. 2 36 Eingeführt wurden zwischen 1977 und 2013 „nur“ §§ 46a, 56 II 2 durch das Gesetz vom 28.10.1994 („Verbrechensbekämpfungsgesetz“ – eine Etikettierung, an die sich niemand gewöhnen sollte; zur Kritik s. Hettinger NJW 1996, 2263 f.) und 46b durch das 43. StÄG.
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(aktuell: 250 Abs. 3 [1 J bis zu 5 J]); ferner §§ 221 Abs. 1 Var. 1, 2 und 239 Abs. 3 S. 2 (aktuell: 239 Abs. 5 Hs. 2 [3 bis zu 5 J]), 129a Abs. 2, 176 Abs. 3, 179 Abs. 2 (von 1 J bis zu 10 J), 225 Abs. 1 (aktuell: 226 Abs. 2 [2 bis zu 10 J]) und schließlich § 315 (von 3 M bis zu 5 J). bb) Vergehen (und Verbrechen) mit schärferen Strafrahmen im StGB 1977 Hier gibt es nicht viel zu berichten. Schärfere Strafen drohte bei Vergehen an § 273 Hs. 2 i.V. mit § 272 Abs. 1 S. 1 (von 3 M bis zu 5 J). Für besonders schwere Fälle sahen die §§ 263 Abs. 3, 265 Abs. 1 (aktuell: 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 5) und 266 Abs. 2 Freiheitsstrafe von 1 J bis zu 10 J vor; 1 J bis zu 15 J wiesen die §§ 267 Abs. 3, 268 Abs. 5 auf. Bei den Verbrechen waren mit schärferen Strafdrohungen versehen §§ 234 (von 1 J bis zu 15 J), 146 (von 2 bis zu 15 J), 250 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4 (von 5 bis zu 15 J) und 307 (von 10 bis zu 15 J oder lebenslang). cc) Vergehen (und Verbrechen) mit gleichen Strafrahmen im StGB 1977 Die meisten bisher nicht erwähnten Delikte und ihre Strafdrohungen fallen unter diese Rubrik, etwa die §§ 120–123, 130 Abs. 1, 212, 222, 230 (aktuell: 229), 227 (aktuell: 231), 234a, 235 Abs. 1 (aktuell: 235 Abs. 1 Nr. 1), 239 Abs. 1–3 (aktuell: 239 Abs. 1, 3, 4), 240 Abs. 1 (aktuell: 240 Abs. 1, 4), 241–244 Abs. 1, 246 (aktuell: 246 Abs. 1, 2), 248b–249 Abs. 1, 264–266 usw.37 dd) Zwischenfazit Wie eingangs des Abschnitts III. 2. c) schon bemerkt, zeigt sich eine Verschärfung jedenfalls der Strafdrohungen nicht etwa nur in „speziellen“ Teilbereichen (wie den Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung), sondern „querbeet“. Etliche dieser Änderungen gehen auf die seinerzeit verbal anvisierte, aber nur in einem höchst äußerlichen Sinn erreichte Harmonisierung der Strafrahmen des StGB durch das 6. StrRG zurück.38
IV. Abschließende Bemerkungen Betrachtet man die derzeitige Lage mit den Augen des Jubilars, als er seine Antrittsvorlesung konzipierte, so hat sich, die Strafdrohungen betreffend, schwerlich etwas zum Besseren gewendet. Nach wie vor kennt das StGB
37 Außer den zuvor schon erwähnten Abweichungen gibt es nichts Nennenswertes mehr zu erwähnen, wobei nach 1977 neu eingestellte Bestimmungen, wie etwa § 335, ohnehin ausgeklammert bleiben. 38 Zur Kritik s Hettinger FS Küper, 2007, S. 95 m.w.N.
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Strafrahmen von 1 J bis zu 15 J.39 Strafrahmen von 1 Monat bis zu 3 oder 5 J gibt es im StGB über 90/110 Mal. Immerhin 20 Mal findet man Rahmen von 6 M bis zu 10 J. Genötigt, daran etwas zu ändern, sähe der Gesetzgeber sich nur, wenn aus dem Karlsruher Schloss Ungemach drohte. Eben dies war damals und ist auch heute nicht zu befürchten.40 Ob das Strafrecht milder oder strenger geworden ist, lässt sich allein auf der Grundlage eines Vergleichs der heutigen mit den früheren Strafdrohungen aus den dargelegten Gründen41 nicht entscheiden. Was allerdings gesagt werden kann, ist dies: Wenn die Strafrahmen strenger werden,42 ist das jedenfalls kein Indiz dafür, dass das Strafrecht insgesamt milder wird, allenfalls eines dafür, dass auf der Basis der heutigen Gesetzeslage zu Vieles möglich geworden ist, für die Gleichheit vor dem Gesetz kein gutes Zeichen. Und auch das sei festgehalten: Die vom BVerfG 43 postulierte „Orientierung“ steht in den Sternen anderer Galaxien, zu erkennen ist sie derzeit nicht.
39 Dieser Strafrahmen findet sich bei den §§ 94 Abs. 1, 100 Abs. 1, 146 Abs. 1, 154 Abs. 1, 176a Abs. 1, 177 Abs. 1, 225 Abs. 3, 234a, 249 Abs. 1, 306a Abs. 1, Abs. 2, 308 Abs. 1 und 315 Abs. 3. Näheres zu den derzeitigen Strafrahmentypen bei Hettinger FS Küper, 2007, S. 95, 101 f. und passim. Die Verdoppelung der Mindest- wie der Höchststrafe bei § 213 hat zu einer „Verengung“ des bei Totschlagstaten zur Verfügung stehenden Freiheitsstrafenbereichs um 6 M geführt. Sähe § 212 einfach einen durchlaufenden Strafrahmen von 1 J bis zu 15 J und lebenslange Freiheitsstrafe vor, stünde dieser Rahmen nach derzeitiger Rechtsprechung des BVerfG nicht in Gefahr, als „zu“ unbestimmt aufgehoben zu werden; noch weniger der derzeitige, unterteilt er sich doch in einen Rahmen für minder schwere und lebenslang für besonders schwere Fälle sowie die dazwischenliegende Gruppe der „Normal“- oder „Regelfälle“. Seltsam mutet allerdings die Vorstellung an, der Strafrahmen für diese „Regelfälle“ betrage 10 bis zu 15 J, der für minder schwere Fälle hingegen 1 J bis zu 10 J. Aber der Gesetzgeber darf ja „bei der Festlegung der Strafrechtsfolgen auf ein abstraktes Höchstmaß an Präzision“ verzichten (BVerfGE 105, 135, 154). So gesehen wäre auch gegen den „Gesamtstrafrahmen“ der §§ 242, 243 nichts zu erinnern. Eine gelungene Gesetzgebung muss man deshalb in derartigen Regelungen aber durchaus nicht sehen; zur Kritik näher Hettinger FS Küper, 2007, S. 95; ders. FS Pötz, 1993, S. 77; ders. FS Maiwald, 2010, S. 293. 40 S. o. II.; s. auch Hettinger FS Maiwald, 2010, S. 293, 296 f. 41 S. o. III. 1. Überdies müsste die Strafverfolgungsstatistik ausgewertet werden; für §§ 242 und 242 f. sowie § 223 s. Hettinger FS Küper, 2007, S. 95, 114 f. Zum Ganzen sehr instruktiv Heinz (Fn. 26); ders. NK 2011, 14. 42 Auf die heute wesentlich längere Lebensdauer der Menschen hat sich i.Z. mit Strafrahmenverschärfungen bisher, soweit zu sehen, niemand berufen … 43 BVerfGE 105, 135, 164; s.o. II Fn. 20.
Der Strafprozess als Videokonferenz? Ein Blick auf das französische Recht Heike Jung I. Einführung Bernd Schünemann hat als Strafrechtler viele Glanzlichter gesetzt. Meinen eigenen Vorlieben entsprechend habe ich mich immer wieder von seinen Untersuchungen zum Strafprozessrecht mit ihrer genuinen Mischung von Strafprozessdogmatik, Strafprozesstheorie und Strafprozesspolitik faszinieren lassen.1 Es liegt für mich daher nahe, ihn zu seinem 70. Geburtstag mit einem strafprozessualen Beitrag zu ehren. Unsere persönlichen Begegnungen waren für mich stets inspirierend. Mit dem raumgreifenden Duktus seiner Arbeiten und seinem langen systematischen Atem zählt er sicher zu den profiliertesten Vordenkern der deutschen Strafrechtswissenschaft. Der Jubilar ist natürlich auch in der Rechtsvergleichung zu Hause und pflegt rechtsvergleichende Bezüge ganz selbstverständlich in seinen Gedankengang zu integrieren. Dies ermutigt mich dazu, Strafprozess und Rechtsvergleichung miteinander zu verbinden. Ich tue dies auch deswegen, weil gerade die Strafprozessrechtsvergleichung Einsichten in die Prozesskultur und damit in die Rechtskultur überhaupt verspricht. Getreu der Devise „Justice must be seen to be done“2 sind Prozesse die „Aushängeschilder“ einer Rechtskultur. Zugleich erlaubt die Rechtsvergleichung bekanntlich den Durchgriff auf prozesstheoretische Grundsatzfragen, weil der Vergleich zu einem eher modellhaften Denken veranlasst.3 Prozessformen zeichnen sich bekanntlich durch ihre Langlebigkeit aus. So gesehen ist mit dem verstärkten Einsatz von Videotechnologie in der Hauptverhandlung eine Weichenstellung verbunden, die in ihrer grundsätzlichen Tragweite für die Struktur des Verfahrens nicht unterschätzt werden darf.
1 Beispielsweise Schünemann FS Pfeiffer, 1988, S. 461; ders. ZStW 114 (2002), 1; ders. GA 2008, 314; ders. in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, 2009, S. 827. 2 Lord Hewart in: R. v. Sussex Justices. Ex parte McCarthy (1924) 1 KB 156, 159; dazu auch meinen gleichnamigen Beitrag in Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab 2012, 65. 3 Vgl. auch Jung in: Meng/Ress/Stein (Hrsg.), Europäische Integration und Globalisierung, 2011, S. 299, 302.
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Nun ist der Einsatz von Videotechnologie im (Straf)Prozess in Deutschland natürlich längst kein Novum mehr. Die Initialzündung ging vom Zeugen- und Verletztenschutz aus. Das Zeugenschutzgesetz aus dem Jahre 1998 hat den Transfer von audiovisuell konservierten Vernehmungen im Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung und zugleich den Einsatz der Videotechnologie bei der Vernehmung schutzbedürftiger Zeugen in der Hauptverhandlung selbst ermöglicht (§ 247 a StPO = § 247 a Abs. 1 StPO n.F.). Mit dem „Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren“4, das auf eine Initiative des Bundesrates zurückgeht,5 will der deutsche Gesetzgeber jetzt der Videokonferenztechnik in der Prozesspraxis allgemein und – in allerdings begrenzterem Umfang – auch im Strafprozess zum Durchbruch verhelfen. Es geht – so das Vorblatt des Gesetzentwurfs des Bundesrates – im „managerial jargon“ – darum, „Optimierungspotentiale“ zu nutzen.6 Auch der „AlternativEntwurf Beweisaufnahme“ plädiert für eine verstärkte Verwendung der Videotechnik, namentlich wenn es um den Transfer von Ermittlungsergebnissen in die Hauptverhandlung geht.7 Kurzum: Die technischen Medien halten Einzug. Dies scheint im rechtspolitischen Diskurs „matter of fact“ zu geschehen. Jedenfalls lässt die Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrats jegliches Problembewusstsein, was die Auswirkungen auf das Bild und die Struktur des Verfahrens anbetrifft, vermissen. Vismanns Mahnung „Wer Medien im Prozess zulässt, bringt die Justiz um ihre eigene Medialität“8, mag überspitzt klingen. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit freilich auf einen, ja vielleicht den neuralgischen Punkt der Audiovisualisierung von Verfahren. Im Rahmen meiner rechtsvergleichenden Betrachtung möchte ich daher vorzugsweise solchen prozesstheoretischen Zusammenhängen nachgehen. Der Blick nach Frankreich drängt sich dabei auf, weil man dort dem Einsatz der Videotechnik im Prozess noch aufgeschlossener gegenübersteht als in Deutschland. Der französische Gesetzgeber hat in dieser Frage in den letzten Jahren eine geradezu hektische Betriebsamkeit entfaltet,9 um die
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Vom 25. April 2013, BGBl. I, 935. BT-Drucks. 17 / 1224. 6 BT-Drucks. 17 / 1224, S. 3. 7 Eser u.a. GA 2014, 1. In diesem Kontext steht auch die Forderung von Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 69 Rn. 6, Zeugenvernehmungen von Anfang an per Video aufzuzeichnen. 8 Vismann Medien der Rechtsprechung, herausgegeben von Kemmerer/Krajewski, 2011, S. 374. 9 Pin in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Was wird aus der Hauptverhandlung?, 2014 (im Erscheinen), zählt neun Änderungen der einschlägigen strafprozessualen Regelung binnen zwölf Jahren. 5
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„nouvelles technologies“10 in den Dienst des Strafprozesses zu stellen. Wir werden uns zunächst der Frage zuwenden, wie diese größere Aufgeschlossenheit für die Nutzung neuerer technischer Entwicklungen zu erklären ist. Alsdann werden wir das Tableau der Anwendungsfälle präsentieren. Schließlich wird es vor dem Hintergrund der französischen Diskussion und der erkennbaren Forcierung des Einsatzes der Videotechnologie im deutschen Prozess um die entscheidende Frage gehen, die Frage nämlich, wie viel Audiovisualisierung der Strafprozess überhaupt verträgt.
II. Zum Vordringen der Videokonferenz im französischen Strafprozess: Erklärungsversuche Der Blick auf das französische Recht lehrt uns zunächst, dass die Audiovisualisierung inzwischen dort fast schon zum prozessualen Alltag gehört. Jedenfalls hat die Audiovisualisierung des Verfahrens eine viel grundsätzlichere, durch den allgemeineren Begriff der „nécessité“ gesteuerte Bedeutung gerade auch für die Hauptverhandlung im Strafprozess erlangt. Die Gründe hierfür sind zunächst allgemeiner Natur, sie werden aber durch Frankreich-spezifische Gesichtspunkte ergänzt und verstärkt. (1) Allenthalben locken die Sirenenklänge der Effektivität. Sie locken insbesondere, wenn es darum geht, per Videoschaltung weit entfernt wohnenden Zeugen sowie viel beanspruchten Sachverständigen und Dolmetschern die unmittelbare Anwesenheit im Gerichtssaal zu ersparen. (2) Der Einsatz der Videotechnologie soll Sicherheitsinteressen Rechnung tragen. Sicherheitsfragen bildeten bekanntlich auch den Hintergrund des Falles Marcello Viola ./. Italien, in dem der EGMR sein grundsätzliches Plazet zu dem Einsatz der Videotechnologie im Verfahren erteilt hat.11 Unter das Rubrum Sicherheit fallen im Grunde auch Fragen des Opfer- und Zeugenschutzes. Sie berühren sich – man denke nur an die Ausführung eines Gefangenen zu einer Gerichtsverhandlung, die natürlich Personal beansprucht – mit Gesichtspunkten der Effektivität. (3) Der Gedanke der Überwindung räumlicher Distanzen erlangt natürlich gerade in Frankreich besondere Bedeutung. Denn Frankreich ist ein Land mit zahlreichen überseeischen Territorien und Départements, was auch auf die Rechtspflege durchschlägt. Vorreiter des unaufhaltsamen Einzugs der 10 In Anlehnung an den Titel des Dossiers von Actualité Juridique Pénal (= AJ Pénal) 2007, 460. 11 EGMR, Urt. v. 5.10.2006, Marcello Viola ./. Italien, Appl. no. 45106/04, Rn. 67. Der Sicherheitsgedanke stand auch bei den entsprechenden Vorschlägen zum Zeugenschutz in der Empfehlung des Europarats „Recommendation Concerning the Intimidation of Witnesses and the Rights of the Defence“, Recommendation No R (97), Straßburg 1998, Pate.
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Videotechnologie im Verfahren war denn auch prompt eine Regelung zur Überwindung allfälliger justizieller Personalengpässe auf der vor Kanada gelegenen Inselgruppe St. Pierre-et-Miquelon.12 (4) Die Hemmschwelle für den Einsatz der Videotechnologie dürfte zudem in Frankreich geringer sein als in Deutschland, weil man in Frankreich insgesamt „technikfreundlicher“ eingestellt ist als in Deutschland, und man insofern die Videotechnologie als Ausdruck der „Moderne“ eher zu akzeptieren bereit ist. (5) Da die Videotechnologie die Struktur des Verfahrens in einer sehr grundsätzlichen Weise betrifft, dürfte es nicht überraschen, dass ihr verstärkter Einsatz auch von den Prinzipien des französischen Strafprozesses begünstigt wird, besser von dem Fehlen des Prinzips der Unmittelbarkeit.13 In Frankreich kennt man mit dem Prinzip der „oralité“, der Mündlichkeit also, ein durchaus verwandtes Prinzip, das viele, aber eben doch nicht alle Konstellationen erfasst, die das Unmittelbarkeitsprinzip abdeckt. Während der Einsatz von Videotechnologie dem Prinzip der Mündlichkeit durchaus Rechnung trägt, verträgt er sich nicht ohne weiteres mit dem Prinzip der Unmittelbarkeit, zumindest wenn man mit Unmittelbarkeit unmittelbare Präsenz assoziiert.
III. Der Anwendungsbereich Die Einsatzmöglichkeiten für die Videotechnologie als Instrument der Verhandlung sind im französischen Strafprozess erwartungsgemäß wie im deutschen Prozess nach Verfahrensarten gestuft. Art. L 111-12 des allgemeinen Code d’organisation judiciaire erlaubt dem Gericht, soweit die Beteiligten zustimmen, von Amts wegen oder auf Antrag, die Verhandlung oder Teile derselben in verschiedenen Sälen zu führen, die über das Instrument der Videokonferenz miteinander verbunden sind. Diese eher großzügige Vorschrift gibt die allgemeine Richtung vor und hat zugleich Bekenntnischarak12 Es handelte sich um eine besonders aparte Variante des Einsatzes der Videotechnologie: Die Regelung, die inzwischen allgemeine Geltung erlangt hat, erlaubte nämlich, dass die Verhandlung in St. Pierre-et-Miquelon von einem Richter geleitet werden kann, der sich an einem anderen Ort der Republik befindet. Näheres bei Bossan Revue de science criminelle et de droit pénal comparé (= RSC) 2011, 801, 804. 13 Statt vieler Leblois-Happe in: Leblois-Happe/Stuckenberg (Hrsg.), Was wird aus der Hauptverhandlung?, 2014 (im Erscheinen). Der Quervergleich von Spencer in: DelmasMarty (Hrsg.), Procédures pénales d’Europe, Paris 1995, S. 515, 531 verwendet, wie auch Leblois-Happe im Titel ihres Beitrags, zwar den Begriff der immédiateté. Dabei dürfte jedoch das Bestreben maßgeblich gewesen sein, einen gemeinsamen Klammerbegriff zu finden. Ein vergleichbares „Synchronisierungsbestreben“ kommt bei Pfefferkorn Einführung in das französische Strafverfahren, 2006, S. 14, 187 zum Ausdruck, der Unmittelbarkeit und „oralité“ mehr oder weniger gleichsetzt.
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ter, indem sie nämlich in der Durchführung der Verhandlung weitgehende Flexibilität erlaubt. Sie liegt damit durchaus auf der Linie der neuen deutschen Regelung des § 128 a ZPO über die „Verhandlung im Wege der Bildund Tonübertragung“. Die strafprozessuale Regelung gilt als restriktiver.14 Gleichwohl öffnet die einschlägige Vorschrift des Art. 706-71 Code de procédure pénale (C.P.P.) die Türe weit für den Einsatz der Videotechnik. Es regiert die „nécessité“. Ich will mich gar nicht lange aufhalten mit dem Einsatz der Videotechnik im vorbereitenden Verfahren (Abs. 1), womit natürlich immer auch die Möglichkeit des Transfers in die Hauptverhandlung einhergeht. Dies ist bekanntlich auch im deutschen Strafprozess Usus und soll (auch) nach den Vorstellungen des AE-Arbeitskreises geradezu zur „Normalität“ werden.15 Die Besonderheiten von Art. 706-71 C.P.P. betreffen nämlich die Parzellierung der Hauptverhandlung selbst durch den Einsatz von Videotechnik. Art. 706-71 Abs. 2 S. 1 C.P.P. erteilt angesichts des Verweises auf die „nécessité“ und mit deren großzügiger Interpretation durch die Rechtsprechung im Grunde einen Freibrief, Zeugen, Verletzte, Sachverständige und Dolmetscher16 im Wege der Videokonferenz anzuhören. Nicht genug damit: Art. 706-71 Abs. 2 S. 2 C.P.P. erlaubt es sogar, bei einer Verhandlung vor dem tribunal correctionnel mit Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten den inhaftierten Beschuldigten per Videokonferenz in die Verhandlung zuzuschalten. Hier steht offensichtlich der Sicherheitsgedanke Pate. Dieser steht auch hinter der Vorschrift über die videobasierte Anhörung des Beschuldigten bei Entscheidungen über die Verhängung und Verlängerung der Untersuchungshaft (Abs. 3). Der Beschuldigte kann sich hier dem Einsatz der Videotechnologie verweigern, es sei denn dieser ist aus Sicherheitsgründen vonnöten. In der Summe haben die verschiedenen Varianten von Art. 706-71 C.P.P. also einen gewaltigen Schub in Richtung auf den „Tele-Prozess“17 gebracht, der – siehe die Anhörung von Zeugen und die Möglichkeit einer nur medialen Präsenz des inhaftierten Beschuldigten in der Hauptverhandlung – noch weiter reicht als das (neue) deutsche Recht. 14
So jedenfalls die Einschätzung von Pin (Fn. 9). Vgl. Fn. 7. Der Arbeitskreis lockert das Unmittelbarkeitsprinzip. Er sieht die Frage der Verwendung früher erhobener Zeugenbeweise einzig unter dem Aspekt der Qualität des Beweises und favorisiert im Übrigen die Videoaufzeichnung vor der Vernehmung der Verhörperson. 16 Vgl. zur Möglichkeit der Anhörung von Dolmetschern per Video im deutschen Prozess nunmehr § 185 Abs. 1a GVG sowie zur entsprechenden Möglichkeit der Anhörung von Sachverständigen § 247 a Abs. 2 StPO. § 247 a Abs. 1 AE-Beweisaufnahme (Fn. 7, S. 43 ff.) will im Einverständnis mit den Verfahrensbeteiligten die Einvernahme von Mitangeklagten, Zeugen und Sachverständigen in der Hauptverhandlung per Video generell erlauben. 17 Der Begriff wird inzwischen umstandslos etwa von Guinchard/Buisson Procédure pénale, 8. Aufl., Paris 2012, S. 1424 gebraucht. 15
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IV. Mutationen des Strafprozesses Bezeichnenderweise wird die weitgehende Öffnung des Verfahrens für die Videokonferenz gerne auf den Begriff der „mesure de bonne gestion de la justice“ gestützt.18 Das klingt verlockend, wer wollte schließlich der „bonne gestion de la justice“ im Wege stehen. Auch wird niemand – ganz allgemein formuliert – bestreiten wollen, dass gewisse Erneuerungen der Prozessmodelle bei aller Langlebigkeit ihrer Strukturen von Zeit zu Zeit unausweichlich sind. Prozesstypen sind schließlich nicht in Stein gemeißelt. Gleichwohl rechtfertigen modische Schlagworte wie „Modernisierung“ allein keine Neukonfektionierung. Umgekehrt reicht es nicht, sich grundsätzlich gegen den Einzug der Videotechnik in den Prozess zu sperren. Wir müssen die Vorbehalte konkretisieren. Dabei stellen wir fest, dass die Audiovisualisierung unsere Vorstellungen von Strafprozess und Strafprozess in ganz grundsätzlicher Weise berührt. Der „Tele-Prozess“ ist nicht mehr derselbe Typ Prozess. Natürlich gibt es den Strafprozess nicht, der Strafprozess hat vielmehr verschiedene Gesichter.19 Dennoch ist die Variationsbreite nicht beliebig, weil der Strafprozess in seiner durch bestimmte Zielvorgaben und einen bestimmten Satz von Garantien geprägten Grundfiguration erkennbar bleiben muss. Ein Abgleich des Einsatzes der Videotechnik mit dieser prozesstheoretischen Grundkonfiguration und ihren normativen Prämissen muss uns freilich nachdenklich stimmen. Man wird ihn jedenfalls nicht ohne weiteres als prozesstheoretisch „neutral“ bezeichnen können.20 Im Vordergrund stehen für mich drei Problemkreise: 1. Audiovisualisierung und Wahrheitsfindung Bei der Wahrheitsfindung ist – salopp formuliert – das beste Beweismittel gerade gut genug. Gerade Zeugen – so der Mythos des Konfrontationsrechts – möchten wir ins Auge schauen können.21 Die Videotechnologie produziert aber Distanz. Nun macht das den Videobeweis nicht per se untauglich. Es spricht jedoch dagegen, die Videokonferenz zur Gewohnheit werden zu lassen. Nur Risiken des Beweisverlusts oder überragende Schutzinteressen der Beweispersonen rechtfertigen den Rückgriff auf Videoschaltungen. Bei der Beweiswürdigung muss man sich außerdem im Klaren sein, dass das Video nicht nur Distanz schafft. Es vermag zugleich – je nach Gestaltung des Bild-
18 19
Vgl. Bossan RSC 2011, 801, 805. Vgl. dazu schon H. L. Schreiber in: ders. (Hrsg.), Strafprozeß und Reform, 1979, S. 15,
22. 20
Hinweise in diese Richtung bei Bossan RSC 2011, 801, 802. Nachdenkliches zur Rolle der Konfrontation in unserem Verfahren neuerdings bei Weigend FS Wolter, 2013, S. 1145. 21
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schirms – eine erdrückende Nähe zu produzieren, von deren Eindruck man sich möglicherweise nur schwer lösen kann.22 Insofern verlangt der Einsatz der Videotechnik nach einer Sensibilisierung für die Verfremdungseffekte, die diese artifiziell überlagerte Aussagesituation prägen. 2. Die Position der Verteidigung Unter den prozessualen Garantien figuriert das Recht auf Verteidigung mit an prominentester Stelle. Bei der Betrachtung der Rechtsprechung des EGMR mag man bisweilen gar den Eindruck gewinnen, Fairness sei letztlich identisch mit wirksamer Verteidigung.23 Nicht von ungefähr kommen daher auch die Vorbehalte gegen den „Tele-Prozess“ aus der Richtung „Verteidigung“. Es geht dabei vor allem um die Gefahr des Verlustes an Vertraulichkeit und des Verlustes an anwaltlicher Präsenz. Jedenfalls führt der Einsatz der Videotechnik zu einem Verlust an Spontanität in der Argumentation. Sie lässt es schwieriger erscheinen, in Kenntnis der prozessualen Gesamtsituation „aus dem Stand“ zu reagieren, ganz zu schweigen davon, dass simultanes Agieren ausgeschlossen ist. Lugan, der als Richter am tribunal de grande instance über seine Erfahrungen mit der Videotechnik berichtet hat, hat es wie folgt zusammengefasst: „… ce système nous prive de toute spontanéité. Il est souvent difficile d’engager le débat, chacun parlant à la suite de l’autre. La simultanéité est impossible. On peut dire que cela nuit véritablement à la qualité du débat. Il manque quelque chose: le vrai rapport humain“.24 Dies betrifft sicher nicht nur die Position der Verteidigung, sondern (s.o.) die Wahrheitsfindung allgemein. Womit wir im Grunde bei der Relevanz dieses „vrai rapport humain“ für die Wahrheitsfindung angelangt wären. Das Verfahren muss allemal die Vertraulichkeit des Austauschs zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten sicherstellen. In den Fällen, in denen der inhaftierte Beschuldigte per Videoschaltung in das Verfahren eingespielt wird, müssen – so auch die ausdrückliche Maßgabe des EGMR25 – sowohl die Authentizität der Aufnahmebedingungen als auch der ungestörte Informationsaustausch zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger gewährleistet sein. Mit der Videotechnik geht zwangsläufig ein Verlust an anwaltlicher Präsenz einher. Denn der Verteidiger kann nicht an beiden Standorten gleichzeitig sein. Der Einsatz der Videotechnologie verlangt ihm vielmehr eine Entscheidung ab. Während es bei der Video-Vernehmung eines Zeugen noch tolerabel erscheint, dass die Verteidigung nur mittels Technik 22 23 24 25
So eindrucksvoll Pin (Fn. 9). Dazu Jung GA 2013, 90 ff. Lugan im Interview mit Lavric AJ Pénal 2007, 467. EGMR, Urt. v. 5.10.2006, Marcello Viola ./. Italien, Appl. no. 45106/04, Rn. 74 f.
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mit dem Zeugen verbunden ist, rührt die Notwendigkeit, sich entscheiden zu müssen, bei der Vernehmung des Beschuldigten an den Kern der VerteidigerGarantie. Auch wenn man nicht so weit geht wie Lelieur, die darin eine grundlegende Ungereimtheit sieht, 26 wird das Gericht jedenfalls der unvermeidlichen Schwächung der Verteidigungssituation gegensteuern müssen. 3. Justitielles Ritual contra „Tele-Prozess“ Das justitielle Ritual ist neuerdings wieder verstärkt in das Blickfeld der Betrachtung gerückt, auch in Frankreich.27 Ohne diese Diskussion, namentlich diejenige nach der legitimatorischen Funktion von Ritualen, hier grundsätzlich aufrollen zu wollen,28 liegt auf der Hand, dass der Einsatz von Videotechnik das idealiter auf unmittelbare Konfrontation ausgerichtete Ritual der strafgerichtlichen Verhandlung verändert. In Vismanns Terminologie gesprochen: Die Justiz erweitert die Palette ihrer Medien. Dies hat, wie wir gesehen haben, Gründe und dies ist, wie unschwer nachzuvollziehen ist, mit Gefahren verbunden, nicht zuletzt der Gefahr, dass die Justiz sich der Eigendynamik dieser Medien unterwirft29 mit der Konsequenz, dass eine Art „vérité télévisé“ entsteht.30 Die Ritualfrage ist natürlich dazu angetan, Fronten aufzureißen. Für Traditionalisten ist der Einsatz der Videotechnologie Verrat am hergebrachten Erscheinungsbild der Justiz. Sicher haben sich die Bilder der Justiz über die Jahrhunderte gewandelt. Es lässt sich im Übrigen nicht bestreiten, dass der Einsatz der Videotechnologie in puncto Wahrnehmung einem schriftlichen Prozedere allemal vorzuziehen ist. Freilich ist nicht zu leugnen, dass die Gerichtsverhandlung ihren Charakter verändert, wenn sie teilweise vom unmittelbaren Erleben abrückt zugunsten einer Vermittlung via Bildschirm. Nun haben wir auch sonst die Technisierung von Ritualen und Zeremonien akzeptiert. Insofern treibt mich die Sorge um die Technisierung des Rituals weniger um als jemanden, der – wie Desprez – die Justiz letztlich (immer noch) im Transzendentalen verwurzelt sieht.31 Entscheidend ist für mich der Umgang mit den Gefahren für die Wahrheitsfindung, die die Fokussierung auf Bilder von Personen statt auf die Personen mit sich bringt.
26 27 28 29 30 31
Lelieur in: Hamdan/Jung/Stuckenberg GA 2013, 711, 715. Vgl. namentlich Desprez Rituel judiciaire et procès pénal, Paris 2008. Grundsätzlicher hierzu Jung FS Egon Müller, 2008, S. 319. Vismann (Fn. 8), S. 314. So auch die Sorge von Pin (Fn. 9). Vgl. Desprez (Fn. 27), S. 469 sowie meine Kritik hieran in: GA 2012, 519.
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V. Zusammenfassung Derselbe Richter Lugan, den wir mit der Einsicht zitiert haben, dass uns der Einsatz der Videotechnologie im Verfahren jeglicher Spontaneität beraube, wird am Ende seines Interviews mit der Feststellung zitiert: „De toute façon, nous avons tout intérêt à nous y habituer, car cette technique est appelée à se généraliser. C’est l’avenir du procès pénal.“32 Sieht so also der Strafprozess der Zukunft aus? In Frankreich bewegt man sich erkennbar in diese Richtung; dies gilt auch international gesehen.33 Gelegentlich ist ganz allgemein mit Blick auf die elektronischen Medien von einer „Dematerialisierung“ des Strafverfahrens die Rede.34 Der Gesetzgeber schwimmt auf der Woge der „Modernität“ und erweitert den Anwendungsbereich für Videokonferenzen ständig. Die Praxis scheint hiervon gleichfalls angetan und nutzt die darin angelegten Möglichkeiten.35 Auch die Cour de cassation zeigt Wohlwollen.36 Einzig die Wissenschaft mahnt zur Vorsicht.37 Ich teile diese Vorsicht. Wir sollten zumindest gewappnet sein, um nicht von diesem Sog der Modernisierung mitgerissen zu werden, ohne dass die Konsequenzen dieses Schrittes hinreichend bedacht worden wären. Sicher sind die Rahmenbedingungen in Frankreich – jedenfalls teilweise – andere als in Deutschland. Doch 32
Lugan im Interview mit Lavric AJ Pénal 2007, 467. So sind die Verfahrensregeln des Internationalen Strafgerichtshofs geändert worden, um Angeklagten die Möglichkeit zu eröffnen, per Videoübertragung auszusagen; vgl. Süddeutsche Zeitung v. 30. November/ 1. Dezember 2013, S. 4, 8. 34 La marche vers la dématerialisation de la procédure pénal, Interview mit MarieChristine Daubigny AJ Pénal 2007, 460; vgl. auch Sontag AJ Pénal 2011, 455. Dies zielt namentlich auf den Einzug der elektronischen Medien in den Prozess ab, der bekanntlich auch in Deutschland ansteht. 35 Anfangs waren die Stellungnahmen wohl differenzierter. Lavric AJ Pénal 2007, 464, 467, beantwortet die Frage nach der Zukunft der „visioconférence“ mit dem Hinweis: „Ceux qui la pratiquent plaident souvent pour que cette technique soit réservée à certains types d‘audiences ou de débats. Pour s’opposer à sa généralisation, ils invoquent l’intérêt du justiciable. Reste à savoir maintenant quel impératif la justice choisira de privilégier …“. 36 Dies zeigt sich darin, dass die Cour de cassation die Begründungsanforderungen für den Einsatz von Videotechnologie vergleichsweise formal gehandhabt und damit dem Rückgriff hierauf den Ausnahmecharakter genommen hat; Cass. Crim. Urt. v. 7.12.2010, RSC 2011, 419 (Entscheidungsanalyse Danet). Daran hat sich – trotz einer gewissen Kurskorrektur für Entscheidungen über die Verhängung und Verlängerung von Untersuchungshaft (Cass. Crim., Urt. v. 11.10.2011, Actualités, 2732 mit Entscheidungsanalyse von Léna) – seither im Prinzip nichts geändert. 37 Vgl. etwa Desprez (Fn. 27), S. 300. Zurückhaltend auch Danet La justice pénale entre rituel et management, Rennes 2010, S. 197. Grunvald Archives de politique criminelle 2011, 63, 71 sorgt sich vor allem, dass der inhaftierte Beschuldigte künftig nur noch aus der Distanz an der Hauptverhandlung teilnehmen werde. Die Einschätzung von Pradel Procédure pénale, 17. Aufl., Paris 2013, S. 318 fällt dagegen eher positiv aus, während Pin (Fn. 9) in seinem Überblick die Weiterungen für das Konzept des Strafverfahrens in den Vordergrund stellt. 33
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auch bei uns haben Opferschutz, Sicherheitsfragen und die ominöse Effektivität – siehe die gesetzliche Neuregelung – Druck auf die verstärkte Nutzung der Videotechnik generiert. Es kommt nicht von ungefähr, dass die von Finanzsorgen geplagten Länder dabei in die Vorhand getreten sind. Hier ist zunächst einmal eine Bestandsaufnahme über die „Medien der Rechtsprechung“38 angezeigt. Vieles spricht dafür, dass Rechtsprechung im Kern auf Szenarien der unmittelbaren mündlichen Auseinandersetzung angewiesen ist. Audiovisuelle Einsprengsel mögen angehen, ja sogar angezeigt erscheinen, um bestimmten umschriebenen Kollisionslagen Rechnung zu tragen. Wenn sie im Übermaß eingesetzt würden, würde die Strafjustiz jedoch zu einer virtuellen Bürokratie mutieren. Wir sollten auch aus einem weiteren Grund nicht unbedacht in eine unkontrollierte Öffnung für Videokonferenzen hineinschlittern. Wir wissen (noch) zu wenig über die Wirkungen dieser Bilder im Gesamtgefüge der Beweiswürdigung. Hier sind die rechtstatsächliche und die aussagepsychologische Forschung gefordert. Sie sollten vor dem Hintergrund der allgemeinen Erkenntnisse über die Wirkung von Bildern vor allem über die eigentümliche Kombination von Distanz und Nähe thematisieren. Mit besonderer Zurückhaltung sollte man der Möglichkeit begegnen, auf die unmittelbare Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung zu verzichten und diese durch eine Videoschaltung zu ersetzen. Auch wenn der EGMR die nur virtuelle Präsenz der Zentralfigur aus Sicherheitsgründen toleriert hat, ist dies dazu angetan, den inhaftierten Beschuldigten noch weiter ins Abseits zu rücken. Dies gilt selbst dann, wenn man einen Zustimmungsvorbehalt vorsieht; denn dieser wird nur allzu schnell zur Verhandlungsmasse. Skepsis ist also angebracht. Insofern bewegt sich für mich Bossans Sprachgebrauch, wonach es sich um ein „outil à maîtriser“ handle,39 zu sehr auf einer handwerklichen Ebene. Zugleich werden wir uns der Ergänzung des kommunikativen Repertoires vor Gericht nicht gänzlich verschließen können. Die Videotechnik sollte dort zum Einsatz kommen, wo das Verfahren sonst in einen anders nicht abwendbaren Engpass bei der Wahrheitsfindung geriete, überhaupt die Wahrheitsfindung eher gefördert wird oder aber der Schutz von Verfahrensbeteiligten dies verlangt. Anders gewendet: Der Verweis auf Effektivität allein sollte nicht genügen. Die Frage der Audiovisualisierung des Strafverfahrens hat bekanntlich eine Außen- und eine Innenseite. Mir scheint die Diskussion nicht konsistent zu verlaufen, weil man unverändert dazu neigt, die Strafjustiz gegen den Zugriff des Fernsehens abzuschotten, „nach innen“ aber bereit ist, der Videotechnik breiten Raum zu gewähren. Dabei scheint mir eine zurückhaltende Öffnung für beide Fälle angebracht. 38 39
In Anlehnung an den Titel der Arbeit von Vismann (Fn. 8). Bossan RSC 2011, 801.
Zum Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern in der Strafrechtspflege Matthias Krüger I. Einleitung Der hochgeschätzte Jubilar hat in einer vielbeachteten Studie einen sog. Perseveranzeffekt bei Richtern empirisch nachgewiesen.1 In dieser Hinsicht komme es „zur Prägung der richterlichen Informationsverarbeitung in der Hauptverhandlung durch die Kenntnis der zuvor gelesenen Ermittlungsakten“.2 Davon ausgehend müsse „der neuerdings vordringenden Tendenz, den Schöffen […] ein Recht auf Einsicht in die Gerichtsakten zuzuerkennen, mit aller Entschiedenheit widersprochen werden: Man würde dadurch gerade den Hauptvorzug der Schöffenrolle zerstören, der in der Unempfindlichkeit gegenüber dem durch die Aktenkenntnis ausgelösten Perseveranzeffekt besteht.“3 Die Anerkennung eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen verkennt nämlich, „dass der prägende Einfluss der Ermittlungsakten auf die Hauptverhandlung schon heute die Wahrheitsfindung erheblich beeinträchtigt und deshalb nicht auch noch auf die Schöffen ausgedehnt werden darf“.4 Vielmehr müsse es bei dessen Verweigerung und damit bei „einer im Interesse der Wahrheitsfindung äußerst sinnvollen Beschränkung ihrer Mitwirkungsrechte“ bleiben.5 Damit mag Bernd Schünemann in der Sache Recht haben. Eine andere Frage ist, und darum soll es an dieser Stelle gehen, ob ehrenamtlichen Richtern der Strafrechtspflege die Akten de lege lata zu Recht vorenthalten werden (dürfen).
II. Meinungsstand Der Ausgangspunkt ist eindeutig: Eine ausdrückliche Vorschrift zur Frage eines Akteneinsichtsrechts von Schöffen gibt es – von Nr. 126 Abs. 3 RiStBV abgesehen6 – nicht. Eine solche wollte der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf 1 2 3 4 5 6
Schünemann StV 2000, 159 ff. Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 1 Rn. 16. Schünemann StV 2000, 159, 164. Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 46 Rn. 6. Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 6 Rn. 17. S. dazu Nowak JR 2006, 459, 461.
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(AE) in seinem Vorschlag zur Reform der Hauptverhandlung installieren. § 241 AE-StPO-HV beschränkte das Akteneinsichtsrecht auf Berufsrichter,7 und zwar im Einklang mit der (damaligen) Rechtsprechung. Das Reichsgericht hat Laienrichtern in der Strafrechtspflege in ständiger Rechtsprechung ein Akteneinsichtsrecht verwehrt. Wegweisend in dieser Hinsicht war RGSt 69, 120.8 Darin war zu entscheiden, ob es zulässig ist, dass Schöffen während der Sitzungstage Abschriften der Anklageschrift benutzt und zur weiteren Verwendung mitgenommen haben, während die Hauptverhandlung unterbrochen war. Lapidar stellte das Reichsgericht fest: „Eine Einsicht der Schöffen oder der Geschworenen ist im Gesetz nicht vorgesehen und findet nicht statt.“ Zur Begründung führte das Gericht aus, dass es seit jeher „jede Einwirkung auf die Richter durch Unterbreitung der schriftlich dargestellten Ergebnisse des Vorverfahrens als dem wichtigen Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zuwiderlaufend abgelehnt“ hat. Es habe vielmehr „immer nachdrücklich darauf hingewiesen, daß alles zu vermeiden sei, was die Richter daran hindern könne, ihre Überzeugung so, wie § 261 StPO dies vorschreibt, ausschließlich aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu schöpfen.“ Der BGH hat zunächst die Linie des Reichsgerichts eingenommen und ein Akteneinsichtsrecht von Schöffen ebenfalls verneint.9 Erstmals im Jahre 1960 ist er hiervon etwas abgerückt und sieht „keinen überzeugenden Grund, eine im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene unterschiedliche Behandlung von Berufs- und Laienrichtern aufrechtzuerhalten. Auch den Laienrichtern, die dazu berufen sind, alle schwierigen Fragen tatsächlicher und rechtlicher Art gemeinsam und gleichberechtigt mit den Berufsrichtern zu entscheiden, darf […] unbedenklich zugetraut werden, Sinn und Bedeutung der Anklageschrift zu verstehen.“10 Einen Wendepunkt markiert BGHSt 43, 36.11 Danach ist es zulässig, wenn Schöffen in der Hauptverhandlung zum besseren Verständnis der Beweisaufnahme aus den Akten stammende Protokolle über Beweismittel (hier: Tonbandprotokolle) als Begleittext zur Verfügung gestellt werden. In den Entscheidungsgründen lässt der Senat es für den konkreten Fall zwar offen, ob hierfür ein umfassendes Akteneinsichtsrecht der Schöffen spricht. Er neigt aber jedenfalls dazu. 7
AE-StPO-HV, 1985, S. 66. Vgl. zuvor bereits RGSt 53, 176, 178, wonach ein Akteneinsichtsrecht für Laienrichter „geeignet ist, die Unbefangenheit der zur Rechtsfindung berufenen Personen, insbesondere der Geschworenen zu beeinträchtigen“. Damit weist das Reichsgericht genau auf die von Schünemann angesprochenen Effekte hin. 9 BGHSt 5, 261; 13, 73; BGH bei Dallinger MDR 1957, 268. Vgl. ferner noch OLG Hamburg NStZ 1985, 379. 10 BGH, Urt. vom 23.2.1960 – 1 StR 648/59, in: Justiz und NS-Verbrechen, Band XV, S. 266 ff. 11 Vgl. kurz darauf noch BGHSt 43, 360. 8
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Der Große Senat für Strafsachen sieht es ebenso und würde die Aushändigung des gesamten Anklagesatzes an die Schöffen nicht beanstanden, jedenfalls nicht in Strafverfahren wegen einer Vielzahl gleichförmiger und durch eine gleichartige Begehungsweise gekennzeichneter Einzeltaten.12 Damit tendiert die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Annahme eines (zumindest partiellen) Akteneinsichtsrechts für Laienrichter, ohne freilich jemals abschließend und expressis verbis Stellung genommen zu haben. Das Schrifttum hat gleichfalls einen Schwenk vollzogen. Nachdem es die reichsgerichtliche Judikatur zunächst uneingeschränkt gebilligt hat,13 erhob erstmals Schäfer Bedenken dagegen, Laienrichtern die Aktenkenntnis zu verwehren, und zwar wegen § 30 GVG.14 Später hat vor allem Schreiber es als Widerspruch zu dieser Regelung angesehen, dass man Schöffen die Akten vorenthält: „Eine akzeptable Lösung hat die Rechtsprechung damit aber nicht gefunden. Sie hat […] in Widerspruch zur eindeutigen gesetzlichen Regelung die Schöffen als Richter geringerer Art und minderer Qualifikation behandelt.“ Die Verweigerung der Akteneinsicht erfolgt entgegen der klaren Gesetzesbestimmung, heißt es noch bei Schreiber.15 „Nicht vertretbar erscheint das Vorenthalten der Akten zudem vor allem im Hinblick auf die Regelung in den §§ 30, 77 I GVG, wonach dem Laienrichter während der Hauptverhandlung die gleichen Mitwirkungsrechte zukommen wie den Berufsrichtern“, schrieb später noch Kemmer,16 wenngleich er dennoch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für erforderlich hielt.17 Solche Stimmen sind zunächst aber in der Minderheit geblieben. Dies hat sich durch BGHSt 43, 36 entscheidend verändert. Seither scheinen die Befürworter eines Akteneinsichtsrechts zuzunehmen.18 Der hochverehrte Jubilar hält demgegenüber dezidiert daran fest, dass Schöffen die Akten vorzuenthalten sind, bzw. Rechtsprechung und „moderner“ Auffassung vor, dass sie verkennen, „dass der prägende Einfluss der Ermittlungsakten auf die Hauptverhandlung schon heute die Wahrheitsfindung erheblich beein-
12
BGHSt 56, 109, 118 Rn. 28. Vgl. hierzu die Nachw. bei Kemmer Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, 1989, S. 89 f. 14 Schäfer JR 1932, 196 ff. 15 Schreiber FS Welzel, 1974, S. 941, 949. 16 Kemmer (Fn. 13), S. 213. 17 Kemmer (Fn. 13), S. 214 f. 18 Vgl. etwa Kissel/Mayer GVG, 7. Aufl. 2013, § 30 Rn. 2 ff.; Löwe/Rosenberg/ Gittermann StPO, 26. Aufl. 2006, § 30 GVG Rn. 7 f.; Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. 2013, § 30 GVG Rn. 2; Terhorst MDR 1988, 809 ff.; Dehn NStZ 1997, 607, 608; Hillenkamp FS Kaiser, 1998, S. 1437, 1443 ff.; Duttge JR 2006, 358, 360; Satzger Jura 2011, 518, 523. 13
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trächtigt und deshalb nicht auch noch auf die Schöffen ausgedehnt werden darf“.19 Damit soll es mit der Darstellung des Meinungsstands sein Bewenden haben und in die inhaltliche Auseinandersetzung eingestiegen werden.
III. Argumente pro Akteneinsichtsrecht aus anderen Zusammenhängen In der Debatte um ein Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern wird von dessen Befürwortern nicht bloß § 30 GVG genannt, worin die Befugnisse von Schöffen in dem Sinne geregelt sind, dass sie Berufsrichtern weitestgehend gleichgestellt werden. Nicht minder interessant sollen spezielle strafprozessuale Konstellationen sein, die angeführt werden, um (angebliche) Widersprüche zwischen deren Handhabung und der Ablehnung eines Akteneinsichtsrechts für ehrenamtliche Richter aufzuzeigen. 1. Fragerecht von Schöffen gemäß § 240 Abs. 2 StPO In dieser Hinsicht wird etwa § 240 Abs. 2 StPO genannt, wonach es Schöffen vom Vorsitzenden zu gestatten ist, Fragen an Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu richten. Um ein mögliches widersprüchliches Aussageverhalten von Zeugen und Angeklagten in der gebotenen Art und Weise nachvollziehen und im Wege der sachgerechten Ausübung des Fragerechts feststellen zu können, müssten Schöffen die früheren Vernehmungsprotokolle bekannt sein. Von daher soll die effektive Wahrnehmung des Fragerechts aus § 240 Abs. 2 StPO durch die Schöffen in sinnvoller und sachbezogener Weise für ein Recht auf Einsicht in die insoweit relevanten Aktenbestandteile sprechen.20 Die Parallele verfängt indes nicht. Wenn man sich § 240 Abs. 2 StPO nähert, wird deutlich, dass er im vorliegenden Zusammenhang keinesfalls präjudizierend wirkt.21 Bei der Vorschrift handelt es sich um einen Ausfluss von § 30 Abs. 1 GVG. Dadurch wird sie von dieser allgemeinen Norm gleichsam überlagert. In dieser Hinsicht lässt sich § 240 Abs. 2 StPO sogar eher gegen ein Akteneinsichtsrecht anführen. Wenn der Gesetzgeber trotz § 30 Abs. 1 GVG den Schöffen explizit ein Fragerecht einräumt, lässt sich daraus ein arg. e contrario ableiten, dass sein
19 Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 46 Rn. 6. Vgl. im selben Sinne noch Kleinknecht/Müller/Reitberger/Stuckenberg StPO, § 261 Rn. 15 (Dezember 2013); Kühne Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, § 5 Rn. 116; Beulke Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, § 20 Rn. 408; Lunnebach StV 1997, 452 ff.; Imberger-Bayer JR 1999, 299 ff. 20 Terhorst MDR 1988, 809, 810; Hillenkamp FS Kaiser, 1998, S. 1437, 1453; Nowak JR 2006, 459, 461. 21 Vgl. dazu etwa Börner ZStW 122 (2010), 157, 192 m.w.N.
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Schweigen in der Frage eines Akteneinsichtsrechts eher gegen dessen Annahme spricht. Weil zwar das Fragerecht der Laienrichter eindeutig und abschließend geregelt ist, nicht aber deren Befugnis zur Einsichtnahme in Verfahrensakten „vom Gesetzgeber in einer eindeutigen und abschließenden Weise beantwortet worden“ ist, wie selbst Befürworter der Argumentation mit § 240 Abs. 2 StPO unumwunden einräumen,22 lässt sich eben diese unterschiedliche gesetzgeberische Ausgestaltung eher gegen ein solches Recht anführen. 2. Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO Gleiches gilt, um das Ergebnis vorwegzunehmen,23 soweit dem Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO eine weitergehende Aussage im Streit um ein Akteneinsichtsrecht von Schöffen entnommen wird.24 Ein erstes Indiz dafür, dass es sich in diesem Sinne verhält, liegt bereits darin, dass die Vorschrift selbst von Gegnern einer solchen Befugnis angeführt wird.25 Freilich kann es mit dem Hinweis darauf nicht sein Bewenden haben. Dabei geben Befürworter eines Akteneinsichtsrechts für ehrenamtliche Richter der Strafgerichtsbarkeit das Argument gegen die eigene Ansicht – sicher unbewusst – den Kritikern selbst an die Hand. Stüber als Fürsprecher eines Akteneinsichtsrechts räumt etwa unumwunden ein, dass eine eindeutige Positionierung des Gesetzgebers zu Für und Wider eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen an dieser Stelle fehlt.26 Vom eigenen Standpunkt, dass es eine solche Befugnis – und zwar aus § 30 Abs. 1 GVG – geben soll,27 noch merkwürdiger mutet es an, wenn Nowak ausführt, dass durch § 249 Abs. 2 StPO zugleich die „allgemeine Vorschrift des § 30 Abs. 1 GVG näher ausgestaltet“ wird.28 Wenn Nowak dies an dieser Stelle für erforderlich zu halten scheint und zugleich betont, dass die „Fragestellung, ob und inwieweit Schöffen in einem Strafverfahren ein Recht auf Einsichtnahme in die Verfahrensakten zusteht, […] weder von der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung noch vom Gesetzgeber in einer eindeutigen und abschließenden Weise beantwortet worden“ ist,29 gibt er mittelbar zu erkennen, welche Schlüsse aus § 249 Abs. 2 StPO für die übergeordnete Thematik eines Akteneinsichtsrechts von Schöffen nahe liegen. 22
Nowak JR 2006, 459. Vgl. im selben Sinne bereits Börner ZStW 122 (2010), 157, 191. 24 In diesem Sinne etwa Satzger Jura 2011, 518, 524. 25 Imberger-Bayer JR 1999, 299, 300 f. Vgl. in diesem Sinne ferner noch Kühne (Fn. 19), § 5 Rn. 116. 26 Stüber Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 2005, S. 66. 27 Nowak JR 2006, 459, 463. 28 Nowak JR 2006, 459, 461 (Hervorhebung nicht im Original). 29 Nowak JR 2006, 459 (Hervorhebung nicht im Original). 23
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Die Vorschrift ist entweder konstitutiver Natur, wohingegen sich ein weitergehendes Akteneinsichtsrecht von Schöffen gerade nicht aus § 30 Abs. 1 GVG ergibt.30 Dafür könnte sprechen, dass es der Erwähnung der „Schöffen“ in § 249 Abs. 2 StPO nicht bedurft hätte, wenn der Gesetzgeber eine solche Befugnis bereits aus § 30 Abs. 1 GVG würde ableiten wollen. Im Übrigen müsste man die Vorschrift für diesen Fall im Verhältnis zu § 30 GVG als speziellere Vorschrift ansehen, wovon Nowak durchaus auszugehen scheint. In methodischer Hinsicht würde für diesen Fall aber nach anerkannten Grundsätzen juristischer Methodenlehre das speziellere Gesetz die allgemeine Regelung verdrängen, sodass § 30 Abs. 1 GVG als Rechtsgrundlage für ein Akteneinsichtsrecht von Schöffen, wie von Nowak propagiert, von vornherein ausscheiden müsste. In dieser Hinsicht lässt sich § 249 Abs. 2 StPO eher ein arg. e contrario ableiten, dass es eine darüber hinaus gehende Befugnis der ehrenamtlichen Richter der Strafgerichtsbarkeit, sich vom Akteninhalt Kenntnis zu verschaffen, gerade nicht gibt. Ebenfalls denkbar ist, dass die Vorschrift lediglich deklaratorisch ist. Für diesen Fall kann sie allerdings das Recht auf Einsichtnahme von Schöffen in die Verfahrensakten nicht zugleich begründen. Vielmehr müsste es bereits anderweitig statuiert sein. Man kann es drehen und wenden wie man will: Ein (zusätzliches) Argument für ein Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern lässt sich § 249 Abs. 2 StPO nicht entnehmen. 3. Laienrichterbeteiligung bei Haftentscheidungen Im Zusammenhang mit der Frage eines Akteneinsichtsrechts von Schöffen werden ferner die Vorschriften der §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 StPO diskutiert. Sie bestimmen, dass Haftentscheidungen ab Anklageerhebung vom mit der Sache befassten Tatgericht getroffen werden. Es herrscht Streit darüber, ob hieran Schöffen zu beteiligen sind, wenn es sich beim betreffenden Tatgericht um ein solches mit Laienbeteiligung handelt und die Haftentscheidung selbst nicht während der Hauptverhandlung gefällt wird. Für den Fall, dass sie zu beteiligen wären, soll daraus wiederum ein Akteneinsichtsrecht folgen. Nach einer Auffassung im Schrifttum sind Schöffen an Haftentscheidungen generell nicht (obligatorisch) zu beteiligen.31 Anderenorts versteht man unter Gericht im Sinne von §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 StPO dagegen den gesamten Spruchkörper unter Einschluss der Laienrichter.32 Die Rechtspre-
30 In dieser Richtung etwa Ranft Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2005, Rn. 1662, wonach das Selbstleseverfahren das grundsätzliche Verbot der Aktenkenntnis gerade voraussetzt. 31 Karlsruher Kommentar StPO/Schultheis, 7. Aufl. 2013, § 126 Rn. 10; Kissel/Mayer (Fn. 18), § 30 Rn. 9 ff., 16 ff.; Foth NStZ 1998, 262; Satzger Jura 2011, 518, 524. 32 LR/Hilger StPO, 26. Aufl. 2006, § 125 Rn. 16a; Terhorst MDR 1988, 809, 811; Dehn NStZ 1997, 607, 608; Schlothauer StV 1998, 144 ff.; Kunisch StV 1998, 687 ff.
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chung ist in der Frage ebenfalls gespalten.33 Nach dem Bundesverfassungsgericht ist es „von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn das Gericht über einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls außerhalb der Hauptverhandlung in der Besetzung nur mit den Berufsrichtern ohne Schöffen entscheidet“.34 Dabei hat es sich freilich auf eine verfassungsrechtliche Prüfung beschränkt, ohne die einfachrechtlichen Normen näher zu untersuchen. Der 1. Strafsenat des BGH hat sich insofern gegen eine obligatorische Beteiligung von Schöffen an Haftentscheidungen außerhalb einer Hauptverhandlungssitzung ausgesprochen.35 Im Schrifttum wird noch vereinzelt danach differenziert, ob es sich um eilbedürftige (ohne Schöffen) und nicht eilbedürftige (mit Schöffen) Haftentscheidungen handelt.36 Die vermittelnde Ansicht vermag aber bereits deshalb nicht zu überzeugen, weil „in dringenden Fällen“ ohnehin der Vorsitzende allein entscheiden kann, §§ 125 Abs. 2 S. 2, 126 Abs. 2 S. 3 und 4 StPO. Die vorgeschlagene Differenzierung wird bereits vom Gesetz vorgenommen und kann deshalb die darüber hinaus gehende Frage der grundsätzlichen Beteiligung von Schöffen an Haftsachen kaum befriedigend beantworten. Im Folgenden wird angesichts dessen lediglich auf die sich konträr gegenüberstehenden Auffassungen eingegangen.37 Paradoxerweise wird § 30 GVG als Argument für die jeweils eigene Auffassung genannt. Während § 30 Abs. 2 GVG im ablehnenden Sinne angeführt wird, weisen beipflichtende Stimmen darauf hin, dass gemäß § 30 Abs. 1 GVG die ehrenamtlichen Richter „auch an den im Laufe der Hauptverhandlung zu erlassenden Entscheidungen teil[nehmen], die in keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stehen und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können“. Haftentscheidungen sollen darunter fallen (können). Wenn man das Gesetz nicht ad absurdum führen will, indem Laienrichtern etwas mit einer Hand gegeben und zugleich mit der anderen Hand wieder genommen werden soll, versteht es sich von selbst, dass § 30 GVG nicht diese Janusköpfigkeit haben kann, sondern lediglich eine der beiden genannten Auslegungen sinnvoll ist.
33 Vgl. einerseits (ohne Schöffen) LG Hamburg MDR 1973, 69; OLG Schleswig NStZ 1990, 198; OLG Frankfurt/M. NStZ-RR 1996, 302, 303; OLG Hamburg StV 1998, 143; OLG Hamm StV 1998, 388; OLG Jena StV 1999, 101; OLG Naumburg NStZ-RR 2001, 347 und andererseits (mit Schöffen) OLG Düsseldorf StV 1984, 159; OLG Köln StV 1998, 273. 34 BVerfG StV 1998, 387. 35 BGH NStZ 2011, 356 mit Anm. Krüger NStZ 2012, 341. Vgl. im selben Sinne bereits OLG Köln NStZ 2009, 589 mit Anm. Krüger. 36 Katholnigg JR 1998, 170, 172. 37 S. zur Problematik umfassend Börner ZStW 122 (2010), 157, 159 ff. sowie später noch ders. JR 2010, 481 ff. – jeweils m.w.N.
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Mit § 30 GVG hat sich insbesondere Dehn näher befasst.38 Er meint, dass die Vorschrift eine weite Auslegung des Begriffs „in“ bzw. „während der Hauptverhandlung“ erlauben soll. Wortwörtlich heißt es: Selbst „wenn sich die Notwendigkeit einer Entscheidung nicht in einem Hauptverhandlungstermin selbst, sondern während einer Unterbrechung gem. § 228 StPO ergibt, kann von einer »im Laufe einer Hauptverhandlung zu erlassenden Entscheidung« i.S. von § 30 I GVG, an welcher die Schöffen mitzuwirken haben, gesprochen werden, zumal wenn man bedenkt, daß auch Entscheidungen in Betracht kommen, die in »keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stehen und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können«. Die letztgenannte Gesetzesformulierung schließt jedenfalls nicht aus, eine Entscheidung »in der Hauptverhandlung« selbst dann anzunehmen, wenn über sie nicht mündlich verhandelt und sie nicht in der Hauptverhandlung verkündet wird; auch in diesem Fall ist eine Beratung in der »Hauptverhandlungsbesetzung« mit Schöffen vorstellbar.“ Dabei gerät Dehn aber in Konflikt mit § 30 Abs. 2 GVG, den er freilich selbst sieht und auf folgende Weise zu lösen versucht: Er legt den Schwerpunkt bei seiner Auslegung schlichtweg anders. Während zumeist die Betonung auf „außerhalb der Hauptverhandlung“ gelegt wird, betont Dehn, dass es sich um „außerhalb der Hauptverhandlung erforderliche Entscheidungen“ handeln muss und macht dies im vorliegenden Zusammenhang dahingehend fruchtbar, dass die gemäß § 30 Abs. 1 GVG grundsätzlich notwendige Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter in Haftsachen im Einzelfall wegen der Verhinderung eines Schöffen (unter Zugrundelegung eines schöffenfreundlichen Zumutbarkeitsmaßstabs) entfallen kann.39 Es stellt sich allerdings die Frage, wie Dehn das Merkmal „außerhalb“ auslegen will. Bei seiner weiten Auslegung des Begriffs „in“ bzw. „während der Hauptverhandlung“ unter Einschluss der unterbrochenen Hauptverhandlung wird in dem selbst gebildeten Beispielsfall trotz der Eilbedürftigkeit nicht „außerhalb“, sondern nach den eigenen Maßstäben „während“ bzw. „im Laufe der Hauptverhandlung“ entschieden. Bloß unter Inkaufnahme eines solchen Widerspruchs lässt sich seine Auffassung halten. Insofern hilft eine immanente Auslegung von § 30 GVG eher nicht weiter. Vielmehr muss man über den „Tellerrand“ der Vorschrift hinausschauen und darf insofern nicht einer Binnensicht verhaftet bleiben. Eine neue Erkenntnis ist dies übrigens nicht. Selbst Dehn weist zutreffend darauf hin, dass § 30 GVG die Frage, ob eine Entscheidung (nicht) im Laufe der Hauptverhandlung zu treffen ist, nicht selbst beantwortet.40 Der Mühe, den Blick auf andere 38
Vgl. zum Folgenden Dehn NStZ 1997, 607, 608. Dehn NStZ 1997, 607, 609. 40 Dehn NStZ 1997, 607, 608. Vgl. insofern bereits die Motive zu § 30 GVG bei Hahn/ Mugdan Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Neudruck 1983, GVG, Abt. 1, S. 81 oben. 39
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strafverfahrensrechtliche Regelungen in dieser Hinsicht schweifen zu lassen, unterzieht er sich freilich nicht. Wenn man sich in dieser Hinsicht umtut, stößt man auf § 33 StPO. Er ist im vorliegenden Zusammenhang deshalb von Relevanz, weil er die Differenzierung zwischen Entscheidungen „im Laufe einer Hauptverhandlung“ (§ 33 Abs. 1 StPO) und solchen „außerhalb der Hauptverhandlung“ (§ 33 Abs. 2 StPO) zum Gegenstand hat. In § 33 Abs. 4 StPO wird dabei die Anordnung von Untersuchungshaft explizit genannt. Danach soll § 33 Abs. 3 StPO nicht anzuwenden sein, wobei § 33 Abs. 3 StPO wiederum auf die in § 33 „Absatz 2 bezeichneten Entscheidungen“ Bezug nimmt, die – nach dem unmissverständlichen Wortlaut von § 33 Abs. 2 StPO – „außerhalb der Hauptverhandlung“ ergehen. Die Anordnung der Untersuchungshaft erfolgt von daher de lege lata „außerhalb der Hauptverhandlung“ im Sinne von § 30 Abs. 2 GVG. Daraus folgt, dass der Erlass eines Haftbefehls im Wege des § 125 Abs. 2 StPO ohne Beteiligung der Schöffen erfolgen kann. Für weitere Entscheidungen im Sinne von § 126 Abs. 2 StPO, etwa Aufhebung oder Außervollzugsetzung eines Haftbefehls, gilt § 33 Abs. 4 StPO zwar nicht unmittelbar. Sie sind aber als actus contrarius zum Haftbefehl gleichfalls dieser Regelung und der daran anknüpfenden Verweisungskette zu unterstellen.41 Vor diesem Hintergrund ergehen Entscheidungen in Haftsachen grundsätzlich „außerhalb der Hauptverhandlung“ im Sinne von § 30 Abs. 2 GVG. Das Argument aus § 33 StPO sieht sich durch einen Blick in die Entstehungsgeschichte von § 30 GVG bestätigt. In seinen Motiven wird zunächst klargestellt, dass die Bestimmung unabhängig davon zur Anwendung kommt, ob die Entscheidung vor oder nach Erhebung der Klage zu treffen ist.42 Im Übrigen wird auf die Regelungen der Strafprozessordnung verwiesen, aus denen sich ergibt, in welchen Fällen bloß der Amtsrichter zu entscheiden hat, sowie diesbezüglich auf eine weitere Stelle in den Motiven zum Gerichtsverfassungsgesetz, die solche Maßnahmen beispielhaft aufzählt, darunter der Erlass von Verwahrungsbefehlen, sprich die Anordnung von Untersuchungshaft.43 Von daher sind es gleichsam systematische wie historische Argumente, die gegen eine obligatorische Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern an Haftsachen sprechen. Damit ist zugleich gesagt, dass dieser Problemkreis nicht zwingend für ein Akteneinsichtsrecht von Schöffen angeführt werden kann.
41 Eine solche – wenngleich nicht unumstrittene – sog. „Kehrseitentheorie“ ist etwa in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur geläufig, s. BVerwGE 25, 72, 76; 27, 245, 247; 30, 77, 79; 71, 354, 357. 42 Motive bei Hahn/Mugdan (Fn. 40), GVG, Abt. 1, S. 80. 43 Hahn/Mugdan (Fn. 40), GVG, Abt. 1, S. 81 oben mit S. 72 unter 3.
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IV. § 30 GVG als gesetzliche Grundlage eines Akteneinsichtsrechts von Laienrichtern Abschließend bleibt noch zu klären, ob § 30 Abs. 1 GVG ein Akteneinsichtsrecht für Schöffen statuiert. Interessant ist, dass selbst seine Befürworter es nicht zwangsläufig daraus ableiten wollen. „Ein Recht auf Akteneinsicht direkt aus § 30 GVG ist folglich nicht herzuleiten“, heißt es etwa bei Stüber,44 der es im Übrigen nicht ablehnt.45 Bei Kemmer heißt es ganz in diesem Sinne: „Der Gesetzgeber sollte, wenn er es tatsächlich mit der in §§ 30, 77 I GVG von ihm vorgenommenen Gleichstellung ernst meint und der Aushöhlung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Schöffen durch die Rechtsprechung entgegenwirken will, […] diese Problematik auf die Tagesordnung setzen und das Akteneinsichtsrecht […] für Berufs- wie Laienrichter gleichermaßen in der StPO gesetzlich verankern.“46 Man ist etwas überrascht, dass die Vorschrift zwar genannt, nicht aber näher untersucht wird. Man belässt es vielmehr bei dieser – zuweilen sehr apodiktisch anmutenden47 – Behauptung, ohne dass § 30 Abs. 1 GVG einer näheren Normexegese mit den Mitteln juristischer Methodenlehre unterzogen wird. Sie vermisst man allerdings ebenso bei der – ein umfassendes Akteneinsichtsrecht ablehnenden – (früheren) Gerichtspraxis. Das Reichsgericht etwa geht überhaupt nicht auf § 30 Abs. 1 GVG ein. Ebenfalls unter bloßem Hinweis auf die Vorschrift nimmt BGHSt 43, 36, 39 dagegen ein Akteneinsichtsrecht aus § 30 Abs. 1 GVG an. Von daher scheint es keinesfalls selbstverständlich zu sein, dass es sich bei § 30 Abs. 1 GVG wirklich um eine „eindeutige gesetzliche Regelung“ bzw. unmissverständliche Vorschrift handelt. Die wörtliche Auslegung von § 30 GVG scheint auf den ersten Blick in der Tat für ein umfassendes Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern zu sprechen. Schließlich spricht er davon, dass „die Schöffen während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang“ wie die Berufsrichter ausüben. Die an sich klare Sprache des Gesetzes verliert aber bereits dadurch etwas an Überzeugungskraft, als dass selbst der Gesetzgeber seinen eigenen Worten nicht allzu viel an Vertrauen entgegenzubringen scheint. Es ist vor dem Hintergrund von § 30 GVG nämlich schwer erklärbar und jedenfalls tautologisch, wenn in den bereits erwähnten §§ 240 Abs. 2, 249 Abs. 2 StPO die Schöffen explizit neben den (Berufs-)Richtern erwähnt werden. Der Wortlaut von § 30 Abs. 1 GVG macht eine solche ausdrückliche Gleichstellung an sich überflüssig. Von daher scheint die Norm keinesfalls derart „eindeutig“ 44
Stüber (Fn. 26), S. 57. Stüber (Fn. 26), S. 76. 46 Kemmer (Fn. 13), S. 214 f. 47 Schreiber FS Welzel, 1974, S. 941, 949 („eindeutige gesetzliche Regelung“) sowie ferner noch Terhorst MDR 1988, 809, 810: „Diese Vorschrift ist unmißverständlich.“ 45
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bzw. „unmissverständlich“ zu sein,48 wie es Befürworter eines Akteneinsichtsrechts für Laienrichter suggerieren möchten. Die historische Auslegung spricht eher gegen ein Akteneinsichtsrecht von Schöffen. Dabei wird weniger an die Motive des Gesetzgebers gedacht, die sich ohnehin nicht expressis verbis zu dieser Frage äußern, sondern vielmehr daran, dass der Gesetzgeber wiederholt Gelegenheit hatte, eine solche Befugnis zu statuieren oder § 30 GVG in dieser Hinsicht zu präzisieren. Schließlich hat er das Verfahren vor den Schöffen- und Schwurgerichten seit Erlass der (Reichs-)Strafprozessordnung mehrfach gesetzlich modifiziert und geändert. Dabei hat man in Kenntnis dessen, dass die Praxis den Laienrichtern die Akten verwehrt, § 30 Abs. 1 GVG gleichwohl unverändert gelassen. Wenn der Gesetzgeber sie tatsächlich durch die Vorschrift gewährleistet sehen möchte, hätte man eine (deklaratorische) Klarstellung erwartet. Dass sie ausblieb, ist deshalb dahin zu verstehen, dass der Gesetzgeber ein solches Recht als nicht von § 30 GVG umfasst ansieht. Im Rahmen der historischen Auslegung lässt sich von daher zumindest ein Indiz dafür entnehmen, dass Schöffen die Ermittlungs- und Verfahrensakten zu Recht vorenthalten werden. Dies sieht sich durch die teleologische Auslegung bestätigt. Sie wird von Befürwortern eines Akteneinsichtsrechts von ehrenamtlichen Richtern der Strafgerichtsbarkeit selbst ins Spiel gebracht. Kemmer führt in dieser Hinsicht aus:49 Es „kann die Gewährung von Akteneinsicht überhaupt nur dann sinnvoll sein, wenn dies die Effektivität des Laienrichteramtes bei der Urteilsfindung steigern würde – das Überlassen von Aktenmaterial darf nicht um seiner selbst willen geschehen, sondern lediglich unter der Voraussetzung, daß dies der Rechtsfindung dienlich wäre!“ Damit umschreibt er Sinn und Zweck der Gleichstellung in § 30 GVG, ohne daraus freilich die an sich nahe liegende Konsequenz zu ziehen: Der Rechtsfindung ist es keinesfalls dienlich, wenn Schöffen – gleichsam als Garanten der Unmittelbarkeit50 – ein umfassendes Akteneinsichtsrecht haben. Denn die Rechtsfindung vollzieht sich im Strafverfahren nämlich gerade nicht aus den Akten, sondern vielmehr gemäß § 261 StPO „aus dem Inbegriff der (Haupt-)Verhandlung“. Aktenkenntnis ist diesem Ziel eher abträglich. Sie kann deshalb nicht umfassend, sondern allenfalls insofern gewährt werden, als dass bereits verlesene, wie etwa der Anklagesatz, oder gemäß § 249 Abs. 2 StPO zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachte Aktenstücke den Schöffen, etwa als Gedächtnisstütze, überlassen werden können. Wenn Aktenteile dagegen noch nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, sind sie Schöffen von Rechts wegen vorzuenthalten. 48
Schreiber FS Welzel, 1974, S. 941, 949; Terhorst MDR 1988, 809, 810. Kemmer (Fn. 13), S. 157. 50 Vgl. hierzu im Zusammenhang mit einem Akteneinsichtsrecht aus § 30 GVG näher Börner ZStW 122 (2010), 157, 181 ff., 187 ff. 49
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Dabei handelt es sich keinesfalls um eine zirkuläre Argumentation, die sich vor dem geschilderten Hintergrund im Übrigen mit dem Wortlaut von § 30 GVG verträgt. Ein Schöffe kann seinem Amt nämlich im „vollem Umfang“ nachkommen, ohne die Akten kennen zu müssen, weil sie für seine Entscheidung schlichtweg nicht von Relevanz sind. Ob man dies (noch) als teleologische Auslegung oder (bereits) als teleologische Reduktion ansieht, kann dahinstehen. In jedem Fall entspricht es dem Telos von § 30 GVG, ehrenamtlichen Richtern der Strafgerichtsbarkeit die Ermittlungsakten zu verweigern.
V. Fazit Das gefundene Ergebnis dürfte den hochverehrten Jubilar erfreuen. Bei der Verweigerung eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen handelt es sich nicht bloß um eine „im Interesse der Wahrheitsfindung äußerst sinnvolle Beschränkung ihrer Mitwirkungsrechte“.51 De lege lata ist diese Sichtweise ebenfalls geboten. Man darf gespannt sein, welche Sichtweise Bernd Schünemann darauf hat, wenn er sich dazu äußern sollte. Es bleibt zu hoffen, dass er sich insofern einbringt und sich zukünftig nach wie vor bester Gesundheit und ungebremster Schaffenskraft erfreut. Dieser Wunsch soll nicht bloß mit den angestellten Überlegungen verbunden, sondern vielmehr am Ende derselben noch einmal expressis verbis in freundschaftlicher Verbundenheit geäußert werden.
51
Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 6 Rn. 17.
Handeln „für einen anderen“ bei Verfall und Wertersatzverfall gegen Dritte im Sinne von § 73 Abs. 3 StGB Henning Radtke I. Einführung Über die mittlerweile erhebliche Bedeutung der Institute des Verfalls (§ 73 StGB) und des Wertersatzverfalls (§ 73a StGB) in der Strafrechtspraxis besteht Einigkeit.1 Der Bedeutungszuwachs der Vermögensabschöpfung drückt sich u.a. in der häufigeren Anwendung des „Drittempfängerverfall“2 (§ 73 Abs. 3 StGB) aus.3 Im Zusammenhang mit aus Wirtschaftsunternehmen heraus begangener Kriminalität ist der Drittempfängerverfall neben den Instrumenten des Ordnungswidrigkeitenrechts (§§ 9, 17 Abs. 4, 30, 130 OWiG)4 eine wichtige Maßnahme zur Abschöpfung von Vermögensbestandteilen, die sich auf rechtswidrige Taten zurückführen lassen. § 73 Abs. 3 StGB scheint dafür eindeutige und einfach zu erfassende Voraussetzungen zu normieren. Die Verfallsanordnung trifft einen tatunbeteiligten Dritten, wenn der Tatbeteiligte „für einen anderen“ gehandelt und dieser „dadurch“ etwas erlangt hat. Nach dem Wortlaut müssen die genannten Merkmale ersichtlich kumulativ vorliegen.5 Das Gesetz statuiert damit drei Voraussetzungen der Verfalls- oder Wertersatzverfallsanordnung 6 in das Vermögen eines tatunbeteiligten Dritten: die Begehung einer rechtswidrigen Tat, deren Täter oder Teilnehmer für einen anderen gehandelt und bewirkt hat, dass der andere durch diese Tat etwas erlangt hat.
1
Hofmann wistra 2008, 401; Rohde wistra 2012, 85. Begriff nach Hofmann wistra 2008, 401, 402 und Rohde wistra 2012, 85. 3 W. Schmidt, Gewinnabschöpfung im Straf- und Bußgeldverfahren, 2006, Rn. 263; Rohde wistra 2012, 85. 4 Näher Wallschläger Die strafrechtlichen Verfallsvorschriften, 2002, S. 52 ff.; Korte FS Samson, 2012, S. 65, 72 ff. 5 Missverständlich daher die Formulierung in BGHSt 45, 235, 245 f. „Fließt in solchen Fällen dem Dritten der Vorteil zu, so hat der Täter oder Teilnehmer für den Dritten gehandelt …“. 6 § 73 Abs. 3 StGB findet auch beim Wertersatzverfall Anwendung, siehe nur BGH wistra 2010, 406 mit Anm. Gehrmann PStR 2010, 233 f. 2
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Wirft man einen Blick auf die Auslegung von § 73 Abs. 3 StGB, trübt sich das Bild von den einfach normierten und zu verstehenden Anordnungsvoraussetzungen des Drittempfängerverfalls bzw. des Verfalls gegen Verfallsbeteiligte (vgl. § 442 Abs. 2 StPO). Die einschlägige Rechtsprechung sowie die in der Strafrechtswissenschaft unterbreiteten Vorschläge zur Inhaltsbestimmung der Vorschrift ergeben ein Bild, das vor allem durch gravierende Unterschiede über deren Verständnis geprägt ist. Diese betreffen dabei sowohl die Reichweite des Drittempfängerverfalls in personaler Hinsicht („für einen anderen“) als auch die Bestimmung des über § 73 Abs. 3 StGB bei dem tatunbeteiligten Dritten abschöpfbaren Erlangten.7 Vor allem auf Letztgenanntes wirken sich zudem die zum Verfall gegen Tatbeteiligte gemäß § 73 Abs. 1 StGB bestehenden erheblichen Divergenzen über das durch die rechtswidrige Tat „Erlangte“ sowie über den abschöpfbaren Wert des „Erlangten“8 aus.9 § 73 Abs. 3 StGB ist damit sowohl mit Kontroversen um die Auslegung seiner spezifischen Merkmale als auch mit denen um den Verfall gegen Tatbeteiligte selbst behaftet. Die grob skizzierten Probleme des Drittempfängerverfalls geben Anlass, sich mit einigen Aspekten des § 73 Abs. 3 StGB näher zu beschäftigen; der Schwerpunkt wird bei der Auslegung des Merkmals „für einen anderen“ liegen. Angesichts der intensiven Beschäftigung des Jubilars mit dem Wirtschafts- und Unternehmensstrafrecht hoffe ich, damit auf sein Interesse zu stoßen.
II. Grundfragen und -probleme des Drittempfängerverfalls Der Drittempfängerverfall knüpft an die allgemeinen Voraussetzungen von Verfall und Wertersatzverfall an. Originär sind in § 73 Abs. 3 StGB lediglich der Drittbezug des Handelns von Tätern oder Teilnehmern sowie die Verknüpfung von deren rechtswidriger Tat mit dem von dem Dritten, dem „Anderen“, erlangten Etwas. Wegen der Anknüpfung an den Verfall gegen Tatbeteiligte ist die Handhabung von § 73 Abs. 3 StGB nicht allein mit dessen spezifischen Auslegungsschwierigkeiten behaftet, sondern – wie angedeutet – wirken sich die vorhandenen Probleme der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Reglungen über die Anordnung von Verfall oder Wertersatzverfall in das Vermögen von Tatbeteiligten auf den Drittempfängerverfall aus.
7 Zu Letzterem näher anhand des Beispiels der Korruptionsdelikte etwa Korte FS Samson, 2012, S. 65, 72 ff., insb. S. 76 ff. 8 Zu dieser Zweistufigkeit, zunächst das Erlangte und erst anschließend dessen Wert zu bestimmen, BGHSt 50, 299, 309 f. 9 Vgl. dazu wiederum Korte FS Samson, 2012, S. 65, 76 ff.
Handeln „für einen anderen“ bei Verfall gegen Dritte
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Der Dissens über die Voraussetzungen des Verfalls betrifft in erster Linie die inhaltliche Bestimmung des „Erlangten“.10 Dabei ist die Festlegung des Erlangten und darauf aufbauend diejenige des Wertes des Erlangten Grundlage für die Bestimmung der durch Verfall oder Wertersatzverfall im Strafverfahren Abschöpfbaren. Die je nach gewähltem Ausgangspunkt zum „Erlangten“ hervortretenden Unterschiede in den Ergebnissen sind beträchtlich. Das gilt nicht nur in rechtlicher Hinsicht, sondern vor allem ökonomisch hinsichtlich der sich ergebenden abschöpfbaren Beträge. Wird bei einem durch ein Vertretungsorgan einer juristischen Person mittels Bestechung bewirkten Auftrag für den Vertretenen die Auftragserlangung selbst als das Erlangte angesehen und dessen Wert an dem erwarteten Gewinn orientiert,11 ist der abschöpfbare Betrag bei der begünstigten tatunbeteiligten juristischen Person signifikant geringer als bei Abschöpfung der vollen Auftragssumme, wenn und soweit diese der juristischen Person zugeflossen ist.12 Die Auswirkungen unterschiedlicher Bestimmungen des „Erlangten“ auf ein vom Drittempfängerverfall betroffenes Unternehmen können erheblich sein. Ein in Höhe der gesamten Auftragssumme im vorgenannten Beispiel angeordneter Verfall kann die wirtschaftliche Existenz des begünstigten Unternehmens in Gefahr bringen. Diese Gefahr ist durchaus bereits bei Maßnahmen der vorläufigen Vermögenssicherung durch dinglichen Arrest (§ 111d StPO) virulent.13 Der dingliche Arrest kann mit Zugriffsbeschränkungen auf liquide Mittel einhergehen und damit Insolvenzgründe, etwa die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 Abs. 2 InsO), bei der juristischen Person eintreten lassen. Ob und in welchem Umfang drohender Existenzvernichtung durch Anwendung der Härtevorschrift in § 73c Abs. 1 StGB entgegen gewirkt werden kann, hängt von der Auslegung dieser Regelung ab.14 Im Falle des Drittempfängerverfalls können spezifische Fragestellungen auftreten, die u.a. mit der Gutgläubigkeit der Vertretungsorgane einer begünstigten juristischen Person sowie der Vermischung von legal erworbenem Vermögen des Tatunbeteiligten mit aus der rechtswidrigen Tat stammenden Vermögensbestandteilen im Zusammenhang stehen. Darauf kann im Rahmen der vor allem auf den Drittbezug „für einen anderen“ bezogenen Erwägungen in diesem Beitrag nicht eingegangen werden.
10 Siehe insoweit nur Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 73 Rn. 8b–8h; Münchener Kommentar StGB/Joecks, 2. Aufl. 2012, § 73 Rn. 27–40 sowie die Zusammenstellung der materiell schwer miteinander zu vereinbaren Entscheidungen der verschiedenen Strafsenate des Bundesgerichtshofs bei Korte FS Samson, 2012, S. 65, 69–71. 11 BGHSt 50, 299, 310–312. 12 Vgl. BGHSt 52, 227, 250 f. (Rn. 107 f.). 13 Hofmann wistra 2008, 401 (Fn. 14); Wehnert/Mosiek StV 2005, 568, 569; siehe auch Park StraFo 2002, 73, 77. 14 Dazu etwa Nack GA 2003, 879, 885 ff.; siehe auch Rohde wistra 2012, 85, 90 ff.
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Den beschriebenen Gefahren des Drittempfängerverfalls gegen juristische Personen kann jedenfalls nicht, wie gelegentlich vorgeschlagen,15 dadurch begegnet werden, § 73 Abs. 3 StGB nicht, jedenfalls nicht auf der Grundlage des nach dem Bruttoprinzip bestimmten Wertes des Erlangten, gegen Unternehmen als Drittempfänger anzuwenden. Der Wortlaut „für einen anderen“ gestattet eindeutig die Einbeziehung von juristischen Personen und damit von in solcher Rechtsform organsierten Unternehmen. Wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt, wollte der Gesetzgeber Konstellationen des straftatbestandsmäßigen Handelns von Unternehmensangehörigen zugunsten des Unternehmens erfassen.16 Systematische Erwägungen schließen die Einbeziehung von juristischen Personen und sonstigen Verbänden in den personalen Anwendungsbereich von § 73 Abs. 3 StGB ebenfalls nicht aus.17 Der Zweck des Verfalls, durch eine rechtswidrige Tat zugeflossene Vermögensvorteile dem rechtsgrundlos Begünstigten wieder abzunehmen,18 sprechen gerade für eine Einbeziehung von Unternehmen als Drittbegünstigte. Das Verfassungsrecht gebietet eine derartige Restriktion des einfachen Rechts unter keinem Aspekt. Die Berufung auf den – angeblich – strafähnlichen Charakter oder gar Strafcharakter des nach dem Bruttoprinzip beurteilten Wertes des Erlangten19 trägt nicht. Das BVerfG deutet den strafrechtlichen Strafbegriff vorrangig von dem mit der schuldhaften Tatbegehung einhergehenden sozial-ethischen Tadel gegenüber dem Täter her.20 Zwar misst das Verfassungsgericht auch Sanktionen, die in ihren Wirkungen einer Strafe gleichkommen, an dem verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz.21 Dem Verfall hat das BVerfG eine solche Wirkung jedoch gerade nicht zugesprochen, sondern diesen als präventiven Zwecken dienende Maßnahme mit kondiktionsähnlichem Charakter bewertet.22 Art. 14 GG erfordert ebenfalls keine 15
Hofmann wistra 2008, 401, 408. Siehe Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, Protokoll V, S. 1002 und S. 1015. 17 Die beachtlichen systematischen Erwägungen von Korte FS Samson, 2012, S. 65, 74 ff. betreffen lediglich die Frage der Geltung des Bruttoprinzips im Kontext von § 17 Abs. 4 OWiG und die daraus für die Anwendung von §§ 73 ff. StGB sowie § 29a OWG folgenden Konsequenzen. Sie setzen die Abschöpfung bei Unternehmen als Drittbegünstigte voraus. Soweit wegen des systematischen Verhältnisses zwischen § 17 Abs. 4, § 30 Abs. 5 OWiG einerseits und §§ 73 ff. StGB andererseits eine Beschränkung des Drittempfängerverfalls auf den Vorteil des Unternehmens, der nicht höher sein könne als das über § 30 OWiG mit der Geldbuße Abschöpfbare, gefordert wird (a.a.O., S. 80), ist die Prämisse, § 17 Abs. 4 OWiG schließe eine Bemessung der Geldbuße anhand des Maßstabs des Bruttoprinzips aus (der Sache nach a.a.O., S. 74), nicht zwingend. 18 Vgl. MK/Joecks (Fn. 10), § 73 Rn. 4 m.w.N. 19 Exemplarisch Hofmann wistra 2008, 401, 405 f. 20 BVerfGE 109, 133, 173; 128, 326, 376 f.; näher MK/Radtke, 2. Aufl. 2012, Vor §§ 38 ff. Rn. 14 und ders. GA 2011, 636, 640 ff. 21 BVerfGE 22, 125, 131; 35, 311, 320; 74, 358, 374 f.; 110, 1, 13 f. 22 BVerfGE 101, 1, 14 f., 19. 16
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Restriktion des Drittempfängerverfalls in der von Hofmann geforderten Weise; die Verfallsvorschriften sind auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG erfolgte einfachgesetzliche Ausgestaltungen des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs, durch die der Gesetzgeber die vom Verfall betroffenen Vermögenspositionen aus dem Schutzbereich ausgenommen hat.23
III. Voraussetzungen des Drittempfängerverfalls gemäß § 73 Abs. 3 StGB auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „Unter welchen Voraussetzungen der Verfall gegen den Dritten angeordnet werden kann, ergibt sich nicht eindeutig aus der Vorschrift des § 73 Abs. 3 StGB; die Norm bedarf daher der Auslegung. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Merkmale ‚für einen anderen‘ und ‚dadurch etwas erlangt‘.“24 Die in dem vorstehenden Zitat aus dem grundlegenden Urteil des 5. Strafsenats des BGH vom 19. Oktober 1999 zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber der Eindeutigkeit des Inhalts der genannten Vorschrift hat dazu geführt, den Anwendungsbereich des Drittempfängerverfalls in der höchstrichterlichen Rechtsprechung fallgruppenbezogen zu bestimmen.25 Bei diesen Fallgruppen handelt es sich um die Vertretungsfälle im engeren und weiteren Sinn,26 die Verschiebungsfälle 27 sowie die Erfüllungsfälle.28 In Vertretungs- und Verschiebungsfällen ist die Anwendbarkeit von § 73 Abs. 3 StGB eröffnet, in den Erfüllungsfällen dagegen nicht.29 Diese Auslegung der Vorschrift hat sich mittlerweile derart verselbständigt, dass über die Anwendung im konkreten Fall jeweils lediglich noch nach Maßgabe der Fallgruppen entschieden wird.30 Die fallgruppenorientierte Handhabung von § 73 Abs. 3 StGB beruht auf einer Auslegung der Vorschrift, die weder im methodischen Vorgehen noch in der Argumentationsabfolge leicht nachvollziehbar ist. Dies bringt Unklarheiten u.a. im Hinblick darauf mit sich, ob die gebildeten Fallgruppen jeweils
23 Wallschläger (Fn. 4) S. 44; MK/Joecks (Fn. 10), § 73 Rn. 32; siehe auch BVerfG NJW 2004, 2073 bzgl. der Einziehung gemäß § 74 StGB. 24 BGHSt 45, 235, 236. 25 BGHSt 45, 235, 245–248; siehe auch BGH NStZ 2014, 89, 94; BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13; Fischer (Fn. 10), § 73 Rn. 33–36; Leipziger Kommentar StGB/W. Schmidt, 12. Aufl. 2008, § 73 Rn. 59–62. 26 BGHSt 45, 235, 245 f. 27 BGHSt 45, 235, 246. 28 BGHSt 45, 235, 247 f. 29 BGHSt 45, 235, 247 f.; BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 40 ff.; diese Beschränkung ablehnend Satzger/Schluckebier/Widmaier/Burghart StGB, 2. Aufl. 2014, § 73 Rn. 26. 30 Exemplarisch BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 36 ff.
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das Resultat einer auf beide zentralen tatbestandlichen Merkmale („für einen anderen“/„dadurch etwas erlangt“) bezogenen Auslegung sind oder der Konkretisierung nur je eines von beiden dienen. Möglicherweise besteht die Funktion der Fallgruppen aber auch lediglich in der Konkretisierung eines im Wortlaut von § 73 Abs. 3 StGB nicht enthaltenen, sich aber offenbar aus dem „Normzusammenhang“31 ergebenden Anwendungskriterium, dem „Bereicherungszusammenhang“.32 Die bisherigen Entscheidungen des BGH geben keine völlig eindeutigen Antworten auf die aufgeworfenen Fragen. Dem Urteil des 5. Senats vom 19. Oktober 1999 33 lässt sich m.E. entnehmen, dass beide zur Anwendung von § 73 Abs. 3 StGB führenden Fallgruppen, die Vertretungsfälle und die Verschiebungsfälle, Konkretisierungen darstellen, die kumulativ den Drittbezug des Handelns von Tatbeteiligten und den Drittbezug des Vermögenszuwachses betreffen. 1. Vertretungsfälle Auf der Ebene des Drittbezugs des Täter- bzw. Teilnehmerhandelns erfasst die Konkretisierung des personalen Anwendungsbereichs von § 73 Abs. 3 StGB vor allem Vertretungsfälle im weiteren Sinne durch die Einbeziehung von „für“ den Drittbegünstigten handelnden Tatbeteiligten über den in § 14 StGB gezogenen Personenkreis hinaus.34 Ist der begünstigte „Andere“ eine juristische Person oder ein sonstiger Verband,35 kommen mithin grundsätzlich sämtliche „Angehörige“36 als taugliche Täter oder Teilnehmer der den Drittempfängerverfall auslösenden rechtswidrigen Tat in Betracht. Je nach Verständnis des Teilmerkmals „für“ ist selbst ein weit verstandenes Angehörigenverhältnis zum Drittempfänger allerdings keine zwingende Voraussetzung für die Anwendung von § 73 Abs. 3 StGB. Je weiter der Kreis der für den „Anderen“ handelnden Tatbeteiligten der rechtswidrigen Tat gezogen wird, desto größere Bedeutung kommt dem durch das Wort „für“ ausgedrückten Drittbezug des Handelns zu. Dieser setzt nach der Rechtsprechung
31 BGHSt 45, 235, 237; die dortige Bezugnahme auf den „Normzusammenhang“ als entscheidend für die Interpretation der Wendungen „für einen anderen“ und „dadurch“ irritiert, weil im vorherigen Satz über die systematische Auslegung gesagt wurde, diese könne „nichts wesentliches zum Verständnis des Anwendungsbereichs beitragen“, BGH a.a.O. 32 Vgl. BGHSt 45, 235, 244; BGH NStZ 2014, 89, 94; BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 36 ff. 33 BGHSt 45, 235 ff. 34 Vgl. BGHSt 45, 235, 245. 35 Auch Personengesellschaften, auch GbR bei Auftreten nach Außen, können „andere“ im Sinne von § 73 Abs. 3 StGB sein; Kiethe/Hohmann NStZ 2003, 505, 508; Rohde wistra 2012, 85; W. Schmidt (Fn. 3), Rn. 265 f.; Fischer (Fn. 10), § 73 Rn. 29; MK/Joecks (Fn. 10), § 73 Rn. 64. 36 Begriff nach BGHSt 45, 235, 245.
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des BGH zweierlei voraus: das Handeln des Tatbeteiligten muss bei der rechtswidrigen Tat oder wenigstens in deren Zusammenhang erfolgt sein und dieser muss zumindest faktisch im Interesse des Drittempfängers gehandelt haben.37 Dass in dem vorgenannten Sinn ein Handeln im faktischen Interesse vorliegt, scheint aus dem Zufluss eines Vorteils bei dem Dritten abgeleitet werden zu dürfen.38 Das geht allerdings mit einer gewissen Verschleifung der nach dem Wortlaut eigenständigen Merkmale „für einen anderen“ und „dadurch etwas erlangt“ einher. Der Drittbezug des Handelns von Täter oder Teilnehmer erfordert keine „echte“, gar nach außen offen gelegte Stellvertretung. Das ergibt sich eindeutig aus der Entstehungsgeschichte von § 73 Abs. 3 StGB sowie aus dem etwa von § 14 StGB und § 75 StGB abweichenden Regelungszusammenhang des Drittempfängerverfalls.39 Auch auf die Kenntnis des (vertretenen) Drittempfängers von der rechtswidrigen Tat und dem dadurch Erlangten kommt es jedenfalls auf der Ebene der Anordnungsvoraussetzungen des § 73 Abs. 3 StGB nicht an; fehlende Kenntnis (Gutgläubigkeit) kann aber Anlass für die Anwendung von § 73c Abs. 1 S. 1 StGB sein.40 Auf der Ebene des Drittbezugs des Vermögenszuwachses lässt die Rechtsprechung des BGH insgesamt, also nicht allein in den Vertretungsfällen, einen „Bereicherungszusammenhang“ zwischen der rechtswidrigen Tat und dem Eintritt des Vorteils bei dem Dritten genügen; Unmittelbarkeit in dem Sinne, dass Tat und Vermögenszuwachs durch ein- und dieselbe Handlung verwirklicht werden, ist nicht gefordert.41 In den Vertretungsfällen ergebe sich der erforderliche Bereicherungszusammenhang regelmäßig aus dem „(betrieblichen) Zurechnungsverhältnis“.42 Auf Unmittelbarkeit könne es schon deshalb nicht ankommen, weil bei den im Zusammenhang mit dem Drittempfängerverfall bezüglich Unternehmen vorkommenden Deliktsformen häufig ein komplexer Geldkreislauf in Gang gesetzt werde, so dass die Vermögensmehrung bei dem Unternehmen häufig erst nach zahlreichen – meist
37 Exemplarisch BGHSt 45, 235, 244 und 246; BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 36. 38 BGHSt 45, 235, 245 f. („Fließt in solchen Fällen dem Dritten der Vorteil zu, so hat der Täter oder Teilnehmer für den Dritten gehandelt und dieser dadurch den Vorteil erlangt. Er hat faktisch auch in dessen Interesse gehandelt.“). 39 BGHSt 45, 235, 237 und 245; teilweise anders etwa Schönke/Schröder/Eser StGB, 29. Aufl. 2014, § 73 Rn. 37 und 37a; Hofmann wistra 2008, 401, 407 m.w.N.; ausf. zur hist. Entwicklung Lieckfeldt Die Verfallsanordnung gegen den Drittbegünstigten, 2008, S. 149 ff. und tabell. Übersicht S. 538 ff. 40 BGHSt 47, 369, 376; BGH wistra 2004, 465, 466; dazu Hohn wistra 203, 312 und Schäfer JR 2004, 518. 41 BGHSt 45, 235, 244 und 246. 42 BGHSt 45, 235, 246.
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der Verschleierung dienenden – zwischengeschalteten Handlungen eintrete.43 Kenntnis des begünstigten Dritten44 ist auch auf der Ebene des Bereicherungszusammenhangs keine Voraussetzung für die Anordnung des Drittempfängerverfalls.45 2. Verschiebungsfälle Als Verschiebungsfälle bezeichnet der BGH solche Konstellationen, in denen der Täter oder Teilnehmer der rechtswidrigen Tat dem Dritten („anderen“) die Tatvorteile unentgeltlich oder aufgrund eines bemakelten Rechtsgeschäfts zukommen lässt, um sie dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen, oder um die Tat zu verschleiern.46 Ein Verschiebungsfall kann auch dann gegeben sein, wenn das durch die rechtswidrige Tat Erlangte „vor der Weiterleitung an den Dritten mit legalem Vermögen vermischt worden ist oder wenn es lediglich aus ersparten Aufwendungen besteht“.47 Den Bereicherungszusammenhang leitet der BGH in den Verschiebungsfällen aus der Intention des Tatbeteiligten ab, das durch die Tat unmittelbar begünstigte Vermögen des Tatbeteiligten dem Zugriff von Gläubigern zu entziehen oder zu verschleiern.48 Worin in den Verschiebungsfällen das Handeln „für einen anderen“ seinen Ausdruck findet, lässt sich nicht ohne weiteres erkennen. Der BGH greift letztlich auf das Merkmal „Interesse“ zurück, wenn darauf verwiesen wird, der Tatbeteiligte der rechtswidrigen Tat nehme in den entsprechenden Konstellationen die Vermögensverschiebung zwar regelmäßig im eigenen Interesse vor, handele aber faktisch auch im Interesse des Dritten.49 3. Erfüllungsfälle In Abgrenzung zu den Verschiebungsfällen bezeichnet der BGH solche Fallgestaltungen als Erfüllungsfälle, bei denen der Tatbeteiligte der rechtswidrigen Tat einem gutgläubigen Dritten Tatvorteile zuwendet, dies jedoch zur Erfüllung einer „nicht bemakelten“, d.h. in Entstehung und Inhalt in kei-
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BGHSt 45, 235, 246. Bzw. bei juristischen Personen und sonstigen Verbänden der für sie vertretungsberechtigten Organe. 45 BGHSt 45, 235, 246. 46 BGHSt 45, 235, 246; BGH wistra 2010, 406; NStZ 2011, 83, 85 f. (Rn. 47) dazu u.a. Baur NStZ 2011, 396 ff.; BGH NStZ 2014, 89, 94 und BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 38 und 39. 47 BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 38; siehe auch HansOLG Hamburg wistra 2005, 157, 158 f.; OLG Köln NStZ-RR 2008, 107 f.; dazu näher Rohde wistra 2012, 85, 87 f. 48 BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 39. 49 BGHSt 45, 235, 246 BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 39. 44
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nem Zusammenhang mit der Tat stehenden Forderung erfolgt.50 Dass Erfüllungsfälle nicht in den Anwendungsbereich von § 73 Abs. 3 StGB fallen, wird im Kern aus den hinter § 822 BGB stehenden Wertungen geschlossen.51 Im Folgenden bleiben die Erfüllungsfälle hier wegen des auf das Merkmal „für einen anderen“ gerichteten Fokus außer Betracht. Auf der Grundlage der Fallgruppenbildung des BGH wird sich hier kaum ein Handeln des Tatbeteiligten „für“ den begünstigten Dritten annehmen lassen, gerade weil der Tatbeteiligte mit der Verschiebung von aus der Tat herrührendem Vermögen eine eigene, nicht mit der Tat im Zusammenhang stehende Verbindlichkeit gegenüber dem Dritten erfüllt.52
IV. Überlegungen zu den Voraussetzungen des Drittempfängerverfalls gemäß § 73 Abs. 3 StGB Die fallgruppenbezogene Rechtsprechung des BGH zu den Voraussetzungen des Drittempfängerverfalls führt zu einem für die Anwendung in der Strafrechtspraxis begrüßenswerten Maß an Handhabbarkeit einer nach den gesetzlichen Merkmalen inhaltlich nicht leicht zu interpretierenden Vorschrift. Allerdings lassen die gebildeten Fallgruppen, wie sich bei dem Referat der höchstrichterlichen Rechtsprechung gezeigt hat, nicht immer erkennen, wie und in welchem Umfang sie aus den Merkmalen „für einen anderen“ und „dadurch etwas erlangt“ abgeleitet bzw. ableitbar sind. Dass die Zweifel bei den Verschiebungsfällen stärker ausgeprägt sind als bei den Vertretungsfällen, ergibt sich aus den Kriterien der Fallgruppen selbst. Die Kritik weiter Teile der Strafrechtswissenschaft an der Rechtsprechung richtet sich dementsprechend kaum gegen die Vertretungsfälle,53 schon gar nicht gegen die im engeren Sinne, sondern gegen die Verschiebungsfälle.54 Unabhängig von der
50 BGHSt 45, 235, 247; näher zu Erfüllungsfällen BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 40 ff. 51 Näher BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13, Rn. 41; krit. gegenüber der Herausnahme der Erfüllungsfälle SSW/Burghart (Fn. 29), § 73 Rn. 26; siehe auch Lieckfeldt (Fn. 39), S. 407 ff. mit Zweifeln an der Parallelität der Wertungen in § 822 BGB einerseits und § 73 Abs. 3 StGB andererseits. 52 Angesichts dessen sprechen die im Übrigen zutreffenden Erwägungen von SSW/ Burghart (Fn. 29), § 73 Rn. 26 nicht, zumindest nicht zwingend für eine Einbeziehung der Erfüllungsfälle in den Anwendungsbereich von § 73 Abs. 3 StGB. 53 Gegen die Anwendung von § 73 Abs. 3 StGB auf Verschiebungsfälle im weiteren Sinne bei Unternehmen als Drittbegünstigte aber Hofmann wistra 2008, 401, 407. 54 Etwa Hofmann wistra 2008, 401, 403 ff.; Wehnert/Mosiek StV 2005, 568 ff.; Michalke in: Nelles (Hrsg.), money, money, money – Geldwäsche, Gewinnabschöpfung und Rückgewinnungshilfe, 2004, S. 97 ff.; Rönnau Vermögensabschöpfung im Strafrecht, 2003, Rn. 284 ff.; Fischer (Fn. 10), § 73 Rn. 37 f.; Sch/Sch/Eser (Fn. 39), § 73 Rn. 37 und 37a.
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Zielrichtung der in der Literatur geübten Kritik gehen die nachfolgenden Überlegungen von den in § 73 Abs. 3 StGB normierten Voraussetzungen des Drittempfängerverfalls aus und versuchen die Tragfähigkeit der fallgruppenorientierten Auslegung durch die Rechtsprechung zu hinterfragen. 1. Handeln „für einen anderen“ in Vertretungsfällen Der 5. Strafsenat hat in seinem Urteil vom 19. Oktober 1999 zutreffend ausgeführt, das Merkmal „für einen anderen“ sei aus sich heraus nicht näher interpretierbar.55 Was mit der Wendung erfasst wird, lässt sich aber aus verschiedenen, überwiegend systematischen Erwägungen herleiten. Aus dem Vergleich mit dem in der amtlichen Überschrift mit „Handeln für einen anderen“ betitelten § 14 StGB und mit § 75 StGB lassen sich wenigstens in zwei Richtungen Erkenntnisse gewinnen: zum einen für den personalen Anwendungsbereich der Vorschrift, d.h. hinsichtlich derjenigen Tatbeteiligten, deren Beteiligung an der rechtswidrigen Tat den Drittempfängerverfall auslösen kann (a); zum anderen hinsichtlich der Anforderungen an die Art des „Vertretungsbezugs“, den das Gesetz in § 73 Abs. 3 StGB mit „für“ zum Ausdruck bringt (b). a) In personaler Hinsicht enthält § 73 Abs. 3 StGB anders als § 14 Abs. 1 und 2, § 75 StGB keinen numerus clausus von Personen, die für Andere gehandelt haben. Die Vorschrift knüpft die Beschreibung des Kreises der „Vertreter“ auch nicht an außerstrafrechtliche Kategorien (etwa: „vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person“), sondern an die strafrechtlichen Kategorien des Täters und des Teilnehmers. Die Zusammenschau beider Aspekte gestattet folgenden Schluss: „Für“ den Drittempfänger kann grundsätzlich jeder Tatbeteiligte der rechtswidrigen Tat gehandelt haben, aus der das Erlangte stammt. Bei juristischen Personen oder sonstigen Verbänden als Drittempfänger kommt es auf dieser Ebene nicht einmal auf eine wie auch immer geartete Zugehörigkeit zu diesen an. Bei Unternehmen – gleich in welcher Rechtsform organisiert – als Drittempfänger gibt es für eine Beschränkung des für die Anwendung von § 73 Abs. 3 StGB relevanten Kreises von Tatbeteiligten auf Vertreter, Organe, Beauftragte i.S.v. § 14 Abs. 1 und 2 StGB keinen tragfähigen Grund.56 b) § 14 StGB wie auch § 75 StGB verlangen einen Vertretungsbezug des Handelns der Vertreter, Organe etc. des Vertretenen, den das Gesetz mit Handelns „als“ Organ usw. ausdrückt. Bedeutung und Inhalt des Vertre55
BGHSt 45, 235, 237. A.A., wenn und soweit die Bestimmung des Werts des Erlangtem nach dem Bruttoprinzip erfolgt, Hofmann wistra 2008, 401, 407. 56
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tungsbezugs bei § 14 StGB werden kontrovers diskutiert.57 Seit der Aufgabe der sog. Interessentheorie in der Rechtsprechung des BGH als Kriterium zur Ausfüllung des Vertretungsbezugs 58 dürfte aber im Kern Konsens bestehen, für den Vertretungsbezug darauf abzustellen, ob sich das Handeln des Organs oder Vertreters normativ als eigenes Handeln des Vertretenen darstellt.59 Unter welchen Voraussetzungen dies angenommen werden kann, wird wiederum unterschiedlich beurteilt.60 § 73 Abs. 3 StGB erfordert eindeutig keinen entsprechenden Vertretungsbezug. Der Wortlaut enthält das diese Art des Vertretungsbezugs ausdrückende „als“ nicht. Die Entstehungsgeschichte zeigt, dass der Gesetzgeber die Wendung „für einen anderen“ nicht auf Stellvertretung oder auch nur nach außen erkennbares Verhalten für einen anderen beschränkt wissen wollte.61 In dem von § 14 StGB und § 75 StGB abweichenden Wortlaut kommt dieser „gesetzgeberische Wille“62 auch hinreichend deutlich zum Ausdruck. Das für § 14 StGB maßgebliche Verständnis des Vertretungsbezugs ist dennoch für die Auslegung von § 73 Abs. 3 StGB nicht ohne Bedeutung. Hat der Tatbeteiligte bei der Begehung der den Vermögensvorteil beim Dritten begründenden rechtswidrigen Tat sogar im Sinne von § 14 StGB „als“ dessen Vertreter etc. gehandelt, liegt zugleich stets auch ein Handeln „für einen anderen“ i.S.v. § 73 Abs. 3 StGB vor. Das gilt nicht allein für Konstellationen rechtsgeschäftlichen Handelns des Vertreters, sondern auch für rein faktisches Verhalten.63 In den Konstellationen des Drittempfängerverfalls ist ein Handeln für den begünstigten Dritten nach den für § 14 StGB relevanten Kriterien stets gegeben, wenn der Tatbeteiligte im Geschäftskreis des Dritten tätig geworden ist, etwa bei Erfüllung von diesen treffenden Pflichten. Der innerhalb des Sonderausschuss für die Strafrechtsreform diskutierte Beispielsfall des eine Steuerhinterziehung zugunsten des gutgläubigen Betriebsinhabers begehenden Buchhalters64 ist ein Evidenzfall des Handelns „für einen anderen“ bei Tatbegehung. Denn der Buchhalter begeht die Tat bei der
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LK/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 14 Rn. 50 ff.; MK/Radtke, 2. Aufl. 2011, § 14 Rn. 58 ff.; siehe auch BGHSt 57, 229, 233 ff. (Rn. 11 ff.). 58 BGHSt 57, 229, 234 ff. (Rn. 15 ff.). 59 Vgl. Brand Untreue und Bankrott in der KG und der GmbH & Co. KG, 2010, S. 236 f. und 252; MK/Radtke (Fn. 57), § 14 Rn. 65 m.w.N.; ders. GmbHR 2012, 932 ff. 60 BGHSt 57, 229, 233 ff. (Rn. 11 ff.); LK/Schünemann (Fn. 57), § 14 Rn. 50 ff.; MK/Radtke (Fn. 57), § 14 Rn. 58 ff. 61 Siehe lediglich die Darstellung in BGHSt 45, 235, 239 f. 62 Gedeutet auf der Grundlage einer subjektiv-historischen Auslegungszielbestimmung; dazu Alternativ-Kommentar StPO/Loos, 1988, Einl. III Rn. 4 ff. 63 Zu den unterschiedlichen Kriterien des Vertretungsbezugs bei rechtsgeschäftlichem Verhalten einerseits und faktischem Handeln andererseits näher MK/Radtke (Fn. 57), § 14 Rn. 66–68. 64 Sonderausschuss des Bundestages für die Strafrechtsreform, Protokoll V, S. 1015.
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Erfüllung von den Betriebsinhaber treffenden Pflichten. Ob die Steuerhinterziehung im Interesse des begünstigten Betriebes oder des Betriebsinhabers vorgenommen wurde, ist im Kontext von § 73 Abs. 3 StGB ebenso wenig relevant wie in dem von § 14 StGB.65 Eine in dem vorstehend skizzierten Sinne an § 14 StGB orientierte Auslegung des Handelns „für einen anderen“ in § 73 Abs. 3 StGB bestätigt weitestgehend die Rechtsprechung des BGH in den Vertretungsfällen im engeren wie im weiteren Sinne. Das gilt sowohl im Hinblick auf den Kreis der als „Vertreter“ des Dritten in Frage kommenden Beteiligten der rechtswidrigen Tat als auch hinsichtlich der Anforderungen an den Drittbezug des Handelns. 2. Handeln „für einen anderen“ in Verschiebungsfällen Dagegen bereitet es größere Schwierigkeiten, für die Verschiebungsfälle das Vorliegen des Merkmals „für einen anderen“ zu begründen. Nach der vom 5. Strafsenat ausführlich dargestellten Entstehungsgeschichte besteht kein Zweifel, dass der Gesetzgeber mit § 73 Abs. 3 StGB auch den Verschiebungsfällen zugrunde liegenden Konstellationen erfassen wollte.66 Allerdings ist es kaum gelungen, diese Vorstellung im Gesetz zum Ausdruck zu bringen. Zwischen den Merkmalen „für einen anderen“ und „dadurch etwas erlangt“ besteht unmissverständlich eine Verknüpfung; aufgrund des Handelns des Tatbeteiligten muss der Drittempfänger etwas erlangt haben. Das schließt aus, beide Merkmale weitestgehend zu verschleifen und allein aus dem durch den Tatbeteiligten bewirkten Vermögenszuwachs bei dem Dritten das Handeln „für“ diesen abzuleiten. Dass in den Verschiebungsfällen ein „Bereicherungszusammenhang“ besteht,67 mag durchaus sein. Nur fällt es wiederum nicht leicht, den „Bereicherungszusammenhang“ und die für ihn in den Verschiebungsfällen maßgeblichen Kriterien (unentgeltlich oder aufgrund bemakelten Rechtsgeschäfts zugewendet, Gläubigerbenachteiligung- oder Verschleierungsabsicht) den gesetzlichen Merkmalen des § 73 Abs. 3 StGB zuzuweisen. Mit dem Abstellen auf die unentgeltliche oder rechtlich bemakelte Zuwendung an den Drittempfänger knüpft die Rechtsprechung zwar grundsätzlich zutreffend an Wertungen des Bereicherungsrechts an. Diese finden jedoch hinsichtlich des Drittempfängerverfalls kaum in dem Wortlaut § 73 Abs. 3 StGB Ausdruck. Das Handeln des Tatbeteiligten „für“ einen anderen lässt sich im Gesamtzusammenhang der Vorschrift lediglich als Handeln bei Begehung 65 Bzgl. § 14 StGB dazu BGHSt 57, 229, 234 ff. (Rn. 15 ff.); MK/Radtke (Fn. 57), § 14 Rn. 59. 66 Vgl. BGHSt, 45, 235, 246. 67 BGH, Urt. v. 3.12.2013, 1 StR 53/13.
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der rechtswidrigen Tat verstehen. Nur in Bezug auf diese kann es einen Täter oder Teilnehmer geben und nur in Bezug auf die Tat kann beurteilt werden, ob aus ihr etwas erlangt worden ist. § 73 Abs. 3 StGB verweist eben vollumfänglich auf § 73 Abs. 1 und Abs. 2 StGB. Erfolgt die Vermögensverschiebung von dem Tatbeteiligten zu dem Dritten erst nach der Beendigung der rechtswidrigen Tat, was in Verschiebungsfällen wegen des dort regelmäßig gegebenen „Durchgangserwerb“ bei dem Tatbeteiligten typisch ist, kann nicht ohne Beeinträchtigung der Wortlautgrenze angenommen werden, der Tatbeteiligte habe „für einen anderen“ gehandelt. Soweit sich die Vermögensverschiebung zu dem Dritten nicht für diesen selbst als strafbares Verhalten (etwa gemäß § 261 StGB) erweist68 und der Tatbeteiligte nicht in dem zu IV. 1. beschriebenen Sinne bereits bei der Begehung der rechtswidrigen Tat „für“ den späteren Drittempfänger gehandelt hat, bietet das geltende Recht keine tragfähige Grundlage für die Anwendung von § 73 Abs. 3 StGB. In den bislang von den Verschiebungsfällen erfassten Konstellationen besteht nach dem Sinn und Zweck des Verfalls zwar ein Bedürfnis für die Abschöpfung auf die Tat rückführbaren Vermögens beim Drittempfänger.69 Mit bereicherungsrechtlichen Wertungen stünde der Zugriff auf dessen Vermögen bei diesen Fallgestaltungen auch in Einklang. Allerdings bedarf es einer Regelung im Strafrecht, die dies in hinreichend bestimmter Weise zum Ausdruck bringt. Das geltende Recht enthält sie m.E. nicht.
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Was die Verfallsanordnung nach § 73 Abs. 1 StGB gegen ihn ermöglicht. Zutreffend Rohde wistra 2012, 85, 86 f.
Die neuere Entwicklung des Topos „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ Imme Roxin I. Einleitung In einem grundlegenden Aufsatz hat Hassemer 1982 die These aufgestellt, die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ trete als gegenreformatorischer Argumentationstopos auf zur Reduktion von Beschuldigteninteressen.1 18 Jahre später konstatiert Rieß, die Hochkonjunktur dieser Argumentationsfigur scheine vorbei zu sein. Sie spiele im letzten Jahrzehnt nur noch eine untergeordnete Rolle.2 Das hat sich in neuerer Zeit geändert. In einem Aufsatz von Landau heißt es, angesichts der Gefährdungen der inneren Sicherheit durch terroristische Gefahren und angesichts der Wirtschafts- und organisierten Kriminalität sei die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege von aktueller Bedeutung.3 Die Strafjustiz stehe heute in einer zunehmenden Zahl von Verfahren vor einem Umfang des Entscheidungsstoffes und einem Verhalten der Verteidigung, deren Ziel die Verfahrensverzögerung geworden sei, die eine zügige Durchführung der Hauptverhandlung in Frage stellten. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob der Begriff in der Rechtsprechung neuerdings eine Wiedergeburt 4 erfahren und tatsächlich zur Einschränkung von Beschuldigtenrechten geführt hat. Bejahendenfalls soll erörtert werden, ob der Topos eine derartige Beschränkung zu rechtfertigen vermag. Einige ausgewählte neuere Entscheidungen sollen die Verwendung des Topos beispielhaft darstellen.
II. Rechtsprechungsbeispiele Die neueren Entscheidungen des BGH und des BVerfG, bei denen mit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege argumentiert wird, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. In der einen geht es um die raschere Erledigung der 1 2 3 4
Hassemer StV 1982, 275. Rieß StraFo 2000, 364, 365. Landau NStZ 2007, 121 f. Dallmeyer HRRS 2009, 429.
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Verfahren, in der anderen um Beweisverwertungsverbote. In die erste Gruppe gehören z.B. die Fristsetzung bei Beweisanträgen,5 die Rügeverkümmerung,6 die Änderung des Geschäftsverteilungsplanes ausschließlich bei bereits anhängigen Verfahren7 und der Deal.8 Bei der Fristsetzung und dem Deal 9 versteht es sich von selbst. In der Entscheidung zur Rügeverkümmerung sagt das BVerfG ausdrücklich, es werde eine neue Hauptverhandlung und Beweisaufnahme vermieden (Rn. 75). Und in dem Beschluss zum Geschäftsverteilungsplan wird auf das Beschleunigungsgebot, insbesondere in Haftsachen, hingewiesen (Rn. 27). In die zweite Gruppe gehören z.B. folgende Fälle: Der Entscheidung des BVerfG vom 2.7.2009 lag eine Verurteilung zu 6 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Besitzes von Haschisch zugrunde.10 Das Betäubungsmittel war bei einer rechtswidrigen Wohnungsdurchsuchung gefunden worden. Es war das maßgebliche Beweismittel bei der Verurteilung. In einem Verfahren wegen räuberischer Erpressung und erpresserischem Menschenraub nahm das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.11 Es ging um die Frage, ob die Tatbeteiligung an einem Sparkassenüberfall mit Hilfe von mehreren Gesprächen nachgewiesen werden könnte, die der Bruder des Beschwerdeführers in seinem Pkw mit dem Mittäter geführt hatte, und die Zufallsergebnisse einer in anderer Sache angeordneten akkustischen Überwachung waren. Im sogn. Al-Qaida-Fall wurde die Verurteilung der Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Betruges von Lebensversicherungen auf Erkenntnisse gestützt, die durch Wohnraumüberwachungsmaßnahmen in der von den Angeklagten bewohnten Wohnung gewonnen worden waren.12 In den Entscheidungen wird ein Beweisverwertungsverbot verneint. Weder die herrschende Abwägungslehre noch der Fairness-Grundsatz geböten dessen Annahme. Beim fair-trial-Grundsatz sei eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht erforderlich, in deren Rahmen auch die Erfordernisse
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BGH StV 2009, 64; BVerfG StV 2010, 113 ff. BGHSt 51, 298 ff.; BVerfG NJW 2009, 1469. 7 BVerfG NJW 2009, 1734. 8 BGHSt 50, 40; BVerfG NJW 2013, 1058. 9 BGHSt 50, 40, 54; s. zum Deal Tepperwien FS Widmaier 2008, S. 583, 595, die schreibt, die Zulässigkeit der Urteilsabsprachen werde nahezu ausschließlich auf Prozessökonomie und Beschleunigungsgrundsatz gestützt. 10 BVerfG HRRS 2009, 648. 11 BVerfG NJW 2010, 287. 12 BGHSt 54, 69 ff.; BVerfG NJW 2012, 907. 6
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einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen seien.13 Die rechtsstaatlichen Mindeststandards, die gewahrt sein müssten,14 seien nicht verletzt.15 In allen Entscheidungen dient die Argumentationsfigur von der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zur Einschränkung von Beschuldigtenrechten. Das wird in den Entscheidungen teilweise sogar ausdrücklich festgehalten: „Verfahrensgestaltungen, die den Erfordernissen einer wirksamen Strafrechtspflege dienen, verletzen nicht schon dann den grundrechtlichen Anspruch auf ein faires Verfahren, wenn verfahrensrechtliche Positionen des Angeklagten oder Beschuldigten dabei eine Zurücksetzung zugunsten einer wirksameren Strafrechtspflege erfahren.“16 Es stellt sich also nunmehr die Frage, ob die Argumentationsfigur die Beschneidung der Beschuldigtenrechte zu rechtfertigen vermag.
III. Rechtfertigung der Beschränkung von Beschuldigtenrechten zur Erzielung oder Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege 1. Inhalt des Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Der Begriff „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ wird von der Rechtsprechung ersichtlich als selbsterklärend begriffen. Denn eine nähere Bestimmung seines Inhaltes findet sich nicht.17 In der Literatur heißt es gelegentlich, die Bezeichnung sei inhaltsleer.18 Es handele sich um einen beliebig ausfüllbaren Begriff.19 Der Topos bringe eine „bare Selbstverständlichkeit“ zum Ausdruck.20 Andererseits wird die Wichtigkeit des Topos betont. Der Begriff sei wesentlich allgemeiner und abstrakter gehalten als effektive Straf-
13 BVerfG HRRS 2009, 648, III.2.; BVerfG NJW 2010, 287 (Rn. 7); NJW 2012, 907, 909 (Rn. 112, 113); NJW 2013, 1058, 1060 (Rn. 59); vgl. ebenso BVerfG StV 2010, 113, 114; BVerfG NJW 2009, 1469, 1474 (Rn. 72). 14 BVerfG HRRS 2009, 648 III.2.; BVerfG NJW 2008, 3053, 3054 (Rn. 12). 15 BVerfG NJW 2012, 907, 911 (Rn. 125). 16 BVerfG NJW 2013, 1058, 1060 (Rn. 59); BVerfG StV 2010, 113, 114; BVerfG NJW 2009, 1469, 1474 (Rn. 72). 17 Jahn (NStZ 2000, 385) hat schon in einer Anmerkung zu BGH NStZ 2000, 383 eine Konkretisierung der „Großformel von der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ gefordert. 18 Dallmayr HRRS 2009, 429, 433. 19 Vgl. die Nachweise bei Rieß StraFo 2000, 364, 365 Fn. 12. 20 Hassemer StV 1982, 275.
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verfolgung oder effiziente Strafrechtspflege.21 Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege sei als Vorbedingung für Freiheit und Sicherheit nicht nur Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, sondern diesem vorgelagert, unabdingbare Voraussetzung für Existenz und Bestand des demokratischen Rechtsstaates selbst.22 Es ist sicher zutreffend, dass eine funktionierende Strafrechtspflege eine Voraussetzung für einen demokratischen Rechtsstaat ist 23 und daher einen hohen Stellenwert hat. Dies drückt sich auch darin aus, dass der Topos nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung aus dem Rechtsstaatsprinzips abgeleitet wird.24 Allerdings ist eine funktionstüchtige Strafrechtspflege nicht die einzige Voraussetzung für ein rechtsstaatliches Strafverfahren. Aus dem Rechtsstaatsprinzip werden auf dem Gebiet des Strafund Strafprozessrechtes eine Reihe von weiteren Grundprinzipien abgeleitet, wie z.B. faires Verfahren,25 Beschleunigungs-26 und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,27 Justizförmigkeit des Strafverfahrens.28 Im Zusammenhang mit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist insbesondere die Justizförmigkeit des Strafverfahrens hervorzuheben. Sie begründet eine strenge Bindung der Strafverfolgungsbehörden an die Vorschriften der Strafprozessordnung. Kühne spricht von einer limitierenden Funktion dieses Prinzips.29 Weitergehend wird in der Literatur dem Prinzip der Justizförmigkeit nicht nur eine Grenz-, sondern auch eine Schutzfunktion zugunsten der Freiheitsrechte des Beschuldigten zugeschrieben.30 Will man eruieren, wie eine Strafrechtspflege beschaffen sein muss, um unter Berücksichtigung dieser rechtsstaatlichen Grundprinzipien die Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, muss man sich an den Zielen des Strafverfahrens orientieren.31
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Landau NStZ 2007, 121. Landau NStZ 2011, 537, 544. 23 Roxin/Schünemann StPO, 27. Aufl. 2012, § 1 Rn. 7. 24 Rieß StraFo 2000, 364, 367; Laue GA 2004, 625, 653 spricht von einer zentralen Aufgabe des Rechtsstaatsgedankens. 25 Löwe/Rosenberg/Kühne StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. H Rn. 5. 26 Vgl. LR/Esser StPO, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 309; I. Roxin Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße in der Strafrechtspflege, 4. Aufl. 2004, S. 152 ff. 27 LR/Kühne StPO (Fn. 25), Einl. H Rn. 5. 28 Hassemer StV 1982, 275, 278. 29 LR/Kühne StPO (Fn. 25), Einl. H Rn. 20. 30 Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 1 Rn. 2; Hassemer StraFo 1982, 275, 278. 31 Vgl. Rieß StraFo 2000, 364, 368. 22
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2. Ziel des Strafverfahrens Ziel des Strafverfahrens ist die materiell richtige, prozessordnungsgemäß zustande kommende, Rechtsfrieden schaffende Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten.32 Die Gesichtspunkte Wahrheitsermittlung, Rechtsfriedenschaffung, prozessordnungsgemäßer Tat- und Schuldnachweis werden auch in den oben dargelegten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als Aufgabe des Strafprozesses bezeichnet. Wenn Rieß meint, es bestehe heute eine breite Übereinstimmung, dass das Ziel des Strafverfahrens in der Sicherung und Wiederherstellung des Rechtsfriedens zu sehen sei,33 so entspricht das zwar der im Deal-Verfahren geäußerten Auffassung des Generalbundesanwalts,34 nicht aber der Auffassung des BVerfG. In dem zitierten Urteil heißt es: „Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts … Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden.“35 Was muss eine funktionstüchtige Strafrechtspflege im Lichte der Verfahrensziele also leisten? Sie muss unter Wahrung der Beschuldigtenrechte und möglichst vollständiger Wahrheitsermittlung in der dafür notwendigen Zeit eine gerechte Entscheidung erreichen, die Rechtsfrieden schafft. 3. Auswertung der Rechtsprechung mit Blick auf die Ziele des Strafverfahrens Wie oben schon dargelegt, dient die Argumentationsfigur von der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zum einen zur Begründung für einen rascheren Abschluss des Strafverfahrens. Zum anderen wird die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege herangezogen zur Ablehnung eines Beweisverwertungsverbotes.
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Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 1 Rn. 3. Rieß StraFo 2000, 365, 368; so wohl auch Landau NStZ 2011, 537, 544. BVerfG Urteil v. 19.03.2013 – 2BvR 2628/10; 2 BvR 2883/10; 2 BvR 2155/11 Rn. 40. BVerfG NJW 2013, 1058, 1060 (Rn. 59).
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4. Abkürzung des Verfahrens und der Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Auf den ersten Blick scheint eine funktionstüchtige Strafrechtspflege tatsächlich einen raschen Verfahrensabschluss zu erfordern. Der staatliche Strafanspruch, so das BVerfG, müsse innerhalb so kurzer Zeit durchgesetzt werden, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen könne.36 Dies wird als die öffentliche Komponente des Beschleunigungsgrundsatzes bezeichnet.37 So wird denn auch in allen oben dargestellten Entscheidungen festgehalten, dass eine enge Verbindung bestehe zwischen dem Topos der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und dem Beschleunigungsgrundsatz. Wenn man allerdings meinte, mit dem raschen Abschluss eines Verfahrens sei auch das Ziel des Strafverfahrens – Sicherung und Wiederherstellung des Rechtsfriedens – erreicht, so ist das ein Irrtum. Rechtsfrieden wird nur erreicht, wenn der Schuldspruch trotz Einräumung zahlreicher Abwehr- und Verteidigungsrechte für alle nachvollziehbar ist.38 Auch das weitere zentrale Anliegen des Strafprozesses, die bestmögliche Ermittlung des wahren Sachverhalts,39 kann mit einem zügig durchgeführten Verfahren durchaus verfehlt werden. Zwar ist es zutreffend, wie auch das BVerfG festhält, dass die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann.40 In umfangreichen Verfahren braucht die Wahrheitsermittlung aber ihre Zeit.41 „Unter der Zielsetzung der Erforschung der materiellen Wahrheit ist ein größerer Zeitverlauf weitaus förderlicher als die Zeitersparnis.“42 Obwohl das OLG München im NSU-Prozess im Juli 2013 eine Terminierung bis Ende 2014 angekündigt hat, mit drei Verhandlungstagen in der Woche, käme niemand auf die Idee, dem OLG anzuraten, das Verfahren unter Hintansetzung von Angeklagten- und Opferrechten rascher abzuschließen, wenn die Zeit zur Wahrheitsermittlung erforderlich ist. So wird denn auch in der Literatur betont, dass es nicht um die Steigerung der Verfahrenseffizienz gehe, sondern um ein zügiges, rechtsstaatlich korrek36 BVerfG NJW 2009, 1469, 1474 (Rn. 73); NJW 2012, 907, 909 f. (Rn. 114); vgl. Landau NStZ 2011, 537, 545. 37 Systematischer Kommentar StPO/Rogall, 4. Aufl. 2010, vor § 133 Rn. 119. 38 Laue GA 2005, 625, 659, 661; vgl. auch LR/Kühne StPO (Fn. 25), Einl. B Rn. 48; Rieß StraFo 2000, 364, 369; Tepperwien FS Widmaier, 2008, S. 583, 596. 39 BVerfG NJW 2012, 907, 909 (Rn. 113); Schünemann in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, 2009, S. 827, 830. 40 BVerfG BeckRS 2009, 33023; BVerfG NJW 2012, 907 ff. (Rn. 1, 114); SK-StPO/ Rogall, 4. Aufl. 2010, vor § 133 Rn. 119; Karlsruher Kommentar StPO/Fischer, 7. Aufl. 2013, Einl. Rn. 36; Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 16 Rn. 3 ff. 41 Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 1 Rn. 6; Tepperwien NStZ 2009, 1, 7. 42 Laue GA 2005, 625, 659, s. auch Fischer FS Kühne, 2013, S. 203, 210 f.
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tes Verfahren.43 Wenn die Ziele des Strafverfahrens aber, wie dargelegt, nicht erreicht werden, bleibt als Rechtfertigung für die Beschränkung der Beschuldigtenrechte nur die Effizienz des Verfahrens übrig. Verfahrenseffizienz allein ergibt aber keine funktionstüchtige Strafrechtspflege im rechtsstaatlichen Sinne. Die Heranziehung des Topos ist also verfehlt. Allein zutreffend ist in den Verfahren, wo es um Zeiteinsparung geht, die Berufung auf den Beschleunigungsgrundsatz. Dieser Grundsatz wird auch in allen geschilderten Entscheidungen herangezogen. Auch er vermag allerdings die Beschränkung der Beschuldigtenrechte nicht zu rechtfertigen.44 Die Voraussetzungen des Beschleunigungsgrundsatzes und auch die aus seiner Verletzung folgenden Konsequenzen sind seit Jahrzehnten vom EGMR und auch von der deutschen Rechtsprechung und Literatur im Einzelnen ausgearbeitet und festgelegt worden.45 Dazu gehört, dass unnötige Verfahrensverzögerungen vermieden werden müssen, wie auch vom BVerfG in zahlreichen Entscheidungen immer wieder betont worden ist.46 Unnötige Verfahrensverzögerungen sind aber nach der Rechtsprechung des EGMR und der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG vermeidbare, der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerungen,47 nicht aber Verfahrensverlängerungen, die durch die Wahrnehmung von Beschuldigten- und Verteidigungsrechten entstehen. Diese gehört zu einem justizförmigen Verfahren gerade dazu. Zwar besteht auch ein öffentliches Interesse an einer zügigen Durchführung von Strafverfahren. Es wurde oben aber bereits dargelegt, dass der erstrebte Rechtsfriede nur erreicht wird, wenn der Schuldspruch unter Einräumung der gesetzlich vorgesehenen Abwehr- und Verteidigungsrechte nachvollziehbar ist.48 Im Ergebnis ist festzuhalten: Mit dem Topos Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege kann eine Verkürzung von Beschuldigtenrechten zum Zwecke eines rascheren Verfahrensabschlusses nicht gerechtfertigt werden. 5. Notwendigkeit der Beschränkung von Beschuldigtenrechten? Die zunehmende Einschränkung der Beschuldigtenrechte mit dem Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege wird mit verschiedenen Begründungen für erforderlich gehalten. Insbesondere wird vorgebracht:49
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Landau NStZ 2011, 537, 545. Vgl. ausführlich hierzu I. Roxin StV 2010, 437 ff. Vgl. I. Roxin (Fn. 26), S. 99 ff., 157 ff., 230 ff. m.w.N.; BGHSt 52, 124 ff. BVerfG NJW 2012, 907, 909 (Rn. 114) m.w.N. Vgl. I. Roxin StV 2010, 437, 439 m.w.N. Laue GA 2005, 648, 661; Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 1 Rn. 7. Landau NStZ 2007, 121.
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– Die Gefährdung der inneren Sicherheit durch terroristische Gefahren; – die mit dem Instrumentarium des geltenden Rechts kaum noch zu bewältigenden Verfahren der Wirtschafts-, organisierten und terroristischen Kriminalität; – die dysfunktionale Ausnutzung der Möglichkeiten der Strafprozessordnung durch die Verteidigung zwecks Verfahrensverzögerung; – ständig wachsende Arbeitsbelastung in der Justiz bei fehlender personeller und sachlicher Ausstattung. Alle diese Argumente vermögen die Beschränkung der Beschuldigtenrechte nicht als notwendig zu begründen. Die Zahl der Strafprozesse gegen Terroristen ist auch nicht größer als zur Zeit des RAF-Terrors. In jüngerer Vergangenheit ist, soweit ersichtlich, gerade ein Verfahren mit Terrorzusammenhang vom BVerfG entschieden worden.50 Auch aus der Presseberichterstattung lässt sich keine die Funktionsfähigkeit der Justiz beeinträchtigende Flut derartiger Verfahren entnehmen. Zudem ist die Abwehr der Gefährdung der inneren Sicherheit ganz überwiegend eine präventive Aufgabe der Sicherheitsbehörden und keine repressive der Strafverfolgungsorgane. Es ist zwar zutreffend, dass Straftaten der Wirtschaftskriminalität häufig sehr umfangreich und komplex sind. Das Schwergewicht der Arbeit und der besonders große Zeitaufwand liegen in diesen Verfahren aber gerade nicht in den Verfahrensabschnitten, deren zügige Durchführung die Einschränkung der Beschuldigtenrechte rechtfertigen soll.51 Vielmehr sind es in vielen Fällen die Ermittlungsverfahren, die wegen der Fülle der zu sichtenden und auszuwertenden beschlagnahmten Unterlagen bis zur Anklageerhebung häufig mehrere Jahre dauern.52 Keinesfalls gilt dies genauso für die entsprechenden Hauptverhandlungen. Es ist zwar von kaum noch regierbaren Großverfahren die Rede, die statistisch allerdings den geringsten Teil aller Strafsachen ausmachen sollen53. Es ist aber unklar, ob es derartige Verfahren gab oder gibt, ob jemals versucht worden ist, sie nach den Regeln der StPO durchzuführen und wenn ja, woran die Durchführung gescheitert ist. Jedenfalls gibt es umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren, deren streitige Durchführung in der Hauptverhandlung durchaus in angemessener Zeit gelungen ist.54 Es ist nicht im geringsten gerechtfertigt, einen langen zeitlichen Vorlauf bis zur Hauptverhandlung, der nicht dem Beschuldigten anzulasten ist, in der 50
BVerfG NJW 2012, 907. Vgl. die Darstellung div. Fälle bei I. Roxin (Fn. 26), S. 54 ff. 52 Wie Anmerkung 51. 53 Graf/Eschelbach StPO, 2. Aufl. 2012, § 257c Rn. 1.2. 54 Z.B. LG München, Urteil v. 13.11.2007, 4 KLs 313 Js 38077/05; LG Mannheim, Urteil v. 16.3.2007, 24 KLs 631 Js 39633/98. 51
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Hauptverhandlung oder danach durch Beschränkung der Beschuldigtenrechte auszugleichen und schon gar nicht dann, wenn das langwierige Ermittlungsverfahren auf mangelnder personeller Ausstattung der Ermittlungsbehörden beruht. Der Staat ist verpflichtet, das Justizwesen so einzurichten, dass allen Anforderungen des Beschleunigungsgebotes entsprochen werden kann. In nahezu jeder Entscheidung zum überlangen Verfahren weist der EGMR die Vertragsstaaten auf diese Pflicht hin.55 Genauso hat bislang das BVerfG argumentiert.56 Es spricht von einem Versagen des Staates, die Justiz mit den erforderlichen personellen und sachlichen Mitteln auszustatten.57 Es mag sein, dass die Verteidigung durch dysfunktionales Vorgehen dem Gericht ein zügiges Verfahren erschweren kann. Soweit ersichtlich hatte der BGH bisher zweimal ein solches Verteidigerverhalten zu beurteilen.58 Man muss unter diesen Umständen davon ausgehen, dass die Tatgerichte grundsätzlich sehr wohl in der Lage sind, mit dem Instrumentarium der StPO einem solchen Verhalten, wenn es vorkommt, zu begegnen, und sei es durch ein allgemeines Missbrauchsverbot.59 Ob das vierte Argument, die Arbeitsüberlastung der Strafgerichte, die Einschränkung der Beschuldigtenrechte zur Herstellung einer wirksameren Rechtspflege rechtfertigen kann, ist zweifelhaft. Es ist durchaus nicht einhellige Meinung, dass die Strafjustiz am Rande ihrer Belastbarkeit arbeitet.60 Es wird zwar immer wieder auf knappe Ressourcen hingewiesen.61 Andererseits heißt es aber, die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege sei keineswegs in Gefahr,62 Absprachen seien nicht zur Arbeitsersparnis notwendig.63 Es kann aber auch dahingestellt bleiben, ob tatsächlich die Strafjustiz am Rande des Kollabierens ist. Jedenfalls wäre es nicht akzeptabel, dieses Argument zur Einschränkung prozessualer Handlungsbefugnisse von Beschuldigten zu verwenden.64
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Vgl. I. Roxin StV 2010, 439 m.w.N.; EGMR StV 2009, 461. BVerfG NJW 2006, 672, 674; BVerfG StV 2006, 87, 90; BVerfG Beschl. v. 2.9.2009, 1 BvR 3171/08, Rn. 32; vgl. auch Jahn NJW 2006, 652, 654. 57 BVerfG NJW 2006, 668, 671; vgl. auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. 2008, Rn. 441a; Rieß StraFo 2000, 367. 58 BGHSt 38, 111; BGH StV 2006, 113. 59 Tepperwien FS Widmaier, 2008, S. 583, 596. 60 Graf/Eschelbach StPO, 2. Aufl. 2012, § 257c 1.2 einerseits; andererseits BGHSt 50, 40, 54. 61 Basdorf in: Jahn/Nack (Hrsg.), 4. Karlsruher Strafrechtsdialog 2013, S. 12; siehe auch Landau FS Hassemer, 2010, S. 1073, 1076, 1083. 62 Graf/Eschelbach StPO, 2. Aufl. 2012, § 257c 1.2. 63 Sander in: Jahn/Nack (Hrsg.), 4. Karlsruher Strafrechtsdialog 2013, S. 60; vgl. hierzu auch Fischer FS Kühne, 2013, S. 203, 209 f. 64 Rieß StraFo 2000, 364, 367. 56
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Man kann schließlich auch nicht behaupten, dass ohne Einschränkung der Beschuldigtenrechte wegen gravierend veränderter staatlicher Rahmenbedingungen das Strafrechtssystem in Gefahr wäre.65 Dies ist auch 30 Jahre nachdem Hassemer eine derartige Gefahr verneint hat,66 immer noch nicht der Fall, wie ein prägnanter Ausspruch des verehrten Jubilars zeigen mag: „Solange sich terroristische Kreise noch nicht im Besitz von Atombomben und zu deren Einsatz bereit finden, gehen die größten Gefahren für die Menschheit gegenwärtig von den bereits massiv ablaufenden Umweltzerstörungen aus, …“ 67 Selbst wenn man aber eine Systemgefahr bejahen würde, wäre der Gesetzgeber aufgerufen, diesen Zustand zu ändern und nicht eine „schöpferische Rechtsfindung“.68 Es gibt nach allem keine tragfähigen Gründe für eine Beschränkung der Beschuldigtenrechte zum Zwecke einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 6. Der Topos der funktionstüchtigen Strafrechtspflege und die Beweisverwertungsverbote a) Einleitung In der ersten Fallgruppe geht es bei der Beschränkung der Beschuldigtenrechte mit Hilfe des Topos Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege um die raschere Durchführung des Strafverfahrens. Insoweit ist die Heranziehung der Argumentationsfigur nicht berechtigt. Neben dem Beschleunigungsgrundsatz hat der Topos keine eigenständige Bedeutung. In der größeren zweiten Gruppe der Entscheidungen, den Beweisverwertungsverboten, geht es um ein zentrales Thema des Strafverfahrens, um die Erforschung der Wahrheit. Diese ist die Grundvoraussetzung für das Endziel des Strafverfahrens, Herstellung von Gerechtigkeit.69 In nahezu allen neueren Entscheidungen weist das BVerfG in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Rechtsstaatsprinzip die Berücksichtigung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege verlange, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden könne.70 Anders als in der ersten Fallgruppe wird die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege bei den Beweisverwertungsverboten nicht als allein maßge65
So Landau NStZ 2007, 121. Hassemer StV 1982, 275, 279. 67 Schünemann (Fn. 39), S. 827, 829. 68 Tepperwien FS Widmaier, 2008, S. 583, 597. 69 LR/Kühne StPO (Fn. 25), Einl. B Rn. 43. 70 BVerfG HRRS 2009, Nr. 648 III.1.a; NJW 2009, 1469, 1474 (Rn. 72); NJW 2012, 907, 909 (Rn. 112, 113); NJW 2013, 1058, 1060 (Rn. 57). 66
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bend angesehen, sondern nur neben anderen Gesichtspunkten. Allerdings ergibt sich genau wie bei der ersten Fallgruppe die Frage, ob die Berufung auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ein Mehr an inhaltlicher Argumentation bringt. Es wurde oben dargelegt, wie eine funktionstüchtige Strafrechtspflege beschaffen sein muss, um den Zielen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gerecht zu werden: bestmögliche Wahrheitsermittlung in der dafür notwendigen Zeit muss zu einer Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung führen bei prozessordnungsgemäßem Tat- und Schuldnachweis. Um heraus zu finden, ob der Topos Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu Recht eine Wiedergeburt erfahren hat, also ein Mehr an Argumenten gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zu bieten vermag, ist wenigstens kurz in groben Zügen die Argumentation der Rechtsprechung zu den Beweisverwertungsverboten darzustellen. b) Überblick über die Argumentation der Rechtsprechung zu den Beweisverwertungsverboten Eine allgemeine Lehre zur Bejahung oder Verneinung eines Beweisverwertungsverbotes gibt es nicht. Der Versuch des BGH, mit Hilfe der Rechtskreistheorie für die Fachgerichte handhabbare Leitlinien zu schaffen und damit für mehr Rechtssicherheit zu sorgen, hat sich nicht durchgesetzt.71 Zutreffend geht die Rechtsprechung davon aus, dass nicht jede unzulässige Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot zur Folge haben kann.72 Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Gesetzgeber einzelne Beweisverwertungsverbote bei nach seiner Auffassung besonders schwerwiegenden Gesetzesverstößen ausdrücklich geregelt hat. aa) Unstrittig ist, dass Art. 1 GG, die Menschenwürde, einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung gewährt, dessen Verletzung ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht.73 Wann allerdings staatliche Eingriffe den absoluten Kernbericht privater Lebensgestaltung berühren, steht nach der Rechtsprechung keineswegs fest. Die Frage könne nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des einzelnen Falles beantwortet werden, so das BVerfG.74 Eine klare Umgrenzung des unantastbaren Bereiches privater Lebensgestaltung ist aber zwingend notwendig, weil bei einer Betrachtung der Besonderheiten des Einzelfalls die Gefahr besteht, dass bereits in dieser
71 S. Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. 2013, Einl. Rn. 55a; einen neuen Versuch unternimmt Kudlich FS Wolter, 2013, S. 995 ff. 72 BVerfG HRRS 2009, Nr. 648 III 1a; BVerfG NJW 2008, 3053, 3054 (Rn. 9) m.w.N.; BGHSt 51, 285, 289 f. 73 BVerfG NJW 2012, 907, 908 (Rn. 99). 74 BVerfG NJW 2011, 2417, 2419 (Rn. 45); NJW 2012, 907, 908 (Rn. 99).
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absoluten Schutzsphäre eine Abwägung stattfindet mit den Interessen der Gemeinschaft,75 die nicht erfolgen darf.76 Der BGH hat ferner ein nicht der Abwägung unterliegendes Beweisverwertungsverbot angenommen, wenn mehrere unverzichtbare rechtsstaatliche Grundsätze tangiert wurden. Das gelte auch dann, wenn aus dem jeweiligen einzelnen Grundsatz kein Verwertungsverbot abzuleiten wäre. Es habe eine Bewertung der Gesamtsituation zu erfolgen.77 Ebenso hält das BVerfG ein Beweisverwertungsverbot für geboten bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen wurden.78 bb) Wenn nicht der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung betroffen ist, sondern nur die allgemeine Privatsphäre, sind staatliche Maßnahmen hinzunehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen.79 Nach der herrschenden Abwägungslehre sind die Rechte des Beschuldigten mit dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung abzuwägen.80 Betrachtet man einschlägige Entscheidungen und Literatur, so kristallisieren sich einige grundlegende Abwägungsgesichtspunkte heraus, die auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Für eine Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise spricht das staatliche Aufklärungsinteresse,81 insbesondere die Pflicht des Gerichts, die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die von Bedeutung sind.82 Das Gewicht dieses Interesses wird im Verhältnis zum Beschuldigteninteresse bestimmt durch die Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, die Intensität des Tatverdachts und die Schwere der Straftat, an deren Aufklärung ein erhebliches Allgemeininteresse 75
Roxin FS Wolter, 2013, S. 1057, 1064; Eschelbach/Wasserburg FS Wolter, 2013, S. 877,
884. 76 Wolter FS Roxin, 2011, S. 1245, 1263; ders. in: Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH FG aus der Wissenschaft Bd IV, 2000, S. 962, 987. 77 BGHSt 53, 294 Rn. 39. 78 BVerfG NJW 2011, 2417, 2419 (Rn. 45); NJW 2012, 907, 910 (Rn. 117) m.w.N. 79 BVerfG NJW 1973, 891, 892; BVerfG NJW 2010, 2937, 2938 (Rn. 9); NJW 2012, 907, 912 f. (Rn 139; 146). 80 Vgl. Paul NStZ 2013, 489, 491; BVerfG HRRS 2009, Nr. 648; LR/Kühne StPO (Fn. 25), Einl. B Rn. 36; Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 1 Rn. 7; Jahn NStZ 2000, 383, 384; LR/Gössel StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. L Rn. 83; ausführlich SK-StPO/Wolter, Vor § 151 Rn. 28 ff. (Juni 1994). 81 BVerfG NJW 2012, 907, 910 f. (Rn. 121). 82 BVerfG HRRS 2009, Nr. 648 III.1a; BVerfG NJW 2012, 907; NJW 2011, 2417, 2418 (Rn. 44); BGHSt 44, 243, 249.
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besteht.83 Von Belang ist ferner die Tatsache, ob der Beweis auch bei rechtmäßigem Vorgehen zu erlangen gewesen wäre.84 Bei den Gesichtspunkten gegen eine Verwertung ist das Gewicht des Rechtsverstoßes zu berücksichtigen; handelt es sich um einen schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstoß? Werden grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen?85 Ferner sind der Schutzzweck der verletzten Norm und die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen zu beachten.86 Die aufgeführten Gesichtspunkte sind einander gegenüberzustellen und in der konkreten Prozesssituation zu gewichten.87 In diesem Zusammenhang wird auch auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege hingewiesen. Es müssten ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sein, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Strafe zugeführt werden. Deshalb sei ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme.88 Für die Abwägungslehre bringt die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ersichtlich kein zusätzliches inhaltliches Argument. Der Topos dient zur Begründung dafür, dass ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme darstelle, das erst nach Abwägung der dargelegten Kriterien bejaht werden kann. In den einzelnen Abwägungsmerkmalen ist der oben dargestellte Gewährleistungsauftrag der funktionstüchtigen Strafrechtspflege bereits enthalten. Die Pflicht der Gerichte zur Wahrheitserforschung ist ebenso ein Abwägungsmerkmal mit den Beschuldigtenrechten wie die Schwere der Straftat, die den Rechtsfrieden nachhaltiger stört, als ein geringfügiges Vergehen, weswegen dem Aufklärungsinteresse bei diesen Delikten zur Herstellung des Rechtsfriedens ein größeres Gewicht beizumessen ist.89 Umgekehrt ist der Verfahrensverstoß zu Gunsten eines Beweisverwertungsverbotes zu berücksichtigen. Willkürliche und bewusste Verstöße der Strafverfolgungsbehörden wiegen schwerer als fahrlässige. cc) Die Bejahung oder Verneinung eines Beweisverwertungsverbotes wird in Rechtsprechung und Literatur auch am Grundsatz des fairen Verfahrens gemessen. Der Grundsatz enthält keine im Einzelnen bestimmten Ge- oder Verbote.90 Nach der Rechtsprechung des BGH und des BVerfG ist eine Gesamt83
BGH NStZ 2000, 383. BVerfG NJW 2012, 907, 910 f. (Rn. 121); BVerfG HRRS 2009, Nr. 648 5; BGHSt 54, 69 Rn. 66. 85 BVerfG NJW 2011, 2417, 2419 (Rn. 45); BVerfG NJW 2008, 3053, 3054 (Rn. 9). 86 BVerfG NJW 2012, 907, 910 f. (Rn. 121) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH. 87 Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 1 Rn. 7. 88 BGHSt 44, 243, 249; 51, 285 (Rn. 20); BVerfG NJW 2011, 2417, 2418 (Rn. 44); NJW 2010, 287 (Rn. 7). 89 A.A. Hassemer StV 1982, 275, 276. 90 BVerfG NJW 2012, 907, 909 (Rn. 112). 84
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schau auf das Verfahrensrecht vorzunehmen – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte.91 Im Rahmen dieser Gesamtschau seien nicht nur die Rechte des Beschuldigten zu berücksichtigen, sondern auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. Zentrales Anliegen des Strafprozesses sei die Wahrheitsermittlung.92 Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liege erst vor, wenn diese Gesamtschau ergäbe, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden seien oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde.93 Es bedürfe in jedem Einzelfall einer Abwägung der für und gegen die Verwertung sprechenden Gesichtspunkte.94 Vergleicht man die Argumentation zur Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens mit derjenigen, die zur Ablehnung oder Bejahung eines Beweisverwertungsverbotes bei unzulässigen Eingriffen in die Privatsphäre nach der herrschenden Abwägungslehre erfolgt, so ergibt sich eine weitgehende Übereinstimmung. Das verwundert nicht, da es um die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens geht. Es wurde bereits oben (III. 6. b)) dargelegt, dass die Einzelabwägung der widerstreitenden Interessen alle Gesichtspunkte beinhaltet, die eine funktionstüchtige Strafrechtspflege in einem Rechtsstaat ausmachen. Eine nochmalige Berücksichtigung des Topos im Rahmen einer Gesamtschau auf das Strafverfahren ist also überflüssig. Inhaltlich neue Abwägungsgesichtspunkte für eine funktionstüchtige Strafrechtspflege haben sich auch bei einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der Auslegung und Anwendung des fairtrail-Grundsatzes durch die Gerichte bislang jedenfalls nicht ergeben. Der Topos Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege bringt mithin keine inhaltlich neuen zusätzlichen Argumente für die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes.
IV. Gesamtergebnis Man muss davon ausgehen, dass durch die überflüssige Heranziehung der Argumentationsfigur der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse bei der Beschränkung von Beschuldigtenrechten ein zusätzliches Gewicht verschafft werden soll, das ihm inhaltlich nicht zukommt.95
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Kritisch zur „Gesamtschau“ Wolter FS Roxin, 2011, S. 1245, 1266; ders. ZIS 2012, 238,
244. 92 BVerfG HRRS 2009, Nr. 648 III.1.a; BVerfG NJW 2012, 907, 909 (Rn. 113); BVerfG NJW 2013, 1058 Rn. 56. 93 BGHSt 53, 294 Rn. 35; BVerfG NJW 2010, 287 Rn. 7. 94 BGHSt 54, 69 Rn. 47 – ständige Rechtsprechung; bestätigend BVerfG NJW 2012, 907, 910 f. (Rn. 121, 123). 95 A.A. LR/Kühne StPO (Fn. 25), Einl. H Rn. 14.
Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege
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Widmung Diesen Beitrag widme ich Bernd Schünemann, der sich – auch im europäischen Zusammenhang – stets für den Erhalt des hohen rechtsstaatlichen Standards des deutschen Strafverfahrensrechts einsetzt.96 Mein Mann und ich verdanken Bernd und Ilse Schünemann eine jahrzehntelange treue Freundschaft. Möge sie und die bewundernswürdige Schaffenskraft des Jubilars noch viele Jahre andauern!
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S. Schünemann FS Wolter, 2013, S. 1107 ff.
Diskurstheorie als Legitimation für die Absprachen im Strafverfahren? Mariana Sacher
Eines der großen Verdienste des Jubilars ist sein langer, steter Kampf gegen eine ungezügelte Absprachenkultur. Erste Meilensteine waren seine Repräsentativumfrage 1986 und sein Gutachten auf dem 58. Deutschen Juristentag 1990. Der steinige Weg führte über immer wiederkehrende mahnende Worte bis über das Urteil des BVerfG im Jahr 2013 hinaus.1 Doch Schünemann war vor allem in der Vergangenheit einer der einsamen Mahner auf weiter Flur: Zu sehr schien der Praxis der einfache Weg bequem zu sein. Um diesen zumindest auf den ersten Blick zu rechtfertigen, wurden manche Versuche unternommen. Ein anspruchsvoller rechtstheoretischer Legitimationsversuch, der dem traditionellen strafprozessualen Modell der materiellen Wahrheitsfindung widerstreitet, aber sich nicht einfach auf freies Handeln und vertraglichen Konsens zurückzieht, sondern zugleich den Wahrheitsbegriff betont, ist die Fundierung des Strafprozessrechts und der Absprachen in der Diskurstheorie. Danach gilt der Konsens als Wahrheits- und Richtigkeitskriterium, der durch einen herrschaftsfreien und zwanglosen Diskurs ermöglicht wird. Der Diskurs muss dabei die Eigenschaften einer „idealen Sprechsituation“ erfüllen.2
1
Schünemann in: JMin. Ba.-Wü. (Hrsg.), Triberg-Symposium, 1987, S. 24 ff.; ders. FS Pfeiffer, 1988, S. 461 ff.; ders. NJW 1989, 1895 f.; ders. JZ 1989, 984 ff.; ders. in: Verhandlungen des 58. DJT 1990, Bd. I: Gutachten B, S. 16 ff.; ders. FS Baumann, 1992, 361 ff.; ders. StV 1993, 607 ff.; ders. FS Riess, 2002, S. 525 ff.; ders. in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 349 ff.; ders. Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005; ders. FS Heldrich, 2005, S. 1177 ff.; ders. ZRP 2006, 63 ff.; ders. ZStW 119 (2007), 945 ff.; ders. ZRP 2009, 104 ff.; ders. in: ders. (Hrsg.), Risse im Fundament, Flammen im Gebälk, 2010, S. 93 ff.; ders. FS Wolter, 2013, S. 1107 ff.; ders. Vom Tempel zum Marktplatz, 2013; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 17 Rn. 7 ff., § 44 Rn. 59 ff. 2 Zum Diskurs und den Diskursregeln am besten Habermas FS Schulz, 1973, S. 211, 255 ff.; Alexy Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 412 ff., 233 ff.
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I. Diskurstheoretische Ansätze für die Hauptverhandlung in den 70er Jahren Die Anwendung diskurstheoretischer Ansätze auf das Strafprozessrecht begann bereits in den 70er Jahren, allerdings unter einem ganz anderem Blickwinkel als heute. Die Praxis der Absprachen war noch nicht aufgedeckt. Die Diskurstheorie zog man für die Darstellung des allgemeinen Verlaufs des Strafprozesses heran, vor allem für die Machtverteilung in der Hauptverhandlung. Eine Kommunikation zwischen den Prozessbeteiligten über eine Absprache oder eine Verständigung über den Ausgang des Verfahrens kam damals prinzipiell noch nicht in Betracht;3 die Idee einer zielgerichteten Unterwerfung unter den Anklagevorwurf in Form eines Geständnisses und im Rahmen einer Absprache über das Verfahrensergebnis stand damals noch nicht im Raum. Der Ablauf des Strafverfahrens wurde vor allem nach den Prozessen gegen studentische Demonstranten aus einer soziologischen Perspektive heraus näher beleuchtet und grundlegend kritisiert. Einerseits richteten sich die Einwände gegen das überlegene und zugleich beobachtende bzw. schweigsame richterliche Auftreten in der Hauptverhandlung. Andererseits wurde die Struktur des Strafverfahrens als ein Herrschaftsverhältnis, eine „verzerrte Kommunikation“, eine asymmetrische Verfahrenssituation mit einer ungleichen Verteilung von Kommunikationschancen zwischen den Prozessbeteiligten angeprangert. Es wurde konkret beanstandet, dass die eine Seite, also die Staatsanwaltschaft, den Vorwurf der Anklageschrift bestimmen würde und die andere Seite, also der Angeschuldigte, dadurch frontal angegriffen wäre; dass die Strafverfolgungsbehörden über Zwangsmittel verfügen würden und ihre Tätigkeit für sie Routine sei; dass die finanziellen Möglichkeiten und Sprachkompetenzen des Angeklagten meist sehr gering wären; dass der Richter alleine die Themen der Hauptverhandlung wählen und Relevantes bestimmen, zugleich aber eine beobachtend-schweigsame Rolle einnehmen würde; dass die letztlich entscheidende Instanz die persönliche Überzeugung des Richters wäre.4 Gegenstand der Kritik waren also elementare Bestandteile des Strafverfahrens mit einer nicht-juristischen Brille betrachtet. Zur Lösung der Asymmetrie im Strafverfahren wurde einfach der Dialog über die
3 In diesem Zusammenhang findet man erstaunlicherweise sehr früh einen Vorläufer von informellen Absprachen. Die Verhandlungsmasse war allerdings wohl noch sehr beschränkt, da sie sich vor allem auf die Eingrenzung des Prozessstoffs und auf die Erforderlichkeit von Zeugen bezog, vgl. Winter/Schumann JbRSozRth 3 (1972), 529, 536 Fn. 33, 545 f. 4 So nach Rottleuthner KJ 1971, 60, 83 ff.; s. auch Mikinovic/Stangl Strafprozeß und Herrschaft, 1978, S. 27 ff.; Wassermann in: ders. (Hrsg.), Menschen vor Gericht, 1979, S. 14, 26 ff.; Boy/Lautmann in: Wassermann (Hrsg.), a.a.O., S. 41, 46 ff.
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Rekonstruktion des wahren Sachverhalts zwischen den Verfahrensbeteiligten vorgeschlagen. Als Muster eines neuen Strafprozesses sollte eine nicht gewaltsam verstellte Kommunikation, eine ungezwungene Sprechgemeinschaft analog zum Diskursmodell von Habermas eingeführt werden.5 Zwar stellte dieser Ansatz durch die empirische Beobachtung gerichtlicher Interaktion im Strafverfahren zutreffend Ungleichheiten bloß, die auch für strafprozessuale Grundsatzüberlegungen und die Lösung von Detailfragen über die Machtverteilung und die Rechte der Verteidigung im Strafverfahren von Nutzen waren und noch heute sind. Allerdings erfolgte diese pauschale Kritik am gesamten Strafprozessmodell aus einer rein externen, einseitigen soziologischen Perspektive ohne notwendige Differenzierungen juristischer Art bzw. ohne Berücksichtigung der strafrechtlichen Ziele und Grundprinzipien. Damit wurde der von der soziologischen Seite erhobene Anspruch auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit selbst nicht erfüllt, weil sie die Grundsätze des formellen und materiellen Strafrechts ignorierte.
II. Konsens als diskursive Wahrheit im Strafverfahren Jahn konzipiert für die Absprachen im Strafverfahren eine diskurstheoretisch fundierte Wahrheit für den Strafprozess, die nicht wie in den früheren oben beschriebenen Debatten durch eine Verbesserung der Kommunikationsstrukturen im Strafprozess erreicht wird, sondern eine Wahrheit, die der Konsens selbst ist.6 „Was gewesen sein soll“ wird von den Prozessbeteiligten (durch eine geständige Einlassung) verhandelt.7 Es geht um einen rein prozeduralen Wahrheitsbegriff, bei dem die Hauptverhandlung und die Absprachekommunikation sowohl in der Erörterung der Tatsachen, als auch in den vorläufigen rechtlichen Bewertungen im Verlauf der Beweisaufnahme als rationaler Diskurs begriffen werden.8 Im Vergleich zu anderen diskurstheoretischen Rekonstruktionen des Strafprozesses9 findet Jahn den diskurstheo5 Rottleuthner KJ 1971, 60, 82, 87; s. auch Mikinovic/Stangl (Fn. 4), S. 27; Wassermann Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 141 ff.; ders. (Fn. 4), S. 32. Kritisch Schreiber ZStW 88 (1976), 117, 141 ff.; eine veränderte Version in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 71, 79 ff. 6 Jahn GA 2004, 272, 279. 7 Jahn ZStW 118 (2006), 427, 455. 8 Jahn GA 2004, 272, 281 f., 285 f.; ders. NJ 2005, 106 ff.; ders. ZStW 118 (2006), 427, 454 f.; ders. Verhandlungen des 67. DJT 2008, Bd. I: Gutachten C, S. 23 f.; ders. NJW 2009, 2625, 2630 f.; ders. in: Goldenstein (Hrsg.), Mehr Gerechtigkeit, Loccumer Protokolle 9/11, 2011, S. 117 ff.; ders. FS Kirschhof, 2013, § 128, S. 1391 ff., insbes. Rn. 7 f., 18 f.; in Anschluss Kudlich Verhandlungen des 68. DJT 2010, Bd. I: Gutachten C, S. 56 ff. 9 Lüderssen StV 1990, 415, 418; Grasnik JZ 1991, 285 ff., 292 (anders heute: GA 2000, 153, 157); Tscherwinka Absprachen im Strafprozeß, 1995, S. 46 f. (Konsens und materielle Wahrheit sollen keine Gegensätze sein, sondern dadurch die Wahrheitsfindung ermöglicht
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retischen Wahrheitsbegriff de lege lata in § 244 Abs. 2 StPO verankert.10 Sein Ansatz geht viel weiter als eine etwaige Annäherung an die materielle Wahrheit durch die Kommunikation der Prozessbeteiligten über den Beweis. Der Konsens soll nicht eine materielle Wahrheit suchen, soll nicht ein Vehikel sein, um Wahrheit zu erzeugen, sondern er ist nach Jahn die Wahrheit.11 Er setzt die Disponibilität über den Verfahrensgegenstand voraus. Die Rekonstruktion des Gerichtsverfahrens als rationaler Diskurs beruht auf der sog. Sonderfallthese von Alexy, der das juristische Argumentieren als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses betrachtet,12 und auf Habermas in früheren Jahren, als er sich knapp zum Gerichtsverfahren äußerte und sich dabei auf Alexy berief,13 die Absprachen im Strafverfahren waren noch nicht Thema. Gegen diese Betrachtung des Strafverfahrens als rationalen Diskurs – und gegen die diskurstheoretische Legitimation der Absprachen – lassen sich sowohl Argumente gegen die allgemeine Diskurstheorie (1) als auch Argumente gegen die diskurstheoretische Rekonstruktion des Strafverfahrens und der Absprachen ins Feld führen (2 und 3).14
werden); Kempf in: Schriftenreihe der AG Strafrecht des DAV, Bd. 4, 1988, S. 21, 25 ff.; Marsch ZRP 2007, 220, 222, u.a. 10 Jahn ZStW 118 (2006), 427, 444, 457 ff. 11 Jahn GA 2004, 272, 279. 12 Alexy (Fn. 2), S. 32, 263 ff., 426 ff. 13 Habermas Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, 4. Aufl. 1987, S. 61 f. mit Verweis auf Alexy auf S. 62, Fn. 63. 14 Die Hauptargumente gegen die Sonderfallthese wurden grundsätzlich in den 80er Jahren ausgeführt, vgl. Arthur Kaufmann ARSP 72 (1986), 425, 436 ff.; ders. FS Kielwein, 1989, S. 15, 18 ff.; ders. Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 1989, S. 16 ff.; ders. in: ders./Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 139 ff.; Neumann Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 84 f. und passim; ders. Rechtstheorie 27 (1996), 415, 417 ff.; knapp ders. ZStW 101 (1989), 52, 69 f.; ders. in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 345 f.; Hassemer Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 130 ff.; Volk FS Salger, 1995, S. 411, 419. Ansonsten vgl. Engländer Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 144 ff.; Stübinger Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 575 ff.; Duttge ZStW 115 (2003), 539, 552 ff., 569; Christensen/Kudlich Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 91 f.; Lien GA 2006, 129, 139 ff.; Radtke FS Schreiber, 2003, S. 375, 385; Hilgendorf GA 1993, 547, 554; Kühne Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, 1978, S. 191 ff., 201; Hörnle Rechtstheorie 35 (2004), 175, 182 ff., 191, u.a.
Diskurstheorie als Legitimation für die Absprachen?
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III. Einwände gegen die diskurstheoretische Fundierung des Strafverfahrens und der Absprachen 1. Zirkularität und Inhaltsleere Durch den von der Diskurstheorie für ihre Richtigkeit aufgebotene Begründungstätigkeit leidet sie schon im Grundsatz erstens an einem infiniten Regress, weil die Forderung nach einer weiteren Begründung jeder Aussage durch weitere Aussagen immer im Raum steht und zweitens an logischer Zirkularität in der Deduktion, weil man auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig anzusehen waren. Aus dieser argumentativen Sackgasse, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen zu wollen, das sog. „Münchhausen-Trilemma“,15 wurde von den Diskurstheoretikern immer wieder ein Ausweg durch einen Rückgriff auf Letztbegründungen oder Selbstbegründungen auf der Metaebene gesucht, oder gar nicht erst gebraucht, weil sie das als unproblematisch ansehen.16 Das Begründungsverfahren leidet ferner an einen zumindest logisch unzulässigen Übergang bei der Dichotomie von Sein und Sollen. Wenn die Diskurstheorie der Korrespondenztheorie der Wahrheit einen naturalistischen Fehlschluss vorwirft, kommt sie dadurch selbst nicht leicht aus ihrem umgekehrten Fehlschluss, das Sein aus dem Sollen abzuleiten.17 Schwierigkeiten bereitet sich also die Diskurstheorie bei der Erklärung, warum der Diskurs als sprachliche Interaktion Wahrheit bzw. Richtigkeit generiert. Warum wird dieses Kriterium und nicht ein anderes ausgesucht? Und konkret: Inwiefern soll die sprachliche Interaktion der Prozessbeteiligten über Fakten und Recht eine Relevanz für das Urteil im Bereich des Strafrechts haben? Es geht hier zwar nicht darum, auf die Diskussionen aus früheren Zeiten der Philosophie zurückzukommen.18 Allerdings verliert die Frage nach den Letztbegründungen und nach dem Inhalt für Schwerpunktsetzungen in der Suche nach einem richtigen Ergebnis nicht an Aktualität im Bereich des Strafrechts, zumal heute die Strafrechtswissenschaft oft auf theoretische Fundierungen zurückgreift, gegen die der Einwand der Zirkularität
15 Albert Traktat über praktische Vernunft, 5. Aufl. 1991, S. 13 ff.; auch Popper Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 60. Zu diesem Einwand Arthur Kaufmann ARSP 72 (1986), 425, 436; ders. Prozedurale Theorien (Fn. 14), S. 21, u.v.a. Erwiderung von Alexy (Fn. 2), S. 223 f.; auch Tschentscher Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 2000, S. 261 ff. 16 Vgl. zur Letztbegründung Apel zuerst in Transformation der Philosophie, Bd. II, 1973, S. 405 ff.; explizit keine Begründung bei Habermas FS Schulz, 1973, S. 211, 257; ders. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 106 ff.; ders. Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, S. 195; Alexy (Fn. 2), S. 221 ff., 225 ff., 233. Vgl auch darüber Albert (Fn. 15), S. 257 ff. 17 Bezüglich des Strafprozessrechts Stübinger (Fn. 14), S. 578. 18 Der Einwand wird aus diesem Grund relativiert, vgl. Jahn GA 2004, 272, 278.
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erhoben wurde.19 Für den Strafprozess sind die Vorzüge zirkulären logischen Denkens bzw. theoretischer Konstrukte nicht auszumachen, zumal dadurch sein enges Verhältnis zur Begründungsquelle materielles Recht unberücksichtigt bleiben würde, wie im nächsten Punkt erörtert wird. Der Strafprozess kann Richtigkeit bzw. Gerechtigkeit nicht für sich selbst erzeugen, zumal er auch nicht aus sich selbst heraus seine eigene Existenz begründen kann. Betont wird hier die Unentbehrlichkeit des materiellen Rechts für den Strafprozess, ohne dass man diesem „nur“ eine „dienende“ Aufgabe zuerkennt.20 Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für die Untersuchung, ob ein Mensch schuldig ist oder nicht, ohne einen Verdacht auf eine schuldhafte Erfüllung aller Merkmale eines Straftatbestands, macht keinen Sinn und ist per se inhaltsleer und ziellos. Das materielle Strafrecht als verfahrensexterner Rahmen wirkt sich mitbestimmend je nach den eigenen Zielen bezüglich der Substanz, Vorgehensweise und Ergebnisrichtung auf das Strafverfahren aus. Die Richtigkeit oder Gerechtigkeit des Urteils wird nach dieser Sichtweise also nicht nur durch das Verfahren definiert. Im Übrigen werden die weiteren Wechselwirkungen zwischen beiden Materien durch die Anerkennung der existentiellen Abhängigkeit des formellen vom materiellen Strafrecht weder thematisiert noch verleugnet. So beeinflusst zum Beispiel das Strafverfahrensrecht das materielle Strafrecht und die Entscheidungsfindung, insbesondere durch Beweisregeln wie die Beweisverwertungsverbote und Beschuldigtenrechte, die eine grenzenlose Ausforschung des Sachverhaltes einschränken.21 Durch die existentielle Abhängigkeit des Strafprozessrechts vom materiellen Strafrecht kann es nicht definitorische Verfahrensgerechtigkeit erzeugen,22 d.h. das Strafverfahren wird nach der hier vertretenen Meinung prinzipiell
19 Das hat Schünemann für das materielle Strafrecht immer wieder betont, z.B. in FS Lampe, 2003, S. 537, 541 ff., auch Sacher ZStW 118 (2006), 574, 578 ff. 20 Wieder passend entgegen rein prozeduralen Thesen könnte der früher verwandte Begriff der „existentiellen Abhängigkeit“ sein, Nachweise bei Neumann ZStW 101 (1989), 52, 53. 21 Dazu bereits Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, insbes. S. 189 ff., 193; ders. FS Dahs, 2005, S. 495, 500 ff.; Neumann ZStW 101 (1989), 52 ff., 54 ff., 72 (auf keinen Fall nur dienende Funktion); differenzierend Tschentscher (Fn. 15), S. 130, Fn. 412. 22 Nach der allgemeine Klassifikation von Rawls hier an das Strafverfahren angewendet, vgl. Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit (dt. Fassung), 1979, § 14, S. 105 ff., vgl. dazu auch Tschentscher (Fn. 15), S. 124 ff.; Neumann ZStW 101 (1989), 52, 69 f. Auch wenn es im Strafprozess um den Wahrheitsbegriff geht, geht es letztendlich auch um die Verfahrensgerechtigkeit (Fairness) und schließlich um die Gerechtigkeit. Hier wird die Verfahrensgerechtigkeit als die Förderung von Ergebnisgerechtigkeit durch Verfahren angesehen. Weil die „Verfahrensgerechtigkeit“ auch als „prozedurale Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, darf sie nicht mit den „Prozeduralen Theorien der Gerechtigkeit“ verwechselt werden, nach denen nicht nur die Gerechtigkeitserzeugung durch Verfahren stattfindet (bzw. die reale Umsetzung der Gerechtigkeit durch Verfahren), sondern auch die Begründung der Gerech-
Diskurstheorie als Legitimation für die Absprachen?
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instrumentell zur Verfolgung eines Ergebnisses benutzt, dessen Gerechtigkeit bzw. Richtigkeit nicht nur durch das Verfahren an sich (definitorisch), sondern auch durch Kriterien außerhalb der Verfahrens begründet wird. Welche Lösung richtig bzw. gerecht ist, kann nur verfahrensunabhängig durch das materielle Recht vordefiniert sein, weil das Gerichtsverfahren nur den beweistechnisch-prozessualen Aspekt der Frage klären vermag, warum man jemanden verurteilt und bestraft. Wenn wir bei dieser Einteilung von Rawls bleiben, wird das Strafverfahren nur Gerechtigkeitserzeugungs- und nicht Gerechtigkeitsbegründungsfunktion besitzen. Diese letzte Funktion wird vom materiellen Strafrecht ausgeübt und ohne sie macht die Gerechtigkeitserzeugungsfunktion keinen Sinn. So bietet das materielle Strafrecht den Gerechtigkeitsrahmen und definiert die richtige Substanz und das richtige Ergebnis des Strafverfahrens: Es soll die Tatbegehung im Sinne der Tatbestandsmerkmale und die Schuld festgestellt werden, und nur der wahre Schuldige dieser Tat verurteilt werden. Deshalb wird sich das Strafverfahren danach richten, möglichst nahe an eine objektive Wirklichkeit heranzukommen, also sich der sog. materiellen Wahrheit anzunähern. Eine etwaige Verständigung von Bürger und Staat über die Begehung einer Straftat und über deren Bestrafung sollte eigentlich aus der Sicht des materiellen Strafrechts keine Relevanz haben. Solche Verhandlungen über das Delikt und die Bestrafung widersprechen dem Sinn der Straftatbestände, weil sie einen Wert nicht etwa der Privatautonomie des Beschuldigten, sondern der tatsächlichen Begehung und Bestrafung nur des Schuldigen beimessen.23 Das materielle Strafrecht fordert für seine Realisierung vom Strafprozess also eine Erforschung des Sachverhalts und Feststellung der Schuld – natürlich mit den vorhandenen Einschränkungen der strafprozessualen Regeln. Bei einer diskurstheoretischen Fundierung des Strafverfahrens im Sinne der Sonderfallthese wird deren Ergebnis, d.h. jemanden zu verurteilen und bestrafen, wohl nicht durch verfahrensexterne Kriterien, sondern durch das Verfahren selbst, bzw. durch die Kontradiktion und Verständigung begründet. Solch eine Definitionsmacht eines Verfahrens wäre ideal für Glückspieler: Hält man sich an die Spielregeln, wird das Ergebnis immer gerecht sein. Allerdings kann die Gerechtigkeit bzw. Richtigkeit eines Strafurteils mit der Verurteilung eines Menschen nur aus der Einhaltung der Strafverfahrensregeln, z.B. dass eine ausreichende Kontradiktion vorhanden war, nicht schlussgefolgert werden. Damit wäre nur der (natürlich notwendigen) Verfahrensgerechtigkeit und nicht auch der materiellen (substantiellen) Gerechtigkeit prozedural erfolgt. Siehe zu dieser Unterscheidung am besten Tschentscher (Fn. 15), S. 132, Fn. 417 und S. 134; Jansen Die Struktur der Gerechtigkeit, 1998, S. 56, Fn. 58; Neumann ZStW 101 (1989), 52, 59. 23 Roxin/Schünemann (Fn. 1), § 15 Rn 6; Schünemann in: ders. (Hrsg.), Risse im Fundament (Fn.1), S. 93, 98.
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tigkeit genüge getan. Auch wenn die Prozeduralität der diskurstheoretischen Auffassung des Strafprozessrechts nicht so weit gehen möchte, ist der allgemeine Einwand gegen die Diskurstheorie der fehlenden, ggf. versteckten Inhalte und Beurteilungsmaßstäbe bei der Gerechtigkeitskonzeption auf jeden Fall berechtigt.24 2. Interessenorientiertes Handeln Eine Unvereinbarkeit der Diskurstheorie mit dem Strafprozess besteht darin, dass die Prozessbeteiligten nicht kommunikativ, sondern strategisch handeln.25 Das ist bereits ein ausschlaggebender Grund, um die Diskursfähigkeit des Strafprozesses abzulehnen. Der politisch-philosophische Ausgangspunkt der Theorie des kommunikativen Handelns liegt nämlich in der Überwindung des Konzepts individueller Nutzenmaximierung des hobbesianischen und später utilitaristischen Verhaltensmusters und Sozialordnung26 zugunsten eines verständigungsorientierten Handlungs- und Gesellschaftsmodells.27 Die Idee der sozialen Ordnung auf der Grundlage teleologischen oder zweckrationalen Handelns wird von Habermas als defizitäre strategische Kommunikation und negativ zum Beispiel als das „Zusammentreffen der egozentrischen Perspektiven selbstinteressiert handelnder Individuen“ beschrieben.28 Aus dem „kontingenten Aufeinandertreffen verschiedener erwarteter Interessenlagen und Erfolgskalküle“ entsteht für ihn keine Sozialordnung.29 Das Denkmodell des teleologischen oder zweckrationalen Handelns wird durch den Begriff der Kommunikation, des verständigungsorientierten Handelns ersetzt.30 Dabei ist die Unterscheidung zwischen dem strategischen und nichtstrategischen Handeln bzw. zwischen Erfolgs- und
24 Für den Rechtsbereich Arthur Kaufmann FS Kielwein, 1989, S. 15, 18 f.; ders. GS Armin Kaufmann, 1989, S. 1, 9; ders. Prozedurale Theorien (Fn. 14), S. 17 ff., zutreffend S. 18: kein „Prioritätskriterium“; v.d. Pfordten in: Schulz (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, 2000, S. 17 ff.; ders. in: Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, 2. Aufl. 2005, S. 202, 256; Engländer (Fn. 14), S. 94 f. u.a.; Stübinger (Fn. 14), S. 584; Christensen/Kudlich (Fn. 14), S. 78 ff. 25 Zu der Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativen Handeln Habermas am besten in Theorie des kommunikativen Handelns (Fn. 13), Bd. I, S. 127, 385 ff.; Bd. II, S. 193 f.; ders. Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, S. 43 f., 50. 26 Vgl. Habermas (Fn. 13), Bd. II, S. 314 ff.; ders. Faktizität (Fn. 25), S. 43, 118 ff., 408 ff. Vgl. z.B. die Klassifizierung der Grundpositionen von Alexy in der politischen Philosophie in ARSP 51 (1993), 11, 28; ders. Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 127 ff., 142 ff.; im Anschluss Tschentscher (Fn. 15), S. 81 ff. und passim m.w.N. 27 So die Entwicklung seiner Theorie in Habermas (Fn. 13), Bd. II, S. 320 ff., 330 im Anschluss an seine Ausführungen über Hobbes und den Utilitarismus. 28 Habermas Faktizität (Fn. 25), S. 420. 29 Habermas Faktizität (Fn. 25), S. 91. 30 Vgl. zum Beispiel Fn. 27 und Habermas Faktizität (Fn. 25), S. 17 ff. und passim.
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Verständigungsorientierung ein Charakteristikum der Diskurstheorie, die sie von anderen philosophischen Richtungen heraushebt. Wenn die Richtigkeit der Entscheidungen an ein diskursives Verfahren geknüpft werden soll und dagegen die Vorteilsüberlegungen bzw. eigenen Erfolgserwartungen keine Verallgemeinerbarkeit und damit kein Richtigkeitsanspruch erheben können, ist nicht verständlich, wie der Strafprozess und die Urteilsabsprachen mit der stark interessenorientierten Interaktion der Beteiligten die Bedingungen des Diskurses erfüllen sollen.31 Sogar liegt bei den Absprachen das zusätzliche Interesse der Justiz an einer Minimierung des Zeitaufwandes. Die Schwierigkeiten, den gerichtlichen Prozess als Diskurs anzusehen, sind deren Anhängern bewusst und deshalb wurden diverse Anpassungen an der Diskurstheorie vorgenommen. Allerdings stand dabei nicht der Strafprozess im Vordergrund solcher Überlegungen und noch weniger waren für sie die Absprachen mit Geständnis des Angeklagten in Sicht.32 Als Anpassung wurde der Begriff des Diskurses bei der gerichtlichen Interaktion so erweitert, dass die subjektive Vorteilsorientierung der Parteien nicht interessieren soll. Es würde für den Diskurs ausreichen, wenn die Parteien beanspruchen, im Rahmen der geltenden Rechtsordnung vernünftig zu argumentieren bzw. zu begründen, d.h. ihre Argumente sollten so beschaffen sein, „dass sie unter idealen Bedingungen Zustimmung finden würden“.33 Aber bei dieser Modifikation der Diskurstheorie gilt der Einwand des Fehlens der für den Diskurs erforderlichen Unparteilichkeit und Offenheit34 und auf jeden Fall der Einwand der Verwischung der Grenzen zwischen strategischem und kommunikativem Handeln.35 Die Anpassungen der Diskurstheorie werden noch mehr auf die Spitze getrieben, wenn man gegen den Einwand des diskursfremden strategischen Handelns der Prozessbeteiligten im Strafprozess das erforderliche Element der Unparteilichkeit (bzw. des nicht strategischen Handelns) auf die Figur 31 So allgemein über das Gerichtsverfahren in seiner 1. Phase Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971, S. 142, 200 f. 32 Habermas behandelt knapp die Einzelheiten des Strafprozesses aus seiner Sicht auf S. 288–291 von Faktizität (Fn. 25, 3. Phase) und beruft sich dabei auf die rechtlichen Hinweise von Günther. Allgemein über das Gerichtsverfahren in Habermas Faktizität (Fn. 25), S. 242 ff., 272 ff. 33 Alexy (Fn. 2), S. 271, vgl. auch 270, 351, 434; auch in diesem Sinne ders. Recht, Vernunft, Diskurs (Fn. 25), 1995, S. 143; wie auch ders. ARSP 51 (1993), 11, 26. Habermas schließt sich in seiner 2. Phase der Sonderfallthese von Alexy an, vgl. Habermas (Fn. 13), Bd. I, S. 61 f. 34 Neumann Rechtstheorie 27 (1996), 415, 418 f.; ders. Juristische Argumentationslehre (Fn. 14), S. 84. Für weitere Kritik der Sonderfallthese aufgrund der strategischen Interaktion vor Gericht vgl. u.a. Engländer (Fn. 14), S. 145; Stübinger (Fn. 14), S. 579 f. 35 Neumann Juristische Argumentationslehre (Fn. 14), S. 85, mit der Erwiderung von Alexy (Fn. 2), S. 434 f.
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des Richters bei der Urteilsfindung mit der letzten Auffassung von Habermas in Anschluss an Alexy projeziert.36 Bei dieser Konzentration des Diskurses auf die Person des Richters handelt es sich aber um monologische und damit nicht um diskursive Rechtsanwendung.37 Allerdings könnte man mit den weiteren Ausführungen von Habermas den Einwand des monologischen Begründens entkräften, indem man die Figur des Richters als ein „gemeinsames Unternehmen“ versteht, „das von der öffentlichen Kommunikation der Staatsbürger getragen wird“. Oder den Richter als „Teil der Interpretationsgemeinschaft von juristischen Experten“ begreifen, der seine „Interpretationen von den in der Profession anerkannten Standards der Auslegungspraxis leiten lassen“ müsste.38 Konkret könnte man dieses Alternativszenario so interpretieren, dass die zwischen dem Angeklagten und dem Richter (bzw. Staatsanwalt) geschlossene Absprache über das Verfahrensergebnis auf einen Diskurs mit den wahlberechtigten Staatsbürgern zurückgeführt werden kann, was zwar als eine sehr entfernte, externe Betrachtung der Sozialordnung noch gut angehen könnte, aber aus der Binnenperspektive des Rechtssystems und erst recht nicht für den Anwendungsdiskurs noch keine hinlängliche Erklärung liefert. Die Verständigungsorientierung der Interaktionsteilnehmer als charakteristisches und differenzierendes Merkmal des Anspruchs auf Wahrhaftigkeit und Richtigkeit kann also nicht ohne weiteres mit Sonderfällen übergangen werden. Im allgemeinen Gerichtsverfahren ist dieses Element schon nicht vorhanden, aber noch weniger im Strafprozess, in dem der Angeklagte nicht die Wahrheit sagen muss und er damit sein Handeln auf keinen Fall auf einen Konsens im Sinne der Diskurstheorie ausrichtet. So fällt die Verständigungsorientierung und damit das Hauptelement der Wahrhaftigkeit weg.39 Die strafprozessuale Kontradiktion bzw. der Antagonismus als guter Kontrollmechanismus reicht alleine nicht aus, um ein Geltungsanspruch auf Wahrheit und Richtigkeit im Sinne der Diskurstheorie zu erheben. 3. Herrschaftsfreiheit und Zwanglosigkeit Ein argumentativ erzielter Konsens im Rahmen der Diskurstheorie muss die Bedingungen der Herrschaftsfreiheit und Zwanglosigkeit erfüllen. Die einzige gültige Kraft für die Diskurstheorie ist diejenige des besseren Argu36
Habermas Faktizität (Fn. 25), S. 283 mit Verweis auf Alexy. Vgl. in der Strafrechtswissenschaft Neumann Rechtstheorie 27 (1996), 415, 417 f. m.w.N.; Engländer (Fn. 14), S. 146 f. 38 Habermas Faktizität (Fn. 25), S. 274 f. 39 Zur Unvereinbarkeit der Lüge im Strafprozess mit der Diskurstheorie bereits Arthur Kaufmann FS Kielwein, 1989, S. 15, 23; ausführlich Lien GA 2006, 129, 142, 145; Stübinger (Fn. 14), S. 581 ff.; Saliger in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, 93 , 111 f. Über die Lüge bzw. Täuschung vgl. Alexy (Fn. 2), S. 234, 236. 37
Diskurstheorie als Legitimation für die Absprachen?
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ments.40 Bereits beim Vorliegen unterschiedlicher Verhandlungsmächte der Interaktionsteilnehmer besteht kein Diskurs, und damit ist der diskurstheoretische Konsensbegriff sogar anspruchsvoller als die Bedingungen eines Vertrages.41 Der Strafprozess und die Absprachen sind aber aus mehreren Gründen nicht herrschafts- und zwangsfrei. Erstens geht es um den Zwang zur Teilnahme an der Interaktion bereits in der Grundposition des Angeklagten, gegen dessen Willen ein Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wird und sogar ggf. Untersuchungshaft angeordnet wird. Diese Ausgangslage kann sich durch die Dispositionsmaxime auch nicht ändern. Der Strafprozess stellt ein mit speziellen Kautelen ausgestattetes hoheitliches Eingriffsverfahren dar, mit dem der staatliche Strafanspruch im Sinne einer hoheitlichen Befugnis zu Bestrafung verwirklicht wird.42 Zweitens besteht ein deutliches Ungleichgewicht zwischen den Machtbefugnissen der Strafverfolgungsbehörden und den Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten. Und dies nicht unbedingt aufgrund der Instruktionsmaxime, wie die strafprozessualen Diskurstheoretiker behaupten würden. Es geht vor allem um die – abgesehen von einer durchfinanzierten Verteidigung – grundsätzliche Überlegenheit bei der technischen und personalen Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden, um die Möglichkeit der Durchsetzung der staatlichen Position auch gegen Widerstand und – auch wenn reformfähig – um den wachsenden Einfluss des einseitigen und heimlichen Ermittlungsverfahrens auf das Verfahrensergebnis und die Zunahme der heimlichen staatlichen Eingriffsmaßnahmen.43 Drittens und speziell bezüglich der Absprachen besteht das Risiko für den Beschuldigten, bei Ablehnung einer Absprache härter bestraft zu werden.44 Schließlich erweist sich die Vorauswahl der relevanten Themen durch das materielle Recht und durch die Anklage, die Zeitbegrenzung für die richterliche Entscheidungsfindung und überhaupt die institutionelle Sprechsituation als eine Form der Zwanghaftigkeit.45 Die diskurstheoretische Perspektive ist also viel zu optimistisch aufgeladen für ein Feld mit so vielfältigen Interessenkonflikten wie dem Strafprozess, bei dem es um das Bestrafen geht. Sie würde letztendlich die Beliebigkeit Tür und Tor öffnen, die sie durch die Aufstellung von Argumentationsregeln selbst verhindern möchte.
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Habermas FS Schulz, 1973, S. 211, 240; ferner Alexy (Fn. 2), S. 412. Aus der philosophischen, nicht strafrechtlichen Perspektive Tschentscher Rechtstheorie 33 (2002), 43 ff., 53, 57. 42 Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 1), § 1 Rn. 12, § 12 Rn. 7, § 17 Rn. 7. 43 Dazu am besten Schünemann GA 2008, 314 ff. 44 Auch wenn Jahn die Drohung mit der Sanktionenschere durch Einschränkungen bei den Absprachen vermeiden möchte, vgl. ZStW 118 (2006), 427, 460, bleibt noch der 1. und 2. genannte Zwang bestehen. 45 Vgl. Habermas/Luhmann (Fn. 31), S. 142, 200 f.; Hassemer (Fn. 14), S. 133 ff.; Arthur Kaufmann FS Kielwein, 1989, S. 15, 22 f.; ders. ARSP 72 (1986), 425, 437. 41
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IV. Ausblick Philosophische Ansätze über den Wahrheitsbegriff sind insoweit auf den Strafprozess anwendbar, als es um die Feststellung eines Sachverhalts geht. Allerdings geht es im Strafverfahren letztlich nicht um Wissen, sondern um die eingeschränkte Erforschung eines Tatverdachts. Bei der Beantwortung der Frage, ob der Sachverhalt im Strafverfahren verhandelt oder erforscht werden soll, sollten deshalb nicht nur philosophische, aber auch nicht rein prozesstechnische, sondern vor allem strafrechtliche Grundsätze und Ziele überwiegen. Der Androhungsgeneralprävention durch das materielle Strafrecht folgend, die das Schuldprinzip voraussetzt, ist die strafprozessuale Erforschung des Sachverhalts vor einer Bestrafung unverzichtbar (natürlich mit den Einschränkungen des Strafverfahrensrechts). Unter anderem mit diesen Gedanken ist am intensivsten Schünemann über die Jahre hinweg gegen ungezügelte Urteilsabsprachen angegangen. Es ist wahr, dass man durch die Teilnahme an der Diskussion bereits deren Regeln anerkannt hat. Die ausgetauschten Argumentationen rühren aber aus der wissenschaftlichen und damit externen Beobachtung des Strafprozesses und zum Glück nicht aus der Binnenperspektive dessen Protagonisten. Eine rechtstheoretisch fundierte Legitimation der Absprachen steht damit noch immer aus. Die Wissenschaft scheint die Praxis nicht aufhalten zu können, muss ihr aber einen rechtlichen Korridor abstecken und an der Erforschung der Tatsachen im Verfahren in Richtung materieller Wahrheit festhalten.
Übermäßige Repressivität als Konsequenz des Zusammentreffens von Repressionssanktionen Andrzej J. Szwarc
Mit dem vorliegenden Aufsatz möchte ich mich bei Bernd Schünemann für die über dreißigjährige Bekanntschaft und das Wohlwollen bedanken, welches ich von ihm erfahren habe. Der Beginn dieser Bekanntschaft geht auf das Jahr 1982 zurück. Wir lernten uns auf einer Konferenz in Urbino in Italien kennen. Durch spätere Kontakte und verschiedene Formen der Zusammenarbeit, auch durch die gemeinsame Teilnahme an verschiedenen Tagungen in Deutschland und Polen, sowie zahlreiche Aufenthalte von Bernd Schünemann in Polen, wurde diese Bekanntschaft vertieft. Am meisten schätze ich, dass mich Bernd Schünemann zur Auseinandersetzung mit Problemen inspirierte, mit denen er sich beschäftigte und die in Deutschland bereits diskutiert wurden, während sie zur damaligen Zeit in Polen noch kein breiteres Interesse weckten. Auf diese Weise wurden sie dann auch im polnischen Rechtsschrifttum aufgegriffen. Zunächst waren es Rechtsprobleme um HIV und AIDS, später das Thema informeller Vereinbarungen der Beteiligten in Strafverfahren, schließlich die EU-Strafpolitik und das Konzept der europäischen Strafrechtspflege. Durch die Teilnahme an einer von Bernd Schünemann organisierten Konferenz „Die Rechtsprobleme von AIDS“ (Mannheim, 20.–21. November 1987)1 wurde mein Interesse an diesem Problemfeld geweckt. Bereits ein Jahr später, am 29. und 30. Juni 1988, veranstaltete ich in Poznań (Polen) eine ähnliche Konferenz, an der fast 300 Personen teilnahmen. Die Tagung war in Polen die erste Gelegenheit, um auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Die gehaltenen Vorträge umfassten Probleme, die sich vor allem im Verfassungsrecht, Völkerrecht, Verwaltungsrecht, materiellen Strafrecht, Strafvollzugsrecht, Zivilrecht, Familienrecht, Versicherungsrecht, Arbeitsrecht, Strafund Zivilprozessrecht sowie im Medienrecht ergeben. Diese Probleme wurden in Bezug auf die damaligen medizinischen Kenntnisse über HIV und AIDS und die mit diesem Thema verbundenen sozialen und kulturellen
1 Die Konferenzmaterialien wurden in: Schünemann/Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988 veröffentlicht. Die Rezension des Buches habe ich in Polen veröffentlicht: Szwarc Państwo i Prawo, 1989, Nr. 9, S. 139 f.
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Aspekte diskutiert. In Polen wurde diese Thematik durch einen aus dieser Konferenz hervorgegangenen Tagungsband in die Öffentlichkeit getragen.2 In den nachfolgenden Jahren wurde die Rechtsproblematik von HIV und AIDS in vielen Ländern, darunter auch und vor allem in Deutschland, zum Gegenstand breiten Interesses. Diese Umstände bewogen mich dazu, im Rahmen einer internationalen Konferenz die Möglichkeit zum Meinungsaustausch über die strafrechtlichen Probleme von HIV und AIDS sowie zur Gegenüberstellung der sich aufgrund der verschiedenen strafrechtlichen Systeme herausbildenden Meinungen zu geben. Eine solche Konferenz zum Thema „AIDS und Strafrecht“ fand vom 1.–5. Juni 1994 in Poznań (Polen) statt und versammelte 61 Teilnehmer aus 16 Ländern: Chile, Deutschland, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Japan, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz, Schweden, Slowenien, Spanien und die Republik Südafrika. Einer der Teilnehmer war Bernd Schünemann, der ein Referat zum Thema „AIDS und Strafrecht. Ein Überblick“ hielt. Der Konferenzband ist in Deutschland in deutscher Sprache erschienen.3 Das Ziel der Übertragung der Konferenzergebnisse in den polnischen Fachdiskurs und dadurch der weiteren Steigerung des Interesses an den Rechtsproblemen von HIV und AIDS bewogen mich zur Organisation einer weiteren gesamtpolnischen Konferenz zum Thema „AIDS und Strafrecht“ – also diesmal einer Konferenz, die sich ausschließlich mit strafrechtlichen Problemen in Bezug auf das polnische Strafrecht beschäftigte. Diese Konferenz fand vom 19.–21. Oktober 1995 in Poznań statt. 1996 wurde der Konferenzband veröffentlicht.4 Das Ergebnis dieser Initiativen war u.a. die Aufnahme einer Regelung in das polnische Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1969, die eine strafrechtliche Verantwortung vorsieht, wenn der Täter einen anderen der unmittelbaren Gefahr einer HIV-Infizierung aussetzt. Die aktuelle Fassung im polnischen Strafgesetzbuch5 lautet in Art. 161 § 1: 6 „Wer in Kenntnis davon, dass er mit HIV infiziert ist, eine andere Person der unmittelbaren Gefahr einer solchen Infektion aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (…)“, § 3: „Straftaten im Sinne der §§ 1 oder 2 werden auf Antrag des Verletzten verfolgt.“ Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der Thematik informeller Vereinbarungen im Strafverfahren waren zahlreiche Gespräche mit Bernd Schünemann und vor allem meine Teilnahme am 58. Deutschen Juristentag in München im Jahre 1990. Eines der Themen dieser Tagung war die Problematik der
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Szwarc (red. nauk.), Prawne problemy AIDS, Warszawa 1990. Szwarc (Hrsg.), AIDS und Strafrecht, 1996. Szwarc (red. nauk.), AIDS i prawo karne (AIDS und Strafrecht), Poznań 1996. Im Folgenden: polStGB. GBl. v. 1997, Nr. 88, Pos. 553 mit Änderungen.
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Absprachen im Strafverfahren. Als Autor von zahlreichen Publikationen zu diesem Thema7 äußerte sich auch Bernd Schünemann auf dieser Tagung.8 Dies bewog mich damals zur Veranstaltung einer Konferenz zum Thema „Absprachen und Vereinbarungen der Entscheidungen durch Teilnehmer des Strafverfahrens“, die vom 29.–30. Juni 1992 in Poznań (Polen) stattgefunden hat.9 Das Ergebnis dieser Initiative war die gesetzliche Regulierung dieser Praxis durch die Aufnahme des Art. 335 in das polnische Strafverfahrensgesetzbuch vom 6. Juni 1997,10 in dem diese Praxis in einem gewissen Umfang reguliert und legalisiert wurde. Die in Art. 335 § 1 aufgenommene Regelung lautet: „Wegen des Vorwurfs eines Vergehens, das mit einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 10 Jahren bedroht ist, kann der Staatsanwalt in der Anklageschrift einen Antrag auf Verurteilung und Verhängung einer mit dem Angeklagten vereinbarten Strafe oder Strafmaßnahme ohne Durchführung einer Verhandlung stellen, wenn die Umstände der Begehung der Straftat keine Zweifel erwecken und das Verhalten des Angeklagten darauf hindeutet, dass die Ziele des Verfahrens erreicht werden. § 2: Liegen die Voraussetzungen für einen Antrag nach § 1 vor und erwecken die Einlassungen des Beschuldigten angesichts der gesammelten Beweise keine Zweifel, brauchen weitere Beweishandlungen im Vorverfahren nicht durchgeführt zu werden; es werden jedoch die Handlungen durchgeführt, bei denen die Gefahr besteht, dass sie in der Verhandlung nicht mehr durchgeführt werden können. § 3: Die Begründung der Anklageschrift kann auf die Bezeichnung der in § 1 genannten Umstände beschränkt werden.“ Mein Interesse an der Problematik der EU-Strafpolitik und dem Konzept der europäischen Strafrechtspflege wurde ebenfalls durch die von Bernd Schünemann realisierten Forschungsprojekte geweckt. Das erste dieser Projekte, „Alternativentwurf. Europäische Strafverfolgung“, wurde im Zeitraum 2003–2004 durchgeführt. Das Ergebnis des Projektes war eine Publikation,11 die auch in Polen herausgegeben wurde.12 Das zweite Projekt, „Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege“ („A Programme for European Criminal Justice“), wurde in den Jahren 2004–2006 realisiert. Ich hatte die Ehre und das Vergnügen, Teilnehmer der internationalen Gruppe gewesen zu
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Z.B. Schünemann JZ 1989, 984 ff. Schünemann Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen, Gutachten B für den 58. Deutschen Juristentag, 1990. 9 Die Aufsätze zu dieser Konferenz wurden im Sammelband: Szwarc (Hrsg.), Absprachen und Vereinbarungen der Entscheidungen durch Teilnehmer des Strafverfahrens, Warszawa-Poznań 1993 veröffentlicht. 10 GBl. v. 1997, Nr. 89, Pos. 555 mit Änderungen. 11 Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004. 12 Schünemann (red. nauk.), Europejskie ściganie karne. Projekt alternatywny, Poznań 2005. 8
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sein, die das Projekt durchführte.13 Mein Interesse an der genannten Problematik, angeregt durch Bernd Schünemann, erwies sich als sehr fruchtbar, umso mehr, als das Thema auch von vielen weiteren Personen in Polen aufgegriffen wurde. Sie wurde zum Schwerpunkt der deutsch-polnischen Konferenz „Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen“, die vom 6.–9. April 2006 in Poznań u.a. unter der Teilnahme von Bernd Schünemann veranstaltet wurde. Die Konferenz wurde durch das Internationale Büro des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und die AdamMickiewicz-Universität in Poznań unterstützt. Die Sammelbände zu dieser Konferenz wurden sowohl in Deutschland14 als auch in Polen15 herausgegeben. Des Weiteren realisierte ich in den Jahren 2008–2010 in Polen ein Forschungsprojekt: „Europäische EU-Strafpolitik aus der Perspektive des polnischen Strafrechtes“, das durch das polnische Ministerium für Wissenschaft und Hochschulwesen unterstützt wurde. Das Ergebnis dieses Projektes waren zwei gesamtpolnische wissenschaftliche Konferenzen zu dieser Problematik (8.–9. Januar 2009 in Poznań und 14.–15. Januar 2010 auch in Poznań) sowie zwei umfangreiche themenbezogene Buchveröffentlichungen.16 Für alle diese Inspirationen möchte ich Bernd Schünemann meinen herzlichen Dank aussprechen. Als Gegenleistung möchte ich meine Gedanken über ein Problem mitteilen, das derzeit mein Interesse beansprucht, obwohl es diesmal nicht auf Anregung von Bernd Schünemann geschah. Es geht um das Zusammentreffen verschiedener Arten von Verantwortlichkeit wegen derselben Tat und den jeweils mit den Verantwortlichkeiten verknüpften Sanktionen. Problematisch sind vor allem jene Fälle, in denen strafrechtliche Verantwortlichkeit mit Sanktionen zusammentrifft, die ebenfalls repressiven Charakter haben. Im polnischen Recht weisen folgende Verantwortlichkeiten einen solchen Charakter auf: Verantwortlichkeit wegen Übertretungen,17 Verantwortlichkeit wegen Finanzstraftaten und -übertretungen,18 sog. ver-
13 Die Ergebnisse der Durchführung dieses Projektes wurden in der folgenden Publikation veröffentlicht: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege (A Programme for European Criminal Justice), 2006. 14 Joerden/Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007. 15 Szwarc/Joerden (red. nauk.), Europeizacja prawa karnego w Polsce i w Niemczech – podstawy konstytucyjnoprawne, Poznań 2007. 16 Szwarc (red. nauk.), Unijna polityka karna, Poznań 2009 und Szwarc/Piskorski (red. nauk.), Unijna polityka karna w świetle polskiego prawa, Poznań 2010. 17 Gesetz v. 20.5.1971 – Übertretungsgesetzbuch (GBl. v. 2010. Nr. 46, Pos. 275 mit Änderungen) und Gesetz v. 24.8.2001 – Übertretungsverfahrensgesetz (GBl. v. 2008, Nr. 133, Pos. 848 mit Änderungen). 18 Gesetz v. 10.9.1999 – Finanzstrafgesetzbuch (GBl. v. 2007 Nr. 111, Pos. 765 mit Änderungen).
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waltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit,19 verwaltungssteuerliche Verantwortlichkeit,20 Disziplinarverantwortlichkeit,21 Berufsverantwortlichkeit 22 oder die arbeitsrechtliche Verantwortlichkeit.23 Mit diesen oder anderen Verantwortlichkeiten treffen manchmal außerdem auch weitere repressive Rechtsfolgen zusammen, die keine Vollstreckung der Verantwortlichkeit im engen Sinne darstellen, z.B. – aufgrund der Bestrafung – ein Verbot der Ausübung von bestimmten Funktionen oder Stellungen oder das Verbot der Ausübung von Tätigkeiten bestimmter Art. Die Bedeutung des geschilderten Problems wird dadurch verstärkt, dass außer der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auch bei anderen Arten der Verantwortlichkeit sehr harte Sanktionen vorgesehen sind, manchmal sogar solche, die den in der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorgesehenen Maßnahmen ähnlich oder gleich sind. Bei der Analyse der Verfassungsmäßigkeit des Zusammentreffens von verschiedenen Arten der Verantwortlichkeit wegen derselben Tat gibt es Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Bedeutung der Formulierung „strafrechtliche Verantwortlichkeit“ (poln. „odpowiedzialność karna“), die in Art. 42 der polnischen Verfassung vorkommt. Davon hängt nämlich ab, ob die aus den Art. 2 und 5 der Verfassung abgeleiteten Regeln ne bis in idem und res iudicata sich nur auf die Vollstreckung der Verantwortlichkeit aufgrund der Erfüllung der Tatbestandmerkmale der Straftat oder auf die breiter verstandene „strafrechtliche Verantwortlichkeit“ beziehen, ob also auch andere Arten der Repressionsverantwortlichkeit umfasst sind. Die Auffassungen über die Behandlung der Fälle, in denen verschiedene Arten der Verantwortlichkeit und der mit ihnen einhergehenden Sanktionen zusammentreffen, sind im polnischen Rechtsschrifttum geteilt. Es herrscht aber die Meinung vor, dass das Zusammentreffen der verschiedenen Arten der Verantwortlichkeit wegen derselben Tat in jedem Fall möglich ist. In der
19 Die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe im Verwaltungsverfahren war bzw. ist z.B. aufgrund von Umweltverschmutzung vorgesehen. 20 Z.B. in Art. 30 Abs. 1 Punkt 7 des Einkommenssteuergesetzes v. 26.7.1991 (GBl. von 1991, Nr. 80, Pos. 350 mit Änderungen) ist eine Pauschaleinkommensteuer auf nicht deklarierte Einkommen oder auf Einkommen, die keine Abbildung in den offengelegten Quellen finden, einzuziehen, unabhängig von der damit verbundenen steuerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit, die in Art. 54 des Gesetzes v. 10.9.1999 – Finanzstrafgesetzbuch (GBl. v. 2007 Nr. 111, Pos. 765 mit Änderungen) vorgesehen ist. 21 Aufgrund der gesetzlichen Regelungen unterliegen verschiedene Gruppen von Personen der Disziplinarverantwortlichkeit. Als Disziplinarverantwortlichkeit gelten aufgrund ihres Charakters auch verschiedene Arten der Verantwortlichkeit, die mit anderen Namen bezeichnet werden, z.B. „Organisationsverantwortlichkeit“, „Verbandsverantwortlichkeit“, „Parteiverantwortlichkeit“ oder „Ordnungsverantwortlichkeit“. 22 Die durch Gesetz regulierte Berufsverantwortlichkeit betrifft z.B. folgende Berufe: Ärzte, Tierärzte, Krankenschwestern, Apotheker sowie weitere Facharbeiterberufe im Gesundheitswesen, z.B. Arzthelfer oder Rettungsassistenten. 23 Gesetz v. 26.6.1974 – Arbeitsgesetz (GBl. v. 1998, Nr. 21, Pos. 94 mit Änderungen).
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Überzeugung, dass die Diskussion zu diesem Thema noch nicht beendet ist, erscheint es mir jedoch sinnvoll, zwei Probleme zu unterscheiden: erstens das oben genannte Problem der Verfassungsmäßigkeit des Zusammenfallens mehrerer Arten von Verantwortlichkeit; zweitens das Problem des Zusammentreffens von Sanktionen, die aufgrund von verschiedenen Arten der Verantwortlichkeit wegen derselben Tat verhängt werden, vor allem wenn es sich um Repressionssanktionen handelt, die manchmal sogar den strafrechtlichen Sanktionen ähnlich oder gleich sind. Es wird zunächst verallgemeinernd vertreten, dass das Zusammentreffen verschiedener Arten der Verantwortlichkeit wegen derselben Tat nicht ausgeschlossen werden soll, auch wenn sie einen repressiven Charakter aufweisen. Bei der Bewertung der Verfassungsmäßigkeit soll jedoch berücksichtigt werden, ob die Funktion und der Zweck der Vollstreckung identisch oder unterschiedlich sind und ob die mit der Vollstreckung der einzelnen Arten der Verantwortlichkeit geschützten Rechtsgüter und Interessen identisch oder unterschiedlich sind. Es kann sogar für wünschenswert gehalten werden, wegen der begangenen Tat gegen den Täter verschiedene Maßnahmen anzuwenden (als differenzierte Formen der Reaktion), z.B. Maßnahmen, die unmittelbar mit dem Funktionieren des Täters in einem bestimmten Milieu zusammenhängen, in dem die Tat begangen wurde, wenn aufgrund einer anderen zusammentreffenden Art der Verantwortlichkeit eine solche Reaktion (Maßnahme) nicht vorgesehen ist. Ein anderes Problem bildet dagegen die Frage der Verhängung derselben oder ähnlicher Maßnahmen aufgrund des zulässigen Zusammentreffens von verschiedenen Arten der Verantwortlichkeit, d.h. solche, die dieselbe Funktion erfüllen, vor allem bei Maßnahmen mit repressivem Charakter. Unter den verschiedenen Arten der mit der Disziplinarverantwortlichkeit einhergehenden Sanktionen gibt es z.B. solche, die mit Strafen, Strafmaßnahmen (die sog. Strafmaßnahmen – poln. „środki karne“ – erfüllen im polnischen Strafrecht die Funktion der Maßnahmen, die in Rechtssystemen von anderen Ländern als Nebenstrafen bezeichnet werden) bzw. anderen im polnischen Strafrecht oder im polnischen Übertretungsrecht vorgesehenen Maßnahmen vergleichbar sind. Ein Beispiel hierfür ist eine Finanzstrafe, die sehr oft in Disziplinarvorschriften vorgesehen ist und eindeutig einer Geldstrafe oder einer im polnischen Strafrecht als sog. Strafmaßnahme vorgesehenen Geldleistung ähnlich ist. Mit Strafmaßnahmen oder anderen im Straf- oder Übertretungsrecht vorgesehenen Maßnahmen werden auch folgende Disziplinarsanktionen verglichen: Entfernung aus dem Dienst, Berufsverbot, Aussetzung der Berufsausübung oder der Ausführung einer bestimmten Tätigkeit, Verbot der Teilnahme an bestimmten Tätigkeiten, Aberkennung einer Funktion bzw. Stellung, Verbot des Aufenthalts an bestimmten Orten, die Verpflichtung zur Schadenswiedergutmachung oder zur Leistung von Schmerzensgeld oder – im Sport – Disqualifikation eines Berufssportlers, d.h. Verbot der Teilnahme an sportlichen Wettbewerben.
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Hierbei handelt es sich um Sanktionen, die den im Strafrecht vorgesehenen Strafmaßnahmen wie dem Berufsverbot oder dem Verbot der Ausführung bestimmter Tätigkeiten vergleichbar sind. Hier besteht die Gefahr, dass der Täter im Falle der Kumulation von Verantwortlichkeiten einer übermäßigen Repressivität ausgesetzt ist, sodass die Strafe als unverhältnismäßig und nicht mehr als angemessene Reaktion auf die Tat erscheint. Der Eindruck der übermäßigen Repressivität kann noch dadurch verstärkt werden, dass eine andere als die strafrechtliche Verantwortlichkeit – z.B. die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit – Sanktionen nach sich zieht, die härter sind als diejenigen, die das Strafrecht vorsieht. Eine Tat, die zugleich Straftat und Disziplinardelikt ist, kann disziplinarrechtlich eine einschneidendere Repressionsmaßnahme zur Folge haben als die strafrechtliche, obgleich es theoretisch umgekehrt sein sollte. Ein Beispiel dafür ist die im Sport vorgesehene lebenslange Disqualifikation des Berufssportlers, die im Grunde genommen ein lebenslanges Berufsverbot ist, wohingegen gemäß Art. 39 Punkt 2 in Verbindung mit Art. 43 § 1 polStGB, also wegen viel strafwürdigerer Handlungen (die Straftaten sind), die Strafmaßnahme des Berufsverbots oder des Verbots der Ausführung einer bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeit nur für maximal zehn Jahre verhängt werden kann. Eine profunde Auseinandersetzung mit dem Problem der zuweilen übermäßigen Repressivität, die durch das Zusammentreffen von verschiedenen Arten der Verantwortlichkeit und (in der Konsequenz) durch das Zusammentreffen ähnlicher oder derselben Repressionsmaßnahmen entsteht, ist wünschenswert – besonders wenn durch diese Sanktionen in Bürgerrechte eingegriffen wird. Zumindest einige der oben erwähnten Sanktionen weisen einen solchen Charakter auf.24 Derartige Fälle lassen Zweifel entstehen, ob eine solche Kumulation der Verantwortlichkeiten und der Sanktionen in Einklang gebracht werden können bzw. ob sie einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Verbot der übermäßigen Repressivität darstellt, das in einem demokratischen Land aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleitet wird (Art. 31 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 der polnischen Verfassung).25 Es stellt sich mithin die gewichtige Frage, ob im Falle der grundsätzlichen Akzeptanz des Zusammmentreffens verschiedener Verantwortlichkeiten rechtliche Instrumentarien zur Vorbeugung einer übermäßigen Repressivität vorhanden sind. Weiterhin bedürfen jene Instrumente, die bereits in rechtlichen Regulationen vorgesehen sind, der Überprüfung, ob sie ausreichend sind oder ob de lege ferenda 24 Vgl. z.B. Jóźwiak in: ders./Opaliński (red. nauk.), Węzłowe problemy prawa dyscyplinarnego w służbach mundurowych, Piła 2012, S. 33; ders. in: ders./Majchrowicz (red. nauk.), Odpowiedzialność dyscyplinarna w Policji, Piła 2011, S. 17 ff. 25 Vgl. Nita Postępowanie karne przeciwko podmiotom zbiorowym, Gdańsk 2008, S. 378.
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entsprechende Lösungen zu formulieren sind. Nachfolgend sollen – beispielhaft – Regelungen aus dem polnischen Recht aufgezeigt werden, die bereits eine solche Funktion erfüllen. Einige greifen bereits in der Phase der Einleitung des Verfahrens ein, andere noch in der Phase der Urteilsfindung. Im Strafverfahren erfüllt Art. 18 § 2 polStGB diese Funktion, der folgendermaßen lautet: „Sieht das Gericht oder der Staatsanwalt die Tat als Disziplinardelikt oder Verletzung von Dienstpflichten oder von Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens an, kann die Sache unter Ablehnung der Einleitung des Verfahrens oder dessen Einstellung, insbesondere wegen geringfügiger Sozialschädlichkeit der Tat, an ein anderes zuständiges Organ übergeben werden.“ Im Verfahren, das wegen einer Übertretung eingeleitet wird, wird eine ähnliche Funktion durch Art. 61 § 1 Punkt 2 des polnischen Verfahrensgesetzbuches in Übertretungssachen26 erfüllt, der bestimmt, dass die Ablehnung der Einleitung des Verfahrens möglich ist und das eingeleitete Verfahren eingestellt werden kann, auch im Falle, wenn: (…) 2) gegen den Täter (…) eine Maßnahme verhängt wurde, die in den Vorschriften über Disziplinar- oder Ordnungsverantwortlichkeit vorgesehen ist und diese Maßnahme eine ausreichende Reaktion auf die Übertretung ist. Es gibt ferner Instrumente, die der übermäßigen Repressivität in späteren Phasen des Verfahrens vorbeugen, d.h. in der Phase der Vollstreckung. Zum Beispiel bestimmt im Falle einer Übertretung Art. 41 des polnischen Übertretungsgesetzbuches: „In Bezug auf den Täter kann es bei einer Belehrung, einem Verweis, einer Ermahnung oder der Anwendung anderer Erziehungsmaßnahmen bleiben“, was besonders in dem Falle begründet werden kann, wenn wegen einer solchen Tat Maßnahmen angeordnet und vor allem bereits vollstreckt worden sind, die aufgrund einer anderen Art der Verantwortlichkeit vorgesehen sind. In der Phase der Vollstreckung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gibt es, wenn die Tat eine Straftat ist, im Falle des Zusammentreffens mit einer anderen Art der Verantwortlichkeit in Art. 53 § 2 polStGB ein Instrument zur Milderung der Repressivität, das auf die vom Gericht bei der Verhängung der Strafe bzw. der Strafmaßnahme zu berücksichtigenden Umstände hinweist (Art. 56 polStGB in Verbindung mit Art. 53 § 2 polStGB).27 Die in Art. 53 § 2 polStGB verwendete Formulierung „insbesondere wenn“ (poln. „w szczególności“) hat zur Folge, dass das Gericht bei der Verhängung einer Strafe oder einer Strafmaßnahme auch andere Umstände berücksichtigen
26
GBl. v. 2008, Nr. 133, Pos. 848 mit Änderungen. Als Ergänzung soll bemerkt werden, dass in Bezug auf die Berufsverantwortlichkeit der Ärzte festgestellt wurde, dass eine Disziplinarstrafe eine Genugtuung des Gerechtigkeitssinnes in einer anderen Form ist (Art. 53 § 2 polStGB); vgl. Krześ in: Filar/Krześ/ Marszałkowska (red. nauk.), Odpowiedzialność lekarzy i zakładów opieki zdrowotnej, Warszawa 2004, S. 285. 27
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kann als solche, auf die in dieser Vorschrift expressis verbis28 hingewiesen wurde, z.B. die Art und der Grad der Repressivität einer Sanktion, die bereits zuvor wegen derselben Tat aufgrund einer anderen Art der Verantwortlichkeit als der strafrechtlichen verhängt worden ist (z.B. aufgrund der Disziplinarverantwortlichkeit). Man ist sich darüber einig, dass eine das Maß der Notwendigkeit überschreitende Strafe unzulässig ist. Eine solche Sanktion wäre entbehrlich, d.h. eine übermäßig einschneidende, durch die Notwendigkeit der Situation nicht begründete Sanktion.29 Ein ähnliches Instrument im Bereich der Verantwortlichkeit wegen Übertretungen bietet Art. 33 des polnischen Übertretungsgesetzbuches. Ein weiteres strafrechtliches Instrument zur Milderung der übermäßigen Repressivität ist die außerordentliche Strafmilderung, die in Art. 60 § 2 polStGB vorgesehen ist. Die Vorschrift lautet wie folgt: „Die außerordentliche Strafmilderung kann auch in besonders begründeten Fällen zur Anwendung gebracht werden, in denen sogar die niedrigste für die entsprechende Straftat vorgesehene Strafe unangemessen streng wäre.“ Hervorzuheben ist, dass durch die Formulierung „insbesondere wenn“ derartige Fälle in dieser Vorschrift nur beispielhaft und nicht erschöpfend benannt wurden. Die Strafe kann als „unangemessen streng“ anerkannt werden, wenn z.B. wegen derselben Tat bereits eine repressive Sanktion, etwa eine Disziplinarsanktion, verhängt wurde. Im Bereich der Verantwortlichkeit wegen einer Übertretung lässt Art. 39 des polnischen Übertretungsgesetzbuches die Möglichkeit der Anwendung der außerordentlichen Strafmilderung oder des Absehens von der Verhängung einer Strafe bzw. einer Strafmaßnahme in Fällen zu, die eine besondere Berücksichtigung verdienen, d.h. unter Berücksichtigung des Charakters und der Umstände der Tatbegehung oder der Eigenschaften und der persönlichen Lebensumstände des Täters. Im Falle des Zusammentreffens der strafrechtlichen Verantwortlichkeit mit anderen Arten der Verantwortlichkeit entsteht auch die Frage nach einem Absehen von der Strafe, die aufgrund der Strafverantwortlichkeit vorgesehen ist. Dies ist in Art. 59 polStGB verankert. Diese Vorschrift erfasst zwar zunächst nur Fälle, die in besonders geringem Maße sozialschädlich sind und daher die Anordnung einer Strafmaßnahme angezeigt ist, die dem Rechnung trägt. Es wird jedoch diskutiert, ob wegen dieser Vorschrift eine solche Möglichkeit auch in Fällen bestehen soll, in denen eine vergleichbare Maßnahme bereits aufgrund einer anderen Verantwortlichkeit wegen derselben Tat verhängt und vollstreckt worden ist. Bei einer Übertretung, die gleichzeitig die Tatbestandmerkmale einer Straftat erfüllt, ist die Milderung der Repressivität in Art. 10 § 1 des polni-
28 29
Vgl. z.B. Marek Kodeks karny. Komentarz, Warszawa 2010, S. 181. Pohl Prawo karne. Wykład części ogólnej, Warszawa 2012, S. 486.
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schen Übertretungsgesetzbuches30 vorgesehen. Wenn dagegen die Tat eine Finanzstraftat oder eine Finanzübertretung ist und gleichzeitig Tatbestandsmerkmale einer Straftat oder einer Übertretung vorliegen, die in Strafvorschriften eines anderen Gesetzes bestimmt sind, ist eine entsprechende Milderung in Art. 8 des Finanzstrafgesetzbuches31 vorgesehen. Sowohl im Strafrecht als auch im Übertretungsrecht gibt es weitere Möglichkeiten zur Milderung der Repressivität, z.B. die bedingte Einstellung des Strafverfahrens (Art. 66 ff. polStGB), die bedingte Aussetzung der Strafe zur Bewährung (Art. 69 ff. polStGB und Art. 42 ff. des polnischen Übertretungsgesetzbuches). Die Möglichkeit der Ersetzung der Strafverantwortlichkeit durch eine mit ihr zusammentreffende Disziplinarverantwortlichkeit gibt es im polnischen Strafgesetzbuch an folgenden Stellen: Art. 321 (im Falle eines Soldaten, der eine im Militärischen Teil des Strafgesetzbuches bestimmte Straftat nach dem Erreichen des 17. Lebensjahres, aber vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres begeht), Art. 331 (hier kann beim Soldaten für eine im Militärischen Teil des Strafgesetzbuches bestimmte Straftat von der Verhängung der Strafe abgesehen werden und die Strafe kann durch eine in militärischen Disziplinarvorschriften vorgesehene Disziplinarsanktion ersetzt werden), Art. 333 § 1 (im Falle eines Soldaten besteht die Möglichkeit der bedingten Einstellung des Strafverfahrens und das Ersuchen an den zuständigen Befehlshaber um die Verhängung einer in militärischen Disziplinarvorschriften vorgesehenen Strafe). Im Falle einer früheren rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Disziplinarverantwortlichkeit kann, wenn ihre Modifikation schon ausgeschlossen ist, oder im Falle der durchgeführten Vollstreckung der verhängten Diszipli-
30 „Weist die eine Übertretung darstellende Tat zugleich die Merkmale einer Straftat auf und wurden Strafen oder Strafmaßnahmen für die Übertretung und die Straftat verhängt, so wird die für die Übertretung verhängte Strafe oder Strafmaßnahme nicht vollstreckt und wenn sie bereits vollstreckt worden ist, wird sie auf die für die Straftat verhängten Strafen und Maßnahmen angerechnet.“ 31 „Erfüllt eine Tat, die eine Finanzstraftat oder eine Finanzübertretung ist, zugleich die Tatbestandsmerkmale einer in Strafvorschriften eines anderen Gesetzes bezeichneten Straftat oder Übertretung, wird jede dieser Vorschriften angewandt.“ § 2: „Der Strafvollstreckung unterliegt nur die schwerste Strafe; dies schließt die Vollstreckung von Strafmaßnahmen oder von anderen Maßnahmen nicht aus, die nach allen zusammentreffenden Vorschriften angewandt werden. Strafmaßnahmen, Sicherungsmaßnahmen und Aufsicht sind auch dann anzuwenden, wenn sie nur nach einer der zusammentreffenden Vorschriften anzuwenden wären; werden Verbote derselben Art oder die Aberkennung öffentlicher Rechte nach zusammentreffenden Vorschriften angewandt, wendet das Gericht die Vorschriften über die Gesamtstrafe entsprechend an.“ § 3: „Ist neben der schwersten Strafe, die der Vollstreckung unterliegt, auch eine Geldstrafe verhängt worden, wird auch diese Strafe vollstreckt; sind neben der schwersten Strafe mehrere Geldstrafen verhängt worden, wird nur die schwerste Geldstrafe vollstreckt.“
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narsanktion, die Anpassung des erwünschten Grades der Repressivität der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach dem Erlass des Urteils durch das Strafgericht, aber bevor es Rechtskraft erlangt, auch im Rechtsmittelverfahren als Ergebnis einer in der Appellation geltend gemachten Rüge über eine krasse Unverhältnismäßigkeit der Strafe oder einer anderen Maßnahme, realisiert werden (Art. 438 Punkt 4 des polnischen Strafverfahrensgesetzbuches). Entsprechende Möglichkeiten zur Milderung der Repressivität besitzen auch andere Organe neben der Rechtsprechung. Als Beispiel sei Art. 132 Abs. 4 des polnischen Polizeigesetzes aufgeführt, der bestimmt, dass „im Falle einer Tat, die ein Disziplinardelikt darstellt und gleichzeitig die Tatbestandsmerkmale einer Übertretung erfüllt, in einem minder schweren Fall oder im Fall der Verhängung einer Geldstrafe, der Vorgesetzte ein Disziplinarverfahren nicht einleiten oder ein bereits eingeleitetes Verfahren einstellen kann.“ Es wird vertreten, dass – nach dem Gedanken der Rechtsanalogie (analogia iuris) – die oben erwähnten Regelungen des Strafrechts und des Übertretungsrechts mit dem Ziel der Milderung der übermäßigen Repressivität entsprechend auch in Verfahren zur Anwendung gebracht werden können bzw. sollen, die aufgrund einer anderen Art der Verantwortlichkeit durchgeführt werden, auch wenn solche Instrumente nicht explizit vorgesehen sind (wie der oben erwähnte Art. 132 Abs. 4 des polnischen Polizeigesetzes). Obwohl solche Regelungen, z.B. Disziplinarvorschriften, keine entsprechende Anwendung in den Disziplinarverfahren des Strafrechts finden, wird im Rechtsschrifttum davon ausgegangen, dass die Bestimmungen des oben erwähnten Art. 53 polStGB auch bei der Verhängung von Disziplinarsanktionen berücksichtigt werden müssen.32 Insgesamt ist es wünschenswert, die Überlegungen zur Zweckmäßigkeit der Sanktionen auch auf das Disziplinarverfahren zu übertragen, sodass Disziplinarsanktionen auch davon abhängig gemacht werden können, ob der Zweck der Verantwortlichkeit in vollem Umfang oder zumindest teilweise schon durch eine früher sanktionierte strafrechtliche Verantwortlichkeit erreicht wurde.33 Im Falle der Verhängung mehrerer Sanktionen aufgrund derselben Tat könnte etwa eine Regelung Anwendung finden, die bestimmt, dass nur die höhere Sanktion zu vollstrecken sei. Die in diesem Beitrag aufgezeigten Möglichkeiten zur Milderung der Repressivität sind nicht abschließend. Es müssen vielmehr weitere Maßnahmen erwogen werden, um eine höhere Flexibilität in Fällen zu schaffen, in
32 Vgl. Kozielewicz Odpowiedzialność dyscyplinarna sędziów, prokuratorów, adwokatów, radców prawnych i notariuszy, Warszawa 2012, S. 53 f. 33 Korczyński in: Jóźwiak/Majchrowicz (red. nauk.), Odpowiedzialność dyscyplinarna w Policji, Piła 2011, S. 59.
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denen mehrere Verantwortlichkeiten aufeinandertreffen. Sofern die vorhandenen Regelungen – in direkter oder entsprechender Anwendung – sich als nicht ausreichend zur Regelung der vorhandenen Sachverhalte erweisen, müssen de lege ferenda weitere Lösungen gesucht und formuliert werden.
Die Volksrepublik China auf dem Weg zu einem rechtsstaatlichen Strafverfahren Thomas Weigend Der Jubilar, dem diese Zeilen als Zeichen der Hochachtung und der herzlichen Verbundenheit zu seinem 70. Geburtstag gewidmet sind, ist auf der ganzen Welt als führender Repräsentant des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts anerkannt. In der Volksrepublik China gehört er zu den ganz wenigen „very famous professors“ aus dem Ausland, deren Name stets mit einer figurativen tiefen Verbeugung genannt wird – er ist ein begehrter Dozent und Redner an den berühmtesten Universitäten des Landes, und sein Wort hat in China großes Gewicht. Es ist deshalb vielleicht nicht verfehlt, Bernd Schünemann zu seinem Ehrentag eine Vignette zum chinesischen Strafverfahrensrecht zu präsentieren. Ihr Gegenstand sind einige Aspekte des Criminal Procedure Law of the People’s Republic of China (im Folgenden als „chin. StPO“ zitiert), das zum 1. Januar 2013 in einer revidierten und erweiterten Fassung in Kraft getreten ist.1 Der affirmativ klingende Titel dieses Beitrags ist mindestens auch als Frage zu verstehen. Es geht um die Frage, in welchem Maße die Veränderungen, zu denen sich der chinesische Gesetzgeber im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte entschlossen hat, das chinesische Strafverfahren tatsächlich in die Nähe dessen bringen, was wir – Deutsche und Europäer – als rechtsstaatliches Strafverfahren verstehen. Diese Untersuchung steht unter einer Reihe von gravierenden Vorbehalten. Zum ersten fingiere ich als unangefochten die Idee eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, wie es in Deutschland verstanden wird, charakterisiert durch das Leitbild des in Verdacht geratenen Bürgers, dessen Unschuld vermutet wird und dessen Menschenwürde nicht angetastet werden darf.2 Dabei bin ich mir dessen bewusst, dass auch das gelebte deutsche Strafverfahrensrecht diesem Ideal durchaus nicht immer gerecht wird – wie gerade Bernd Schünemann hervorzuheben nicht müde wird, etwa im Zusammenhang mit den Verfahrensabspra-
1 Die Neufassung ist in englischer Sprache im Internet unter http://www.ceolaws.net/ html/criminal/Criminal Procedure Law of the Peoples Republic of .html [letzter Abruf: 21. 3. 2013] zugänglich. 2 Zusammenfassend zum Strafverfahren im Rechtsstaat Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 2 Rn. 4–10.
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chen.3 Zweitens kann ich von den zahlreichen interessanten Aspekten des neuen chinesischen Strafverfahrensrechts hier nur auf einige wenige – nach persönlichem Interesse ausgewählte – eingehen. Und drittens können meine Bemerkungen schon deshalb nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, weil ich meine Überlegungen nur auf wenige englischsprachige Quellen stützen kann; aufgrund fehlender Sprachkenntnis ist mir nicht nur der Originaltext der chin. StPO unzugänglich, sondern auch die umfangreiche chinesischsprachige Fachdiskussion zu den Reformen von 2012 sowie die bedeutsamen Richtlinien und Grundsatzentscheidungen, die die Generalstaatsanwaltschaft, das Sicherheitsministerium und der Oberste Gerichtshof jeweils zur Interpretation und Anwendung der neuen Vorschriften erlassen haben.4
I. Entwicklung und Grundlagen Es dauerte nach den Wirren der chinesischen Revolution und der Kulturrevolution bis 1979, dass in der Volksrepublik China – unter Einfluss des sowjetischen Rechts – ein umfassendes Strafprozessgesetz erlassen wurde.5 Eine reformierte und erweiterte Fassung dieses Gesetzes, in der das Recht auf Verteidigung ausgebaut6 und für die Hauptverhandlung Elemente des Parteiverfahrens eingeführt wurden,7 trat 1996 in Kraft.8 Im Jahre 2011 wurde dann der Entwurf einer erneut erweiterten und novellierten Fassung der chin. StPO publiziert und in der Fachöffentlichkeit eingehend diskutiert.9 Auf
3 Siehe etwa Schünemann ZStW 114 (2002), 1; ders. ZStW 119 (2007), 945; ders. (Hrsg.) Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, 2010; ders. FS Wolter, 2013, S. 1107. 4 Siehe Sheng Zhang Chinese Journal of Comparative Law 2013, 1, 25. 5 Zu diesem Gesetz und zur weiteren Entwicklung des Strafverfahrensrechts unter seiner Geltung siehe Heuser in: Heuser/Weigend (Hrsg.), Das Strafprozeßgesetz der Volksrepublik China in vergleichender Perspektive, 1997, S. 11, 16 ff. 6 Siehe Mou Luye Peking University Law Journal (= PULJ) 2013, 460, 461. 7 Nach § 157 chin. StPO 1996 werden die Sachbeweise in der Hauptverhandlung von Ankläger und Verteidiger präsentiert, und nach § 160 chin. StPO 1996 findet auch die Erörterung streitiger Fragen durch die Parteien vor Gericht statt. Allerdings müssen nach § 43 chin. StPO 1996 die Richter die Beweismittel für Schuld oder Unschuld des Verdächtigen oder Angeklagten sammeln, und nach § 158 Abs. 2 chin. StPO 1996 hat das Gericht die Befugnis, Maßnahmen zur „Überprüfung“ von Beweismitteln vorzunehmen. Zu dieser unklaren Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Gericht und Parteien siehe auch Weigend in: Heuser/Weigend (Hrsg.), Das Strafprozeßgesetz der Volksrepublik China in vergleichender Perspektive, 1997, S. 39, 60. 8 Die chin. StPO von 1996 ist in deutscher Übersetzung veröffentlicht in Heuser/Weigend (Fn. 5), S. 66. 9 Auf der Website des Nationalen Volkskongresses sollen innerhalb eines Monats 72.815 Stellungnahmen zu dem Entwurf eingegangen sein; Sheng Zhang Chinese Journal of Comparative Law 2013, 1, 25.
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dieser Grundlage verabschiedete der Nationalen Volkskongress am 14. März 2012 eine neu gefasste Strafprozessordnung. Ein Motiv für die Revision der chin. StPO war das Bestreben, den Schutz der Menschenrechte im Strafverfahren auszubauen. Nachdem die Achtung und der Schutz der Menschenrechte schon im Jahre 2004 in Art. 33 der chinesischen Verfassung aufgenommen worden war, wurde auch die lange Liste der Ziele des Strafverfahrens in Art. 2 chin. StPO im Jahre 2012 um den Schutz der Menschenrechte erweitert.10 Diese Neuerung dürfte allerdings mehr eine verbale Konzession an den politischen Zeitgeist als eine echte „human rights revolution“ sein, denn schon in der Fassung der chin. StPO von 1996 war der Schutz der „persönlichen, vermögensrechtlichen, demokratischen und sonstigen Rechte der Bürger“ als ein Ziel des Gesetzes verankert. Gegenüber der chin. StPO von 1996 unverändert geblieben ist auch die Verpflichtung von Richtern, Staatsanwälten und Polizeibeamten, Beweismittel für die Schuld oder Unschuld des Beschuldigten zu sammeln, also von Amts wegen die Wahrheitsermittlung ohne einseitige Festlegung zu betreiben.11 Die in China lang umkämpfte Unschuldsvermutung wurde in einer stark formalisierten Fassung bereits in Art. 12 der chin. StPO 1996 normiert und wurde durch die Revision des Gesetzes ebenfalls nicht angetastet. Nach Art. 12 chin. StPO darf niemand für schuldig befunden werden, ohne dass er durch ein Volksgericht in Übereinstimmung mit dem Recht schuldig gesprochen wurde. Welche Folgerungen aus dieser einigermaßen tautologischen Formulierung gezogen werden sollen, sagt das Gesetz nicht – die chinesische Version unterscheidet sich darin allerdings nicht von der ebenfalls rein formalen Statuierung der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 EMRK. Insbesondere im anglo-amerikanischen Verständnis wird mit der Unschuldsvermutung häufig der Grundsatz verbunden, dass der Angeklagte nur verurteilt werden darf, wenn ihm seine Schuld ohne vernünftigen Zweifel nachgewiesen worden ist.12 Der neue Art. 49 chin. StPO bestimmt ausdrücklich, dass der öffentliche oder private Ankläger die Beweislast für die Schuld des Angeklagten trägt. Darin liegt gewiss ein Fortschritt.13 Über das für eine Verurteilung notwendige Beweismaß sagt der – ebenfalls neu gefasste – Art. 53 chin. StPO, dass die Beweise für die Schuld des Angeklagten klar und ausreichend („hard and sufficient“) sein müssen. Dies ist nach Absatz 2 die-
10 Art. 2 chin. StPO nennt als Ziele der Gesetzgebung u.a. die genaue und rasche Feststellung der Tatsachen von Straftaten, die Bestrafung von Straftätern sowie die Stärkung des Bewusstseins der Bürger für Rechtsbefolgung und Verbrechensbekämpfung. 11 Art. 50 S. 1 chin. StPO 2012 (übereinstimmend mit § 43 S. 1 chin. StPO 1996). 12 Siehe zum Verhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Zweifelssatz aus deutscher Sicht Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 522 ff. 13 In § 35 chin. StPO 1996 war noch davon die Rede, dass der Verteidiger Materialien und Ansichten vorzubringen habe, die beweisen, dass der Tatverdächtige unschuldig ist.
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ser Vorschrift dann der Fall, wenn alle Tatsachen, die für das Urteil notwendig sind, durch Beweise belegt sind, alle Beweismittel gemäß den gesetzlichen Bestimmungen für wahr erachtet worden sind und alle Tatsachen jenseits vernünftigen Zweifels auf Beweise gestützt sind.14 Der innere Zusammenhang dieser Voraussetzungen erschließt sich zwar nicht leicht, aber es ist erfreulich, dass der Maßstab „beyond a reasonable doubt“ immerhin angesprochen ist; dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass nach dem früheren Recht „ausreichende und verlässliche“ Beweise für eine Verurteilung genügt hatten.15 Von größerer praktischer Bedeutung als die semantischen Abstufungen bei der Beschreibung des Beweismaßes ist die Regelung der Frage, wie sich das (Nicht-)Vorliegen eines Geständnisses auf den Beweis der Schuld des Angeklagten auswirkt. Insofern hält die neue chin. StPO an dem schon bisher gewährten doppelten Schutz des Angeklagten fest: Zum einen darf sein Geständnis nicht die einzige Grundlage für seine Verurteilung sein, sondern es bedarf dafür weiteren Beweises („other evidence“); andererseits kann eine Verurteilung auch ohne Vorliegen eines Geständnisses erfolgen, wenn nur sonst „hard and sufficient evidence“ (wie oben dargelegt) vorhanden ist.16 Die letztgenannte Regelung, die eine Verurteilung auf der Basis von Indizien zulässt, ist für die Praxis von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil sie den Druck auf Vernehmende und Vernommene zur Herbeiführung eines Geständnisses mindert.
II. Vernehmung, Geständnis und Beweisverwertung Trotz dieser Regelung bleibt die traditionelle Fixierung des chinesischen Strafverfahrens auf das Geständnis des Beschuldigten ein neuralgischer Punkt des gesamten Systems. Hier hat der chinesische Gesetzgeber – wohl auch unter dem Eindruck von Fällen, in denen sich Verurteilungen aufgrund erzwungener Geständnisse als Justizirrtümer herausstellten – eine bemerkenswerte Sensibilität gezeigt und praktische Schritte unternommen, um die Gefahr der Folter gegenüber Straftatverdächtigen zu mindern.
14 Nach einer authentischen Auslegung durch den Obersten Gerichtshof soll der strenge Beweismaßstab nicht für prozessuale Umstände und für solche Tatsachen gelten, die nur für die Strafzumessung von Bedeutung sind; Mou Luye PULJ 2013, 460, 475. Außerdem bezieht sich die Anforderung „beyond a reasonable doubt“ nicht auf jede einzelne Tatsache, sondern auf die Gesamtheit des Nachweises der Schuld; siehe Rosenzweig/Sapio/Jiang Jue/Teng Biao/Pils The 2012 Revision of the Criminal Procedure Law: Old Wine in New Bottles (CRJ Occasional Paper), 2012, S. 12 f. 15 Siehe § 46 S. 3 chin. StPO 1996. 16 Art. 53 Abs. 1 chin. StPO 2012, übereinstimmend mit § 46 chin. StPO 1996.
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In theoretischer Hinsicht ist für die Diskussion um die Aussagefreiheit die Frage bestimmend, ob dem Beschuldigten ein Schweigerecht (oder vielleicht sogar ein allgemeines Recht auf Verweigerung aktiver Mitwirkung an seiner Überführung) zugestanden wird. Diese Frage war nach dem früheren chinesischen Recht glatt zu verneinen: Nach § 93 chin. StPO 1996 hatte ein Tatverdächtiger bei einer Vernehmung durch die Polizei „die von den Ermittlern gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten“; er durfte die Auskunft (nur) auf solche Fragen verweigern, die mit dem Fall in keinem Zusammenhang stehen. Demgegenüber setzt Art. 50 S. 2 chin. StPO 2012 einen neuen Akzent. Nach dieser Regelung ist nicht nur die Erzwingung von Geständnissen durch Folter “strikt verboten”, sondern auch das Sammeln von Beweisen durch Drohungen, Verlockungen, Täuschung oder andere illegale Mittel; ebenso ist es verboten, jemanden zur Selbstbezichtigung zu zwingen.17 Man wäre geneigt, die Einführung dieser Vorschrift als einen Triumph des nemo-tenetur-Grundsatzes in China zu feiern18 – wenn nicht der Gesetzgeber gleichzeitig die Auskunftspflicht des früheren Rechts unverändert beibehalten hätte.19 Damit ist eine perplexe Rechtslage geschaffen, deren innerer Widerspruch schwer aufzulösen ist: Der Beschuldigte „muss“ bei seiner Befragung auch selbstbelastende Auskünfte geben, aber er darf dazu nicht durch Folter oder andere willensbeeinträchtigende Mittel gezwungen werden. Das klingt nach einer Auskunftspflicht als lex imperfecta – wenn man nicht annehmen müsste, dass in der Rechtspraxis die Auskunftspflicht eher weit und das Folterverbot eher eng ausgelegt werden.20
17 In englischer Übesetzung lautet die Vorschrift: „It shall be strictly prohibited to extort confessions by torture, gather evidence by threat, enticement, deceit, or other illegal means, or force anyone to commit self-incrimination.“ 18 Nach Mou Luye PULJ 2013, 460, 470 hat der Gesetzgeber mit Art. 50 S. 2 chin. StPO 2012 das „privilege against self-incrimination“ eingeführt. Einem umfassenden Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung widerspricht allerdings schon die Regelung in Art. 135 chin. StPO, wonach jedermann (also wohl auch der Beschuldigte) verpflichtet ist, der Polizei oder Staatsanwaltschaft Gegenstände, Urkunden, Bild-Ton-Aufzeichnungen und andere Beweisstücke auszuhändigen, die die Schuld oder Unschuld des Beschuldigten beweisen können. 19 Die Regelung des früheren § 93 chin. StPO 1996 findet sich jetzt wortgleich in Art. 118 chin. StPO 2012. Hinzugefügt ist dort eine „Zuckerbrot“-Klausel: Art. 118 Abs. 2 chin. StPO 2012 schreibt den Vernehmungsbeamten vor, den Verdächtigen über die gesetzlichen Möglichkeiten milderer Bestrafung im Fall eines wahrheitsgetreuen Geständnisses zu informieren. 20 Ähnlich die Einschätzung bei Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 55 f. Die Autoren weisen darauf hin, dass sich Staatsanwaltschaft und Polizei bei den Reformarbeiten vehement für die Beibehaltung der Auskunftspflicht des Beschuldigten eingesetzt hätten; es handelt sich bei der unveränderten Übernahme dieser Regelung also nicht etwa um ein Versehen des Gesetzgebers. Kritisch zu der Widersprüchlichkeit hinsichtlich des Zwangs zur Selbstbelastung auch Herrmann PULJ 2013, 163, 170.
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Allerdings enthält die neugefasste Strafprozessordnung eine Reihe von Vorschriften, die auf der praktisch-operativen Ebene Folter und Misshandlung bei Vernehmungen entgegenwirken sollen. Dazu gehört etwa die Regel, dass bei einer Beschuldigtenvernehmung zwei Ermittlungsbeamte anwesend sein müssen (Art. 116 chin. StPO). Dies bietet allerdings dann keinen wirksamen Schutz, wenn beide Beamten sich darin einig sind, verbotene Mittel zur Vernehmung einzusetzen. Effektiver wäre die Ton- und/oder Video-Aufzeichnung jeder Vernehmung. Diese ist jedoch als verpflichtend nur für den Fall angeordnet, dass sich die Ermittlungen auf eine Tat beziehen, die mit der Todesstrafe oder lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist oder die sonst ein „significant crime“ darstellt; bei allen anderen Ermittlungen ist die Aufzeichnung der Vernehmung dem Ermessen der Ermittlungsbeamten überlassen (Art. 121 chin. StPO).21 Besonders missbrauchsanfällig sind Beschuldigtenvernehmungen, während derer sich der Betroffene nicht fortbewegen darf. Der neu gefasste Art. 117 chin. StPO 2012 erlaubt es, einen Verdächtigen aufgrund polizeilicher Vorladung für 12 Stunden zur Vernehmung festzuhalten, ohne dass Haftgründe vorliegen. Falls es sich um einen „besonders wichtigen oder komplizierten Fall“ handelt und die Voraussetzungen einer Verhaftung vorliegen, verlängert sich diese Frist auf 24 Stunden. Während dieser Zeit darf der Verdächtige ununterbrochen vernommen werden; allerdings ist ihm die „notwendige“ Zeit zum Essen und zum Ausruhen zu gewähren. Offenbar ist es in der Praxis – entgegen der gesetzlichen Regelung – nicht unüblich, dass die Polizei mehrere solcher Vernehmungsperioden hintereinanderschaltet, was den Geständnisdruck auf den Verdächtigen weiter erhöht.22 Da eine richterliche Kontrolle des Ermittlungsverfahrens im chinesischen Recht generell nicht vorgesehen ist, ist der Beschuldigte den mehr oder weniger dezenten Versuchen, ihn zu einem baldigen Geständnis zu veranlassen, relativ schutzlos ausgesetzt. Bei dieser Rechtslage ist es sicher als wesentlicher Fortschritt zu werten, dass Art. 54 der neu gefassten Strafprozessordnung ausdrücklich den „Ausschluss“ von Geständnissen vorschreibt, die durch Folter oder „andere rechtswidrige Mittel“ erzwungen wurden; dasselbe soll für Aussagen von Verletzten oder Zeugen gelten, die durch Gewalt, Drohungen oder andere rechtswidrige Mittel herbeigeführt wurden.23 Nach 21 Das Gesetz verlangt zwar, dass die gesamte Vernehmung aufzuzeichnen sei; aber bei bösem Willen lassen sich die zur Herbeiführung eines Geständnisses als notwendig empfundenen Maßnahmen natürlich außerhalb des Spektrums der Kamera vornehmen; siehe Mou Luye PULJ 2013, 460, 484. 22 Amnesty international Briefing on China’s 2013 Criminal Procedure Law: In Line with International Standards?, London 2013, S. 14 f. 23 Die englische Fassung des ersten Satzes von Art. 54 chin. StPO lautet: “A confession of a criminal suspect or defendant extorted by torture or obtained by other illegal means and a witness or victim statement obtained by violence, threat, or other illegal means shall be excluded.”
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Absatz 2 derselben Vorschrift bedeutet der „Ausschluss“, dass diese Beweismittel nicht als Grundlage für die Anklage oder das Urteil verwendet werden dürfen. Eingehende Verfahrensregeln sollen sicherstellen, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht genau prüfen, ob bei der Beweisaufnahme unerlaubte Mittel verwendet wurden.24 Dabei kann das Gericht auch die Ermittlungsbeamten der Polizei in die Hauptverhandlung laden, um sie über den Ablauf der Vernehmung zu befragen (Art. 57 Abs. 2 chin. StPO), und es kann sich zum Zweck der Aufklärung über das Geschehen auch in die Haftanstalt begeben, in der der Angeklagte vernommen wurde.25 Die Beweislast für die Rechtmäßigkeit der Beweisaufnahme trifft die Staatsanwaltschaft, und wenn Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Vernehmung verbleiben, darf das Gericht die Aussage nicht verwerten (Art. 57 Abs. 1, 58 chin. StPO).26 Dies alles liest sich als eine geradezu vorbildliche Regelung, die bezüglich der Beweislastverteilung deutlich günstiger für den Angeklagten ist als das, was die deutsche Rechtsprechung für die Situation des Zweifels über das Vorliegen verbotener Vernehmungsmethoden nach § 136a StPO annimmt.27 Dennoch bestehen gewisse Zweifel, ob die Sicherungen, die der chinesische Gesetzgeber geschaffen hat, ausreichen, um die offenbar verbreitete Tendenz zur Anwendung physischer Gewalt gegenüber Verdächtigen bei der Vernehmung nachhaltig zurückzudrängen. Zum einen ist die genaue Reichweite des Verbots des Einsatzes von „other illegal means“ über die Folter hinaus unklar. Dass damit jeder Verstoß gegen – auch bloß formelle – Verfahrensregelungen gemeint ist, dürfte kaum anzunehmen sein,28 da das strikte Beweisverwertungsverbot dafür eine zu scharfe Waffe wäre. Eher könnte man an die für die Zeugenvernehmung in Art. 54 Abs. 1 chin. StPO ausdrücklich verpönten Mittel von Gewalt und Drohung denken – nur dass dort ebenfalls die „other illegal means“ als weitere verbotene Methoden neben Gewalt und Drohung aufgeführt sind.29 Gravierender als diese Unklarheit ist der Umstand, dass sich der Ausschluss des Beweismittels ausdrücklich nur auf das
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Siehe Art. 55–57 chin. StPO. Chen Ruihua PULJ 2013, 316, 331. 26 Nach einer Anweisung des Obersten Gerichtshofs kann das Gericht allerdings die Entscheidung über den Ausschluss eines Beweismittels bis zum Ende der Beweisaufnahme zurückstellen; Mou Luye PULJ 2013, 460, 473. 27 BGHSt 16, 164, 167; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. 2013, § 136a Rn. 32; a.A. (für Anwendung von in dubio pro reo) z.B. Löwe/Rosenberg/Gleß StPO, 26. Aufl. 2007, § 136a Rn. 78; Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 45 Rn. 63. 28 So aber wohl Herrmann PULJ 2013, 163, 166 f. 29 Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs sollen alle Arten von körperlichen Bestrafungen und Schmerzzufügungen – also wohl auch unterhalb der Schwelle zur Folter – verbotene Methoden gemäß Art. 54 chin. StPO sein; Mou Luye PULJ 2013, 460, 471 f. 25
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Geständnis bzw. die Zeugenaussage selbst bezieht. Die Früchte des vergifteten Baumes sind folglich – ebenso wie nach der in Deutschland überwiegenden Auffassung 30 – als Beweismittel verwertbar, was für die Vernehmungsbeamten einen indirekten Anreiz schafft, sich durch Folter oder ähnliche Methoden diejenigen Angaben zu verschaffen, die sie benötigen, um andere Beweismittel zur Überführung des Beschuldigten zu finden.31 Bemerkenswert ist auch, dass der strikte Ausschluss unrechtmäßig erlangter Beweise nur für Aussagen von Beschuldigten und Zeugen gilt – eine Unverwertbarkeit von Sachbeweisen und Urkunden, die nicht nach den gesetzlichen Vorschriften erlangt wurden, sieht dagegen Art. 54 Abs. 1 Satz 2 chin. StPO nur dann vor, wenn der Verstoß nicht geheilt wird und wenn er die Gerechtigkeit ernsthaft beeinträchtigen kann („which may seriously affect justice“). Diese Differenzierung legt die Annahme nahe, dass der Grund für den Ausschluss von Aussagen, die durch Folter und ähnliche Methoden erlangt wurden, nicht in der Schwere des Menschenrechtsverstoßes liegt, sondern hauptsächlich in der mangelnden Glaubhaftigkeit der Aussage. Denn wenn die Verwertung von Urkunden und Sachbeweisen grundsätzlich auch dann möglich ist, wenn bei ihrer Erhebung gravierende Rechtsverstöße begangen wurden, kann dieser Unterschied nur damit erklärt werden, dass Mängel bei der Beweiserhebung hier – anders als bei der Erzwingung von Aussagen – keinen Einfluss auf die Verlässlichkeit des Beweismittels haben. Schließlich stellt sich die Frage, ob die Verwertung eines eigentlich nach Art. 54 chin. StPO gesperrten Beweismittels im erstinstanzlichen Urteil zu dessen Aufhebung führt. Interessanterweise bildet die Verwertung erzwungener Geständnisse zwar keinen zwingenden Grund für die Aufhebung des Urteils im normalen Rechtmitttelverfahren,32 kann aber zur Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens führen, sofern das Urteil auf dem auszuschließenden Beweismittel beruht (Art. 242 Nr. 2 chin. StPO). Insgesamt kann man sagen, dass der chinesische Gesetzgeber mit der Einführung eines Beweisverwertungsverbots ein deutliches Zeichen gegen die Verwertung von durch Folter erlangten Geständnissen gesetzt hat. Erst die Erfahrung mit der neuen Regelung wird aber zeigen, ob die Praxis – insbe-
30 Siehe hierzu Löwe/Rosenberg/Kühne, 26. Aufl. 2006. Einl. L Rn. 105–111; Roxin/ Schünemann (Fn. 2), § 24 Rn. 59 f. m.w.N. 31 Kritisch hierzu auch Amnesty international (Fn. 22), S. 20; Mou Luye PULJ 2013, 460, 473 f.; Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 14 f. 32 Art. 227 chin. StPO zählt einige „absolute“ Aufhebungsgründe auf, wie etwa die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes oder die fehlerhafte Besetzung des Gerichts. Hier ist die Verwertung ausgeschlossener Beweismittel nicht erwähnt. Daraus ist zu schließen, dass das Rechtsmittelgericht auf das Vorliegen eines solchen Verfahrensfehlers flexibel reagieren kann, indem es das Urteil (eventuell nach eigener Beweiserhebung) abändert oder die Sache an die Vorinstanz zurückverweist; vgl. Art. 225 chin. StPO.
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sondere auf der Ebene der Polizei – sie so umfassend rezipiert, dass sich schon im Ermittlungsverfahren eine Kultur der Gewaltlosigkeit und des Respekts vor der Würde auch des Verdächtigen durchsetzt.
III. Verteidigung Bedeutsame Veränderungen hat die Neufassung der Strafprozessordnung auch für das Recht der Verteidigung gebracht. Nach dem Stand von 1996 war dem Angeklagten zwar grundsätzlich ein Recht auf Verteidigung vor Gericht garantiert (§ 11 chin. StPO 1996).33 Die Umsetzung dieses Rechts im Verlauf des Ermittlungsverfahrens war jedoch gesetzestechnisch schwer zu durchschauen: Einerseits durfte der Beschuldigte nach § 33 Abs. 1 chin. StPO 1996 erst dann einen Verteidiger beauftragen, wenn die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen und die Ermittlungsakte an die Staatsanwaltschaft übersandt hatte;34 andererseits gewährte § 96 Abs. 1 chin. StPO 1996 dem Beschuldigten das Recht, nach seiner ersten Vernehmung oder von dem Tage an, an dem eine Zwangsmaßnahme gegen ihn ergriffen wurde, einen Rechtsanwalt zu seiner Rechtsberatung sowie zur Stellung von Anträgen heranzuziehen. Verständlich wird diese scheinbar widersprüchliche Regelung erst dann, wenn man sich die Unterscheidung zwischen „Verteidigern“ und Rechtsanwälten vor Augen führt: Als Verteidiger kamen – und kommen – nach § 32 chin. StPO 1996 außer Rechtsanwälten auch Verwandte und Freunde des Beschuldigten in Frage; vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens durften jedoch nicht solche Personen, sondern nur zugelassene Rechtsanwälte für den Beschuldigten tätig werden. Im neuen Recht wurde die Rechtslage insofern konsolidiert, als die beiden Regelungen in einer einzigen Vorschrift (Art. 33 Abs. 1 chin. StPO 2012) zusammengeführt wurden. Danach hat der Beschuldigte von dem Tag an, an dem er zum ersten Mal durch ein Strafverfolgungsorgan vernommen wird oder an dem eine Zwangsmaßnahme gegen ihn ergriffen wird, das Recht, einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung zu beauftragen. Über dieses Recht hat der vernehmende Beamten den Beschuldigten zu informieren (Art. 33 Abs. 2 chin. StPO). Andere Personen kann der Beschuldigte – wie bisher – erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens als Verteidiger benennen. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage kann der Beschuldigte jetzt 33
Diese Vorschrift ist unverändert in Art. 11 chin. StPO 2012 übernommen worden. Überdies brauchte die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten erst 30 Tage nach Eingang der polizeilichen Ermittlungsakte über sein Recht auf Beauftragung eines Verteidigers zu informieren (§ 33 Abs. 2 chin. StPO 1996). Die Bestellung eines Verteidigers für einen mittellosen Angeklagten war sogar erst nach Erhebung der Anklage möglich und stand selbst dann – außer bei drohender Todesstrafe – im Ermessen des Prozessgerichts (§ 34 Abs. 1, 3 chin. StPO 1996). 34
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aber schon im Ermittlungsverfahren die Gewährung von Legal Aid für die Bezahlung eines Rechtsanwalts beantragen oder – das ist insbesondere bei inhaftierten Beschuldigten wichtig – durch einen Verwandten beantragen lassen (Art. 34 chin. StPO).35 Diese Regelungen bringen einen gewissen Fortschritt auf dem Weg zur Garantie einer effektiven Verteidigung (vgl. Art. 14 Abs. 3 lit. (b) und (d) IPbpR36), aber es bleiben verschiedene Unklarheiten und verdeckte Defizite. Dies betrifft zunächst die Beschränkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren auf Rechtsanwälte. Sie wird offiziell mit der Vertraulichkeit der Ermittlungen begründet;37 im Hintergrund steht jedoch möglicherweise auch die leichtere Kontrollierbarkeit der Rechtsanwälte, die unter dem Damoklesschwert des Entzuges der Zulassung agieren.38 Ambivalent ist die neue Regelung bezüglich des Zeitpunkts, in dem der Beschuldigte sich des Beistands eines Verteidigers bedienen kann: Wenn das Gesetz insoweit von dem Tag der ersten Vernehmung oder Zwangsmaßnahme spricht, so kann dies bedeuten, dass der Beschuldigte den Verteidiger zwar noch am selben Tag, aber eben erst nach seiner Vernehmung beauftragen und konsultieren darf.39 Ein Recht des Verteidigers auf Anwesenheit bei einer polizeilichen Vernehmung40 (auch bei einer späteren Vernehmung) ist jedenfalls an keiner Stelle der chinesischen Strafprozessordnung angesprochen; der Beschuldigte bleibt daher gerade in der kritischen Situation der – unter Umständen sehr lang dauernden – polizeilichen Vernehmung ohne präsenten Rechtsbeistand. Auch bei den rechtlichen Befugnissen des Verteidigers hat die Neuregelung ein paar neue Akzente gesetzt. Zunächst gestattet es der neue Art. 36 chin. StPO dem (als Rechtsanwalt zugelassenen) Verteidiger, schon während des Ermittlungsverfahrens Anträge zugunsten seines Mandanten zu stellen sowie sich über die Vorwürfe gegen den Beschuldigten bei den Ermittlungs35
Mou Luye PULJ 2013, 460, 467 f. Die VR China hat den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. 37 Mou Luye PULJ 2013, 460, 464. 38 Siehe Amnesty international (Fn. 22), S. 13; Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 46, 59 f. 39 So auch Herrmann PULJ 2013, 163, 172. Diese Auslegung entspräche der Regelung des früheren Rechts; in § 96 Abs. 1 chin. StPO 1996 hieß es ausdrücklich, dass der Beschuldigte nach der ersten Vernehmung einen Rechtsanwalt beauftragen darf. 40 Wie dies der EGMR in seiner jüngeren Rechtsprechung bejaht; grundlegend EGMR, Urt. v. 27.11.2008, Salduz ./. Turkey, Appl. no. 36391/02, Rn. 54 f.; noch deutlicher für ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilichen Vernehmungen EGMR, Urt. v. 20. 9. 2012, Titarenko ./. Ukraine, Appl. no. 31720/02, Rn. 87. Diese Entscheidungen sind in Deutschland bisher nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, geschweige denn umgesetzt worden; hier beruft man sich nach wie vor darauf, dass § 163a Abs. 4 StPO nicht auf das Anwesenheitsrecht in § 168c Abs. 1 StPO verweise, und nimmt daher an, dass der Verteidiger bei Ermittlungen durch die Polizei „keinerlei Anwesenheitsrecht“ habe; so Roxin/Schünemann (Fn. 2), § 19 Rn. 65. Zutreffend dagegen Löwe/Rosenberg/Esser, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 607. 36
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behörden zu informieren. Die Möglichkeit des Verteidigers zu eigenen Ermittlungen bleibt jedoch ebenso eingeschränkt wie nach dem früheren Recht: Er darf die Staatsanwaltschaft um bestimmte Ermittlungen ersuchen und das Gericht um die Ladung einzelner Zeugen bitten, hat aber keinen Anspruch darauf, dass diesen Wünschen Rechnung getragen wird. Darüber hinaus darf der Verteidiger Zeugen mit deren Einverständnis befragen; zu Gesprächen mit dem Verletzten oder mit dessen Angehörigen bedarf der Verteidiger aber darüber hinaus noch der Genehmigung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht (Art. 41 chin. StPO). Die Rechtsanwaltschaft hatte bei den Beratungen zur neuen Strafprozessordnung eine Lockerung dieser Restriktion gefordert, war damit aber nicht durchgedrungen.41 Sehr vage und restriktiv ist auch die Möglichkeit des Verteidigers zur Einsicht in die Ermittlungsakten in Art. 38 chin. StPO geregelt. Zunächst gibt es ein Recht auf Einsicht grundsätzlich nicht während der polizeilichen Ermittlungen, sondern erst dann, wenn die Polizei den Fall an die Staatsanwaltschaft zur Entscheidung über die Anklageerhebung abgegeben hat. Außerdem ist unklar, worauf genau sich das Recht des Verteidigers, Akten einzusehen und zu kopieren, bezieht: Im alten Recht (§ 36 chin. StPO 1996) war von „Prozessdokumenten“ die Rede, das neue Recht spricht von „case materials“, ohne dass gesagt wäre, dass alle Unterlagen dem Verteidiger zur Einsicht gegeben werden müssten. In der Praxis scheinen die Staatsanwaltschaften sehr zurückhaltend bei der Auswahl der „case materials“ zu sein, die sie Verteidigern zur Verfügung stellen.42 Selbst hinsichtlich entlastenden Materials hat der Verteidiger nur die Befugnis, einen Antrag auf Zugänglichmachung zu stellen (Art. 39 chin. StPO) – ohne dass gesagt wäre, in welcher Weise dieser Antrag zu bescheiden ist. Im Zusammenhang mit dem Informationsmanagement vor Beginn der Hauptverhandlung wirkt sich im Übrigen die Hinwendung des chinesischen Strafprozessrechts zur Idee des Parteiverfahrens belastend für die Verteidigung aus: Nach dem neu eingefügten Art. 40 chin. StPO hat der Verteidiger die Polizei oder die Staatsanwaltschaft rechtzeitig vorab zu informieren, wenn er Beweismittel für eine Alibi-Verteidigung oder die Strafunmündigkeit seines Mandanten oder dessen Schuldunfähigkeit wegen Geisteskrankheit gesammelt hat. Die Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen Beschuldigtem und Verteidiger ist grundsätzlich geschützt (Art. 46 chin. StPO),43 und zwar nach 41
Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 51 f. Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 50. 43 Allerdings ist der Verteidiger nach Art. 46 S. 2 chin. StPO verpflichtet, Mitteilung zu machen, wenn er im Rahmen seiner Tätigkeit erfährt, dass sein Mandant oder eine andere Person eine Straftat begeht oder vorbereitet, die die nationale Sicherheit oder die persönliche Sicherheit einer Person beeinträchtigt. Außerdem ist es dem Verteidiger ausdrücklich untersagt, den Beschuldigten dabei zu unterstützen, Beweismittel zu fälschen, Zeugen zur Falschaussage zu veranlassen oder „otherwise interfere with the procedures of judicial 42
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ausdrücklicher Regelung auch dann, wenn ein Mandantengespräch in der Haftanstalt stattfindet (Art. 37 letzter Satz chin. StPO: „A meeting between a defense lawyer and a criminal suspect or defendant shall not be monitored.“). Das praktische Problem für den Verteidiger liegt jedoch darin, (rechtzeitig) Zugang zu dem inhaftierten Beschuldigten zu erhalten. Der Verteidiger muss für einen Besuch seines Mandanten einen Antrag bei der Leitung der Haftanstalt stellen, und diese soll dann den Besuch innerhalb von 48 Stunden ermöglichen (Art. 37 Abs. 2 chin. StPO). Falls dem Beschuldigten terroristische Aktivitäten, Vergehen gegen die Staatssicherheit oder schwere Korruption vorgeworfen werden, bedarf die Besuchserlaubnis noch zusätzlich der Bewilligung durch die Polizei, wodurch sich die Sache weiter verzögert. In der Praxis scheint man auch in anderen Fällen Verteidigern, die ihre inhaftierten Mandanten sprechen möchten, gelegentlich Steine in den Weg zu legen;44 einen Rechtsbehelf gegen die schlichte Verweigerung des Zugangs durch die Leitung der Haftanstalt gibt es für den Verteidiger nicht.45 Besonders problematisch ist der Zugang des Verteidigers zu seinem Mandanten dann, wenn dieser nicht in einer regulären Untersuchungshaftanstalt festgehalten wird, sondern wenn anstelle der Untersuchungshaft „Hausarrest“ angeordnet worden ist. Diese Maßnahme klingt zunächst nach einer Haftverschonung unter angenehmen Bedingungen. Tatsächlich sieht der neugefasste Art. 73 chin. StPO jedoch die Möglichkeit vor, dass der „Hausarrest“ unter bestimmten Voraussetzungen nicht in der Wohnung des Beschuldigten, sondern in einer „designated residence“ vollzogen wird, die unter der Aufsicht der Polizei steht.46 Da der Ort der Unterbringung den Angehörigen des Beschuldigten nicht notwendig mitgeteilt wird 47 und da der Zugang des Verteidigers zu einer solchen „designated residence“ in der Regel von einer Genehmigung der Polizei abhängt,48 stehen die Chancen eines unter dieser Art des „Hausarrests“ gehaltenen Beschuldigten, einen Verteidiger konsultieren zu können, ausgesprochen schlecht. authorities“ (Art. 42 chin. StPO). Bei weiter Auslegung der letztgenannten Klausel lassen sich aus ihr erhebliche Beschränkungen der Verteidigungstätigkeit ableiten. 44 Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 49. 45 Mou Luye PULJ 2013, 460, 466. 46 Die Unterbringung in einer „designated residence“ ist zulässig, wenn der Beschuldigte keinen festen Wohnsitz hat oder wenn ihm terroristische Aktivitäten, Vergehen gegen die Staatssicherheit oder schwere Korruption vorgeworfen werden (Art. 73 Abs. 1 chin. StPO). Eingehend und kritisch zu dieser „Alternative“ zur regulären Untersuchungshaft Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 6 f., 10 f. 47 Art. 73 Abs. 2 chin. StPO schreibt zwar die Information eines Angehörigen des Beschuldigten darüber vor, dass die Unterbringung in einer „designated residence“ angeordnet wurde; damit ist jedoch nicht gesagt, dass dem Angehörigen auch der Ort der Unterbringung angegeben wird; Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 6. 48 Die Voraussetzungen der Unterbringung in einer „designated residence“ stimmen mit denjenigen überein, unter denen ein Anwaltsbesuch nach Art. 37 Abs. 3 chin. StPO von der Polizei genehmigt werden muss.
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IV. Schlussbemerkung Der Blick auf ausgewählte Themen des neuen chinesischen Strafverfahrensrechts hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite erkennt man das ehrliche Bemühen der chinesischen Reformer, erkannte Missstände wie insbesondere den Einsatz physischer Gewalt bei Beschuldigtenvernehmungen entschlossen zu bekämpfen. In manchen Einzelpunkten, etwa bei der Verlagerung der Beweislast für die Korrektheit von Vernehmungen auf die Staatsanwaltschaft (Art. 57 chin. StPO), kann die chinesische Regelung dem deutschen Recht sogar als Vorbild dienen. Auf der anderen Seite wird man – auch unter Berücksichtigung von Regelungen, die hier nicht diskutiert werden konnten49 – doch der Einschätzung zustimmen müssen, dass dem chinesischen Strafverfahrensrecht nach wie vor das „crime control model“ zugrunde liegt.50 Es geht im Strafverfahren letztlich um die Ziele, die Artikel 1 der chinesischen Strafprozessordnung programmatisch vorgibt: die richtige Durchsetzung des Strafrechts sichern, Verbrechen bestrafen, das Volk schützen, die nationale und öffentliche Sicherheit schützen und die Ordnung der sozialistischen Gesellschaft aufrecht erhalten. Weitgespannte Verteidigungsrechte des Beschuldigten, ein extensiver gerichtlicher Rechtsschutz, eine minutiöse gesetzliche Ausarbeitung der Voraussetzungen für Ermittlungseingriffe oder auch die Einführung eines echten Parteiverfahrens mit waffengleichen Kontrahenten passen nicht wirklich zu diesen Prozesszielen. Dies heißt jedoch nicht, dass man als ausländischer Wissenschaftler von dem Versuch Abstand nehmen sollte, mit den chinesischen Kollegen ins Gespräch zu kommen. Das Interesse an ausländischen Modellen ist in China groß, auch wenn die beharrenden Kräfte in Staat und Partei die praktische Umsetzung von weitreichenden Reformen schwierig machen. Letztlich kann es bei dem „Rechtsstaatsdialog“ nicht um Missionierung für westliche Werte, sondern nur (aber immerhin) darum gehen, den chinesischen Gesprächspartnern – durchaus mit kritischem Blick auf das eigene Verfahrenssystem – zu zeigen, dass sich Strafrecht auch in einer aus deren Sicht extrem liberalen Strafverfahrensordnung ohne große Verluste verwirklichen lässt. Für dieses Unterfangen – und für all die vielen anderen wissenschaftlichen Abenteuer, die noch vor ihm liegen – wünsche ich dem Jubilar von Herzen alles Gute!
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Bemerkenswert ist etwa die Abwesenheit jeder Art von richterlicher Beteiligung oder Kontrolle im Ermittlungsverfahren; selbst Untersuchungshaft kann durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden (Art. 78 chin. StPO). 50 Mou Luye PULJ 2013, 460, 498; Rosenzweig u.a. (Fn. 14), S. 44.
Wahrheit und Legenden: die Debatte über den adversatorischen Strafprozess Edda Weßlau † I. Der adversatorische Strafprozess als Vorbild? Wenn es um Fragen der Strafprozessreform ging, hat sich die deutsche Strafrechtswissenschaft immer wieder auf das anglo-amerikanische Prozessmodell mit seinen adversatorischen Zügen als Vorbild bezogen – ob nun die Reformbedürftigkeit der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im Raume stand oder im Gegenteil die Frage, wie eine aufwändige Beweisaufnahme weitgehend vermieden und der Fall „einvernehmlich“ erledigt werden könnte. Auch wenn die „Legalisierung“ des Regimes der „Absprachen“ ohne irgendeine durchdachte Konzeption und ohne Besinnung auf Vorschläge aus der Wissenschaft ausgekommen ist, blieb im rechtswissenschaftlichen Diskurs das Gespür für tiefer liegende Strukturschwächen des deutschen Strafprozesses und das Bedürfnis nach einer Neuausrichtung der theoretischen Legitimationsgrundlagen stets lebendig. Schünemann war in diesen Debatten, beginnend mit seinem Beitrag „Zur Reform der Hauptverhandlung im Strafprozeß“ aus dem Jahr 1978,1 kontinuierlich präsent 2 und hat dabei – allen jeweiligen „Moden“ widerstehend – den Vorbildcharakter des angloamerikanischen Modells in Abrede gestellt. Zugleich lag es ihm fern, den deutschen Strafprozess gegen Kritik zu verteidigen – im Gegenteil. So bestand er darauf, dass die Entstehung und Ausbreitung der Absprachen als Krise des deutschen Strafverfahrens gedeutet werden müssen, deren Ursachen nur durch grundlegende Reformen insbes. des Ermittlungsverfahrens und durch eine Entschlackung des hypertrophen materiellen Strafrechts beseitigt werden könnten.3 † Edda Weßlau ist am 12. April 2014 gestorben. Diesen letzten Beitrag ihres wissenschaftlichen Werkes hat sie mit Pflichtbewusstsein und eiserner Disziplin ihrem schweren Krebsleiden abgerungen. 1 Schünemann GA 1978, 161. 2 Schünemann FS Pfeiffer, 1988, S. 461, 481; ders. FS Baumann, 1992, S. 368 f.; ders. StV 1993, 657, 658 f., 662 f.; ders. ZStW 114 (2002), 1, 13, 32 f., 43, 60 f.; ders. FS Heldrich, 2005, S. 1177, 1191 ff.; ders. ZStW 119 (2007), 945, 952; ders. FS Fezer 2008, S. 555 ff.; ders. ZIS 2009, 484, 491 f.; ders. StraFo 2010, 90 ff. 3 Siehe v.a. die Beiträge Schünemanns in FS Baumann 1992, S. 368; StV 1993, 657; ZStW 114 (2002), 1.
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Doch die Entwicklungen haben ungeachtet der Antikritik des skeptischen Lagers offenbar einen anderen Verlauf genommen. Zum einen kann man in der Rechtswirklichkeit – worauf Schünemann warnend hingewiesen hat 4 – ein weltweites Vordringen des anglo-amerikanischen Prozessmodells beobachten, was von dessen Befürwortern selbstverständlich als Zeichen der Überlegenheit dieser Verfahrenskonzeption gedeutet wird. Zum anderen ist der hierzulande eher akademisch geführte Disput unlängst durch die These befeuert worden, die Umwandlung des deutschen Strafverfahrens in einen Parteiprozess sei nicht nur rechtspolitisch vernünftig, sondern sogar verfassungsrechtlich zwingend geboten.5 Nun krankt die gesamte Debatte an manchen Vorurteilen über das angloamerikanische Modell und an irrtümlichen Deutungen, die u.a. durch Unklarheiten in Bezug auf grundlegende prozessuale Kategorien bedingt sind. Namentlich in seinen jüngeren Stellungnahmen hat sich Schünemann darum verdient gemacht, solchen irrtümlichen Vorstellungen zu widersprechen. Daran will dieser Beitrag anknüpfen und sich einige typische Kategorienfehler vornehmen,6 die in der Diskussion um das anglo-amerikanische Prozessmodell immer wieder auftauchen. Dabei soll dann auch gezeigt werden, dass die Debatte noch an einem anderen Mangel leidet, der für eine rechtsvergleichend argumentierende Wissenschaft durchaus nicht untypisch ist: Die Analyse dringt nicht tief genug in das Rechtskonzept der ausländischen Rechtsordnung ein, und es wird sich zeigen, dass vor allem materiell-rechtliche Denkfiguren stärker als bisher zum Verständnis der Unterschiede zwischen anglo-amerikanischem Verfahrensrecht und unserem Prozessmodell herangezogen werden müssen. Die Kategorien, die im Folgenden beleuchtet werden sollen, sind: das Ziel des Strafverfahrens, Wahrheitsbegriffe und Wahrheitskriterien im Strafverfahren und schließlich die Konstitution des Verfahrensgegenstandes.
II. Zum Ziel des Strafverfahrens Das inquisitorische Modell soll dem Ziel dienen, die „materielle Wahrheit“ zu erforschen. Die „Pflicht zur Erforschung der Wahrheit im Strafprozess“ wurzelt nach Auffassung des deutschen Bundesverfassungsgerichts im Rechtsstaatsprinzip und ist damit verfassungsrechtlich unabdingbar. Denn „ohne die Ermittlung des wahren Sachverhalts kann das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden, so dass sich die Wahrheitsfindung als zentrales Anliegen 4
Schünemann FS Fezer, 2008, S. 555 f. Haas Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 365 ff. 6 Auf die andere Quelle von Irrtümern – die Verwechslung von theoretischer Konzeption und Rechtswirklichkeit – wird hier nicht eingegangen; zu diesem Thema aufschlussreich Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, 26. Aufl. 2013, § 257c Rn. 2. 5
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des Strafprozesses erweist“.7 Dagegen verfolge man im anglo-amerikanischen Rechtskreis – so wird immer wieder behauptet – mit seiner „formalisierten Wahrheitsfindung“8 ein anderes Konzept. Die Begriffe, mit denen dieses Konzept charakterisiert wird, sind durchaus verschieden. Teilweise wird von „formeller Wahrheit“ 9 gesprochen, teilweise von einem „diskursbezogenen Wahrheitsbegriff“10 oder einem „disponiblen Wahrheits- und Richtigkeitsbegriff“.11 Aus solchen begrifflichen Gegenüberstellungen können sich einige folgenreiche Missverständnisse ergeben. Zu unterscheiden sind nämlich die Gestaltungsmittel, mit denen ein Gesetzgeber das justizförmige Procedere der Wahrheitsfindung zu optimieren trachtet, und das Ziel, dem dieses Procedere dienen soll. Hier ist zunächst festzustellen, dass der Begriff „formalisierte Wahrheitsfindung“ zur Kennzeichnung irgendwelcher Unterschiede im Beweisrecht oder im Verfahrensziel nichts beitragen kann. Denn es ist das Charakteristikum eines jeden rechtsförmig geregelten Verfahrens, die Wahrheitsfindung zu formalisieren und dem Bemühen um Wahrheitsfindung damit auch Grenzen zu setzen. Anders verhält es sich mit der Kennzeichnung des anglo-amerikanischen Konzepts der Wahrheitsfindung als „formell“, „diskursbezogen“ oder „disponibel“. Wenn damit lediglich zum Ausdruck gebracht werden soll, dass im dortigen Beweisverfahren die Parteien den Beweisstoff einbringen und nicht der Richter, dann wäre gegen diese Begrifflichkeiten nichts einzuwenden. Zugleich würden sie dann aber auch nichts über das Ziel des Verfahrens besagen, sondern nur den Modus der Stoffsammlung kennzeichnen. Sowohl die Sympathisanten als auch die Kritiker des adversatorischen Systems wollen mit diesen Begriffen allerdings durchaus behaupten, diesem Modell liege tatsächlich eine abweichende Vorstellung über das Verfahrensziel zugrunde. Schünemann hat dem stets widersprochen und darauf bestanden, dass auch das anglo-amerikanische Prozessmodell an seiner „Tauglichkeit zur materiellen Wahrheitsfindung“ gemessen werden müsse.12 Die „materielle Wahrheit“ werde dort nur auf einem anderen Weg angestrebt.13 Ein lohnender Streit könne demnach nicht auf die Frage gerichtet sein, ob es eine Alternative zum Verfahrensziel der „materiellen Wahrheit“ gibt, sondern ob eine Verlagerung der Beweisführung auf die Prozessparteien vorteilhafter wäre.14 7
BVerfGE 77, 65, 77. So die Terminologie von Trüg ZStW 120 (2008), 331, 346; ders./Kerner FS Böttcher, 2007, S. 191, 197. 9 Stamp Die Wahrheit im Strafverfahren, 1998, S. 17, 150 f. 10 Trüg/Kerner FS Böttcher, 2007, S. 191, 197. 11 Lüderssen StV 1990, 415, 416. 12 Schünemann GA 1978, 161, 178; ders. FS Fezer, 2008, S. 555, 562. 13 So auch schon Dahs FS Schorn, 1966, S. 14, 23. 14 Zu dieser Frage hat Schünemann konkrete und detailliert ausgearbeitete Argumente genannt (u.a. in seinem Aufsatz in GA 1978, 161 ff., zuletzt in: FS Fezer, 2008, S. 555 ff.), mit denen ich mich hier nicht weiter auseinandersetzen will. 8
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Bei der Kontroverse um das Ziel des anglo-amerikanischen Strafverfahrens lassen sich drei verschiedene Argumentationsstränge unterscheiden. Zum einen werden das inquisitorische Modell der Beweisaufnahme mit der „materiellen Wahrheit“ und das adversatorische Modell mit der „formellen Wahrheit“ schlicht gleichgesetzt. Dies beruht auf der – v.a. in älteren Beiträgen häufiger zu findenden – Vorstellung, dass mit Hilfe der Verhandlungsmaxime überhaupt nur eine „formelle Wahrheit“ gefunden werden könne.15 Der Begriff der „formellen Wahrheit“ wird dabei in der Regel als bekannt vorausgesetzt. In der Tat verwenden wir ihn im kontinentaleuropäischen Rechtsraum für das Zivilverfahren. Er bezeichnet das Ergebnis eines Beweisverfahrens, das nicht nur nach dem Beibringungsgrundsatz organisiert, sondern auch mit der Idee verbunden ist, eine allein durch den Parteivortrag konstituierte Sachverhaltsversion gelte bereits dann als wahr, wenn sie nicht bestritten wird, und zwar unabhängig davon, ob ein außerhalb des Verfahrens liegendes Geschehen mit dieser „Wahrheit“ übereinstimmt oder nicht.16 Manche wollen so weit nicht gehen und verwenden daher den Begriff der „formellen Wahrheit“ absichtlich nicht. In diesem zweiten Argumentationsstrang gesteht man einerseits zu, dass „es ersichtlich auch im US-amerikanischen Strafverfahren um das Ziel der Wahrheitsfindung und ein gerechtes Ergebnis“ gehe.17 Andererseits wird betont, dass diese Ziele nicht durch eine „historische Rekonstruktion des Geschehens“, sondern durch ein „prozessual hergestelltes Konstrukt“ und „auf dialogische Weise“ erreicht werden sollen18 und dass es in jenem Rechtsdenken weniger um „materielle“ versus „formelle“ Wahrheit gehe, sondern um die Frage des gerechten Verfahrens.19 Dieser Ansatz vermeidet es, die in unserem Rechtsdenken geformten und auf die Rechtspraxis der verschiedenen Verfahrensarten zugeschnittenen Begrifflichkeiten einfach zu übertragen. Damit kommt man sicherlich einer seriösen rechtsvergleichenden Methodik näher; dennoch ergeben sich deutliche Paralle-
15 Gegen diese Strömung s. bereits Dahs FS Schorn, 1966, S. 14, 23 m.w.N. und mit dem Hinweis, englische und amerikanische Juristen äußerten über „derartige Fehlbeurteilungen ihres Prozeßsystems scharfes Mißfallen“. 16 Vgl. Jauernig/Hess Zivilprozessrecht, 30. Aufl. 2011, § 25 Rn. 14; Rosenberg/Schwab/ Gottwald Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 77 Rn. 6 ff.; Münchener Kommentar ZPO/ Rauscher, 4. Aufl. 2013, Einl. Rn. 314. Allerdings trifft die krasse Gegenüberstellung von „wirklichem Geschehen“ und „bloß formeller Wahrheit“ bereits die Konzeption des deutschen Zivilprozesses nicht, denn die Parteien sind bei ihrem Tatsachenvortrag an die Wahrheitspflicht gebunden, § 138 Abs. 1 ZPO. Keinesfalls kann also davon die Rede sein, die Parteien dürften willkürlich eine „Wahrheit“ konstruieren. Wer durch wahrheitswidrigen Vortrag z.B. einen Prozess gewinnt, kann sich wegen Betruges strafbar machen. 17 Trüg ZStW 120 (2008), 331, 347. 18 Trüg ZStW 120 (2008), 331, 347. 19 So v.a. Volk FS Salger, 1995, S. 411, 416 f.
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len zum ersten Argumentationsstrang. Auch hier wird aus dem Modus der Beweisvorführung – „auf dialogische Weise“ – unmittelbar darauf geschlossen, dass man nicht an der „Wahrheit“, verstanden als ein rekonstruierbares, außerhalb des Prozesses liegendes Geschehen, interessiert sei. Allerdings wird – worauf später noch gesondert einzugehen ist – geltend gemacht, man habe ein unterschiedliches Wahrheitsverständnis in Betracht zu ziehen, wenn man das anglo-amerikanische Rechtssystem richtig verstehen wolle.20 Das Besondere an diesem Ansatz ist der Hinweis, das Urteil stütze sich nach anglo-amerikanischem Rechtsdenken nicht primär auf eine Legitimation durch Wahrheit, sondern auf eine Legitimation durch Gerechtigkeit. Im kontinentaleuropäischen Rechtsdenken neige man dazu, „die Wahrheit als den Garanten von Gerechtigkeit zu überschätzen“.21 Hier wird deutlich, dass die Zuverlässigkeit der Tatsachenfeststellungen kein Endziel an sich sein kann, sondern nur ein Zwischenziel, eine notwendige Bedingung, um das Urteil am Ende als „gerecht“ zu empfinden. So sieht es allerdings auch die hierzulande verbreitete Prozessdoktrin.22 Dass man im anglo-amerikanischen Rechtskreis dennoch unmittelbarer auf „die Gerechtigkeit“ als Legitimationskategorie zurückgreift als in unserem System, ist eine zutreffende Beobachtung, bedarf freilich noch einer näheren Erklärung. Darauf wird zurückzukommen sein. Der dritte Argumentationsstrang assoziiert das Prinzip der materiellen Wahrheit mit einem „absoluten Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch“23 und hält dagegen: „Im anglo-amerikanischen Rechtskreis hingegen herrscht ein optimistischer Umgang mit einem disponiblen Wahrheits- und Richtigkeitsbegriff. … Der Staat ist distanziert und akzeptiert im Strafprozess den Beschuldigten als Partei, der er nicht mit dem Pathos der Selbstgerechtigkeit gegenübertritt. Das bedeutet, daß eine reale Konkurrenz zwischen der Konzeption des Beschuldigten und der des ,prosecutioners‘ entsteht. …“.24 Ungeachtet des Umstandes, dass auch der dritte Ansatz auf Differenzen beim Wahrheitsbegriff verweist, bleibt für die verschiedenen Argumentationsstränge generell festzuhalten, dass zwischen dem Mittel der Wahrheitserforschung – Untersuchungsmaxime oder Verhandlungsmaxime – und dem Ziel des Verfahrens nicht wirklich unterschieden wird. Man schreibt der Methode der Stoffsammlung und -präsentation also ein solches Gewicht zu, dass es gar keinen Sinn ergibt, das Ziel des Beweisverfahrens getrennt davon zu betrachten oder zu beschreiben. Das Für und Wider eines adversatorischen Prinzips anhand der Frage zu diskutieren, ob es geeignet sei, das Ver-
20
Trüg ZStW 120 (2008), 331, 347; Volk FS Salger, 1995, S. 411, 416 f. Volk FS Salger, 1995, S. 411, 417. 22 Vgl. nur Systematischer Kommentar StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, Vor § 261 Rn. 13. 23 Lüderssen StV 1990, 415, 416; ähnlich ders. FS Hamm, 2008, S. 423 f.; ders. FS Fezer, 2008, S. 531, 534. 24 Lüderssen StV 1990, 415, 416. 21
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fahrensziel der „materiellen Wahrheit“ zu erreichen oder nicht, gilt somit bereits im Ansatz als verfehlt. Die Befürworter wie die Gegner des angloamerikanischen Modells treffen sich in der Überzeugung, dass das adversatorische Prinzip als solches Grund genug ist, um die anglo-amerikanische Verfahrensstruktur vorzuziehen oder umgekehrt, sie abzuwehren. Anhänger des anglo-amerikanischen Modells argumentieren – wie das oben wiedergegebene Zitat zeigt –, dass im adversatorischen Prinzip eine demokratischere, weniger autoritäre Haltung des Staates gegenüber den Streitparteien und ihren „Konzeptionen“ vom wahren Sachverhalt zum Ausdruck komme. Diesem Argument muss man mit Vorsicht begegnen. Ihre Kehrseite ist nämlich eine Fehlinterpretation unseres mehr inquisitorischen Modells. Keineswegs ist das Ziel, die „materielle Wahrheit“ zu erforschen, verknüpft mit einem „absoluten Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch“. Zum einen ist die Vorstellung von einer „absoluten Wahrheit“ bereits vom Reichsgericht zurückgewiesen worden, und zwar mit dem zutreffenden Argument, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit begrenzt ist.25 Zum anderen müssen hier wie dort, also im kontinental-europäischen wie im anglo-amerikanischen Raum, am Ende die zur Urteilsfindung berufenen Personen den – wie auch immer eingeführten – Beweisstoff würdigen und sich eine Überzeugung bilden,26 welcher Sachverhalt als bewiesen gelten kann. Die Urteilsfindung aber ist Ausübung staatlicher Gewalt, selbst wenn man sich dazu einer von Laien besetzten Jury bedient. So gesehen muss jedes von einem staatlichen Gericht verkündete Strafurteil mit dem Anspruch auftreten, den maßgeblichen Sachverhalt „richtig“ wiederzugeben. Und wenn eine amerikanische oder englische Jury etwa meint, keine der vorgetragenen Versionen habe sie überzeugen können, dann muss ein Freispruch verkündet werden. Keinesfalls ist die Jury im Sinne einer „formellen Wahrheit“ an den Parteivortrag gebunden, solange die Gegenpartei ihn nicht bestreitet. Der Sachverhalt wird also nicht „demokratisch“ von den Parteien im Sinne eines „disponiblen“ Umgangs mit Wahrheit und Richtigkeit „hergestellt“, sondern ebenso wie bei unserem Strafprozess von den zur Urteilsfindung berufenen Personen „festgestellt“, nachdem der vorgetragene Beweisstoff – ggf. in einem mehrstufigen Verfahren27 – einer Realitäts-Prüfung unterzogen worden ist. Zwar muss – anders als in Deutschland etwa – nicht der gesamte Tatsachenstoff in der Hauptverhandlung bewiesen werden; vielmehr kann der
25
RGSt 61, 202, 206; 66, 163, 164. Für das amerikanische Verfahren vgl. Schmid Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten. Eine Einführung, 2. Aufl. 1993, S. 70 ff., 153; danach gilt als Beweismaß, das die Jurymitglieder ihrer Entscheidung zugrunde zu legen haben: „beyond a reasonable doubt“. Für das deutsche Verfahren gilt § 261 StPO. 27 S. dazu Schmid (Fn. 26), S. 70 ff.; Herrmann in: Jung/Fincke (Hrsg.), Der Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 1989, S. 133, 147. 26
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Angeklagte zu einzelnen Sachverhaltselementen erklären, dass er kein streitiges Beweisverfahren darüber anstrebe, sog. nolo contendere. Dies ist freilich eine Besonderheit des US-amerikanischen Beweisrechts und gilt im englischen Recht nicht.28 Auch diese Regel hat aber nichts mit einer „formellen Wahrheit“ zu tun. Zwar wird die Jury in diesen Fällen letzten Endes von der „nicht bestrittenen“ Version der Staatsanwaltschaft ausgehen, doch ist hier das im Beweisrecht vorgesehene zweistufige Verfahren zu bedenken: Zunächst muss die Staatsanwaltschaft ihr Beweiskonzept abarbeiten. Erst dann ist der Angeklagte mit seiner „Version“ dran.29 Auf Antrag der Verteidigung hat die Jury sogar zwischenzeitlich zu entscheiden, ob der Anklagevorwurf genügend bewiesen ist. Liegen keine genügenden Beweise vor, so wird die Klage bereits an dieser Stelle abgewiesen.30 Die Version der Staatsanwaltschaft muss also nicht etwa ungeprüft als „wahr“ behandelt werden, nur weil und soweit sie nicht bestritten wird.31 Zuzugestehen ist natürlich, dass die Jury faktisch nur das würdigen kann, was überhaupt von den Parteien vorgetragen worden ist.32 Dabei ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass eine Partei aus taktischen Gründen Tatsachenstoff gar nicht einbringt oder auf die kontradiktorische Prüfung der vom Gegner vorgebrachten Beweise verzichtet.33 Allein deswegen kann man aber nicht davon sprechen, der anglo-amerikanische Prozess habe nur eine „formelle Wahrheit“ oder ein „prozessuales Konstrukt“ zum Ziel, das die Parteien in „dialogischer“ Weise „herstellen“. Denn damit würden die Begriffe unscharf, und man verpasste den entscheidenden Streitpunkt: Kann das
28 Vgl. Trüg Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und USamerikanischen Strafverfahren, 2003, S. 47; vgl. auch Herrmann (Fn. 27), S. 133, 147 f. Im deutschen Strafverfahren herrscht demgegenüber ein Alles-oder-Nichts-Prinzip: Entweder muss der gesamte Tatsachenstoff in der Hauptverhandlung bewiesen werden oder aber die Hauptverhandlung kann ganz entfallen; der Tatsachenstoff wird dann aus den Akten entnommen und es ergeht ein Strafbefehl. 29 Schmid (Fn. 26), S. 70 ff., 153, 216 ff. 30 Schmid (Fn. 26), S. 73. 31 Die Situation des guilty plea stellt das bisher Gesagte übrigens nicht in Frage. Beim guilty plea geht es – anders als beim Geständnis – gerade nicht um die (Wissens-)Erklärung, der ermittelte Sachverhalt sei wahr. Vielmehr stellt das guilty plea nach authentischem Verständnis der anglo-amerikanischen Prozessdoktrin eine unmittelbare Grundlage für einen Schuldspruch dar und ersetzt daher die Notwendigkeit, dass die Jury sich eine Überzeugung vom „wahren“ Sachverhalt bildet; so der Supreme Court der USA in der Entscheidung Kercheval v. United States, 274 U.S. 220, 223 (1927). 32 Die Frage, inwieweit der Richter im amerikanischen bzw. englischen Prozess seinerseits in die Beweisführung der Parteien durch eigene Fragen intervenieren darf und auch tatsächlich interveniert, wird offensichtlich unterschiedlich gesehen; vgl. einerseits Weigend ZStW 100 (1988), 733, 737; andererseits Herrmann Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, 1971, S. 322 ff. 33 Weigend ZStW 100 (1988), 733, 753.
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adversatorische Prinzip besser als die Inquisitionsmaxime „richtige“ Sachverhaltsfeststellungen garantieren, etwa weil die Jurymitglieder unbeeindruckt von den Akten der Ermittlungsbehörden die Beweise würdigen können? Oder muss, gerade weil der faktische Einfluss der Parteien bei einem konsequent durchgeführten adversatorischen Prinzip womöglich zu groß ist, seine Eignung zur Aufklärung des Sachverhalts bezweifelt werden? Diese Frage soll hier – wie gesagt – nicht beantwortet werden; es sollte aber deutlich geworden sein, dass man dieser Frage nicht ausweichen kann, indem man das Verfahrensziel gar nicht erst klar benennt, sondern aus den Gestaltungsmaximen des Beweisverfahrens auf ein irgendwie abweichendes Wahrheitsverständnis schließt.
III. Wahrheitsbegriffe und Wahrheitskriterien im Strafverfahren Damit ist man beim Wahrheitsbegriff. Verschiedene Wahrheitsbegriffe sollen die weltanschauliche Grundlage der jeweiligen Konzeption bilden. Bei uns glaube man an das eine, rekonstruierbare historische Geschehen. Es herrsche also ein ontologischer Wahrheitsbegriff.34 Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, nach der es auf eine Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit ankommt, wird daher mit dem Ziel der „materiellen Wahrheit“ nahezu einhellig gleichgesetzt35 und betont, sie sei „dem Strafverfahren als einem gesellschaftlichen Prozess völlig adäquat“.36 Mit diesen theoretischen Gebilden konkurrieren freilich andere Wahrheitstheorien, und zwar im Wesentlichen die Kohärenztheorie der Wahrheit und die Diskurstheorie der Wahrheit.37 Wie oben schon angedeutet, wird die Beurteilung des anglo-amerikanischen Prozessmodells nicht selten mit dem Hinweis verknüpft, diesem Modell liege ein anderes Konzept von „Wahrheit“ zugrunde. Man hänge nicht dem Gedanken an die eine Wirklichkeit an, die es zu erkennen gelte, sondern lasse verschiedene „Wahrheiten“ zu.38 Zugrunde gelegt werde hier also nicht ein ontologisches Verständnis; vielmehr werde anerkannt, dass Wahrheit ein „soziales Konstrukt“ sei.39 Demzufolge
34
Trüg/Kerner FS Böttcher, 2007, S. 191, 193. Vgl. Paulus FS Spendel, 1992, S. 687, 688; Trüg/Kerner FS Böttcher, 2007, S. 191, 192 m.w.N. 36 Schünemann FS Fezer, 2008, S. 555, 559. 37 Habermas FS Walter Schulz, 1974, S. 211 ff.; zur Rezeption in der Rechtswissenschaft Schmidt JuS 1973, 219; Arthur Kaufmann ARSP 72 (1986), 425, 433 ff. 38 Zu der Idee, im Verfahren ginge es um ein Aushandeln zwischen verschiedenen Wahrheiten vgl. Volk FS Salger, 1995, S. 411, 413 f.; Grasnick FS Meyer-Goßner, 2001, S. 207, 219 ff. 39 Trüg/Kerner FS Böttcher, 2007, S. 191, 196. 35
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könnte man sagen, dass sich im anglo-amerikanischen Rechtsraum der Wahrheitsbegriff der Diskurstheorie 40 durchgesetzt habe. Tatsächlich ist die Annahme, das anglo-amerikanische Modell korrespondiere mit der Konsensustheorie der Wahrheit, und zwar auf der Grundlage der Diskurstheorie, ebenso falsch wie die Vermutung, mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit im inquisitorischen Modell sei eine Festlegung auf die Korrespondenztheorie bzw. auf einen ontologischen Wahrheitsbegriff verbunden. Beide Modelle sind im Hinblick auf die philosophische Kontroverse „neutral“. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das anglo-amerikanische Modell nicht entstanden ist, um der „Konsensustheorie“ Geltung zu verschaffen.41 Der Konsens hat in der philosophischen Diskussion den Status eines Wahrheitskriteriums. Auf dieses Kriterium setzt die Diskurstheorie, die damit von einem ontologischen Wahrheitsbegriff Abschied nimmt. Konzeptioneller Ausgangspunkt des adversatorischen Systems ist aber nicht der Konsens, sondern das Prinzip des Streits zwischen zwei, durch die Parteien repräsentierten Standpunkten. Nach der Diskurstheorie mit dem Konsens als Wahrheitskriterium müsste man so lange streiten, bis ein Konsens gefunden ist. So ist das adversatorische System aber keineswegs zu verstehen. Prägend für die Konzeption ist nicht der Konsens der Parteien, sondern das dialogische Prinzip mit anschließender Streitentscheidung durch eine neutrale Instanz, die Jury. Dass im Falle eines Konsenses der Prozessparteien das Verfahren ohne Beweisaufnahme zu dem fraglichen Punkt 42 oder überhaupt ohne Entscheidung der Jury abzuschließen ist,43 stellt eine bloße Folge des adversatorischen Prinzips dar: Wo ein „Wettstreit“ nicht stattfindet, verliert der Prozess, der den „Wettstreit“ organisieren soll, seinen Sinn. Zweitens gilt für die Jurymitglieder, dass sie sich ihrer Entscheidung „beyond a reasonable doubt“ sicher sein müssen.44 Dem entspricht die Aufforderung unseres Gesetzgebers, der Richter habe sich eine „Überzeugung“ zu bilden und dabei den Grundsatz „in dubio pro reo“ anzuwenden. Nicht ohne Grund hütet man sich hier wie dort, den zur Entscheidung berufenen Personen ein „Wahrheitskriterium“ zu nennen, das sie zu beachten haben. Die Jury oder der Einzelrichter oder das Richterkollegium treten nicht mit dem Anspruch auf, „die Wahrheit“ gefunden zu haben, sondern zu einer „Überzeugung“ gekommen zu sein – oder eben nicht. In der Strafrechtswissenschaft ist man sich heute zwar einig, dass zwischen beiden Größen eine enge Verbindung besteht, denn mit dem Begriff der „Überzeugung“ sollte 40 Zur Diskurstheorie als „rechtstheoretische Perspektive“ auch für die Entwicklung des Strafverfahrens im kontinental-europäischen Raum vgl. Jahn GA 2004, 272 ff. 41 Gegen die Heranziehung von Konsenstheorien zur Legitimation von Absprache-Verfahren auch Damasˇka StV 1988, 398, 401. 42 S.o. S. 1000 f. zum „nolo contendere“. 43 S.o. (Fn. 31) zum guilty plea. 44 S.o. Fn. 26.
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keineswegs einer weitgehenden Subjektivierung der Weg geebnet werden. Die „Überzeugung“ muss durch rationale Argumente und das Ergebnis der Beweisaufnahme getragen werden und intersubjektiv nachvollziehbar sein.45 Damit aber fehlt jeder Hinweis darauf, dass die Gerichte auf eine bestimmte weltanschauliche Position festgelegt werden sollten. Der einzelne Richter bzw. das einzelne Jurymitglied muss selbst entscheiden, ob er/es „überzeugt“ ist, weil er/es glaubt, sein Vorstellungsbild stimme mit einer ontologisch verstandenen Wirklichkeit überein (Korrespondenztheorie), oder weil er/es glaubt, sein Vorstellungsbild könne sich in einem rationalen Diskursverfahren als allgemein zustimmungsfähig erweisen (Konsensustheorie) oder weil er/es glaubt, die von ihm getroffenen Aussagen seien kohärent zu den Denkwelten der Gesellschaftsmitglieder (Kohärenztheorie). Drittens bleibt mysteriös, was die Gegenüberstellung eines „ontologischen Wahrheitsbegriffs“ und eines Verständnisses von Wahrheit als „soziales Konstrukt“ im Zusammenhang mit dem Ziel des Strafprozesses bedeuten soll.46 Es ist nämlich offensichtlich, dass die Kategorie des „Fehlurteils“ nicht nur im kontinental-europäischen Rechtsraum bekannt ist, sondern ebenso auch im anglo-amerikanischen. Von einem „Fehlurteil“ bzw. „wrongful conviction“47 kann man aus logischen Gründen aber nur dann sprechen, wenn es einen außerhalb des konkreten Prozesses liegenden Maßstab für die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung gibt. Die Unrichtigkeit kann sich dabei sowohl auf die Rechtsfragen beziehen, die zu entscheiden waren, als auch auf die Tatsachenfeststellungen. Einer Gesellschaft, die das Ergebnis eines Gerichtsverfahrens im Hinblick auf die Tatsachenfeststellungen als „soziales Konstrukt“ und nicht als Rekonstruktion eines wirklichen Geschehens ansieht, könnte es aber allein darauf ankommen, ob die Verfahrensregeln zur „Herstellung“ dieses Konstrukts eingehalten worden sind oder nicht. Mit anderen Worten: Eine solche Gesellschaft dürfte die Kategorie des „Fehlurteils“ gar nicht kennen – jedenfalls nicht, wenn es um den Sachverhalt geht. Da es aber anders ist, kann man festhalten: Auch nach anglo-amerikanischer Prozessdoktrin wird der Sachverhalt nicht erst im Prozess nach bestimmten Regeln „hergestellt“, sondern dem Beweisverfahren wird sehr wohl zugetraut, ein außerhalb des Prozesses liegendes Geschehen möglichst zutreffend zu rekonstruieren. Dass dabei auch soziale Konstruktionen eine bedeutende Rolle spielen, ist eine Banalität, die für unseren Alltag ebenso wie für jedes Gerichtsverfahren gilt; und die Erkenntnis, dass es so ist, hat sich auch nicht
45
Zum Begriff der „Überzeugung“ vgl. etwa Engländer ARSP-Beiheft 104 (2005), 85 ff. Dagegen auch Bottke GS Zipf, 1999, S. 451, 456: „Leistungseffizient sind sach- und rechtswahre Tatsprüche. Über Tatsprüche ist kein funktionsgerechter Handel möglich, auch wenn die Tat als Straftat und die Straftatzuständigkeit soziale Konstrukte sind…“. 47 Vgl. etwa Huff/Killias (Ed.), Wrongful Conviction. International Perspectives on Miscarriages of Justice, Philadelphia 2008. 46
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allein im anglo-amerikanischen Rechtsraum herumgesprochen. Ein Grund, die Redeweise von der „Wahrheitsfindung“ deshalb für unpassend zu erklären, kann daraus jedenfalls nicht hergeleitet werden.48
IV. Die Konstitution des Verfahrensgegenstandes Die Beobachtung, dass es im anglo-amerikanischen Prozess weniger als in unserem Prozess um „Erkenntnis“ und mehr um „Herstellung“ geht, ist dennoch richtig. Diese Beobachtung wird freilich kategorial falsch zugeordnet, wenn man sie auf die Tatsachenfeststellungen und den Wahrheitsbegriff bezieht. Nicht für das, was als „Wahrheit“ gelten kann, ist der Parteivortrag mit seinen kontroversen Sachverhaltsversionen konstitutiv, wohl aber für das, was wir in unserer Prozessdoktrin als „Verfahrensgegenstand“ bezeichnen. Der Verfahrensgegenstand wird nämlich nicht, wie in unserem Modell, durch die Anklage allein festgelegt, sondern durch beide Parteien. Erst dadurch erlangt der anglo-amerikanische Prozess eigentlich seinen Charakter als Parteiprozess.49 Und die Frage lautet, ob ein nach parteiprozessualem Muster gestaltetes Beweisverfahren nicht auch einen Parteiprozess im eigentlichen Sinne voraussetzt, was freilich ein tiefgreifendes, auch das materielle Rechtsverhältnis umfassendes Umdenken in der gesamten Strafrechtstheorie mit sich bringen würde.50 Die Dimension des Verfahrensgegenstandes ist nicht rein prozessualer Natur. Das hat die Vielzahl der Beiträge gezeigt, die sich mit der Frage beschäftigen, wie die Identität der prozessualen Tat – also der Verfahrensgegenstand nach deutschem Recht – zu bestimmen sei. Auf Einzelheiten und unentschiedene Streitstände kommt es hier nicht an.51 Jedenfalls verfolgt dieser Beitrag die These, dass es einen Zusammenhang zwischen Verfahrensstruktur und der Vorstellung gibt, wie sich das materielle Rechtsverhältnis konstituiert, das Gegenstand des Verfahrens ist. Zwei Möglichkeiten stehen – soweit ersichtlich – zur Verfügung: Das materielle Rechtsverhältnis wird bereits in Form eines Rechtsfalles konstruiert und nimmt die Struktur eines Rechtsstreits ein; es wird m.a.W. dialogisch aufgefasst. Oder es wird systematisch und vollständig aus der Rechtsfolge entwickelt und damit monologisch aufgefasst.52
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Anders aber wohl Volk FS Salger, 1995, S. 411, 414. Zur Abhängigkeit des Parteiprozesses von einer bestimmten Logik, was die Konstruktion des materiellen Rechtsverhältnisses angeht, vgl. Haas (Fn. 5), S. 365 ff. 50 Angedeutet, aber nicht zufriedenstellend gelöst bei Weichbrodt Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, 2006, S. 66 ff., zusammenfassend S. 110 ff. 51 Vgl. dazu die Darstellung in: SK-StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, § 264 Rn. 12 ff. 52 Das Konzept des dialogischen Rechts knüpft an die Monographie von Neumann Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, v.a. S. 276 ff., an. Zu den gegensätzlichen Logi49
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In der anglo-amerikanischen Denktradition wird das Strafrechtsverhältnis nach der Logik von Rechten und Gegenrechten – also dialogisch – konstruiert. Der Staatsanwalt macht für die Allgemeinheit den Strafanspruch geltend. Dieser besteht, vereinfacht gesagt, aus der Begehung eines Deliktes einschließlich seiner subjektiven Voraussetzungen. Dem Strafanspruch kann der Beschuldigte mit Gegenrechten – defenses – entgegentreten. Diese Gegenrechte muss er im Prozess geltend machen. Erst durch diesen Akt des Geltendmachens werden auch die Gegenrechte zum Verfahrensgegenstand. Hierzu gehören namentlich die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe.53 Der Verfahrensgegenstand wird also tatsächlich erst durch den Parteivortrag konstituiert; dass dazu dann auch ein entsprechender Tatsachenvortrag gehört, ergibt sich gewissermaßen erst sekundär. Der Verfahrensgegenstand – das ist wichtig, festgehalten zu werden – hat seinen Bezugspunkt nicht in einem Rechtsverhältnis, das auch außerhalb eines Prozesses als schon existent gedacht werden und auf dessen (bloße) Rekonstruktion es im Prozess ankommen könnte. So gesehen trifft auch der Begriff der „materiellen Wahrheit“,54 wenn man ihn umstandslos auf das anglo-amerikanische Modell anwendet, nicht das Richtige.55 Der Begriff steht nicht für eine rein prozessuale Kategorie, sondern knüpft an unser strafrechtliches Systemdenken an. Bezugspunkt der „materiellen Wahrheit“ ist ein Rechtsverhältnis, das durch das begangene Delikt begründet wurde, und das – weil es sämtliche systematisch entwickelten Strafbarkeitsvoraussetzungen schon enthält – im Prozess „nur noch“ zu rekonstruieren ist.
V. Ausblick Zwischen der Prozessstruktur und der Konzeption des materiellen Strafrechts besteht ein spezifischer Zusammenhang. Es ist aber schwer vorstellbar, das adversatorische System aus diesem Zusammenhang, der durch ein dialogisch strukturiertes Rechtsverhältnis gebildet wird, zu lösen und mit unserem, vom materiellen Systemdenken beherrschten Strafrechtskonzept zu kombinieren.
ken vgl. Weßlau Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform?, 2002, S. 216 mit Fn. 762; zu den jeweiligen prozessualen Konsequenzen s.a. die Andeutungen bei Weßlau GA 2010, 47, 51. 53 Schmid (Fn. 26), S. 216 ff. 54 Dass der Begriff der „formellen Wahrheit“ unpassend ist, wurde oben bereits gezeigt. 55 Vgl. aber z.B. Schünemann FS Fezer, 2008, S. 555, 562 ff., wo die These vertreten wird, auch das anglo-amerikanische Modell der Beweisaufnahme verfolge das Ziel, die materielle Wahrheit zu erforschen.
Adversatorischer Strafprozess: Wahrheit und Legenden
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In den beiden Kontinenten kommen entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht wissenschaftsphilosophisch erklärbare Unterschiede bei der Wahrheitskonzeption zur Geltung. Für die Favorisierung des Wettstreit-Ideals im angloamerikanischen Prozess gegenüber staatlich/hoheitlich garantierter Durchsetzung einer „Werteordnung“ ist nach anderen Erklärungen zu suchen. Vielfach rezipiert wurden etwa die von Mirjan Damaška eingeführten Konzepte des „reactive state“ und des „proactive state“.56 So erkenntnisfördernd solche Gegenüberstellungen auch sein mögen, sie nehmen aber die Prozessstruktur als solche in den Blick und suchen für sie eine Verbindung zu einer tiefer liegenden Ebene des Rechts- und Kulturvergleichs. Dass aber wiederum juristische Denkfiguren – hier: die Struktur des materiellen Rechtsverhältnisses – ihrerseits Bedingungen schaffen, die eine Favorisierung des adversatorischen Ideals oder aber eines inquisitorischen Ideals nahe legen, ist eine Erkenntnis, die in ihren Konsequenzen erst noch durchdacht werden müsste. Eine Konsequenz dürfte bereits deutlich geworden sein: Es gibt unterschiedliche Bedürfnisse, die Legitimität der Verurteilung durch Bezugnahme auf die Kategorie „Wahrheit“ zu stützen. Im kontinentalen System dient der Prozess der Verwirklichung des materiellen Strafrechts. Aufgabe des Prozesses ist es, alle Tatfragen zu klären, die sich aus dem Rechtsverhältnis ergeben. Wenn es um die Verwirklichung des materiellen Strafrechts geht, dann muss der Prozess auf Wahrheitsfindung ausgerichtet sein. Wo aber das Rechtsverhältnis nicht in einer Abfolge von verschiedenen Gesichtspunkten vollständig durchstrukturiert, sondern nach dem Muster von Rechten und Gegenrechten gedacht wird, auf die die Parteien sich im Prozess berufen müssen, wo also der Strafrechtsfall außerhalb des Prozesses gar nicht existiert, da wird die Frage nach der Übereinstimmung des Prozessergebnisses mit dem materiellen Recht unsinnig. Das muss bedacht werden, wenn von „materieller Wahrheit“ als Verfahrensziel die Rede ist. All das ändert allerdings nichts daran, dass es auch in einem Parteiverfahren um Wahrheitsfindung im Sinne der Rekonstruktion des vergangenen Geschehens als Verfahrenszweck geht.
56 Damasˇka The Faces of Justice and State Authority. A Comparative Approach to the Legal Process, New Haven, Conn. 1986; vgl. auch ders. StV 1988, 398 ff.; aufgegriffen z.B. von Hörnle ZStW 117 (2005), 801 ff.
Erweiterung der Grundlagen für die Einstellung des Strafverfahrens im polnischen Strafrecht Andrzej Zoll
Die Person des Jubilars ist im Kreise der polnischen Strafrechtler sehr gut bekannt. Wir hatten oft die Möglichkeit, im direkten Gespräch – nicht zuletzt im Rahmen der in den zwei letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts stattgefundenen Polnisch-Deutschen Colloquien – unsere Meinungen und Erfahrungen auszutauschen. Mit seinem Werk nimmt er auch Einfluss auf die polnische Strafrechtswissenschaft, wovon zahlreiche Verweise auf seine Arbeiten in den Arbeiten polnischer Strafrechtler ein Zeugnis ablegen.1 Möge dieser kurze Beitrag unserer herzlichen Verbundenheit mit Professor Schünemann Ausdruck geben. In dem die polnische Strafprozessordnung grundlegend novellierenden Gesetz vom 27. September 2013 2 finden sich, wenn auch in beschränktem Umfang, auch Vorschriften zur Novellierung des seit 1998 geltenden Strafgesetzbuches, u.a. durch Hinzufügung einer neuen Grundlage für die Einstellung des Strafverfahrens gegenüber Tätern verbotener Taten.3 1 Vgl. z.B. Gruszecka Ochrona dobra prawnego na przedpolu jego naruszenia [Der Schutz des Rechtsguts im Vorfeld seiner Verletzung], Warszawa 2012; Hryniewicz Przestępstwa abstrakcyjnego i konkretnego zagrożenia dóbr prawnych [Strafbare abstrakte und konkrete Rechtsgutsgefährdung], Warszawa 2012. 2 Gesetz vom 27. September 2013 zur Änderung des Gesetzes – Strafprozessordnung und einiger anderer Gesetze (Dz. U. [Gesetzblatt] 2013 Pos. 1247; tritt am 1. Juli 2015 in Kraft.). 3 Gem. Art. 12 Pkt. 1 des oben genannten Gesetzes wird das pol. StGB um Art. 59a wie folgt ergänzt: Art. 59a § 1: „Hat ein wegen einer vorsätzlichen Straftat unter Anwendung von Gewalt nicht vorbestrafter Täter vor Beginn der Gerichtsverhandlung den Schaden oder das zugefügte Unrecht wiedergutgemacht, so wird auf Antrag des Verletzten das Strafverfahren wegen eines mit Freiheitsstrafe von nicht mehr als 3 Jahren bedrohten Vergehens, wegen eines mit Freiheitsstrafe von nicht mehr als 5 Jahren bedrohten Vermögensvergehens, wie auch wegen eines in Art. 157 § 1 bestimmten Vergehens eingestellt. § 2: Ist die Tat zum Nachteil von mehr als einem Verletzten begangen worden, so ist die Anwendung von § 1 durch die Wiedergutmachung des Schadens oder des zugefügten Unrechts gegenüber allen Verletzten bedingt. § 3: Die Vorschrift des § 1 findet keine Anwendung, wenn ein besonderer, die Annahme begründender Umstand vorliegt, dass die Einstellung des Verfahrens der erforderlichen Erreichung des Strafzwecks widersprechen würde.“
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Andrzej Zoll
Den mit dem polnischen Strafrecht weniger vertrauten Lesern möchte ich erklären, dass es gemäß Art. 1 § 2 pol. StGB für die Qualifikation einer verbotenen Tat als Straftat nicht nur der Feststellung bedarf, dass alle Tatbestandsmerkmale verwirklicht worden sind, sondern auch, dass die Tat in einem nicht nur unerheblichen Maße sozialschädlich ist. Der strafrechtlichen Bewertung von geringfügigen Strafrechtsverstößen liegt nicht, wie es z.B. im deutschen Strafrecht der Fall ist, die in den Prozessvorschriften zum Ausdruck kommende Lösung im Sinne des Opportunitätsprinzips zugrunde,4 sondern die Annahme, dass eines der materiell-rechtlichen Elemente des Verbrechensaufbaus die auf die Bewertung der Sozialschädlichkeit eines konkreten tatbestandsmäßigen Verhaltens bezogene Strafwürdigkeit begründe.5 Befindet ein Prozessorgan (Staatsanwalt bzw. Gericht), eine konkrete Tat sei in nur geringfügigem Grade sozialschädlich, so ist das Strafverfahren obligatorisch einzustellen, da in einem solchen Fall keine Straftat vorliegt. Die Strafrechtslehre und die Praxis gehen heute von der Annahme aus, dass für die über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der Strafwürdigkeit und folglich der Straftat zu entscheidende Bewertung des Grades der Sozialschädlichkeit nur die mit der Tat verbundenen, sowohl auf die subjektive als auch auf die objektive Tatseite bezogenen Umstände von Bedeutung seien.6 Als irrelevant und ohne jeden Einfluss auf diese Bewertung seien täterbezogene Umstände (die bisherige Lebensführung, Vorstrafen, persönliche Eigenschaften) anzusehen.7 Welcher der beiden Lösungen zur Ausgrenzung von geringfügigen Rechtsverletzungen aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts – der prozess- oder der materiell-rechtlichen Lösung – der Vorrang gebührt, ist schwer zu entscheiden. Hinsichtlich der in Polen praktizierten Lösung waren bislang keine kritischen Stimmen zu vernehmen. Die Garantiefunktion des Strafrechts wird jedenfalls nicht beeinträchtigt. Erst die Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen macht den Weg für die Bewertung der Sozialschädlichkeit der Tat und für die eventuelle Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit frei. Auch wird die Realisierung der Schutzfunktion des Strafrechts nicht beeinträchtigt. Der Beschluss über die Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit, insbesondere der Beschluss des Staatsanwalts, kann vor Gericht angefochten werden.8 Wird dieser für mangelhaft 4
Vgl. § 153 StPO. Näher dazu Zoll ZStW 107 (1995), 417 ff. 6 Art. 115 § 2 pol. StGB entscheidet dies eindeutig. Vgl. Zoll Materialne określenie przestępstwa [Materiellrechtliche Straftatbestimmung], Prokuratura i Prawo 1997 H. 2, S. 7 ff. 7 In der Volksrepublik Polen wurde die Annahme der Geringfügigkeit der Tat sehr oft an täterbezogene Umstände geknüpft, wie z.B. politische Anschauungen, Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei oder in einer anderen, mit dem Regime verbundenen Organisation. 8 Vgl. Art. 306 § 1 StPO. 5
Die Einstellung des Strafverfahrens im polnischen Strafrecht
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befunden und erlässt der Staatsanwalt erneut einen Beschluss über die Einstellung des Verfahrens, so kann der Verletzte bei mit öffentlicher Klage verfolgten Straftaten eine Anklageschrift einreichen.9 Wird die Tat für mehr als nur geringfügig sozialschädlich befunden, liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Strafwürdigkeit einer die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale verwirklichenden Tat vor. Dies bedeutet allerdings noch nicht, dass der Täter strafrechtlich belangt werden muss. In einem solchen Fall greifen aber bereits gesetzliche, mit einer bestimmten Strafpolitik verbundene Regelungen. Das geltende polnische Strafgesetzbuch sieht die Möglichkeit einer bedingten Einstellung des Verfahrens vor.10 Liegen Voraussetzungen für eine bedingte Verfahrenseinstellung vor, so kann der Staatsanwalt, anstatt die Anklageschrift einzureichen, einen Antrag auf bedingte Einstellung des Verfahrens bei Gericht stellen.11 Das Gericht entscheidet über den Antrag in einer nichtöffentlichen Sitzung, ohne Anberaumung einer Verhandlung, allerdings unter Teilnahme des Staatsanwalts, des Angeklagten und seines Verteidigers sowie des Verletzten, und stellt das Verfahren durch Urteil bedingt ein, wenn es den Antrag für begründet hält.12 Die Urteilsform ist in einem solchen Fall aus verfassungsrechtlichen Gründen notwendig, da gem. Art. 42 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen von 1997 die Unschuldsvermutung nur durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil überwunden werden kann. Die Voraussetzungen für die Anwendung der bedingten Verfahrenseinstellung kann man in drei Gruppen, d.h. in tatbezogene, täterbezogene und auf Prozessfragen bezogene Voraussetzungen einteilen. Die Straftat als Gegenstand des Verfahrens zur Einstellung darf nicht strenger als mit drei Jahren Freiheitsentzug bedroht werden. Es handelt sich somit um Straftaten, deren Schädlichkeitsgrad – abstrakt gesehen – relativ niedrig ist. Auch bei der Bewertung in concreto dürfen der Grad der Sozialschädlichkeit und der Schuld nicht schwer wiegen. Haben sich der Verletzte und der Täter versöhnt, hat der Täter den Schaden wiedergutgemacht oder haben sich der Verletzte und der Täter über die Art und Weise der Schadenswiedergutmachung geeinigt, so kann das Verfahren gegenüber dem Täter einer Straftat, deren gesetzlich angedrohte Höchststrafe fünf Jahre Freiheitsentzug nicht übersteigt, bedingt eingestellt werden. Mit dem Novellierungsgesetz vom 27. September 2013 wird auch die Regelung der bedingten Verfahrenseinstellung dahingehend geändert, dass sie auf alle mit Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren bedrohten Straftaten Anwendung finden kann; vorausge-
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Vgl. Art. 330 § 2 StPO. Art. 66–68 pol. StGB. Vgl. Art. 336 § 1 StPO. Vgl. Art. 341 StPO.
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setzt natürlich, dass das Vorliegen sonstiger tat-, täter- oder prozessbezogenen Merkmale festgestellt ist. Das Strafverfahren kann bedingt eingestellt werden, wenn die Haltung des noch nicht wegen einer vorsätzlichen Tat vorbestraften Täters, seine Eigenschaften, seine persönliche Lage sowie sein bisheriger Lebenswandel die Annahme rechtfertigen, dass er trotz Einstellung des Verfahrens die Rechtsordnung beachten, insbesondere keine weiteren Straftaten begehen wird. Die Anwendung der bedingten Einstellung setzt eine positive kriminologische Prognose voraus. Das Gesetz verlangt auch, dass die prozessuale Voraussetzung der Klärung der Tatumstände erfüllt ist. Ein Geständnis des Täters ist nicht erforderlich, die Umstände müssen aber eindeutig die Annahme seiner Täterschaft begründen. Die Feststellung der Tatumstände und die Beweissicherung sind von Bedeutung, wenn das eingestellte Verfahren wieder aufgenommen werden soll. Die bedingte Verfahrenseinstellung erfolgt für eine Probezeit von einem Jahr bis zu zwei Jahren. Das Gericht kann dem Täter auch bestimmte Bewährungsmaßnahmen auferlegen. Nach erfolgreichem Abschluss der Probezeit kann das bedingt eingestellte Verfahren nicht mehr in Gang gesetzt werden und der Täter gilt als nicht vorbestraft. Wenn er jedoch die auferlegten Pflichten bzw. die angeordneten Bewährungsmaßnahmen verletzt, insbesondere eine neue Straftat begeht, kann das Gericht das eingestellte Verfahren wieder aufnehmen und über die Strafverantwortlichkeit nach Durchführung einer Gerichtsverhandlung entscheiden. Mit diesem kurzen Rückblick über die im Bereich der strafrechtlichen Reaktion geltende Rechtslage in Polen sollte der Hintergrund verdeutlicht werden, vor dem die neue Grundlage für die Einstellung des Verfahrens angewendet werden soll. Die neu eingeführte Einstellungsgrundlage findet bei Straftaten Anwendung, d.h. solchen Taten, deren individueller und konkreter Grad der Sozialschädlichkeit die Schwelle der Erheblichkeit überschreitet und somit eine Bewertung als „geringfügig“ ausschließt. Die neue Einstellungsgrundlage knüpft zweifelsfrei an die sog. ausgleichende (korrektive) Gerechtigkeit an, eine Richtung, die im Rahmen der Strafpolitik der Lösung des durch eine Straftat verursachten Konflikts vorrangige Bedeutung beimisst. Die Lösung eines solchen Konflikts vor der gerichtlichen Entscheidung kann die Notwendigkeit der Täterbestrafung eliminieren, sodass die Einstellung des Strafverfahrens in diesem Kontext als gesellschaftlich berechtigt und nicht zuletzt aus prozessökonomischen Gründen als sehr günstig erscheinen kann. Entsprechend der Idee der ausgleichenden (korrektiven) Gerechtigkeit kommt bei der Bestimmung der strafrechtlichen Reaktion auf die begangene Straftat der Haltung des Verletzten die Hauptrolle zu. Als unabdingbare Voraussetzung für die Verfahrenseinstellung verlangt der neue Art. 59a pol. StGB in § 1 den Antrag des Verletzten auf einen solchen Abschluss des Falls. Dennoch ruft der Inhalt des vom Parlament angenommenen Art. 59a pol.
Die Einstellung des Strafverfahrens im polnischen Strafrecht
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StGB eine kritische Reaktion hervor. Der vom am Justizministerium tätigen Kodifizierungsausschuss vorbereitete Regierungsentwurf sah als Voraussetzung für die Einstellung des Verfahrens vor allem die Versöhnung des Verletzten mit dem Täter vor, insbesondere im Wege der Mediation. In erster Linie ging es somit um die Beilegung des Konflikts und um die absolut freiwillige Antragsstellung seitens des Verletzten. Diese Elemente wurden aus dem Gesetzestext entfernt. Bedauerlicherweise kann dies den Weg für Einflussnahmen auf das Verfahren und die Entscheidung öffnen, die gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Der in Art. 59a § 3 pol. StGB angenommene Vorbehalt vermag den Verletzten vor solchen Praktiken nicht hinreichend zu schützen. Mit Bedauern ist daher festzustellen, dass der angenommene Text wesentlich von den mit der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit verbundenen Voraussetzungen abweicht. Der Antrag des Verletzten kann nur dann wirksam sein, wenn die in Art. 59a § 1 pol. StGB normierten drei Kategorien von Voraussetzungen – auf die Straftat, auf die Vergangenheit des Täters und auf das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat bezogen – zusammen erfüllt sind. Das Gesetzt beschränkt die Anwendung der bedingten Verfahrenseinstellung auf Grund von Art. 59a pol. StGB auf Verfahren wegen Vergehen mit angedrohter Höchststrafe von nicht mehr als drei Jahren Freiheitsentzug, Vergehen gegen das Vermögen, die mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht sind, sowie wegen Vergehen gem. Art. 157 § 1 pol. StGB (vorsätzliche Verursachung einer Funktionsverletzung von Körperorganen oder einer Gesundheitszerrüttung, ohne Erfüllung des Merkmals der schweren Gesundheitsbeschädigung). Was unangenehm auffällt, ist eine bestimmte Kasuistik, die aus der neuen Grundlage zur Einstellung des Verfahrens folgt. Der strafrechtliche Kodifizierungsausschuss schlug in seinem Novellierungsentwurf vor, Art. 59a pol. StGB auf alle mit Freiheitsstrafe von nicht mehr als fünf Jahren bedrohten Vergehen anzuwenden. Im Laufe der parlamentarischen Arbeiten aber wurde dieses Postulat wesentlich eingeschränkt mit der Begründung einer notwendigen Differenzierung der Strafpolitik gegenüber Tätern von Straftaten mit – abstrakt gesehen – mittlerem Gewicht. Aus der Kategorie von Straftaten gegen das Vermögen wurden Straftaten unter Anwendung von Gewalt (Raub, Raubdiebstahl) ausgeschlossen, es sei denn, der Fall wurde als „minder schwer“ qualifiziert (Art. 283 pol. StGB). Die Einstellung des Strafverfahrens auf Antrag des Verletzten kann nicht gegenüber einem wegen einer vorsätzlichen Gewalttat vorbestraften Täter angewendet werden. Diese Voraussetzung negativen Charakters wurde sehr weit aufgefasst. Für ihre Annahme ist die Verbüßung irgendeiner Strafe für eine zuvor begangene Straftat nicht notwendig. Ausreichend ist die Tatsache der Verurteilung selbst, darunter auch das Urteil, in dem das Gericht aus gesetzlich bestimmten Gründen von Strafe abgesehen hat. Dies kann Interpretationszweifel bezüglich der Frage hervorrufen, ob die Anwendung von
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Gewalt ein Tatbestandsmerkmal der Straftat, für die der Täter verurteilt worden ist, sein muss, oder ob es als eine Beschreibung der Handlungsweise des Täters anzusehen ist, die vom Tatbestand nicht erfasst wird. Aus Garantiegründen ist die erstgenannte Interpretation anzunehmen, wie auch das Nichtvorliegen der negativen Voraussetzung, wenn der Täter zuvor wegen einer unter Androhung unmittelbarer Gewaltanwendung begangenen Tat verurteilt worden ist (z.B. Raub, Art. 280 § 1 pol. StGB). Als die im Hinblick auf die Sache selbst wichtigste Voraussetzung für die bedingte Einstellung des Verfahrens gem. Art. 59a pol. StGB ist das Verhalten des Täters nach der Tatbegehung anzusehen. Das Gesetz verlangt, dass der Täter den zugefügten Schaden bzw. das zugefügte Unrecht wiedergutgemacht hat. Im ersteren Fall geht es um eine Beeinträchtigung materieller Rechtsgüter des Verletzten (worunter sowohl damnum emergens als auch lucrum cesans zu verstehen sind), im zweiten Fall vielmehr um eine Verletzung persönlicher Rechtsgüter des Verletzten. In Art. 59a § 2 pol. StGB legt das Gesetz ausdrücklich fest, dass im Falle eines mehreren Verletzten zugefügten Schadens bzw. Unrechts das Verfahren nur dann eingestellt werden kann, wenn die Schadenswiedergutmachung bzw. Unrechtsgenugtuung allen Verletzten gilt. Im Gesetz fehlt allerdings eine ausdrückliche Aussage hinsichtlich der Frage, ob in einem solchen Fall alle Verletzten einen Antrag auf Verfahrenseinstellung zu stellen haben, oder ob der Antrag nur eines von ihnen ausreichend ist. Es ist hier eine für den Täter günstigere Auslegung in dem Sinne anzunehmen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 59a pol. StGB bei Antragstellung durch mindestens einen Verletzten erfüllt sind. Der Einstellung des Verfahrens steht in diesem Fall der Einspruch eines weiteren, in seinen Ansprüchen jedoch befriedigten Verletzten nicht im Wege. Das Gesetz verlangt nicht, dass der Täter die Schadens- bzw. Unrechtswiedergutmachung initiieren muss. Irrelevant sind auch die Beweggründe des Täters. Als hinreichend gilt der Wille, eine Bestrafung zu vermeiden. Die Einstellung des Verfahrens ist bei Vorliegen der in Art. 59a § 1, 2 pol. StGB bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich obligatorisch. Das Gesetz lässt aber eine Art Sicherheitsklappe offen, indem es in Art. 59a § 3 pol. StGB die Anwendung der Verfahrenseinstellung bei Vorliegen eines Umstands ausschließt, der die Annahme begründet, dass die Verfahrenseinstellung die Erreichung der Strafzwecke beeinträchtigen könnte. Dieser Vorbehalt ist für die Feststellung des rechtlichen Charakters der Verfahrenseinstellung auf Grund von Art. 59a § 1 pol. StGB von wesentlicher Bedeutung. Im Gesetz fehlt eine Bestimmung des Charakters der die Fortsetzung des Strafverfahrens und Bestrafung des Täters begründenden Umstände. Unklar ist im Besonderen, ob es ein auf die Tat oder auf die Person des Täters bezogener oder auch mit der Einwirkung auf das öffentliche Rechtsbewusstsein verbundener Umstand (Generalprävention) sein soll.
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Es hat den Anschein, dass der Grund für das Absehen von Verfahrenseinstellung trotz Vorliegens der in Art. 59a § 1 pol. StGB bestimmten Voraussetzungen nicht in den Umständen zu sehen ist, die auf die Tat selbst als Gegenstand des Strafverfahrens bezogen sind. Die in Art. 59a § 3 pol. StGB genannten Strafzwecke sind als Zwecke im Bereich der individuellen Einwirkung (Individualprävention) sowie im Bereich der Gestaltung des öffentlichen Bewusstseins (Generalprävention) zu verstehen. Die Verfahrenseinstellung kann z.B. unter Hinweis darauf abgelehnt werden, dass der Täter bereits früher diese Maßnahme in Anspruch genommen hat. Es muss nämlich verhindert werden, dass z.B. ein Täter eines Diebstahls nach Feststellung seiner Täterschaft die gestohlene Sache zurückgeben und auf die Großzügigkeit des Verletzten hoffen kann, ohne somit allzu viel bei der Diebstahlbegehung zu riskieren. Die Einstellung des Verfahrens kann auch im Zusammenhang mit der Häufigkeit der Begehung von bestimmten Straftaten auf einem konkreten Gebiet abgelehnt werden. Die Einstellung des Verfahrens unter solchen Umständen könnte sich nämlich auf das öffentliche Bewusstsein in Bezug auf den strafrechtlichen Schutz des durch die Taten angegriffenen Rechtsguts negativ auswirken. Der Ablehnung des Antrags des Verletzten auf Verfahrenseinstellung kann auch der begründete Zweifel des Staatsanwalts bzw. des Gerichts an der Freiwilligkeit der Antragstellung durch den Verletzten zugrunde liegen. Die neu eingeführte Voraussetzung für die unbedingte Einstellung des Strafverfahrens muss im Kontext des Versuchs einer grundsätzlichen Wende in der polnischen Strafpolitik gesehen werden. Polen ist ein Land mit einer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ niedrigen Kriminalität. Auf 100000 Einwohner kommen in Polen etwa 2800 Straftaten (in Tschechien: 3500; in Frankreich: 5800; in Deutschland: 7600). Und der rückläufige Trend hält weiter an. Der Höhepunkt fällt auf die Jahre 2003–2004, in denen etwa 1460000 Straftaten im Jahr begangen wurden. 2009 waren es 1100000 und 2012 950000 Straftaten. Charakteristisch ist dabei, dass diese deutlich sinkenden Zahlen vor allem Kriminaldelikte betreffen. 2001 wurden 1325 Tötungsdelikte registriert,13 2012 dagegen lediglich 582. Im Jahre 2000 kam es in Polen zu 2399 Vergewaltigungsdelikten14, 2012 zu 1 432. Im Jahre 2000 wurde in Polen in 53533 Fällen Diebstahl unter Anwendung bzw. Androhung von Gewalt begangen,15 im Jahr 2012 waren es 24564. Anders stellt sich allerdings das Kriminalitätsbild im Bereich der Wirtschaftsstraftaten, der Straftaten gegen das Vermögen (ohne Anwen-
13 Die höchste Zahl seit 1999, d.h. dem ersten Jahr der Geltung des Strafgesetzbuches von 1997. 14 Die höchste Zahl nach 1999. 15 Die höchste Zahl nach 1999.
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dung bzw. Androhung von Gewalt) sowie der Verkehrsdelikte dar. Bei diesen Straftaten ist kein ähnlich deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Nicht ohne Einfluss auf die so schnell sinkenden Kriminalitätszahlen in Polen bleibt zweifelsfrei die Tatsache, dass nach dem Beitritt Polens zur EU im Jahre 2004 relativ viele Personen das Land auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen verlassen haben. Der sinkenden Bedrohung durch Kriminalität vermag allerdings die Gefangenenziffer in Polen kaum zu entsprechen, die eine der höchsten in den EU-Mitgliedstaaten ist. Derzeit beträgt sie 217 Gefangene pro 100000 Einwohner. Höher ist sie nur in Litauen (329), Lettland (304) und Estland (238). In Finnland beträgt die entsprechende Zahl 58. In den polnischen Strafanstalten sind derzeit ca. 83000 Personen untergebracht. Noch bedrohlicher erscheint aber die Information, dass etwa 68000 rechtskräftig zu Freiheitsstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung Verurteilte ihre Strafe noch nicht angetreten haben. All das zeugt von einer tiefen Krise der polnischen Justiz. Angesichts der aktuellen Kriminalitätsbedrohung besteht in Polen keine Notwendigkeit, neue Strafanstalten zu bauen. Was dagegen getan werden muss, und zwar unverzüglich, ist ein grundlegender Wandel der Strafpolitik, in erster Linie durch eine geänderte Struktur der verhängten Strafen. In Polen werden in viel zu seltenen Fällen Strafen ohne Freiheitsentzug verhängt, d.h. Geld- und Freiheitsbeschränkungsstrafen, verbunden mit der Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit (entsprechend 21 % und 12 % aller verhängten Strafen). Es liegt bereits ein Regierungsentwurf zu einer umfassenden Novellierung des pol. StGB vor. Die geplanten Änderungen bezwecken eine Einschränkung der Verhängung von Freiheitsstrafen, darunter auch Bewährungsstrafen. Die Tatsache, dass in mehr als 50 % der Fälle die Strafvollstreckung wegen Misserfolgs angeordnet werden muss, trägt zum weiteren Anstieg der Gefängnispopulation bei. Die in diesem Beitrag dargestellte neue Voraussetzung für die Einstellung des Strafverfahrens und die mit ihr verbundene erweiterte Möglichkeit der Verfahrenseinstellung sind als ein erstes, vom Parlament bereits gegebenes Zeichen einer neuen, entschieden rationaleren Strafpolitik zu begrüßen.
Europäisches und internationales Strafrecht
Kartellgeldbußen ohne strafrechtlichen Grundrechtsschutz? Hans Achenbach I. Problemstellung Bernd Schünemann ist bekannt als scharfer Kritiker mancher von ihm als verderblich eingestufter Einflüsse des Rechts der Europäischen Union auf das deutsche Straf- und Strafprozessrecht. Dessen Einflussnahme erfasst aber über das Kriminalrecht mit seinem Verfahrensrecht hinaus auch das materielle und formelle Recht der mit Geldbuße bedrohten Verstöße, d.h. im deutschen Recht: der Ordnungswidrigkeiten. Speziell auf dem Gebiet des Kartellbußgeldrechts sind die Einwirkungen des europäischen Rechts besonders intensiv, weil das deutsche Kartellrecht gemäß § 22 GWB und Art. 3, 5 f., 11 ff. der europäischen Kartellverfahrens VO 1/20031 in einer engen Wechselbeziehung mit dem europäischen Kartellrecht steht, die durch die Zusammenarbeit der nationalstaatlichen Wettbewerbsbehörden mit der Europäischen Kommission im Europäischen Wettbewerbsnetz ECN eine institutionelle Abstützung erfährt.2 Der folgende Beitrag möchte sich besonders auseinandersetzen mit den von Schünemanns Münchener Fakultätskollegen Thomas Ackermann in der letzten Zeit für eine grundlegende Reform des deutschen Kartellbußgeldrechts vorgetragenen Gedanken, die auf eine radikale Anpassung an Vorgaben des europäischen Kartellrechts und einen Abschied von dem bisherigen „Modell des OWiG“ hinauslaufen.3 In dem hier vorgegebenen Rahmen kann diese Auseinandersetzung freilich nicht beanspruchen, die Thematik mit der eigentlich gebotenen eingehenden Analyse der Grundlagen im Europarecht sowie im deutschen Verfassungs- und einfachen Recht zu verbinden. 1
Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in Art. 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. L 1/1 vom 4.1.2003. Gemäß Art. 5 Abs. 1 des Vertrages von Lissabon, ABl. C 306/1 vom 17.12.2007 i.V.m. der Übereinstimmungstabelle im Anhang des Vertrages sind an die Stelle der Art. 81, 82 EGV die Art. 101, 102 AEUV getreten. 2 S. dazu den Erwägungsgrund 15 der VO 1/2003 sowie die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl. C 101/43 vom 27.4.2004. 3 Ackermann ZWeR 2012, 3 ff. (Zitat von S. 16); s. ferner ders. ZWeR 2010, 329 ff. und dessen Editorial in WRP 4/2013.
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Vielmehr kann ich mich nur darauf beschränken, Fragen und einzelne Gesichtspunkte zu artikulieren, die mich als deutschen Dogmatiker des Strafund Ordnungswidrigkeitenrechts bei der Lektüre von Ackermanns Vorschlägen bewegen. Ich hoffe, damit das Interesse und natürlich auch den Beifall des verehrten Jubilars zu finden, dem ich diese kleine Studie in Erinnerung an die schönen Jahre der gemeinsamen Assistentenzeit bei unserem akademischen Lehrer Claus Roxin in Göttingen und München, an zahlreiche persönliche Begegnungen und wissenschaftliche Kontakte in den seither vergangenen Jahrzehnten und in Bewunderung für die enorme Spannweite seines engagierten geist- und gedankenreichen bisherigen Lebenswerks mit allen guten Wünschen für viele weitere Jahre voll Schaffensfreude und Gesundheit herzlich zueigne.
II. Der Gedankengang Ackermanns Zunächst soll der Versuch unternommen werden, sine ira et studio die zentralen Gesichtspunkte in der Argumentation von Ackermann herauszuarbeiten. Ich sehe sie in Folgendem: 1. Wahrung des für die dezentrale Durchsetzung der Art. 101 f. AEUV durch Geldbußen notwendigen Mindestmaßes an Effektivität durch die Mitgliedsstaaten der EU Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) statuiert Art. 101 das europäische Kartellverbot und Art. 102 das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. In den dort vorausgesetzten Fällen einer Eignung zur Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts verwirklicht die VO 1/2003 ein, wie Ackermann formuliert, „System dezentraler Durchsetzung der Art. 101 f. AEUV“:4 Solange nicht die Europäische Kommission einen Fall an sich zieht (Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003), sind die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden befugt und verpflichtet, neben dem einzelstaatlichen Recht auch das europäische Wettbewerbsrecht anzuwenden und dazu die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Sanktionen – für das deutsche Recht also namentlich Geldbußen gemäß § 81 GWB – zu verhängen (Art. 5 VO 1/2003, § 81 Abs. 1 GWB). Laut Ackermann gelten (auch) für die öffentliche Durchsetzung des EUKartellrechts mit Hilfe von Geldbußen die Grundsätze der Effektivität und der kohärenten Anwendung der EU-Wettbewerbsregeln. Dabei plädiert er 4
Ackermann ZWeR 2012, 3, 6 u.ö.
Kartellgeldbußen ohne strafrechtlichen Grundrechtsschutz?
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für ein „Untermaßverbot“: „Die Mitgliedstaaten müssen bei der Gestaltung ihres Kartellbußgeldrechts (einschließlich seiner verfahrensrechtlichen Einbettung) das Mindestmaß an Effektivität wahren, das erforderlich ist, damit keine Lücken im System dezentraler Durchsetzung der Art. 101 f. AEUV gerissen werden“.5 2. Sperrwirkung des Unionsrechts gegenüber entgegenstehendem nationalem einfachem und Verfassungsrecht in diesem Zusammenhang Weil das Kartellbußgeldrecht der Mitgliedstaaten bisher nicht harmonisiert ist, sind deutscher und unionsrechtlicher Grundrechtsschutz nach Ackermanns Ansicht grundsätzlich nebeneinander anwendbar, so dass sich der Rechtsunterworfene prinzipiell auf die ihm günstigste Grundrechtsgewährleistung berufen kann. Jedoch soll gelten: „Was das Unionsrecht an Minimalbedingungen für das Funktionieren der dezentralen Kartellrechtsdurchsetzung gebietet, darf nationales Recht, auch Verfassungsrecht, nicht verbieten“. Insoweit soll dann nur noch unionsrechtlicher Grundrechtsschutz den Maßstab bilden.6 Wenig später stellt Ackermann ausdrücklich klar, dass es dabei um die unionsrechtlichen Mindestanforderungen an die Effektivität deutschen Kartellbußgeldrechts gehen soll.7 3. Rein präventive Funktion von Kartellgeldbußen ohne ethische Komponente Ackermann lässt Sympathie mit der Auffassung erkennen, die das Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht als Teil eines wirtschaftsaufsichtsrechtlichen Instrumentariums verstehen will.8 Nach seiner Ansicht ist jedenfalls eine Weiterentwicklung von „der quasi-strafrechtlichen Konzeption des Kartellbußgeldrechts“ in diese Richtung zu erwarten und zu befürworten.9 Schon nach geltendem Recht sieht er die Funktion der Kartellgeldbußen allein in der Prävention von Kartellverstößen, „ohne darüber hinaus eine ethische Missbilligung zum Ausdruck zu bringen“; sie seien deshalb nicht dem Kernstrafrecht zuzuordnen.10
5
Ackermann ZWeR 2012, 3, 5 f. (Zitat von S. 6). Ackermann ZWeR 2012, 3, 7 f. (Zitat von S. 7). 7 Ackermann ZWeR 2012, 3, 8. 8 Er bezieht sich auf Karsten Schmidt wistra 1999, 131, 133; Klocker/Ost FS Bechtold, 2006, S. 229, 242; Mundt WuW 2007, 458, 459; s. Ackermann ZWeR 2010, 329, 334; dens. ZWeR 2012, 3, 4. 9 Ackermann ZWeR 2012, 3, 4, 19. 10 Ackermann ZWeR 2012, 3, 10 (im Rahmen eines mit „Soweit“ eingeleiteten Satzes, der aber nach dem Sinnzusammenhang sein eigenes Verständnis beschreibt). 6
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4. Zuordnung des Kartellbußgeldrechts zum Ordnungswidrigkeitenrecht als Entscheidung des einfachen Gesetzgebers In diesem Zusammenhang steht ein für Ackermann nach meinem Eindruck zentraler Gedanke:11 Er warnt davor, einfachrechtliche Systementscheidungen unreflektiert auf Verfassungsniveau zu heben. Als eine solche sieht er die Entscheidung des einfachen Gesetzgebers an, „das Kartellbußgeldrecht dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuzuordnen“. Diese sei „gewiss keine Vorgabe, an die sich das Verfassungsrecht halten müsste“.12 Ebenso wenig wie das Kartellbußgeldrecht durch die Einordnung als Wirtschaftsaufsichtsrecht irgendwelchen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen habe entzogen werden können, „konnte es ihnen durch die ordnungswidrigkeitenrechtliche Anbindung unterstellt werden“. Mit der Gegenauffassung werde die einfachrechtliche Systembildung zum verfassungsrechtlichen Referenzbegriff für die Tragweite der Entscheidungen des BVerfG stilisiert, ohne dass deren ratio Berücksichtigung finde. 5. Die Bemessung der Kartellgeldbußen und die Bestimmung des Bußgeldpflichtigen als Anwendungsbeispiele Ackermann entwickelt aus diesen Vorgaben konkrete Lösungen für zwei besonders in der Diskussion stehende Problemfelder: die Bemessung der Geldbußen für Kartellrechtsverstöße und die Zulassung des Unternehmens – und damit vor allem verbundener Unternehmen – als Norm- und Entscheidungsadressaten im deutschen Recht. Die komplexen Details können hier nicht erörtert werden;13 die folgenden Ausführungen können nur insoweit darauf eingehen, als sich Berührungspunkte mit den hier erörterten allgemeinen Gesichtspunkten ergeben.
III. Diskussion der Grundlagen 1. Die Geldbuße als Ausdruck von Tadel und Vorwurf Für problematisch halte ich Ackermanns These, Geldbußen für Kartellverstöße hätten nicht die Aufgabe, eine ethische Missbilligung zum Ausdruck zu bringen (o. II 3). Dabei könnte man trefflich streiten über das hier zugrunde zu legende Verständnis von (Sozial-)Ethik. Ich möchte statt dessen schlicht ver11 Hier und, soweit nicht anders zitiert, im Folgenden Ackermann ZWeR 2012, 3, 9; s. aber auch schon dens. ZWeR 2010, 329, 334. 12 So Ackermann ZWeR 2010, 329, 334 f. 13 Zu meiner eigenen Position zuletzt Achenbach WuW 2013, 688, 692 ff. mit umfangreichen Nachw.
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weisen auf das deutsche Gesetz gegen Ordnungswidrigkeiten (OWiG): Dieses sieht in § 1 Abs. 1 die Aufgabe der Geldbuße in der „Ahndung“ der sanktionierten Handlung und knüpft diese wesentlich an ihre „Vorwerfbarkeit“ (s. dazu weiter §§ 10–12). Der „Vorwurf, der den Täter trifft“ bildet ferner nach § 17 Abs. 3 S. 1 neben der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit den zweiten wesentlichen Parameter für die Zumessung der Geldbuße. Gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 3 wird schließlich die Tat im Bußgeldbescheid dem Betroffenen „zur Last gelegt“. Dass speziell die Kartellgeldbuße gleichermaßen (wenigstens auch und z.T. ausschließlich) der „Ahndung“ der Ordnungswidrigkeit dienen soll, bestätigt § 81GWB in Abs. 4 und Abs. 5 ausdrücklich. Mit der Ahndung durch eine Geldbuße ist also ein Vorwurf an mindestens eine handelnde Person verbunden, der das Gesetz die zurechenbare Verwirklichung eines bußgeldtatbestandlichen Verstoßes zur Last legt und so nachdrücklich die Einhaltung der missachteten Pflichten anmahnt.14 Wenn das BVerfG gleichwohl formuliert, der Geldbuße fehle „der Ernst der staatlichen Strafe“,15 so zielt es damit ab auf die fehlende Registerwirkung der Geldbuße, das fehlende Stigma als „Vorstrafe“.16 Der ethische Gehalt des geahndeten Rechtsverstoßes als sozialschädlichen, rechtsgüterverletzenden Geschehens ist dagegen von der Art der Sanktion nicht betroffen.17 Das spiegelt sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung der Verhängung hoher Geldbußen für schwerwiegende Kartellverstöße. Die fehlende Registerwirkung wird durch die Praxis des Bundeskartellamts wie der Europäischen Kommission konterkariert, deren Ahndung unter Nennung der betroffenen Adressaten zu publizieren.18 Es fällt auf, dass solche Geldbußen in den Medien häufig als „Strafe“ bezeichnet werden; der Unterschied zu Geldstrafen sensu stricto schleift sich für die Öffentlichkeit offensichtlich ab.
14 Zum Charakter der Geldbuße als nachdrückliche Pflichtenmahnung BVerfGE 27, 18, 33; 45, 272, 289; Göhler/Gürtler OWiG, 16. Aufl. 2012, Vor § 1 Rn. 9. 15 BVerfGE 9, 167, 171; 22, 49, 79; 27, 18, 33; 45, 272, 289. 16 Anders als die Verurteilung zu Strafen werden Geldbußen nicht in das Bundeszentralregister eingetragen und nicht in einem Führungszeugnis dokumentiert, s. §§ 4, 30 ff. BZRG. Die stattdessen mögliche Eintragung in das Gewerbezentralregister gemäß §§ 149 ff. GewO hat nicht zur Folge, dass die Eintragung dem Betroffenen „im Rechtsverkehr vorgehalten“ werden dürfte (s. dagegen § 51 Abs. 1 BZRG); ein dem Führungszeugnis entsprechendes Institut kennt die GewO nicht. 17 Zu der Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG von der aliud-Theorie zur mählichen Anerkennung des Unrechtsgehalts großer (insbesondere der Kartell-)Ordnungswidrigkeiten s. Achenbach GA 2008, 1, 9 ff. In der gleichen Richtung wie hier Förster in: Rebmann/Roth/Herrmann (Hrsg.), OWiG, Vor § 1 Rn 9, 14 (Januar 2002); Göhler/Gürtler (Fn. 14), Vor § 1 Rn. 8; Mitsch Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 2005, § 3 Rn. 9 ff. 18 Art. 30 VO 1/2003 schreibt der Kommission sogar die Publikation auch der Beteiligten, des wesentlichen Entscheidungsinhalts und der verhängten Sanktionen vor, allerdings mit einem allgemeinen Vorbehalt des berechtigten Interesses der Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse.
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Die Ahndung eines Kartellverstoßes durch Geldbuße soll also nach der Konzeption des deutschen Gesetzes nicht imageschädlich sein, dies ändert aber nichts daran, dass damit dem Betroffenen die Beteiligung an einem sozialschädlichen Geschehen vorgeworfen und er nachdrücklich an seine Pflicht zur Gesetzestreue erinnert wird. Als ethisch neutral kann ich dies nicht werten. Dieses Ergebnis gilt auch für die Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen, die so genannte Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG.19 Diese Norm statuiert, auch wenn dies häufig verkannt wird, keine bloße Haftung eines Unternehmensträgers für das Handeln seines Leitungspersonals, sondern schreibt ausdrücklich vor, dass die gegen die juristische Person oder Personenvereinigung wegen dieses Handelns festsetzbare Sanktion eine Geldbuße sein muss. Diese hat damit aber teil an der generellen Aufgabe jeder Geldbuße, ein bußgeldtatbestandsmäßiges, rechtswidriges und vorwerfbares Verhalten zu ahnden. Ihre Festsetzung setzt zudem gemäß § 30 Abs. 1 OWiG voraus, dass eine für die Leitung des Verbandes verantwortlich handelnde Person eine (betriebsbezogene) „Straftat“ oder „Ordnungswidrigkeit“ begangen haben muss, was deren schuldhaftes bzw. in ordnungswidrigkeitenrechtlicher Terminologie vorwerfbares Verhalten bedingt. Die Verbandsgeldbuße dient somit der Ahndung eines eigenen Handelns des Unternehmensträgers durch seine schuldhaft handelnden Leitungsperson(en) und verbindet damit einen Tadel und Vorwurf, der gegen den Rechtsträger des Unternehmens selbst erhoben wird.20 2. Die präventive Funktion der Geldbuße nach deutschem Recht Fragen wirft auch das von Ackermann zugrunde gelegte Verständnis von Prävention durch die Geldbuße auf. Es ist offensichtlich rein instrumental, eine Rechenoperation nach betriebswirtschaftlichen Kalkülen. Das zeigt das Anwendungsbeispiel der Bemessung von Verbandsgeldbußen wegen Kartellverstößen. Für Ackermann bildet das Idealmaß der Geldbuße für einen Kartellverstoß „der mit dem Kehrwert der Aufdeckungswahrscheinlichkeit multiplizierte Erwartungswert des durch den Kartellverstoß bedingten Mehrerlöses“.21 Dass die in diese Kalkulation eingehenden Faktoren kaum mit einer rechtstaatlichen Anforderungen genügenden Sicherheit zu ermitteln
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S. hierzu besonders meinen Beitrag zur FS Imme Roxin, 2012, S. 3, 7 ff., auch publiziert in ZIS 2012, 178, 180 f. 20 Vertiefend Achenbach in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 271, 272 ff. 21 Ackermann ZWeR 2012, 3, 10; als Beispiel nennt er den Faktor 5 bei einer Aufdeckungswahrscheinlichkeit von 20 %. Im gleichen Sinne schon Ackermann ZWeR 2010, 329, 335.
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sind, räumt er selbst ein; doch sieht er die Mitgliedstaaten der EU als verpflichtet an, nach dem Vorbild der Bußgeldleitlinien der Europäischen Kommission und des Bundeskartellamts „Hilfs- oder Ersatzkriterien“ zu verwenden, „die aufgrund generalisierter Wertungen zumindest eine Annäherung an den präventionstechnisch »richtigen« Betrag erlauben.“.22 Es ist also ein technisches Verständnis einer rigiden Abschreckungsprävention, das hier als wenigstens eigentlich „richtig“ zugrunde gelegt wird. Mir ist zweifelhaft, ob dieser Ansatz sich mit den gesetzlichen Grundlagen vereinbaren lässt.23 Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003 wie auch § 81 Abs. 4 S. 6 GWB sehen übereinstimmend die Schwere und die Dauer der Zuwiderhandlung als grundlegende Parameter für die Zumessung der Kartellgeldbuße vor, und für das deutsche Recht hat der Bundesgerichtshof unlängst bestätigt, dass neben § 81 Abs. 4 GWB die allgemeinen Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG24 als Grundlagen auch für die Zumessung der Kartellgeldbuße gelten.25 Ich kann das nur in dem Sinne verstehen, dass insoweit hier wie sonst das Schuldprinzip in Gestalt des Schuldmaßprinzips gelten muss.26 Das ist im Rechtsstaat für eine ahndende Sanktion auch ganz unerlässlich. Auch dies ergibt sich aus der Entscheidung des BVerfG im Falle Bertelsmann-Lesering (BVerfGE 20, 323), die den Grund gelegt hat für die Ableitung des Schuldprinzips aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG; diese gilt für die Kriminalstrafe wie für die strafrechtsähnlichen Sanktionen, zu denen die Geldbuße maßgeblich gehört.27 Umso mehr müssen sich administrative Regelungen wie die genannten Bußgeldleitlinien vor diesem Prüfstein behaupten. Diese Bindung aller ahndenden Sanktionen an das Schuldprinzip verbietet eine einzig an betriebswirtschaftlichen Kalkülen orientierte Zumessung der Kartellgeldbuße ohne Berücksichtigung von Unrecht und Schuld. Eine krude negative Generalprävention i.S. einer bloßen Abschreckung durch Härte (deterrence) kann nach meiner Überzeugung nicht den wesentlichen Gehalt
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Ackermann ZWeR 2012, 3, 11 f. (Zitat von S. 12). Auf die Begrenzung der Kartellgeldbuße durch die Kappungsgrenze von 10 % des Unternehmensumsatzes nach europäischem und deutschem Recht (Art. 23 Abs. 2 UA 2 VO 1/2003, § 81 Abs. 4 S. 2, Halbs. 2 GWB), die zusätzlich zu einer Deckelung der Geldbußen unter das Niveau der „idealen“ Kartellgeldbuße führen muss, kann hier aus Raummangel nicht eingegangen werden. 24 Die Bedeutung der Tat und der den Täter treffende Vorwurf sowie „auch“ die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. 25 BGHSt 58, 158, 175 (Rn. 58) „Grauzementkartell“. 26 § 17 Abs. 3 OWiG kann mit der „Bedeutung der Ordnungswidrigkeit“ allein das Maß des verschuldeten, vorwerfbar herbeigeführten bzw. nicht verhinderten Unrechts der Tat meinen, s. Achenbach in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, § 81 Rn. 251, 254 (August 2009). 27 Dass das BVerfG diese Aussage zu einem Fall des § 890 ZPO entwickelt hat, zeigt, wie weit die Geltung des Schuldprinzips außerhalb der Kriminalstrafe reicht. 23
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ihrer Verhängung ausmachen.28 Die Kartellgeldbuße dient vielmehr wie jede andere Geldbuße – jedenfalls jenseits der reinen Bagatellfälle – vorrangig der positiven Generalprävention: Sie soll wie die Strafe 29 gegenüber den Beteiligten der Tat und der gesamten Rechtsgemeinschaft die fortdauernde Gültigkeit der von den Ausführenden und Nutznießern der Tat negierten Rechtsnorm verdeutlichen, indem die zuständigen Instanzen auf den Rechtsverstoß mit einer als gerecht empfindbaren, also angemessen strengen, dem Schuldgehalt der Tat entsprechenden Reaktion reagieren. Damit sollen das Vertrauen der Rechtsgenossen in die Gültigkeit der verletzten Verhaltensnormen und ihre normative Orientierung erhalten und gestärkt werden. Dass diese gerechte, schuldangemessene Reaktion eine künftige Normbrüche verhindernde Wirkung auf den sanktionierten Normbrecher wie auf potentielle Nachahmer ausübe, ist dabei mitgedacht. Aber nicht darin, sondern in dem Schuldgehalt der Tat liegt der maßgebliche Zumessungsgesichtspunkt. 3. Die Bindung des Gesetzgebers an die Sachlogik der Ahndung durch die Geldbuße Nun will ja Ackermann den Gesetzgeber von vorgegebenen Bindungen der vorstehend beschriebenen Art lösen. Er hält ihn für fähig und befugt, die „ordnungswidrigkeitenrechtliche Anbindung“ des Kartellbußgeldrechts aufzuheben und es als Teil eines rein wirtschaftsaufsichtsrechtlichen Instrumentariums (endgültig oder neu) zu installieren (o. II 3, 4). Dadurch soll es sich von verfassungsrechtlichen Vorgaben und ihrer Interpretation durch das BVerfG emanzipieren können. Speziell stört ihn eine „formalistische Handhabung“ des Art. 103 Abs. 2 GG und des daraus abzuleitenden Bestimmtheitsgebots 30 sowie das auf den Schuldgrundsatz abgestützte Rechtsträgerprinzip bei der Verbandsgeldbuße des § 30 OWiG, das einer Konzernhaftung i.S. der Rechtsprechung der europäischen Gerichte entgegensteht.31 In dieser grundlegenden These kann ich Ackermann und den Autoren, auf die er sich bezieht, nicht zustimmen. Dem einfachen Gesetzgeber müsste danach die Autonomie zukommen, Kartellrechtsverstöße weiterhin mittels Geldbußen zu sanktionieren, gleichwohl aber die, wie Ackermann 32 es for-
28 Auch Ackermann konzediert, dass die Logik der Abschreckung an einem gewissen Punkt in die Forderung einer Sanktionspraxis umzukippen droht, die willkürlich und mit unverhältnismäßiger Härte zuschlagen müsste (ZWeR 2010, 329, 335); er zieht daraus aber keinen theoretisch präzisierten Rückschluss auf die Richtigkeit der Ausgangsthese. 29 S. dazu Achenbach StraFo 2011, 422, 424 f. 30 Ackermann ZWeR 2010, 329, 341–343 (Zitat von S. 343). 31 Ackermann ZWeR 2010, 329, 345 und ZWeR 2012, 3, 15 f. S. dazu nur etwa BGHSt 57, 193, Rn. 15, 20 und Achenbach wistra 2012, 413 ff. 32 Ackermann ZWeR 2012, 3, 4, s. auch 19.
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muliert, „quasi-strafrechtliche Konzeption des Kartellbußgeldrechts“ aufzugeben, was technisch wohl auf eine Aufhebung der Verknüpfung mit dem OWiG hinausliefe, die sich für § 81 GWB als bundesrechtliche Regelung bisher aus § 2 i.V.m. § 1 Abs. 1 OWiG ergibt. Das steht nach meiner Überzeugung indes nicht in seiner Macht. Wenn eine rechtssetzende Instanz für einen Normbruch retrospektiv eine zu dessen Ahndung dienende Sanktion androht und Regeln für das Verfahren zur Verhängung und zur Vollstreckung dieser Sanktion aufstellt, befindet sie sich nach der Sachlogik dieses Reaktionsmusters bereits auf dem Feld des Strafrechts im weiteren Sinne und unterliegt damit auch dessen menschenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Bindungen. In diesem Sinne verstehe ich die Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung des Begriffes der „strafrechtlichen Anklage“ i.S.v. Art. 6 EMRK. In der grundlegenden Entscheidung in der Sache Engel gegen die Niederlande 33 formuliert der Gerichtshof, bezogen auf Disziplinarverfehlungen nach niederländischem Recht: „sie hatten das Ziel, mittels Sanktionen die den Bf. vorgeworfenen Verfehlungen zu ahnden. Das ist ein Zweck, der dem allgemeinen Ziel des Strafrechts entspricht.“ Im Einzelnen bieten die drei dort entwickelten „Engel-Kriterien“ – Rechtstechnik des betroffenen Staates, Art der Zuwiderhandlung, Schweregrad der Sanktion – einen Interpretationsspielraum. Jedoch haben der EGMR und der EuGH – worauf auch Ackermann hinweist 34 – das (Kartell-)Bußgeldrecht stets als Strafrecht in diesem Sinne angesehen.35 Die Entscheidungen des EGMR in den Sachen Jussila und Menarini, aus denen Ackermann eine generell abgeschwächte Geltung der Strafrechtsgarantien der EMRK ableitet,36 betreffen allein Fragen des Verfahrens, nämlich die Zulässigkeit eines schriftlichen Verfahrens, wie es auch das OWiG im behördlichen „Vorverfahren“ und im gerichtlichen Beschlussverfahren nach § 72 OWiG kennt,37 und die gerichtliche Kontrolle im Kartellbußgeldverfahren als „pleine juridiction“.38 Beide Entscheidungen bestätigen aber ausdrücklich die strafrechtliche Natur der administrativen Sanktionen für Steuer- und Wettbewerbsverstöße.39
33 EGMR, Urt. v. 8.6.1976, Engel u.a. ./. Niederlande, EGMRE 1, 178, 188, 190 (Zitat von S. 188, Kriterien auf S. 190). 34 Ackermann ZWeR 2012, 3, 9 m. Nachw. der Rspr. des EuGH. 35 Grundlegend EGMR, Urt. v. 21.2.1984, Öztürk ./. Deutschland, NJW 1985, 1273. 36 Ackermann ZWeR 2012, 3, 9 f. 37 EGMR, Urt. v. 23.11.2006, Jussila ./. Finnland, Appl. no. 73053/01, Rn. 43. 38 EGMR, Urt. v. 27.9.2011, Menarini Diagnostics S.R.L. ./. Italien, Appl. no. 43509/08, Rn. 57 ff. 39 EGMR, Urt. v. 23.11.2006, Jussila ./. Finnland, Appl. no. 73053/01, Summary (a), Rn. 38; EGMR, Urt. v. 27.9.2011, Menarini Diagnostics S.R.L. ./. Italien, Appl. no. 43509/08, Rn. 42, 44.
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Die vielschichtige Frage, ob für die Androhung und Verhängung von Geldbußen ein geminderter Grundrechtsschutz gelten kann und wie es mit dem Verhältnis von europäischem und deutschem Grundrechtsschutz nach Fransson steht,40 muss ich hier aus Platzmangel offen lassen. Unabhängig davon aber gilt: Sobald und solange der Gesetzgeber als Sanktion für Kartellrechtsverstöße Geldbußen androht, bedient er sich eines im Kern strafrechtlichen, der Kriminalstrafe in dem Charakter als Instrument der Ahndung eines vergangenen vorwerfbaren Geschehens ähnlichen Reaktionsmittels. Dieser der Geldbuße immanente Ahndungscharakter begründet die Anwendbarkeit der Garantien, die das Völkervertragsrecht und das deutsche Verfassungsrecht bezogen auf das Strafrecht für die Gestaltung der materiellen Tatbestände und Sanktionsnormen und für das Verfahren zur Ermittlung und Feststellung der maßgeblichen Tatsachen bereit halten. Selbst wenn hierfür ein verminderter Grundrechtsschutz gelten sollte – von dieser Einbindung als solcher kann sich der einfache Gesetzgeber nicht mit der Begründung, es handele sich nur um ein Instrument der Wirtschaftsaufsicht, dispensieren. Zweifellos gehört die Verhängung von Geldbußen für Kartellverstöße auch zu den Mitteln, die den Kartellbehörden zur Aufsicht über das kartellrechtlich erhebliche Verhalten der Marktteilnehmer zu Gebote stehen. Aber mit der retrospektiven Ahndung begangener Verstöße durch Geldbußen bedient sich das Gesetz über die Handlungsformen der Wirtschaftsaufsicht hinaus eines anders ansetzenden Instrumentariums, das in die Dimension von Vorwurf und Tadel ausgreift und deshalb Regeln eigener Art unterliegt. Diese Sachgesetzlichkeit ist dem Gesetzgeber vorgegeben. Ich sehe deshalb auch nicht, wie und durch was der Allgemeine Teil des OWiG ersetzt werden könnte. Dagegen kann und sollte man natürlich das Verfahrensrecht im Zweiten Teil des Gesetzes diskutieren, das allzu sehr im Banne der Bagatellideologie seiner Entstehungszeit steht, die ganz von der Entkriminalisierung des bagatellarischen Unrechts geprägt war.41 Wer sich an „quasi-strafrechtlichen“ Elementen im Kartellrecht stört, müsste viel radikaler ansetzen. Der Gesetzgeber müsste dann das Reaktionsmittel der Geldbuße selbst aufgeben und ein Steuerungsrecht eigener Art für die Prävention von Kartellverstößen schaffen. Vielleicht wäre hier der Ort für ein „Interventionsrecht“, wie es von einigen Strafrechtstheoretikern als Alternative zu einem genuinen Unternehmensstrafrecht erwogen wird, aber noch ganz offene Strukturen aufweist.42 Freilich stellt sich dann wieder die
40 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Åklagare ./. Hans Åkerberg Fransson, Rs. C-617/10, Rn. 25 ff. und dazu nur Wegner HRRS 2013, 126 und Rönnau/Wegner GA 2013, 561. 41 S. dazu Achenbach GA 2008, 1, 6 f., 8. 42 S. dazu etwa Hassemer ZRP 1992, 378, 383; dens., Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1996, S. 23 f.; Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 387 ff.
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Frage des Verhältnisses zum Europarecht, das sich in Art. 103 Abs. 2 lit. a) AEUV und seinen Vorläufern für Geldbußen und Zwangsgelder als Mittel zur Gewährleistung der kartellrechtlichen Verbote entschieden hat und dieses Mittel in Art. 5 VO 1/2003 auch für die Sanktion von Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 f. AEUV durch die Mitgliedstaaten vorsieht. 4. Räumbagger Effektivität? Wie dargestellt (o. II 1 und 2) sieht Ackermann das unionsrechtliche Gebot der Effektivität als so gewichtig an, dass es nationales Recht, und zwar ausdrücklich auch Verfassungsrecht einschließlich im GG garantierter Grundrechte, aus dem Wege räumen kann, wenn dieses den Minimalbedingungen für das Funktionieren der dezentralen Kartellrechtsdurchsetzung entgegensteht. Soweit das hier geforderte Mindestmaß an Effektivität sich darin verwirklichen soll, dass die Höhe einer präventiv effizienten Kartellgeldbuße aus dem Kehrwert der Aufdeckungswahrscheinlichkeit multipliziert mit dem kartellbedingten Verletzergewinn errechnet wird, habe ich erhebliche Zweifel, ob sich diese Formel überhaupt aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz stringent ableiten lässt. Diese Parameter entziehen sich m.E. einer verlässlichen administrativen oder forensischen Feststellung, ihre Erkennbarkeit für den einzelnen Täter erscheint mir keineswegs gesichert, zudem führt der Gedanke zu Resultaten, deren mögliche rechtsstaatliche Bedenklichkeit Ackermann selbst anerkennt (o. 2) und die auch alles andere als unstrittig sind.43 Leider kann ich hier auf Ackermanns weitere Anwendungsbeispiele – Adressateneigenschaft im Konzern, Übergang der Geldbußverantwortlichkeit bei Rechtsnachfolge – nicht mehr näher eingehen; doch zeigt schon dieses Beispiel die Bedenken plastisch auf: Der Grundsatz der Effektivität ist für sich genommen von allzu großer Abstraktheit und zu grob, als dass er ernstlich dazu taugte, aus langer rechtsstaatlicher Detailarbeit erwachsene, dogmatisch feiner gewirkte Institute des nationalen Rechts und vollends grundrechtliche Garantien mit einem Schlage beiseite zu räumen. Auch im Unionsrecht ist er eingebettet in ein Geflecht von grundrechtlichen Gewährleistungen, konkurrierenden und modifizierenden weiteren Prinzipien sowie primär- und sekundärrechtlichen Festlegungen. Das verbietet eine allzu schnelle Festlegung auf bestimmte allein aus diesem Grundsatz hergeleitete Ergebnisse und fordert stattdessen eine umfassende Analyse und Erörterung der ineinander greifenden rechtlichen Gesichtspunkte und Argumente nicht nur des Unionsrechts, sondern auch seiner Wechselwirkung mit dem deutschen Recht, die in
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S. dazu die Nachw. aus der Lit. bei Achenbach FS Kristian Kühl, 2014, S. 651, 653.
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Respekt füreinander und unter Wertschätzung der gegenseitigen Positionen diskutiert werden müssen. Dass Hardcore-Kartelle nicht hinnehmbare Formen des Missbrauchs der wirtschaftlichen Macht starker bis überstarker Marktteilnehmer darstellen, wird kein Vernünftiger bestreiten. Aber ich möchte in aller Nüchternheit dafür plädieren, bei dem Einsatz der staatlichen Gegenmacht deren seit der Aufklärung entwickelten Begrenzungen nicht zu gering zu achten und sie nicht ohne Not und sorgfältige Diskussion der Grundlagen wie der realistisch erwartbaren Folgen durch allzu allgemeine Prinzipien zu ersetzen.
Kann es einen Frieden mit Gerechtigkeit geben? Dilemmata im kolumbianischen Friedensprozess und die Funktion des Strafrechts Alejandro Aponte Cardona
I. Vorbemerkung Ich lernte Professor Schünemann im Jahr 2003 in Mexiko-Stadt kennen, wo wir beide an einem Kongress über Hans Welzel teilnahmen. Professor Schünemann, der in jenem Jahr zum ersten Mal nach Bogotá reisen wollte, wusste, dass ich aus Kolumbien komme, und stellte mir Fragen über das Land, die Leute und den Stand der Diskussion über das Strafrecht. Wie es der Zufall wollte, hatte er meinen Text über das Feindstrafrecht gelesen und sagte damals zu mir: „In Bogotá möchte ich gerne Professor Aponte kennenlernen. Ich habe sein Buch über dieses kritische Thema gelesen, das nicht nur die Situation in Kolumbien aufzeigt, sondern generell das Desaster, das der instrumentelle Gebrauch des Strafrechts bei der Bekämpfung des Drogenhandels, des organisierten Verbrechens und des Terrorismus im öffentlichen Recht in Europa angerichtet hat.“ Zu meiner großen Freude und seiner großen Überraschung antwortete ich ihm: „Ich bin Alejandro Aponte“. Von diesem Moment an verband uns eine herzliche, nicht nur akademische Freundschaft, in deren Verlauf wir Gelegenheit zum Austausch über Literatur, Philosophie und seinen tief verwurzelten Humanismus hatten. Bekanntermaßen hat er Interesse daran, die juristisch-politische Diskussion in Lateinamerika aus der Nähe zu verfolgen. Ich kann außerdem über sein großes Interesse an verschiedenen Diskussionen in Kolumbien berichten, insbesondere über das internationale Strafrecht, die Übergangsjustiz und mögliche Mechanismen zur Überwindung des bewaffneten internen Konflikts, der in diesem Land seit über fünfzig Jahren tobt. In diesem Zusammenhang fand im September 2012 in Cartagena (Kolumbien) eine außergewöhnliche Tagung mit Professor Schünemann und den Richtern der Strafkammer des kolumbianischen Verfassungsgerichtes statt, bei der über das Thema der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und über Kriegsverbrechen diskutiert wurde. Dort hatte ich die Gelegenheit, mit Professor Schünemann und den höchsten kolumbianischen Richtern frei über meine Bedenken zu sprechen. Aktuell findet in Kolumbien ein Friedenspro-
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zess statt, für den Professor Schünemanns Beiträge im Strafrecht besonders wertvoll sind. Soviel zum Kontext, in dem ich mit diesem Beitrag Professor Schünemann meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen möchte.
II. Einleitung In der sehr persönlich gehaltenen Vorbemerkung wird das Thema dieses Beitrags bereits angeschnitten. Er wird sich jedoch nicht allein mit der Untersuchung des Friedensprozesses in Kolumbien aus politischer und juristischer Sicht beschäftigen, sondern soll sich vielmehr kritisch mit den Möglichkeiten und Grenzen des Strafrechts als Mittel zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzungen des humanitären Völkerrechts auseinandersetzen. Dies betrifft auch und vor allem die internationale Gemeinschaft. Bereits vorab sei gesagt, dass ich – gerade als Strafrechtler – sehr skeptisch bin hinsichtlich der Möglichkeiten des Strafrechts als bevorzugtem Instrument für die Untersuchung und Verfolgung schwerer Verbrechen, die die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Deshalb plädiere ich für eine Kombination der verschiedenen Instrumentarien der Übergangsjustiz (Transitional Justice), von denen das Strafrecht, vor allem in seinem engen Sinn als strafrechtliche Sanktion, die in einer Gefängnisstrafe münden muss, nur einer von vielen ist. Das Strafrecht kann jedenfalls nicht die Hauptlast dieser gigantischen Aufgabe der Verfolgung der von den Konfliktbeteiligten begangenen schweren Verbrechen tragen. An dieser Aufgabe müssen sich alle Institutionen und die gesamte nach Aussöhnung suchende Gesellschaft beteiligen, im Falle Kolumbiens nach einem fünf Jahrzehnte lang währenden bewaffneten inneren Konflikt. Das Konzept der Übergangsjustiz, das eng mit den drei Begriffen Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung verknüpft ist, setzt sich aus sehr unterschiedlichen Mechanismen zusammen, die miteinander kombiniert werden müssen. Auch die Komponente des Rechts umfasst nicht nur das Strafrecht, sondern muss ihrerseits als eine Kombination aus verschiedenen Mechanismen des Verfassungsrechts, des Verwaltungsrechts usw. verstanden werden. Man muss den Begriff der Übergangsjustiz in seinem umfassenden Sinn verstehen, innerhalb dessen das Strafrecht einen dem Fall und der Komplexität entsprechenden Platz hat. Im Falle Kolumbiens darf das Strafrecht auf keinen Fall eine übergeordnete Rolle spielen. Daher ist es besonders wichtig, die Bedeutung von Mechanismen wie der Opferentschädigung, der Suche nach der Wahrheit über Straftaten, die begangen wurden und werden, von Mechanismen, die Straftaten vorbeugen sollen, sowie denen, die den durch schwere Verbrechen zerstörten gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen, zu betonen.
Frieden mit Gerechtigkeit in Kolumbien?
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Meine zweite These ist dementsprechend, dass eventuelle Abstriche bei der Anwendung des Strafrechts, z.B. indem alternative Strafen zur Gefängnisstrafe verhängt werden oder zur Befriedung des Landes bestimmte Straftaten und Verantwortliche gar nicht untersucht und verfolgt werden, mit Maßnahmen zur Entschädigung der Opfer, der Wahrheitsfindung und Prävention dieser schweren Verbrechen einhergehen müssen.
III. Gerechtigkeit und Frieden? Grenzen des Strafrechts im Kontext des Übergangs und des bewaffneten Konflikts 1. Der Friedensprozess und der sogenannte „Rechtsrahmen für den Frieden“ („Marco Jurídico para la Paz“) Im Oktober 2012 initiierte der kolumbianische Staat einen Friedensprozess mit den aktivsten Guerillabewegungen des Kontinents, die mehr als fünfzig Jahre lang den kolumbianischen Staat bekämpft, eine massive Präsenz in vielen Regionen des Landes aufgebaut und alle möglichen internationalen Verbrechen begangen haben. Kolumbien verzeichnet zwar derzeit einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung, leidet aber weiterhin unter einem Konflikt, der zwar kein erklärter Bürgerkrieg ist, aber dennoch negative Auswirkungen hat, insbesondere auf die unbeteiligte Zivilbevölkerung. Neben der nicht nur rein formal bestehenden Demokratie, den funktionierenden Institutionen und dem wirtschaftlichen Aufschwung existiert also ein Konflikt, der institutionell als bewaffneter interner Konflikt und nicht als Bürgerkrieg gilt, da weder der größte Teil des Landes noch der Bevölkerung betroffen sind. Doch während der langen Zeit, die der Konflikt bereits anhält, wurde er entideologisiert und ist ausgeufert, mit negativen Auswirkungen insbesondere für die ungeschützte Zivilbevölkerung. Da weder der Staat die Guerillabewegungen besiegen kann, noch diese gewaltsam die Macht erringen können, hat er Friedensgespräche mit der FARC begonnen, um diese unerträgliche Situation zu beenden, den Friedensprozess in Gang zu bringen und möglichst auf die zweite noch existierende Guerillabewegung in Kolumbien (ELN) auszudehnen. Es sollte sich dabei um einen zeitlich begrenzten Friedensprozess handeln. Aktuell (November 2013) haben sich der Staat und die an den Verhandlungen in Havanna beteiligte Guerillabewegung beim zweiten Verhandlungspunkt geeinigt: der politischen Partizipation. Dazu muss der ausländische Leser etwas Grundlegendes wissen: Diejenigen, die anfangs einen politischen Diskurs anstoßen wollten, heute jedoch in einen ausufernden und entideologisierten Konflikt verwickelt und massiv an Straftaten beteiligt sind, werden ihre Waffen nicht niederlegen, wenn ihnen nicht die Möglichkeit zur politischen Partizipation gegeben wird. Dies ist ein zentraler und für die Konstruktion einer Demokratie und eines wirklichen politischen Pluralismus
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unabdingbarer Punkt. Der Staatspräsident, das Parlament und die Judikative fördern den Friedensprozess und werden dabei von Intellektuellen und der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Dabei geht man davon aus, dass es sich um militärisch unbesiegte Beteiligte handelt, sodass man die Anhänger der Guerillabewegungen nicht wie Besiegte oder Terroristen behandeln kann. Sie werden wie eine Art Überzeugungstäter behandelt. Für die vorliegende Arbeit ist relevant, dass der Friedensprozess aus der Perspektive des Strafrechts und seiner Funktion hinsichtlich der von den Guerilleros begangenen Straftaten eine Reihe von wichtigen Fragen aufwirft, auf die hier eingegangen werden soll. Dennoch beschränken sich die mit dem Strafrecht verknüpften Aspekte nicht nur auf den Verlauf des eigentlichen Friedensprozesses und das strafrechtliche Vorgehen gegen die Guerilleros, sondern sie beziehen sich ganz allgemein auf die Anwendung des Strafrechts auf die Mitglieder anderer illegaler Gruppen, wie den Selbstverteidigungsgruppen oder Paramilitärs, die heute in hohem Maße demobilisiert und in einem weiteren komplexen Prozess namens „Prozess für Gerechtigkeit und Frieden“ („Proceso de Justicia y Paz“) strafrechtlich verfolgt werden. Und sie beziehen sich auf die Rolle des Strafrechts als Mechanismus der Übergangsjustiz bei der Untersuchung und Verfolgung von internationalen Verbrechen. Als konkreter Bezugspunkt für dieses Thema dienen der Friedensprozess und der sogenannte „Rechtsrahmen für den Frieden“. 2. Der sogenannte „Rechtsrahmen für den Frieden“: Verfassungsreform mit außerordentlichen Mechanismen der Übergangsjustiz Worum handelt es sich beim „Rechtsrahmen für den Frieden“? Es geht dabei um eine Verfassungsreform, die durch das kolumbianische Parlament durch den „Legislativen Akt“ („Acto Legislativo“) Nr. 1 vom 31. Juli 2012 beschlossen wurde und deren letztendliches Ziel der Frieden ist. So wird im ersten Teil des Übergangsartikels 66 zur Verfassung Folgendes ausgeführt: „Die Instrumente der Übergangsjustiz haben Ausnahmecharakter und das vorrangige Ziel der Beendigung des internen bewaffneten Konfliktes sowie das Erreichen eines stabilen und dauerhaften Friedens mit Garantien der Nicht-Wiederholung und der Sicherheit für alle Kolumbianer; sie werden auf höchstmöglichem Niveau die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung gewährleisten.“ (eigene Übersetzung)1 Außerdem wird hinzugefügt: „Ein verfassungsmäßiges Gesetz wird genehmigen können, dass es im Rahmen eines Friedensabkommens für bewaffnete Gruppen am Rande des 1
Acto Legislativo N° 1 del 31 de julio de 2012, Art. tr. 66.
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Gesetzes, die im internen bewaffneten Konflikt Konfliktpartei waren, sowie für Staatsbedienstete hinsichtlich deren Beteiligung an diesem Konflikt eine differenzierende Behandlung geben kann.“ (eigene Übersetzung)2 a) Anwendung der Kriterien der Selektion und Priorisierung Im dritten Absatz des Artikels wird anerkannt, dass „sowohl die Kriterien der Priorisierung wie der Selektion den Instrumenten der Übergangsjustiz inhärent sind“,3 was auch von den internationalen Gerichtshöfen in praktisch allen Fällen angewendet wurde. Das bedeutet, dass sowohl die Selektion als auch die Priorisierung von Fällen als Mittel eingesetzt werden, um bei der Bestrafung schwerer Verbrechen zu einem Ergebnis zu kommen, indem darauf verzichtet wird, alle Straftaten zu verfolgen und alle Straftäter zur Verantwortung zu ziehen, wie es das Rechtssystem eigentlich vorsieht. Der zitierte Artikel erklärt dazu: „Unbeschadet der allgemeinen Verpflichtung des Staates zur Untersuchung und Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen und von Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht kann der Kongress der Republik im Rahmen der Übergangsjustiz auf Initiative der Staatsregierung durch ein verfassungsmäßiges Gesetz Selektionskriterien bestimmen, die eine Konzentration der Bemühungen der Strafuntersuchung auf die Hauptverantwortlichen („máximos responsables“) bei allen Straftaten, die den Charakter von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord oder systematisch begangenen Kriegsverbrechen aufweisen, erlauben.“ (eigene Übersetzung)4 b) Die Figur des Hauptverantwortlichen („máximo responsable“) Die Figur des Hauptverantwortlichen begrenzt den Rahmen der in Betracht kommenden Täter. Dabei handelt es sich um eine komplexe Kategorie, die jedes Land mit Inhalt füllen muss. In Kolumbien jedoch würde es sich nicht nur um die Hauptverantwortlichen der bewaffneten Gruppen oder jene innerhalb einer staatlichen Institution handeln, die Straftaten begangen haben, sondern unter bestimmten Bedingungen könnte es sich auch um unbedeutendere Beteiligte einer kriminellen Vereinigung handeln oder sogar um Zivilpersonen, die illegale Gruppen finanziert oder kriminelle Vereinigungen unterstützt haben. Das Kriterium des Hauptverantwortlichen beinhaltet ein breites Spektrum an Faktoren, wie beispielsweise die Rollen- und Machtverteilung innerhalb der Gruppe, die Finanzierung oder Unterstüt-
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Acto Legislativo N° 1 (Fn. 1). Acto Legislativo N° 1 (Fn. 1). Acto Legislativo N° 1 (Fn. 1).
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zung der Gruppe, den Grad der Unterwanderung der staatlichen Institutionen usw. Es geht jeweils darum, die Faktoren zu kombinieren, um festzulegen, wer tatsächlich die Hauptverantwortlichen waren. Außerdem wird in dem Legislativen Akt ausgeführt, dass das Kriterium des Hauptverantwortlichen zusammen mit dem der „Schwere und Repräsentativität“ angewendet werden muss. Auf diese Weise werden subjektive Kriterien, wie die Art des Straftäters oder die Art oder Anzahl der Opfer, mit objektiven Kriterien, wie der Art der begangenen Straftaten, verbunden. Ein typischer Fall könnte Vertreibungen oder die Rekrutierung von Kindersoldaten durch kriminelle Gruppen beinhalten, die von einem oder mehreren Hauptverantwortlichen mit Führungs- und Kontrollgewalt über die Gruppe innerhalb eines bestimmten Gebietes und gegenüber einer bestimmten Bevölkerungsgruppe begangen wurden, beispielsweise gegenüber Ureinwohnern, Afroamerikanern oder Schwarzen. 3. Bedingte Suspendierung der Strafe für Hauptverantwortliche Schließlich legt der Rahmen fest, dass ein Gesetz als Konsequenz der erfolgten oder nicht erfolgten Auswahl „… die Fälle, Voraussetzungen und Bedingungen regeln kann, in denen die Suspendierung der Strafe wirksam wird, die Fälle definieren kann, in denen die Anwendung außergerichtlicher Sanktionen, alternativer Strafen oder besonderer Modalitäten von Strafvollzug und -ausübung wirksam wird, sowie den bedingten Verzicht auf eine strafrechtliche Verfolgung für alle Fälle, die nicht ausgewählt wurden, genehmigen kann.“ (eigene Übersetzung)5 Auf jeden Fall legt der Rechtsrahmen für den Frieden eindeutig fest, dass für die besondere Strafbehandlung bestimmte Bedingungen erfüllt werden müssen: „In jedem Fall wird die besondere Strafbehandlung mittels der Anwendung konstitutioneller Instrumente wie der oben genannten an zu erfüllende Bedingungen gebunden sein, wie dem Niederlegen der Waffen, der Anerkennung von Verantwortung, der Mitwirkung bei der Wahrheitsermittlung und der umfassenden Wiedergutmachung für die Opfer, der Freilassung von Entführten und von widerrechtlich rekrutierten und in der Gewalt der bewaffneten Gruppen am Rande des Gesetzes befindlichen Minderjährigen.“ (eigene Übersetzung)6
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Acto Legislativo N° 1 (Fn. 1). Acto Legislativo N° 1 (Fn. 1).
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Wie bereits gesagt, wird auf diese Weise, sobald die grundlegenden Bedingungen für die Anwendung besonderer Maßnahmen erfüllt sind, zwischen ausgewählten und nicht ausgewählten Fällen unterschieden. Die Gruppe der nicht ausgewählten Fälle ist die größere von beiden. Bei diesen Fällen werden alternative Strafen verhängt, welche im Allgemeinen keinen strafrechtlichen Charakter haben. Es kann sich um Maßnahmen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft handeln, wie beispielsweise eine öffentliche Bitte um Vergebung. Die relativ wenigen ausgewählten Fälle müssen jedoch die repräsentativsten sein, die am meisten zur Wahrheitsfindung über die Geschehnisse an verschiedenen Orten beitragen und bei denen die Hauptverantwortlichen bestraft werden. Untersuchung und Bestrafung müssen in diesen Fällen jedoch nicht unbedingt in eine Gefängnisstrafe münden. Vielmehr können auch alternative Maßnahmen gewählt werden, wie etwa die Suspendierung der Strafe. Alternativ können die Guerilleros auch verpflichtet werden, bei der Beseitigung von Antipersonenminen zu kooperieren. Natürlich ist einer der Punkte, über den die größten Meinungsverschiedenheiten in der Gesellschaft und in den Institutionen bestehen, die Frage, ob in bestimmten Fällen eine Gefängnisstrafe verhängt werden muss. Zum derzeitigen Zeitpunkt haben die Guerillabewegungen mehrfach betont, dass sie Gefängnisstrafen nicht akzeptieren würden. Möglicherweise kehrt jedoch auch bei ihnen bald die Einsicht ein, dass eine Minimalstrafe für einige Täter als Gefängnisstrafe verhängt werden muss. Jedenfalls muss es eine Untersuchung und eine Form der Bestrafung geben. 4. Das Urteil der Verfassungsmäßigkeit: Frieden hat den höchsten Wert In Kolumbien muss das Verfassungsgericht bei legislativen Akten zur Änderung der Verfassung prüfen, ob durch diese der Kern der Verfassung geändert würde. Im September 2013 hat das kolumbianische Verfassungsgericht die genannte Verfassungsreform überprüft und für verfassungsgemäß erklärt. Es erkannte an, dass es bei einem so hohen Ziel wie dem Frieden, der eine der Säulen der Verfassung darstellt, auch Abstriche geben kann. Auf jeden Fall muss es jedoch eine Balance zwischen den Komponenten der Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung geben, sodass das Ziel immer eine ganzheitliche Übergangsjustiz sein muss.7 In einer sehr interessanten Erklärung wies der vortragende Richter des Urteils darauf hin, dass er es im Hinblick auf die gesellschaftliche und politische Gesamtsituation „lieber sieht, wenn ein Guerillero Bürgermeister von Bogotá wird, als dass er weiterhin in den Bergen kämpft und weitere Straftaten begeht“. Dies ist ein neues und heute noch komplizierteres Kapitel der
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Sentencia C-579 del 28 de agosto de 2013 de la Corte Constitucional.
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Beziehungen zwischen Krieg und Recht in Kolumbien, der Spannungen zwischen Krieg und Politik und der Notwendigkeit, die Beteiligten wieder in die Gesellschaft zu integrieren, um dadurch das legitime staatliche Gewaltmonopol zu konsolidieren. In Kolumbien gab es bereits verschiedene Friedensprozesse, von denen einige tatsächlich erfolgreich im Hinblick auf die Befriedung und Demobilisierung der Kriegsbeteiligten waren. 5. Der Verlauf der Strategie der Priorisierung Der Rechtsrahmen bezieht sich nicht nur auf die Selektion von Fällen, indem er voraussetzt, dass Fälle ausgesucht werden, die untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, während die anderen nicht verfolgt werden. Tatsächlich wird auch Bezug genommen auf die Priorisierung von Fällen als Strategie der Verfolgung von internationalen Verbrechen. Während die Selektion als Schwelle zu verstehen ist, die die Rechtsprechung für die Auswahl der Fälle festsetzt, geht es bei der Priorisierung um eine Strategie der kohärenten und systematischen Ordnung der ausgewählten Fälle nach der Priorität aufgrund von diversen Kriterien, mit der sie vom Strafrechtssystem behandelt werden. Dazu wird im Rechtsrahmen für den Frieden Folgendes ausgeführt: „Der Generalstaatsanwalt wird Kriterien für die Priorisierung der strafrechtlichen Verfolgung festlegen” (eigene Übersetzung).8 Allerdings handelt es sich um eine bereits existierende Strategie, da sie schon seit 2012 – und somit vor der Verabschiedung der Verfassungsreform – angewendet wird. Zu den Ursprüngen der Priorisierungsstrategie ist Folgendes zu sagen: Um das Jahr 2006 hatte ich als Professor ein wichtiges Erlebnis (dabei muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass in diesem Verfahren Mitglieder von paramilitärischen Gruppen verurteilt werden, die schwere internationale Verbrechen begangen haben). Ich traf eine Staatsanwältin, die wegen der Unmöglichkeit, die Untersuchung dieser schweren Straftaten abzuschließen, verzweifelt war und zu mir sagte: „ Ich habe hier etwa hundert Fälle auf dem Tisch, von denen 15 Fälle sehr weit fortgeschritten sind: Ich habe alle Beweise und die Täter und Opfer sind identifiziert. Was soll ich jetzt machen? Soll ich noch Jahre warten, bis ich mit den anderen 75 Fällen auch so weit bin oder soll ich versuchen, die bereits so weit fortgeschrittenen Fälle abzuschließen? Das Schlimme daran ist, dass sowohl die Opfer der fortgeschrittenen Fälle als auch die der anderen Fälle enormen Druck auf mich ausüben. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Angesichts dieser untragbaren Situation hat sich die Generalstaatsanwaltschaft mit dem derzeitigen Generalstaatsanwalt und seinen engsten Mitarbei-
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tern zu einer wesentlichen Reform der Verfolgung von internationalen Verbrechen entschlossen, nämlich der Strategie der Priorisierung. Dabei handelt es sich um eine neue Vorgehensweise der Untersuchungsbeamten: Sie sollen nicht mehr isolierte Tatsachen untersuchen, sondern die kriminellen Strukturen. Sie sollen den Kontext aufzeigen, in dem bestimmte Straftaten auftreten und sich nicht irrational an den am leichtesten zu erkennenden Straftaten und -tätern aufhalten. Ebenso geht es darum, die Drahtzieher der illegalen Strukturen zu identifizieren, die am meisten von ihnen profitieren und sie finanzieren. Mit der Strategie der Priorisierung werden sinnbezogene Kriterien und Faktoren entwickelt, auf deren Grundlage die Untersuchungsbeamten in jedem Einzelfall vorgehen müssen. Dabei handelt es sich um subjektive Merkmale der Täter und Opfer, objektive Kriterien, die mit den Taten und ihren Charakteristika zu tun haben und ergänzende Kriterien, zum Beispiel das Kriterium der Repräsentativität. Diese Strategie ist in der Richtlinie 0001/2012 des Generalstaatsanwaltes dokumentiert und geregelt.9 6. Der internationale Druck Die Suche nach einer Balance zwischen Gerechtigkeit und Frieden, zwischen der besonderen Behandlung von Konfliktbeteiligten und der Würdigung der Opfer, zwischen Gerechtigkeit und Wahrheit, geht nicht nur die kolumbianische Gesellschaft etwas an, sondern auch die internationale Gemeinschaft. Wie bereits erwähnt, begleiten und unterstützen verschiedene Länder direkt diesen Prozess. Die Konfliktsituation in Kolumbien ist Anlass zu großer Sorge in ganz Lateinamerika, wobei gleichzeitig von allen Ländern das Wirtschaftswachstum und die Möglichkeiten zu seiner Konsolidierung anerkannt werden. Auch die internationalen Gerichte haben sich zu den Anstrengungen Kolumbiens geäußert. So sandte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes zwei Briefe an den Präsidenten des kolumbianischen Verfassungsgerichtes, als dieses noch mitten in den Beratungen war. Die Briefe waren in einem scharfen Ton geschrieben und hatten direkten Einfluss auf die Debatte. In einem der Briefe erklärt sie: „… Meine Mitarbeiter haben die Implikationen einer Suspendierung der Gefängnisstrafe als Kriterium für die Zulässigkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof überprüft. Sie sind demnach zu dem Ergebnis gekommen, dass eine offensichtlich unangemessene Strafe im Hinblick auf die Schwere
9 Vgl. Directiva N° 0001 del 04 de octubre de 2012 und Fiscalía General de la Nación La priorización. Memorias de los talleres para la construcción de los criterios del nuevo sistema de investigación penal, 2013.
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der Straftaten und die Art der Beteiligung des Beschuldigten die Ordnungsmäßigkeit des nationalen Gerichtsverfahrens in Frage stellen würde …“ (eigene Übersetzung)10 Über die Gefängnisstrafe sagte sie Folgendes: „Experten betonen, dass die Dauer der Gefängnisstrafe ein relevanter Faktor in den Fällen sein kann, in denen die Strafe so unangemessen ist, dass man Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Klageerhebung haben kann“. Und schließlich fügte sie hinzu, dass die „totale Suspendierung einer Strafe zu einer faktischen Begnadigung führen könnte, welche für diejenigen Straftaten, die unter das zwingende Recht (ius cogens) im Völkerrecht fallen, verboten ist.“ (eigene Übersetzung)11 Dieser Brief sowie ein weiterer gleichzeitig verfasster hatten verständlicherweise in einem Land, das nach einem Ausweg aus dem Konflikt sucht, eine große Wirkung. Tatsächlich wurde die Schlussfolgerung über die Suspendierung der Strafe fast wörtlich vom Verfassungsgericht aufgegriffen. Beachtenswert ist auch, dass die Chefanklägerin in einem ihrer Briefe von einer „Unterwerfung unter die Justiz“ spricht. Aber wie bereits ausgeführt, werden die Beteiligten nicht als militärisch besiegt angesehen. Militärische Feinde kann man nicht unterwerfen, sondern nur besiegen. Nur Straftäter kann man mit juristischen Mitteln unterwerfen. Der kolumbianische Generalstaatsanwalt hat daraufhin öffentlich geantwortet und die Chefanklägerin vor allem darauf hingewiesen, dass sie die Pflicht zur Untersuchung und Verfolgung von Straftaten zu einer absoluten Pflicht macht. Die Internationalen Gerichtshöfe selbst haben jedoch durch die allgemeine Anwendung der Selektion und Priorisierung diese Verpflichtung je nach Sachlage flexibilisiert. Weiterhin forderte er sie auf, dieses Thema aus dem Blickwinkel des neuen Konstitutionalismus zu betrachten, d.h. die Verpflichtung zur Untersuchung und Verfolgung nicht als starre und absolute Regel zu sehen, sondern als ein abzuwägendes Prinzip. In diesem Fall, so argumentiert der kolumbianische Generalstaatsanwalt, und diesem Argument schließe ich mich an, gibt es keinen anderen Weg als ein Urteil aufgrund des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, um mit den bewaffneten Konfliktbeteiligten Frieden zu schließen, wenn man bedenkt, dass die einzige Alternative die Vernichtung des Feindes wäre, und das würde faktisch eine Verwüstung weiter Teile des Landes bedeuten und die Zivilbevölkerung den unkontrollierbaren Bedingungen eines zeitlich nicht ein-
10 Bensouda Brief der Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes an den Präsidenten des kolumbianischen Verfassungsgerichtes, 26.7.13. 11 Bensouda (Fn. 10).
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grenzbaren Krieges aussetzen. Damit müssen selbstverständlich die Rechte der Opfer, insbesondere auf Wahrheitsfindung und Entschädigung, in Einklang gebracht werden. 7. Die mögliche Rolle des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte Ganz im Sinne dieser für das Thema des Beitrages wichtigen Abwägung äußerte sich der Präsident des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte während seines Besuchs im Oktober 2013 in Kolumbien. Richter García Sayán erklärte dabei nachdrücklich, dass es „keine Patentrezepte“ für die Schaffung einer Balance zwischen Frieden und Gerechtigkeit im Friedensprozess gebe. Seiner Meinung nach „… gibt es keine vorgefertigte Liste der Dinge, die man tun darf oder nicht tun darf, denn jeder Prozess hat seine eigenen Charakteristika und verlangt nach Ad-hoc-Kriterien und Antworten auf die Frage, wie man das Land befrieden, die bewaffneten Beteiligten wieder in die Gesellschaft integrieren und den Opfern zu ihrem Recht verhelfen kann.“ (eigene Übersetzung)12 Seine weiteren Bemerkungen überraschten die juristische Gemeinschaft Kolumbiens positiv. Denn traditionell zeichnet sich der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte nicht gerade durch eine große Flexibilität in Bezug auf die Alternativen zur strikten Anwendung des Strafrechts bei der Verurteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. García Sayán führte aus, es sei „… klar, dass es bestimmte grundlegende Kriterien gibt, die bei Verhandlungen berücksichtigt werden müssen. Das wichtigste Kriterium ist, dass Frieden erreicht wird, und dieser Frieden muss stabil und dauerhaft sein.“ (eigene Übersetzung)13 Schließlich fügte er in einem Interview noch hinzu, dass das Land nicht weiter durch die Androhung einer Intervention der internationalen Gerichte „terrorisiert“ werden dürfe. An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass Professor Schünemann angesichts der Argumente der Internationalen Gerichtshöfe große Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Ermittlung gegen Kolumbien geäußert hat; dies vor allem aufgrund eines Berichts des Internationalen Strafgerichtshofes über Kolumbien vom November 2012; seiner Meinung nach würden damit die Türen zu einem möglichen Friedensprozess verschlossen. 12 13
García Sayán Derecho internacional no impide paz, 10.11.13. García Sayán (Fn. 12).
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8. Auf dem Weg zu einer auf die Opfer ausgerichteten Ethik Der meines Erachtens zentrale Aspekt bei der praktischen Anwendung des Rechtsrahmens für den Frieden besteht darin, eine Art ethischen Schutz für die Opfer zu errichten. D.h. diese erklären sich bereit, Abstriche im Hinblick auf die Gerechtigkeit in Kauf zu nehmen, brauchen aber dafür eine echte moralische Anerkennung ihres Schmerzes und Würdigung ihres Status als Opfer. Darum kann man keine verdrehte Logik oder Ethik unterstützen, die auf der Gewalt der Beteiligten basiert. Resultat der Übergangsjustiz darf nicht der Eindruck sein, dass die Strafe umso niedriger ausfällt, je gewalttätiger der Beteiligte die Gesellschaft und das Rechtssystem bekämpft hat. Im Gegensatz dazu habe ich bei verschiedenen nationalen und internationalen Tagungen vorgeschlagen, eine Ethik des geteilten Leides zu unterstützen.
9. Bedeutung und Reichweite der Repräsentativität Das ergänzende Kriterium der Repräsentativität ist in Kolumbien sehr wichtig. Es kann und muss als Instrument zur Neubewertung der Rolle des Strafrechts dienen, vor allem seiner rein auf Vergeltung basierenden Funktion. Hierdurch erhält es auch einen neuen Sinn und bezieht sich nicht mehr länger nur auf den Begriff des paradigmatischen Falls. Entscheidend für die Auswahl der Fälle sind nicht Kriterien wie etwa die gesellschaftlichen Auswirkungen der Taten, ihre Opfer oder die Art der Taten. Jetzt geht es darum, repräsentative Fälle auszuwählen, um die Zentren komplexer krimineller Erscheinungen, versteckte Wahrheiten und übergeordnete Strukturen aufzuzeigen, die in der Gesellschaft jahrelang überlebt haben. So erhält auch der fragmentarische Charakter des Strafrechts einen neuen Sinn, der in diesem Beitrag aufgezeigt werden soll: Durch die Repräsentativität der Fälle werden verschiedene Elemente sichtbar gemacht. Durch den Beitrag zur Rekonstruktion der Wahrheit und damit zur Mobilisierung von grundlegenden Elementen für die Prävention von Straftaten kann die Logik der Übergangsjustiz die Beschränkungen des Strafrechts kompensieren. Diesbezüglich habe ich auf mehreren internationalen Tagungen, auf denen ich die Charakteristika des Falls Kolumbien vorgestellt habe, die Notwendigkeit einer Ethik des geteilten Leides betont. Wenn, wie Schopenhauer so klar formuliert hat, jedem Schmerz, den ein menschliches Wesen erleidet, eine tiefgreifende Verbindung zu den anderen menschlichen Wesen innewohnt, da sie alle durch eine gemeinsame Essenz – das Leben, den Willen, den alle haben – verbunden sind, so geht dieser Wille über das Individuum hinaus, sodass es auf jeden Fall Elemente geben muss, die den Schmerz der Opfer von repräsentativen Fällen grausiger Gewalttaten mit dem Schmerz einzelner Opfer anderer Straftaten verbinden. Im Deutschen wird dieses
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Leiden mit dem anderen über den religiösen Sinn hinaus durch das Wort Mitleid ausgedrückt. Dieses Ethos könnten alle für sich annehmen, ob sie direkte Opfer sind oder nicht, und es zur unabdingbaren Voraussetzung einer möglichen Versöhnung innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft machen.
Transnationale Strafgerichtsbarkeit: Erkenntnisse zu ihrer Notwendigkeit und Verfahrensstruktur1 Albin Eser I. Vorbemerkung Hat man die Gelegenheit, über den Internationalen Strafgerichtshof in Ländern zu sprechen, die sich einer supranationalen Strafjustiz gegenüber bislang verschlossen zeigen, so kann einem leicht die Frage entgegengehalten werden: warum sich überhaupt darum kümmern, solange man nicht Mitglied des Rom-Statuts für diesen Strafgerichtshof in Den Haag geworden ist? 2
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete deutsche Fassung eines englischen Vortrags, der im März 2013 an der Hebrew University in Jerusalem und im November 2013 an der Columbia Law School in New York gehalten wurde und der in seinem Teil II auf meiner Veröffentlichung über „Transnational Measures against the Impunity of International Crimes“ in: Journal of International Criminal Justice (= JICJ) 10 (2012), 621–634 und in seinem Teil III auf meiner Veröffentlichung über „Procedural Structure and Features of International Criminal Justice: Lessons from the ICTY“ in: Swart/Zahar/ Sluiter (Ed.), The Legacy of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, New York 2011, 108–148, beruht. Diesen Beitrag, dessen Vortragsstil im Wesentlichen beibehalten ist, dem verehrten Jubilar als zeitweiligem Fakultätskollegen an der Universität Freiburg zu widmen und dafür sein Interesse zu erhoffen, sehe ich mich nicht zuletzt deshalb veranlasst, weil er sich in immer stärkerem Maße auch zu grenzüberschreitenden Problemen zu Wort gemeldet hat. 2 Wenn hier wie im Folgenden in scheinbar wechselhafter Weise von „transnational“, „international“ und „supranational“ gesprochen wird, so ist dies durchaus unterschiedlich gemeint, aber wegen mangelnder Einigkeit über den richtigen Gebrauch dieser Termini nicht immer einfach und treffend zuzuordnen. Während unter „transnational“ jede Art von Strafgerichtsbarkeit verstanden werden kann, die über nationale Grenzen hinausgeht, tun sich mit dem Gebrauch von „supranational“ vor allem Völkerrechtler mit Rücksicht auf die staatliche Souveränität schwer, weil damit der Oktroi einer höheren Instanz zum Ausdruck gebracht werde. Deswegen wurde wohl auch nie ernsthaft darüber diskutiert, den durch das Rom-Statut errichteten Strafgerichtshof als einen „supranationalen“ anstelle eines „internationalen“ zu bezeichnen, obwohl die Kennzeichnung als „supranational“ der Sache sicherlich näher käme. Vgl. auch Eser JICJ 10 (2012), 621, 623 Fn. 3 sowie zu den verschiedenen Erscheinungsformen und Ebenen „transnationalen“ Strafrechts Eser in: Heine/Burkhardt/Gropp (Hrsg.), Transnationales Strafrecht. Gesammelte Beiträge, 2011, S. 305, 307 ff. = www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3454 [letzter Abruf: 17.3.2014].
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Solches provokante Desinteresse konnte sich ein Land vielleicht in der Anfangsphase leisten, als man meinte, sich dem Internationalen Strafgerichtshof schlicht dadurch entziehen – und damit eigene Staatsangehörige vor dessen Zugriff schützen – zu können, dass man dem Rom-Statut nicht beitritt, ist doch nach dessen Art. 12 die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes grundsätzlich nur dann gegeben, wenn das infrage stehende Völkerrechtsverbrechen entweder auf dem Territorium eines Mitgliedstaates oder von einem seiner Staatsangehörigen begangen wurde. Inzwischen jedoch müssen sich auch Nichtmitgliedstaaten fragen lassen, ob man ernstlich die Augen davor verschließen kann, was sich auf der Bühne der internationalen Strafgerichtsbarkeit tut. Nicht nur, dass selbst Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die sich, wie die Volksrepublik China, Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika, bislang einem Beitritt zu Rom-Statut verweigert haben, bereitfanden, „Situationen“ im Sinne von Art. 13 (b), in denen ein Völkerrechtsverbrechen begangen worden sein könnte, dem Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof zu unterbreiten (wie in den Fällen Al Bashir und Gaddafi). Auch kann man nicht mehr ohne weiteres daran vorbeigehen, dass Organisationen mit internationalem Beobachterstatus (wie etwa palästinensische) berechtigt sein könnten, nach Art. 13 (b) den Internationalen Strafgerichtshof ins Spiel zu bringen. Daher scheint mir die Zeit vorüber zu sein, sich nicht davon betroffen zu fühlen, wohin die Reise mit der supranationalen Strafjustiz geht. Diese Feststellung ist nicht als Drohung, sondern als Ratschlag zu verstehen: Anstatt sich der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu verschließen, wäre man besser beraten, sich aktiv in deren Entwicklung einzubringen. Diese Ermunterung ist freilich nicht so zu verstehen, als ob die supranationale Strafgerichtsbarkeit bereits ein perfektes Rechtsinstrument wäre, um der allzu langen Straflosigkeit völkerrechtlicher Verbrechen ein Ende zu setzen. Ganz im Gegenteil gibt es noch eine ganze Reihe von Mängeln, die es bestimmten Ländern schwer machen, sich dem Club transnationaler Strafrechtspflege anzuschließen. Doch bei allem Respekt für verständliche Kritik, die sich gegen die derzeitige Verfassung internationaler Strafjustiz erheben lässt: könnte dies ernsthaft ein Grund sein, sie gänzlich loszuwerden oder jedenfalls sein eigenes Land davon herauszuhalten? Wer dieser Meinung ist, möge sich fragen, was wir nicht hätten oder was die Menschheit verlieren könnte, wenn es niemals eine Art von supranationaler Strafjustiz gegeben hätte oder eine solche künftig nicht erwünscht wäre. Von welchem Gericht wären wohl all jene hochrangigen Naziverbrecher zur Verantwortung gezogen worden, wenn es keine Internationale Militärgerichtsbarkeit in Nürnberg und ähnlich in Tokio gegeben hätte? Oder um einige Zahlen von mittlerweile 65 Jahren gewisser Arten von internationaler Strafjustiz in Erinnerung zu rufen: wie viele von den 172 Strafverfahren, in die 356 Angeklagte verwickelt waren, von denen 281 durch einen supranationales Gericht oder ein sonstiges trans-
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nationales Tribunal verurteilt wurden,3 wären durchgeführt und wie viele Tatverdächtige verfolgt worden, wenn dies dem freien Ermessen nationaler Autoritäten überlassen worden wäre? Statt also Mängel als Argument gegen transnationale Strafrechtspflege einzuwenden, wären sie besser als Herausforderung zu deren bestmöglicher Verbesserung zu verstehen. Doch wie und warum sollte dies geschehen? Dieser Frage ist auf zwei Ebenen nachzugehen. Wenn man – zum einen – danach fragt, ob die Konzeption und Durchführung der supranationalen Ad hoc-Tribunale für Ruanda (ICTR) und das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wie auch der ständige Internationale Strafgerichtshof (ICC) ein Erfolg oder ein Fehlschlag sind oder sein werden, wird man sehr kontroverse Antworten erhalten – stark davon abhängend, was man erwartet hatte. Dieses Bild wird noch konfuser, wenn festzustellen ist, dass die für Erfolg oder Misserfolg zugrunde gelegten Kriterien sehr verschieden, wenn nicht sogar in sich widersprüchlich sein können. Das muss notwendigerweise divergierende Resultate zur Folge haben, mit einem dementsprechend unerfreulichen Erscheinungsbild transnationaler Strafrechtspflege. Wenn man beispielsweise für völkerrechtliche Verbrechen härteste Strafen für erforderlich hält, wird man enttäuscht sein, wenn das Gericht zugunsten besserer Chancen für beiderseitige Versöhnung weniger harsche Strafen vorzieht. Oder wenn die Wiederherstellung sozialen Friedens ohnehin das Hauptziel internationaler Strafverfahren sein soll, kann der Einsatz des Strafrechts von Anfang an als kontraproduktiv erscheinen. Verfehlte Schlussfolgerungen – und diese sind nicht weniger gravierend – können sich zudem daraus ergeben, dass Defizite in Einzelverfahren als Argument gegen die Existenz internationaler Strafgerichtsbarkeit als solcher benutzt werden, mit der Folge, dass man mit dem Nachweis von Mängeln der gegenwärtigen Verfahrensstruktur die Institution supranationaler Strafgerichtsbarkeit als Ganzes meint aufgeben zu sollen. Genau besehen geht es aber bei diesen beiden Phänomenen um zwei verschiedene Ebenen. Daher bedürfen sie auch einer gesonderten Betrachtung. In diesem Sinne ist nachfolgend zu verfahren: zum einen zu der institutionellen Frage, warum es einer gewissen Art von supranationaler Justiz zumindest für bestimmte Arten von Verbrechen bedarf (II), und zum anderen darum, was getan werden könnte, um das individuelle Verfahrenssystem in bestmögliche Verfassung zu bringen (III). Gerade diese beiden Fragestellungen auszuwählen, hat auch einen persönlichen Grund: zu beiden Problembereichen kann ich eigene Erfahrungen einbringen. Zum grundsätzlichen Erfordernis transnationaler Strafjustiz ist aus Erkenntnissen zu berichten, die aus einem von mir initiierten Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für
3 Vgl. Smeulers/Hola/van den Berg International Criminal Law Review (= ICLR) 13 (2013), 7–41.
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ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg gewonnen wurden, und was notwendige Verbesserungen der jeweiligen Verfahrensstruktur internationaler Strafgerichte betrifft, kann ich Lehren aus meiner zeitweiligen Tätigkeit als Richter am ICTY ziehen.
II. Transnationale Strafgerichtsbarkeit als notwendige „ultima ratio“ 1. Erkenntnisse aus einem rechtsvergleichenden Projekt zum Transitionstrafrecht Einer der Gründe dafür, dass mir – bei allem Respekt vor der nationalen Strafrechtspflege – zusätzlicher transnationaler Rückhalt erforderlich erscheint, sind Einsichten, die wir in einem rechtsvergleichenden Projekt zu staatlich unterstütztem Unrecht gewinnen konnten. In diesem Projekt,4 in dem mehr als 20 Länder mit einer totalitären Vergangenheit – sei es faschistischer oder sozialistischer Prägung – Berücksichtigung gefunden haben,5 ging es vornehmlich um die Frage, ob und inwieweit auf staatlich toleriertes, assistiertes oder gar initiiertes Unrecht mit strafrechtlicher Verfolgung zu reagieren ist: Sollte Strafverfolgung das Hauptziel sein? Oder wären nicht auch andere, wenn nicht sogar ausschließlich nichtstrafrechtliche Formen einer Aufarbeitung von derartigem Systemunrecht in Betracht zu ziehen? Und wenn weder die eine noch die andere dieser gegensätzlichen Alternativen akzeptabel wäre, welche sonstigen Wege könnte es geben? Wenn rechtliche Maßnahmen, und nicht zuletzt strafrechtliche Sanktionen unverzichtbar wären, würde es dann genügen, das Betreiben des Traditionsprozesses allein dem völlig freien Ermessen der nationalen Autoritäten zu überlassen? Oder wäre irgendeine Art von transnationaler Einmischung erforderlich?
4 Veröffentlicht unter dem Titel „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse“, 14 Bände, davon 1–7 herausgegeben von Eser/ Arnold, 2000–2003, Bände 8–14 herausgegeben von Eser/Sieber/Arnold, 2005–2011. Als Zwischenbericht in Englisch vgl. Eser/Arnold/Kreicker Criminal Law in Reaction to State Crime. Comparative Insights into Transitional Processes, 2002 = www.freidok.unifreiburg.de/volltexte/6349 [letzter Abruf: 17.3.2014]. 5 So aus dem europäischen Bereich – neben der Deutschen Demokratischen Republik (Bd. 2, 2000) – Griechenland (Bd. 4, 2001), Polen und Ungarn (Bd. 5, 2002), Russland, Weißrussland, Georgien, Estland und Litauen (Bd. 7, 2003), Bulgarien (Bd. 12, 2009), vom afrikanischen Kontinent Mali und Ghana (Bd. 6, 2002) und Südafrika (Bd. 8, 2005), aus dem asiatischen Bereich die Volksrepublik China (Bd. 9, 2006) und Südkorea (Bd. 10, 2006) sowie aus Lateinamerika Argentinien (Bd. 2, 2002), Brasilien (Bd. 13, 2009). Chile und Uruguay (Bd. 11, 2007). Darüber hinaus sind in dem ein einführendes Internationales Kolloquium dokumentierenden Bd. 1 (2000) auch noch zu weiteren einschlägigen Ländern Berichte zu finden.
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Es kann nicht überraschen, dass die verschiedenen Länder unterschiedliche Wege gegangen sind: sei es aus politischen, ideologischen, pragmatischen Gründen oder schlicht aus kaltblütigem Desinteresse an vergangenen Unrechtstaten.6 Was insbesondere die Rolle des Strafrechts bei der Aufarbeitung von Unrechtstaten betrifft, die vor der Ablösung eines verbrecherischen Regimes begangen wurden, haben sich die Einstellungen betroffener Länder als ambivalent herausgestellt.7 Einerseits ergab sich, dass Strafverfolgung, soweit sie überhaupt oder wenigstens bis zu einem gewissen Grad erfolgte, nicht die einzige Antwort auf Systemunrecht sein kann. Nicht weniger wichtig, wenn nicht sogar vordringlich, sind insbesondere Untersuchungen durch Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern oder ähnliche nicht-strafrechtliche Maßnahmen. Andererseits aber hat sich aus unserem rechtsvergleichenden Projekt ergeben, dass das Strafrecht, selbst wenn es nicht als einzige oder primäre Reaktion einzusetzen ist, auf jeden Fall als „letztes Mittel“ vorbehalten bleiben muss. Doch selbst in Ländern, in denen strafrechtliche Reaktionen durchaus möglich gewesen wären, zeigte sich, dass das bloße Vorhandensein von Strafrechtsnormen noch keine Erfolgsgarantie bietet. Vielmehr muss die Strafrechtspflege auch in einer Art und Weise gestaltet sein, dass sie zur Sanktionierung von Systemunrecht und Völkerrechtsverbrechen erfolgreich eingesetzt werden kann. 2. Mängel und Verbesserungsbedürfnisse auf nationaler Ebene Bevor auf internationaler Ebene Hilfe zu suchen ist, bleibt zunächst im nationalen Bereich möglichen Mängeln der Strafrechtspflege abzuhelfen. Wie in den Schlussfolgerungen unseres Forschungsprojekts näher beschrieben,8 kann Strafrecht nur dann ein wirksames Instrument zur Verhinderung und Sanktionierung von Systemunrecht und Völkerrechtsverbrechen sein, wenn folgende Grunderfordernisse erfüllt sind: – die Verbotstatbestände müssen klar umschrieben sein, – Straffreistellungsgründe, die von Machthabern zum Zweck der Selbstimmunisierung gegen eine spätere Strafverfolgung in Form von Immunitäten oder Amnestien eingeführt wurden, müssen ausgeschlossen werden,9 6 Vgl. im Einzelnen den rechtsvergleichenden Querschnitt in: Eser/Arnold Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik, 2012 (Bd. 14 von Eser/Sieber/Arnold (Hrsg.), Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, 2000–2012) S. 159 ff. 7 Zu den nachfolgenden Befunden und Schlussfolgerungen vgl. Eser in: Eser/Arnold (Fn. 6), S. 394 ff., 410 ff. 8 Eser in: Eser/Arnold (Fn. 6), S. 451 ff. 9 Wobei allerdings die möglicherweise befriedungsdienliche Ambivalenz von Amnestien zu Bedenken ist: vgl. Eser in: Eser/Arnold (Fn. 6), S. 442 ff.
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– zudem ist einerseits den Opfern angemessene Genugtuung und andererseits den Beschuldigten ein faires Verfahren zu garantieren. Solange dies aber nur auf der nationalen Ebene geschieht, bleibt die praktische Anwendung und Durchsetzung vom guten Willen und politischen Ermessen der nationalen Instanzen abhängig, und zwar selbst dann, wenn diese gesetzlichen Erfordernisse auch verfassungsrechtlich abgesichert sein sollten. Denn auch Verfassungen lassen sich ändern: Um an die Macht zu kommen, sie zu sichern und selbst dem Unrecht den Schein von Recht zu geben, wird ein Regime auch vor der Pervertierung der Verfassung nicht zurückschrecken. Diese Gefahr ist umso größer, je weniger ein Unrechtsregime im Falle seines Machtverlustes strafrechtliche Folgen zu fürchten braucht. Daran wird sich nichts Fundamentales ändern, solange die Abwehr und Verfolgung von staatlich gedecktem Unrecht ausschließlich den nationalen Garantien und internen Organen eines Landes vorbehalten bleibt. Dann kann ein Unrechtsregime nicht nur, während es an der Macht ist, folgenlos das Recht brechen, sondern auch für die Zeit danach verfassungsmäßige und gesetzliche Vorkehrungen dafür treffen, dass die Machtinhaber und ihre Helfershelfer jeder Verantwortung entzogen bleiben. Denn wenn sich der das Unrechtssystem ablösende Rechtsstaat nicht seinerseits ins Unrecht setzen will, wird er Rechtspositionen und Verfolgungshindernisse, die aufgrund und im Rahmen einer – wie auch immer mehr oder weniger legitimen – Verfassung eingeräumt wurden, nicht ohne weiteres aufheben können. Deshalb stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Einsatz des Strafrechts im Kampf gegen die Straflosigkeit von staatlich gestützten Unrecht und sonstigen Völkerrechtsverbrechen ausschließlich der nationalen Strafgerichtsbarkeit überlassen bleiben soll oder einer transnationalen Unterstützung bedarf. Das hat sich in zweierlei Hinsicht als erforderlich herausgestellt: durch Bindung des nationalen Rechts an bestimmte völkerrechtliche Vorgaben (3) und durch den – zumindest subsidiären – Einsatz supranationaler Strafgerichtsbarkeit (4). 3. Völkerrechtliche Absicherung des nationalen Rechts Was völkerrechtliche Einwirkungen auf die nationale Ebene betrifft, hat die Abwehr und Verfolgung von staatlich toleriertem, assistiertem oder gar initiiertem Systemunrecht wie auch von sonstigen Völkerrechtsverbrechen bereits mit der Gestaltung des nationalen Strafrechts zu beginnen. Schon um die Schwere von Menschenrechtsverletzungen ins allgemeine Bewusstsein zu heben und die Verbindlichkeit einschlägiger Verbotstatbestände auch den nationalen Gewalten gegenüber zu unterstreichen, sollten alle Staaten völkerrechtlich dazu verpflichtet sein, alles, was völkerstrafrechtlich verboten ist, auch im landeseigenen Strafgesetzbuch (oder einem gleichgewichtigen Ge-
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setz) unter Strafe zu stellen – so wie dies bereits für verschiedene Länder geschehen ist10 bzw. dazu noch nicht bereiten Ländern begreiflich zu machen wäre.11 Mit der Schaffung supranational untermauerter Verbotstatbestände ist es jedoch nicht getan. Damit sie nicht durch nationale Selbstimmunisierungen der Machthaber unterlaufen werden können, ist auch bestimmten missbrauchsanfälligen Straffreistellungsgründen und Verfolgungshindernissen völkerrechtlich ein Riegel vorzuschieben. Auszuschließen sind daher insbesondere: – die Berufung auf Immunität als Staatsoberhaupt oder vergleichbarer Befehlsgeber, – die Berufung auf die von Machthabern oder Unterstützern des Unrechtsregimes selbst eingeräumten Amnestien, – die Rechtfertigung wegen Handelns auf Befehl, – die Verjährbarkeit von völkerrechtlichen Verbrechen, indem diese für unverjährbar erklärt werden oder für den von einem Unrechtssystem dominierten Zeitraum das Ruhen der Verjährung angeordnet wird, – die Berufung auf das Rückwirkungsverbot, soweit es sich um völkerstrafrechtliche Verbrechen handelt, deren Unrechtscharakter allgemein bekannt ist, oder soweit unter Missachtung von humanitärem Völkerrecht Verbotstatbestände aufgehoben, eingeschränkt oder durch Strafbefreiungsgründe oder Verfolgungshindernisse unterlaufen wurden. 4. Einsatz inter- und supranationaler Organe Lediglich das nationale Strafrecht durch völkerrechtliche Vorgaben abzusichern, ist jedoch nicht genug. Selbst wenn dies legislativ geschehen ist, kann man nicht sicher sein, dass auch die Judikative, und dabei insbesondere die nationale Strafrechtspflege, fähig und willens ist, ihrer primären Verantwor-
10 Wo, in welchem Umfang und auf welche Weise diese Völkerrechtsverbrechen bereits in nationales Strafrecht umgesetzt sind, ist einem umfangreichen rechtsvergleichenden Projekt des Max-Planck-Instituts zu entnehmen: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen/National Prosecution of International Crimes, 2003–2006, zusammengefasst von Kreicker ICLR 5 (2005), S. 313–328. 11 Dies umso mehr, als sich die Nationalstaaten zu einer solchen Anpassung ihres Strafrechts auch durch das Komplementaritätsprinzip in Art. 17 des Rom-Statuts veranlasst sehen sollten. Denn wenn die nationale Strafjustiz verhindern will, dass ihr, weil sie zur Verfolgung eines völkerrechtlichen Verbrechens unfähig oder nicht willens ist, ein Verfahren vom Internationalen Strafgerichtshof aus der Hand genommen wird, dann muss der nationale Gesetzgeber durch entsprechende Ausgestaltung seines Strafrechts dafür sorgen, dass seine Strafgerichtsbarkeit im Verdachtsfall zu einer Verfolgung fähig ist. Vgl. auch Eser in: Transnationales Strafrecht (Fn. 2), S. 594, 598 ff. = www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/ 3675 [letzter Abruf: 17.3.2014].
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tung gerecht zu werden. Bei aller Hochachtung des nationalen Vorrangs, mit der eigenen unrechtsbehafteten Vergangenheit ins Reine zu kommen oder noch laufenden Völkerrechtsverbrechen zu begegnen, ist es die Weltgemeinschaft, die aufgrund ihrer Letztverantwortung sicherzustellen hat, dass schwere Menschenrechtsverbrechen verhindert werden oder jedenfalls nicht straflos ausgehen. Sofern eine nationale Strafgerichtsbarkeit ihrer primären Verfolgungspflicht nicht nachkommt, gibt es für die Weltgemeinschaft zwei transnationale Wege zu subsidiärem Einschreiten. Der traditionelle Weg wäre der des (hierzulande missverständlich sogenannten) „internationalen Strafrechts“, auf dem im Sinne „transnationales Strafanwendungsrechts“ das nationale Strafrecht über die auf dem eigenen Territorium begangenen Straftaten hinaus auch auf Auslandstaten erstreckt werden kann. Für den dazu erforderlichen Anknüpfungspunkt kommen für die hier vornehmlich infrage stehenden Völkerrechtsverbrechen – neben dem aktiven und passiven Personalitätsprinzip – vor allem der Weltrechtsgrundsatz sowie das Prinzip der „stellvertretenden Strafrechtspflege“ in Betracht.12 Dieser Weg wird jedoch erfahrungsgemäß nicht gerne beschritten, da sich der übergangene Territorialstaat in seiner Souveränität beeinträchtigt fühlen könnte, wenn sich eine ausländische Strafgerichtsbarkeit an seine Stelle setzt. Deshalb kann es nicht überraschen, dass auch die Aufarbeitung von staatlichem Systemunrecht üblicherweise jeweils dem betroffenen Land überlassen wird. Umso mehr ist für den Fall, dass bei Völkerrechtsverbrechen weder die Territorialgerichtsbarkeit ihrer Verfolgungspflicht nachkommt noch transnational andere Gerichtsbarkeiten einspringen, der modernere Weg gefragt: der Einsatz von Gerichten, die nicht ausschließlich national sind. Wie auch immer eine solche Institution gestaltet sein mag – sei es als hybrid nationalinternational oder als rein supranational – und wie auch immer ihr Zuständigkeitsbereich umschrieben wird, zeichenhaft bedeutsam ist, dass es eine solche Institution überhaupt gibt: als Warnsignal gegenüber Regimeverbrechern, um sich nicht einfach national immunisieren und damit auch gegen internationale Verfolgung abschotten zu können, und als Hoffnungssignal für die Opfer eines Unrechtssystems, nicht mehr nationalem Desinteresse überlassen zu bleiben, sondern notfalls mit internationalem Beistand Genugtuung finden zu dürfen. Auch ein politischer Missbrauchsaspekt ist nicht zu unterschätzen. So sehr die Priorität der nationalen Strafgewalt Respekt verdient, ist diese doch vor parteilicher Instrumentalisierung nicht gefeit. Das gilt vor allem für den Fall, dass ein Tatverdächtiger gegen eine ernsthafte Strafverfolgung abgeschirmt
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Näher zu diesen verschiedenen Anknüpfungspunkten wie auch zur Terminologie vgl. Schönke/Schröder/Eser StGB, 29. Aufl. 2014, vor § 3 Rn. 1 ff., 11 ff.
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und das subsidiäre Eingreifen eines transnationalen Straforgans dadurch verhindert werden soll, dass die nationale Justiz ein zu einem Freispruch führendes „Scheinverfahren“ durchführt und einer Korrektur auf transnationaler Ebene das Verbot der Doppelverfolgung entgegengehalten wird. Um einer solchen Pervertierung des Grundsatzes von ne bis in idem vorzubeugen, ist nach dem Vorbild von Art. 20 (3) des Rom-Statuts eine Missbrauchsklausel vorzusehen. Wenn vorangehend der Eindruck einer Schlagseite zugunsten einer Internationalisierung nationaler Vergangenheitsbewältigung entstanden sein sollte, so wäre diese Annahme teils richtig, teils aber auch falsch. Mein Anliegen würde einerseits von Grund auf verkannt, wenn darin ein insgeheimes Plädoyer für eine Entmündigung des Nationalstaates in seiner Verantwortung für die eigene Aufarbeitung von Systemunrecht vermutet würde. Ganz im Gegenteil kann gar nicht oft und klar genug betont werden, dass die von einem Unrechtsregime wie auch von anderen Völkerrechtsverbrechen geschlagenen Wunden so tat- und opfernah wie möglich zu heilen sind und die Primärverantwortung für eine nachhaltige Befriedung bei den nationalen Instanzen liegt. Auf der anderen Seite jedoch – und das ist nicht zuletzt eine aus dem MPIProjekt zu ziehende Lehre – ist nicht zu verkennen, dass nationale Bemühungen um Aufarbeitung eines Unrechtssystems an Grenzen stoßen können: sei es, dass es von Anfang an einem ernsthaften Aufklärungswillen fehlt, weil dieser von den weiterhin starken alten Mächten unterdrückt wird oder man sich durch Verdrängen eine schnelle Heilung erhofft, oder sei es, dass aus welchen sonstigen Gründen auch immer zeitweilige Aufarbeitungsbemühungen ins Stocken geraten und schließlich scheitern. Spätestens dann kommt die Stunde der transnationalen Völkergemeinschaft zum subsidiären Eingreifen: im Sinne individueller Solidarität mit den Opfern wie auch aufgrund von globaler Letztverantwortung für die Repression von nationalem Systemunrecht. Durch welche Art von Verfahren aber ist dieses Ziel am besten zu erreichen? Diese Frage führt von der Grundsatzebene supranationaler Strafgerichtsbarkeit als Institution auf die Ebene der Durchführung individueller Strafverfahren.
III. Reflexionen zur Konzeption und Struktur internationaler Strafverfahren Von den zahlreichen und verschiedenartigen Faktoren, die für die Struktur und das Gelingen eines Strafverfahrenssystems – und dabei insbesondere für die internationale Strafjustiz – wesentlich erscheinen, können in diesem Rahmen nur zwei angesprochen werden: das Verhältnis von Wahrheitsermittlung und Fairness (1) und die Rolle der Verfahrensbeteiligten (2).
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1. Wahrheitsermittlung und Fairness: „inquisitorisch“ versus „adversatorisch“? Was die verschiedenen Ziele und Mittel betrifft, auf die hin internationale Strafverfahren angelegt sein sollen,13 ist man eigener Standpunkt – kurz zusammengefasst – folgender: Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Annahme, dass inquisitorische Strukturen primär auf Wahrheitsermittlung ausgerichtet, während adversatorische Systeme hauptsächlich fairness- orientiert seien, halte ich dafür, dass keines dieser Maxime die wirklichen Ziele der Strafjustiz, sondern lediglich deren Mittel und Modalitäten sind. Während die Endziele internationaler Strafgerichtsbarkeit die Bestätigung und Bekräftigung des Rechts, die (Wieder-)Herstellung des sozialen Friedens und das Beitragen zur Versöhnung sein müssen, können diese Ziele kaum ohne Ermittlung der Wahrheit mit fairen Mitteln erreicht werden. In diesem Sinne sind Wahrheit und Fairness nicht als ein antagonistisches „entweder-oder“, sondern als eine Verbindung von Wahrheitsermittlung mit fairen Mitteln zu verstehen.14 In beiderlei Hinsicht jedoch, nämlich weder zur Ermittlung der Wahrheit noch dies durch ein faires – und dementsprechend auch zügiges – Verfahren zu erreichen, machen die derzeitigen internationalen Strafgerichtshöfe keine allzu gute Figur: Die meisten international strafrechtlichen Verfahren sind schrecklich lang und nicht wenige davon mit zweifelhaftem Ergebnis, häufig aufgrund von Mangel an Beweisen. Was jedoch noch beunruhigender ist: nicht wenige dieser Mängel könnten vermieden werden, wenn das Verfahrensregime ein anderes wäre. Oder um es mit aller Offenheit zu sagen: aufgrund eigener Beobachtungen und Erfahrungen als Richter am ICTY habe ich den Eindruck, dass sich das Erfolgsprofil der internationalen Strafgerichtsbarkeit weitaus besser darstellen würde, wenn ihre Verfahrenspraxis weniger durch „adversatorische“ Hürden erschwert und mehr von „inquisitorischen“ (oder besser „instruktorisch“ zu nennenden) Maximen geleitet wäre.15
13 Zu einem Überblick über die lange Liste von Zielsetzungen, die der internationalen Strafgerichtsbarkeit häufig zugeschrieben werden, vgl. Eser Procedural Structure (Fn. 1), S. 109 ff. 14 Näher zur notwendigen Differenzierung und Koordinierung verschiedener Ziele, Mittel und Modalitäten internationaler Strafgerichtsbarkeit vgl. Eser Procedural Structure (Fn. 1), S. 114 ff. 15 Wenn diese Verfahrensmaximen in Anführungszeichen gesetzt sind, sei damit angezeigt, dass die „Adversarität“ unterschiedliche Ausprägungen in verschiedenen Common Law-Gerichtsbarkeiten haben kann, ähnlich wie die meisten modernen kontinentaleuropäischen Prozesssysteme, anstatt sie in einer mittlerweile überwundenen mittelalterlichen Praxis als „inquisitorisch“ zu disqualifizieren, korrekterweise als „instruktorisch“ zu bezeichnen wären, und zwar im Sinne des Rechts und der Pflicht des Richters, die Wahrheit von Amts wegen zu ermitteln, statt sie ausschließlich in den Händen der Parteien zu belassen; vgl. Eser Procedural Structure (Fn. 1), S. 118.
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Wie inzwischen selbst von traditionellen Anhängern des adversatorischen Verfahrenssystems eingeräumt wird, wäre es einfach nachzuweisen, dass die exzessive Dauer von Verfahren des ICTY in erheblichem Maße auf zeitraubende adversatorische Regeln zurückzuführen ist.16 Indes sei hier der Fokus auf die Wahrheitsermittlung ausgerichtet, da diese Streitfragen von grundlegendere Natur sind In grundsätzlicher Hinsicht, denke ich, wird die Wahrheitsermittlung als Schlüsselelement der Strafjustiz – und damit als ein „cornerstone of the rule of law (Madeleine Albright) – wohl von keinem seriösen Verfahrenssystem unserer Zeit infrage gestellt, weder durch das inquisitorische noch durch das adversatorische Modell. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen beiden, dies zumindest bis zu einem gewissen Grad: Während die Wahrheitssuche, wie bereits erwähnt, als ein Markenzeichen des inquisitorischen Modells gilt, wird dem adversatorischen Modell primäre Orientierung am Fairnessgrundsatz nachgesagt. Dementsprechend kann es nicht überraschen, dass Strafverfahren am ICTY – aufgrund von dessen praktischer (wenn auch nicht statutsmäßig zwingend vorgegebener) Grundausrichtung – weniger stark um Wahrheitsfindung bemüht sind, als dies in kontinentaleuropäischen Verfahren geboten wäre. Das soll nicht heißen, dass absolute Wahrheit, falls diese angesichts menschlicher Gebrechlichkeit überhaupt zu finden ist, um jeden Preis zu gewinnen ist. Was jedoch nichtsdestoweniger zu vermeiden ist, sind Hemmnisse in der Wahrheitserforschung, die bestimmten prozessualen Strukturen zuzurechnen sind, wie sie für das adversatorische System charakteristisch sind. Dazu kann in diesem Rahmen nur noch folgender Punkt angesprochen werden: 2. Die Rolle der Parteien und der Richterbank Als grundsätzlich „parteibetrieben“ statt „richterlich geführt“, ist für die Verfahrenspraxis am ICTY charakteristisch, dass es einerseits – so jedenfalls grundsätzlich – in Gestalt des Anklägers und des Verteidigers den Parteien überlassen bleibt, welche Beweise sie präsentieren, welche Zeugen oder dokumentarische Beweismittel sie einzubringen gedenken und in welcher Weise und Abfolge sie die Beweisaufnahme führen wollen. Andererseits sollten sich die Richter mit Interventionen zurückhalten und sich lediglich als „Schiedsrichter“ zwischen den Parteien verstehen, um – wie einmal von Judge Patrick L. Robinson ausgedrückt – die „Waage der Gerechtigkeit zwischen beiden Seiten gleichzuhalten“.
16 Zu Einzelheiten vgl. Eser FS Jung, 2007, S. 167, 172 ff. = www.freidok.uni-freiburg. de/volltexte/6295 [letzter Abruf: 17.3.2014]; ders. Procedural Structure (Fn. 1), S. 138 ff.
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Was aber bedeutet es, auf diese Weise die Wahrheitsermittlung derart weitgehend in den Händen der Parteien zu belassen? Wie Verfechter des parteibetriebenen Modells zu argumentieren pflegen, soll die Chance, die Wahrheit herauszufinden, größer sein, wenn sie von zwei Gegnern umkämpft ist, von denen jeder „seinen Fall“ gewinnen will. Daran ist sicherlich etwas Richtiges, hat aber nur dann Aussicht auf Ermittlung der vollen Wahrheit, wenn beide Seiten willens und fähig sind, ihre Aufgabe ordnungsgemäß zu erfüllen, nämlich weder tatsachenerhebliche Beweise zu vernachlässigen noch sie bewusst der Kenntnis der Richter vorzuenthalten. Das aber kann leicht geschehen, wenn beide Parteien – wiewohl aus unterschiedlichen Gründen – befürchten, dass ein Zeuge Aussagen machen könnte, die für die eigene Sache von Nachteil sind. Wenn in einem solchen Fall der Unfähigkeit oder Obstruktionsstrategie einer oder gar beider Parteien nicht durch den Richter entgegengewirkt werden kann, bleibt die Wahrheit auf der Strecke. Diese Gefahr ist umso größer, je mehr sich die Richter vom adversarialen Verständnis des Verfahrens als „the parties‘ case“ leiten lassen, wonach dessen Erfolg oder Scheitern in der Verantwortung der Parteien liege. Ohne die Tugend „richterlicher Selbstbeschränkung“ grundsätzlich infrage stellen zu wollen, ist mir die Vorstellung, das Strafverfahren (nur) als „Fall der Parteien“ und nicht (auch) als der des Richters zu verstehen, nur schwer nachvollziehbar. Zwar ist einerseits richtig, dass sich der Richter aufgrund des Akkusationsprinzips auf die Beweisgewinnnung und Beurteilung der Straftaten zu beschränken hat, die von der Verfolgungsbehörde unter Anklage gestellt wurden. Andererseits ist aber nicht einzusehen, dass sich der Richter bei seiner Suche nach Berechtigung der Anklage auf die seitens der Parteien vorgelegten Beweismittel soll beschränken müssen. Anklageerhebung (samt Benennung der vorgeworfenen Straftat und der dieser zugrunde gelegten Tatsachen) ist die eine, und zwar allein dem Ankläger zustehende Funktion; das Urteil darüber ist die andere, nämlich die dem Gericht zukommende Aufgabe. Kann aber der Richter bei seiner Urteilsfindung von Seiten der Parteien beschränkt werden, indem ihm von diesen bestimmte Beweismittel vorenthalten oder – beispielsweise – bei Zeugenvernehmungen entscheidungsrelevante Fragen in jeweils gegenläufigem Parteiinteresse nicht gestellt werden, so wird dem Richter eine Entscheidung auf parteilicherseits vorfabrizierter Grundlage zugemutet.17 Ein weiterer Grund, jedenfalls in der internationalen Strafjustiz der Richterbank nicht zu erlauben, die Verantwortung für die Wahrheitsermittlung allein den Parteien überlassen, ist das umfassende Mandat des Gerichts als Ganzem. Die Vorstellung, dass bei Anklagen derartiger Schwere die Richter
17 Zu weiteren Einzelheiten dieser und sonstiger adversatorisch bedingter Gebrechen vgl. Eser Procedural Structure (Fn. 1), S. 123 ff.
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auf eine rein formale Verfahrenskontrolle beschränkt sein sollen, bei der das Ergebnis völlig der Fähigkeit und dem Ermessen der Parteien überlassen bleibt, ist schwerlich vereinbar mit der außerordentlichen Verantwortung, die sich aus der Entscheidungsmacht über Völkerrechtsverbrechen ergibt. Da das Recht und die Pflicht, derart schwere Verbrechen zu verfolgen, dem Gericht als Institution18 und nicht allein den Parteien übertragen ist, haben es die Richter nicht nur den Parteien, sondern auch sich selbst vorzuwerfen, wenn infolge unzulänglicher Wahrheitsermittlung ein Angeklagter fälschlich für schuldig befunden oder grundlos freigesprochen wird. 3. Reformstrategie Über die Wahrheitsermittlung hinaus gibt es natürlich auch noch andere Ziele und Verfahrensweisen internationaler Strafjustiz, die Aufmerksamkeit verdienen würden und Verbesserungen nötig hätten: so um allseitige Fairness zu garantieren, die Zügigkeit des Verfahrens zu beschleunigen, Versöhnung voranzutreiben und historische Ereignisse zu dokumentieren.19 Doch selbst wenn in diesen Punkten die gegenwärtige Struktur der internationalen Strafgerichtsbarkeit, wie sie insbesondere aus Erfahrungen am ICTY zutage treten, Mängel aufweist, ist darin kein Scheitern zu erblicken. Ebenso wenig ist die Auflistung von Fehlkonstruktionen, die sich aus dem adversatorischen Prozesssystem ergeben, als Aufruf zur Ersetzung durch eine inquisitorische Art von Verfahren zu verstehen. Im Gegenteil, eine der Botschaften, die aus der intensiven Analyse der Verfahrensstruktur internationalen Strafgerichtsbarkeit hervorgeht, ist die, dass diese nicht einfach durch Übernahme und bloße Justierung eines nationalen Verfahrensmodells konzipiert werden kann, sei dieses adversatorisch oder anders. Vielmehr sind in einem ersten Schritt die besonderen Zielsetzungen zu identifizieren, denen die internationale Strafgerichtsbarkeit dienen soll, um dann in einem zweiten Schritt die Methoden und Modalitäten zu entwickeln, mit denen diese Ziele am besten zu erreichen sind. Anstatt also, wie dies in der Vergangenheit meist geschehen ist, ein staatsinternes Verfahrenssystem dieser oder jener Herkunft auszuwählen und lediglich auf bestimmte Besonderheiten internationaler Strafgerichtsbarkeit hinzubiegen, sollte man, ohne sich dabei an ein bestimmtes traditionelles Prozesssystem gebunden zu fühlen, den Mut haben, ein Verfahren zu entwickeln, das von oben – nämlich von den Zielen der internationalen Strafgerichtsbarkeit – her konzipiert und strukturiert ist.
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Vgl. Art. 1 ICTY-Statut bzw. Art. 1 ICC-Statut. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Eser Procedural Structure (Fn. 1), S. 131 ff.
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Ohne gewisse Enttäuschungen und Hemmnisse, mit denen die internationalen Strafrechtshöfe nach wie vor zu leben haben, ignorieren zu wollen, sind manche Mängel doch auch durch schwergewichtige Verdienste aufgewogen, wie insbesondere schon durch ihre schiere Existenz und Bereitschaft, der herkömmlichen Straflosigkeit von schweren Völkerrechtsverbrechen ein Ende zu setzen. Das allein kann natürlich nicht genug sein, vielmehr ist auch die Verfahrensstruktur in bestmögliche Form zu bringen. In diesem Sinne mag in Erinnerung gerufen sein, was bereits bei anderer Gelegenheit zu sagen war: Wenn ein internationales Gericht scheitern sollte, wird sich die Geschichte nicht darum kümmern, ob dies Regeln und Strukturen anzulasten ist, die es den Parteien überlassen haben, was sie zu präsentieren oder vorzuenthalten belieben, jeweils einseitig abhängig davon, was dem Sieg der eigenen Sache am besten dienen könnte. Im Urteil der Geschichte wird es die Gerichtsbarkeit als Ganze – mit ihren Richtern an vorderster Front – sein, die für den Erfolg oder das Scheitern internationaler Strafgerechtigkeit für verantwortlich gehalten wird.20
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Eser FS Jung, 2007, S. 167, 187.
Der Europäische Gesetzgeber im Lichte des neu gefassten § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO – Gespenst, Phantom oder guter Geist? Sabine Gleß I. Die Brüssler Strafrechtspflege vor den Toren „Ein Gespenst geht um in Europa“, warnte Bernd Schünemann im Jahr 2002 die deutsche Strafrechtswissenschaft und meinte die „Brüsseler ,Strafrechtspflege‘“,1 die er auf das nationale Strafrecht zukommen sah. Tatsächlich haben EU-Initiativen wie der Europäische Haftbefehl oder die Fahndung über das Schengener Informationssystem (SIS) die Praxis der Strafverfolgung schnell verändert – jedoch zunächst in grenzüberschreitenden Fällen.2 Bis der EU-Gesetzgeber im Kern der deutschen Strafprozessordnung auf der Arbeitsebene wahrnehmbare Veränderungen bewirkt hat, verging ein weiteres Jahrzehnt, und es geschah überraschenderweise nicht klar und einseitig als Abbau rechtsstaatlicher Grundsätze zum Nachteil von Beschuldigten.3 Anstoß für eine Reform im Kerngebiet gab vielmehr eine Initiative, mit welcher der EU-Gesetzgeber die Beschuldigtenstellung europaweit festigen will: Die EU-Richtlinie 2012/13 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren4 (im Folgenden: EU-Richtlinie 2012/13) veranlasste den deutschen Gesetzgeber die Informations- und Belehrungsrechte und das Recht auf Übersetzung 5 auszubauen. Das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren ergänzte unter anderem § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO:6 Heute wird die beschuldigte Person in Deutschland nicht nur darauf hingewiesen, dass es ihr nach dem Gesetz freisteht, sich zu der Beschuldigung zu äussern oder nicht zur Sache auszusagen,
1
Schünemann GA 2002, 501 ff. Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. 2013, § 10 Rn. 1 ff. 3 Schünemann GA 2002, 501, 513. 4 Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. L 142 vom 1.6.2012, 1. 5 Siehe dazu die Neufassung von § 187 Abs. 1 GVG. 6 Zum Gesetzgebungsverfahren BT-Drucks. 17 / 12578 und 17 / 13528. 2
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und dass sie jederzeit einen von ihr zu wählenden Verteidiger befragen darf, sie „ist ferner darüber zu belehren, daß sie zu ihrer Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann.“ Ist die Brüssler Strafrechtspflege also nicht, oder jedenfall nicht immer, das Schreckgespenst, das man zu Beginn dieses Jahrtausends heraufziehen sah? Ist es vielleicht nur ein Phantom, das zwar – wie der Jubilar an vielen Stellen rhetorisch brillant herausgearbeitet hat – die Prämissen unserer Kriminalpolitik verändert hat,7 am Ende aber doch nicht so schlimm und manchmal sogar ein guter Geist ist, dessen Hand und Schrift es sorgfältig zu beobachten gilt und mit dem es sich zu reden lohnt? Mit Blick auf die jüngste Reform des § 136 StPO dürfte ein unbefangener Beobachter durchaus Letzteres konzedieren. Denn die auf den Weg gebrachten EU-Vorgaben an die Mitgliedstaaten scheinen den Warnungen Rechnung zu tragen, die in Deutschland immer wieder unter anderem engagiert von Bernd Schünemann vorgetragen wurden: Auf Weisung aus Brüssel müssen in der EU mit strafrechtlichen Vorwürfen konfrontierte Personen nach europäisch einheitlich definierten Vorgaben belehrt und unterrichtet werden.8 Damit ist anscheinend auch eine der Kernforderungen erfüllt, die Bernd Schünemann im Rahmen des von ihm initiierten Projekts für „Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege“ erhoben hat.9 Eine Gabe ist jedoch nicht immer eine reine Wohltat. Das gilt bei europäischen Vorgaben schon deshalb, würde der Jubilar zu bedenken geben, weil jede europaweite Festlegung grundsätzlich eine Harmonisierung bedeute, welche – wie er ebenfalls in verschiedenen Werken herausgearbeitet hat – an sich die Gefahr des „race to the bottom“ mit sich bringe.10 Dass der EUGesetzgeber dieser Gefahr vorzubeugen sucht, indem er es den Mitgliedstaaten, wie auch in der EU-Richtlinie 2012/13, freistellt, auf nationaler Ebene weiter gehende Individualrechte beizubehalten, ist an sich begrüßenswert, aber zugegebenermaßen in der Praxis weder eine echte Prophylaxe noch gänzlich unproblematisch.11
7 Schünemann StV 2003, 531, 533 warnte den deutschen Gesetzgeber zum „Lakai von Brüssel zu schrumpfen“ und forderte nationalstaatliche Umsetzungsspielräume, vgl. a. Schünemann/Roger ZIS 2010, 515, 516 ff. 8 Dazu KOM (2010) 392 endg. vom 20.7.2010. 9 Vgl. Vorschläge Schünemann in: ders. (Hrsg.), Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege – A Programme for European Criminal Justice, 2006. 10 Dazu mit Blick auf die Verteidigung: Nestler in: Schünemann (Hrsg.), Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege – A Programme for European Criminal Justice, 2006, S. 166, 168. 11 Vgl. Erwägungsgrund 40 sowie Art. 10, RL 2012/13/EU.
Der Europäische Gesetzgeber im Lichte von § 136 I S. 2 StPO
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II. § 136 StPO – und der europäische Geist Bernd Schünemann hat das Gespenst einer das nationale Recht prägenden EU-Strafrechtsgesetzgebung vor gut einem Jahrzehnt zu Recht an die Wand gemalt: Die Zusammenarbeit der EU-Staaten zielte zunächst praktisch ausschließlich auf die Vereinfachung der zwischenstaatlichen Kooperation zur Strafverfolgung. Welchen Einfluss dies auf Beschuldigten- oder Bürgerrechte haben würde, interessierte kaum jemanden. Das Zusammenwirken der Behörden drohte, die in den nationalen Rechtsordnungen über lange Zeit gewachsene Balance zwischen staatlicher Strafverfolgungsmacht, Beschuldigteninteressen, Bürgerrechten und Opferanprüchen ins Ungleichgewicht zu bringen. Eine Lösung schien nicht in Sicht, schon weil der primär durch Wirtschaftsinteressen und eine Logik der ökonomischen Integration getriebene europäische Zentralisierungsprozess gar nicht das Instrumentarium vorsah, um auf Besonderheiten der Strafverfolgung Rücksicht zu nehmen. Hinzu kommt, dass Deutschland einen Standard im Strafverfahren erreicht hat, der von den inländischen Akteuren des Strafverfahrens als positiv und – jedenfalls einem europäischen Anspruch auf (Neu-)Regelung gegenüber – als erhaltungswürdig angesehen wird.12 1. Ausgangslage im deutschen Recht Den europäischen Bestrebungen stand man demgegenüber desinteressiert bis ablehnend gegenüber, denn der europäische Gesetzgeber drohte den deutschen Standard zu stören. Das gilt auch für die im deutschen Strafverfahren im Vergleich zu manchen anderen EU-Staaten weit gehenden Belehrungspflichten. Man ist in Deutschland um eine Belehrung in „korrekter“ Weise bemüht,13 und selbst wenn ein Beschuldigter bereits einen Wahl- oder Pflichtverteidiger hat, besteht noch eine Hinweispflicht.14 Denn es könnte beispielsweise sein, dass er mit diesem Verteidiger noch nicht oder noch nicht eingehend gesprochen hat und nicht weiß, dass er sich vor der Vernehmung mit ihm beraten kann.15 Die Rechtsprechung hat darüber hinaus weitere
12 Zur Sicht des nationalen Gesetzgebers vgl. BR-Drucks. 155 / 03 vom 23.5.2003; zur Sicht der Praktiker, die einen „Einheitsbrei aus Brüssel“ fürchten, vgl. die Auswertung von Praktikerinterviews durch Wahl in: Vernimmen-Van Tiggelen/Surano/Weyembergh (Eds.), The future of mutual recognition in criminal matters in the European Union, Brüssel 2009, S. 115 ff. sowie zur Komplexität dieses Unterfangens etwa: Vernimmen-Van Tiggelen/ Surano in: Vernimmen-Van Tiggelen/Surano/Weyembergh a.a.O., S. 570 ff. 13 Dazu Hamm NJW 1996, 2185 ff.; Löwe/Rosenberg/Gleß StPO, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 40. 14 Strittig, vgl. dazu: B. Mehle NJW 2007, 969, 973. 15 Roxin JZ 1993, 426; vgl. a. BGHSt 38, 375.
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Pflichten etabliert, die den Zugang zum Verteidiger faktisch sichern sollen.16 Bereits vor der Ergänzung von § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO war anerkannt, dass ein mittelloser Beschuldigter, der einen Verteidiger wünscht, auf die Möglichkeit der Pflichtverteidigung und Beratung durch den anwaltlichen Notdienst aufmerksam gemacht werden muss,17 wobei die Einzelheiten streitig blieben. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass der deutsche Gesetzgeber selbst nur geringen Änderungsbedarf infolge des Inkrafttretens der EU-Richtlinie sah. Geboten war die ausdrückliche Verankerung der Belehrungspflicht über die Möglichkeit unentgeltlicher Verteidigung. Denn die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Beschuldigte über die Möglichkeit kostenloser Strafverteidigung eigens zu belehren ist, war in Deutschland, entgegen Aussagen in den Gesetzesmaterialien, nicht abschließend geklärt.18 2. Rechtslage nach der Reform Den Streit über die Ausgestaltung dieser Belehrungspflicht beendet die Gesetzesänderung mit der Reform des § 136 StPO. Nunmehr ist über das Recht zur unentgeltlichen Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei richterlichen und – nach § 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2 – auch bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen zu belehren. Dies betrifft Fälle der notwendigen Verteidigung sowohl in den enumerierten Fällen nach § 140 Abs. 1 als auch nach den allgemeinen Voraussetzungen in § 140 Abs. 2 StPO.19 Der Verweis auf § 141 Abs. 1 und 3 StPO stellt klar, dass der Beschuldigte insbesondere darüber zu belehren ist, dass ihm bereits im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn die Staatsanwaltschaft dies wegen des erkennbaren Bestehens notwendiger Verteidigung beantragt.20 Damit sind Beschuldigte – jedenfalls auf dem Papier – durch die Reform heute im Strafverfahren besser gestellt als im Vergleich zu der Situation vor Umsetzung des EU-Rechts.
16 BGHSt 38, 214; 38, 372 = JR 1993, 332 mit Anm. Rieß = JZ 1993, 425 mit Anm. Roxin; BGHSt 42, 15, 26 = StV 1996, 187 m. Bespr. Müller; BGHSt 42, 170; 47, 233; BGH NStZ 2006, 236 = StV 2006, 567 mit Anm. Beulke/Barisch. 17 BGHSt 47, 233; BGH NStZ 2006, 236. 18 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. 2013, § 136 Rn. 10; LR/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. 2007, § 137 Rn. 66b; Wohlers FS Rudolphi, 2004, S. 713, 731; B. Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 2005, S. 305. 19 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren, BT-Drucks. 17 / 12578, Begründung zu Nummer 3. 20 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (Drs. 17/12578), BT-Drucks. 17 / 13528, S. 4.
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Es fehlen jedoch flankierende Regelungen. So ist etwa auch in Deutschland umstritten, welche Konsequenzen aus einer fehlenden Belehrung über das Recht auf Pflichtverteidigung folgen. Der BGH 21 und ein Teil der Literatur 22 haben ein Beweisverwertungsverbot bei Verletzung einer – sich dann nur im Einzelfall ergebenden – Belehrungspflicht abgelehnt. Diese Ansicht muss angesicht der Reform überdacht werden. Die europäisch initiierte Neuregelung stärkt diejenigen, die ein Beweisverwertungsverbot befürworten, wenn Beschuldigte über ihre Möglichkeiten einer unentgeltlichen Verteidigerbestellung nicht belehrt worden sind.23 Nach der Ergänzung von § 136 Abs. 1 S. 2 StPO ist der Fall, dass der Beschuldigte nicht über das Recht auf unentgeltliche Verteidigung belehrt wurde, ebenso wie die Verletzung anderer Vorschriften zu behandeln, die den ungehinderten Zugang zu einem Verteidiger sichern sollen.24 Wenn man das Recht auf Verteidigerkonsultation auch für mittellose Beschuldigte ernst nimmt,25 muss eine Verletzung der Belehrungspflicht grundsätzlich zu einem Verwertungsverbot führen.26
III. Abbau rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien – nur ein Phantom? Die Ambition der EU-Richtlinie 2012/13 und deren Konsequenzen für das deutsche Recht führt damit zur Frage, ob der europäische Gesetzgeber in seiner wahren Gestalt ursprünglich verkannt wurde oder ob sich in seiner Erscheinungsform verändert hat, da er nun Individualrechte, jedenfalls das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, schützt und fördert. Hat sich als Phantom entpuppt, was als Gefahr interpretiert wurde, und könnte es sich im Laufe der Zeit gar zu einem guten Geist entwickeln? 1. EuGH als Hüter der Individualrechte Tatsächlich existierte auf europäischer Ebene von Anfang an ein guter Geist für die Bewahrung und den Ausbau von Individualrechten, allerdings versteckt in der EU-Logik, gegründet auf die EU-Freiheiten, die in jedem 21
BGH NStZ 2006, 236, 237. B. Mehle (Fn. 18), S. 343. 23 Klemke StV 2003, 413, 415; Schlothauer/Weider StV 2004, 504, 515. 24 LR/Gleß (Fn. 13), § 136 Rn. 95 ff. sowie zur qualifizierten Belehrungspflicht: Neuhaus StV 2010, 45, 50 ff. 25 BGHSt 38, 214; 38, 372 = JR 1993, 332 mit Anm. Rieß = JZ 1993 425, mit Anm. Roxin; BGHSt 42, 15 = BGH StV 1996 187, 189, mit Anm. Egon Müller ebenda S. 353 = NStZ 1996, 291, mit Anm. Beulke ebenda S. 257; Rieß JR 1993, 334. 26 Vgl. BVerfGE 46, 210; BGHSt 38, 214; 38, 372; 39, 352; 47, 173; Eisenberg Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. 2012, Rn. 373 ff. 22
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Rechtsgebiet, also auch im Strafrecht zugunsten einzelner Betroffener wirken. So hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in dreierlei Hinsicht als Hüter der in den Verträgen verbrieften Individualrechte hervorgetan:27 Seit Beginn der europäischen Integration hat der EuGH nach der Prämisse entschieden, dass wer rechtmäßig eine europäische Grundfreiheit in Anspruch nimmt, straflos bleiben muss, auch wenn er nationales Strafrecht verletzt.28 Denn das mitgliedstaatliche Recht ist dem EG-Recht insoweit untergeordnet.29 In gleicher Weise hat der EuGH in seiner frühen Funktion als Schiedsgericht die ersten Gehversuche der gemeinsamen Zusammenarbeit zur Strafverfolgung mit einer Blaupause einer Idee eines gemeinsamen europäischen Strafrechtsraumes durch die Rechtsprechung30 zur europaweiten Geltung des Strafklageverbrauches nach Art. 54 f. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)31 unternommen: Es hob die Urteile der mitgliedstaatlichen Gerichte auf, die das Verbot der Doppelbestrafung auf eine gerichtliche Verurteilung beschränkten und entschied, dass jede rechtskräftige Entscheidung einer zuständigen Instanz in einem EU-Staat einen schengenweiten Strafklageverbrauch auslöst, sofern sie auf einer Tatsachen- und Rechtsprüfung beruht.32 Deshalb verbrauchen nicht nur Urteile in einem anderen Schengen-Staat die Strafklage,33 sondern auch verfahrensbeendende Absprachen.34 Die Luxemburger Richter bejahen ein grenzüberschreitendes Verfolgungsverbot ferner, wenn die Tat in einem anderen Schengen-Staat aus anderen Gründen unverfolgbar ist, etwa aufgrund von Verjährung.35 Der EuGH ist den Bedürfnissen der Strafverteidigung auch
27 Grundsätzlich zum Vorrang von EG-Recht: EuGH, Urt. v. 15.7.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. C-6/64. 28 Satzger (Fn. 2), § 9 Rn. 81; Hecker Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 9 Rn. 24 f., 33 ff., 36 ff. 29 EuGH, Urt. v. 7.2.1979, Ministère public ./. Auer, Rs. C-136/78, Slg. 1979, 437, 448 ff., Rn. 19 ff. 30 EuGH, Urt. v. 18.7.2007, Kretzinger, Rs. C-288/05; vgl. im Einzelnen: Lagodny NStZ 1997, 265; Schomburg NJW 1999, 540; Bohnert/Lagodny NStZ 2000, 636; Radtke/Busch NStZ 2003, 281; Stein NJW 2003, 1162 ; Vogel/Norouzi JuS 2003,1059; Wohlers FS Eisenberg, 2009, S. 807, 816 ff. 31 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 19.6.1990, BGBl. II 1993, S. 1013; BGBl.1904, II 1994, S. 631; vgl. dazu Hecker (Fn. 28), § 13 Rn. 12 ff. 32 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.2.2003, Strafverfahren gegen Hüseyin Gözütok und Klaus Brügge, Rs. C-187/01, C-385/01; Radtke/Busch NStZ 2003, 281, 284; Stein NJW 2003, 1162. 33 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.9.2006, van Straaten ./. Niederlande und Italien, Rs. C-150/05, StV 2007, 57, Rn. 54 ff. 34 EuGH, Urt. v. 10.3.2005, Strafverfahren gegen Filomeno Mario Miraglia, Rs. C-469/03, NJW 2005, 1337. 35 EuGH, Urt. v. 28.9.2006, Strafverfahren gegen Giuseppe Francesco Gasparini u.a., Rs. C-467/04, StV 2007, 113; Urt. v. 11.12.2008, Klaus Bourquain, Rs. C-297/07, NStZ 2009, 454.
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prozessual entgegen gekommen und hat für die Vorabentscheidungsverfahren in Strafsachen ein Eilverfahren geschaffen und so das Problem der langen Verfahrensdauer entschärft.36 Darüber hinaus hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen Eingriffe in Rechte der Bürger, insbesondere Akte mit repressiver Wirkung für den Einzelnen, in eine justizförmige Struktur überführt. Mit Hilfe der aus übergeordneten Rechtsgrundsätzen abgeleiteten Prinzipien garantieren die Luxemburger Richter ein rechtstaatliches Verfahren, Rechtsschutz und ein Minimum an Verteidigungsrechten.37 Die Rechtsprechung prägt die Kartellstrafverfahren und Disziplinarverfahren auf EU-Ebene ebenso wie die vor-Ort-Kontrollen durch das Europäische Amt zur Betrugsbekämpfung.38 Des Weiteren haben sie zu einer Restrukturierung der „targeted sanctions“ geführt.39 2. EU-Kommission als Initiatorin für neues Rechtsdenken Die EU-Kommission bemüht sich ebenfalls, den neu zu gestaltenden Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht nur als Strafverfolgungsraum auszubauen, sondern Individualrechte zu schützen.40 Dafür nutzt sie die Folgenabschätzung im Grundrechtsbereich, also die Aufforderung an die gesetzgebenden Organe bei jeder neuen EU-Maßnahme die Konsequenzen für die Grundrechte- auch die Justizgrundrechte des Einzelnen zu bedenken, das Vorstufe eines „mainstreamings“ zugunsten der Verfahrensrechte sein könnte.41 Die EU-Organe sind zu solchen Überlegungen bereits seit 2001 angehalten.42 2005 forderte eine Mitteilung der Kommission die Berücksichtigung der EU-Grundrechtecharta in Rechtsetzungsvorschlägen im Sinne eines bestimmten methodisches Vorgehens,43 2010 schließlich betonte die Justizkommissarin, dass es einer Grundrechtsfolgeabschätzung
36
Dazu: ABl. C 64 vom 8.3.2008, 1. Das wird etwa deutlich an dem pointierten Schlussantrag des Generalanwaltes RuizJarabo Colomer v. 12.10.2009 im Verfahren Nutral SpA ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. C-476/93 P, Slg. 1995, I-04125, 4131, Rn. 17; vgl. a. zum Recht auf Verteidigung EuGH, Urt. v. 16.9.2009, Limburgse Vinyl Maatschappij u.a.,in den verbundenen Rechtssachen T-305 bis 307/94, pp, Slg. 1999, II-931, Rn. 246. Zu den Verfahrensrechten allgemein: Jokisch Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, S. 71 ff. 38 Gless/Zeitler European Law Journal 2001, 219. 39 Vgl. EuGH, Urt. v. 3.9.2008, Kadi ./. Rat und Kommission, Rs. C-402/05 und C-415/05; zuvor Urt. v. 21.9.2005, Kadi ./. Rat und Kommission, T-315/01; Urt. v. 21.9. 2005, Yusuf und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Rs. T-366/01. 40 Klip European Criminal Law, Cambridge 2012; Gleß ZStW 116 (2004), 353. 41 Gless StV 2013, 317. 42 SEK (2001) 380, 3. 43 KOM (2005) 172 endg. 37
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nicht nur in einem ersten Gesetzgebungsentwurf, sondern während des ganzen Rechtsetzungsverfahrens bedürfe.44 Gleichwohl fehlt der generellen Verpflichtung ein adäquater Fokus auf die spezifischen Bedürfnisse des Strafverfahrens ebenso wie ein striktes follow-up.45 3. Etablierung von Beschuldigtenrechten durch die Richtlinie 2012/13 Eine strikte Rechtsregelung könnte man nun in der Richtlinie 2012/13 sehen, die einen wichtigen Aspekt einer effektiven Verteidigung in der gesamten EU sichern soll.46 Die Forderung nach einer Stärkung der Verteidigung gehört auch zu den Kernanliegen des von Bernd Schünemann initiierten europapolitischen Projektes.47 Doch um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Der Jubilar würde die europäische Vorgabe in der Richtlinie 2012/13 und deren Umsetzung in Deutschland kaum uneingeschränkt begrüßen, sondern wohl eher in die von verschiedenen Seiten geäußerte Kritik einstimmen.48 Diese richtet sich, jenseits der Einwände gegen das in der Richtlinie 2010/64/EU ebenfalls verankerte Recht auf einen Dolmetscher,49 vor allem auf die verpasste Chance (a) durch die Richtlinie eine europäische Vision von europaweiten Beschuldigtenrechten aufzubauen und (b) die Geltung von Menschen- und Grundrechten einheitlich zu verankern. a) Europäische Kompensation für die Strafverteidigung angesichts europaweiter Strafverfolgung Bernd Schünemann forderte von Anfang an nicht nur eine Minimallösung, etwa eine erweiterte Belehrungspflicht, sondern eine umfassende Antwort auf das Kompensationsproblem, also Garantien für eine wirksame Verteidigung des Beschuldigten in einem europäisierten oder gar von einem Europäischen Staatsanwalt geführten Ermittlungsverfahren. 50 Nun ist der Europäische Staatsanwalt zwar noch nicht eingeführt, gleichwohl darf man mit Blick auf den von der EU-Kommission bereits vorgelegten Vorschlag 51 und angesichts des kontinuierlichen Ausbaus der europäischen 44
Mitteilung der Kommission: Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union, KOM (2010) 573 endg. 45 Vgl. Schünemann GA 2002, 193; Gless StV 2013, 317. 46 Nestler (Fn. 10), S. 167. 47 Nestler (Fn. 10), S. 166 ff. 48 Vgl. dazu: Esser FS Wolter, 2013, S. 1329, 1330 ff. 49 Ausf. dazu Yalcin ZRP 2013, 104; Wawzyniak Plenarprotokoll 17/240, Stenographischer Bericht der 240. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 16. Mai 2013, 30428. 50 Schünemann StV 2006, 361, 367 f. 51 Vgl. zum Vorschlag der EU-Kommission sowie zu den Vorschlägen der Expertenkommission: Ligeti Toward a prosecutor for the European Union, Oxford 2013; Grünewald HRRS 2013, 508, 509.
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Strafverfolgung dem EU-Gesetzgeber durchaus vorwerfen, dass die EU-Richtlinie in der Substanz auf bloße Deckungsgleichheit mit den Mindestanforderungen der EMRK52 und damit auf die Festlegung europäischer Minimalrechte auf staatlicher Ebene zielt.53 Das erscheint rechtspolitisch gefährlich und von einer Kurzsichtigkeit geprägt, vor der Bernd Schünemann gewarnt hat. Zum ersten wird dem Anliegen einer adäquaten strukturellen Stärkung der Verteidigung als Ausgleich zum flächendeckenden Ausbau einer europäischen Strafverfolgung nicht Rechnung getragen.54 Das ist vor allem deshalb misslich, weil die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten auf dem Gebiet der Strafverfolgung gerade in jüngerer Zeit mit dem Hinweis vorangetrieben wird, dass gleichzeitig die Rechte der Verteidigung durch neue Richtlinien verstärkt würden.55 Es ist jedoch keine zentrale Institution zur Sicherung einer adäquaten europaweiten Strafverfolgung in Sicht, wie sie etwa als Eurodefensor oder als European Criminal Law Ombudsman,56 von dem Kreis um Bernd Schünemann gefordert wurden.57 Ohne diese strukturellen Maßnahmen vergrößert sich jedoch die Ungleichheit der Kräfte zwischen vernetzten Strafverfolgungsbehörden und nur im Einzelfall tätigen Strafverteidigern. Die Kritik an diesem Versäumnis trifft aber nicht nur den europäischen Gesetzgeber, sondern auch die Umsetzung der Richtlinie in Deutschland. Die EU-Vorgaben sehen explizit die Möglichkeit eines weitergehenden Schutzes vor.58 Gleichwohl beschränkt sich auch der deutsche Gesetzgeber auf eine gesetzliche Verankerung des Mindeststandards und wird damit dem eigenen Anspruch nicht gerecht, Vorbild in Europa für die Wahrung von Grund- und Menschenrechten im Strafprozess zu sein.59 b) Grundrechts- und Menschenrechtsbindung europäischer Strafrechtspflege Darüber hinaus wirft die EU-Rechtlinie und ihre Umsetzung ein neues Schlaglicht auf das grundsätzliche Problem des Grundrechts- und Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene: das undurchsichtige Nebeneinander 52
Löwe/Rosenberg/Esser, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 566. Vgl. RL 2012/13/EU, Präambel (7) ff., auch wenn der Rechtsakt nach der Intention einen „proaktiven Ansatz“ verfolgen und den von LR/Esser (Fn. 52), Art. 6 EMRK Rn. 566 dargestellten EMRK-rechtlichen status quo festschreiben wollte: vgl. a. Nestler (Fn. 10), 167. 54 Zu dieser Problematik etwa: Schünemann StV 2006, 361, 362, 367; Gless StV 2013, 317; Nestler (Fn. 10), 168. 55 Vgl. RL 2012/13/EU, Präambel (10). 56 Dazu ausf. Mitchell in:Schünemann (Hrsg.), Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege – A Programme for European Criminal Justice, 2006, S. 191, 193 ff. 57 Mitchell (Fn. 56), sowie Nestler (Fn. 10)., S. 193 ff. und 172 ff.; Schünemann StV 2006, 361, 367 f. 58 RL 2012/13/EU, Präambel (40). 59 Vgl. etwa Wawzyniak (Fn. 49), 30428. 53
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unterschiedlich formulierter Rechte, die in der Substanz alle auf das Gleiche zielen (sollten). Die Richtlinie 2012/13 selbst beschreibt ihre grundrechtliche Verankerung im Wesentlichen in den Erwägungsgründen 5–8.60 Die Ausführungen verweisen auf die unterschiedlichen Rechte aus Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Charta) und Art. 6 EMRK ohne große Differenzierung, was mehr verwirrt als klärt. Denn während Art. 48 Abs. 2 EUCharta dem Wortlaut nach nur „die Achtung der Verteidigungsrechte“ gewährleistet, wie sie in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bereits bestehen, gewährt Art. 6 EMRK bekanntlich gerade ein von nationalen Gesetzen unabhängiges Recht auf effektive Verteidigung, das durch verschiedene Teilrechte des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) etabliert wurde. Den Konflikt zwischen beiden Verweisen löst die Richtlinie nicht auf, sondern erklärt in Erwägungsgrund 14 lediglich: „Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta und legt dabei die Artikel 5 und 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde.“ Im Rechtstext selbst fixiert Art. 10 Richtlinie 2012/13 ein „Regressionsverbot“: „Keine Bestimmung dieser Richtlinie ist so auszulegen, dass dadurch die Rechte oder Verfahrensgarantien nach Maßgabe der Charta, der EMRK, anderer einschlägiger Bestimmungen des Völkerrechts, oder der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die ein höheres Schutzniveau vorsehen, beschränkt oder beeinträchtigt werden.“ Was das im Klartext bedeuten soll, bleibt unklar. Denn es sind zu viele Unbekannte im Spiel – im Verhältnis zwischen den Belehrungspflichten, die sich einerseits (bereits) aus der EMRK und andererseits aus den – durch EU-Vorgaben veranlassten – neuen nationalen Verfahrensvorschriften ergeben. Das Spannungsfeld zwischen nationalen Vorgaben, EMRK- Pflichten und (über die Grundrechtecharta bei Umsetzung von EU-Vorgaben ins nationale Recht transponierter) EU-Bindung hat exemplarisch das „Fransson“-Urteil des EuGH aufgezeigt:61 Nach Aussage des EuGH bestimmt das Unionsrecht zwar weder das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, noch die Konsequenzen, die ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat. Der EuGH verlangt jedoch, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten die durch die Charta verbürgten Rechte auch innerstaatlich durchsetzen. Ein nationales Gericht, das Unionsrecht anwendet, sei gehalten, „für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegen-
60 61
RL 2012/13/EU. EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Åklagare ./. Hans Åkerberg Fransson, Rs. C-617/10.
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stehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt“.62 Die von Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta vorausgesetzte „Durchführung des Rechts der Union“63 ist bei jeder richterlichen oder exekutiven Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften gegeben, die eine EU-Richtlinie oder einen EU-Rahmenbeschluss umsetzt.64 Dies gilt also auch für § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO n.F.
IV. Der EU-Gesetzgeber in der Konsequenz – doch (k)ein guter Geist? Gleichwohl bleibt festzuhalten: § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO ist eine Verbesserung der Rechtsstellung des einzelnen, initiiert durch die „Brüssler Strafrechtspflege“. Hat letztere dadurch nun eine Richtungskorrektur vollzogen, aufgrund derer sie für sich in Anspruch nehmen darf, sich vom Gespenst – jedenfalls punktuell – in einen guten Geist verwandelt zu haben? 1. In der Praxis deutscher Strafjustiz Auf den ersten Blick scheint die Antwort positiv. Das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren bewirkt mit der Ergänzung des § 136 StPO zunächst das, was es auch verspricht: eine Besserstellung beschuldigter Personen durch einen Anspruch auf ausführlichere Belehrung über ihre Rechte. Doch dieser Anspruch auf die Belehrung über Pflichtverteidigung taugt natürlich nur dann etwas, wenn dem Beschuldigten am Ende auch ein real hilfreicher Strafverteidiger zur Seite steht. Voraussetzung dafür ist unter anderem, dass etwa die Qualität der Strafverteidigung durch flankierende Maßnahmen zur Sicherung von entsprechender Qualifikation und Entlohnung von Pflichtverteidigern gewährleistet ist.65 Entsprechende Regelungen fehlen aber in der Richtlinie. Dass die frisch verankerte Belehrungspflicht
62 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Åklagare ./. Hans Åkerberg Fransson, Rs. C-617/10, Rn. 44, 45 mit weiteren Verweisen; kritisch zur EuGH-Rechtsprechung etwa Rabe NJW 2013, 1407. 63 Mit Verweis auf die Rechtsprechung EuGH, Urt. v. 18.6.1991, ERT, Rs. C-260/89. 64 Wegner HRRS 2013, 126, 127. Zur Diskussion vor der „Fransson“-Entscheidung EuGH, Urt. v. 12.12.1996, Strafverfahren gegen X, Rs. C-74/95, Rn. 25; Borowsky/Ehlers in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2009, § 14 V 2 Rn. 51; strittig ist, ob die Grundrechtecharta auch dann anwendbar ist, wenn eine nationale Norm zwar der Umsetzung einer Richtlinie dient, sich dabei aber noch im nationalen Umsetzungsspielraum bewegt, dazu: Kingreen in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 GRCh Rn. 10 ff. m.w.N. 65 Vgl. Nestler (Fn. 10), S. 167.
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neue praktische Schwierigkeiten in den einzelnen Rechtsordnungen schafft, ist wohl kaum zu vermeiden. So dürfte etwa in Deutschland die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung nach § 140 Absatz 2 StPO 66 vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten in verschiedenen Fallkonstellationen nicht genau feststehen,67 insbesondere noch im Ermittlungsverfahren (§ 141 Absatz 3 StPO). Fraglich ist, wie sich insofern die vom deutschen Gesetzgeber gewählte, doch recht pauschale Formulierung in § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO mit der Verpflichtung zur effizienten Umsetzung der EU-Richtlinie vereinbaren lässt. Darüber hinaus bleiben ungelöste Fragen, etwa die nach den Konsequenzen eines möglichen Verstoßes gegen die Belehrung im jeweiligen Strafverfahren nicht europaweit einheitlich geregelt sind. Das beginnt mit der Frage, was Pflichtverteidigung in concreto bedeutet und geht bis zu der Frage, ob ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht überhaupt Folgen in dem jeweiligen Strafverfahren nach sich zieht. Aus deutscher Sicht sollte, wie bereits erläutert, ein Beweisverwertungsverbot eingreifen, während sich in anderen Staaten die Frage gar nicht oder nicht in gleicher Weise stellt.68 2. Im europäischen Kräftefeld Welche praktischen Konsequenzen sich aus diesem europäischen Kräftefeld für die Belehrung über eine unentgeltliche Verteidigung in concreto ergeben, bleibt offen. Die Grundrechtecharta selbst enthält eben keinen ausdrücklichen Hinweis auf Belehrungsrechte. Gleichwohl wird angenommen, dass sie die Vorgaben der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zur „Achtung der Verteidigungsrechte“ (Art. 48 Abs. 2 EU-Charta) als Verpflichtung zur Gewährleistung einer effektiven Verteidigung übernimmt und für die Mitgliedstaaten im EU-Kontext unmittelbar verbindlich macht.69 Damit bleibt das Recht auf Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK die bestimmende europäische Kraft für eine europäische Strafverteidigung. Der EGMR hat die Fahrrinne durchaus früh vorgespurt und in seiner Rechtsprechung hergeleitet, dass das Recht auf effektive Verteidigung in bestimmten Fällen, z.B. bei besonderer Schutzwürdigkeit des Beschuldigten, impli-
66 Vgl. zu der mit der kasuistischen Ausdifferenzierung verbundenen Unübersichtlichkeit, LR/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. 2007, § 140 Rn. 50. 67 Vgl. a. Neuhaus StV 2010, 45. 68 Höpfel/Huber Beweisverbote in Ländern der EU und vergleichbaren Rechtsordnungen, 1999. 69 In diesem Sinne Callewaert EuGRZ 2003, 198, 200; Winkler EuGRZ 2001, 18, 23 ff.; Borowsky in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 52 Rn. 34, unter Hinweis auf Art. 52 Abs. 3 EU-Charta; siehe auch Wegner HRRS 2013, 126, 130.
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ziert, dass der Beschuldigte über sein Recht auf einen unentgeltlichen Verteidiger belehrt wird.70 Da die staatlichen Organe dafür sorgen müssten, dass der Beschuldigte das Recht auf Verteidigung effektiv wahrnehmen kann, verlangt die EMRK eine adäquate Information über die Verteidigungsrechte, was die Belehrung über das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand – soweit ein solcher zur Verfügung steht – einschließt.71 Ob Deutschland mit dem Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten seiner vielschichtigen europäischen Pflicht, zusammengesetzt aus den Verpflichtungen der EMRK und deren Transposition über die EU-Grundrechtecharta in das nationale Recht, adäquat nachgekommen ist, bleibt abzuwarten. Möglicherweise weist am Ende doch die vom EGMR zur Souveränitätswahrung der Vertragsstaaten bereits seit langem zugrunde gelegte sog. margin of appreciation-doctrine einen Ausweg:72 Danach genießen die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum bei der Umsetzung von EMRK-Rechten.73 Der EGMR untersucht, ob es unter den Vertragsstaaten einen gemeinsamen Standard gibt, und wendet dann die Regel an: Je geringer ausgebildet der gemeinsame Standard ist, desto größeren Ermessensspielraum haben die Vertragsstaaten.74 Das hat allerdings nicht die – auf EU-Ebene gewünschte Harmonisierung zur Folge,75 und führt so wieder zurück zur offenen Frage der konkreten Menschen- und Grundrechtsgeltung.
70 Vgl. EGMR, Urt. v. 11.12.2008, Panovits ./. Zypern, Appl. no. 4268/04, Rn. 68; Urt. v. 9.6.1998, Twalib ./. Griechenland, Appl. no. 24294/94, Rn. 55; vgl. auch Wohlers FS Rudolphi, 2004, S. 713, 727 ff.; LR/Esser (Fn. 52), Art. 6 EMRK Rn. 755 unter Verweis auf Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR. 71 Vgl. EGMR, Urt. v. 11.12.2008, Panovits ./. Zypern, Appl. no. 4268/04, Rn. 68: “The Court considers that given the vulnerability of an accused minor and the imbalance of power to which he is subjected by the very nature of criminal proceedings, a waiver by him or on his behalf of an important right under Article 6 can only be accepted where it is expressed in an unequivocal manner after the authorities have taken all reasonable steps to ensure that he or she is fully aware of his rights of defence and can appreciate, as far as possible, the consequence of his conduct”; ebenso EGMR, Urt. v. 8.4.2010, Sinichkin ./. Russland, Appl. no. 20508/03, Rn. 35 und 48. Aus deutscher Sicht: LR/Lüderssen/Jahn (Fn. 18), § 137 Rn. 66b. 72 Peters/Altwicker Europäische Menschenrechtskonvention: Mit rechtsvergleichenden Bezügen zum deutschen Grundgesetz, 2012; Gless/Martin Bergen Journal of Criminal Law & Criminal Justice 1 (2013), 36. 73 LR/Esser (Fn. 52), Art. 6 EMRK Rn. 179. 74 EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Sunday Times ./. das Vereinte Königreich, Appl. no. 6538/74, Rn. 59. 75 Vgl. dazu etwa EGMR, Urt. v. 22.10. 2009, Raykov ./. Bulgarien, Appl. no. 35185/03, Rn. 65; Urt. v. 27.4.2006, Sannino ./. Italien, Appl. no. 30961/03, Rn. 48; Urt. v. 13.1.2009, Rybacki ./. Polen, Appl. no. 52479/99, Rn. 54; Urt. v. 12.2.2009, Samokhvalov ./. Russland, Appl. no. 3891/03, Rn. 56; Urt. v. 31.3.2009, Plonka ./. Polen, Appl. no. 20310/02, Rn. 33; Urt. v. 8.12.2009, Caka ./. Albanien, Appl. no. 44023/02, Rn. 85; Urt. v. 2.11.2010, Sakhnovski ./. Russland, Appl. no. 21272/03, Rn. 95.
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Sabine Gleß
IV. Fazit Und so spukt die „Brüssler Strafrechtspflege“ weiter durch Europa. Allerdings tritt sie uns heute in anderer Gestalt gegenüber als es das Gespenst getan hat, dem wir mit Bernd Schünemann vor über einer Dekade begegnet sind. Die Erscheinung ist vielschichtiger geworden. Während zu Beginn der europäischen Zusammenarbeit klar die Anliegen der Strafverfolgung alleine das Bild bestimmt haben, treten nun langsam Individualinteressen – Beschuldigten- und Opferrechte – mit in den Vordergrund. Noch lange aber ist das Gebilde kein ausgewogenes Ganzes. Deshalb wird weiter um Legitimation und Grenzen gemeinsamer Strafverfolgung in Europa gerungen werden. Auch § 136 Abs. 1 S. 2 StPO könnte zu einem Schauplatz des Ringens Brüsseler und Berliner (Kriminal-)Politik um die Definitionsmacht über Justizund Grundrechte im Strafverfahren werden. Denn nicht nur die nationalen Gerichte werden die neu etablierte Pflicht zur Belehrung über den unentgeltlichen Rechtsbeistand konkretisieren müssen, auch die Jurisdiktion des EuGH ist im Grundsatz geöffnet, weil die Gesetzesänderung auf der Umsetzung einer EU-Richtlinie beruht und damit eine starke Verknüpfung der nationalen Normen mit dem Recht der Union76 besteht. Bernd Schünemann wird sich in dieser Diskussion sicherlich weiter mit Gewinn für alle zu Wort melden. Für die Präsentation seiner Arbeiten am Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege hat er Griechenland als Wiege der Demokratie gewählt.77 Griechenland hat Europa daneben noch vieles zu bieten, unter anderem den gemeinsamen – und insbesondere bei Bernd Schünemann beliebten – Sagenschatz, der auch berichtet, dass die Herausforderung Europa selbst die Götter des Olymps an und über ihre Grenzen gebracht hat.78 Wer mit Europa geht, muss sich öffnen. Die Zeit ist vorbei, in der man in Deutschland glaubte, der europäische Geist könne eigentlich nichts zur Verbesserung der deutschen Strafrechtspflege beitragen.79 Europa kann vom guten Geist Deutschlands und Deutschland kann auch vom guten Geist Europas profitieren.
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EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Åklagare ./. Hans Åkerberg Fransson, Rs. C-617/10, Rn. 16. Schünemann (Fn. 9), S. VIII. 78 Gless StV 2010, 400. 79 Vgl. etwa noch Roxin Strafverfahrensrecht, 24. Aufl. 1995, § 3 Rn. 7, der die praktische Bedeutung der Garantien der EMRK für das deutsche Strafprozessrecht als relativ gering einschätzte, siehe jetzt aber Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 3 Rn. 14 ff. 77
Regionale Kooperation im Südkaukasus: Möglichkeiten versus Realität Giorgi Khubua I. Regionale Kooperation im Fokus der Wissenschaft Das weltpolitische Interesse an der Kaukasus-Region ist bereits groß und wächst bedingt durch die geopolitische und geostrategische Lage der Region, durch noch ungelöste politische Konflikte, das bisher kaum erschlossene wirtschaftliche Potenzial mit bereits bedeutenden Projekten im Bereich der Energiewirtschaft, und nicht zuletzt durch die einzigartige kulturelle Vielfalt stetig. Trotz der existierenden Konflikte und einer nicht einheitlichen Haltung zur regionalen Kooperation zeichnen sich im Kaukasus eine zunehmende Tendenz und Offenheit gegenüber den verschiedenen Formen der Zusammenarbeit ab. Der intensivere Diskurs zu Themen der Zusammenarbeit war noch vor einigen Jahren undenkbar. Die Kaukasusländer sind an verschiedenen Zusammenschlüssen beteiligt. Die Integration in Europa, die Integration in die regionalen Verbände wie GUAM, die Schwarzmeerkooperation; auch die Integration im kaspischen Meeresraum hat konkrete Gestalt angenommen und ist zum Teil auch institutionalisiert.1 Greifbare Fortschritte in der regionalen Kooperation sind jedoch erst auf Initiative von außen zu verzeichnen. Die Kaukasier neigen nicht zur Selbstisolierung. Einerseits sind sie offen für unterschiedliche Formen der Kooperation. Andererseits sind die Formen der regionalen Kooperation zwischen Armenien, Aserbaidschan und Georgien im Vergleich vernachlässigt.2 Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Kaukasier auf der Suche nach Kooperationspartnern in die Ferne schauen und dabei den Blick auf ihre Nachbarn verloren haben. Die Gefahr bzw. die 1 Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (Black Sea Economic Cooperation, BSEC), die nach der Ratifizierung durch die Parlamente aller Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Georgien, Rumänien, Russland, die Türkei und die Ukraine, Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Griechenland und Moldau) 1999 den Status einer regionalen Wirtschaftsorganisation bekam. 2 Dilanyan/Abasov/Javakhishvili (Ed.), South Caucasus: Perspectives of Integration, Jerewan 2006, S. 20–27.
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Alternative wäre, dass alle drei Länder zerfallen und einen Teil einer anderen großen Vereinigung bilden: Georgien-Schwarzmeerregion, AserbaidschanKaspisches Meer, Armenien-Mittelmeer.3 Die Idee eines „Kaukasischen Hauses“ war schon Anfang des 20. Jahrhunderts unter den ersten unabhängigen Republiken im Südkaukasus sehr populär. Auch im politischen Exil, nach der Sowjetisierung, war diese Idee weiter lebendig. Die Idee der kaukasischen Konföderation wurde 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz begrüßt und unterstützt. Am 14. Juli 1934 in Brüssel wurde von Exilanten aus Aserbaidschan, Armenien und Georgien ein „Kaukasischer Konföderationspakt“ unterzeichnet. Gleichzeitig wurde der Rat der Kaukasischen Konföderation gegründet. Dagegen war die zwischen 1922–1936 existierende Transkaukasische Föderative Republik eine typische sowjetische Einrichtung, die kein Modell der regionalen Integration darstellte, sondern der Stärkung der Kontrolle der Zentralmacht diente. Nicht die regionale Kooperation stand im Vordergrund, sondern die kommunistische „Nationalitätenpolitik“. Anfang der 90er Jahre, nach dem Zerfall der Sowjetunion, gewann die Idee des „Kaukasischen Hauses“ wieder an Aktualität. Die Deklaration des „Friedenskaukasus“ (8. März 1996, Tiflis) und die Deklaration „For Inter-Ethnic Accord, Peace, and Economic and Cultural Cooperation in the Caucasus“ (3. Juni 1996, Moskau) setzten klare Zeichen für die regionale Zusammenarbeit im Kaukasus. Dabei wurde die Idee eines kaukasischen „Commonwealth“ inklusive eines „Kaukasischen Parlaments“ entwickelt. Im Juni 2005 wurde in Tiflis ein Dokument hinsichtlich der Etablierung der „Parlamentarischen Versammlung des Südkaukasus“ unterzeichnet. Das ehemalige Mitglied des deutschen Bundestags, Gertrud Schilling, brachte die Idee hervor, den Kaukasus nach dem Modell der Europäischen Union zu organisieren. Es wurden auch Modelle wie die „Kaukasische Schweiz“, die „Kaukasische OECD“ oder ein reduziertes Modell einer „Kaukasischen UN“ entwickelt. Die regionale Kooperation im Südkaukasus wurde auf politischer Ebene thematisiert, aber nicht weiter vertieft sowie institutionalisiert. Die regionale Kooperation im Kaukasus stand bisher selten im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Beurteilung der Vergangenheit hat in der Übergangsperiode im Kaukasus mehr Zeit in Anspruch genommen als die Befassung mit der heutigen Realität zwischen den kaukasischen Völkern, den grenzüberschreitenden Formen der Kooperation und Konfliktlösung. Die Erkenntnislücke zum Thema regionale Kooperation im Kaukasus ist nicht zu übersehen. Es fehlt immer noch an wissenschaftlich fundierten,
3 Iskandaryan in: Caucasus Neighborhood: Turkey and the South Caucasus, Jerewan 2008, S. 7–14.
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interdisziplinär geführten Problemanalysen mit dem Ziel, die wesentlichen Determinanten für eine regionale Kooperation im Südkaukasus zu identifizieren. Die Wissenschaft im Kaukasus hat sich vorrangig auf die Erforschung der nationalen Systeme konzentriert und nicht auf den Kaukasus als Region. Im Blickwinkel standen vor allem die Konflikte, die regionale Sicherheit, der Umweltschutz und die Bewahrung der natürlichen Ressourcen sowie die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität. Dabei sind diese Untersuchungen überwiegend auf die jeweilige lokale Problematik der einzelnen Länder im Kaukasus fokussiert. Vergleichende Arbeiten zu regionalen Themen sind verhältnismäßig selten und beziehen sich hauptsächlich auf die wirtschaftlich-energiepolitischen Aspekte4 und die regionale Sicherheit.5 Die Südkaukasus-Politik der EU wurde überwiegend aus geopolitisch-wirtschaftlicher Perspektive oder in Bezug auf einzelne Länder erforscht.6 Die regionalen Aspekte des Kaukasus haben erst in jüngster Zeit wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden.7 Die Perspektiven der regionalen Kooperation im Kaukasus sind in Bezug auf verschiedene Indikatoren unterschiedlich beantwortet und kontrovers diskutiert worden.8 Bisher unberücksichtigt blieben in vielen Bereichen die theoretischen Grundlagen sowie Analysen der Praxistauglichkeit von Instrumenten der Zusammenarbeit hinsichtlich ihrer konkreten Form, Aufgaben, Erfolgsfaktoren und Hemmnisse. Stand und Perspektiven der regionalen Zusammenarbeit im Kaukasus sind bisher nicht auf der Basis sozialwissenschaftlicher Theorien zur regionalen Integration untersucht worden. Es fehlen zudem Kenntnisse zu den gesellschaftlichen Entwicklungsdeterminanten der regionalen Kooperation. Weiterer Forschungsbedarf besteht insbesondere bei der Überprüfung der Übertragbarkeit der theoretischen Erkenntnisse der Integrationstheorien und er-
4 Papava Caucasus International 1 (2011), S. 87–98; Khachatrian in: The Caucasus, Yearbook 2010, S. 83–92; Kocharyan in: The Conflicttransformation and the peacebuilding in the South Caucasus, 2003, S. 149–165; Nagdaliyan in: The Caucasus, Yearbook 2011, S. 126–138; Djrbaschyan/Arutunian in: The Caucasus, Yearbook 2007, S. 128–150; Egnazariyan in: The Caucasus, Yearbook 2008, S. 82–116. 5 Dschafarow Die Politik der Groß- und Regionalmächte im Kaukaus und Zentralasien, 2009; Black Sea-Caspian Region: Looking for new Formats of Security and Cooperation, Russische Akademie der Wissenschaften, Moskau 2011; Ahmadova Die Rolle Aserbaidschans in der Kaukasus- und Zentralasienpolitik der Europäischen Union, 2006. 6 Simao Caucasus International 1 (2011), 155–166; Kirilov Caucasus International 1 (2011), 117–124. 7 Rajabov in: Grigoryan/Kolbaya (Ed.), History and Identity: The South Caucasus and other Regions in Transition, ACGRC, 2010; Mirumyan (Ed.), The Conflict-Transformation and the Peacebuilding in the South Caucasus, Jerewan 2004; Iskandaryan (Ed.), Caucasus Neighborhood: Turkey and the South Caucasus, Jerewan 2008. 8 Hierbei finden insbesondere Beachtung: Dilanyan/Abasov/Javakhishvili (Ed.), South Caucasus: Perspectives of Integration, Agaz, Jerewan 2005.
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folgreichen Modelle der regionalen Kooperation auf die gesamte Region Kaukasus. Das Thema regionale Kooperation im Kaukasus wird überwiegend von den NGOs thematisiert. Die meisten Arbeiten zum Thema regionale Kooperation wurden auch mit der Unterstützung der NGOs veröffentlicht oder in ihren Zeitschriften thematisiert.9 Allein die Ressourcen der NGOs reichen jedoch nicht aus, um die breite Problematik der regionalen Kooperation umfassend zu diskutieren. Es ist auch bemerkenswert, dass die von den NGOs organisierten Veranstaltungen, Konferenzen und Veröffentlichungen zum Thema regionale Kooperation von den Wissenschaftlern unterstützt werden. Dabei sind einige NGOs etabliert, die als intellektuelle Zentren zum Thema regionale Kooperation im Kaukasus schon ein eigenes Profil gewonnen haben.10 Die institutionelle Einbindung der akademischen, universitären Gesellschaften in die Diskussion der regionalen Kooperation ist gering. Die Universitäten im Kaukasus sind generell erstens immer noch zurückhaltend gegenüber ihrer sozialen Mission und zweitens versuchen sie, eine gewisse Distanz zu der sensiblen Thematik zu halten, die in den Gesellschaften mehrdeutige Reaktionen hervorrufen können. Die politische Konjunktur bestimmt immer noch die abwartende Haltung der Universitäten. Die Universitäten im Kaukasus zeigen wenig Mut gegenüber den Perspektiven der regionalen Kooperation und warten auf „die Signale“ von ihren nationalen Regierungen. Im Vergleich zu den NGOs sind die Kontakte zwischen den Universitäten sowie die Mobilität der Professoren und Studenten in der Region schwach ausgeprägt. Allgemein lässt sich feststellen, dass das regionale Netzwerk der NGOs weiter entwickelt ist als das Netzwerk der Universitäten in der Region. Einen besonderen Stellenwert hat die Arbeit der deutschen Stiftungen im südlichen Kaukasus. Als sichtbares Zeichen haben die VW-Stiftung („Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft“),11 die Bosch-Stiftung („Vertrauensbildung im Südkaukasus“),12 die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Heinrich-BöllStiftung und die Friedrich-Naumann-Stiftung gemeinsam mit dem Bundes-
9 „Caucasica (The Journal of Caucasian Studies)“, Tiflis; „Caucasiologic papers“, Tbilisi State University; „The Caucasus. Caucasus Institute Yearbook“, Jerewan; „Caucasus International“. Journal of Social, Political and Economic Studies; published by Eurasian Association of Scientists in Collaboration with the Center for Strategic Studies (CSS) in Baku. 10 Insb. Caucasus Research Resource Centers (CRRC) in Baku, Tiflis und Jerewan; „Institut Kaukasus“ in Jerewan; Kaukasus-Institut für Frieden und Demokratie in Tiflis. 11 http://www.volkswagenstiftung.de/foerderung/internationales/zwischen-europaund-orient-mittelasienkaukasus-im-fokus-der-wissenschaft.html [letzter Abruf: 24.3.2014]. 12 http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/35312.asp [letzter Abruf: 24.3. 2014].
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entwicklungsministerium („Mosaik des Friedens“) Initiativen zum Südkaukasus ins Leben gerufen.13 Diese Initiativen sollen die Kontakte zwischen der Wissenschaft und den Akteuren der Zivilgesellschaft in den drei kaukasischen Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien übergreifend vertiefen und damit zur Stärkung der regionalen Zusammenarbeit sowie zur friedlichen Lösung der Konflikte im Südkaukasus beitragen.
II. Die Integrationsfaktoren im Kaukasus 1. Die Voraussetzungen der regionalen Integration Die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit im Kaukasus lässt sich aus folgenden Grundannahmen herleiten: 1. Kooperation ermöglicht die Normalisierung der Beziehungen und die Stabilisierung der Region. 2. Kooperation bringt wirtschaftliche Vorteile. 3. Durch Kooperation lassen sich die Probleme leichter lösen, die die Kompetenzen der Nationalstaaten übersteigen. 4. Regionale Kooperation fördert eine schnellere Integration in europäische Strukturen. Zum integrativen Potenzial der Region sind ferner die pragmatischen wirtschaftlichen Interessen und wirtschaftliche Ressourcen, die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Sub-Regionen, die Existenz eines regionalen Bewusstseins und regionaler Identität, kulturelle und politische Gemeinsamkeiten auf regionaler Ebene, wechselseitige Abhängigkeiten, Sicherheitssysteme und objektive Vorteile der Großräume zu nennen. Für die sub-regionale Kooperation im Südkaukasus bedeutend sind die Faktoren Energieversorgung, Handel, Tourismus, Integration von Transportwegen, Kooperation zur Terrorismusbekämpfung etc. Es können ungünstige geographische Gegebenheiten, z.B. fehlender Zugang zu Weltmeeren, oder Ressourcen- und Energieknappheit durch regionale Kooperation bekämpft werden. Die regionale Kooperation im Kaukasus muss nicht auf ein fest vordefiniertes institutionelles Ziel ausgerichtet, sondern funktional orientiert sein. Nötig wäre der Ausbau funktionaler, d.h. bedarfsorientierter und umsetzbarer Kooperationsformen (z.B. durch die Errichtung von Jugendwerken, den Austausch von Schülern und Studenten, Hochschulkooperationen, Städteund Regionenpartnerschaft, zivilgesellschaftliche Netzwerke, intraregionale
13 http://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/archiv/2010/april/pm_20100415_59. html [letzter Abruf: 24.3.2014].
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Tourismusförderung etc.) mit einer institutionellen Arbeitsteilung. Solche funktionalen und überschaubaren Projekte unterstützen die Zusammenarbeit und Vertrauensbildung. Sie sind auch relativ einfach umzusetzen. Die kulturelle Heterogenität des Kaukasus ist nicht als Hindernis auf dem Weg zu regionaler Kooperation zu betrachten. Die erfolgreiche Entwicklung der Kooperationsbewegungen im Kaukasus ist nicht unbedingt mit sprachlicher, kultureller oder religiöser Einheit oder Verschiedenheit zu erklären. Zwar haben die sprachlichen und kulturellen Unterschiede sowie die nationalen Vorbehalte Einfluss auf die Zusammenarbeit in der Region, aber sie sollten zunehmend als Bereicherung denn als Hindernis gesehen werden. Kein Land ist in sich homogen, doch die Trennungslinie und Interessengegensätze zwischen den einzelnen Gruppen sind überall die gleichen, so dass trotz allem eine regionale Homogenität gegeben ist. Nach dem Konzept „Symmetrischer Heterogenität“ (Haas) weist jedes Land in sich pluralistische Strukturen auf, aber zu jeder Gruppe oder Schicht ist eine entsprechende Gruppe oder Schicht im Nachbarland zu finden. Auch die europäische Erfahrung zeigt, dass engere Bindungen zwischen Ländern verschiedener Sprache und Religion bestehen als zwischen solchen, die größere Gemeinsamkeiten aufweisen. 2. Die negativen Faktoren für eine regionale Integration a) Demokratie-Defizite Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind im Kaukasus bisher nicht vollständig umgesetzt. Typisch für die Staaten im Kaukasus ist nach wie vor ihre hybride, amorphe und teilweise nicht-demokratische Struktur. Hinzu kommen die wenig entwickelte Zivilgesellschaft und die nicht konsolidierte Gesellschaft ohne breiten Mittelstand. Die Demokratie ist weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung für regionale Kooperation. Es existieren regionale Verbände mit etablierten Kooperationsformen, wo es keine Demokratien gibt. Je liberaler eine Regierung allerdings eingestellt ist, desto größer ist die Bereitschaft zur regionalen Kooperation. Politischer Pluralismus und die Erhaltung pluralistischer Gruppenidentität sind die Erfolgsfaktoren für die regionale Kooperation. Die Nichtanerkennung der mehrstufigen Struktur von Identitäten, die Ablehnung pluralistischer Identitätskonzepte und die Geschlossenheit der Gesellschaften beeinträchtigen den regionalen Diskurs. Die Demokratie ist auch für die Außenakteure wichtig, die zur regionalen Integration beitragen wollen. Für die EU ist die Demokratie ein wichtiges Kriterium für die Kooperation mit Nichtmitgliedstaaten, mit denen sie eine „Neue Nachbarschaftspolitik“ (ENP) betreibt.
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b) Die Konflikte Die Konflikte sind ein zentrales Integrationshindernis im Kaukasus. Regionale Kooperation wird den Kaukasus nicht von Konflikten „säubern“. Durch die regionale Kooperation werden die vorhandenen Widersprüche nicht aufgehoben, sondern in eine ständige Dialogform versetzt und den Konflikten eine Form gegeben, mit der Kaukasier leben können. Die Chancen der Konfliktlösung wachsen bedeutend dadurch, dass zusätzliche Ebenen der Lösungsmöglichkeiten etabliert werden. Eine solche Ebene ist der Kaukasus als Region. Zur Milderung des Konflikts trägt auch die Tatsache bei, dass die Konfliktparteien zu einem System (Region) gehören. Dabei spielt auch der Vorteil eines „Großraumterritoriums“ bei der Konfliktlösung eine Rolle. Einen Konflikt zu bewältigen ist viel schwieriger in kleinen Einheiten, wo eine abweichende Meinung, die den Konflikt provoziert hat, immer isoliert bleibt. Der Regionalismus ermöglicht auch die Errichtung von Koalitionen der Konfliktregionen. Eine solche Koalition beinhaltet einen Integrationsimpuls besonders in solchen Fällen, in denen ihre Mitglieder sich selbst als Teil eines einheitlichen Systems, in unserem Fall des Kaukasus, betrachten. c) Politische Hindernisse für eine regionale Kooperation Politische Eliten im Kaukasus befürchten, dass mit dem Ausbau regionaler Kooperation der Einfluss und die staatliche Souveränität schwinden. Zudem besteht die Befürchtung, mit anderen Nachbarn auf eine Stufe gestellt zu werden. Außerdem ist ein geringes Wissen der Kooperationsformen bemerkbar. Es fehlt an Erfahrungen, Management und Moderation des Kooperationsprozesses. Die Verwaltungsstrukturen sind für die Kooperationsansätze nicht gerüstet. Ein hoher Grad an Zentralismus und das Nichtvorhandensein von lokaler Selbstverwaltung erschweren die Kooperation auf intraregionaler Ebene. Die regionale Kooperation im Kaukasus wird als Elitenprojekt angesehen und beschränkt sich auf die Zusammenarbeit von Regierungen und Hauptstädten. Die informellen regionalen Netzwerke und Kontakte zwischen den verschiedenen Gesellschaftssektoren werden unterschätzt. Regionale Kooperation hat bis heute kaum sichtbaren Nutzen für die Bevölkerung gezeigt und wird von der Bevölkerung damit nicht wahrgenommen. Zudem werden Einnahmeausfälle befürchtet, wenn Zölle und Handelsbeschränkungen wegfallen. 3. Wirtschaftliche Kooperation Wirtschaftliche Faktoren spielen eine zentrale Rolle für regionale Kooperation und schaffen die Basis für eine gute Zusammenarbeit auch auf anderen Gebieten.
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Generell besteht ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der regionalen Kooperation. Die Integrationsprozesse zwischen weniger entwickelten Ländern bleiben oft auf einer symbolischen Ebene, weil in „state and nation-building“-Prozessen Souveränität für diese Staaten in jeder Beziehung einen besonders hohen Stellenwert hat.14 Die bisherige Praxis der wirtschaftlichen Zusammenarbeit verhindert ein Zusammenwachsen der Länder im Kaukasus. Hemmnisse stellen besonders Zölle, Handelshindernisse und die wirtschaftliche Schwäche der einzelnen Staaten dar. Bereits existierende Wirtschaftsverbände, wie die SchwarzmeerWirtschaftskooperation (Black Sea Economic Cooperation – BSEC) und deren Wirkung auf die Region sind auf ihren positiven Effekt noch zu überprüfen. Eine der Fragen ist der Rang, der der wirtschaftlichen Kooperation in der Abfolge von Integrationsstufen zukommt. Die wirtschaftliche Kooperation ist in der Anfangsphase und als Grundlage für eine politische Integration zu interpretieren. Grenzüberschreitende wirtschaftliche Kooperation wird auch zur Harmonisierung der Zusammenarbeit auf anderen Gebieten im Kaukasus führen. Regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit ist nicht nur als Kooperations-, sondern auch als Entwicklungsinstrument in einem globalen Wettbewerb zu betrachten. Die Schaffung eines integrierten kaukasischen Marktes mit verbesserter Arbeitsteilung ist für ausländische Investoren attraktiver. Für ausländische Investoren sind die einzelnen Volkswirtschaften in der Region zu klein. Nur eine integrierende Region, die einen größeren Markt darstellt, kann hinreichendes Interesse der Investoren wecken. Die Schaffung eines größeren Marktes für Produzenten und ausländische Investoren (mit 17 Millionen Abnehmern, wenn man an die gesamte Region denkt) wird die Wirtschaftsintegration fördern. Für die Perspektiven regionaler Integration im Kaukasus ist die Konstellation zwischen einer marktbestimmten und einer politisch-institutionellen Kooperation wichtig. Die Perspektiven der „marktgetriebenen Integration“ im Kaukasus sind eher skeptisch zu betrachten. Der Aufbau der wirtschaftlichen Kooperation benötigt auch politische Stabilität und politischen Willen. Allein die „unsichtbare Hand“ des Marktes kann die regionale Zusammenarbeit im Kaukasus nicht fördern. Bi- oder trilaterale politische Abstimmungen sind als Erfolgsfaktor für die Entwicklung subregionaler Wirtschaftskooperation zwingend erforderlich.
14 Haas Beyond the Nation-State: Functionalism and international Organization, Stanford 1964, S. 10 ff.
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4. Die Rolle der Nationalstaaten Die kaukasischen Länder befinden sich in einem Prozess der Nationenund Staatsbildung. Stabilisierungs-, Konsolidierungs- und Identitätskrisen bestimmen immer noch die Entwicklungstendenzen im Kaukasus. Kaukasische Länder haben jedoch auch Fortschritte im Aufbau funktionierender Demokratien gemacht. Trotzdem sind große Mängel an Rechtsstaatlichkeit immer noch vorhanden. Diese Widersprüchlichkeit führt zu einer Reihe unterschiedlicher Begriffsbildungen: „delegative Demokratie“, „illiberale Demokratie“, „defekte Demokratie“, „Neo-Bonapartismus“ oder „Netzwerk-Staaten“. Die Gewinnung eines neuen Selbstverständnisses und einer neuen Rollenidentität erfordert es, die Rolle des Nationalstaates im Prozess der regionalen Kooperation neu zu definieren. Machtgewinn steht heute oft noch über dem Gewinn an Demokratie und dem Willen, zusammenzuarbeiten. Die Diskussion zum Thema Regionale Kooperation zeigt tiefe Gräben zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft im Südkaukasus. Es sind eher die südkaukasischen Gesellschaften, die als Träger der pluralistischen Weltanschauungen fungieren, als die staatlichen politischen Strukturen.15 Auch die Teilnehmer an den Diskussionen zum Thema Regionale Kooperation betonen ausdrücklich, dass sie ihre Gesellschaften und nicht ihre Staaten vertreten.16 Die herausragende Rolle des Nationalstaates ist generell ein Merkmal der Transformation. Das Übergewicht des Staates gegenüber der Zivilgesellschaft und fehlender Dualismus von Staat und Gesellschaft sind Hindernisse im Prozess der regionalen Kooperation im Kaukasus. Die Ursachen der zögernden Einstellung der Staaten zu der regionalen Zusammenarbeit liegen darin, dass ihnen erstens die Einhaltung ihrer Souveränität und ihr Prestige wichtiger sind als das Ziel des Friedens und zweitens die Sicherung des Status quo für sie im Rahmen des Nationalstaates immer noch berechenbarer ist als die unberechenbaren Folgen einer Integration.17 Der „staatlich vorgeformte Nationalismus“18 ist jedoch als das große Hindernis auf dem Weg regionaler Kooperation im Kaukasus zu betrachten. Im Übergangsprozess wurden die Transformationsgesellschaften in atomisierte Individuen und in hysterieanfällige Kollektive auseinandergebrochen. Das Gemeinwohl und das Soziale blieb unterschätzt – zum Teil auch als negative Reaktion auf die kollektivistisch geprägte sozialistische Vergangenheit. Die Eliten haben die Institutionen zur Durchsetzung partikularer Machtinteressen missbraucht. Damit war der Staat nicht Hüter des Gemein-
15 16 17 18
Rajabov (Fn. 7), S. 373–377. Caucasus Neighborhood: Turkey and the South Caucasus, Jerewan 2008, S. 6. Lehmkuhl Theorien internationaler Politik, 1996, S. 164. Ther Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 2012, S. 24.
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wohles, sondern Hüter von Gruppeninteressen. Die Gerechtigkeitsidee wurde als automatisches Produkt des Wettbewerbs betrachtet. Das hatte sehr negative Auswirkungen auf die post-totalitären Reformen, weil die Solidarität gerade im Prozess der Transformation in besonderer Weise fähig zur politischen Mobilisierung ist. Demokratie ist Streitkultur und braucht zur Ausbalancierung den Konsens. Im Fall eines Konsenses kann es nicht sein, dass nur eine Seite zufrieden und die zweite unzufrieden ist. Bei einem Konsens sollen alle Seiten gleichmäßig unzufrieden sein – ein Zustand, mit dem die Länder der neuen Demokratie im Kaukasus immer noch schwer leben und nicht einverstanden sind. Ein wichtiges Erfolgskriterium bei der Konsolidierung der Nation ist, wie sie die ethnischen und politischen Zeichen von Nationen miteinander verbindet. Die Verflechtung der nationalen mit anderen – kulturellen, berufsbezogenen oder religiösen – Identitäten relativiert das Gewicht einer einzigen Identität und hilft somit, die Hegemonie einer einzigen – der nationalen Identität – zu verhindern. Viele Menschen in Transformationsgesellschaften stellen ihre ethno-nationale Zugehörigkeit immer noch in den Mittelpunkt der Selbstidentifizierung und nicht wirtschaftliche, berufliche, akademische und andere Faktoren. Solange dies so bleibt, besteht die Gefahr der Instabilität. Die Nichtanerkennung der mehrstufigen Struktur von miteinander konkurrierenden Identitäten und die Ablehnung pluralistischer Identitätskonzepte beeinträchtigen die Kompromissbereitschaft im Kaukasus. In vielen Fällen stehen einer regionalen Kooperation nationalistische Gedanken der Regierungen im Weg. Die Fixierung auf nationalstaatliche Souveränität hemmt regionale Kooperation im Kaukasus. Die kaukasischen Staaten sind in vielen internationalen oder interregionalen Organisationen bzw. Gremien organisiert und „dulden“ die Einschränkung ihrer Souveränität durch diese Gremien, aber die politischen Eliten signalisieren wenig Bereitschaft, die staatliche Souveränität an eine supranationale Ebene zu übertragen. Die Ansätze zur Umsetzung einer subsidiären Funktionsverteilung sind im Kaukasus weiter zu erarbeiten.19 Eine Kooperation findet nur dann statt, wenn die Lösung politischer und ökonomischer Probleme die Zusammenarbeit und den Aufbau einer formalen Kooperationsstruktur notwendig macht. Anknüpfungspunkte für eine Kooperation finden sich sowohl auf lokaler, subregionaler und gesamtstaatlicher Ebene als auch überregional, wenn es beispielsweise um die Frage eines Kaukasischen Energieverbundes geht.
19 Die normativen Ansätze der regionalen Zusammenarbeit im Kaukasus sind in der wissenschaftlichen Literatur nur vereinzelt thematisiert. Es wurde richtig bemerkt, dass es in dieser Phase nicht um konkrete Mechanismen der Realisierung geht, sondern um die Förderung der Notwendigkeit und Möglichkeiten der regionalen Kooperation: Simonian/ Kalandarischvili in: Dilanyan/Abasov/Javakhishvili (Ed.), South Caucasus: Perspectives of Integration, Jerewan 2006, S. 72–75.
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5. Regionale Kooperation und Internationales System Regionale Kooperation im Kaukasus ist als Phänomen der Machtbalance anzusehen. Dabei soll die regionale Kooperation nicht aus der Perspektive der Allianzbildung betrachtet werden. Allianzen sind immer „gegen jemanden“ ausgerichtet. Im Kaukasus, wo sich z.Z. regionale Interessen und Interessen von Großmächten entgegenstehen, kann das gefährlich werden. Regionale Kooperation bedeutet keine Allianzbildung, sondern ist als verbindender regionaler Verband zu verstehen, der nicht ausgrenzt, sondern vereint. Bisher gibt es kein einheitliches Sicherheitskonzept,20 an dem alle kaukasischen Staaten arbeiten. Eher wird nach alternativen Partnern gesucht, mit denen man unter diesem Aspekt zusammenarbeiten kann. Dieses Herangehen kann aber die Gesamtinteressen des kaukasischen Verbundes langfristig schwächen. Als geeinte Region kann der Kaukasus ein echtes Machtzentrum bilden, das bedeutenden Einfluss auf das gesamte System der zwischenstaatlichen Beziehungen und auch auf das Verhalten der globalen Machtzentren hätte. Deshalb soll nach Ansätzen gesucht werden, die zur Verständigung beitragen und auf gemeinsame Zielstellungen hinarbeiten, um dadurch langfristig den Zusammenhalt der gesamten Region zu stärken. Der Regionalismus im Kaukasus kann als Instrument der Staaten beim Streben nach Sicherheit und Wohlstand im geo-ökonomischen und geo-politischen Wettbewerb interpretiert werden. Regionale Kooperation im Kaukasus kann auch für regionale Führungsmächte attraktiv sein. Die regionale Kooperation bedeutet für die Staaten im Kaukasus keine Erosion ihrer Handlungsfähigkeiten und ihrer Stellung im internationalen System. Die Staaten im Kaukasus können durch regionale Kooperation ihre Verhandlungsposition verbessern und damit ihr politisches und internationales Gewicht stärken. Die Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen wird einfacher und attraktiver, wenn die kaukasischen Staaten gemeinsame Interessen vertreten. Die europäische Perspektive dient hierbei als notwendige Triebkraft für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Kaukasus. Dabei ist die Politik der EU gegenüber dem Kaukasus keine „region to region“-Politik. Vielmehr werden die bilateralen Beziehungen mit den kaukasischen Ländern bevorzugt. Der regionale Ansatz wird auch in der Europäischen Nachbarschaftspolitik (2006), der europäischen Black Sea Synergy Initiative (2007) und der „Östlichen Partnerschaft“ (2009) wenig berücksichtigt und beruht auf bilateraler Basis. Die regionalen Infrastrukturprojekte der EU sind ein Instrument zur Förderung der regionalen Zusammenarbeit. Jedoch hatten diese Projekte aufgrund der nach wie vor existierenden Sezessionskonflikte und Sicherheitsdefizite nicht den erwünschten Erfolg. 20
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Lerch Der Kaukasus. Nationalitäten, Religionen und Großmächte im Widerstreit,
Zur europarechtlichen Restriktion des Betrugstatbestandes Diethelm Klesczewski
In einem im Jahre 1986 erschienen Aufsatz setzte sich unser Jubilar mit den Aussagen der Viktimo-Dogmatik zum Betrugstatbestand auseinander.1 Dessen Vorliegen verneint er, falls das Opfer aufgrund „konkreten Zweifels an der Wahrheit“ über einen „Kontrollimpuls verfügt und sich deshalb … zu schützen weiß.“2 Die Straflosigkeit „einer plumpen Täuschung gegenüber einem leichtfertig-arglosen Opfer“ lehnt er als inhaltlich und methodisch verfehlt ab. Nachdem die Konjunktur der Viktimo-Dogmatik abgeflaut war, hat das Thema durch die Harmonisierung des Lauterkeitsrecht neues Leben gewonnen. Der EuGH hält nämlich ein Verbot irreführender Werbung nur dann mit der Warenverkehrsfreiheit für vereinbar, wenn es sich den Schutz des „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“ (im Folgenden Durchschnittsverbraucher) zum Leitbild wählt.3 Hieraus wird geschlossen, dass eine Verleitung eines anderen zu einer vermögensschädigenden Verfügung dann nicht wegen Betrugs strafbar ist, wenn ein Durchschnittsverbraucher die Irreführung durchschaut hätte. Einesteils wird diese These mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts (II.), anderenteils mit dem Gebot unionskonformer Auslegung (III. 1.) begründet. Bevor ich auf diese Auffassungen eingehe, möchte ich die Problematik veranschaulichen (I.). Abschließend schlage ich einen alternativen Lösungsweg vor (III. 2.).
I. Zur Fallkonstellation Die Problematik lässt sich gut anhand des folgenden Falles demonstrieren: B vertreibt Gebrauchtwagen. Er inserierte über seine mehrsprachige Internethandelsplattform einen von ihm angekauften PKW mit folgender Beschreibung: „BMW 320d Touring, Gesamt-Kilometerstand 112 Tkm, Aus1 Schünemann NStZ 1986, 193 ff., 439 ff.; ders. in: ders. (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 51, 80. 2 Schünemann NStZ 1986, 439, 442; dem zust. Hennings Teleologische Reduktion des Betrugstatbestandes aufgrund von Mitverantwortung des Opfers, 2002, S. 192 f. 3 EuGH, Urt. v. 16.7.1998, Gut Springenheide, Slg. 1998, I-4657.
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tauschmotor 1.260 km, Angebot: 26.000 €“. Dabei bot B seinen PKW in der Rubrik „bis 5000 km Laufleistung“ an, um den Eindruck zu erwecken, dass der PKW kaum gefahren worden sei. Ihm war bewusst, dass der marktübliche Durchschnittspreis für einen BMW 320d Touring mit einem Kilometerstand von weniger als 5.000 km bei 38.000 € und bei einer Laufleistung von mehr als 100.000 km bei 12.200 € lag. Es meldete sich der Franzose K, der offensichtlich davon ausging, dass der BMW einen Tachometerstand von weniger als 5.000 km aufwies. Ihm veräußerte der B den Wagen für 25.000 € und überführte diesen nach Frankreich.4 Deutsches Strafrecht ist hier gem. § 9 Abs. 1 StGB anwendbar, da der B auf deutschem Hoheitsgebiet handelte. Eine Strafbarkeit gem. § 16 Abs. 1 UWG scheidet aus. Indem der B sein Inserat unter der Rubrik „bis 5.000 km Laufleistung“ aufgab, hat er freilich eine unwahre Angabe innerhalb einer öffentlichen Bekanntmachung gemacht. Doch war seine Werbung letztlich nicht irreführend. Nun sieht zwar § 5 Abs. 1 S. 2 Var. 1 UWG jede unwahre Werbung stets auch als irreführend an. Hiermit wird aber lediglich das zivilrechtlich Unerlaubte benannt.5 Da die Übertragung dieser Definition in den Straftatbestand von § 16 Abs. 1 UWG dazu führen würde, den irreführenden Charakter der Werbung durch die Unwahrheit der mit ihr gemachten Angabe zu erläutern, würde man dieses Merkmal der Sache nach aus dem Tatbestand streichen und damit gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Verschleifungsverbot6 verstoßen. Folglich muss das Irreführungspotenzial der unwahren Angabe eigenständig festgestellt werden.7 Werbung ist irreführend, wenn ein nicht unerheblicher Teil des betroffenen Verkehrskreises über das Angebot getäuscht und Fehlvorstellungen von maßgeblicher Bedeutung für den Kaufentschluss hervorgerufen werden.8 Ob dem so ist, hängt von dem Verbraucherleitbild ab, das man zugrunde legt. Nachdem der BGH ursprünglich auf den flüchtigen, unkritischen und unbefangenen Verbraucher abgestellt hatte9, begann sich dieses Leitbild seit Mitte der 1996 zu wandeln10. Seit 1999 stellt er auf den Durchschnittsverbraucher ab,11 wobei er sich an der Rspr. des EuGH orientiert. Danach fehlt der Werbung im Aus-
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Der Fall ist BGH NJW-RR 2012, 499 nachgebildet. § 3 Abs. 1 UWG erklärt irreführende Geschäftspraktiken für unzulässig, wenn sie geeignet sind, Interessen von Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen. Diese Eignung kommt einer Werbung mit unwahren Angaben zu Eigenschaften einer Ware per se zu, vgl. BGH, NJW 2009, 3369; Köhler/Bornkamm UWG, 31. Aufl. 2013, § 3 Rn. 136, 151. 6 Dazu BVerfGE 126, 170, 198; 130, 1, 42 f. 7 Letztlich genauso Fezer/Rengier UWG, 2005, § 16 Rn. 79. 8 BGH NJW 2009, 2747; BGH WRP 2009, 1080 m.w.N.; Köhler/Bornkamm UWG, 31. Aufl. 2013, § 5 Rn. 2.20 f. und 2.169; R. Kilian Strafbare Werbung, 1. Aufl., 2011, S. 57. 9 BGH GRUR 1988, 459, 460. 10 Köhler/Bornkamm UWG (Fn. 8), § 5 Rn. 1.55 11 BGH NJW-RR 2000, 1490; BGH NJW 2004, 439. 5
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gangsfall das hinreichende Irreführungspotenzial. Ein situationsadäquat aufmerksamer Durchschnittsverbraucher wird den Widerspruch zwischen der Einordnung in die Suchrubrik „bis 5000 km“ und der Angabe der Gesamtlaufleistung mit 112.970 km sofort erkennen.12 Darauf, dass ein einzelner Kunde, wie hier der K, gleichwohl einem Irrtum erliegt, kommt es nicht an. Dieses Ergebnis bildet nun den Ausgangspunkt für eine Neuinterpretation von § 263 Abs. 1 StGB. Um die „Wertungskongruenz“ mit § 16 Abs. 1 UWG zu wahren, liest ein Teil der Literatur in diesen Tatbestand das zusätzliche Merkmal der Schaffung einer kollektiven Irreführungsgefahr hinein.13 Obwohl K, wie von B beabsichtigt, im Ausgangsfall aufgrund der unwahren Einordnung des BMW in die Suchrubrik „bis 5000 km“ irrtumsbedingt zum Erwerb des BMW mehr als das Doppelte des durchschnittlichen Preises zahlte und damit einen Vermögensschaden erlitt, während der K entsprechend bereichert wurde, soll eine Strafbarkeit ausscheiden, da der Durchschnittsverbraucher die entsprechende Täuschung sofort durchschaut hätte. Zwischenresultat dessen ist eine sektorale Aufspaltung des Betrugstatbestandes: Soweit es um grenzüberschreitende irreführende Geschäftspraktiken gegenüber Verbrauchern geht, soll § 263 Abs. 1 StGB grundsätzlich nicht eingreifen, es sei denn, es handelt sich um Personen, die wegen ihres Alters besonders schutzwürdig.14 Ferner sollen auch irreführende Angaben gegenüber Gewerbetreibenden als Betrug strafbar bleiben, wenn sie diesen zu einer vermögensschädigenden Verfügung motivieren. Diese Pulverisierung des Betrugstatbestandes wird nun als unbefriedigend wahrgenommen.15 Statt dies zum Anlass zu nehmen, den eigenen Lösungsweg zu überdenken, wird er sogar generalisiert: Zur Wahrung des Gleichheitsgrundsatz wird vorgeschlagen, das unionsrechtliche Täuschungsschutzniveau in allen Fällen zu wahren.16 Die Begründung dieses erstaunlichen Resultates bedarf näherer Überprüfung.
II. Zur Frage des sektoralen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Die Auswirkungen des Unionsrechts auf den Tatbestand der strafbaren Werbung und den des Betruges hat Hecker eingehend analysiert.17 Er entwickelt als einer der ersten ausführlich die These, dass das Primärrecht der EU nicht jedwede irreführende grenzüberschreitende Produktwerbung ver-
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So der BGH im Ausgangsfall, NJW-RR 2012, 499, 501. Hecker Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 325. Hecker Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., 2012, § 9 Rn. 35. Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 35. Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 35. Hecker (Fn. 13), S. 214 ff.
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biete, sodass nicht nur § 16 Abs. 1 UWG, sondern auch § 263 Abs. 1 StGB auf diese Fälle nicht mehr angewendet werden darf.18 Diese These möchte ich im Folgenden sowohl hinsichtlich des Primärrechts (1.) als auch in Bezug auf das Sekundärrecht (2.) der EU auf ihre Stichhaltigkeit untersuchen. 1. Zum Verbraucherleitbild des Primärrechts a) Das Unionsrecht kennt in seinem Primärrecht und mit seinen Verordnungen Rechtsquellen, die unmittelbare Geltung in den Mitgliedsstaaten beanspruchen. Selbst einer Richtlinie kann diese Wirkung zukommen, wenn ihre Vorgaben trotz Fristablaufs nicht umgesetzt worden sind, und wenn sie eine unbedingte und hinreichend bestimmte Vorgabe enthält, die den Bürger begünstigt.19 Soweit nationales Recht dem Unionsrecht entgegensteht, leitet der EuGH aus Art. 4 Abs. 3 EUV ab, dass dem Unionsrecht in diesem Kollisionsfall der Anwendungsvorrang gebührt.20 Das bedeutet nicht, dass die Vorschrift derogiert wird. Sie darf vielmehr auf Sachverhalte ohne Unionsbezug weiterhin angewandt werden.21 Nur soweit ein Fall mit Unionsbezug unter die Vorschrift des nationalen Rechts zu subsumieren wäre, steht dem das widerstreitende Unionsrecht entgegen. Das Prinzip des Anwendungsvorrangs ist vom EuGH entwickelt worden. Schon zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz statuiert, dass unmittelbar geltendes EG-Recht gegenüber einem etwa entgegenstehenden Recht eines Mitgliedsstaates einschließlich dessen Verfassungsrechts uneingeschränkten Vorrang genießt.22 Seit Wirksamwerden des Lissabon-Vertrags gilt dies nun nach dieser Rspr. für das Verhältnis des unmittelbar geltenden Unionsrechts zum nationalen Recht.23 Art. 4 Abs. 3 UA 2, 3 EUV statuiert nun die Pflicht zu unionstreuem Verhalten.24 Demgegenüber hat das BVerfG den Vorrang des Gemeinschaftsrechts nur unter Vorbehalt anerkannt.25 Seit dem Solange II-Beschluss gilt, „… solange die Europäischen Gemeinschaften … einen wirksamen Schutz der Grund-
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Hecker (Fn. 13), S. 284. EuGH, Urt. v. 5.4.1979, Ratti, Slg. 1979, 1629; Urt. v. 22.9.1983, Auer, 1983, 2727; zust. BVerfGE 75, 223. 20 EuGH, Urt. v. 9.3.1978, Simmenthal II, Slg. 1978, 629; dazu auch: BVerfGE 123, 267, 383 ff. 21 Schwarze/Hatje EUV, 3. Aufl. 2012, Art. 4 Rn. 41. 22 Grundlegend: EuGH, Urt. 15. 7. 1964, Costa ./. ENEL, Slg. 1964, 1251, 1270; EuGH, Urt. v. 17.12.1970, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. 23 EuGH NVwZ 2010, 1419, 1420. 24 Schwarze/Hatje EUV (Fn. 21), Art. 4 Rn. 21 ff. 25 BVerfGE 73, 339, 375 f.; 89, 155, 188; 126, 286, 304. 19
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rechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist …, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht … nicht mehr ausüben …“26 Spätestens seit der Lissabon-Entscheidung des BVerfG ist auch die Nichtbeachtung der anderen, in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Grundsätze ein Anwendungshindernis.27 Zudem tritt neben die Inhaltskontrolle die Ultra-Vires-Kontrolle.28 Die Sachentscheidungsbefugnis nimmt das BVerfG hier freilich nur dann in Anspruch, wenn vorgetragen wird, dass die EU nicht nur im Einzelfall, sondern generell die in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Grundsätze missachtet.29 Dies wird sich derzeit schwerlich substantiiert darlegen lassen. Um einen nach der UltraVires-Kontrolle ausbrechenden Rechtsakt handelt es sich nach neuerer Rspr. nur, wenn er die Kompetenzgrenzen in hinreichend qualifizierter Weise überschreitet.30 Dazu muss die Kompetenzwidrigkeit offensichtlich sein und der Rechtsakt im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem der rechtsstaatlichen Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fallen.31 Dies lässt sich ebenfalls derzeit nur schwerlich dartun.32 Da sowohl die Inhalts- als auch die Ultra-Vires-Kontrolle des BVerfG an derart hohe Darlegungshürden gebunden sind, sind Verfassungsbeschwerden oder Vorlagen nach Art. 100 GG so gut wie nie zulässig. Hieraus folgt, dass der Einzelne bei dem Schutz seiner Rechte auf den Rechtsweg verwiesen ist, den die EU ihm bietet. Insofern unterscheidet sich die Position des BVerfG derzeit nicht groß von derjenigen des EuGH. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann sogar die Anwendung von Straftatbeständen „neutralisieren“.33 Dementsprechend können Richtlinien auf einem Gebiet einer Unionspolitik auch Auswirkungen auch Tatbestände des Kernstrafrechts haben. b) Anwendungsvorrang genießen vorzugsweise die Grundfreiheiten.34 Bestandteil der Warenverkehrsfreiheit ist dabei auch das Recht, zur Förderung des Absatzes produktbezogen grenzüberschreitend zu werben.35 Dement26 BVerfGE 73, 339, 387 (Solange II); vgl. weiter BVerfGE 89, 155, 174 f.; 102, 162, 164; 118, 79. 27 BVerfGE 123, 267, 353 f. 28 Konzise dazu: Degenhart Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 246. 29 BVerfGE 102, 147, 165 ff. 30 BVerfGE 126, 286, 304. 31 Näher: Schwarze/Hatje EUV (Fn. 21), Art. 4 Rn. 43 m.w.N. 32 Eine erste Ausnahme bildet der Vorlagebeschluss des BVerfG vom 14.1.2014 zum OMT-Beschluss der EZB NJW 2014, 907, 910 ff. (Rn. 55 ff.). 33 Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 10 ff.; Rönnau/Kilian GA 2013, 561, 576 f. 34 Dazu: Rönnau/Kilian GA 2013, 561, 568. 35 Schwarze/Becker AEUV, 3. Aufl. 2012, Art. 34 Rn. 75 f.
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sprechend verbieten Art. 34, 35 AEUV nicht nur Beschränkungen, die sich direkt auf den Akt der Ein- oder Ausfuhr beziehen. Vielmehr richten sie sich gegen „jede Handelsregelung der Mitgliedsstaaten, die geeignet ist, den gemeinschaftlichen Handelsverkehr mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“36 Nationale Vorschriften, welche die produktbezogene Werbung reglementieren, greifen daher in die Warenverkehrsfreiheit stets ein37, Maßnahmen die vertriebsbezogene Werbung betreffen, jedenfalls dann, wenn sie den Marktzugang der Ware behindern38. Berühren damit Verbote von irreführenden Geschäftspraktiken den Schutzbereich von Art. 34 AEUV, können sie freilich durch die in Art. 36 AEUV genannten bzw. durch weitere, in der Rechtsprechung anerkannte Gründe gerechtfertigt sein. Hierzu zählt namentlich der Verbraucherschutz.39 Freilich hält der EuGH Werbereglementierungen nur dann für verhältnismäßig, wenn sie sich darauf beschränken, den „Durchschnittsverbraucher“ vor Irreführung zu bewahren.40 Hieraus wird nun abgeleitet, dass diejenige im grenzüberschreitenden Warenverkehr vorgenommene Produktanpreisung, die zwar einen leichtgläubigen Adressaten verführt, gleichzeitig aber ungeeignet ist, einen Durchschnittsverbraucher in die Irre zu leiten, nicht bestraft werden kann, weil der Anwendungsvorrang des Primärrechts die Straftatbestände „neutralisiert“.41 Dem ist entgegen zu treten: Unionsrecht kommt gegenüber nationalem Recht nur dann Anwendungsvorrang zu, wenn es sich um eine echte und direkte Kollision zweier sich ausschließender Regelungsalternativen handelt.42 Lässt das Unionsrecht einen Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum, enthält es keine bestimmte Regelungsalternative, handelt sich lediglich um eine unechte Kollision.43 So verhält es sich aber mit dem Verbraucherleitbild des EuGH. Zwar trifft es zu, dass der EuGH auf den „Durchschnittsverbraucher“ abstellt.44 Doch handelt es sich bei dabei nicht um einen Be36
EuGH, Urt. v. 11.7.1974, Dassonville, Slg. 1974, I-837. EuGH, Urt. v. 24.11.1993, Keck, Slg. 1993, I-6097, dazu: Feiden Die Bedeutung der „Keck“-Rechtsprechung im System der Grundfreiheiten, 2003, S. 40 f. 38 EuGH, Urt. v. 10.2.2009, Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519; vgl. w. Schwarze/ Hatje AEUV (Fn. 21), Art. 34 Rn. 49 m.w.N. 39 EuGH, Urt. 20.2.1979, Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649; Urt. v. 2.2.1994, Verband Sozialer Wettbewerb ./. Clinique Laboratories und Estée Lauder, Slg. 1994, I-317. 40 EuGH, Urt. v. 16.7.1998, Gut Springenheide, Slg. 1998, I-4657. 41 In diese Richtung: Hecker (Fn. 13), S. 284; vgl.w. S. 78 f.; ders. (Fn. 14), § 9 Rn. 34; ähnlich Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 578, die den Anwendungsvorrang freilich auf die UGP-RL bezieht (dazu sogleich); vgl.w. Soyka wistra 2007, 127, 129; Scheinfeld wistra 2008, 167, 172. 42 So auch: Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 15, 22 f. 43 So: Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 15, 22 f. 44 EuGH, Urt. 7.3.1990, GB-INNO-BM ./. Confédération du Commerce Luxembourgeois, Slg. 1990, I-667; Urt. v. 13.12.1990, Pall ./. Dahlhausen, Slg. 1990, I-4827; 37
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griff, der fest definiert ist. Vielmehr hält der EuGH es für legitim, soziale, kulturelle und sprachliche Besonderheiten in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen.45 Schon daraus ergibt sich ein Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum. Darüber hinaus ist nicht eindeutig, ob das Verbraucherleitbild überhaupt einen normativen Idealtypus46 darstellt und nicht lediglich einen empirischen Häufigkeitstypus47. Zwar legt der EuGH die Art und Weise, wie eine Angabe im Geschäftsverkehr aufzufassen ist, häufig selbst normativ fest.48 Doch hält er es auch für zulässig, die Eignung zur Irreführung durch Sachverständigengutachten oder demoskopische Befragung festzustellen.49 Das Verbraucherleitbild ist daher allenfalls eine generalklauselartige Anweisung, die widerstreitenden Interessen der Warenverkehrsfreiheit und des Verbraucherschutzes abzuwägen. Mehr als die Aussage, nicht jede faktisch erfolgreiche Täuschung reiche aus, maßgeblich sei das Irreführungspotenzial gegenüber einer je unterschiedlich zu definierenden Gruppe von Durchschnittsverbrauchern, lässt sich ihm nicht entnehmen. Das spricht dagegen, von einer Kollision sich wechselseitig ausschließender Regelungsalternativen zu sprechen. Nun hindert dies gewiss nicht, die Interpretation des Merkmals der irreführenden Werbung in § 16 Abs. 1 UWG an dem vom EuGH entwickelten Verbraucherleitbild auszurichten. Das Vergehen der strafbaren Werbung ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, bei dem es ausreicht, dass die Werbung geeignet ist, andere zu täuschen.50 Gleichzeitig stellt § 16 Abs. 1 UWG Äußerungen unter Strafe, die sich an eine Vielzahl von Menschen richten.51 Da dieser Personenkreis dem Täter nicht näher bekannt ist, liegt es auf der Hand, das Irreführungspotenzial nach der Durchschnittsauffassung der angesprochenen Verbraucherkreise zu bestimmen.52 Doch ergibt sich daraus nicht, dass das Primärrecht der Bestrafung wegen Betruges entgegensteht. Zum einen wird der Fallgruppe der auf klare Täuschung gerichteten Werbung stets das hinreichende Irreführungspotenzial gegenüber dem Durchschnittsverbraucher zugemessen.53 Zum anderen ist bei einer täuschungsbedingt schädigenden Verfügung nicht nur die Dispositionsfreiheit der Marktteilnehmer,
Urt. v. 18.5.1993, Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361; Urt. v. 6.7.1995, Mars, Slg. 1995, I-1923; Urt. v. 16.7.1998, Gut Springenheide, Slg. 1998, I-4657. 45 EuGH, Urt. v. 13.1.2000, Estee Lauder ./. Lancaster, Slg. 2000, I-117. 46 Zu dieser Denkform Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Studienausgabe, 3. Aufl. 1995, S. 292 f. 47 Larenz/Canaris (Fn. 46), S. 290 f. 48 Köhler/Bornkamm UWG (Fn. 8), § 5 Rn. 1.49. 49 EuGH, Urt. v. 16.7.1998, Gut Springenheide, Slg. 1998, I-4657. 50 BGHSt 52, 227, 228 f. m. Anm. Brammsen NStZ 2009, 279. 51 Köhler/Bornkamm UWG, 31. Aufl. 2013, § 16 Rn. 13 f. 52 Vgl. Fezer/Rengier, (Fn. 7) § 16 UWG Rn. 77. 53 öOGH GRUR Int. 2000, 1025; zust. Köhler/Bornkamm UWG (Fn. 8), § 5 Rn. 1.40.
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sondern auch das Eigentumsgrundrecht der Opfer (im Ausgangsfall das des K) verletzt. Der Schutz der Grundrechte zählt aber auch zu den Rechtfertigungsgründen für Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit.54 Der Strafbarkeit der Veranlassung zu einer täuschungsbedingt vermögensschädigenden Verfügung als Betrug steht daher mangels Kollisionslage der Anwendungsvorrang des Primärrechts nicht entgegen. Mit dieser Argumentation lässt sich daher im Ausgangsfall die Straflosigkeit des B nicht begründen. 2. Zu den Vorgaben des Sekundärrechts der Union Auch dem Sekundärrecht der Union gebührt der Anwendungsvorrang. Irreführende Werbung und entsprechende unlautere Geschäftspraktiken waren mehrfach Gegenstand der Richtliniengesetzgebung. Während die Richtlinie 84/450/EWG55 und RL 2006/114/EG56 diesbezüglich nur Mindeststandards festlegten und folglich die Mitgliedsstaaten nicht daran hinderten, mit Strafdrohung einen höheren Verbraucherschutz durchzusetzen, strebt die RL 2005/29/EG (im Folgenden UGP-RL) eine Vollharmonisierung an.57 Art. 5 Abs. 1 UGP-RL verbietet jedwede unlautere Geschäftspraktik gegenüber Verbrauchern. Nach Art. 5 Abs. 2 UGP-RL ist eine Geschäftspraxis unlauter, wenn sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht und in Bezug auf das jeweilige Produkt geeignet ist, das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers wesentlich zu beeinflussen. Danach sind Werbungen nur dann verboten, wenn sie geeignet sind, den Durchschnittsverbraucher in die Irre zu führen.58 Daraus leitet ein Teil des Schrifttums ab, dass plumpe Täuschungen, die von einem Durchschnittsverbraucher durchschaut worden wären, weder den Tatbestand von § 16 Abs. 1 UWG noch den von § 263 Abs. 1 StGB erfüllen.59 Was unionsrechtlich erlaubt sei, dürfe in keinem Mitgliedsstaat bei Strafe verboten werden.60 Der Anwendungsvorrang der UGP-RL neutralisiere hier beide Tatbestände. Diese Argumentation geht von einer unzutreffenden Prämisse aus. Art. 6 Abs. 1 Alt. 1 UGP-RL bezeichnet eine Geschäftspraxis immer dann als irre-
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Schwarze/Becker AEUV, 3. Aufl. 2012, Art. 36 Rn. 39; Vergho wistra 2010, 86, 91. Richtlinie des Rates über irreführende und vergleichende Werbung vom 10. 9.1984 (Abl. Nr L. 250, S. 17). Dazu: Hecker (Fn. 13), S. 299 ff. 56 Richtlinie über irreführende und vergleichende Werbung vom 12.12.2006 (Abl. EU Nr. L 376, S. 21). 57 Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vom 11.5.2005 (Abl. EU Nr. L 149, S. 22). 58 Insofern zutreffend: Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 572 f. 59 Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 578; zust. Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 35; Soyka wistra 2007, 127, 129; Scheinfeld wistra 2008, 167, 172. 60 Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 581: Soyka wistra 2007, 127, 129; Scheinfeld wistra 2008, 167, 172. 55
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führend, wenn sie unwahre Angaben enthält. Die UGP-RL geht folglich beim Vorspiegeln von Tatsachen stets davon aus, dass ein derartiges Verhalten aus sich heraus geeignet ist, auch einen Durchschnittsverbraucher irrezuführen. Man ist geneigt zu sagen: Wie sollte es auch anders sein? Weil und soweit zum Betrug begriffsnotwendig gehört, durch eine unwahre Tatsachenbehauptung auf das Opfer einzuwirken, handelt es sich bei einem Betrug durch unlautere Geschäftspraktiken ebenso zwingend stets um ein gem. Art. 5 Abs. 1 UGP-RL verbotenes Verhalten. Die Rechtslage ist so klar, dass man sich fragt, wie man ernsthaft das Gegenteil behaupten kann. Mir scheint hier die Anknüpfung an das Merkmal der Irreführung die Vertreter dieser Auffassung in die Irre geführt zu haben. Bezeichnend ist die Argumentation von Ruhs: Sie weist zunächst darauf hin, dass Art. 5 Abs. 1 UGP-RL jedwede unlautere Geschäftspraktik verbietet. Sodann nimmt sie die in Art. 5 Abs. 2 UGP-RL enthaltene Formel in den Blick, ohne deren nähere Konkretisierung durch die Art. 6, 7 UGP-RL aufzugreifen.61 An die Stelle tritt das Verbraucherleitbild des EuGH.62 Die unwahre Angabe als zwingendes Beispiel hinreichender Täuschungseignung fällt unter den Tisch. Eine anderes Quid pro Quo findet sich bei Hecker:63 Er geht davon aus, § 16 Abs. 1 UWG knüpfe die Strafbarkeit kumulativ daran, dass jemand unwahre Angaben macht und dadurch irreführend wirbt. Sodann legt er dieses Irreführungsmerkmal anhand des Verbraucherleitbilds des EuGH aus. Dadurch gelangt er zu dem Ergebnis, dass das Äußern unwahrer Tatsachenbehauptungen nur strafbar ist, wenn es geeignet ist, den Durchschnittsverbraucher in die Irre zu führen. Wer unwahre Angaben mache, so schließt er sodann, handle im Rahmen der unionsrechtliche Erlaubnis, wenn sie ungeeignet seien, den Durchschnittsverbraucher zu täuschen. So kommt er zu einer echten Kollision zwischen dem Betrugstatbestand und den unionsrechtlichen Vorgaben. Wie dargestellt (s.o. I.), ist das Verhältnis zwischen dem Unwahrheitsmerkmal und dem Irreführungsmerkmal im UWG mehrdeutig. Der Widerspruch zwischen der in § 5 Abs.1 S. 2 Var. 1 UWG enthaltenen Definition der Irreführung durch die Unwahrheit der Angabe und der kumulativen Verwendung beider Termini in § 16 Abs. 1 UWG lässt sich nur auflösen, sieht man den in § 16 Abs. 1 UWG umschriebenen Tatbestand erst als verwirklicht an, wenn die Täuschung ein Ausmaß erreicht, dem der Durchschnittsverbraucher ebenfalls erlegen wäre. Doch folgt daraus nicht (s.o. II. 1. b)), dass dieses Element nun auch in den Betrugstatbestand zu inkorporieren ist. Erst recht nicht ergibt sich dies aus einer unionsrechtlichen Erlaubnis. Wie dargestellt,
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Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 572. Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 573 f. Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 34 f.; ders., (Fn. 13), S. 284, 298 ff.
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verbieten die Art. 5, 6 UGP-RL Geschäftspraktiken, die mit unwahren Angaben operieren, schlechthin.64 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts erzwingt mithin keine restriktivere Interpretation des Betrugstatbestandes.
III. Zur unionsrechtskonforme Auslegung des Betrugstatbestandes Aus Art. 4 Abs. 3 UA 2 EUV folgt auch die Pflicht, das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen.65 Nicht allein dem Gesetzgeber obliegt es, die Vorgaben der EU-Rechtsakte zu erfüllen. Vielmehr haben auch Exekutive und Judikative diese Rechtsakte bei der Auslegung zu berücksichtigen, um ggf. durch Neuinterpretation von Gesetzen zu einer Umsetzung einer Richtlinie zu kommen. Darüber hinaus folgt ein Postulat unionsrechtskonformer Auslegung auch aus dem nationalen Recht selbst. Geht es um die Interpretation eines Gesetzes, das ausdrücklich der Umsetzung einer Richtlinie bzw. eines Rahmenbeschlusses dient, folgt dies bereits aus dem anerkannten Kriterium der Erforschung des Gesetzgeberwillens.66 Denn hat er sich zum Ziel gesetzt, EU-Recht umzusetzen, darf man davon ausgehen, dass er dies in Übereinstimmung mit Wortlaut und Zweck der Richtlinie bzw. des Rahmenbeschlusses erreichen will. Im Übrigen enthält Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Verpflichtung aller Staatsgewalten der Bundesrepublik, an der Verwirklichung der Einheit Europas mitzuwirken,67 sodass das Unionsrecht in der Auslegung nationaler Vorschriften auch dann Berücksichtigung finden muss, wenn diese nicht zur Umsetzung von EU-Recht geschaffen worden sind. Heute gilt, dass das gesamte nationale Recht unabhängig davon, ob es zur Umsetzung einer Richtlinie geschaffen worden ist, ob es erst nach Erlass der Richtlinie ergangen ist oder bereits zuvor in Kraft war, entsprechend dem Wortlaut den Zielen der einschlägigen Richtlinien zu interpretieren ist.68 1. Auslegung im Hinblick auf Richtlinien und Verordnungen Aus dem Gebot unionsrechtskonformer Auslegung folgt, von mehreren Auslegungsvarianten diejenige vorzuziehen, die sich am besten eignet, die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Normen und die Ziele der
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Zutreffend: Vergho wistra 2010, 86, 92. EuGH, Urt. v. 10.4.1984, v. Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891; vgl. weiter Schwarze/Hatje (Fn. 21), Art. 4 EUV Rn. 48 ff.; ausf. Rönnau/Kilian GA 2013, 561, 562 ff. 66 Hecker (Fn. 14), § 10 Rn. 9 m.w.N. 67 Maunz/Dürig/Scholz GG, Art. 23 Rn. 52 (Oktober 2009). 68 EuGH, Urt. v. 7.11.1989, Nijman, Slg. 1989, 3533; zust. Schwarze/Hatje EUV (Fn. 21), Art. 4 Rn. 50. 65
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Union zu sichern.69 Bisher geht die überwiegende Ansicht davon aus, dass jedwede unwahre Tatsachenbehauptung eine Täuschung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB darstellt.70 Demgegenüber halten die Anhänger einer europarechtsfreundlichen Interpretation eine Korrektur des Täuschungsbegriffs für zwingend.71 Einesteils plädiert man dafür, Fallgruppen irreführenden Geschäftspraktiken gegenüber Verbrauchern im grenzüberschreitenden Verkehr gesondert zu behandeln.72 Anderenteils überträgt man diese Lösung auf alle Betrugsfälle.73 Beide Male kehrt das Argument wieder:74 Was unionsrechtlich erlaubt sei, dürfe durch das nationale Recht nicht bei Strafe verboten werden. Geschäftspraktiken, die nach der UGP-RL lauter seien, dürfe das nationale Recht nicht untersagen. Folglich müsse der unionsrechtliche Täuschungsschutz in den Betrugstatbestand implementiert werden. So richtig die beiden ersten Sätze sind, so falsch ist die gezogene Folgerung. Da die Art. 5, 6 UGP-RL jede Geschäftspraktik, die mit unwahren Angaben agiert, verbietet, das Täuschen über Tatsachen den Kern der Ausführungshandlung von § 263 Abs. 1 StGB ausmacht, erklärt die h.M. mitnichten etwas unionsrechtlich Erlaubtes für strafbar. Auch die Untersuchung Heckers zu EG-Öko-VO75 und zur Etikettierungs-RL76 führen zu keinem anderen Ergebnis. Denn auch diese Rechtsakte gestatten es nicht, unwahre Angaben zu machen, um einen anderen am Vermögen zu schädigen.77
69 EuGH, Urt. v. 6.10.1970, Grad, Slg. 1970, 825, 838; Urt. v. 8.10.1987, Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969, 3986; Urt. 15. 9.1998, Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951, 4990; Urt. 14.10.1999, Adidas, Slg. 1999, I-7081, 7107. 70 BGH NStZ 2003, 313, 314; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2011, § 263 Rn. 18 m.w.N. 71 AnwaltKommentar StGB/Gaede, 1. Aufl. 2011, § 263 Rn. 6, 23; Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 35; Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 578; Soyka wistra 2007, 127, 129; Scheinfeld wistra 2008, 167, 172; eher zurückhaltend: Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 263 Rn. 55a; Satzger/Schmitt/Widmaier StGB, 1. Aufl. 2009, § 263 Rn. 6, 109. 72 So Hecker (Fn. 13), S. 341 (weitergehend wohl ders. [Fn. 14], § 9 Rn. 45); wohl auch: Satzger/Schmitt/Widmaier StGB (Fn. 71), § 263 Rn. 109. 73 Dannecker ZStW 117 (2005), 697, 712 ff.; Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 582; Soyka wistra 2007, 127, 132. 74 Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 578 f.; zust. Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 45; Soyka wistra 2007, 127, 129. 75 Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 des Rates vom 24. 6.1991 über den ökologischen Landbau und die entsprechende Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und Lebensmittel (ABl. EG L 198, S. 1). 76 Richtlinie 79/112/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie der Werbung hierfür (ABl. EWG 1979 L 33 S. 1). 77 Anders wohl Hecker (Fn. 13), S. 289: Er sieht den Slogan: „Echte Bioware – so rein wie die Natur“ als unwahre Tatsachenbehauptung an, die durch die EG-Öko-VO gestattet sei. Von dieser wird jedoch nur die Verwendung von Silben wie „Bio“ und „Öko“ u.ä. Produktbeschreibungen geregelt, nicht aber weitergehende (unwahre) Behauptungen.
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2. Auslegung im Hinblick auf die Unionsziele Abschließend möchte ich eine ökonomisch-teleologische Interpretation skizzieren, die an den Zielen der EU ansetzt und die von unserem Jubilar vorgeschlagene restriktive Interpretation des § 263 Abs. 1 StGB bestätigt. Während das Grundgesetz keine explizite Stellungnahme für eine Wirtschaftsordnung enthält78, hat es sich die EU in Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV zur Verpflichtung gemacht, auf eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft hinzuwirken79. Dieses Ziel ist auch im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen.80 Folgt man F. A. v. Hayek, ist das Wissen über eigene Bedürfnisse und das Ausmaß der Bereitschaft, sie durch eigene Arbeit zu befriedigen, im Ursprung notwendig individuell.81 Dementsprechend bildet sich eine Marktwirtschaft aufgrund der Verkettung spontaner Entscheidungen der Einzelnen. Jeder ruft im Wettbewerb mit anderen die Preise für seine Leistungen auf bzw. nennt den Betrag, den er für ein Gut zu zahlen bereit ist. Der sich daran anschließende Preisbildungsmechanismus fungiert schließlich als ein Entdeckungsverfahren, um zu klären, unter welchen Voraussetzungen die Einzelnen gemäß ihren Präferenzen bereit sind, Leistungen am günstigsten auszutauschen. Sind die Bezugsmärkte der Unternehmen und der Haushalte vollkommen und herrscht auf ihnen vollständige Konkurrenz, verteilt sich nicht nur die Wertschöpfung proportional auf die Produktionsfaktoren82, sondern es fehlen auch auf den Bezugsmärkten der Haushalte Informationsasymmetrien83. Nun ist in der Realität kein Markt vollkommen und die Konkurrenz auf ihm nie vollständig.84 Beides schmälert selbstverständlich die Eigenschaft des Marktes, ein belastbares Entdeckungsverfahren zu sein. Dies führt dazu, dass die Wertschöpfung nicht verhältnismäßig verteilt wird und die Bezugsmärkte für die Haushalte undurchsichtig werden. Dementsprechend sieht die Theorie der sozialen Marktwirtschaft hier die Aufgabe hoheitlicher Rechtssetzung darin, den Markteilnehmern einen Rahmen vor-
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BVerfGE 4, 7, 18; 50, 290, 336 ff. Schwarze/Becker EUV, 3. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 7, 13; vgl. dazu: EuGH, Urt. v. 21.7.2011, Freistaat Sachsen, Rs. C-459/10 P, Rn. 32, 42. 80 EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Association belge des Consommateurs Test-Achats u.a., Slg 2011, I-773. 81 v. Hayek Ordo 26 (1973), 12 ff.; dazu: Pies in: ders. u.a. (Hrsg.), F. A. v. Hayeks konstitutioneller Liberalismus, 2003, S. 1, 3 ff.; vgl.w. Eucken Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl. 2004, S. 300 f., zur Bedeutung dessen für die Wirtschaftsordnung der EU: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl., 2011, § 18 Rn. 4 f. 82 Brinkmann Ökonomik der Arbeit, Band 3, 1984, S. 87. 83 Zu letzterem: Beckemper Ökonomische Analyse der Täuschungsdelikte des Wirtschaftsstrafrechts, Habilitationsschrift Potsdam 2009, S. 355. 84 Brinkmann (Fn. 82), S. 99; ähnlich: Schäfer/Ott Ökonomische Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 107. 79
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zugeben, um die Realität an das Modell eines vollkommenen Marktes mit vollständiger Konkurrenz anzunähern.85 Hierzu zählt vor allem, Informationsasymmetrien zwischen den Marktteilnehmern möglichst abzubauen.86 Daraus folgt, dass das Wettbewerbsrecht es zu unterbinden hat, dass Waren oder Dienstleistungen aufgrund von unwahren Tatsachenangaben ausgetauscht werden.87 So nimmt es nicht wunder, dass Art. 5, 6 UGP-RL das Machen unwahrer Angaben kategorisch als unlautere Geschäftspraktik verbietet. Dies bietet auch einen Ansatz für die Interpretation des Betrugstatbestandes. Wörtlich zu nehmen ist hier weiterhin, dass jedes Vorspiegeln von Tatsachen bzw. das Unterdrücken oder Entstellten von Tatsachen eine Täuschung darstellt. Wörtlich zu nehmen ist ferner, dass von einem Betrug nur dann die Rede sein kann, wenn durch die Täuschung ein Irrtum erregt oder unterhalten wird. Der Kern des Begriffs des Irrtums besteht freilich in der unreflektierten positiven Fehlvorstellung. Eine solche hat auch derjenige, der im Unterschied zum Durchschnittsverbraucher auf eine plumpe Täuschung hereinfällt,88 wie es dem K im Ausgangsfall widerfahren ist. Hier sehe ich daher keinen Interpretationsspielraum, durch unionsrechtskonforme Auslegung den Betrugstatbestand einzuengen. Fehl geht insbesondere die These, der Marktwirtschaft sei ein gewisses Maß an Unwahrhaftigkeit inhärent.89 Nun mag dies als Realitätsbeschreibung noch taugen. Doch ist es ein naturalistischer Fehlschluss, hieraus Konsequenzen für eine restriktive Interpretation des Betrugsverbotes herzuleiten.90 Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Weil die Allokationseffizienz des Marktes an dessen Vollkommenheit gebunden ist, hierzu die möglichst umfassende und gleichmäßige Informiertheit aller Marktteilnehmer zählt, fordert eine Marktwirtschaft vielmehr das Verbot irreführender Werbung ebenso wie das Betrugsverbot. Anders liegt es, wenn jemand verfügt, obwohl er es für möglich hält, dass der Vermögensabfluss nicht kompensiert wird. Diese Konstellation lässt sich nicht ohne weiteres unter den Begriff „Irrtum“ subsumieren. Noch fraglicher ist es, ob die vorangegangene Täuschung diesen Irrtum „erregt“ hat, liegt der Grund, die Fehlvorstellungen für wahr zu halten, doch letztlich in der Einschätzung des Verfügenden selbst, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens gegenüber den Chancen des Geschäfts geringer geachtet zu haben.
85 Vgl. Eucken (Fn. 81), S. 291 ff.; ähnlich die komparative Institutionenökonomie, s. Schäfer/Ott (Fn. 84), S. 111 ff. 86 Schäfer/Ott (Fn. 84), S. 531. 87 Vgl. Lettl Der lauterkeitsrechtliche Schutz vor irreführender Werbung in Europa, 2004, S. 103. 88 Dazu auch: Beckemper (Fn. 83), S. 369. 89 Kühne Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, 1978, S. 7 ff., 62 ff. 90 Kritisch auch Hecker (Fn. 13), S. 260 f.
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Soweit es sich bei ihm um einen geschäftsfähige Person handelt, wird man in der Tat unserem Jubilar, dem diese Zeilen in einträchtiger Verbundenheit gewidmet sind, zustimmen, dass der Verfügende hier einen Impuls hatte, das vorgeschlagene Geschäft nicht abzuschließen. Die mit der Täuschungshandlung gesetzte Gefahr von Transaktionen aufgrund von fehlerhaften Informationen hat sich dann nicht realisiert. Das Marktgeschehen ist dadurch nicht unvollkommener geworden. Risiken und Chancen abzuwägen, gehört vielmehr zur eigenen Freiheit und Verantwortung der Person. Daher fehlt es hier und nur hier mangels Irrtums an einem Betrug.
OLAF im Spannungsfeld von Individualrechtsschutz und Effizienz1 Hans-Heiner Kühne I. Widmung Wann immer sich Schünemann wortmächtig in eine Debatte eingemischt hat, sind Probleme in aller Deutlichkeit ausgearbeitet worden. Nie war es seine Sache, feinsinnige Dogmatik zu nutzen, um zu verschleiern oder aber sich verschiedene Optionen offen zu halten, wie das in der Wissenschaft nicht unüblich ist. Daher haben seine Beiträge stets als Motor für eine gradlinige Diskussion gedient, in der intellektuelle Nebelkerzen die Sicht nicht weiter verdunkeln konnten. Zudem hat sich Schünemann auch nie gescheut, markante Forderungen unabhängig vom herrschenden Zeitgeist zu stellen. Für diese wissenschaftliche Aufrichtigkeit, verbunden mit einer Begeisterung für das gesprochene und geschriebene Wort, ist ihm das deutsche Strafrecht zu Dank verpflichtet. Gerne erstatte ich ihm mit diesem Beitrag einen Teil dieses verdienten Dankes persönlich, verbunden mit dem Wunsch, dass er sich auch in seinem nunmehr „gesetzteren“ Alter die Frische des Körpers und Geistes erhalten möge.
II. Einführung Eine ermittelnde Institution, die zum Schutze der finanziellen Interessen der EU auftritt, ist ohne jeden Zweifel von größter Notwendigkeit wie auch von hoher Bedeutung. Weder haben nationale Behörden ein starkes Interesse an der Verfolgung von Delikten zulasten der finanziellen Interessen der EU, da solche Taten ja die heimische Wirtschaft eher stützen, noch haben sie hinreichenden Zugang zu den komplexen Bedingungen tatsächlicher und rechtlicher Art, die mit der Vergabe von EU Mitteln verbunden sind, und deren Kenntnis für eine erfolgreiche Aufklärung solcher Taten erforderlich wäre. Andererseits wird nicht verkannt, dass die Unterschiedlichkeit mitgliedstaatlicher Interessen in Verbindung mit gewissen, vor allem im Straf- und Polizeirecht deutlich ausgeprägten Chauvinismen, eine vollständige oder auch nur hinreichende Regelung einer solchen Behörde nicht gerade erleich1
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tert. Deshalb verwundert es grundsätzlich nicht, wenn die Tätigkeitsbeschreibung von OLAF Regelungslücken aufweist. Wie sich jedoch im Folgenden herausstellen wird, bestehen solche Lücken in ganz zentralen Bereichen der Tätigkeit von OLAF, was so nicht akzeptiert werden kann. Diese nicht geregelten Bereiche betreffen im Wesentlichen den Schutz von Personen und Institutionen im Verlaufe von Ermittlungen. Damit bestätigt sich eine vor allem im Bereiche des Europäischen Rechts deutlich erkennbare Ungleichgewichtigkeit, die grundsätzlich Effizienz vor Rechtsschutz stellt. So ist die EGRCharta auch erst sehr spät in der Europäischen Rechtsentwicklung geschaffen worden, obwohl vor allem die Wissenschaft dies schon vor Dekaden angemahnt hatte. Immerhin hat die Rechtsprechung des EuGH in vielen Fällen die Einhaltung grundsätzlicher Individualrechtsgarantien angemahnt und umgesetzt. Andererseits führen diese Lücken auch zu möglichen Reduktionen der Effizienz von OLAF, wenn und soweit die Möglichkeiten, rechtmäßig Ermittlungshandlungen durchzuführen, nicht hinreichend klar definiert sind.
III. Rechtliche Natur der Tätigkeit von OLAF OLAF’s Tätigkeit ist letztendlich polizeiliche Ermittlungsarbeit, auch wenn immer wieder einmal behauptet wird, es handele sich um bloße administrative Tätigkeiten.2 Aber in Wirklichkeit geht es um die Bekämpfung von Betrug zulasten der EU, also um Straftaten, die aufgeklärt und an die zuständigen nationalen Staatsanwaltschaften zur weiteren Verfolgung abgegeben werden sollen. Auf diese Weise soll auch die Basis für entsprechende Rückforderungen, die am einfachsten mithilfe eines ausermittelten und rechtskräftigen Strafurteils geltend gemacht werden können, geschaffen werden. Dies ergibt sich deutlich nicht nur aus dem Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft vom 26.7.1995, sondern auch aus dem „Vorschlag zur Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rats über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtetem Betrug“ vom 11.7.2012 sowie der neuesten OLAF Richtlinie vom 18.9.2013 Nr. 883/2013. In allen diesen Dokumenten ist das Strafrecht zentraler Bezugspunkt. Auch die vom 1.10.2013 an geltenden „Guidelines on Investigation Procedures for OLAF Staff“ – auf die noch zurückzukommen ist – sprechen in Art. 6 von strafrechtlichen Ermittlungen. 2 So zuletzt noch KOM (2013) 533 endg. v. 17.7.2013, wo allerdings schon der Umwandlung von OLAF in eine wirkliche Ermittlungsinstitution der Europäischen Staatsanwaltschaft pro futuro Rechnung getragen wird.
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OLAF ist also eine strafrechtliche Ermittlungsbehörde, die nach herkömmlichem Verständnis kontinentalen Rechts entweder als Justizpolizei (police judiciaire) oder aber Polizeibehörde der Innenverwaltung im Auftrag der Staatsanwaltschaft platziert und organisiert wäre. Und hier fangen die Probleme an.
IV. Rechtsstaatliche Erfordernisse einer strafrechtlichen Ermittlungsbehörde 1. Die üblichen rechtlichen Bedingungen der Kontrolle Polizeiliche Ermittlungen im Strafrecht sind nur dann effizient, wenn sie in gewissem Rahmen auch Eingriffsbefugnisse in die Individualrechte Dritter erlauben, weil in der Regel in diesem Bereich eine freiwillige Kooperation der Verdächtigen nicht gegeben sein wird. Dazu bedarf es gesetzlicher Regelungen, da diese Rechte einem Gesetzesvorbehalt, mitunter auf der Ebene von Verfassungsrecht, der EMRK und der EGRCharta, unterliegen. Aus diesem Grunde sind nach kontinentaleuropäischer Rechtstradition jeweils gesetzliche Regelungen, meist als Teil der Strafprozessordnung, vorhanden, die die Ermittlungsbefugnisse der Polizei genau beschreiben und abgrenzen. Dieses Rechtsgebiet ist unerhört sensibel, weil sich in ihm die Essenz bürgerlicher Freiheit gegenüber der Macht des Staates dokumentiert. Daher verwundert es auch nicht, wenn aus diesem Bereich eine Vielzahl von Entscheidungen der nationalen Verfassungsgerichte, des EGMR und auch des EuGH stammen, die sich mit dem Konflikt von Macht und Freiheit bzw. Sicherheit und Freiheit auseinandersetzen und damit die Grenzen und Möglichkeiten polizeilicher Ermittlungen immer wieder neu definieren. Zudem sind diese Polizeieinheiten der Aufsicht und Kontrolle der Staatsanwaltschaft unterworfen, die dazu beitragen soll, dass schon eine tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Ermittlungsmaßnahmen ex ante erfolgt, um eine unnötige Einschränkung von Individualrechten zu verhindern. Bei besonders schweren Individualrechtseingriffen muss die Staatsanwaltschaft sogar eine richterliche Genehmigung einholen. Im Nachhinein sind dann alle Ermittlungsmaßnahmen ex post von den Betroffenen einer regelmäßig mindestens zwei Instanzen umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterworfen, die dann über die nationalen Grenzen hinaus bei den 47 Vertragsstaaten der EMRK bis zum EGMR führt. Diese Konzeption von staatsanwaltlicher ex ante und gerichtlicher ex post Kontrolle hat sich aus Gründen des Individualschutzes wie auch der der Effizienz von Ermittlungshandlungen bewährt und wird grundsätzlich nicht in Frage gestellt. All dies fehlt freilich bei OLAF.
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2. Kontrollmechanismen bei OLAF a) Zunächst fehlt es an einer gesetzlichen Regelung, die die Ermittlungsbefugnisse von OLAF beschreibt. Die „Guidelines on Investigation Procedures for OLAF Staff“ (jetzt neu mit Wirkung vom 1.10.2013) sind nur interne Verwaltungsanordnungen, die in Hinblick auf Ermittlungshandlungen weder den OLAF Bediensteten Rechte gegenüber Dritten einräumen, noch Rechte Dritter einzuschränken in der Lage sind. Die auf der Homepage von OLAF selbst aufgeführte Rechtsprechung des EuGH offenbart schon bei kurzem Einblick zweierlei. Zum einen wird erkennbar, dass erfreulicherweise auch die Ermittlungshandlungen von OLAF ex post einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Zum anderen ist unverkennbar, dass der EuGH hier OLAF sehr grundsätzliche Lektionen in Sachen Grundrechtsschutz erteilt. Anders gewendet heißt dies, dass den Mitarbeitern einschließlich des Generaldirektors von OLAF sowohl das rechtstaatliche Bewusstsein bei ihrem Handeln wie auch ein entsprechendes rechtliches Gerüst zur Beschreibung der Befugnisse fehlt. Die Gewährung von rechtlichem Gehör (Nikolaou), die Wahrung parlamentarischer Immunität (Rothley) oder das Erfordernis der Unparteilichkeit des Ermittlers (Camos Grau) sind nur einige Beispiele, bei denen der EuGH die Missachtung lang akzeptierter Rechtsgrundsätze und Verfahrensgarantien durch OLAF bestätigt hat. Es ist eher peinlich, wenn eine EU Behörde, die polizeilich-investigative Tätigkeiten ausübt, jeweils im Einzelfall über die wesentlichen Verfahrensgarantien der betroffenen Personen durch einen hierarchisch hoch angesiedelten Gerichtshof, den EuGH, aufgeklärt werden muss. Insofern ist die dort angeführte Rechtsprechung ein Beleg für die offensichtlichen rechtsstaatlichen Defizite von OLAF. Zugleich hat diese Situation zu einer Vielzahl von Rechtsverletzungen geführt, die in modernen Rechtsstaaten längst zur Vergangenheit gehören sollten und dies zumeist auch tun. OLAF hat sich im Lichte dieser Rechtsprechung in gewisser Weise als unbedarfter Lehrling im rechtsstaatlichen Kontext gezeigt, eine Rolle, die einer derart wichtigen Institution sicherlich nicht gut steht. b) Auch die Formulierung in der Richtlinie Nr. 883/2013 vom 18.9.2013 (dort Nr. 23) oder den Guidelines, dass die „fundamentalen Rechte von Personen“ berücksichtigt werden müssten, ist wenig hilfreich, sondern eher Ausdruck von Ratlosigkeit. Natürlich könnte ich auf nationaler wie auf europäischer Ebene den Gesamtbereich des in EMRK und EGRCharta erwähnten Individualrechtsschutzes durch einen einzigen Paragraphen erledigen, der heißen könnte: „Im Verfahren werden die legitimen Rechte der Betroffenen in Übereinstimmung mit der EMRK und der EGRCharta berücksichtigt.“ Das wäre aber ganz offensichtlich ein dramatischer Rück-
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schritt in Hinblick auf die komplexe Materie der strafverfahrensrechtlichen Individualrechtsschutz-Dogmatik und deren detaillierte Aufarbeitung durch nationale Fach- und Verfassungsgerichte, wie auch durch die Rechtsprechung von EGMR und EuGH. Insofern muss unbedingt auf europäischer Ebene das polizeiliche Ermittlungsrecht von OLAF durch eigenständigen Rechtsakt vollständig und unter Berücksichtigung insbesondere der Rechtsprechung von EGMR und EuGH erfolgen. Andererseits könnten im Rahmen eines solchen Verfahrensrechts auch ermittlungstechnische Eingriffsmöglichkeiten formuliert werden, die zurzeit OLAF entweder nicht zustehen oder deren Anwendbarkeit im Graubereich des Rechts verschleiert wird. So könnte man beispielsweise daran denken, begrenzte Möglichkeiten des Abhörens oder des Einsatzes verdeckter Ermittler einzuräumen. Solche Maßnahmen gehören heute zum allgemeinen Repertoire von Ermittlungsbehörden, und es ist grundsätzlich nicht einzusehen, warum OLAF sich ihrer nicht bedienen dürfen soll. Der Hinweis auf die Möglichkeit, die jeweils zuständigen nationalen Instanzen um die Anordnung solcher Maßnahmen zu ersuchen, ist hier kein Gegenargument. Im Bereich der EU Institutionen gilt eine solche nationale Anordnung nicht, weshalb es für diesen Bereich einer europarechtlichen Fixierung bedarf. Im Übrigen müsste sich OLAF in Ermangelung besonderer gesetzlicher Kooperationsvorschriften auf den mühseligen Weg der Rechtshilfe begeben. c) Die Kontrolle der Tätigkeiten von OLAF durch das Überwachungskomitee ist sehr begrenzt und enthält nur den allgemeinen Hinweis auf möglichen Rechtsschutz durch den EuGH (Art. 14). Im Übrigen ist das Komitee keine gerichtliche, sondern eine ausdrücklich politische Instanz, die zu allem Überfluss aus Bediensteten von OLAF besteht, die ihrerseits der Dienst- und Rechtsaufsicht des Generaldirektors unterstehen. Die Überprüfung der Verwaltungspraxis durch den Europäischen Ombudsmann ist auch keine wirkliche Rechtsprüfung, sondern nur eine letzte Zuflucht, die allerdings dadurch in ihrem Wert gemindert wird, dass der Ombudsmann weder in Gerichtsverfahren eingreifen, noch die Rechtmäßigkeit von Gerichtsentscheidungen in Frage stellen darf. Auch hat der Ombudsmann keine exekutiven Rechte. Gleichwohl hat der Ombudsmann mitunter die Ermittlungstätigkeit von OLAF gerügt. d) Die Möglichkeit nach Art. 90 II der Staff Regulations Beschwerde an den Direktor von OLAF einzulegen, stellt auch keine rechtsstaatlich bedeutsame Kontrolle dar. Da der Direktor selbst an den Ermittlungen beteiligt ist, zumindest aber mit seiner Entscheidung die Ermittlungen eröffnet oder beendet, ist er nicht mehr unparteiisch, wenn es um mögliches Fehlverhalten bei den Ermittlungen geht. Selbst wenn er in keiner Weise persönlich an den Ermittlungen Teil hätte, könnte er als Chef der Behörde nicht als wirklich
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unparteiisch angesehen werden und dürfte allenfalls im Rahmen einer Vorprüfung zu den Vorwürfen Stellung nehmen, diese abstellen bzw. für Kompensation sorgen, bevor ein wirklich unabhängiges Gremium über die Vorwürfe und ihre Begründetheit entscheidet, so wie es üblicherweise im Strafverfahrensrecht vorgesehen ist. e) Die Immunität von OLAF Mitarbeitern begrenzt Kontrollmöglichkeiten noch mehr, obwohl in der nationalen Justizpraxis Verfahren gegen Polizisten hohen Seltenheitswert haben. Gleichwohl ist OLAF die einzige ermittelnde Polizeibehörde in Europa, deren Mitglieder sich weder zivilrechtlich noch strafrechtlich zur Verantwortung ziehen lassen müssen. Dies ist im modernen Straf- und Polizeirecht ohne Beispiel. Vielmehr erinnert es an die Ausübung von Hoheitsrechten in längst vergangenen feudalen Staatsstrukturen. Auch eine Verantwortlichkeit nach den Staff Regulations, die nur dienstrechtlicher Natur sind, ersetzt die Notwendigkeit einer zivil- und strafrechtlichen Eigenverantwortung nicht. Die erforderliche Unabhängigkeit von OLAF Mitarbeitern gegenüber sowohl den Mitgliedstaaten als auch den Europäischen Behörden und Institutionen verlangt eine derartige Freistellung nicht. Auch auf nationaler Ebene ist die Unabhängigkeit der Polizei nicht durch die überall bestehende Möglichkeit, gerichtlich gegen die Beamten und Angestellten vorgehen zu können, eingeschränkt. Es ist zwar zuzugeben, dass bei OLAF durchaus unerwünschter Einfluss sowohl durch nationale wie Europäische politische Interessen zu befürchten sind. Auch wäre eine gerichtliche Kontrolle durch die jeweils betroffenen Mitgliedstaaten dysfunktional, weil nationale Gerichte ohne Systembruch nicht Handlungen Europäischer Behörden und ihrer Bediensteten beurteilen dürfen. Wenn aber schon die Rechtmäßigkeit von OLAF Ermittlungen vor dem EuGH überprüft werden kann, dann ist es nicht nachvollziehbar, warum dieses Europäische Gericht nicht auch über die strafrechtliche und/ oder zivilrechtliche Verantwortlichkeit der Bediensteten von OLAF entscheiden können soll. f) Die bereits erwähnte gerichtliche Überprüfungen der Rechtmäßigkeit von Ermittlungshandlungen von OLAF durch den EuGH ex post ist zwar grundsätzlich überaus begrüßenswert, erscheint jedoch in zweifacher Hinsicht als wenig glücklich und zielführend. Zum einen fehlt dem EuGH die spezifische fachliche Nähe zu den Problemen strafrechtlicher Ermittlungshandlungen. Zum anderen ist es sicher nicht ökonomisch, einen Gerichtshof wie den EuGH mit Aufgaben zu belasten, die in den kontinentaleuropäischen Systemen von der Staatsanwaltschaft bzw. vom einzelnen Ermittlungsrichter oder dem Juge des Libertés wahrgenommen werden, die alle zudem auf elaborierte nationale einfach-gesetzliche Regelungen zurückgreifen können.
OLAF zwischen Individualrechtsschutz und Effizienz
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Hier würde eine zu schaffende Europäische Staatsanwaltschaft gleichsam das Zwischenglied zwischen Polizei und Ermittlungsrichter darstellen und so den schwierigen Übergang der Befugnisausübung der Innenverwaltung in den Kontrollbereich der Justiz weitgehend reibungslos und vor allem rechtsstaatlich einwandfrei vonstatten gehen lassen. Damit wäre der ex ante Schutz vor rechtswidrigen Ermittlungshandlungen von OLAF verbessert. Zwar soll die Europäische Staatsanwaltschaft3 die jeweiligen nationalen Polizeiorganisationen,4 wenn auch aufgrund einer eigenen Befugnisliste besonderer Ermittlungsmaßnahmen,5 für Ermittlungszwecke nutzen. Insofern würde die Bedeutung von OLAF dramatisch abnehmen und nur noch, wie die Kommission formuliert, „eine erste Bewertung der vorliegenden Behauptungen vornehmen“ können und des Weiteren lediglich „auf Ersuchen der Europäischen Staatsanwaltschaft dieser Hilfestellung leisten“6 dürfen. Gleichwohl wäre in dem dann durchaus begrenzten Handlungsrahmen von OLAF eine staatsanwaltliche Kontrolle ex ante gegeben. Wie notwendig eine derartige Begrenzung in der Tat ist, lässt die Kommission beiläufig erkennen, wenn sie die Ausweitung von Verfahrensgarantien und eine institutionelle Stärkung der Gewährleistung dieser Garantien durch eine „Stelle zur Kontrolle der Verfahrensgarantien“ für erwägenswert hält.7
V. Zusammenfassung OLAF fehlt als in Strafverfahren ermittelnder Polizeibehörde sowohl (1) ein hinreichender und rechtlich geregelter Katalog von Ermittlungsbefugnissen, wie auch (2) eine strukturelle Einbindung, welche nach rechtsstaatlichen Grundsätzen eine Polizeiorganisation benötigt. Eine gewisse Hilfe würde die Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (3) bringen. Zu (1) Die bestehenden Richtlinien, einschließlich der neuesten vom 18.9.2013 sind in Hinblick auf die rechtliche Etablierung von Ermittlungsinstrumenten von OLAF unzureichend. Das mindert sowohl den erforderlichen Individualrechtsschutz der von Ermittlungen betroffenen Personen wie auch die Effizienz der Ermittlungen von OLAF selbst. Eine entsprechende Verfahrensordnung auf europarechtlicher Ebene ist unverzichtbar.
3 KOM (2013) 534 endg. v. 17.7.2013 (Legislativ-Vorschlag für die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft). 4 KOM (2013) 534 endg. v. 17.7.2013, Art. 18 I 2 VO-E EPPO. 5 KOM (2013) 534 endg. v. 17.7.2013, Art. 26 I VO-E EPPO. 6 KOM (2013) 533 endg. v. 17.7. 2013. 7 KOM (2013) 533 endg. v. 17.7. 2013.
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Hans-Heiner Kühne
Zu (2) Eine Polizeiorganisation, die weder einer staatsanwaltlichen noch einer ermittlungsrichterlichen Kontrolle unterworfen ist, ist nicht nur unvollständig, sondern auch ein Fremdkörper im System der Gewaltenteilung. Der Weg, Handlungen von OLAF direkt und allein gerichtlich über den EuGH zu kontrollieren, erscheint als äußerst unpraktikabel. Ein Ermittlungsrichter am EuGH sollte eingerichtet werden, um bei schweren Grundrechtseingriffen eine gerichtliche Prüfung ex ante zu ermöglichen. In der augenblicklichen, grundsätzlich von effektiven Kontrollmechanismen ex ante freien Situation, die noch durch die Immunität von OLAF Mitarbeitern verschärft wird, genügt OLAF grundsätzlichen rechtsstaatlichen Erfordernissen durchaus nicht. Zu (3) Hilfe würde hier die geplante Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft schaffen. Da aber die Vorschläge zur Einführung einer solchen Staatsanwaltschaft auf der 3260. Sitzung der Mitgliedssaaten nicht unerheblichen Vorbehalten ausgesetzt war,8 kann es noch eine geraume Weile dauern, bis der rechtsstaatswidrige Zustand von OLAF auf diese Weise beendet wird. Unmittelbare legislative Schritte zur Behebung dieser Mängel sind daher in der Zwischenzeit unverzichtbar.
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Näher Brodowski ZIS 2013, 455, 462.
Kein Liebesverbot für Brüssel und Straßburg – oder Gedanken zur europarechtsfreundlichen Auslegung im Strafrecht Klaus Tiedemann
Der verehrte Jubilar, mit dem ich mich seit langem freundschaftlich verbunden fühle, ist ein echter Braunschweiger, also begeisterter Anhänger des dortigen Fußballklubs mit dem verheißungsvollen Namen „Eintracht“, und vor allem ein durch und durch überzeugter Wagnerianer. Dass auch Letzteres genannt und hier hervorgehoben wird, ist nicht der Tatsache geschuldet, dass diese Gedanken im Wagner-Jahr 2013 niedergeschrieben, wenn auch erst 2014 gedruckt wurden. Vielmehr erklärt die Bewunderung für Richard Wagner Manches, vielleicht sogar Vieles im Wesen und Wirken des weltweit Berühmten, des rastlos Reisenden und überall Lehrenden, des Risse im Fundament des deutschen Strafrechtsgebäudes Sehenden und des deutsches Rechtsprechungsgestrüpp Lichtenden. Man weiß nicht genau, ob der Jubilar, selbst Autor des 1996 in Pegnitz uraufgeführten Bühnenstücks „Richard Wagners letzte Liebe“,1 sich für das „Liebesverbot“ des jungen Wagner erwärmen kann. Gewiss gefällt ihm aber sein „Liebesmahl der Apostel“ schon deshalb, weil zu dessen Inszenierung nicht weniger als zwölfhundert Sänger benötigt werden! Um ohne weitere Ausführungen zur Liebe in der Oper und zu Zahlen bei deren Aufführung sowie auch ohne die – leider zerstörte – Bayreuther Donnermaschine, die im Parsifal den Untergang von Klingsors Zauberreich besiegelte, zu dem schon erwähnten und immer noch greifbar existenten deutschen Gebäude des gesamten Strafrechts zurückzukehren, hat der Jubilar bekanntlich Flammen in dessen Gebälk ausgemacht,2 also nicht nur ein Glimmen oder Glühen, das nach Ansicht des Reichsgerichts ebenfalls bereits einen Brand darstellen, allerdings letztlich nur von einem (Brand-)Sachverständigen beurteilt werden könnte; denn lediglich „ein angezündetes Streich-
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Vgl. T. Walter Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, 1999, S. VII Fn. 8. Schünemann Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren, ZIS 2009, 484. Weniger flammend sieht der Jubilar im materiellen Strafrecht nur „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“ (Leipziger Kommentar StGB/ders., 12. Aufl. 2007, § 26 Rn. 71 a.E.). 2
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Klaus Tiedemann
hölzchen oder ein gewöhnliches Ofenfeuer“ ist nach Ansicht des RG „jedem Menschen von einiger praktischen Lebenserfahrung, also präsumtiv auch dem Strafrichter,“ einsichtig ein Brand.3 Dazu bleibt anzumerken, dass der Jubilar, der sich mehrfach zu dem Evidenzargument geäußert hat, auch trotz seiner bekannten Konnexion mit Ulan Bator, dem früheren Urga, sicher nicht die Lehre des mongolischen Staatsschamanen Byambadorj teilt, der auf dem Freiburger Mundenhof sagte: „Wo Feuer ist, ist Leben“ 4 – eine im europäischen Kulturkreis ebenfalls verbreitete, von Gaston Bachelard in seinem schönen Buch „Le feu et les songes“ in der von unserem Jubilar so geliebten Sprache der westlichen Nachbarn ausgebreitete Idee, hinter der sich natürlich die Vision eines Neubeginns verbirgt, ohne dass im Einzelnen nach der Brandursache (Brandstiftung, Selbstentzündung, Blitzschlag, Fahrlässigkeit der Bewohner oder der Handwerker usw.) gefragt würde.
I. Themenumschreibung Die folgenden Gedanken zur europarechtsfreundlichen Auslegung im Strafrecht, die den Jubilar schon vor mehr als zehn Jahren beschäftigt hat,5 knüpfen auch an seine frühen, leider nur auszugweise veröffentlichten methodologischen Untersuchungen zu den „Vier Stufen der Rechtsgewinnung“ (1974) an, wollen aber keine systematisch-vollständige Analyse des Verhältnisses von Europarecht und Strafrecht bieten.6 Ausgeklammert bleibt der direkte Einfluss der Europäischen Union (EU) auf die Vornahme von Reformen der nationalen Gesetzgeber. Nur gestreift wird das Spezialproblem der Nichtumsetzung und verspäteten Umsetzung von EU-Richtlinien durch einzelne Mitgliedstaaten.7 Einzubeziehen und schon wegen der zeitlichen Abfolge voranzustellen ist dagegen mit der aus Raumgründen gebotenen Kürze das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum nationalen Straf- und Strafprozessrecht, neuerdings ergänzt um die schwierige und noch weitgehend ungeklärte Beziehung der EU-Charta der Grundrechte zum nationalen Recht.
3
RGSt 25, 327. Badische Zeitung v. 5.12.2011 S. 27. 5 Schünemann Ein Gespenst geht um in Europa, GA 2002, 501, 502. 6 Neueste Gesamtübersicht bei Rönnau/Wegner Grund und Grenzen der Einwirkung des europäischen Rechts auf das nationale Strafrecht, GA 2013, 561 ff. 7 Dazu Rönnau/Wegner GA 2013, 561, 566 f.; Satzger in: Sieber et al. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 9 Rn. 54; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 82, je m.N. 4
Kein Liebesverbot für Brüssel und Straßburg
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II. Rezeption der EMRK in Deutschland Hinsichtlich der EMRK ergibt sich ein Geltungsvorrang nach Kollisionsregeln zunächst nur aus ihrer Einordnung als lex posterior und lex specialis, da die Konvention in Deutschland nach h.M. einfaches Gesetzesrecht darstellt.8 Wegen des völkerrechtsfreundlichen Souveränitätsverständnisses des Grundgesetzes (GG) schließt dieselbe h.M. aber darüber hinaus gehend auf ein Gebot konventionskonformer Auslegung des gesamten deutschen Rechts einschließlich der Verfassung selbst.9 Sie gilt daher als relative Vorzugsregel, die den alten Streit um die Reihung der Auslegungstopoi teilweise überspielt.10 Die Einzelheiten des Einflusses der EMRK auf die deutsche Strafrechtsprechung (und Strafgesetzgebung) sind schon früh von Kühl untersucht worden.11 Danach ist dieser Einfluss im Bereich des Strafprozessrechts von besonderem Gewicht, wie ja auch bei der Einwirkung des Verfassungsrechts auf das einfache Recht das Verfahrensrecht im Vordergrund steht.12 Methodische Klarheit zu dem Einfluss der Konvention auf das deutsche Straf- und Strafprozessrecht hat die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebracht, etwa in dem Urteil des 2. Senats vom 4. Mai 2011 zur Sicherungsverwahrung. Darin zieht der Senat aus dem Vertragscharakter der Konvention den Schluss, es gehe nicht um eine einseitige Einwirkung des Vertragsinhalts auf das nationale Recht, sondern um einen aktiven Vorgang der Rezeption durch die aufnehmende Rechtsordnung, die in der Wahl ihrer Mittel frei bleibt und nur das Ergebnis einer Konventionsrechtsverletzung vermeiden muss.13 Diese Betonung der eigenschöpferischen Tätigkeit des nationalen Rechtsanwenders impliziert die Vorstellung von der anpassenden Aufnahme fremden Gedankenguts, das nicht oktroyiert, sondern freiwillig entgegengenommen und in das eigene Rechtssystem eingefügt wird.14 Treffend spricht der Jubilar von „einer Art weichen Vorrangs“ der EMRK,15 8 BVerfGE 111, 317; LK/Dannecker, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 6; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 3 Rn. 16, je m.w.N. 9 BVerfGE 128, 367 ff.; Kühl ZStW 100 (1988), 601, 624 ff.; LK/Weigend, 12. Aufl. 2007, Einl. Rn. 86. 10 Hecker Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 10, 28 m.w.N., insbes. Satzger Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 532 und Chr. Schröder Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 353 f. – Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 3 Rn. 17 sprechen treffend von einem „regulativen Prinzip“. 11 Kühl ZStW 100 (1988), 406, 425 ff., 601, 610 ff., 641 ff. 12 Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 59; näher Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 2 Rn. 1 ff. 13 BVerfGE 128, 370 ff. m.N. zur übereinstimmenden EGMR-Rechtsprechung. 14 Zum Rezeptionsgedanken bereits Tiedemann JuS 1965, 14, 20 und nunmehr ders. FS Hurtado Pozo, 2012, S. 495, 496 ff. 15 Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 3 Rn. 16 a.E.
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deren Einfluss auf das nationale Recht nach der Verfassungsrechtsprechung dort endet, wo die konventionsfreundliche Auslegung „nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung … nicht mehr vertretbar erscheint.“16 Im konkreten Fall der Beurteilung der Sicherungsverwahrung vermied der Senat eine Auseinandersetzung mit der Ansicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), es gehe nach der Wirkung dieser Maßregel in Wahrheit um eine Strafe,17 und prüfte die vom Gerichtshof hervorgehobenen Aspekte im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach deutschem Verfassungsrecht.18 Das höchste deutsche Gericht wahrte so seine eigene Forderung, den Gehalt der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR „möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen.“19
III. EU-Recht und nationales Strafrecht Während insbesondere die Garantien des Art. 6 EMRK dem Gedankengut des englischen Parteiprozesses entstammen, aber vom EGMR autonom ausgelegt werden, ist das von der EU ausgehende (Sekundär-)Recht ein aus vielen nationalen Quellen gespeistes Amalgam, das in Gestalt von (unmittelbar geltenden) Verordnungen und (umsetzungsbedürftigen) Richtlinien auf das nationale Strafrecht einwirkt. Daneben und vorab beeinflussen die Grundfreiheiten des EU-Primärrechts, vor allem die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs (Art. 26 Abs. 2, 34 ff., 56 ff. AEUV), in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Anwendung der nationalen Straftatbestände, die bei Unvereinbarkeit mit diesen Garantien „neutralisiert“, nämlich unanwendbar werden können.20 Insgesamt folgt aus dem hohen Rang des EU-(Primär- und Sekundär-) Rechts in der Normenhierarchie ein Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Straf- und Strafprozessrechts. Sie kann sich auf Art. 4 EUV und Art. 291 AEUV stützen und wird sich methodisch an der seit längerem bekannten verfassungskonformen Auslegung orientieren,21 findet also wie diese ihre Grenze am möglichen Wortsinn und Zweck des einfachen Rechts.22 Damit ist vorausgesetzt, dass überhaupt ein Auslegungsspielraum besteht, innerhalb dessen aber die unionsrechtskonforme ebenso wie die ver-
16 17 18 19 20 21 22
BVerfGE 128, 371 m.N. EGMR, Urt. v. 17.12.2009, M ./. Deutschland, NJW 2010, 2497 f. Rn. 120 ff. BVerfGE 128, 371 f. m.N. BVerfGE 128, 371 m.N. Zusammenfassend Tiedemann (Fn. 7), Rn. 143 m.N. Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 28; Satzger (Fn. 7), § 9 Rn. 53. Satzger (Fn. 7), § 9 Rn. 52 und 58 m.N.
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fassungs- und völkerrechtliche Auslegung nach richtiger Auffassung Vorrang genießt; der Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) wendet sich verbindlich nicht nur an die Mitgliedstaaten als solche, sondern auch an ihre Amtswalter, also auch an den Strafrichter.23 1. Restriktion von Täuschung und Irreführung im Betrugsstrafrecht Hervorhebung verdient, dass bei der (Unterform der) richtlinienkonformen Auslegung nicht nur das auf der nationalen Umsetzung der Richtlinie beruhende, sondern das gesamte in ihren Anwendungsbereich fallende, auch frühere (Straf-)Recht mit Blick auf die Richtlinie zu interpretieren ist.24 Hierauf fußt die neuere Diskussion um eine einengende Handhabung des Täuschungsbegriffs im deutschen Betrugstatbestand mit Blick auf die EGRichtlinie 2005/29 „über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern“. Sie legt ebenso wie schon die Werberichtlinie 84/450/EWG vom 10.9.1984 und die Rechtsprechung des EuGH ein Leitbild des aufmerksamen und verständigen Verbrauchers zugrunde. Die generelle Inkriminierung von Werbung gegenüber flüchtigen oder leichtsinnigen Verbrauchern durch § 16 UWG, aber auch durch § 263 StGB stellt nach vordringender Ansicht einen Verstoß gegen Unionsrecht dar: Die Richtlinie von 2005 bezweckt eine Vollharmonisierung der nationalen Rechtsordnungen auch für die Werbung im nationalen Bereich, betrifft also nicht etwa – wie die Waren- und Dienstleistungsverkehrsfreiheit – nur grenzüberschreitendes Werbeverhalten.25 Der BGH hat in Zivilsachen das EULeitbild des verständigen Verbrauchers alsbald für das nationale Werberecht übernommen und adressatenbezogen konkretisiert; er stellt seither auf den „durchschnittlich informierten, verständigen und situationsadäquat aufmerksamen Verbraucher“ ab,26 und das die Richtlinie von 2005 umsetzende neue UWG geht in § 3 Abs. 2 von demselben Leitbild aus. Zwar werden gemäß § 4 Nr. 2 UWG (und Erwägungsgrund 19 der EG-Richtlinie 2005/29) auch Leichtgläubige geschützt, aber nur als Zielgruppe einer Werbung, die sich gerade an solche Adressaten wendet (§ 3 Abs. 2 Satz 3 UWG), deren Mangel also bewusst ausnutzt. Entsprechendes gilt für den Straftatbestand der irre-
23 BGHSt 37, 175 (3. StrS) m.N.; EU-Kommentar/Hatje, 3. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn. 48 m.N.; Satzger (Fn. 7), § 9 Rn. 55; a.A. Dannecker JZ 1996, 869, 873 und Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 25 ff, je m.w.N. 24 Dannecker FG BGH, 2000, Bd. IV, S. 339, 365; Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 10; Tiedemann (Fn. 7), Rn. 82, je m.w.N. 25 Ruhs FS Rissing-van Saan, 2011, S. 567, 572; Vergho Der Maßstab der Verbrauchererwartung im Verbraucherschutzstrafrecht, 2009, 48, je m.N. 26 BGH GRUR 2000, 620 „Orient-Teppich“.
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führenden Werbung (§ 16 Abs. 1 UWG),27 und es wäre eine schwerlich vertretbare Inkonsequenz, ein Werbeverhalten, das nach UWG zulässig und straflos ist, als Täuschung im Sinne des Betrugstatbestandes zu bewerten.28 Ein Strafschutz Leichtgläubiger durch § 263 StGB auch im Werbebereich scheint bei rein nationaler Bewertung freilich auf den ersten Blick deshalb möglich zu sein, weil das UWG auf die Eignung zur Irreführung abstellt und damit einen im wesentlichen mit der Adäquanz identischen engeren und strengeren Maßstab anlegt, der entgegen den vom 4. und vom 5. Strafsenat des BGH eher beiläufig gewählten Definitionen nicht mit der üblichen Auslegung der Täuschung beim Betrug identisch ist.29 Da es in den von diesen Senaten behandelten Fällen aber um das Täuschungsverhalten gegenüber einer Vielzahl von Personen bzw. um die Übung aller Bankangestellten als Erklärungsadressaten ging, war das generalisierende Heranziehen der Täuschungseignung in der Sache durchaus zutreffend. Insgesamt wäre es damit im System des Strafrechts mit Blick auf die Publikumswerbung wenig sinnvoll, das leichtere Delikt (§ 16 UWG) zu verneinen und das schwerere (§ 263 StGB) zu bejahen. Allein das Irrtums- und Schadenserfordernis bei letzterem erklärt die Diskrepanz nicht, da das UWG immerhin – nach BGHSt 52, 237 sogar primär – die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher über ihr Vermögen schützt, also vermögensrechtlichen Vorfeldschutz bezweckt.30 Die Beeinträchtigung dieser Freiheit gilt etwa im französischen Strafrecht durchaus als Betrugsschaden,31 im deutschen allerdings nur im Rahmen des sog. persönlichen Schadenseinschlags, dort aber ebenfalls mit dem Maßstab des vernünftigen Wirtschafters.32 Weil Werbung bereits in der EWG-Richtlinie über irreführende Werbung von 1984 als „Äußerung bei der Ausübung eines Handels … mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen … zu fördern“, definiert und auch die Täuschung beim Betrugstatbestand von der h.M. als Erklärung verstanden wird,33 ferner der Begriff der Unwahrheit in § 16 UWG und § 263 StGB identisch ist,34 schließlich die EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken von 2005 unwahre
27
Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Besonderer Teil, 3. Aufl. 2011, Rn. 220 m.w.N. Hecker (Fn. 10), § 9 Rn. 33 ff.; Rönnau/Wegner GA 2013, 559, 565 f.; Matt/Renzikowski/Saliger StGB, 1. Aufl. 2013, § 263 Rn. 6 und 109; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. 2013, § 9 Rn. 105 und in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB, 1. Aufl. 2009, § 263 Rn. 68; LK/Tiedemann, 12. Aufl. 2012, Vor § 263 Rn. 40; Wohlers/Kudlich ZStW 119 (2007), 366, 368 f., je m.w.N. 29 Vgl. BGHSt 46, 199 und 47, 5; dazu Tiedemann (Fn. 27), Rn. 2b und LK/Tiedemann (Fn. 28), § 263 Fn. 46 m.N. auch zu entsprechenden Literaturmeinungen. 30 Tiedemann (Fn. 27), Rn. 217 m.N. 31 Vgl. LK/Tiedemann (Fn. 28), Vor § 263 Rn. 66 m.N. 32 BGHSt 16, 326; LK/Tiedemann, 12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 177 m.N. 33 Zusammenfassend LK/Tiedemann (Fn. 32), § 263 Rn. 4 m.N. 34 Tiedemann (Fn. 27), Rn. 218 m.N. 28
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Angaben als stets irreführend bezeichnet (ebenso § 5 Abs. 1 S. 2 1. Alt. UWG), gilt die Risikoabgrenzung der Freiheitssphären von Werbendem und Umworbenen bei Werbeaussagen nach richtiger Ansicht auch für den Täuschungsbegriff des Betrugstatbestandes. Im Einzelnen sind und bleiben ausdrückliche unwahre, nämlich mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Angaben (wie im Zellwollhosen-Fall BGHSt 16, 220 und im Haarverdicker-Fall BGHSt 34, 199) nach § 263 StGB strafbar, es sei denn der Durchschnittsverbraucher erkenne die Unwahrheit. Liegt keine ausdrückliche Falschangabe vor, so kann sich die Täuschung aus der mit dem Verkehrsmaßstab des aufmerksamen und vernünftigen Verbrauchers zu ermittelnden Konkludenz, aber auch aus der planmäßig ausgenutzten „mangelnden Aufmerksamkeit in geschäftlichen Dingen“ der Zielgruppe (wie im Traueranzeigen-Fall BGHSt 47, 1) ergeben und nach dem Gesamteindruck zugleich die Irreführung im Sinne des § 16 Abs. 1 UWG begründen (wie im Gewinnspiel-Fall BGHSt 52, 227 angenommen wurde). Europarechtlich wäre damit ein genereller Strafschutz Leichtgläubiger nur haltbar, wenn er durch zwingende Gemeinwohlinteressen erfordert würde (vgl. Art. 36 AEUV). Davon kann aber nicht die Rede sein, wie ein Blick auf vergleichbare Wirtschafts- und Strafrechtsordnungen in der EU, z.B. Frankreich, Italien, Portugal und Spanien mit jeweils qualifizierten Täuschungshandlungen – auch unter Berücksichtigung ergänzender Sondertatbestände – zeigt. Selbst Strafrechtssysteme, deren Täuschungsbegriffe im Prinzip mit § 263 StGB übereinstimmen (Dänemark, Großbritannien, Griechenland, Österreich, Schweden), kennen zusätzliche gesetzliche oder interpretatorische Restriktionen, die den deutschen Betrugstatbestand in seiner bisherigen Auslegung durch die Rechtsprechung als besonders weitgehend erscheinen lassen. Der Jubilar dürfte über seine viktimodogmatische Lehre zu einem ähnlichen Ergebnis des restriktiven Täuschungsbegriffs für Werbeaussagen gelangen. Übrigens geht es methodisch nicht nur um die Behandlung von Werbung im Rahmen des Betruges. Ein ganz paralleles Problem stellt sich bei dem täuschenden Inverkehrbringen von minderwertigen Lebensmitteln (z.B. geschöntem „Gammelfleisch“) nach § 59 Abs. 1 Nr. 9 in Verbindung mit § 11 Abs. 2 Nr. 2 c LFGB.35 Auch hier gilt der Beurteilungsmaßstab des durchschnittlich informierten, aufmerksamen sowie verständigen Verbrauchers,36 und zwar auch für den tateinheitlich verwirklichten Betrugstatbestand.37
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Dazu Bülte/Krell StV 2013, 713, 717 ff. m.N. Dannecker in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002, S. 239, 244 f.; Tiedemann (Fn. 27), Rn. 544, je m.w.N. (dort Rn. 549 auch zum Weinund Rn. 630 zum Markenstrafrecht). 37 LK/Tiedemann (Fn. 32), § 263 Rn. 37. 36
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2. Analyse der strafrechtlichen BGH-Rechtsprechung Die deutschen Strafgerichte handhaben die unionsrechtskonforme Auslegung im Einzelnen bisher meist vorsichtig, teilweise auch betont zurückhaltend – was durchaus der relativen Neuheit dieses methodischen Instruments entspricht. a) Restriktive Tendenzen So äußerte der 3. Strafsenat des BGH in seinem Al Qaida-Urteil 38 „Bedenken“ gegenüber einer „europarechts-freundlichen“ Interpretation des Vereinigungsbegriffs in §§ 129 ff. StGB, die das OLG Düsseldorf als Vorinstanz befürwortet hatte: Die Notwendigkeit einer Abgrenzung zur Bande und zu nur mittäterschaftlichen Zusammenschlüssen spreche gegen die Ausweitung des bisher gebräuchlichen Vereinigungsbegriffs durch Rückgriff auf einschlägige EU-Rechtsakte, da der Strafgrund erhöhter Gefährlichkeit einer Vereinigung wegen ihrer Eigendynamik typischerweise nur bei besonderen Organisationsstrukturen und Formen der (Gruppen-)Willensbildung zutreffe. Mit dieser teleologischen und systematischen Auslegung teilt der Senat also keineswegs prinzipiell die im Schrifttum gelegentlich geäußerte Ansicht, dass Europarecht nicht zu einem strafbarkeitserweiternden Auslegungsergebnis führen dürfe.39 Allerdings wird gegen den BGH in der Kommentarliteratur richtig eingewandt, dass der im EU-Rechts angesichts neuer kriminologischer Formen des Terrorismus weitere Vereinigungsbegriff auf § 129a StGB beschränkt werden könnte, so dass dieser Straftatbestand selbständigen Charakter erhielte und nicht mehr als Qualifikation des § 129 StGB einzuordnen wäre.40 Da ein extensives Verständnis des Vereinigungsbegriffs bei § 129a StGB das Analogieverbot nicht verletzen würde, lehnt der 3. Strafsenat der Sache nach (nur) die Anerkennung der europarechtsfreundlichen Auslegung als Vorrangregel ab. Im Ergebnis ähnlich hat der 2. Strafsenat des BGH in seinem Siemens/ ENEL-Urteil 41 die Annahme des LG Darmstadt verworfen, der Wettbewerbsbegriff des § 299 StGB habe bereits vor Ergänzung dieser Vorschrift durch den heutigen Absatz 3 (im Jahre 2002) auch den Wettbewerb im EUAusland umfasst. Der Senat stellte vor allem darauf ab, dass die Gemeinsame Maßnahme des Europäischen Rates von Ende 1998 „betreffend die Be-
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BGHSt 54, 120 f. Rn. 120. Dazu treffend Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 60 und Satzger Europäisches Strafrecht (Fn. 28), § 9 Rn. 91, je m.w.N. 40 So LK/Krauß, 12. Aufl. 2009, § 129a Rn. 26 m.N. 41 BGHSt 52, 340 f. Rn. 53 ff.; dazu einerseits Rönnau JZ 2007, 1084, 1088 f., andererseits LK/Tiedemann, 12. Aufl. 2008, § 299 Rn. 64. 39
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stechung im privaten Sektor“ für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich war, eine entsprechende Verpflichtung vielmehr erst durch den Rahmenbeschluss vom 22.7.2003 eingeführt wurde (und in Deutschland auf den wegen des Korruptionsübereinkommens des Europarats von 1999 geschaffenen, nach der Gesetzesbegründung „klarstellenden“ § 299 Abs. 3 StGB stieß). Selbst den Rahmenbeschluss erklärte allerdings der Jubilar für nicht verbindlich.42 – Der 2. Strafsenat hielt eine richterrechtliche Ausweitung des Wettbewerbsbegriffs „ohne gesetzliche Grundlage“ wegen des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG für „bedenklich“, zumal auch die Finanzverwaltung von einem „den § 299 Abs. 2 StGB einschränkenden Verständnis“ ausging. (Allerdings hatte derselbe Senat 2004 in seinem Bundesbahn-Urteil BGHSt 49, 214, 229 gegen die Ansicht des Generalbundesanwalts keine „verfassungsrechtlichen Bedenken“ gegenüber „einer weiten Auslegung des Wettbewerbsbegriffs“ im rein nationalen Bereich geäußert.) In Rn. 55 des Siemens/ENEL-Urteils gelangt der Senat sogar zur Behauptung eines Verbots EU-konformer Auslegung durch die Strafgerichte vor Inkrafttreten des § 299 Abs. 3 StGB. Auf eine ausführliche Kritik dieser Ansicht soll hier verzichtet werden, da die Besonderheiten der „Gemeinsamen Maßnahme“ heute nur noch von historischem Interesse sind. Zu rügen ist jedoch die Statuierung eines Grundsatzes, dass bei Reformarbeiten mit noch ungewissem Ausgang die strafrichterliche Auslegung einem stand-still-Gebot unterliege. Ebenso übersieht der Senat, dass bei der unionsfreundlichen Auslegung nicht nur auf einen bestimmten Rechtsakt der EU, sondern auf ihre Rechtsordnung insgesamt abzustellen ist,43 und diese räumt dem europäischen Wettbewerb bekanntlich einen ganz herausragenden Platz ein (vgl. Art. 81 ff. EGV und nunmehr Art. 101 ff. AEUV). Es darf heute als anerkannt gelten, dass Rechtsgüter und Schutzzwecke der Straftatbestände einer unionsrechtsfreundlichen Auslegung zugänglich sind, soweit der nationale Strafgesetzgeber nicht den Anwendungsbereich eindeutig auf deutsche Interessen beschränkt.44 Daher hat der 5. Strafsenat des BGH schon im Jahre 1993 das schwedische Versicherungssystem zutreffend dem Strafschutz des § 265 StGB unterstellt.45
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Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 3 Rn. 19. Satzger (Fn. 10), S. 553 f. m.N. 44 Satzger Europäisches Strafrecht (Fn. 28), § 9 Rn. 100; LK/Werle/Jeßberger, 12. Aufl. 2007, Vor § 3 Rn. 285. 45 BGH wistra 1993, 225. Vgl. auch BayObLG NJW 1980, 1057 f. mit Bespr. Oehler JR 1980, 485, 486 f. zu § 274 StGB. 43
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b) Europarechtsfreundliche Tendenzen Europarechtsfreundlich hat sich der 5. Strafsenat auch bereits in dem bekannten Pyrolyse-Fall gezeigt,46 als er den umweltstrafrechtlichen Abfallbegriff des § 326 StGB mit Blick auf „zur Tatzeit geltende Richtlinien“ auf recycelbare Stoffe und Gegenstände ausdehnte, wenn die wirtschaftliche Wiederverwendung erst nach Entsorgung der gefährlichen Sache (verunreinigtes Pyrolyseöl), nämlich Trennung des Wasser/Ölgemisches von darin enthaltenen Furanen und Dioxinen, möglich ist. Nur zusätzlich berief sich der Senat allerdings auf EWG-Richtlinien, um das durch „normale“ Auslegung des Straftatbestandes „in enger Anlehnung an § 1 Abs. 1 AbfG“ gewonnene Ergebnis abzusichern. Auch wies er ausdrücklich darauf hin, dass der Gedanke der Abfallverwertung „erst nach der Tat neu in das [Abfall-] Gesetz aufgenommen“ wurde. Dies ist zwar eine außerstrafrechtliche Milderung, zu der erst das 1996 an die Stelle des alten Abfallgesetzes getretene Kreislaufwirtschaft- und Abfallgesetz klarstellte, dass „Abfälle zur Verwertung“ nicht unter § 326 StGB fallen, aber nur solche Abfälle sind, die „tatsächlich konkret verwertet werden, nicht bereits solche, bei denen eine einseitige Widmung zu irgendeiner Art von Verwertung seitens des Besitzers vorliegt oder eine abstrakte Verwendungs- und Verwertungsmöglichkeit besteht.“47 Es ist durchaus nachvollziehbar, dass das LG Braunschweig als Vorinstanz einen für den strafrechtlichen Abfallbegriff entscheidenden subjektiven Entledigungswillen der angeklagten Geschäftsführer bei beabsichtigter Wiederverwertung für zur Tatzeit, die eine Lagerung auf dem Firmengelände betraf, nicht feststellbar hielt. Das BGH-Urteil von 1991 hat demgegenüber in der Sache zwar nach heutiger Beurteilung das rechtlich Richtige getroffen, dies aber mit in gesetzgeberischer Vorbereitung befindlichen Rechtsgedanken und mehreren Urteilen des EuGH begründet, die erst 1990 und damit nach der Tat ergangen waren. Entgegen dem ersten Anschein war somit die europarechtliche Auslegung für den 5. Strafsenat, der den Freispruch des Landgerichts aufhob, durchaus entscheidend. Gleiches gilt für die restriktive Behandlung der Privilegierung von Rechtsanwälten bei der Geldwäsche (§ 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB) durch den 1. Strafsenat des BGH,48 der die Begründung zur 2. Geldwäsche-Richtlinie zitiert und übernimmt. Dies ist im Jahre 2010 und bei einem auf internationale Vorgaben, u.a. auf die 1. Geldwäsche-Richtlinie von 1991 gestützten, neuen Straftatbestand nahezu selbstverständlich.
46 BGHSt 37, 336 m. Anm. Horn JZ 1991, 886 f. und Sack JR 1991, 338 ff.; zust. Fischer StGB, 61. Aufl. 2014, § 326 Rn. 10 m.N.; dazu auch Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 56 ff. m.w.N. 47 LK/Steindorf, 11. Aufl. 2005, § 326 Rn. 42. 48 BGHSt 55, 54 Rn. 77 m. Bespr. Rübenstahl/Stapelberg NJW 2010, 3692; dazu Tiedemann (Fn. 27), Rn. 293.
Kein Liebesverbot für Brüssel und Straßburg
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Eindeutig europarechtsfreundlich ist auch die Rechtsprechung zum Nebenstrafrecht, soweit dessen Neuerungen auf EU-Richtlinien beruhen: Die Tatbestände des Insiderhandels(missbrauchs) und der Marktpreismanipulation (§ 38 Abs. 1 und Abs. 2 WpHG) sind vor allem in Fällen des sog. Scalping und der Veröffentlichung falscher Quartals- oder Halbjahreszahlen, der vertraulichen Weitergabe von Fusionsabsichten usw. vom 1., 2., 4. und 5. Strafsenat in richtlinienkonformer Auslegung gehandhabt worden.49 Nach der sachkundigen Einschätzung Vogels werden „die Verbote von Insidergeschäften und der Marktmanipulation … mehr und mehr durch EuGH-Rechtsprechung beherrscht.“50 Das ist im Sinne einer Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen zutreffend und zu begrüßen. 3. Insbesondere die europarechtsakzessorischen Straftatbestände Eine Sonderkategorie bildet die Behandlung europarechtsakzessorischer Straftatbestände, die Erklärungs-, Abgabe- und Beitragspflichten schützen. Soweit das Unionsrecht solche Pflichten sperrt, geht es nicht so sehr um eine europarechtskonforme Auslegung des Strafrechts als vielmehr um die Anwendung des Europarechts bereits im nationalen Beitragsrecht (usw.): Der 3. Strafsenat des BGH bezeichnete es im Jahre 1990 im Einklang mit der „ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften“ als geboten, die von Deutschland nicht fristgemäß umgesetzte Umsatzsteuer-Richtlinie zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen und daher für Kreditvermittlungen keine Umsatzsteuerpflicht und folglich bei Nichtanmeldung und Nichtzahlung auch keine Steuerhinterziehung nach § 370 AO anzunehmen.51 Ähnlich lässt nach einem 2006 ergangenen Urteil des 1. Strafsenats die E 101-Entsendebescheinigung portugiesischer Sozialversicherungsträger nach der sog. Wanderarbeiter-Verordnung (in Verbindung mit den Durchführungs-Verordnungen) das deutsche Sozialversicherungsrecht und damit § 266a StGB unanwendbar werden.52 Der Senat beruft 49 BGHSt 37, 111 ff.; 41, 216; 48, 378 ff. „Sascha Opel“ m. Anm. Kudlich JR 2004, 191, Schmitz JZ 2004, 526 und Vogel NStZ 2004, 253; 49, 389 „Haffa“ m. Anm. Ransiek JR 2005, 161. Dazu näher Tiedemann (Fn. 27), Rn. 360 ff., 382 ff. m.w.N. (zu instanzgerichtlichen Urteilen Rn. 370); ferner BGH AG 1997, 41; BGH JZ 2010, 367 ff. m. Anm. Vogel. 50 Vogel in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 38 Rn. 3 m.N. – Ebenso für das Bilanzstrafrecht Schüppen Systematik und Auslegung des Bilanzstrafrechts, 1993, 194 m.N. 51 BGHSt 37, 175. Vgl. auch BGH IStR 2000, 359 ff. mit Vorlage an den EuGH im Fall der „Drei Tenöre“ (Pavarotti, Domingo und Carreras), dessen Urteil (EuGH, Urt. v. 3.4.2003, Strafverfahren gegen Matthias Hoffmann, IStR 2003, 309 ff.) zum Freispruch des Konzertveranstalters Hoffmann wegen Umsatzsteuerhinterziehung führte. 52 BGHSt 51, 132 ff. Rn. 22 ff. m. Anm. Hauck NStZ 2007, 221 und Schulz NJW 2007, 235; Bespr. Rübenstahl NJW 2007, 3538, Zimmermann ZIS 2007, 407 und Wank EUZW 2007, 300. Zust. LK/Möhrenschlager, 12. Aufl. 2012, § 266a Rn. 32 m.w.N.
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sich durchgehend auf die EuGH-Rechtsprechung, auch soweit die Bescheinigung erschlichen wurde, und betont die Sozialrechtsakzessorietät des Straftatbestandes.
IV. Zusammenfassung und Ergebnis Unsere Übersicht zeigt, dass die bisherige Rechtsprechung des BGH zur unionsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht ein uneinheitliches Bild bietet. Jedoch sind auch sichere Ansätze und Gemeinsamkeiten unter den Strafsenaten auszumachen: So wird bei akzessorischen Tatbestandsmerkmalen (z.B. der Abgaben- und Beitragspflicht in §§ 266a StGB, 370 AO) zutreffend die außerstrafrechtliche (Sperr-)Wirkung des EU-Rechts auch für die Beurteilung der Strafbarkeit berücksichtigt. Bei Straftatbeständen, die – auch – auf der Umsetzung von Richtlinien beruhen (z.B. §§ 261 StGB, 38 WpHG, 331 ff. HGB), ist die teleologische Zielbestimmung mit der in Art. 288 AEUV angeordneten Verbindlichkeit nach EU-Recht vorzunehmen. Die – ebenfalls teleologische – Rechtsgutsermittlung und damit auch die Statuierung der räumlichen, also internationalen Reichweite von Straftatbeständen, die nicht eindeutig auf den Schutz nationaler Interessen beschränkt sind, erfolgt ebenfalls europarechtsfreundlich (z.B. §§ 265, 267, 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Auch im Schrifttum umstritten und in der Rechtsprechung noch ungeklärt ist die Behandlung unbestimmter Rechtsbegriffe in Straftatbeständen (z.B. Abfall in § 326 StGB, kriminelle und terroristische Vereinigung in §§ 129, 129a StGB, Täuschung und Schaden in § 263 StGB, Wettbewerb in § 299 StGB). Sie sind gegenüber einer Einwirkung von EU-Recht offen. Eine europarechtsfreundliche Auslegung ist hier in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG jedenfalls zulässig, genießt aber nach verbreiteter Ansicht bei noch nicht erfolgter Umsetzung von Richtlinien keinen Vorrang gegenüber anderen Topoi und ist in diesem Sinne nicht oder nur zugunsten des Angeklagten geboten. Jedoch muss bei national wirksamer außerstrafrechtlicher Vollharmonisierung einzelner Wirtschaftsbereiche (z.B. Werbung) die EUrechtliche Einordnung bestimmter Verhaltensweisen als nicht unlauter oder nicht irreführend bei der Auslegung der nationalen Straftatbestände zwingend beachtet werden, wenn diese die fraglichen Wirtschaftsbereiche ganz (z.B. § 16 UWG) oder teilweise (z.B. § 263 StGB) betreffen. Insoweit besteht z.B. für den Begriff der Irreführung von Verbrauchern eine weitreichende Definitionsmacht des EuGH.
Paramilitärische Führer und kriminelle Machtapparate Fernando Velásquez Velásquez I. Einführung Ein Problem, das endlose Debatten im Bereich des Zusammenwirkens von Personen bei der Verwirklichung eines Straftatbestandes auslöst, ergibt sich, wenn den Anführern innerhalb organisierter Machtapparate strafrechtliche Verantwortlichkeit zugerechnet werden soll, insbesondere im Rahmen der organisierten Kriminalität.1 Die dogmatische Figur, die diese Hürde überwinden soll, wurde in der strafrechtlichen Literatur der letzten 50 Jahre entwickelt, die ihren Anfang in Deutschland nahm und in der Folge auch Spanien und Südamerika erreicht hat. In Kolumbien hat dies besondere Bedeutung erlangt, seitdem sich einige Anführer und mittlere Kommandanten der rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen, die im internen Konflikt des Landes agierten, der Justiz unterworfen haben und aussagten, wie die äußerst gewalttätigen kriminellen Apparate, die sie befehligten, operierten. Diese Kooperation wurde erreicht, nachdem es zu Verhandlungen zwischen diesen Gruppierungen und dem Staat gekommen war, in deren Folge ein Übergangsgesetz erlassen wurde (das Gesetz 975 aus dem Jahr 2005), das geständigen Paramilitärs juristische Vorteile sicherte. Die Angelegenheit gewinnt an Gewicht, wenn man die Entscheidung der Revisionskammer des Obersten Kolumbianischen Strafgerichtshofes in Betracht zieht, die die Anführer von paramilitärischen Strukturen und sogar die mit ihnen kooperierenden Politiker als mittelbare Täter der Taten ihrer Untergebenen kraft Beherrschung organisierter krimineller Machtapparate einordnet.2
1 Hierzu De la Cuesta Arzamendi in: Gutiérrez-Alviz Conradi/Valcárcel López (Eds.), La Cooperación internacional, 2001, S. 88. 2 Vgl. die Urteile vom 23. Februar 2010 (Nr. 32805), 14. September 2011 (Nr. 32000) und 22. Mai 2013 (Nr. 40830) in: http://www.cortesuprema.gov.co/ (letzter Abruf: 7.4.2014).
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II. Begriffe 1. Terminologische Präzisierungen Bevor wir in die Materie eintreten, ist es notwendig, zu klären, was unter einem organisierten kriminellen Machtapparat zu verstehen ist. Man spricht dabei auch von der Theorie der Beherrschung durch Organisation oder der Theorie der Beherrschung mittels organisierter Machtapparate.3 Apparat (aus dem Lateinischen apparatus) ist ein Begriff, der in jedem Fall als gleichwertig zu dem der Organisation4 aufgefasst werden kann. Er wird laut Wörterbuch5 benutzt, um eine „Einheit, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist und einer bestimmten Funktion dient“, zu beschreiben. Kriminell bezieht sich auf verbrecherische Aktivitäten, während organisiert seinerseits vom Verb organisieren6 abstammt, was aufstellen und vorbereiten einer Einheit von Personen mit angemessenen Mitteln zur Erlangung eines bestimmten Ziels bedeutet. Der Begriff Macht wird im Wörterbuch als „der Besitz der ungehinderten Fähigkeit oder des Vermögens, etwas zu tun“ bzw. „die Möglichkeit etwas zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort geschehen zu lassen“ definiert.7 Es ist also letztendlich die Herrschaftsmacht und -möglichkeit, die jemand innehat, um eine Sache anzuordnen oder auszuführen. Der organisierte kriminelle Machtapparat – der staatlichen oder nichtstaatlichen Charakter haben kann8 – ist eine kriminelle Struktur, in der mehrere Personen in pyramidenförmiger und hierarchischer Struktur zusammenwirken und in der diejenigen, welche die Entscheidungen fällen, nicht dieselben sind, welche sie ausführen. Die ausführenden Subjekte sind vielfach nicht an der Ausarbeitung des kriminellen Plans beteiligt und haben nur bruchstückhafte Kenntnis von dem Vorhaben.9 So kommt es beispielsweise10 vor in den Fällen des Staatsterrors (zu denken ist an die blutrünstige Maschinerie des Naziregimes, die ehemalige DDR und seine Mauertoten,11 Ex3
Ambos Principios e imputación, 2008, S. 112 f. Jubert Anuario de derecho penal y ciencias penales (= ADPCP) XLVIII (1995), 664. 5 Diccionario, Bd. I, S. 175. 6 Diccionario, Bd. I, S. 1631: „Organisieren. Etwas festlegen oder reformieren, um ein Ziel zu erreichen, die entsprechenden Personen oder Mittel koordinierend“. 7 Diccionario, Bd. I, S. 1791. 8 S. zum Unterschied zwischen beiden Gruppen Roxin Autoría y dominio del hecho en Derecho penal, 2000, S. 275 ff. und Ambos Dominio del hecho por organización, 2012, S. 33 ff. S. zur Frage, ob eine Ausdehnung auf organisierte Machtapparate im nicht-staatlichen und unternehmerischen Sektor zweckmäßig ist Roxin El Dominio de Organización, 2006, S. 7; ders. Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 129 ff. 9 Jubert ADPCP XLVIII (1995), 664. 10 Roxin Strafrecht AT II (Fn. 8), § 25 Rn. 108–113; dieses und andere Beispiele bei Muñoz Conde in: Cerezo Mir (Ed.), Modernas Tendencias, 2001, S. 505 ff., 513 ff. 11 Für eine kritische Darstellung dieses Falles und des Urteils des deutschen Bundesgerichtshofs vom 26. Juli 1994 vgl. Bolea Bardón Autoría mediata, 2000, S. 376 ff.; Alexy Derecho injusto, 2000, S. 197 ff. 4
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Jugoslawien während der Balkankriege oder die lateinamerikanischen Diktaturen des Cono Sur der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, aber auch die unter dem Regime von Präsident Fujimori in Peru aktiven Strukturen), in kriminellen terroristischen Organisationen (die „Guerrillas“ oder die paramilitärischen Gruppierungen Kolumbiens), in mafiösen Clans (illegaler Drogen- oder Waffenhandel,12 Menschenhandel oder Kinderprostitution etc.) oder in kriminellen nationalen und transnationalen Zusammenschlüssen ökonomischer Natur (Verbrechen gegen die Umwelt, die nationale Wirtschaft, die natürlichen Ressourcen etc.). In einigen dieser Fälle handelt es sich um kriminelle Organisationen, die einen Staat innerhalb des Staates bilden und unrechtmäßig die ökonomische und politische Macht im Land innehaben.13 2. Unterscheidungen Selbstverständlich dürfen diese Fälle – die organisierten kriminellen Machtapparate – nicht mit folgenden vier Phänomenen verwechselt werden, welche ihnen ähneln oder sie manchmal begleiten. Dazu gehören erstens jene Fälle, in denen mehrere Personen aufgrund eines gemeinsamen Übereinkommens eine kriminelle Tat arbeitsteilig begehen. Das ist der Fall der Mittäterschaft. Zweitens die Figur, die speziell für die Bestrafung von Banden der organisierten Kriminalität eingeführt wurde und Situationen erfasst, in denen eine Gruppe sich zum Zweck der Begehung einer Straftat zusammenschließt, es aber nur zu vorbereitenden Aktivitäten für die Ausführung der Tat kam. Dies ist die Verabredung zur Begehung einer Straftat. Ebenso besteht drittens ein Unterschied zur Figur des gemeinsamen kriminellen Unternehmens14 ( Joint Criminal Enterprise), die in der gegenwärtigen internationalen Strafrechtsdogmatik diskutiert wird,15 v.a. in Rechtskulturen, die den Unterschied zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht kennen. Diese Figur beschreibt 12
Jubert ADPCP XLVIII (1995), 657 ff. Rivera Llano Derecho penal, 2005, S. 471. 14 Nach Ambos (Fn. 3), S. 81 sollte diese Gattung „wie ein gemeinsames, ausdrückliches oder stillschweigendes Übereinkommen, um bestimmte kriminelle Akte zu begehen, mit einem kriminellen, transzendenten Ziel oder einer solchen Absicht, wie z.B. im Fall eines Genozidversuchs, der Zerstörung einer konkreten Gruppe“ verstanden werden. 15 Diese Konstruktion fand zum ersten Mal im Fall Tadić Verwendung, der durch die Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs für Ex-Jugoslawien am 15. Juli 1999 entschieden wurde; ebenso in der Rechtsprechung des Ruanda Tribunals (vgl. Ambos [Fn. 3], S. 66 ff.); dagegen Olásolo Alonso Indret 3 (2009), 4 ff., wonach diese Konstruktion erst mit der Entscheidung vom 21. Mai 2003 im Fall Milutinovic desselben Tribunals ein klares Profil erhielt. 13
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Situationen, in denen Delikte gemeinsam von Individuen begangen werden, welche nach einem gemeinsamen – vor oder erst während des Tathergangs gefassten – Tatplan mit kriminellem Charakter handeln, ohne dass sie einer gemeinsamen administrativen, militärischen, ökonomischen oder politischen Struktur angehören müssen.16 Es werden dabei drei Formen unterschieden: a) die Grundform, bei der die Akteure einer Straftat nach einem gemeinsamen Tatplan handeln; b) die systemische Form, welche Fälle wie die der Konzentrationslager umfasst, in denen Verbrechen von militärischen oder administrativen Körperschaften nach einem gemeinsamen Plan oder Vorsatz ausgeführt werden; und c) die extensive Form, welche sich auf die kriminellen Unternehmungen bezieht, bei denen mehrere Täter an der Ausführung teilnehmen, aber über das Verabredete oder den gemeinsamen Plan hinausgehen, wobei sich diese Exzesse jedoch noch als vorhersehbare Folge der Umsetzung des ursprünglichen Plans darstellen.17 An vierter und letzter Stelle muss die strafrechtliche Vorgesetztenverantwortlichkeit unterschieden werden, die in den verschiedenen Statuten internationaler Strafgerichtshöfe vorgesehen ist und von diesen angewendet wird, so z.B. von den Tribunalen für Ex-Jugoslawien18 und Ruanda19 und natürlich dem Internationalen Strafgerichtshof.20 Bei dieser Konstruktion, die die Struktur eines Unterlassungsdelikts hat, wird der hierarchisch Übergeordnete für die Tat seiner Untergebenen verantwortlich gemacht, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: a) die Existenz einer hierarchischen Beziehung zwischen dem Vorgesetzten und den Untergebenen; b) die Unterlassung des Vorgesetzten, die notwendigen Mittel zu ergreifen, um Verbrechen seiner Untergebenen vorzubeugen oder sie zu ahnden und c) die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen des Vorgesetzten bzgl. der Verübung der Straftaten.21
16 Olásolo Alonso Indret 3 (2009), 6; trotz der Klarheit, mit der dieser Autor das Phänomen beschreibt, verwechselt die Strafrevisionskammer des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens bei ihrer Zitierung von Olásolo Alonso diese Figur mit der der organisierten kriminellen Machtapparate (vgl. die Prozesse 32805 gegen den Ex-Senator Álvaro Alfonso García Romero vom 23. Februar 2010 und 27032 gegen den Ex-Senator Álvaro Araújo Castro vom 18. März 2010). 17 Ambos (Fn. 3), S. 68; Olásolo Alonso Indret 3 (2009), 7. 18 Diese Konstruktion ist in Art. 7 des Statuts des Tribunals verankert, vgl. hierzu Bertoni Autoría mediata, 2007, S. 5. 19 Art. 6 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda. 20 Bertoni (Fn. 18), S. 7; Ambos (Fn. 3), S. 101 ff. 21 Ambos (Fn. 3), S. 72.
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III. Die dogmatische Einordnung Die strafrechtliche Einordnung des Verhaltens der Personen, die an dieser Art von kriminellen Apparaten zum Zwecke der Begehung einer Straftat mitwirken, ist keine einfache Aufgabe. Es ist aber klar, dass man, um – wie heutzutage in Mode – die These der mittelbaren Täterschaft akzeptieren zu können, vom Verantwortungsprinzip absehen muss, wonach nur derjenige „Instrument“ des Hintermanns sein kann, der wegen eines besonderen Umstandes nicht für die Tat verantwortlich ist (speziell in Fällen der Nötigung, der Schuldunfähigkeit oder des Irrtums).22 Es werden daher verschiedene Lösungen vorgeschlagen:23 1. Die Mittäterschaft Nach diesem Ansatz ergibt sich innerhalb der kriminellen Organisationen die strafrechtliche Verantwortung derjenigen, die die Anordnungen geben, aus denselben Gründen wie bei „normalen“ Mittätern, da sie alle Voraussetzungen der Mittäterschaft erfüllen. In der Tat erlaubt es die Kontrolle der Organisation durch den Hintermann, von einer funktionalen Beherrschung der Tat zu sprechen und die Existenz eines gemeinsamen Plans ergibt sich gleichfalls aus dem Bestand der gemeinsamen Organisation.24 Diese Lösung wird jedoch aus verschiedenen Gründen kritisiert.25 2. Die Anstiftung Ein anderer Teil der Lehre setzt sich dafür ein, das Verhalten des Schreibtischtäters als Anstiftung einzuordnen, da viele Ähnlichkeiten zwischen den Anstiftungskonstellationen und denen der organisierten Machtapparate bestehen:26 In beiden Fällen gibt es eine vertikale Struktur, in der Anstifter 22
Bolea Bardón (Fn. 11), S. 343. Meini El dominio de la organización, 2008, S. 17 ff., 69 ff. 24 Siehe z.B. Jescheck/Weigend Lehrbuch AT, 5. Aufl. 1996, S. 670; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21. Abschnitt Rn. 103, der auch die Anstiftung annimmt; ders. ZIS 2009, 572 ff.; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 29 Rn. 147; Bacigalupo Principios, 5 Aufl. 1998, S. 372; Castillo González Autoría y Participación, 2006, S. 313 ff., 320; Aboso Autoría mediata, LH Juan Bustos Ramírez, 2007, S. 132. 25 Roxin Strafrecht AT II (Fn. 8), § 25 Rn. 120–124; Jubert ADPCP XLVIII (1995), 674; Meini NFP 68 (2005), 66 ff. 26 Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 510 f.; Herzberg Täterschaft, 1997, S. 34 ff.; ders. ZIS 2009, 576 ff. (mit Kritik am Urteil gegen Fujimori); Gimbernat Ordeig Autor y Cómplice, 1966, S. 189; Hernández Plasencia La Autoría mediata, 1996, S. 276, die eine wichtige Unterscheidung macht: Anstiftung gibt es nur in Beziehung zu dem Letzten in der Kette, der den Befehl zur Ausführung gibt, und Mittäterschaft in Beziehung zu den übrigen mittleren Mitgliedern, welche den Befehl übertragen, anders Roxin La Teoría, 2007, S. 520 f. 23
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und derjenige, der das normwidrige Verhalten ausübt, verschieden sind. Nichtsdestotrotz ist auch diese Position Gegenstand diverser Kritiken.27 3. Die Nebentäterschaft Andere Autoren meinen, dass solche Konstellationen als Fälle der Nebentäterschaft einzuordnen sind,28 da es nicht möglich sei, jemandem Mittäterschaft zuzuschreiben, wenn die gemeinsame Entscheidung zur Verwirklichung der Tat fehlte. 4. Die notwendige Teilnahme Selbst für dieses Beteiligungsmodell setzen sich einige Stimmen ein, um das Verhalten der Schreibtischtäter zu klassifizieren.29 5. Die mittelbare Täterschaft Eine andere große Gruppe wendet die Theorie der mittelbaren Täterschaft an (die Beherrschung des Willens der Untergebenen kraft der Macht des organisierten Apparates)30, um das Verhalten desjenigen einzuordnen, der lediglich von der Spitze der Hierarchie die Befehle gibt. Der die Tat Ausführende ist demzufolge unmittelbarer Täter und der die Anweisungen Gebende mittelbarer Täter, obwohl hierbei auch nicht ausgeschlossen wird, dass einzelne Glieder in der Befehlskette, die sich bloß auf die Weitergabe von Befehlen höherer Stellen beschränken, als einfache Teilnehmer angesehen werden können, bei denen lediglich Fälle von Beihilfe oder Anstiftung vorliegen.31 Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Verpflichtung, der Figur der mittelbaren Täterschaft eine größere Bedeutung beizumessen aufgrund der „stürmischen Entwicklung“32, der sie heute unterliegt.
27 Roxin Strafrecht AT II (Fn. 8), § 25 Rn. 114–119; Meini NFP 68 (2005), 71 ff.; ders. El dominio de la organización, 2006, S. 71 ff. 28 Bockelmann/Volk Strafrecht AT, 4. Aufl. 1987, S. 191. 29 Hernández Plasencia (Fn. 26), S. 260 ff. 30 S. Roxin (Fn. 26), S. 518 f.; ders. Täterschaft, 8. Aufl. 2006, S. 242 ff., 704 ff.; ders. Strafrecht AT II (Fn. 8), Rn. 105 ff.; Ambos (Fn. 8), S. 11 ff.; mit anderem Ausgangspunkt ders. La Parte General, 2005, S. 229 ff.; Nomos Kommentar StGB/Schild, 4. Aufl. 2013, § 25 Rn. 120–124; Ambos/Grammer Revista Penal 12 (2003), 28 ff.; Mancera Espinosa FS Claus Roxin, 2001, S. 186 ff.; Meini (Fn. 23), S. 23 ff. 31 Siehe Roxin Dominio (Fn. 8), S. 274. 32 Schünemann Documentos penales y criminológicos (= DPC) 75 (2004), 27 ff., 30 ff.
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IV. Die Problematik im kolumbianischen Recht Im nationalen Recht Kolumbiens handelt es sich um eine Diskussion, die aus einem praktischen – und nicht aus einem theoretischen – Grund keine weitere Bedeutung hat, da Täter, Mittäter, Anstifter und mittelbare Täter derselben Strafe unterworfen werden. 1. Die älteren gesetzlichen Grundlagen Das kolumbianische Strafgesetzbuch von 198033 definiert die Figur der mittelbaren Täterschaft nicht. Der mit dem Wort „Täter“ betitelte Artikel 23 bezieht sich lediglich auf denjenigen, „… der eine strafbare Tat verübt oder jemand anderen bestimmt, sie zu verüben …“, während im folgenden Artikel zusätzlich die Mittäterschaft geregelt wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die kolumbianische juristische Lehre das Problem der strafrechtlichen Verantwortlichkeit innerhalb von organisierten Machtapparaten zu dieser Zeit ignoriert hätte. Bereits vor der großen Strafrechtsreform im Jahr 2000 wurden von mehreren Autoren Positionen dazu formuliert. a) Die Mittäterschaft Vom Autor dieser Abhandlung wurde bereits damals an mehreren Stellen erwähnt, dass es bei Subjekten, die innerhalb der beschriebenen Machtapparate handeln, auch Situationen geben kann, die nicht als mittelbare Täterschaft definierbar wären, und dass „… es klar erscheint, dass es sich in diesen Fällen um Formen der Mittäterschaft, auf der Basis von Arbeitsteilung und einer geteilten Tatherrschaft, handelt.“34 b) Die Anstiftung Ein Verfasser warf die Frage auf, ob die Fälle, in denen eine ausreichende Konkretisierung der Tatbestimmung und Vorhersehbarkeit der Tat vorliegt, anhand der Figur der Anstiftung gelöst werden sollten.35 c) Die mittelbare Täterschaft Ein anderer Autor warb, nachdem er die anderen Ansätze mit nicht überzeugenden Argumenten abgelehnt hatte – wie etwa, dass mit der Annahme der Mittäterschaftslösung auch die Verteidigung der subjektiven Theorie der
33
Dazu López Díaz in: Ambos (Ed.), Imputación de crímenes, 2008, S. 169 ff. Velásquez Velásquez Derecho penal, 1. Aufl. 1994, S. 543; ders. Derecho penal, 3. Aufl. 1997, S. 619. 35 Suárez Sánchez Autoría, 2. Aufl. 1998, S. 237. 34
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Täterschaft einhergehe –, für die mittelbare Täterschaft als bessere Alternative. Er hatte dabei jedoch glücklicherweise den akademischen Anstand zuzugeben, dass es „de lege lata möglich sei, jedweder These zu folgen, welche die Teilnehmerqualität derjenigen beschränkt, die mittels eines organisierten Machtapparats handeln.“ Weiterhin weist auch Roxin darauf hin, dass – wenn man die These der mittelbaren Täterschaft annimmt – man bei den organisierten Machtapparaten nicht generell die Möglichkeit ausschließen könne, dass kriminelle Teilnahme, in den Formen der Mittäterschaft und Anstiftung, vorliegen könnte.36 2. Die gültige Gesetzeslage In Art. 29 des Strafgesetzbuchs heißt es in den Absätzen 1, 2 und 4: „Täter. Täter ist, wer die strafbare Handlung selbst begeht oder jemand anderen als Instrument benutzt. Mittäter sind, die mittels eines gemeinsamen Übereinkommens, in krimineller Arbeitsteilung und unter Berücksichtigung der Bedeutung des Tatbeitrags, handeln. … Der Täter in seinen verschiedenen Modi macht sich der für die entsprechende Handlung vorgesehenen Strafe strafbar.“ Diese Norm, die in Abs. 3 noch die Figur des Handelns für jemand anderen regelt, wird durch Art. 30 Abs. 1, 2 und 3 des Strafgesetzbuchs ergänzt, in dem es heißt: „Teilnehmer sind der Anstifter und der Beihilfeleistende. … Wer jemand anderen dazu bestimmt, eine rechtwidrige Handlung zu begehen, macht sich der für die Tat vorgesehenen Strafe schuldig. … Wer zur Verwirklichung einer rechtswidrigen Handlung beiträgt oder im Anschluss Hilfe leistet, in vorheriger Übereinkunft oder gleichzeitig mit jener, macht sich der Strafe des Vergehens, reduziert um den sechsten Teil bis hin zur Hälfe, schuldig.“ Die einzige Situation, für die eine Strafminderung vorgesehen ist – sowohl für die Mittäterschaft als auch selbstverständlich für die Teilnahme –, ist im 4. Absatz kodifiziert: „Dem Teilnehmer, der keine speziellen geforderten Fähigkeiten in der Ausführung des strafrechtlichen Tatbestands hat, wird die Strafe um ein Viertel gemindert.“ 3. Die Rechtsprechung Die kolumbianischen Gerichte haben sich in ihrer Rechtsprechung mit dieser Problematik auseinandergesetzt und schließlich am Ende eines langen Weges – voller Irritationen und notorischer dogmatischer Ungenauigkeiten – die Figur der mittelbaren Täterschaft angenommen. Diese Entscheidung hat eine breite Zustimmung unter den kolumbianischen Staatsanwälten hervorgerufen.
36
Posada Echavarría NFP 62 (2000), 38–40.
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a) Die „unechte Mittäterschaft“ In der Entscheidung der Strafrevisionskammer des obersten Gerichtshofs37 über das Massaker von Machuca, bei dem eine bekannte Guerillaeinheit eine Ölpipeline sprengte und dadurch 100 Tote und 30 Verletzte verursachte, lehnte es das Gericht ab, die Figur der mittelbaren Täterschaft zu erörtern, da es zu dem Schluss kam, dass es sich um einen Fall der „unechten Mittäterschaft“ handelte, und nicht um eine Konstellation, die als organisierter krimineller Machtapparat katalogisiert werden könne. b) Die „Mittäterschaft durch Befehlskette“ Immer noch im Rahmen der Mittäterschaft wurde mittels der Revisionsentscheidung vom 2. September 2009, Nr. 29221, der Ausdruck der „Mittäterschaft durch Befehlskette“ geprägt – dem Anschein nach wurde die alte Figur der „unechten“ Mittäterschaft aus der Debatte verbannt –, um das „Phänomen der Teilnahme von mehreren Personen im Rahmen einer hierarchisch organisierten kriminellen Organisation, welche mittels Aufgabenverteilung und des Zusammenwirkens mehrerer (bestehend aus einer Befehlskette, die auch rückläufig sein kann) strafbare Verhalten durchführen, in einer Weise zu kennzeichnen, die es möglich macht, diese durch die Metapher einer Kette zu charakterisieren. In dieser Figur verbinden sich die Protagonisten, welche den Befehl von Anfang bis Ende übertragen, wie die Bindeglieder einer Kette. So kann es vorkommen, dass sich der oberste Führer, der die ursprüngliche Anordnung gegeben hat, und derjenige, der sie letztendlich ausführt, nicht kennen.“ Diese Position wurde im Gerichtsurteil vom 3. Dezember 2009, Nr. 32672, gegen Salvador Arana Sus bestätigt.38 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese letztgenannte Argumentationsschiene vom Gericht nur ein weiteres Mal verwendet wurde, im Urteil gegen den Ex-Senator Álvaro Araújo, Nr. 27032, vom 18. März 2010, wo man sich nicht ausdrücklich auf die These der mittelbaren Täterschaft bezog. Um noch einmal das bereits in Bezug auf das Urteil gegen Salvador Arana Sus Zitierte zu wiederholen, spricht man von der paramilitärischen Struktur wie von einer wirklichen „Kette“, wobei auf drei Elemente Wert gelegt wird:
37 Urteil der Strafrevisionskammer des Obersten Gerichtshofs vom 7. März 2007 (Nr. 23825); hierzu: López Díaz (Fn. 33), S. 158 ff.; diese Entscheidung wurde durch Urteil vom 8. August 2007 bestätigt: Nr. 25974; dennoch kehrte die Strafrevisionskammer im Urteil vom 12. September 2007 (Nr. 24448) (Massaker von Gabarra) zu den Denkansätzen der ersten Entscheidung zurück, deren Absätze im Urteil ohne zusätzlichen Ausführungen lediglich wiedergegeben wurden. 38 Ebenso in den Urteilen vom 9. Dezember 2009 (Nr. 28779) und 12. Mai 2010 (Nr. 29200).
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a) die Existenz einer Organisation, die aus einer Mehrzahl von austauschbaren Personen zusammengesetzt ist; b) die Kontrolle oder Beherrschung der Organisation durch den Hintermann mittels der Austauschbarkeit ihrer Mitglieder und c) die Kenntnis von der Organisation oder des Machtapparats und der Beschluss, dass dessen Mitglieder rechtswidrige Taten ausüben sollen. c) Die mittelbare Täterschaft Nachdem vom Gericht darauf hingewiesen wurde, dass die doktrinären und juristischen Änderungen, die die Entscheidung in diesem Fall bewirkten, dazu führten, dass die Kammer „ihre Rechtsprechung ändert“, wurde im schon zitierten Urteil vom 23. Februar 2010 ausgeführt: „… wenn es sich um das straffällige Verhalten handelt, das sich aus den Strukturen oder organisierten Machtapparaten ableitet, sind die durchgeführten Straftaten sowohl ihren Führern – Organisatoren, Schirmherren, Kommandanten – als mittelbaren Tätern, ihren Koordinatoren und – wenn sie eine anweisende Funktion ausüben – Kommandierenden, Gruppenführern – als Mittätern, als auch ihren direkten Ausführenden oder Untergebenen – Soldaten, Truppen, Patrouillen, Guerrilleros oder Milizionären – zuzuschreiben, da jedes Glied in der Kette mit Kenntnis und Tatherrschaft handelt und einige von ihnen im Rahmen eines anderen dogmatischen Konzepts, das Straflosigkeit mit sich bringen würde, in ungerechtfertigter Weise geschützt werden könnten.“39 Auch in anderen Justizorganen Kolumbiens, wie der „Einheit für Menschenrechte und Humanitäres Völkerrecht“ der nationalen Generalstaatsanwaltschaft, hat man in zwei verschiedenen Prozessen die Figur der mittelbaren Täterschaft in Fällen von organisierten Machtapparaten anerkannt: einerseits in der Entscheidung 1556 vom 13. Mai 200540 sowie in der Entscheidung 2000 vom 3. Oktober 200541; bei letzterer unter Heranziehung des Werks von C. Roxin.42 In gleicher Weise beruft sich das dritte spezialisierte Kreisstrafgericht Bogotas, als es in erster Instanz das Urteil gegen den Oberst Luis Alfonso Plazas Vega fällte, der wegen des Verschwindens einiger Personen im Zusammenhang mit der Erstürmung des kolumbianischen Justizpalastes am 6. und 7. November 1985 angeklagt war, auch auf diese Konstruktion, welche auf den Militärapparat angewandt wird. Es ordnete deshalb an, gegen alle Teile der hierarchischen Ordnung zu ermitteln, die
39 Vgl. zu den aktuellen Ausformungen dieser Jurisprudenz die Urteile vom 14. September 2011 (Nr. 32000) und 22. Mai 2013 (Nr. 40830). 40 Vgl. S. 24. 41 S. 136 ff. 42 Aponte Cardona in: Ambos/Malarino (Ed.), Jurisprudencia, 2008, S. 200–201, Fn. 37 und 39.
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Einfluss auf die schlimmen Vorkommnisse hatten, einschließlich des Präsidenten der Republik.43 4. Die Lehre In der gegenwärtigen Diskussion in Kolumbien kann man verschiedene Positionen beobachten: a) Die mittelbare Täterschaft Eine Gruppe von Autoren neigt zur Position der mittelbaren Täterschaft44 und vertritt, dass der „Schreibtischtäter“ und folglich jeder, der in einen organisierten Apparat derart eingegliedert ist, dass er Befehle an untergebene Personen geben kann und davon Gebrauch macht, um strafbare Taten auszuführen, als mittelbarer Täter behandelt werden sollte. Selbst einige Strafrechtskommentatoren bestätigen, dass Art. 29 des Strafgesetzbuchs, der die mittelbare Täterschaft vorsieht und sich auf denjenigen bezieht, der ein strafbares Verhalten realisiert, indem er „andere als Instrument benutzt“, nicht die Möglichkeit ausschließt, dass man in solchen Fällen die Figur der mittelbaren Täterschaft anwendet, indem man den Apparat selbst als das Instrument interpretiert, und nicht eine menschliche Person. Dieser Gedankengang, der aber den Willen des Gesetzgebers und den Gesetzestext verkennt, erscheint zu einfach: Das Wichtige ist, dass in den Augen des mittelbaren Täters das ausführende Subjekt als Instrument erscheint, welches ihm dazu dient, das Delikt auszuführen, und nicht, dass es sich um ein Subjekt handelt, dem man keine strafrechtliche Verantwortung im Lichte der klassischen Konstruktion der mittelbaren Täterschaft zuschreiben kann.45 Weitergehend wird von diesem Standpunkt aus auch die These kritisiert, wonach diejenigen, die innerhalb eines kriminellen Apparats eine führende Position aufweisen, als Mittäter behandelt werden sollten. So wird u.a. von einem Autor das Argument angeführt, dass – wenn diese nach kolumbianischem Recht nicht unter die Theorie der mittelbaren Täterschaft fielen – „für diejenigen, die nicht einmal zweitrangige Akteure in der kriminellen Handlung sind, sondern vielmehr ihre direkten Protagonisten, sich eine mildere 43 Vgl. Drittes spezialisiertes Kreisstrafgericht, Bogotá, Urteil vom 9. Juni 2010, RUN 11001320700320080002500. 44 Márquez Cárdenas La autoría mediata, 2002, S. 248; ders. Diálogos de saberes 23 (2005), 20 und 33; Reyes Cuartas DPC 75, 2004, 154, 157; Rivera Llano (Fn. 13), S. 472; López Díaz (Fn. 33), S. 178 ff.; Aponte Cardona (Fn. 42), S. 203; Suárez López Reflexiones 72 (2011), 5, 22 und 60; Meini NFP 68 (2005), S. 67 f.; Suárez Sánchez Autoría, 3. Aufl. 2007, S. 288. 45 Reyes Cuartas DPC 75, 2004, 154; ebenso, aber ohne Zitierung, Meini NFP 68 (2005), 67, 68 Anm. 17; in diesem Sinne auch Suárez Sánchez (Fn. 44), S. 288.
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strafrechtliche Behandlung ergeben könnte.“46 Eine solche Kritik ist jedoch offensichtlich unbegründet, wenn man im Auge behält, dass die Täterschaft in ihren verschiedenen Begehungsformen mit derselben Strafe bedroht ist, weshalb „die milderen Behandlungen“ nur für den Autor dieser Schrift existieren würden, es sei denn, er möchte sich für Formen der objektiven Haftung einsetzen. b) Die Anstiftung Ein anderer Teil der Lehre, der über andere Überlegungen zu dem Schluss kommt, dass die These der mittelbaren Täterschaft im kolumbianischen Recht nicht anwendbar ist, spricht sich in entschiedener Weise für die Anstiftungslösung aus. Das wird damit begründet, dass in den Fällen der organisierten Machtapparate dies die Figur ist, die mit größter Präzision den Anforderungen des Phänomens gerecht wird.47 c) Die Mittäterschaft Der Autor dieser Arbeit hat seinerseits – nachdem das neue Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist (das Gesetz 599 aus dem Jahr 2000) – die Mittäterschaftstheorie vertreten, allerdings in einer nuancierten Form. Zwar hält er daran fest, dass die untersuchten Fälle nicht als Formen der mittelbaren Täterschaft verstanden werden können und grundsätzlich, wenn die entsprechenden Erfordernisse gegeben sind, wie die Fälle behandelt werden sollten, bei denen man von einer Mittäterschaft sprechen kann. Allerdings sei angemerkt, dass „die Angelegenheit extrem strittig ist und man sie nicht in eine Kategorie oder Schublade stecken kann, ohne Beachtung der jeweiligen besonderen Umstände des Falles, da es nicht unmöglich ist auch in einem organisierten Machtapparat ,traditionelle‘ Formen der mittelbaren Täterschaft anzutreffen, oder eben auch Fälle der Anstiftung; wenngleich es sich natürlich grundsätzlich eher um Fälle der Mittäterschaft handelt, vorausgesetzt deren Anforderungen wurden erfüllt.“48
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Reyes Cuartas DPC 75 (2004), 156. Hernández Esquivel in: Urbano Martínez (Ed.), Lecciones, 1. Aufl. 2002, S. 274. 48 Velásquez Velásquez Manual, 1. Aufl. 2002, S. 447 f.; ders. Manual, 2. Aufl. 2004, S. 455; ders. Manual, 3. Aufl. 2007, S. 450 f., begründet seine Position besser und lehnt die praktische Bedeutung von der Diskussion deswegen ab, da „der Täter, der Mittäter, der Anstifter und der mittelbare Täter unter dasselbe Strafmaß fallen“ (S. 451); ders. Derecho Penal, 4. Aufl. 2009, S. 893, 895; ders. Manual, 5. Aufl., S. 580–582; ebenso: Cadavid Londoño Coautoría en aparatos organizados, 2013, passim. 47
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V. Schlussfolgerung Um einen Schlusspunkt unter diese Abhandlung zu setzen, lassen sich die folgenden Reflexionen aus dem bisher Gesagten ableiten: Die Theorie der mittelbaren Täterschaft ist nicht haltbar, da sie sophistisch und zwiespältig ist:49 Sie setzt voraus, dass eine einheitliche Konstruktion für die kriminellen organisierten Machtapparate existiert, was nicht zutrifft. Sie nimmt an, dass alle Apparate nach dem gleichen Muster funktionieren, obwohl die Merkmale jedes einzelnen weit davon entfernt sind, uniform und klar zu sein.50 Sie betreibt einen gewaltigen Aufwand, um eine Theorie darzustellen, die eine inexistente Struktur beschreibt und die, wenn sie mit der Praxis konfrontiert wird, wie ein Schiff leckt und untergeht. Ihre Konstruktion erfasst letztendlich fast keine dem realen Leben entnommene Situation, da sie, von einem strafrechtlichen Blickwinkel aus, den „mittelbaren Täter“ wie einen normalen Täter behandelt.51 Zweifelsohne ist die Theorie der mittelbaren Täterschaft eine gewagte These, welche den Anschein erweckt, die Fälle treffend zu erfassen, jedoch einem Trugschluss erliegt und sich als falsch erweist. Mehr noch erlaubt eine gründliche Analyse dieser These, die am populärsten in Bezug auf die Beschreibung organisierter staatlicher Kriminalität ist,52 die Schlussfolgerung, dass sie als Ergänzung zur allgemeinen Lehre erarbeitet wurde, um Lücken und/oder Mängel an Beweisen zu begegnen, die sich ergeben, wenn die jeweiligen kriminellen Handlungen von oder innerhalb der organisierten Machtapparate ausgeführt wurden. Als Zurechnungsform für die Verbrechen der kolumbianischen Paramilitärs eignet sich die Theorie der mittelbaren Täterschaft durch kriminelle organisierte Machtapparate wenig. Sie anzuwenden würde bedeuten, eine Figur zu verwenden, die zum Zeitpunkt der Taten im kolumbianischen Strafrecht nicht vorgesehen war, und anzunehmen, dass – was nicht der Fall war – diese Organisationen eine dieser Theorie entsprechende Struktur aufwiesen. Was schlussendlich in dieser akademischen Debatte auf dem Spiel steht ist der Fortbestand oder der Niedergang, in unserer Hemisphäre generell und in Kolumbien im Speziellen, eines liberalen Strafrechts der Garantien – eines wahren Strafrechts im Sinne der Menschenrechte! –, dessen Flaggen, heute mehr als je zuvor, stolz gehisst werden müssen, um die Winde der Freiheit und nicht die des Terrors zu fördern.
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Siehe diesbezüglich NK/Schild (Fn. 30), § 25 Rn. 123. Vgl. Ambos (Fn. 8), S. 32 ff.; ders. Tatherrschaft durch Willensherrschaft, 1998, S. 235 ff. So zum Beispiel im deutschen Recht; vgl. Castillo González (Fn. 24), S. 320. Castillo González (Fn. 24), S. 315.
Schriftenverzeichnis von Bernd Schünemann Stand: 31. Mai 2014
I. Lehrbücher, Sammelbände, Monographien und sonstige selbstständige Publikationen 1. Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte – Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, Göttingen 1971, 407 S. (zugleich jur. Diss. Göttingen 1970). 2. Strafrechtliche Klausurenlehre mit Fallrepetitorium, 1. Aufl., Köln, Berlin, Bonn, München 1973, 400 S.; 2. Aufl. 1975, 415 S.; 3. Aufl. 1977, 408 S., 4. Aufl. 1982, 416 S. (1.–3. Aufl. gemeinsam mit C. Roxin und B. Haffke, 4. Aufl. allein bearbeitet). 3. Die vier Stufen der Rechtsgewinnung, exemplifiziert am strafprozessualen Revisionsrecht, Münchner jur. Habilitationsschrift 1975, im Manuskript 630 S. 4. Nulla poena sine lege? (Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht), Berlin, New York 1978, 39 S. 5. Probleme des Binnenschiffahrtsrechts II (gemeinsam mit R. Herber u.a.), Duisburg 1979, 138 S. 6. Unternehmenskriminalität und Strafrecht – Eine Untersuchung der Haftung der Wirtschaftsunternehmen und ihrer Führungskräfte nach geltendem und geplantem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, Köln, Berlin, Bonn, München 1979, 275 S. 7. Die Durchsetzung des Rechts (gemeinsam mit M. Irle u.a.), Gesellschaft – Recht – Wirtschaft Band 12, Mannheim, Wien, Zürich 1984, 101 S. 8. Parteispendenproblematik (gemeinsam hrsg. mit W. de Boor und G. Pfeiffer), Strafrecht und Gesellschaft 11, Köln 1986, 201 S. 9. Die Rechtsprobleme von AIDS (gemeinsam hrsg. mit G. Pfeiffer), Baden-Baden 1988, 557 S.
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Verzeichnis der Schriften von Bernd Schünemann
10. Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen. Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, München 1990, 178 S. 11. Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (in japanischer Übersetzung), Tokyo 1990, 272 S. 12. El sistema moderno del Derecho penal: Cuestiones fundamentales, Madrid 1991, 198 S. 13. Die Verwirrung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven – Ein gordischer Knoten in der Strafrechtsdogmatik (gemeinsam hrsg. mit Yü-hsiu Hsü), Taipei 1994, 424 S. 14. Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts. Madrid-Symposium für Klaus Tiedemann (gemeinsam hrsg. mit C. Suarez Gonzalez), Köln, Berlin, Bonn, München 1995, 468 S. 15. Bausteine des europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin (gemeinsam hrsg. mit J. de Figueiredo Dias), Köln, Berlin, Bonn, München 1995, 387 S. 16. Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte. Ein spanisch-deutsches Symposium zu Ehren von Claus Roxin (gemeinsam hrsg. mit E. Gimbernat und J. Wolter), Heidelberg 1995, 115 S. 17. Fundamentos de un sistema europeo del Derecho penal – LibroHomenaje a Claus Roxin con ocasión de su doctorado honoris causa por la Universidad de Coimbra (gemeinsam hrsg. mit J.-M. Silva Sánchez und J. de Figueiredo Dias), Barcelona 1995, 460 S. 18. Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit – Arbeitskreis Strafrecht, Band III: Unternehmenskriminalität, Köln, Berlin, Bonn, München 1996, 213 S. 19. Consideraciones criticas sobre la situación espiritual de la cienca juridicopenal alemana, Bogota 1996, 62 S. 20. Positive Generalprävention. Kritische Analysen im deutsch-englischen Dialog. Uppsala Symposium 1996 (gemeinsam hrsg. mit A. von Hirsch und N. Jareborg), Heidelberg 1998, 220 S. 21. Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem – Neue Entwicklungen in Deutschland und in den USA (gemeinsam hrsg. mit M. Dubber), Köln, Berlin, Bonn, München 2000, 241 S. 22. Symposium Victims and the Criminal Law: American and German Perspectives (gemeinsam hrsg. mit M. Dubber), Buffalo 1999, 315 S.
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23. Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag (gemeinsam hrsg. mit H. Achenbach, W. Bottke, B. Haffke und H.-J. Rudolphi), Berlin, New York 2001, 1579 S. 24. Temas actuales y permanentes del Derecho penal después milenio, Madrid 2002, 305 S. 25. Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte (gemeinsam hrsg. mit J. P. Müller und L. Philipps), Berlin 2002, 328 S. 26. Strafrechtssystem und Betrug, Herbolzheim 2002, 249 S. 27. Fundamentos de la dogmática penal y de la política criminal (Ontologismo y Normativismo) (gemeinsam hrsg. mit G. Jakobs, M. Moreno und E. R. Zaffaroni), Mexico 2002, 162 S. 28. Claus Roxin, Person – Werk – Epoche, Herbolzheim 2003, 75 S. 29. Organuntreue – Der Mannesmann-Fall als Exempel?, Berlin 2004, 70 S. 30. Alternativ-Entwurf Europäische Strafverfolgung, Berlin 2004, 112 S. 31. Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag (in chinesischer Sprache), zusammengestellt von Yü-hsiu Hsü und Jyh-Huei Chen, Taipei 2004, 775 S. 32. Delincuencia empresarial: Cuestiones dogmaticas y de politica criminal, Buenos Aires 2004, 125 S. 33. Strafprozessuale Absprachen in Deutschland – Der Rechtsstaat auf dem Weg in die „Bananenrepublik“?, in: Schriften der Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg e.V. Heft 19, Regensburg 2005, 17 S. 34. Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Lothar Philipps (gemeinsam hrsg. mit M.-Th. Tinnefeld und R. Wittmann), Berlin 2005, 490 S. 35. Claus Roxin, Person – Werk – Epoche (in japanischer Übersetzung), Tokyo 2005, 103 S. 36. Europejskie Sciganie Karne – Projekt Alternatywny, Poznan 2005, 71 S. 37. Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur – Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, Berlin 2005, 38 S. 38. La reforma del Proceso Penal, Madrid 2005, 112 S. 39. Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, 358 S.
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40. La víctima en el sistema penal (gemeinsam hrsg. mit P.-A. Albrecht, C. Prittwitz und G. Fletcher), Lima 2006, 188 S. 41. Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, Köln, Berlin, München 2006, 555 S. 42. El derecho penal es la ultima ratio para la protección de bienes jurídicos!, Universidad Externado de Colombia (Hrsg.), Bogotá 2007, 74 S. 43. Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, 370 S. 44. La administración desleal de los órganos societarios (gemeinsam hrsg. mit C. Gómez-Jara Díez und G. Jakobs), Barcelona 2008, 201 S. 45. Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. des bis zur 25. Aufl. 1998 von C. Roxin bearb. Lehrbuches, München 2009, 519 S.; 27. Aufl. 2012, 568 S.; 28. Aufl. 2014, 564 S. 46. Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Edgardo Alberto Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, 570 S. 47. Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Edgardo Alberto Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, 511 S. 48. Fundamento y Límites de los Delitos de Omisión Impropia, Madrid, Barcelona, Buenos Aires 2009, 444 S. 49. Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, Berlin 2010, 109 S. 50. Derecho penal contemporáneo – Sistema y desarrollo. Peligro y límites, Buenos Aires 2010, 191 S. 51. Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, Berlin 2010, 110 S. 52. Strafrecht als Scientia Universalis – Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag (gemeinsam hrsg. mit M. Heinrich, Chr. Jäger, H. Achenbach, K. Amelung, W. Bottke, B. Haffke und J. Wolter), Berlin, New York 2011, 2 Bände, insg. 2000 S. 53. Unverzichtbare Gesetzgebungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Haushaltsuntreue und der Verschwendung öffentlicher Mittel, Bonn 2012, 96 S. 54. Lebensschutz im Strafrecht (gemeinsam hrsg. mit Il-su Kim), Seoul 2013, 351 S. 55. Vom Tempel zum Marktplatz, München 2013, 37 S. 56. Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, 331 S.
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57. Zur Frage der Verfassungswidrigkeit und der Folgen eines Strafrechts für Unternehmen, München 2013, 35 S. 58. Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, 340 S.
II. Kommentare 1. Kommentierung von § 14 StGB („Handeln für einen anderen“), in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin, New York 11. Aufl. 1993, 77 S. 2. Kommentierung von §§ 201–205 StGB („Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs“), in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin, New York 11. Aufl. 2001, 176 S. 3. Kommentierung von § 266 StGB („Untreue“), in: Jähnke/Laufhütte/ Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin, New York 11. Aufl. 1998, 154 S. 4. Kommentierung von §§ 288–297 StGB („Strafbarer Eigennutz“), in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin, New York 11. Aufl. 2002, 112 S. 5. Kommentierung von § 14 StGB („Handeln für einen anderen“), in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 12. Aufl. 2007, S. 874–940. 6. Kommentierung von §§ 25–31 StGB („Täterschaft und Teilnahme“), in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 12. Aufl. 2007, S. 1813–2169. 7. Kommentierung von §§ 201, 202, 203–205 StGB („Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs“), in: Laufhütte/Rissing-van Saan/ Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 12. Aufl. 2009, S. 1349–1391, 1415–1435, 1469–1580. 8. Kommentierung von §§ 288–290 StGB („Strafbarer Eigennutz“), in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 12. Aufl. 2008, S. 104–147. 9. Kommentierung von §§ 292–297 StGB („Strafbarer Eigennutz“), in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 12. Aufl. 2008, S. 186–260.
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10. Kommentierung von § 266 StGB („Untreue“), in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 12. Aufl. 2012, S. 653–880.
III. Aufsätze in Zeitschriften und Sammelwerken 1. Die Stellung der Unterschlagungstatbestände im System der Vermögensdelikte, in: JuS 1968, S. 114–120. 2. Das beschleunigte Verfahren im Zwiespalt von Gerechtigkeit und Politik, in: NJW 1968, S. 975–976. 3. Methodenprobleme bei der Abgrenzung von Betrug und Diebstahl in mittelbarer Täterschaft, in: GA 1969, S. 46–56. 4. Der praktische Fall (Strafrecht: Der falsche Kommilitone) (gemeinsam mit C. Roxin), in: JuS 1969, S. 372–378. 5. Die Belehrungspflichten der §§ 243 IV, 136 n.F. StPO und der BGH, in: MDR 1969, S. 101–103. 6. Die Freiheitsdelikte im künftigen Strafrecht, in: MSchrKrim 53 (1970), S. 250–266. 7. Artikel „Ordnungswidrigkeitenrecht“, in: Fischer-Lexikon „Recht“ (hrsg. von P. Badura, E. Deutsch und C. Roxin), Frankfurt 1971, S. 101–105; Neuausgabe 1987, S. 110–114. 8. Der besondere Beitrag – Rundum betrachtet, in: JA 1972, S. 633–640, 775–786. 9. Das strafprozessuale Wiederaufnahmeverfahren propter nova und der Grundsatz „In dubio pro reo“, in: ZStW 84 (1972), S. 870–908. 10. Die Geschäftsverteilung in Schwurgerichtssachen und das Prinzip des gesetzlichen Richters, in: NJW 1974, S. 295–299. 11. Zur Kritik der Ingerenz-Garantenstellung, in: GA 1974, S. 231–242. 12. Neue Horizonte der Fahrlässigkeitsdogmatik?, in: Festschrift für Friedrich Schaffstein, Göttingen 1975, S. 159–176. 13. Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, in: JA 1975, S. 435–444, 511–516, 575–584, 647–656, 715–724, 787–798. 14. Summum ius = summa iniuria bei der Strafzumessung, in: Pönometrie, Heft 3 der Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung (hrsg. von W. de Boor), Köln 1977, S. 73–78.
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15. Politisch motivierte Kriminalität, in: Politisch motivierte Kriminalität – echte Kriminalität?, Heft 4 der Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung (hrsg. von W. de Boor), München, Basel 1978, S. 49–116. 16. Ungelöste Rechtsprobleme bei der Ahndung nationalsozialistischer Gewalttaten, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns, Köln, Berlin, München 1978, S. 223–247. 17. Der strafrechtliche Schutz von Privatgeheimnissen, in: ZStW 90 (1978), S. 11–63. 18. Zur Reform der Hauptverhandlung im Strafprozeß, in: GA 1978, S. 161–185. 19. Besondere persönliche Verhältnisse und Vertreterhaftung im Strafrecht, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1978, I, S. 131–158. 20. Methodologische Prolegomena zur Rechtsfindung im Besonderen Teil des Strafrechts, in: Festschrift für Paul Bockelmann, München 1979, S. 117–132. 21. Zur strafrechtlichen Würdigung der Verkehrsunfallflucht auf Binnenwasserstraßen, in: Zeitschrift für Binnenschiffahrt und Wasserstraßen 1979, S. 91–102; auch veröffentlicht in: Herber/König/Mußgnug/Schünemann (Hrsg.), Probleme des Binnenschiffahrtsrechts II, Duisburg 1979, S. 49–75. 22. Der praktische Fall (Strafrecht: Liebhaber und Teilhaber), in: JuS 1979, S. 275–280. 23. 17 Thesen zum Problem der Mordverjährung, in: JR 1979, S. 177–182. 24. Grundfragen der strafrechtlichen Zurechnung im Tatbestand der Baugefährdung, in: ZfBR 1980, S. 4–9, 113–119, 159–165. 25. Raub und Erpressung, in: JA 1980, S. 349–357, 393–400, 486–493. 26. Die Bedeutung der „Besonderen persönlichen Merkmale“ für die strafrechtliche Teilnehmer- und Vertreterhaftung, in: Jura 1980, S. 354–367, 568–583. 27. Einige vorläufige Bemerkungen zur Bedeutung des viktimologischen Ansatzes in der Strafrechtsdogmatik, in: Schneider (Hrsg.), Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege, Berlin, New York 1982, S. 407–421. 28. Fahrlässige Tötung durch Abgabe von Rauschmitteln?, in: NStZ 1982, S. 60–63. 29. Strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Grundfragen der Unternehmenskriminalität, in: wistra 1982, S. 41–50. 30. Grundfragen der Revision im Strafprozeß, in: JA 1982, S. 71–77, 123–131.
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31. Die Funktion des Schuldbegriffs in einem modernen Präventionsstrafrecht, in: Seikei Hogaku (The Journal of Legal, Political and Social Sciences) 1983, S. 76–90. 32. Umsturzversuche deutscher Studenten einst und jetzt. Ein strafrechtsgeschichtlicher Vergleich der Deutschen Burschenschaft und der Unbedingten mit der APO und der RAF, in: Festschrift für Heinz Leferenz, Heidelberg 1983, S. 279–299. 33. Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre, in: Festschrift für Ulrich Klug, Köln 1983, S. 169–186. 34. Experimentelle Untersuchungen zur Reform der Hauptverhandlung in Strafsachen, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Köln 1983, Teilband 2, S. 1109–1151. 35. Die Zukunft der Viktimo-Dogmatik: Die viktimologische Maxime als regulatives Prinzip zur Tatbestandseinschränkung im Strafrecht, in: Festschrift für Hans Faller, München 1984, S. 357–372. 36. Die Unterlassungsdelikte und die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Unterlassungen, in: ZStW 96 (1984), S. 287–320. 37. Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin, New York 1984, S. 1–68. 38. Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin, New York 1984, S. 153–195. 39. Das strafrechtliche Dunkelfeld – Stabilisator der Rechtstreue?, in: Die Durchsetzung des Rechts, Mannheim, Wien, Zürich 1984, S. 39–58. 40. Aktuelle strafprozessuale Probleme des Schriftgutachtens, in: MHfS (Mannheimer Heft für Schriftvergleichung) 1984, S. 3–21. 41. Amnestie und Grundgesetz. Zur Verfassungswidrigkeit einer Amnestie in der Parteispendenaffäre, in: ZRP 1984, S. 137–144. 42. Kognition, Einstellung und Vorurteil bei der Rechtsfindung, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, in: ARSP Beiheft Nr. 22 (1985), S. 68–84. 43. Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform im Spiegel des Leipziger Kommentars und des Wiener Kommentars, 1. Teil: Tatbestands- und Unrechtslehre, in: GA 1985, S. 341–380.
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44. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 3.5.1984 (4 StR 266/84), in: StV 1985, S. 229–233. 45. Der polizeiliche Lockspitzel – Kontroverse ohne Ende?, in: StV 1985, S. 424–431. 46. Grundbedingungen für ein funktionsfähiges normatives Programm der Rechtsprechung, in: N. Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, Berlin, New-York, Bonn, München 1986, S. 461–489. 47. Fehlerreduktion im richterlichen Handeln durch „Programmierte Unterweisung?“, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 1986, S. 50–54. 48. Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform im Spiegel des Leipziger Kommentars und des Wiener Kommentars, 2. Teil: Schuld und Kriminalpolitik, in: GA 1986, S. 293–352. 49. Zur Stellung des Opfers im System der Strafrechtspflege, Teil I und II, in: NStZ 1986, S. 193–200, 439–443. 50. Die strafrechtlichen Aspekte der Parteispendenaffäre – Eine (Zwischen-?) Bilanz, in: de Boor u.a. (Hrsg.), Parteispendenproblematik, Strafrecht und Gesellschaft 11, Köln 1986, S. 35–67. 51. Kritische Bemerkungen zur These von der strafrechtlichen Rückwirkung des Parteienfinanzierungsgesetzes 1984, in: de Boor u.a. (Hrsg.), Parteispendenproblematik, Strafrecht und Gesellschaft 11, Köln 1986, S. 119– 126. 52. Ergebnisse und Diskussion über die Parteispendenproblematik auf dem Symposium am 25./26. Oktober 1985, in: de Boor u.a. (Hrsg.), Parteispendenproblematik, Strafrecht und Gesellschaft 11, Köln 1986, S. 169– 183. 53. Bibliographie zur Parteispendenproblematik, in: de Boor u.a. (Hrsg.), Parteispendenproblematik, Strafrecht und Gesellschaft 11, Köln 1986, S. 185–201. 54. Die Strafbarkeit von Amtsträgern im Gewässerstrafrecht, in: wistra 1986, S. 235–246. 55. Die Regeln der Technik im Strafrecht, in: Festschrift für Karl Lackner, Berlin, New York 1987, S. 367–397. 56. Prozeßrechtliche Vorgaben für die Kommunikation im Strafprozeß, in: Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten BadenWürttemberg (Hrsg.), Absprachen im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit?, Bericht über das Symposium am 20. und 21. November 1986 in Triberg, Stuttgart 1987, S. 24–49.
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57. Plädoyer für eine neue Theorie der Strafzumessung, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik – Beiträge zu einem deutsch-skandinavischen Strafrechtskolloquium, Freiburg i.Br. 1987, S. 209–238. 58. Reflexionen über die Zukunft des deutschen Strafverfahrens, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, Köln, Berlin, Bonn, München 1988, S. 461–484. 59. Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung – Eine Zwischenbilanz, in: Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 373–509. 60. Daten und Hypothesen zum Rollenspiel zwischen Richter und Staatsanwalt bei der Strafzumessung, in: Kaiser/Kury/Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren – Projektberichte aus der Bundesrepublik Deutschland, Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i.Br. 1988, Band 35/I, S. 265–280. 61. Die Zinssteueramnestie – Totgeburt oder Schlußstein der Steuerreform?, in: StV 1989, S. 3–40. 62. Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Tötung, Körperverletzung oder Vergiftung?, in: JR 1989, S. 89–95. 63. Die Verständigung im Strafprozeß – Wunderwaffe oder Bankrotterklärung der Verteidigung?, in: NJW 1989, S. 1895–1903; zugleich in: Anwaltsblatt 1989, S. 494–502. 64. Alternative Kontrolle der Wirtschaftskriminalität, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln, Berlin, Bonn, München 1989, S. 629–649. 65. Informelle Absprachen und Vertrauensschutz im Strafverfahren, in: JZ 1989, S. 984–990. 66. Die Entwicklung der Schuldlehre in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, Berlin 1989, S. 147–176. 67. Strafrechtliche Probleme im Zusammenhang mit AIDS, in: Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg (Hrsg.), AIDS als Herausforderung an das Recht, 1989, S. 141–209. 68. Der Lügendetektor auf dem Vormarsch? (redaktioneller Titel: Entformalisierung des Ermittlungsverfahrens. Plädoyer für eine Entkoppelung des Vorverfahrens von der Rigorosität des Hauptverfahrens.), in: Kriminalistik 1990, S. 131–132, 149–152. 69. Quo vadis § 218?, in: ZRP 1991, S. 379–392.
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70. Die strafrechtlichen Probleme des AIDS-Komplexes, in: Busch u.a. (Hrsg.), HIV/AIDS und Straffälligkeit. Eine Herausforderung für Strafrechtspflege und Straffälligenhilfe, Bonn 1991, S. 93–168. 71. Strafrechtssystem und Kriminalpolitik, in: Festschrift für Rudolf Schmitt zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992, S. 117–138. 72. Die informellen Absprachen als Überlebenskrise des deutschen Strafverfahrens, in: Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag, Bielefeld 1992, S. 361–382. 73. Die Kriminalpolitik und das Strafrechtssystem, in: Lahti/Nuotio (Hrsg.), Criminal Law Theory in Transition – Finnish and Comparative Perspectives / Strafrechtstheorie im Umbruch – Finnische und vergleichende Perspektiven, Helsinki 1992, S. 157–174. 74. Die Typisierung umweltschädlichen Verhaltens im internationalen Vergleich, in: The Taiwan/ROC Chapter, International Association of Penal Law (AIDP) (Hrsg.), International Conference on Environmental Criminal Law, Taipei 1992, S. 395–407. 75. Ist eine direkte strafrechtliche Haftung von Wirtschaftsunternehmen zulässig und erforderlich?, in: The Taiwan/ROC Chapter, International Association of Penal Law (AIDP) (Hrsg.), International Conference on Environmental Criminal Law, Taipei 1992, S. 433–473. 76. Zum Verhältnis von Norm und Sachverhalt bei der Rechtsanwendung, von Ober- und Untersatz im Justizsyllogismus und von Rechts- und Tatfrage im Prozeßrecht, in: Festschrift für Arthur Kaufmann, Heidelberg 1993, S. 299–320. 77. Materielle Tatverdachtsprüfung und völkerrechtswidrige Entführung als nationalstaatliche Sprengsätze im internationalen Auslieferungsverkehr, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre GA, Heidelberg 1993, S. 215–240. 78. Hände weg von der kontradiktorischen Struktur der Hauptverhandlung, in: StV 1993, S. 607–609. 79. Wetterzeichen einer untergehenden Strafprozeßkultur? Wider die falsche Prophetie des Absprachenelysiums, in: StV 1993, S. 657–663. 80. Narkomanie und AIDS, in: Wasik/Staniaszek (Hrsg.), Drogenbekämpfung in Polen und in der Welt, Wroclaw 1993, S. 151–176. 81. Entwurf eines Änderungsgesetzes zur Strafprozeßordnung, zum Bundeszentralregistergesetz und zum Gesetz über die Schiedsstellen in den Gemeinden mitsamt Begründung (gemeinsam mit A.-M. Arnold), in: Lampe (Hrsg.), Vorschläge zur prozessualen Behandlung der Klein-
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kriminalität, Deutsche Wiedervereinigung Band I, Köln, Berlin, Bonn, München 1993, S. 103–160. 82. Strafrechtliche Verantwortlichkeit für die DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, in: Lampe (Hrsg.), Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, Deutsche Wiedervereinigung Band II, Köln, Berlin, Bonn, München 1993, S. 173–191. 83. Die strafrechtliche Verantwortung der Unternehmensleitung im Bereich von Umweltschutz und technischer Sicherheit, in: Breuer/Kloepfer/Marburger/Schröder (Hrsg.), Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen, Heidelberg 1994, S. 137–177. 84. Die Objektivierung von Vorsatz und Schuld im Strafrecht, in: Chengchi Law Review Vol. 50 (1994), S. 259–299. 85. Kritische Anmerkungen zur geistigen Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, in: GA 1995, 201–229. 86. Die Strafbarkeit der juristischen Person aus deutscher und europäischer Sicht, in: Schünemann/Suarez Gonzalez (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts. Madrid-Symposium für Klaus Tiedemann, Köln, Berlin, Bonn, München 1994, S. 265–295. 87. Die Funktion der Abgrenzung von Unrecht und Schuld, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, Köln, Berlin, Bonn, München 1995, S. 149–182. 88. Zum gegenwärtigen Stand der Dogmatik der Unterlassungsdelikte in Deutschland, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte. Ein spanisch-deutsches Symposium zu Ehren von Claus Roxin, Heidelberg 1995, S. 49–82. 89. Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? – Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlußeffekt, in: Bierbrauer/Gottwald/Birnbreier-Stahlberger (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit – Rechtspsychologische Forschungsbeiträge für die Justizpraxis, Köln 1995, S. 215–232; auch in: StV 2000, S. 159–165. 90. Zur Dogmatik und Kriminalpolitik des Umweltstrafrechts, in: Festschrift für Otto Triffterer, Wien, New York 1996, S. 437–456. 91. Aufarbeitung von Unrecht aus totalitärer Zeit, in: Pawlowski/Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, in: ARSP Beiheft Nr. 65 (1996), S. 97–116.
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92. AIDS und Strafrecht, in: Szwarc (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme von AIDS im internationalen Vergleich, Berlin 1996, S. 9–60. 93. Die Mißachtung der sexuellen Selbstbestimmung des Ehepartners als kriminalpolitisches Problem, in: GA 1996, S. 307–329. 94. Begründung und Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität, in: Schünemann (Hrsg.), Unternehmenskriminalität; Deutsche Wiedervereinigung Band III, Köln, Berlin, Bonn, München 1996, S. 153–187. 95. Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: Schünemann (Hrsg.), Unternehmenskriminalität; Deutsche Wiedervereinigung Band III, Köln, Berlin, Bonn, München 1996, S. 129–142. 96. Zum Schutz von Ehe und Familie durch das Strafrecht und vor dem Strafrecht, in: Festschrift für Hans-Martin Pawlowski zum 65. Geburtstag, Berlin 1996, S. 275–314. 97. Der deutsche Strafprozeß im Spannungsfeld von Zeugenschutz und materieller Wahrheit. Kritische Anmerkungen zum Thema des 62. Deutschen Juristentages 1998, in: StV 1998, S. 391–401. 98. Überkriminalisierung und Perfektionismus als Krebsschaden des Verkehrsstrafrechts oder: Deutschland – ein Land der kriminellen Autofahrer?, in: DAR 1998, S. 424–433. 99. Zum Stellenwert der positiven Generalprävention in einer dualistischen Straftheorie, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention. Kritische Analysen im deutsch-englischen Dialog. Uppsala Symposium 1996, Heidelberg 1998, S. 109–123. 100. Polizei und Staatsanwaltschaft, in: Kriminalistik 1999, S. 74–79, 146–152. 101. Vom philologischen zum typologischen Vorsatzbegriff, in: Festschrift für Hans-Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag, Berlin, New York 1999, S. 363–378. 102. Über die objektive Zurechnung, in: GA 1999, S. 207–229. 103. Verfassungsrechtliche Probleme der strafrechtlichen Aufarbeitung, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ Band II/2, Frankfurt 1999, S. 1304–1380. 104. Dogmatische Sackgassen bei der Strafverfolgung der vom SED-Regime zu verantwortenden Untaten, in: Festschrift für Gerald Grünwald, Baden-Baden 1999, S. 657–684.
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105. Vom Unterschichts- zum Oberschichtsstrafrecht. Ein Paradigmawechsel im moralischen Anspruch?, in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, Berlin 2000, S. 17–36. 106. Die Stellung des Opfers im System der Strafrechtspflege: Ein Drei-Säulen-Modell, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem – Neue Entwicklungen in Deutschland und in den USA, Köln, Berlin, Bonn, München 2000, S. 1–13. 107. Unternehmenskriminalität, in: Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, München 2000, Band IV, S. 621–646. 108. Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, in: Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, Berlin, New York 2001, S. 1–32. 109. Die deutsche Strafrechtswissenschaft nach der Jahrtausendwende, in: GA 2001, S. 205–225. 110. Zeugenbeweis auf dünnem Eis – Von seinen tatsächlichen Schwächen, seinen rechtlichen Gebrechen und seiner notwendigen Reform, in: Festschrift für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, München 2001, S. 385–407. 111. Die Leistungsgrenze strafgerichtlicher Entscheidungen – eher Predigertum als social engineering?, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III – Folgen von Gerichtsentscheidungen, Baden-Baden 2001, S. 167–175. 112. Tatsächliche Strafzumessung, gesetzliche Strafdrohungen und Gerechtigkeits- und Präventionserwartungen der Öffentlichkeit aus deutscher Sicht, in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, Berlin 2001, S. 338–345. 113. Zur Regelung der unechten Unterlassung in den Europa-Delikten, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, Köln, Berlin, Bonn, München 2002, S. 103–123. 114. Wohin treibt der deutsche Strafprozeß?, in: ZStW 114 (2002), S. 1–62. 115. Aporien der Straftheorie in Philosophie und Literatur – Gedanken zu Immanuel Kant und Heinrich von Kleist, in: Festschrift für Klaus Lüdersen, Baden-Baden 2002, S. 327–343. 116. Die Absprachen im Strafverfahren: Von ihrer Gesetz- und Verfassungswidrigkeit, von der ihren Versuchungen erliegenden Praxis und vom dogmatisch gescheiterten Versuch des 4. Strafsenats des BGH, sie im geltenden Strafprozeßrecht zu verankern, in: Festschrift für Peter Riess, Berlin 2002, S. 525–546.
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117. Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Falle der Postmoderne und seine überfällige Ersetzung durch den „homo oecologicus“, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, Berlin 2002, S. 3–21. 118. Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts in der modernen Industriegesellschaft – Eine Bestandsaufnahme, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, Berlin 2002, S. 37–63. 119. Das System des strafrechtlichen Unrechts: Rechtsgutsbegriff und Viktimodogmatik als Brücke zwischen dem System des Allgemeinen Teils und dem Besonderen Teil, in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, Herbolzheim 2002, S. 51–87. 120. Ein Gespenst geht um in Europa – Brüsseler „Strafrechtspflege“ intra muros, in: GA 2002, S. 501–516; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 9–29. 121. Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!, in: StV 2003, S. 116–122; auch in: Jusletter vom 2.8.2004; und in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 30–47. 122. Warnung vor Holzwegen der Strafprozeßreform, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Sicherheit durch Strafe? Öffentlicher Strafanspruch zwischen Legalitätsprinzip und Opferinteresse. 26. Strafverteidigertag Mainz, 8.–10. März 2002, Berlin 2003, S. 267–280. 123. Claus Roxin in seiner Epoche, in: Schünemann (Hrsg.), Claus Roxin, Person – Werk – Epoche, Herbolzheim 2003, S. 53–69. 124. Historie der mißglückten Reformversuche des § 142 StGB, in: DAR 2003, S. 207–212. 125. Das Strafrecht im Zeichen der Globalisierung, in: GA 2003, S. 299–313; auch in: Jusletter vom 26.5.2003. 126. Haushaltsuntreue als dogmatisches und kriminalpolitisches Problem, in: StV 2003, S. 463–471. 127. Die parlamentarische Gesetzgebung als Lakai von Brüssel? Zum Entwurf des Europäischen Haftbefehlsgesetzes, in: StV 2003, S. 531–533; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 48–51. 128. Der Europäische Haftbefehl und der EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene – Schranken des Grundgesetzes, in: ZRP 2003, S. 185–189;
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auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 52–61. 129. Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Hefendehl u.a. (Hrsg.), Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, Baden-Baden 2003, S. 133–154. 130. Die Akzeptanz von Normen und Sanktionen aus der Perspektive der Tatproportionalität, in: Frisch u.a. (Hrsg.), Tatproportionalität, Heidelberg 2003, S. 185–197. 131. Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Strafrechtsschuld, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, Berlin 2003, S. 537–559. 132. Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Strafrechtsschuld, in: Aktualität und Entwicklung der Strafrechtswissenschaft – Festschrift für Seiji Saito zum 70. Geburtstag, Tokyo 2003, S. 39–65. 133. Die Rechte des Beschuldigten im internationalisierten Ermittlungsverfahren, in: StraFo 2003, S. 344–351; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 64–82. 134. Wissenschaftlicher Kommentar zur Strafprozeßordnung der Mongolei vom 10. Januar 2002, in: Sarantuya (Hrsg.), Wissenschaftlicher Kommentar zur Strafprozeßordnung der Mongolei, Ulan Bator 2003, S. 1–29. 135. Förderung der Steuerehrlichkeit durch Amnestierung der Steuerhinterziehung?, in: ZRP 2003, S. 433–439. 136. Europäischer Haftbefehl und gegenseitige Anerkennung in Strafsachen, in: ZRP 2003, S. 472; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 62–63. 137. Die strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in der postmodernen Gesellschaft, in: Festschrift für Nikolaos K. Androulakis, Athen 2003, S. 683–707. 138. Globalisierung als Metamorphose oder Apokalypse des Rechts?, in: Joerden/Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, ARSP-Beiheft Nr. 93 (2004), S. 133–156. 139. Fortschritte und Fehltritte in der Europäisierung der Strafrechtspflege, in: GA 2004, S. 193–209; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 83–103. 140. Mindestnormen oder sektorales Europastrafrecht?, in: Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, Berlin 2004, S. 75–81.
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141. Die kriminalpolitischen und dogmatischen Grundfragen der Unternehmenskriminalität, in: Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi, Neuwied 2004, S. 295–312. 142. Grundzüge eines Alternativ-Entwurfs zur europäischen Strafverfolgung, in: ZStW 116 (2004), S. 376–399. 143. Zur Reform des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens in Europa, in: Gedächtnisschrift für Theo Vogler, Heidelberg 2004, S. 81–92. 144. Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: Verantwortetes Recht – Gedächtnisschrift für Arthur Kaufmann, ARSP Beiheft Nr. 100 (2004), S. 145–156. 145. Ein Linsengericht zum Tausch für den Strafprozeß von 1877?, in: StraFo 2004, S. 293–295. 146. Die Rechtsprobleme von AIDS – Ein Nachruf?, in: Menschengerechtes Strafrecht – Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 1141–1154. 147. Gefahren für den Rechtsstaat durch die Europäisierung der Strafrechtspflege?, in: Plywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Bialystok 2005, S. 359–380. 148. Savignys Rechtsbegriff – von ehegestern und von übermorgen?, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Berlin 2005, S. 163–176. 149. Vom Einfluss der Strafverteidigung auf die Rechtsentwicklung – Vortrag auf dem Strafverteidiger-Kolloquium 2004, in: StraFo 2005, S. 177–184. 150. Ein Alternativ-Entwurf zur Regelung der europäischen Strafverfolgung im Verfassungsvertrag der EU, in: Pache (Hrsg.), Die Europäische Union – Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, BadenBaden 2005, S. 81–100; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 104–123. 151. Zur Entstehung des deutschen „plea bargaining“, in: Festschrift für Andreas Heldrich, München 2005, S. 1177–1195. 152. Die „gravierende Pflichtverletzung“ bei der Untreue: dogmatischer Zauberhut oder taube Nuss?, in: NStZ 2005, S. 473–482. 153. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Europäischen Haftbefehl: markiges Ergebnis, enttäuschende Begründung, in: StV 2005, S. 681–685; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 124–135.
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154. Brennpunkte des Strafrechts in der entwickelten Industriegesellschaft – Reflexionen zu den Beiträgen des Symposiums, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus. Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, Köln, Berlin, Bonn, München 2005, S. 349–377. 155. Unternehmenskriminalität, in: International Association of Penal Law (AIDP), Taiwan Chapter (Hrsg.), Democracy, Human Rights, Justice. Essays in Honor of Professor Dr. Jyun-hsyong Su for His 70th Birthday, Taipei City 2005, S. 131–168. 156. Europäischer Sicherheitsstaat – Europäischer Polizeistaat?, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Wen schützt das Strafrecht? 29. Strafverteidigertag Aachen, 4.–6. März 2005, Berlin 2006, S. 237–250. 157. Bundesrechtsanwaltskammer auf Abwegen, in: ZRP 2006, S. 63–64. 158. Der Bundesgerichtshof im Gestrüpp des Untreuetatbestandes, in: NStZ 2006, S. 196–203. 159. Rechtsgüterschutz, ultima ratio und Viktimodogmatik – von den unverrückbaren Grenzen des Strafrechts in einem liberalen Rechtsstaat, in: von Hirsch u.a. (Hrsg.), Mediating Principles – Begrenzungsprinzipien bei der Strafbegründung, Baden-Baden 2006, S. 18–35. 160. Strafrechtssystematisches Manifest, in: GA 2006, S. 378–382. 161. Verteidigung in Europa, in: StV 2006, S. 361–368; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 136–155. 162. Feindstrafrecht ist kein Strafrecht, in: Festschrift für Kay Nehm, Berlin 2006, S. 175–183; auch in: Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, Berlin 2010, S. 11–20. 163. Die Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ und das Prinzip der Tatherrschaftsstufen, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, Heidelberg 2006, S. 399–411. 164. Absprachen im Strafverfahren – Zentrale Probleme einer künftigen gesetzlichen Regelung (gemeinsam mit J. Hauer), in: AnwBl 2006, S. 439– 445. 165. Der Stand des Strafrechts in Deutschland, in: Swarc (Hrsg.), Das dritte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung – Aktuelle Probleme des deutschen, japanischen und polnischen Strafrechts, Poznan 2006, S. 17–35.
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166. Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, Köln, Berlin, München 2006, S. 61–64; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 156–158. 167. Die Grundlagen eines transnationalen Strafrechts, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, Köln, Berlin, München 2006, S. 93–111; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 159–175. 168. Der Erlaubnistatbestandsirrtum und das Strafrechtssystem – Oder: Das Peter-Prinzip in der Strafrechtsdogmatik? (gemeinsam mit L. Greco), in: GA 2006, S. 777–792. 169. Die Unrechtsvereinbarung als Kern der Bestechungsdelikte nach dem KorrBekG, in: Festschrift für Harro Otto, Köln, Berlin, Bonn, München 2007, S. 777–798. 170. Vom kriminalpolitischen Nutzen und Nachteil eigenhändiger Delikte, in: Festschrift für Heike Jung, Baden-Baden 2007, S. 881–891. 171. Deutsche Bekämpfung des „Führerscheintourismus“ scheitert am europäischen Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (gemeinsam mit S. Schünemann), in: DAR 2007, S. 382–385. 172. Die Implementation des europäischen Haftbefehls in Polen und Deutschland im Vergleich – Eine kritische Skizze aus deutscher Sicht, in: Joerden/Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, Berlin 2007, S. 265–277; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 176–188. 173. Kommentar zur Abhandlung von Luís Greco, in: GA 2007, S. 644–647. 174. Die Zukunft des Strafverfahrens – Abschied vom Rechtsstaat?, in: ZStW 119 (2007), S. 945–958. 175. Europäischer Sicherheitsstaat = europäischer Polizeistaat?, in: ZIS 2007, S. 528–534; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 189–202. 176. Europas verschmitzte Usurpierung einer furchtbaren Gewalt, in: ZIS 2007, S. 535–536; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 203–206. 177. Die „besonderen persönlichen Merkmale“ des § 28 StGB, in: Festschrift für Wilfried Küper, Heidelberg 2007, S. 561–576.
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178. Der Ausbau der Opferstellung im Strafprozess – Fluch oder Segen?, in: Festschrift für Rainer Hamm, Berlin 2008, S. 687–700. 179. Nochmals: Die Bekämpfung des Führerscheintourismus in Deutschland – Replik auf die Entgegnung von Geiger, DAR 2007, S. 540, in: DAR 2008, S. 109. 180. Aufgabe und Grenzen der Strafrechtswissenschaft im 21. Jahrhundert, in: Strafrecht zwischen System und Telos – Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S. 39–53. 181. Strafrechtliche Sanktionen gegen Wirtschaftsunternehmen?, in: Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht – Festschrift für Klaus Tiedemann, Köln, München 2008, S. 429–447. 182. Der deutsche Strafprozess – krank an Haupt und Gliedern, in: Blick über den Tellerrand. Dialog zwischen Recht und Empirie. Festschrift für Hisao Katoh, Lengerich 2008, S. 49–60. 183. Ewigkeitsgarantien im europäischen Strafrecht – ein Appell an die deutsche Volksvertretung, in: KritV 2008, S. 6–16; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 207–219. 184. Prolegomena zu einer jeden künftigen Verteidigung, die in einem geheimdienstähnlichen Strafverfahren wird auftreten können, in: GA 2008, S. 314–334. 185. Die Liechtensteiner Steueraffäre als Menetekel des Rechtsstaats, in: NStZ 2008, S. 305–310. 186. Zur Quadratur des Kreises in der Dogmatik des Gefährdungsschadens, in: NStZ 2008, S. 430–434. 187. Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells, in: Festschrift für Gerhard Fezer, Berlin 2008, S. 555–575. 188. Sind wir auf dem Weg zu einem europäischen Sicherheitsstaat?, in: Festschrift für Hans-Gert Pöttering, Plodiv 2008, S. 83–101. 189. Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, in: Festschrift für Knut Amelung, Berlin 2009, S. 303–323. 190. Rechtsstaatliche Probleme der Europäisierung des Verkehrsstrafrechts, in: In dubio pro libertate – Festschrift für Klaus Volk, München 2009, S. 743–754; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 220–232.
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191. Von den unverrückbaren Grenzen des Strafrechts in einem liberalen Rechtsstaat, in: Plywaczewski (Hrsg.), Current Problems of the Penal Law and the Criminology – Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Bialystok 2009, S. 575–620. 192. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Struktur des Strafverfahrens, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat – 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins, Baden-Baden 2009, S. 827–845. 193. Die strafrechtliche Beurteilung der Beeinflussung von Betriebsratswahlen durch verdecktes Sponsoring, in: Festschrift für Peter Gauweiler zum 60. Geburtstag, München 2009, S. 515–531. 194. Ein deutsches Requiem auf den Strafprozess des liberalen Rechtsstaats, in: ZRP 2009, S. 104–107. 195. Ein Kampf ums europäische Strafrecht – Rückblick und Ausblick, in: Vergleichende Strafrechtswissenschaft – Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Swarc zum 70. Geburtstag, Berlin 2009, S. 109–123; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 233–248. 196. Spät kommt ihr, doch ihr kommt: Glosse eines Strafrechtlers zur Lissabon-Entscheidung des BVerfG, in: ZIS 2009, S. 393–396; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 249–254. 197. Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren, in: ZIS 2009, S. 484–94; auch in: Schünemann (Hrsg.), Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, Berlin 2010, S. 71–91. 198. Richterbezogene Attidüdenforschung und der Indikator des „qualifizierten Begründungsfehlers“, in: Festschrift für Volkmar Mehle, BadenBaden 2009, S. 613–624. 199. Spirale oder Spiegelei? Vom hermeneutischen zum sprachanalytischen Modell der Rechtsanwendung, in: Festschrift für Winfried Hassemer, Heidelberg 2010, S. 239–247. 200. Der Begriff des Vermögensschadens als archimedischer Punkt des Untreuetatbestandes, in: StraFo 2010, S. 1–10, 477–483. 201. Die sog. Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, in: Schünemann (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, Berlin 2010, S. 71–105.
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202. Der deutsch-spanische Strafrechtsdialog im Zeitalter der autoritärdilettantischen Gesetzgebung, in: GA 2010, S. 353–360. 203. Stellungnahme zum Grünbuch der EU-Kommission „Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedsstaat“ (KOM [2009] 624 endg.), in: ZIS 2010, S. 92–99; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 255–270. 204. Die Kritik am strafrechtlichen Paternalismus – Eine Sisyphus-Arbeit?, in: von Hirsch u.a. (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, Baden-Baden 2010, S. 221–240. 205. Die Hauptverhandlung im Strafverfahren – Was sie leistet, wo sie versagt und in welcher Form sie bewahrt werden muss, in: StraFo 2010, S. 90–96. 206. Konsens im Strafverfahren – Performativer Selbstwiderspruch, Chimäre oder konkrete Utopie?, in: Schünemann (Hrsg.), Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, Berlin 2010, S. 93–104; auch in: Posch u.a. (Hrsg.), Konfliktlösung im Konsens – Schiedsgerichtsbarkeit, Diversion, Mediation – 7. Fakultätstag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 2010, S. 51–62. 207. Die Karawane zur Europäisierung des Strafrechts zieht weiter. Zur demokratischen und rechtsstaatlichen Bresthaftigkeit des EU-Geldsanktionengesetzes (gemeinsam mit B. Roger), in: ZIS 2010, S. 515–523; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 271–288. 208. Noch einmal: Zur Kritik der rechtsstaatlichen Bresthaftigkeit des EUGeldsanktionengesetzes, des europatümelnden strafrechtlichen Neopositivismus und seiner Apologie durch Böse, in: ZIS 2010, S. 759–762; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 289–302. 209. Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz, in: Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion – Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, Berlin 2011, S. 243–261. 210. Gedanken zur 2. Instanz in Strafsachen, in: Festschrift für Klaus Geppert, Berlin 2011, S. 649–664. 211. Reformaspekte des strafrechtlichen Haupt- und Rechtsmittelverfahrens, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform des Hauptund Rechtsmittelverfahrens – RichterInnenwoche 2010 in Geinsberg 17.–21. Mai 2010, Wien, Graz 2011, S. 9–23.
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212. Von Lissabon über Karlsruhe nach Stockholm – Demokratisches Defizit, mangelnder Mindeststandard, Verlustliste der Verteidigung, in: StRR 2011, S. 130–135; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 303–319. 213. Schrumpfende Basis, wuchernder Überbau? Zum Schicksal der Tatherrschaftsdoktrin nach 50 Jahren, in: Strafrecht als Scientia Universalis – Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Berlin, New York 2011, S. 799–817. 214. Strafrecht und Strafprozess im Rechtsstaat, in: Scholler (Hrsg.), Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht – anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland, Berlin 2011, S. 48–69. 215. Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Strafrechtsdogmatik? Zu Fischers These der „fremden seltsamen Welten“ anhand aktueller BGH-Urteile zu Begriff und Funktion der „besonderen persönlichen Merkmale“ im Strafrecht, in: GA 2011, S. 445–461. 216. Die Vorschläge der Europäischen Kommission für eine Opferschutzrichtlinie, in: ERA Forum (2011) Band 12, S. 445–463; auch in: Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 320–338. 217. Einleitende Bemerkungen zum Thema der Abschlussdiskussion „Die strafrechtliche Bewältigung der Finanzkrise am Beispiel der Untreue“, in: ZStW 123 (2011), S. 767–770. 218. Die Vorsitzendenkrise im 2. und 4. Strafsenat des BGH im Lichte der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters, in: ZIS 2012, S. 1–10. 219. Die Target 2-Salden der Deutschen Bundesbank in der Perspektive des Untreuetatbestandes, in: ZIS 2012, S. 84–106. 220. Wider verbreitete Irrlehren zum Untreuetatbestand, in: Festschrift für Imme Roxin, Heidelberg, München u.a. 2012, S. 341–358; auch in: ZIS 2012, S. 183–194. 221. Standpunkte der deutschen Strafrechtslehrer zu den Zukunftsperspektiven der Rechtswissenschaft und der akademischen juristischen Ausbildung in Deutschland, in: ZIS 2012, S. 302–311. 222. Zur Kritik der sogenannten Radbruchschen Formel – Notizen zu einem kultur- und kommunikationsbezogenen Rechtsbegriff, in: Panstwo Prawa i Prawo Karne, Jubiläumsschrift für Andrzej Zoll, Band II, Warschau 2012, S. 251–263.
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223. Der strafrechtliche Schutz des geistigen Eigentums, in: Plywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Warschau 2012, S. 673–686. 224. Strafrechtswissenschaft in einem zusammenwachsenden Europa, in: Strafrechtswissenschaft in einem zusammenwachsenden Europa, Festschrift der Strafrechtslehrertagung Georgien 2011, Tbilisi 2013, S. 435– 449. 225. Die großen wirtschaftsstrafrechtlichen Fragen der Zeit, in: GA 2013, S. 193–205. 226. Der Straftatbestand der Untreue als zentrales Wirtschaftsdelikt der entwickelten Industriegesellschaft, in: Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems, Festschrift für Wolfgang Frisch, Berlin 2013, S. 837–856. 227. Einführung in die deutsch-chinesische Strafrechtslehrertagung über das „Gesetzlichkeitsprinzip im Kontext der Strafrechtsauslegung in China und Deutschland“, in: Hilgendorf (Hrsg.), Das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht, Tübingen 2013, S. 1–8. 228. Die Urteilsabsprachen im Strafprozess – ewige Wiederkunft des Gleichen?, in: Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter, Berlin 2013, S. 1107–1129. 229. Die Allmacht des Tatrichters und die Einseitigkeit der Wahrheitsfindung – Erläutert am Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben der Menschheit, in: Festschrift für Hans-Heiner Kühne, Heidelberg, München u.a. 2013, S. 361–377. 230. Schwangerschaftsabbruch, in: Schünemann/Kim (Hrsg.), Lebensschutz im Strafrecht, Seoul 2013, S. 287–304. 231. Die aktuelle Forderung einer Verbandsstrafe – ein kriminalpolitischer Zombie, in: ZIS 2014, S. 1–18. 232. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot als Prüfstein des Rechtsbegriffs – Von den dogmatischen Untiefen strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung und der Wertlosigkeit der Radbruchschen Formel, in: Festschrift für Kristian Kühl, München 2014, S. 455–470. 233. Rechtsstaatsschwindsucht im Steuerstrafrecht und Steuerstrafverfahren, in: Festgabe für Hanns Feigen, Köln 2014, S. 263–281. 234. Ein neues Bild des Strafrechtssystems?, ZStW 126 (2014), S. 1–26. 235. Strafverteidigung und Opferinteressen, in: Vereinigung der österreichischen StrafverteidigerInnen u.a. (Hrsg.), Strafverteidigung – Opferrechte und Medienjustiz, Wien, Graz 2014, S. 129–157.
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236. Information über das Vorverfahren und die Befugnisse des Richters in der Hauptverhandlung aus deutscher Sicht, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischen Model, Frankfurt a.M. 2014, S. 91–107. IV. Urteilsanmerkungen, Rezensionen, Lexikon-Beiträge, Forschungsberichte und Varia 1. Mitarbeit an: Baumann u.a., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person, Erster Halbband, Tübingen 1970, 99 S. 2. Urteilsanmerkung, in: NJW 1974, S. 1882–1883. 3. Diskussionsbeiträge zum Thema: Empfiehlt es sich, besondere strafprozessuale Vorschriften für Großverfahren einzuführen?, in: Sitzungsbericht K zum 50. Deutschen Juristentag, München 1974, S. 98–100, 138, 185–187. 4. Rezension von: Eckhard Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, in: NJW 1975, S. 1453–1454. 5. Rezension von: Harro Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 2. Aufl. 1974, in: NJW 1976, S. 282. 6. Rezension von: Deutsche Strafrechtliche Landesreferate zum IX. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Teheran 1974 (hrsg. von H.-H. Jescheck), in: GA 1976, S. 190–191. 7. Rezension von: Hans-Heinrich Jescheck/Jürgen Meyer, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht, in: NJW 1977, S. 619. 8. Rezension von: Klaus Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, in: GA 1977, S. 88–90. 9. Rechtsphilosophische Artikel des „Großen Brockhaus“ in 12 Bänden ab Buchstabe N, 1978 ff., bisher 16 Artikel mit 438 Spalten. 10. Diskussionsbeiträge zum Thema: Empfiehlt es sich, das Rechtsmittelsystem in Strafsachen, insbesondere durch Einführung eines Einheitsrechtsmittels, grundlegend zu ändern?, in: Sitzungsbericht L zum 52. Deutschen Juristentag, München 1979, S. 64–68, 106–110, 131–132, 154–155, 184, 187–188, 211. 11. Rezension von: Gunther Arzt, Strafrecht Besonderer Teil LH 1, und Harro Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, in: NJW 1979, S. 1444.
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12. Rechtsphilosophische Artikel der „Brockhaus-Enzyklopädie“, 18. Aufl., ab Band XXV, 1980, 25 Artikel mit 344 Spalten. 13. Rezension von: Hinrich Rüping, Theorie und Praxis des Strafverfahrens, in: NJW 1981, S. 385. 14. Urteilsanmerkung, in: NStZ 1981, S. 143–144. 15. Rezension von: Jürgen Meyer, Wiederaufnahmereform, in: ZRP 1981, S. 303–304. 16. Rezension von: Volker Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, in: NJW 1981, S. 2562. 17. Determinanten strafrichterlicher Entscheidungen: Probleme der Aktenkenntnis und der Strafzumessung, Forschungsbericht aus dem SFB 24 an der Universität Mannheim, 1981, im Manuskript 45 S. (gemeinsam mit R. Hassemer). 18. Einige empirische Ergebnisse zum Unterschied zwischen der Herstellung und der Darstellung richterlicher Sanktionsentscheidungen, Forschungsbericht aus dem SFB 24 an der Universität Mannheim, 1982, im Manuskript 43 S. (gemeinsam mit R. Hassemer). 19. Rezension von: Essays in Honour of Eduard Dreher on the Occasion of his 70th Birthday („Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag“), in: Modern Law and Society 1982, S. 115–117. 20. Experimentelle Untersuchungen zur Reform der Hauptverhandlung in Strafsachen (vollständige Fassung der oben unter III. 34 verzeichneten, gekürzten Publikation), Forschungsbericht aus dem SFB 24 an der Universität Mannheim, 1983, im Manuskript 41 S. (gemeinsam mit W. Geisler u.a.). 21. Informationsverzerrung in der Hauptverhandlung des deutschen Strafverfahrens in Abhängigkeit von Vorinformationen, Forschungsbericht aus dem SFB 24 an der Universität Mannheim, 1983, im Manuskript 27 S. (gemeinsam mit W. Bandilla u.a.). 22. Art und Gewicht der Bestimmungsgründe richterlicher Sanktionsentscheidungen bei Straftaten nach § 316 StGB, Forschungsbericht aus dem SFB 24 an der Universität Mannheim, 1983, im Manuskript 32 S. (gemeinsam mit W. Bandilla u.a.). 23. Vor- und Nachteile des deutschen Strafverfahrens gegenüber dem angloamerikanischen Strafprozeß, Bericht über das Abschluß-Symposium des SFB 24 am 15./16.9.1983 (mit Beiträgen von Saito, Schünemann u.a.), in: Irle (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung; Probleme, Resultate, Perspektiven, Mannheim 1984, S. 359–382.
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24. Urteilsanmerkung, in: NStZ 1985, S. 72. 25. Rezension von: The Karlsruher Commentary on the Criminal Procedure Ordinance and the Law on the Constitution of the Courts („Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz“), in: Modern Law and Society 1985, S. 24–27. 26. Artikel „Straftaten nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz“, in: Krekeler/ Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.), Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Köln 1985, 4 S. 27. Nochmals: Parteispenden-Symposium des Münchner Instituts für Strafverteidigung, in: NJW 1986, S. 1856. 28. Artikel „Fallrecht“, in: Achterberg u.a. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied, Loseblattausgabe 1985 ff., Abteilung 2/130, S. 1–4. 29. Rezension von: Christian Flämig, Steuerrecht als Dauerrecht. Zur Einordnung des steuergesetzlichen Parteienfinanzierungsrechts in den Regelungsbereich des § 2 StGB, in: NJW 1987, S. 1616. 30. Rezension von: Klaus Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie, in: ZRP 1987, S. 407. 31. Artikel „Aufsichtspflicht in Betrieben“, in: Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.), Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Köln 1987, 5 S. 32. Artikel „Handeln für einen anderen“, in: Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.), Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Köln 1987, 4 S. 33. Rezension von: Gerd Pfeiffer, Grundzüge des Strafverfahrensrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH, München 1987, in: NJW 1988, S. 43. 34. Artikel „Begünstigung“, in: Achterberg u.a. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied, Loseblattausgabe 1985 ff., Stand: März 2007; Abteilung 8/190, 3 S. 35. Artikel „Baugefährdung“, in: Achterberg u.a. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied, Loseblattausgabe 1985 ff., Stand: März 2007; Abteilung 8/170, 3 S. (78). 36. Mannheimer Symposium „Die Rechtsprobleme von AIDS“, in: NJW 1988, S. 752 f. 37. Artikel „Unterlassungsdelikte“, in: Achterberg u.a. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied Loseblattausgabe 1985 ff., Stand: März 2007, Abteilung 8/1740, 4 S.
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38. Drei Studien zur normativen Kraft des Faktischen (gem. mit I. Schünemann), in: Müller-Dietz (Hrsg.), Festschrift – oder nicht?, Freiburg i.Br. 1989, S. 51–67. 39. Diskussionsbeiträge zum Thema: Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen, in: Sitzungsbericht L zum 58. Deutschen Juristentag, Band II, München 1990, S. 94–102, 127–129, 171–177. 40. Rechtsphilosophische Artikel der „Brockhaus-Enzyklopädie“, 19. Aufl. 1986 ff., 24 Bände. 41. Stellungnahmen vor der Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung“ zu den Anhörungen „AIDS und Recht“, Teilbereiche „Steuernde Wirkung des Rechts auf Verhalten und Gesellschaft“ sowie „Strafrecht und Strafprozeßrecht“, ferner „Einführung einer Schweigepflicht und eines Zeugnisverweigerungsrechts“, am 10./11.1.1989 und 15.6.1989, in: Nr. 367, 368 und 493 der Kommissions-Arbeitsunterlagen, 50 S. 42. Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege, in: Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode 1990, Sten. Prot. der 38. Sitzung des Rechtsausschusses v. 29.4.1992, Anl. 1 S. 202–224. 43. Stellungnahme zum Entwurf eines 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Umweltkriminalität, in: Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode 1990, Sten. Prot. der Sitzung des Rechtsausschusses v. 7.10.1992, Anl. 2 (52 Seiten). 44. Begrüßungsansprache des Dekans der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München auf dem europäischen Forum junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker in München am 22. Juli 1998, in: Thier/Pfeifer/Grzimek (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte, Berlin, New York 1999, S. 14–16. 45. Claus Roxin zum 70. Geburtstag, in: NJW 2001, S. 1476–1477. 46. Vom qualifiziert faktischen GmbH-Konzern zum Schutz der abhängigen GmbH durch das Vermögensstrafrecht, in Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs – Entscheidungen in Zivilsachen, LM H. 5/2002 § 309 AktG 1965 Nr. 1, Bl. 901–904. 47. Begrüßungsansprache, in: Schünemann (Hrsg.), Claus Roxin, Person – Werk – Epoche, Herbolzheim 2003, S. 1–5. 48. Überreichung der Festschrift, in: Schünemann (Hrsg.), Claus Roxin, Person – Werk – Epoche, Herbolzheim 2003, S. 71–73. 49. Nachwort, zu: Emil LeFant (Pseud.), Kafka Wiedergänger, Berlin 2004, S. 91–96.
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50. Geleitwort zu: Markus D. Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, München 2005, VII–VIII. 51. Vorwort zu: Sodovsuren Narangerel, Einführung in das mongolische Recht, Berlin 2005. 52. Schuld und Missbrauch – Die strafrechtlichen Aspekte der Oper (scil. „Der Kobold“ von Siegfried Wagner), in: Stadttheater Fürth, Spielzeit 2005/2006, Programmheft „Der Kobold“, S. 25–27. 53. Europäisierung des Verkehrsstrafrechts, in: Juristische Zentrale des ADAC (Hrsg.), ADAC-Rechtskonferenz „Bußgelder in Europa – Vollstreckung ohne Grenzen?“, Berlin 2007, S. 81–92. 54. Ein Federstrich des Gesetzgebers – und die StPO wird zur Makulatur, in: NJW 2009, Editorial zu Heft 36 der NJW 2009. 55. Scherbenhaufen im BGH?, in: StV 2012, Editorial des Hefts 3. 56. Nachruf auf Hans-Joachim Hirsch, in: ZStW 124 (2012), S. 1–11.
V. Fremdsprachige Publikationen 1. Das strafprozessuale Wiederaufnahmeverfahren propter nova und der Grundsatz „In dubio pro reo“ (in japanischer Übersetzung), in: Hanrei Taimuzu – Monatsschrift für Rechtsprechung 1976, Nr. 328, S. 74–82, Nr. 329, S. 40–52. 2. Die Funktion des Schuldbegriffs in einem modernen Präventionsstrafrecht (in japanischer Übersetzung), in: Keisatsu Kenkyu – Forschungszeitschrift der Polizei, Band 54 (1983), S. 42–59. 3. Der Grundsatz „Nulla poena sine lege“ im Lichte der modernen Rechtstheorie (in japanischer Übersetzung), in: Ryukoku Hogaku 1983, S. 415–429. 4. Grundfragen der Reform des Strafverfahrens in rechtsvergleichender Sicht (ins Japanische übersetzt von S. Saito), in: Keiho Zashi (The Journal of Criminal Law) 1984 (Vol. 26), S. 177–192. 5. La interpretación de la ley en la intersección de la filosofía del lenguaje, la constitución y la metodología jurídica, in: Memoria del X. Congreso Mundial Ordinario de Filosofia del Derecho y Filosofia Social, Volumen X, Mexiko 1984, S. 421–430; neuübersetzt in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal (hrsg. v. Donna), Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 83–108.
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6. The Principles Governing Crimes of Omission, in: Revue Internationale de Droit Penal 1984, Vol. 55, S. 879–898. 7. Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre (in japanischer Übersetzung), in: Horitsu Ronso (The Meiji Law Review), 1985 (Vol. 57), S. 115–142. 8. The Future of the Victimological Approach to the Interpretation of Criminal Law: The Use of Victimological Considerations as a Comprehensive, Regulative Principle for Limiting the Scope of Certain Crimes, in: Miyazawa/Ohya (Hrsg.), Victimology in Comparative Perspective. Papers given at the „Fourth International Symposium on Victimology“ 1982 in Tokyo, Kyoto, Tokyo 1986, S. 150–159. 9. La disciplina penale della captazione abusiva di finanziamenti nella Republica Federale Tedesca, in: Mazzamuto (Hrsg.), Il finanziamento agevolato delle imprese, Milano 1987, S. 739–747. 10. Alternativ kontrol af okonomisk kriminalität, Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab, 75. Jg. (1988), S. 241–296. 11. Cuestiones básicas de dogmática jurídico-penal y de política criminal acerca de la criminalidad de empresa, in: Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales, 1988, S. 529–558. 12. Alternative Control of Economic Crime, in: Eser/Thormundsson (Hrsg.), Old Ways and New Needs in Criminal Legislation – Documentation of a German-Icelandic Colloquium on the Development of Penal Law in General and Economic Crime in Particular, Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg 1989, S. 287–297. 13. Perseverance in Courtroom Decisions (gemeinsam mit W. Bandilla), in: Wegener/Lösel/Haisch (Hrsg.), Criminal Behavior and the Justice System. Psychological Perspectives, New York, Berlin, Heidelberg, London, Paris, Tokyo 1989, S. 181–192. 14. L’evoluzione della teoria della colpevolezza nella Repubblica Federale Tedesca, in: Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale, 1990, S. 3–35. 15. Introducción al razonamiento sistemático en Derecho Penal, in: El sistema moderno del Derecho penal: Cuestiones fundamentales, Madrid 1991, S. 31–80; auch in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 13–89; und in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 259–326.
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16. Einführung in das strafrechtliche Systemdenken (in chinesischer Übersetzung), in: Wochenblatt des Justizministeriums, Taipei Vol. 1560–1582 (1992); auch in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 233–291. 17. La función del principio de culpabilidad en el Derecho penal preventivo, in: El sistema moderno del Derecho penal: Cuestiones fundamentales, Madrid 1991, S. 147–178; auch in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 197–246. 18. Ist eine direkte strafrechtliche Haftung von Wirtschaftsunternehmen zulässig und erforderlich? (in chinesischer Übersetzung), in: International Conference on Environmental Criminal Law, Taipei 1992, chinesische Zusammenfassung S. 479–490. 19. Koreferat zum Referat „Die Typisierung umweltschädlichen Verhaltens im internationalen Vergleich – Kausalitäts- und spezifische Zurechnungsprobleme“ von Dr. Günther Heine (in chinesischer Übersetzung), in: International Conference on Environmental Criminal Law, Taipei 1992, S. 427–432. 20. Problemas penales de la transmisión y prevención del SIDA desde la perspectiva alemana, in: I Jornadas sobre Derechos de los pacientes, INSALUD, Madrid 1992, S. 27–113. 21. Problemas jurídico-penales relacionados con el SIDA, in: Mir Puig (Hrsg.), Problemas juridico penales del SIDA, Barcelona 1993, S. 25–99, auch in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 224–287. 22. La responsabilidad del profesional: nuevas necesidades – Shortcomings of the classic concept of criminal liability for negligence in the contemporary society: new tendencies and prospects, in: Romeo Casabona (Hrsg.), Responsabilidad penal y responsabilidad civil de los proesionales, La Laguna 1993, S. 49–66. 23. Sobre el estado actual de la dogmática de los delitos de omisión en Alemania, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Omision e imputación objetiva en Derecho Penal, Madrid 1994, S. 11–24; auch in: Revista del Poder Judicial 1998, S. 201–222; ferner in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 247–273; auch in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 229–250; und in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 539–561.
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24. Die Objektivierung von Vorsatz und Schuld im Strafrecht (in chinesischer Übersetzung), in: Chenghi Law Review Vol. 50 (1994), S. 39–56, Diskussion S. 57–68. 25. Tracte especial per als infectats de SIDA que compleixen condemna i els problemes de les atenuacions de regim penitenciari, el regim obert, vacances, etc., in: IURIS – Quaderns de politica juridica 1994, S. 87–105. 26. La punibilidad de la persona jurídica desde la perspectiva alemana y europea, in: Hacia un derecho penal economico europeo, Boletin Oficial del Estado, Madrid 1995, S. 565–600. 27. La función de la delimitación de injusto y culpabilidad, in: Silva Sánchez/Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Fundamentos de un sistema europeo del derecho penal, Barcelona 1995, S. 205–245; auch in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 327–376; und in: Derecho penal contemporáneo – Sistema y desarrollo. Peligro y límites, Buenos Aires 2010, S. 65–134. 28. Consideraciones criticas sobre la situación espiritual de la cienca juridicopenal alemana, Bogota 1996, 62 S.; auch in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 91–134; sowie in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 219–258. 29. Principles of Criminal Legislation in Postmodern Society: The Case of Environmental Law, in: Buffalo Criminal Law Review, Vol. 1, 1997, No. 1, S. 175–194. 30. Sobre la critica a la teoria de la prevencion general positiva, in: Silva Sánchez (Hrsg.), Política criminal y nuevo Derecho penal (Libro Homenaje a Claus Roxin), Barcelona 1997, S. 89–100. 31. Vorsatz und Irrtum im Strafrecht (in japanischer Übersetzung), in: Revue de droit compare/Comparative Law Review, Vol. XXXI No. 4, 1998, S. 29–46. 32. Zum Schutz von Ehe und Familie durch das Strafrecht und vor dem Strafrecht (in japanischer Übersetzung), in: Comparative Law and Culture 1998, S. 19–51. 33. Die objektive Zurechnung im Strafrecht (in japanischer Übersetzung), in: Keiho Zashi (Zeitschrift für das Strafrecht) 37 (1998), S. 285–307. 34. Die fundamentale Bedeutung des Umweltstrafrechts in der postmodernen Gesellschaft (in japanischer Übersetzung), in: Nomos 1998, S. 309– 326.
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35. Rechtsphilosophische und strafrechtsdogmatische Probleme der Bestrafung staatlichen Unrechts („Regierungskriminalität“) (in japanischer Übersetzung), in: The Tohoku Gakuin University Review – Law and Political Science, 1999, S. 147–180. 36. Criticising the Notion of a Genuine Criminal Law Against Legal Entities, in: Eser/Heine/Huber (Hrsg.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities, International Colloquium Berlin 1998, Freiburg i.Br. 1999, S. 225–233. 37. Placing the Enterprise Under Supervision („Guardianship“) as a Model Sanction Against Legal and Collective Entities, in: Eser u.a. (Hrsg.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities, International Colloquium Berlin 1998, Freiburg i.Br. 1999, S. 293–299. 38. La posición de la policía en el proceso penal, in: Revista de Politica Criminal y Ciencias Penales, Mexico 1999, Numero especial 1, S. 243–260. 39. The Role of the Victim within the Criminal Justice System: A ThreeTiered Concept, in: Buffalo Criminal Law Review, Vol. 3, 1999: Dubber/Schünemann (Hrsg.), Symposium Victims and the Criminal Law: American and German Perspectives, S. 33–49. 40. La culpabilidad: Estado de la cuestión, in: Silva Sánchez (Hrsg.), Sobre el estado de la teoría del delito (Seminario en la Universidad Pompeu Fabra), Madrid 2000, S. 91–128; auch in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 317–345; und in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 437–454. 41. Las prescripciones sobre la autoría en la ley boliviana sobre la base de las modificaciones al codigo penal del 10 de marzo de 1997 y los problemas fundamentales del derecho penal de empresas económicas, in: Gómez Méndez (Hrsg.), Sentido y contenidos del sistema penal en la globalización, Santa Fe de Bogotá 2000, S. 285–300; auch in: Revista Electrónica de Derecho Penal, Peru, Nr. 14, Nov. 2000; und in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 195–217. 42. La relación entre ontologismo y normativismo en la dogmática jurídicopenal, in: Universidad Nacional de Educación a Distancia (Hrsg.), Modernas Tendencias en la Ciencia del Derecho Penal y en la Criminología, Madrid 2000, S. 643–664; auch in: Moreno Hernández (Hrsg.), Fundamentos de la dogmática penal y de la política criminal (ontologismo y normativismo), Mexico D.F. 2002, S. 35–62; ferner in Revista Brasileira de Ciências Criminais 44 (2003), S. 11–33; auch: Cuestiones
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básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 135–169; sowie in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídicopenal, Bogotá 2007, S. 81–111; sowie in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 187–217. 43. Über die Rolle des Opfers im Strafrechtssystem (in chinesischer Übersetzung), in: Gao Mimg-Xuan und Zhao Bin-Zhi (Hrsg.), 21 Shiji Xingfaxue Xinwenti Yantao (Zu den neuen Problemen der Strafrechtswissenschaft im 21. Jahrhundert), Peking 2001, S. 18–32. 44. Legal Education in 21st Century China, in: China Legal Education Striving for the World – Collection of Articles, Renmin University 2001, S. 276–279. 45. The Role of the Victim within the Criminal Justice System – New Prospects of the 21st Century (in chinesischer Übersetzung), in: China Legal Education Striving for the World – Collection of Articles, Renmin University 2001, S. 531–537. 46. Shortcomings of the Classic Concept of Criminal Liability for Negligence in the Contemporary Society: New Tendencies and Prospects, in: China Legal Education Striving for the World – Collection of Articles, Renmin University 2001, S. 1036–1046. 47. The EU-CHINA Legal Education Systems and Their Scientific Research Systems, in: China Legal Education Striving for the World – Collection of Articles, Renmin University 2001, S. 1033. 48. Ofrece la reforma del Derecho penal económico alemán un modelo o un escarmiento?, in: Consejo General del Poder Judicial (Hrsg.), Jornadas sobre la „Reforma del Derecho Penal en Alemania“, Madrid 1992, S. 31–47; auch in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 185–202; und in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 219–242. 49. Crisis del procedimiento penal? – Marcha triunfal del procedimiento penal americano en el mundo?, in: Consejo General del Poder Judicial (Hrsg.), Jornadas sobre la „Reforma del Derecho Penal en Alemania“, Madrid 1992, S. 49–58; auch in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal, Año IV, Num. 8 A, Buenos Aires, 1998, S. 417–431; ferner in: Revista de Derecho Penal Nr. 11, Juni 2000, Montevideo, S. 111–118; und in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 288–302.
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50. Krise des Strafprozesses? Siegeszug des amerikanischen Strafverfahrens in der Welt? (in chinesischer Übersetzung), in: Criminal Law Journal (Taiwanesische Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft), Vol. 36 (1992), Heft 3, S. 62–78. 51. Las reglas de la técnica en derecho penal, in: Revista del colegio de abogados penalistas de valle, Vol. XVII, Kolumbien 1985, S. 13–51; auch in: Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales, 1994, S. 307–342; und in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 153–184; sowie in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 243–283. 52. Sobre la dogmática y la política criminal del Derecho penal del medio ambiente, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal, Ano 5, Numero 9, S. 627–653; auch in: Libro Homenaje a Troconis, Venezuela 1998; ferner in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 203–223; sowie in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 309–335. 53. Del Derecho penal de la clase baja al Derecho penal de la clase alta – ¿Un cambio de paradigma como exigencia moral?, in: Temas actuales y permanentes después del milenio, Madrid 2002, S. 49–69; auch in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 147–174; und in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 13–40. 54. Consideraciones sobre la imputacion objetiva, in: Teorías actuales en el Derecho penal, Buenos Aires 1998, S. 219–248; auch in: Revista de Política Criminal y Ciencias Penales, México 1999, Número especial 1, S. 33–51; ferner in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 70–96; und in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 315–358; sowie in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 19–56; in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 377–415. 55. Über die objektive Zurechnung (in chinesischer Übersetzung), in: Criminal Law Journal (Taiwanesische Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft), Vol. 42, Heft 6 (1998), S. 81–117; und in: Yü-hsiu Hsü/ Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 469–496.
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56. Vom Unterschichts- zum Oberschichtsstrafrecht. Ein Paradigmawechsel im moralischen Anspruch? (in chinesischer Übersetzung), in: Festschrift für Fu-Tzeng Hung zum 85. Geburtstag, Taipei 1999, S. 1–32; auch in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 79–104. 57. El refinamiento de la dogmática jurídico-penal ¿Callejón sin salida en europa? Brillo y miseria de la ciencia jurídico-penal alemana, in: Temas actuales y permanentes después del milenio, Madrid 2002, S. 11–23; auch in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 169–185. 58. Libertad de voluntad y culpabilidad en Derecho penal, in: Temas actuales y permanentes después del milenio, Madrid 2002, S. 24–48; auch in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 17–49. 59. Concepto de dolo en la nueva dogmática del derecho penal, in: Revista de Politica Criminal y Ciencias Penales, Mexico 1999, Numero especial 1, S. 65–75; auch in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 97–111. 60. Nuevas tendencias en el concepto juridico penal de culpabilidad, in: Revista de Politica Criminal y Ciencias Penales, Mexico 1999, Numero especial 1, S. 93–107; auch in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 112–128. 61. Los fundamentos de la responsabilidad penal de los órganos de dirección de las empresas, in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, Madrid 2002, S. 129–152; auch in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 163–193. 62. Die neue Entwicklung der Schuldlehre in Deutschland (in koreanischer Übersetzung), in: Seoul Law Journal, Vol. XXXXIII, No. 1, 2002, S. 465–486. 63. Schwangerschaftsabbruch (in koreanischer Übersetzung), in: Journal of Criminal Law, Vol. 17 (2002), S. 279–299. 64. Sistema del Derecho penal y victimodogmática, in: Diez Ripollés/Romeo Casabona/Gracia Martín/Higuera Guimerá (Hrsg.), La Ciencia del Derecho penal ante el nuevo siglo, Libro Homenaje al Profesor Cerezo Mir, Madrid 2002, S. 159–172. Erweiterte Fassung in: Moreno Hernández (Hrsg.), Problemas capitales del moderno Derecho penal a principios del
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Siglo XXI, Mexiko 2003, S. 87–113; Debatte: S. 261–267, 281–283; auch in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 279–315; sowie in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 337–373. 65. Das System des strafrechtlichen Unrechts: Rechtsgutsbegriff und Viktimodogmatik als Brücke zwischen dem System des Allgemeinen Teils und dem Besonderen Teil (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü (Hrsg.), Foundations and Limits of Criminal Law and Criminal Procedure – An Anthology in Memory of Professor Fu-Tseng Hung, Taipei 2003, S. 123–164; und in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 179–207. 66. The System of Criminal Wrongs: The Concept of Legal Goods and Victim-based Jurisprudence as a Bridge between the General and Special Parts of the Criminal Code, in: Buffalo Criminal Law Review Vol. 7 (2003), S. 551–582. 67. Das Menschenbild des Grundgesetzes in der Falle der Postmoderne – Gedanken im Gedenken an Arthur Kaufmann (in dt. u. chinesischer Sprache), in: Shing-I Liu (Hrsg.), Value Pluralism, Tolerance and Law, Taipei 2003, S. 35–78. 68. Zum gegenwärtigen Stand der Dogmatik der Unterlassungsdelikte in Deutschland (in chinesischer Übersetzung), in: The Military Law Journal (Taiwanesische Zeitschrift für Militärrecht), Vol. 49, Heft 5 (2003), S. 1–13; Vol. 49, Heft 6 (2003), S. 1–19; auch in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 563–606. 69. Kommentar zur Strafprozeßordnung der Mongolei vom 10. Januar 2002 (in mongolischer Übersetzung), in: Ts. Sarantuya (Hrsg.), Die neue mongolische Strafprozessordnung, Ulan Bator 2003, 44 S. 70. La significación del principio penal de culpabilidad en la época de la globalización, in: Universidad Externado de Colombia (Hrsg.), XXV Jornadas Internacionales de Derecho Penal, Colombia 2003, S. 215–243; auch in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 465–490. 71. La teoría de la protección del bien jurídico como base del derecho penal en la época de la globalización, in: Universidad Externado de Colombia (Hrsg.), XXV Jornadas Internacionales de Derecho Penal, Colombia
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2003, S. 245–267; und in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 65–83. 72. Nuevas tendencias internationales en la responsabilidad penal de personas jurídicas y empresas, in: Universidad Externado de Colombia (Hrsg.), XXV Jornadas Internacionales de Derecho Penal, Colombia 2003, S. 269–306. 73. Sobre la regulación de omisión impropria en los eurodelitos, in: Tiedemann (Hrsg.), Eurodelitos. El derecho penal económico en la unión europea, Cuenca 2003, S. 35–38. 74. El Derecho en la globalización económica: imperialismo del líder y colonización de los órdenes jurídicos ¿instrumentalización del Derecho penal? – Un análisis a partir del ejemplo de los tribunales penales internacionales y de las convenciones internacionales sobre drogas y corrupción, in: Moreno Hernández (Hrsg.), Globalización e internacionalización del Derecho penal, México 2003, S. 115–126. 75. Presentación, in: Gracia Martín, Prolegómenos para la lucha por la modernización y expansión del Derecho penal y para la crítica del discurso de resistencia, Valencia 2003, S. 13–20. 76. Prólogo, in: Hörnle, Determinacion de la pena y culpabilidad, Buenos Aires 2003, S. 15–20. 77. Debate: Existe o no la posibilidad de vincular ontologismo y normativismo como bases de la política criminal y la dogmática penal?, in: Moreno Hernández (Hrsg.), Problemas capitales del moderno derecho penal a principios del siglo XXI, Mexico 2003, S. 281–283. 78. Debate en torno a la conferencia: La idea de la normativización en la dogmática jurídico penal del Günther Jakobs, in: Moreno Hernández (Hrsg.), Problemas capitales del moderno derecho penal a principios del siglo XXI, Mexico 2003, S. 261–267. 79. Ugolovnoje zakonodatelstvo v postmodernistskom obschestwje, prinzipy, kasajuschiesja ekologitscheskogo prawa (na primere FRG i SSCHA), in: Umweltrecht 2003, S. 48–54. 80. Some Comments on Parts II and IV of the Model Penal Code from a German Perspective: Fundamentals of the Statutory Regulation of Correctional Practice in Germany, in: Buffalo Criminal Law Review, Vol. 7 (2003), S. 233–246. 81. Prevención de riesgos laborales, in: Mir Puig (Hrsg.), Nuevas Tendencias de la Politica Criminal en Europa, Barcelona 2004, S. 253–269; auch in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 287–308.
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82. Responsabilidad penal en el marco de la empresa – dificultades relativas a la individualización de la imputación, in: Anuario de derecho penal y ciencias penales, 2004, S. 9–38. 83. Administración desleal de presupuestos como problema dogmático, in: López Barja de Quiroga/Zugaldía Espinar (Hrsg.), Dogmática y ley penal – Libro homenaje a Enrique Bacigalupo, Tomo II, Madrid, Barcelona 2004, S. 1227–1237; auch in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 375–390. 84. El dominio sobre el fundamento del resultado: base lógico-objetiva común para todas las formas de autoría, in: Derecho penal y criminología, Revista del Instituto de Ciencias Penales y Criminológicas, Universidad Externado de Colombia, Vol. XXV, Nr. 75, Januar/Juni 2004, S. 13–25; auch in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 275–313; ferner in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 195–228; und in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 491–524. 85. El tempestuoso desarrollo de la figura de la autoría mediata, in: Derecho penal y criminología, Revista del Instituto de Ciencias Penales y Criminológicas, Universidad Externado de Colombia, Vol. XXV, Nr. 75, Januar/ Juni 2004, S. 27–42; in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 525–537. 86. Europeizacja prawa karnego niebezpieczenstwem dla demokratycznego panstwa prawnego?, in Jurysta Nr. 7/8, 2004, S. 5–11. 87. The Sarbanes-Oxley Act of 2002: A German Perspective, in: Buffalo Criminal Law Review, Vol. 8 (2004), S. 35–50. 88. Cuestiones básicas de la estructura y reforma del procedimiento penal bajo una perspectiva global, in: Derecho Penal y Criminología, Revista del Instituto de Ciencias Penales y Criminología, Volumen XXV, Núm. 76, julio/diciembre 2004, Universidad Externado de Colombia, S. 175–197; auch in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 393–425. 89. Claus Roxin in seiner Epoche (in japanischer Übersetzung), in: Bernd Schünemann (Hrsg.), Claus Roxin, Person – Werk – Epoche, Tokyo 2005, S. 73–93. 90. Überreichung der Festschrift (in japanischer Übersetzung), in: Bernd Schünemann (Hrsg.), Claus Roxin, Person – Werk – Epoche, Tokyo 2005, S. 3–9.
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91. El dominio sobre el fundamento del resultado: Base lógico-objetiva común para todas las formas de autoría incluyendo el actuar en lugar de otro, in: Alonso García u.a. (Hrsg.), Homenaje al Profesor Dr. Gonzalo Rodríguez Mourullo, Cizur Menor (Navarra) 2005, S. 981–1005. 92. Acerca de la relación entre norma y estado de cosas en la aplicación del derecho, entre premisa mayor y menor en el silogismo jurídico y entre cuestiones de derecho y de hecho en el proceso penal, in: Rivista de Derecho Penal y Procesal Penal 2005, S. 915–927; auch in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 113–145; und in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 51–82. 93. El Derecho en el proceso de la globalización económica, in: Moreno Hernández (Hrsg.), Orientaciones de la política criminal legislativa, Mexico D.F. 2005, S. 3–16. 94. Lo permanente y lo transitorio del pensamiento de Welzel en la dogmática penal de principios del siglo XXI. Del descrubrimiento de Welzel del dominio social del hecho al desarrollo del “dominio sobre el fundamento del resultado” como principio general de autoría. A su vez, un análisis de la teoría de las estructuras lógico-objetivas y de la relación entre ontologismo y normativismo, in: Hirsch/Cerezo Mir/Donna (Hrsg.), Hans Welzel en el pensamiento penal de la modernidad – Homenaje en el centenario del nacimiento de Hans Welzel, Buenos Aires 2005, S. 251–272. 95. O direito penal é a ultima ratio da protecão de bens jurídicos! – Sobre os limites invioláveis do direito penal em um Estado de Direito liberal, in: Revista Brasileira de Ciencias Criminais 2005, S. 9–77; auch in: Estudos de direito penal, direito processual e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 69–90. 96. Unternehmenskriminalität, in: International Association of Penal Law (AIDP), Taiwan Chapter (Hrsg.), Democracy, Human Rights, Justice. Essays in Honor of Professor Dr. Jyun-hsyong Su for His 70th Birthday (in chinesischer Übersetzung), Taipei City 2005, S. 169–194. 97. Del descubrimiento de Welzel del dominio social del hecho al desarrollo del “dominio sobre el fundamento del resultado” como principio general de la autoría. A su vez, un análisis de la estructura de la autoría mediate, de la teoría de las estructuras lógico-objetivas y de la relación entre ontologismo y normativismo, in: Moreno Hernández u.a. (Hrsg.), Problemas capitals del moderno derecho penal, Libro homenaje a Hans Welzel con motivo de su 100 aniversario, México D.F. 2005, S. 231–256.
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98. Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung (in chinesischer Übersetzung), in: Hassemer/Neumann/Schroth (Hrsg.), Verantwortetes Recht: Die Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns, Stuttgart 2005, S. 323–353. 99. Nulla poena sine lege? (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 1–37. 100. Strafrechtssystem und Kriminalpolitik (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 39–64. 101. Kritische Anmerkungen zur geistigen Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/JyhHuei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 65–78. 102. Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 105–132. 103. Die deutsche Strafrechtswissenschaft nach der Jahrtausendwende (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 133–159. 104. Das Strafrecht im Zeichen der Globalisierung (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 161–178. 105. Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit –
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Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 209–232. 106. Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform im Spiegel des Leipziger Kommentars und des Wiener Kommentars (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 293–336. 107. Die Funktion der Abgrenzung von Unrecht und Schuld (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 337–379. 108. Vom philologischen zum typologischen Vorsatzbegriff (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 383–399. 109. Die Objektivierung von Vorsatz und Schuld im Strafrecht (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 401–440. 110. Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts in der modernen Industriegesellschaft – Eine Bestandsaufnahme (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 441–467. 111. Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Strafrechtsschuld (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 497–523. 112. Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 525–561.
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113. Die Akzeptanz von Normen und Sanktionen aus der Perspektive der Tatproportionalität (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/ Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 607–620. 114. Tatsächliche Strafzumessung, gesetzliche Strafdrohungen und Gerechtigkeits- und Präventionserwartungen der Öffentlichkeit aus deutscher Sicht (in chinesischer Übersetzung), in: Yü-hsiu Hsü/Jyh-Huei Chen (Hrsg.), Unbestechlich und unbeirrbar im Dienst von Recht und Gerechtigkeit – Abhandlungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft von Bernd Schünemann zu seinem 60. Geburtstag, Taipei 2006, S. 621–630. 115. Peligros para el estado de derecho a través de la europeización de la administración de justicia penal?, in: Armenta Deu/Gascón Inchausti (Hrsg.), El derecho procesal penal en la Unión Europea – Tendencias actuales y perspectivas de futuro, Madrid 2006, S. 19–36. 116. La responsibilidad penal de las empresas y sus órganos directivos en la unión Europea, in: Bajo Fernández u.a. (Hrsg.), Constitución Europea y derecho penal económico, Madrid 2006, S. 141–157. 117. El papel de la víctima dentro del sistema de justicia criminal: un concepto de tres escalas, in: Schünemann/Albrecht/Prittwitz/Fletcher, La víctima en el sistema penal, Lima 2006, S. 18–37. 118. Derecho penal del enemigo?, in: Schöne (Hrsg.), Estado de derecho y orden jurídico-penal, Asunción 2006, S. 135–151; auch in: Cancio Meliá/Gómez-Jara Díez (Hrsg.), Derecho penal del enemigo, Band II, Madrid 2006, S. 963–984; und in: Cuestiones básicas del derecho penal en los umbrales del tercer milenio, Lima 2006, S. 171–196; ferner in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogotá 2007, S. 57–79; in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 41–63; und in: Derecho penal contemporáneo – Sistema y desarrollo. Peligro y límites, Buenos Aires 2010, S. 135–166. 119. Europeizacja prawa karnego. Tendencje, problemy I alternatywy, in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i socjologiczny, ROK LXVIII, zeszyt 3, 2006, S. 43–57. 120. Humanes Strafrecht (in mongolischer und deutscher Sprache), in: Hanns-Seidel-Stiftung, Projekt Mongolei (Hrsg.), Rechtsreform in der Mongolei im Laufe der Transformation, Ulaanbaatar 2006, S. 193–204.
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121. A Programme for European Criminal Justice, in: Schünemann (Hrsg.), A Programme for European Criminal Justice, Köln, Berlin, München 2006, S. 313–316. 122. The Foundation of Transnational Criminal Proceedings, in: Schünemann (Hrsg.), A Programme for European Criminal Justice, Köln, Berlin, München 2006, S. 344–361. 123. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Struktur des Strafverfahrens (in chinesischer Übersetzung), Fudan Law Journal 2006, S. 65–72. 124. De un concepto filológico a un concepto tipológico de dolo, in: Aspectos punctuales de la dogmática jurídico-penal, Bogota 2007, S. 175–194; auch in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 417–436. 125. El derecho penal es la ultima ratio para la protección de bienes jurídicos!, in: Aspectos puntuales de la dogmática jurídico-penal, Bogota 2007, S. 251–278; mit geringfügigen Veränderungen auch in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 85–112. 126. Existen en un estado de derecho restricciones constitucionales para el derecho penal?, in: Llobet Rodríguez (Hrsg.), Justicia penal y estado de derecho, Homenaje a Francisco Castillo Gonzáles, San José 2007, S. 21–35. 127. Alternative-project for a European Criminal Law and Procedure, in: Criminal Law Forum 2007, S. 227–251. 128. Un progetto alternative per l’Europeizzazione del diritto penale, in: Militello (Hrsg.), Un progetto alternative di giustizia penale Europea, Mailand 2007, S. 3–29. 129. Aporías de la teoría de la pena en la filosofía – pensamientos sobre Immanuel Kant, in: Pensamiento penal y criminológico, Revista de derecho penal integrado, Ano VII – Nr. 11, 2007, S. 257–273; auch in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 149–165; und in: Derecho penal contemporáneo – Sistema y desarrollo. Peligro y límites, Buenos Aires 2010, S. 167–191. 130. Implementacja europejskiego nakazu aresztowania w Polsce i Niemczech w porównaniu – szkic krytyczny z niemieckiego punktu widzenia, in: Szwarc/Joerden (Hrsg.), Europeizacja prawa karnego w Polsce I w Niemczech – podstawy konstytucyjnoprawne, Poznan 2007, S. 273–286.
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131. Función y límites de la ciencia juridical penal en el siglo XXI, in: Universidad de Zaragoza (Hrsg.), Acto de investidura des grado de doctor honoris causa, Zaragoza 2007, S. 49–59. 132. Cuestiones básicas de la estructura y reforma del procedimiento penal bajo una perspectiva global, in: Reyna Alfaro (Hrsg.), Colección “Justicia y Proceso”, La prueba, reforma del proceso penal y derechos fundamentales, Lima 2007, S. 193–222. 133. El llamado delito de omisión impropria o la comisión por omisión, in: García Valdés u.a. (Hrsg.), Estudios penales en homenaje a Enrique Gimbernat, Tomo II, Madrid 2008, S. 1609–1630. 134. The Contribution of Scientific Projects to a European Criminal Law, in: Bassiouni u.a. (Hrsg.), European Cooperation in Penal Matters: Issues and Perspectives, Milano 2008, S. 119–135. 135. La estructura de los delitos de peligro (los delitos de peligro abstracto y abstracto-concreto como modelo del Derecho penal económico moderno), in: Cuestiones actuales del sistema penal, Lima 2008, S. 11–27. 136. La administración desleal de los órganos societarios: el caso Mannesmann, in: Gómez-Jara Díez (Hrsg.), La administración de los órganos societarios, Barcelona 2008, S. 19–80. 137. ¿“Infracción grave del deber” en la administración desleal?, in: GómezJara Díez (Hrsg.), La administración de los órganos societarios, Barcelona 2008, S. 83–96. 138. El tribunal supremo alemán en la marana del tipo de la administración desleal, in: Gómez-Jara Díez (Hrsg.), La administración de los órganos societarios, Barcelona 2008, S. 123–148. 139. A posição da vítima no sistema da justiça penal, in: Greco/Lobato (Hrsg.), Temas de Direito Penal Parte General, Rio de Janeiro u.a. 2008, S. 3–16; auch in: Estudos de direito penal, direito processual e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 112–123. 140. Crítica del modelo norteamericano de procedimiento penal, in: Boletín ONBC 2008, S. 49–59; auch in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 427–450. 141. La punibilidad de las personas jurídicas desde la perspectiva europea, in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 115–161. 142. La polícia alemana como auxiliar del ministerio fiscal: estructura, organizacón y actividades, in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 451–483.
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143. El denominado delito de omisión impropria o la comisión por omisión, in: Discursos Universitarios, Arequipa/Perú, 2009, S. 17–43. 144. A crítica ao paternalismo jurídico-penal: um trabalho de Sísifo?, in: Revista Brasileira de Filosofia 2009, S. 107–132; auch in Justiça e Sistema Criminal 7 (2012), S. 47–70; und in Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, Madrid, Barcelona, Buenos Aires, São Paulo 2013, S. 91–111. 145. As regras por trás da excecão: reflexões sobre a tortura nos chamados “casos de bomba-relógio” e comentário (gemeinsam mit L. Greco), in: Revista Brasileira de Ciéncias Criminais 2009, S. 7–40. 146. Protection of Children and Other Vulnerable Victims Against Secondary Victimisation: Making It Easier to Testify in Court, in: ERA Forum 2009, S. 387–396. 147. Que significado ha tenido la prohibición de retroactividad (art. 103 párr. 2° GG) en la reforma penal de la antigua RDA?, in: Obras, Tomo I, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 109–148. 148. Due Process of Law, the International Covenant on Civil and Political Rights and the Structure of Criminal Procedure (in englischer Sprache und chinesischer Übersetzung), in: The Application and Implementation of United Nations Conventions in the Criminal Justice – The 2nd International Forum of Contemporary Criminal Law Working Papers, 2009, S. 191–209. 149. La deducción de los principios generales de la imputación penal a partir de la finalidad preventivo-general del derecho penal, in: Calle Calderón (Hrsg.), El Estado Actual de las Ciencias Penales (Homenaje a la Facultad de Derecho y Ciencias Políticas de la Universidad de Antioquia 1827–2007), Medellin/Colombia 2009, S. 17–33. 150. Determinación de la estructura del proceso penal por medio del derecho penal material, in: Calle Calderón (Hrsg.), El Estado Actual de las Ciencias Penales (Homenaje a la Facultad de Derecho y Ciencias Políticas de la Universidad de Antioquia 1827–2007), Medellin/Colombia 2009, S. 353–367. 151. El fortalecimiento de la posición de la víctima en el proceso penal – dicha o desgracia?, in: Obras, Tomo II, Colección autores de derecho penal, hrsg. v. Donna, Buenos Aires, Santa Fe 2009, S. 485–502; auch in: Revista Cubana de Derecho 2009, S. 96–109. 152. Función y límites de la ciencia jurídico penal en el siglo XXI, in: Carlos Mendoza/Urquizo Videla (Hrsg.), El Penalista de la América Austral –
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Ofrenda académica al Prof. E. R. Zaffaroni, Arequipa/Perú 2010, S. 65–74. 153. El sistema de la teoría del delito, in: Derecho penal contemporáneo – Sistema y desarrollo. Peligro y límites, Buenos Aires 2010, S. 31–63. 154. Problemas y paradojas jurídico-penales del sida en Alemania. Veinte anos después, in: Luzón Pena (Hrsg.), Libro Homenaje a Santiago Mir Puig, Madrid 2010, S. 227–239. 155. O princípio da proteção de bens jurídicos como ponto de fuga dos limites constitucionais e da interpretacao dos tipos, in: Greco/Tórtima (Hrsg.), O Bem Jurídico como Limitação do Poder Estatal de Incriminar?, Rio de Janeiro 2011, S. 25–56; auch in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 39–68. 156. Hacia la síntesis necesaria entre la construcción de una concepción funcional y ontológica del derecho penal: Reflexiones a propósito del fundamento de la culpabilidad, in: Motoya (Hrsg.), Críticas al funcionalismo normativista y otros temas actuales del derecho penal – Jornadas Internacionales de Derecho Penal, Lima 2011, S. 17–36. 157. As bases do proceso penal transnacional, in: Revista Brasileira de Ciencias Criminais 90 (2011), S. 189–209; auch in: Estudos de direito penal, direito processual e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 265–281. 158. Per una critica della cosiddetta formula di Radbruch – note su un concetto di diritto culturalmente e comunicativamente orientato, in: Science Giuridiche, Science Cognitive e Intelligenza artificiale, Rivista quadrimestrale on-line: www.i-lex.it, Dicembre 2011, numero 13–14. 159. Protection of Intellectual Property Through Criminal Law, in: Criminal Law Protection of Intellectual Property in the Context of Internationalization, Peking 2012, S. 103–116. 160. El castigo de la córrupcion privada según el derecho penal vigente y futuro, in: Arraque (Hrsg.) Estudios de derecho penal – libo homenaje a Juan Fernandez Carrasquilla, Medellin/Colombia 2012, S. 1237–1254. 161. La destrucción ambiental como arquetipo del delito, in: Pérez Alonso u.a. (Hrsg.), Derecho, Globalización, Riesgo y Medio Ambiente, Valencia 2012, S. 429–441. 162. Audiência de instrução e julgamento: modelo inquisitorial ou adversarial?, in: Greco/Martins (Hrsg.), Direito Penal como crítica da pena, Estudos em homenagem a Juarez Tavares, Madrid, São Paulo 2012, S. 631–648; auch in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 222–239.
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163. Proteccíon de bienes jurídicos, ultima ratio y victimodogmática. in: Robles Planas (Hrsg.), Límites al Derecho penal, Barcelona 2012, S. 63–85. 164. Modelos nuevos procesales y su aplicación para el combate de la delincuencia organizada, in: Boletín ONBC (Cuba) No. 46 (2012), S. 21–27. 165. Bases y principios politico-criminales del sistema procesal penal acusatorio, in: Boletín ONBC (Cuba) 47 (2013), S. 47–53. 166. El límite entre dolo e imprudencia, in: Temas de Ciencias Penales, Libro Homenaje al 50°Aniversario de la Universidad de San Martín de Porres, Lima 2013, S. 141–153. 167. La responsabilidad de las empresas: Para una síntesis necesaria entre dogmática y política criminal, in: Temas de Ciencias Penales, Libro Homenaje al 50°Aniversario de la Universidad de San Martín de Porres, Lima 2013, S. 259–278; auch in: Ontiveros Alonso (Hrsg.), Persona Jurídicas, Valencia 2012, S. 497–522. 168. The Global Competition between Civil Law and Common Law – Pointed out by Way of Example of the Classical German and US Models of Criminal Procedure, in: New Reports in Criminal Law, Shanghai/ China 2013, S. 428–445. 169. La llamada crisis financiera: ¿Fracaso del sistema o crimen organizado global?, in: Fernández Steinko (Hrsg.), Delincuencia, finanzas y globalización, Madrid 2013, S. 335–370. 170. Do conceito filológico ao conceito tipológico de dolo, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 127–141. 171. A figura jurídica do “autor por trás do autor” e o princípio dos “níveis do domínio do fato”, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 142–158. 172. Sobre a posição de garantidor nos delitos de omissão imprópria: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 159–181. 173. A chamada “crise financeira” – falha sistêmica ou criminalidade globalmente organizada?, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 185–202. 174. O juiz como um terceiro manipulado no processo penal? Uma confirmação empírica dos efeitos perseverança e aliança, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 205–221.
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175. Um olhar crítico ao modelo processual norte-americano, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 240–261. 176. Espiral ou ovo estrelado? Modelos de aplicação do direito: do modelo hermenêutico ao modelo da filosofia analítica da linguagem, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 285–297. 177. Do templo ao mercado? Como a justiça penal aparentemente transforma a teoria econômica do direito em prática, governo em governança e soberania em cooperação, in: Estudos de direito penal, direito processual penal e filosofia do direito, São Paulo 2013, S. 298–323. 178. The European Investigation Order: A Rush into the Wrong Direction, in: Ruggeri (Hrsg.), Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe, Heidelberg u.a. 2014, S. 28–35. 179. Solution Models and Principles Governing the Transnational EvidenceGathering in the EU, in: Ruggeri (Hrsg.), Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe, Heidelberg u.a. 2014, S. 161–180. 180. Vorverurteilung durch Aktenkenntnis: Eine empirische Studie zu den Vor- und Nachteilen des deutschen gegenüber dem amerikanischen Strafverfahren (in chinesischer Übersetzung), in: He, Ting u.a. (Hrsg.), Foreign Empirical Research on Criminal Justice, Peking 2014, S. 74–102. 181. Can Punishment Be Just?, in: Festschrift for Andrew von Hirsch, Cambridge 2014, S. 269–282.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Hans Achenbach, Universität Osnabrück Prof. Dr. Knut Amelung, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Alejandro Aponte Cardona, Pontificia Universidad Javeriana, Bogotá Prof. Dr. Werner Beulke, Universität Passau Dr. Beatrice Brunhöber, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Manuel Cancio Meliá, Universidad Autónoma de Madrid Prof. Dr. Miguel Díaz y García Conlledo, Universidad de León Prof. Dr. Dr. mult. Edgardo Alberto Donna, Universidad de Buenos Aires Prof. Markus Dirk Dubber, University of Toronto Prof. Dr. Gunnar Duttge, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Armin Engländer, Universität Passau Prof. Dr. Volker Erb, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Albin Eser, Direktor em. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg im Breisgau Prof. Dr. Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Frisch, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Enrique Gimbernat Ordeig, Universidad Complutense de Madrid Prof. Dr. Sabine Gleß, Universität Basel Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Luis Gracia Martín, Universidad de Zaragoza PD Dr. Luís Greco, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Rainer Hamm, Rechtsanwalt, Frankfurt am Main Prof. Dr. Roland Hefendehl, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Manfred Heinrich, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Rolf Dietrich Herzberg, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Michael Hettinger, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas von Hirsch, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Tatjana Hörnle, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Jörn Ipsen, Universität Osnabrück Prof. Dr. Christian Jäger, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Dr. h.c. Heike Jung, Universität des Saarlandes Dr. Peter Kasiske, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Hisao Katoh, Keiō Gijuku Daigaku, Tokio Prof. Dr. Giorgi Khubua, Technische Universität München Prof. Dr. Il-Su Kim, vormals Präsident des Koreanischen Instituts für Kriminologie, Seoul
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Dres. h.c. Urs Kindhäuser, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Diethelm Klesczewski, Universität Leipzig Prof. Dr. Ralf Kölbel, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Matthias Krüger, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dr. Dres. h.c. Kristian Kühl, Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. Lothar Kuhlen, Universität Mannheim Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Heiner Kühne, Universität Trier Prof. Dr. Ernst-Joachim Lampe, Universität Bielefeld Prof. Dr. Klaus Lüderssen, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Dr. h.c. Diego-Manuel Luzón Peña, Universidad de Alcalá, Madrid Prof. Vincenzo Militello, Università degli Studi di Palermo Dr. Ioannis Morozinis, Rechtsanwalt, Athen Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Francisco Muñoz-Conde, Universidad Pablo Olavide, Sevilla Prof. Dr. Dr. h.c. Ulfrid Neumann, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Dr. h.c. Harro Otto, Universität Bayreuth Prof. Dr. Raúl Pariona Arana, Universidad Nacional Mayor de San Marcos, Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima Prof. Dr. Enrique Peñaranda Ramos, Universidad Autónoma de Madrid Prof. Dr. José Milton Peralta, Universidad Nacional de Córdoba Prof. Dr. Lothar Philipps, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr. Jens Puschke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Henning Radtke, Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Klaus Rogall, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Thomas Rönnau, Bucerius Law School, Hamburg Prof. Dr. Henning Rosenau, Universität Augsburg Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Imme Roxin, Rechtsanwältin, München Dr. Mariana Sacher, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ludwig-MaximiliansUniversität München Prof. Dr. Franz Salditt, Rechtsanwalt/Justizrat, Neuwied Prof. Dr. Hero Schall, Universität Osnabrück Prof. Dr. Roland Schmitz, Universität Osnabrück Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Scholler, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dres. h.c. Friedrich-Christian Schroeder, Universität Regensburg Prof. Dr. Ulrich Schroth, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jesús-María Silva Sánchez, Universidad Pompeu Fabra, Barcelona Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Streng, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Dr. h.c. Andrzej J. Szwarc, Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu, Poznan Prof. Dr. Dr. Juarez Tavares, Universidade do Estado do Rio de Janeiro Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Tiedemann, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Fernando Velásquez Velásquez, Universidad Sergio Arboleda, Bogotá Prof. Dr. Petra Velten, Johannes Kepler Universität Linz
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Thomas Weigend, Universität zu Köln Prof. Dr. Edda Weßlau †, Universität Bremen Prof. Dr. Petra Wittig, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, Universität Bayreuth Prof. Dr. Jürgen Wolter, Universität Mannheim Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka, Kansai University, Osaka Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Andrzej Zoll, Uniwersytet Jagielloński, Kraków Prof. Dr. Mark A. Zöller, Universität Trier
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