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German Pages 596 [600] Year 2001
Festschrift für Akira Ishikawa zum 70. Geburtstag
Festschrift für A K I R A ISHIKAWA zum 70. Geburtstag am 27 November 2001 herausgegeben von
Gerhard Liike
Takehiko Mikami
Hanns Prütting
w DE
_G 2001 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Festschrift für Akira Ishikawa zum 70. Geburtstag am 27. November 2001 / hrsg. von Gerhard Liike ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 ISBN 3-11-016139-7
© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz G m b H & Co. KG, Lemförde Druck: H . Heenemann G m b H & Co., Berlin Bindung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Akira Ishikawa zum 27 November 2001 K O S T A S BEYS
H A N S PETER
DIETER
TAKEHIKO
BINDZUS
REINHARD WALTER
BORK
ISAMU
BUCHEGGER
MASAHISA
DEGUCHI
HENRIETTE-CHRISTINE DUURSMA-KEPPLINGER HANS FRIEDHELM PETER JAN
GAUL
GOTTWALD
GROTHEER
ULRICH PETER
HAAS HANAU
GÜNTHER
HÖNN
T O I C H I R O KLGAWA DIETER
LEIPOLD
GERHARD
LÜKE
WOLFGANG MICHAEL
LÜKE
MARTINEK
MORI
JOACHIM HEINZ
MÜNCH
MÜLLER-DIETZ
JÁNOS
NÉMETH
GEORGIOS HANNS
ORFANIDIS
PRÜTTING
WALTER GEORG
RECHBERGER RESS
HERBERT HELMUT
ROTH RÜSSMANN
EBERHARD PETER
MARUTSCHKE
MIRAMI
SCHILKEN
SCHLOSSER
ROLF A .
SCHÜTZE
KLAUS STERN ROLF
STÜRNER
GERHARD
WALTER
R O L F Z A WAR
Inhalt Geleitwort
XI
KOSTAS E . BEYS
Einige Fälle privatrechtlicher Regelung der Zwangsbefriedigung der Gläubiger
1
D I E T E R BINDZUS
Jugendhilfe in Deutschland - Entwicklung, Stand und Perspektiven
11
REINHARD BORK
Aufrechnung und Insolvenzanfechtung
31
W A L T E R BUCHEGGER u n d HENRIETTE-CHRISTINE
DUURSMA-KEPPLINGER
Rechtshandlungen und Verfügungen des Schuldners über Massegegenstände im deutschen und österreichischen Recht . . .
47
MASAHISA DEGUCHI
Zum neuen Gesetz über Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens
79
H A N S FRIEDHELM GAUL
Die Vollstreckung in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit ein legislatorisch und wissenschaftlich vernachlässigtes Mittel der Rechtsverwirklichung
87
PETER G O T T W A L D
Mediation und gerichtlicher Vergleich: Unterschiede und Gemeinsamkeiten
137
JAN GROTHEER
Elektronischer Rechtsverkehr und Schriftlichkeitsgebot ein ungleiches Paar? Zugleich: E-mail-Klagen beim Finanzgericht Hamburg
157
Vili
Inhalt
ULRICH HAAS
Rechtshängigkeitssperre und Sachzusammenhang
165
PETER HANAU
Goethe als Jurist
189
GÜNTHER H Ö N N
Europarechtlich gesteuerter Verbraucherschutz und die Tendenz zur Materialisierung im nationalen Zivil- und Zivilprozessrecht
199
T O I C H I R O KLGAWA
Neue Aspekte für die japanische ZPO
215
DIETER LEIPOLD
Zuständigkeitslücken im neuen Europäischen Insolvenzrecht . . G E R H A R D LÜKE
Aus der Jugendzeit der Streitgegenstandslehre
221 241
WOLFGANG LÜKE
Der Bundesgerichtshof zur Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts - Ariadnefaden aus dem Labyrinth oder Durchtrennung des gordischen Knotens ?
253
M I C H A E L MARTINEK
Die Mitwirkungsverweigerung des Schiedsbeklagten
269
H A N S PETER M A R U T S C H K E
Rechtsschutzbedürfnis und Klageinteresse - eine rechtsvergleichende Betrachtung
293
TAKEHIKO M I K A M I
Einige Probleme im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Löschung der Sicherungsrechte im Zivilrehabilitationsverfahren in Japan
313
ISAMU M O R I
Ungünstiges und gleichwertiges Parteivorbringen in Japan . . . .
325
JOACHIM MÜNCH
Das Exequatur von Schiedssprüchen: materielle Einwendungen zur prozessualen Verteidigung?
335
Inhalt HEINZ
MÜLLER-DIETZ
Von der Überzeugungskraft des richterlichen Urteils JÁNOS
GEORGIOS
HANNS
381
PRÜTTING
Ermittlung und Anwendung von ausländischem Recht in Japan und Deutschland WALTER
GEORG
397
H.RECHBERGER
Schlichtungsverfahren in Japan und Osterreich
409
RESS
Schmerzensgeld für juristische Personen? HERBERT
HELMUT
429
ROTH
Das Wahlrecht des Gläubigers zwischen Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung bei Immissionsurteilen
443
RÜSSMANN
Die internationale Zuständigkeit für Widerklage und Prozessaufrechnung EBERHARD
455
SCHILKEN
Probleme der außergerichtlichen obligatorischen Streitschlichtung aufgrund der Offnungsklausel nach § 15a EGZPO
471
SCHLOSSER
Prozessuale Probleme des postmortalen Persönlichkeitsrechts . . .
485
A.SCHÜTZE
Das Vermögen als Anknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit KLAUS
371
ORFANIDIS
Rechtsbegriffe als Beweis- und Geständnisgegenstand
ROLF
361
NÉMETH
Berührungspunkte schiedsgerichtlichen Verfahrens mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Ungarn
PETER
IX
493
STERN
Die grundrechtlichen Einwirkungen zugunsten eines effektiven Verwaltungsgerichtsschutzes in Deutschland
505
χ
Inhalt
ROLF
STÜRNER
Die Partei als Beweismittel im europäischen Zivilprozeß GERHARD
. . . .
529
WALTER
Neues Recht der Binnenschiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz . .
541
R O L F Z A WAR
Zehn Jahre vollstreckbarer Anwaltsvergleich
559
Schriftenverzeichnis von Akira Ishikawa
569
Autorenverzeichnis
581
Geleitwort 1. Akira Ishikawa hat sich um das deutsche Recht und seine Beachtung in der japanischen Rechtswissenschaft verdient gemacht. Seit über 40 Jahren verfolgt er mit wacher Aufmerksamkeit die Rechtsentwicklung in Deutschland und sorgt mit dafür, daß vor allem aus dem Bereich des Zivilprozeßrechts neue Gesetze, Gesetzesvorhaben, interessante Gerichtsentscheidungen und Literaturäußerungen in Japan schnell und zuverlässig bekannt werden. Er berichtet selbst oder läßt durch seine vielen Schüler berichten, die ihrerseits enge Beziehungen zum deutschen Recht haben. Er lädt deutsche Professoren zu Gastvorträgen und Vorlesungen nach Japan ein und veranstaltet mit ihnen gemeinsame Seminare auch zu Fragen des deutschen und europäischen Rechts. Umgekehrt arbeitet er häufig an deutschen Universitäten mit den dortigen Kollegen zusammen. Seine Prozeßrechtsvergleichung und die seiner Schüler ist stark auf das deutsche Recht ausgerichtet. So versteht es sich fast von selbst, daß seine Verdienste um das deutsche Recht und die deutsche Prozeßrechtswissenschaft aus Anlaß seines 70. Geburtstags mit einer in Deutschland erscheinenden Festschrift gewürdigt werden, an der sich neben deutschen auch japanische, österreichische, griechische, ungarische und Schweizer Wissenschaftler beteiligt haben. Angesichts der langjährigen besonders engen Verbindungen mit der Universität des Saarlandes ist es nur folgerichtig, daß die feierliche Ubergabe der Festschrift in Saarbrücken stattfindet, und zwar in denselben Räumen, in denen ihm 1996 die Ehrenmitgliedschaft der Deutsch-Japanischen Gesellschaft des Saarlandes verliehen worden ist. 2. Akira Ishikawa wurde am 27 November 1931 in Tokio geboren. Er besuchte dort von 1938 bis 1950 die Grund-, Mittel- und Oberschule. Anschließend studierte er vier Jahre Rechtswissenschaft an der Keio Universität in Tokio und absolvierte danach an derselben Universität bis 1956 das Studium im Magisterkurs mit den Spezialgebieten Zivil- und Zivilprozeßrecht sowie deutsches Recht. Nach fünfjähriger Assistentenzeit war er von 1961 bis 1967 Associate Professor in Keio und unmittelbar anschließend dort ordentlicher Professor bis zu seiner Emeritierung 1994. Seitdem ist er Professor im Magister- und Doktorkurs der Asahi Universität. Deutschland und die deutsche Rechtswissenschaft hat er schon in jungen Jahren „vor O r t " kennen und schätzen gelernt: A b 1959 nahm er einen Studienaufenthalt von 18 Monaten an der Universität München als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes wahr. 1971 und 1975 folgten jeweils sechsmonatige Gastprofessuren in den Rechtsfakultäten der Uni-
XII
Geleitwort
versitäten Saarbrücken und Köln mit Unterstützung des DAAD und der Humboldt-Stiftung. Viele Vortrags- und Forschungsaufenthalte an anderen deutschen und europäischen Universitäten kamen hinzu, aus denen persönliche und fachliche Kontakte erwuchsen. Aber auch außereuropäische Universitäten waren Orte seines wissenschaftlichen Wirkens, etwa in Taiwan, Korea, China, Australien und in den USA. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß Akira Ishikawa ein gern gesehener Wissenschaftler und Gast in vielen Teilen der Welt ist. Er genießt als Prozessualist unter seinen japanischen Fachkollegen große Wertschätzung, die ihm auch von den deutschen Professoren des Prozeßrechts entgegengebracht wird. Seine Kölner und Saarbrücker Ehrendoktorwürden, die ihm im April 1985 und im Dezember 1988 von den dortigen Rechtsfakultäten verliehen wurden, zeigen dies eindrucksvoll. Angesichts seines hohen wissenschaftlichen Ranges war es selbstverständlich, daß ihn die Japanische Gesellschaft für Zivilprozeßrecht 1978 für insgesamt acht Jahre in ihren Vorstand wählte. Von 1991 bis 1994 gehörte er dem japanischen Forschungsrat an. Auch in anderen wichtigen Kommissionen und Ausschüssen, etwa des japanischen Justizministeriums, war er Mitglied. Seit 1996 ist er Präsident des DAAD-Freundeskreises in Japan. 3. Sein literarisches Werk ist ungewöhnlich umfangreich. Es umfaßt zahlreiche Monographien, Lehrbücher und Kommentare, die er als Autor, Herausgeber und Mitherausgeber zur gesamten Breite des Zivilprozeßrechts veröffentlicht hat. Genauso vielfältig ist die lange Liste seiner Aufsätze. Ihre Thematik beschränkt sich nicht auf das Prozeßrecht, sondern bezieht auch Fragen des Familienrechts, des Wettbewerbs- und Umweltrechts sowie der Juristenausbildung ein. Viele Besprechungen und Entscheidungen japanischer Gerichte, insbesondere des O G H , aber auch deutscher Gerichte, ergänzen das Bild. In den letzten Jahren hat er sich vor allem mit der außergerichtlichen Streitbeilegung befaßt und hierüber nicht nur in Deutschland Vorträge gehalten. Einige markante Themen seien aus seinem Werk herausgegriffen. a) Seinen wohl wichtigsten Beitrag zur japanischen Prozeßrechtswissenschaft hat er mit seinen Büchern über den Prozeßvergleich und die Prozeßhandlung geleistet. Er kann als Begründer der Lehre von der Prozeßhandlung in Japan angesehen werden. Unter Berücksichtigung der zu diesem Thema in Deutschland vertretenen Lehrmeinungen hat er eine Privatrechtsgeschäftstheorie entwickelt. Nach seiner Meinung besteht der Prozeßvergleich aus dem zivilrechtlichen Vergleichsvertrag und der gerichtlichen Feststellung und Bestätigung des Vergleichs. Die prozeßbeendende Wirkung sieht er in dieser gerichtlichen Feststellung. Seine Ansicht zum Prozeßvergleich hat sich zwar nicht durchgesetzt; denn in Übereinstimmung mit der deutschen Prozeßrechtswissenschaft ist auch in Japan die Auffassung herrschend, daß der Prozeßvergleich eine Doppelnatur hat, nämlich einmal ma-
Geleitwort
XIII
terielles Rechtsgeschäft i. S. des § 779 BGB, zum anderen Prozeßhandlung ist, wie die unmittelbaren prozeßrechtlichen Wirkungen des Prozeßvergleichs, nämlich Prozeßbeendigung und Vollstreckbarkeit, zeigen. Seine Lehre ist jedoch so gewichtig, daß an ihr niemand vorbeigehen kann, der sich in Japan mit dem Thema befaßt. Zutreffend ist, darin erweist sich Ishikawas Auffassung als richtig, daß beispielsweise die Aufrechnung auch im Prozeß Privatrechtsgeschäft bleibt. Davon zu unterscheiden ist die prozessuale Gletendmachung ihrer Wirkungen im Prozeß. b) Aus dem Recht des Erkenntnisverfahrens ist ferner hervorzuheben, daß nach Ansicht Ishikawas auch in der Vergangenheit liegende Rechtsverhältnisse Gegenstand einer Feststellungsklage sein können, für die ein rechtliches Interesse i . S . des § 256 I der deutschen Z P O besteht. Diese Meinung ist inzwischen vorherrschend; ihr ist auch die Rechtsprechung in Japan gefolgt. c) Schließlich hat sich Ishikawa große Verdienste um die Erforschung der Vollstreckungsgegenklage i . S . des § 767 der deutschen Z P O erworben. Er stuft sie - wie auch Akira Mikazuki - als besondere Klage ein, die sowohl Feststellungs- als auch Gestaltungszwecke verfolgt, nämlich einmal die Feststellung, daß der im Vollstreckungstitel verbriefte Anspruch erloschen oder verändert sei, sowie die Beseitigung der Vollstreckbarkeit des Titels. Mit dieser Theorie, die in Japan stark beachtet wird, hat er einen wichtigen Beitrag zur Auslegung prozessualer Vorschriften geleistet. Folgerichtig hat er seine Ansicht auch auf die Drittwiderspruchsklage i. S. des § 771 der deutschen Z P O übertragen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß Ishikawa seit langem in diesem Teilbereich des Prozeßrechts mit seiner Auffassung eine führende Rolle spielt, obgleich sie sich nicht allgemein durchgesetzt hat. Es wird daran erinnert, daß auch in der deutschen Prozeßrechtswissenschaft die Diskussion um die Rechtsnatur von Vollstreckungsabwehr- und Drittwiderspruchsklage noch nicht endgültig abgeschlossen ist. 4. Folgende Sätze aus der Laudatio auf Akira Ishikawa anläßlich seiner Ehrenpromotion in Saarbrücken seien zitiert, die nach wie vor Gültigkeit haben: „Mit Professor Ishikawa wird ein hochangesehener Rechts gelehrter geehrt. Ihm kommt das zusätzliche Verdienst zu, wesentlich dazu beigetragen zu haben, daß die deutsche Rechtswissenschaft, insbesondere die Prozeßrechtswissenschaft, nach dem Zweiten Weltkrieg ihren großen Einfluß in Japan behauptet und die japanische Rechtsentwicklung mitgeprägt hat." Sein Eintreten für das deutsche Recht und sein nimmermüder Einsatz für deutsche Wissenschaftsorganisationen hat der deutsche Bundespräsident durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse im vorigen Jahr gewürdigt. Nunmehr folgt als D a n k seiner Fachkollegen und Freunde in Deutschland die Ubergabe der ihm zum 70. Geburtstag gewidmeten Fest-
XIV
Geleitwort
schrift. Möge es dem Jubilar vergönnt sein, noch viele Jahre für das Recht und die Wissenschaft vom Recht auf internationaler Ebene zu wirken und den bisherigen Erfolgen weitere anzufügen. Saarbrücken, Tokyo und Köln, im Juli 2001 Gerhard Lüke
Takehiko Mikami
Hanns Prutting
Einige Fälle privatrechtlicher Regelung der Zwangsbefriedigung der Gläubiger KOSTAS E . BEYS
1. Einführung Neben den zivilprozeßrechtlichen Regelungen der Zwangsbefriedigung der Gläubiger als ein Teil des öffentlichen Rechts kennt auch die hellenische Rechtsordnung manche privatrechtlichen Lösungen zum selben Ziel. Geläufige Beispiele wären die Bestimmungen des hellenischen Zivilgesetzbuches zum Pfand (hlZGB 1209 ff), zur Hypothek (hlZGB 1257ff.), aber auch zu der Aufrechnungseinrede (hlZGB 440 ff), aufgrund derer der Gläubiger unmittelbare und im Vergleich mit den anderen Gläubigern wirklich privilegierte Befriedigung genießt. Über diese allgemein bekannten privatrechtlichen Regelungen zur Zwangsbefriedigung der Gläubiger hinaus, gibt es auch andere, die die Aufmerksamkeit fast ausschließlich der Privatrechtler auf sich gelenkt haben. Deshalb könnte es von Interesse sein, sie auch aus der Sicht des Zivilprozeßrechts zu erforschen, zumal die Zwangsbefriedigung der Gläubiger grundsätzlich diesem Rechtsgebiet angehört. 2. Die dingliche Haftung des Erwerbers einer Vermögensmasse oder eines Unternehmens 2.1. Laut Art 479 hl ZGB, wenn aufgrund eines Vertrages eine Vermögensmasse oder ein Unternehmen übertragen wird, so haftet der Erwerber dem Gläubiger gegenüber für die Schulden, die zu dieser Vermögensmasse oder zu diesem Unternehmen gehören, bis zum Wert der übertragenen Gegenstände. 2.2. Ausgang der Regelung von Art 479 hl ZGB ist das privatrechtliche Prinzip, wonach - einerseits - im Falle einer Gesamtnachfolgeschaft der Erbe das Erbschaftsvermögen als Ganzes erwirbt, das heißt zusammen mit seinen Aktiva und Passiva, so dass er für die Schulden haftet, die auf die Erbschaft lasteten, während dagegen andererseits - im Falle einer Sondernachfolgeschaft bezüglich einer bestimmten Sache keine Haftung des Sondernachfolgers besteht. Dieser erwirbt nur die Sache als aktiven Anteil des ursprünglichen Vermögens des Rechts Vorgängers, ohne Teilnahme an die Passiva seines Vermögens.
2
Kostas E. Beys
Vom Prinzip der Sondernachfolgeschaft, ohne Teilnahme des Erwerbers an den Schulden seines Rechtsvorgängers, weicht die hellenische Rechtsordnung (in Nachahmung der deutschen) im Falle der Sondernachfolgeschaft bezüglich eines gesamten Vermögens oder Unternehmens (hl Z G B 479) ab, wonach die Haftung der Vermögensmasse gegenüber den Gläubigern auch auf die Sondernachfolger übertragen wird. 1 2.3. D e r Erwerber einer Vermögensmasse oder eines Unternehmens wird gemäß Art 479 hl Z G B nicht dem Bürgen gleichgestellt, d. h. er genießt nicht den Ausweg der Vorausklageeinrede (vgl. hl Z G B 855). E r haftet, als wäre er mit dem ursprünglichen Schuldner - Rechtsvorgänger identisch. 2.4. Die Identifikation von Rechtsvorgänger und Rechtsnachfolger als ein und dasselbe Rechtssubjekt ist bei der Erbschaft verständlich, weil der Erblasser nicht mehr am Leben ist. Es gibt aber auch Fälle einer quasi Gesamtnachfolgeschaft, in denen, juristisch betrachtet, der Rechtsvorgänger parallel zu seinem Rechtnachfolger besteht, wie zB im Falle der Fusion zweier Gesellschaften zu einer neuen Form. Die ursprüngliche Schuldner-Gesellschaft gilt trotz ihrer Fusion bis zu ihrer Liquidation als bestehend, d . h . bis sie ihre letzte Schuld beglichen hat. In einem solchen Fall haftet als quasi G e samtnachfolger der ursprünglichen Gesellschaft auch die neue Gesellschaft, die aus der Fusion hervorgegangen ist. 2.5. Im Falle der dinglichen Haftung des Erwerbers nach Art 479 hl Z G B handelt es sich nicht um eine Art von Gesamthaftung, 2 d. h. nicht um eine neue Schuldenpflicht, sondern lediglich um die ursprüngliche, deren subjektive Grenzen erweitert wurden. Denselben Anspruch, den der Gläubiger gegenüber dem ursprünglichen Schuldner hat, hat er von nun an kummulativ und in seiner Gesamtheit auch gegenüber dem Erwerber einer Vermögensmasse. Dieser Rechtsnachfolger haftet auch für die entsprechenden Schulden mit, als würde es sich um eine Gesamtnachfolgeschaft handeln, und in verhältnismäßiger Anwendung der Rechtsprinzipien, die im Falle der G e samtnachfolgeschaft gelten. 2.6. Im internationalen Geschäftsverkehr wird üblicherweise die Anwendung von fremdem Recht vereinbart. Diese Dimension hat eine besondere praktische Bedeutung für den Fall von Art 479 hl Z G B , da es Rechtsordnungen gibt, die keine ähnliche Regelung kennen. So sieht das englische Recht keine dingliche Haftung desjenigen, der eine Vermögensmasse oder ein U n ternehmen erwirbt, bezüglich der Schulden dieser Vermögensmasse vor. 3 In 1 Michaelides/Nomros ErmAK (in hellenischer Sprache) 479 Nr 1 : darüber, dass Art 479 hl ZGB auf diese Weise, in diesem Punkt, den Unterschied zwischen Gesamt- und Sondernachfolgeschaft reduziert. 2 Michaelides/Nouaros aaO Nr 1 und 19. 3 Georgiades/Stathopoulos/Kretikos hl ZGB 479 Nr 44 S. 665. Berufungsgericht Piräeus 234/1992 Revue des Marinenrechts (END) 21,243ff. 406/1985 END 13,267ff. Erstgericht Piräeus 218/1976 Revue des Handelsrechts (EEmpD) 27,472 ff.
Einige Fälle privatrechtlicher Regelung der Zwangsbefriedigung der Gläubiger
3
einem solchen Fall entsteht die Frage, ob das hellenische oder das englische materielle Recht bezüglich der eventuellen dinglichen Haftung des Erwerbers einer Vermögensmasse oder eines Unternehmens des Schuldners Anwendung findet, wenn einerseits der Vertrag, aufgrund dessen der Anspruch des Gläubigers hervorgeht, dem englischem Recht unterliegt, das diese dingliche Haftung nicht kennt, während andrerseits der Vertrag über die Übertragung der Vermögensmasse oder des Unternehmens des Schuldners dem hellenischen Recht unterliegt. 2.6.1. Nach einer Meinung ist im obigen Fall dasjenige Recht anzuwenden, welches den zugrundeliegenden Verpfllichtungsvertrag (wie Verkauf, Schenkung, usw.), für die Veraüßerung der Vermögernsmasse bzw. des Unternehmens regelt. Diese Ansicht vermag jedoch meines Erachtens aus folgenden Gründen nicht zu überzeugen: fa) Die wörtliche Formulierung von Art 479 hl ZGB erwähnt nirgends den Verpflichtungsvertrag, während als Voraussetzungen für die gesetzliche Konsequenz der dinglichen Haftung des Erwerbers sowohl der Entäußerungsvertrag als auch die Schulden des Veräußers erwähnt werden, die das bereits übertragene Vermögen belasten; (b) falls diese Ansicht stimmte, dann gäbe es keinen Spielraum zur Anwendung von Art 479 hl ZGB, wenn die zu übertragende Vermögensmasse nur aus beweglichen Sachen bestehen würde. Und dies, weil der Verfügungsvertrag zu beweglichen Sachen nicht kausal ist (hl ZGB 1034 in Unterscheidung von hl ZGB 1033),wobei mitzuberücksichtgen ist, dass es heutzutagen Vermögensmassen, die aus beweglichen Sachen bestehen, möglicherweise einen viel größeren Geldwert als die Immobilien haben, wie z.B. Bündel von Wertpapieren oder auch Sammlungen von Gemälden. Der unkausale Charakter (hl ZGB 1034) ihrer Übertragung würde sie dann von der genannten dinglichen Haftung befreien; und darüber hinaus (c) wäre dann die Umgehung der gemäß Art 479 hl ZGB dinglichen Haftung durch die Unterordnung des Verpflichtungsvertrages unter englisches Recht (vrgl. hl ZGB Art 25 Abs. a) sehr leicht. 2.6.2. Eine weitere Möglichkeit auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts wäre diejenige, welche die Frage der dinglichen Haftung des Erwerbers nach dem Recht beurteilt, welches den Verfügungsvertrag der Masse- bzw. Unternehmensübertragung regelt. Diese Lösung hätte jedoch den Nachteil, dass bei Übertragung eines Schiffes die Vertragspartner leicht die Anwendung englischen Rechts vereinbaren, und dadurch die Befreiung des Schiffes von der dinglichen Haftung nach Art 479 hl ZGB erreichen könnten. 2.6.3. Die Ansicht, dass in dem hier zu behandelnden Problem das Recht Anwendung finden soll, welches die sicherzustellenden Schulden bestimmt, ist meines Erachtens aus folgenden beiden Gründen befriedigend:
4
Kostas E. Beys
(a) in dogmatischer Hinsicht, weil sie mit dem Zweck von Art 479 hl ZGB übereinstimmt, nämlich mit der Übernahme der Prinzipien der Gesamtnachfolgeschaft auch im Falle der Sondernachfolgeschaft, wenn es sich um die Übertragung einer Vermögensmasse oder eines Unternehmens handelt, und (b) weil sie die Umgehung zwingenden Rechts vermeidet. 2.7. Aus der Annahme dieser dritten Lösung erfolgen folgende Konsequenzen: (a) Unterliegt der Anspruch eines Gläubigers dem englischen Recht, so besteht aus der nach hellenischem oder deutschem Recht erfolgten Entäußerung einer Vermögensmasse oder eines Unternehmens keine dingliche Haftung des Erwerbers; (b) beim Vorliegen einer dinglichen Haftung besteht zwischen dem Veräußer Schuldner und dem dinglich haftenden Erwerber eine notwendige Streitgenossenschaft, da der Streit nur eine einheitliche Regelung erlaubt (hl ZPGB 76 § 1 Abs. a); (c) der Schiedsvertrag zwischen Gläubiger und ursprünglichem Schuldner umfaßt auch den dinglich haftenden Erwerber der Vermögensmasse bzw. des Unternehmens. 3. Die Anfechtung einer die Gläubiger benachteiligenden Entäußerung 3.1. Gemäß Art 939 hl ZGB sind die Gläubiger berechtigt, jede vom Schuldner zu ihrem Schaden vorgenommene Entäußerung anzufechten, sofern das noch übriggebliebene Vermögen des Schuldners zu ihrer Befriedigung nicht ausreicht, und sofern der Erwerber dies wusste (hl ZGB 941). Dann ist der Erwerber nach Art 943 hl ZGB verpflichtet, und zwar ausschließlich gegenüber dem sich auf die Benachteiligung berufenden Gläubiger, die Sachen in den Zustand wiederherzustellen, in den sie sich vor der angefochtenen Entäußerung befanden (hl ZGB 943). 3.2. Über den Sinn dieser Regelung besteht heftiger Streit. 3.2.1. nach der schuldrechtlichen Theorie hat der Gläubiger nur einen schuldrechtlichen Anspruch gegen den Erwerber, das Eigentum dem Schuldner zurück zu übertragen,4 und nötigerweise auf Verurteilung zur diesbezüglichen Willenserklärung verklagt werden. Diese Ansicht vermag jedoch aus beiden folgenden Gründen nicht überzeugen: (a) dass sie den Gläubiger zu einem sehr langsamen und folglich unwirksamen Rechtsschutzverfahren zwingt, und Litzeropoulos Elementelehre des Schuldrechts (in hellenischer Sprache), 2 (1960) § 344 S. 545. 4
Einige Fälle privatrechtlicher Regelung der Zwangsbefriedigung der Gläubiger
5
(b) dass sie im Falle von Immobilien die unvermeidbare wichtige Belastung mit der Rückübertragungssteuer zur Folge hat, wobei sich die weitere Frage aufsteht, wer denn bereit wäre, diese Steuer im voraus zu zahlen: der Rückübertragende, der verliert, was er erworben hatte? Der Wiederewerbende, der weiss, dass er nicht wiedererwirbt, um zu genießen, sondern damit seine Gläubiger von der Beschlagnahme und der Versteigerung des wiedereworbenen Grundastücks befriedigt werden? Oder wird der klagende Gläubiger die Steuer vorauszahlen, und zwar in Kenntnis der Risiken, die die Verteilung des jeweiligen Versteigerungserlöses nach hellenischem Recht mit sich bringt? 3.2.2. Nach einer anderen Theorie gewährt das Gesetz dem Gläubiger das unmittelbare Gestaltungsrecht, durch einseitige außergerichtliche Willenserkärung die Aufhebung der Entäußerung unmittelbar herbeizurufen und gleich zu pfänden. Diese Ansicht wird von der deutschen Behandlung der Anfechtung eines Rechtsgeschäfts wegen Irrtums, Täuschung oder Drohung durch außergerichtliche einseitige Erklärung (dt BGB 143 a) beeinflußt, die jedoch von dem hellenischen Zivilgesetzbuch nicht rezipiert wurde, welches zu Gunsten der Verkehrssicherheit bestimmt, dass die Anfechtung in den genannten Fällen ausschließlich durch eine gerichtliche Entscheidung rechtsgestaltender Natur erfolgt (hl ZGB 154). Dieselbe Notwendigkeit der Verkehrssicherheit besteht auch im Falle der Anfechtung einer Entäußerung wegen Gläubigerbenachteiligung gemäß Art 939 ff hl ZGB. 3.2.3. Nach einer dritten Theorie erfolgt zwar die Anfechtung der Entäußerung wegen Gläubigerbenachteiligung durch außergerichtliche einseitige Erklärung gegenüber dem Erwerber, die jedoch keinesfalls die unmittelbare Wiederkehr des Eigentums an den Schuldner herbeiführt, sondern bloß den Erwerber benötigt, die Pfändung der erworbenen Sache zu dulden. 5 Dadurch wird jedoch das lange Prozessieren nicht vermieden. Allein die Parteirollen werden umgetauscht, dh anstatt einer Verklagung des Erwerbers seitens des Gläubigers wird nun der Gläubiger die Pfändung bzw. die Beschlagnahme der erworbenen Sache anfechten. Darüber hinaus können jedoch schwierige Komplikation entstehen, wenn dieselbe Sache sowohl von den Gläubigern des Veräußers als auch von den Gläubigern des Erwerbers gepfändet bzw. beschlagnahmt wird. 3.2.4. Eine gerechte und wirksame Ausgleichung der entgegengesetzten Interessen aller beteiligten Seiten kann nur aufgrund folgender zwei Prämissen erzielt werden, erstens, dass die Interessen des Gläubigers, der die Entäußerung anficht, vorläufig durch Sicherungsmaßnahmen in der Form eines Verfügungsverbots gegen den Erwerber geschützt werden (hl ZPGB 732), 5
So Kargados ErmAK (in hellenischer Sprache) Einführung zu den Art 939-946 Nr 64ff. Filios Schuldrecht, besonderer Teil, Il/b 4. Aufl 1998 § 219 ÁS. 220.
6
Kostas E. Beys
und zweitens, dass danach die Erhebung einer Gestaltungsklage des Gläubigers gegen den Veräußer und den Erwerber in notwendiger Streitgenossenschaft erfolgt.6 4. Der Vorrang der Gläubiger des Erblassers gegenüber dem Vermächtnisnehmer 4.1. Der Erblasser hat die Macht zu bestimmen, dass besondere Gegenstände seines Vermögens an bestimmte Personen als seine Vermächtnisnehmer übergehen (hl ZGB 1714). Sofern es sich um ein unmittelbares Vermächtnis im Sinne von Art 1996 hl ZGB handelt, geht es um die sofortige Sondernachfolgeschaft des Erblassers: „durch das Vermächtnis erfolgt keine Gesamt- sondern eine Sondernachfolgeschaft".7 „Der Vermächtnisnehmer wird zum sofortigen Sondernachfolger des Erblassers".8 Und da es sich gerade um eine Sondernachfolgeschaft (und nicht um eine Gesamtnachfolgeschaft) handelt, „haftet der Erbe für die Schulden der Erbschaft laut Art 1901 § l", 9 und nicht der Vermächtnisnehmer, so dass zunächst „die Gläubiger der Erbschaft nicht am Gegenstand des Vermächntnisses befriedigt werden können".10 „Der Vermächtnisnehmer laut Art 1996 [ist] ein Sondernachfolger"11 und, „als stets Sondernachfolger des Erblassers (...), schuldet er nichts".12 4.2. Was erfolgt jedoch, wenn sich nach Annahme der Erbschaft herausstellt, dass sie für die Befriedigung der Gläubiger des Erblassers nicht ausreicht? 4.2.1. Wenn es sich nicht um ein unmittelbares Vermächtnis handelt, im Sinne dass der Vermächtnisnehmer nur einen schuldrechtlichen Anspruch gegenüber dem Erben hat, dann erflogt die Erfüllung des Vermächtnisses nach Befriedigung der anderen Verbindlichkeiten (hl ZGB 1901 Abs. b). 6 Georgiades/Stathopoulos/Banakas hl ZGB 943 Nr 1 S. 864. Zepos Schuldrecht (in hellenischer Sprache), II 2. Aufl 1965 S. 791 f. Kaukas Schuldrecht - besonderer Teil (in hellenischer Sprache), II 7. Aufl 1993 Art 939 - 942 Nr 3 S. 955 und Art 943 - 946 Nr 2 S. 966. Balis Allgemeiner Teil (in hellenischer Sprache) § 28 S. 88 und § 76 Nr 2 S. 212. Fourkiotis Schuldrecht (in hellenischer Sprache), II 2. Aufl S. 389. Areopag 343/1996 EID 38 [1997] 100. 611/1956 NoB 5,315. 572/1972 NoB 20,1429. 275,1973 NoB 21,1100. Erstgericht Athen 2929/1996 EID 38[1997] 164. 7 Ast. Georgiades Das vom Vermächtnis hervorgehende Recht (in hellenischer Sprache), § 1 II 3 S. 31. 8 Filios Erbrecht - besonderer Teil (in hellenischer Sprache), 4. Aufl 1998 § 45 Β I 1 S. 230, sowie § 39 A 4 S. 202: „das Vermächtnis (...) schafft Sondernachfolgeschaft des Erblassers". 9 Papantoniou Erbrecht (in hellenischer Sprache) § 26 S. 133. 10 Filios aaO § 45 IV 1 S. 233. 11 Papantoniou Das Verhältnis des nach Art 1996 Vermächntisnehmers zu den Schuldnern der Erbschaft, NoB 35 [1987], 1 ff [4], 12 Georgiades/Stathopoulos/Papanikolaou hl ZGB, 1995 - 1996 Nr 40 S. 720.
Einige Fälle privatrechtlicher Regelung der Zwangsbefriedigung der Gläubiger
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4.2.2. Umgekehrt antwortet die hellenische Gesetzgebung nicht direkt auf die Frage, was im Falle des unmittelbaren Vermächtnisses erfolgen soll, bei dem der Vermächtnisnehmer allein durch den Tod des Erblassers (und mit Vorbehalt der Eintragung in das Grundbuch für die Immobilien) sofort das Eigentum erlangt, während die übrigbleibende Erbschaft nicht zur Befriedigung der Gläubiger des Erblassers genügt. Sicher ist, dass in diesem Fall nicht Art 1901 Abs.lhl ZGB Anwendung findet: „in diesem Fall kann man nicht von Verbindlichkeiten des Erbes sprechen, zumal die Erbschaft objektiv um den Vermächtnisgegenstand vermindert wurde, und eigentlich Substraktion des Vermögens vorliegt". 13 Auf diese Weise verschärft sich die Frage, wie die hier vorhandene Gesetzeslücke auszufüllen ist,14 und folglich auch die Frage danach, was im Falle des unmittelbaren Vermächtnisses erfolgen soll, wenn die übrigbleibende Erbschaft nicht zur Befriedigung der Gläubiger des Erblassers genügt. 4.2.2.1. Nach einer Meinung ist die Testamentbestimmung über das unmittelbare Vermächtnis den Gläubigern der Erbschaft gegenüber unwirksam. 15 Zwar findet diese Meinung im hellenischen positiven Recht keine Stütze, aber es wird gemeint, dass diese Unwirksamkeit des unmittelbaren Vermächtnisses von der Annahme des Vorsprungs der Interessen der Gläubiger gegenüber den Interessen des Vermächtnisnehmers zu entehmen ist. 16 Diese Ansicht wurde jedoch mit der Bemerkung abgelehnt, dass sie nicht nur überhaupt keinen Halt im Gesetz findet, sondern ebensowenig dem Willen des Erblassers wie auch direkt dem Wesen des Vermächtnisses per vindicationem widerspricht, wie es in Art 1996 hl ZGB definiert wird.17 4.2.2.2. Nach einer anderen Meinung18 ist „im Falle des unmittelbaren Vermächtnisses die Absicht des Erblassers sichtbar, einen Erben mit beschränkter Haftung zu schaffen, nur für den Fall, dass die Erbschaft nicht genügen wird. Mit anderen Worten, der Erblasser hat einen Vermächtnisnehmer unter der schweigenden auflösenden Bedingung der Unzulänglichkeit der Erbschaft eingesetzt. So wird der Vermächtnisnehmer sofort und kraft Gesetzes den Vermächtnisgegenstand erwerben, im Falle jedoch der Ungenügsamkeit der Erbschaft für die Befriedigung der Gläubiger des Erblassers, unterliegt der Gegenstand auch des unmittelbaren Vermächtnisses der Pfändung bzw. der Beschlagnahme der Gläubiger des Erblassers. Ôoussis Erbrecht (in hellenischer Sprache), § 203 Fn 2 S. 525. Das Vorhandensein einer Gesetzeslücke bezüglich der Beziehungen der Gläubiger des Erblassers zu dem sofortigen Vermächtnisnehmer bejahen Vouzikas Erbrecht (in hellenischer Sprache), III 1983 § 160 IV S. 1061, Papantoniou aaO § 26 e S. 132 und Papanikolaou aaO 1995 - 1996 Nr 37 S. 718. 15 Filias aaO § 45 VI 1 S. 233. 16 Filios Die Schenkung von Todes wegen (in hellenischer Sprache), 1972 § 48 II 1 S. 171. 17 Papantoniou NoB 35,4. 18 Georgiades/Stathopoulos/Pantelidou ErmAK (in hellenischer Sprache), 1901 Nr 31 S. 260. 13
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Auch diese Auffassung der Abhängigkeit des unmittelbaren Vermächtnisses von der auflösenden Bedingung der Unzulänglichkeit der Erbschaft zur Befriedigung der Gläubiger findet jedoch keinen Halt weder im positiven hellenischen Recht noch im wirklichen Willen des durchschnittlichen Erblassers (vrgl. hl ZGB 173). Deshalb wird auch diese Auffassung als „ein eher fiktives Konstrukt abgelehnt". 19 4.2.2.3. Eine dritte Stellungnahme widerlegt zwar die Auffassung der Unwirksamkeit des unmittelbaren Vermächtnisses, wenn die Erbschaft nicht zur Befriedigung der Gläubiger ausreicht, vertritt aber die Möglichkeit der Gläubiger, den Gegenstand dieses Vermächtnisses in den Händen des Vermächtnisnehmers zu pfänden, und zwar nach folgender Konstruktion: „es wäre möglich (...) mit einer gewissen Übertreibung zu bemerken, dass im vorliegenden Fall durch Art hl 2GB 1901 Abs. 2 quasi ein sachenrechtliches Recht zugunsten aller Gläubiger der Erbschaft geschaffen würde". 20 Eine derartige Auslegungskonstruktion entspricht jedoch nicht dem hellenischen positiven Recht, welches einen numerus clausus der sachenrechtlichen Rechte kennt (hl ZGB 973), sodass kein Spielraum für die „Konstruktion" anderer sachenrechtlicher Rechte durch hermeneutische Spitzfindigkeiten übrigbleibt, während es ohnehin keine sachenrechtlichen Rechte zugunsten unbekannter Personen, d . h . derjenigen die als Gläubiger des Erblassers erscheinen, kennt, und schließlich sachenrechtliche Rechte unbekannter Personen, und zwar ohne jegliche Eintragung in das Grundbuch nichtg akzeptiert. 4.2.2.4. Eine weitere Theorie vertritt den Standpunkt, dass zwar das unmittelbare Vermächtnis selbst wirksam ist, mit dem Vorbehalt jedoch, dass der Vermächtnisnehmer lediglich verhindert wird, sich auf dieses gegen den Gläubiger der Erbschaft zu berufen. 2 , Dabei bleibt jedoch die Frage offen, gegen welchen Schuldner sich die Zwangsvollstreckung betrieben wird: gegen den bereits verstorbenen Erblasser, gegen den Erben oder gegen den Vermächtnisnehmer, und aufgrund welchen vollstreckbaren Titels ? 4.2.2.5. Schließlich wird die These vertreten, dass die Gläubiger bei Unmöglichkeit ihrer Befriedigung durch die Pfändung und Zwangsversteigerung der Erbschaft, trotz der Wirksamkeit des unmittelbaren Vermächtnisses, gegen den Vermächtnisnehmer angreifen dürfen, und zwar in Anwendung des Rechtsprinzips des Vorgangs ihrer Interessen gegen diejenigen des (mittel- oder unmittelbaren) Vermächtnisnehmers: 22 „das Recht der Gläubiger des Erbes darauf, sich gegen den Vermächtnisnehmer zu richten, soll nicht als Anspruch auf Auszahlung der Schuld seitens des Vermächtnis19
Papanikolaou aaO S. 720 Fn 117 Ast. Georgiades aaO § 5 S. 150. 21 fiathias Die Folgen der paulanischen Anfechtung, EID 30 [1989] 1273 ff = Privatrechtliche Studien (in hellenischer Sprache), 1997 S. 93 ff [102], 22 Papantoniou NoB 35,5; ders Erbrecht, § 26 e S. 133. Papanikolaou aaO S. 720. 20
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nehmers verstanden werden, da er als Sondernachfolger des Erblassers hier nichts „schuldet", sondern nur als Anspruch darauf, die im Vermächtnis beschleunigte Zwangsvollstreckung zu akzeptieren". 2 3 Diese Auffassung vermeidet sicherlich die Akrobatik aller anderer, aber sie scheint sich nicht zu fragen, mit welchem Vollstreckungstitel sich die Gläubiger des Erblassers gegen den unmittelbaren Vermächtnisnehmer wenden werden, u m den Gegenstand des Vermächtnisses zu pfänden. Falls sie sich auf den Vollstreckungstitel berufen, den sie bereits gegen den Erblasser besaßen, so wird übersehen, dass es keine Bestimmung des Gesetzes gibt, die den Vermächtnisnehmer mit dem Erblasser identifiziert, dessen bloßer Sondernachfolger er ist und wie zugegeben wird, der sofortige Vermächtnisnehmer, als Sondernachfolger des Erblassers hier nichts „schuldet". 2 4 Außerdem, auch wenn das Gesetz so etwas ausdrücklich bestimmen würde, dann würde eine solche gesetzliche Regelung, wonach der gegen den Erblasser erlassene Vollstreckungstitel auch seinen Sondernachfolger binden, mit dem Anspruch dieses Sondernachfolgers auf sein vorheriges rechtliches Gehör (hl Verf 20 § 1) unvereinbar. Darüber hinaus wäre auch eine selbständige Verklagung des unmittelbaren Vermächtnisnehmers seitens des Erbschaftsgläubigers aussichtslos, angesichts der Annahme, dass der unmittelbare Vermächtnisnehmer als Sondernachfolger des Erblassers nichts „schuldet". 2 5 4.2.2.6. Meines Erachtens ist die Lösung dieses Problems in der bereits erwähnen 2 6 Regelung von Art 939 hl ZGB zu suchen, wonach die Gläubiger jede Entäußerung ihres Schuldners anfechten dürfen, die sie benachteiligt, sofern das übrigbleibende Vermögen zu deren Befriedigung nicht genügt. Der Wortlaut des Gesetzes unterscheidet nicht zwischen einem Entäußerungsrechtsgeschäft zu Lebzeiten oder Todes wegen, so dass man sich berechtigterweise fragen dürfte, warum eigentlich der Fall des unmittelbaren Vermächtnisses nicht unter diese Regelung fällt. Zwar erfolgt die Anfechtung der Entäußerung grundsätzlich nur unter der Voraussetzung der Kenntnis seitens des Erwerbers, dass sein Rechtsvorgänger die Entäußerung zu Benachteiligung seiner Gläubiger vorgenommen hatte (hl ZGB 941). Bei einer Entäußerung jedoch im Wege eines unentgeltlichen Grundgeschäftes, wie bei Vermächtnis durch Testamentbestimmung der Fall ist, ist diese Kenntnis des Erwerbers nicht erforderlich (hl Z G B 942).
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Papanikolaou aaO. Papanikolaou aaO. Papanikolaou aaO. S o 3.
Jugendhilfe in Deutschland Entwicklung, Stand und Perspektiven DIETER
BINDZUS
I. 1. Die historische Entwicklung von den Wurzeln bis zum Erlaß des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt (RJWG) von 19221 Jugendhilfe (Jugendpflege und Jugendfürsorge) war von ihrem Ursprung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum Nachteil der jungen Menschen mit der „Armenpflege" verbunden. Öffentliche soziale Fürsorge im modernen Sinne kannte das Mittelalter noch nicht. Nach der „gottgewollten", festgefügten und auf das Jenseits ausgerichteten Gesellschaftsordnung dieser Zeit erbettelten sich die auf der untersten Stufe der sozialen Rangordnung stehenden Armen ihren Lebensunterhalt bei den oberen Ständen, für die es eine religiös ethische Verpflichtung - „aus Mitleiden um Gottes willen" war, durch Almosen die Versorgung der Armen sicher zu stellen. Lediglich für Hilfsbedürftige, die nicht in der Lage waren, sich durch Bettel zu ernähren, errichtete man als allgemeine Fürsorgeeinrichtung Spitäler. In diese, wahrscheinlich aber schon in die fränkische Zeit, fallen auch die ersten Anfänge organisierter öffentlicher Jugendhilfe. Als Fürsorge für die „verlassenen Kinder", zu denen die Findelkinder (ausgesetzte Kinder) und die nicht von ihrem Familienverband versorgten Waisenkinder gehörten, kam es zur Gründung der ersten Findel- und Waisenhäuser. Darüber hinaus war eine besondere öffentliche Fürsorge für Kinder nicht üblich. Sie gehörten zur Gruppe der Armen und wurden je nach der Situation in ihrer historischen Epoche diesen gleichgestellt, bis sie in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt durch Betteln zu verdienen. In der Folgezeit führte der Humanismus mit seiner Hinwendung zur Welt als soziale Reformbewegung zu einer höheren gesellschaftlichen Bewertung der Arbeit und im Hinblick auf die arbeitsfähigen Armen zu einer schärferen Betonung der Arbeitspflicht. Von diesen wurde nunmehr ver1 Umfassend über die gesamte Zeitperiode vgl Scherpner Geschichte der Jugendfürsorge, 2. Aufl 1979; ders Theorie der Fürsorge, 2. Aufl 1974; Bindzus!Musset Grundzüge des Jugendrechts, 1999, Rn 245 ff.
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langt, ihren Lebensunterhalt mit Arbeit zu verdienen. Dem inzwischen zur Landplage gewordenen Bettlerunwesen versuchten die städtischen Obrigkeiten, durch Bettelverbote zu begegnen, 2 doch gab es andererseits auch schon erste Versuche, die zunehmenden sozialen Mißstände durch öffentliche Fürsorgemaßnahmen zu bekämpfen. „Erziehung zur Arbeit" wurde als wirksames Mittel der Armenpflege angesehen. Nicht arbeitswillige Arme, Kleinkriminelle und Obdachlose brachten die Herrschenden zum Schutz der übrigen Bevölkerung zur Zwangsarbeit in Zucht-, Arbeits- und Spinnhäusern, die zu Zwangseinrichtungen der Armenpflege wurden. Das galt fast überall auch für Kinder und Jugendliche, ohne daß man dabei vorrangig erzieherische Ziele verfolgte. Als rühmliche Ausnahme darf insoweit die Stadt Nürnberg gelten. 3 Dort schrieb für die beiden Findelhäuser bereits seit 1530 eine „Findelordnung" vor, daß die Kinder lernen sollten, sich nur durch ihre eigene Arbeit ohne Almosen zu erhalten. Damit hatte in der Kinderfürsorge erstmals der Erziehungsgedanke eine zentrale Bedeutung erlangt. 4 Der 30jährige Krieg und seine Folgen zerstörten nicht nur die wenigen Ansätze sozialer Fürsorge, sondern erhöhten vor allem die Zahl der Notleidenden, insbesondere unter Kindern und Jugendlichen. Erst gegen Ende des 17 Jahrhunderts stabilisierten sich die Zustände. Immer noch waren Kinder und Jugendliche Teil der Armenfürsorge, doch gab es schon erste geglückte Bemühungen, dies zu ändern. August Hermann Francke (1673-1720) erprobte mit seinem vom Pietismus geprägten Erziehungskonzept in den von ihm begründeten Halleschen Anstalten neue Wege der Kinderfürsorge. 5 Nach seinen Vorstellungen sollten die Kinder „ohne Zwang dem Gebot Gottes folgen". Die bis dahin gängigen Methoden, Zucht und Ordnung mit rohen Prügelstrafen durchzusetzen, suchte er durch einen „väterlichen" Erziehungsstil zu ersetzen. Letztlich gewannen aber wieder wirtschaftliche Erwägungen in der Führung solcher nach dem Vorbild der Halleschen Anstalten in anderen Städten gegründeten Waisenhäuser die Oberhand. Die dadurch verstärkte Ausbeutung der Kinderarbeit führte zu hoher Sterblichkeit unter den Insassen. Das löste dann eine über Jahrzehnte geführte Auseinandersetzung darüber aus, ob es besser sei, die armen Kinder und Waisen in den Waisenhäusern der Städte oder bei bäuerlichen Pflegefamilien auf dem Land aufwachsen zu lassen („Waisenhausstreit" 6 ); dieser Streit setzt
Vgl dazu ausführlich Bindzus/Lange „Ist Betteln rechtswidrig?", in: JuS 1996, 482ff. Endres Sozialstruktur Nürnbergs, in: Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, 1971 ; Mummenboff Das Findel- und Waisenhaus zu Nürnberg, 1914. 4 Vgl hierzu Bindzus!Musset aaO (o Fn 1), Rn 245 ff (250). 5 Beyreuther August Herrmann Franke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, 1957 6 Jacobs Der Waisenhausstreit, Diss. 1931. 2 3
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sich bis heute in der Diskussion Heimerziehung contra Pflegefamilie fort. 7 Folge aber war, daß viele dieser Einrichtungen deshalb geschlossen und die Kinder in kostengünstigeren privaten Pflegestellen untergebracht und erzogen wurden. Auch in der Zeit der Aufklärung blieb es bei der Arbeitspflicht der A r m e n und derer Kinder. 8 A b e r das Prinzip der Zwangsarbeit m u ß t e der freiwilligen Erziehung zur Arbeit weichen. Z u m ersten Mal entstand mit der H a m burger Armenanstalt (1788) eine öffentliche Einrichtung, bei der die Kinderund Jugendfürsorge einer besonderen eigenständigen Behörde unterstellt wurde. Mittelpunkt dieses erfolgreichen und beispielhaften Modells war ein Schulsystem, in dem Lernschule, Arbeitsausbildung und Erwerbstätigkeit miteinander verbunden waren. Die beginnende Industrialisierung verursachte eine zunehmende Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten. Die „billige" Kinderarbeit b e k a m eine so große Bedeutung, daß dies zu einer hemmungslosen Ausbeutung der Kinder nicht nur durch die Industrie, sondern auch durch die eigenen Eltern führte. D i e damit einhergehende Verschärfung der sozialen M i ß stände rief als Reaktion zahlreiche private gesellschaftliche Hilfsinitiativen ins L e b e n , deren geistige Träger häufig die sich über ganz Deutschland ausbreitenden christlichen „Erweckungsbewegungen" waren. Musterbeispiele: die „Freywillige Armenschullehrer- und Armenkinderanstalt" von Christian Heinrich Zeller (1779 - 1860) in Beuggen/Oberrhein und das „Rauhe H a u s " von Johann Heinrich Wiehern (1808 - 1882) in H o r n bei H a m b u r g . D a nach Ansicht dieser beiden großen Erzieher die „ n o r m a l e " arme Familie sehr häufig in der Erziehung ihrer K i n d e r versagte, sollten die armen Kinder im Sinne der Ideen des Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi ( 1 7 4 6 - 1 8 2 7 ) in einer Ersatzfamilie, wobei Zeller gegenüber Wiehern die „ G r o ß f a m i l i e " der „Kleinfamilie" vorzog, erzogen und ausgebildet werden. D i e nicht nur temporären Erfolge dieser Einrichtungen bewirkten letztlich auch, daß beide große ( A m t s - ) K i r c h e n ihre ursprüngliche ablehnende Haltung gegenüber den „Erweckungsbewegungen" aufgaben. I m R a h m e n dieser Bewegungen begründeten Oberlin (1740-1826) und Fliedner (1800-1864) die Kinderschulbewegung, die die erzieherische Betreuung von Kleinkindern z u m Ziel hatte. N i c h t religiös gebunden war die nachhaltig auf die weitere Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe wirkende Bewegung von Fröbel ( 1 7 8 2 - 1 8 5 2 ) , wobei der von ihm geprägte Begriff „Kindergarten" bald in viele Weltsprachen ü b e r n o m m e n wurde. N a c h seiner Vorstellung von Kinderpädagogik sollten Spiele und kindliche Beschäftigungen, die die schöpferischen Kräfte des Kindes bewußt ausnutzten, eine Vorstufe im G e s a m t s y s t e m der Jugenderziehung bilden. Interessant ist, daß alle diese
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Bindzus/Musset aaO (o Fn 1) Rn 373 ff. Schädler Veränderungen der Armenpflege durch die Aufklärung, Diss. 1980.
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jugendfiirsorgerischen Bemühungen zumeist allein von privater Seite angestoßen, unterhalten und finanziert wurden. Entweder lehnten die Initiatoren wegen möglicher staatlicher Einflußnahme öffentliche Zuschüsse völlig ab ( Wiehern) oder sie hatten aus anderen Gründen keinen Zugang dazu. Beides machte die Existenz und das Fortbestehen dieser Einrichtungen höchst unsicher. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah sich der Staat durch die ständig wachsende Industrialisierung und die damit verbundene Verschärfung der sozialen Lage gezwungen, auf dem Gebiet der Jugendhilfe selbst stärker tätig zu werden. Da aufgrund der bisherigen Entwicklung öffentliche Einrichtungen der Jugendhilfe weitgehend fehlten, mußte der Staat auf die vorhandenen privaten Einrichtungen zurückgreifen. Damit war die Entwicklung vorgezeichnet, die zu dem bis heute in Deutschland unangetastet geltenden dualen System der Kinder- und Jugendhilfe führte: Öffentliche und private Träger erfüllen gemeinsam die Aufgaben. Dabei waren die Grundlagen dieses Systems, vor allem die Frage des Vor- bzw. Nachranges von öffentlicher und freier Jugendhilfe, lange Zeit Gegenstand heftigster politischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen („Subsidiaritätsstreit"). 9 Die weitere Entwicklung lief mehr und mehr auf die Herauslösung der Jugendhilfe aus der allgemeinen Armenfürsorge und ihrer Zuordnung zu einer eigenständigen kommunalen Zentralstelle zu, für die erstmals 1918 die Bezeichnung „Jugendamt" vorgeschlagen wird. Dazu hat auch die Einführung eines Kinder- und Jugendschutzes beigetragen. Da sich die exzessive Kinderarbeit nicht - wie man zunächst gehofft hatte - durch die Einführung der allgemeinen Volksschulpflicht eindämmen ließ, bedurfte es des zusätzlichen Anstoßes durch das preußische Militär. Das sah die Wehrfähigkeit seiner Streitkräfte gefährdet, weil sich als Folge der Kinderarbeit schwere gesundheitliche Schäden bei den Wehrpflichtigen zeigten. In Preußen führte dies mit dem Erlaß des „Regulativs über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" (1839) zu den ersten gesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet des Jugendschutzes. Erst 1891 wurde Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder endgültig verboten, 1903 schließlich auch deren Heimarbeit. Besserer Schutz wurde in Preußen 10 bereits 1840 durch die „Königliche Zirkularverfügung zur Aufnahme von Haltekindern" auch den in Pflegestellen gegen Entgelt betreuten Pflegekindern unter vier Jahren zuteil, als deren Aufnahme von einer polizeilichen Pflegeerlaubnis abhängig gemacht
9 Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Streit allgemein verbindlich dahingehend entschieden, daß die Gesamtverantwortung für die Jugendhilfe letztlich bei den Kommunen liegt (BVerfGE 22, 180 ff, 206). 10 Scbüttpelz Staat- und Kinderfürsorge in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss 1936.
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wurde. 11 Grund dafür war nicht zuletzt die durch das Problem der „Engelmacherinnen" - Aufnahme von Säuglingen gegen eine Abfindung, um sie dann alsbald versterben zu lassen - ausgelöste unverhältnismäßig hohe Säuglingssterblichkeit unter Pflegekindern. Für kriminell gewordene strafunmündige Kinder und wegen Schuldunfähigkeit freigesprochene Jugendliche wurde die Zwangserziehung in Erziehungs- und Besserungsanstalten eingeführt. Diese wurde in wachsendem Umfang auch von freien Trägern durchgeführt. Später wurde die Zwangserziehung durch die Fürsorgeerziehung ersetzt, die vom zwischenzeitlich errichteten Vormundschaftsgericht angeordnet werden mußte. Im Gefolge der Einführung der Sozialversicherung kam es zum Aufbau einer Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. Im Vormundschaftswesen übernahm der Staat Aufsichtsfunktionen, die letztlich entsprechend dem Modell der „Leipziger Ziehkinderanstalt" (1900) eine Generalvormundschaft für alle nichtehelichen Kinder vorsah und als Vorbild für die spätere Amtsvormundschaft des Reichsgesetzes für Jugend Wohlfahrt von 1922 gilt. Rechtlich und tatsächlich waren die Bemühungen um die soziale Hilfe für Kinder und Jugendliche bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts uneinheitlich und zersplittert, lag doch nach der Reichsverfassung von 1871 die Gesetzgebungskompetenz insoweit bei den einzelnen Bundesstaaten. Reformbestrebungen in den verschiedenen Teilen des Deutschen Reiches richteten sich insbesondere darauf, die Kinder- und Jugendhilfe aus der allgemeinen Armenfürsorge herauszulösen und alle Zuständigkeiten einer einheitlichen und eigenständigen Behörde zu übertragen. Diese Aktivitäten wurden begleitet von Bemühungen aus Wissenschaft und Praxis, weitere dringend notwendige Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe durchzusetzen. Erwähnt seien die Bestrebungen des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit" (ab 1919: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge), in dem Vertreter öffentlicher und privater Träger aller politischen Richtungen die Reformziele gemeinsam verfolgten. 2. Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) von 1922 ein wechselhaftes Schicksal Das natürliche Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder war im 19. Jahrhundert so allgemein anerkannt, daß die Reichsverfassung von 1871 noch keine besonderen Bestimmungen zum elterlichen Erziehungsrecht enthielt. Erst mit Erlaß des BGB im Jahre 1900 wurde das natürliche Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung der Kinder und damit deren privatrechtlicher Anspruch auf Erziehung und die Pflicht des Staates zum Eingrei11 Vgl Münder Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 - „in Kraft getreten" - 1953, in: RdJB 1990, 43 ff (45 f).
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fen bei schuldhaftem Versagen gesetzlich festgelegt. Verfassungsrechtlich sind die Rechte der Eltern und des Staates in Bezug auf die Erziehung erst 1919 in Art. 120 der Weimarer Reichsverfassung gegeneinander manifestiert und abgegrenzt worden: „Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht." Zur Jugendhilfe legte die Weimarer Verfassung in Art. 122 fest, daß „Staat und Gemeinde unter Wahrung des Elternrechts die erforderlichen Einrichtungen zu schaffen haben, um die Jugend gegen Ausbeutung sowie sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen." Der Umstand, daß nach der Weimarer Verfassung die Kinder- und Jugendfürsorge zur konkurrierenden Gesetzgebung gehörte, begünstigte die Entwicklung zu einer umfassenden reichseinheitlichen Regelung des Jugendwohlfahrtsrechts. Die in der Öffentlichkeit herrschenden Vorstellungen über das zu erlassende Gesetz beruhten zum großen Teil auf gesetzlichen (Einzel-)Regelungen der früheren Bundesstaaten bzw. freien Reichsstädte des Deutschen Reiches von 1871.12 Diese reichten von einem Erziehungsgesetz für straffällig gewordene und sozial geschädigte Jugendliche bis hin zur Schaffung eines einheitlichen Jugendrechtes, das die gesamte Erziehung der Minderjährigen umfassend regeln sollte; andere gingen dahin, daß man sich zunächst mit einem Jugendamtsgesetz begnügen sollte, das die bereits bestehenden Aufgaben der Jugendfürsorge und Armenkinderpflege übernehmen sollte.13 Die geforderten inhaltlichen Schwerpunkte bewegten sich von einer wirksameren Gestaltung der Jugendhilfe, Zusammenfassung in kommunalen Zentralstellen, der Loslösung der Jugendhilfe von der Armenfürsorge bis hin zu einer klaren Abgrenzung von öffentlicher und freier Jugendhilfe. 14 Das am 14. Juni 1922 durch den Reichstag verabschiedete „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt" 15 ' 16 trug den geschilderten Forderungen weitgehend Rechnung. Inhaltlich regelte es folgende Hauptgebiete: Jugendwohlfahrtsbehörden -Jugendamt, Landesjugendamt u.a. (§§ 3 ff. RJWG), öffentliche Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjähriger (§ 49 ff. RJWG), Schutz der Pflegekinder (§§ 19ff. RJWG), Vormundschaftswesen (§§ 32ff. RJWG) und Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung (§§ 55 ff. RJWG). Wie der aufmerksame Leser unschwer erkennen kann, handelt es sich dabei um Regelungsmaterien, die sich bereits vor Erlaß des Gesetzes - wenn auch über das ge12 Ua Preußisches Gesetz für die Fürsorgeerziehung (1900); Sächsisches Jugendamtsgesetz (1918); Württembergisches Jugendamtsgesetz (1919); vgl dazu Kunkel, Grundlagen des Jugendhilferechtes, 3. Aufl 1999, Rn 4ff.
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Münder aaO (o Fn 11) S. 44 f.
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HarerJugendwohlfahrtskunde, 6. Aufl 1973, S. 6. RGBl. 1922 I, 633. Zum parlamentarischen Werdegang vgl Münder aaO (o Fn 11), S. 48 f.
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samte Reich verstreut und mit verschiedener Schwerpunktsetzung - in der Praxis bewährt hatten und durch das neue Gesetz reichseinheitlich materiell zusammengefaßt wurden. Verankert im Gesetz wurde auch die „Zweispurigkeit" der Jugendhilfe, die im Nebeneinander von öffentlichen und privaten Trägern ihren Ausdruck fand (§ 6 RJWG). Das neue Gesetz sollte am 1. 4. 1924 in Kraft treten. 17 Dazu kam es jedoch nicht in vollem Umfang, weil aufgrund eines 1923 beschlossenen Ermächtigungsgesetzes18 die Reichsregierung am 14. 2. 1924 eine „Verordnung über das Inkrafttreten des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt" erlassen hatte. 19 Nach dieser waren „Reich und Länder nicht verpflichtet, Bestimmungen des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt durchzuführen, die neue Aufgaben oder eine wesentliche Erweiterung bereits bestehender Aufgaben für die Träger der Jugendwohlfahrt enthalten". Dabei führten unter dem Druck der damals herrschenden Finanznot eingeführte einschränkende Bestimmungen zu einer wesentlichen Beschränkung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Jugendämter, durch die deren Entwicklung erheblich beeinträchtigt wurde. Die Einschränkung, daß eine Verpflichtung zur Durchführung der vom Gesetz vorgesehenen kinder- und jugendpflegerischen Aufgaben nicht bestehen sollte, führte dazu, daß diese als „Kann"-Aufgaben nicht mit der notwendigen Intensität gefördert oder durchgeführt wurden. 20 Besonders bedauerlich war, daß die Vorschriften über die öffentliche Unterstützung hilfsbedürftiger Jugendlicher durch die „Verordnung über die Fürsorgepflicht" vom 13. 2. 1924 ersetzt wurde,21 wodurch der Lebensunterhalt bedürftiger Jugendlicher weiterhin eine Leistung der öffentlichen Fürsorge blieb. 22 Trotz der bestehenden Mängel bleibt insgesamt festzuhalten, daß mit dem Erlaß des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt die Reformbemühungen ihren Abschluß fanden, die überhaupt erst die Entwicklung eines modernen sozialpädagogisch geprägten Jugendhilferechts im 20. Jahrhundert ermöglichten. 23 Berechtigt ist es also weder, dieses Gesetz als Jahrhundertwerk bzw. Markstein noch als ein „Torso von einem Gesetz" zu bezeichnen; zwischen diesen beiden Polen schwankt die ihm zuteil gewordene Kritik. 2 4
17 Einführungsgesetz zum Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 9. 7 1922 (RGBl 19221, 647). 18 Ermächtigungsgesetz vom 8. 12. 1923 (RGBl. 1923 I, 1179): „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet." 19 RGBl. 1924 I, 110. 20 Jans/Happe Jugendwohlfahrtsgesetz. 11. Aufl 1974, Einführung, S. 2f. 21 RGBl. 1924 I, S. 100. 22 Menzel/Ziegler Jugendhilferecht, 1997 Rn 1. 23 Bindzus!Musset aaO (o Fn 1) Rn 268. 24 Vgl dazu ua Friedeberg/Polligkeit RJWG, S. 29; Münder, aaO (o Fn 11), S. 49.
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Die Zeit des Nationalsozialismus brachte zwar außer der wichtigen organisatorischen Änderung, daß das Prinzip der kollegialen Amtsführung durch das „Führerprinzip" ersetzt wurde, 25 nicht allzu schwerwiegende materielle Einbußen für das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, doch versuchten die Befürworter des politischen Systems, die nationalsozialistische Ideologie rigoros und rücksichtslos durchzudrücken. 26 Nachdem 1945 die Besatzungsmächte das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt in der 1924 in Kraft getretenen Fassung in den einzelnen Ländern als Landesrecht für weiterhin anwendbar erklärt hatten, bemühten sich zunächst einzelne Länder um seine Wiederbelebung. Erst im Jahre 1953 verabschiedete der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt". 27 In dieser Novelle kam es unter Aufhebung der einschränkenden Bestimmungen der Notverordnung vom 14. 2. 1924 zu einer Neuordnung der Organisation der Jugendwohlfahrtsbehörden (das Jugendamt wurde eine zweigliedrige Behörde) und zu einer Neuregelung von deren Aufgabenbereich (alle Aufgaben wurden Pflichtaufgaben; Befreiungen davon auf Grund Landesrechts nicht mehr zulässig). Die zweite 1961 verabschiedete Nachkriegsnovelle ist unter der Bezeichnung „Gesetz für Jugendwohlfahrt" 28 mit neuer Paragraphenfolge am 1. Ζ 1962 in Kraft getreten. Anstelle eines beabsichtigten umfassenden neuen Gesetzes zur Jugendhilfe brachte es nur einen wesentlichen Teil der Neuerungen, die man für eine Gesamtreform des Jugendwohlfahrtsrechts vorgesehen hatte. Dazu gehören insbesondere: Erweiterung der Aufgaben der Jugendhilfe, Pflicht der Jugendämter zur Leistung wirtschaftlicher Jugendhilfe im Einzelfall, Ersetzung der Schutzaufsicht durch die Erziehungsbeistandschaft; Erweiterung des Pflegekinderschutzes; Abschaffung der Anstaltsvormundschaft, Einführung der freiwilligen Erziehungshilfe, Zuständigkeit des Landesjugendamtes für die Heimaufsicht und Verpflichtung der Bundesregierung zur Vorlage eines Jugendberichtes pro Legislaturperiode, 29 darüber hinaus die Festlegung des Vorranges der freien Träger auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips, Stärkung des Erziehungsrechts der Eltern und größere Bindung der Jugendhilfe an den Elternwillen. Die weiteren Änderungsgesetze bis 1990 brachten nur noch Anpassungen an andere im Zusammenhang mit jungen Menschen erlassene Gesetze: Reform
25 Gesetz zur Änderung des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt vom 1. 2. 1939 (RGBl. 1939 I, 109). 26 Ramm D a s nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, Heidelberg 1984; Bindzus/Musset a a O (o Fn 1) Rn 270. 27 B G B l . 1953 1,1035. 28 B G B l . 1961 I, 1206 2 9 Vgl Fichtner „Der zurückgelassene Zwilling: 25 Jahre Anläufe zu einer Jugendrechtsreform", in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, Juli 1987 N r 7/67 Jahrgang, S. 245 ff.
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des Nichtehelichenrechts (1970), neues Adoptionsrecht (1973), Herabsetzung des Volljährigkeitsalters (1974) und Fortführung von Jugendhilfemaßnahmen über das Volljährigkeitsalter hinaus (1975). 30
II. 1. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) eine unendliche Reformgeschichte Schon kurz nach seinem Erlaß im Jahre 1922 begann die Kritik am Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt. Bemängelt wurde vor allem, daß es sich bei ihm im wesentlichen um ein Jugendfürsorgegesetz handele, kritisiert wurde auch das Verfahren und die Praxis der Anordnung der Fürsorgeerziehung. 31 Verstärkt setzten die Diskussionen um eine Reform der Jugendhilfe dann sehr bald nach dem zweiten Weltkrieg ein. Jetzt ging die Kritik mehr in die Richtung, daß die geltende Gesetzesregelung nicht mehr zeitgemäß sei, weil ihre Vorgaben auf den polizeirechtlichen und ordnungspolitischen Grundlagen des 19. Jahrhunderts beruhten. Bereits 1950 legten der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge und die AGJJ (Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge; später AGJ: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe) eine Denkschrift vor, in der eine durchgreifende Erneuerung des Jugendhilferechts für dringend notwendig erachtet wurde. Die entsprechenden Überlegungen gehörten zunächst zum Gesamtvorhaben einer Sozialreform verbunden mit der Schaffung eines Sozialgesetzbuchs (SGB), die 1955 in die „Professorendenkschrift zur Neuordnung der sozialen Leistungen" mündeten. 32 Schon in dieser wird festgestellt, daß für die Jugendhilfe ein besonderer Weg gegangen werden müsse, weil die Voraussetzungen für diese Art von Leistungen andere seien als bei den allgemeinen Sozialleistungen. Das gelte sowohl für den Adressatenkreis als auch für die Hilfeträger, darüber hinaus seien die Aufgaben anderer, nämlich pädagogischer Natur. 33 Damit war die Jugend30 Zur Geschichte des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt bzw. des Gesetzes für Jugendwohlfahrt siehe im einzelnen auch: Fichtner aaO (o Fn) S. 245 ff; Münder aaO (o Fn 11), S. 43 ff; Jans/Happe Jugendwohlfahrtsgesetz, 11. Aufl 1974, Einführung, S. 1 ff; Riedel Jugendwohlfahrtsrecht, 7 Aufl 1971, Das JWG und die Novellen von 1953, 1961 und 1970, S. 25ff. 31 Jordan in Jordan/Münder (Hrsg.), 65 Jahre (Reichs-)Jugendwohlfahrtsgesetz, Münster 1987, Ausgangssituationen, S. 22f. 32 Wiesner Der mühsame Weg zu einem neuen Jugendhilfegesetz in: RdJB 1990, S. 112 ff(112). 33 Hasenclever Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978, S. 178; Orthband Jugendhilferecht und Deutscher Verein, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 1982, S. 375.
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hilfereform zumindest in der Diskussion von der allgemeinen Sozialreform abgekoppelt, zusätzlicher - später dann auch tatsächlich ausgetragener Streit hinsichtlich der Eingliederung der Jugendhilfe in ein Sozialgesetzbuch war damit vorprogrammiert. Auf die Gesetzgebung hatte das nur bedingt Einfluß. Immerhin führte dieser 1962 zu dem gleichzeitigen Inkrafttreten der bereits erwähnten Neufassung des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt unter dem Namen „Gesetz für Jugendwohlfahrt" und des Bundessozialhilfegesetzes. Als zeitgemäßes Reformgesetz kann dabei allerdings nur das Bundessozialhilfegesetz bezeichnet werden. 3 4 Knapp zehn Jahre später berief das zuständige Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG) eine Sachverständigenkommission, die 1973 einen Diskussionsentwurf für ein Jugendhilfegesetz vorlegte. Dieser faßte nicht nur den Diskussionsstand der damaligen Zeit zusammen, sondern machte eigene - aus den Fachverbänden stammende - Vorschläge 35 , u. a. hinsichtlich der Einführung von heilpädagogischen Hilfen, Erziehungskursen und sozialtherapeutischen Zentren. Zu eigen machte sich die Sachverständigenkommission auch die politisch von vornherein zum Scheitern verurteilten Empfehlungen des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt, die die Aufhebung der Trennung zwischen Jugendhilfe- und Jugendstrafrecht, d. h. die Einbeziehung des Jugendstrafrechts in ein zukünftig zu erlassendes Jugendhilfegesetz, vorschlug („große Lösung"). 3 6 150 Stellungnahmen und drei Alternativentwürfe zeigen das große Interesse, auf das der Diskussionsentwurf in der Fachwelt stieß. 3 7 Zwei Referentenentwürfe konnten die Reform der Jugendhilfe nicht wesentlich voran bringen, beide stießen weitgehend auf Ablehnung. Als das Reformvorhaben dann auch in die Diskussion um die finanziellen Mehrbelastungen geriet, stellte die Bundesregierung es in Abstimmung mit den Ländern Ende 1974 zunächst einmal zurück. 3 8 Auf dem weiteren beschwerlichen Weg der Reform der Jugendhilfe spielten von nun an finanzielle Erwägungen eine mitentscheidende Rolle. Erst 1978 konnte die Bundesregierung dem Bundestag einen erheblich verbesserten Referentenentwurf als Regierungsentwurf vorlegen. Dort wurde der Ficbtner aaO (o Fn 14). AGJJ: Leitsätze für ein neues Jugendhilferecht, in: Mitteilungen der AGJJ Nr 60 - 1970: S. 35 - 37; Deutscher Verein: „Grund- und Einzelthesen zu einem neuen Jugendhilferecht" 1971/73; Bericht eines Ausschusses des Bundesjugendkuratoriums 1974: Mehr Chancen für die Jugend - zu Inhalt und Begriff einer offensiven Jugendhilfe, in: Band 13 der Schriftenreihe des BMJFG. 36 Denkschrift zur Reform und Vereinheitlichung von JWG und J G G , 3. Ausgabe Bonn 1970, Schriften der Arbeiterwohlfahrt Nr 22. 37 Fichtner aaO (o Fn 14), S. 246; 3. Jugendbericht (1972): Aufgaben und Wirksamkeit der Jugendämter. 38 „mit Rücksicht auf die Haushaltssituation der Gebietskörperschaften und ihrer zur Zeit nicht abschätzbaren Entwicklung" (BT-Drucks 7/3340, 28). 34
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Entwurf äußerst konträr, doch eher ideologisch als sachlich erörtert. Der Verabschiedung des auf diesem Entwurf basierenden Gesetzes im Jahre 1980 durch den Bundestag mit der Mehrheit der Stimmen der SPD/FDP-Fraktionen, folgte dessen Ablehnung durch den Bundesrat, in dem C D U / C S U regierte Länder die Mehrheit besaßen. Hauptkritikpunkte der Länderkammer waren: Unrichtige Gewichtung des Erziehungsrechts der Eltern gegenüber der Jugendhilfe; fehlender Vorrang der freien Träger der Jugendhilfe; zu großer Umfang des Leistungskatalogs (vor allem hinsichtlich der „Muß"Leistungen und ihrer finanziellen Auswirkungen); organisatorische Fragen im Zusammenhang mit der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Als die Bundesregierung danach den Vermittlungssauschuß anrief, ihren Antrag kurz darauf aber wieder zurückzog, war der bisher am weitesten gediehene Reformversuch zur Jugendhilfe gescheitert. 1988 folgte als neue Gesetzesinitiative unter der von der C D U / C S U geführten Regierung der „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Jugendhilferechts". Die im wesentlichen auf Grund dieses Entwurfes von der Regierung ins Parlament eingebrachte Gesetzesvorlage wollte nicht nur frühere gescheiterte Zielsetzungen wieder beleben, sondern das eingriffs- und ordnungsrechtlich bestimmte Instrumentarium des Jugendwohlfahrtsgesetzes durch ein präventiv orientiertes, in seinem Kern sozialpädagogisch geprägtes Leistungsgesetz ersetzen. Wiederum war vorgesehen, das Gesetz als VIII. Buch in das Sozialgesetzbuch (SGB) einzugliedern. Der Reformentwurf enthielt inhaltlich weitere, über frühere Initiativen hinausgehende Neuregelungen: Die Hilfe zur Erziehung und die Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren sollten grundlegend neu geordnet werden, hinzu sollten Beratungsangebote in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung kommen. Dabei stieß die geplante Aufnahme des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz für alle Dreijährigen bis zum Schuleintritt auf eine breite gesellschaftliche Zustimmung. D a s gab der Gesetzesinitiative für die ansonsten in der Öffentlichkeit und Politik als nicht sonderlich attraktiv geltende Jugendhilfe den vielleicht sogar entscheidenden Schub, mit dessen Hilfe das Vorhaben endlich die gesetzgeberischen Hürden nehmen konnte. Natürlich spielten die finanziellen Mehrbelastungen vor allem im Bundesrat eine erhebliche Rolle. Allein für die Kinderbetreuung in Tagesstätten hatte der Finanzausschuß einen Mehrkostenbedarf von vier Milliarden D M errechnet. 39 D a s stieß auf den massiven Widerstand der Kommunen, obwohl auch sie ursprünglich für den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz votiert hatten. Letztlich führte das dazu, diesen Rechtsanspruch im Gesetz in eine „Solleistung" umzuwandeln und den bedarfsgerechten Ausbau eines entsprechenden Kindergartensystems den Ländern zu überlassen. 39
Wiesner aaO (o Fn 32), S. 121.
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Nunmehr war der Weg für eine echte Jugendhilfereform endgültig frei: Am 28. 3. 1990 stimmten im Bundestag alle Parteien außer der Partei der „Grünen" dem „Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG) 40 zu. Am 11. 5. 1990 passierte es den Bundesrat und trat bereits - was wohl einmalig ist - am 3. 10. 1990 im Beitritts gebiet (neue Bundesländer) und am 1. 1. 1991 in den alten Bundesländern in Kraft.41 Ein über Jahrzehnte geführter Reformprozeß berechtigt zu der Frage nach dem „warum" der langen Zeitdauer. Das um so mehr, als im Gegensatz zu der Reform der Jugendhilfe die mit ihr in engem Zusammenhang stehende Reform der Sozialhilfe ohne längere parlamentarische und außerparlamentarische Auseinandersetzungen mit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bereits 1962 zum Abschluß gebracht werden konnte. Hauptgründe für das zähe Ringen waren u. a., daß die Diskussionen um die Reform von den außerparlamentarischen Protestbewegungen der 60ger Jahre politisch so radikal mit hochgesteckten revolutionären (sprich: „gesellschaftsverändernden") Zielen geführt wurden und das konservative Establishment danach alle Reformversuche um die Jugendhilfe nur noch zögerlich auf „Sparflamme" brennen ließ, 42 daß zweitens die in den Kommunen und Länder sitzenden Gegner einer fortschrittlichen Jugendhilferechtsreform die finanziellen Aspekte bewußt überspitzt hochspielten43 und drittens, daß das Problem Jugendhilfe - das gilt abgeschwächt bis zum heutigen Tag - wegen mangelnder Unterstützung, insbesondere durch die Medien, damals in den gesellschaftspolitischen Diskussionen der Öffentlichkeit nur eine untergeordnete Rolle spielte.44 Die lang anhaltende Diskussion hat der Reform aber eher genützt als geschadet. Wenn das fortschrittliche Gesetzesvorhaben der Reform des Jugendhilferechts letztlich das Gesetzgebungsverfahren schnell und unauffällig erfolgreich durchlaufen konnte, lag das auch mit daran, daß viele der Ergebnisse jener Reformdiskussionen, die früher heftig umstritten waren, zwischenzeitlich bereits von der Praxis vorweg genommen waren. Das zwang den Gesetzgeber, die Gesetzeslage der bereits bestehenden Praxis anzugleichen. Unbestritten ist auch, daß es dabei sogar gelungen ist, manches mehr zu erreichen, als „nur" den Praxisstand zu sichern. Geholfen hat dabei auch, daß - wie Münder es immer bezeich-
BGBl. 1990, 1163. Zur Geschichte des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im einzelnen siehe auch: Münder Das neue Jugendhilferecht, 1991, S. 13 mwN. 42 Vgl dazu Münder Zwanzig Jahre Reform des Jugendhilferechts, in: RdJB 199/ζ 30 ff (31). 43 Siehe Schicksal des 1980 im Bundestag und Bundesrat behandelten Gesetzesentwurfs. 44 Ubereinstimmendes Urteil fast aller Debattenredner (Vorträge weitgehend noch unveröffentlicht) auf der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Dresden im Oktober 2000 veranstalteten Tagung „Mehr Chancen - 10 Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)". 40 41
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net - Hilfe von außen kam, insbesondere durch die „Frauenpolitik", wie das Beispiel der Durchsetzung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz zeigt. 45 Auch die Eingliederung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) als VIII. Buch in das Sozialgesetzbuch kann inzwischen positiv bewertet werden. Zunehmend anerkannt wird nämlich, daß das Jugendhilferecht, was gewiß richtig ist, Teil des Sozialrechts ist. 46 Sicher wäre es auch ein Nachteil, wenn die übergreifenden Regeln des I. und X. Buches SGB nicht für die Jugendhilfe gelten würden. 47 2. Zehn Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) die weitere rechtliche Entwicklung Während die Vorgeschichte des Gesetzes sich - wie oben gezeigt - über einen ungewöhnlich langen Zeitraum zäh hingezogen hat, ist das erste Jahrzehnt seines Bestehens von hektischer Änderungstätigkeit gekennzeichnet. Sollten die Jahrzehnte dauernden Bemühungen letztlich doch nicht zu einem stabilen rechtlichen Reformwerk geführt haben? Diese Besorgnis trifft nicht zu. Betrachtet man nämlich die zahlreichen Änderungsgesetze, wird schnell klar, daß die weit überwiegende Mehrzahl - das trifft auf neun von elf Änderungen zu 48 - durch Neuregelungen außerhalb des SGB VIII veranlaßt wurde. Drei neue Bekanntmachungen des Gesetzes innerhalb von zehn Jahren zeigen, daß die auf Grund von Änderungen im Jugendbereich anderer Rechtsgebiete (sonstiges Sozialrecht, Kindschafts- und Familienrecht des BGB, Datenschutzrecht) erforderlich gewordenen Modifikationen umfangreich und von einigem Gewicht gewesen sein müssen. Am meisten verändert hat das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) die Kindschaftsrechtsreform von 1998 mit drei Gesetzen: Kindschaftsrechtsreformgesetz49, Kindesunterhaltsgesetz50 und Beistandschaftsgesetz51. Durch sie hat die Jugendhilfe neue Aufgaben erhalten, andere wurden erweitert oder verändert. Besonders betrifft das den Rahmen und die Intensität der Beratungsaufgaben, die teilweise zu Rechtsansprüchen erstarkt sind (§§ 17, 18 SGB VIII). Erweitert wurde die Mitwirkung der Jugendhilfe in den Verfahren vor dem Familiengericht, das jetzt die zentrale Stellung im Kind45 Münder aaO (o Fn 42, S. 30 ff (33): Gesetz zum Schutz vorgeburtlichen Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, ua. 46 Vgl Richter Das Kinder- und Jugendhilferecht als Teil des Sozialrechts, in RdJB 2000, 112 ff; Münder aaO (o Fn 42), S. 34. 47 Vgl dazu auch Bindzus/Musset aaO (o Fn 1), Rn 284. 48 Ubersicht über die Gesetzesänderungen bei Bindzus/Musset aaO (o Fn 1) Anhang 5, S. 416 f. 49 BGBl. 1997 I, 2942. 50 BGBl. 1998 I, 666. BGBl. 1997 I, 2846.
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schaftsrecht einnimmt, aber auch vor dem Vormundschaftsgericht (§ 50 SGB VIII). Neben weiteren Beratungsaufgaben (§§ 51 III, 52a SGB VIII) ist vor allem das neue Recht der Beistandschaft, das die bisherige gesetzliche Amtspflegschaft abgelöst hat, von Gewicht (§§ 55, 56 SGB VIII).52 Auch die Regelungen zum Schutz personenbezogener Informationen haben sich wesentlich geändert. Im Jugendhilferecht gelten seit seiner Zuordnung zum Sozialgesetzbuch (SGB) - das Gesetz für Jugendwohlfahrt wurde 1976 Besonderer Teil dieses Gesetzes - dessen übergeordnete Regeln, somit auch das Sozialgeheimnis (§ 35 SGB I) und die 1980 eingefügten Bestimmungen der §§ 67 - 78 SGB X. Maßgebend für den Datenschutz im Jugendhilferecht ist darüber hinaus das 1983 vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung (BVerfGE 65, Iff.). Die Harmonisierung wurde dadurch erreicht, daß ins Kinder- und Jugendhilfegesetz unmittelbar eine bereichsspezifische Datenschutzregelung aufgenommen wurde (§§ 61-68 SGB VIII). Sie ist durch das 1. und 2. Änderungsgesetz des Sozialgesetzbuches 53 geändert und ergänzt worden. 5 4 Das Erste Änderungsgesetz SGB VIII wird oft auch als „Reparaturnovelle" bezeichnet, weil es vor allem Vorschriften betrifft, die sich in der täglichen Anwendung von Anfang an als schwierig umsetzbar bzw. unpraktikabel erwiesen hatten. Hierin offenbaren sich die Mängel, die vor allem dadurch aufgetreten sind, daß das Reformgesetz von 1990 trotz langer Anlaufzeit letztlich unter hohem Zeitdruck parlamentarisch behandelt und abgeschlossen worden ist. Darüber hinaus enthält dieses Gesetz auch Bestimmungen für die notwendige Abgrenzung zur Sozialhilfe. Ferner behandelt es die Neuordnung der Zuständigkeiten sowie Fragen über Kostenerstattung, Teilnahmebeiträge, Heranziehung zu Kosten und Uberleitung von Ansprüchen sowie die Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe im Jugendgerichtsverfahren .
3. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) zehn Jahre in der praktischen Bewährung Die Abhandlung der rechtlichen Entwicklung des Gesetzes in den ersten zehn Jahren seines Bestehens zieht zwangsläufig die Frage nach sich, wie die Praxis, d . h . die Jugendämter mit diesem Verlauf zurechtgekommen ist. Es 52
Wiesner Die Auswirkungen der Kindschaftsreform auf die Praxix der Jugendhilfe, in: ZdJ 1998, 275 ff. 53 Erstes Gesetz zur Änderung des Achten Buches des Sozialgesetzbuches vom 16 2. 1994 (BGBl. 1993 I 293; Gesetz zur Änderung über den Schutz von Sozialdaten sowie Änderung anderer Vorschriften (Zweites Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches 2. SBGÄndG) vom 16. 6. 1994 (BGBl. 1994 I 1229). 54
Bindzus!Musset aaO (o Fn 1), Rn 427ff.
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ist verständlicherweise nicht unbedingt motivierend, wenn die Jugendhilfe nicht nur ein gerade erst reformiertes Gesetz umsetzen, sondern gleichzeitig noch zusätzlich gesetzliche Änderungen von einigem Umfang verkraften mußte. Größere nachteilige Folgen hat das aber nicht nach sich gezogen. Offensichtlich war die Praxis dem Gesetzgeber soweit voraus gewesen, daß die Reform des Jugendhilferechts für sie nur in Teilbereichen ein weiter reichendes Umdenken und Reagieren erforderte. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz mit seinen bisher erfolgten Änderungen hat neben einigen enttäuschten Hoffnungen durchaus auch neue Anstöße gebracht, die die Entwicklung der Jugendhilfe in den ersten zehn Jahren nach der Reform von 1990 auf sozialpädagogischem Gebiet weiter voran gebracht haben. Da eine genaue Einzelbilanz den Rahmen dieser Ausführungen sprengen würde, müssen hier zur Verdeutlichung einige markante Beispiele genügen. Zu nennen ist vorrangig das im modernen Jugendrecht auf der Verfassung beruhende Recht der Kinder und Jugendlichen auf Beteiligung (vgl. §§ 8, 9 Nr. 2 SGB VIII). Zumindest einen Versuch, Folgerungen aus den immer noch unzureichenden Bemühungen um Gleichstellung und Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen in den Angeboten, Leistungen und Veranstaltungen der Jugendhilfe zu ziehen, stellt die gesetzliche Verankerung einer mädchenorientierten Jugendhilfe dar.55 Die verfahrensrechtlichen Vorgaben zum Hilfeplan, nach denen der Gesetzgeber für die Wahl und Ausgestaltung der richtigen Hilfe einen abgestuften Plan vorschreibt, der die Berücksichtigung des engeren sozialen Umfelds (vgl. § 27 II 2 SGB VIII) sowie die Mitwirkungsrechte der Beteiligten sichert (§ 36 SGB VIII), veränderten die bisherige Praxis so stark, daß auftretende Anwendungsdefizite bis zum heutigen Tag noch nicht überwunden sind. 56 Umsetzungsdefizite gibt es auch beim bereichsspezifischen Datenschutz (§§ 61 - 68 SGB VIII), der insgesamt sehr detailliert und kompliziert geregelt ist. Dieser wird in der Praxis häufig als hinderlich bei der Aufgabenerfüllung angesehen, weil es Mitarbeitern von Jugendämtern immer noch müßig erscheint, darüber nachzudenken, ob Daten überhaupt und wenn, welche und bei wem erhoben werden bzw. welche Informationen innerhalb des Amtes weitergegeben werden dürfen. 57 Datenschutz stimmt aber mit den Zielen sozialpädagogischen Handelns überein. Datenschutz einhalten, bedeutet deshalb sozialpädagogisch handeln.
55 Merchel Das KJHG: Impulsgeber für die fachliche Entwicklung in der Jugendhilfe?, bisher unveröffentlichtes Referat, Tagung Dresden 4 . - 6 . 10. 2000 „10 Jahre Kinder- u n d J u gendhilfegesetz (KJHG)"; Bindzus//Musset a a O , (o Fn 1) R n 322. 56 Münder a a O (o Fn 42), S. 30 ff (33). 57 Münder Familien- und Jugendhilferecht, Bd 2; S. 65 ff; Bindzus/Musset a a O (o Fn 1), R n 426 ff.
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Der Rückblick auf die ersten zehn Jahre nach der Reform der Jugendhilfe zeigt, daß noch längst nicht alle ihre rechtlichen Möglichkeiten von der Praxis angenommen und umgesetzt worden sind. 58
III. Perspektiven und Hoffnungen Es hat sich so vieles verändert. Der Gesetzgeber hat die ordnungsrechtliche Grundposition geräumt und das bisherige eingriffsbetonte Fürsorgeinstrument zu einem modernen, präventiv orientierten Sozialleistungsgesetz umgestaltet. Die Frage lautet jetzt: Wohin geht die allgemeine Richtung in der deutschen Jugendhilfe? Einigkeit scheint weitgehend dahingehend zu bestehen, daß es trotz aller Kritik an Einzelpunkten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes in naher Zukunft nicht notwendig sein wird, es in größerem Umfang zu ändern. Das gilt auch aus sozialpädagogischer Sicht, weil auf diesem Gebiet noch nicht einmal alle Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, ausgeschöpft sind, beklagen doch selbst Sozialpädagogen die noch mangelnde Umsetzung. Dennoch verbleibt Raum für Änderungen, Ergänzungen und die Lösung von Umsetzungsschwierigkeiten. Wünschenswert - das ist aber bereits im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzbar gewesen - wäre es, bei Eingliederung behinderter Kinder und Jugendlicher die Unterscheidung zwischen körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung aufzugeben (vgl. § 35a I SGB VIII) und alle behinderten oder von einer Behinderung bedrohten jungen Menschen der Jugendhilfe zuzuordnen. Man wird aber weiter mit der zwiespältigen Regelung 59 , daß nur seelisch behinderte Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Eingliederung durch das Jugendamt haben, leben müssen. Jetzt geht es darum, ausreichend dokumentierte Erfahrungen zu gewinnen, mit denen es möglich ist, die gesetzlich geforderte Unterscheidung zwischen körperlicher und geistiger Behinderung einerseits und seelischer Behinderung andererseits zu treffen. Vermeintlich sind nur die Schwierigkeiten im Rahmen der Jugendgerichtshilfe: Sie ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz eindeutig als Aufgabe der Jugendhilfe definiert und originär dem Jugendamt zugeordnet (§ 52 SGB VIII), nicht aber dort, sondern im Jugendgerichtsgesetz beschrieben (§ 38 JGG). 6 0 Diese Trennung behindert aber keineswegs - wie behauptet wird 58 Das scheint die bei weitem vorherrschende Meinung unter Wissenschaftlern und Praktikern zu sein, wie die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Dresden vom 4 . - 6 . 10. 2000 veranstaltete Tagung „10 Jahre Kinder- und Jugendhilferecht" gezeigt hat. 59 Bindzus/Musset aaO (o Fn 1), Rn 292 f. 60 Bindzus/Musset aaO (o Fn 1), Rn 438 ff.
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die tatsächliche Umsetzung und Weiterentwicklung. Hinderlich sind hier vielmehr die Animositäten, die häufig zwischen Jugendhilfe (sozialpädagogischen Mitarbeitern) und Justiz (Jugendrichtern) bestehen. Das beschränkt sich aber wohl nicht auf die Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren, sondern ist eher ein generelles Problem zwischen rechtsanwendenden Verwaltungsfachkräften und Sozialarbeitern. 61 Bei der Jugendarbeitslosigkeit kann die Jugendhilfe nicht die Ursachen bekämpfen. Das ist ein wirtschaftspolitisches Problemfeld. Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) kann allenfalls mit dem Arbeitsamt und der Schule zusammen flankierend helfen. 62 Im Gegensatz zur Jugendhilfe ist der Erneuerungsbedarf beim zum Jugendrecht gehörenden Jugendschutz groß, jedenfalls, soweit er außerhalb des Kinder- und Jugendhilfegesetzes geregelt ist. Abgesehen davon, daß der über verschiedene Gesetze zerstreute ordnungsrechtliche Jugendschutz an Unübersichtlichkeit leidet, weist er darüber hinaus noch weitere erhebliche Schwächen auf. Insbesondere sind die Bemühungen, den Jugendschutz an die gesellschaftliche und technische Entwicklung anzupassen, nur unzureichend gelungen. Hier besteht ein erheblicher und akuter Bedarf zu gesetzgeberischem Handeln. 6 3 Es sollte auch nicht versucht werden, diesem, wie es in der Reformphase der Jugendhilfe geschehen ist, mit Novellierungen der einzelnen Gesetze zu begegnen. Erwähnt werden muß an dieser Stelle noch eine in letzter Zeit m. E. recht konfus unter der Fragestellung geführte Diskussion: „Wird die Institution Jugendhilfe, deren Aufgabe es nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ist, Sozialleistungen zu erbringen und die anderen ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen, in betriebswirtschaftlich organisierte und orientierte „Produktionsstätten" umgewandelt werden, die sich zur Erfüllung ihrer Leistungen weitgehend nur noch der freien Träger Zulieferer bedienen? 64 Diese Vorstellung bedeutet für alle, die die Interessen der betroffenen jungen Menschen und ihrer Familien ( § 6 1 SGB VIII) im Auge haben, sicher ein „Horrorszenario". Das wird sicherlich so nicht Realität werden, weil immer schon die professionellen Organisatoren ihre Ideen und Theorien nicht „klinisch rein" durchsetzen konnten. Doch in allen anderen Zweigen der öffentlichen Verwaltung - eingeschlossen die Sozialleistungsverwaltung - gibt es 61 Eine treffende Gegenüberstellung der „Feindbilder, die sich die jeweilige Spezies von der anderen macht", haben Fieseier/Herbortb in: Recht der Familie und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2001, S. 132 gegeben; siehe dazu aber auch die völlig verzerrte Darstellung der justiziellen Wirklichkeit bei Hinte Jugendämter auf dem Prüfstand, in ZfJ 1997, 345 (347). 62 Münder Interview; Wabnitz Das Kinder- und Jugendhilferecht in der 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, in: ZfJ 1999, 245 ff, 254). 63 Siehe hierzu die Broschüre der BAJ (Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz) „Wozu noch Gesetze? - Reformbedarf im Kinder- und Jugendschutz". 64 Schilling Die Kinder- und Jugendhilfe und die KGSt, in: RdJB 2000, 143 ff; eine ausführliche Darstellung der Diskussion um die Neuorganisation findet sich bei Fieseler/Herborth aaO (o Fn 60), S. 134 ff.
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bereits seit über dreißig Jahren unter dem schillernden Begriff „Neuorganisation" entsprechende Aktivitäten. Aber abgesehen davon, daß dieser Begriff schon ein Widerspruch in sich ist, deckt er auch den Zustand ab, der entsteht, wenn sich die reorganisierten Bereiche wieder auf dem Rückzug befinden, entweder weil die Neuorganisation nicht nach der Vorstellung ihrer Erfinder verläuft oder neue Erkenntnisse und Entwicklungen andere organisatorische Wege verlangen. Organisation ist eben kein Zustand, sondern ein ständig andauernder, von dem Erfordernis und Zweck getriebener Prozeß, der der Aufgabenerfüllung zu dienen und sie optimal zu gestalten hat. Organisation ist mithin kein Selbstzweck. Verbunden ist dieser Vorgang mit dem Gebot des wirtschaftlichen Mitteleinsatzes, der auch in der Jugendhilfe nichts wirklich Neues ist. 65 Auf welchen organisatorischen Wegen man es am wirksamsten erreicht, findet sich nicht durch hektische Adaption betriebswirtschaftlicher Prinzipien und Strukturen. Die Jugendhilfe ist ein Bereich, in dem die Uhren der Betriebswirtschaft nicht ohne weiteres richtig ticken. Man sollte die derzeit angebotenen - oder muß man sagen: aufgedrängten - Lösungen (Gutachten und Berichte) 66 in Modellversuchen erproben und die gefundenen Ergebnisse miteinander abgleichen, ggf. korrigieren und behutsam einführen. Letzteres vor allem auch deshalb, weil ohne die Mitwirkung der betroffenen Mitarbeiter bei allen Trägern überhaupt nichts Positives herauskommt. Das bedeutet, daß die Jugendhilfe an der Erarbeitung von Organisationsmodellen auf diesem Gebiet nicht nur wirksam beteiligt werden muß, sondern die, die sie letztlich ausführen, auch davon überzeugt werden müssen, daß das, was ihnen zugemutet wird - und das ist eine solche gravierende Umstellung allemal - auch funktioniert und besser ist als das, was vorher war. Wahrlich dies ist auch eine Herausforderung an die sozialpädagogische Profession. Nur wenn die Jugendhilfe diese Herausforderung ernst nimmt und sich „offensiv" - übrigens einer der Lieblingsbegriffe der „Erneuerer" der Jugendhilfe an der Mitgestaltung beteiligt, wird sie hinterher nicht resignieren müssen. Für die Organisation sind die Gemeinden bzw. Gemeindeverbände zuständig. Weil diese Zuständigkeit breit aufgefächert ist, sind bundesrechtliche Vorgaben für eine möglichst einheitliche Ausführung der materiellen Vorschriften des Kinder- und Jugendhilfegesetzes besonders wichtig. Diese Aufsplitterung der Zuständigkeiten verführt leider dazu, auf breiter Front zum Teil ohne Rücksicht auf die Rechtslage - neue Organisationsmodelle einzuführen. Manche Bundesländer versuchen diese verhängnisvolle Entwicklung noch zu fördern, indem sie die Rechtslage durch „Zuständigkeits« BVerfG 22, 180 ff, 201, 206; Bindzus/Musset aaO (o Fn 1), Rn 277f. 6 6 K G S t : „Das neue Steuerungsmodell" (Bericht 5/93); Outputorientierte Steuerung der Jugendhilfe (9/94); Aufbauorganisation in der Jugendhilfe (3/95); Integrierte Fach- und Ressourcenplanung in der Jugendhilfe (3/96); Kontraktmanagement zwischen öffentlichen und freien Trägern in der Jugendhilfe (12/98).
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lockerungsregelungen" verändern. Wenn dem nicht entgegen gewirkt wird, wird es die Einheit der Jugendhilfe bald nur noch als Leerformel geben. Das bringt die Jugendhilfe wieder in die Nähe der im 19. Jahrhundert herrschenden Zustände. 67 Nach alledem kann für die nähere Zukunft das Gesamtleitmotiv der Jugendhilfe nur sein: Das gegenwärtige Kinder- und Jugendhilfegesetz erhalten und umsetzen, nicht verändern, 68 sich aber der Organisations- und Wirtschaftlichkeitsdebatte mit Engagement zu stellen!
Vgl oben: Kap. I Abschnitt. So oder ähnlich: Späth, Karl Das KJHG erhalten und umsetzen, nicht verändern!, in: Zff 1996, 347 ff; Münder 10 Jahre KJHG: Renovierungs-, Modernisierungs-, Reformbedarf, in: RdJB 2000, 123 ff; Wabnitz aaO (o Fn 62), S. 247 67 68
Aufrechnung und Insolvenzanfechtung REINHARD
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I. Problemstellung In der am 1. Januar 1999 in Kraft getretenen deutschen Insolvenzordnung (InsO) findet sich mit § 96 Abs. 1 Nr. 3 eine Vorschrift, die das Verhältnis von Aufrechnung und Insolvenzanfechtung behandelt. Die Vorschrift lautet: „Die Aufrechnung ist unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat." Auf den ersten Blick bereitet die Regelung keine Schwierigkeiten: Ist die Aufrechnungsmöglichkeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens in anfechtbarer Weise herbeigeführt worden, so wird einer nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgegebenen Aufrechnungserklärung ihre schuldtilgende Wirkung (§ 389 BGB) versagt. Der aufrechnende Insolvenzgläubiger kann seine Gegenforderung nur zur Insolvenztabelle anmelden und muss sich mit der Insolvenzquote begnügen, während er die Hauptforderung des Schuldners, die jetzt durch den Insolvenzverwalter geltend gemacht wird, voll zur Insolvenzmasse erfüllen muss. Sichtet man die Quellen zu § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO, so treten allerdings verschiedene Fragen auf, die höchst kontrovers beantwortet werden. So ist beispielsweise zu überlegen, ob § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO auch einer bereits vor Verfahrenseröffnung erklärten Aufrechnung nachträglich ihre Wirkung nimmt. Unklar ist auch, wie sich die Anfechtung der Aufrechnungserklärung zur Anfechtung der Herbeiführung der Aufrechnungsmöglichkeit verhält. Schließlich ist streitig, ob die Begründung eines Aufrechnungsrechts im Regelfall als eine kongruente oder eine inkongruente Deckung anzusehen ist, ob sich also die Anfechtbarkeit nach § 130 oder nach § 131 InsO richtet. Hier gibt es verschiedene Aspekte, die eine nähere Betrachtung lohnen.
II. Ausgangsfall Als Ausgangsfall diene zur Illustration folgende, in der Praxis täglich anzutreffende Konstellation: Eine Bank hat einem Kunden einen Kredit gewährt. Nunmehr geht eine Uberweisung zugunsten eines Kontos dieses Kunden bei der Bank ein. Die Bank schreibt den Überweisungsbetrag dem Kundenkonto
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gut, so dass das Konto ein Guthaben ausweist. Wenige Tage später wird Insolvenzantrag gestellt, nach drei Monaten das Insolvenzverfahren eröffnet. Daraufhin erklärt die Bank, sie rechne ihren Zahlungsanspruch aus dem Kreditvertrag gegen den Auszahlungsanspruch aus dem Girovertrag auf. 1. Grundsätzlicher Schutz der bei Verfahrenseröffnung bestehenden Aufrechnungslage Als Grundsatz bestimmt § 94 InsO, dass ein zur Zeit der Verfahrenseröffnung bestehendes Aufrechnungsrecht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt wird. Wer vor der Verfahrenseröffnung aufrechnen konnte, kann auch nach der Verfahrenseröffnung aufrechnen. 1 Hingegen wird die Hoffnung auf den Erwerb einer Aufrechnungsbefugnis nach Verfahrenseröffnung nicht (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO) bzw. nur eingeschränkt (§ 95 InsO) geschützt. Nach § 95 Abs. 1 S. 3 InsO kann ein Gläubiger, dessen Forderung bei Verfahrenseröffnung noch nicht fällig oder noch bedingt war, nach Verfahrenseröffnung nur aufrechnen, wenn seine (Gegen-)Forderung früher fällig oder unbedingt wird als die zur Insolvenzmasse gehörende (Haupt-)Forderung. Dass hier überhaupt noch aufgerechnet werden kann, lässt sich damit begründen, dass bei Verfahrenseröffnung die Aufrechnungslage wenigstens schon angelegt, der Rechtsgrund für Haupt- und Gegenforderung schon gelegt war, so dass der Gläubiger darauf vertrauen konnte, sich nach Eintritt der Fälligkeit oder der Bedingung durch Aufrechnung befriedigen zu können. Dieses Vertrauen in die Perfektionierung der Aufrechnungslage wird freilich, wie gesehen, nur eingeschränkt geschützt. Uberhaupt nicht mehr geschützt wird es, wenn bei Verfahrenseröffnung nicht mehr vorhanden war als die bloße Hoffnung oder theoretische Möglichkeit, es könnte eine Aufrechnungslage entstehen und damit die eigene Forderung durch Aufrechnung erfüllt werden. Für diese Fälle bestimmt § 96 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO, dass der Eintritt einer Aufrechnungslage nach Verfahrenseröffnung nicht respektiert wird. Das gilt sowohl dann, wenn ein Gläubiger nachträglich zum Schuldner der Masse wird (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO), als auch dann, wenn ein Schuldner dadurch nachträglich zum Gläubiger wird, dass er die Forderung eines Dritten erwirbt (§ 96 Abs. 1 Nr. 2 InsO).
2. Ausnahme bei anfechtbar erlangter Aufrechnungslage Der dem vor Verfahrenseröffnung aufrechnungsberechtigten Gläubiger durch § 94 InsO gewährte Schutz wird ihm durch § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO wieder entzogen, wenn er die Möglichkeit zur Aufrechnung in anfechtbarer 1 Vgl zum Folgenden den Uberblick bei Bork Einführung in das neue Insolvenzrecht, 2. Auf! 1998, Rn 262 ff; HäsemeyerInsolvenzrecht, 2. Aufl 1998, Rn 19.1 ff.
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Weise erlangt hat. Ist nämlich die Herbeiführung der Aufrechnungsmöglichkeit anfechtbar, kann die nach Verfahrenseröffnung erklärte Aufrechnung ohnehin keinen Bestand haben. Denn der Insolvenzverwalter über das Vermögen des Aufrechnungsgegners könnte, gäbe es § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht, die Begründung des Aufrechnungsrechts anfechten, was zur Folge hätte, dass die Aufrechnungserklärung im Ergebnis ins Leere ginge. Dogmatisch müsste dies wie folgt begründet werden: Als Rechtfolge der Anfechtung schuldete der Gläubiger, gäbe es § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht, Rückgabe des anfechtbar Erlangten (§ 143 Abs. 1 S. 1 InsO). Er müsste also das Aufrechnungsrecht herausgeben. Ist noch nicht aufgerechnet, geschähe dies nicht etwa durch Beseitigung der sich gegenüberstehenden Forderungen die sieht, wie sogleich zu begründen sein wird, auch § 96 Abs. 1 Nr. 3 nicht vor - , sondern durch Verzicht auf die Aufrechnung. Ist das Aufrechnungsrecht bereits durch Ausübung verbraucht, müsste sich der Gläubiger mit der Wiederbegründung der beiden aufgerechneten Forderungen einverstanden erklären, so dass der Aufrechnung im Ergebnis keine Bedeutung zukäme. 2 § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO kürzt nun diesen Weg ab, indem dem Insolvenzverwalter die Anfechtung abgenommen und gleich bestimmt wird, dass bei anfechtbar erlangter Aufrechnungsmöglichkeit die Aufrechnung ohne weiteres unzulässig ist. Diese Rechtsfolge lässt sich auf zweierlei Weise deuten. Da die Aufrechnung nicht für nichtig oder unwirksam, sondern „nur" für unzulässig erklärt wird, kann man § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO als ein Verbotsgesetz ansehen, das die Aufrechnungserklärung nach § 134 BGB nichtig macht. 3 Richtiger erscheint es, die Rechtsfolgenanordnung des § 96 InsO so zu verstehen, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem Gläubiger die an und für sich nach § 387 BGB bestehende Aufrechnungsbefugnis nimmt, so dass die Aufrechnungserklärung, mit der ein gar nicht mehr bestehendes Aufrechnungsrecht ausgeübt werden soll, ins Leere geht. Unwirksam ist aber nur die Aufrechnungserklärung, nicht etwa die Begründung der Aufrechnungslage. Das zeigt sich ganz deutlich in unserem Ausgangsfall: Rechnet die Bank nach Verfahrenseröffnung auf, obwohl sie die Aufrechnungsmöglichkeit in anfechtbarer Weise erworben hat, so ist ihre Aufrechnungserklärung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig und damit nach § 134 BGB nichtig. Das ändert aber nichts daran, dass die Bank einen Kreditanspruch gegen den Schuldner hat (der als einfache Insolvenzforderung mit der Quote zu bedienen ist), während der Insolvenzverwalter Auszahlung des Guthabens verlangen kann. Missbilligt wird also nicht die Begründung der Haupt- oder Gegenforderung, sondern nur die Befriedigung der Gegenforderung des Gläubigers durch Aufrechnung. Hier gilt 2
Vgl auch BGH ZIP 2000, 2207, 2210 m Anm Schmitz. Vgl zu dieser Systematik Bork Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2001, Rn 1088 ff m w N . 3
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dasselbe wie bei § 96 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO. Auch in den dort geregelten Fällen stört nur die Aufrechnungsbefugnis als Gestaltungsrecht, nicht die Aufrechnungslage verstanden als das Sichgegenüberstehen von zwei fälligen und durchsetzbaren Forderungen. 4 Das Gesetz formuliert daher in § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO sehr präzise, wenn es nicht von der Begründung der Aufrechnungslage, sondern von der Erlangung einer Aufrechnungsmöglichkeit spricht. Soweit also im Folgenden von einer anfechtbar erlangten Aufrechnungslage die Rede ist, ist dies in diesem Sinne zu verstehen.
III. Auswirkungen der Verfahrenseröffnung auf bereits erklärte Aufrechnungen Vor diesem Hintergrund stellt sich als Nächstes die Frage, wie sich die Verfahrenseröffnung auswirkt, wenn der Gläubiger die Aufrechnungsmöglichkeit in anfechtbarer Weise erlangt und die Aufrechnung bereits vor Verfahrenseröffnung erklärt hat. Die ganz herrschende Meinung ist der Auffassung, dass eine solche Aufrechnungserklärung mit der Verfahrenseröffnung rückwirkend nichtig wird. 5 Man stützt sich dazu auf die Begründung zu § 108 Nr. 3 RegE InsO als der Entwurfsfassung des heutigen § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO. In dieser Begründung heißt es wörtlich: „Ist die Aufrechnung schon vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erklärt worden, so wird diese Erklärung mit der Eröffnung rückwirkend unwirksam." 6 Ohne die Lektüre der Gesetzesbegründung würde man freilich auf diese Idee nicht ohne Weiteres kommen, denn im Gesetzeswortlaut ist eine Rückwirkung nicht erwähnt. Es stellt sich daher die Frage, ob sich die Rückwirkung hier überhaupt begründen lässt. Die Aufrechnungserklärung ist ein einseitiges Rechtsgeschäft. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Rechtsgeschäfts müssen bei dessen Vornahme vorliegen.7 Ist die Aufrechnung vor Verfahrenseröffnung erklärt worden, liegt 4
Im Gegenteil soll durch das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs 1 N r 1 InsO gerade erreicht werden, dass das zur Masse Geschuldete auch wirklich in die Masse kommt. Das zeigt ganz deutlich, dass nicht die Begründung der zweiten Forderung missbilligt wird, sondern die Entstehung der Aufrechnungsbefugnis. Deshalb verwehrt das Gesetz dem Gläubiger diese an und für sich nach § 387 BGB bestehende Aufrechnungsbefugnis. 5 Vgl etwa Bork (Fn 1), Rn 265 Fn 7; Breutigam/Blersch/Goetsch-ß/mc^ Insolvenzrecht, Stand November 2000, § 96 Rn 13/15; Häsemeyer in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl 2000, S. 645 ff Rn 36; Heidelberger Kommentar zur InsO (= WK)-Eickmann 2. Aufl 2001, § 96 Rn 12; Jauemig Zwangsvollstreckungund Insolvenzrecht, 21. Aufl 1999, § 50 IV 2 b; K ü b l e r / P r ü t t i n g - Z Ä InsO, Stand November 2000, § 96 Rn 60; Landfermann in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl 2000, S. 159 ff, Rn 75; SmidInsO, 1999, § 96 Rn 4; einschränkend aber W i m m e r / A p p InsO, 2. Aufl 1999, § 96 Rn 18. ' Begr. § 108 RegE InsO, BT-Drucks 12/2443, S. 141. 7 Vgl dazu Bork (Fn 3), Rn 1239.
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das Wirksamkeitshindernis des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO noch nicht vor. Diese Vorschrift kann daher den bereits abgeschlossenen Aufrechnungsvorgang nur erfassen, wenn sie der Verfahrenseröffnung Rückwirkung beimisst. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Tatsachen Rechtswirkungen immer nur für die Zukunft entfalten, der Eröffnungsbeschluss hier also nur Aufrechnungserklärungen erfasst, die nach der Verfahrenseröffnung abgegeben werden. Der Gesetzgeber ist allerdings frei, mit Wirkung für die Zukunft anzuordnen, dass in der Vergangenheit bereits abgeschlossene Vorgänge rechtlich nunmehr anders behandelt werden sollen. 8 Rückwirkungsanordnungen sind daher Fiktionen, zu denen der Gesetzgeber befugt ist. Freilich muss sich eine solche Fiktionsanordnung einwandfrei feststellen lassen. Im Falle des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist das zweifelhaft: Wortlaut und Systematik der N o r m scheinen auf den ersten Blick gegen eine Rückwirkung zu sprechen. § 96 InsO steht im Dritten Teil des Gesetzes, der mit „Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens" überschrieben ist. Wenn unter dieser Uberschrift formuliert wird: „Die Aufrechnung ist unzulässig ...", dann kann das eigentlich nur auf die Wirkung für nach der Verfahrenseröffnung abgegebene Aufrechnungserklärungen schließen lassen. Anderenfalls hätte es heißen müssen: „Die Aufrechung wird unzulässig ...". Das ergibt sich auch daraus, dass unter der einheitlichen Einleitung („Die Aufrechung ist unzulässig ... ") in § 96 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO nur Fälle der nach Verfahrenseröffnung möglichen Aufrechnung behandelt werden. Das „ist" als ein „ist bzw. wird" zu verstehen, ergibt daher für die in Nr. 1 und 2 geregelten Fälle keinen Sinn. Stellt man sich auf den Standpunkt, dass bei einheitlichem Wortlaut auch nur eine einheitliche Auslegung in Betracht kommt, so hätte die Vorstellung der Entwurfsbegründung von der Rückwirkung der Verfahrenseröffnung auf bereits erklärte Aufrechnungen im Gesetzeswortlaut keinen Anklang gefunden 9 und könnte dem Gesetz folglich auch nicht im Wege der Auslegung entnommen werden. 10 In Betracht käme dann allenfalls eine Analogie. Benötigt würde dazu freilich eine Vorschrift, die Rückwirkung anordnet und die man dann auf die Aufrechnung analog anwenden kann. Eine solche Vorschrift ist aber nicht ersichtlich. Allenfalls könnte man an die „Rückschlagsperre" in § 88 InsO denken, der Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, die längstens einen Monat vor dem Insolvenzantrag ausgebracht worden sind, rückwirkend ihre Wir8 Das ist nirgends besser herausgearbeitet als bei v. TuhrOer Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. II/l, 1914, § 43 V. 9 So in der Tat WimmerlApp (Fn 5), § 96 Rn 18, der allerdings offen lässt, ob man deshalb der Rückwirkungstheorie die Gefolgschaft versagen muss. 10 Es läge einer der - seltenen - Fälle vor, in denen die Normvorstellungen derjenigen, die den Gesetzestext entworfen haben, nicht Gesetz geworden sind, weil ihre Absicht im Wortlaut des Gesetzes keinen Anklang gefunden hat. Vgl allg dazu Larenz/Canans Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl 1995, S. 143 f, 150 ff, 163ff.
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kung nimmt. Der Gedanke an eine Analogie zu § 88 I n s O liegt u m s o näher, als man die Aufrechnung gemeinhin auch als „Selbstexekution" 11 bezeichnet, also als einen Fall der Privatvollstreckung. 12 Gleichwohl hilft § 88 I n s O nicht weiter. Diese Vorschrift zeigt nicht nur, dass der Gesetzgeber (der nicht identisch ist mit den Verfassern der Begründung des Regierungsentwurfs) Rückwirkung ausdrücklich angeordnet hat, w o er sie für richtig hielt. Vielmehr ist sie im vorliegenden Fall wegen Ihrer zeitlichen Begrenzung auch nicht analogietauglich, da alle Aufrechnungserklärungen erfasst werden sollen, die auf anfechtbaren Aufrechnungslagen beruhen, nicht nur solche, die längstens einen Monat vor Insolvenzantrag abgegeben wurden. Kehrt man zurück zu der Frage, ob nicht Wortlaut und Systematik des § 96 I n s O doch einen Anhaltspunkt für eine Rückwirkungsanordnung geben, so hilft möglicherweise ein Blick in die Gesetzesgeschichte weiter. Dazu kann man beginnen bei der Vorläufernorm des heutigen § 96 InsO, also bei § 55 KO. In dieser Vorschrift hieß es noch: „Eine Aufrechnung im Konkursverfahren ist unzulässig ...". 13 Schon dazu war weithin anerkannt, dass auch eine vor Konkurseröffnung erklärte Aufrechnung mit der Eröffnung rückwirkend unwirksam werde. 14 Nach der Vorstellung der Insolvenzrechtskommission sollte diese Rückwirkung allerdings beseitigt werden. Sie schlug daher in Leitsatz 3.6.4. als Gesetzestext vor: „Eine Aufrechnung im Insolvenzverfahren ist unzulässig, wenn die Aufrechnungslage vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in anfechtbarer Weise herbeigeführt worden ist". In der Begründung dazu heißt es: „Eine Aufrechnungserklärung, die bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgegeben worden ist, wird von dem Leitsatz nicht erfaßt. Sie soll nicht kraft Gesetzes unwirksam sein, sondern gegebenenfalls den allgemeinen Regeln der Insolvenzanfechtung unterliegen." 15 D e m haben sich die Gesetzesverfasser nicht anschließen wollen. Schon im Diskussionsentwurf 1 6 und im Referentenentwurf 1 7 findet sich in Übereinstimmung mit dem späteren Regierungsentwurf die heutige Fassung des § 96 I n s O mit der Begründung: „Die schwer verständliche Vorschrift des § 55 KO wird in redaktionell erheblich vereinfachter Weise übern o m m e n ; dabei wird sie inhaltlich ergänzt." Außerdem findet sich die oben bereits aus dem Regierungsentwurf zitierte Auffassung, es werde auch eine
11 So schon Mot. II, S. 113 = Mugdan Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, Bd II, S. 62. 12 Ausf dazu Staudinger/Gursky BGB, 2000, Vorbem zu §§ 387 ff Rn 5 m w N . 13 Hervorhebung hier und im folgenden Zitat von mir; R. B. 14 Vgl nur Kuhn/Uhlenbruck KO, 11. Aufl 1994, § 55 Rn 15a mwN. 15 Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, S. 338f. 16 Bundesministerium der Justiz (Hrsg), Diskussionsentwurf Gesetz zur Reform des Insolvenzrechts, Köln 1988, S. 49 (Text) und S. Β 81 f (Begründung). 17 Bundesministerium der Justiz (Hrsg), Referentenentwurf Gesetz zur Reform des Insolvenzrechts, 1989, S. 58 (Text) und S. 100 f (Begründung).
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vor Verfahrenseröffnung erklärte Aufrechnung unwirksam. Es sollte also bei der zu § 55 KO anerkannten Rechtslage bleiben. Liest man den Wortlaut des § 96 InsO vor diesem Hintergrund, dann bietet er letztlich doch einen Anhaltspunkt für die Rückwirkung auf bereits erklärte Aufrechnungen. Der Anhaltspunkt ergibt sich daraus, dass in dem Eingangssatz die Wörter „im Insolvenzverfahren" fehlen. Dadurch, dass das Gesetz auf diese einschränkende Formulierung verzichtet, bringt es in seinem Wortlaut zum Ausdruck, dass es sich nicht auf nach Verfahrenseröffnung erklärte Aufrechnungen beschränken will, sondern, wo es passt, auch bereits erklärten Aufrechnungen die Wirkung für das eröffnete Verfahren absprechen will. Dass diese Rückwirkung nur in den Fällen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO relevant wird, während sie in den übrigen Fällen keine Anwendung finden kann, da bei ihnen vor Eröffnung gar nicht aufgerechnet werden kann, ändert daran nichts. Dogmatisch wird man dem Umstand, dass mit § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO für den Fall der bereits erklärten Aufrechnung eine Rückwirkung verbunden ist, dadurch Rechnung tragen können, dass man die N o r m insoweit als „gesetzliche Insolvenzanfechtung" versteht. Die Verfahrenseröffnung ersetzt die Insolvenzanfechtung durch den Insolvenzverwalter und führt zu dem Ergebnis, dass der bereits erklärten Aufrechnung ihre Wirkung für das Insolvenzverfahren genommen wird. Im Ergebnis geht es daher nur darum, ob die Insolvenzanfechtung noch durchexerziert werden muss. Lehnt man nämlich entgegen der hier vertretenen Meinung eine rückwirkende Vernichtung bereits abgegebener Aufrechnungserklärungen ab, so muss eine vor Verfahrenseröffnung abgegebene Aufrechnungserklärung vom Insolvenzverwalter eigens angefochten werden. Das kann sie übrigens grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des § 130 InsO. Denn wenn eine Aufrechnungslage besteht, dann besteht ein Recht zur Aufrechnung, so dass die Ausübung dieses Rechts eine kongruente Deckung darstellt: Der Gläubiger erhält nur, was ihm kraft der Aufrechnungslage zusteht. Weiter kommt man aber, wenn die Begründung dieses Aufrechnungsrechts, also die Begründung der Aufrechnungsláge, ihrerseits anfechtbar ist.18 Denn dann beseitigt die Anfechtung der „Aufrechnungslage" auch das Aufrechnungsrecht. 19 Damit besteht aber nur noch ein rechtstechnischer Unterschied zu dem in § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unmittel18 Es verhält sich hier ähnlich wie beim Pfändungspfandrecht. Die Pfandverwertung ist eine kongruente Deckung, die Erlangung des Pfändungspfandrechts eine inkongruente Deckung. Vgl BGH ZIP 2000, 898. 19 Es gilt dann das in Fn 2 Ausgeführte. Als Kontrollüberlegung kann der Fall dienen, dass der Gläubiger, nachdem der Insolvenzverwalter die vor Verfahrenseröffnung wirksam gewordene Aufrechnungserklärung erfolgreich angefochten hat, erneut die Aufrechnung erklärt. Da er dies nunmehr nach Verfahrenseröffnung tut, greift § 96 Abs 1 N r 3 InsO: Die (zweite) Aufrechnungserklärung ist unwirksam, wenn die Aufrechnungslage in anfechtbarer Weise herbeigeführt wurde.
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bar geregelten Fall. Gleich, ob die Aufrechnungserklärung vor oder nach Verfahrenseröffnung abgegeben wurde, sie hat keinen Bestand, wenn die Aufrechnungslage anfechtbar geschaffen wurde. Der Unterschied besteht nach der Gegenansicht lediglich darin, dass eine nach Verfahrenseröffnung abgegebene Aufrechnungserklärung gemäß § 96 A b s . 1 Nr. 3 I n s O ohne Anfechtung von Anfang an und ohne weiteres unwirksam ist, während die vor Verfahrenseröffnung wirksam gewordene Aufrechnungserklärung mit Verfahrenseröffnung nicht kraft Gesetzes rückwirkend nichtig wird, sondern zusammen mit der Begründung der Aufrechnungslage vom Insolvenzverwalter durch Anfechtung beseitigt werden m u s s .
IV. Anfechtbarkeit der „Aufrechnungslage" In einem nächsten Schritt ist zu fragen, wann die Erlangung einer Aufrechnungsmöglichkeit anfechtbar ist. D a z u sind die Voraussetzungen der §§ 129 ff. I n s O in den Blick zu nehmen. 1.
Rechtshandlung
Als Erstes ist die anfechtbare Rechtshandlung zu bestimmen. § 96 Abs. 1 Nr. 3 I n s O spricht dabei von der Erlangung der Aufrechnungsmöglichkeit. Damit scheidet die Aufrechnungserklärung als anfechtbare Rechtshandlung aus. Die Aufrechnungserklärung ist schon nach dem Gesetz unwirksam und braucht gerade nicht angefochten zu werden. 2 0 Sie könnte in der Regel auch gar nicht angefochten werden, da § 129 A b s . 1 I n s O auf Rechtshandlungen abstellt, die vor Verfahrenseröffnung vorgenommen worden sind, während es hier in erster Linie um Aufrechnungen geht, die nach Verfahrenseröffnung erklärt werden. Vielmehr k o m m t es darauf an, ob die Möglichkeit zur Aufrechnung in anfechtbarer Weise erlangt wurde, so dass zu prüfen ist, durch welche Rechtshandlung diese Möglichkeit geschaffen wurde. In diesem wohlverstandenen Sinne kann nach der Anfechtbarkeit der „Aufrechnungslage" gefragt werden. Allerdings hat der B G H zum alten Recht die Auffassung vertreten, es müsse auf den Gesamtvorgang von der Begründung der Aufrechnungslage bis zur Aufrechnungserklärung abgestellt werden. 2 1 Diese Rechtsprechung erklärt sich z u m einen aus dem U m s t a n d , dass § 55 S. 1 Nr. 3 K O nur den Fall erfasste, dass jemand, der bereits Schuldner des Gemeinschuldners war, anschließend z u m Gläubiger des Gemeinschuldners wurde, nicht aber den 20 21
Vgl oben II. 2 - Zu abweichenden Sonderfällen s. v. Olshausen, KTS 2001, 45ff. Vgl BGHZ 129, 339, 343; 86, 349, 353 f; 58, 108, 113; BGH ZIP 2000, 2207, 2210 m
Anm Schmitz.
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umgekehrten Fall, dass ein Gläubiger nachträglich zum Schuldner des Gemeinschuldners wurde. In diesem zweiten Fall musste also angefochten werden. Stellte man dazu nur auf die Aufrechnungserklärung ab, konnte man nicht zur Anfechtbarkeit kommen, da es sich bei dieser Erklärung um eine nach Verfahrenseröffnung vorgenommene Rechtshandlung handelt. 22 Mit Einführung des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist dieser Kunstgriff nicht mehr nötig. Er wäre streng genommen auch nach altem Recht nicht nötig gewesen, denn man hätte sich auf die Anfechtung der Begründung der Aufrechnungslage beschränken und damit der Aufrechnungserklärung den Boden entziehen können. 2 3 Dass auf den Gesamtvorgang abgestellt wird, hat zum anderen den Grund, dass die anfechtbare Rechtshandlung nicht aus dem Anfechtungszeitraum der Krise „hinausdefiniert" werden soll.24 Dafür reicht es aber nach neuem Recht, zwischen der Begründung der Aufrechnungslage (z.B. durch eine Vertragserfüllung) und der Begründung eines Anspruchs auf Herbeiführung der Aufrechnungslage (z.B. durch Abschluss des später erfüllten Vertrages) zu unterscheiden 25 und für die Prüfung der Anfechtung auf die Begründung der Aufrechnungslage abzustellen. 26 Nach altem Recht konnte man mit der Einbeziehung der Aufrechnungserklärung, die nach neuem Recht ohnehin unwirksam ist, in den Gesamttatbestand näher an die Eröffnung heranrücken. Da § 96 Abs. 1 Nr. 3 ebenso wenig wie §§ 130, 131 InsO gerade eine Rechtshandlung des Schuldners oder des Gläubigers voraussetzt, kommen Rechtshandlungen sowohl dieser beiden an der Aufrechnungslage Beteiligten als auch Rechtshandlungen Dritter in Betracht. Das entspricht allgemeiner Meinung. 27 Auch die im Ausgangsfall durch Überweisung eines Dritten herbeigeführte Aufrechnungslage beruht daher auf einer Rechtshandlung und kann, wenn die weiteren Voraussetzungen der §§ 129 ff. InsO vorliegen, anfechtbar sein. N u r Aufrechnungslagen, die nicht auf menschlichem Verhalten beruhen, also weder auf einem aktiven Tun noch auf dem Unterlassen eines Menschen (§ 129 Abs. 2 InsO), sind unanfechtbar. Tritt beispielsweise bei einem feuerversicherten Schuldner, der mit seinen Versicherungsprämien in Rückstand ist, zwei Monate vor Insolvenzantrag durch Naturereignis (Blitzschlag o.ä.) ein Brandschaden ein, so kann der Feuer22
Besonders deutlich BGHZ 86, 349, 353. Vgl oben Fn 2. 24 Klar herausgearbeitet von Schmitz ZIP 2000, 2211, 2213. 25 Näher dazu unten IV. 26 Ebenso Dampf KTS 1998, 145, 156 Fn 53; Eckardt ZIP 1995, 1146, 1151; Gerhardt FS Brandner, 1996, S. 605, 612 f; anders Dieckmann in: Leipold (Hrsg), Insolvenzrecht im Umbruch, 1991, S. 211, 221. - Unrichtig daher BGH ZIP 2000, 757, 759, wo auf den Vertragsschluss abgestellt wird; dagegen zutr. Gerhardt EWiR 2000, 741, 742; Schmitz ZIP 2000, 2211, 2213; SpliedtOZmR 2000, 718, 725; vgl allg zum alten Recht auch Canaris FS 100 Jahre KO, 1977, S. 73, 79f. 27 Vgl statt vieler nur Häsemeyer (Fn 5), Rn 34. 23
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Versicherer gegen den Anspruch des Versicherungsnehmers auf die Versicherungssumme mit rückständigen Prämienansprüchen selbst dann aufrechnen, wenn der Schuldner bei Ausbruch des Brandes bereits zahlungsunfähig und dies dem Versicherungsunternehmer bekannt war (vgl. § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Denn die Aufrechnungslage ist hier nicht durch menschliches Verhalten, sondern durch ein Naturereignis und damit nicht durch eine Rechtshandlung i. S. v. § 129 InsO herbeigeführt worden. 2. Gläubigerbenachteiligung Die Insolvenzanfechtung setzt sodann voraus, dass die Rechtshandlung die Gläubiger benachteiligt. Diese Voraussetzung bereitet hier keine Schwierigkeiten. Die Begründung einer Aufrechnungsmöglichkeit benachteiligt die Gläubiger immer, weil sie dem Aufrechnungsbefugten die Möglichkeit gibt, seine Forderung gegen den Schuldner vollen Umfangs zu befriedigen, während er ohne Aufrechnungsrecht auf seine Forderung nur die Quote bekäme, hingegen die von ihm geschuldete Leistung voll zur Masse erbringen müsste. 28 Die Erlangung einer Aufrechnungsmöglichkeit ist daher stets mit einer (mittelbaren) Gläubigerbenachteiligung verbunden. 29 3.
Anfechtungsgrund
Damit ist die entscheidende Voraussetzung die des Anfechtungsgrundes. In erster Linie stellt sich dabei die Frage, ob die Herbeiführung einer Aufrechnungsmöglichkeit eine kongruente oder eine inkongruente Deckung ist. Die Antwort auf diese Frage wird oft „kriegsentscheidend" sein, weil eine kongruente Deckung gemäß § 130 InsO nur unter erheblich strengeren Voraussetzungen anfechtbar ist als eine inkongruente Deckung gemäß § 131 InsO. Die herrschende Meinung sieht in der Herbeiführung einer Aufrechnungsmöglichkeit eine kongruente Deckung, 30 gibt dafür aber nur eingeschränkt überzeugende Begründungen:
Vgl oben I. Vgl zum alten Recht BGHZ 89, 189, 195; BGH ZIP 2000, 2207, 2210 m Anm Schmitz Anders im Einzelfall BGHZ 86, 349, 354 f. 3 0 Breutigam/Blersch/Goetsch-B/mc¿ (Fn 5), § 96 Rn 11; Häsemeyer (Fn 5), Rn 35; ders (Fn 1), Rn 19.15; HK-Eickmann (Fn 5), § 96 Nr 11 ; Kübler/Prütting-Z.«£e (Fn 5), § 96 Rn 47 (vgl aber auch Rn 50); Landfermann (Fn 5), Rn 74; differenzierend Paulus ZIP 1997, 569, 576 f; Spliedt DZ WIR 2000, 418, 420; aM Bork (Fn 1), Rn 266; Jauernig (Fn 5), § 50 IV 2 b; Nerlich/Römermann-Wüttfeowsfo'InsO, Stand November 2000, § 96 Rn 18; Wimmer/App (Fn 5), § 96 Rn 17. 28
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a) Aufrechnung als Erfüllungssurrogat Untauglich ist die Begründung, die Aufrechnung sei Erfüllungssurrogat und müsse daher wie eine Erfüllung behandelt werden. 31 Dieser Ansatz ist jedenfalls dann verfehlt, wenn damit darauf abgestellt werden soll, dass die Aufrechnungserklärung gemäß § 389 BGB wie eine Erfüllung wirkt. Denn in den Fällen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO geht es eben, wie vorstehend unter 1. dargestellt, nicht um die Aufrechnungserklärung, die als Erfüllungssurrogat die zur Aufrechnung gestellten Forderungen erlöschen lässt, sondern um die Begründung einer Aufrechnungslage. Diese Rechtshandlung hat aber keine Erfüllungs-, sondern allenfalls erfüllungsvorbereitende Wirkung. 32 Aus dem Umstand, dass die Aufrechnung Erfüllungssurrogat ist, lässt sich daher ohne nähere Erläuterung nichts herleiten. b) Gesetzesgeschichte Ebenso wenig überzeugend ist die Begründung, die Einordnung unter die kongruenten Deckungen ergebe sich aus der Gesetzgebungsgeschichte, weil der BGH unter der Geltung des § 55 S. 1 Nr. 3 KO stets von einer kongruenten Deckung ausgegangen sei und der Gesetzgeber diese Einordnung habe übernehmen wollen. 33 Richtig ist zwar, dass der BGH schon für das frühere Recht entschieden hat, dass die Erlangung einer Aufrechnungslage eine kongruente Deckung sei.34 Aber schon die Begründung zu § 108 RegE InsO nimmt auf diese Rechtsprechung nur ganz allgemein Bezug, hält es also für richtig, dass bei anfechtbar erlangter Aufrechnungslage nicht wirksam aufgerechnet werden kann, lässt sich aber zum Anfechtungsgrund nicht näher ein. 35 Außerdem kann sich der BGH geirrt haben, so dass die Gesetzgebungsgeschichte weder ergiebig noch verbindlich ist.
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In diesem Sinne etwa Breutigam/Blersch/Goetsch-5/ersc¿ (Fn 5), § 96 Rn 11; Häsemeyer (Fn 5), Rn 35; ders (Fn 1), Rn 19.15. Ähnlich Dampf KTS 1998, 145, 158 und Obermüller Z I n s O 1998, 252, 256, ferner zum alten Recht Canaris (Fn 26), S. 80 ff, die darauf abstellen, ob die Forderung des Gläubigers bei Entstehung der Aufrechnungslage fällig war, so dass sofortige Erfüllung verlangt werden konnte. 32 Dazu sogleich weiter unten im Text. 33 So zum Beispiel HK-Eickmann (Fn 5), § 96 N r 11; Häsemeyer{Fn 5), Rn 35; Kübler/ Prütting-Z,»£e (Fn 5), § 96 Rn 47; Landfermann (Fn 5), Rn 74; krit zu diesem Ansatz Spliedt DZWIR 2000, 418, 420. 3 < Vgl etwa BGHZ 129, 336, 344; 89, 189, 193; 86, 349, 353; 86, 190, 194; 58, 108, 113 ff; BGH ZIP 2000, 2207, 2210 m Anm Schmitz. 35 Vgl Begr § 108 RegE InsO, BT-Drucks 12/2443, S. 141.
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c) Reihenfolge des Forderungserwerbs Vielmehr ist danach zu differenzieren, ob der Aufrechnende zuerst Gläubiger oder zuerst Schuldner des Insolvenzschuldners war. aa) Aufrechnender war zuerst Gläubiger War er zuerst Gläubiger, ist - wie stets bei der Abgrenzung zwischen § 130 und § 131 InsO - zu fragen, ob auf die Rechtshandlung ein Anspruch bestand oder nicht. Konnte der Gläubiger die Herbeiführung der Aufrechnungsmöglichkeit verlangen, dann handelt es sich um eine kongruente Deckung, sonst um eine inkongruente Deckung. So gefragt, muss die Erlangung der Aufrechnungsmöglichkeit in aller Regel unter die inkongruenten Deckungen subsumiert werden, denn regelmäßig wird der Gläubiger keinen Anspruch auf die Begründung einer Aufrechnungslage gehabt haben. Anders könnte man nur dann entscheiden, wenn man die Herbeiführung einer Aufrechnungslage als einen Schritt zur Erfüllung, also sozusagen als Teilerfüllung ansähe. Wenn der Gläubiger Erfüllung verlangen kann, dann könnte die Begründung einer Verbindlichkeit gegenüber dem Schuldner ein Schritt hin zur Befriedigung und damit offenbar etwas sein, was er verlangen kann. 36 Auch auf diesem Wege kommt man aber nicht zum Ziel. Denn die Verschaffung einer Aufrechnungsmöglichkeit ist gegenüber der Erfüllung kein minus, sondern ein aliud, und damit ebenso wenig eine kongruente Deckung wie die Gewährung einer Leistung an Erfüllungs Statt. 37 Dass es sich also meistens um eine inkongruente Deckung handeln wird, schließt nicht aus, dass auch einmal eine kongruente Deckung vorliegt. Hat der Aufrechnende einen Anspruch auf denjenigen Vorgang, dessen Verwirklichung die Aufrechnungslage herbeiführt, dann besteht auch ein Anspruch auf Begründung der Aufrechnungslage selbst. 38 Dazu reicht es im Ausgangsfall aber nicht aus, dass die Bank einen Anspruch darauf hat, sich aus Vermögenswerten des Bankkunden zu befriedigen. 39 Entscheidend ist nicht der Anspruch auf Befriedigung, sondern der Anspruch auf den die Aufrechnungslage auslösenden Vorgang. Eine Bank hat aber keinen Anspruch gegen ihre Kunden oder gegen die Schuldner ihres Kunden darauf, auf ein bei ihr geführtes Konto zu überweisen. Einen solchen Anspruch hat vielleicht der Kunde gegen seine Schuldner, nicht aber die Bank. In diesem Fall liegt also
In diesem Sinne sind möglicherweise die in Fn 31 Genannten zu verstehen. Vgl dazu nur BGH WM 1971, 908, 909; MDR 1963, 214, 215; Kübler/Prütting-TW» (Fn 5), § 131 Rn 14; Nerlich/Römermann-Ner/iob (Fn 30), § 131 Rn 18. 38 Die in Fn 31 genannten Entscheidungen sind daher teilweise richtig; vgl die nachstehenden Nachweise. 3 9 So aber BGHZ 58, 108, 114. 36 37
Aufrechnung und Insolvenzanfechtung
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eine gegen ihre Kunden inkongruente, keine kongruente Deckung vor. 40 Die Aufrechnung ist daher anfechtbar, sofern nicht ausnahmsweise ein Bargeschäft vorliegt. 41 bb) Aufrechnender war zuerst Schuldner War der Aufrechnende hingegen zuerst Schuldner des Insolvenzschuldners und erwirbt er erst nachträglich seine Forderung, so handelt es sich von vornherein u m eine kongruente Deckung. Der Aufrechnende bek o m m t seine Gegenforderung gleich mit dem Aufrechnungsrecht, so dass sich die Frage gar nicht stellt, ob er als Gläubiger mit der Begründung dieses Aufrechnungsrechts etwas erhält, was er zu beanspruchen hatte. So gesehen steckte in § 55 S. 1 Nr. 3 KO, der die Aufrechnung für diesen Fall unter den Voraussetzungen für unwirksam erklärte, die sonst zur Anfechtung wegen einer kongruenten Deckung berechtigt hätten, eine richtige Wertung. Sie gilt allerdings nur für den originären Forderungserwerb. Lässt sich ein Schuldner des Insolvenzschuldners eine Forderung abtreten, dann ist diese Forderung nicht von Anfang an mit einer Aufrechnungsbefugnis versehen gewesen. Die Begründung der Aufrechnungslage durch Abtretung stellt daher in Bezug auf die abgetretene Forderung eine inkongruente Deckung dar.
V. Einzelfragen Vor diesem Hintergrund können noch einige spezielle Aspekte etwas näher beleuchtet werden.
1. Reihenfolge des Erwerbs von Forderung und Verbindlichkeit Bemerkenswert ist zunächst, dass § 96 Abs. 1 Nr. 3 I n s O nur davon spricht, dass ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung erlangt. Das könnte vermuten lassen, dass die N o r m nur solche Fälle erfassen will, in denen ein Gläubiger in anfechtbarer Weise zum Schuldner wird, nicht aber den umgekehrten Fall, in dem ein Schuldner des Insolvenzschuldners in anfechtbarer Weise eine Forderung gegen den Insolvenzschuldner erwirbt. So ist die Vorschrift indessen nicht zu verstehen, wie sich aus der Gesetzesgeschichte ohne weiteres ergibt. In § 55 S. 1 Nr. 3 KO war 40
Ebenso (aber um Korrektur bemüht) Kübler/Prütting-Z.ä&e (Fn 5), § 96 Rn 49 ff; ferner Paulus ZIP 1997, 569, 577 für den Fall, dass das durch den Zahlungseingang entstehende Guthaben mit einem Negativsaldo auf einem anderen Konto verrechnet wird. « Vgl dazu BGH ZIP 1999, 665, 667; Canans (Fn 26), S. 82 ff; Dampf KTS 1998, 145, 165 ff; Kübler/Prütting-Lüke (Fn 5), § 96 Rn 53.
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Reinhard Bork
nämlich der Fall geregelt, dass ein Schuldner des Gemeinschuldners in anfechtbarer Weise z u m Gläubiger geworden war. Nicht erfasst war hingegen die umgekehrte Konstellation. Diesem Zustand sollte § 96 Abs. 1 Nr. 3 I n s O mit einer allgemein gehaltenen Formulierung abhelfen, 42 die dann freilich ihrerseits missglückt ist. Es entspricht daher heute allgemeiner Ansicht, dass die Reihenfolge, in der der Aufrechnende seine Forderung und seine Verbindlichkeit erwirbt, für den Anwendungsbereich der N o r m keine Rolle spielt. 43 Relevant ist diese Reihenfolge nur für den Anfechtungsgrund. 4 4 2. Entstehung der Aufrechnungslage im vorläufigen
Insolvenzverfahren
Z u m alten Recht war unklar, ob das Entstehen der Aufrechnungslage nach A n o r d n u n g der Sequestration einer besonderen Behandlung (in Gestalt der Vorverlagerung des § 55 KO) bedürfe. 4 5 Diese Frage ist durch § 96 Abs. 1 Nr. 3 I n s O erledigt. 46 Entsteht die Aufrechnungslage nach Anordnung von Sicherungsmaßnahmen i. S. v. § 21 InsO, so wird die dadurch herbeigeführte Begründung eines Aufrechnungsrechts regelmäßig anfechtbar sein. Handelt es sich, wie im Normalfall anzunehmen, 4 7 u m eine inkongruente Deckung, so ergibt sich die Anfechtbarkeit ohne weiteres aus § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Handelt es sich ausnahmsweise u m eine kongruente Deckung, muss der Insolvenzverwalter die Kenntnis des Gläubigers vom Insolvenzantrag oder von der Zahlungsunfähigkeit nachweisen (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO), was regelmäßig kein Problem sein dürfte, da der vorläufige Insolvenzverwalter den Gläubiger bei Begründung der Aufrechnungslage selbst von dem Insolvenzantrag in Kenntnis setzen kann. N u r in einem Fall k o m m t eine Anfechtung nicht in Betracht: Ist ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet und ein vorläufiger Insolvenzverwalter eingesetzt, so scheidet eine Anfechtung aus, wenn die Aufrechnungslage in der Weise begründet wird, dass der („starke") vorläufige Insolvenzverwalter eine Verbindlichkeit begründet. D e n n nach § 55 Abs. 2 I n s O sind solche Verbindlichkeiten als Masseverbindlichkeiten einzuordnen und damit nach der
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Begr § 108 RegE InsO, BT-Drucks 12/2443, S. 141. Vgl im Anschluss an Bork (Fn 1), Rn 266 ua Adam WM 1998, 801, 803; Breutigam/ Blersch/Goetsch-5/roc¿ (Fn 5), § 96 Rn 11 ; Häsemeyer{Fn 5), Rn 34; ders (Fn 1), Rn 19.16; Kübler/Prütting-Z,«£e (Fn 5), § 96 Rn 43; Paulus ZIP 1997, 569, 576. 44 Vgl vorstehend IV. 3. c. 45 Vgl zusammenfassend Gerhardt FS Zeuner, 1994, S. 353 ff; PaulusZlV 1997, 569, 572 ff. 46 Ebenso Adam WM 1998, 801, 804; Gerhardt EWiR 2000, 741, 742; ders'm: Arbeitskreis für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen (Hrsg), Aktuelle Probleme des neuen Insolvenzrechts, 2000, S. 127, 149; ders (Fn 45), S. 366; Häsemeyer (Fn 1), Rn 19.16; Paulus ZIP 1997, 569, 576 f. 47 Vgl vorstehend IV. 43
Aufrechnung u n d Insolvenzanfechtung
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Wertung des Gesetzes der Anfechtung entzogen. 4 8 Hier bleibt also die Aufrechnung nach der allgemeinen Regel möglich, dass ein Massegläubiger sich durch Aufrechnung gegen Ansprüche der Masse befriedigen kann. 4 9 3. Schaffung der Aufrechnungslage durch Abschluss neuer Verträge In einer Entscheidung vom 12. 11. 1998 hatte sich der IX. Zivilsenat des B G H mit einem Fall zu befassen, in dem der Gläubiger mit dem Schuldner einen Kaufvertrag geschlossen und dann den Kaufpreisanspruch des Schuldners gegen seine Forderung aufgerechnet hatte. Der Senat hat hier - z u m alten Recht - entschieden, der Konkursverwalter könne sich nicht auf die Anfechtung der Herstellung der Aufrechnungslage beschränken, sondern müsse den Kaufvertrag anfechten u n d auf Rückgewähr des Kaufgegenstandes klagen. 50 Nach neuem Recht wird man so nicht mehr entscheiden können. Gleich, ob die Aufrechnung vor oder nach Verfahrenseröffnung erklärt wird, 51 k o m m t es nur darauf an, ob die Schaffung der Aufrechnungslage anfechtbar ist. Das ist der Fall, da es sich u m eine inkongruente Deckung handelt, denn der Gläubiger hatte keinen Anspruch auf Abschluss des Kaufvertrages. § 96 Abs. 1 Nr. 3 I n s O verlangt indessen nicht, dass die Aufrechnungslage tatsächlich angefochten wird, sondern nur, dass sie angefochten werden kann. Mit der Systematik des neuen Gesetzes ist die Entscheidung daher k a u m noch vereinbar. 52
48 Allg Meinung; vgl nur Kirchhof Z I n s O 2000, 297, 298 f; Pohlmann Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, 1998, Rn 507ff. 49 Vgl zu diesem Grundsatz nur Bork (Fn 1), Rn 274; Häsemeyer(Fn 5), Rn 28. so BGH NJW 1999, 359 = ZIP 1998, 2165 = EWiR 1999, 799 (Gerhardt). Die Entscheidung stellt wesentlich darauf ab, dass es sich der Sache nach um eine Leistung an Erfiillungs Statt handelte. Es lag also eine inkongruente Deckung vor. Im zu entscheidenden Fall hätte es freilich gereicht, die Aufrechnungserklärung anzufechten, wenn der Konkursverwalter, der den Abschluss des Kaufvertrages zwar anfechten konnte, aber nicht anfechten wollte, an dem Kaufvertrag festhalten wollte; kritisch auch Eckardt LM N r 22 zu § 29 KO; Gerhardt EWiR 1999, 799, 800; Schmitz ZIP 2000, 2211, 2214; zust hingegen Kübler/PrüttingLüke (Fn 5), § 96 Rn 55; wie der B G H auch OLG Jena ZIP 2000, 2124, 2125. 51 Vgl oben III. 52 Ebenso Eckardt LM N r 22 zu ξ 29 KO; Häsemeyer (Fn 5), Rn 57
Rechtshandlungen und Verfügungen des Schuldners über Massegegenstände im deutschen und österreichischen Recht WALTER BUCHEGGER HENRIETTE-CHRISTINE
UND
DUURSMA-KEPPLINGER
I. Das Verfügungsverbot des Schuldners (§ 81 I und II InsO) A. Prinzip (§ 81 I bis III InsO) l.
Allgemeines
Gemäß § 80 I InsO geht mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Verfügungsrecht über das zur Insolvenzmasse gehörige Vermögen vom Schuldner auf den Insolvenzverwalter über. Korrespondierend zu dieser Anordnung stellt § 81 InsO die Konsequenz klar und zieht dem Vertrauensschutz Grenzen. 1 Demgemäß bestimmt § 81 I InsO, dass Verfügungen des Schuldners, welche dieser über Gegenstände der Insolvenzmasse nach Insolvenzeröffnung vornimmt, unwirksam sind. Voraussetzungen dieses Unwirksamkeitsverdikts des § 81 InsO sind somit das Vorliegen einer Schuldnerverfügung nach Insolvenzeröffnung sowie deren Massebezogenheit. 2 Sinn und Zweck dieser Regelung bestehen darin, die Insolvenzmasse vor masseschmälernden Verfügungen des Schuldners, die jener nach Verfahrenseröffnung über Gegenstände der Masse vornimmt, zu bewahren. 3 U m einen umfassenden Masseschutz zu gewährleisten, ordnet § 91 I InsO den Ausschluss sonstigen Rechtserwerbs an 4 . Für Verpflichtungsgeschäfte ergibt sich bereits aus der Definition der Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO), dass die begründete Verbindlichkeit nicht gegen die Masse geltend gemacht werden kann, so dass die Normierung einer Unwirksamkeitsfolge in § 81 InsO für Kilger/K. Schmidt § 7 A n m la. Siehe auch Jaeger/Henckel§ 7 Rn 4; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 4; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 3; Hess § 7 Rn 5; Landfermann in KS-InsO 129; Gundlach, DZWIR 1999, 364 ff; R G 2 25, 17 3 Landfermann in KS-InsO 129; Gundlach DZWIR 1999, 364. 4 Vgl dazu Gerhardt ZIP 1982, 6; Kühler/Priitting Insolvenzrecht 270; Engel/Völckershes.sing 30. 1
2
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Walter Buchegger und Henriette-Christine Duursma-Kepplinger
entbehrlich erachtet wurde. Ein gutgläubiger Erwerb massezugehöriger Gegenstände vom Schuldner ist nur unter den Voraussetzungen der §§ 81 I 2 und 91 II InsO möglich. Komplettiert wird der Schutz der Masse durch das in § 89 InsO geregelte Vollstreckungsverbot und die in § 88 InsO festgelegte Rückschlagsperre. Gegenstand der folgenden Darstellung sind ausschließlich die §§ 81 und 91 InsO. 2. Begriff der Verfügung beziehungsweise
der
Rechtshandlung
Wie bereits angesprochen, wurde der Begriff der „Rechtshandlung" des früheren § 71 dKO in § 811 InsO durch das Wort „Verfügung" ersetzt. Zwar bezweckte der Gesetzgeber ausweislich der Materialien durch diesen Begriffswechsel keine Änderung in der Sache, sondern lediglich eine Verbesserung oder Straffung der Formulierung, 5 doch ist zu bezweifeln, dass trotz dieses Wortwechsels die von § 7 I dKO und § 81 I InsO erfassten Fälle deckungsgleich sind. Weder die dKO noch die InsO enthalten eine Legaldefinition von „Rechtshandlung" oder „Verfügung", weshalb auf die Begriffsbestimmungen der Lehre und Rechtsprechung zurückgegriffen werden muss : So wird unter Rechtshandlung jede Handlung, die rechtliche Wirkungen hervorbringt, beziehungsweise jede (private) Willensbetätigung, an die das Gesetz rechtliche Folgen knüpft, verstanden, ohne dass es darauf ankommt, ob dieser Erfolg vom Handelnden gewollt ist oder nicht. 6 Darunter fallen nach einem Teil der Lehre und der älteren Rechtsprechung nur Rechtsgeschäfte - das sind Willenserklärungen, die auf die Hervorbringung eines rechtliche Erfolgs gerichtet sind7 - nicht aber bloße Tathandlungen (Realakte) 8 - dabei handelt es sich um Verhaltensweisen, die ohne Rücksicht auf den Willen Rechtsfolgen haben. Demgegenüber ist nach anderer Auffassung sowie der jüngeren Judikatur der Begriff der Rechtshandlung weiter als jener des Rechtsgeschäfts, da erster auch Realakte und geschäftsähnliche Handlungen miteinschließt. 9 Als Folge dieses weiten Verständnisses des Begriffs „Rechtshandlung" werden auch Kündigungen, Mahnungen und Unterlassungen sowie sämtliche Prozesshandlungen des Gemeinschuldners, wie
5 Begr zu § 92 des RegE InsO, BT-Drucks 12/2443 S 135; dazu auch Kübler/Prütting Insolvenzrecht 261; Nachweis auch bei v. Olshausen ZIP 1998, 1093. 6 Jaeger/Henckel § 7 Rn 3; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 2; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 2; Hess § 7 Rn 2; Kübler/Prütting Insolvenzrecht 261; RGZ 59, 57; vgl auch die österreichische hL: Lehmann I 46; Bartsch/Pollak I 47; Schubert in Konecny/Schubert § 3 ÖKO Rn 3; Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 öKO Rn 3 mwN. 7 RGZ 68, 324. 8 Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 2. 9 Eickmann in Gottwald § 32 Rn 2; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm la; Hess § 7 Rn 2; ders Insolvenzrecht-AK 10; ders Insolvenzrecht-GK 55; BGH NJW 1967 1800.
Rechtshandlungen und Verfügungen des Schuldners über Massegegenstände
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etwa Anerkenntnis, Verzicht, Vergleich, Geständnis, Klage- und Rechtsmittelrücknahme unter § 7 d K O subsumiert. 10 Wiederum umstritten, aber eher zu verneinen ist jedoch, ob auch die Empfangnahme empfangsbedürftiger Willenserklärungen unter § 7 d K O fällt. 11 Die Hauptanwendungsfälle des § 7 d K O stellten aber rechtsgeschäftliche Willenserklärungen des Schuldners wie Rechtsübertragungen in Form von Ubereignung und Zession, Belastungen und Verzichtserklärungen dar.12 Unter „Verfügung" versteht man dagegen ein Rechtsgeschäft, durch das bestehende Rechte aufgehoben, übertragen, belastet oder verändert werden. 13 In Betracht kommen insbesondere Einziehung, Abtretung, Verpfändung, Nießbrauchbestellung, Erlass, Ubereignung von Sachen, Inhaltsänderung von Rechten oder Stundung. 14 Der Begriff der Verfügung ist demnach enger als jener der Rechtshandlung, 15 da nach herrschender Meinung Verfügungen bloß eine - wenn auch die häufigste - Form von Rechtshandlungen darstellen. 16 Somit bringt die InsO für Verfügungen des Schuldners - trotz der nunmehr ausdrücklich angeordneten absoluten Unwirksamkeit - keine wesentlichen Änderungen im Vergleich zur dKO. Diese sind auch nach der geltenden Rechtslage unwirksam. Dass es durch die Einschränkung der Unwirksamkeitsfolge von Rechtshandlungen auf Schuldnerverfügungen in Einzelfällen aber doch zu ungewünschten Effekten kommen kann, wird später noch kurz dargestellt. 17 3. Unwirksamkeit der Verfügung und Heilung der Unwirksamkeit Anders als die vergleichbare Regelung des § 7 I d K O , nach welcher „Rechtshandlungen", die der Gemeinschuldner nach Verfahrenseröffnung vorgenommen hat den „Konkursgläubigern gegenüber unwirksam" waren, 10 Kilger/K. Schmidt § 7 Anm l a ; Kuhn/Ublenbruck § 7 Rn 2a; Hess § 7 Rn 3; ders Insolvenzrecht-GK 55; in diesem Sinn auch die österreichische hL: vgl nur Schubert m Konecny/Schubert § 3 ö K O Rn 4; Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 ö K O Rn 3 m w N . 11 Dafür die hL: siehe nur Jaeger/Lent § 7 Anm 2; Böhle-Stamschräder/Kilger § 7 Anm 1 ; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 2a; dagegen Jaeger/Henckel § 7 Rn 2: eine solche dem Gemeinschuldner zugegangene Willenserklärung ist, soweit sie das konkursunterworfene Vermögen betrifft, jedoch wegen fehlender sachlicher Empfangszuständigkeit des Adressaten unwirksam; vgl auch Eickmann in Gottwald § 32 Rn 3; Hess § 7 Rn 4: der darauf hinweist, dass der Gemeinschuldner für massebezogene Erklärungen nicht der richtige Adressat sei und auch keinerlei aktive Mitwirkung des Erklärungsempfängers voraussetze. 12 Vgl auch Jaeger/Henckel § 7 Rn 3; Hess § 7 Rn 3. 13 Kuhn/Uhlenbruck § 21 Rn 7; zum Begriff auch v. Olshausen, ZIP 1998, 1096; RGZ 90, 399; 106, 111/12; B G H Z 1,304. 14 Kuhn/Uhlenbruck § 21 Rn 7; Zimmermann Insolvenzrecht 63 f. 15 Vgl dazu auch Kübler!Priitting Insolvenzrecht 261 ; in diesem Sinn auch v. Olshausen ZIP 1998, 1094 f, 1097 sowie Gundlach DZWIR 1999, 364. 16 Vgl dazu auch Jaeger/Henckel § 7 Rn 3. 17 Ausführlich dazu auch v. Olshausen ZIP 1998, 1095 ff.
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erklärt § 81 I InsO „Verfügungen des Schuldners" über zur Insolvenzmasse gehörige Gegenstände, die dieser nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vornimmt, für „unwirksam". Hierbei handelt es sich um eine Unwirksamkeit, nicht um eine Nichtigkeit im Sinne des BGB.18 Dies beruht auf dem Gedanken, dass nur so eine Heilung durch (nachträgliche) Genehmigung des Insolvenzverwalters in Frage kommt. Insoweit hat die InsO keine Änderungen gebracht. Diese in § 81 I InsO postulierte Unwirksamkeit ist eine absolute, 19 sie besteht nicht bloß im Verhältnis zu den Insolvenzgläubigern. Auch wenn der Wortlaut der Neuregelung im Vergleich zu § 7 I dKO das Vorliegen eines wesentlichen Unterschieds zu suggerieren geeignet ist, sind die Rechtsfolgen doch keineswegs dermaßen verschieden. 20 Bereits zur Geltungszeit der dKO wurde diese Anordnung der Unwirksamkeit gegenüber den Konkursgläubigern, nicht als relative Unwirksamkeit im Sinne der §§ 135 f BGB verstanden, sondern als absolute, aber durch den Konkurszweck objektiv begrenzte. 21 So vertraten manche Autoren bereits zur Geltungszeit der dKO, dass der Konkursverwalter die vom Gemeinschuldner veräußerten und übergebenen Gegenstände vom Dritten herausverlangen und der Dritte, unter Berufung auf § 7 dKO, die Herausgabe an den Gemeinschuldner verweigern und bei unbefugter Forderungsabtretung seitens des Schuldners die Zahlung an den Zessionar ablehnen könne. 22 Zur Geltendmachung der Unwirksamkeit bedarf es keiner Gestaltungshandlung, insbesondere keiner Anfechtungserklärung sowie keiner Erhebung einer Einrede; sie ist vom Gericht von Amts wegen wahrzunehmen. 2 3 Verfügungen eines Vertreters stehen denen des Schuldners gleich und fallen demnach ebenso unter § 81 InsO, da der Vertreter nicht mehr Rechtsmacht besitzen kann, als der, den er vertritt. 24 Anderes gilt allerdings für Verfügungen eines Treuhänders. 25 18
Siehe zur vergleichbaren früheren Rechtslage Hess § 7 Rn 7. Kühler!Prutting Insolvenzrecht 261; Oepen/Rettmann KTS 1995, 610; Gerhardt ZZP 1996, 417, 419; Landfermann in KS-InsO 130; Haarmeyer/Wutzke/Förster Handbuch 230; Engel/Völckers Leasing 30; Zimmermann Insolvenzrecht 64; Gundlacb DZWIR 1999, 364, 365. 20 Vgl dazu die Begr zu § 92 des RegE InsO, BT-Drucks 12/2443 S 135: wonach durch die Neufassung ausweislich Materialien keine Änderung in der Sache beabsichtigt war; dazu auch Landfermann in KS-InsO 130 f; siehe auch Gundlacb DZWIR 1999, 364. 21 Zum nur noch historischen Theorienstreit vgl Gerhardt in FS Flume 527 insb Fn 2, 533 f; Jaeger/Henckel § 7 Rn 14 ff; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 3a; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 6; Oepen/Rettmann KTS 1995, 610 f; siehe auch v. Olshausen ZIP 1998, 1094; Gundlacb DZWIR 1999, 365. 22 Dazu auch Gerhardt in FS Flume 528 f; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 3a m w N ; Zimmermann Insolvenzrecht 64; RGZ 83, 189. Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 6b; Hess § 7 Rn 8; RGZ 71, 40. 24 Jaeger/Henckel § 7 Rn 10; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 5; Kuhn/Ublenbruck § 7 Rn 4, 16; Hess § 7 Rn 6; Kirchhof in HK-InsO § 24 Rn 7 mwN. 25 Jaeger/Henckel § 7 Rn 11 ; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm la; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 4. 19
Rechtshandlungen und Verfügungen des Schuldners über Massegegenstände
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Nimmt der Schuldner trotz des Verfügungsverbots des § 81 I InsO nach der Insolvenzeröffnung eine Verfügung über einen zur Masse gehörenden Gegenstand vor, so besteht dennoch die Möglichkeit einer Heilung der Unwirksamkeit über analoge Anwendung von § 185 II BGB. 2 6 Dies kann entweder durch eine ex tunc wirkende Genehmigung 27 des Verwalters innerhalb der ihm gemäß § 80 InsO zustehenden Rechtsmacht, durch Aufhebung oder Einstellung des Verfahrens sowie durch Freigabe des betreffenden Gegenstands aus der Insolvenzmasse durch den Verwalter geschehen, wobei in den letzten drei Fällen die Heilung bloß ex nunc wirkt (§ 185 II Alt 2 BGB) 2 8 . Ferner kommt es zu einer Heilung, wenn die Eröffnung im Beschwerdeweg aufgehoben wird, da diesfalls eine rückwirkende Beseitigung des Verfügungsverbots des Schuldners eintritt. 29 4. Wirkung auf Verpflichtungsgeschäfte Verpflichtungsgeschäfte des Schuldners werden von § 81 InsO nicht erfasst, da sie die Masse nicht belasten. 30 Sie sind wirksam, auch wenn sie sich auf Massebestandteile beziehen. 31 Allerdings begründen sie keinen in der Insolvenz durchsetzbaren Anspruch, weil weder eine Insolvenzforderung da nach Insolvenzeröffnung entstanden ( § 3 8 InsO) - , noch eine Masseschuld geschaffen wird (arg § 55 I Nr l). 3 2 Die Neugläubiger können nicht in die Masse vollstrecken (§ 91 I InsO). 3 3 Der Schuldner bleibt jedoch persönlich verpflichtet. 34 Da gemäß § 35 InsO nunmehr auch Neuerwerb zur Masse zählt, wird der Schuldner regelmäßig nicht in der Lage sein, die nach Insolvenzeröffnung begründete Schuld zu erfüllen; in diesem Fall gelten die allgemeinen Regeln (§§ 275, 323 ff BGB). 3 5
2 6 So auch Jaeger/Henckel% 7 Rn 26; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 8; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 4; Kuhn/Uhlenbruch^ 7 Rn 8; Hess § 7 Rn 9; Kühler/Prutting Insolvenzrecht 261 f; Jauernig § 40 IV 2; Landfermann in KS-InsO 131 ; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 8. 27 Gundlach DZWIR 1999, 365 mwN. 28 Jaeger/Henckel% 7 R n 29; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 8 mwN; Kuhn/Vhlenbruck% 7 Rn 7; Hess § 7 Rn 9; Zimmermann Insolvenzrecht 64; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 9. 29 Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 4; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 9. 30 Eickmann in Gottwald § 32 Rn 4. 31 Landfermann in KS-InsO 132; v. Olshausen ZIP 1998, 1093. 32 RegE InsO, BT-Drucks 12/2443 S 135; Kühler/Prutting Insolvenzrecht 261; Landfermann in KS-InsO 132; v. Olshausen ZIP 1998, 1093; Zimmermann Insolvenzrecht 63; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 3. 33 Zimmermann Insolvenzrecht 63. 34 Jaeger/Henckel § 7 Rn 16; Landfermann in KS-InsO 132. 35 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 3.
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5. Unwirksamkeit von Verfügungen über künftige Bezüge In diesem Zusammenhang ist auch auf § 81 II InsO hinzuweisen, wonach für eine Verfügung des Schuldners über künftige Forderungen auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis des Schuldners oder an deren Stelle tretende laufende Bezüge § 81 I InsO insoweit gilt, als die Bezüge für die Zeit nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens betroffen sind. 36 Verfügungen dieser Art vor Eröffnung der Insolvenz fallen unter § 114 InsO. 3 7 Diese Vorschrift soll gewährleisten, dass diese Bezüge auch nach Beendigung des Insolvenzverfahrens im Rahmen einer Restschuldbefreiung (§ 287 II InsO), für die Erfüllung eines Insolvenzplans oder für einen Schuldenbereinigungsplan (§§ 304 f InsO) zur Verfügung stehen. 38 Aus diesem Grund erlaubt § 81 II letzter Satz InsO auch die Abtretung der fraglichen Bezüge an einen Treuhänder, mit dem Ziel der gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger. Verfügt der Schuldner während des laufenden Verfahrens über die in dieser Zeit angefallenen Bezüge, so ist dies bereits nach § 81 I InsO unwirksam. 39
6. Zeitlicher Anwendungsbereich und Beweislast (§ 81 III InsO) § 81 InsO erfasst Verfügungen über Massegegenstände nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Maßgeblich ist die im Eröffnungsbeschluss angegebene Uhrzeit (siehe § 27 InsO). 40 Insoweit trägt der Insolvenzverwalter die Beweislast, dass die Schuldnerverfügung nach Insolvenzeröffnung erfolgt ist. 41 § 81 III InsO enthält allerdings eine widerlegbare Vermutung hinsichtlich der Uhrzeit-Abgrenzung für Verfügungen des Schuldners am Tag der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. 42 Diesfalls wird bei einer Schuldnerverfügung am Eröffnungstag vermutet, dass diese nach der Eröffnung erfolgt ist. Der Verwalter hat hier bloß zu beweisen, dass die Verfügung am Tag der Insolvenzeröffnung vorgenommen wurde. 43 Mehraktige Verfügungen gelten in dem Zeitpunkt als vorgenommen, in dem alle Tatbestandsmerkmale verwirklicht wurden, somit das letzte Wirksamkeitserfordernis eingetreten ist. 44 So muss die Verfügungsbefugnis des Schuldners bei einer Grundstücksveräußerung, abgesehen vom Fall des 36
Dazu Landfermann in KS-InsO 130. Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 13. 38 Kubier/Priitting Insolvenzrecht 262; Landfermann in KS-InsO 130; Eickmann in HKInsO § 81 Rn 14. 39 Kiibler/Priitting Insolvenzrecht 262. 40 Landfermann in KS-InsO 131; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 4. 41 Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 8; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 24; Hess § 7 Rn 14. 42 So auch Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 5; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 4. 43 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 4. 44 Jaeger/Henckel § 7 Rn 42; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 20; Landfermann in KS-InsO 131. 37
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§ 878 BGB, noch zur Zeit der Einigung nachfolgenden Eintragung bestehen. 45 Hat der Schuldner vor Insolvenzeröffnung die Einigung für die Ubergabe einer beweglichen Sache erklärt, diese aber erst nach Verfahrenseröffnung übergeben, so steht § 81 I InsO dem Eigentumsübergang entgegen. 46 Wurde dagegen vom Schuldner vor Verfahrenseröffnung eine Verfügung unter einer aufschiebenden Bedingung getroffen, so kommt es aufgrund der Sonderregelung des § 16112 BGB zu keiner Beeinträchtigung derselben; hat der Schuldner demnach vor der Insolvenzeröffnung die bewegliche Sache übergeben und ist die Einigung unter einer aufschiebenden Bedingung erfolgt, so ist ein Eigentumserwerb auch dann noch möglich, wenn der Bedingungseintritt nach Insolvenzeröffnung liegt4;! Ebenso nicht von § 81 I InsO erfasst ist jener Fall, in dem der Schuldner vor Insolvenzeröffnung ein Grundstück an einen Käufer aufgelassen und dieser ebenfalls vor Verfahrenseröffnung den Antrag auf Eintragung der Rechtsänderung beim Grundbuchamt gestellt hat, die Eintragung aber erst nach der Eröffnung erfolgt. 48 In diesem Fall ergibt sich die Wirksamkeit der Schuldnerverfügung aus § 878 BGB iVm § 91 II InsO. Diese Regelung behält ausdrücklich die Wirksamkeit eines Rechtserwerbs vor, der sich nach Insolvenzeröffnung aufgrund von § 878 BGB vollzieht. 49 7. Schicksal der Gegenleistung Nach § 81 I letzter Satz InsO ist dem anderen Teil die Gegenleistung aus der Insolvenzmasse zurückzugewähren, soweit jene dadurch bereichert ist. Besteht die Gegenleistung in der Aufgabe einer im Konkurs verfolgbaren Forderung, so ist diese als fortbestehend anzusehen. 50 Zu einer derartigen Bereicherung der Masse kann es nur dann kommen, wenn ihr die Gegenleistung direkt vom anderen Teil oder aber vom Schuldner selbst zugeführt wurde und der Insolvenzverwalter das Geschäft nicht im nachhinein genehmigt. 51 Der Rückgewähranspruch des anderen Teils stellt eine Masseforderung dar (§ 55 I Nr 3 InsO) 52 . Sein Inhalt und Umfang bestimmen sich nach §§ 818 f BGB. 53 « Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 20. 46 Landfermann in KS-InsO 131. 47 Landfermann in KS-InsO 131 ; vgl dazu auch Huber N Z I 1998, 100. 48 So auch Landfermann in KS-InsO 131. 49 Mit näherer Begründung Landfermann in KS-InsO 131. 50 Jaeger/Henckel § 7 Rn 47; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 3b; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 23; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 17 51 Vgl dazu auch Landfermann in KS-InsO 131; Zimmermann Insolvenzrecht 64; Gundlach DZWIR 1999, 365. 52 Landfermann in KS-InsO 131. 53 Jaeger/Henckel § 7 Rn 47; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 12; Kirchhof m HK-InsO § 24 Rn 15; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 16.
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Hat der Vertragspartner seine Gegenleistung nicht an die Masse, sondern an den Schuldner erbracht, so liegt kein Fall des § 81 I letzer Satz InsO vor, da es dadurch zu keiner Bereicherung der Masse kommt. Der Rückgewähranspruch, beziehungsweise - wenn die Sache nicht mehr erlangt werden kann - der Schadenersatzanspruch des anderen Teils, richtet sich nach §§ 812 ff, 459 ff BGB oder eventuell § 823 BGB.54 Hierbei handelt es sich weder um eine Masse-, noch um eine Insolvenzforderung (§ 38 InsO). Er kann demnach nicht angemeldet oder sonst wie im Verfahren geltend gemacht werden. 55
B. Die Ausnahmen der §§ 892, 893 BGB (§ 81 I 2 InsO) 1.
Allgemeines
§ 8112 InsO normiert einen eingeschränkten Schutz des gutgläubigen Erwerbs. Die Privilegierung bezieht sich zum einen auf den öffentlichen Glauben des Grundbuchs (§§ 892, 893 BGB), zum anderen auf den des Schiffsbeziehungsweise Schiffsbauregisters und des Luftfahrzeugregisters. 56 Dieser bewirkt im Fall der insolvenzmäßigen Verfügungsbeschränkung, dass diese Beschränkung dem anderen Teil gegenüber nur dann eintritt, wenn sie auf dem maßgebenden Grundbuchsblatt (Registerblatt) eingetragen ist oder dem Erwerber positiv bekannt ist. 57 Dagegen ist der gutgläubige Erwerb beweglicher massezugehöriger Sachen 58 vom Schuldner 59 nicht möglich. 60 Da § 8112 InsO den Schutz der „Unkenntnis des Insolvenzverfahrens" ausdrücklich auf den Liegenschaftsverkehr und diesem gleichgestellte Sachen beschränkt, ist eine sinngemäße Anwendung der §§ 932 ff BGB für bewegliche Sachen ausgeschlossen. 61 Ebensowenig wird der gute Glaube des Vertragspartners in die Verfügungsbefugnis des Schuldners bei der Veräußerung
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Jaeger/Henckel § 7 Rn 47. Eickmann in Gottwald § 32 Rn 12; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 16. 56 Kubn/Uhlenbruck § 7 Rn 11. 57 Jaeger!Henckel § 7 Rn 49. 58 Auf die Veräußerung (beweglicher) fremder (nicht massezugehöriger) Sachen durch den Schuldner nach Verfahrenseröffnung ist § 81 InsO nicht anwendbar; das ergibt sich bereits aus dem Schutzzweck dieser Norm (Jaeger/Henckel § 7 Rn 71 ; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 16; Hess § 7 Rn 11; ausführlich dazu Gundlacb DZWIR 1999, 365 f). 59 Dagegen ist ein gutgläubiger Erwerb eines massezugehörigen Gegenstands von einem Dritten (Entleiher, Mieter, Verwahrer etc) ohne weiters möglich (Jaeger/Henckel § 7 Rn 69 f ; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 5b; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 16; Hess § 7 Rn 11). 60 HL: Jaeger/Henckel § 7 Rn 65; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 5b; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 16; Hess § 7 Rn 10; Gerhardt ZZP 1996, 419; Zimmermann Insolvenzrecht 64; Gundlacb DZWIR 1999, 365; Kirchhof in HK-InsO § 24 Rn 13. 61 Hess § 7 Rn 10. 55
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von Wertpapieren oder bei der Begründung und Abtretung einer Forderung (außerhalb des Immobiliarrechts) geschützt. 62 Durch § 81 I 2 I n s O wird der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis des Schuldners geschützt. 6 3 Der Erwerb ist demnach trotz des Entzugs der Verfügungsbefugnis des Schuldners wirksam, wenn die Insolvenzeröffnung weder im Grundbuch - diesem k o m m t eine besondere Publizitätsfunktion zu, da die Insolvenzeröffnung auf amtswegiges Ersuchen durch das Insolvenzgericht vom Grundbuchamt einzutragen ist (§ 32 InsO, § 38 GBO) - beziehungsweise in den erwähnten Registern eingetragen, noch dem Erwerber positiv bekannt ist (vgl § 932 I 2 BGB). 64 Selbst grob fahrlässige Unkenntnis von der Verfahrenseröffnung hindert den gutgläubigen Erwerb nicht, wobei es unerheblich ist, ob im Zeitpunkt des gutgläubigen Erwerbs der Insolvenzeröffnungsbeschluss (schon) in den Mitteilungsblättern veröffentlicht wurde oder nicht. 65 Der maßgebliche Zeitpunkt für das Vorliegen des guten Glaubens (an die Verfügungsbefugnis des Schuldners) bestimmt sich nach § 892 II BGB. 66 Dementsprechend ist der Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend, wenn für den Rechtserwerb nur noch die Eintragung fehlt (siehe auch § 13 I 3 GBO). 6 7 K o m m t die nach § 873 BGB erforderliche Einigung erst später zustande, so ist die Zeit der Einigung maßgebend. 6 8 Der gute Glaube an die Konkursfreiheit wird dagegen nicht geschützt. 6 9 Wer ein Liegenschaftsrecht im Vertrauen darauf erwirbt, dass es dem Konkursbeschlag nicht unterliegt oder vom Konkursverwalter freigegeben worden ist, erwirbt in der Regel nicht gutgläubig. 70 2. Gutgläubiger Erwerb gemäß § 811 InsO iVm §§
892fBGB
Probleme bereitet vor allem die Einordnung mehraktiger Verfügungen. Aus dem Blickwinkel des Sachenrechts gelten sie erst dann als vorgenommen, wenn auch das letzte Wirksamkeitselement vorliegt. 71 So ist eine Grundstücksveräußerung grundsätzlich erst mit der Eintragung wirksam.
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Jaeger/Henckel § 7 Rn 65 ff; Hess § 7 Rn 10; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 12. Kilger/K. Schmidt § 7 Anm 5a; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 12; Hess § 7 Rn 10; Oepen/ Rettmann KTS 1995, 611; in diesem Sinn auch Kirchhof en HK-InsO § 24 Rn 14. 64 Hess § 7 Rn 12; Oepen/Rettmann KTS 1995, 610, 611 ; Zimmermann Insolvenzrecht 65: guter Glaube an die Richtigkeit des Grundbuchs. " Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 12; Hess § 7 Rn 12. « Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 12; Hess § 7 Rn 12. 67 Jaeger/Henckel § 7 Rn 53; Hess § 7 Rn 12. 68 Jaeger/Henckel § 7 Rn 53; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 12. 69 Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 12; differenzierend Jaeger/Henckel% 7 Rn 51. 70 Näher dazu auch Jaeger/Henckel § 7 Rn 51 ; Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 12. 71 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 5. 63
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Zur Geltungszeit der d K O bedeutete dies folgendes: Lag bereits die Einigung nach der Konkurseröffnung, so war § 7 d K O anzuwenden und ein Erwerbsschutz nur über § 892 BGB möglich, 72 lag die Einigung vor und die Eintragung nach Eröffnung, so handelte es sich um einen Fall des § 15 d K O , auf welchen neben § 892 BGB auch § 878 BGB anwendbar war. Eickmann weist nun darauf hin, dass sich die Änderung des Begriffs „Rechtshandlung" (§ 7 d K O ) in „Verfügung" (§ 81 I InsO) insofern auswirken müsse, als nunmehr auch ein Vorgang, bei dem lediglich die Eintragung noch nach Eröffnung geschah, in § 81 InsO einzuordnen sei. 73 § 878 BGB sei dann unmittelbar anwendbar, so dass es einer Verweisung auf ihn gar nicht bedarf. 74 Nach seiner Ansicht fand die bisherige Erklärung des Systemzusammenhangs zwischen §§ 7 und 15 d K O ihre Notwendigkeit und Rechtfertigung gerade in dem durch die InsO aufgegebenen Rechtshandlungsbegriffs. Dieser beschränkte nämlich die Auswirkung der Verfügungsbeeinträchtigung innerhalb des Verfügungstatbestands auf das Willenselement; das Publizitätselement, wurde, wenn es nicht wie in § 929 BGB gleichfalls schuldnerische Rechtshandlung war, dem § 15 d K O zugeordnet. 75 Diese Sicht der Vorgänge sei nach dem Begriffswechsel nicht mehr zutreffend, so dass auch der vor Eröffnung eingeleitete Verfügungstatbestand, der in die Zeit nach Eröffnung „hinreicht" eine Verfügung iSd § 81 InsO darstelle. 76 Nach dieser Auffassung beschränkt sich die Anwendung des § 91 InsO auf jene Fälle, in denen zusätzlich zu dem wirksam abgeschlossenen Verfügungstatbestand weitere Erwerbs- und Berechtigungselemente eintreten, die nicht ihrerseits den Charakter einer Schuldnerverfügung tragen. 77 Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber mit der Änderung des Begriffs der „Rechtshandlung" in den der „Verfügung" lediglich eine straffere, klarere Formulierung erreichen, aber keine Änderung in der Sache vornehmen wollte und zum anderen der Verfügungsbegriff ein engerer ist, als jener der Rechtshandlung, somit von § 81 I InsO höchstens weniger, keineswegs aber mehr Fälle erfasst sein können. 78 Ebensowenig ist anzunehmen, dass nunmehr das Willenselement weniger entscheidend ist, als noch zur Geltungszeit der d K O , zumal nach einem Teil der Lehre und der neueren Rechtsprechung auch bloße Realakte unter § 7 d K O subsumiert wurden. 79 D a Verfügungen eine Untergruppe der Rechtshandlungen darEickmann in HK-InsO § 81 Rn 5. Vgl auch Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 15. 74 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 5. 75 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 5. 76 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 5. 77 Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 6. 78 Beachte dazu auch die Überlegungen von v. Olshausen ZIP 1998, 1093. 79 Eickmann in Gottwald § 32 Rn 2; Kilger/K. Schmidt § 7 Anm l a ; Hess § 7 Rn 2; ders Insolvenzrecht-AK 10; ders Insolvenzrecht-GK 55; BGH NJW 1967, 1800. 72 73
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stellen, bringt die I n s O dafür keine wesentlichen Unterschiede im Vergleich z u m früheren Recht. Z u Änderungen k o m m t es bloß für jene schuldnerischen Handlungen, die zwar unter den weiten Begriff der Rechtshandlung, nicht jedoch unter den engeren der Verfügung fallen. Sie können allenfalls gemäß § 91 I n s O unwirksam sein. Die Eintragung selbst ist nicht als Schuldnerverfügung iSd § 81 I I n s O zu begreifen, sondern bloß eine formelle Voraussetzung für den Eigentums- oder sonstigen Rechtserwerb. Die Stellung des Eintragungsantrags fällt nach herrschender Ansicht auch dann nicht unter § 811 InsO, wenn sie vom Schuldner vorgenommen wurde; vielmehr k o m m t § 91 I n s O zur Anwendung. Entgegen den Ausführungen von Eickmann k o m m t es durch die I n s O zu keiner Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 81 I n s O (§ 7 d K O ) zu Lasten des § 91 I n s O (§ 15 dKO). Liegen Einigung und Eintragungsantrag nach Insolvenzeröffnung und nimmt das Grundbuchsamt die begehrte Eintragung vor Eintragung des Insolvenzvermerks und in Unkenntnis der Verfahrenseröffnung vor, so wird der Erwerber, sofern er in Bezug auf die Verfügungsbefugnis des Schuldners gutgläubig ist, nach § 892 BGB iVm § 81 12 I n s O Inhaber des eingetragenen Rechts. 80 Gleiches gilt, wenn der Schuldner vor Insolvenzeröffnung einseitig die Begründung, Übertragung oder Belastung eines Rechts bewilligt und beantragt hat und die Einigung erst nach Verfahrenseröffnung zustande kommt. 8 1 Insbesondere von der älteren Lehre und Rechtsprechung wurde die A n sicht vertreten, dass das Grundbuchamt in den Fällen des § 892 BGB die Eintragung nicht bloß dann verweigern müsse, wenn der Insolvenzvermerk bereits eingetragen ist, sondern auch dann, wenn es von Insolvenzeröffnung (ohne dass diese bereits im Grundbuch eingetragen ist) Kenntnis hat. 82 D e m wird von der neueren Lehre nur noch hinsichtlich der ersten, nicht jedoch auch hinsichtlich der zweiten Variante zugestimmt. Vielmehr wurde in letzter Zeit die Auffassung, dass das Grundbuchamt niemandem wissentlich zu einem gutgläubigen Erwerb verhelfen dürfe, als überholt angesehen und vertreten, dass in einem solchen Fall eine Verpflichtung zur Eintragung bestehe, weil die Interessenkollison zwischen den Insolvenzgläubigern und einem redlichen Erwerber durch §§ 81, 91 I n s O zugunsten des Erwerbers ent-
80 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 19; vgl auch RGZ 81, 424. «ι Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 19. 82 Jaeger/Henckel § 7 Rn 19 rawN sowie Gerhardt in FS Flume 529 mwN: mit der Begründung, dass es durch das absolute Verfügungsverbot des § 7 dKO zu einer Grundbuchsperre komme; so noch Kuhn/Uhlenbruck 9. Aufl.§ 7 Rn 9; so auch Jaeger/Henckel § 7 Rn 19, § 15 Rn 113 und Hess § 15 Rn 24: beide unter Hinweis auf § 7 dKO, wenn der Schuldner den Eintragungsantrag nach Verfahrenseröffnung stellt; Zimmermann Insolvenzrecht 65, 70; RGZ 71, 38; ausdrücklich von der Auffassung in der 11. Aufl. abgehend Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 9, vgl allerdings § 15 Rn 19; ausführlich dazu mit Darstellung der unterschiedlichen Begründungen: Oepen!Rettmann KTS 1995, 611 ff.
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schieden ist und das Verfahrensrecht nicht dazu dienen könne, materiellrechtliche Wertentscheidungen in ihr Gegenteil zu verkehren. 83 Das Grundbuchamt hat demnach alle Anträge, die vor dem Ersuchen (Antrag) auf Eintragung des Insolvenzvermerks eingegangen sind, zu vollziehen, da der Reihenfolgengrundsatz des § 17 GBO auch insoweit gilt.84 O b dabei der Eintragungsantrag vom Veräußerer (Schuldner) oder aber vom Erwerber gestellt wurde, ist nach der neueren - mittlerweile herrschenden - Lehre belanglos ; auch ein Schuldnerantrag nach Verfahrenseröffnung ist als wirksam einzustufen, wenn die Eintragung zu einem wirksamen Erwerb gemäß § 892 BGB führt. 8 5 Sobald der Insolvenzvermerk eingetragen wurde, sind die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Eintragungsanträge zurückzuweisen, weil ein Rechtserwerb (gemäß § 81 InsO iVm §§ 892 f BGB oder § 91 II InsO iVm §§ 892 f BGB) ausgeschlossen ist - das Grundbuch mithin durch die Eintragung unrichtig würde. 86 Wer an den Schuldner aufgrund eines für diesen eingetragenen Rechts eine Leistung bewirkt (etwa Zinsen zahlt oder eine Grundschuld tilgt) beziehungsweise wer beim Abschluss von Rechtsgeschäften mit dem Schuldner, die zwar nicht auf den Erwerb eines Buchrechts gerichtet sind (§ 892 BGB), aber irgend eine andere „Verfügung" über ein solches zum Inhalt haben, aktiv oder passiv beteiligt ist, braucht gleichfalls den ihm unbekannten und unverbuchten Insolvenzbeschlag nicht gegen sich gelten zu lassen. 87 Verfügungen des Schuldners, die gemäß §§ 892, 893 BGB von der Vorschrift des § 81 InsO nicht erfasst werden, können allerdings gemäß § 147 InsO (früher §§ 29 ff dKO) anfechtbar sein. 88
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Wacke in MünchKomm § 892 Rn 70; Eickmann in Gottwald § 31 Rn 62 m w N ; vgl auch Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 9 und § 113 Rn 4 m w N : Zweck des § 15 S 2 d K O / § 91 II InsO iVm §§ 878, 892 f BGB ist der Schutz des gutgläubigen Erwerbers, nicht der Konkursgläubiger; Staudinger/G«rs^ § 892 Rn 176. 84 Eickmann in Gottwald § 31 Rn 62 m w N ; Kuhn/Uhlenbruck § 113 Rn 4 m w N . 85 Str; ausführlich zum Meinungsstreit Oepen/Rettmann KTS 1995, 622 f; dafür die hL: Wacke in MünchKomm § 892 Rn 55; Staudinger/G«rs£y § 892 Rn 164; Oepen/Rettmann KTS 1995, 623; Vdmàt/Bassenge % 892 Rn 24; aA noch Jaeger/Weber§ 113 Anm 9; RGZ 71, 38. 86 Eickmann in Gottwald § 31 Rn 62. 87 Jaeger/Henckel § 7 Rn 54. 88 Näher dazu Kuhn/Uhlenbruck § 7 Rn 15; Eickmann in HK-InsO § 81 Rn 11.
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II. Ausschluss sonstigen R e c h t s e r w e r b s A . Die Regel des § 91 I I n s O 1. Abgrenzung
zu § 81 InsO
Gemäß § 91 I InsO ist ein Rechtserwerb an Gegenständen der Insolvenzmasse auch dann unwirksam, wenn dem keine - bereits nach § 81 InsO unwirksame - Verfügung des Schuldners und keine - schon vom Vollstreckungsverbot des § 89 InsO erfasste - Zwangsvollstreckung der Insolvenzgläubiger zugrundeliegt. § 91 I InsO ist ebenso wie seine Vorgängerbestimmung (§ 15 d K O ) sehr weit formuliert und bedarf somit einer zweckorientierten Auslegung. 89 Sinn dieser Vorschrift ist nach herrschender Lehre und Rechtsprechung die Sicherung der Aktivmasse zugunsten der Insolvenzgläubiger. 90 Von der Unwirksamkeitsanordnung des § 91 InsO ist grundsätzlich jeder Rechtserwerb an Massegegenständen erfasst, selbst wenn alle dafür erforderlichen Verfügungen des Schuldners bereits vor Insolvenzeröffnung gesetzt wurden, jedoch nach Eröffnung irgendein anderes für die Vollendung des Rechtserwerbs noch erforderliches Element, das keine Verfügung des Schuldners darstellt, eintritt. 91 Dienen die nach Verfahrenseröffnung gesetzten Maßnahmen dagegen ausschließlich zur Erhaltung bereits wirksam entstandener Rechte, so steht ihnen § 91 InsO nicht entgegen. 92 § 91 InsO betrifft nur den Erwerb von Rechten an Massegegenständen, nicht hingegen auch den des insolvenzfreien Vermögen des Schuldners (§ 36 InsO iVm § 811 ZPO). 9 3 Ebenso nicht von § 91 InsO erfasst ist der Rechtserwerb, der auf einer Verfügung des Insolvenzverwalters beruht. 94 Auch die Vollstreckung durch Massegläubiger wird nicht von § 91 InsO, sondern von § 90 I InsO erfasst. Ferner bleiben Verfügungen Dritter über die ihnen zustehenden Rechte an (beweglichen sowie unbeweglichen 95 ) Massegegenständen 96 sowie ein Rechtserwerb, wenn der gesamte Erwerbstatbestand bereits vor Insolvenzeröffnung liegt, unbe-
89 Schumacher O'iss. Έλη\·, Jaeger/Henckel % 15 Rn 5-, Kilger/K. Schmidt§ 15 Anm 1 \Kuhnl Uhlenbrock § 15 Rn 1. 90 Schumacher Diss. Einl; Jaeger/Henckel § 15 Rn 5; Kilger/K. Schmidt % 15 Anm 1; Kuhn! Uhlenhruck § 15 Rn 1 ; Hess § 15 Rn 1 ; BGH WM 1974, 1218 = NJW 1975, 122 = M DR 1975, 122 = KTS 1975, 117 91 Eickmann in Gottwald § 32 Rn 1 und 13; Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 1 ; Hess § 15 Rn 2. 92 Jaeger/Henckel § 15 Rn 51 ff; Kuhn/Uhlenbmck § 15 Rn 15; Hess § 15 Rn 2; RGZ 82, 22. 93 Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 2b; Hess% 15 Rn 2; Engel/Völckers Leasing 32 mwN; Zimmermann Insolvenzrecht 68. 94 Jaeger/Henckel § 15 Rn 50; Zimmermann Insolvenzrecht 68; Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 2. 95 Jaeger/Henckel § 15 Rn 85; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 27 '»' Jaeger!Henckel % 15 Rn 86; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 27; RGZ 87, 419, 423.
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rührt. 9 7 Des weiteren steht § 91 I InsO einem aufschiebend bedingten Rechtserwerb vor Eröffnung nicht entgegen, selbst wenn der Bedingungseintritt erst nach Verfahrenseröffnung liegt, 98 es sei denn, der Bedingungseintritt ist ausschließlich vom Willen des Schuldners abhängig; hier ist § 81 InsO zu beachten. 9 9 Gesagtes gilt ebenfalls wenn das Anwartschaftsrecht vom Schuldner vor Verfahrenseröffnung auf einen Dritten übertragen wurde; auch in diesem Fall kann es trotz der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch zum Vollrecht erstarken. 100 2. Erwerb von Rechten an Gegenständen der Masse § 91 I InsO betrifft nur den Erwerb von Rechten an Massegegenständen, nicht hingegen den Erwerb einer Forderung gegen die Insolvenzmasse, da dadurch kein Recht an zur Masse gehörigen Gegenständen geschaffen wird. 101 Unter Rechtserwerb iSd § 9 1 1 InsO wird nur die Begründung, nicht jedoch auch die Übertragung eines Rechts verstanden. 102 Zu den Rechten iSd § 91 I InsO zählen neben dem Eigentum und der Inhaberschaft einer Forderung auch alle beschränkt dinglichen Rechte, wie etwa Pfandrechte, Nießbrauch, Reallasten, Grundpfandrechte und der gleichen. 103 3.
Erwerbszeitpunkt
§ 91 I InsO erfasst - von den bereits erwähnten Ausnahmen abgesehen grundsätzlich jeden Rechtserwerb an Massegegenständen nach Insolvenzeröffnung, unabhängig davon, auf welchem Rechtsvorgang er beruht. Da es um einen Erwerb an zur Insolvenzmasse gehörigen Gegenständen geht, ist die Frage des Erwerbs nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen, wie jene nach der Massezugehörigkeit des betreffenden Gegenstands. 104 Aus diesem Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 4; Oepen/'Rettmann KTS 1995, 613; siehe auch Zimmermann Insolvenzrecht 68; Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 2. 98 Näher dazu Jaeger/Henckel § 15 Rn 60 bis 65; Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 4c; Huber NZI 1998, 100 mwN; RG H RR 1937, 550; BGH NJW 1955, 544. 9 9 Ausführlich Jaeger/Henckel § 15 Rn 60 ff; Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 4c. 100 Jaeger/Henckel § 15 Rn 62; Eickmann in Gottwald § 32 Rn 16; Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 11; Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 4c; Zimmermann Insolvenzrecht 69; BGHZ 20, 88 = NJW 1956, 665; BGHZ 27, 360, 367 = NJW 1958, 1286. 101 Jaeger/Henckel § 15 Rn 7; in diesem Sinn auch Kilger/K. Schmidt % 15 Anm 2a; Kuhn/ Uhlenbruck § 15 Rn 2; Hess § 15 Rn 5. Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 2 mwN. i°3 RegE InsO, BT-Drucks 12/2443 S 138; Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 2a; Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 5; Hess § 15 Rn 5; Landfermann in KS-InsO 141; Pape in KS-InsO 413: nach Insolvenzeröffnung können Dritte keine Rechte an einer der Masse zustehenden Forderung erwerben; Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 5; BGH KTS 1965,168,169 mit Hinweis auf BGH 1927, 360, 366. 104 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 8. 97
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Grund muss der gesamte Erwerbstatbestand, bei mehraktigen Verfügungen somit auch der letzte Teil, vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollendet sein, um nicht unter § 9 1 1 InsO zu fallen. 105 Was zum endgültigen Erwerb eines bestimmten Rechts alles vorliegen muss, richtet sich nach allgemeinem Privatrecht beziehungsweise nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften. 106 4.
Unwirksamkeit
Rechtsfolge eines unter § 91 I InsO fallenden Rechtserwerbs ist dessen Unwirksamkeit. Ebenso wie im Fall des § 81 InsO handelt es hierbei um eine absolute. 107 Eine Heilung ist auch hier durch nachträgliche Genehmigung des Insolvenzverwalters möglich. 108 Die Ausführungen zu § 81 InsO gelten sinngemäß.
B. Ausnahmen (§ 91 II InsO iVm §§ 878, 892, 893 BGB) 1. Allgemeines § 91 II InsO sieht als Ausnahme von § 91 I InsO bei bestimmten Buchrechten einen Schutz des redlichen Erwerbers vor. Danach bleiben §§ 878, 892 f BGB, § 3 III, §§ 16, 17 des Gesetzes über Rechte an eingetragenen Schiffen und Schiffsbauwerken, § 5 III, §§ 16, 17 des Gesetzes über Rechte an Luftfahrzeugen und § 20 der Seerechtlichen Verteilungsordnung unberührt. Diese Vorschrift entspricht jener des früheren § 15 II d K O . Damit wird der in § 81 I 2 InsO nur bei Verfügungen des Schuldners vor allem im Liegenschaftsrecht vorgesehene Gutglaubensschutz (§§ 892 f BGB) konsequent auf einen sonstigen Rechtserwerb übertragen. 109 Größere Bedeutung für den Schutz des Erwerbers von Rechten an Grundstücken des Schuldners hat aber die Bestimmung des 878 B G B . Ist eine für den Schuldner gemäß § 873 II B G B bindende Einigung erfolgt und der Antrag auf Eintragung beim Grundbuchamt gestellt, ist der Erwerb des Rechts an einem Grundstück trotz der Insolvenzverfahrenseröffnung möglich. 110 Im Zusammenspiel mit
105 Kilger/K. Schmidt § 15 Anm 4b-d; Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 8; Hess § 15 Rn 8; Zimmermann Insolvenzrecht 68; BGH NJW 1975, 122. 106 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 8; RGZ 37, 411; RGJW 1912, 402. 107 So bereits zur Vorgängerbestimmung: Schumacher Diss. 15 ff; Jaeger/Henckel § 15 Rn 105; Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 4; Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 6. 108 Jaeger/Henckel § 15 Rn 105; Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 4 mwN; Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 6. 109 Gerhardt in KS-InsO 181 mwN. 110 Oepen/Rettmann KTS 1995, 614 ff; Gerhardt m KS-InsO 182; Zimmermann Insolvenzrecht 69 f.
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§§ 892 f BGB führt § 878 BGB zu einer Vorverlegung des für die Gutgläubigkeit entscheidenden Zeitpunkts auf den Zeitpunkt der nach § 873 II BGB bindenden Eintragungserklärung. Eine ab diesem Zeitpunkt eintretende Bösgläubigkeit des Erwerbers beziehungsweise die Grundbuchsperre schadet dann dem Rechtserwerb nicht mehr.111 Wie auch im Fall des § 81 InsO wird auch durch § 91 II InsO der gutgläubige Erwerb beweglicher Sachen unmittelbar vom Schuldner nicht geschützt. 112 2. § 878 BGB iVm § 91 II InsO
Der von den Ausnahmen des § 91 II InsO praktische bedeutendste Fall ist der Rechtserwerb nach § 878 BGB. Eine vom Berechtigten (späterer Schuldner) iSd §§ 873, 875, 877 BGB abgegebene Erklärung wird nicht dadurch unwirksam, dass über das Vermögen des Berechtigten die Insolvenz eröffnet wird, nachdem die Erklärung für ihn bindend geworden und der Antrag auf Eintragung beim Grundbuchamt gestellt worden ist.113 Eine Bindung der Beteiligten an die vollzogene Einigung tritt dann ein, wenn die Erklärungen gerichtlich oder notariell beurkundet oder vor dem Grundbuchamt abgegeben oder bei diesem eingereicht sind oder wenn der Schuldner dem anderen Teil eine den Vorschriften der Grundbuchordnung (§§ 19, 29, 30 GBO) entsprechende Eintragungsbewilligung ausgefolgt hat (§ 873 II BGB).114 § 878 BGB soll verhindern, dass der zwischen Einigung und Eintragung eintretende Verlust der Verfügungsbefugnis dem Rechtserwerb entgegensteht. 115 Da in diesem Fall alle wesentlichen Erwerbsvoraussetzungen bereits vor Insolvenzeröffnung vorlagen, soll § 878 BGB gewährleisten, dass allfällige Verzögerungen, etwa aufgrund einer Arbeitsüberlastung des Grundbuchamts, nicht zu Lasten des Erwerbers gehen. 116 Liegen Einigung und Eintragungsantrag somit bereits vor der Insolvenzeröffnung vor, so hat das Grundbuchamt die beantragte Eintragung selbst dann vorzunehmen, wenn ihm die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits bekannt oder der Insolvenzvermerk schon eingetragen war.117 O b der Eintragungsantrag vom Ver111 Gerhardt in KS-InsO 182 m w N ; Engel/Völckers Leasing 32; Zimmermann Insolvenzrecht 69 f. 112 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 17; Hess § 15 Rn 20. 113 Ausführlich dazu Oepen/Rettmann KTS 1995, 614 ff sowie Scholtz ZIP 1999, 1693 ff. 114 Klihn/Uhlenbruck § 15 Rn 18; Zimmermann Insolvenzrecht 69. 115 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 18; vgl auch RGZ 51, 286; 81, 425. 116 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 18 m w N und Rn 22; Oepen/Rettmann KTS 1995, 609, 611, 618 m w N ; Zimmermann Insolvenzrecht 69;. 117 Wacke in MünchKomm § 878 Rn 22; Jaeger/Henckel § 15 Rn 110; Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 18 m w N und Rn 21 ; ausführlich dazu Oepen/Rettmann KTS 1995, 625 m w N : die darauf hinweisen, dass auch ein Veräußererantrag als wirksam zu behandeln ist; wird der Erwerb gemäß § 91 II iVm § 878 BGB wirksam, so besteht keine Grundbuchsperre, das Grundbuchamt hat die Eintragung vorzunehmen; Gerhardt in KS-InsO 182: eine Grund-
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äußerer (Schuldner) oder Erwerber gestellt wurde, ist für die Anwendbarkeit des § 878 BGB belanglos; der Antrag ist in jedem Fall als gültig zu betrachten. 118 Da es sich bei § 878 BGB, wie bereits erwähnt, u m keine Gutglaubensvorschrift handelt, steht auch eine allfällige „Bösgläubigkeit" des Käufers dem Erwerb nicht entgegen. 119 Dieser Rechtserwerb ist jedoch anfechtbar. 120 3. §§ 892, 893 BGB iVm § 91 II Ins0 Ferner ermöglichen auch §§ 892, 893 BGB iVm § 91 II I n s O dem anderen Teil bei Gutgläubigkeit den Erwerb von Massegegenständen trotz Insolvenzeröffnung. Liegt die Einigung vor und der Eintragungsantrag - diesem k o m m t nur im Hinblick auf § 878 BGB materiellrechtliche Bedeutung zu, ist sonst aber bloß formellrechtliche Eintragungsvoraussetzung - nach der Insolvenzeröffnung, so ist ein Erwerb gemäß § 892 BGB iVm § 91 II I n s O möglich. Gleiches gilt, wenn die Einigung und der Eintragungsantrag zwar vor der Verfahrenseröffnung liegen, bis zur Insolvenzeröffnung aber noch keine Bindung eingetreten ist, etwa weil die Einigung formlos vollzogen und der Eintragungsantrag vom späteren Schuldner unmittelbar beim Grundbuchsamt eingereicht wurde. 121 In diesen Fällen k o m m t es trotz Insolvenzeröffnung z u m Erwerb, wenn im Grundbuch (noch) kein Insolvenzvermerk eingetragen und der andere Teil gutgläubig ist. 122 Für die Kenntnis des Erwerbers ist gemäß § 892 II BGB die Zeit der Stellung des Eintragungsantrags beziehungsweise bei nachfolgender Einigung der Zeitpunkt ihres Zustandek o m m e n s maßgebend. 1 2 3 Dagegen ist nach § 892 I 2 BGB bei der objektiven Voraussetzung eines gutgläubigen Erwerbs (fehlender Insolvenzvermerk im Grundbuch) nach herrschender Ansicht auf den Zeitpunkt der Vollendung
buchssperre schadet nicht; Zimmermann Insolvenzrecht 69: der Grundsatz, dass das Grundbuchsamt eine Eintragung abzulehnen hat, wenn dem Bewilligenden zur Zeit der Eintragung die Verfügungsmacht (§ 80 InsO) fehlt, wird durch § 878 BGB - nicht jedoch durch § 892 II BGB - eingeschränkt. 118 Eingehend Oepen/Rettmann KTS 1995, 614, 625. 119 Gerhardt in KS-InsO 182. 120 Jaeger/Lent § 29 Anm 17, 18a, 18b; Jaeger/Henckel § 15 Rn 107; differenzierend Kuhn/ Uhlenhruck § 15 Rn 18 und 22: die von der unzutreffenden Ansicht ausgehen, dass der Grundstückserwerber mit der bindenden Einigung (§ 873 II BGB) und der Stellung des Eintragungsantrags ein konkursfestes Anwartschaftsrechts erwirbt (§ 42 Rn 1); Hess § 15 Rn 22 m w N ; Oepen/Rettmann KTS 1995, 625 ff, 631; näher dazu Scholtz ZIP 1999, 1696 f; vgl dazu auch Eickmann in HK-InsO § 91 Rn 11 m w N . 121 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 19; Oepen/Rettmann KTS 1995, 621; limmermann Insolvenzrecht 70. 122 Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 19; Zimmermann Insolvenzrecht 70; RGZ 51, 286; 81, 425. 123 Kuhn/Uhlenbruck % 15 Rn 19; Oepen/Rettmann KTS 1995, 611 ; RGZ 116, 353; BGHZ 28, 187
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des Rechtserwerbs,124 hier die Eigentumsumschreibung, abzustellen.125 Anders als beim Vorliegen des § 878 BGB darf das Grundbuchamt in den Fällen des § 892 BGB die Eintragung nach der älteren Lehre nicht vornehmen, wenn ihm die Insolvenzeröffnung bekannt oder der Insolvenzvermerk bereits eingetragen ist.126 Dem ist aber mit der herrschenden Lehre entgegenzuhalten, dass das Grundbuchamt in einem solchen Fall zur Eintragung verpflichtet sei, weil die Interessenkollison zwischen den Insolvenzgläubigern und einem redlichen Erwerber durch §§ 81, 91 InsO zugunsten des Erwerbers entschieden ist und das Verfahrensrecht nicht dazu dienen könne, materiellrechtliche Wertentscheidungen in ihr Gegenteil zu verkehren.127 Das Grundbuchamt hat demnach alle Anträge, die vor dem Ersuchen (Antrag) auf Eintragung des Insolvenzvermerks eingegangen sind, zu vollziehen, da der Reihenfolgengrundsatz des § 17 GBO auch insoweit gilt.128 Für eine Anwendung des § 893 BGB iVm § 91 II InsO bleibt nur wenig Raum; er ist von bloß untergeordneter Bedeutung.129 Eine Anfechtung eines gemäß § 91 II InsO iVm §§ 892 f BGB wirksamen Rechtserwerbs ist möglich.130
Lückenloser Masseschutz durch die InsO? Wie bereits angesprochen, wurde die Unwirksamkeitsfolge des § 81 InsO (§ 7 dKO) auf Verfügungen des Schuldners über Massegegenstände eingeschränkt. Zwar beabsichtigten die Redakteure der InsO damit - ausweislich der Materialien - keine Änderung in der Sache, dennoch weist von Olshausen zu Recht darauf hin, dass in manchen Fällen der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, der umfassende Masseschutz, nur durch eine weite Auslegung des Begriffs der Verfügung oder der Schaffung einer eigenen, ebenfalls von § 811 InsO erfassten Kategorie des verfügungsähnlichen Geschäfts131 er124 Umkehrschluss aus § 892 II BGB: der hinsichtlich des subjektiven Tatbestands eine Vorverlagerung der Gutgläubigkeit auf den Zeitpunkt der letzten von den Parteien vorzunehmenden Verfügung anordnet (hier: Eintragungsantrag). 125 Ebenso Oepen/Rettmann KTS 1995, 612 m w N . 1 2 6 So auch Jaeger/Henckel § 15 R n 113 und Hess § 15 Rn 2 4 : beide unter Hinweis auf § 7 dKO, wenn der Schuldner den Eintragungsantrag nach Verfahrenseröffnung stellt; Kuhn/ Uhlenbruch^ 15 R n 19; ausführlich dazu mit Darstellung der unterschiedlichen Begründungen: Oepen/Rettmann KTS 1995, 611 ff; Zimmermann Insolvenzrecht 7 0 ; RGZ 71, 38. 127 Wacke in M ü n c h K o m m § 892 R n 7 0 ; Eickmann in Gottwald § 31 R n 62 m w N ; vgl auch Kuhn/Uhlenhruck § 7 R n 9 und § 113 Rn 4 m w N ; Staudinger/Garc/ty § 892 R n 176. 128 Eickmann in Gottwald § 31 R n 62 m w N . 129 Vgl dazu auch Kuhn/Uhlenbruck § 15 Rn 20. 130 Jaeger/Henckel § 15 R n 12: arg § 4 2 d K O ; vgl dazu auch Oepen/Rettmann KTS 1995, 6 2 5 ff; Eickmann in H K - I n s O § 91 R n 11: arg § 147 I InsO. 131 Siehe dazu Jaeger/Henckel § 3 Rn 37
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reicht werden könne. 132 Als Beispiel für die genannte Problematik nennt von Olshausen den Fall, dass sich der spätere Schuldner vor Insolvenzeröffnung vertraglich zu einer Unterlassung von Wettbewerb gegenüber einem Mieter von Gewerberäumen verpflichtet und für den Fall der Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe verspricht (§ 339 BGB) und er nach Verfahrenseröffnung tatsächlich gegen die Vereinbarung verstößt. 133 U m die Masse in dieser Konstellation nicht mit einer Insolvenzforderung zu belasten (§ 38 InsO), müsse man - entgegen der sonstigen Praxis134 - diese Forderung als eine erst nach Verfahrenseröffnung entstandene deuten, beziehungsweise den Verstoß des Schuldners gegen die Unterlassungsverpflichtung als zumindest verfügungsähnliches Geschält ansehen. 135 Eine Anwendung des § 91 InsO scheidet hier aus, da diese Regelung nicht dazu dient, den Erwerb einer Forderung (auf Zahlung einer „Geldstrafe") gegen die Insolvenzmasse zu verhindern, sondern einen Erwerb an zur Insolvenzmasse gehörenden Gegenständen oder der Inhaberschaft einer Forderung zu unterbinden. 136 Da eine Forderung auf Zahlung aus der Masse nun unzweifelhaft nicht als Recht an einem zur Insolvenzmasse gehörigen Gegenstand anzusehen ist, scheidet eine direkte Anwendung des § 91 InsO im gegebenen Fall aus. 137 Aber auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift erscheint - trotz der zumindest in diese Richtung deutbaren (ungenauen) Aussagen der Begründung zur Regierungsvorlage138 - dogmatisch äußerst fragwürdig. Will man demnach diese „Lücke" im Masseschutz durch die InsO vermeiden, wird man wohl um eine sehr weite Auslegung des Begriffs der Verfügung unter Einbeziehung von verfügungsähnlichen Geschäften nicht umhinkommen.
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Ausführlich dazu v. Olshausen ZIP 1998, 1093 ff, 1096 raN. v. Olshausen ZIP 1998, 1094f. 134 Zur üblichen Deutung des Begriffs „begründet": RGZ 59, 53, 55 f; Jaeger/Henckel § 3 Rn 37 f; Kilger/K. Schmidt § 3 Anm 4; Kuhn/ Uhlenbruch § 3 Rn U;v. Olshausen ZIP 1998, 1095: Danach gilt eine Forderung als begründet, wenn zumindest der Rechtsgrund für die Entstehung vor Insolvenzeröffnung gelegt, somit das Schuldverhältnis begründet war, auch wenn die Forderung erst später nach Hinzutreten weiterer Tatbestandsmerkmale erwächst. 135 v. Olshausen ZIP 1998, 1095. 136 Vgl nur Hess § 15 Rn 5; v. Olshausen ZIP 1998, 1095. 137 So auch v. Olshausen ZIP 1998, 1095: unter Hinweis, dass eine andere Auslegung von „zur Insolvenzmasse gehörende Sachen" auch dem allgemeinen Verständnis des BGB zuwiderliefe (arg §§ 95 I 2, 873 I, 875 I 1, 883 I 1, 925 I 1, 929 1, 1258 I, 1273 II 1, 1274 I 1 BGB). 138 RegE InsO, BT-Drucks 12/2443 S 135 f: Sonstige Rechtshandlungen des Schuldners haben nach der ergänzenden Vorschrift des § 102 des Entwurfs (= § 91 InsO), die dem bisherigen § 15 dKO entspricht, keine Wirkungen für die Insolvenzmasse." 133
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IV. Der Begriff der Rechtshandlung nach § 3 öKO Nach § 3 öKO sind Rechtshandlungen des Gemeinschuldners, die das Massevermögen betreffen, den Konkursgläubigern gegenüber unwirksam. Im Gegensatz zu § 81 I InsO mutet die Regelung geradezu als Vetter des § 7 dKO an, wo ebenfalls von Rechtshandlungen gesprochen wurde. Nach herrschender österreichischer Ansicht besteht kein Zweifel, dass Rechtshandlungen im Sinn dieser Norm faktisch wie auch von Erklärungsgehalt getragen sein können, Realakte zählen ebenso hierher. Der Begriff ist demnach umfassend und weit, der Telos der Norm ebenso wie im deutschen Recht von zwei Eckpfeilern getragen: Sicherung der Verfahrenszwecke, daher zeitliche Begrenzung der Rechtsfolgen auf die Dauer des Konkursverfahrens139 und innerhalb dieses Rahmens der Masseschutz. Man hat versucht, Rechtshandlungen von Rechtshandlungen zu unterscheiden: So wurde die Auffassung vertreten, Verpflichtungsgeschäfte seien anders zu behandeln als Verfügungsgeschäfte,140 auch gibt es Ansätze, die bestimmte Geschäfte aus Gründen des Vertrauensschutzes anderen Rechtsfolgen unterwerfen wollen als das explizit in der öKO vorgesehen ist. Zunächst soll aber der Begriff der Rechtshandlung141 im Sinn des § 3 öKO umrissen werden: Unter Rechtshandlung ist jedes rechtsgeschäftliche oder prozessuale Tun oder Verhalten des Gemeinschuldners zu verstehen, das a. rechtserheblich ist, b. nach dem Zeitpunkt des Eintritts der Konkurswirkungen (§ 2 Abs 1 öKO)142 gesetzt wird und c. massebezogen ist, wobei eine teilweise Massebezogenheit ausreicht, um die Rechtsfolgen des § 3 öKO zur Anwendung zu bringen. Dabei ist ein Rechtsgeschäft ebenso unter den Begriff der Rechtshandlung zu subsumieren wie unerlaubte Handlungen und Prozesshandlungen. Masseerhaltende Handlungen des Gemeinschuldners werden im Rahmen Ebenso Kilger/Karsten Schmidt KO/VglO/GesO, 17 Aufl., zu § 7 dKO Anm 3. Siehe Konecny ]B\ 1986, 363. 141 Als Beispiele für den reichen Katalog an judizierten Rechtshandlungen siehe die Nachweise bei Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 ÖKO Rn 3 bis 15, bei Schubert in Konecny/ Schubert, § 3 öKO Rn 3 bis 8 und bei Mohr zu § 3 öKO, Seite 23 ff. E2. Zur Anweisung im Konkurs des Anweisenden siehe OGH ÖBA 1999/807 = RZ 1999, 63 = ZIK 1999, 160 = RdW 1999, 474. Zum Konkurs des Käufers beim drittfinanzierten Liegenschaftskauf OGH RdW 1999, 474 mit Besprechungsausfsatz von Bollenberger RdW 1999, 578. 142 Siehe dazu Buchegger in Buchegger, InsR I § 2 ÖKO Rn 1 bis 7 und § 3 öKO Rn 11 bis 15. Vgl Schubert in Konecny/Schubert, § 2 öKO Rn 2 bis 4 sowie § 3 öKO Rn 1 ff. 139
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des § 3 ö K O ebenfalls ausgeschlossen, weil sie einen Eingriff in die alleinige Masseverwaltung des Masseverwalters darstellen143 Näher soll auf diese Frage und auf die gegenteiligen Stimmen in der Judikatur noch eingegangen werden.144
V. Die Rechtsfolge des § 3 ö K O A . Grundsätzliches Rechtshandlungen des Gemeinschuldners 145 über Massegegenstände146 sind den Konkursgläubigern gegenüber unwirksam. Die Anordnung einer relativen Unwirksamkeit gründet auf folgenden Überlegungen: a. Der Gemeinschuldner ist nach wie vor formell Eigentümer der Masse, die ö K O will nur im Verhältnis zu den Konkursgläubigern deren Verselbständigung als Sondermasse kraft Konkursbeschlag eine Regelung aussprechen, nicht gegenüber Dritten b. Die Masse besitzt, anders als eine hereditas iacens, keine vollständige Rechtspersönlichkeit, obwohl sie rechts- und handlungsfähig ist.147 Differenzierende Überlegungen haben hier freilich breiten Raum gefunden: a. Gilt die relative Unwirksamkeit für die Sollmasse oder die Istmasse? b. Gilt sie auch für Absonderungs- und Aussonderungsgläubiger sowie gegenüber Massegläubigern und solchen Konkursgläubigern, die zulässigerweise aufrechnen? c. Ist eine Unterscheidung zu treffen zwischen Verpflichtungsgeschäften und Verfügungsgeschäften? d. Gibt es absolut nichtige Rechtshandlungen, weil der Verkehrsschutz dies gebietet? e. Kann man § 3 ö K O die Anordnung absoluter Nichtigkeit entnehmen? f . Kann man vom Gemeinschuldner gutgläubig erwerben? Siehe in diesem Sinn Schubert in Konecny/Schubert, § 3 ÖKO Rn 9. Siehe dazu V.C. 145 Vgl Schubert m Konecny/Schubert, § 3 öKO Rn 3 bis 7; Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 Rn 3 bis 7. 146 Siehe dazu Buchegger in Buchegger, I § 3 öKO Rn 8 bis 10; Schubert m Konecny/Schubert, § 3 öKO Rn 10 und 11. 147 Siehe in diesem Sinn bereits Petschek/Reimer/Schiemer 488 ff; Holzhammer InsR 117 sowie Buchegger in Buchegger, InsR I § 1ÖKO Rn 41 mwN auf deutsche Belegstellen in gleichem Sinn auf der Basis des Rechtsbestands der dKO. 143 144
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Diese Fragen sollen in der Folge einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Vorab sei jedoch die Rechtsstellung des Gemeinschuldners gegenüber der Masse Verhältnis kurz beleuchtet.
B. Gemeinschuldner - Masse Das österreichische Insolvenzrecht zieht aus der Verfahrenseröffnung den konsequenten aber im Ergebnis viele Fragen offen lassenden Schluss, dass der Gemeinschuldner Eigentümer der Masse bleibt, diese sich aber kraft konkursrechtlicher Verstrickung und masseverwalterischem Verfügungsmonopol zu einer Sondermasse verselbständige. 148 § 59 öKO festigt diese Aussage, indem er bestimmt, dass der Gemeinschuldner nach rechtskräftiger Aufhebung des Konkurses wieder berechtigt sei, über sein Vermögen frei zu verfügen. Das hat dazu geführt, dass man im österreichischen Recht den Bestand einer juristischen Persönlichkeit für die Masse überwiegend ablehnt, der Masse aber Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit zuerkennt, 149 wobei der Masseverwalter nach überwiegender Meinung als Organ der Masse auftritt. Dieser Umstand allein vermag indes nur einen Teilaspekt der heute vertretenen relativen Unwirksamkeit zu erklären. Die lex lata könnte ebenso das Eigentumsrecht des Gemeinschuldners bejahen und ebenso die absolute Nichtigkeit seiner Handlungen für die Dauer des Verfahrens aussprechen. Die Annahme, es handle sich bei der Masse um eine juristische Person, wird in der öKO durch den regelmässigen Schnitt bekräftigt, den die Konkurseröffnung (§ 2 öKO) darstellt: Der Gläuibiger ist nicht mehr mit dem Gemeinschuldner sondern mit der Masse konfrontiert, ein Dritter wird nicht Schuldner des Gemeinschuldners sondern der Masse, erwirbt nicht Rechte gegenüber dem Gemeinschuldner sondern gegenüber der Masse. Auch die Frage der Bereicherung wird masserechtlich abgehandelt: Eine Masseforderung nach § 46 Abs 1 Ζ 6 öKO entsteht nur dann, wenn die Masse, nicht der Gemeinschuldner, bereichert wäre. Man könnte zusammenfassen: Das österreichische Insolvenzrecht täte gut daran, den Schritt vom rechts- und parteifähigen Gebilde weg zur juristischen Person für die Dauer des Konkursverfahrens zu unternehmen. Manche Zweifelsfälle wären so bereinigt, die Rechtsstellung des Masseverwalters als Organ einer juristischen Person mehr als unangefochten.
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Siehe dazu Holzhammer InsR 13 f; Buchegger in Buchegger, InsR I § 1 ÖKO Rn 41. Vgl Kepplinger Synallagma 43, Buchegger in Buchegger, InsR I § 1 öKO Rn 41.
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C. Ausgangspunkt: Sollmasse oder Istmasse Die N o r m des § 3 öKO bezieht sich auf die Sollmasse. 150 Istmassekorrekturen wären daher dem Telos der N o r m des § 3 öKO nach durch den Gemeinschuldner noch zulässig. Tatsächlich steht dem aber das Masseverwaltungsmonopol des Masseverwalters insofern entgegen, als Ansprüche, die nicht aus der Sollmasse, sondern aus der Istmasse zu berichtigen sind, wie etwa die Aussonderungsansprüche (§ 44 öKO), nicht der Disposition des Gemeinschuldners unterliegen. Man kann hier nicht von einer überschiessenden Auslegung des § 3 öKO sprechen, weil die Verpflichtung des Masseverwalters, diese Ansprüche zu berichtigen, ihren spezialgesetzlichen Niederschlag gefunden hat (§ 44 Abs 2 und 3 öKO). Die Frage wurde auch gestellt, ob bloß masseerhaltende Handlungen des Schuldners von der Rechtsfolge des § 3 öKO betroffen sein sollen: 151 Dies ist sowohl aufgrund des Wortlauts des § 3 ö K O sowie ebenfalls mit dem Hinweis auf das Masseverwaltungsmonopol des Masseverwalters zu bejahen: 152 § 3 ö K O verbietet dem Gemeinschuldner schlechterdings jegliche massebezogene Rechtshandlung und macht keinen Unterschied, ob diese masseschmälernd oder masseerhaltend sind. Überdies hat der Masseverwalter allein einzuschätzen, welche Rechtshandlung masseerhaltend ist, welche gesetzt werden darf und welche unterlassen werden muss. Keinesfalls geht es an, einem Streit zwischen Gemeinschuldner und Masseverwalter Tür und Tor zu öffnen. Die Verfügungsbefugnis des Gemeinschuldners wird demnach durch §§ 1 und 3 ö K O einzig und allein auf das konkursfreie Vermögen beschränkt.
D. Reichweite der Unwirksamkeit Verbotswidrige Handlungen des Gemeinschuldners sind „den Konkursgläubigern gegenüber" unwirksam. Aufgrund der grundsätzlichen Beschränkung des Telos der N o r m auf die Sollmasse ergibt sich: Aussonderungsgläubigern gegenüber sind verbotswidrige Geschäfte gegenüber wirksam. Es bleibt die Frage zu beantworten, ob Rechtshandlungen des Gemeinschuldners gegenüber den Absonderungsgläubigern und Massegläubigern
150 Siehe dazu Bucheggerin Buchegger, InsR I § 3 ö K O R n 8 sowie § 1 ÖKO R n 42 m w N . Siehe f ü r Verwaltungsverfahren V w G H J U S - A 1999/170 N r 3105. 151 Differenzierend O G H RZ 1997/17 = ZIK 1997, 139, w o n a c h masseerhaltende H a n d lungen, die den Interessen der Konkursgläubigern nicht widerstreiten, w i r k s a m sein sollen; ähnlich O G H ecolex 1997, 249 = ÖBA 1997, 562 = ZIK 1997, 19. 152 In diesem Sinn u n d u n t e r A b l e h n u n g der teilweise gegenteiligen J u d i k a t u r (siehe vorige Fn) Schubert in K o n e c n y / S c h u b e r t , § 3 ö K O R n 9 sowie Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 ÖKO R n 7.
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Wirkungen entfalten. Dies ist nach dem Wortlaut des Gesetzes zu verneinen. Ob der Wortlaut aber auch dem Telos gerecht wird, sei vorab geprüft: Man könnte wie folgt argumentieren: Will man argumento e contrario der Diktion des § 3 ö K O verbotswidrige Handlungen bevorzugten Gläubigern gegenüber als gültig anzusehen, so verstieße dies gegen dies gegen das Größenschlussprinzip: Wenn die Handlung schon dem einfachen Konkursgläubiger gegenüber keine Wirkungen entfalten soll, dann kann dies auch nicht gegenüber dem Absonderungsberechtigten oder dem Masseverwalter gelten? Diese Hypothese mag faszinierend sein, auch wurde sie jüngst für die Massegläubiger im Ergebnis bejaht, allerdings ohne nähere Begründung. 153 Bei näherem Hinsehen bedarf es jedoch solcher Kunstgriffe nicht. Die Rechtshandlung des Gemeinschuldners ist zwar relativ unwirksam gegenüber den Konkursgläubigern, jedoch ist jedermann, der ein rechtliches Interesse daran hat, die Geltendmachung zuzugestehen. Beim Masseverwalter entfällt freilich das Erfordernis der Bescheinigung eines rechtlichen Interesses, weil seine Tätigkeit als solche von Gesetzes wegen das rechtliche Interesse an der Klärung der Frage, ob eine Handlung verbotswidrig ist oder nicht, mit sich bringt. Wir können also festhalten: Es handelt sich um eine relative Unwirksamkeit ex lege den Konkursgläubigern gegenüber, die jedoch von jedermann, insbesondere vom Masseverwalter, geltend gemacht werden kann. Ist ein Absonderungsgläubiger oder ein Massegläubiger bzw. ein zulässigerweise Aufrechnender Geschäftspartner des Gemeinschuldners in einem verbotswidrigen Geschäft, so zeitigt die Unwirksamkeit den Konkursgläubigern gegenüber ihre Reflexwirkungen auch auf ihn. Wurde das Geschäft zwischen dem Gemeinschuldner und einem Dritten abgeschlossen, so kann sich einer der genannten Gläubiger auf die Verbotswidrigkeit zwar nicht selbst berufen, ihre Geltendmachung aber durch den Masseverwalter anregen. Wiederum schützen die Reflexwirkungen der relativen Unwirksamkeit auch diese Gläubiger. Es soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass das österreichische System der relativen Unwirksamkeit die beste oder praktikabelste Lösung darstellt. Wie noch darzustellen sein wird, sind die Schutzziele der KO durchaus besser auf dem Weg der absoluten Nichtigkeit erreichbar. Eine solche ist aber beim besten Willen nicht aus § 3 öKO abzuleiten. Die lex lata gibt dafür keine Basis.
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In diesem Sinn Schubert in Konecny/Schubert, § 3 öKO Rn 17.
Rechtshandlungen und Verfugungen des Schuldners über Massegegenstände
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E. Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft Die öKO differenziert nicht zwischen Verpflichtungsgeschäften und Verfügungsgeschäften. Die interpretativen Probleme, die sich im Zusammenhang mit § 81 InsO stellten, wo es galt, von einem Rechtsbestand, der dem österreichischen durchaus verwandt war, umzustellen, stellen sich daher im Rahmen des § 3 öKO nicht. Dennoch wurde die Auffassung vertreten, man müsse bei der Auslegung des § 3 öKO zwischen absolut nichtigen Verfügungsgeschäften und relativ nichtigen Verpflichtungsgeschäften unterscheiden.154 Es sind im Gesetz keine hinreichenden Ansatzpunkte vorhanden, die eine solche Differenzierung rechtfertigen. Diese Unterscheidung ist daher im Ansatz abzulehnen, wenngleich das Bemühen um die Sicherung der Verkehrskreise klar erhellt. Dass in diesem Zusammenhang mit anderen Auslegungskriterien das Auslangen gefunden wird, ohne Begriffsspaltungen durchzuführen, wird noch aufzuzeigen sein. F. G a t t u n g s m ä ß i g e absolut nichtige Rechtshandlungen? Gerade auch zum Verkehrsschutz könnte man die Frage aufwerfen, ob es besonders geschützte Rechtshandlungen gibt, die aus der Reihe der regulären Rechtshandlungen herausstechen und die der Gemeinschuldner in jedem Fall auch nicht einmal relativ unwirksam sondern immer nur absolut unwirksam setzt: die Bestellung eines Prokuristen, eines Handlungsbevollmächtigten, um nur zwei Beispiele zu nennen. Der Regelungsgehalt des § 3 öKO deckt eine absolute Unwirksamkeit nicht. Die Verhängung einer solchen Rechtsfolge wäre nur lege speciali denkbar, nicht aufgrund der Regelung des § 3 öKO. Wie indes sogleich auszuführen sein wird, ist die Unwirksamkeit nach § 3 öKO ein weiter reichender Schutz als dies nach der Diktion der Norm der Fall zu sein scheint. G . Absolute Nichtigkeit gemeinschuldnerischer Rechtshandlungen? Der Verfahrenszweck der KO gebietet es, dass dem Gemeinschuldner jede Ingerenz in das Masseverwaltungsmonopol des Masseverwalters unmöglich gemacht wird. Daher wurde sowohl zu § 7 dKO wie auch zu § 3 öKO die Ansicht vertreten, dass - in ausdehnender Auslegung des Gesetzes - gemeinschuldnerische massebezogene Rechtshandlungen nicht bloss relativ sondern absolut nichtig seien. Ich habe an anderer Stelle bereits ausgeführt, dass es zum Erreichen dieses Zieles vor dem Hintergrund der Rechtsbeziehung Gemeinschuldner 154
Siehe in diesem Sinn Konecny JB1 1986, 363.
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Masse einer solch weitreichenden Auslegung nicht bedarf. Gleiches erreicht man mit der seit Jahrzehnten gesicherten Ansicht, dass bei Nachweis eines rechtlichen Interesses die Verbotswidrigkeit von jedermann geltend gemacht werden kann, mithin auch von einem verbotswidriger Weise zur Erfüllung verhaltenen. Umgekehrt kann jeder Konkursgläubiger, regelmäßig aber der Masseverwalter ohne Nachweis eines solchen rechtlichen Interesses die Verbotswidrigkeit gerichtlich geltend machen.155 Ich bin nicht der Ansicht, dass diese Konstruktion den Konkurszwecken am besten gerecht wird, halte aber die Ausdehnung auf eine absolute Unwirksamkeit/Nichtigkeit für überzogen und nicht im Gesetz gedeckt. Die Ausführungen zu § 81 InsO oben haben gezeigt, dass der deutsche Gesetzgeber eine Klarierung im Auge hatte, gerade deshalb die absolute Nichtigkeit an die Stelle der relativen Unwirksamkeit setzte. Die Angst aber, der Schuldner könne sich so nicht mehr wirksam verpflichten, führte zu der wohl problematischen Formulierung des § 81 InsO, wo nur von Verfügungen die Rede ist. De facto wollte man aber den status quo möglichst beibehalten. Vergleicht man § 3 öKO mit § 81 InsO, so wird immer deutlicher, dass eine absolute Unwirksamkeit nicht Ziel des Gesetzgebers des § 3 öKO war, und mag auch die Auslegung des § 7 dKO in diese Richtung gegangen sein. Die bereits von Bartsch skizzierte relative Unwirksamkeit wird daher dem Telos der Norm durchaus gerecht. Ihre Reflexwirkung156 schützt den Dritten. Man mag es überspitzt ausdrücken: Die Auslegung des § 7 dKO und die soeben dargestellte Auslegung des § 3 öKO sind zwei Systeme, die sich von zwei verschiedenen Extrempunkten auf die gleiche Mitte zubewegen, nämlich auf den Schutz der Verfahrensziele.157
H . Validierung verbotswidriger Rechtshandlungen Verbotswidrige Rechtshandlungen des Gemeinschuldners können auf mehrere Weisen validiert werden: a. durch nachträgliche Genehmigung seitens des Masseverwalters, b. durch Überlassung der Sache, über die verfügt wurde, in das konkursfreie Vermögen des Gemeinschuldners (etwa nach § 119 Abs 5 öKO), sodass die Rechtsfolge der Rechtshandlung die Massebezogenheit nachträglich verliert sowie 155 Vgl in diesem Sinn schon Bartsch in Bartsch/Pollak I § 3 ö K O A n m 7 bis 9 und korrespondierend zu den gesetzlichen Verfügungsbeschränkungen im Ausgleich Bartsch in Bartsch/ Pollak II § 8 A O A n m 93 bis 98. Siehe dazu auch O G H immolex 1999/157 = ZIK 1999, 159. 156 Buchegger in Buchegger, InsR I, § 3 ö K O Rn 16 ff, 21 ff und 25. 157 So deutlich O G H ZIK 2000/156; vgl auch O G H EvBl 1999/197; O G H R d W 2000/448.
Rechtshandlungen und Verfügungen des Schuldners über Massegegenstände
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c. durch Konkursaufhebung, die ja die vollständige Verfügungsfreiheit des Gemeinschuldners wiederherstellt (§ 59 öKO). Man kann zusammenfassend festhalten, dass eine Validierung entweder für die Masse dadurch geschieht, dass der Masseverwalter sich die Rechtshandlung zu eigen macht, oder aber dass ein Fall eintritt, der den Verlust der Massebezogenheit der Rechtshandlung zur Folge hat.
I. Gutgläubiger Erwerb vom Gemeinschuldner? Handelt der Gemeinschuldner verbotswidrig, so stellt sich die Frage, ob der Dritte gutgläubig von ihm erwerben kann. Wie oben dargestellt, gibt es im deutschen Recht hier unterschiedliche Regelungen für Fahrnisse und Immobilien. 158 Die Frage des gutgläubigen Erwerbs ist im engen Zusammenhang zu sehen mit dem insolvenzrechtlichen Publizitätsgedanken. Dieser wiederum hat in Osterreich einen im Verhältnis zur BRD ganz unterschiedlichen Niederschlag gefunden: 1.
Insolvenzdatei
Das österreichische Recht kennt das Rechtsinstitut der Insolvenzdatei. Dieser Umstand drängt einen gutgläubigen Erwerb weitgehend in den Hintergrund, ja schließt ihn geradezu aus: Alle aufgrund der Insolvenzgesetze öffentlich bekannt zumachenden Daten sind in eine elektronische Insolvenzdatei aufzunehmen 159 (§§ 7, 14 IEG sowie §§ 79, 173a öKO; § 76 AO verweist für das Ausgleichsrecht auf § 173a öKO). Die Existenz der online-Insolvenzdatei 160 allein ist Grund genug für den Ausschluss gutgläubigen Fahrnis- oder Pfandrechtserwerbs vom Schuldner.161 Das Verhältnis zwischen den beiden Veröffentlichungseinrichtungen Insolvenzdatei und Grundbuch beim Erwerb von Rechten an unbeweglichen Sachen soll im folgenden untersucht werden. 162
158
Siehe oben I. B. Die Datei ist über Internet unter der Adresse http://www.edikte.justiz.gv.at allgemein zugänglich und abrufbar. leo Qj e Insolvenzdatei führt zu einem relativ hohen Sorgfaltsmaßstab beim Eingehen von neuen Geschäften oder bei der Leistung an den Gemeinschuldner nach Konkurseröffnung (§ 3 Abs 2 öKO). Diese Thematik sei aber im Rahmen dieser Untersuchung ausgespart, sie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 161 Siehe unten 3. 162 Siehe sogleich. 159
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2. Grundbuch und Konkurs Das österreichische Recht kennt keine Unterscheidung zwischen dem Rechtserwerb unbeweglicher oder beweglicher Sachen. Es stimmt für die Fahrnisse insofern mit dem deutschen Recht überein. Allein die Frage des Grundbuchsschutzes wird anders beantwortet: Es fehlt dem österreichischen Recht eine Norm, die ähnlich den §§ 892, 893 B G B die Beschränkung in der Verfügungsfreiheit des Gemeinschuldners erst mit der konkursrechtlichen Eintragung in das Grundbuch wirksam werden lässt. Vielmehr räumt das österreichische Recht der positiven konkursrechtlichen Publizität die Priorität vor der negativen grundbücherlichen ein. 163 Angelpunkt des Verhältnisses zwischen Konkurs und Grundbuch ist die Regelung des § 13 ö K O , wonach grundbücherliche Einverleibungen und Vormerkungen auch nach der Konkurseröffnung bewilligt und vollzogen werden, wenn sich der Rang der Eintragung nach einem vor der Konkurseröffnung liegenden Tag richtet. 164 Entscheidend ist hierbei der Zeitpunkt des Einlangens des Ansuchens um Einverleibung oder Vormerkung, nicht der der tatsächlichen grundbücherlichen Erledigung des Ansuchens. Mithin sind Ansuchen unzulässig, die erst mit Beginn der Konkurswirkungen oder später beim Konkursgericht einlangen, früher einlangende dagegen sind zu bearbeiten. 165 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Norm des § 56 GBG: Ist im Grundbuch bereits ein Rangordnungsbeschluss angemerkt, der die beabsichtigte Einverleibung des Eigentums, eines Pfandrechts, die Übertragung oder Löschung eines Pfandrechts zum Gegenstand hat, und wird binnen Jahresfrist (§ 55 GBG) unter Vorlage des Rangordnungsbeschlusses die Einverleibung beantragt, so richtet sich der Rang nach dem Zeitpunkt der Ranganmerkung. 166 Im Konkurs bedeutet das nicht, dass der Gemeinschuldner ein mittels Ranganordnung angebahntes Geschäft nach Eintritt der Grundbuchssperre des § 13 ö K O unterlaufen könnte: Vielmehr ist das Rechtsgeschäft bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Konkurswirkungen nach § 2 Abs 1 ö K O zu komplettieren, alle erforderlichen Urkunden müssen vorliegen, eine Aufsandungserklärung abgegeben worden sein. 167 § 3 ö K O zeitigt mithin seine Wirkungen: Die im Grundbuchsrecht sonst einjährig befristete Ranganmerkung wird daher insofern mit der Konkurseröffnung unterlaufen, die Frist zur Einver163 So übereinstimmend Schubert in Konecny/Schubert, § 3 ö K O Rn 26; Schubert in Rummel, ABGB, 2. Aufl. II zu § 1500 Rn 1 Buchegger in Buchegger, InsR I, § 3 ö K O Rn 27 Siehe auch schon aus der älteren Literatur Lehmann 1 4 9 und Bartsch in Bartsch/Pollak I § 3 ö K O Anm 8 iVm Bartsch in Bartsch/Pollak II § 8 AO Anm 97. Vgl auch SZ 48/104 = JB1 1976, 144 mit Anm von Bydlinski. 164 Siehe dazu eingehend Apathy in Buchegger, InsR I § 13 ö K O Rn 3 ff m w N . 165 Siehe dazu Apathy in Buchegger, InsR I § 13 ÖKO Rn 5 bis 7 m w N . 166 Siehe dazu Apathy in Buchegger, InsR I § 13 ÖKO Rn 9 und 10 m w N . 167 Siehe dazu die Judikaturbelege bei Dittrich/Angst/Auer Grundbuchsrecht, zu § 56 E 21 ff, Seite 205 f.
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leibung verkürzt. Freilich ist es denkbar, dass eine Liegenschaft die konkursmäßige Veräußerung überdauert und dem Gemeinschuldner zurückgegeben wird, entweder durch Ausscheidungsbeschluss der Liegenschaft in das konkursfreie Vermögen nach § 119 Abs 5 öKO oder im seltenen Fall des Unterbleibens der Verwertung nach Konkursaufhebung (§ 59 öKO): Ist dann die Einjahresfrist des § 55 GBG noch nicht abgelaufen, so kann eine reguläre grundbücherliche Einverleibung aufgrund der Rangordnungsanmerkung wieder vorgenommen werden. Es lässt sich daher zusammenfassen: Die positive insolvenzrechtliche elektronische Publizität geht der negativen bücherlichen vor. Sie schließt einen Rechtserwerb aufgrund unerlaubter Rechtshandlungen des Gemeinschuldners aus. Dafür ist der österreichische Gesetzgeber gewillt, nicht auf den Antragszeitpunkt sondern auf einen allfällig durch Anmerkung begründeten Rangzeitpunkt abzustellen, wenn die Eintragung mit allen Unterlagen noch vor Eintritt der Konkurswirkungen iSd § 2 Abs 1 öKO 168 verlangt wird und dieser Antrag auch vor diesem Zeitpunkt dem Buchgericht zugeht. 3.
Fahrniserwerb
Gutgläubig erwirbt der Besitzer einer beweglichen Sache nach § 367 ABGB 169 dann, wenn er beweist, dass er die Sache a. in einer öffentlichen Versteigerung b. von einem zu diesem Verkehr befugten Gewerbsmann c. gegen Entgelt von jemandem erworben hat, dem sie der Kläger im Rahmen der Eigentumsklage selbst zum Gebrauch, zur Verwahrung oder in was immer für einer anderen Absicht anvertraut hat. Für das Handelsrecht korrespondiert zu § 367 ABGB die Norm des § 366 öHGB,170 für den Pfandrechtserwerb in gutem Glauben bei Verpfändung einer fremden Sache gilt § 456 ABGB.171 Der Entzug der freien Verfügungsfähigkeit über die Massegegenstände macht es dem Gemeinschuldner unmöglich, an Fahrnissen Recht zu übertragen, ohne dass die Rechtsfolgen des § 3 öKO nicht von jedermann geltend gemacht werden könnten. 168 Siehe dazu eingehend Buchegger in Buchegger, InsR I § 2 öKO Rn 1 bis 7 mwN sowie Schubert in Konecny/Schubert, § 2 öKO Rn 1 bis 5. 169 Siehe dazu Spielbüchler in Rummel I § 367 ABGB Rn 1 ff. 170 Nach Handelsrecht ist guter Glaube ausgeschlossen, wenn dem Erwerber bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache dem Veräußerer oder Verpfänder nicht gehört, oder dass der Veräußerer oder Verpfänder nicht befugt ist, über die Sache für den Eigentümer zu verfügen. 171 Vgl Petrasch in Rummel I § 456 ABGB Rn 1 ff; die Norm verweist auf § 367 ABGB.
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Im Rahmen des § 367 ABGB kommt für gemeinschuldnerische Handlungen nur der unter c. oben erwähnte Tatbestandsteil in Betracht, wobei es belanglos ist, ob der Gemeinschuldner vor Konkurseröffnung wirksam oder nach Konkurseröffnung relativ unwirksam gehandelt hat, indem er die Sache einem anderen anvertraute. Abzustellen ist auf den guten Glauben des Erwerbers. Wie an anderer Stelle zutreffend vertreten, geht es nicht an, die Wirkungen des § 3 ö K O auf die Handlungen des Dritten, dem die Sache anvertraut wurde, auszudehnen. 172 4. Anfechtbarkeit gültiger Rechtshandlungen zur Bestreitung der Gutgläubigkeit Die Vornahme von Rechtshandlungen, die nach dem Wortlaut des § 3 ö K O nicht untersagt sind, weil sie vor dem Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung gesetzt wurden, beantwortet freilich nicht abschließend die Frage nach deren Wirksamkeit. Besteht für den Masseverwalter Anlass zur Vermutung, es läge ein Anfechtungstatbestand vor (§§ 27 ff öKO), so kann dieser im Rahmen des Konkursverfahrens etwa die gültig vorgenommene bücherliche Einverleibung durch Anfechtung des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts bekämpfen, wenn die Voraussetzungen für eine Anfechtung vorliegen. Beim Gutglaubenserwerb von Fahrnissen ist dies ebenso möglich, es geht hier um nichts anderes als um einen Streit, ob Gutgläubigkeit vorlag oder nicht. Ich habe für die Fahrnisse an anderer Stelle bereits das Strohmannprinzip angesprochen. 173 Die Notwendigkeit der Anfechtbarkeit ist indes eine rein prozessuale, weil man bei den Anfechtungstatbeständen mit Kenntnis oder fahrlässigere Unkenntnis der gläubigerschädigenden Absichten des Gemeinschuldners die Gutgläubigkeit im Anfechtungsprozess selbst diskutiert und in Frage stellt.
VI. Schlussfolgerung Die Novellierung des deutschen Insolvenzrechts hat sich in der Textierung von dem § 3 ö K O vergleichbaren § 7 dKO entfernt. § 81 der InsO sollte aber dennoch keine fundamental neuen Maßstäbe setzen, sondern nur den bisherigen Rechtsbestand wiedergeben. Dass weder § 3 ö K O noch § 7 d K O die Verpflichtungsfähigkeit, die Verfügungsfreiheit und auch die Prozessfähigkeit des Gemeinschuldners im Rahmen des konkursfreien Vermögens einschränken, ist gesichert. Es hätte in § 81 InsO nicht einer anderen Textierung bedurft. Die dadurch entstan172 Siehe so Schubert in Konecny/Schubert, § 3 öKO Rn 27 unter Berufung auf die korrespondierende Ansicht von Uhlenbruck in Kuhn/Uhlenbruck, 11. Aufl. § 7 dKO Rn 16. 173 Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 ÖKO Rn 30.
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denen Probleme wurden oben174 bereits dargelegt. Die Differenzierung zwischen Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft ins österreichische Recht zu übernehmen halte ich daher für mehr als bloß inopportun. Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass der Zweck aller beleuchteten Normen ziemlich vergleichbar ist. Die Frage, ob eine gänzliche Unwirksamkeit aus §§ 3 öKO, 7 dKO ableitbar ist, ist in der BRD wie auch teilweise in Österreich bejaht und mit den Verfahrenszwecken begrenzt worden. Mir erscheint, wie oben ausgeführt, die Reflexwirkung der relativen Unwirksamkeit der Norm des § 3 öKO gerechter zu werden als die Annahme einer völligen Unwirksamkeit begrenzt durch die Verfahrenszwecke. Der Textierung des § 3 öKO steht im Rechtsvergleich § 81 InsO gegenüber, der nur von Verfügungen spricht, dafür aber die Rechtsfolge der absoluten Unwirksamkeit ausspricht. Ich habe bereits oben anklingen lassen, dass ich die Verhängung der Rechtsfolge der absoluten Unwirksamkeit massebezogener gemeinschuldnerischer Rechtshandlungen für günstig erachte, dass aber der Gesetzgeber de lege ferenda aufgerufen ist, dies auch deutlich zu machen. Gleichzeitig trete ich für die Qualifizierung der Masse als juristischer Person ein, was ebefalls einer gesetzgeberischen Klarstellung bedarf. Schließlich sollten die angestellten Überlegungen zum Gutglaubenserwerb in Deutschland wie in Osterreich die verschiedenen Prioritäten zwischen Grundbuchspublizität und Insolvenzpublizität näher dartun, wobei für das österreichische Recht die Bedeutung der seit 1. 1. 2000 in Verwendung stehenden Insolvenzdatei hervorgehoben werden muss. Das Rechtsinstitut der Insolvenzdatei hat in Osterreich im übrigen die Anforderungen an den Fahrlässigkeitsmaßstab hinsichtlich der Kenntnis der Insolvenz drastisch gewandelt. Ich habe bereits bei der hier nicht weiter verfolgten Problematik der Leistung an den Gemeinschuldner nach Verfahrenseröffnung zum Ausdruck gebracht, dass es Aufgabe des Obersten Gerichtshofs sein würde, hier eine praktikable Linie zu finden, die den Rechtsunterworfenen nicht schon bei der Ausstellung einer jeden Rechnung zur prophylaktischen Abfrage zwingt.175 Schrifttum: Bartsch/Pollak Konkurs-, Ausgleichs-, Anfechtungsordnung und deren Einführungsverordnung3, Bd I und II (1937); Bartsch/Pollak/ Buchegger (Hrsg), Österreichisches Insolvenzrecht - Kommentar4 Bd I (2000), Kurzzitat [Autor] in Buchegger, InsR I §; Böhle-Stamschräder/Kilger Konkursordnung - Kommentar14 (1983); Dittrich/'Angst/Auer Grundbuchsrecht4 (1991); Eickmann et al (Hrsg), Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung2 (2000); Engel/Völckers Leasing in der Insolvenz (1999); Germ 175
I. bis III. Buchegger in Buchegger, InsR I § 3 öKO Rn 72.
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hardt Die Verfahrenseröffnung nach der Insolvenzordnung und ihre Wirkung - Verfügungsbeschränkungen im Eröffnungsverfahren, ZZP 1996, 415; Gerhardt Inhalt und Umfang der Sequestrationsanordnungen, ZIP 1982, 1 ; Gerhardt Verfügungsbeschränkungen in der Eröffnungsphase und nach Verfahrenseröffnung, in Kölner Schrift zur InsO (1997) 159; Gerhardt Absolute und relative Unwirksamkeit als rechtliches Steuerungsinstrument im Insolvenzfall, in FS-Flume (1978) 527; Gottwald Insolvenzrechts-Handbuch (1990); Gundlach Verfügungen des Schuldners über eigene und fremde Gegenstände nach der Insolvenzeröffnung - unter besonderer Berücksichtigung der Eigenverwaltung, DZWIR 1999, 363; Haarmeyer/Wutzke/Förster Handbuch zur Insolvenzordnung - InsO/EGInsO 2 (1998); Hess Kommentar zur Konkursordnung 5 (1995); Hess Insolvenzrecht - RWS-Aufbaukurs 12 (1994); Hess Insolvenzrecht - RWS-Grundkurs 14 (1996); Huber Die Abwicklung gegenseitiger Verträge nach der Insolvenzordnung, NZI 1998, 97; Jaeger/Lent Konkurs Ordnung - Kommentar 8 (1958); Jaeger/Henckel Konkursordnung Kommentar 9 (ab 1977); Jauemig Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht21 (1999); Kepplinger Das Synallagma in der Insolvenz. Das Wahlrecht des Masseverwalters, Ausgleichsschuldners und Insolvenzverwalters (2000); Kilger/K. Schmidt Konkursordnung - Kommentar 16 (1993) und Kilger/ K. Schmidt Insolvenzgesetze, KO/VglO/GesO 1 7 (1997); Konecny/Schubert (Hrsg), Kommentar zu den Insolvenzgesetzen (ab 1997); Kübler/Prutting (Hrsg), Das neue Insolvenzrecht, Bd I, RWS-Dokumentation 18 (1994); Kuhn/Uhlenbruck Konkursordnung - Kommentar 11 (1994); Landfermann Allgemeine Wirkungen der Insolvenzeröffnung, in Kölner Schrift zur Insolvenzordnung (1997) 127; Lehmann Konkurs-, Ausgleichs- und Anfechtungsordnung, Bd I und II (1916); Mohr Die Konkurs-, Ausgleichs- und Anfechtungsordnung 9 (2000); Münchener Kommentar zum BGB2 (1986); Oepen/ Rettmann Das Schicksal von Grundstücksübereignungen in einem Konkursbzw Insolvenzverfahren über das Vermögen des Veräußerers, KTS 1995, 609; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch - Kurzkommentar 59 (2000); Pape Ablehnung und Erfüllung schwebender Rechtsgeschäfte durch den Insolvenzverwalter, in Kölner Schrift zur InsO (1997) 405; Rummel (Hrsg.), Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch 2 2 Bände (1990, 1992) sowie 1. Band, 3. Aufl. (2000); Scholtz § 878 BGB in der Verkäuferinsolvenz, ZIP 1999, 1693; Schumacher Oie. Sicherung der Konkursmasse gegen Rechtsverluste, die nicht auf einer Rechtshandlung des Gemeinschuldners beruhen, Diss. Göttingen (1975); J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen 13 , Drittes Buch-Sachenrecht (1995, 1996); von Olshausen „Verfügung" statt „Rechtshandlung" in § 81 InsO oder: Der späte Triumph des Reichstagsabgeordneten Levin Goldschmidt, ZIP 1998, 1093; Zimmermann Insolvenzrecht 3 (1999).
Zum neuen Gesetz über die Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens MASAHISA
DEGUCHI
I. Einleitung Das Gesetz über die Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens in Japan wurde am 21. 11. 2000 verabschiedet und am 29. 11. 2000 in Kraft gesetzt.1 Dieses Gesetz (abgekürzt: GAAI) soll nach Auffassung des Gesetzgebers dazu dienen, dass das Insolvenzverfahren über den international wirtschaftlich tätigen Schuldner fair und gerecht durchgeführt werden kann. 2 Während in der Nachkriegszeit zunächst noch nationalstaatliche Schutzmechanismen überwogen, ist das japanische Gericht bzw. der Insolvenzverwalter in der Praxis zur Anerkennung des Universalitätsprinzips übergegangen und hat damit in der Tat versucht, den Weg für die Entwicklung eines auf internationale Kooperation, Gleichheit und Offenheit angelegten Systems der grenzüberschreitenden Insolvenzbewältigung zu eröffnen.3 Deshalb ist das Territorialitätsprinzip4 im Insolvenzrecht in Japan grundsätzlich geändert worden. Das Schrifttum hat stark kritisiert, dass das bisherige Konkurs- und Reorganisationsgesetz entsprechend der gegenwärtigen Unternehmenstätigkeit und der Internationalisierung des Wirtschaftsverkehrs nicht genügend funktionieren konnte. 5 Der japanische Gesetzgeber hat deshalb dieses neue internationale Insolvenzgesetz mit dem
1 Dieses Gesetz (Gaikoku Tosanshoritetsuzuki no Shoninenjo ni kansuru Horitsu) wurde in der N B L N r 700 (1. 11. 2000), S. 75 ff. abdruckt; vgl Miyama/Yoshida/Sugeya/Takechi Gaikoku Tosanshoritetsuzuki no Shonin Enjo ni kansuru Horitsu oyobi Minjisaiseiho to no Ichibu o kaiseisuru Horitsu (Kokusai Tosankakeikitei) no Gaiyo, Kokusaishojihomu Vol. 29, N r 1 (2001) S. 1 ff. 2 Miyama/Yoshida/Sttgeya/Takechi aaO, S. 1 ; Zur Notwendigkeit des Internationalen Insolvenzgesetzes, vgl Mono Takeshita (Hrsg), Kokusai Tosanho, S. 3 ff.; Kazuhiko Yamamoto Kokusai Tosan Moderuho no Jirei niyoru Kaisetsu, Hanreijiho N r 1630, S. 22 ff.; vgl Gottwald Internationales Insolvenzrecht, in: 50 Jahre Bundesgerichthof, Festgabe aus der Wissenschaft, S. 819. 3 Koji Takeuchi Kokusai Tosanho no Kochiku to Tenbo, S. 321; Makoto Ito Hasanho, 3. A u f l S . 151 ff. 4 Zur Übernahme des Territorialitätsprinzip, vgl Yukio Kaise Kokusaikashakai no Minjisosho, S. 553 ff. 5 Vgl Takeuchi aaO, S. 3 ff.
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Masahisa Deguchi
internationalen Harmonisierungsprinzip geschaffen, dem freilich schon andere internationale Regelungen vorausgegangen waren.6 In diesem Beitrag möchte ich die wesentlichen Elemente dieses neuen Gesetzes in Japan erörtern.
II. Ablauf der Gesetzgebung Seit einigen Jahren bemüht man sich darum, ein neues Insolvenzrecht in Japan zu schaffen.7 Der Gesetzgeber wollte eigentlich ein umfangreiches, modernes Insolvenzgesetz bis zum Jahre 2002 schaffen. Wegen der schwerwiegenden japanischen wirtschaftlichen Lage musste das sog. Zivilrehabilitationsgesetz aber zuerst rasch verabschiedet und am 1. 4. 2000 in Kraft gesetzt werden.8 Inzwischen hat sich die Internationalisierung des Wirtschaftsverkehrs weiter entwickelt. Dadurch hat die Zahl der Unternehmer mit Vermögen im Ausland stark zugenommen. 9 Das bisherige Territorialitätsprinzip kann der komplizierten japanischen Insolvenzlage nicht mehr Herr werden.10 Ausserdem wurde das Modellgesetz über internationales Insolvenzrecht im Mai 1997 von der UNCITRAL angenommen.11 Die meisten Länder bemühen sich deshalb darum, ein entsprechendes internationales Insolvenzrecht nach diesem Modellgesetz zu schaffen.12 Japan ist durch das GAAI das erste entwickelte Land, das das UNCITRAL-Modellgesetz ins nationale Recht umgesetz hat. Dies hat große Bedeutung in der gesetzgeberischen Geschichte in Japan. 13
6 Bereits am 29. 5. 2000 wurde die Verordnung (EG) Nr 1346/2000 des Rates ueber Insolvenzverfahren (InsolvenzVO) verabschiedet. 7 Zur umfangreichen rechtsvergleichenden Arbeit, vgl Takeshita (Hrsg), aaO, S. 3ff. 8 Minjisaiseiho; dazu vgl Ito/Saiguchi/Seto/Tawara/Yamamoto Chushaku Minjisaiseiho, Kinzai, 2000. S. Iff. 9 Dazu ausführlich Takeuchi aaO, S. 3 ff. 10 Vgl Takeshita aaO, S. 24. 11 UNCITRAL-Modellbestimmungen zur grenzüberschreitenden Insolvenz, ZIP 1997, S. 2224 ff.; vgl dazu Kazuhiko Yamamoto UNCITRAL Kokusai Tosan Moderuho nitsuite, Kinyuho Kenkyu Nr 15, S. 91 ff.; derselbe in UNCITRAL Kokusai Tosan Moderuho no Kaisetsu (l)-(8), Nr 628, S. 19ff., Nr 629, S. 40ff., Nr 630, S. 33ff., Nr 634, S. 39ff., Nr 636, S. 48ff., Nr 637, S. 38ff., Nr 638, S. 37ff., Nr 639, S. 48ff. 12 Gegenwärtig ist die USA dabei, ihr autonomes internationales Insolvenzrecht an den Regeln des Modellgesetzes auszurichten. Eritrea und Mexiko haben dies bereits hinter sich.Vermutlich werden in nächster Zeit jedenfalls Kanada, Suedafrika und Neuseeland das Modellgesetz übernehmen, vgl dazu Eidenmüller Europäische Verordnung über Insolvenzverfahren und zukünftiges deutsches internationales Insolvenzrecht, IPRax 2001, S. 3. 13 Kazuhiko Yamamoto Gaikoku Tosanshoritetsuzuki no Shonin Enjohoho nitsuite (1), Jurist Nr 1194 (15. 2. 2001), S. 56.
Neues Gesetz über Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens
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III. Gesetzgebungsgründe 1. Die Problematik des Territorialitätsprinzips nach dem bisher geltenden Recht Wir kennen zwei gegenteilige Insolvenzprinzipien, nämlich das Territorialitätsprinzip, wodurch sich die Insolvenzwirkung nur auf das Inlandsvermögen erstrecken kann, und das Universalitätsprinzip, wodurch sich die Insolvenzwirkung auch auf das Auslandsvermögen erstrecken kann. 14 Das geltende Konkursgesetz (§ 3) und das geltende Reorganisationsgesetz (§ 4) sehen das strenge Territorialitätsprinzip vor. Demzufolge entfalten in Japan eröffnete Konkursverfahren und Sanierungsverfahren keine Wirkung auf das im Ausland angelegte Vermögen des Konkursschuldners und der Gesellschaft. Genauso wenig entfalten in fremden Staaten eröffnete Konkursverfahren und Sanierungsverfahren Wirkung auf das in Japan angelegte Vermögen des Konkurs Schuldners und der Gesellschaft.15 Ausserdem ist es in dem wegen der wirtschaftlich schlechten Lage rasch geschaffenen § 4 des Zivilrehabilitationsgesetz geregelt, dass zwar in Japan eröffnete Zivilrehabilitationsverfahren in Bezug auf das in fremden Staaten angelegte Vermögen des Zivilrehabilitationsschuldners Wirkungen entfalten, dass aber in fremden Staaten eröffnete Zivilrehabilitationsverfahren nicht in Bezug auf in Japan angelegtes Vermögen Wirkungen entfalten.16 Es ist damit eine gegenwärtig zu beobachtende Ungleichheit zwischen inländischen und ausländischen Verfahren entstanden, die unbedingt durch gesetzgeberische Maßnahmen ausgeglichen werden sollte.17 2. Notwendigkeit der neuen Gesetzgebung (G ΑΛΙ) Der Gesetzgeber hat sich darum bemüht, das neue internationale Insolvenzrecht nach dem Universalitätsprinzip in Japan einzuführen (Abschaffung des Territorialitätsprinzips). 18 Die wesentlichen Elemente nach dem Gesetzentwurf 19 sind folgende: (1) Man soll ein Anerkennungssystem von einem im fremden Staat eröffeneten Insolvenzverfahren schaffen, beim Anerkennungsfall die Einzelvollstreckung des Schuldners verbieten und dem ausländischen Insol14
Vgl Saito/Agami Chukai Hasanho, Kaiteiban, S. 41 ff. Miyama/Yoshida/Sugeya/Takechi aaO, S. 3; dazu vgl Yukio Kaise Hikaku Sosho H o gaku no Seishin, S. 1 ff. 16 Dazu ausführlich Ito/Saiguchi/Seto/Tawara/Yamamoto Chushaku Minjisaiseiho, Kinzai 2000, S. 8ff. 17 Vgl Ryoichi Hanamura Kokusai Tosan Jiken no Shori ni kansuru Genko Tosanhosei no Gaiyo, NBL N r 675 (15. 3. 2000), S. 8ff. 18 Zum Universalitätsprinzip vgl Gottwald Internationales Insolvenzrecht, in: 50 Jahre Bundesgerichthof, Festgabe aus der Wissenschaft, S. 819ff. 19 Homusho Minjokyoku Sanjikanshistu Hen Tosan Hosei ni kansuru Kaisei Kento Jiko, Bessatsu NBL N r 46, S. 47ff. 15
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Masahisa Deguchi
venzverwalter die Verfügungsbefugnis des in Japan angelegten Vermögens überlassen, damit die Verfahrenswirkung sich auf das inländische Vermögen erstrecken kann. 20 (2) Die Wirkung des in Japan eröffneten Konkurs- bzw. Reorganisationsverfahrens soll sich auf in fremden Staaten angelegtes Vermögen erstrecken, damit der Konkurs- bzw. Reorganisationsverwalter über dieses Vermögen verfügen kann. 21 (3) Wenn ein Konkurs- bzw. Reorganisationsverfahren gegenüber demselben Schuldner parallel im Ausland durchgeführt wird, soll der notwendige Ausgleich zwischen beiden Verfahren stattfinden. 22 Der Gesetzgeber hat sich bezüglich des oben zu (1) genannten Punkte dafür entschieden, zunächst ein neues (einzelnes) Gesetz über die Anerkennungshilfe von ausländischen Insolvenzverfahren zu schaffen.23 Ein solches Gesetz, nach dem das japanische Gericht das ausländische Insolvenzverfahren anerkennen und unterstützen soll, ist eine seltene neue Regelung in der Welt. Im folgenden möchte ich hauptsächlich darüber berichten.
IV. Grundlagen und Charakteristik der Anerkennungshilfe bei ausländischen Insolvenzverfahren 1. Charakteristik des Verfahrens der Anerkennungshilfe im Vergleich zum UNCITRAL-Modellgesetz Die Charakteristik dieses Verfahrens der Anerkennungshilfe beinhaltet, dass der Beschluss der Anerkennung selbst keine konkrete Wirkung hat. 24 Die konkrete Wirkung auf das inländische Vermögen setzt erst dann ein, wenn die entsprechenden notwendigen Unterstützungsmaßnahmen getroffen worden sind. 25 Viele Länder haben sehr unterschiedliche Vorschriften darüber, ob eine Zwangsvollstreckung ausgesetzt bzw. eine Vermögensverfügung des Schuldners verboten werden soll. 26 Das Gericht soll eine dem Einzelfall angemessene Unterstützungsmaßnahme treffen, da man vorab schwer abschätzen kann, was für eine Unterstützungsmaßnahme in Bezug
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Miyama/Yoshida/Sugeya/Takechi aaO, S. 5. Miyama/Yoshida/Sugeya/TakechiazC), S. 5. 22 Miyama/Yoshtda/Sugeya/Takechi aaO, S. 5. 23 Homusho Minjikyoku Sanjikansbitsu Kokusai Tosanhosei ni kansuru Yokoan (Tantoshaan), NBL Nr 689 (15. 5. 2000), S. 52ff. 24 Takuya Miyama Kokusai Tosanhosei no Seibi ni kasuru Horitsu no Gaiyo, Jurist Nr 1194 (15. 2. 2001) S. 42. 25 UNCITRAL-Modellgesetz § 2 (a), § 20. 26 Miyama/Yoshida/Su¡>eya/TakechÍ3.2.0, S. 5ff. 21
Neues Gesetz über Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens
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auf ein ausländisches Insolvenzverfahren geeignet ist. 27 Auf der anderen Seite darf die Wirkung des Verfahrens der Anerkennungshilfe nicht stärker bzw. umfangreicher als die im Inland anerkannte Wirkung sein. 28 2. Grundlagen der Anerkennungshilfe des ausländischen
Insolvenzverfahrens
Das Verfahren über Anerkennungshilfe soll grundsätzlich folgendermaßen stattfinden. (1) Antrag der Anerkennung Der ausländische Insolvenzverwalter bzw. der Schuldner kann einen Antrag auf Anerkennung des ausländischen Insolvenzverfahrens stellen (GAAI § 2 Abs. 1 Nr. 8). Das gilt für das noch im Sicherungsverfahren anhängige ausländische Insolvenzverfahren. 29 (2) Beschluss der Anerkennung Das Gericht, bei dem der Antrag auf die Anerkennung durch den ausländischen Insolvenzverwalter gestellt wird, soll prüfen, ob dieses ausländische Insolvenzverfahren geeignet ist, dafür eine Unterstützung in Japan zu erteilen. Wenn dies bejaht wird bzw. wenn keine Abweisungsgründe vorliegen, kann das Gericht einen solchen Beschluss erlassen. Erforderlich sind dabei folgende Voraussetzungen: eine Vorabzahlung der Kosten (GAAI § 21 Nr. 1), die Klarheit, dass sich die ausländische Insolvenzwirkung des ausländischen Insolvenzverfahrens auf das japanische inländische Vermögen erstrecken kann (GAAI § 21 Nr. 2), keine Verletzung des ordre public in Japan, wenn die Unterstützungsmaßnahme im ausländischen Insolvenzverfahren stattfindet (GAAI § 21 Nr. 3), die Sicherheit, dass die Unterstützungsmaßnahme im ausländischen Insolvenzverfahren notwendig ist (GAAI § 21 Nr. 4), keine auch nur leichte Pflichtverletzung für den Fall, dass der ausländische Insolvenzverwalter die Berichtspflicht gegenüber dem Gericht in Bezug auf den Ablauf des ausländischen Insolvenzverfahrens nicht unterlassen hat (GAAI § 21 Nr. 5), kein Antrag wegen eines unechten Grundes bzw. kein unredlicher Antrag (GAAI § 21 Nr. 6). Dabei ist notwendige Voraussetzung für den Anerkennungsantrag, dass im ausländischen Insolvenzverfahren eine Adresse, ein Wohnsitz, eine Betriebsstelle oder ein Büro existieren, ferner dass die Eröffnungsentscheidung in Bezug auf ein ausländisches Insolvenzverfahren getroffen wurde (GAAI § 22 Abs. 2). 30 Das GAAI hat nach dem UNCITRAL-Modellgesetz ein sog. Anerkennungssy-
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Takuya Miyama aaO, S. 42. Miyama/Yoshida/Sugeya/TakechimO, S. 4. Miyama aaO, S. 42; Kazuhiko Yamamoto aaO, S. 59ff. Miyama aaO, S. 43.
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stem durch Beschluss im Gegesatz zu einem automatischen Anerkennungssystem eingeführt, wie es die EU nun geregelt hat. 31 (3) Unterstützungsmaßnahme Falls der Beschluss für die Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens erlassen wird, kann das Gericht je nach Notwendigkeit eine zur Hilfe notwendige Verfügung treffen. Das Gericht kann die Einzelvollstrekkung des Gläubigers bzw. die Verfügungsbefugnis des Schuldners verbieten. Die folgenden Maßnahmen kommen in Frage: Aussetzung des Zwangsvollstreckungsverfahrens (GAAI § 25 Nr. 1), Widerruf des Zwangsvollstrekkungsverfahrens (GAAI § 25 Nr. 5), Aussetzung des Versteigerungsverfahrens als Durchsetzung des Sicherungsrechts (GAAI § 27 Nr. 1), Verbot der Zwangsvollstreckung (GAAI § 28 Nr. 1), Verbot der Schuldnerverfügung (GAAI § 26 Nr. 1), Verwaltungsverfügung (GAAI § 32 Nr. 1) oder Sicherungsverwaltungsverfügung (GAAI § 53 Nr. I). 32 (4) Genehmigung der Vermögensverfügungen durch das Gericht Der Schuldner bzw. der Insolvenzverwalter benötigt im Fall des Unterstützungsbeschlusses die Genehmigung des Gerichts, über das inländische Vermögen zu verfügen bzw. es ins Ausland zu verlegen, um den inländischen Gläubiger zu schützen (GAAI § 31). Im Fall der Verletzung dieser Pflicht soll die Anerkennung widerrufen und eine strafrechtliche Maßnahme getroffen werden (GAAI §§ 56, 68). 33 (5) Abschluss des Anerkennungshilfeverfahrens Falls die Anerkennungsvoraussetzungen eines ausländischen Insolvenzverfahrens nicht erfüllt sind, soll das ausländische Insolvenzverfahren beendet werden (GAAI § 56). Falls ein ausländisches Insolvenzverfahren erledigt und der Zweck des Verfahrens der Anerkennungshilfe erreicht wird oder der Schuldner bzw. der Insolvenzverwalter die oben genannte Pflicht verletzt hat, soll dieses Verfahren beendet werden (GAAI § 56 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 4, Nr. 6, Abs. 7, § 24 Abs. 3). 34 (6) Harmonisierung des Anerkennungshilfeverfahrens und anderen Insolvenzverfahren Falls das Verfahren der Anerkennungshilfe eines inländischen InsolvenzKazuhiko Yamamoto aaO, S. 60; vgl Eidenmüller aaO, S. 7. Miyama aaO, S. 43 ff; Katzumi Yamamoto Gaikoku Tosanshoritetsuzuki no Shoninenjoho nitsuite (2), NBL Nr 1194 (15. 2. 2000), S. 63ff. 33 Miyama aaO, S. 44; eine solche Verletzung gegen gerichtliche Entscheidungen wird als Tatbestandmerkmal angenommen, so dass sie eine ähnliche Straftat wie „contempt of court" darstellen könnte (vgl Kazuhiko Yamamoto, aaO, S. 62). 34 Miyama aaO, S. 44 ff. 31 32
Neues Gesetz über Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens
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Verfahrens und das eines ausländischen demselben Schuldner gegenüber konkurrieren, soll nur ein einziges Verfahren nach dem Vorgehensprinzip des inländischen Verfahrens ablaufen. 35 Ausnahmsweise geht das Anerkennungshilfeverfahren vor, wenn der Antrag auf das anerkannte ausländische Insolvenzverfahren in dem Land, in dem der Schuldner seinen Sitz oder seine hauptsächliche Betriebsstelle hat, gestellt wird (GAAI § 2 Abs. 1 Nr. 2), ferner wenn die Unterstützungsmaßnahme bezüglich des betroffenen Insolvenzverfahrens dem allgemeinen Interesse entspricht bzw. das Gläubigerinteresse im japanischen Inland nicht unrechtmäßig ein betroffenes ausländisches Insolvenzverfahren verletzt (GAAI § 57 - § 60). Bei verschiedenen Anerkennungshilfeverfahren geht das Anerkennungshilfeverfahren des ausländischen Hauptverfahrens vor und bei mehreren Anerkennungshilfeverfahren als ausländische Nebenverfahren soll das dem allgemeinen Interesse des Gläubigers entsprechende Verfahren vorgehen (GAAI §§ 62, 63). 36
V. Schlussbemerkungen Ich fasse folgendermaßen zusammen: Das neue Gesetz der Anerkennungshilfe des ausländischen Insolvenzverfahrens beinhaltet drei wichtige Grundsäulen, nämlich die Abschaffung des Territorialitätsprinzips, die Übernahme des Unterstützungsmodells und das „ein Verfahren - ein Gläubiger" Prinzip. 37 Dieses neue Gesetz hat außerdem eine ganze Reihe von neuen Rechtssystemen eingeführt, um das internationale Insolvenzverfahren effektiv und gerecht durchzuführen. Zwischen dem Gericht, dem ausländischen Verwalter, dem Antragsteller auf Anerkennungshilfe, dem Anerkenungsverwalter, dem Gläubiger und dem Schuldner muss die entsprechende effektive Zusammenarbeit in der Insolvenzpraxis allerdings wohl stark vorhanden sein, um dieses ehrgeizige internationale Gesetz funktionsfähig zu halten. 38 Das internationale Insolvenzrecht ist zwar weltweit wirtschaftlich und gesellschaftlich sehr wichtig. Man muss jedoch zugeben, dass es sog. „werdendes Recht" darstellt. Wir erwarten deshalb auch in der Zukunft vermehrte rechtsvergleichende Untersuchungen im Zusammenhang mit der Umsetzung des UNCITRAL-Modellgesetz von den jeweiligen Ländern. 39
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Miyama aaO, S. 45; Katsumi Yamamoto aaO, S. 67ff. Miyama aaO, S. 45. Kazuhiko Yamamoto aaO, S. 56. Vgl Gottwald ziO, S. 828 ff. Vgl Eidenmüller aaO, S. 2 ff.
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Nachwort Herrn Jubilar Professor Dr. Dr. h.c. mult. Akira Ishikawa möchte ich hiermit recht herzlich meinen Dank für seine sowohl wissenschaftlichen als auch privaten Unterstützungen seit 1985 aussprechen. Ich durfte meine akademische Laufbahn als Doktorand an der Keio Universität durch ein ungewöhnliches Empfehlungsschreiben meines verehrten deutschen Doktorvaters Professor Dr. Dr. h.c. Peter Arens an meinen japanischen Doktorvater Professor Ishikawa beginnen. Durch seine internationale akademische Tätigkeit können nicht zuletzt die Zivilprozessrechtler in Japan an den wissenschaftlichen Neuerungen und Erfolgen der letzten Zeit teilhaben. Deshalb möchte ich, von ganzem Herzen dankend, Professor Ishikawa diesen Beitrag widmen.
Die Vollstreckung in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit - ein legislatorisch u n d wissenschaftlich vernachlässigtes Mittel der Rechtsverwirklichung HANS FRIEDHELM
GAUL
I. Gegenwärtige Lage und Anzeichen einer dringenden Reformbedürftigkeit l. Das Desinteresse der Wissenschaft Seit der Studie von Arthur Nussbaum über die „Richterliche Zwangsgewalt in der freiwilligen Gerichtsbarkeit" aus dem Jahre 19011 hat man sich mit der Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht mehr intensiver befaßt. Das Feld liegt noch heute weithin brach. Eine gründlichere wissenschaftliche und systematische Aufarbeitung fehlt seitdem. 2 D a s Desinteresse der Verfahrensrechtslehre mag zum guten Teil darin begründet sein, daß schon der Gesetzgeber sich einer näheren Regelung des Vollstreckungsverfahrens im F G G enthalten hat - ganz im Gegensatz zum dichten Regelungsgefüge im 8. Buch der ZPO über die „Zwangsvollstreckung" in der streitigen Gerichtsbarkeit. 3
2. Die unzulängliche
Regelung des FGG
D a s F G G beschränkt sich auf eine einzige im 1. Abschnitt „Allgemeine Vorschriften" enthaltene Vollstreckungsnorm in § 33 F G G , die lediglich für die vollzugsfähigen Verfügungen im Bereich der sog. Handlungsvollstreckung die Vollstreckungsmittel der Verhängung von Zwangsgeld oder Zwangshaft und den Gebrauch des unmittelbaren Zwanges - gleichsam als Seitenstück zu den §§ 883 bis 892 Z P O für die zivilprozessuale Individualvollstreckung - regelt. Daneben enthalten die §§ 132 ff. F G G in Registersa1 Vgl A.Nussbaum Richterliche Zwangsgewalt in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, ZZP 29 (1901), 440-506. 2 Vgl neuerdings immerhin Svenia, Susanne Purbs Vollstreckung in den Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Diss. Bonn (1994), passim, die zwar eine übersichtliche Darstellung des heutigen Erkenntnisstandes bietet, aber kaum darüber hinausführt. 3 Vgl dazu Rosenberg/Gaul/Schilken Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl (1997), § 2 III (S. 15).
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chen für das Einschreiten des Registergerichts zur Durchsetzung des Registerzwangs speziellere Regeln eines Zwangsgeldverfahrens. Das erklärt, daß sich die traditionell ohnehin die freiwillige Gerichtsbarkeit dominierende Kommentarliteratur vornehmlich auf eine Erläuterung des § 33 FGG beschränkt. Namentlich aber bringt die Lehrbuchliteratur der Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch nicht annähernd eine dem Stand der Zwangsvollstreckungsrechtslehre zur streitigen Gerichtsbarkeit vergleichbares Interesse entgegen, sondern begnügt sich mit relativ knappen Darstellungen. 4 Die letzte eigens den speziellen „Strukturfragen" der freiwilligen Gerichtsbarkeit gewidmete Lehrdarstellung verzichtet sogar ganz auf eine Behandlung der Vollstreckung der Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit dem ebenso lapidaren wie unzutreffenden Hinweis, die Vollstreckung biete „hier keine besonderen Probleme". 5 Eine Vollstreckung zur Durchsetzung von Geldleistungstiteln im Wege des Pfändungs- und Zwangsversteigerungsverfahrens ist der freiwilligen Gerichtsbarkeit allerdings fremd. 6 Deshalb findet - wie heute für die sog. echten Streitsachen - schon bisher für bestimmte traditionelle Angelegenheiten der Rechtsfürsorge wie für die Vereinbarung und Auseinandersetzung in Teilungssachen aus dem rechtskräftigen Bestätigungsbeschluß nach §§ 98, 99 FGG und aus der rechtskräftig bestätigten Dispache nach § 158 II FGG „die Zwangsvollstreckung nach dem 8. Buch der ZPO statt". 7 Geht es dagegen nicht um die vermittelnde Tätigkeit im Dispacheverfahren mit dem Ziele der Schadensverteilung unter den Havariebeteiligten, sondern um die Entscheidung über Streitigkeiten unter den Beteiligten, so sind die betreffenden zivilrechtlichen Ansprüche von vornherein im Klageweg vor dem Prozeßgericht zu verfolgen (§ 156 FGG). 8 4 Am ausführlichsten noch F. Baur Freiwillige Gerichtsbarkeit, 1. Buch, Allgemeines Verfahrensrecht (1955), § 26 (S. 279-296); ferner Bärmann Freiwillige Gerichtsbarkeit und Notarrecht (1960), § 36 (S. 222-228); HabscbeidFreiwillige Gerichtsbarkeit, 7. Aufl (1983), §§ 36, 37 (S. 259-266); Brehm Freiwillige Gerichtsbarkeit, 2. Aufl (1993), § 25 (S. 242-249). 5 So Pawlowski/SmidFreiwillige Gerichtsbarkeit (1993), Vorwort und S. 175, noch dazu mit sinnverkehrtem Zitat von Habscheid aaO. (Fn 4), § 36, S. 259, es habe „die Vollstrekkung in dem alten Bereich der Freiwilligen Gerichtsbarkeit kein (!) anderes Wesen als im Zivilprozeß", während ihr Habscheid aaO in Wahrheit gerade umgekehrt „ein (!) anderes Wesen" mit der Notwendigkeit einer besonderen Behandlung zuschreibt. 6 Vgl dazu schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 448: „Von einem Zwang zur Leistung von Geldzahlungen kann nicht die Rede sein, da der Richter Pfändungen nicht verfügen kann." Ebenso konstatierte schon K. Schneider Das Beschlußverfahren und die Rechtskraft in privatrechtlichen streitigen Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, ZZP 29 (1901), 96, 148, daß die vorgesehenen Zwangsmittel zur „Einziehung einer Geldsumme nicht ausreichen." 7 Vgl Nussbaum aaO (Fn 1), S. 482. 8 S. dazu BGHZ 29, 223, 226 ff mit dem allerdings unhaltbaren Ergebnis, daß der in „Überschreitung der richterlichen Handlungsmacht" ergangene, jedoch innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit zustande gekommene Beschluß des FG-Richters sogar „nichtig"
Die Vollstreckung in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit
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3. Die Verweisung der sog. Streitsachen auf das 8. Buch der ZPO Soweit in den neueren sog. echten Streitsachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen und gerichtlichen Vergleichen sowie meist vorgesehenen einstweiligen Anordnungen die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der Z P O stattfindet wie in Hausratssachen (§ 16 III H a u s r V O ) , Wohnungseigentumssachen (§ 45 III WEG), Landwirtschaftssachen (§ 31 LwVG), in Familiensachen betreffend den Zugewinnausgleich (§ 53 a IV FGG) oder Versorgungsausgleich (§ 53 g III FGG), 9 kann das damit verbundene Verfahren hier als relativ unproblematisch außer näheren Betracht bleiben, da es mit nur geringen Modifizierungen in den gewohnten Bahnen des 8. Buches der Z P O verläuft. Der Leistungsbefehl geht zwar vom Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus mit der Besonderheit, daß der betreffende Beschluß grundsätzlich Rechtskraft erlangt haben m u ß ; eine vorläufige Vollstreckbarkeit ist also regelmäßig nicht vorgesehen (Ausnahme § 31 II LwVG). 1 0 Von dort geht auch noch die Klauselerteilung aus (§ 724 II ZPO). Der Vollstreckungsbetrieb ist aber den Beteiligten überlassen, deren Durchführung den Organen der Zwangsvollstreckung obliegt. Ebenso führt der vollstreckungsinterne Rechtsschutz zum Vollstreckungsgericht (§§ 766, 793, 765a ZPO) gemäß dem in der Z P O geltenden Grundsatz der Trennung der erkennenden und der vollstreckenden Instanz. 11 N u r soweit nach der Z P O Einwendungen gegen den Vollstreckungstitel z u m „Prozeßgericht des ersten Rechtszugs" führen wie nach § 767 I Z P O für die Vollstreckungsgegenklage, nimmt dessen Stellung wegen des Sachzusammenhangs wiederum das FG-Gericht ein, 12 während die Interventionsklage nach § 771 I Z P O zum Streitgericht des Bezirks der Zwangsvollstreckung führt. 1 3
sein soll, eine Ansicht, die sich seit BGHZ 40, 1, 4 ff nicht mehr aufrechterhalten läßt; dagegen zutreffend Habscheid Fehlerhafte Entscheidungen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, NJW 1966, 1787, 1792. 9 Nach § 53 g III FGG genügt eine einstweilige Anordnung nicht. Vgl BGH, FamRZ 1985, 263, 265 = NJW 1985, 2706, 2707 = LM Nr 4 zu § 1587 g BGB. 11 Deshalb unrichtig Keidel/Zimmermann FGG, 14. Aufl (1999), § 33 Rn 7, wonach auch über die Erinnerung nach § 766 ZPO „das Gericht der FG" entscheiden soll. 12 So ausdrücklich auch § 158 III FGG für Klauselklagen aus dem Dispacheverfahren ; dazu Gaul Das Rechtsbehelfsystem der Zwangsvollstreckung, ZZP 85(1972), 251, 258. 13 Vgl dazu Purbs aaO (Fn 2), S. 64 ff, 68 ff unter Zugrundelegung der maßgeblichen Unterscheidung zwischen „vollstreckungsinternen" und „vollstreckungsexternen" Rechtsbehelfen; s. zu dieser inneren Systematik der Vollstreckungsrechtsbehelfe näher Gaul aaO (Fn 12), S. 255 ff; Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 36 III (S. 569 ff).
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4. Rechtstaatliche Anforderungen Bedenkt man die Entwicklung, die die Zwangsvollstreckung in der streitigen Gerichtsbarkeit inzwischen in ihrer rechtssystematischen Durchdringung, aber auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genommen hat, so muß verwundern, daß die Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit damit in keiner Weise Schritt gehalten hat. Weder in die verfassungsrechtliche, noch in die Reformdiskussion wurde sie einbezogen, obwohl das mit der Vollstreckung verbundene Eingriffshandeln der staatlichen Rechtspflegeorgane im Bereich der Rechtsfürsorge und damit im persönlichen Lebensbereich der Beteiligten sich besonders intensiv auswirkt. 14 So bewirken die Zwangsmittel des § 33 F G G bei Verhängung von Zwangshaft oder im Wege der Gewaltanwendung erzwungener Personenherausgabe einen Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 II S. 2, Art. 104 II G G ) , soweit dem eine Wohnungsdurchsuchung vorausgeht, zugleich einen Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). 1 5 Zwar hat man dem rechtlichen Gehör der Beteiligten vor Entscheidungserlaß (Art.103 I GG) in der freiwilligen Gerichtsbarkeit viel Aufmerksamkeit zugewendet, 16 nicht aber der Problematik, die sich aus der zwangsweisen Durchsetzung der vollstreckbaren Entscheidungen ergibt. 5. Die jüngste Anmahnung
durch das Β VerfG
Erst jüngst hat das BVerfG im Kammerbeschluß vom 19. 11. 1999 17 die Frage aufgeworfen, „ob § 33 II F G G eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Durchsuchung der Wohnung" biete, da zweifelhaft sei, „ob diese Vorschrift, die die Durchsuchung nicht erwähnt, gleichwohl die materiellen und formellen Voraussetzungen für eine Durchsuchungsanordnung in einer den Anforderungen des Art. 13 II G G genügenden Weise festlegt". Zwar ließ die Kammer die Frage letztlich offen. Sie nahm aber die Verfassungsbeschwerde des Großvaters zur Entscheidung an, der sich gegen die Vollstrekkung auf Herausgabe des dreijährigen Enkelkindes aus einer einstweiligen Anordnung des Familiengerichts durch Versperren des Wohnungszutritts gewehrt hatte und wegen Verletzung eines zugezognen Polizeibeamten von 14 Zur Bedeutung der Persönlichkeits- und Privatsphäre im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit des Verfahrens s. parallel dazu Gaul Der Grundsatz der Öffentlichkeit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FS Matscher, Wien (1993), S. 111 ff. 15 Zur intensiven Paralleldiskussion in der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung s. Gaul, Zur Problematik der Grundrechtsverletzungen in der Zwangsvollstreckung, Dike Interantional 1996, s. 25 ff; Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 3 (S. 16-30); § 26 IV 3 (S. 453-469) mit eingehendem Nachw. 16 Vgl dazu neuerdings Sawczuk Zur Frage nach dem Zweck der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FS H. F. Gaul (1997), S. 649, 650 f mwN. 17 BVerfG, Kammerbeschluß, FamRZ 2000, 411 f = NJW 2000, 943 f.
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den Zivilgerichten z u m Schadensersatz verurteilt worden war. N a c h A n sicht der K a m m e r „beruhen die angegriffenen Urteile auf einer Verkennung des Schutzbereichs von Art. 13 II G G und verletzten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 I G G . " D e n n „die Durchsuchung, die der Beschwerdeführer abwenden wollte, war nicht durch den gesetzlichen Richter angeordnet". 1 8 Es ist auffällig, daß die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle v o m 17 12. 1997 ( B G B l . I 3039) zwar die von B V e r f G E 51, 97ff. ausgehende Judikatur des BVerfG zur Wohnungsdurchsuchung in der Zwangsvollstreckung durch Einfügung des § 758 a Z P O umgesetzt hat, die Aufnahme einer entsprechenden ergänzenden B e s t i m m u n g zu § 33 II F G G dabei aber offenbar völlig vergessen worden ist. Die Novelle hat lediglich in § 33 III S. 5 F G G n.F. eine redaktionelle A n p a s s u n g an die geänderten Vorschriften der Z P O über den Vollzug der H a f t v o r g e n o m m e n , indem statt der B e z u g n a h m e auf die alten Vorschriften der Z P O jetzt die §§ 901, 904 bis 906, 909 I, II, §§ 910, 913 Z P O n.F. für entsprechend anwendbar erklärt werden. U m s o unverständlicher ist die bei der Heraus gäbe Vollstreckung nach § 33 II F G G verbliebene L ü c k e angesichts der bekannten verfassungsrechtlichen Problematik der Wohnungsdurchsuchung. G e r a d e der zuletzt angesprochene verfassungsrechtliche A s p e k t zeigt schlaglichtartig, wie verhängnisvoll sich heute die herkömmliche legsilatorische und wissenschaftliche Vernachlässigung des T h e m a s der Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit auswirkt.
II. Freiwillige Gerichtsbarkeit und Rechtszwang Auch die freiwillige Gerichtsbarkeit ist wie der Zivilprozeß auf Rechtsverwirklichung angelegt 1 9 und bedarf deshalb notfalls der zwangsweisen Durchsetzung ihrer Entscheidungen. 2 0 D a r a n ändert auch nichts, daß der Zivilprozeß primär der Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche dient, die freiwillige Gerichtsbarkeit dagegen zumindest in ihrem herkömmlich „klassischen" Bereich der Rechtsfürsorge vornehmlich der fortwährenden
18 Im zugrunde liegenden Fall richtete sich die von der sorgeberechtigten Mutter erwirkte einstweilige Anordnung auf Kindesherausgabe gegen den nicht sorgeberechtigten Vater. Der sich der Vollstreckung im Treppenhaus widersetzende Großvater wohnte zwar in demselben Haus, war aber „Dritter", was das BVerfG aaO unter vollstreckungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht näher würdigt. 19 Vgl Gaul Bemerkungen zur Wiederaufnahme im geltenden und künftigen Recht der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, FS W. J . Habscheid (1989), S. 99, 106; auch Sawczuk, aaO (Fn 16), S. 649. 20 Vgl dazu Gaul Rechtsverwirklichung durch Zwangsvollstreckung aus rechtsgrundsätzlicher und rechtsdogmatischer Sicht, ZZP 112 (1999), 135 ff.
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Rechtsbewährung.21 Allerdings sind für die freiwillige Gerichtsbarkeit eher rechtsgestaltende Entscheidungen typisch, bei denen sich die staatliche Rechtsschutzaufgabe in der erstrebten Rechtsänderung erschöpft und die deshalb keiner Vollstreckung bedürfen, während für den Zivilprozeß umgekehrt das Leistungsurteil charakteristisch ist, das bei Nichtbefolgung des in ihm enthaltenen Leistungsbefehls der Zwangsvollstreckung bedarf. Auch wenn demnach die Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine geringere Rolle spielt als im Zivilprozeß, ist sie für ihre vollstreckbaren Entscheidungen als notwendiges Mittel der Rechtsverwirklichung doch nicht von minderer Bedeutung. Dem früher anzutreffenden Vorurteil, der „freiwilligen Gerichtsbarkeit" sei der Zwang fremd, „wogegen der Prozeß Zwangsordnung" sei, ist schon Wach entgegengetreten: Zwar sei „überall freiwillige Gerichtsbarkeit, wo gerichtliches Handeln ausschließlich rechtsgeschäftlichen Zwecken" diene; doch auch in ihrem Gebiete gelte „es vielfach, Pflichten zu realisieren und Zwang zu üben", mag es sich dabei auch „nicht handeln um die Realisierung einer privatrechtlichen ..., sondern um (eine) öffentlich-rechtliche, um der Privatrechtsordnung willen bestehende Pflicht".22 Indessen war auch unter der Geltung des Partikularrechts unmittelbar vor Inkrafttreten des FGG die damals auch vom Reichsgericht23 vertretene Auffassung sehr verbreitet, daß sich die Aufgabe der freiwilligen Gerichtsbarkeit in der Begründung von Rechten und Pflichten erschöpfe und die so erworbenen Rechte nur durch die anschließende Rechtsverfolgung im Wege des Zivilprozeßes zur Vollstreckung gelangen konnten, sofern nicht ausnahmsweise landesrechtliche Sonderbestimmungen etwas anderes vorsahen. Den Grund dafür sah man in dem Fehlen „an Vorschriften, welche dem Richter allgemein einen Weg zur Vollziehung seiner Verfügungen eröffneten". 24 Dieser „Umweg" wurde allerdings damals schon als „höchst unbequem und zweckwidrig" empfunden.25 Demgegenüber stand man den Zwangsbefugnissen des Richters der freiwilligen Gerichtsbarkeit im gemeinen Recht weitaus offener gegenüber, was angesichts der bekannten Abneigung der freien Römer gegen jeden Zwang merkwürdig genug war.26 So ging zwar auch Windscheid27 davon aus, daß die Ansprüche sowohl des Mündels als auch des Vormunds regelmäßig erst Vgl Swaczuk aaO, S. 665. Vgl Wach Handbuch des Deutschen Civilrozeßrechts, I. Band (1885), S. 48. 23 RGZ 26, 350 ff zum Rheinischen Recht betreffend die Klage des Vormunds gegen die Mutter, der durch Anordnung des Vormundschaftsgerichts das Erziehungsrecht entzogen worden war, auf Herausgabe der Kinder zwecks Unterbringung in eine Erziehungsanstalt. 24 So Nussbaum aaO (Fn 1), S. 442. 25 Nussbaum aaO, S. 442; auch Schneider aaO (Fn 6), S. 126 Anm 19. 26 Vgl dazu Gaul Rechtsverwirklichung aaO (Fn 20), S. 136 f. 27 Windscheid-Kipp Lehrbuch des Pandektenrechts, 3. Band, 9. Aufl (1906), § 438, 3. 21
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nach Beendigung der Vormundschaft klagend geltend gemacht werden konnten. Gleichwohl stand zugleich „der Vormund auch während Dauer der Vormundschaft unter der Aufsicht der obervormundschaftlichen (Gerichts-) Behörde, ... welche ihn zur Erfüllung seiner Pflichten nötigenfalls durch unmittelbaren Zwang anhalten" konnte. D e m lag zugrunde die Vorstellung von der „Einheit von Kognition und Zwang im richterlichen Officium", daß - wie es Wetzeil ausdrückte 2 8 - mit dem Richteramt auch die „Macht" verbunden war, „zwingend in die Rechtsverhältnisse einzugreifen" mit dem ihm eigenen „Imperium im engeren Sinne". Dies ließ die Ausstattung des Richteramtes mit der „Zwangsgewalt" fast als „selbstverständlich" erscheinen. 2 9 O b w o h l der Gesetzgeber der C P O von 1877 seinem Zwangsvollstrekkungssystem bereits nach französischem Vorbild das Prinzip der „Reinhaltung des Richteramts" gemäß dem Leitgedanken „dem Richter nur das Richten" mit der Folge der Trennung der „erkennenden Instanz" von der „Vollstreckungsinstanz" zugrunde gelegt hatte, 30 bestimmte der Gegensatz zwischen der vermeintlich umfassenden Zwangsgewalt des Richters nach gemeinem Recht und seinen auf Einzelfälle beschränkten Zwangsbefugnissen nach Partikularrecht noch die Gesetzesberatungen zu § 33 FGG.
III. Die aufschlussreiche Entstehungsgeschichte zu § 33 FGG So ist denn auch für die ambivalente Haltung des Gesetzgebers zum Vollstreckungszwang in der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Entstehungsgeschichte zu § 33 F G G besonders aufschlußreich. 1. Die Planck'sehen Vorentwürfe von 1881 und 1888 Bemerkenswert umfassende Zwangsbefugnisse sah zunächst noch der von der 1. Kommission zur Ausarbeitung des BGB veranlaßte Entwurf zu einem Reichsgesetz „über das Verfahren in Vormundschaftssachen und sonstigen das Familienrecht betreffenden Angelegenheiten" des Redaktors Planck von 1881 in dessen § 41 Nr. 1 bis 4 vor, der dem Vormundschaftsrichter zur Durchsetzung seiner Verfügungen alle in Betracht k o m m e n d e n Zwangsmittel wie Geld- und Haftstrafen, die A n o r d n u n g der Ersatzvornahme durch Dritte, die Ausübung unmittelbaren Zwangs zur Erwirkung der Herausgabe von Personen u n d Sachen sowie den Offenbarungszwang 28
Wetzell System des ordentlichen Civilprozesses, 3. Aufl (1878), § 43 (S. 513 f), § 48 (S. 601 f). 29 Vgl auch Nussbaum, aaO (Fn 1), S. 441. 30 S. dazu schon näher Gaul, Zur Struktur der Zwangsvollstreckung, Teil III, Rpfleger 1971, 81 f mit Hinweis auf Hahn Materialien zur CPO, Bd II 1 Abt. (1880), S. 137, 220.
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einräumte. Für Planck lag es im Anschluß an die gemeinrechtliche Doktrin „im Wesen einer mit dem Imperium ausgestatteten Behörde, daß dieselbe die Macht haben muß, die von ihr innerhalb der gesetzlichen Befugnisse erlassenen Verfügungen nötigenfalls im Wege des Zwanges durchzuführen". 31 Planck sah sich in seiner Grundauffassung nicht nur durch die gemeinrechtliche Doktrin bestärkt, 32 sondern verwies ebenso auf das Vorbild des § 19 österr. Außerstreitgesetz vom 9. 8. 1854, welches ebenfalls einen umfangreichen Katalog an Zwangsmitteln kennt, 33 daneben aber aus rechtskräftigen Entscheidungen in nichtstreitigen Rechtssachen auch die zivilprozessuale Exekution gemäß § 19 III AußStrG gestattet - eine in Osterreich noch heute geltende Regelung, bei der das Verhältnis der „Außerstreitexekution" zur Vollstreckung nach der E O noch immer nicht als restlos geklärt gilt. 34 Im 2. Entwurf, den Planck unter der Bezeichnung eines Reichsgesetzes „betreffend Angelegenheiten der nichtstreitigen Rechtspflege" 1888 vorlegte, 35 waren in Abweichung von § 41 des 1. Entwurfs - abgesehen von der nach § 30 weiterhin möglichen Zwangsanordnung der Gestellung einer Sicherungshypothek durch den Vormund oder Pfleger - keine Vorschriften über die Zwangsgewalt des Vormundschaftsgerichts mehr enthalten. Zwar war der Entwurf jetzt gegenständlich auf Nachlaßsachen erweitert, jedoch inhaltlich wesentlich vereinfacht worden mit der Maßgabe, daß ergänzende Vorschriften wie auch solche über die Vollstreckung „der Landesgesetzgebung überlassen werden" könnten (§ 71). Doch wies Planck in der Begründung darauf hin, daß nach wie vor „in Ermangelung besonderer gesetzlicher Vorschriften aus dem Begriffe einer mit Imperium ausgestatteten Behörde die Befugnis des Vormundschaftsgerichtes, behufs Durchsetzung der Anordnungen die geeigneten Zwangsmittel anzuwenden, soweit nicht gesetzliche Schranken gezogen sind, abzuleiten sein" werde. 36 Immerhin nahm er den im 1. Entwurf vorgeschlagenen § 41 vorsorglich noch einmal in einen neuformulierten, aber inhaltlich unveränderten Hilfsvorschlag (§§ 29 a und
31 Vgl Planck Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren in Vormundschaftssachen und sonstigen das Familienrecht betreffenden Angelegenheiten für das Deutsche Reich, Berlin (1881), S. 89 (=Nachdruck Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB, Bd III, hrsg von Schubert, Berlin 1983, S. 681). 32 Planck nahm ausdrücklich auf Windsekeid II § 438 Anm 19 Bezug, vgl aaO (Fn 31), S. 89. 33 Vgl die Wiedergabe des vollständigen Textes des § 19 Abs. 1 bis 5 öAußStrG bei Purbs aaO (Fn 2), S. 13f. 34 Vgl dazu nur Rechberger/Oberbammer Exekutionsrecht, Wien (1997), Rn 13. 35 Vgl Planck Entwurf eines Gesetzes für das Deutsche Reich betreffend Angelegenheiten der nichtstreitigen Rechtspflege, Berlin (1888), S. 6, 18 f (=Nachdruck hrsg. von Schubert aaO, S. 788, 816 f). 36 Vgl Planck aaO (Fn 35), S. 19.
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b) auf, falls die Kommission weitere Vorschriften über die Zwangsgewalt „für angemessen erachte" 3 ^ Der. 2. Entwurf von Planck wurde jedoch der 1. Kommission zur Beratung des BGB nicht mehr vorgelegt und blieb daher dort unberücksichtigt. 38 2. Die Beratungen
des Gesetzesentwurfs
zum
FGG
Der 1897 vom Reichstag dem Bundestag vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit" enthielt zunächst überhaupt keine allgemeine Bestimmung mehr über etwaige Zwangsmittel. Auf den Vorhalt eines Kommissionsmitglieds, „wie ein Gericht in seinem eignen Amtsbezirk zur Vollziehung seiner eigenen Beschlüsse schreiten" solle, verwies der Bundesratsvertreter darauf, daß „das Bedürfnis nach reichseinheitlicher Regelung nicht bestehe; insoweit solle die Regelung gemäß § 196 Entw. (= § 200 FGG) der Landesgesetzgebung verbleiben" 39 . Später wurde dennoch aus der Mitte der Kommission der Antrag auf Einfügung eines § 30a eingebracht, wonach aus „rechtskräftigen Entscheidungen sowie aus den zu richterlichem Protokoll erklärten Vergleichen die Zwangsvollstreckung stattfinden" und die §§ 703, 705 C P O (= §§ 795, 797 ZPO) Anwendung finden sollten, um die „Lücke des Entwurfs" - gleichsam in Verallgemeinerung des § 94 Entw. (= § 98 FGG) für Auseinandersetzungssachen - zu schließen. 40 Dagegen bekräftigten die Vertreter des Bundesrats, daß „die Regelung der Zwangsgewalt grundsätzlich der Landesgesetzgebung (zu) überlassen" sei. Auch eigne sich eine derartige Verallgemeinerung nicht, da „die meisten Entscheidungen nicht erst mit der Rechtskraft, sondern sofort wirksam" und vielfach „überhaupt nicht der Vollstreckung fähig", jedenfalls regelmäßig nicht „auf die Leistung von Geld" gerichtet seien, zudem die zu ordnenden Rechtsverhältnisse häufig „der Verfügungsgewalt der Beteiligten entzogen" seien.41 Danach wurde der Antrag nicht mehr weiterverfolgt. Im Hinblick darauf, daß der Entwurf in Einzelfällen „Ordnungsstrafen" vorsah, hielt man schließlich die Einfügung eines § 31a Entw. für angebracht, um mit zwei allgemeinen Kautelen dem „Mißbrauch" vorzubeugen und zugleich ihren Charakter als „Zwangsmittel" statt „eigentlicher Strafe" klarzustellen: Es „muß der Festsetzung der Strafe eine Androhung vorausgesehen" und „die einzelne Strafe darf den Betrag von 300 Mark nicht übersteigen" 42 . Dieser Vorschlag wurde mit geringfügigen redaktionellen Ande37
Vgl Planck aaO, S. 19f. Vgl dazu auch Nussbaum aaO (Fn 1), S. 460 Anm 50. 39 Vgl Hahn-Mugdan Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd VII, Materialien zum Gesetz über die Angelegenheiten der freiw. Gerichtsbarkeit (1898), S. 107. 40 Vgl Habn-Mugdan aaO (Fn 39), S. 132. 4 ' Vgl Hahn-Mugdan aaO (Fn 39), S. 132. 42 Vgl Habn-Mugdan aaO (Fn 39), S. 133. 38
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rangen in § 33 FGG in der Fassung vom 17. 5. 1898 (RGBl. S. 189) zum Gesetz. In der ursprünglichen Fassung des FGG blieb damit die „Vollstreckung" in der freiwilligen Gerichtsbarkeit - abgesehen von den Rahmenbestimmungen über die gerichtliche „Androhung der Ordnungsstrafe" und das Höchstmaß der „einzelnen Strafe" in § 33 FGG - reichsgesetzlich ungeregelt und gemäß § 200 FGG der Landesgesetzgebung vorbehalten 3. Die Verweisung auf das Landesrecht Bemerkenswert ist immerhin, daß die meisten Landesgesetze den ursprünglichen § 41 des 1. Planck'sehen Entwurfs inhaltlich und teilweise sogar wörtlich übernahmen wie insbesondere die Art. 15 bis 17 des Preußischen Gesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit vom 21. 9. 189943; im Hauptunterschied zum Planck'sehen Entwurf, der in § 41 Nr. 1 als Zwangsmittel auch die „Haft" vorsah, schränkte Art. 15 P r F G G indes ein: „die Ordnungsstrafen dürfen nur in Geld bestehen." Infolge der auf eine abschließende Regelung im Sinne des sog. Kodifikationsprinzips verzichtenden Konzeption des FGG 44 sind damit leider die für die betroffenen Beteiligten so wichtigen Fragen der Ermächtigung der Rechtspflegeorgane zur Zwangsanwendung auf die Ebene der Landesgesetzgebung abgeschoben worden. Die darin zum Ausdruck gekommene Geringschätzung der Bedeutung des Vollstreckungszwangs durch den Gesetzgeber des FGG ist die Hauptursache für das insoweit noch heute zu konstatierende mangelnde Regelungsinteresse - ganz im Gegensatz zum Bedeutungszuwachs, den demgegenüber die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung erfahren hat
4. Die Eingliederung in das FGG und die späteren Änderungen des § 33 FGG Das von Beginn an als „schmerzlich" empfundene „Fehlen einer reichsgesetzlichen Regelung des Zwangsvollzugs" 45 , das auch in der Praxis viele Zweifelsfragen auslöste, 46 wurde erst gelegentlich der Änderung des Grund43 Vgl dazu auch Nussbaum aaO (Fn 1), S. 433 m N in Anm 7; zur „hohen Bedeutung" der Art. 15 ff P r F G G für die im FGG selbst ungeregelt gebliebenen „Zwangsvollstreckung" s. auch Scblegelberger Kommentar zum FGG, 2. Aufl (1914), Einleitung S. XXXIV sowie Text mit Erläuterung im Anhang nach § 33. 44 Zur „Ablehnung des Kodifikationsprinzips" durch den Gesetzgeben des FGG s. auch Baur aaO (Fn 4), § 3 A I (S. 50 f). 45 So schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 494. 46 Vgl RGZ 57, 134, 136 ff zu der Frage, ob das Vormundschaftsgericht zur Erzwingung der Einreichung des Vermögensverzeichnisses gemäß § 1640 BGB gegen den Inhaber der elterlichen Gewalt Ordnungsstrafen verhängen darf; dazu auch RGZ 80, 65, 67 f; ferner RGZ 127, 103, 106 zur - damals - mangelnden Vollstreckbarkeit des Beschlußes des Vormund-
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buchverfahrens durch Art. 4 der V O vom 5. 8. 1935 (RGBl I S. 1005) behoben, und zwar durch fast wörtliche Übernahme der Art. 15 bis 17 P r F G G vom 21. 9. 189947 in den nunmehr in drei Absätzen neugefaßten § 33 FGG, was im Grunde nichts anderes als die Wiederbelebung des § 41 des 1. Plank'sehen Entwurfs von 1881 bedeutete. 4 8 Lediglich das Höchstmaß der einzelnen „Ordnungsstrafe" wurde zugleich auf 1000 RM angehoben. Die weiteren Änderungen des § 33 F G G beschränkten sich zunächst auf rein redaktionelle Anpassungen, so durch Ersetzung des ebenfalls 1935 in die Vorschrift übernommenen „Offenbarungseids" durch die „eidesstattliche Versicherung" mit Gesetz vom 27 6. 1970 (BGBl. I S. 911) sowie durch Ersetzung des Begriffs der „Ordnungsstrafe" durch den des „Zwangsgeldes" gemäß Art. 105 des EGStGB vom 2. 4. 1974 (BGBl. I S. 469), um den von vornherein mit der Maßregel verfolgten Zweck des Beugezwangs im Rahmen der zivilgerichtlichen Vollstreckungsnorm zu verdeutlichen. Erst aufgrund einer Gesetzesinitiative des Landes Berlin, 49 die sich der Bundesrat zu eigen machte, 5 0 wurden durch das Gesetz zur Ausführung von Sorgerechtsübereinkommen und zur Änderung des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie anderer Gesetze vom 5. 4. 1990 (BGBl. I S. 701) die in § 33 FGG vorgesehenen Zwangsmittel wesentlich verschärft und erweitert. Einmal wurde das Höchstmaß des einzelnen Zwangsgeldes - in Anpassung an § 888 I S. 2 Z P O - von 1000 DM auf 50 000 D M angehoben, zum anderen als „Kernstück" der Neuregelung die Anordnung der „Zwangshaft" bis zu sechs Monaten bei Verweigerung der Kindesherausgabe eingeführt, 51 und zwar „unabhängig" von der Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen den Pflichtigen (§ 33 I S. 2 F G G n.F.), und es kann wiederum „unabhängig" von diesen Zwangsmitteln aufgrund einer besonderen Verfügung des Familiengerichts auch Gewalt angewendet werden, wenn die Herausgabeanordnung ohne Gewalt nicht durchsetzbar ist (§ 33 II S. 1 FGG n.F.). O b w o h l Anlaß für die Neuregelung das Haager Ubereinkommen vom 25. 10. 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl. 1990 II S. 207) und das Europäische Ubereinkommen vom 20. 5. 1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
schaftsgerichts über die Festsetzung einer Vergütung für den Pfleger nach § 1836 BGB - anders heute nach § 56 g VI FGG. 47 Vgl dazu schon oben zu Fn 43. 48 Vgl oben zu Fn 41. 49 Gesetzesantrag des Landes Berlin zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 5. 9. 1988, BR-Drucks 405/88. 50 Vgl BT-Drucks 11/3622. 51 Im Grunde bedeutet dies die Wiedereinführung der „Haft" als Zwangsmittel, die schon der Planck'sche Entwurf von 1881 vorsah; s. schon oben ζ Fn 31 und nach Fn 43.
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über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses (BGBl. 1990 II S. 220) war, 52 war es erklärtes Ziel der Änderung des § 33 F G G , auch außerhalb der beiden multilateralen Ubereinkommen ebenso im innerstaatlichen Recht die Rückgabe des Kindes effektiver durchsetzbar zu machen. 5 3 Die Zwangshaft soll vor allem in den Fällen sofort verhängt werden können, in denen Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Pflichtige das bereits in seiner Gewalt befindliche Kind ins Ausland bringen will (vgl. § 33 III S. 4 F G G n.F.). 5 4 Im Zusammenhang damit sieht § 24 I S. 2 F G G n.F. vor, daß der Beschwerde gegen die Anordnung der Zwangshaft keine aufschiebende Wirkung zukommt. 5 5 Seit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 19. 12. 1997 (BGBl. I S. 2942) wird durch den neu eingefügten § 33 II S. 2 F G G einschränkend klargestellt, daß eine Gewaltanwendung allein zum Zwecke der Durchsetzung des Umgangsrechts gegen ein sich weigerndes Kind nicht zulässig ist. 5 6 Die letzte Gesetzesänderung durch die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle vom 17. 12. 1997 beschränkt sich - wie schon erwähnt 57 - auf eine redaktionelle Anpassung an die in § 33 III S. 5 F G G n.F. in Bezug genommenen geänderten Vorschriften der Z P O über den Vollzug der Haft nach §§ 901, 904 bis 906, 9 0 9 1 , II, 910, 913 Z P O n.F., ohne - entsprechend der Einfügung des § 758 a Z P O für die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung - gemäß den Anforderungen des Art. 13 II G G die gesetzlichen Voraussetzungen einer Wohnungsdurchsuchung im Zusammenhang mit der Herausgabevollstreckung nach § 33 II F G G zu bestimmen. 5 8 5. Der verbleibende Befund einer rückständigen Regelung Die wenigen nennenswerten Änderungen, die § 33 F G G seit seinem Inkrafttreten vor über 100 Jahren und der Übernahme des ebenso alten preußischen Rechts im Jahre 1935 erfahren hat, lassen seine Regelung neben den Vgl dazu auch Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 12 III 3 (S. 154) mwN in Anm 141. Vgl amdiche Begründung, BT-Drucks 11/3622, S. 4; dazu auch Manuela Jorzik Das neue zivilrechdiche Kindesentführungsrecht, Bielefeld (1995), S. 124; kritisch gegen die unterschiedslose Anwendbarkeit des § 33 II FGG nF „auf sämtliche Vollzugsvorgänge des binnenstaatlichen Bereichs" Dickmeis Verfehlt § 33 II FGG seinen Zweck - Kindeswohlorientierte Entscheidungen des Familiengerichts und ihr Vollzug, NJW 1992, 537 f: doch ist seiner - überzogenen - Kritik, die allenfalls in Bezug auf die Gleichstellung der Umgangsregelung eine gewisse Berechtigung hat, nicht zu folgen. 54 Vgl Begründung des Gesetzesantrags des Landes Berlin, BR-Drucks 405/88 S. 4. 55 Damit soll „insbesondere in Fällen des § 33 II S. 4 FGG" der „Sofortvollzug der Haftanordnung" gesichert werden, vgl BR-Drucks 405/88, S. 5. 56 Vgl amtliche Begründung, BT-Drucks 13/4899, S. 128. 57 Vgl oben Text nach Fn 18. 58 Vgl BVerfG, Kammerbeschluß vom 19. 11. 1999, FamRZ 2000, 411 f = NJW 2000, 943 f und dazu schon oben zu Fn 17 f. 52
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Forschritten der Zwangsvollstreckung der streitigen Gerichtsbarkeit im Zuge der Novellengesetzgebung zum 8. Buch der ZPO als geradezu rückständig erscheinen, weithin noch beharrend auf dem Stand des 1. RedaktorEntwurfs von 1881.
IV. Die untauglichen Reformansätze Ebenso wenig wurde die Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit in der Reformdiskussion thematisiert. 1. Mangelnde Vorgaben durch die „ Weißbuch "-Kommission 1961 Zwar wurde das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit schon im „Bericht der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit" 1961 hervorgehoben, 59 in dem sog. „Weißbuch" trotz des beachtlichen Umfangs 60 seines der freiwilligen Gerichtsbarkeit gewidmeten Teils die „Vollstreckung" aber mit keinem Wort erwähnt. 2. Der mißglückte „Entwurf einer Verfahrensordnung für die freiwillige Gerichtsbarkeit" (§§ 84 bis 89 EFrGO) 1977 Erst der „Bericht der Kommission für das Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit" 1977 schlägt in seinem „Entwurf einer Verfahrensordnung für die freiwillige Gerichtsbarkeit (FrGO)" im 9. Abschnitt in den §§ 84 bis 89 F r G O einige Vorschriften über die Vollstreckung vor.61 Sie enthalten aber nur eine redaktionelle Aufteilung des § 33 FGG in äußerlich voneinander getrennte Bestimmungen nach dem Muster der Art.15 bis 17 P r F G G von 1899, indes ohne deren genauere Kasuistik und mit einigen dennoch erhofften Klarstellungen. Doch obwohl es eines der erklärten Ziele des Kommissionsentwurfs war, eine „Koordinierung mit anderen Verfahrensordnungen" herbeizuführen, um „alle nicht gebotenen Abweichungen" zu vermeiden, 62 ist eine Orientierung an den Parallelvorschriften der §§ 883 bis 892 ZPO unterblieben. Dies hat - abgesehen von der den §§ 888 I, 890 I ZPO entsprechenden Klarstellung der Zuständigkeit des „Gerichts des ersten Rechtszugs"
59 Bericht der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit, herausg. vom Bundesjustizministerium, 1961, S. 285 ff, insbes. S. 368ff. 60 Vgl den Kommissionsbericht aaO (Fn 59), S. 285 bis 413. 61 Bericht der Kommission für das Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit, hrsg vom Bundesministerium der Justiz, 1977, S. 42 f, 140f. 62 Vgl die Begründung des Kommissionsberichts aaO (Fn 61), S. 92.
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(§ 84 EFrGO) 6 3 - zu einer völlig unerklärlichen Ausweitung des „unmittelbaren Zwangs" auf den Gesamtbereich der Handlungsvollstreckung geführt, 6 4 während den Besonderheiten der Vollstreckung auf Herausgabe einer Person überhaupt nicht mehr Rechnung getragen wird, sondern nur noch ihr Fehlschlag als Voraussetzung für die eidesstattliche Versicherung in § 87 EFrGO Erwähnung findet. So geht § 86 E F r G O allgemein davon aus, daß „unmittelbarer Zwang angeordnet werden kann" hinsichtlich jeder „Vornahme einer Handlung", sofern nur „der Beteiligte eine Frist, die ihm zur Vornahme einer Handlung gesetzt worden ist, verstreichen läßt" oder „wenn er durch seinen Widerstand trotz Androhung eines Zwangsgeldes" eine zu duldende Handlung „verhindert oder wenn er eine untersagte Handlung vornimmt." Eine derartig weitgehende Eröffnung des „unmittelbaren Zwangs" im Rahmen der Handlungsvollstreckung ist ganz neuartig und systemwidrig, da unser Vollstreckungssystem den „unmittelbaren Zwang" durch „Gewaltanwendung" nur zum Zwecke der Sach- und Personenherausgabe (§ 33 II FGG, § 883 ZPO) sowie „zur Beseitigung des Widerstandes" gegen eine zu duldende Handlung kennt (§ 892 ZPO). 6 5 Allein die Anknüpfung an eine Fristsetzung sowohl für die Festsetzung des Zwangsgeldes (§ 85 III, IV E F r G O ) als auch für die Anwendung des unmittelbaren Zwanges, sofern nicht Gefahr im Verzuge vorliegt (§ 86 I, II E F r G O ) , erscheint klarstellend sinnvoll, entspricht allerdings bisher schon verbreiteter Praxis 66 und war sogar schon in § 41 Nr. 1IV des 1. Planck'sehen Entwurfs von 1881 vorgesehen. Dagegen ist auffällig, daß der Kommissions-Entwurf ebenso wenig wie der geltende § 33 FGG entgegen § 887 ZPO eine Vollstreckungsmöglichkeit im Wege der kostenpflichtigen Ersatzvornahme kennt, den der 1. Planck'sehe Entwurf in § 41 Nr. 1 III noch für Fälle vorsah, in welchen „die zu erzwingende Handlung durch einen Dritten vorgenommen werden
63 Wenn die Begründung aaO (Fn 61), S. 104, für die Zuständigkeit des „Gerichts, das die Entscheidung erlassen hat", anführt, „ein besonderes Vollstreckungsgericht" gebe es in der FG nicht, so ist der Hinweis hier allerdings verfehlt, da auch in der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung gemäß §§ 888 I, 890 I ZPO für die Handlungsvollstreckung das „Prozessgericht des ersten Rechtszugs" zuständig ist und nicht etwa das sonst zuständige „Vollstreckungsgericht". Zur Sachgerechtigkeit der Zuweisung der Handlungsvollstreckung an das Prozessgericht s. Rosenberg/Gaul/Scbilken aaO (Fn 3), § 29 III (S. 487 f). 64 Die Begründung zu § 86 E F r G O aaO (Fn 61), S. 140 f gibt über die nach dem Entwurf vorgesehene allgemeine Zulassung des „unmittelbaren Zwangs" neben dem „Zwangsgeld" keinen Aufschluß, wie überhaupt eine grundsätzliche Stellungnahme zur „Vollstreckung" in der FG fehlt. 65 Zu den Grundprinzipien der „Vollstreckungsarten" s. Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 9 I bis IV (S. 93 ff). 66 Vgl Scblegelberger FGG, Ζ Aufl, Band I (1956), § 33 Rn 9; Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 22 c; Bumiller/WinklerVGG, Ζ Aufl (1999), § 33 Rn 11.
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kann". Denn daß in der freiwilligen Gerichtsbarkeit nur zu erzwingende „Handlungen" eines Pflichtigen denkbar sein sollten, „die ausschließlich von seinem Willen abhängen" (§ 33 I S. 1 FGG), leuchtet kaum ein. Vielmehr zeigen etwa die §§ 1640 III, 1802 III BGB mit der dort vorgesehenen Anordnung der Inventarerrichtung durch einen Notar oder eine andere zuständige Behörde anstelle der pflichtigen Eltern oder des Vormunds, daß es sich jeweils der Sache nach um eine kostenpflichtigen Ersatzvornahme handelt, die sich durchaus entsprechend § 887 ZPO vollstreckungsrechtlich ausformen läßt. Zweckmäßig mag § 88 I E F r G O erscheinen, wenn er vorsieht: „Wird ein Beteiligter durch die Entscheidung zu einer vermögensrechtlichen Leistung an einen anderen Beteiligten verpflichtet, so gelten für die Zwangsvollstrekkung die Vorschriften der ZPO entsprechend." Nach der beigegebenen Begründung sollen damit die einzelnen Sondervorschriften für die sog. echten Streitsachen (wie z. B. § 53 a IV F G G , § 16 III HausrVO, § 45 III WEG) 6 7 zu einer „allgemeinen" Regel zusammengefaßt werden. 68 Allerdings hat die FG-Kommission 1977 im Gegensatz zu den Vorschlägen der Weißbuch-Kommission 196169 davon abgesehen, seiner Konzeption die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den sog. klassischen Rechtsfürsorgeangelegenheiten und den sog. echten Streitsachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugrunde zu legen und für letztere „gleichartige Sonderbestimmungen gemäß den zivilprozessualen Grundsätzen" aufzustellen. Vielmehr hat sie sich „für die Ausarbeitung einer geschlossenen neuen Verfahrensordnung entschieden" mit der Zusammenfassung „sämtlicher Vorschriften" im I. Teil, „die für alle Gebiete der freiwilligen Gerichtsbarkeit möglichst einheitlich gelten sollen" 70 . In der Tat ist eine scharfe schematische Trennung wegen der vielfach übergreifenden Problematik schwierig. Denn auch in Rechtsfürsorgeangelegenheiten stehen sich die Beteiligten häufig mit widerstreitenden Interessen oft sogar bedeutsamerer Art als in normalen Streitsachen gegenüber, die nach einem ebenso wirksamen Rechtsschutz verlangen.71 Soweit § 88 I E F r G O für alle auf eine „vermögensrechtliche Leistung" unter den Beteiligten lautenden Entscheidungen die ZPO-Vorschriften über die „Zwangsvollstreckung" für anwendbar erklärt, wurde offenbar nicht bedacht, daß auch die Anordnung auf „Herausgabe einer Sache" gemäß § 33 II S. 1 F G G von dem in § 88 I E F r G O gewählten Begriff der „vermögensrechtVgl dazu schon die vor Fn 9 aufgezählten Streitsachen. Vgl die Begründung zu § 88 I aaO (Fn 61), S. 141. 69 Kommissionsbericht aaO (Fn 59), S. 326, 368, 392ff. 70 Bericht der FG-Kommission aaO (Fn 61), S. 17 f. 71 Grundsätzlich ebenso Kollhosser Zur Problematik eines „Allgemeinen Teils" in einer Verfahrensordnung für die freiwillige Gerichtsbarkeit, ZZP 93 (1980), 265, 272; speziell zur Wiederaufnahme in der freiwilligen Gerichtsbarkeit Gaul aaO (Fn 19), S. 99, 106. 67 68
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liehen Leistung" umfaßt wird, für deren Vollstreckung aber bisher die Regeln des § 33 II FGG gelten. Das betrifft etwa die Herausgabe des Erbscheins nach Anordnung der Einziehung (§ 2361 BGB) oder des unrichtigen Testamentsvollstreckerzeugnisses (§ 2368 III BGB) oder die Herausgabe oder Vorlage von Büchern und Papieren nach §§ 157, 166 HGB, § 273 AktG, aber auch die Herausgabe der persönlichen Sachen des Kindes, für die seit dem 1. 1. 1980 der durch das SorgeRG vom 18. 7. 1979 (BGBl. I S. 1061) eingefügte § 50 d FGG dem Familiengericht zusätzlich die Möglichkeit gibt, ihre Herausgabe durch einstweilige Anordnung zu regeln. 72 Letztere steht im engen Zusammenhang mit der nach § 33 II FGG zu vollstreckenden Anordnung auf Herausgabe der Person des Kindes aufgrund § 1632 BGB. Das nötigt hier zu demselben Vollstreckungsweg. 73 Es wäre deshalb nicht sachgerecht, sie künftig den Regeln über die Herausgabevollstreckung nach §§ 883 ff. ZPO zuzuweisen. Ebenso sollten die übrigen bisher von § 33 II ZPO erfaßten Fälle der „Herausgabe einer Sache" besser dort verbleiben. Die Abgrenzungsschwierigkeiten beruhen namentlich darauf, daß die in § 88 I E F r G O in Bezug genommenen „Zwangsvollstreckungsvorschriften der ZPO" die Kategorie der „vermögensrechtlichen Leistungen" als besondere Vollstreckungsart nicht kennen, sondern die Unterscheidung zwischen der „Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen" (Überschrift des 2. Abschnitts vor § 803 ZPO) und der „Zwangsvollstreckung zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen und zur Erwirkung von Handlungen und Unterlassungen" (Uberschrift des 3. Abschnitts vor § 883 ZPO) zugrunde legen. 74 Die Übernahme der Terminologie „Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen" wäre aber wiederum für die von § 88 I E F r G O erfaßten Streitsachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu eng, da die Entscheidungen in Streitsachen wie z.B. die nach § 16 III HausrVO auch auf Herausgabe von 72 Vgl dazu BT-Drucks 7/2060, S. 52; 8/2788, S. 74. Danach war ursprünglich eine entsprechende Anspruchsgrundlage für die Herausgabe der notwendigen Sachen des Kindes im Zusammenhang mit dem Kindesherausgabeverlangen im materiellen Recht vorgesehen (als § 1632 I S. 2 BGBE); später bevorzugte man die Ausgestaltung als einstweilige Anordnung durch Einfügung des § 50 d FGG ins Verfahrensrecht zwecks vorläufiger Sicherung des Kindesbedarfs unter Vorbehalt der endgültigen Klärung der Eigentumsverhältnisse im Wege des ordentlichen Prozesses, vgl Soergel/Strätz Kommentar zum BGB, 12. Aufl (1987), § 1632 Rn 12; Ermzn/Michalski Kommentar zum BGB, 10. Aufl (2000), § 1632 Rn 16. 73 Die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung nach § 50 d FGG erfolgt deshalb nach ganz hM gemäß § 33 FGG, vgl Schüler Oie Kindesherausgabevollstreckung seit dem 1. 1. 1980, DGVZ 1980, S. 97, 101 f; Purbs aaO (Fn 2), S. 182 f; Keidel/Engelhardt aaO (Fn 11), § 50 d Rn 6; Bassenge FGG, 8. Aufl (1999), § 50 d Rn 1 ; - aA Bumiller/ Winkler aaO (Fn 66), § 50 d Rn 2 (Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der ZPO). - Zur Verbindung mit einer einstweiligen Anordnung auf Kindesherausgabe und zur Notwendigkeit eines vollstreckungsfähigen Inhalts bezüglich der herauszugebenden Sachen des Kindes s. OLG Zweibrücken, FamRZ 1983, 1162 f. 74 Zu dem der ZPO zugrunde liegenden System der Vollstreckungsarten s. Rosenberg/ Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 9 II (S. 94 f)·
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Hausrat lauten können und dann nach den §§ 883, 893 ZPO zu vollstrecken sind. 75 Daraus folgt, daß sich zumindest für das anzuwendende Vollstreckungsverfahren 76 die bisherige Unterscheidung zwischen sog. Rechtsfürsorgeangelegenheiten und sog. echten Streitsachen nicht vermeiden läßt, da nur für letztere - wegen der ähnlichen Interessenlage - eine Verweisung auf die Vorschriften der ZPO über die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung geboten erscheint. 77 Dem trägt die in § 88 I E F r G O vorgeschlagene Fassung nicht deutlich genug Rechnung. Geradezu verfehlt erscheint der Vorschlag in § 88 II E F r G O : „Vollstrekkungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszuges." Denn wenn gemäß § 88 I E F r G O „für die Zwangsvollstreckung die Vorschriften der ZPO entsprechend gelten" sollen, dann kann folgerichtig dafür zuständig sein nur das „Amtsgericht als Vollstreckungsgericht" (§ 764 I ZPO), und zwar, sofern die ZPO keine andere örtliche Zuständigkeit vorsieht, „das Amtsgericht, in dessen Bezirk das Vollstreckungsverfahren stattfinden soll oder stattgefunden hat" (§ 764 II ZPO). Hier ebenso wie schon in der vorgeschlagenen allgemeinen Zuständigkeitsregel des § 84 S. 1 E F r G O „das Gericht des ersten Rechtszuges" wiederum für zuständig zu erklären, ist abwegig. Während nämlich die Zuweisung der Handlungsvollstreckung an die identisch erkennende Instanz Sinn macht, 78 ist umgekehrt für die der „Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen" nach §§ 803 ff. ZPO wesensverwandte Vollstreckung aus Entscheidungen in sog. echten Streitsachen allein die Zuständigkeit des „Vollstreckungsgerichts" als die mit den betreffenden Vollstreckungsvorgängen vertraute Spezialinstanz begründet. 79 Lautet etwa die Entscheidung des Familiengerichts auf Zahlung des Versorgungsausgleichs und soll die Zwangsvollstreckung gemäß § 53 g III FGG, §§ 828 ff. ZPO in Geldforderungen des Ausgleichsschuldners betrieben werden, so ist der dazu notwendige Pfändungs- und Uberweisungsbeschluß auf Antrag des ausgleichsberechtigten Ehegatten von dem gemäß 75 Vgl das Beispiel OLG Koblenz, FamRZ 1983, 507 f: Vermag der Herausgabeschuldner nach § 16 III HausrVO iVm § 883 ZPO den Hausrat nicht mehr herauszugeben, kann der Gläubiger zum Schadensersatzanspruch übergehen, der beim Prozeßgericht des ersten Rechtszugs zu verfolgen ist (§ 893 II ZPO). 76 Ein anderer Befund ergibt sich für die Wiederaufnahme des Verfahrens, vgl Gaul aaO (Fn 19), S. 99, 106ff. 77 Entgegen dem FrGO-Entwurf 1977 spricht sich generell mit dem Vorschlag der Weißbuch-Kommission 1961 für die Beihaltung der Unterscheidung aus Zimmermann Fehlende Unterscheidung zwischen Streitsachen und Nichtstreitsachen, Rpfleger 1980, 209 ff, jedoch ohne ihre Notwendigkeit gerade für die Vollstreckung zu erwähnen. 78 Vgl schon oben zu Fn 63. 79 Zur Bedeutung des „Vollstreckungsgerichts" als zentraler Vollstreckungsinstanz s. grundsätzlich Gaul Zur Reform des Zwangsvollstreckungsrechts, JZ 1973, 472, 477 ff; auch Rosenberg/Gaul/Scbilken aaO (Fn 3), § 4 IV (S. 43 f), § 27 I (S. 472), § 28 VI (S. 485 f).
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§ 828 I, II ZPO „zuständigen Vollstreckungsgericht" zu erlassen. Ebenso ist gemäß § 1 I 2VG „als Vollstreckungsgericht das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk des Grundstück belegen ist", wenn wegen der Ausgleichsforderung die Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung eines Grundstücks des Ausgleichsschuldners betrieben werden soll. Das Familiengericht ist für diese Vollsteckungsaufgaben schon von Natur aus untauglich. Lautet die Entscheidung des Familiengerichts auf Herausgabe des Hausrats, so findet gemäß § 16 III HausrVO „die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung" in der Weise statt, daß der berechtigte Ehegatte unmittelbar bei dem zuständigen Gerichtsvollzieher gemäß § 883 I ZPO die Wegnahme und Ubergabe der betreffenden Sachen beantragt 80 . Auch hier scheidet eine Zuständigkeit des Familiengerichts nach § 33 II FGG in dem Sinne, daß der Gerichtsvollzieher nur aufgrund besonderer Anordnung der Gewaltanwendung und Anweisung des Gerichts tätig werden dürfte, von vornherein aus, da er als das für die Herausgabevollstreckung zuständige Organ gemäß § 883 ZPO schon kraft Gesetzes zur Wegnahme der herauszugebenden Sachen ermächtigt ist. Unterläuft dem Gerichtsvollzieher dabei ein Verfahrensfehler, so ist für die dagegen mögliche Erinnerung nach § 766 ZPO das Vollstreckungsgericht und nicht etwa das Familiengericht zuständig. 81 Nichts anderes gilt, wenn aus einem Zahlungstitel etwa in einer Streitsache über den Versorgungsausgleich die Mobiliarvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher nach § 53 g III FGG, §§ 803 ff. ZPO betrieben werden soll. Da in den sog. echten Streitsachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Vollstreckung jeweils nur auf Antrag des Leistungsberechtigten stattfindet, ist ihre Effektivität nur gewährleistet, wenn sich der Beteiligte unmittelbar an das „für die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der ZPO" zuständige Vollstreckungsorgan wenden kann. Das ist für die Mobiliar- und die Herausgabevollstreckung der zuständige Gerichtsvollzieher (§ 753, §§ 803 ff., 883 ff. ZPO) und für die Forderungs- und Rechtspfändung sowie für die Immobiliarvollstreckung das zuständige Vollstreckungsgericht (SS 828 ff. ZPO, §S 1 ff· ZVG). Die damit befaßten Organe der Zwangsvollstreckung üben ihre Vollstreckungstätigkeit selbständig und eigenverantwortlich nach Maßgabe der Vorschriften der ZPO aus und unterliegen dabei keinerlei Weisungen des Gerichts der freiwilligen Gerichtsbarkeit, das die vollstreckbare Entscheidung erlassen hat. Vielmehr mündet die Streitsache der freiwilligen Gerichtsbarkeit, indem das Gesetz die Vorschriften des 8. Buchs der ZPO für anwendbar erklärt, in das zivilprozessuale Zwangsvollstreckungsverfahren in der Weise ein, daß für das weitere Verfahren und 80 81
Vgl schon oben Fn 75 mit Hinweis auf OLG Koblenz, FamRZ 1983, 507 f. Vgl dazu schon oben zu Fn 11.
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die dort vorgesehenen Rechtsbehelfe n u n m e h r die Regeln der Z P O und des ZVG gelten. Danach erweist sich der Vorschlag des § 88 II E F r G O , dem „Gericht des ersten Rechtszugs" die Aufgaben des „Vollstreckungsgerichts" in den Streitsachen zu übertragen, als unhaltbar. Insgesamt kann man die von der FG-Kommission 1977 in den §§ 84 bis 89 E F r G O vorgeschlagene Regelung der „Vollstreckung" in der freiwilligen Gerichtsbarkeit nur als mißglückt bezeichnen. Nicht nur ist eine konsequente Verweisung auf den Weg der „Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der Z P O " für echte Streitsachen in Abgrenzung von der Vollstrekkung in Rechtsfürsorgeangelegenheiten mißlungen, sondern auch eine konkretere Ausgestaltung der Vollstreckung der Entscheidungen im Kernbereich der Rechtsfürsorge. Die mehr oder minder beziehungslose Aneinanderreihung der möglichen Zwangsmittel, nämlich der „Festsetzung von Zwangsgeld" (§ 85 E F r G O ) - z u d e m ohne betragsmäßige Begrenzung 8 2 und der A n o r d n u n g des „unmittelbaren Zwangs" (§ 86 E F r G O ) sowie der Verpflichtung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, falls die herauszugebende Person oder Sache nicht vorgefunden wird (§ 87 E F r G O ) , genügt nicht den gesetzlichen Bestimmtheitsanforderungen. Demgegenüber fehlt ein Regelungsvorschlag zur Möglichkeit einer „Zwangshaft" als wirksameres Beugemittel gegen einen mittellosen Pflichtigen oder bei drohender Kindesentführung sowie ein Vorschlag zur kostenpflichtigen Ersatzvornahme entsprechend § 887 Z P O , wenn die zu erzwingende H a n d lung durch einen Dritten vorgenommen werden kann. Vor allem wird der Kommissionsentwurf 1977 in keiner Weise den Besonderheiten der Erzwingung der Herausgabe einer Person und namentlich der Kindesherausgabe gerecht. 3. Das mangelnde Interesse an einer grundlegenden
Reformdiskussion
Bemerkenswerterweise sind die Vorschläge der FG-Kommission 1977 zur „Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit" in der anschließenden Reformdiskussion auf keinerlei Interesse gestoßen. Zwar hat die Vereinigung der Zivilprozessrechtslehrer das Thema „Zur Problematik eines A l l gemeinen Teils' in einer Verfahrensordnung der freiwilligen Gerichtsbarkeit" z u m Gegenstand ihrer Göttinger Tagung 1980 gemacht. In den Referaten von Kollhosser83 und König?*wurde aber die Thematik der „Vollstreckung" nicht aufgegriffen. Auch in der übrigen Reformdiskussion ging 82
Die Begründung zu § 85 I ErfGO aaO (Fn 61), S 140, begnügt sich mit dem lapidaren Hinweis: „Die bisherige Beschränkung des Zwangsgeldes auf 1000 DM (§ 33 III S. 2 FGG) entfällt." - Zum seit 1990 geltenden Höchstmaß von 50000 DM s. schon oben zu Fn 51. 83 Vgl Kollhosser aaO (Fn 71), S. 265 ff. 84 Vgl König ZZP 93 (1980), 312 ff.
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man auf die Problematik der „Vollstreckung" in der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit keinem Wort ein.85 Das traditionelle Desinteresse an der Vollstreckungsproblematik führte somit dazu, daß man die betreffenden Vorschläge der FG-Kommission 1977 kritiklos hinnahm. Ein brauchbares Reformkonzept zur „Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit" steht demnach noch heute aus.
V. Hauptaspekte einer R e f o r m der Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit 1. Rechtsstaatlich
gebotener
Bewußtseinswandel
Sinnt man auf Abhilfe, so gilt es zunächst ein anderes Bewußtsein für die Bedeutung der „Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit" zu wecken. Die noch die Gesetzesberatung zum FGG beherrschende, später nur notdürftig korrigierte Grundeinstellung, eine Regelung über den Vollstrekkungszwang gehöre nicht in den engeren Kodifikationsrahmen des FGG, 8 6 hält den heutigen rechtsstaatlichen Anforderungen an ein dem Rechtsschutz dienendes Verfahrensgesetz nicht stand. Ebenso wenig vermag noch das obrigkeitsstaatlich geprägte „Richterbild" zu überzeugen, das auf die Beratung des FGG einwirkte, wie die Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete gemeinrechtliche Auffassung, der Richter könne „in Ermangelung besonderer gesetzlicher Vorschriften" schon kraft der mit seinem Richteramt verbundenen „Zwangsgewait" seine Verfügungen durchsetzen.87 Vielmehr bedarf er dazu jeweils einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung. Auch die „Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit" unterliegt wie die Zwangsvollstreckung nach den Regeln der ZPO als staatliches Eingriffsrecht dem Grundsatz strenger Gesetzmäßigkeit in dem Sinne, daß die Vollstreckungsvoraussetzungen und Zugriffstatbestände gesetzlich genau
8 5 Vgl Kuntze V e r f a h r e n s o r d n u n g für die freiwillige G e r i c h t s b a r k e i t , Z R P 1980, 15 ff; Zimmermann a a O (Fn 77), S. 2 0 9 ff; - eine p a u s c h a l e S t e l l u n g n a h m e findet sich lediglich bei Firscbing Z u m E n t w u r f einer V e r f a h r e n s o r d n u n g über die freiwillige G e r i c h t s b a r k e i t ( F r G O ) , F S G . B e i t z k e (1979), S. 981, 994, i n d e m er unter den „ ü b e r z e u g e n d e n Teilen" des E n t w u r f s , gegen die „rechtliche B e d e n k e n nicht b e s t e h e n " , n e b e n der „ W i e d e r a u f n a h m e des Verfahrens (§§ 80, 81 F r G O ) " auch die „Vollstreckung (§§ 8 4 - 8 9 F r G O ) " nennt, j e d o c h o h n e erkennbares P r o b l e m b e w u ß t s e i n für die jeweils d a m i t v e r b u n d e n e n F r a g e n , vgl d a g e gen in B e z u g auf die „ W i e d e r a u f n a h m e " s c h o n Gaul a a O (Fn 19), S. lOOf. 8 6 Vgl die N a c h w e i s e o b e n z u F n 39 ff; 44 ff. 8 7 Vgl zu der den V o r e n t w ü r f e n v o n Planck z u g r u n d e liegende gemeinrechtlichen A u f f a s s u n g o b e n z u F n 31 ff u n d i n s b e s . z u F n 36. Selbst Nussbaum a a O (Fn 1), S. 500 m e i n t e n o c h : „die G e w a l t a n w e n d u n g in der freiwilligen G e r i c h t s b a r k e i t vollzieht sich in völlig ungebundener Weise."
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bestimmt sein müssen. 88 Das Recht auf den „gesetzlichen Richter" aus Art. 101 I S. 2 GG gilt auch für die Beteiligten im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. 89 Zuständigkeit, Entscheidungsbefugnis und Aufgabenkreis des Richters müssen sich für jeden Einzelfall klar aus dem Gesetz und dem Geschäftsverteilungsplan ergeben. 90 Das Gebot des „gesetzlichen Richters" umfaßt als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips auch die Gewährleistung eines wirksamen Rechtschutzes in einem gesetzlich geordneten Verfahren. 91 Denn nur aus der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG, Art. 97 I GG) bezieht der Richter die notwendige Legitimation für die Ausübung der „richterlichen Gewalt". 92 Dies gilt namentlich für die Wahrnehmung seiner Aufgaben bei der Vollstreckung als intensivstem staatlichen Eingriffshandeln. Denn die Vollstreckung ist nur als Normenvollzug „legitim". Mit Recht hat deshalb jüngst der schon erwähnte Kammerbeschluß des BVerfG vom 19. 11. 199993 die Frage aufgeworfen, „ob § 33 II FGG eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Durchsuchung einer Wohnung" zum Zwecke der Kindesherausgabe bietet. Zwar hat er die Frage offen gelassen, jedoch eindeutig erkannt, daß mit der lediglich auf Kindesherausgabe lautenden einstweiligen Anordnung des Familiengerichts „die Durchsuchung nicht durch den gesetzlichen Richter" i.S. des Art. 13 II GG „angeordnet war". Der Gesetzesvorbehalt als Legitimationsgrundlage jedes staatlichen Eingriffshandelns ist mithin für die „Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit" nicht minder maßgebend wie für die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung und erfordert deshalb hier wie dort eine ebenso klare Normierung der Vollstreckungsvoraussetzungen wie der Zugriffstatbestände. Es liefe geradezu auf einen Widerspruch im Rechtssystem hinaus, wäre nur für die sog. echten Streitsachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit infolge der Verweisung auf die Vorschriften über die „Zwangsvollstreckung nach dem 8. Buch der ZPO" der dort ausnormierte volle Rechtsschutz erschlossen, während er den Beteiligten in dem für ihren persönlichen Lebensbereich weitaus sensibleren Rechtsfürsorgebereich vorenthalten bliebe. 88 Vgl dazu Rosenberg!Gaul!Sckilken aaO (Fn 3), § 1 III (S. 6 f), § 9 I (S. 93), § 31 I 1 (S. 491). 89 So ausdrücklich BVerfGE 21, 139, 144 ff = NJW 1967, 1123 f betreffend Nichtigkeit des § 6 II S. 2 FGG a.F. über den Ausschluß der Richterablehnung, da nach Art. 101 I S. 2 GG das „System der normativen Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters" auch das Recht zur Richterablehnung umfaßt. 90 BVerfG, aaO, S. 144 = NJW 1967, 1123. 91 Vgl Gaul Das Zuständigkeitsverhältnis der Zivilkammer zur Kammer für Handelssachen, JZ 1984, 563f. 92 Vgl Schilken Gerichtsverfassungsrecht, 2. Aufl (1994), Rn 31, 38, 296 f; 299, 452 ff; M. Wolf Gerichtsverfassungsrecht aller Verfahrenszweige, 6. Aufl (1987), § 7 II 1, III, IV, § 15 II, IV. 53 BVerfG, FamRZ 2000, 411 f = NJW 1900, 943 f und dazu schon oben zu Fn 17 f.
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Der hier verfügbare Raum gestattet es nicht, einen ins Einzelnen gehenden Regelungsvorschlag für die „Vollstreckung" im Rechtsfürsorgebereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu unterbreiten. Es können nur einige grundsätzliche Aspekte aufgezeigt werden, in welche Richtung eine Verbesserung der derzeitigen Regelung gehen sollte. 2. Strukturellen Eigenart der Vollstreckung in derfreiwilligen
Gerichtsbarkeit
Eine an den spezifischen Bedürfnissen der Rechtsfürsorgeangelegenheiten ausgerichtete Vollstreckungsordnung setzt zunächst voraus, daß man den betreffenden Kernbereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit in seiner Eigenart erfaßt. Repräsentativ für die heute vorherrschende Auffassung ist insoweit die Darstellung von Habscheid: „Die Vollstreckung hat in dem alten Bereich der Freiwilligen Gerichtsbarkeit ein anderes Wesen als im Zivilprozeß. Denn da es sich nicht um privatrechtliche Ansprüche der einen Partei gegen die andere handelt, über die der Richter befindet, so findet auch keine Vollstrekkung statt, die ein Beteiligter gegen einen anderen durchzuführen hätte." Vielmehr erfolgt „die Vollstreckung gegen einen Beteiligten oder eine sonstige Privatperson im öffentlichen Interesse, um staatliche Anordnungen durchzusetzen. Es handelt sich um den ,Vollzug' einer Anordnung. 9 4 Ahnlich formulierte es schon Nussbaum unmittelbar nach Inkraftreten des FGG: „Der Zwangsvollzug selbst - wie wir die Vollziehung von Verfügungen des Richters der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Gegensatz zur zivilprozessualen Zwangsvollstreckung kurz nennen wollen - steht unter dem Zeichen der Offizialmaxime; er wird nicht von den Privatinteressenten, sondern von dem Gericht - im öffentlichen Interesse - betrieben". 95 Seiner Schlußfolgerung, das Gericht entscheide deshalb „nach freiem Ermessen, inwieweit es Zwangsmittel anwenden will", 96 ist allerdings nach dem heutigen Verständnis der Vollstreckung als Normenvollzug nicht mehr uneingeschränkt zu folgen. 94 Habscheid aaO, S. 259; zum Mißverständnis dieser Stelle durch Pawlowski/Smid aaO (Fn 5), S. 175, s. schon oben Fn 5, vgl auch Bärmann aaO (Fn 4), S. 222: „§ 33 FGG ist zugeschnitten auf die Erzwingung eines im öffentlichen Interesse gebotenen Verhaltens .. ., auf das ein Verfahrensbeteiligte i.d.R. keinen Anspruch hat". - Ohne Problemsicht dagegen Munzel Freiwillige Gerichtsbarkeit und Zivilprozeß, ZZP 66 (1953), 334, 339: „Die Durchsetzung von Anordnungen der freiw. Gerichtsbarkeit unterscheidet sich in nichts dem Wesen nach von der in der ZPO geregelten Zwangsvollstreckung". 95 Nussbaum aaO (Fn 1), S. 477 f, 480. - Stark vereinfachend heißt es noch bei Lent Zivilprozeß und freiwillige Gerichtsbarkeit, ZZP 66 (1953), 267, 273: „Wo es aber in der Freiw. Gerichtsbarkeit überhaupt einer Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen bedarf ..., hat das Gericht selbst die Entscheidung zu vollstrecken; da kein Träger eines entsprechenden privaten Rechts vorhanden ist, gibt es keinen Vollstreckungsgläubiger." 96 Nussbaum aaO (Fn 1), S. 478.
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Das in den Beschreibungen des „Wesens" der Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit 97 zum Ausdruck kommende Bemühen, ihre Eigenart schon rein terminologisch von der zivilprozessualen „Zwangsvollstrekkung" abzugrenzen, dient gewiß der Klarheit. In der Tat ist „Zwangsvollstreckung" im technischen Sinne nur die nach den Regeln des 8. Buchs der ZPO betriebene Vollstreckung. 98 Doch ist die Scheu unangebracht, die „Vollstreckung" in der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch eindeutig als solche zu bezeichnen. Weder besteht Anlaß, stattdessen von „Zwangsvollzug" zu sprechen noch gar, nur „die schonendere Bezeichnung ,Vollzug' zu verwenden". 99 Das Gesetz selbst spricht in § 33 III S. 4 FGG von einer „Anordnung, die im Ausland vollstreckt werden müßte" und bezeichnet die Vollstreckungsmittel - nicht anders als die Parallelvorschriften der §§ 888, 892 i.V.m. § 758 Abs. 3 ZPO - mit „Zwangsgeld" oder „Zwangshaft" und „Gewaltanwendung" (§ 33 I s. 1 und 2, II S. 1, III FGG). Eine „schonendere" Sprache als die bewährte Gesetzessprache würde nur verwässern, daß es in Wahrheit auch hier um nichts anderes geht als um „Vollstreckung". 100 Problematisch erscheint allerdings die vorherrschende Charakterisierung, es erfolge „die Vollstreckung (nur) gegen einen Beteiligten oder eine sonstige Privatperson im öffentlichen Interesse, um staatliche Anordnungen durchzusetzen". 101 Das rückt die „Vollstreckung" in der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu sehr in die Nähe der Verwaltungsvollstreckung 102 und läßt wie alle Annäherungstendenzen an die öffentliche Verwaltung 103 - außer Acht, daß es auch in der freiwilligen Gerichtsbarkeit in erster Linie um die Verwirklichung der Privatrechtsordnung geht. 104
97 Zur Problematik der Frage nach „dem Wesen" der freiwilligen Gerichtsbarkeit s. Sawczuk aaO, (Fn 16), S. 653 ff, 656. 98 Vgl dazu Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 4 I 1 (S. 31). 99 So Dickmeis aaO (Fn 53), S. 537 zu Fn 6 mit dem Vorschlag, von „Vollzugsrecht des FGG" zu sprechen. 100 Unumwunden spricht denn auch die Lehrbuchliteratur meist von „Vollstreckung", so Habscheid aaO (Fn 4), § 36 I 1 (S. 259); ferner Baur aaO (Fn 4), § 26 (S. 279 ff); Bärmann aaO (Fn 4), § 36 (S. 222 ff); Brehm aaO (Fn 4); § 25 (S. 242 ff). 101 Vgl oben zu Fn 94. 102 Zur Eigenart der Verwaltungsvollstreckung s. Gaul Die Mitwirkung des Zivilgerichts an der Vollstreckung von Verwaltungsakten und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, JZ 1979, 496 ff; Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 4 II (S. 35 ff). 103 Für Zuordnung der sog klassischen Rechtsfürsorgeangelegenheiten an die „Verwaltung" neuerdings namentlich Pawlowski/Smid aaO (Fn 5), S. 17 f; - dagegen grundsätzlich wie hier Habscheid aaO (Fn 4), § 4 IV, § 5 II, III (S. 25 ff); Schilken aaO (Fn 92), Rn 62 ff; PurbszzO (Fn 2), S. 42 ff. 104 Vgl schon oben zu Fn 19 f; auch Sawczuk aaO (Fn 16), S. 664: „Doch sollte man weniger auf den Aspekt der Durchsetzung des gesellschaftlichen Interesses und auf eine vermeintliche Parallele zum Verwaltungsverfahren abstellen als auf den von den betroffenen materiellen Rechtsbeziehungen vorgegebenen Individualrechtsschutz, der nach entsprechenden Remedien im Gerichtsverfahren verlangt."
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Es geht um die zwangsweise Durchsetzung von Entscheidungen, die die Regelung der Privatrechtsverhältnisse der Beteiligten betreffen. Auch wenn das Gericht dabei Aufgaben der „Rechtsfürsorge" wahrnimmt, wird es doch nicht zum Zwecke der öffentlichenrechtlichen Daseinsvorsorge zum Wohle des Gemeinwesens tätig. Der Staat handelt durch seine Rechtspflegeorgane nicht in eigener Angelegenheit allein „im öffentlichen Interesse", sondern als ein am betroffenen Rechtsverhältnis unbeteiligter neutraler Dritter zur Wahrung der Rechte des schutzbedürftigen Beteiligten. Letztlich dient auch die vom Gericht wahrzunehmende Rechtsfürsorgeaufgabe dem Individualrechtsschutz, nur ist - anders als in der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung - „dominus litis" nicht der Gläubiger, 105 sondern „Herr des Verfahrens" das Gericht. Anstelle des dortigen Parteibetriebs gilt hier der Amtsbetrieb, anstelle der Dispositionsmaxime die Offizialmaxime. 106 Der Unterschied zur zivilprozessualen Zwangsvollstreckung wird deutlich, wenn man das dort gewohnte Denkmodell des „Vollstreckungsrechtsverhältnisses" gegenüberstellt, das gemeinhin als zwischen Gläubiger und Staat, Staat und Schuldner sowie unter den Parteien bestehendes „Dreiecksverhältnis" gedacht wird, nämlich als „Antragsverhältnis", „Eingriffsverhältnis" und „BasisVerhältnis".107 Bei der Vollstreckung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit reduziert sich die Beziehung auf das „Eingriffsverhältnis des Staates zum Pflichtigen". Doch macht es wegen der engen Verknüpfung mit dem materiellen Rechtsverhältnis wenig Sinn, darin zusätzlich ein besonderes öffentliches „VollstreckungsVerhältnis" zu erblicken, zumal hier die Einheit des entscheidenden und vollstreckenden Gerichts mit fortbestehender materieller Prüfungskompetenz jede „Formalisierung" nach Art der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung ausschließt. 108 Unmittelbar betroffen von der „Vollstreckung" ist vielmehr jeweils das materielle Rechtsverhältnis der Beteiligten, auch wenn es dabei regelmäßig nicht um eine Anspruchsdurchsetzung geht. Ordnet etwa das Familiengericht, weil die Eltern durch gröblichen Mißbrauch ihrer elterlichen Sorge das Wohl des Kindes gefährden, dessen Heimunterbringung aufgrund der §§ 1666, 1666a BGB an, 109 so vollzieht sich die Vollstreckung nach § 33 II 105
Zur Zwangsvollstreckung vgl Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 1 I (S. 1 f), § 32 I 1 (S. 506 f). 106 S. schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 478. 107 Zum „Vollstreckungsrechtsverhältnis" s. Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 8 (S. 85 ff). '"8 S. dazu auch Purbs aaO (Fn 2), S. 32ff. 109 S. dazu Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 34 mit Hinweis auf die insoweit allerdings nicht ganz einschlägige Entscheidung BayObLG, FamRZ 1974, 534 in Fn 187 Vgl auch das von Baur aaO (Fn 4), S. 285, in Abwandlung eines schon von Nussbaum aaO (Fn 1), S. 454, zitierten praktischen Falls gebrachte Beispiel des mit „Schaustellern" umherziehenden Kindes als Anlaß zum Eingreifen des Gerichts in Wahrnehmung seiner „Aufsichtsfunktion".
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F G G zwar bildlich allein im „Eingriffsverhältnis", davon betroffen ist aber das Sorgerechtsverhältnis der Eltern z u m Kind. Verlangt indessen ein Elternteil von dem anderen gemäß § 1632 I, III BGB nach gerichtlicher Sorgerechtsregelung gemäß § 1672 BGB vor dem Familiengericht das Kind heraus, so ähnelt der Vollstreckungsvorgang äußerlich der Herausgabevollstreckung nach der Z P O , auch wenn an die Stelle der ursprünglichen „vindicatio filii" mit der völlig unangemessenen Vollstreckungsfolge des § 883 Z P O längst ein der freiwilligen Gerichtsbarkeit und damit dem § 33 F G G zugewiesener Anspruch familienrechtlicher Art getreten ist.110 Gleiches gilt heute gemäß § 1632 I, III BGB unterschiedslos, wenn die Eltern die Herausgabe des Kindes von einem Dritten verlangen. Auch wenn die zugrunde liegende Herausgabeentscheidung nur auf Antrag eines Elternteils ergeht, so unterliegt doch das anschließende Vollstreckungsverfahren nach § 33 F G G der Offizialmaxime, 111 mag auch die sparsame Gesetzesfassung dies nicht klar genug ausdrücken. 112
3. Der Regelungsbedarf Regelungsbedarf besteht schon deshalb, weil § 33 F G G im G r u n d e nur die Zwangsmittel regelt, aber nichts über die Vollstreckungsvoraussetzungen und das weitere Vollstreckungsverfahren aussagt. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß § 33 F G G selbst schon einige gesetzliche Änderungen erfahren hat 113 und sich die Regelung in ihrem Kern in der Praxis bewährt hat. Bei aller Lückenhaftigkeit u n d Ergänzungsbedürftigkeit ist ihre konkrete Ausgestaltung jedenfalls dem abstrakten Regelungsvorschlag der FG-Kommission 1977 trotz seiner Aufgliederung in getrennte Vorschriften (§§ 85 bis 87 E F r G O ) deutlich überlegen 114 und auch als alle Zwangsmittel zusammenfassende Vorschrift gewiß mehr als eine „General-
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Den Anstoß zum Wandel gab BGHZ 19, 185, 187 ff im Anschluß an RG, DR 1944, 334, der zunächst zur Zuweisung des Herausgabestreits der Eltern an das Vormundschaftsgericht durch das GleichberG 1957 führte und seit SorgeRG 1979 an das Familiengericht, das seit KindRG 1998 durch Neufassung des § 1632 III BGB für jedes Kindesherausgabeverlangen einheitlich zuständig ist. - Zur „familienrechtlichen" Natur des „Kindesherausgabeanspruchs" s. Gernhuber/Coester-Waltjen Lehrbuch des Familienrechts, 4. Aufl (1994), § V 2 (S. 870 f); auch BGHZ 88, 113, 126 (die „§§ 1672, 1671, 1632 BGB stellen nicht ausschließlich oder in erster Linie auf die Interessen der Eltern ab, sondern berücksichtigen vordringlich das Wohl des Kindes"); ferner BGHZ 111, 168, 172 f („Absolutes Recht mit verpflichtender Innenwirkung, jedoch absoluter Außenwirkung"). 111 Vgl dazu schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 478: Der ursprüngliche Antrag dient nur dazu, „den Stein ins Rollen zu bringen". 112 Vgl dazu noch näher unten zu Fn 143 ff. 113 Vgl oben zu III 4 zu Fn 45 ff. 114 Vgl oben zu IV 2 zu Fn 61 ff.
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klausel". 115 Deshalb sollte man die Vorschrift nicht durch neue Regeln ersetzen, sondern an ihrem bewährten Regelungsgehalt grundsätzlich festhalten und sich insoweit auf notwendige Klarstellungen und Ergänzungen beschränken. a) Vollstreckungstitel Klarzustellen ist zunächst, daß die Vollstreckung - wie im Zivilprozeß (§ 704 ZPO) - eine vollstreckbare Entscheidung des Gerichts voraussetzt. In § 33 I S. 1 FGG kommt dies bisher nur in der Umschreibung zum Ausdruck, daß „jemandem durch eine Verfügung des Gerichts eine Verpflichtung auferlegt" sein muß. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß § 33 FGG selbst Grundlage für eine derartige Verpflichtungsverfügung bildet. Vielmehr bedarf es dazu einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, 116 zu der nur der gerichtliche Leistungsbefehl hinzutreten muß, um den Betroffenen zur Erfüllung seiner gesetzlichen Pflicht zu bewegen. Denn umgekehrt ergibt sich die Vollstreckbarkeit auch nicht unmittelbar aus dem Gesetz, sondern erst aus dem „Vollstreckungstitel". Die Vollstreckbarkeit tritt mit der Wirksamkeit der Entscheidung ein, d.h. gemäß § 16 I EGG „mit der Bekanntmachung an denjenigen, für welchen sie ihrem Inhalt nach bestimmt ist". Die Vollstreckbarkeit fällt also regelmäßig mit der Wirksamkeit zeitlich zusammen, sofern das Gesetz nicht ausnahmsweise die Vollstreckbarkeit vom Rechtskrafteintritt abhängig macht. 117 Im Rechtsfürsorgebereich ist also Vollstreckbarkeit gleichbedeutend mit sofortiger Vollstreckbarkeit. 118 Vollstreckungstitel kann auch eine einstweilige Anordnung sein, selbst wenn sie nicht auf den Vorschriften des FGG (wie z. B. nach § 50 d FGG betreffend Gebrauchsgegenstände des Kindes), sondern wie die einstweilige Anordnung auf Kindesherausgabe während des Ehescheidungsverfahrens auf § 620 Nr. 3 ZPO beruht. 119 115 Soweit Habscheid aaO (Fn 4), § 37 I 1 (S. 263), wiederholt mißverständlich von der „Generalklausel des § 33 FGG" spricht, ist dies wohl nur in Abgrenzung zu den in Sondervorschriften vorgesehenen Zwangsmitteln gemeint. "'-> Vgl BayObLG, FamRZ 1979, 737, 739 f betr. Duldung einer kinderpsychologischen Untersuchung; auch BayObLG, FamRZ 1996, 449 f; OLG Koblenz, FamRZ 2000, 1233; OLG Frankfurt, FamRZ 2001, 638, 639; weitere Nachweise für die ganz hM bei Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 1 Fn 2. 117 So für den rechtskräftigen Bestätigungsbeschluß in Teilungssachen nach § 98 FGG, aus dem aber „die Zwangsvollstreckung" nach den Regeln der ZPO stattfindet, s. schon oben zu Fn 7. 118 So schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 479. 119 Soweit ein Teil der Praxis statt § 33 FGG noch immer die §§ 883, 888 ZPO für anwendbar hält, ist dies unhaltbar; das sollte spätestens seit BGHZ 88, 113, 118 ff klargestellt sein; vgl für die jetzt hM Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 35 m w N zur Instanzrechtsprechung in Fn 193.
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Die Vollstreckbarkeit darf nicht durch die ausnahmsweise eingreifende aufschiebende Wirkung der Beschwerde wie gegen die Festsetzung von Ordnungs- und Zwangsmittel gehemmt sein (§ 24 I S. 1 FGG), was jedoch für die seit 1990 gemäß § 33 I S. 2 FGG eingeführte „Zwangshaft" zwecks Gewährleistung ihres Sofortvollzugs nicht gilt (§ 24 I S. 2 FGG). 120 Wird die vollstreckbare Entscheidung gemäß § 18 FGG, § 1696 BGB oder im Beschwerdewege aufgehoben oder abgeändert, so kommt eine Schadensund Erstattungspflicht wegen des durch die Vollstreckung entstandenen Schadens oder Nachteils entsprechend § 717 II, III ZPO nicht in Betracht, 121 einmal wegen der „sofortigen Vollstreckbarkeit" der Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, zum anderen, weil die den Vollstreckungsgläubiger nach § 717 II ZPO treffende Risikohaftung den Vollstreckungsbetrieb durch den Gläubiger voraussetzt, 122 die Vollstreckung hier aber durch das Gericht von Amts wegen betrieben wird. Das etwa beigetriebene Zwangsgeld ist vom Staat dem betroffenen Beteiligten zurückzuerstatten. 123 Auch kommt eine Amtshaftung aus § 839 BGB, Art. 34 GG in Betracht. 124 Vergleiche kommen in Rechtsfürsorgeverfahren - anders als in Streitsachen 125 - als Vollstreckungstitel nicht in Betracht, weil die Beteiligten über den Verfahrensgegenstand nicht verfügen können. Soweit seit 1998 das Einvernehmen der Eltern im Vermittlungsverfahren über das Umgangsrecht gemäß § 52 a IV S. 3 FGG „als Vergleich zu protokollieren" ist und dieser „an die Stelle der bisherigen gerichtlichen Verfügung tritt", ist er nur deshalb nach § 33 FGG vollziehbar, weil ihn das Familiengericht nach Prüfung am Kindeswohl durch die Protokollierung als seine Entscheidung übernommen hat. 126 Ohnehin muß das Geicht noch die Androhung des Zwangsmittels nach § 33 III FGG aussprechen. An der grundsätzlichen Vollstreckbarkeit der Umgangsentscheidung ändert das Vermittlungsverfahren nach § 52 a FGG nichts. Vielmehr ging es dem Gesetzgeber des KindRG unter Hinweis auf den Kammerbeschluß des '20 Vgl BT-Drucks 11/3622 S. 4 und dazu schon oben zu Fn 51. 121 S. dazu schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 478 f; ferner Scklegelberger aaO (Fn 66), vor § 33 Rn 11. 122 Vgl dazu Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 15 III 1 (S. 228 ff); ferner Gaul Die Haftung aus dem Vollstreckungszugriff, ZZP 110 (1997), 3, 8 ff 123 Vgl Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 71 II 2 m w N in Fn 96. 124 Das Richterprivileg des § 839 II BGB gilt nach ganz hM nicht für Entscheidungen im Rechtsfürsorgebereich, vgl Habscheid aaO (Fn 4) § 9 IV 1 a (S. 58) mwN. 125 Vgl oben zu Fn 9 126 Vgl BT-Drucks 13/4899 S. 134; dazu auch Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 52 a Rn 17; Bassenge/Herbst FGG/RpflG, 8. Aufl (1999), § 52 a Rn 7; - zumindest mißverständlich Büttner Änderungen im Familienverfahrensrecht durch das KindRG, FamRZ 1998, 585, 590: „Die als Vergleich protokollierte Einigung ist Vollstreckungsgrundlage nach § 33 FGG"; mißverständlich auch Motzer Das Umgangsrecht in der gerichtlichen Praxis seit der Reform des Kindschaftsrechts, FamRZ 2000, 925, 930: „vollstreckbarer Vergleich". Genau genommen handelt es sich um einen „gerichtlich bestätigten Vergleich".
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BVerfG vom 18. 2. 1993127 durchaus u m die effiziente verfahrensrechtliche Absicherung auch des grundrechtsgeschützten Elternrechts aus Art. 6 II S. 1 GG und damit um die Beibehaltung der Vollstreckbarkeit der Umgangsentscheidung, 128 nur unter Einschränkung der „Gewaltanwendung gegen das Kind" (§ 33 II S. 2 FGG). Deshalb ist auch das Vermittlungsverfahren nach § 52 a F G G nicht zwingend der Vollstreckung aus § 33 F G G vorgeschaltet, sondern nur ein „auf Antrag eines Elternteils" mögliches „freiwilliges" Verfahren. 129 N u r während des schwebenden Vermittlungsverfahrens ist die Vollstreckbarkeit der vorausgegangenen gerichtlichen Entscheidung gehemmt. 130 b) Keine Vollstreckungsklausel Einer Vollstreckungsklausel bedarf es nicht, da die Vollstreckung hier demselben Gericht obliegt, das die vollstreckbare Entscheidung erlassen hat. Die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung kennt das Klauselverfahren nach §§ 724 ff. Z P O nur wegen der dortigen Trennung von Erkenntnis- und Vollstreckungsinstanz, die es „überbrücken" soll, u m dem Vollstreckungsorgan die Prüfung der Vollstreckungsreife des Titels zu erleichtern u n d der Gefahr einer mehrfachen Vollstreckung vorzubeugen. Wenn dennoch die Z P O die Handlungsvollstreckung nach §§ 887ff. Z P O nicht ausnimmt, so ist dies eine abzuschaffende leere Förmelei. 131 c) Zustellung Wie schon ausgeführt, fällt die Vollstreckbarkeit regelmäßig mit der Wirksamkeit der Entscheidung zeitlich zusammen, 1 3 2 d . h . gemäß § 16 I F G G mit dem Zeitpunkt ihrer „Bekanntmachung an denjenigen, für welchen sie ihrem Inhalt nach bestimmt ist". Sofern nicht dem Anwesenden die Entscheidung zu Protokoll zu eröffnen ist (§ 16 III FGG), sieht § 16 II S. 1 F G G eine förmliche Zustellung „nach den für die Zustellung von Amts wegen geltenden Vorschriften der Z P O " (§§ 208 ff.) nur vor, soweit mit der Bekanntmachung „der Lauf einer Frist 127
BVerfG, Kammerbeschluß, FamRZ 1993, 662 ff = NJW 1993, 2671 f. Vgl BT-Drucks 13/4899, S. 106; auch Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks 13/8511, S. 68; - zur „Durchsetzung des Umgangsrechts" als „staatliche Verpflichtung" s. neuerdings OLG Frankfurt, FamRZ 2001, 638, 639 mit Hinweis auf E u G H M R , FamRZ 2001, 341 ff. 129 Vgl auch Rauscher Das Umgangsrecht im KindRG, FamRZ 1998, 329, 341. 130 Vgl OLG Zweibrücken, FamRZ 2000, 299: „Solange ein Vermittlungsverfahren im Gange ist, kann das Umgangsrecht nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden"; dennoch ist die dortige Bezeichnung als „Zwangsmediation" unglücklich. 131 S. dazu Gaul Das Rechtsbehelfssystem aaO (Fn 12), s. 292; auch Rosenberg/Gaul/ Schilken aaO (Fn 3), § 16 I 3 (S. 247). " 2 Vgl oben zu Fn 117 128
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beginnt", gleich, ob es sich um eine gesetzliche oder gerichtlich bestimmte Frist handelt. 133 Da die Entscheidungen in Rechtsfürsorgesachen regelmäßig der einfachen Beschwerde nach § 19 FGG unterliegen, kommen praktisch vornehmlich gerichtlich gesetzte Fristen in Betracht, deren sich bisher schon die Praxis vor Anwendung der Zwangsmittel bedient, sofern nicht Gefahr im Verzuge ist.134 Unabhängig davon sollte die Zustellung von Amts wegen für alle vollstreckbaren Entscheidungen vorgesehen werden, 135 da sie der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient,136 aber auch geeignet ist, den Adressaten noch zur Befolgung des gerichtlichen Leistungsbefehls zu veranlassen.137 Doch sollte parallel zu § 750 I S. 1 ZPO die „gleichzeitige" Zustellung mit dem Vollstrekkungsbeginn im Interesse eines effektiven Vollstreckungszugriffs genügen.138 d) Zuständigkeit aa) funktionelle Zuständigkeit Zuständig für die Vollstreckung ist das Gericht, das die vollstreckbare Entscheidung im ersten Rechtszug erlassen hat. In § 33 FGG kommt diese funktionelle Zuständigkeit bisher nur unzulänglich darin zum Ausdruck, daß das Gericht zur Befolgung „seiner Anordnungen" durch Festsetzung von Zwangsgeld anhalten kann (§ 33 I S. 1 FGG). Für die funktionelle Zuständigkeit des „Gerichts der ersten Rechtszugs" spricht insbesondere die insoweit zwingende Parallele zur Handlungsvollstreckung nach §§ 887ff. ZPO, für die ebenfalls wegen der gerichtsbezogenen Art der Zwangsmaßnahmen „das Prozessgericht des ersten Rechtszugs" zuständig ist.139 bb) Ortliche Zuständigkeit Sehr zweifelhaft ist bisher die örtliche Zuständigkeit für die Festsetzung der Zwangsmittel. Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BGH 140 betrifft „das Verfahren über die Festsetzung eines Zwangsgeldes eine neue, Vgl Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 16 Rn 32. Vgl schon oben zu Fn 66. 155 Soweit nach Kollbosser aaO (Fn 71), S. 310 f „künftig die sofortige Wirksamkeit mit dem Erlaß der Entscheidung eintreten soll", kann dies für vollstreckbare Entscheidungen nicht gelten; hier muß die Adressatenfrage ohnehin stets vorab geklärt sein. So BVerfGE 67, 208, 211 = NJW 1984, 2567, 2568; BVerfG, NJW 1992, 224, 225. 137 Vgl oben nach Fn 116. «8 Vgl Rosenberg/Gaul/Scbilken aaO (Fn 3), § 22 I (S. 363). 139 Vgl schon oben zu Fn 63, 78. 140 BGH, FamRZ 1986, 789 f; BGH, FamRZ 1990, 35 f; BGH, FamRZ 1992, 170; BGH, FamRZ 1995, 415, ebenso die hM, vgl Keidel/EngelhardtzzO (Fn 11), § 43 Rn 7 m w N ; ferner Purbs aaO (Fn 2), S. 73 ff. 134
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selbständige Verrichtung, für die die örtliche Zuständigkeit - mangels anderer ausdrücklicher gesetzlicher Regelung - nach M a ß g a b e der §§ 43 I, 3 6 F G G neu zu prüfen" ist, so daß nach vorausgegangenem Verfahren über das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes je nach seinem aktuellen Aufenthaltsort ein anderes Gericht als das Ausgangsgericht zuständig sein kann. D e r Standpunkt ist allerdings angreifbar. Zieht man die Parallele zur Handlungsvollstreckung nach §§ 8 8 7 f f . Z P O , so hat man dort bewußt abweichend von der Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts als dem Gericht des Vollstreckungsorts (§ 764 II Z P O ) das „Prozeßgericht des ersten Rechtszugs" o h n e Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse allein wegen des „Sachz u s a m m e n h a n g s " zur Entscheidung in der Hauptsache gewählt. 1 4 1 Dieser G e d a n k e spricht auch hier für die Beibehaltung der Ausgangszuständigkeit. D a der B G H demgegenüber die Vorzüge der O r t s n ä h e des Gerichts etwa im Hinblick auf die Einschaltung des zuständigen Jugendamts oder im Z u s a m menhang mit einer Abänderungsentscheidung nach § 1696 B G B betont, 1 4 2 sollte der Gesetzgeber die nach der bisherigen Gesetzeslage offene Streitfrage der örtlichen Zuständigkeit eindeutig klären. e) A m t s v e r f a h r e n Das Vollstreckungsverfahren wird von Amts wegen eingeleitet und betrieben gemäß der in der freiwilligen Gerichtsbarkeit geltenden Offizialmaxime. 1 4 3 Nach jetzt fast einhelliger Meinung gilt dies auch dann, wenn die zu Grunde liegende vollstreckbare Entscheidung im Antragsverfahren ergangen ist 144 wie im Falle der nur „auf Antrag eines Elternteils" v o m Familiengericht zu erlassenden Entscheidung über die Kindsherausgabe (§ 1632 III B G B ) . 141 Vgl Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 29 III 1 (S. 487) im Abschluß an Hahn Materialien zur CPO aaO (Fn 30), S. 467 f; aber auch BGH, NJW 1993, 1394, 1395; „Der Gesetzgeber hat das Prozeßgericht im Rahmen der Handlungsvollstreckung gerade aus dem Grunde zum Vollstreckungsorgan bestimmt, weil seine Entscheidung im wesentlichen auf einer fortgesetzten Beurteilung des Hauptsachenstreits beruht und es daher am besten in der Lage ist, den Inhalt der Handlungspflichten zu bestimmen." 142 BGH, FamRZ 1985, 789, 790; - die Gegenansicht verweist auf die Möglichkeit der Abgabe nach § 46 FGG, vgl OlG Köln, FamRZ 1972, 518 m zust Anm Bosch-, BassengeJR 1976, 69. 143 Vgl schon oben zu Fn 111. 144 BayObLGZ 1991, 45, 50; KG, DGVZ 1992, 89; OLG Hamburg, FamRZ 1994, 1128; OLG Zweibrücken, FamRZ 2001, 643, 645; schon Nussbaum aaO (Fn 1), s. 478; Jansen Kommentar zum FGG, 2. Aufl (1969), § 33 Rn 30; BassengelHerbst aaO (Fn 126), § 33 Rn 7; Baur aaO (Fn 4), § 26 Β I 1 (S. 287); Bärmann aaO (Fn 4), § 36 II (S. 226); Habscheid aaO (Fn 4), § 37 vor I (S. 263); Brehm aaO (Fn 4), § 25 III 1 (S. 243); Purbs aaO (Fn 2), S. 113 ff; unpräzise Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 48: „Den Vollstreckungsauftrag erteilt das Gericht, in der Regel auf Wunsch des Herausgabeberechtigten"; ähnlich Bach, Das Haager Kindesüberführungsübereinkommen in der Praxis, FamRZ 1997, 1051, 1057, 1059 (de lege ferenda sogar für „Parteivollstreckung"); - aA AG Wangen, FamRZ 1989, 527, 528; unklar Schlegelberger aaO (Fn 66), § 33 Rn 2 a) aE.
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Demgegenüber sah der Entwurf der FG-Kommission 1977 in § 84 S. 2 F r G O vor, daß „Entscheidungen, die Verpflichtungen lediglich zwischen Beteiligten betreffen, nur auf Antrag vollstreckt" werden. Nach der beigegebenen Begründung sei es „z.B. wenn ein Kommanditist die Einsichtnahme in die Bücher der Gesellschaft" verlange, „angebracht, daß der interessierte Beteiligte in diesen Fällen den Anstoß zur Vollstreckung" gebe.145 Die Gesetzesfassung des § 33 FGG spricht indes eher für die h.M., daß das Gericht denjenigen, dem es durch seine Entscheidung „die Verpflichtung auferlegt" hat, ohne weiteres von Amts wegen „zur Befolgung seiner Anordnung durch Zwangsgeld anhalten" (§ 33 I S. 1 FGG) und gegen den Herausgabepflichtigen „auf Grund einer besonderen Verfügung des Gerichts ... auch Gewalt gebraucht werden kann" (§ 33 II S. 2 FGG) sowie „das Gericht den Verpflichteten anhalten kann, eine eidesstattliche Versicherung über den Verbleib (der nicht vorgefundenen Sache oder Person) abzugeben" (§ 33 II S. 4 FGG). Dennoch hat die unklare Gesetzesfassung zu erheblichen Mißverständnissen in der Praxis geführt, insbesondere zur Frage, auf wessen Ersuchen oder Antrag der in § 33 II S. 3 FGG unvermittelt erwähnte „Vollstreckungsbeamte" handelt, wenn die durchzusetzende Entscheidung im Antragsverfahren ergangen ist. Vielfach lauten schon die Herausgabeentscheidungen der Gerichte verfehlt dahin, es werde „dem sorgeberechtigten Elternteil gestattet, zur Durchsetzung der Herausgabe des Kindes Gewalt zu gebrauchen" 146 oder „sich bei der Erwirkung der Herausgabe der Hilfe des zuständigen Gerichtsvollziehers zu bedienen". 147 Zu welchen Mißhelligkeiten die derzeitige Gesetzeslage führen kann, zeigt markant die Entscheidung des AG Wangen: Der sorgeberechtigte Ehemann, dem durch Herausgabeanordnung des Familiengerichts die Kinder zugesprochen worden waren, hatte zunächst selbst beim zuständigen Gerichtsvollzieher die Vollstreckung beantragt. Dieser weigerte sich, „ohne Vollstreckungsauftrag des Gerichts" zu vollstrecken. Darauf beantragte er bei Gericht, dem Gerichtsvollzieher den Vollstreckungsauftrag zu erteilen. Das AG Wangen wies den Antrag ab, da „eine gesetzliche Vorschrift" für eine derartige gerichtliche Anweisung „nicht existiere". 148 Der Antragsteller fiel buchstäblich der Rechtsverweigerung zum Opfer. 145
Vgl Begründung zum Kommissionsbericht aaO (Fn 61), S. 140. So FamG Hamburg als Vorinstanz zu OLG Hamburg, FamRZ 1994, 1128, das insoweit der Beschwerde stattgegeben hat: Der Mutter „darf nicht gestattet werden, bei Herausgabe der Kinder Gewalt anzuwenden. Nach § 33 II S. 1 FGG ist vielmehr die Gewaltanwendung dem Vollstreckungsbeamten, dh dem Gerichtsvollzieher, zu gestatten." 147 So FamG Berlin als Vorinstanz zu KG, DGVZ 1992, 89, das auf Beschwerde den Beschluß des FamG aufgehoben hat, da das die Kindesherausgabe anordnende Gericht den Gerichtsvollzieher um die Vollstreckung zu ersuchen habe. 148 AG Wangen, FamRZ 1989, 527, 528. 146
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Die unklare Gesetzeslage könnte leicht dadurch behoben werden, daß vor den nach § 33 FGG anzuordnenden Zwangsmitteln klarstellend die Worte „von Amts wegen" eingefügt werden. 149 Ferner sollte der besonders unzulänglich gefaßte § 33 II S. 3 F G G lauten: „Der vom Gericht zu ersuchende Gerichtsvollzieher ist befugt, die Unterstützung der polizeilichen Vollzugsorgane nachzusuchen" (s. aber noch unten zu h). Denn es ist ein untragbarer Zustand, daß die Praxis zur Interpretation des unklaren § 33 FGG auf die §§ 213, 213 a der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA) zurückgreift, 150 obwohl sie nur den Charakter von Verwaltungsvorschriften ohne Gesetzeskraft haben 151 und deshalb zur Ausfüllung von Gesetzeslücken ungeeignet sind. Dies gilt auch für die Anordnung der Gewaltanwendung durch „besondere Verfügung des Gerichts" gemäß § 33 II S. 1 FGG, die nach § 213 Nr.l S. 2 GVGA die Ermächtigung und Anweisung des Gerichtsvollziehers zur Gewaltanwendung enthält. 152 In der Tat entspricht dies der heute herrschenden Interpretation der „besonderen Verfügung", deren Zweck es ist, den Richter zur zusätzlichen Prüfung der Notwendigkeit der Gewaltanwendung als stärkstem Zwangsmittel zu nötigen und vor Übereilung der Erlaubniserteilung zu bewahren. 153 Demgemäß ist die „besondere Verfügung" nach h.M. an den Vollstreckungsbeamten, nicht an den Pflichtigen adressiert, gegen den der Zwang geübt werden soll. Daher wird sie ohne vorherige Bekanntmachung an den Pflichtigen schon mit ihrer Bekanntgabe an den Beamten wirksam (§ 16 FGG). Allerdings ist die „besondere Verfügung" dem Betroffenen bei der Zwangsanwendung vorzuzeigen. 154 Die Vorlage dient 149 Schon § 19 I östrAußStrG lautete: „Gegen Parteien, welche die gegen sie ergangenen Verfügungen des Gerichts unbefolgt lassen, sind ohne weiteres rechtliches Verfahren von Amts wegen angemessene Zwangsmittel in Anwendung zu bringen." Vgl schon oben zu Fn 33 f. 150 So KG, DGVZ 1992, 89: „Es spricht viel dafür, diese Bestimmung (§ 213 a GVGA) als eine zutreffende Ausformung der in § 33 FGG vorgesehenen Anwendung unmittelbaren Zwangs anzusehen." § 213 N r 1 S. 1 GVGA lautet: „Das Gericht kann dem Gerichtsvollzieher den Auftrag erteilen, die Herausgabe einer Sache, die Vorlegung einer Sache oder die Durchführung einer gerichtlichen Anordnung mit Gewalt zu erzwingen." § 213 a N r 1 S. 1 GVGA lautet: „Das die Kindesherausgabe anordnende Gericht (nicht der Herausgabeberechtigte) ersucht den Gerichtsvollzieher gemäß § 33 FGG um die Vollstreckung." 151 Zum Charakter der GVGA als Verwaltungsvorschrift s. näher Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 3), § 25 II 1 b (S. 407 f). 152 § 213 N r 1 S. 2 GVGA lautet: „Der Gerichtsvollzieher muß in diesem Fall durch eine besondere Verfügung des Gerichts zur Anwendung von Gewalt ermächtigt oder angewiesen werden." Entsprechend heißt es in § 213 a N r 2 S. 1 GVGA speziell zur Kindesherausgabe: „Gewalt darf der Gerichtsvollzieher nur anwenden, wenn er hierzu von dem Gericht durch eine besondere Verfügung ermächtigt worden ist (§ 33 II FGG)." 153 Vgl schon Nussbaum aaO (Fn 1), S. 497 mit Hinweis auf den Kommissionsbericht des preuss. Abgeordnetenhauses zum PrFGG (Art.17), S. 14; ferner Purbs aaO (Fn 2), S. 156 mwN. 154 So ausdrücklich auch § 213 N r 1 S. 3 GVGA.
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einerseits der Legitimation des Vollstreckungsbeamten, andererseits der Kenntnisnahme des Betroffenen. 155 Da der Gerichtsvollzieher auf Ersuchen und Anweisung des Gerichts und nicht als gesetzlich berufenes Vollstreckungsorgan mit der Vollstrekkung betraut wird, bedarf es auch für die „besondere Verfügung" keiner Vollstreckungsklausel i.S. der §§ 724, 725 ZPO 156 (s. schon oben zu b). Auch die „besondere Verfügung des Gerichts" gemäß § 33 II S. 1 FGG als Ermächtigung und Anweisung des Gerichtsvollziehers zur Gewaltanwendung bekräftigt also den amtswegigen Vollstreckungsbetrieb. Hiervon Fälle auszunehmen, in welchen die zugrunde liegende vollstreckbare Entscheidung im Antragsverfahren ergangen ist, wie es der § 84 S. 2 des FrGO-Entwurf der FG-Kommission 1977157 beabsichtigte, besteht kein Anlaß. Vielmehr ist vom Fortbestehen des einmal geäußerten Willens des Antragstellers auszugehen, die beantragte gerichtliche Entscheidung erforderlichenfalls auch zwangsweise durchzusetzen, 158 zumal es hier - anders als in der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung - an der Trennung von Erkenntnis- und Vollstreckungsinstanz fehlt. Ist das Verfahren einmal durch den ursprünglich gestellten Antrag in Gang gebracht, so läuft das Verfahren bis ins Vollstreckungsstadium unter der Geltung der Offizialmaxime fort. 159 Doch bleibt es dem Antragsteller unbenommen, durch Rücknahe seines ursprünglichen Antrags die Einstellung des Vollstrekkungsverfahrens herbeizuführen. 160 Die Überlassung des Vollstreckungsbetriebs an den Antragsteller würde auch dem Rechtsfürsorgezweck des Verfahrens widersprechen. Deshalb darf das Familiengericht die Vollstreckungsleitung und Verantwortung etwa in Bezug auf die zwangsweise Durchsetzung der Kindesherausgabe im Falle der §§ 1632 BGB, 33 II FGG nicht aus der Hand geben und stattdessen dem sorgeberechtigten Elternteil oder den Eltern gegenüber einem Dritten überlassen.161 Es muß die Regie über das gesamte Vollstreckungsverfahren in der Hand behalten, so wie es auch in seiner Macht steht, das Jugendamt um die 155 Zur insoweit ganz hM Scblegelberger aaO (Fn 66), § 33 Rn 17; Jansen aaO (Fn 144), § 33 Rn 54; Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 44; Baur aaO (Fn 4), § 26 Β III 2 b (S. 292); Purbs aaO (Fn 2), S. 159f. 156 So im Ergebnis auch die ganz hM, s. Purbs aaO (Fn 2), S. 161 m w N ; - aM noch Nussbaum aaO (Fn 1), S. 497, jedoch aufgrund des damals geltenden Landesrechts; teilw abw auch Schüler aaO (Fn 73), S. 103; - zur abweichenden Lage, soweit die Zwangsvollstrekkung nach den ZPO-Vorschriften erfolgt, s. oben zu Fn 80f. 157 Vgl oben zu Fn 145. iss Vgl Purbs aaO (Fn 2), S. 113, 115 m w N . 159 Nach der plastischen Formulierung von Nussbaum aaO (Fn 1), S. 479, genügt s, daß mit dem Antrag einmal „der Stein ins Rollen gebracht" ist; vgl schon oben zu Fn 111. 160 Nussbaum aaO (Fn 1), s. 479; Purbs aaO (Fn 1), S. 115. 161 Vgl die verfehlten Entscheidungen der Amtsgerichte Hamburg, Berlin und Wangen oben zu Fn 146 bis 148.
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Wegnahme des Kindes zu ersuchen (§ 50 I S. 1 SGB III) 162 und den Beamten des Jugendamtes zur Ausübung des unmittelbaren Zwanges zu ermächtigen.163 Andersfalls wäre das Gericht auch gar nicht in der Lage, eine grundrechtskonforme Verfahrensgestaltung zu gewährleisten, wie sie neuerdings noch das BVerfG im Kammerbeschluß vom 2. 6.1999 1 6 4 angesichts der gerade in Kindesherausgabeverfahren häufig „widerstreitenden Grundrechtspositionen" und der gebotenen besonderen Rücksicht auf das Kindeswohl fordert.165 f) Zwangsmittel Was die in § 33 FGG geregelten Zwangsmittel als dem eigentlichen Regelungsgegenstand der zentralen Vollstreckungsnorm des FGG betrifft, so hat sich die Vorschrift - wie schon eingangs zu IV 3 betont - in der Praxis weitgehend bewährt. 166 Allerdings ist das Fehlen der Anordnung der Ersatzvornahme durch Dritte für auch in der freiwilligen Gerichtsbarkeit mögliche vertretbare Handlungen entsprechend § 887 ZPO unverständlich (s. unten zu 1). Als völlig untauglich erwies sich dagegen namentlich der Reformvorschlag der FG-Kommission 1977, die Vorschrift des § 33 FGG durch die §§ 85 bis 87 E F r G O zu ersetzen. 167 Sowohl was die Art der Zwangsmittel in Gestalt von „Zwangsgeld", „Zwangshaft" und „Anwendung von Gewalt" angeht, als auch ihr grundsätzlicher Einsatz erst nach vorheriger „Androhung", sofern keine „besondere Eilbedürftigkeit" vorliegt, wie auch die Notwendigkeit einer „besonderen Verfügung" der Gewaltanwendung (s. dazu schon zu e) erscheint die Regelung des § 33 FGG sachgerecht. Allerdings hat man vereinzelt die „Verschärfung" kritisiert, die das SorgeR U A G vom 5. 4. 1990 gebracht hat. 168 Die Bedenken richten sich namentlich dagegen, daß die Zwangsmittel jeweils „unabhängig" voneinander angeordnet werden können (§ 33 I S. 2, FGG) und insbesondere „unabhängig von den gemäß Abs. 1 festgesetzten Zwangsmitteln auch Gewalt gebraucht werden" kann (§ 33 II S. 1 FGG). Damit habe sich der Änderungsgesetzgeber über die Maßstäbe der BGH-Rechtsprechung 169 hinweggesetzt, wo162 Vgl früher § 48 JWG, § 50 KJHG. i« Vgl BGHZ 67, 255, 262 = NJW 1977, 150 f (zu § 48 JWG); bestätigend BGHZ 88, 113, 130 = FamRZ 1983, 1008, 1013; für die hM auch Keidel/Zimmermann aaO (Fn 11), § 33 Rn 37 (mit allerdings nicht ganz einschlägiger Rspr in Fnl97) und Rn 40. 164 BVerfG, Kammerbeschluß, FamRZ 1999, 1417, 1418 betr Herausgabeverlangen der Kindesmutter gegen die Pflegeeltern aus § 1632 I BGB. 165 Auf die stets erforderliche Prüfung, ob die Vollziehung der Herausgabeentscheidung dem Kindeswohl entspricht, stellt auch OLG Hamburg, FamRZ 1994, 1128 ab. 166 Vgl oben zu Fn 113 f. 167 Vgl oben zu IV 2 zu Fn 61 ff. i«mann ZPO, 21. Aufl 1996, § 261 Rn 3 und 51; Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 17; MünchKommZPO/Lä&e § 261 Rn 4; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 ; Musielak/Zoersie ZPO, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 9. 2 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 1Z 3 Letzteres war nicht immer so, vgl. RGZ 160, 338, 344; MünchKommZPO/La^e, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 4. 4 RGZ 160, 338, 344; MünchKommZPO/LÄyfee, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 43.
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nur bei Identität der Streitsache eingreift und der Begriff der „Streitsache" in § 261 Abs 3 N r 1 ZPO - überwiegender Ansicht nach - an den Streitgegenstandsbegriff gekoppelt ist. Wie letzterer zu bestimmen ist, ist - bekanntlich - streitig. Lehrbücher und Kommentare gehen heute überwiegend von einem prozessualen Streitgegenstandsbegriff aus. 5 Danach haben - unabhängig davon, ob der Streitgegenstand nun ein- oder zweigliedrig zu bestimmen ist - 6 verschiedene Anträge grundsätzlich auch unterschiedliche Streitgegenstände zur Folge. 7 Dieser engen Interpretation des Begriffs „Streitsache" iS von identischer Streitgegenstand 8 ist es letztlich zu verdanken, daß der Grundsatz, widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, im Verbot mehrfacher Prozesse (§ 261 Abs 3 Nr 1 ZPO) nicht voll durchgeführt wird. 9 Eine Identität der Streitsache iS des § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO liegt nämlich nicht schon dann vor, wenn das Urteil im Erstprozeß Rechtskraft für den Verfahrensgegenstand im zweiten äußern würde; denn die Rechtskraftwirkung tritt nicht nur im Verhältnis identischer Streitgegenstände ein, sondern auch in den Fällen der Präjudizialität, wenn also der rechtskraftfähige Ausspruch in dem einen Prozeß als Vorfrage für den anderen Prozeß von Bedeutung ist.10 Letzeres ist etwa der Fall, wenn der Kläger die Feststellung der Nichtigkeit des Kaufvertrages begehrt und der Beklagte dagegen in einem gesonderten Verfahren Klage auf Zahlung des Kaufpreises erhebt. In diesen Fällen ist die Feststellung der Wirksamkeit bzw der Unwirksamkeit des Vertrages präjudiziell für die Klage auf Leistung aus dem Vertrag. § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO kann hier - mangels Identität der Anträge - die Gefahr nicht beseitigen, daß ein Widerspruch zwischen dem Begründungselement des Zahlungsurteils und dem rechtskräftigen Inhalt des Feststellungsurteils entsteht; denn der Umfang der Rechtshängigkeit bleibt hinter der Rechtskraft zurück. 11 5 Rosenberg/Schwab/ GottmiW Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 15311 ; Paulus Zivilprozeßrecht, 2. Aufl 2000, Rn 102 ff; Jauernig Zivilprozeßrecht, 26. Aufl 2000, § 63 III 6; Scbilken Zivilprozeßrecht, 3. Aufl 2000, Rn 1018f.; Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 17; siehe auch Beys ZZP 1992, 145, 152 ff; für eine materiellrechtliche Bestimmung des Streitgegenstandes hingegen Henckel Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, Rimmelspacher Materieller Anspruch und Streitgegentandsprobleme im Zivilprozeß, 1970. 6 Siehe hierzu Beys ZZP 1992, 145, 153 ff. 7 Beys ZZP 1992, 145, 164; Leipold m GS Arens, 1993, S. 229. 8 B G H Z 4, 314, 322; B G H NJW 1986, 2195; RGZ 40, 362, 363; Leipold in GS Arens, 1993, S. 229; Schack IPRax 1989, 139; Walker ZZP 1998, 429, 431; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1996, § 261 Rn 56; MünchKommZPO/¿«fo?, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 57; Habscheid Der Streitgegenstand im Zivilprozeß 1956, S. 268f. 9 Blomeyer Zivilprozeßrecht, 1963, § 49 III 1; siehe auch Sttm/]oms/Schumann ZPO, 21. Aufl 1996, § 281 Rn 51. 10 Vgl. hierzu BeysZZV 1992,145,165 ff; MusielakZPO, § 322 Rn 11 ff; Rosenberg/Schwab/ Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 c; leuner in FS Lüke, 199^ S. 1009. 11 Leipold Pflege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 18; den in GS Arens, 1993, S. 235; Walker ZZP 1998, 429, 432f.; Rüßmann ZZP 1998, 399, 414f.; leuner in FS Lüke, 1997, S. 1017f.; Hau IPRax 1996, 173.
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Greift § 261 Abs 3 N r 1 ZPO schon nicht in den Fällen der Präjudizialität, so gilt dies erst recht, wenn zwischen den verschiedenen Verfahren lediglich ein inhaltlicher Zusammenhang und mithin nur das Risiko besteht, daß die Begründungselemente der Entscheidungen zueinander in Widerspruch geraten. Letzteres ist etwa der Fall, wenn nur der vorgebrachte Tatbestand oder die Anspruchsgrundlagen identisch sind, die geltend gemachten Ansprüche zB aus dem selben Rechtsverhältnis hervorgehen oder gar einander widersprechen bzw sich gegenseitig ausschließen. So sperren sich beispielsweise die Klage des angeblichen Schuldners auf Herausgabe des Wechsels und die Klage des Gläubigers aus dem Wechsel gegenseitig nicht. Gleiches gilt für die Klage auf Erfüllung einer Forderung und der Klage auf Aufhebung oder Löschung der hierfür bestellten Hypothek.
III. D i e Rechtshängigkeitssperre nach Art 21 E u G V Ü Der Wunsch, zueinander im Konflikt stehende bzw einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, ist keine Besonderheit des deutschen Rechts. So kennt beispielsweise auch Art 21 des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) 12 eine dem § 261 Abs 3 N r 1 ZPO dem Wortlaut nach vergleichbare Regelung. Werden danach bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so hat das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen auszusetzen. Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, hat sich sodann das später angerufene Gericht zugunsten des Erstgerichts für unzuständig zu erklären. Ebenso wie in § 261 Abs 3 N r 1 ZPO soll auch die Rechtshängigkeitssperre des Art 21 EuGVÜ verhindern, daß ein und derselbe Rechtsstreit gleichzeitig in verschiedenen Prozessen ausgetragen wird. Ebenso wie im Rahmen des § 261 Abs 3 N r 1 ZPO geht es auch im Art. 21 EuGVÜ darum, einen sinnvollen Einsatz der Rechtspflegeressourcen sicherzustellen und einander widersprechende Urteile möglichst zu vermeiden. 13 Obgleich mithin Sinn und Zweck sowie der Wortlaut des Art 21 EuGVÜ aus deutscher Sicht keine Besonderheit darstellen, 14 hat diese Bestimmung in jüngerer Zeit in der Bundesrepublik für eine breite Diskussion gesorgt. Der Grund hierfür liegt darin, daß der E u G H zu Ermittlung des rechtshängigen Anspruchs eine von der deutschen Literatur und Rechtsprechung 12 Bzw Art 27 des Vorschlages für eine Verordnung des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, abgedruckt in IPRax 2000, 41 ff. 13 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 17. 14 Zeunerin FS Lüke, 1997, S. 1005; LeipoldWege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 17.
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gänzlich abweichende Ansicht vertritt.15 Der EuGH hat im Fall Gubischxk und im Fall Tatryu die sogenannte Kernpunkttheorie entwickelt, die er erst jüngst wieder bestätigt hat,18 so daß insoweit nunmehr von einer gefestigten Rechtsprechung ausgegangen werden kann. Dem Fall Gubisch lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die „deutsche" Gubisch KG klagte beim LG Flensburg gegen den italienischen Staatsbürger Palumbo auf Zahlung eines Kaufpreises für eine Maschine. Letzterer erhob weniger später in Rom Klage gegen die Gubisch KG auf Feststellung der Unwirksamkeit des Kaufangebots, hilfsweise auf Aufhebung des Kaufvertrages wegen Einigungsmangels oder Auflösung des Kaufvertrages wegen Nichteinhaltung der Lieferfrist. Die unterinstanzlichen italienischen Gerichte wiesen den von der Gubisch KG erhobenen Rechtshängigkeitseinwand zurück. Sie folgten damit im Ergebnis der in Deutschland vorherrschenden Rechtsauffassung, wonach eine Zahlungsklage nicht identisch ist mit der Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des vorgreiflichen Rechtsverhältnisses. Die letztinstanzlich mit dem Fall befaßte Corte Suprema di Cassazione legte dem E u G H hingegen die Frage vor, wie der Begriff „derselbe Anspruch" iS des Art 21 EuGVU zu verstehen sei. Der E u G H hat in seiner Entscheidung zunächst dargelegt, daß der Begriff autonom, dh aus dem Übereinkommen heraus und unabhängig von einer nationalen Rechtsordnung auszulegen sei.19 Da Kernpunkt sowohl des deutschen als auch des italienischen Verfahrens die Wirksamkeit des Kaufvertrages sei, hätten - so der E u G H - beide Rechtsstreitigkeiten sachlich den gleichen Gegenstand. 20 Für die Frage, ob es sich um „denselben Anspruch" iS des Art 21 EuGVÜ handele, kommt es im Anwendungsbereich des EuGVU 15 Siehe nur Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 86 ff; Walker ZZP 1998, 429, 433f.; leuner in FS Lüke, 1997, S. 1006ff. 16 E u G H NJW 1989, 665. Siehe hierzu Gottwald m Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 86f.; Schuck IPRax 1989, 139 ff; Leipold in GS Arens, 1993, S. 228 ff; Rüßmann ZZP 1998, 399, 401 f.; Bäumer Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Verfahrensrecht, 1999, S. 122 ff; Dohm Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit im deutschen internationalen Zivilprozeßrecht, 1996, S. 64 ff.; Hau Positive Kompetenzkonflikte im Internationalen Zivilprozeßrecht,1996, S. 130ff. 17 E u G H J Z 1995, 616. Siehe hierzu Gottwald'm Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 87f.; Huher]Z 1995, 603 ff; Lenenhach EWS 1995, 361 ff; Stein/Jonas/Roth ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 150; Rüßmann ZZP 1998, 399, 402 f; Bäumer Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Verfahrensrecht, 1999, S. 138 ff. 18 E u G H ZZP int 1998, 246, 248 (Adolphsen). 19 E u G H NJW 1989, 665, 666 (Nr. 11); siehe auch B G H NJW 1997, 870, 872; Rüßmann ZZP 1998, 399, 402; Huber]Z 1995, 603, 604; Schack IPRax 1989, 139, 140. 20 E u G H NJW 1989, 665, 666 (Nr. 15, 16).
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mithin nicht auf die formale Identität der Klageanträge, sondern auf den zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalt an.21 Daß der Fall Gubisch keine Einzelfallentscheidung des EuGH ist, sondern daß dieser eine vom deutschen Standpunkt grundsätzlich abweichende Rechtshängigkeitskonzeption vertritt, ist in der sogenannten Tatry-Entscheidung deutlich geworden.22 Dieser lag folgender Sachverhalt zugrunde: Auf dem polnischen Frachter Tatry war Sojaöl von Brasilien nach Rotterdam bzw Hamburg unterwegs, das am Zielort verunreinigt ankam. Die Eigentümer des Schiffes klagten nun gegen eine Gruppe der Ladungseigentümer in Rotterdam auf Feststellung, daß sie für die Verunreinigung keine Haftung treffe. Einige der von dieser Klage betroffenen Ladungseigentümer erhoben ihrerseits Klage gegen die Schiffseigentümer auf Schadensersatz in London wegen eben dieser Verunreinigung. Der EuGH entschied nach Vorlage durch das zuständige englische Gericht, daß die negative Feststellungsklage grundsätzlich zu einer Rechtshängigkeitssperre gegenüber der Leistungsklage führe, da Grundlage beider Rechts Streitigkeiten derselbe Sachverhalt und dieselben Rechtsvorschriften seien. Die Verfolgung des über die negative Feststellung hinausgehenden Rechtsschutzziels der Ladungseigentümer, nämlich die Schiffseigentümer auf Zahlung von Schadensersatz zu verurteilen, sei zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, jedoch insoweit erschwert, als die aktive Verfolgung des Anspruchs allein im gleichen Gerichtsstand der Feststellungsklage in Gestalt einer Leistungswiderklage zulässig sei.23 Stellt man mit dem EuGH bei der Ermittlung der objektiven Reichweite24 der Rechtshängigkeitssperre einen weit verstandenen Lebenssachverhalt in den Mittelpunkt, so führt dies zu einer Konzentration von Streitigkeiten,25 die einander widersprechenden Urteilen sowie einem ineffizienten Umgang mit den Ressourcen der Rechtspflege vorbeugt.26 Wenn nämlich eine der Parteien des Erstprozesses während dessen Rechtshängigkeit eine weitere Klage erheben will, die denselben Klagegrund betrifft, so kann sie dies 21 EuGH NJW 1989, 665, 666 (Nr. 17). Siehe auch BGH IPRax 1996, 192; NJW 1997, 870, 872; Geimer/Scbütze Europäisches Zivilverfahrensrecht, 1997, Art 21 Rn 28; Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, 6. Aufl 1998, Art 21 Rn 7. 22 EuGH JZ 1995, 616. 23 EuGH JZ 1995, 616, 618 f.; BGH NJW 1997, 870, 872; Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, 6. Aufl 1998, Art 21 Rn 8. 24 Die subjektive Reichweite der Rechtshängigkeitssperre bestimmt sich demgegenüber auch nach dem EuGVÜ anders, vgl EuGH ZZPint 1998, 246, 248 f. 25 BGH NJW 1995, 870, 872; Oberhammer JB1 2000, 205, 217; kritisch hierzu Leipold in GS Arens, 1993, S. 241. Anders nunmehr in, Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 16 ff. 26 Lenenbach EWS 1995, 361, 365; Schuck IPRax 1989, 139, 140; Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 19.
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wenn überhaupt - nur bei dem Gericht des Erstprozesses, sei es durch eine objektive Klagehäufung oder aber im Wege einer Widerklage. 27 Auf diese Weise wird die Entscheidung über die verschiedenen Anträge in eine Hand gelegt und damit die Gefahr einander widersprechender Urteile bzw die Gefahr von Doppelarbeit weitestgehend vermieden. Insgesamt besehen kommt damit die europäische Lösung - auf den ersten Blick - dem rechtspolitischen Zweck der Rechtshängigkeitssperre näher als das deutsche Konzept in § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO.
IV. Vorbildfunktion der europäischen Lösung für § 261 Abs 3 N r 1 Z P O Damit stellt sich die Frage, ob die dem Art 21 EuGVU zugrundeliegende Kernpunkttheorie, die auf einen weit verstandenen Sachzusammenhang verschiedener paralleler Verfahren abstellt, nicht auch Vorbildfunktion für das deutsche Recht haben könnte. 28 Diese Frage drängt sich um so mehr auf, als das Konzept in Art 21 EuGVU bezogen auf internationale Fallgestaltungen keinen Einzelfall darstellt.29 So bestimmt beispielsweise Art 11 Abs 1 der neuen EG-Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder vom 29.5.2000 (Ehe-VO): 30 „Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien gestellt, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus ... ". Darüber hinaus bestimmt Art. 11 Abs 2 Ehe-VO, daß der „Rechtshängigkeitseinwand" auch dann besteht, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder auf Ungültigerklärung einer Ehe gestellt worden sind, die nicht denselben Anspruch betreffen.31 Sowohl nach Art. 21 EuGVÜ als auch nach Art. 11 Abs 1 Ehe-VO wird der Zusammenhang zwischen parallelen Verfahren auf der Grundlage des 27 LeipoWWege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 19; Schuck IPRax 1989, 139, 140. 2 8 Dagegen Walker ZZP 1998, 429, 454; Rüßmann ZZP 1998, 399, 424; Hau IPRax 1996, 177, 178 f; für eine beschränkte Übertragung der Grundsätze hingegen Zeuner in FS Lüke, 1997, S. 1017 f; für eine uneingeschränkte Übertragung der europäischen Grundsätze hingegen Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23; Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 93 f; Oberhammer JB12000, 205, 218 f. 2 9 Siehe hierzu Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 90 f. 50 Abi 30. 6. 2000 L 160/19, abgedruckt auch in FamRZ 2000, 1140 ff. 31 Siehe hierzu Gruber FamRZ 2000, 1129, 1131 f.
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jeweils geltend gemachten Lebenssachverhalt ermittelt mit der Folge, daß die Streitsache von dem konkreten Antrag bzw dem geltend gemachten Rechtsschutzziel abgelöst wird. Anders als Art. 21 Abs 1 E u G V Ü bringt dies (der jüngere) Art. 11 Abs 1 Ehe-VO nun auch schon dem Wortlaut nach klar zum Ausdruck („Anträge wegen desselben Anspruchs")?1 Gilt mithin diese Lösung für einen Großteil der grenzüberschreitenden Prozesse, dann kann das nationale Recht nicht ohne weiteres hierüber hinwegsehen, sondern muß sich mit diesem Konzept auseinandersetzen. 33 Einer weiten Auslegung des § 261 Abs 3 N r 1 Z P O im Sinne der Kernpunkttheorie steht jedenfalls nicht der Wortlaut der Vorschrift entgegen; 3 4 denn § 261 Z P O umschreibt den Verfahrensgegenstand lediglich als „Streitsache", die rechtshängig wird, ohne aber - anders als etwa §§ 263, 264 Z P O - zu bestimmen, wie der Verfahrensgegenstand zu ermitteln ist. 3 5 1. Die vergleichbare Interessenlage Für eine Vorbildfunktion der Kernpunkttheorie für das deutsche Recht könnte die vergleichbare rechtspolitische Zielsetzung des Art 21 E u G V Ü (bzw Art. 11 Abs 1 Ehe-VO) 3 6 und des § 261 Abs 3 N r 1 Z P O sprechen. Beide Vorschriften bezwecken, zusätzlichen Aufwand an Zeit, Arbeit und Kosten aufgrund paralleler Verfahren zu Lasten der Gerichte sowie einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden. 37 Anders aber als die Kernpunkttheorie führt § 261 Abs 3 N r 1 Z P O den Grundsatz, einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, nicht voll durch. Die deutsche Rechtshängigkeitssperre verhindert nämlich nicht, daß parallele Verfahren zu widersprüchlichen Urteilsbegründungen bzw Widersprüchen zwischen rechtskraftfähiger Feststellung und Urteilsbegründung führen. 3 8 An der Vermeidung derartiger Kollisionsfälle besteht jedoch ein unübersehbares Bedürfnis. Dies hat schon der historische ZPO-Gesetzgeber so gesehen und in den Gesetzesmaterialien zu § 283 C P O (jetzigem § 322 ZPO) ausgeführt, daß Urteile, die über dieselben Rechtsfragen und denselben Parteien in ver32 Gottwald in Dogmatische Grundlagen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 90f. 33 Gottwald in Dogmatische Grundlagen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 90. 34 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23; Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 91. 35 Gottwald in Dogmatische Grundlagen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 91. 36 Siehe hierzu Gruber FamRZ 2000, 1129, 1133 ff. 37 Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1; Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23; Walker ZZP 1998, 429, 437 und 442 f; siehe auch BGH IPRax 1996, 192, 193. 38 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23.
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schiedenen Prozessen widersprechend entscheiden, „im Volke als ein schwerer U b e l s t a n d empfunden werden m ü s s e n . " 3 9 Schwerlich wird m a n die Unterschiede zwischen der nationalen und der europäischen Rechtshängigkeitssperre damit rechtfertigen k ö n n e n , daß der ö k o n o m i s c h e U m g a n g mit den Rechtspflegeressourcen auf nationaler E b e n e grundsätzlich geringer wiegt als auf europäischer; 4 0 denn wenn beispielsweise auf europäischer E b e n e die Rechtshängigkeit einer Klage auf Feststellung der U n w i r k s a m k e i t eines Vertrages einer weiteren, in einem anderen Vertragsstaat erhobenen Klage desselben Klägers gegen denselben Beklagten auf R ü c k g e w ä h r einer aufgrund des Vertrages erbrachten Leistung entgegensteht, dann ist - auf den ersten Blick - schwer einzusehen, warum bei derselben Konstellation vor zwei verschiedenen deutschen Gerichten nicht ebenfalls die Rechtshängigkeit eingreifen und den Kläger zur Konzentration des Streits beim Erstgericht zwingen sollte. 4 1 D e r Sinn und Z w e c k des § 261 Abs 3 N r 1 Z P O sowie die vergleichbare Interessenlage mit der europäischen L ö s u n g sprechen mithin für eine Ü b e r n a h m e der Kernpunkttheorie in das deutsche Recht.
2.
Systematische
Auslegung
F ü r die Frage, o b die gemeineuropäische L ö s u n g das deutsche R e c h t b e einflussen k a n n , reicht freilich allein die U b e r e i n s t i m m u n g der rechtspolitischen Zielsetzung der jeweiligen N o r m e n sowie der W u n s c h nach einer einheitlichen H a n d h a b u n g der anderweitigen Rechtshängigkeit in Fällen mit und o h n e Auslandsberührung nicht aus. 4 2 Grundlage für eine Auslegung des § 261 A b s 3 N r 1 Z P O kann die rechtspolitische Zielsetzung der Vorschrift nur sein, soweit nicht andere Regelungen der Z P O , die mit der Rechtshängigkeitssperre in einem systematischen Z u s a m m e n h a n g stehen, einer weiten Auslegung G r e n z e n setzen. Mithin m u ß die K e r n p u n k t t h e o rie nicht nur mit § 261 A b s 3 N r 1 Z P O zu vereinbaren sein, sondern sich darüber hinaus in den systematischen Z u s a m m e n h a n g des deutschen Z i vilprozeßmodels einfügen. 4 3 Zweifel hieran ergeben sich in zweifacher H i n s i c h t . Z u m einen k o m m t der Identifizierung des Verfahrensgegenstandes, also der „Streitsache" im deutschen Zivilprozeßrecht, eine andere Bedeutung zu als im E u G V Ü (siehe unten a). Z u m anderen stellt sich die Frage, o b eine weite Auslegung des § 261 A b s 3 N r 1 Z P O über die Fälle der „identischen Streitsachen" hinaus mit anderen Rechtsvorschriften 39 Hahn/Mugdan Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd 2, Abt 1, 1881, S. 227. 40 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23. 41 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23.
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Walker ZZP 1998, 429, 436; Zeuner in FS Lüke, 1997, S. 1015.
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Siehe hierzu insbesondere Walker ZZP 1998, 429, 431.
Rechtshängigkeitssperre und Sachzusammenhang
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bzw - Instituten zu vereinbaren ist, die eine Konzentration paralleler Verfahren im Interesse der Prozeßökonomie und der Rechtssicherheit vorsehen (siehe unten b). a) Grenzen einer prozeßökonomischen Auslegung des § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO aufgrund der Bedeutung des Verfahrensgegenstandes In der deutschen ZPO kommt der Bestimmung des Streitgegenstandes in mannigfacher Hinsicht Bedeutung zu. 44 Der Streitgegenstand, seine Lehren und begrifflichen Festlegungen haben im nationalen Recht Bedeutung etwa für die objektive Klagenhäufung (§ 260 ZPO), die Rechtshängigkeitssperre (§ 261 Abs 3 N r 1 ZPO), die Klageänderung (§§ 263, 264 ZPO) sowie die materielle Rechtskraft (§ 322 ZPO). 45 Für einen einheitlichen Streitgegenstandsbegriff spricht in erster Linie der Grundsatz der Dispositionsfreiheit im Zivilprozeß. Ist nämlich das Gericht im Rahmen seiner Entscheidung an die Parteianträge gebunden, so spricht einiges dafür, den Verfahrens gegenständ für die gesamte Dauer des Verfahrens einheitlich auszulegen. Im europäischen Zivilprozeßrecht stellt sich der systematische Zusammenhang, in den die Identifizierung des Verfahrensgegenstandes eingebettet ist, hingegen anders dar. Hier spielt die Frage nach dem Streitgegenstand grundsätzlich nur für einen einzigen Problembereich eine Rolle, nämlich für die Rechtshängigkeitssperre in Art 21 EuGVU. 4 6 Das EuGVU enthält insbesondere keine Regelungen über den Umfang der materiellen Rechtskraft. Vielmehr ist insoweit auf das nationale Prozeßrecht des Erstgerichts zurückzugreifen, so daß dessen Rechtskraftwirkungen auch in den anderen Vertragsstaaten des EuGVU zu beachten sind. 47 O b diese unterschiedliche Bedeutung des Streitgegenstandsbegriffs in den verschiedenen Prozeßrechten von vornherein jeglichen Einfluß der europäischen Lösung auf das deutsche Recht auszuschließen vermag, ist im Ergebnis wohl eher zweifelhaft; 48 denn an der einheitlichen theoretischen Auffassung zum Streitgegenstand zur deutschen ZPO wird - zumindest in den Lehrbüchern - überwiegend wohl nur noch aus didaktischen Gründen fest-
44
Beys ZZP 1992, 145, 147 f. Rüßmann ZZP 1998, 399; Beys ZZP 1992, 145, 147f.; Paulus Zivilprozeßrecht, 2000, Rn 102. 46 Rüßmann ZZP 1998, 399. 47 Lenenbach EWS 1995, 361, 365; Leipold in GS Arens, 1993, S. 247; Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 95 f. Zu den unterschiedlichen Steitgegenstandsbegriffen in den einzelnen Mitgliedstaaten, siehe Isenburg-Epple Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit nach dem Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen vom 27. 9. 1968, 1992, S. 169 ff. 48 AA Walker ZZP 1998, 429, 436 f. 45
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gehalten. 49 Im übrigen aber ist der Glaube, mit einer in sich geschlossenen Streitgegenstandslehre alle Fragen in den Griff zu bekommen, weitgehend abhanden gekommen. 50 Zunehmend wird daher ein relativer Streitgegenstandsbegriff vertreten, der den Zweck der jeweiligen Prozeßnorm in den Mittelpunkt rückt, um das jeweilige Verfahrensobjekt bestimmen zu können. 51 b) Grenzen einer prozeßökonomischen Auslegung des § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO aufgrund sonstiger Vorschriften zur Verfahrenskonzentration Eine extensive Auslegung der Rechtshängigkeitssperre könnte jedoch an solchen Vorschriften eine Grenze finden, die ebenfalls Entscheidungskonflikte zwischen parallelen Verfahren zu verhindern bzw den pfleglichen Umgang mit den Rechtspflegeressourcen zu schützen suchen. Auch wenn nämlich die deutsche Rechtshängigkeitssperre hinter den rechtspolitischen Zielvorgaben zurückbleibt, folgt daraus nicht, daß die ZPO den jenseits von § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO liegenden Konfliktfällen bzw Sachzusammenhängen gleichgültig gegenübersteht. Vielmehr enthält die ZPO insbesondere in § 148 ZPO und § 147 ZPO alternative Lösungsansätze, die der Prozeßökonomie dienen und § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO ergänzen. aa) Prozeßökonomie und § 148 ZPO Nach § 148 ZPO kann das Gericht für den Fall, daß die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Verfahrens bildet, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Bestimmung ist Ausdruck der Prozeßökonomie, dient sie doch - ebenso wie § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO dazu, den Entscheidungseinklang zu wahren und die doppelte Befassung der Gerichte mit derselben Frage zu verhindern. 52 Daß § 148 ZPO und § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO einander ergänzend das nämliche rechtspolitische Ziel ver49
Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 85. 50 Wieczorek/Prütting ZPO, 3. Aufl 1994, Einl Rn 69; Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 85; Schwab in FS Lüke, 1997, S. 94. 51 BlomeyerZivilprozeßrecht, 1963, § 40 II 2 und 3 (S. 198); S t e i n / J o n a s / Z P O , 20. Aufl 1984, Einl Rn 283; Wieczorek/Prutting, ZPO, 3. Aufl 1994, Einl Rn 68; Rüßmann ZZP 1998, 399 Fn 1; siehe Überblick bei Beys ZZP 1992, 145, 157 ff. 52 OLG Dresden NJW 1994, 139; OLG München NJW-RR 1995, 779, 780; Walker ZZP 1998, 429, 445; Stein/Jonas/Λοώ ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 4; Musielak/5W/er ZPO, 2. Aufl. 2000, § 148 Rn 1 ; Zöller/ Greger ZPO, 21. Aufl 1999, § 148 Rn 1 ; MünchKommZPO/ Peters $ 148 Rn 1; Thomas/Putzo/tfe¿c¿otóZPO, 22. Aufl 1999, § 148 Rn 2; Mittenzwei Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 82.
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folgen, zeigt sich nicht zuletzt an der früheren Praxis, bei Verzicht des Beklagten auf die sogenannte Einrede der Rechtshängigkeit - damals noch als beachtlich angesehen - 5 3 den Prozeß dann eben nach § 148 ZPO auszusetzen. 54 Die Aussetzung ist nur zulässig, wenn eine „Vorfrage" im auszusetzenden Verfahren „Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits" ist. Unstreitig ist mit dem Begriff „Verfahrensgegenstand" in § 148 ZPO nicht der prozessuale Streitgegenstand gemeint. 55 Vielmehr kommt es - anders als nach § 261 Abs 3 N r 1 ZPO - für die Aussetzung nach § 148 ZPO auf einen materiell-rechtlichen Konstruktionszusammenhang zwischen den parallelen Verfahren an. Letzterer liegt vor, wenn das eine Verfahren für das andere „vorgreiflich" ist. 56 Dies setzt wiederum voraus, daß in dem anderen ein Rechtsverhältnis Gegenstand des Verfahrens ist, dessen Bestehen für den vorliegenden Rechtsstreit von präjudizieller Bedeutung ist. Nicht notwendig, aber möglich ist es, daß über die Vorfrage im Parallelverfahren mit Rechtskraftwirkung für das auszusetzende Verfahren entschieden wird. 57 In jedem Fall muß es sich aber um eine „echte" Vorfrage handeln bzw die Entwicklung des auszusetzenden Rechtsstreits durch die ausstehende Entscheidung „wesentlich" bestimmt werden. 58 Dies ist beispielsweise nicht der Fall, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die in parallelen Verfahren geltend gemachten Ansprüche weitgehend identisch sind, 59 bzw zwei verschiedene Klagebegehren unabhängig voneinander aus demselben Klagegrund geltend gemacht werden 60 . Gleiches gilt, wenn in parallelen Verfahren verschiedene Teilbeträge aus einer Gesamtforderung 61 oder selbständige Ansprüche aus einem Dauerschuldverhältnis geltend gemacht werden. 62 Gleichförmigkeit der Ansprüche begründet mithin keine Vorgreiflichkeit. 63 Nicht
53 Siehe RG JW 1894, 195; M ü n c h K o m m Z P O / Z Ä , 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 4 f. 54 Siehe etwa Vierhaus ZZP 1882, 57, 74f.; Hellwtg Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 1903, S. 180. 55 Siehe nur Mittenzwei Oie Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 37ff. * OLG Zweibrücken FamRZ 1998, 380; OLG Köln NJW 1958, 106 f; Musielak/Stadler ZPO, 2. Aufl. 2000, § 148 Rn 5; Zöller/Greger ZPO, 21. Aufl 1999, § 148 Rn 5; Thomas/ Putzo/ReicholdZPO, 22. Aufl 1999, § 148 Rn 3. 57 Stein/Jonas/Λοώ ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 22; Thomas/Putzo/Reichold ZPO, 22. Aufl 1999, § 148 Rn 3; Musielak/ Stadler ZPO, § 148 Rn 5; M ü n c h K o m m Z P O / f t t m § 148 Rn 7; aA Mittenzwei Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 109 ff. ss OLG Köln NW-RR 1988, 1172, 1173. 5« OLG Frankfurt BB 1971, 1479. 60 OLG Köln NJW 1958, 106, 107 « OLG Köln MDR 1983, 848; OLG Köln NJW 1958, 106, 107; OLG Celle M DR 1958, 776; OLG Nürnberg MDR 1963, 507 " OLG Köln MDR 1983, 848. 63 Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO, 59. Aufl 2001, § 148 Rn 4.
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ausreichend für eine Aussetzung ist desweiteren, daß der eine Rechtsstreit durch den anderen Prozeß uU gegenstandslos werden könnte. 64 Um keine „echte" Vorfrage handelt es sich schließlich, wenn die im Freibeweis erlangten Erkenntnisse in dem einen Verfahren lediglich geeignet sind, den der klagenden Partei im Parallelverfahren obliegenden Beweis der auch dort festzustellenden Tatsachen zu erleichtern. 65 Zusammenfassend läßt sich mithin festhalten, daß es für den nach § 148 ZPO erforderlichen Zusammenhang nicht auf die Klageanträge, sondern auf den Inhalt der zu erwartenden Entscheidungen ankommt. Der erforderliche Zusammenhang ist jedoch nicht schon dann gegeben, wenn die in dem anderen Verfahren zu erwartende Entscheidung lediglich geeignet ist, irgendeinen Einfluß auf die Entscheidung im auszusetzenden Verfahren auszuüben 66 oder wenn die Möglichkeit besteht, daß die in parallelen Verfahren ergehenden Entscheidungen einander widersprechen. 67 Nicht sämtliche prozeßökonomischen Erwägungen rechtfertigen mithin den mit der Aussetzung des Verfahrens verbundenen Eingriff zu Lasten der Parteien. 68 bb) Prozeßökonomie und § 147 ZPO Neben § 148 ZPO dient auch § 147 ZPO der Prozeßökonomie. Die Vorschrift soll bei einem einheitlichen Sachverhalt eine interessen- und sachgerechte Lösung des gesamten Konfliktes ermöglichen und dazu beitragen, Rechtspflegeressourcen zu schonen sowie einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden. 69 Erreicht wird dies dadurch, daß die parallelen Verfahren auf Initiative des Gerichts in eine Hand gelegt, dh gleichzeitig verhandelt und entschieden werden. Voraussetzung für eine Verbindung der parallelen Verfahren nach § 147 ZPO ist zum einen, daß verschiedene Verfahren zwischen denselben Parteien bei ein und demselben Gericht anhängig sind und zum anderen daß zwischen den Ansprüchen, die den Gegenstand dieser Prozesse bilden, ein rechtlicher Sachzusammenhang besteht. Letzteres ist stets dann der Fall, wenn die Ansprüche aus einem gemeinsamen Rechts-
RG JW 1902, 359, 360; Stein/Jonas/Äoi/f; ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 23. OLG Zweibrücken FamRZ 1998, 380; weiter dagegen OLG München NJW-RR 1995, 779, 780. 66 OLG Zweibrücken FamRZ 1998, 380; OLG Köln MDR 1983, 848; OLG München NJW-RR 1996, 766; Musielak/Stadler ZPO, 2. Aufl. 2000, § 148 Rn 5; weiter dagegen Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO, 59. Aufl 2001, § 148 Rn 3. 67 OLG Schleswig FamRZ 1978, 153; OLG Frankfurt BB 1971, 1479; OLG Köln NJW 1958, 106, 107; Thomas/Putzo/ÄeicÄo/rf ZPO, 22. Aufl 1999, § 148 Rn 3. 68 OLG Köln NJW 1958, 106, 107; OLG Köln MDR 1983, 848; OLG München NJW-RR 1996, 766. Unberührt von § 148 ZPO bleibt freilich die Möglichkeit der Parteien, das Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO zu bentragen. 69 OLG Frankfurt BB 1971, 1479; Musielak/Stadler ZPO, 2. Aufl. 2000, § 147 Rn 1; Zöller/ Greger ZPO, 21. Aufl 1999, § 147 Rn 1 ; AK-ZPO/Goring § 147 Rn 1. M
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Verhältnis resultieren, mithin eine (teilweise) Identität der anspruchsbegründenden Merkmale besteht oder aber die verschiedenen Ansprüche in einer einzigen Klage (§ 260 ZPO bzw §§ 59, 60 ZPO) hätten geltend gemacht werden können. 70 Anders also als nach § 148 ZPO wird im Rahmen des § 147 ZPO der rechtliche Zusammenhang zwischen den parallelen Verfahren großzügiger ausgelegt. Im Gegenzug dazu aber wiegt der Eingriff in die Rechtsstellung der Parteien nach § 147 ZPO geringer als nach § 148 ZPO. 71 cc) Prozeßökonomie und Rechtsschutzbedürfnis Neben §§ 147, 148 ZPO schützt auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis - ebenso wie § 261 Abs 3 Nr.l ZPO - Aspekte der Prozeßökonomie. 7 2 So ist eine Leistungsklage beispielsweise unzulässig, wenn zur Erreichung des Prozeßziels ein „einfacherer Weg" zur Verfügung steht oder aber die Klage mißbräuchlich ist. Letzteres wird beispielsweise teilweise bei parallelen Teilklagen angenommen. 73 Im Rahmen der Feststellungsklage ist das Feststellungsinteresse, dh das im Gesetz besonders zum Ausdruck kommende Rechtsschutzinteresse, 74 vom Kläger besonders darzutun. Eine Feststellungklage ist danach unzulässig, wenn die Rechtsschutzgewährung durch ein Feststellungsurteil unvollständig ist, dh der Rechtsstreit zwischen den Parteien hierdurch nicht endgültig erledigt wird. Das fehlende Rechtsschutzinteresse muß aber nicht notwenig die Klagemöglichkeit insgesamt ausschließen. Vielmehr kann die Prüfung dieser Prozeßvoraussetzung auch dazu führen, daß dem Kläger der Antrag nur in einem bestimmten Gerichtsstand verwehrt ist. So hat beispielsweise der BGH erst jüngst entschieden, daß nicht nur die rechtliche Unwirksamkeit eines Prozeßvergleichs (im Grundsatz) 75 durch die Fortsetzung des bisherigen Rechtsstreits zu klären sei, sondern daß auch der Anspruch auf Rückerstattung der aufgrund des Vergleichs erbrachten Leistungen in Fortführung des Ursprungsverfahrens geltend gemacht werden müsse. 76 Für eine selbständige Klage fehle insoweit das Rechtsschutzbedürfnis. Der BGH hat damit „unter dem Deckmantel" einer allgemeinen Prozeßvoraussetzung aufgrund materiell-rechtlicher Zusammenhänge eine Verfahrenskonzentra70 Zöller/Greger ZPO, 21. Aufl 1999, § 147 Rn 3; Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO, 59. Aufl 1999, § 148 Rn 11; M u s i e l a k / W / e r ZPO, 2. Aufl. 2000, § 147 Rn 2. 71 Siehe für § 148 ZPO Stein/Jonas/ΛοίΑ ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 5. 72 MünchKommZPO/Z.»fe § 261 Rn 7; Habscheid Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1956, S. 163 f. 73 Walker ZZP 1998, 429, 441. 74 M ü n c h K o m m Z P O / L ü k e vor § 253 Rn 26. 75 Siehe hierzu und zu den Ausnahmen BGHZ 28, 171; 8^ 22^ 230f.; FamRZ 1993, 673, 674 f; NJW 1999, 2903. 76 BGH NJW 1999, 2903 f; aA Stein/Jonas/AfònzèergZPO, 21. Aufl 1995, § 794 Rn 83 ff.; OLG Köln NJW 1994, 3236 f.
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tion angeordnet, um einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern. Letzteres wäre - so der BGH - aufgrund der Unterschiedlichkeit der Streitgegenstände mithilfe des § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO nicht, im Wege der §§ 147, 148 nicht ebenso effektiv zu erreichen gewesen. 77 dd) Erweiterte Auslegung des § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO zu Lasten der vorgenannten Rechtsvorschriften und -institute Hat der ZPO-Gesetzgeber für die Fälle, in denen keine Identität der Streitsache, wohl aber ein Sachzusammenhang zwischen parallelen Verfahren besteht, grundsätzlich Vorsorge getroffen, dann bilden diese Vorschriften bzw Rechtsinstitute gesetzessystematisch besehen eine Grenze für eine erweiterte Auslegung des § 261 Abs 3 N r 1 ZPO. 78 Letzteres gilt insbesondere dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Anwendungsbereich der jeweiligen Vorschriften und Rechtsinstitute sich gegenseitig ausschließt. So ist beispielsweise für eine Aussetzung nach § 148 ZPO bzw für eine Prozeßverbindung dort kein Raum, wo in parallelen Verfahren identische Streitgegenstände geltend gemacht werden. 79 Auch kommt eine Aussetzung nach § 148 Z P O dann nicht in Frage, wo die für die Parteien weniger einschneidende Prozeßverbindung in Betracht kommt. 8 0 Im Verhältnis des § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO zum Rechtsschutzbedürfnis stellt die Rechtshängigkeitssperre in ihrem Anwendungsbereich die speziellere N o r m dar, so daß insoweit ein Rückgriff hierauf nicht gestattet ist.81 Zwar hat es in der Vergangenheit nicht an Ansätzen gefehlt, den Anwendungsbereich des § 261 Abs 3 N r 1 Z P O insbesondere zu Lasten der §§ 147, 148 ZPO zu erweitern. 82 So hat etwa Blomeyer91 die Ansicht vertreten, daß aus prozeßökonomischen Erwägungen die Rechtshängigkeitssperre immer
η BGH NJW 1999, 2903, 2904. 78 Siehe zu dem entsprechenden Problem im Rahmen des EuGVU im Verhältnis des Art 21 zu Art 22, Leipoldin GS Arens, 1993, S. 236 ff; Dohm Die Einrede der Rechtshängigkeit im deutschen internationalen Zivilprozeßrecht, 1996, S. 82 ff; Lenenbach EWS 1995, 361, 366f. ; Hau IPRax 1996, 177, 178 f; Bäumer Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Verfahrensrecht, 1999, S. 154 ff. 79 Vgl. OLG Köln NJW 1958, 106, 107; Stein/Jonas/Âoîè ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 25; Thomas/Putzo/Reichold ZPO, 22. Aufl 1999, § 261 Rn 3; Baumbach/Lauterbach/ Hartmann ZPO, 59. Aufl 2001, § 148 Rn 4; siehe auch Vierhaus ZZP 1882, 57, 74f.; Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 35. 80 Vgl. OLG München NJW-RR 1996, 766; OLG Frankfurt BB 1971, 1479; Zöller/Greger ZPO, 21. Aufl 1999, § 148 Rn 4. 81 M ü n c h K o m m Z P O / Z Ä § 261 Rn 7 Unklar ist hingegen das Verhältnis des § 148 ZPO zum allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis, vgl insoweit BGH NJW 1999, 2903, 2904. 82 Siehe hierzu BeysTZX 1992, 145, 158. 83 Zivilprozeßrecht, 1963, § 49 III 2 (S. 246); dagegen KraemerZZP 1951, 90, 91: „Vollends unzulässig wäre es natürlich, die Rechtshängigkeitseinrede zu gewähren, um prozeßökonomische Gründe fiskalischer Art oder eine Entlastung der Gerichte zu verwirklichen."
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schon greife, wenn der Streitstoff einheitlich in einem P r o z e ß (durch Klagehäufung, Klageänderung oder Widerklage) erledigt werden k ö n n e . Dieser weiten Auslegung des § 261 A b s 3 N r 1 Z P O ist die ganz h M jedoch nicht gefolgt. Ihrer Ansicht nach tragen vielmehr die §§ 147, 148 Z P O den prozeßö k o n o m i s c h e n Bedürfnissen grundsätzlich ausreichend Rechnung. O b letzteres zutrifft, erscheint zwar zweifelhaft, mag hier aber letztlich dahinstehen.
Vorliegend
soll allein
der Frage
nachgegangen
werden,
ob
die
Kernpunkttheorie des E u G H dazu zwingt, das Verhältnis des § 261 A b s 3 N r 1 Z P O zu den §§ 147, 148 Z P O grundsätzlich neu zu überdenken. 8 4 Die Kernpunkttheorie in A r t 21 E u G V Ü steht in einem engen Z u s a m menhang mit Art 2 7 N r 3 E u G V Ü . 8 5 N a c h dieser Vorschrift wird die E n t scheidung eines Vertragsstaates nicht anerkannt, wenn diese mit einer E n t scheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die A n e r k e n n u n g geltend gemacht wird, ergangen ist. Die Vertragsstaaten des E u G V Ü stellen damit die Autorität der Entscheidungen ihrer Gerichte über die der anerkennungspflichtigen ausländischen Entscheidungen. 8 6 Deswegen k o m m t es für A r t 2 7 N r 3 E u G V Ü auch nicht darauf an, ob das inländische Urteil zeitig früher als die ausländische Entscheidung ergangen ist oder nicht. V i e l m e h r stellt A r t 2 7 N r 3 E u G V Ü ein absolutes A n erkennungs- und Wirkamkeitshindernis für ausländische Entscheidung im Anerkennungsstaat auf. O b Urteile im Sinne des A r t 2 7 N r 3 E u G V Ü unvereinbar sind, richtet sich nach einer a u t o n o m e n Auslegung des Übereink o m m e n s und damit losgelöst von nationalen Streitgegenstandsauffassungen und Rechtskraftwirkungen. 8 7 Auf der Grundlage dieser a u t o n o m e n Auslegung liegt ein Wirksamkeitshindernis iS des Art 2 7 N r 3 E u G V Ü schon dann vor, wenn sich die in parallelen Verfahren ausgesprochenen Rechtsfolgen gegenseitig ausschließen. 8 8 Trifft also beispielsweise ein Zahlungsurteil auf ein Urteil, in dem das N i c h t b e s t e h e n des Vertrages, aus dem Siehe hierzu Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 23. EuGH NJW 1989, 665, 666 (Nr. 18); ZZPmi 1998, 246, 248 (Nr. 17); JZ 1995, 616, 618 (Nr. 32); BGH IPRax 1996, 192; LG Düsseldorf IPRax 1999, 461, 463; Oberhammer JBl 2000, 205, 217; Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, 6. Aufl 1998, Art. 21 Rn 7; Schuck IPRax 1989, 139; Leipold in GS Arens, 1993, S. 234 f; Adolphsen ZZPint 1998, 246, 252; Otte IPRax 1999, 440, 443; Lenenbach EWS 1995, 361, 364; Rüßmann ZZP 1998, 399, 406. Zu dem Problem der (kurzen) zeitlichen Reichweite dieses Zusammenhangs Rüßmann ZZP 1998, 399, 425 ff; ausführlich Oberhammer JBl 2000, 205, 218 ff. 86 Schlosser EuGVÜ, 1996, Art 27-29 Rn 22. 87 BGH IPRax 1996, 192; Nagel/ Gottwald Internationales Zivilprozeßrecht, 4. Aufl 1997, § 11 Rn 242; Schlosser EuGVÜ, 1996, Art 27-29 Rn 22; Rüßmann ZZP 1998, 399, 406; kritisch Adolphsen ZZPint 1998, 246, 256f.; Lenenbach Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht, 1997, S. 151 ff. 88 EuGH IPRax 1989, 159, 160f. (ab Nr 22); BGH IPRax 1996, 192; Schack IPRax 1989, 139, 141; Huber]Z 1995, 603, 607; Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, 6. Aufl 1998, Art 21 Rn 44 ff; siehe auch Adolphsen ZZPint 1998, 246, 257 84
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sich der Zahlungsanspruch ableitet, festgestellt wird, ist der Versagungsgrund des Art 27 Nr 3 E u G V U gegeben. 89 Im Hinblick auf dieses - relativ weit gefaßte Wirksamkeitshindernis für Urteile im Stadium der Anerkennung und Vollstreckung 90 hat der E u G H einen „erweiterten Begriff der Rechtshängigkeit" gefolgert, um damit Vorkehrungen für eine Situation zu treffen, die dem Urteil eines Vertragsstaates die Anerkennungsfähigkeit und Wirksamkeit in einem anderen Vertragsstaat nehmen könnte. Zusammenfassend läßt sich mithin feststellen, daß der Anwendungsbereich der Rechtshängigkeitssperre im europäischen Prozeßrechtsmodell nur soweit reicht, wie die Gefahr von Wirksamkeitshindernissen besteht. 91 Darüber hinausgehende Sachzusammenhänge zwischen parallelen Verfahren will hingegen Art 21 E u G V Ü nicht erfassen. 92 Nicht nur im EuGVU, sondern auch im deutschen Recht können einander widersprechende Entscheidungen zu einem „Wirksamkeitshindernis" führen. Zwar folgt dies nicht - wie im EuGVU - aus einem Anerkennungsversagungsgrund; denn inländische Urteile bedürfen keiner Anerkennung, um hier ihre Wirkungen zu entfalten. Ein Wirksamkeitshindernis besteht jedoch dann, wenn sich inländische Urteile in ihrem rechtskraftfähigen Ausspruch widersprechen. Zwar kann der Widerspruch durch Rechtsmittel bzw unter den Voraussetzungen des § 580 Nr 7a ZPO behoben werden, indem das zweite Urteil beseitigt wird. Sind aber die Rechtsmittelfristen verstrichen und ist über die Restitutionsklage noch nicht entschieden bzw die Frist auch hierfür schon abgelaufen (§ 586 ZPO), dann hat das eine Urteil notwendig dem anderen zu weichen. Welchem Urteil der Vorrang gebührt, ist umstritten. 93 Uberwiegender Ansicht nach soll die ältere Entscheidung der jüngeren vorgehen.94
89 Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, 6. Aufl 1998, Art 27 Rn 45; Jenard BTDrucks VI/1973, S. 53 f zu Art 27 90 Vgl hierzu im einzelnen HuberjZ 1995, 603, 608. 91 Ansonsten verbliebe ja für Art 22 EuGVU kein eigenständiger Anwendungbereich. Es ist aber nicht anzunehmen, daß der EuGH mithilfe der Kernpunkttheorie den Art 22 EuGVU gänzlich aushöhlen wollte, Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 24; Schock 1 PRax 1989, 139, 140; Walker ZZP 1998, 429, 438f.; Lupfert Konnexität im EuGVÜ, 1997, S. 91 ff. Zu Art 22 EuGVÜ siehe insbesondere LG Düsseldorf IPRax 1999, 461, 464. 92 Vielmehr ist insoweit der Anwendungsbereich des Art 22 EuGVÜ eröffnet. 93 Siehe hierzu und zu den historischen Vorstellungen des Gesetzgebers Lenenbach Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht, 1997, S. 18 ff. 94 BGH NJW 1981, 1517, 1518; BAG NJW 1986, 1831, 1832; Thomas/Putzo ZPO, 22. Aufl 1999, § 261 Rn 15; MünchKommZPO/Gottwaldl. Aufl 2000 § 322 Rn 58; Rosenberg/ Schwab/Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 d; Lenenbach Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozeßrecht, 1997, S. 59 ff. (jedoch nicht für sämtliche Urteilswirkungen); Musielak ZPO, § 322 Rn 15 und § 261 Rn 9; Rüßmann ZZP 1998, 399, 408 f; Gaul in FS Weber, 1975, S. 158 ff.; aA Mädrich MDR 1982, 455, 456; Stein/Jonas/Leipold ZPO, 21. Aufl 1998, § 322 Rn 226.
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Der Vermeidung derartiger zu Wirksamkeitshindernissen führenden Konflikte bzw dem Schutz der unmittelbaren Rechtskraftwirkung des zu erwartenden Urteils dient die Rechtshängigkeitssperre in § 261 Abs 3 N r 1 ZPO. 9 5 Dies entspricht auch dem Willen des historischen Gesetzgebers. Ausweislich der Gesetzesmaterialien sollte nämlich die Einrede der Rechtshängigkeit (§ 227 Ε-ZPO) denselben Umfang haben, wie die unmittelbare Rechtskraftwirkung, um auf diese Weise die Gefahr von Wirksamkeitshindernissen erst gar nicht aufkommen zu lassen. 96 Insoweit besteht mithin im Grundsatz kein Unterschied zum EuGVÜ. Anders aber als im Anwendungsbereich des EuGVÜ ist die Gefahr von Wirksamkeitshindernissen im deutschen Recht ungleich geringer; 97 denn nach deutschem Recht erwächst in materielle Rechtskraft allein die vom Gericht getroffene Entscheidung über den Streitgegenstand, also der Subsumtionsschluß als Ganzes, nicht aber die einzelnen Elemente des Subsumtionsschlusses. Dieser geringeren Gefahr, daß verschiedene Urteile in ihrem rechtskraftfähigen Ausspruch kollidieren, korrespondiert im deutschen Recht der - gegenüber dem EuGVÜ - engere Begriff der Rechtshängigkeit. Damit besteht zwischen der deutschen und der europäischen Rechtshängigkeitssperre zwar ein quantitativer Unterschied, da letztere parallele Verfahren im weiteren Umfang sperrt als das deutsche Recht. 98 Ein qualitativer Unterschied besteht zwischen beiden Regelungen jedoch nicht; 99 denn sowohl nach Art 21 EuGVÜ als auch nach § 261 Abs 3 N r 1 ZPO sollen und werden solche parallele Verfahren nicht behindert, die nicht die Gefahr von Wirksamkeitshindernissen bergen. Eine Ausweitung des § 261 Abs 3 N r 1 ZPO auf Kosten des Anwendungsbereichs der §§ 147, 148 ZPO allein aus prozeßökonom/schen Erwägungen läßt sich mithin auf der Grundlage der Kernpunkttheorie des E u G H kaum begründen. c) Grenzfälle Dient die Rechtshängigkeitssperre mithin dem Schutz der unmittelbaren Rechtskraftwirkung des zu erwartenden Urteils, dann hat sich der Umfang der Rechtshängigkeitssperre notwendig an der objektiven Reichweite der 95 Mittenzwei Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 66 f, Leipoldin GS Arens, 1993, S. 240 f; Zeuner in FS Lüke, 1997, S. 1004 und 1015/1016; siehe auch RGZ 160, 191, 192; 160, 338, 344; kritisch Rimmelspacher Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozeß, 1970, S. 315ff. 96 Siehe HahnIMugdan Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd 2, Abt 1, 1881, S. 182; siehe auch Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1996, § 261 Rn 51 ; Zeuner m FS Lüke, 1997, S. 1017/1018; siehe auch OberhammerJB1 2000, 205, 219. 97 Zeuner in FS Lüke, 199^ S. 1009f. 98 Lenenbach EWS 1995, 361, 364. 99 In diesem Sinne wohl auch Zeuner in FS Lüke, 1997, S. 1009; aA Walker ZZP 1998, 429, 445.
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Rechtskraft zu orientieren. 100 Diese Koppelung des § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO an die unmittelbare Rechtskraftwirkung bereitet auf den ersten Blick keine Schwierigkeiten, knüpfen doch materielle Rechtskraft und Rechtshängigkeitssperre nach (noch) überwiegender Ansicht an einem einheitlichen Streitgegenstand an.101 Auf den zweiten Blick stellt sich die Situation jedoch dort anders dar, wo die hM für die Rechtskraftwirkung über den von dem Kläger gestellten Antrag hinausgreift. Hier stellt sich die Frage, ob diese „erweiterte Rechtskraftwirkung" im Vorfeld des Urteils durch die sonstigen, der Prozeßökonomie dienenden Vorschriften oder aber durch die Rechtshängigkeitssperre zu schützen ist. Letzteres ist keinesfalls zwingend; denn typisch für die Fälle der „erweiterten Rechtskraftwirkung" ist, daß mit der Entscheidung über den einen Klageantrag nicht zwingend auch über den Antrag im Parallelverfahren mitentschieden wird. Damit würde aber - bei einer unbesehenen Anwendung des § 261 Abs 3 N r 1 ZPO - dem Kläger des Zweitprozesses die Rechtsverfolgung abgeschnitten, obwohl eine Rechtskraftkollision nicht zwingend vorgegeben ist, der Erstprozeß die Entscheidung über seinen Anspruch mithin nicht notwendig entbehrlich macht. Darüber hinaus würde die Anwendung der Rechtshängigkeitssperre in diesen Fällen dazu zwingen, nicht nur auf die Identität der Anträge abzustellen, sondern auch Sachzusammenhänge zwischen den parallelen Verfahren zu berücksichtigen. Wie in diesen Grenzbereichen zu verfahren ist, wird in Rechtsprechung und Literatur völlig uneinheitlich beantwortet. Letzteres soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden: (1) Beispiel: Wird über denselben Lebenssachverhalt parallel in einer negativen Feststellungsklage und einer Leistungsklage prozessiert, so können die Entscheidungen in ihrem rechtskraftfähigen Ausspruch zueinander in Konflikt geraten. Letzteres ist allerdings nicht zwingend. Weist etwa das Gericht die negative Feststellungsklage ab und erwächst die Entscheidung in Rechtskraft, so wird die nachfolgende Leistungsklage hierdurch nicht unzulässig.102 Für die Frage, wie dieser Möglichkeit eines Rechtskraftkonfliktes zu begegnen ist, wird überwiegend danach differenziert, welcher Antrag zuerst gestellt wurde. 103 Für den Fall, daß zunächst die Leistungsklage und anschließend die negative Feststellungklage erhoben wurde, geht die ganz hM davon aus, daß trotz formal unterschiedlicher Anträge die Rechtshängigkeitssperre 100 RG JW 1894, 195; Musielak/Foerste ZPO, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 10; siehe auch Hau Positive Kompetenzkonflikte im Internationalen Zivilprozeßrecht, 1996, S. 114 f. ™ Siehe oben IV.2.a). 102 Rosenberg/ Schwab/ Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 c; Zeunerm FS Liike, 1997, S. 1014. Jedoch muß das Gericht - auf entsprechenden Antrag hin - den Leistungsbefehl aussprechen, ohne den Anspruch zu prüfen, siehe Zeuner ebd. 103 Siehe nur Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1996, § 261 Rn 60ff.; Habscheid Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1956, S. 272ff.
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greift.104 Begründet wird dies wiederum mithilfe einer extensiven Auslegung des Begriffes „identische Anträge". Da der Feststellungsantrag im Leistungsantrag enthalten und darüber hinaus der vorgetragene Lebenssachverhalt identisch sei, liege eine für § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO ausreichende „Teilidentität" vor, die die spätere negative Feststellungsklage sperre. Im umgekehrten Fall des zeitlichen Vorrangs der Feststellungsklage vor der Leistungsklage herrscht demgegenüber Streit, wie zu verfahren ist. 105 Vielfach wird die Ansicht vertreten, es lägen aufgrund der Verschiedenheit der Anträge auch verschiedene Streitsachen iS des § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO vor.106 Welche Folgerungen aber hieraus zu ziehen sind, wird nicht einheitlich beantwortet. Teilweise wird eine entsprechende Anwendung des § 148 ZPO befürwortet. 107 Letzteres ist freilich nicht konsequent; denn „vorgreiflich" iS des § 148 ZPO 1 0 8 ist die Feststellungsklage für die Leistungsklage aufgrund des identischen Lebenssachverhalts nicht. Die Rechtsprechung hingegen läßt die spätere Leistungsklage vorgehen, indem sie der Feststellungsklage das Feststellungsinteresse (also das besondere Rechtsschutzinteresse) 109 abspricht, sobald die Leistungsklage nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann. 110 Die Rechtsprechung schließt mithin die Gefahr einander widersprechender Urteile mithilfe des Rechtsschutzinteresses aus. In der Literatur gewinnt dagegen zunehmend ein dritter Weg an Zulauf. Danach ist im vorliegenden Fall - aufgrund des übereinstimmenden Lebenssachverhaltes - § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO anzuwenden. 111 Dieser Ansicht zufolge sperrt mithin die negative Feststellungklage die zeitlich nachfolgende Leistungsklage. Die Rechtshängigkeitssperre wird hier jedoch anders als
104 Leipold in GS Arens, 1993, S. 229; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1997, § 261 Rn 62; leuner in FS Lüke, 1997, S. 1010; Rüßmann ZZP 1998, 399, 409; Rosenberg/Schwab/ Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 c. 105 Vgl. WalkerZZV 1998, 429, 440 f.; leuner in FS Lüke, 1997, S. lOlOf. 106 Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1997, § 261 Rn 62; Hertmann]R 1988, 374, 377; Rosenberg/Schwab/ Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 c. 107 OLG Düsseldorf WRP 1984, 548, 551; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1997, § 256 Rn 126; ders in Stein/Jonas § 261 Rn 62; Stein/Jonas/Roth ZPO, 21. Aufl 1993, § 148 Rn 27; Hertmann JR 1988, 374, 377 108 Siehe hierzu oben IV.2.b)aa); siehe auch Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 32 f. 109 Vgl. oben IV.2.b)cc). 110 RGZ 151, 65, 66; BGHZ 18, 22, 41; BGH NJW 1973, 1500; JR 1988, 374, 375; NJW 1991, 1061, 1062; NJW 1997, 870, 872; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 93 IV 2; Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO, 59. Aufl 2001, § 256 Rn 84; Habscheid Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1956, S. 273 f.; siehe auch Leipold'm GS Arens, 1993, S. 232. 111 MünchKommZPO/Lüke § 261 Rn 66; Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 22; Rüßmann ZZP 1998, 399, 414; leuner in FS Lüke, 1997, S. 1013; Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 26; Heß/Vollkommer WuB VII Β Art 21 EuVÜ 1.97.
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sonst verstanden. 1 1 2 D a der Beklagte im P r o z e ß über die negative Feststellungsklage bestenfalls die Klageabweisung, in k e i n e m Fall aber die Unterbrechung der Verjährung seiner Forderung 1 1 3 erreichen b z w einen Leistungstitel erlangen kann, müsse dem überschießenden Rechtsschutzziel des Beklagten dadurch R e c h n u n g getragen werden, daß ihm die Möglichkeit einer Leistungswiderklage im Verfahren über die negative Feststellungklage eröffnet werde. 1 1 4 (2) Beispiel: H a t das Gericht über die Klage rechtskräftig entschieden, dann wird von der materiellen Rechtskraftbindung auch das „kontradiktorische Gegenteil" 1 1 5 der im ersten P r o z e ß ausgesprochenen Rechtsfolge erfaßt. Wird dem Kläger beispielsweise das Eigentum zugesprochen, dann ist damit zugleich festgestellt, daß der Beklagte nicht Inhaber dieses Rechts ist. 1 1 6 H a t t e der Kläger mit seiner Klage auf Feststellung des Eigentums E r folg, dann steht demzufolge die Rechtskraft der Entscheidung auch einer nachfolgenden positiven Feststellungsklage des ehemaligen Beklagten entgegen, mit der dieser die Feststellung seines Eigentums begehrt. 1 1 7 Problematisch ist allerdings, wie in parallelen Verfahren die Gefahr eines Rechtskraftkonflikts zu bannen ist, wenn also die Parteien wechselseitig ihr Eigentum festgestellt wissen wollen. D a die Anträge nicht identisch sind, kann die Entscheidung des Gerichts in einem P r o z e ß den im anderen P r o z e ß verfolgten Anspruch nicht stets nach allen Seiten zur Erledigung bringen. Weist nämlich das Gericht die Feststellungsklage der einen Partei ab, ist das Eigentum der anderen damit nicht festgestellt. D i e überwiegende Ansicht m ö c h t e hier die Gefahr einer möglichen Rechtskraftkollision nicht mithilfe der Rechtshängigkeitssperre, sondern im Wege der Aussetzung nach § 148 Z P O ausschließen. 1 1 8 Letzteres ist freilich nur in analoger Anwendung m ö g lich; denn „vorgreiflich" ist - aufgrund des weitgehend identischen L e b e n s sachverhalts - das eine Verfahren für das andere nicht. 1 1 9 (3) Beispiel: Verfolgen die Parteien in getrennten parallelen Verfahren gegenläufige Abänderungsklagen auf E r h ö h u n g b z w Verminderung des bereits Walker ZZP 1998, 429, 448 f; Zeuner'm FS Lüke, 1997, S. 1014 f. Siehe BGH NJW 1976, 1975, 1976; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozeßrecht, 15. Aufl 1993, § 100 III 1 c. 114 Rüßmann 2ZP 1998,399, 411; Zeunerin FS Lüke, 1997, S. 1003 ff; MünchKommZPO/ Lüke, 2. Aufl. 2000, § 256 Rn 61 und § 261 Rn 66. 115 Zu diesem nicht einheidich verstandenen Begriff, siehe Foerste ZZP 1995, 167, 169f. 116 BGH NJW 1993, 2684, 2685; Stein/Jonas/LeipoldZPO, 21. Aufl 1998, § 322 Rn 197 •17 Musielak in FS Nakamura, 1996, S. 429f.; Stein/Jonas/Leipold ZPO, 21. Aufl 1998, § 322 Rn 197; Musielak ZPO, § 322 Rn 21; Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 23; siehe auch für einen vergleichbaren Fall RGJW 1894, 195; Gruchot 48, 122, 123 f. 118 RG Gruchot 48, 122, 123 f; JW 1894, 195 f; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1997, § 261 Rn 57; Mittenzwei Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 112. Siehe oben IV. 2. b) aa). 112 113
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titulierten Unterhalts, 1 2 0 so droht ein Rechtskraftkonflikt; denn mit der stattgebenden Entscheidung in dem einen Verfahren, wird gleichzeitig das andere Verfahren erledigt. Letzteres trifft allerdings nicht für alle Fallgestaltungen zu, so etwa, wenn die Abänderungsklage abgewiesen wird. O b w o h l sich die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen
vorliegend
nicht anders darstellt als im Beispiel (2), wendet die ganz hM 1 2 1 hier § 261 A b s 3 N r 1 Z P O an, u m die Gefahr zu bannen. D i e Rechtshängigkeitssperre wird aber anders verstanden als sonst. Eine zeitlich später anhängig gemachte Abänderungsklage ist danach nämlich nicht schlechthin, sondern nur vor anderen Gerichten ausgeschlossen. Dagegen sind gegenläufige A b änderungsanträge vor dem Gericht des Erstverfahrens in Gestalt einer W i derklage ohne weiteres zulässig. (4) Beispiel: Grundsätzlich sind alle materiell-rechtlichen
Anspruchs-
grundlagen, unter denen der Streitgegenstand aufgrund des vorgebrachten Sachverhalts zu prüfen war, durch die rechtskräftige Entscheidung über den prozessualen Anspruch erledigt. Letzteres gilt jedoch überwiegender Ansicht nach dort nicht, w o die Kognitionsbefugnis des Gerichts - etwa wie im Deliksgerichtsstand (§ 32 Z P O ) - 1 2 2 beschränkt ist. Folgt man dieser A n sicht, dann hat die beschränkte Entscheidungsbefugnis eine Spaltung b z w B e s c h r ä n k u n g des Streitgegenstands zur Folge. 1 2 3 Letzteres wiederum bewirkt, daß der Kläger im Falle des Unterliegens im Deliktsgerichtsstand eine erneute Schadensersatzklage mit unverändertem Tatsachenvortrag gestützt auf Vertrag erheben kann. D e r Klage steht - überwiegender Ansicht nach die Rechtskraft der abweisenden Erstentscheidung nicht entgegen. 1 2 4 A n ders ist die Rechtslage jedoch im Falle des Obsiegens im Deliktsgerichtsstand. H i e r erfaßt die Bindungswirkung der Rechtskraft auch die sich aus 120 Siehe hierzu Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 91 f. "i BGH FamRZ 1997, 488; OLG Düsseldorf FamRZ 1994, 1535, 1536; OLG Karlsruhe FamRZ 1984, 1247, 1248; Gottwald in FS Schwab, 1990, S. 162 f; MünchKommZPO/Gottwaldl. Aufl 2000, § 323 Rn 8; Musielak/Foereie ZPO, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 11. 122 So wohl noch die überwiegende Ansicht, vgl BGH 1986, 2436, 2437; 1996, 1411, 1413; OLG Frankfurt MDR 1982, 1023; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1993, § 32 Rn 17; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 20. Aufl 1984, Einl Rn 295; Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO, 59. Aufl 2001, § 32 Rn 14; MünchKommZPO/Patzina § 32 Rn 16; Peglau]A 1999, 140; Maààsk/Smid ZPO, § 32 Rn 10; Habscheid Oer Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1956, S. 154ff.; aA dagegen BayObLG NJW-RR 1986, 508; Thomas/Putzo ZPO, 22. Aufl 1999, vor § 12 Rn 8; Zöller/Vollkommer ZPO, 21. Aufl 1999, § 12 Rn 20f.; Schwab in FS Zeuner, 1994, S. 499. i« BGH NJW 1988, 1466 f; Habscheid Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1956, S. 155, 160; Musielak/SmidZPO, § 32 Rn 10; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1993, § 32 Rn 17; Stein/Jonasl Schumann ZPO, 20. Aufl 1984, Einleitung Rn 295; Stein/Jonas/Z.«/>oW ZPO, 21. Aufl 1998, § 322 Rn 111. ' 24 RGZ 27, 385, 389; BGH VersR 1978, 59, 60; Stein/Jonas ¡Schumann ZPO, 20. Aufl 1984, Einl Rn 295; siehe auch MünchKommZPO/Gottwald2. Aufl 2000, § 322 Rn 109.
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dem nämlichen Sachverhalt ergebenden vertraglichen Anspruchsgrundlagen. Verfolgt nun der Kläger den vertraglichen und den deliktischen Anspruch getrennt vor verschiedenen Gerichten, stellt sich die Frage, wie dieser Möglichkeit einer Rechtskraftkollision zu begegnen ist. Teilweise wird insoweit § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO (mit unterschiedlichen Begründungen) entsprechend angewandt, obwohl die Entscheidung über den einen Antrag den anderen nicht notwendig hinfällig macht. 125 Teilweise wird der zweiten Klage aber auch für die Dauer der Rechtshängigkeit das Rechtsschutzbedürfnis abgesprochen 126 bzw § 148 ZPO 127 entsprechend angewandt. d) Schlußfolgerung und Zusammenfassung Für die Frage, wie in den Fällen einer „erweiterten" Rechtskraftwirkung die Gefahr von Wirksamkeitshindernissen in parallelen Verfahren zu begegnen ist, hat sich in Rechtsprechung und Literatur bislang kein einheitlicher Lösungsweg herausgebildet. Einigkeit besteht lediglich hinsichtlich des Ziels, daß nämlich der Gefahr sich widersprechender rechtskraftfähiger Urteilsfeststellungen auf jeden Fall entgegenzutreten ist.128 Vorzugswürdig erscheint eine einheitliche Zuordnung aller dieser Fälle zu § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO; 129 denn einer „erweiterten" Rechtskraftwirkung wird am ehesten ein „erweiterter" Begriff der Rechtshängigkeit gerecht, 130 auch wenn damit entgegen der bislang herrschenden Ansicht - materiell-rechtliche Zusammenhänge in § 261 Abs 3 Nr. 1 ZPO Eingang finden. Für diese Lösung spricht, daß Entscheidungen, die in ihrem rechtskraftfähigen Ausspruch kollidieren, zu Wirksamkeitshindernissen führen und daß die Vermeidung von Wirksamkeitshindernissen historisch und systematisch besehen die Aufgabe des § 261 Abs 3 N r 1 ZPO ist.131 Freilich setzt 125
MiinchKommZPO/Lüke, 2. Aufl. 2000, § 261 Rn 59; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1996, § 261 Rn 56. 126 Habscheid Oer Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1956, S. 164, 278. 127 Siehe hierzu auch MünchKommZPO/Z.«&e § 261 Rn 59 Fn 92; Rosenberg Zivilprozeßrecht, 9. Aufl 1961, § 33 II 2. 128 Vgl. nur WalkerZZP 1998, 429, 437 ff; siehe allerdings aber auch BGHZ 57, 242, 244: „Freilich ist bei der hier vertretenen Ansicht die Möglichkeit nicht zu leugnen, daß einmal verschiedene Gerichte ... verschieden rechtskräftig entscheiden. Diese Gefahr ist aber nur sehr theoretischer Natur und kann in Kauf genommen werden". 129 Für eine Auffangfunktion des § 148 ZPO in diesen Fällen hingegen Mittenzwei Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 103 f. 130 Siehe hierzu insbesondere Leipold in GS Arens, 1993, S. 229, der auch darauf hinweist, daß eine Ausweitung der Rechtskraftwirkung etwa auf Sachzusammenhänge dann auch notwendig Auswirkungen auf den Umfang der Rechtshängigkeitssperre haben muß, in diesem Sinne zu Recht auch Riißmann ZZP 1998, 399, 415; Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 15 ff. 131 RGZ 160, 191, 192; Leipold in GS Arens, 1993, S. 229; Mittenzwei Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1971, S. 63 ff; Hau Positive Kompetenzkonflikte im internationalen Zivilprozeßrecht, 1996, S. 114 f; siehe auch oben IV.2.b)dd).
Rechtshängigkeitssperre u n d Sachzusammenhang
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die vorliegende Ansicht - zumindest teilweise - hinsichtlich der Rechtsfolge ein gewandeltes Verständnis des § 261 Abs 3 S 1 ZPO voraus. Dort nämlich, wo die Rechtsschutzziele nicht identisch sind und eine Prozeßverbindung nicht unzulässig ist, kann der spätere Antrag nicht schlechthin, sondern nur vor einem anderen Forum als dem des Erstverfahrens ausgeschlossen sein. Unvereinbar ist ein solches gewandeltes Verständnis der Rechtshängigkeitssperre mit dem Wortlaut, Sinn und Zweck des § 261 Abs 3 N r 1 ZPO nicht. Dies zeigt allein schon die ständige gerichtliche Praxis zu den Fällen gegenläufiger Abänderungsklagen. 132 Auch im übrigen weist der Weg über § 261 Abs 3 N r 1 ZPO mehr Vor- als Nachteile auf. So ist zB die Rechthängigkeitssperre gegenüber § 148 ZPO besser geeignet, Entscheidungskonflikte zu vermeiden, 133 da § 148 ZPO die Aussetzung des Verfahrens nicht zwingend anordnet, sondern sie in das Ermessen des Richters stellt. Auf diesen Nachteil des § 148 ZPO hat der BGH - freilich in einem anderen Zusammenhang - bereits hingewiesen. 134 Vermeidet man Rechtskraftkonflikte in parallelen Verfahren mithilfe des Rechtsschutzbedürfnisses, so hat dies gegenüber § 148 ZPO sicherlich den Vorteil, daß letzteres von Amts wegen zu beachten ist. Gegenüber diesem Weg aber erscheint § 261 Abs 3 N r 1 ZPO als der prozeßökonomischere Weg.135 Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel der Konkurrenz von negativer Feststellungsklage und Leistungsklage.136 Beseitigt die später erhobene Leistungsklage das Feststellungsinteresse der zunächst erhobenen negativen Feststellungsklage, dann gehen auch alle Ergebnisse einer möglicherweise umfangreichen Beweisaufnahme verloren.137 Folge hiervon ist freilich ein zusätzlicher Aufwand an Zeit, Arbeit und Kosten für die Gerichte, den der Weg über die Rechtshängigkeitssperre vermeidet. Letzteres gilt freilich nicht, wenn man - wie es der BGH teilweise getan hat - der Klage das Rechtsschutzbedüfrnis nicht insgesamt, sondern nur in jedem anderen Gerichtsstand als dem der Erstklage abspricht. Dann aber besteht zu der hier vertretenen Ansicht kein Unterschied. 132
Siehe oben IV.2.c) (3) Beispiel; siehe aber zur Zuständigkeitskonzentration kraft Sachzusammenhang auch RGZ 160, 191, 192. 133 Vgl. im selben Sinne für das Verhältnis von Art 21 EuGVÜ und Art 22 EuGVÜ, Rüßmann ZZP 1998, 399, 407; Schuck IPRax 1989 139, 140; Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 32ff.; siehe aber auch Walker ZZP 1998, 429, 439. 134 BGH NJW 1999, 2903, 2904; siehe hierzu auch oben IV.2.a)cc). 135 Siehe in diesem Sinne etwa Herrmann]K 1988, 374, 376ff.; Bettermann Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, 1949, S. 36ff. » 6 Vgl oben IV.2.c) (1) Beispiel. 137 Siehe zu diesem Aspekt leuner in FS Lüke, 1997; S. 1011 f; Rüßmann ZZP 1998, 399, 412; Walker ZZP 1998, 429, 443f. Die Rechtsprechung schränkt aus diesem Grund ihre Ansicht vom Wegfall des Feststellungsinteresses für den Fall ein, daß die Feststellungsklage entscheidungsreif ist (siehe etwa BGHZ 18, 22, 42; BGH JR 1988, 374, 375; NJW 199^ 870, 872). Diese Einschränkung wird freilich teuer erkauft; denn nunmehr besteht wieder die Gefahr einander im rechtskraftfähigen Ausspruch sich widersprechender Urteile.
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Der Nachteil des § 261 Abs 3 Nr 1 ZPO gegenüber den anderen Lösungsalternativen besteht freilich darin, daß der Kläger des Zweitverfahrens einen Eingriff in seine Rechtsstellung erfährt.138 Letzterer wird zwar durch die modifizierte Rechtsfolge der Rechtshängigkeitssperre abgeschwächt; denn dem Kläger wird ja nicht die Rechtsdurchsetzung insgesamt, sondern nur vor einem anderen Forum als dem des Erstverfahrens genommen. Ein derartiger Vorrang des Grundsatzes der Verfahrenskonzentration vor der Zuständigkeitsordnung stellt einen gewissen Fremdkörper in der ZPO dar, da diese es zumindest im Grundsatz der Parteiautonomie überläßt, ob es (im Wege einer Klagehäufung oder Widerklage) zu einer Verfahrenskonzentration kommt. 139 Ein derartiger in der zwangsweisen Verfahrenskonzentration liegender Eingriff zu Lasten des Klägers des Zweitverfahrens ist aber auch dem deutschen Recht nicht unbekannt. 140 Zudem liegt hierin kein unangemessener Eingriff in die Rechtsstellung des Klägers;141 denn zum einen ist der Eingriff zum Schutz (höherrangiger) öffentlicher Interessen, nämlich zur Vermeidung von Urteilswirksamkeitshindernissen, geeignet und erforderlich. Zum anderen ist der Eingriff auch nicht unangemessen; denn das deutsche Zuständigkeitssystem wird nicht nur von Zweckmäßigkeitserwägungen geprägt, sondern strebt vielmehr auch prozessuale Gerechtigkeit bzw. „Waffengleichheit" im Verhältnis der Parteien zueinander an.142 Da es im Grundsatz auf die Verteidigung des Beklagten ebenso Rücksicht nimmt wie auf das Rechtsschutzverlangen des Klägers, mithin das Zuständigkeitssystems also ausgewogen ist, wird der Kläger des Zweitverfahrens durch die Verfahrenskonzentration grundsätzlich auch nicht über Gebühr benachteiligt. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung von Wirksamkeitshindernissen und dem durch die Zuständigkeitsordnung geschützten Klägerinteressen im nationalen Bereich kaum anders ausfallen kann als im Anwendungsbereich des EuGVU. 143 Ist es danach nämlich dem Kläger des Zweitverfahrens zur Vermeidung von Wirksamkeitshindernissen zumutbar, an einen ausländischen Gerichtsstand zu reisen, um dort seinen Antrag zu verfolgen, kann es schwerlich unzumutbar sein, wenn auf nationaler Ebene derselbe Kläger sich an den inländischen Gerichtsstand des Erstverfahrens begeben muß.
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Gottwald in Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, 2000, S. 93; Leipold in Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 7; WalkerZZP 1998, 429, 446 f; siehe auch Geimerl Schütze Europäisches Zivilverfahrensrecht, 1997, Art 21 Rn 29. 139 Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 7; siehe auch Zeuner in FS Lüke, 1997, S. 1016; RGZ 40, 362, 364. 140 Vgl oben IV.2.b)cc) und IV.2.c) (3) Beispiel. 141 Siehe Leipold Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, 1999, S. 20; Huber JZ 1995, 603, 605 ff; Lenenbach EWS 1995, 361, 364. 142 Zöller/Vollkommer ZPO, 21. Aufl 1999, § 12 Rn 2; Stein/Jonas/Schumann ZPO, 21. Aufl 1993, vor § 12 Rn 12; Musie\dk¡Smid ZPO,§ 12 Rn 1. 143 Zeuner in FS Lüke, 1997, S. 1016; siehe hierzu insbesondere auch Huber JZ 1995, 603, 606f.; Rüßmann ZZP 1998, 399, 413.
Goethe als Jurist PETER
HANAU
Dieser aus einem Vortrag vor der Goei^e-Gesellschaft in Köln hervorgegangene Beitrag wird unserem verehrten Kollegen und japanischen Mentor Akira Ishikawa gewidmet, der das Recht nicht als bloße Herrschaftstechnik, sondern als wichtiges Kulturphänomen versteht und handhabt und so die nationalen Grenzen von Rechtsordnungen souverän durchbrechen kann. 1. Dichten und Richten Ich beginne mit einem bekannten Zitat aus dem Faust: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen". Dies sollte man nicht nur auf materielle Güter beziehen, sondern auch auf ideelle und insbesondere auf den Autor, auf Goethe selbst. Jede Generation und jede Person muß sich selbst ein Bild, ein Verständnis von Goethe verschaffen. Der Jurist steht vor der gleichen Aufgabe in Bezug auf die überlieferten Rechtssätze, soll hier aber einmal die Grenze überspringen und sich um die Aneignung von Goethe bemühen. Ursache und hoffentlich Rechtfertigung dieser Grenzüberschreitung ist, daß sie Goethe selbst als ihr Vorbild hat, denn er war Jurist und Dichter zugleich. Nicht nur Richten, sondern auch Dichten ist der Juristen Sache. Viele andere sind Goethe darin gefolgt. Ein dreibändiges Werk über Dichterjuristen von Eugen Wohlhaupter behandelt noch Grillparzer, Kleist, Werner {heute weniger bekannt), E.T.A Hoffmann, bedeutend nicht nur als Dichter, sondern auch als Kammergerichtsrat, Eichendorff, Uhland, Grabbe, Immermann und Heine. Aus neuerer Zeit ist Franz Kafka zu nennen, der an der seinerzeitigen deutschen Abteilung der Karls-Universität in Prag zum Dr. jur. promoviert wurde und mehrere Jahre engagiert als Sozialrechtler bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen tätig war. Die Dichterjuristen sind auch nicht ausgestorben, sondern durchaus noch unter den Lebenden, so der Münchener Amtsrichter, spätere Richter am OLG Naumburg, Herbert Rosendorfer. Offenbar fühlte er sich dem Dichterjuristen Goethe verbunden wie sein Werk: „Ballmanns Leiden oder Lehrbuch des Konkursrechts" zeigt. Bemerkenswert ist die Zahl seiner Werke, laut Internet mindestens 50, so daß die
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Belastung der deutschen Justiz doch nicht so groß sein und Raum für weitere Dichterjuristen lassen dürfte. Man kann sich fragen, wie das Mischungsverhältnis von Juristischem und Dichterischem bei diesen Dichterjuristen ist, wahrscheinlich sehr verschieden. Goethe war sicherlich ein guter Jurist mit dem Wahlfach Rechtsgeschichte. Sein Werk ist aber stilistisch und inhaltlich nicht stark von der Jurisprudenz geprägt, anders als etwa bei Kafka. In stilistischer Hinsicht ist es wohl so, daß nicht der Dichter Goethe von dem Juristen beeinflußt wurde, sondern umgekehrt der Jurist von dem Dichter. Dies zeigt sich besonders bei der in die Sturm- und Drang-Periode fallenden Tätigkeit als Frankfurter Rechtsanwalt. Seine Schriftsätze waren so stürmisch, daß er von dem Gericht einen Verweis entgegennehmen mußte wegen seiner „unanständigen, zur Verbitterung der ohnehin aufgebrachten Gemüter ausschlagenden Schreibart". Goethe machte also Ernst mit seiner Maxime: „Wer das Recht auf seiner Seite fühlt, muß derb auftreten; ein höfliches Recht will gar nichts heißen." Dafür ein viel zitierter Beleg aus einem den Gegner attackierenden Schriftsatz in Sachen Vater ./. Sohn Heckel: „Der Mantel der Unwahrheit ist überall durchlöchert; je mehr man auf einer Seite ihn zur Bedeckung aufspannt, desto mehr läßt er auf der anderen unverhofft alle Blöße sehen. Ist nun der mit so vielem Jauchzen gefundene Grund nichts als ein zugefrorenes Wasser, so muß das darauf errichtete Gebäude durch das geringste Frühlingslüftchen in ein baldiges Grab versinken. Nachdem sich die verhüllte, tiefe Rechtsgelehrsamkeit lange Zeit in Geburtsschmerzen gekrümmt, springen ein paar lächerliche Mäuse von Compendien-Definitionen hervor und zeugen von ihrer Mutter". Ich mußte dabei unwillkürlich an den Stil Thomas Manns denken, wie überhaupt zwischen Goethe und Thomas Mann eine besondere Nähe bestehen dürfte, eine größere Nähe als zwischen Goethe und anderen Dichterjuristen. Thomas Mann hat dies ja selbst so empfunden, wie seine Werke Lotte in Weimar und Dr. Faustus zeigen.
2. Goethes juristischer
Werdegang
a. Student Einem Dichterjuristen kann man sich auf verschiedene Weise nähern. Man kann sich mit seiner juristischen Ausbildung und Betätigung befassen, mit seinen Äußerungen zu Rechtsfragen in Gesprächen und Briefen, soweit überliefert, und schließlich mit dem rechtlichen Gehalt seiner Werke, beginnend schon damit, welche Themen sie berühren. Die reichhaltige GoetheLiteratur hat ihre Aufmerksamkeit besonders auf den ersten Faktor gerichtet, während ich meine, der letzte sei noch bedeutsamer, nämlich der Niederschlag des Juristischen im dichterischen Werk. Dies heißt aber nicht, daß man den ersten und am unmittelbarsten mit dem Juristen verbundenen Be-
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reich ignorieren sollte, und deshalb will ich kurz etwas zu Ausbildung und Berufstätigkeit des Juristen Goethe sagen. Auf Anraten oder sogar Drängen seines Vaters hat Goethe vom Winter 1765 bis Sommer 1768 in Leipzig Jura studiert. Dies war in der Familie nichts Neues, war doch der Vater selbst Jurist und die Mutter (geb. Textor) stammte geradezu aus einer Juristendynastie. Auch Sohn und Enkel wurden Juristen, der Enkel schon in der 7 Generation. Als Juristen können wir stolz sagen, daß Goethe und die Seinen zu uns gehören oder vielleicht sogar, daß wir zu ihnen gehören. Auch Goethes Ehefrau Christiane Vulpius stammte aus einer Juristenfamilie und seine Schwester heiratete einen Juristen. Um Goethe herum findet sich also ein veritables Juristengewimmel. Dies könnte mit dem unübersichtlichen Zustand sowohl der damaligen Reichsverfassung als auch des rezipierten römischen Rechts zusammenhängen oder, ins Positive gewendet, mit der Ablösung des mittelalterlichen Faust-„Rechts" und seiner Femegerichte durch eine rechtssatzmäßige Friedensordnung, ein Vorgang, der in Goethes Götz mit reichlich viel Nostalgie zu den vorjuristischen Zuständen behandelt wird. In Leipzig hat Goethe das rechtswissenschaftliche Studium nur lässig und lustlos betrieben. Die verehrungsvollen Sekundärliteraten machen dafür nicht ihn selbst verantwortlich, sondern seinen Vater, der ihm schon vorher alles eingepaukt hätte, und die Professoren, über die Goethe einmal bemerkt hat: Die jüngeren dächten weniger an die Bedürfnisse ihrer Hörer als an ihren eigenen wissenschaftlichen Fortschritt, so daß sie ihr Wissen auf Kosten der Studenten erwerben, die älteren aber seien oft stationär geworden, überlieferten nur noch fixe Ansichten und vieles, was die Zeit schon als unnütz und falsch verurteilt habe. Diese Bemerkung von stud. jur. Goethe muß heutigen Professoren der Rechte Anlaß sein, über ihr eigenes Tun nachzudenken. Freilich liegt es nicht immer nur an den Professoren, wenn die Studenten nicht zurechtkommen, und man wird vermuten dürfen, daß es auch Goethes weit gespannte Interessen und Begabungen waren, die ihm anfänglich die Lust an einer intensiven Beschäftigung mit der Juristerei verleideten. Auch die gemütlichen Abende in Auerbachs Keller, von Vaters großzügiger Zuwendung leicht finanzierbar und im Faust bekanntlich nachwirkend, dürften dem Studium nicht immer förderlich gewesen sein. Das Ganze endete 1768 mit einer Erkrankung Goethes, die zu einer fast zweijährigen Unterbrechung des juristischen Studiums führte. Im April 1770 ging es dann an die juristische Fakultät in Straßburg, das damals zu Frankreich gehörte. Trotzdem wurden die Straßburger Abschlüsse im Reich ohne weiteres anerkannt, ein Zustand, von dem das heutige Europa noch weit entfernt ist. Goethe hatte es nun eilig und meldete sich schon am 22. September desselben Jahres zur Vorprüfung. Wir dürfen uns Goethe allerdings in Straßburg nicht als eifrigen Kollegbesucher vorstellen, denn seine Examens Vorbereitung verdankte er vor allem einem Repetitor und ei-
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nem schriftlichen Repetitorium. Als dieser Repetitor sich in der ersten Unterhaltung mit Goethe Einblick in den Stand seines Wissens verschafft hatte, machte er ihm klar: In Frankreich sei die Juristenausbildung weniger aufs Gelehrte als aufs Praktische gerichtet; im Examen werde Kenntnis des positiven geltenden Rechts gefordert; man frage nicht nach Ursprung, äußeren und inneren Anlässen der Gesetze oder deren Abänderung durch Zeit, Gewohnheit oder Gerichts gebrauch; solche Fragen überlasse man der gelehrten Forschung. Goethe nahm sich diesen Rat zu Herzen und war selbst überrascht, wie gut er auf diese Weise vorankam. Mitten in der Examensvorbereitung schrieb er an eine „Seelenfreundin": „Die Jurisprudenz fängt an mir sehr zu gefallen. So ist's doch mit allem wie mit dem Merseburger Biere, das erste Mal schauert man, und hat man's eine Woche getrunken, so kann man's nicht mehr lassen". Die zahlreichen Jurastudenten, die sich heute beim Repetitor auf das Examen vorbereiten, befinden sich also in bester Gesellschaft. Wenn Goethe die Professoren auch nicht gehört hat, so hat er sie doch verehrt, jedenfalls einen, Schöpflin mit Namen. „Auch ohne nähere Berührung hat derselbe bedeutend auf mich gewirkt; denn vorzüglich mitlebende Männer sind den größeren Sternen zu vergleichen, nach denen, solange sie nur über dem Horizont stehen, unser Auge sich wendet und sich gestärkt und gebildet fühlt, wenn es ihm vergönnt ist, solche Vollkommenheit in sich aufzunehmen." Dies sei zur Beachtung empfohlen. Nach vollbefriedigend bestandener Vorprüfung reichte Goethe eine Dissertation ein, da die Promotion damals den regelmäßigen Abschluß des Studiums bildete; Staatsexamen gab es noch nicht. Die wie üblich lateinisch abgefaßte Dissertation war kirchenrechtlicher Art und vertrat die These, der Staat habe als Gesetzgeber das Recht, einen Kultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit zu lehren und die Laien sich äußerlich und öffentlich genau zu richten hätten. Im übrigen solle nicht gefragt werden, was jeder bei sich denke, fühle oder sinne. Die katholische Fakultät geriet durch diese provozierende staatskirchlich protestantische These in einige Verlegenheit, aus der sie sich mit Hilfe einer Art kölscher Lösung befreite. Man lehnte die Arbeit ab, pries aber die Selbständigkeit der Leistung und riet zu einer späteren privaten Veröffentlichung. Man forderte auch keine neue Dissertation, sondern erlaubte „auf Thesen zu disputieren". Nun nahm Goethe das Verfahren auch nicht mehr so ernst und stellte schnell auf 4 Din-A 5 Seiten 56 bunt durcheinander gewürfelte Rechtssätze zusammen, unter denen die These von der Unentbehrlichkeit der Todesstrafe ihn sein Leben lang begleitet hat, selbst an dem Todesurteil gegen ein Gretchen hat er einmal mitgewirkt. In seinem Werk war er freilich milder. Aufgrund dieser 56 Thesen und ihrer Verteidigung wurde Goethe nicht zum Dr. jur. promoviert, sondern nur zum Lizenziaten. Er hat sich korrek-
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terweise in seinen Prozeßschriften und amtlichen Angaben stets als Lizenziat beider Rechte bezeichnet, wurde aber allgemein als Dr. Goethe angesprochen, da dies der gängige Abschluß der juristischen Studien war. Vor einigen Jahren hatte ich die Ehre, die Laudatio für den ersten Ehrendoktor zu halten, den die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Jena nach der Wiedervereinigung promovierte. Ich forschte deshalb nach früheren Ehrendoktoren und fand, daß Goethe 1825 aus Anlaß seines 50jährigen Dienstjubiläums zwar von der Medizinischen und der Philosophischen, aber nicht von der Juristischen Fakultät der Universität zum Ehrendoktor ernannt worden war, weil man dachte, er sei schon D o k t o r jur. Das war bedauerlich, auch weil ich so dem jüngsten Ehrendoktor der Fakultät nicht bescheinigen konnte, daß er in der Nachfolge Goethes stand, was ihn sicher gefreut hätte. b. Anwalt A m 28. 8. 1771, an seinem 22. Geburtstag, beantragte Goethe die Zulassung zur Advokatur in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main, die ihm umgehend gewährt wurde. Im Jahr drauf wurde er Praktikant am Reichskammergericht in Wetzlar, hat dort aber gar nicht praktiziert, was wir nicht bedauern müssen, da er die freie Zeit nutzte, um den G ö t z und den Werther zu verfassen. Leider steht die Verschulung des heutigen Referandardienstes einer so sinnvollen Freizeitgestaltung entgegen. Einen Uberblick über die von 1772 bis 1777 reichende Anwaltstätigkeit Goethes hat in neuerer Zeit unser Bonner Kollege Meinhard Heinze gegeben (NJW 1999, 1897). Er gelangt zu einer durchaus positiven Bewertung dieser Tätigkeit aus juristischer Sicht: „Die juristische Argumentation entspricht der Zeit, aber seine präzise Sachverhaltsdarstellung, vor allem aber seine Argumentation hinsichtlich der teleologischen Interpretation der damaligen Gesetzesvorschriften und die durchgängige Berufung auf übergeordnete Rechtsprinzipien weisen in die Zukunft. Goethe zeigt sich in seinen Schriftsätzen nicht als Nachvollzieher des positiven Rechtes sondern als solcher, der für dessen übergeordnete Kriterien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit, der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und der teleologischen Verwirklichung der Rechtsziele streitet." Goethe war also nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Jurist von einem Rang, der es rechtfertigt, ihn in der Festschrift für Akira Ishikawa in Erinnerung zu rufen.
c. Verwaltungsjurist 1775 wurde Goethe in den Staatsdienst des Herzogtums Sachsen-Weimar berufen, das damals ca. 9 0 0 0 0 Einwohner hatte. Professor Keller, Präsident der Goei/?e-Gesellschaft hat mich wissen las-
194 sen, daß Goethe
Peter Hanau in seiner Weimarer Zeit über 2 0 0 0 0 Verwaltungsvorgänge
bearbeitet hat. D a s ist eine nicht nur für Dichterjuristen, sondern für jeden Juristen gewaltige Zahl. M a n hat geschätzt, daß Goethe
rund ein Drittel sei-
ner Zeit dafür verwandt hat.
3. Zum Recht in Goethes Werk D a ß ein so kleines Staatswesen einen so G r o ß e n beherbergte, zeigt die Stärke des Föderalismus. Goethe hat daraus im Gespräch mit Eckermann eine wichtige K o n s e q u e n z für die Hauptstadtfrage gezogen: Wenn man denke, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe und dies dem Wohl einzelner großer Talente und der großen Masse des Volkes diene, sei m a n im Irrtum. In B o n n wird man dies gern zur Kenntnis n e h m e n . S o viel zum juristischen Lebensweg Goethes, nun einiges z u m Recht in seinen Werken. A m bekanntesten ist die folgende Stelle aus dem Faust: „Es erben sich G e s e t z und Rechte wie eine ew'ge Krankheit fort, sie schleppen von Geschlecht sich z u m Geschlechte und rücken sacht von O r t zu O r t . Vernunft wird U n s i n n , Wohltat Plage; wehe dir, daß du ein E n k e l bist! V o m Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist leider! nie die F r a g e . " Goethe spricht hier ein zentrales Problem jeder Rechtsordnung an, das Spannungsverhältnis zwischen den im Kern allgemeingültigen Rechtssätzen und den sich wechselnden Lebensverhältnissen. M a n wird geneigt sein, sich diesem Plädoyer für eine schnelle Anpassung an Wandlungen der Zeiten und des Zeitgeists anzuschließen. D a ß dies aber nicht nur wünschenswert, sondern auch problematisch ist, zeigt in einer extremen F o r m die Rechtsprechung nach 1933, die vielfach in vorauseilender Anpassung an den Zeitgeist nationalsozialistisches D e n k e n ü b e r n a h m , bevor es G e s e t z wurde. H a t Goethe so etwas gewollt? E r würde wahrscheinlich darauf hinweisen, daß er diese Worte Mephisto in den M u n d gelegt hat. Sie sind jedenfalls nicht sein letztes Wort. Wie sehr Goethe mit dem Spannungsverhältnis zwischen alten und neuen Werten rang, zeigt sich auch am Beispiel von Stella und Wahlverwandtschaften. In der ursprünglichen Fassung der Stella ließ Goethe am E n d e Cäcilie, Stella und Fernando zu einer E h e zu D r i t t zusammenfinden. Als er später die strenge Eheauffassung der Wahlverwandtschaften entwickelte, schien ihm dieser Schluß nicht m e h r erträglich, und er schrieb einen neuen, wobei sich Fernando erschießt, Stella Gift n i m m t und Cäcilie als trauernde Witwe zurückbleibt. D e r Unterschied zur Urstella ist offensichtlich. Goethe war nun der Meinung, daß die E h e unauflöslich sein müsse, denn sie bringe so viel G l ü c k , daß einzelnes Unglück dagegen gar nicht zu rechnen sei. B e m e r k e n s w e r t scheint mir auch, daß die beiden politischen D r a m e n Goethes, G ö t z und E g m o n t , darauf hinauslaufen, daß der Aufstand gegen
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eine ungerechte Obrigkeit zwar lobenswert ist, aber zu nichts führt. Unter dem Eindruck der französischen Revolution hat sich das noch verstärkt, bis zu der Erklärung Goethes, er könne eher Ungerechtigkeit als Unordnung vertragen. Auch schrieb er an Schiller, es sei wunderbar, wie die alten Verfassungen, die bloß auf Sein und Erhalten gegründet sind, sich in Zeiten ausnehmen, wo alles zum Werden und Verändern strebt. Napoleon als Ordnungskraft gefiel ihm schon besser. Faßt man all dies zusammen, so ergibt sich, daß Goethe das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Fortschritt, Sein und Werden in einen geordneten dialektischen Prozeß einfügen wollte. Er sah durchaus die Notwendigkeit steter Rechtsentwicklung, wandte sich aber gegen Unordnung und Hast und bestand auf geordnetem Fortschritt. In diesem Zusammenhang hat er einen Gedanken entwickelt, der in jüngster Zeit wiederentdeckt worden ist und durch die Autorität seines Erfinders unterstützt werden kann. Er hat nämlich die These vertreten, die Geltungsdauer der Gesetze solle verkürzt, in kurzen Zwischenräumen überprüft und mit dem fortschreitenden Rechtsbewußtsein in Einklang gebracht werden. Ein solches Verfalldatum, nach dem Gesetze ungenießbar und ungültig werden, wird neuerdings immer stärker diskutiert. Gerade in Zeiten wie den unseren, in denen alles noch schneller fließt als früher, ist Goethes immer wieder formulierte Mahnung wichtig, Ordnung im Fortschritt zu bewahren. „Nach seinem Sinne leben, ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz. ... In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben." 4. Zum Arbeitsvertrag
zwischen Faust und Mephisto
Goethe hat aber nicht nur wesentliches zum Recht im allgemeinen geäußert, sondern auch zum Arbeitsrecht im besonderen. Dies beginnt schon mit dem Kernstück des Faust, dem Pakt zwischen Faust und Mephisto. Mephisto erbietet sich ja, er wolle Faust stets zu Diensten sein, ihn als wackerer Diener zu Schönheit und Genuß des Lebens führen. Vertragsinhalt wird dann folgende Formulierung: „Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhen; wenn wir uns drüben wiederfinden, so sollst du mir das Gleiche tun." Das Schrifttum hat erörtert, ob es sich hier um eine Wette oder um einen atypischen gegenseitigen Vertrag handele. Ziemlich atypisch ist der Vertrag in der Tat, aber m.E. kann man ihn doch in die Typik des bürgerlichen Rechts einreihen, denn es dürfte sich um nichts anderes als um einen Arbeitsvertrag handeln, nämlich um die Verpflichtung zu weisungsgebundenen Diensten gegen Entgelt. „Ich will auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhen" entspricht dem Idealtyp eines Arbeitnehmers. Im Faust geht es also um den Abschluß, die Durchführung und die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Freilich dürfte die Verpflich-
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tung zur Überlassung der Seele unwirksam sein, doch hilft hier der in § 612 BGB ausgedrückte Grundsatz, daß bei fehlender oder unwirksamer Entgeltabrede das übliche Entgelt zu leisten ist. Heute würde man sich wohl an den Tarifen für Abenteuerreisen orientieren. Mit dieser arbeitsrechtlichen Methode der literarischen Analyse stehe ich keineswegs allein. Dem führenden spanischen Arbeitsrechtler Alonso Olea verdanken wir eine wichtige Studie zu der Frage, ob das Rechtsverhältnis zwischen Don Quichote und Sancho Pansa als Arbeitsverhältnis einzustufen ist; Olea neigt zur Bejahung (abgedruckt in Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht). 5. Zum Einfluß auf das heutige
Arbeitsrecht
Wir können aber nicht nur vom Arbeitsrecht aus den Faust interpretieren, sondern umgekehrt hat der Faust auch Einfluß auf das heutige Arbeitsrecht ausgeübt. Dies bezieht sich auf den Ausspruch wiederum des Mephisto: „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte". Dies hat das Bundesarbeitsgericht in seiner Neigung bestärkt, ursprünglich freiwillige Leistungen des Arbeitgebers mit vielfältigen rechtlichen Bindungen zu versehen, z.B. der Unverfallbarkeit und dem Ausgleich der Geldentwertung des Ruhegeldes sowie der Mitbestimmung über den Verteilungsschlüssel freiwilliger Leistungen. Beim ersten, nämlich bei der Einführung der Leistung, ist der Arbeitgeber frei, bei ihrer Ausgestaltung und Durchführung wird er aber zum Knecht vielfältiger arbeitsrechtlicher Regelungen. Ich habe einen der beteiligten Richter (den späteren Präsidenten des BAG Prof. Dr. Thomas Dietericb) damals darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Wort von Mephisto stammt. Er hat mir entgegengehalten, diese Regel werde von Mephisto nicht als höllische Regel zitiert, sondern als Regel, die selbst in der Hölle gelte. Daran Schloß sich die Frage, warum also nicht im Ruhe geldrecht? Eine Antwort darauf wußte ich nicht, so daß nun freiwillige Arbeitgeberleistungen höllisch reguliert sind. Der Faust hat aber nicht nur die arbeitsrechtliche Rechtsprechung, sondern auch die arbeitsrechtliche Lehre beeinflußt. Dies ergibt sich aus dem Lehrgedicht über den Rechtsformzwang. Es betrifft die Scheinselbständigkeit, bei der faktisch ein Arbeitsverhältnis vorliegt, nämlich faktisch weisungsgebundene Arbeit, ausdrücklich aber ein freies Dienstverhältnis vereinbart wird, weil der Arbeitgeber den arbeitsrechtlichen Bindungen entgehen will.
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Gesagt getan, kann gleich sein, aber auch verschieden. Oft wird die Arbeit im Vertrag als frei befunden, obwohl sie faktisch ist gebunden. Was zählt mehr, das Wort oder die Tat? Lie jur. Goethe gibt weisen Rat. Dr. Faust legt er die Antwort in den Mund, gegen des Arbeitsverhältnisses Schwund. „Geschrieben steht: ,1m Anfang war das WortV Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, ich muß es anders übersetzen ... Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat, und schreibe getrost: Am Anfang war die Tat!" Rechtsformzwang nennt man dies heute. Bitte merkt Euch, liebe Leute: Faktisch abhängige Arbeit wird durch Vertrag nicht frei, der Rechtsformzwang vielmehr beachtet sei. Goethe hat es schon verkündet, im Faust trefflich begründet: Worte sind nur Rauch und Schall, Taten zählen überall. 6. Zur
Geldpolitik
Goethes Erkenntnisse sind nicht nur für das Recht, sondern auch für die Wirtschaft bedeutsam. In diesem Bereich sind seine Erkenntnisse besonders aktuell. So hat er als Minister geäußert, bei den ohne Frage überspannten Abgaben der Untertanen sei ihnen die möglichste Nachsicht (heute spricht man vom Billigkeitserlaß) zu gewähren. Im Faust findet sich sogar eine Szene, die man als Vorwegnahme der aktuellen Forderung nach einer lockeren Geldpolitik ansehen kann. Ich meine die Szene in Faust 2, in der der Teufel ein Mittel zur Sanierung der Staatsfinanzen ersonnen hat: das Papiergeld, dessen Deckung in den Schätzen liegen soll, die in des Reiches Boden vergraben sind. Anfänglich aufsteigende Bedenken, ob hier nicht frevelhafte Betrügerei walte, unterdrückt der Kaiser bald, nachdem er sieht, wie mit dem Papiergeld nicht nur die öffentliche Finanznot behoben, sondern auch das Volk in einen Glückstaumel versetzt wird, einen Zustand, den auch heutige Politiker anstreben.
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Peter Hanau 7. Goethes und Iphegenies
Wahrheitsliebe
Die größere Bedeutung Goethes liegt freilich nicht auf dem Gebiet des Rechts und der Wirtschaft, sondern in der bewegenden gedanklichen und sprachlichen Gestaltung von menschlichen Schicksalen. Als ich zur Vorbereitung auf diesen Beitrag Goethes Werke wieder zur Hand nahm, hat mich die Iphigenie am meisten beeindruckt, wegen ihrer konzentrierten dramatischen Handlung, ihrer geschliffenen Jamben und ihrer überzeugenden Botschaft. Mein Vater schrieb kurz nach dem ersten Weltkrieg seinen Abituraufsatz über das Thema „Iphigenie auf Tauris, ein Sinnbild deutscher Wahrheitsliebe". Ich fand das lächerlich und habe erst jetzt gemerkt, was darin steckt (wenngleich die Wahrheitsliebe keine spezifisch deutsche Eigenschaft ist). Es bezieht sich darauf, daß Iphigenie in einem tödlichen Konflikt zwischen dem König, dessen Gast sie ist, und ihrem Bruder als Asylbewerber List und Gewalt abschwört und auf die Wahrheit setzt. Iphigenie sieht die Wahrheit als Waffe der Frau: „Muß ein zartes Weib sich ihres angeborenen Rechts entäußern? Wild gegen Wilde sein, wie Amazonen das Recht des Schwerts euch rauben und mit Blut die Unterdrückung rächen? Auf und ab steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen: Ich werde großem Vorwurf nicht entgehen, noch schwerem Übel, wenn es mir mißlingt; allein euch lege ich es auf die Knie. Wenn ihr wahrhaftig seid, wie ihr gepriesen werdet, so zeigt's durch euren Beistand und verherrlicht durch mich die Wahrheit!" Dies muß jeden tief berühren, der im Leben steht, und weiß wie er selbst und andere immer wieder den Mut zur Wahrheit brauchen. Als Beispiel sei ein Zeitungsbericht genannt, der auf den Konflikt der Pharmaindustrie zwischen Geschäftsinteressen und Informationsbedürfnissen der Öffentlichkeit hinweist. Der Konflikt, in dem Iphigenie stand, ist ewig, und es ist schön, daß Goethe gerade die Frauen berufen sieht, List und Gewalt durch Wahrheit und Frieden zu verdrängen. Vielleicht finden man es übertrieben, wie ich versuche, Goethes Werk im kleinen wie im großen fruchtbar zu machen. Ich will damit nur seiner Erkenntnis folgen, daß wir selbst erwerben müssen, was wir von unseren Vätern ererbt haben. Und das heißt, so meine ich, nichts anderes, als daß wir es auf seine Bedeutung für unser heutiges Leben abklopfen müssen, vom Arbeitsrecht bis zur Pharmaindustrie. So ist Goethe als Jurist und Dichter ein wichtiger Wegweiser für uns heutige Juristen, sicher in Deutschland, ob auch in Japan, kann uns Akira Ishikawa sagen.
Europarechtlich gesteuerter Verbraucherschutz und die Tendenz zur Materialisierung im nationalen Zivil- und Zivilprozessrecht GÜNTHER
HÖNN
Verbraucherschutz ist in Japan offenbar vor allem Gegenstand sondergesetzlicher Regelungen,1 und dabei sind Parallelen zum deutschen Recht oder in Deutschland Parallelen zum japanischen Recht - offensichtlich, wobei für Deutschland in jüngster Zeit der europäische Gesetzgeber die treibende Kraft einer rasanten Entwicklung ist. Daneben zeigt sich in Deutschland unter den Stichworten „Schutz des Schwächeren" und „Materialisierung" eine Entwicklung des allgemeinen Zivilrechts, die sich zunehmend offen für besondere Problemlagen erweist. Die „Schuldrechtsmodernisierung" aktualisiert diesen Zusammenhang. Die Diskussion schließt inzwischen das Prozessrecht ein. - Der Verfasser wünscht dem Jubilar Gesundheit und sagt Ihm ein herzliches Dankeschön für seinen unermüdlichen Einsatz für die Zusammenarbeit japanischer und deutscher Rechtswissenschaftler.
I. Europarechtlich gesteuerter Verbraucherschutz und Integrationsaufgabe 1. Im Zuge der Rechtsvereinheitlichung in den europäischen Gemeinschaften war 1985 eine Richtlinie über Haustürgeschäfte 2 , ebenfalls 1985 über Produkthaftung 3 , 1986 über den Verbraucherkredit4 und 1990 über Pauschalreisen5 erlassen worden; wegen der Beeinträchtigung des gemeinsamen Marktes durch die unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften sollte deren Harmonisierung erfolgen. Seit 1992 ist die Europäische Gemeinschaft ausdrücklich zuständig für Maßnahmen zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutz1 Vgl Marutschke Einführung in das japanische Recht, 1999, S. 177 f; Igarashi Einführung in das japanische Recht, 1990, S. 14 f. 2 ABl L 372 S. 31. 3 ABl L 210 S. 29; zur Produktsicherheit ABl L 228/92 S. 24. 4 ABl L 42 S. 48. 5 ABl L 158 S. 59.
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Günther H ö n n
niveaus. 6 Seither sind 1993 eine Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen 7 , 1994 über Teilzeitnutzungsrechte an Grundstücken 8 , 1997 über den Fernabsatz 9 , 1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen 10 , 1999 über den Verbrauchsgüterkauf 11 , 2000 über den elektronischen Geschäftsverkehr 12 erlassen worden. Im Entwurfsstadium liegt u.a. eine Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen13 vor. 2. Richtlinien bedürfen der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber.14 Insoweit haben sich im Bereich des Verbraucherschutzes, der angesichts des schon 1894 erlassenen (und inzwischen aufgehobenen) Abzahlungsgesetzes und des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGBG) und des Fernunterrichtsschutzgesetzes von 1976 für Deutschland ja keine fremde Materie war, aufgrund der Richtlinien zahlreiche Gesetzesänderungen und neue Gesetze ergeben. In letztgenannter Hinsicht ist u. a. hinzuweisen auf das VerbraucherkreditG von 1990, das HaustürwiderrufsG von 1986, das TeilzeitwohnrechteG von 1996 sowie das ProdukthaftungsG von 1989 und das ProduktsicherheitsG von 199Z Zuletzt wurden durch das Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro vom 27 6. 200015 über die Schaffung eines neues speziellen Gesetzes hinaus zahlreiche weitere verbraucherrechtliche Fragen für das deutsche Recht geregelt; ein Kernbereich des Verbraucherschutzrechts ist unbeschadet der international privatrechtlichen Sonderanknüpfung für zwingend anwendbar erklärt worden. 16 Ein Verbandsklagerecht gegen „verbraucherschutzgesetzwidrige Praktiken" wurde in § 22 des neu bekannt gemachten AGBG i.d.F. vom 29. 6. 2000 normiert. 3. Mit dem erwähnten Gesetz vom 27 6. 2000 hat man u.a. versucht, der harschen Kritik an der inhaltlichen Zersplitterung und inneren Widersprüchlichkeit der punktuell ansetzenden Verbraucherschutzgesetzgebung 17
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Art 129a EGV, jetzt Art 153 EG. ABl L 95 S. 29. 8 ABl L 280 S. 83. ' ABl L 144 S. 19. 10 ABl L 166 S. 5; geändert ABl L 171/99 S. 12. 11 ABl L 171 S. 12. 12 ABl L 178 S. 1. 13 BR-Drucks 987/98. 14 Art 249 Abs 3 EG. 15 BGBl I S. 897, ber. 1139. 16 Art 29, 29a EGBGB. 17 Vgl etwa Martinek in Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, hrsg. von S. Grundmann, 2000, S. 511 ff; Drobnig in Neues europäisches Vertragsrecht und Verbraucherschutz, hrsg. von W. Heusei, 1999, S. 201 ff; Stürner/ Bruns in Neues europäisches Vertragsrecht, S. 81 ff. 7
Europarechtlich gesteuerter Verbraucherschutz und Materialisierung
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Rechnung zu tragen. Zu diesem Zweck wurden einmal in den BGB §§ 13 und 14 Legaldefinitionen für den Verbraucher und für den Unternehmer und damit für den „Verbrauchervertrag" aufgenommen, die für die insoweit zugleich geänderten speziellen Verbraucherschutzgesetze maßgebend sein sollen.18 Entsprechendes gilt für die nunmehr einheitlich in den BGB §§ 361a und b geregelten Einzelheiten von Widerrufsrecht und Rückgaberecht für die speziellen Verbraucherschutzgesetze. Darüber hinaus wurden durch das Gesetz vom 27 6. 2000 zahlreiche weitere zwingende Schutzvorschriften in das BGB und das HGB aufgenommen. Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts ist zurzeit 19 Gegenstand heftiger Diskussion, wobei sich die Kritik vor allem an der all zur knappen Vorbereitungszeit 20 stößt, die für seriöse wissenschaftliche Arbeit zu wenig Raum lasse. 21 Hinsichtlich der Integration des Verbraucherschutzes ins BGB wird einerseits auf die Wünschbarkeit der Zusammenfassung aller einschlägigen N o r m e n in der Kodifikation und die hierdurch geförderte einheitliche innere Wertung hingewiesen. 22 Demgegenüber beruft sich die Kritik darauf, das Vorhaben sei im Hinblick auf die anstehende Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts kontraproduktiv. 2 3 Einschlägige Arbeiten auf europarechtlicher Ebene existieren in der Tat 24 , und das Europäische Parlament hat auch mehrfach eine europäische Vertragrechtskodifikation angefordert. 25 Da aber derzeit wohl keine realistische Chance auf baldige Realisierung besteht 26 , ist die
18 VerbraucherkreditG § 1 Abs 1 legt gleichwohl einen eigenständig erweiterten Verbraucherbegriff zugrunde, der die Kreditaufnahme zwecks Eröffnung einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit einschließt, und lässt damit den früheren Geltungsbereich des Verbraucherkreditgesetzes unberührt. 19 Fahnenkorrektur des Beitrags am 4. 7 2001. 20 Artikel 11 der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf sieht eine Umsetzung in nationales Recht bis zum 31. 12. 2001 vor. 21 Vgl. W. ErnstZRP 2001, Iff.; Dauner-LiebJZ 2001, 8ff.; Honsell]Z 2001, 18ff. 22 Vgl. insbes. Regierungsentwurf (BT-Drucks. 14/1640) S. 213f. 23 S. Emst, Dauner-Lieb und Hansell, jeweils aaO. 24 Vgl. zur sog. Lando-Kommission betr. das materielle Vertragsrecht Lando/Beale, Hrsg., Principles of European Contract Law, The Hague 2000; Lando in: Gemeinsames Privatrecht in der EG, hrsg. von Müller-Graff 19992, S. 567ff.; Kötz Europäisches Vertragsrecht Band I, 1996; Ranieri Europäisches Obligationenrecht, Lehr- und Textbuch 1999; Müller-Graff, Hrsg., Gemeinsames Privatrecht in der EG, 19992; Tilmann in: Gemeinsames Privatrecht in der EG, S. 579 ff.; zur sog. Storme-Kommission betr. das Zivilverfahrensrecht vgl. Prütting in: Festschrift für Baumgärtel, 1990, S. 457, 460 f.; ferner zur Europäisierung des Zivilprozessrechts Habscheid in: Gemeinsames Privatrecht in der EG, S. 543 ff. 25 Entschließungen vom 26. 5. 1989, ABl C 158 S. 400 und vom 6. 5. 1994, ABl C 205 S. 518 sowie hierzu Tilmann ZEuP 1995, 534. 26 StürnerlBruns in: Neues europäisches Vertragsrecht, 1999, S. 81 ff.; Drobnig in: Neues europäisches Vertragsrecht S. 201, 207 für den gegenwärtigen Stand der Integration.
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Integration des Verbraucherrechts ins BGB wohl in der Tat begrüßenswert. 27
II. Spezieller Verbraucherschutz und die Tendenz zur Materialisierung im Zivil- und Zivilprozessrecht Die bevorstehende Einbeziehung des Verbraucherschutzrechts ins BGB macht es freilich erst recht besonders wichtig, diesen Rechtsbereich mit den übrigen Wertungen des BGB in Verbindung zu setzen. Und hier zeigt sich ein wichtiger Zusammenhang mit einer breiten Entwicklung im deutschen Privatrecht, deren Diskussionsstrukturen wegen einer heterogenen Terminologie 28 zuweilen schwer durchschaubar sind, die aber gerade in jüngster Zeit zunehmende Akzeptanz und vielleicht sogar eine gewisse Konsolidierung erfahren hat. 29 1. Die Darstellung der Entwicklung und des heutigen Standes kommt nicht ohne ein Mindestmaß an terminologischer Klarstellung aus. a) Dies gilt schon für die Begriffe Verbraucher und Verbraucherschutz bzw. Verbraucherrecht, mit denen sich durchaus Unterschiedliches in der bisherigen rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Diskussion verbindet. Vordergründig völlig an Bedeutung verloren hat der frühere Versuch, aus sozialistischem Blickwinkel dem allgemeinen bürgerlichen Privatrecht ein spezifisches „marktkompensatorisches" Verbraucherrecht gegenüberzustellen. 30 Wie sich zeigen wird, hat freilich dieser frühere Frontalangriff auf die Dogmatik bis heute Spuren hinterlassen. „Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers" ist der Titel einer 1998 erschienenen umfangreichen „Studie zum Privat- und Wirtschaftsrecht unter Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bezüge" von /. Drexl. Hier wird der Verbraucherbegriff eher heuristisch i.S. bestimmter von der Rechtsordnung zu bewältigender Schutzaufgaben verwendet, und zwar unter umfassender Berücksichtigung der Infrastruktur des Marktes sowie privatrechtlicher und wirtschaftsrechtlicher, einschließlich EU-gemeinschaftsrechtlicher Bezüge. Der Verfasser jener Studie versteht den Verbrau27 nicht mehr aktuell ist die Schaffung eines speziellen Verbrauchergesetzbuches; vgl. hierzu etwa Medicus in: Europäisches Gewährleistungsrecht, hrsg. von S. Grundmann u.a. 2000 S. 219ff.; H. W. Roth in: Europäisches Gewährleistungsrecht, S. 113ff. 28 Verbraucherschutz, Schutz des Schwächeren, Inhaltskontrolle, Billigkeitskontrolle, Vertragsparität, Tendenz zur Materialisierung des Vertrags- bzw. Zivilrechts. 29 Zu vergleichbaren Entwicklungen in den übrigen EU-Mitgliedsstaaten s. Kötz Europäisches Vertragsrecht I, 1996, S. 189 ff sowie Lando/Beale Principles of European Contract Law, 2000, insbes S. XXIX f, 113ff. 30 Etwa N. Reich Markt und Recht, 1977, S. 198 ff, 218 ff; anders inzwischen N. Reich Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, 1995.
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cherschutz als einen Aspekt des allgemeinen Privatrechts, dessen Bedeutung im Rahmen einer allgemein gültigen zivilistischen Dogmatik zu entwickeln sei. Verbraucherschutzrecht definiere sich als die Gesamtheit aller Normen, die für die rechtliche Stellung des Verbrauchers Bedeutung hätten, unabhängig davon, ob sie an den Begriff des Verbrauchers anknüpften. 31 Positivrechtlich ist der Begriff des Verbrauchers nunmehr 32 durch BGB § 13 i.d.F. des Gesetzes vom 27 6. 2000 definiert: „Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann". Die rechtlichen Folgerungen sind an anderer Stelle geregelt.33 b) Auch soweit man vom Schutz des Schwächeren spricht, hat dies heute nicht mehr notwendig den Aspekt des Sonderrechtschutzes zum Inhalt, sondern ggf. eine genuine Aufgabe des Rechts und insbesondere des Privatrechts. Historisch entstanden aus der Sonderentwicklung des Arbeitsrechts und aus dem insbesondere in der Nachkriegszeit notwendigen Mieterschutzes enthält der Begriff einen gewissen soziologischen Bezug. Doch stellte man schon bald fest, dass die allgemeine Suche nach dem Schwächeren, den die Rechtsordnung stets schützen sollte, aussichtslos ist, da es „den" Schwächeren nicht gibt. 34 In neuerer Zeit dient denn auch das Wort vom Schwächeren wiederum eher als heuristische Vokabel, mit der Schutzvorschriften der Zivilrechtsordnung und insbesondere des Vertragsrechts schlechthin bezeichnet werden sollen, ohne dass damit - abgesehen vom Arbeitsrecht - der Anspruch eines Sonderrechts für bestimmte Personengruppen begründet wird. Dies gilt etwa für die kürzlich herausgekommene Festschrift aus Anlass des 50-jährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof 35 , in der ein Teil der Beiträge unter der zusammenfassenden Überschrift „Schutz des Schwächeren" veröffentlicht ist. Der Begriff wird nachfolgend in diesem Sinne verwandt. c. Während in speziellen Verbraucherschutzgesetzen der Schutz vor allem über konkret geregelte Informationspflichten und Widerrufsrechte erfolgt, wird er im Übrigen vor allem über eine Beschränkung der Vertragsfreiheit, also inhaltlich zwingendes Recht, gewährleistet. Soweit die Gerichte diesen Schutz in den letzten Jahrzehnten qua Rechtsfortbildung ausgedehnt haben, spricht die h. M. überwiegend von Inhaltskontrolle oder Billigkeits31 32 33 34 35
AaO S. 85. Zum bis dahin schillernden Verbraucherbegriff s. Medicus FS Kitagawa, 1992, S. 471 ff. S o 1 2 , 3. Vgl Weitnauer Der Schutz des Schwächeren im Zivilrecht, 1975. Hrsg. von Geiß ua, 2000.
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kontrolle36, wobei die Inhaltskontrolle37 sich auf Nebenleistungen nach dem Maßstab von Treu und Glauben38, die Billigkeitskontrolle - speziell im Arbeitsrecht - sich auf die Hauptleistung unter Einschaltung arbiträrer Elemente bezieht. Der Ausnahmecharakter der Inhalts- bzw. Billigkeitskontrolle wird in der Literatur durch ihre ausdrückliche Unterscheidung von der Begrenzung der Privatautonomie durch den Maßstab der guten Sitten39 betont.40 d. Während die Begriffe Verbraucherschutz und Schutz des Schwächeren auf Sonderrechts gebiete und damit auf eine Nichtzugehörigkeit zum allgemeinen Zivilrecht hinzudeuten scheinen, wird mit dem Begriff der Vertragsparität die Möglichkeit einer dogmatischen Integration der diesbezüglichen neueren Rechtsentwicklung in das allgemeine Zivilrechtssystem geprüft. Der Begriff der Parität kommt im Sinne der sogenannten Kampfparität zunächst aus dem Arbeitsrecht und formuliert insoweit ein bestimmtes Postulat für den Arbeitskampf - zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite - zwecks Erreichbarkeit angemessener Arbeitsbedingungen.41 Für das allgemeine Zivilrecht wurde Parität - der Vertragspartner - im Sinne von Vertragsparität postuliert vor dem Hintergrund des von Schmidt-Rimpler42 analysierten Vertragsschlussprozesses. Schmidt-Rimpler wies darauf hin, dass die vertragliche Regelung deshalb als gerecht angesehen wird, weil jeder der Vertragspartner i. S. eines Vertragsmechanismus ihr zustimmt. Diese Rechtfertigung trägt aber nur dann, wenn zwischen den Vertragspartnern ein angemessenes tatsächliches Kräftegleichgewicht besteht, das verhindert, dass ungerechte Regelungen Vertragsinhalt werden.43 Insofern ist Vertragsparität Voraussetzung eines gerechten Vertragsschlusses und damit einer materiell verstandenen Privatautonomie. Verbraucherschützende Vorschriften und Bestimmungen zum Schutz des Schwächeren sind unter diesem Blickwinkel gesetzliche Regelungen zur Herstellung des für den Vertragsschluss erforderlichen Kräftegleichgewichts und damit zur Gewährleistung von Vertragsparität und materieller Privatautonomie. Selbstverständlich ist es nicht angängig, mit Hinweis auf beliebige Vorstellungen von „angemessener" Vertragsparität die Rechtsgültigkeit von Vertragsschlüssen allgemein in Frage zu stellen bzw. Inhaltskontrolle zu 36 Vgl Fastrich Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 9 ff, 14f. Auch nach AGBG § 9. BGB § 242. 39 BGB § 138 Abs 1. 40 Anders freilich neuerdings BVerfGE 89, 214, wo auch in Bezug auf BGB § 138 Abs 1 ausdrücklich von Inhaltskontrolle gesprochen wird. 41 Vgl mit eingehenden Nachweisen zu RAG und BAG Seiters, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 156ff. 42 AcP 147 (1941) S. 140, 149ff. 43 Vgl M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, 1970, S. 69 ff; Hönn Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982. 37 38
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praktizieren,44 womit dann gegen den Begriff der Vertragsparität der Einwand folgenlos bleibender Begriffsjurisprudenz naheliegend wäre. Doch wäre letzteres zu kurz gesprungen. Das Postulat der Vertragsparität unterminiert nicht notwendig die Rechtssicherheit und muss auch nicht folgenlos bleiben. Denn mit diesem Postulat nimmt das Recht lediglich Abschied vom abstrakten Personenbegriff, in dem es die Menschen in der konkreten Situation des Vertragsschlusses betrachtet, und ihre Vertragsschlusssituation problematisiert. Auf diese Entwicklung des Rechts wurde von Wieacker45 sowie Ludwig Raiser46 längst allgemein hingewiesen. Gewiss liegt hierin ein gewisser Abschied vom idealen Freiheitsbegriff Immanuel Kants; doch ist dies nicht gleichzusetzen mit einem Abschied von einer freiheitlichen Privatrechtsordnung überhaupt. Man hat hier vielmehr Tendenzen zu einer „Materialisierung" des Schuldvertragsrechts gesehen,47 und man spricht dabei auch von materieller - im Gegensatz zu lediglich formeller - Vertragsfreiheit bzw. von einem materiellen - bzw. formellen - Vertragsprinzip. Diese Materialisierung betrifft aber nicht nur Normen, die unter dem Stichwort des Verbraucherschutzes und des Schutzes des Schwächeren diskutiert werden, sondern potentiell alle den Vertragsschluss zum Schutze einer Vertragspartei tangierenden Rechtsnormen, so dass sich die Frage aufdrängt, inwieweit es legitim ist, von einem Sonderrechtsschutz im Verhältnis zum allgemeinen Privatrecht zu sprechen. Hingegen eröffnet der jeweilige funktionale Bezug auf den Vertragsschluss einen wichtigen topos im Rahmen der Auslegung und Fortbildung des Rechts allgemein.48 2. Die neuere Entwicklung zeigt eine zunehmende Bereitschaft von Rechtsprechung und Literatur, die Problematik des Schutzes des Schwächeren mit dem allgemeinen zivilrechtlichen Instrumentarium aufzugreifen. Insgesamt ging die Rechtsprechung vorsichtig voran, begleitet von einer teils drängenden, teils warnenden Literatur. a) Der Wandel vom formellen zum materiellen Vertragsbegriff erfasste in der jüngeren Rechtsprechung, über die bislang schon praktizierte Inhaltskontrolle vertraglicher Nebenleistungen hinaus, zunehmend auch vertragliche Hauptleistungen, etwa bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Verbraucherkrediten,49 wo der BGH ein besonderes Schutzbedürfnis bejahte und diesem Rechnung trug. Nicht nur vertragliche Nebenbedingungen werden unter Schutzaspekten überprüft, sondern die Hauptleistungs44 45 46 47 48 49
Vgl kritisch Zöllner hcP 196 (1996) S. 1, 15ff. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 19 672. Vertragsfreiheit heute, JZ 1958, 1 ff. Canaris AcP 200 (2000) S. 273. Vgl Hönn FS A. Kraft, S. 251, 260 f. Vgl etwa BGHZ 104, 102, 107; 128, 255, 267
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pflichten selbst hinsichtlich der Angemessenheit der Gegenleistung konsequent am Maßstab von BGB § 138 Abs. 1 (Verstoß gegen die guten Sitten), aber praktisch unter Verschärfung des Maßstabs speziell zum Schutz der Verbraucher. Spektakulären Ausdruck fand der Wandel in der bekannten Kontroverse zwischen dem 9. Zivilsenat des BGH und dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. 10. 1993. 50 Schauplatz war das Bürgschaftsrecht, und die Verfassungsbeschwerden betrafen die Frage, inwieweit Zivilgerichte von Verfassung wegen verpflichtet sind, Bürgschaftsverträge mit Banken einer Inhaltskontrolle zu unterziehen, wenn weitgehend einkommens- und vermögenslose Angehörige von Kreditnehmern als Bürgen hohe Haftungsrisiken übernehmen. Die Instanzgerichte wandten hier häufig BGB § 138 Abs. 1 an, wurden aber vom 9. Zivilsenat des BGH unter Hinweis auf die Freiheit der Vertragsgestaltung korrigiert. 51 Auf die Verfassungsbeschwerde eines Bürgen hin bejahte das BVerfG unter Würdigung des konkreten Sachverhalts einen Verfassungsverstoß. Privatautonomie, so führte es aus, sei für alle grundrechtlich verbürgt, und deshalb dürfe nicht das Recht des „Stärkeren" gelten, bzw. faktisch einseitige Bestimmung des Vertragsinhalts erfolgen. 52 Das geltende Vertragsrecht biete auch Möglichkeiten für den Schutz der „im Rechtsverkehr Schwächeren". Der Ausgleich „gestörter Vertragsparität" gehöre zu den „Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts" 53 und könne „insbesondere" durch die Konkretisierung der Generalklauseln bewältigt werden. 54 Dabei will das BVerfG eine generelle eigene Überprüfungskompetenz der Rechtsanwendung nicht in Anspruch nehmen. Ein Verfassungsverstoß liege aber vor, „wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht" werde. 55 Der BGH hat seine Judikatur zwischenzeitlich an die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der besonderen Schutzbedürftigkeit des Bürgen im familiären Kontext angepasst. 56 Einen vorläufigen Schlusspunkt findet die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG in der Forderung nach der Inhaltskontrolle ehevertraglicher Ab50 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36; vgl auch schon zum Handelsvertreterrecht BVerfG 81, 242, 255. 51 Vgl etwa BGHZ 106, 269. 52 BVerfGE 89, 214, 232. 5' AaO S. 233. 54 AaO Leitsatz. 55 AaO S. 234. 56 Vgl insbesondere BGHZ 125, 206 ff; eine eingehende Darstellung der nachfolgenden Judikatur, vor allem zur Sittenwidrigkeit und Geschäftsgrundlage, geben Fischer/Ganter/ Kirchhofva FS aus Anlass des 50-jährigen Bestehens von BGH (oFn 35), S. 33 ff sowie Drexl aaO S. 505 ff, der darüber hinaus eine Abstufung möglicher Rechtsfolgen nach dem Gedanken der „wirtschaftlichen Selbstbestimmung" vorschlägt; aaO S. 520ff.
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reden, die vor der Eheschließung mit einer Schwangeren getroffen wurden und die Betreuungs- und Unterhaltssituation des gemeinsamen Kindes nach einer Scheidung berühren, durch ein Urteil vom 6. 2. 2001.57 b. Seit Jahrzehnten sah man als Instrumente des Schutzes des Schwächeren (abgesehen von Sondergebieten wie Arbeits- und Mietrecht) primär die sog. Inhaltskontrolle, zunächst in Anknüpfung an § 242 BGB, später vor allem über das AGBG sowie spezifische Widerrufsrechte verbraucherschützender Sondergesetze, ggf. im Zusammenwirken mit spezialgesetzlichen Aufklärungspflichten. Das BVerfG hatte demgegenüber darauf hingewiesen, der Ausgleich gestörter Vertragsparität gehöre zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts und könne „insbesondere" durch die Konkretisierung der Generalklauseln bewältigt werden.58 Auf dieser Grundlage wurde dann vor allem BGB § 138 Abs. 1 im Rahmen der Bürgschaftsrechtsprechung zum Schutze naher Angehöriger sozusagen material aufgeladen zur „Inhaltskontrolle". Und auch die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage wurden zwischenzeitlich herangezogen, um den im Einzelfall erforderlichen Schutz des Bürgen zu realisieren.59 Und Canaris macht darauf aufmerksam, dass auch das seit langem anerkannte, von der Judikatur entwickelte Institut der culpa in contrahendo zur Materialisierung des Schuldrechts beiträgt.60 Die bereits erwähnte Festschrift aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofs vermittelt den Eindruck, dass der Satz des Bundesverfassungsgerichts, der Ausgleich gestörter Vertragsparität sei eine der Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts, beim BGH „angekommen" ist. So heißt es schon im Geleitwort61, in der zivilrechtlichen Abteilung stehe u.a. die Darstellung des Schutzes des Schwächeren im Vordergrund. Insoweit befassen sich die einzelnen Beiträge mit der Inhaltskontrolle von AGB der Kreditinstitute (Schimansky), der VOB/B in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Knijfka/Quack), mit dem Schutz des Bürgen (Fischer, Ganter und Kirchhof ), mit Vertragsfreiheit und richterlicher Inhaltskontrolle bei Eheverträgen62 und mit dem Schutz des Schwächeren im Zivilprozess (Messer.; dazu näher unten). Es mag nicht ohne Belang sein, dass Geiß in seinem Geleitwort auf die Aufgabe der Judikatur verweist, Spannungen zwischen Norm 1 BvR 12/92, insbes Rn 27 ff, 33 ff; Kurzfassung in NJW 2001 Heft 9 S. XII. AaO. 59 Vgl BGHZ 128, 230, 236 ff: Sicherung des Gläubigers vor Vermögensverschiebungen in der Ehe durch den Ehegatten nach Auflösung der Ehe nicht mehr erforderlich, so dass nunmehr das Schutzerfordernis des Bürgen überwiegt; für Bürgschaftsverträge ab 1. 1. 1999 verlangt der BGH insoweit allgemein eine spezifische vertragliche Regelung; BGH WM 1998, 2327 2329 f. 60 AcP 200 (2000) S. 273, 320ff. 61 Bundesrichter a . D . Geiß. 62 Gerber.; eine besondere Inhaltskontrolle ablehnend; vgl freilich insoweit neuestens das oben erwähnte Urteil des BVerfG vom 6. 2. 2001. 57 58
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und Rechtswirklichkeit unter Wahrung der Rechtseinheit zu bewältigen und das Recht fortzubilden; die Geschichte des B G H sei in der großen Linie Spiegelbild des Aufstiegs des sozialen Rechtsstaats in den letzten fünfzig Jahren. c. Die Tendenz zur Materialisierung des Vertragsrechts bzw. Zivilrechts spiegelt sich im Übrigen in der neueren Literatur in mannigfaltiger Weise wider, wobei es gerade nicht u m spezielle Verbraucherschutzgesetze, s o n dern u m die Auslegung und Fortbildung des allgemeinen Privatrechts, vor allem durch die Konkretisierung der Generalklauseln und die Anwendung allgemeiner Rechtsinstitute, geht. Eine große Zahl einschlägiger M o n o g r a phien aus jüngster Zeit, 6 3 die hier natürlich nicht näher dargestellt werden k ö n n e n , analysieren die Judikatur unter dem Blickwinkel des Konflikts zwischen Vertragsfreiheit, Schutz des Schwächeren und Rechtssicherheit. 6 4 D a b e i wird durchaus nicht unkritisch einer Einschränkung der Vertragsfreiheit das Wort geredet. Wohl aber wird das Problem ungleicher Verhandlungsstärke und eventueller Schutzbedürfnisse problematisiert. Dass auch diese Entwicklung nicht allseits beifällig gesehen wird, 6 5 sei hier nicht verschwiegen. 3. Dass der Verbraucherschutz auch eine prozessuale K o m p o n e n t e besitzt, ist seit langem unstreitig, und es hat nicht an Forderungen gefehlt, ein spezifisches Sonderprozessrecht zu schaffen. 6 6 Realität geworden sind spezielle Verbandsklagen gegen verbraucherschutzgesetzwidrige Praktiken 6 7 sowie im Wettbewerbsrecht 6 8 , ein spezifisches Schlichtungsverfahren für b e stimmte Kundenbeschwerden nach A G B G § 2 9 , für den Gerichtsstand relevante Beschränkungen der Rechtswahl 6 9 sowie allgemeine Vorschriften, die
63 Erwähnt seien etwa Drexl Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998; Enderlein Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996; Fastrieb Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992; Hommelkoff Verbraucherschutz im System des deutschen und europäischen Privatrechts, 1996; Knobel Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit, 2000; S. Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997; Oechsler Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997; Preis Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1992; Rieble Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996; R. Singer Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995. M Skizzierend Hönn FS A. Kraft, 1998, S. 251, 255ff. 65 Kritisch insbesondere Zöllner AcP 196 (1996) S. 1 ff; Diederichsen AcP 198 (1998) S. 171 ff, der sich aber vor allem gegen eine verfassungsgerichtliche Einmischung in die Zivilrechtsdogmatik wendet. 66 H. Koch Verbraucherprozessrecht, 1990, S. 129 ff; vgl auch EG-Kommission, Hrsg., Zugang der Verbraucher zum Recht, Bulletin der EG Beil. 2/85 Anhang 1. 67 AGBG § 22 nF. 68 UWG § 13. 6 9 EGBGB Art 29, 29a.
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Zugangsbarrieren reduzieren. In diesem Zusammenhang mag man auch allgemeine Grundsätze des Prozessrechts betrachten. 70 a. Unter dem dezidierten Blickwinkel des Schutzes des Schwächeren ist das Zivilprozessrecht kürzlich von Messer71 angesprochen worden. Er befasst sich speziell mit der Frage der Wahrung oder Herstellung der prozessualen Chancengleichheit und untersucht, inwieweit die allgemein geltenden prozessualen Regeln im Hinblick auf den topos Schutz des Schwächeren durch Auslegung bzw. richterliche Rechtsfortbildung modifiziert werden. Grundsätzlich trägt jede Partei die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass der Tatbestand der ihr günstigen Rechtsnorm erfüllt ist. 72 Soweit eine Partei wegen der Besonderheit des Sachverhaltes typischerweise Schwierigkeiten mit der Beweisführung hat, gilt aber - worauf Messer73 hinweist etwas anderes: Im Schadensversicherungsrecht muss der eventuelle Diebstahl selbst nicht nachgewiesen werden, 7 4 im Arzthaftungsprozess gelten bei Mängeln der Dokumentation und bei groben Behandlungsfehlern Beweiserleichterungen zu Gunsten des Patienten, 75 im Rahmen der sog. Produzentenhaftung ergibt sich eine Beweislastumkehr in Fällen von Konstruktionsund Herstellungsfehlern 7 6 , Instruktionsfehlern, 7 7 bei der Verletzung von Produktbeobachtungspflichten 7 8 , bei Unterlassung der Befundsicherung 7 9 . Bei der Ersatzklage wegen fehlerhafter Stellenbesetzung hat man aus der Verletzung der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht eine Umkehr der Beweislast abgeleitet, 80 und im Bereich des Wettbewerbsrechts besteht unter bestimmten Voraussetzungen eine Aufklärungspflicht über interne Vorgänge des Beklagten. 8 1 Soweit sich die Umkehr der Beweislast in den geschilderten Fällen aus materiellrechtlichen Beziehungen der Beteiligten ableiten lässt, 8 2 mag man den Aspekt des Schutzes des Schwächeren als allein materiellrechtlich be70 Vgl unter europäischem Aspekt Habscheid in Gemeinsames Privatrecht in der EG, 19992, S. 545, 550f. 71 Der Schutz des Schwächeren im Zivilprozess in FS aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des BGH, 2000, S. 67 ff. 72 MünchKommZPO/Prutting 2000 2 , § 286 Rn 109; Thomas/Putzo ZPO, 199922, Vor § 284 Rn 23; Baumbach/Hartmann ZPO 2001 59 , Anhang § 286 Rn 10 ff. 73 A a O ; vgl auch R. Kemper Verbraucherschutzinstrumente, 1994, S. 284 ff. 74 BGHZ 79, 54, 59 f zur Auslegung des Begriffs „Entwendung" im Hinblick auf die Feststellbarkeit des Versicherungsfalles. « BGHZ 99, 391, 395 ff; 85, 212, 216f. 76 BGHZ 51, 91, 104 ff Hühnerpest. 77 BGHZ 80, 186, 198 f Apfelschorf; 116, 60, 72f. 7» BGHZ 99, 167 ff Honda. 79 BGHZ 104, 323, 334 ff Limonadenflasche; 129, 353, 361. 80 BGH NJW 1995, 2344, 2345 f. «ι BGHZ 120, 320, 326 ff mN. 82 Hierzu Messer aaO.
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gründet auffassen. Beruft man sich freilich auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der gleichen Anrufungschance, 83 so muss auch ein allein auf der Ebene des Prozessrechtsverhältnisses bestehendes strukturelles Ungleichgewicht beider Parteien ausgeglichen werden. 84 Und Entsprechendes gilt im Hinblick auf den im EMRK Artikel 6 Abs. 1 niedergelegten Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren; Letzterer führt etwa dazu, dass die Vernehmung eines Parteivertreters als Zeuge zugelassen werden musste, wenn er auf Seiten einer Partei der einzige Gesprächspartner war. 85 b. Karsten Schmidt macht auf die Präklusionsproblematik der Geltendmachung verbraucherschützender Widerrufsrechte in der Vollstreckungsgegenklage nach ZPO § 767 aufmerksam, die sich dann ergibt, wenn die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung unterblieben ist und das Widerrufsrecht deshalb lange Zeit bestehen bleibt. Ein Teil der Kritik von K. Schmidt an BGHZ 131, 82 hat sich insoweit praktisch erledigt mit der Neukonzeption des Widerrufsrechts nach BGB § 361 a mit rücktrittsähnlichen Wirkungen. 87 Insoweit stellt sich künftig bei vergleichbaren Fällen die Frage, ob ein nach Abschluss des Vorprozesses an sich rechtzeitig erklärter Widerruf noch mit der Vollstreckungsgegenklage geltend gemacht werden kann, oder ob Letzteres daran scheitert, dass die Widerrufsberechtigung an sich schon während des Vorprozesses gegeben war. O b es für ZPO § 767 Abs. 2 auf den Zeitpunkt der Gestaltungserklärung oder des Gestaltungsgrawcfo ankommt, ist streitig, wobei die Judikatur zur letzteren Auffassung zu neigen scheint. 88 Hiernach könnte die Judikatur an sich auch künftig zur Präklusion kommen. Zu Recht weist K. Schmidt freilich auf den Wertungsaspekt hin, dass das Gesetz „dem Widerrufsberechtigten für die Dauer der Widerrufsfrist die Wahlfreiheit einräumt, nach Gutdünken für oder gegen die Erfüllung des Vertrages zu optieren". 89 Dies dürfte das entscheidende Argument für die Berücksichtigung des Widerrufs in der Vollstreckungsgegen-
BVerfGE 52, 131, 144. Messer aaO, S. 81. 85 EGMR NJW 1995, 1413 ff betreffend eine niederländische G m b H ; Messer aaO, S. 81; zustimmend auch Schlosser NJW 1995, 1404, 1405. 86 In: 50 Jahre BGH, Bd 3, 2000, S. 491, 505ff. 87 Siehe dazu oben I 3; BGHZ 131, 82 hatte auf der Basis des früheren Widerspruchsrechts zu entscheiden, wonach die Willenserklärung erst wirksam wird, wenn sie nicht rechtzeitig widerrufen wird; der BGH sah in dem nach Abschluss des Vorprozesses erklärten, an sich rechtzeitigen, Widerrufs keine neue Tatsache im Sinne von ZPO § 767 Abs 2, sondern ging von einer präkludierten Einwendung aus, aaO S. 86. 88 K. Schmidt aaO, S. 500 ff; Baumbach/Hartmann ZPO § 767 Rn 52 ff; Thomas/Putzo ZPO § 767 Rn 22 ff; Zöller/Herget ZPO, 2001 2 2, § 767 Rn 14. 89 AaO S. 50Z 83 84
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klage sein. 9 0 U n d hierin liegt wiederum ein spezifischer Aspekt des Schutzes des Schwächeren im Zivilprozessrecht. Schließlich ist im vorliegenden Zusammenhang auf die Judikatur zur Durchbrechung der Rechtskraft zu verweisen. 91 Wenn der B G H hier entgegen den prozessualen Vorschriften unter engen Vorraussetzungen BGB § 826 anwenden will, 92 so dient dies erkennbar dem ganz besonderen Schutzbedürfnis Einzelner.
III. Spezielle und allgemeine Regeln zum Schutz des Schwächeren 1. Der Uberblick hat zwei Normengruppen gezeigt, mittels derer der Schutz des Schwächeren realisiert wird. Dies sind einmal die allgemeinen privatrechtlichen - und zivilprozessualen - Vorschriften und insbesondere Generalklauseln, über die dieser Schutz qua Auslegung, Konkretisierung und Rechtsfortbildung 9 3 erfolgt. Hier scheint generell das Bewusstsein, dass es im Recht nicht nur um Rechtsanwendung schlechthin, sondern inhaltlich um den Schutz von Personen und Personengruppen geht, zuzunehmen. U n d es bildet sich eine Judikatur, die dem zunehmend Rechnung trägt - insoweit durchaus ermuntert durch das BVerfG. 9 4 Dabei ist evident, dass der Aspekt hinreichender Rechtssicherheit beachtet werden muss. Daneben stehen die speziellen gesetzlichen Vorschriften, häufig europarechtlicher Provenienz, teils im B G B , teils in anderen Gesetzen, die insbesondere für Verträge zwischen Verbraucher und Unternehmer Informationspflichten und Widerrufsrechte, zum Teil auch weitere Rechtsfolgen wie Unwirksamkeit etc., z. B. im A G B G vorsehen, die ausdrücklich als Verbraucherschutz bezeichnet werden und die selbstverständlich auch dem Schutz des Schwächeren zu dienen bestimmt sind. 2. Unter dem Blickwinkel der Rechtsfolgen lassen sich in der ersten Gruppe zunächst Nichtigkeit und Unwirksamkeit, also eine Einschränkung 90 Zur zulässigen Geltendmachung einer Option in der Vollstreckungsgegenklage vgl freilich BGHZ 94, 29. 91 Vgl Hönn Festschrift für G. Luke, 1997, S. 265. 92 Vgl MünchKommZPO/ Gottwald § 322 Rn 206 ff; Zöller/ Vollkommer ZPO Vor § 322 Rn 72 ff; W. Luke Zivilprozessrecht, 19997, Rn 370; kritisch zur Rechtsprechung vor allem Prütting/Wetb Rechtskraftdurchbrechung bei unrichtigen Titeln, 19942. 93 Zur zunehmend wichtiger werdenden richterlichen Rechtsfortbildung vgl den Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks 14/3750, sowie den Regierungsentwurf, BT-Drucks 14/4722; beide Entwürfe sehen gemäß E § 543 die Voraussetzungen der Zulassungsrevision generell als gegeben an, wenn die „Fortbildung des Rechts" eine Entscheidung des Revisionsgerichts „erfordert"; vorbereitet durch BVerfG NJW 1998, 519, 520; 1973, 1221. 94 E 89, 214.
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Günther Hönn
der Privatautonomie im individuellen Schutzinteresse, partiell auch Ersatzpflichten (bei culpa in contrahendo) oder Kontrahierungszwang unterscheiden. In der zweiten Gruppe dominieren Informationspflichten und ein einseitiges Lösungsrecht, während die Privatautonomie im Übrigen nicht beeinträchtigt ist. Scheint der letztgenannte Mechanismus also grundsätzlich vorzugswürdig, so wäre seine Installierung im Wege richterlicher Rechtsfortbildung freilich zumindest nicht ohne größere Schwierigkeiten möglich. Umgekehrt dürften die speziellen Informations- und Lösungsrechte allein für den Schutz des Schwächeren auch nicht ausreichen, so dass die erste Fallgruppe daneben ihre Bedeutung behält. 3. Der Aspekt der Eingriffsvoraussetzungen zeigt freilich - unbeschadet der Qualifikation als Gesetzesrecht im engeren Sinne einerseits oder Rechtsfortbildung andererseits - Gemeinsamkeiten beider Normengruppen auf. Eingriffsvoraussetzung ist jeweils, dass ein Vertragspartner im Hinblick auf den Vertragsschluss - bzw. eine Prozesspartei auf ihre prozessuale Situation - schwächer ist, und zwar - im Hinblick auf das Erfordernis der Rechtssicherheit - mit einer gewissen Typizität, und dass diese Position nach dem geltenden Vertrags- und Wirtschaftsrecht nicht hinzunehmen ist. 95 Dabei spielt der wirtschaftliche Wettbewerb als grundlegende Institution zur Entmachtung von Wirtschaftssubjekten eine ganz zentrale Rolle. Im Übrigen kommt es auf die situationsbezogene Gefährdung des Vertragspartners an, hinsichtlich derer zu fragen ist, ob der Partner möglicherweise tatsächlich nicht angemessen frei entscheiden kann wegen des Übergewichts der anderen Seite 96 , oder ob die sich nach allgemeinen Regeln zunächst ergebende Beweislage ohne innere Berechtigung und damit unfair ist. Die Frage muss schlicht heißen: Wer bedarf in welcher Situation eines besonderen Schutzes? 97 Und diese Frage ist letztlich zentral für den Verbraucherschutz und die Tendenz zur Materialisierung gleichermaßen. Für das Prozessrecht hat der BGH Beweiserleichterungen gegenüber den allgemeinen Beweislastregeln etwa aus. dem Zweck des zugrundeliegenden Rechtsverhältnisses abgeleitet. 98 Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich auch für privatrechtliche Streitigkeiten Waffengleichheit postuliert des Inhalts, dass jede Partei vor Gericht ihren Fall unter Bedingungen muss präsentieren können, dass sich keine substantiellen Nachteile im Verhältnis zum Prozessgegner ergeben. 99 Gleichermaßen geht es vor dem Hintergrund und im Rahmen des allgemeinen Privatrechts bzw. des Prozessrechts um eine stärker situationsbezogene Feinsteuerung dieses Hierzu: Drexl aaO S. 341 ff. Canaris AcP 200 (2000) S. 273, 296; Hönn Keio Law Review 1990, S. 201, 223. 97 Medicus Festschrift für Kitagawa, 1992, S. 471, 486. 98 BGHZ 79, 45, 59 f: Zweck und Wert der Kaskoversicherung für Nachweis der Entwendung eines Gegenstandes. 9 9 NJW 1995, 1413. 95 96
Europarechtlich gesteuerter Verbraucherschutz und Materialisierung
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Rechts - die dem Aspekt der Rechtssicherheit zugegebenermaßen einen etwas verminderten Rang zuzubilligen scheint. Auch in den Fällen des spezifischen Verbraucherrechts gilt letztlich nichts anderes. N u r ist der Typisierungsgrad wegen der rechtssatzmäßigen Regelung höher. Es geht u m spezifische situationsbezogene Gefährdungen eines Vertragsteils (beim Fernabsatz, Fernunterricht, Kreditvertrag, Haustürgeschäft, beim Teilzeitwohnen pp), und der Schutz des Schwächeren erfolgt unter Inkaufnahme einer begrenzten Zeit der Unsicherheit auf Seiten des Unternehmers; dabei besteht die Besonderheit, dass der Schutz nur bei Verträgen zwischen Unternehmer und Verbraucher und dabei nur dem Letzteren eingeräumt wird. Aber auch dies ist plausibel, weil typischerweise im Bereich gewerblicher oder selbständiger beruflicher Tätigkeit größere Sorgfalt erwartet werden kann als im rein privaten Bereich, und weil insoweit der Unternehmer bei Vertragsschlüssen typischerweise ein gewisses Ubergewicht gegenüber dem Privatmann haben wird, 100 dieser also typischerweise besonders schutzbedürftig ist. Die Typisierung als Verbrauchervertrag bleibt freilich innerhalb des Rahmens des geltenden Vertragsrechts und seiner Vertragstypen und unterscheidet sich dadurch wohl beträchtlich vom Arbeitsrecht, dass aufgrund einer noch stärkeren Typisierung aus dem allgemeinen Zivilrecht herausgewachsen ist. 4. Der Schutz des Schwächeren ist nach dem Gesagten nicht identisch mit dem Verbraucherschutz i.e.S. Vielmehr bildet Letzterer nur einen wesentlichen - spezialgesetzlich geregelten - Teil des Ersteren. Der Verbraucher i.S. von BGB § 13 ist beim Verbrauchervertrag stets der Schwächere i.S. des Gesetzes. Aber auch wer nicht Verbraucher ist, kann i.S. der D o g matik schutzbedürftig und insoweit durch die allgemeinen Regeln geschützt sein. Ein Beispiel für die Überlagerung der Rechtsgebiete findet sich im A G B G . Soweit es nach Maßgabe von A G B G § 24a für Verbraucherverträge anzuwenden ist, geht es u m spezialgesetzlichen Verbraucherschutz; im Übrigen handelt es sich um - freilich hier positivrechtlich ausformuliertes - allgemeines Recht zum Schutz des Schwächeren vor dem Risiko der spezifischen AGB-Gefahren, und diesen Schutz nach Maßgabe von A G B G § 24 kann jedermann, auch der Unternehmer, in Anspruch nehmen. 101 5. Im Übrigen ist sowohl der spezielle als auch der allgemeine Schutz des Schwächeren jeweils relativ im Hinblick auf bestimmte rechtliche Beziehungen bzw. Risiken ausgestaltet; den schlechthin Schwächeren - oder Stärkeren - gibt es eben nicht (von den Vorschriften über die Geschäftsfähigkeit sei hier abgesehen). Canaris a a O S. 360. ιοί Vgl hierzu Kainz in Neues europäisches Vertragsrecht und Verbraucherschutz, 1999, S. 63 ff. 100
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Günther H ö n n
Angesichts des Abstraktionsgrades des spezialgesetzlichen Verbraucherschutzes mögen sich hier auf den ersten Blick einzelne befremdliche Ergebnisse zeigen, etwa die Verbraucherstellung des Bauunternehmers, der für private Zwecke eine Motorjacht erwirbt 102 oder des Mehrheitsgesellschafters und Alleingeschäftsführers einer GmbH, der die Mithaftung für einen Kredit der GmbH übernommen hat. 103 Letztlich ist die Regelung aber nur konsequent, wenn man nicht privatrechtliche Rechtsfolgen allein an die unterschiedliche soziale Stellung knüpfen will. Entsprechendes gilt für den allgemeinen Schutz des Schwächeren im Privatrecht, der ebenfalls nur in bestimmter Hinsicht erfolgt. So ist etwa ein Fabrikant hinsichtlich der Globalzession künftiger Kundenforderungen an seine Bank dieser gegenüber schutzbedürftig, weil der Fabrikant dann keine Rohstoffe unter Eigentumsvorbehalt beziehen kann, mit der Folge des Eingreifens von BGB § 138 Abs. I, 104 und hierin läge gewiss eine „strukturelle" Schwäche i.S. der Rechtsprechung des BVerfG. Zugleich ist dieser Fabrikant aber natürlich Unternehmer, und im Hinblick auf seine AGB sind seine privaten Abnehmer als Verbraucher ihm gegenüber schutzbedürftig. Gerade die Beispiele aus dem Prozessrecht zeigen überdies, dass der Schwächere durchaus nicht stets Verbraucher ist. 6. Die gesetzliche Wertung spezieller Verbraucherschutznormen mag aber durchaus auch außerhalb ihres spezifischen Anwendungsbereichs die Gestaltung des allgemeinen Schutzes beeinflussen, nicht i.S. einer unkritischen Ausdehnung, wohl aber i.S. eines Wertungsaspektes im Rahmen der Auslegung des Rechts bei der Konkretisierung von Generalklauseln. 105 Gerade angesichts des punktuell ansetzenden spezifischen Verbraucherschutzes könnte hierin ein Beitrag zur Bewältigung der auf das allgemeine Zivilrecht bezogenen „Einpassungsproblematik" liegen. 106 Die unter dem Stichwort der Materialisierung geschilderte Entwicklung dürfte in vielerlei Hinsicht durch eine derartige Fernwirkung spezieller Verbraucherschutzregeln zu erklären sein. Und dass spezielle und allgemeine Regeln sich wechselseitig ergänzen, ist durchaus nichts Neues im Zivilrecht, sondern beispielsweise im Wettbewerbsrecht seit Jahrzehnten erprobte Praxis - ohne dass diese Parallele hier überstrapaziert werden sollte.
Vgl BGH NJW 1997, 2685 und hierzu Kappus NJW 1997, 2653. BGHZ 133, 71, 77f. 104 Vgl BGHZ 30, 149, 152; zu Annahme der Sittenwidrigkeit freilich kritisch Medicus NJW 2000, 2921, 2925. 105 Vgl hierzu allgemein Hönn FS Mühl, 1981, S. 309 ff. 106 N. Reich Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, S. 31. 102
Neue Aspekte für die japanische ZPO T O I C H I R O KlGAWA
A m 26. Juni 1996 wurde in Japan die neue ZPO erlassen. Sie ist am 1. 1. 1998 in kraft getreten. Bis dahin galt die alte japanische ZPO (jZPO), welche nach dem Vorbild der deutschen C P O abgefasst, deren Grundvorschriften unverändert übernommen hatte. In der Praxis war vor Inkrafttreten der neuen Z P O die gerichtliche Schlüssigkeitsprüfung nicht strikt. Infolgedessen wurde die Beweisaufnahme manchmal mit vagen, nicht genau begrenzten Beweisfragen durchgeführt. Nicht selten prüfte das Gericht erst am Ende des Verfahrens, also nach der Beweisaufnahme, die präzise Rechtsanwendung und deren Voraussetzungen. Ein solches Handhaben der Fälle durch das Gericht wurde von vielen als Ursache für Prozessverschleppung und falsche Tatsachenfeststellungen heftig kritisiert. Wir, japanische Wissenschaftler, gaben einer solch ineffektiven Fallbehandlung den N a m e n „Treibende Untersuchung". D a s Zivilverfahren wird in Japan durch die j Z P O und durch die Zivilprozessverordnung (jZPVo), in der der „Japanische Oberste Gerichtshof" Einzelheiten des Verfahrens geklärt hat, geregelt. Letztere erlangte am 1. 1. 1998, gemeinsam mit der j Z P O , Gesetzeskraft. Zur Verhinderung der oben erwähnten „Treibenden Untersuchung" bestimmt § 53 Abs I jZPVo, dass bereits in der Klageschrift alle für den Beweis der Haupttatsachen relevanten Hilfstatsachen genau bezeichnet werden. Ebenso hat der Beklagte in seinem Schriftsatz alle Hilfstatsachen, die für die Begründung des Bestreitens klägerischen Vorbringens notwendig werden könnten, darzulegen. Hieraus ist zu ersehen, dass die neue jZPVo eine striktere Anwendung der Relationstechnik verlangt. Grundsätzlich ist die japanische Relationstechnik der deutschen inhaltlich gleich. Danach muss eine unschlüssige Klage ohne Berücksichtigung des Vorbringens des Beklagten abgewiesen werden. D a s Erfordernis der vorherigen Tatsachendarlegung durch den Kläger ist ein wesentlicher Inhalt des Beibringungsgrundsatzes. Die in der deutschen Relationstechnik enthaltene präzise Systematik hat mich überzeugt und begeistert. Deshalb habe ich sie in der Vergangenheit der japanischen Jurisprudenz in mehreren Aufsätzen vorgestellt. Inzwischen jedoch kamen mir Bedenken gegen eine strikte Anwendung dieser Technik, insbesondere bei Arzthaftungs-, Produkthaftungsprozessen
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Toichiro Kigawa
und in anderen vergleichbar komplexen Fällen, in denen dem Kläger die Sachkunde fehlt und Beweismittel ungleich zwischen den Parteien verteilt sind. Z u m a l die meisten wichtigen Beweismittel im Besitz des Beklagten sind, m u s s der Kläger, ohne eine Möglichkeit zu Beweisanalyse, seine schlüssige Klagebegründung formulieren. Ich bin der Ansicht, dass in diesen Fällen der Beibringungsgrundsatz, insbesondere der G r u n d s a t z der vorherigen Tatsachendarlegung, die Rechtsschutzfunktion des Prozesses behindert. Der B G H scheint auf der Suche nach einer L ö s u n g für eben dasselbe Problem zu sein, wie sich dies aus einigen seiner Entscheidungen zur Waffengleichheit in Arzthaftungsprozessen erkennen lässt. 1 Er versucht dem Kläger in Prozessen, in denen bei strikter A n w e n d u n g des Beibringungsgrundsatzes die Klage als unschlüssig abgewiesen werden m ü s s t e , helfend unter die A r m e zu greifen. Bei logischer Analyse solcher Entscheidungen k o m m t man unweigerlich zu dem Ergebnis, dass der Instanenrichter trotz Unschlüssigkeit des Klägervorbringens die Vorlage weiterer Beweismittel verlangen u n d auch Zeugen vernehmen müsste. Ich möchte darauf hinweisen, dass es d e m Laien mangels ausreichender Sachkenntnis nicht nur im Arzthaftungsprozess übermäßig schwierig ist, die H ü r d e der Schlüssigkeit zu nehmen, sondern auch in vielen anderen ähnlich gelagerten Fällen, betreffen ζ. B. Gerätebrand (Fernsehgerät, etc. ...), Düngergift, Arzneinebenwirkungen, Lebensmittelbakterien, Kernenergie und Kartellrechtsverletzungen. Allen diesen Verfahren ist die Besonderheit gemeinsam, dass der Kläger d e m Hersteller, also einem Fachmann gegenübersteht, der darüber hinaus auch die meisten Beweismittel in H ä n d e n hält. Eine U b e r p r ü f u n g dieser Beweismittel bleibt d e m Kläger verwehrt. Dennoch m u s s er, bei genauer A n w e n d u n g der Relationstechnik, schlüssig, d . h . wissenschaftlich-technisch, den Sachverhalt darstellen. U m rechtlich schlüssig sein zu können, m u s s die Klage ja erst technisch logisch sein. D a mit verlangt m a n v o m Kläger etwas Unmögliches. Eine schlüssige Sachverhaltsdarlegung wäre ihm vielmehr nur nach A n h ö r u n g der erschienenen Parteien durch den Vorsitzenden Richter oder sogar erst später, nach Befragung der Zeugen durch den Sachverständigen unter richterlicher Kontrolle möglich. Im Folgenden möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen Lösungsvorschlag lenken: Wären dem Kläger durch eine Beweissicherung bereits vor Klageerhebung alle erheblichen Beweismittel zugänglich, so könnte er unter Einschaltung eines tüchtigen Privatgutachters seine Klagebegründung schlüssig formulieren. Die auch gegenwärtig bestehende Möglichkeit eine Beweissicherung zu beantragen gewährt hierfür dagegen keine Garantie. D e n n der Antrag hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Besorgnis nachgewiesen 1 BGH NJW 1987, 500; Schmid NJW 1994, 767; BGH VersR 1981, 752; OLG Stuttgart VersR 1991, 230.
Neue Aspekte für die japanische Z P O
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werden kann, dass das Beweismittel verloren gehen, oder dessen Vorlage erschwert werden könnte (§ 485 I d Z P O ; § 234 jZPO). Dies ist nur ausnahmsweise möglich. Sollte der Kläger aber - wie dies eher die Ausnahme ist - dennoch genügend Sachkunde besitzen, so müsste er auch in Ermangelung der meisten Beweismittel streng nach dem Beibringungsgrundsatz die Klage begründen. Dieser Gedanke ist problemlos in die Realität umzusetzen, solange der Kläger Tatsachen konkret darlegen kann, auch ohne dass er die sich beim Gegner befindlichen Urkunden überprüft (z.B. Kauf, Darlehen, etc. ...). Klarstellen möchte ich, dass der Prozess nach meiner Meinung, unabhängig von der Sachkunde des Klägers, mit einer Beweisbeschaffung beginnen soll. Das Erfordernis einer anfänglichen Tatsachendarlegung durch die Parteien dient dabei als Begrenzungsrahmen, um eine Ausforschung zu verhindern. Die Darlegung ist deshalb noch nicht Gegenstand der Schlüssigkeitsprüfung. Vielleicht erscheint die Behauptung etwas gewagt, doch scheint mir, dass in den USA das Verfahren mit der Beweismittelbeschaffung beginnt, gerade um einen Ausgleich der Beweismittel unter den Parteien zu erreichen. Seit der Reform der Federal ZPO in den USA (usZPO) 19932 müssen die Parteien zu Beginn des Prozesses, als erste Handlung alle wichtigen Beweismittel vorlegen. Man wies darauf hin, dass es in der Praxis sehr schwierig ist, diese Anforderung zu erfüllen. Dennoch finde ich die Lösung hervorragend. Als Zwischenergebnis möchte ich festhalten, dass das deutsche Verfahren zunächst mit der Tatsachendarlegung beginnt. Erst dann stellt sich die Beweisfrage. Die moderne Prozesspolitik hingegen soll die Beschaffung der wichtigen Beweise voran platzieren, wobei die vorherige Tatsachendarlegung lediglich eine Sicherung gegen Ausforschung darstellen soll. Hierbei stellt sich die Frage, wie man die dem Verfahren in den USA eigene Idee der automatischen Beweisvorlegung mit der deutsch-japanischen Grundstruktur der ZPO vereinbaren kann. Ich bin der Uberzeugung, dass dies möglich ist. Allerdings nur dann, wenn man die „allgemeine Aufklärungspflicht" anerkennt. An dieser Stelle möchte ich zur Problematik der Urkundenvorlegung durch den Gegner eine kurze Ausführung anbringen. In der alten ZPO hatte § 312 denselben Inhalt, wie §§ 422, 423 d Z P O und war inhaltlich auch vergleichbar einschränkend auszulegen. In der Praxis war die Frage, ob der Beklagte vorlegungspflichtig ist, stets Stoff heftiger Diskussionen. Ihre Klärung hat zur Langwierigkeit der Verfahren maßgeblich beigetragen. Nicht selten benötigte das Gericht dazu 6 Monate. Die verschiedenen Auslegungen der Bestimmungen des § 312 j Z P O alte Fassung durch das OLG, „wenn 2 Charles W Sorenson, Jr. Disclosure Under Federal Rule of Civil Procedure 26(a)„Much Ado About Nothing", Hasting Law Journal 679; Junker Die Discovery-Reform des Jahres 1993: Zeitenwende oder Gesetzeskosmetik? ZZP Int (1996) 235ff.
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die Urkunde in seinem Interesse errichtet ist" oder „wenn die Urkunde das zwischen Beweisführer und Besitzer bestehende Rechtsverhältnis beurkundet", trug zur Prozessverschleppung ebenfalls bei. Nach meiner Ansicht soll der Umfang der Urkundenvorlegungspflicht nicht nach materiellem, sondern nach prozessualem Maßstab - wie dies in den USA, Frankreich3 und neuerdings auch in Japan4 der Fall ist - bestimmt werden. Ich bin einer Meinung mit den deutschen Wissenschaftlern Stürmt5, Schlosser6 und Gottwald7. Eine Prozesspolitik, wonach sowohl Parteien als auch Dritte alle für das Verfahren erhebliche Beweismittel vorlegen müssen, ist dem geltenden deutschen System überlegen. Deshalb bin ich für die Anerkennung der allgemeinen Aufklärungspflicht, denn ohne sie ist es praktisch unmöglich, zu Beginn des Prozesses alle sich in den Händen der Parteien befindlichen Beweismittel vorlegen zu lassen. Ich vertrete den Standpunkt, dass eine ZPO im Grunde fehlerhaft und ihrem eigentlichen Sinn widersprechend ist, da sie Ungerechtigkeit schafft, wo sie Gerechtigkeit will, wenn der Prozessausgang davon abhängen kann, ob und in wieweit der Kläger im Zeitpunkt der Klageerhebung Beweismittel in eigener Hand hat. Die ZPO muss grundsätzlich den Weg für den prozessualen Sieg des materiellrechtlich Berechtigten freimachen. Das ist die Aufgabe und das Ziel einer ZPO. Der BGH vertritt hierzu eine andere Meinung.8 In jedem Verfahren soll Waffengleichheit durch gegenseitiges Ausgleichen der Fähigkeit zur Beweiserbringung verwirklicht werden. Auch Dritte müssen nicht nur ihre Wahrnehmungen darlegen, sondern auch die sich in ihrem Besitz befindlichen Urkunden und Gegenstände vorlegen. Das Gericht muss immer im Bewusstsein der Wechselbeziehung zwischen der Beweisbeschaffung und der Möglichkeit der Tatsachendarlegung agieren. Es muss immer darauf Rücksicht nehmen, ob ein ausreichender Austausch erheblicher Beweismittel unter den Parteien stattgefunden hat. Eine genaue Schlüssigkeitsprüfung darf erst nach vollständiger Beweisvorlegung durchgeführt werden. Unter Umständen kann die Schlüssigkeitsprüfung erst nach Vorlegung aller maßgeblichen Urkunden und Gegenstände - so wie dies etwa bei Arzthaftungsprozessen in Deutschland der Fall ist - erfolgen. Die Frage, welche Beweise vorlegungsbedürftig sind, kann entweder nach einer Parteianhörung, § 273 ZPO oder nach einer Zeugenvernehmung bzw. ZeuArt. 10 Code Civil; Art. 11 Nouveau Code de Procécure Civile. § 220 IV jap. ZPO, nach der herrschenden Meinung in Japan haben sowohl die Parteien als auch Dritte die Pflicht Gegenstände und Urkunden vorzulegen. 5 Rolf StürnerOie Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976 6 Peter Schlosser Die lange deutsche Reise in die prozessuale Moderne, JZ 1991 599 ff. 7 Peter GottwaldOie prozessuale Aufklärungspflicht im Rechtsvergleich, Linzer Universitätsschriften, Beiträge zum ZPR V (1995) 21 ff. 8 BGH NJW 1990, 3151. 3 4
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genbefragung durch den Sachverständigen unter richterlicher Aufsicht beantwortet werden. Letztere ist insbesondere dann angesagt, wenn zur Erkennung einer Erforschungsbedürftigkeit fachlich relevanter Anknüpfungstatsachen Sachkenntnis unentbehrlich ist. Ich habe in den USA an der Seite von ortsansässigen Anwälten etwa zehn Jahre lang japanische Unternehmen in Produkthaftungsprozessen verteidigt. In vielen Fällen hatten die japanischen Hersteller verloren, obwohl sie nach meiner Ansicht - gewonnen hätten, wenn der Prozess auf Grundlage der japanischen ZPO geführt worden wäre. Der Grund hierfür liegt in dem tiefgreifenden und energischen Beweisbeschaffungssystem der usZPO. Die endgültige Schlüssigkeitsprüfung wird dort erst nach der „Discovery" diskutiert. In Japan ergehen keine dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 25. 7 1979 9 vergleichbare höchstrichterliche Entscheidungen zur Waffengleichheit unter den Parteien. In diesem fraglichen Beschluss stehen sich zwei divergierende Ansichten gegenüber, jeweils vertreten von vier der Verfassungsrichter. Beide Ansichten basieren im Wesentlichen auf denselben drei Säulen, unterschiedliche Ansichten bestehen zur Frage des Inhalts der Waffengleichheit. Dabei ist der zweite dieser Sockel für uns in Japan von besonders großer Bedeutung: 1. Anspruch auf ein faires Verfahren 2. Waffengleichheit als Bestandteil des Anspruchs auf ein faires Verfahren 3. Erforderlichkeit einer Modifizierung des Beweisrechts im Arzthaftungsprozess Nach jener der beiden Meinungen, die aufgrund der Pattsituation den Beschluss schließlich trug, meint die zivilprozessuale Waffengleichheit nur die „Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter". 10 Deshalb sollte das gegenständliche OLG-Urteil nur formell daraufhin überprüfbar sein, ob eine Erwägung der Rechtssätze zur Beweiserleichterung überhaupt stattgefunden habe. Solange die geltende Rechtsprechung zur Modifikation des Beweisrechts berücksichtigt werde, komme ein Verfassungsverstoß nur bei sachfremden Erwägungen des Instanzgerichts in Betracht. Nach Ansicht der übrigen Senatsmitglieder verlangt der Grundsatz der Waffengleichheit auch die gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang. Die Frage nach der Zumutbarkeit der regulären Beweislastverteilung sei unmittelbar aus dem Verfassungsrecht zu stellen.11 Deshalb sei das OLG-Urteil sowohl formell, als auch materiell, insbesondere im Hin' NJW 1979, 1925 ff. NJW 1979, 1927 11 NJW 1979, 1925. 10
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blick auf die Ausführungen zur Zumutbarkeitsfrage, überprüfbar. Das OLG-Urteil solle deshalb daraufhin untersucht werden, ob die Ausführungen zur Gewährung von Beweiserleichterungen zugunsten des Beschwerdeführers materiell mit der Rechtsprechung in Arzthaftungsprozessen übereinstimme. Da ich die Ansicht vertrete, dass die Pflicht zur Zumutbarkeitsprüfung unmittelbar aus dem Verfassungsrecht resultiert, bin ich davon überzeugt, dass ohne eine materielle Uberprüfung im Einzelfall, ob dem Patienten die reguläre Beweislastverteilung noch zugemutet werden darf, das verfassungsrechtliche Gebot des fairen Verfahrens nicht gewahrt werden kann. Die japanische Verfassung bestimmt in seinem Art. 14 die Gleichheit vor dem Gesetz. Der Grundsatz der Waffengleichheit muss als Ausfluss dieses Artikels gesehen werden. In Arzthaftungsprozessen (sowie in Produkthaftungsprozessen) ergibt sich nicht nur das Erfordernis der Regulierung der Beweislastverteilung, sondern auch das der Berichtigung der Verteilung der Darlegungspflichten. Weil sich aber eine gleichmäßige Verteilung des damit verknüpften Risikos am Verfahrensausgang zwangsläufig zugunsten des Patienten (bzw. Verbrauchers) auswirkt, resultiert die Pflicht zur Überprüfung der Zumutbarkeit einer regulären Beweis- bzw. Darlegungslastverteilung unmittelbar aus dem Verfassungsrecht. Als Ergebnis möchte ich festhalten: In einem Prozess, in dem sich Laie und Fachmann (Arzt, Hersteller) gegenüberstehen, oder in welchem sich die meisten Beweismittel im Besitz nur einer Partei befinden, soll die vorherige Tatsachendarlegung durch den Kläger in seiner Klageschrift unschlüssig sein dürfen. Das Gericht soll die Klage nicht lediglich mit dem Argument des Beibringungsgrundsatzes abweisen können. Vielmehr soll die richterliche Schlüssigkeitsüberprüfung erst nach Vorlegung der Beweismittel, u . U . sogar erst nach der Zeugenbefragung durch den Sachverständigen erfolgen. Die klägerische Tatsachendarlegung zum Prozessbeginn soll lediglich die Ausforschung verhindern. Man sollte genau analysieren, ob die im Rahmen der in den USA 1993 durchgeführten ZPO-Reform verwerteten Ideen, nicht auch in die Grundstruktur der deutschen und japanischen ZPO zu übernehmen wären.
Zuständigkeitslücken im neuen Europäischen Insolvenzrecht DIETER
LEIPOLD
I. Widmung In freundschaftlicher Verbundenheit darf ich dem weltweit hoch angesehenen Gelehrten Akira Ishikawa zum 70. Geburtstag herzlich gratulieren. Unsere Wege trafen sich schon vor Jahrzehnten, als wir bei meinem Lehrer Rudolf Pohle an der Universität München den inneren Geheimnissen des Zivilverfahrensrechts nachspürten. Seither hat Akira Ishikawa in Forschung und Lehre Großes geleistet. Nicht zuletzt ist ihm für sein stetes Bemühen um die japanisch-deutsche wissenschaftliche Zusammenarbeit besonders zu danken. Für viele weitere Jahre wünsche ich ihm Gesundheit und Schaffenskraft. Da im umfassenden Werk von Akira Ishikawa auch das Vollstrekkungs- und Insolvenzrecht einen bedeutenden Platz einnimmt, seien dem Jubilar einige Überlegungen zum neuen Europäischen Insolvenzrecht als Geburtstagsgruß gewidmet.
II. Anerkennung ausländischer Insolvenzverfahren nach der E u l n s V O Nach über dreißigjährigen Bemühungen ist es endlich geschafft: am 30. Juni 2000 wurde im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (L 160/1) die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (hier als EulnsVO abgekürzt) veröffentlicht.1 Sie tritt am 31. Mai 2002 in Kraft (Art. 47 EulnsVO) und wird - mit Ausnahme Dänemarks - in allen Staaten der Europäischen Union gel-
1 Hierzu zuletzt Eidenmüller Europäische Verordnung über Insolvenzverfahren und zukünftiges deutsches internationales Insolvenzrecht, IPRax 2001, 2; Huber Internationales Insolvenzrecht in Europa, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Europäischen Insolvenzverordnung, ZZP 114 (2001), 133; Lehr Die neue EU-Verordnung über Insolvenzverfahren und deren Auswirkungen für die Unternehmenspraxis, KTS 2000, 577; Leible/ Staudinger Oie europäische Verordnung über Insolvenzverfahren, KTS 2000, 533; Wimmer Die Verordnung (EG) N r 1346/2000 über Insolvenzverfahren, ZInsO 2001, 97
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Dieter Leipold
ten. 2 Die E u l n s V O stimmt mit dem - nicht in Kraft getretenen - Europäischen Ubereinkommen über Insolvenzverfahren v o m 23. 11. 1995 3 weitestgehend überein. 4 Das Grundkonzept der E u l n s V O ist klar. Sie regelt zum einen in direkter F o r m die internationale Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren, z u m anderen die grenzüberschreitenden Wirkungen solcher Verfahren (samt der wichtigen Frage nach dem hierauf anwendbaren Recht) und nicht zuletzt die Anerkennung und Vollstreckung insolvenzrechtlicher Entscheidungen. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 E u l n s V O zuständiges Gericht eines Mitgliedstaates wird in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald sie im Eröffnungsstaat wirksam ist, Art. 16 Abs. 1 E u l n s V O . Eines besonderen Anerkennungsverfahrens bedarf es hierzu nicht, A r t . 17 Abs. 1 E u l n s V O . U b e r die Eröffnungsentscheidung hinaus werden auch sonstige Entscheidungen des Eröffnungsgerichts, die zur Durchführung und Beendigung des Insolvenzverfahrens ergangen sind, ohne weiteres anerkannt, Art. 2 5 Abs. 1, U n t e r absatz 1, Satz 1 E u l n s V O . Die Vollstreckung dieser Entscheidungen richtet sich nach den Artt. 31 bis 51 (mit Ausnahme von A r t . 3 4 Abs. 2) des E u G V Ü 5 , A r t . 2 5 Abs. 1, Unterabsatz 1, Satz 2 E u l n s V O . Durch diese Regelung wird die grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckung insolvenzrechtlicher Entscheidungen sehr erleichtert. Der einzige zulässige
2 Das Vereinigte Königreich (Großbritannien) und Irland, die ebenso wie Dänemark Vorbehalte gegenüber den erweiterten Rechtssetzungskorapetenzen der Europäischen Gemeinschaft geltend gemacht haben, teilten mit, daß sie sich an der Annahme und Anwendung der Verordnung beteiligen möchten, s. die der Verordnung vorangestellten Erwägungsgründe, zu Nr 32. Dänemark beteiligte sich dagegen nicht an der Annahme der Verordnung, die diesen Mitgliedstaat daher nicht bindet und auf ihn keine Anwendung findet, s. Erwägungsgründe, zu Nr 33. 3 Abgedruckt bei Stoll (Hrsg), Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Ubereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht (1997), S. 3ff. Dieser Band enthält auch den Bericht zum Ubereinkommen, eine Einführung von Wimmer, Gutachten von Leipold, Hanisch, Flessner und Trunk sowie eine Zusammenfassung der wesentlichen Verhandlungsergebnisse. Zum Europäischen Insolvenzübereinkommen aus jüngerer Zeit W. Lüke Das europäische internationale Insolvenzrecht, ZZP 111 (1998), 275; Taupitz Das (zukünftige) europäische Internationale Insolvenzrecht - insbesondere aus internationalprivatrechtlicher Sicht - , ZZP 111 (1998), 315; Heiderhoff Diskussionsbericht zum Europäischen Insolvenzübereinkommen, ZZP 111 (1998), 351. 4 Zu den Unterschieden s Eidenmüller IPRax 2001, 2, 7 f; Wimmer ZInsO 2001, 97, 98 f. Die in diesem Beitrag näher erörterten Bestimmungen der EulnsVO weisen keine Abweichungen auf. 5 An die Stelle des EuGVÜ tritt ab 1. März 2002 im wesentlichen (Ausnahme: Dänemark) die nunmehr verkündete Verordnung (EG) Nr 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl EG vom 16. Januar 2001, L 12/1. Nach deren Art 68 Abs 2 gelten Verweisungen auf das EuGVÜ als Verweise auf die Zuständigkeits- und AnerkennungsVO. Auf die hier erörterten Fragen wirkt sich die Ablösung des EuGVÜ durch die Zuständigkeits- und AnerkennungsVO nicht weiter aus.
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Einwand, mit dem ein anderer Mitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung ablehnen darf, ist ein Verstoß gegen den ordre public, Art. 26 EulnsVO. Selbst die in Art. 27 Nr. 2 bis 5 EuGVÜ (künftig Art. 34 Nr. 2 bis 4 Zuständigkeits- und AnerkennungsVO, unter Wegfall von Art. 27 Nr. 4 EuGVÜ) aufgeführten Ausschlußgründe für die Anerkennung und Vollstreckung zivilrechtlicher Entscheidungen gelten im Bereich des Europäischen Insolvenzrechts nicht, wie sich aus Art. 25 Abs. 1, Unterabsatz 1, Satz 2 EulnsVO ergibt. Ebensowenig darf bei der Anerkennung und Vollstreckung nach der EulnsVO die internationale Zuständigkeit des Eröffnungsgerichts nachgeprüft werden. 6 Vielmehr genügt es, daß das Eröffnungsgericht seine Zuständigkeit nach Art. 3 EulnsVO bejaht hat. Allerdings ist dieser Grundsatz der Nichtüberprüfung der internationalen Zuständigkeit in der EulnsVO nicht so deutlich zum Ausdruck gekommen wie im EuGVÜ. Zu Zweifeln könnte neben dem Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 EulnsVO führen, daß Art. 25 Abs. 1 Satz 2 EulnsVO den Art. 34 Abs. 2 des EuGVÜ nicht für anwendbar erklärt. Art. 34 Abs. 2 EuGVÜ erlaubt eine Ablehnung der Vollstreckung allein aus den in Artt. 27 und 28 EuGVÜ angeführten Gründen, und in Art. 27 Abs. 3 EuGVÜ (künftig Art. 35 Abs. 3 Zuständigkeits- und AnerkennungsVO) wird eine Nachprüfung der Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates grundsätzlich ausgeschlossen. Ersichtlich soll aber die Regelung in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 EulnsVO zum Ausdruck bringen, daß die Vollstreckung insolvenzrechtlicher Entscheidungen auch nicht aus den nach Artt. 27 und 28 EuGVÜ angeführten Gründen abgelehnt werden darf. Der Zweck der Vorschrift ist es dagegen nicht, die Nachprüfung über Art. 27 Abs. 3 EuGVÜ hinausgehend zu erweitern. Im Bericht zu dem ursprünglich geplanten Europäischen Insolvenzübereinkommen, der auch für das Verständnis der EulnsVO maßgebend ist, kommt diese Auffassung deutlich zum Ausdruck. 7 Auch 6 Hierzu bereits Leipold Zum künftigen Weg des deutschen Internationalen Insolvenzrechts (Anwendungsbereich, internationale Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung), in: Stoll (Hrsg), Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Ubereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht (1997), S. 185, 191 f. Gegen eine Überprüfbarkeit der internationalen Zuständigkeit auch Leible/StaudingerKTS 2000, 533, 568; W. Liike ZZP 111 (1998), 275, 287; Huber ZZP 114 (2001), 146, bei Fn 40; Gottwald in: ders (Hrsg) Insolvenzrechtshandbuch, 2. Aufl, § 131 Rn 10. - AM Schollmeyer Die vis attractiva concursus im deutsch-österreichischen Konkursvertrag, IPRax 1998, 29, 35. 7 Virgos/Schmidt Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, abgedruckt in: Stoll (Hrsg), Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EUÜbereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht (1997), S. 32 ff. Hierin heißt es (zu Nr 202, Unterpunkt 2., aaO S. 103): „2. Das Übereinkommen enthält keine Bestimmung darüber, wie gegebenenfalls die internationale Zuständigkeit des entscheidenden Gerichts (dh das nach Artikel 3 des Übereinkommens zuständige Gericht des Staates der Verfahrenseröffnung) zu prüfen ist. Es findet keine Überprüfung der Zuständigkeit des entscheidenden Gerichts durch die Gerichte
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die „Erwägungsgründe", die den einzelnen Artikeln der EuInsVO vorangestellt sind, gehen von einem Ausschluß der Zuständigkeitsüberprüfung aus, wenn es (zu Nr. 22) heißt: „Die zulässigen Gründe für eine Nichtanerkennung sollten daher auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Nach diesem Grundsatz sollte auch der Konflikt gelöst werden, wenn sich die Gerichte zweier Mitgliedstaaten für zuständig halten, ein Hauptinsolvenzverfahren zu eröffnen. Die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts sollte in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden; diese sollten die Entscheidung dieses Gerichts keiner Überprüfung unterziehen dürfen."
III. D a s Zuständigkeitsrätsel bei Ânnexentscheidungen Gewiß werfen auch die neuen europäischen Zuständigkeitsregeln für Haupt- und Sekundärverfahren sowie die Bestimmungen über die Anerkennung und Vollstreckung der im Insolvenzverfahren ergangenen Entscheidungen im einzelnen manche Probleme auf. Darauf soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr wende ich mich den „Annexentscheidungen" zu, die durch Art. 25 Abs. 1, Unterabsatz 28 EuInsVO mit folgenden Worten in den Bereich der Anerkennung und Vollstreckung nach dem europäischen Insolvenzrecht einbezogen werden: „Unterabsatz 1 gilt auch für Entscheidungen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen, auch wenn diese Entscheidungen von einem anderen Gericht getroffen werden." Auf den ersten Blick scheint es sich hier um eine recht vernünftige Vorschrift zu handeln, die darauf abzielt, bei der Anerkennung und Vollstrekkung möglichst keine Lücken entstehen zu lassen. Sie hat ihren Ursprung schlicht darin, daß das EuGVÜ nach seinem Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 auf „Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren" nicht anzuwenden ist (ebenso künftig Art. 1 Abs. 2 Buchstabe b) Zuständigkeits- und AnerkennungsVO).
des ersuchten Staates statt, geprüft wird lediglich, ob die Entscheidung durch das Gericht eines Vertragsstaates ergangen ist, das sich nach Artikel 3 des Insolvenzübereinkommens für zuständig erklärt hat. Die Prüfung ihrer internationalen Zuständigkeit gemäß dem Insolvenzübereinkommen obliegt den Gerichten des Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist . . . " 8 Auch wenn man durch das Druckbild im Amtsblatt vom 30. 6. 2000, S. L 160/9 möglicherweise einen anderen Eindruck gewinnen könnte, enthält Art. 25 Abs. 1 nur drei Unterabsätze, dh der in der rechten Spalte oben abgedruckte Textteil gehört noch zum Unterabsatz 1.
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Zur Auslegung dieser Bestimmung äußerte sich der Europäische Gerichtshof in der Entscheidung Gourdain/Nadler im Jahre 1979.9 Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO übernimmt, wie es im Bericht zum Ubereinkommensentwurf 10 ausdrücklich heißt, das vom E u G H seinerzeit entwickelte Abgrenzungskriterium, um den Einklang mit der Entscheidung des E u G H herzustellen und Rechtslücken zwischen dem EuGVÜ und dem Europäischen Insolvenzrecht zu vermeiden. Auch diese Vorgehensweise erscheint zunächst nicht zu kritisieren, zumal die Abgrenzung durch den E u G H auf weitgehende Zustimmung gestoßen ist.11 Rätselhaft wird das Europäische Insolvenzrecht aber, sobald man fragt, nach welchen Regeln denn nun die internationale Zuständigkeit des Gerichts zu beurteilen ist, wenn es mit einem Verfahren befaßt ist, das auf eine unter Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO fallende Entscheidung abzielt. Die EulnsVO enthält hierzu keine, zumindest keine ausdrückliche Regelung.
IV. Bedenken gegen eine Beurteilung der internationalen Zuständigkeit nach nationalem Recht Da die EulnsVO zur internationalen Zuständigkeit für die von Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO erfaßten Entscheidungen schweigt, scheint es zunächst nahezuliegen, die internationale Zuständigkeit nach dem Recht des Staates zu beurteilen, dessen Gericht angerufen wird.12 Handelt es sich um ein Gericht in dem Staat, in dem das in Rede stehende Insolvenzverfahren eröffnet wird, so hätte dieses Gericht neben den allgemeinen Zuständigkeitsregeln seines Staates auch die etwaigen Sonderregeln zu beachten, die im Insolvenzfall für die Zuständigkeit gelten. In nicht wenigen Staaten ist ja mit der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens eine weitgehende „vis attractiva concursus" verbunden, aufgrund derer das Insolvenzgericht oder ein anderes Gericht, in dessen Bezirk das Insolvenzgericht liegt, auch für Ver' E u G H , Urteil vom 22. Februar 1979, Rs 133/78, Gourdain gegen Nadler, Slg. 1979, 733 = RIW/AWD 1979, 273 = KTS 1979, 268 = NJW 1979, 1772 (LS). Das Urteil erging aufgrund einer Vorlage durch den BGH, WM 1978, 993. Dem E u G H folgte das OLG Hamm RIW 1994, 62 = EWS 1993, 408 (dagegen Gruber Sind französische Urteile über die Haftung von Gesellschaftsorganen im Konkurs nach dem EuGVÜ anerkennungsfähig? EWS 1994, 190, 192), ohne den in der Zwischenzeit erfolgten Änderungen im französischen Recht Bedeutung zuzumessen. 10 Bericht, aaO (Fn 7), Nr 195. 11 Vgl Trunk Internationales Insolvenzrecht (1998), S. 7, wonach die Definition des E u G H in der deutschen Rechtslehre allgemeinen Anklang gefunden habe. - Kritisch zur EuGH-Entscheidung jetzt W. Liike Europäisches Zivilverfahrensrecht - das Problem der Abstimmung zwischen EulnsÜ und EuGVÜ, in FS Rolf A. Schütze (1999), S. 467, 470ff. 12 So (freilich unter Äußerung von Zweifeln) W. Liike aaO (Fn 11), S. 467, 482; Leiblel Staudinger KTS 2000, 533, 566 (dort Fn 230), soweit nicht das EuGVÜ einschlägig sei.
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fahren, insbesondere Zivilprozesse, zuständig ist, die ohne Insolvenzeröffnung nicht zur Kompetenz dieser Gerichte gehören würden. Solche nationalen Zuständigkeitsregeln würden dann auch Bedeutung für die internationale Zuständigkeit erlangen. 13 Es liegt auf der Hand, daß mit der Geltung des jeweiligen nationalen Rechts der Verzicht auf jede europäische Vereinheitlichung verbunden wäre. Die einzelnen Mitgliedstaaten bekämen freie Hand, inwieweit sie durch Anordnung einer vis attractiva concursus Annexverfahren vor ihren Gerichten zulassen wollen, auch wenn sonst keine internationale Zuständigkeit dafür bestünde. Soweit im Eröffnungsstaat eine internationale Zuständigkeit kraft vis attractiva concursus gegeben ist und - wie das in der Konsequenz einer solchen Regelung liegt - als ausschließliche Zuständigkeit konzipiert ist, ergibt sich die Frage, ob etwa ein dritter Staat, wenn in ihm das Annexverfahren anhängig gemacht wird, seine eigene - nach autonomem Recht etwa gegebene - internationale Zuständigkeit zugunsten des Eröffnungsstaates abzulehnen hätte. Das wäre dann konsequenter Weise nach dem autonomen Recht dieses Staates zu beurteilen. Überläßt man die Regelung der internationalen Zuständigkeit für die Annexverfahren dem jeweiligen autonomen Recht des Gerichtsstaates, so kann dies überdies dazu führen, daß Gerichtsstände, die das europäische Recht gerade eliminieren wollte, wiederbelebt werden. Als Beispiel mag ein vom BGH 14 entschiedener Fall dienen, in dem es um die internationale Zu13
Vorausgesetzt freilich, daß das nationale Recht eine derartige internationale vis attractiva überhaupt in Anspruch nehmen will. Bei § 180 Abs 1 Satz 2 und 3 InsO erscheint mir dies z.B. zweifelhaft, bejahend aber (zum entsprechenden § 146 Abs 2 KO) Arnold'm Gottwald (Hrsg), Insolvenzrechtshandbuch (1990), § 122 Rn 115 f (anders für § 146 Abs 3 KO bei anhängigem Rechtsstreit im Ausland); Jaeger/Jahr KO, 8. Aufl, §§ 237, 238 Rn 409; Wimmer in Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Aufl, Anhang I, Art 102 EGInsO Rn 324); abgeschwächt (keine ausschließliche, aber eine konkurrierende internationale Zuständigkeit im Inland) Trunk aaO (Fn 11), S. 209 f; Gottwald aaO (Fn 6), § 128 Rn 67. Die Frage kann für die Feststellungsklage (§ 179 Abs 1 InsO) eines ausländischen Gläubigers, dessen Forderung bestritten wurde, bedeutsam werden, wenn für die Forderung ansonsten nur eine ausländische internationale Zuständigkeit besteht, erst recht für die Feststellungsklage eines inländischen Gläubigers bei Widerspruch eines ausländischen Gläubigers, der nach allgemeinen Regeln im Ausland verklagt werden müßte. Keinesfalls könnte durch § 180 Abs 1 Satz 2 und 3 InsO eine dem EuGVU widersprechende internationale Zuständigkeit in Deutschland begründet werden, es sei denn, man würde auch solche Streitigkeiten dem Bereich der EuGVU-Ausnahmen (Art 1 Abs 2 N r 2 EuGVU) zuordnen. Dies wird im Bericht zum Ubereinkommensentwurf, aaO (Fn 7), zu N r 196, für Klagen über Bestand und Umfang von Forderungen nach allgemeinem Recht mE zutreffend abgelehnt. Vgl allgemein zum Vorrang des EuGVU vor nationalen Regeln, die ein forum attractivum concursus vorsehen, Trunk aaO (Fn 11), S. 382. " BGH NJW 1990, 990 = ZZP 105 (1992), 212 (mit Anmerkung Taupitz) = IPRax 1991, 183. Dazu Hubert Schmidt Anfechtungsklage des Konkursverwalters und Anwendbarkeit des EuGVU, EuZW 1990, 219; Flessner/Schulz Zusammenhänge zwischen Konkurs, Arrest und internationaler Zuständigkeit, IPRax 1991, 162.
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ständigkeit für eine vom Konkursverwalter erhobene Anfechtungsklage ging· Nun kann man freilich darüber streiten, ob Anfechtungsklagen unter die Ausnahme vom EuGVÜ auf der einen Seite und, damit korrespondierend, unter den Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO auf der anderen Seite fallen. Der B G H bejahte die Frage und erklärte das EuGVÜ in Übernahme des vom E u G H in der Sache Gourdain/Nadler entwickelten Kriteriums für nicht anwendbar. Er hielt dies sogar für so eindeutig, daß er von einer Auslegungsvorlage an den E u G H absah. Das OLG Köln 15 und das OLG Hamm 1 6 sind dem B G H in neueren Entscheidungen gefolgt. Auch in der Literatur wurde diese Auffassung gebilligt.17 Der Bericht zum Übereinkommensentwurf 18 geht ebenfalls davon aus, daß Anfechtungsklagen, die sich gegen die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligende Rechtshandlungen richten, vom EuGVÜ nicht erfaßt werden und zu den „Annexverfahren" im Sinne des Europäischen Insolvenzrechts gehören. Selbst Autoren, die das hier diskutierte Problem grundsätzlich dadurch zu entschärfen suchen, daß sie die Reichweite der EuGVÜ-Ausnahme limitieren, wollen es bei dieser Beurteilung der Insolvenzanfechtungsprozesse belassen. 19 Ohne den Gedanken einer Neubestimmung der Abgrenzung zwischen EuGVÜ und Europäischem Insolvenzrecht aus den Augen zu verlieren, sei daher davon ausgegangen, daß es sich bei Entscheidungen über Insolvenzanfechtungsklagen um Entscheidungen gemäß Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO handelt. In dem vom B G H entschiedenen Fall war der Insolvenzschuldner eine AG amerikanischen Rechts, über deren Vermögen in den USA ein Verfahren nach Chapter 11 des Bankruptcy Code eröffnet worden war. Da die EulnsVO voraussetzt, daß der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in einem Mitgliedstaat hat, 20 wäre das europäische Insolvenzrecht freilich hier von vornherein nicht anwendbar. Man braucht aber nur den Fall etwas umzumodeln und davon auszugehen, daß zunächst ein Hauptverfahren in einem dafür zuständigen Mitgliedstaat eröffnet wurde. Nach der Eröffnung des Erstverfahrens (das wir uns, wie gesagt, als Hauptverfahren in einem anderen EU-Staat vorstellen) eröffnete das AG Bremen auf Antrag von Arbeitnehmern der AG das Konkursverfahren hinsichtlich 15 O L G Köln WM 1998, 624 (zum in diesem Punkt mit dem E u G V Ü übereinstimmenden Lugano-Ubereinkommen). 16 O L G H a m m BB 2000, 431. 17 Zustimmend zB Taupitz ZZP 105 (1992), 220 f; Hubert Schmidt EuZW 1990, 219. - Kropholler Europäisches Zivilprozeßrecht, 6. Aufl, Art 1 Rn 35 und Flessner/Schulz IPRax 1991, 162, 164 betrachten, ohne Kritik zu äußern, die BGH-Entscheidung als Konsequenz aus den Vorgaben des E u G H . 18 A a O (Fn 7), zu N r 196. 19 So etwa W. Lüke aaO (Fn 11), 467, 483. 20 S. Erwägungsgründe, zu N r 14; Huber ZZP 114 (2001), 137
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des Vermögens der Zweigniederlassung der AG in Bremen. Kurz zuvor hatte die Beklagte, eine Gesellschaft niederländischen Rechts mit Sitz in Rotterdam, in Bremen einen dinglichen Arrest erwirkt und auf dieser Grundlage Forderungspfändungen vornehmen lassen. Der Konkursverwalter des deutschen Verfahrens focht die Arrestpfändungen mit einer vor dem LG Bremen erhobenen Klage an. Während die Vorinstanzen, auf das EuGVÜ gestützt, die deutsche internationale Zuständigkeit für diese Klage verneinten, erklärte der BGH das EuGVÜ für nicht anwendbar und beurteilte die Frage nach autonomem deutschen Recht. Da andere Zuständigkeiten nach Ansicht des BGH nicht gegeben waren,21 gelangte der BGH schließlich zum Gerichtsstand des Vermögens (§ 23 ZPO), den er bejahte, weil sich die gepfändeten Forderungen gegen Drittschuldner in Deutschland richteten und mithin hier belegen waren. Dieser Rückgriff auf das nationale Recht war seinerzeit konsequent, da eine europäische Regelung nicht existierte, und zwar weder für die (direkte) internationale Zuständigkeit noch für die grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung in einem derartigen Anfechtungsprozeß. Beläßt man es auch jetzt aufgrund des Schweigens der EulnsVO über die internationale Zuständigkeit hierbei, so wäre aber gleichwohl die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung nach dem EulnsVO zu beurteilen. Das würde heißen, daß die internationale Zuständigkeit des Ausgangsgerichts im Anerkennungsstaat nicht mehr nachgeprüft werden darf. So würde also der „exorbitante" Gerichtsstand des Vermögens nach deutschem Recht nicht nur entgegen den Bestrebungen des EuGVÜ beibehalten, sondern es würde dessen Anerkennung auch den anderen Mitgliedstaaten aufgezwungen, auch wenn diese nach ihrem autonomen Anerkennungsrecht (wie es vor der EulnsVO anzuwenden gewesen wäre) diese Zuständigkeit nicht akzeptiert hätten.
V. Rein Ausschluß der Zuständigkeitsüberprüfung ohne direkte europäische Regelung der internationalen Zuständigkeit Daß nach dem EuGVÜ und ebenso nunmehr nach der EulnsVO bei der Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat dessen internationale Zuständigkeit grundsätzlich nicht mehr zu überprüfen ist, stellt einen der größten Fortschritte des Europäischen Zivilprozeßrechts zur Förderung der Freizügigkeit von Entscheidungen dar. Diese Regelung wurde aber nur dadurch möglich, daß schon die direkte Zu21 Der B G H erörterte die Zuständigkeit am Deliktsort (§ 32 Z P O ) und die Zuständigkeit nach § 771 Z P O (für Drittwiderspruchsklagen), hielt aber in beiden Fällen die Voraussetzungen für nicht gegeben. Darauf ist hier nicht weiter einzugehen.
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ständigkeit nach einheitlichen europäischen Bestimmungen - unter Ausschluß nationaler exorbitanter Zuständigkeiten - zu beurteilen ist und sich die Mitgliedstaaten darauf verlassen, daß schon das Erstgericht die internationale Zuständigkeit nach diesen Regeln sorgfältig prüft. 2 2 Wenn aber die Prämisse, eine europäische einheitliche Regelung der internationalen Zuständigkeit, nicht zutrifft, so kann auch der Ausschluß der Überprüfung der internationalen Zuständigkeit nicht gelten. 2 3 Insbesondere muß es dann jedem Mitgliedstaat überlassen bleiben, ob er exorbitante Zuständigkeitsregeln eines anderen Mitgliedstaates akzeptiert. Beläßt man es also bei dem Befund, daß die internationale Zuständigkeit für die Annexklagen nicht europäisch einheitlich geregelt ist, sondern sich nach dem autonomen Recht des Ausgangsstaates richtet, so müßte man die E u l n s V O zumindest insofern korrigierend auslegen, als dann eine Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit nach den spiegelbildlich anzuwendenden Zuständigkeitsregeln des Anerkennungsstaates zulässig bleibt. Dieses Ergebnis wäre freilich alles andere als erfreulich und stünde in klarem Widerspruch zu dem angestrebten Ziel, die Freizügigkeit der Entscheidungen lückenlos nach dem mit dem E u G V Ü erreichten Standard zu gewährleisten.
VI. Keine Anerkennung einer ausländischen vis attractiva concursus allein aufgrund der Anerkennung des ausländischen Insolvenzverfahrens D e n bisherigen Überlegungen könnte man entgegenhalten, wenn ein ausländisches Insolvenzverfahren anzuerkennen sei, dann bedeute dies zugleich, daß man die etwaige vis attractiva concursus des Eröffnungsstaates anzuerkennen habe. Dies würde zur Folge haben, daß ein Gericht in einem anderen Staat seine Zuständigkeit für ein Annexverfahren abzulehnen hätte, falls der Eröffnungsstaat dafür eine ausschließliche Zuständigkeit nach seinem Insolvenzrecht beansprucht. Es könnte weiter bedeuten, daß auch bei der Anerkennung einer entsprechenden Entscheidung von der Zuständigkeit des Ausgangsstaates ausgegangen werden müßte, wenn sie nach dessen Insolvenzrecht gegeben war. Eine solche Lösung würde aber nichts an dem Verzicht auf einheitliche Zuständigkeitsregeln ändern und auch zu eigenartigen Differenzierungen führen, je nachdem, ob die internationale Zuständigkeit des Ausgangsgerichts aus dessen Insolvenzrecht oder aus seinem 22 Den Zusammenhang zwischen Zuständigkeits- und Anerkennungsregelung betont auch W. Luke aaO (Fn 11), 482. 23 W. Lüke ZZP 111 (1998), 275, 291 f; ders FS Schütze (Fn 11), 482 stellt die Frage dahin, ob Art 25 Abs 1 Unterabsatz 2 EulnsVO etwa eine indirekte Regelung der Zuständigkeit enthält, lehnt dies jedoch ab.
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allgemeinen Zuständigkeitsrecht (einschließlich etwaiger exorbitanter Zuständigkeiten) herrührt, denn die zuletzt genannten Zuständigkeitsregeln bräuchte der Zweitstaat weder bei direkter noch bei indirekter Zuständigkeitsprüfung zu akzeptieren. Der E u l n s V O ist eine solche Verweisung auf die vis attractiva des Eröffnungsstaates jedenfalls ausdrücklich nicht zu entnehmen. U n d da das mit einer solchen Regelung erzielte Ergebnis wenig überzeugend wäre, liegt es auch fern, im Wege der Auslegung eine solche, auf die Einheit der internationalen Zuständigkeit verzichtende Lösung zu postulieren. Wenn Art. 4 Abs. 1 E u l n s V O für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen grundsätzlich das Recht des Eröffungsstaates für maßgebend erklärt, so sind damit, wie auch die Auflistung in Abs. 2 desselben Artikels zeigt, die spezifisch insolvenzrechtlichen Folgen gemeint, während nichts dafür spricht, daß hiervon auch die Zuständigkeitsregelung für Annexprozesse erfaßt sein sollte. 24 Selbst aus Art. 4 Abs. 2 Buchstabe f) E u l n s V O läßt sich nach meinem Eindruck nicht herleiten, daß für Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger die internationale Zuständigkeit nach dem Insolvenzstatut zu bestimmen wäre. 2 5 Die Vorschrift bezieht sich nur darauf, wie sich die Insolvenzeröffnung auf die Rechtsverfolgungsmaßnahmen auswirkt (wobei die Auswirkung auf anhängige Rechtstreitigkeiten sogar ausdrücklich ausgenommen wird), also vor allem darauf, ob solche Rechtsverfolgungsmaßnahmen überhaupt zulässig bleiben, nicht dagegen auf sämtliche bei einer Rechtsverfolgung auftretenden Fragen einschließlich der internationalen Zuständigkeit. Außerdem gehört die Rechtsverfolgung durch einzelne Gläubiger nach wohl h.M. nicht zu den Annexentscheidungen im Sinne des Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 E u l n s V O , so daß sich die Anerkennung und Vollstreckung ganz nach dem E u G V Ü zu richten hätte. Auch deshalb ist es fernliegend, für solche Prozesse eine Zuständigkeitsveränderung (gegenüber dem E u G V Ü ) kraft einer auf das nationale Recht verweisenden Bestimmung der E u l n s V O anzunehmen. Allerdings ist gelegentlich die Auffassung vertreten w o r d e n , schon nach a u t o n o m e m deutschen Recht sei mit der A n e r k e n n u n g eines ausländischen Insolvenzverfahrens auch die A n e r k e n n u n g von dessen etwaiger vis attractiva concursus verbunden. 2 6 Angesichts der weitreichenden Konsequenzen, die sich hieraus f ü r den Rechtsschutz der Beteiligten ergeben,
24 Dagegen hält Schollmeyer IPRax 1998, 29, 35 eine solche Auslegung immerhin für möglich. Er geht aber andererseits von der (hier abgelehnten) Ansicht aus, die Zuständigkeit des Erstgerichts dürfe bei der Anerkennung überprüft werden. 25 AA Gottwald aaO (Fn 6), § 130 Rn 42 (S. 1717); E. Habscheid OÍS deutsche internationale Insolvenzrecht und die vis attractiva concursus, ZIP 1999, 1113, 1114. 26 So zB Aderhold Auslandskonkurs im Inland (1992), S. 305.
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ist dem jedoch zu widersprechen. 27 Man kann diese Ansicht somit auch nicht als Grundlage für eine entsprechende Auslegung der EulnsVO heranziehen.
VII. Eine radikale L ö s u n g : volle Geltung des E u G V Ü Was, wird man fragen, haben sich aber nun eigentlich die Verfasser der EulnsVO bzw. des Vorläufers, also des Europäischen Insolvenzübereinkommens, hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit gedacht, als sie die Anerkennung und Vollstreckung der Annexentscheidungen in Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO aufnahmen? Da sich auch der Bericht hierzu nicht äußert, muß die Antwort wohl lauten: man hat die Lücke hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit schlicht übersehen. Geht man davon aus, daß Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO eine europäische Regelung der internationalen Zuständigkeit voraussetzt, so könnte man aus deren Fehlen den Schluß ziehen, dann sei eben der genannte Unterabsatz, da es an seiner ungeschriebenen Prämisse fehle, nicht anwendbar. Die Folge wäre, daß sich der gesamte Bereich der Annexentscheidungen nach dem EuGVÜ zu richten hätte, sowohl was die internationale Zuständigkeit als auch die Anerkennung und Vollstreckung angeht. Es würden mit anderen Worten auch die von Art. 25 Abs. 1, Unterabsatz 2 EulnsVO erfaßten Entscheidungen dem Absatz 2 zugeordnet, der auf das EuGVÜ verweist. Blickt man auf die Überlegungen zurück, die bei der Entscheidung des E u G H in der Sache Gourdain/Nagler angestellt wurden, so wäre ein solches Ergebnis durchaus vertretbar. Seinerzeit wurde die Ausnahme vom EuGVÜ vor allem deshalb auch auf die „Annexentscheidungen" erstreckt, weil man es dem schon damals geplanten europäischen Insolvenzabkommen überlassen wollte, nicht etwa nur die Anerkennung und Vollstreckung solcher Entscheidungen, sondern vor allem auch die internationale Zuständigkeit zu regeln. In diesem Zusammenhang spielte eine wesentliche Rolle, daß die damals vorliegenden Entwürfe eine weitreichende vis attractiva concursus kraft europäischen Rechts vorsahen. So hatte denn auch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland im damaligen Verfahren darauf hingewiesen, daß nach Art. 12 des seinerzeit vorliegenden Entwurfs eines EG-Konkursübereinkommens den Gerichten des Konkurseröffnungsstaates die ausschließliche Zuständigkeit für insolvenzrechtliche Haftungskla-
27 Ebenso Gottwald aaO (Fn 6), § 130 Rn 42 (S. 1717); E. Habscheid Grenzüberschreitendes (internationales) Insolvenzrecht der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland (1998), S. 370 f; den ZIP 1999, 1113, 1115 f; Blocking Pluralität und Partikularinsolvenz, Eine Untersuchung zum deutschen internationalen Insolvenzrecht (2000), 306 ff.
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gen gegen Geschäftsführer zugewiesen werden solle. 28 Der Generalanwalt Gerhard Reischl hatte, dem Standpunkt der Kommission widersprechend, eine zu enge Auslegung der EuGVU-Ausnahme mit dem Argument abgelehnt, es bestehe sonst die Gefahr eines Eingriffs in die Kompetenz zum Abschluß eines Konkursübereinkommens. 2 9 Auch der Generalanwalt hatte auf die in Vorentwürfen enthaltenen Regeln über eine ausschließliche internationale Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates hingewiesen, freilich angesichts des damaligen Diskussionsstandes dazu angemerkt, man könne noch nicht davon ausgehen, daß sich die Bestimmungen des Vorentwurfs im endgültigen Abkommen unverändert wiederfinden würden. 3 0 Zunächst schienen sich die Dinge auch in der seinerzeit erwarteten Richtung zu entwickeln, daß das europäische Insolvenzrecht auch Vorschriften über die internationale Zuständigkeit für Annexverfahren enthalten würde. So findet man in Art. 15 des Entwurfs von 198031 einen umfangreichen Katalog von Verfahren, für die die Gerichte des Eröffnungsstaates ausschließlich zuständig sein sollten. Hierzu gehörten etwa die Konkursanfechtungsklagen, während die entsprechende Regelung für Haftungsklagen gegen die Leiter von Gesellschaften usw. in Art. 11 dieses Entwurfs enthalten war. 32 Bekanntlich sind die damaligen Bemühungen schließlich gescheitert. Wenn nun, anders als seinerzeit zu erwarten war, das fertige Europäische Insolvenzrecht keine Regelung der internationalen Zuständigkeit für Annexverfahren enthält, dann erscheint es nicht abwegig, das Rad gewissermaßen zurückzudrehen und eben wegen dieser Abstinenz der EulnsVO diese Verfahren dem EuGVU zuzuweisen. Dies wäre im übrigen auch aus einem anderen Grund keineswegs abwegig. Wie schon erwähnt, bedeutet die Einbeziehung der Annexentscheidungen in den Bereich des EulnsVO zugleich, daß bei der Entscheidung über Anerkennung und Vollstreckbarerklärung die Hinderungsgründe des Art. 27 EuGVU (künftig Art. 34 Zuständigkeits- und AnerkennungsVO, unter Wegfall von Art. 27 Nr. 4 EuGVÜ) nicht anzuwenden sind. Da es aber bei diesen Verfahren und Entscheidungen regelmäßig um - was das Verfahren angeht - „gewöhnliche" Zivilprozesse geht, ist nicht recht einzusehen, warum etwa die in Art. 27 Nr. 2 EuGVU (künftig - mit inhaltlicher Änderung - Art. 34 Nr. 2 Zuständigkeits- und AnerkennungsVO) enthaltene Bestimmung zum Schutz effektiven rechtlichen Gehörs (Erfordernis der ordSlg. 1979, S. 740. Slg. 1979, S. 751. 30 Slg. 1979, S. 751. 31 Abgedruckt bei Kegel (Hrsg), Vorschläge und Gutachten zum Entwurf eines EG-Konkursübereinkommens (1988), S. 46 ff; Bericht (von Lemontey) hierzu aaO S. 93ff. Im revidierten Entwurf von 1984 (aaO S. 417 f f - Arbeitstext des Bundesjustizministeriums) waren einige Veränderungen in Art 15 vorgesehen. 32 Zur Veränderung im revidierten Entwurf von 1984 s unten Fn 36. 29
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nungsgemäßen und rechtzeitigen Zustellung der Klage) hier nicht gelten soll. Ebenso ist nicht auszuschließen, daß es hinsichtlich solcher Verfahrensgegenstände zu widersprüchlichen Entscheidungen, sei es im selben oder einem anderen Staat kommt, und dann wäre an sich nichts näher liegend als die Anwendung von Art. 27 Nr. 3 und 5 EuGVÜ (künftig - mit inhaltlichen Änderungen - Art. 34 Nr. 3 und 4 Zuständigkeits- und AnerkennungsVO). Im Bericht zum Ubereinkommensentwurf 33 ist dieses Problem immerhin ansatzweise gesehen worden. Die Freistellung der Insolvenzeröffnungsund Insolvenzbeendigungsentscheidung von Art. 27 EuGVÜ wird dort vor allem mit dem kollektiven Charakter solcher Verfahren begründet. Der Bericht verweist in diesem Zusammenhang auch auf die besonderen Vorschriften über die individuelle Benachrichtigung von Gläubigern und die öffentliche Bekanntmachung der Verfahrenseröffnung und geht davon aus, im allgemeinen werde der für das Verfahren zuständige Staat des Schuldnersitzes auch das Wohnsitz- oder Sitzland des Gläubigers sein (so daß dieser, so ist es wohl gemeint, vom Verfahren ohnehin Kenntnis haben werde) - um dann mit der Bemerkung zu schließen, man habe es vorgezogen, diese Fragen durch die Rechtsprechung regeln zu lassen. Es folgt der Satz: „Werden allerdings im Rahmen des Insolvenzverfahrens Entscheidungen gegenüber einem bestimmten Gläubiger erlassen, so ist es wohl folgerichtig, hierfür Garantien vorzusehen, die denen des Artikels 27 des Brüsseler Ubereinkommens von 1968 gleichwertig sind." Da diese „Folgerichtigkeit" im Text der Verordnung nicht berücksichtigt ist, ist damit ebenso wie mit dem allgemeinen Hinweis auf die Klärung durch die Rechtsprechung wohl gemeint, daß dieselben Anerkennungshindernisse, wie sie Art. 27 E u G V Ü enthält, unter der Rubrik „ordre public" eingeführt werden könnten und sollten, vielleicht geradezu in analoger Anwendung der EuGVÜ-Regeln. Würde man die EulnsVO, wie hier erörtert, so handhaben, daß die „Annexentscheidungen" vollständig dem E u G V Ü unterfallen, so daß Art. 27 EuGVÜ unmittelbare Anwendung findet, so ergäbe sich jedenfalls kein Wertungswiderspruch zu den im Bericht geäußerten Vorstellungen. Auch die Auseinandersetzung mit sonstigen Lücken - beispielsweise enthält die EulnsVO auch keine den Art. 21 ff. EuGVÜ (künftig Art. 27ff. Zuständigkeits- und AnerkennungsVO) entsprechende Regelung über Rechtshängigkeit oder Sachzusammenhang bei Annexverfahren in verschiedenen Verfahrensstaaten könnte man sich auf diese Weise ersparen. Mit der Zuweisung der Annexverfahren in den Bereich des EuGVÜ würde beispielsweise auch der vom BGH 3 4 seinerzeit entschiedenen Anfechtungsfall nach den Regeln des EuGVÜ zu beurteilen sein, und der Umstand, daß das Ausgangsverfahren in den USA eröffnet wurde, wäre hin33 34
Bericht aaO (Fn 7), zu Nr 206. S. oben Fn 14.
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sichtlich der internationalen Zuständigkeit für eine Anfechtungsklage des deutschen Verwalters aus dem Niederlassungskonkurs gegen die niederländische Beklagte ohne Belang. Ob sich allerdings der E u G H einen so weitreichenden Schluß zu eigen machen würde, ist zu bezweifeln. Der Gerichtshof müßte sich dann sowohl über den Text des Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO hinwegsetzen als auch von seinen eigenen allgemeinen Formulierungen im Gourdain/ Nadler - Urteil Abschied nehmen.
VIII. Radikal in anderer Richtung: Ungeschriebene Zuständigkeitsregelung in der E u l n s V O Denkbar ist freilich auch, die Lösung gerade in der entgegengesetzten Richtung zu suchen. Der Ausgangspunkt bleibt derselbe: Wenn die Anerkennung und Vollstreckung der Annexentscheidungen nach Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsO möglich sein soll, und zwar ohne Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit des Ausgangsgerichts, dann setzt dies eine europäische Regelung der internationalen Zuständigkeit voraus. Findet sich eine solche Regelung nicht ausdrücklich in der EulnsVO, so muß man diese Lücke im Wege der Auslegung oder der Analogie auf der Ebene der Verordnung schließen. Diese Lösung liegt nahe, wenn man davon ausgehen kann, daß es dem Willen des Verordnungsgebers entsprach, die internationale Zuständigkeit für die Annexverfahren europäisch-einheitlich zu regeln. Neben dem Rückschluß aus der Regelung der Anerkennung und Vollstreckung solcher Entscheidungen gibt es dafür einen wichtigen Anhaltspunkt im Rahmen der „Erwägungsgründe", die den einzelnen Artikeln der Verordnung vorangestellt sind. Diese Erwägungsgründe sind Bestandteil des veröffentlichten Textes der Verordnung. Ihnen dürfte daher gegenüber den im innerstaatlichen Recht gewohnten Gesetzesbegründungen und den sonstigen Gesetzgebungsmaterialien eine gesteigerte Bedeutung zukommen. In diesen Erwägungsgründen heißt es zu (6): „Gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sollte sich diese Verordnung auf Vorschriften beschränken, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Darüber hinaus sollte diese Verordnung Vorschriften hinsichtlich der Anerkennung solcher Entscheidungen und hinsichtlich des anwendbaren Rechts, die ebenfalls diesem Grundsatz genügen, enthalten." Aus diesem Text ergibt sich mit aller Deutlichkeit die Absicht des Verordnungsgebers, auch die internationale Zuständigkeit für die Annexverfahren zu regeln. Ausdrücklich findet sich freilich nur eine Regelung für die internationale
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Zuständigkeit zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Diese ist für Hauptverfahren den Gerichten des Mitgliedstaates zugewiesen, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EulnsVO. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EulnsVO widerleglich vermutet, daß sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen am Ort des satzungsmäßigen Sitzes befindet. Für Partikularverfahren, also für Insolvenzverfahren, deren Wirkung sich auf das Vermögen des Schuldners im Eröffnungsstaat beschränken, sind nach Art. 3 Abs. 2 die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dem der Schuldner nicht seinen Sitz, wohl aber eine Niederlassung hat. Wenn nun die Annexverfahren wegen des engen Zusammenhangs mit dem eröffneten Insolvenzverfahren in den Regelungsbereich der Verordnung mit einbezogen wurden und zugleich keine ausdrückliche Regelung für die internationale Zuständigkeit hinsichtlich solcher Verfahren getroffen wurde, so bleibt zur Schließung der Lücke nur übrig, die für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vorgesehene internationale Zuständigkeit auch auf die Annexverfahren zu erstrecken. Angesichts des klaren Wortlauts des Art. 3 Abs. 1 und 2 EulnsVO, der nur von der Verfahrenseröffnung spricht, wird man dies freilich nicht mehr als extensive Auslegung, sondern als analoge Anwendung anzusehen haben. Aus den oben wiedergegebenen „Erwägungsgründen" geht deutlich hervor, daß es sich um eine planwidrige Lücke handelt, so daß die Analogie grundsätzlich zulässig erscheint. Freilich muß man weiter fragen, ob die Übernahme der Eröffnungszuständigkeit für die Annexverfahren auch den beteiligten Interessen entspricht. Da aber die Prämisse darin liegt, daß diese Annexverfahren wegen des engen Zusammenhangs mit dem Insolvenzverfahren quasi wie dessen Bestandteile behandelt werden, erscheint auch die Ausweitung der Eröffnungszuständigkeit auf diese Verfahren sachgerecht. Ein Argument dafür, daß es den Prinzipien der EulnsVO entspricht, auch die primäre internationale Zuständigkeit zu regeln und dabei an die Eröffnungszuständigkeit anzuknüpfen, läßt sich auch in der für Sicherungsmaßnahmen getroffenen Regelung finden. Wenn Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 3 EulnsVO hinsichtlich Sicherungsmaßnahmen, die nach dem Antrag auf Verfahrenseröffnung getroffen wurden, auf Abs. 1 Unterabsatz 1 verweist, so ist dies - in Übereinstimmung mit dem Bericht 35 - so zu verstehen, daß es sich um Sicherungsmaßnahmen des Gerichts handelt, das für die Verfahrenseröffnung zuständig ist. Sicherungsmaßnahmen, die der vorläufige Ver-
35 Bericht aaO (Fn 7), Nr 198 und 201. Wenn der Bericht nur von Sicherungsmaßnahmen eines nach Art 3 Abs 1 EulnsVO (also für ein Hauptverfahren) zuständigen Gerichts spricht, so ist dies wohl dadurch zu erklären, daß bei Sicherungsmaßnahmen im Rahmen eines Partikularverfahrens (aufgrund der Zuständigkeit nach A r t 3 Abs 2 EulnsVO) eine grenzüberschreitende Wirkung in der Regel nicht in Betracht kommt.
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waiter in einem anderen Staat beantragt, sind dagegen in Art. 38 EulnsVO angesprochen. An sich wäre freilich auch erwägenswert, von vornherein nur solche Annexverfahren der EulnsVO zu unterstellen, die beim Insolvenzgericht stattfinden. Dafür könnte sprechen, daß sich auch die - bislang einzige Entscheidung des E u G H (s. oben Fn. 9) auf ein Verfahren vor dem Insolvenzgericht bezog und daß der E u G H (im Rahmen der von ihm aufgelisteten Argumente zugunsten einer insolvenzrechtlichen Einordnung) gerade der vom nationalen Recht angeordneten Zuständigkeit des Insolvenzgerichts Bedeutung zumaß. Da es aber in Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO ausdrücklich heißt „auch wenn diese Entscheidungen von einem anderen Gericht getroffen werden", läßt sich eine Auslegung, die nur Entscheidungen des Insolvenzgerichts einbezieht, schwerlich vertreten. Die analoge Anwendung der Regeln über die Eröffnungszuständigkeit bedeutet im Ergebnis, daß kraft europäischen Insolvenzrechts eine vis attractiva concursus eingeführt wird, und zwar unabhängig davon, ob diese nach dem jeweiligen nationalen Recht vorgesehen ist. Wenn man also dabei bleibt, Anfechtungsklagen des Insolvenzverwalters zu den Annexverfahren zu rechnen, so besteht hierfür eine internationale Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates, auch wenn nach sonstigen Zuständigkeitsregeln, sei es des autonomen Rechts oder auch des EuGVÜ, keine internationale Zuständigkeit gegeben wäre. Auf diese Weise wird dem Grundsatz (wenn auch nicht dem Umfang nach) nach eine dem oben erwähnten Art. 15 des Entwurfs von 1980 sowie weiteren Regeln dieses Entwurfs 36 vergleichbare Regelung in die EulnsVO hineingelesen. Es ist nicht zu verkennen, daß darin ein gewichtiger Einwand gegen diese Lösung des Problems durch Schließung der Zuständigkeitslücke liegt. Die seinerzeit vorgesehene vis attractiva war gerade aus deutscher Sicht - nicht ohne Kritik geblieben. 37 Sie nun zu bejahen, ohne daß die an der Verordnungs gebung Beteiligten ihre Einführung so richtig gemerkt haben, wird bei manchem auf Bedenken stoßen.
3 6 Zu Art 15 des Entwurfs von 1980 trat dessen Art 11 hinzu, der für Haftungsklagen gegen Leiter von Gesellschaften die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates vorsieht (also den Bereich der Gourdain/Nadler-Entscheidung des E u G H umfaßt). Interessanter Weise sind später in Art 10a des revidierten Entwurf von 1984 (abgedruckt bei KegelaaO [Fn 31], S. 417 ff) Entscheidungen über solche Klagen ausdrücklich dem E u G V Ü zugewiesen worden. Es war also in dieser Phase der Überlegungen eine Korrektur gegenüber dem EuGH-Urteil beabsichtigt. Art 11 des revidierten Entwurfs von 1984 begründete eine besondere Zuständigkeit für die Eröffnung eines Konkurses über das Vermögen haftender Gesellschafter. 3 7 S. vor allem Jahr Vis attractiva concursus, Stellungnahme zu den Art 15 und 16 des Entwurfs von 1980, in: Kegel (Hrsg), Vorschläge und Gutachten zum Entwurf eines EG-Konkursübereinkommens (1988), 305ff. Ablehnend auch Baur/Stürner Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd II, Insolvenzrecht, 12. Aufl (1990), Rn 38.4 (S. 444).
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Ein weiterer Einwand liegt in der Unscharfe der im Wege der Analogie gewonnenen Zuständigkeitsregel. Man kann insoweit nicht die in den früheren EG-Entwürfen enthaltenen Bestimmungen schlicht übernehmen, sondern m u ß die Abgrenzung allein aus der in Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO enthaltenen Umschreibung der Annexverfahren entnehmen. Immerhin bleibt damit auch die Möglichkeit offen, diesen Bereich restriktiver zu interpretieren, als es die bisherige Rechtsprechung getan hat (s. unten zu IX.). Aus der hier zur Diskussion gestellten Analogie zur Eröffnungszuständigkeit folgt, wie auch sonst, lediglich die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates, nicht die innerstaatliche örtliche und sachliche Zuständigkeit. Nach den nationalen Regeln ist somit auch zu bestimmen, ob das Insolvenzgericht oder ein anderes Gericht für das Annexverfahren zuständig ist. Denkbar ist, daß das nationale Recht keine Regelung der örtlichen Zuständigkeit bereit hält. Das wäre etwa im deutschen Recht hinsichtlich Anfechtungsklagen der Fall, die sich gegen einen Beklagten mit Sitz im Ausland richten. Die Lücke müßte dann auf nationaler Ebene geschlossen werden, am besten wohl, indem man in Anlehnung an die Zuständigkeitsregeln der EulnsVO auch eine örtliche Zuständigkeit am Sitz des nach Art. 3 EulnsVO zuständigen Insolvenzgerichts annimmt. Eine weitere Frage ist, wie die internationale Zuständigkeit zu beurteilen ist, wenn ein Annexverfahren in einem Drittstaat anhängig gemacht wird. Art. 15 des Entwurfs von 1980 sah für die Annexverfahren eine ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates vor. Das hätte zur Folge, daß in einem anderen Staat keinesfalls eine internationale Zuständigkeit für solche Verfahren gegeben wäre. Wenn etwa eine Anfechtungsklage des Insolvenzverwalters in dem Staat erhoben würde, in dem der Anfechtungsgegner seinen Sitz hat und in dem vielleicht auch die anfechtbare Rechtshandlung vorgenommen wurde, so würde es an der internationalen Zuständigkeit fehlen. Mir erscheint zweifelhaft, ob man auch dies noch im Wege der analogen Anwendung der Eröffnungszuständigkeiten annehmen kann. Näher liegt es, die Regelung in Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO nur auf Entscheidungen von Gerichten des Eröffnungsstaates zu beziehen. 38 Der Wortlaut enthält diese Einschränkung zwar nicht, doch kann man den Standpunkt vertreten, daß es bei einem Insolvenzverfahren in dem einen und einem Zivilprozeß in einem anderen Staat an dem erforderlichen engen Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren fehlt. Nimmt man auf diese Weise Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat vom Anwendungsbereich 38 Für eine solche Auslegung der Bestimmung bereits Trunk aaO (Fn 11), S. 362. Trunk folgert hieraus jedoch (anders als hier vertreten), daß die Anerkennung konkursrechtlicher Entscheidungen aus Drittstaaten vorläufig aus dem „EuGVU-System" ausgeklammert bleibe, was er auf ein vermutliches Redaktionsversehen zurückführt.
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der EuInsVO aus, so fallen sie konsequenter Weise in den Anwendungsbereich des EuGVÜ, sowohl was die internationale Zuständigkeit als auch die Anerkennung und Vollstreckung angeht. Eine Anfechtungsklage des Insolvenzverwalters in einem anderen Staat als dem Eröffnungsstaat wäre also nach dem E u G V Ü zu beurteilen. Die im Wege der Analogie gefundene Zuständigkeit des Eröffnungsstaates für solche Verfahren sollte also nicht als ausschließlich betrachtet werden.
IX. Korrektur der Abgrenzung zwischen EuGVÜ und EulnsO Das hier diskutierte Zuständigkeitsproblem fällt umso weniger ins Gewicht, je enger man die in Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 EuGVÜ enthaltene und dem Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EuInsVO zugrundeliegende Ausnahme von der Anwendbarkeit des E u G V Ü umreißt. Dieser Weg ist bereits mit guten Gründen als Ausweg vorgeschlagen worden. 39 Man müßte sich dann freilich von den allgemeinen Kriterien, die aus der Gourdain/Nagler-Entscheidung des E u G H stammen, zumindest von deren bisherigem Verständnis lösen. Die EuGH-Entscheidung selbst würde dem nicht unbedingt im Wege stehen. Seine konkrete Entscheidung traf der E u G H seinerzeit, indem er sechs Besonderheiten auflistete, die für eine Zuordnung der in Rede stehenden Haftungsklage zum Insolvenzrecht sprachen. Wenn nun aber gerade die allgemeinen, vom E u G H formulierten Gesichtspunkte in den Text der EuInsVO aufgenommen wurden, und wenn außerdem, wie sich aus dem Bericht ergibt, von einem bestimmten Verständnis dieser Regelung ausgegangen wurde, so ist es wohl doch zu optimistisch, vom E u G H geradezu eine Korrektur im Sinne einer wesentlich engeren Umschreibung der EuGVÜ-Ausnahme zu erwarten. Im übrigen wollen es auch Befürworter einer solchen Auslegungskorrektur beispielsweise dabei belassen, daß Anfechtungsklagen sowie Haftungsklagen gegen den Verwalter unter die EuGVÜ-Ausnahme fallen (während mir selbst auch bei diesen Klagen die Zuordnung zum Insolvenzrechtsbereich i.S. des Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 E u G V Ü fraglich erscheint). Das Problem läßt sich also durch eine einschränkende oder jedenfalls zurückhaltende Auslegung des Bereichs der Annexverfahren, 40 so empfehlenswert sie erscheint, allenfalls zum Teil bewältigen.
39 W. Liike Festschrift für Schütze (Fn 11), S. 482f. - Für ein eher einschränkendes Verständnis der aus dem EuGVÜ ausgenommenen Entscheidungen auch Trunk aaO (Fn 11), S. 117. 40 Zu weitgehend erscheint zB die Ansicht des OLG Zweibrücken EuZW 1993, 165, wonach Streitigkeiten über die Erfüllung schwebender Verträge dem Insolvenzrecht zuzuordnen seien; dagegen auch Trunk aaO (Fn 11), S. 116f. Das Gericht konnte sich seinerzeit auf Art 15 Nr 8 des damaligen EG-Entwurfs stützen, der auch solche Verfahren in das geplante Insolvenzübereinkommen einbezog und dafür eine vis attractiva concursus im Eröffnungs-
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X. Zusammenfassung Die EulnsVO enthält keine ausdrückliche Regelung der internationalen Zuständigkeit für die Annexverfahren i.S. des Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2. Eine Anerkennung und Vollstreckung ohne Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit des Ausgangsgerichts ist jedoch nur akzeptabel, wenn die primäre internationale Zuständigkeit europäisch-einheitlich geregelt ist. Es verbietet sich daher, die internationale Zuständigkeit für diese Verfahren nach dem autonomen Recht des Erststaates zu beurteilen. Von diesen Prämissen ausgehend, sind zwei Lösungswege denkbar. Man könnte die Einbeziehung der Annexentscheidungen in die EulnsVO wegen des Fehlens einer direkten Zuständigkeitsregelung als nicht operabel betrachten und daher den gesamten Bereich dem EuGVU zuweisen. Eine zweite, bezogen auf den in der Verordnung erkennbaren gesetzgeberischen Willen vielleicht sogar näher liegende Lösung besteht darin, von einer ungeschriebenen internationalen Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates auszugehen, die sich aus einer analogen Anwendung des Art. 3 Abs. 1 und 2 EulnsVO ergibt. Zugleich wäre die Regelung des Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EulnsVO auf Entscheidungen von Gerichten des Eröffnungsstaates zu beschränken. Für Verfahren in Drittstaaten würde es dann bei der Geltung des EuGVU sowohl für die internationale Zuständigkeit als auch für die grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckung verbleiben. Erwägens-, ja wünschenswert ist eine restriktive Umschreibung des Bereichs der vom EuGVU ausgenommenen Annexentscheidungen, doch läßt sich hierdurch das Grundproblem nicht aus der Welt schaffen. Alles in allem darf man auf die weitere Entwicklung gespannt sein - das letzte Wort wird der E u G H zu sprechen haben.
Staat vorsah. Diese sehr weitgehende Bestimmung ist aber, wie oben bereits ausgeführt, für die Auslegung der EulnsVO keineswegs verbindlich, auch wenn man mit der hier zur Diskussion gestellten Ansicht der EulnsVO ebenfalls eine direkte Zuständigkeitsregelung hinsichtlich der Annexverfahren im Eröffnungsstaat entnimmt.
Aus der Jugendzeit der Streitgegenstandslehre GERHARD
LÜKE
Der Name Akira Ishikawa, dem ich mich seit Jahren freundschaftlich verbunden fühle, erinnert mich wie von selbst an den Streitgegenstand im Zivilprozess. Die Erklärung hierfür ist einfach: Im Herbst 1966 haben Karl Heinz Schwab und ich als deutsche Professoren des Zivilprozessrechts auf der Jahrestagung der japanischen Prozessualisten in Tokio über den Streitgegenstand referiert. Dort lernte ich Akira Ishikawa persönlich kennen, der junger Extraordinarius in der Juristischen Fakultät der Keio Universität zu Tokio war. Die Verbindung zu ihm ist seitdem nicht mehr abgerissen. Sie wurde ständig ausgebaut; andere Mitglieder der Rechtsfakultäten in Keio und Saarbrücken wurden einbezogen.1 Sie wurde auch auf seine Schüler ausgedehnt, von denen mehrere Generationen in Saarbrücken studiert und wissenschaftlich gearbeitet haben; einer von ihnen ist der Mitherausgeber dieser Festschrift Takehiko Mikami. 1998 haben in Saarbrücken Keio-Tage stattgefunden; 2 für Oktober 2001 sind Saar-Tage an der Keio Universität geplant. Der 70. Geburtstag des Jubilars lässt die wissenschaftliche Diskussion aus der Zeit der ersten Kontakte wieder lebendig werden. Das große Thema war damals der Streitgegenstand im Zivilprozess. Es drängt sich auf, in diesem Beitrag der Streitgegenstandslehre Arthur Nikischs zu gedenken. Nikisch hat die Grundlagen in seiner 1935 erschienenen Monographie „Der Streitgegenstand im Zivilprozess" gelegt. Sie ist von unbestrittener Qualität und hat es verdient, in einer schnellebigen und an Informationen überbordenden Zeit vor dem Vergessen bewahrt zu werden. In den nachfolgenden Jahren beeinflusste sie die Haltung des Schrifttums stark. Jedoch hat sich die Vorhersage nicht bewahrheitet, der Streitgegenstand werde fortan nicht mehr Gegenstand des Streits unter den Prozessualisten sein. Denn mit den Arbeiten von Bötticher3, Schwab4 und Habscheid5 ging die Diskussion erst richtig los. Wie 1 S. Lüke in: Jung/Kroeber-Riel/Wadle (Hrsg), Entwicklungslinien in Recht und Wirtschaft, 1990, S. 143 ff. 2 D a z u Rüßmann (Hrsg), Keio Tage 1998, 2000. 3 Zur Lehre vom Streitgegenstand im Eheprozess, in FS L e o Rosenberg, 1949, S. 73 ff. 4 D e r Streitgegenstand im Zivilprozess, 1954; d a z u ; G. Lüke FS Karl Heinz Schwab, 1990, S. 309 ff; Schwab FS Gerhard L ü k e , 1997, S. 793 ff. 5 D e r Streitgegenstand im Zivilprozess und im Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, 1956.
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wenig im Grunde die Auseinandersetzung um den Streitgegenstand des Zivilprozesses die Ansichten zu koordinieren und zu festigen vermochte, zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass das führende Lehrbuch von Rosenberg innerhalb von drei Auflagen dreimal seine Streitgegenstandslehre geändert hat. Der folgende Text stammt aus dem Jahr 1958 und ist ohne Änderung abgedruckt, um auch die wissenschaftliche Atmosphäre von damals wiederzugeben. Dass wichtige Vorschriften aus der früheren Regelung des Verfahrens in Ehesachen (§§ 606ff. ZPO), die in der Argumentation von Nikisch eine Rolle spielen, inzwischen weggefallen sind, beeinträchtigt den dogmatischen Wert der Beschäftigung mit seiner Lehre nicht. I. Nikisch hat in seiner Monographie den Streitgegenstand des Zivilprozesses weitgehend von materiellrechtlichen Bindungen gelöst und ihm einen prozessualen Inhalt gegeben. Seine Streitgegenstandsdefinition lautet: „Anspruch im prozessualen Sinne ist die vom Kläger aufgestellte Rechtsbehauptung, über die er eine rechtskräftfähige Entscheidung begehrt" 6 . Mit dieser Begriffsbestimmung wendet er sich einerseits gegen die der ZPO zugrunde liegende Auffassung von der Identität des Prozessanspruchs mit dem materiellrechtlichen Anspruch, 7 andererseits gegen die damals von ihm als herrschend bezeichnete Meinung, die unter dem Streitgegenstand des Prozesses das Klagebegehren versteht. 8 Der Kläger muss seine Rechtsbehauptung individualisieren. Das bedeutet aber nicht, dass er in jedem Falle genötigt ist, ein Recht von bestimmter rechtlicher Qualifikation zu behaupten; denn, so argumentiert Nikisch, die Aufstellung einer individualisierten Rechtsbehauptung ist nicht dasselbe wie die Behauptung eines individualisierten Rechts. 9 Die den Streitgegenstand bildende Rechtsbehauptung ist nach Nikisch dem Antrag als dem Kernstück der Klage10 zu entnehmen.11 Hieraus darf aber nicht geschlossen werden, dass Nikisch dem Klagegrund, den er im Gegensatz zu den Motiven zur ZPO12 subjektiv bestimmt, nämlich als Summe der Tatsachen, mit denen der Kläger seine Rechtsbehauptung zu rechtfertigen sucht,13 keine Bedeutung für den prozessualen Anspruch beimisst. Vielmehr dient er der Individualisierung des prozessualen Anspruchs und ist dementsprechend zwar nicht stets, aber oftmals Bestandteil des StreitgegenNikisch Der Streitgegenstand im Zivilprozess, 1935, S. 89, 19. AaO. (o. Fn. 6), S. 40ff. » AaO. (o. Fn. 6), S. 46ff. 9 AaO. (o. Fn. 6), S. 31. 10 AaO. (o. Fn. 6), S. 4. » AaO. (o. Fn. 6), S. 14 ff. •2 Hahn Die gesamten Materialien zur Zivilprozessordnung, 1880, S. 255. 13 S. 69. 6 7
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stands. 14 Wo nämlich der Kläger ein bereits individualisiertes Recht behauptet, ist seine Rechtsbehauptung genügend festgelegt, so dass hier der Sachverhalt kein Individualisierungsmerkmal ist (z.B. bei Klagen auf Feststellung des Eigentums an einer Sache oder des Bestehens der Ehe). 15 Behauptet dagegen der Kläger eine Rechtsfolge, zu deren Individualisierung nach materiellem Recht der Entstehungsgrund etwas beiträgt, so dient der Klagegrund der Individualisierung der Rechtsbehauptung und ist damit Teil des prozessualen Anspruchs (so bei Leistungsansprüchen und im gewissen Umfang auch bei Gestaltungsklagerechten). 16 Das Rechtsschutzziel bezieht Nikisch nicht in den Streitgegenstand ein. U m praktisch unbrauchbare Ergebnisse zu vermeiden, sieht er sich daher gezwungen, bei der Rechtshängigkeit auf die „Streitsache" abzustellen, zu der im Gegensatz z u m Streitgegenstand die Rechtsschutzform gehören soll. 17 - Die Rechtskraft von Prozessurteilen erklärt er mit der analogen Anwendung des § 322 Abs. 1 ZPO. 18 II. An der Lehre Nikiscbs zur Klagenhäufung fällt auf, dass er ihre ursprüngliche Fassung in seinem Lehrbuch nicht unwesentlich geändert hat. Im „Streitgegenstand" leitete er aus der Feststellung, jedem prozessualen Anspruch müsse ein Rechtsschutzgesuch entsprechen, den Grundsatz ab, dass die Zahl der Rechtsschutzgesuche über die Zahl der Ansprüche entscheide. 19 Umgekehrt könnten mit einem einheitlichen Rechtsschutzgesuch niemals mehrere prozessuale Ansprüche erhoben werden; der Kläger, der mehrere Ansprüche erheben wolle, müsse daher notwendig mehrere Rechtsschutzgesuche stellen. 20 Allerdings könne zweifelhaft sein, so meinte Nikisch weiter, ob der Kläger eine oder mehrere Entscheidungen begehre. Falls der Kläger z.B. Verurteilung zur Zahlung von 400 D M beantrage und seine Klage darauf stütze, dass ihm der Beklagte 100 D M aus Kauf und 300 D M aus Darlehen schulde, lägen trotz des scheinbar einheitlichen Rechtsschutzbegehrens in Wahrheit zwei Rechtsbehauptungen und damit zwei prozessuale Ansprüche vor.
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AaO. (o. Fn. 6), S. 72ff. AaO. (o. Fn. 6), S. 31. 16 AaO. (o. Fn. 6), S. 33; Lehrbuch Zivilprozessrecht, 2. Aufl 1952, § 42 III 2. 17 AaO. (o. Fn. 6), S. 54 f; in AcP 154 (1955), 271, 276/277, lässt er diese Auffassung dahingestellt; s. auch AcP 156 (1957), 72. ι» AaO. (o. Fn. 6), S. 53f. » AaO. (o. Fn. 6), S. 83. 20 AaO. (o. Fn. 6), S. 90. Es ist folglich nicht richtig, wenn Habscheid {o. Fn. 5), S. 46, schreibt, Nikisch stelle für die Klagenhäufung nicht auf die Zahl der Streitgegenstände, sondern der Rechtsschutzgesuche ab. Zutreffend ist vielmehr: Nikisch greift auf die Anzahl der Rechtsschutzgesuche zurück, weil diese seiner Meinung nach die Anzahl der Streitgegenstände indiziert. 15
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Eine Mehrheit prozessualer Ansprüche lehnte Nikisch ab, wenn der Kläger zur Begründung der Klage mehrere Sachverhalte anführt oder wenn er nur einen Sachverhalt vorträgt, aus dem sich mehrere materielle Ansprüche ergeben; denn „eine Mehrheit prozessualer Ansprüche und ein mehrfach begründeter Anspruch sind keineswegs dasselbe"21. Demgemäß nahm er in den Fällen, in denen dem Kläger mehrere konkurrierende, auf dasselbe Ziel gerichtete materielle Leistungsansprüche zustehen (z. B. je ein Anspruch auf Herausgabe derselben Sache aus Besitz und aus Eigentum, oder ein Darlehensanspruch und ein Anspruch aus Schuldanerkenntnis auf Zahlung derselben, vom Beklagten nur einmal zu leistenden Summe) oder in denen er mehrere auf dasselbe Ziel gerichtete Gestaltungsklagerechte hat (z.B. ein Recht auf Ehescheidung wegen Ehebruchs und ein solches wegen sonstiger Eheverfehlungen des Beklagten) nur einen prozessualen Anspruch an.22 Die von seiner Lehre abweichende damals herrschende Meinung bekämpfte Nikisch im wesentlichen mit den gleichen Argumenten, wie sie heute von Schwab23 gegen die Bejahung einer Klagenhäufung bei Anführung mehrerer Sachverhalte zur Begründung eines Klageantrags geltend gemacht werden. Für die Lösung dieses letzten Falles ist er in seinem Lehrbuch einen anderen Weg gegangen.24 Nunmehr nimmt er eine alternative Klagenhäufung an, „wenn der Kläger mehrere Ansprüche erhebt, die auf dieselbe Leistung gerichtet sind, oder mehrere Gestaltungsklagerechte geltend macht, die dasselbe Ziel verfolgen"25. Aus den von ihm angeführten Beispielen ergibt sich, dass er hierbei nur die Fälle der „echten Anspruchskonkurrenz"26 im Auge hat, in denen also der Kläger seinen Antrag auf zwei Sachverhalte stützt (Schulbeispiel: Der Beklagte hat für eine Darlehens- oder Kaufpreisforderung einen Wechsel ausgestellt oder ein Anerkenntnis abgegeben; der Kläger begründet seine Klage mit dem Grundgeschäft und dem Wechsel oder dem Anerkenntnis). Damit trägt er im Ergebnis dem Umstand Rechnung, dass nach seiner Streitgegenstandslehre der Sachverhalt bei Leistungsklagen und „in gewissem Umfange" auch bei Gestaltungsklagen der Individualisierung des Streitgegenstands dient und erkennt praktisch die Gleichartigkeit des Sachverhalts im Rahmen des Streitgegenstansdsbegriffs an. Zur Rechtfertigung seiner neuen Ansicht greift er allerdings nicht auf seinen allgemeinen Streitgegenstandsbegriff zurück, sondern auf das materielle Recht. Für A a O . (o. Fn. 6), S. 91. A a O . (o. Fn. 6), S. 98. 2 3 Streitgegenstand (o. Fn. 4), S. 101. 2 4 Allerdings weist er dort (§ 4 5 IV) nicht auf seine frühere abweichende Meinung hin; vgl. jetzt aber A c P 154 (1955), 271, 286. 2 5 Lehrbuch (o. Fn. 16), § 45 IV (S. 175). In seiner Monographie (S. 88) hatte er eine alternative Klagenhäufung schlechthin als unzulässig angesehen. 21
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A c P 154 (1955), 271, 284.
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entscheidend hält er den Umstand, dass nach materiellem Recht mehrere verschiedene, wenn auch inhaltlich übereinstimmende und wirtschaftlich auf dasselbe Ziel gerichtete, Ansprüche vorliegen.27 Er meint, in diesem Punkt sei es Sache der Prozessualisten, ihre Theorie dem materiellem Recht anzupassen und auch eine Mehrheit von prozessualen Ansprüchen anzuerkennen. 28 Eine kumulative Anspruchshäufung scheide aus, da der Kläger die Leistung, die er z.B. auf Grund des Wechsels und des Kaufvertrages zu beanspruchen habe, nur einmal verlangen könne. Da es andererseits dem Kläger gleichgültig sei, mit welchem Anspruch er durchdringe, mache er die beiden Ansprüche alternativ geltend.29 Formell hat Schwab30 recht, wenn er feststellt, dass Nikisch sich damit zu seiner eigenen Begriffsbestimmung in Widerspruch setzt, die lautet: „Eine Mehrheit prozessualer Ansprüche liegt nur vor, wenn der Kläger verschiedene Rechtsbehauptungen aufstellt und über jede eine der Rechtskraft fähige Entscheidung beantragt"31. In den Fällen der alternativen Klagenhäufung begehrt der Kläger aber gerade nicht mehrere, sondern nur eine Entscheidung. Nikisch müsste also seine Definition ändern. III. Seine im „Streitgegenstand" entwickelte Auffassung führt Nikisch bei der Klage Änderung konsequent durch. Eine Klageänderung liegt nach ihm vor, wenn ein neuer Anspruch an Stelle des in der Klage bezeichneten oder neben diesem erhoben wird.32 Ob dies der Fall ist, bestimmt Nikisch folgerichtig nach der Identität der mehreren Rechtsbehauptungen.33 Da die Rechtsbehauptung nur dem Klageantrag entnommen werden kann, bedeutet eine Änderung des Klageantrags regelmäßig auch eine Änderung des prozessualen Anspruchs. 34 Jedoch bejaht Nikisch - von seinem Standpunkt mit Recht, weil nach ihm die Rechtsschutzform nicht zum Streitgegenstand gehört - die Identität des Streitgegenstands trotz Änderung des Klageantrags, falls nur das Rechtsschutzziel geändert wird (so beim Übergang von der Feststellungs- zur Leistungsklage).35 Entsprechend seiner Grundanschauung, dass der Klagegrund nur insoweit Bedeutung für den prozessualen Anspruch hat, als er zu dessen Individualisierung beiträgt, verneint Nikisch dort eine Klageänderung, wo der Kläger zwar einen neuen Anspruchsgrund einführt, dieser aber die Identität AcP 154 (1955), 271, 284 ff. AcP 154 (1955), 271, 283. 29 AcP 154 (1955), 271, 287 30 Streitgegenstand (o. Fn. 4), S. 48. 31 Lehrbuch, § 45 II (S. 173). 32 Lehrbuch, § 48 I 2 (S. 181). 33 Streitgegenstand (o. Fn. 6), S. 119ff. 34 Lehrbuch, § 48 I 3 a (S. 181). » Lehrbuch, § 48 I 3 b (S. 181). 27 28
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des prozessualen Anspruchs nicht berührt, weil die Individualität des Anspruchs vom Klagegrund unabhängig ist. Das ist nach Nikisch stets bei Feststellungsklagen der Fall, wenn also z.B. der Kläger den Antrag auf Feststellung seines Eigentums an einer bestimmten Sache zunächst auf Ubereigung, später jedoch auf Ersitzung stützt. 36 Soweit dagegen der Anspruchsgrund den prozessualen Anspruch individualisiert, 37 liegt trotz gleichbleibendem Klageantrag eine Klageänderung vor, falls sich der Kläger nunmehr auf einen anderen Anspruchsgrund stützt. Damit läuft das Problem der Klageänderung für Nikisch in erster Linie auf die Frage hinaus, wann mehrere Klagegründe gleich und wann sie verschieden sind. 38 Er wendet sich energisch gegen die Auffassung, die die Identität des Klagegrundes nach materiellrechtlichen Kategorien bestimmen will, weil sich der prozessuale Begriff des Klagegrundes nicht mit dem materiellrechtlichen Begriff des Schuldgrundes decke. 39 Nach Nikisch liegt ein einziger Klagegrund vor, wenn der Kläger sich zur Begründung seines Anspruchs auf einen einheitlichen Lebensvorgang bezieht, eine Mehrheit von Klagegründen dann, wenn er mehrere selbständige Lebensvorgänge anführt, von denen jeder für sich den Anspruch rechtfertigen soll. 40 Daher ist der Ubergang in der Begründung einer Zahlungsklage vom Kaufpreisanspruch zu einem über den Kaufpreis ausgestellten Schuldanerkenntnis eine Klageänderung. Mit Recht kritisiert Schwab, dass dieser Standpunkt Nikischs unvereinbar ist mit seiner Auffassung zur Klagenhäufung, wie er sie in seiner Monographie vertreten hat. 42 Wechselt der Kläger während des Prozesses seine Klagebegründung und stützt er seinen Anspruch nunmehr auf einen anderen Sachverhalt, so liegt eine Klageänderung vor, während Nikisch ursprünglich eine Klagenhäufung verneinte, falls der Kläger von vornherein seinen Antrag mit zwei Sachverhalten begründet. Nach der alten Auffassung Nikischs kam es also für die Frage nach der Einheit des Streitgegenstands auf den Zeitpunkt der Geltendmachung der mehreren Sachverhalte an. Diese Inkonsequenz hat Nikisch nunmehr durch die Annahme einer alternativen Klagenhäufung beseitigt. IV. Seiner im „Streitgegenstand" entwickelten Lehre ist Nikisch auch bei der Rechtshängigkeit treu geblieben. Er hält die Einrede der Rechtshängig36
Lehrbuch, § 48 I 4 (S. 182). Also bei Leistungsklagen und nach den neuesten Ausführungen Nikischs in AcP 154 (1955), 271, 289 ff, auch bei Gestaltungsklagen. 38 Streitgegenstand (o. Fn. 6), S. 125. 39 Streitgegenstand (o. Fn. 6), S. 137. 40 Streitgegenstand (o. Fn. 6), S. 133, 141. 41 Streitgegenstand (o. Fn. 4), S. 49, 106 f. 42 Was Nikisch in AcP 154 (1955), 271, 286, selbst zugibt. 37
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keit f ü r begründet, wenn Identität des prozessualen Anspruchs vorliegt, die Parteien des Vorprozesses identisch sind und beide Klagen dasselbe Rechtsschutzziel verfolgen. 43 Bezüglich der Identität des prozessualen Anspruchs kann auf die Ausführungen zur Klageänderung verwiesen werden. Die Schwierigkeiten, die sich für ihn daraus ergeben, dass er die Rechtsschutzform nicht in den Streitgegenstand einbezieht, umgeht er, indem er, wie aus den von ihm geforderten Voraussetzungen für die Rechtshängigkeit ersichtlich, nicht auf den Streitgegenstand, sondern auf die Identität der „Streitsache" 44 abstellt. 45 Mithin schließt die Rechtshängigkeit der Feststellungsklage die Erhebung einer Leistungsklage zwischen denselben Parteien und mit (nach Nikisch) identischem prozessualen Anspruch nicht aus. Sehr aufschlussreich ist, wie Nikisch neuerdings dieses Ergebnis rechtfertigt. 46 Er lässt die Bedeutung des Wortes „Streitsache" in § 263 Abs. 1 Z P O dahingestellt und hebt als entscheidend hervor, dass nach der Konzeption der Verfasser der Z P O mit der Feststellungsklage ein privatrechtlicher Anspruch auf Anerkennung verfolgt wurde, der deshalb mit dem Leistungsanspruch schon seinem Inhalt nach nicht identisch war und dessen Rechtshängigkeit der Leistungsklage nicht entgegenstehen konnte. Dass dies ein dogmatischer Irrtum gewesen sei, so argumentiert Nikisch*7, ändere nicht Sinn und Zweck des § 263 ZPO. Da Nikisch hier das Problem nicht auf das Gleis der „Streitsache" schiebt, hat er mit dieser Argumentation (ungewollt) bewiesen, dass die Rechtsschutzform z u m Streitgegenstand gehört. Soweit das Verhältnis von Feststellungs- und Leistungsklage in Frage steht, kann § 263 Z P O vom Standpunkt der modernen Dogmatik betrachtet nur dann seinen Sinn und Zweck behalten, wenn die mit beiden Klagen erhobenen prozessualen Ansprüche sich unterscheiden; als einziges Unterscheidungsmerkmal k o m m t aber lediglich die Rechtsschutzform in Betracht. V. Unter „Anspruch" im Sinne des § 322 Abs. 1 Z P O versteht Nikisch den prozessualen Anspruch mit dem für Klagenhäufung, Klageänderung und Rechtshängigkeit entwickelten Inhalt, also die vom Kläger aufgestellte Rechtsbehauptung, wie sie sich aus dem Klageantrag ergibt. 48 Der objektive Umfang der materìellen Rechtskraft hängt dementsprechend entscheidend von der Individualisierung des erhobenen Anspruchs ab. Ist die Rechtsbehauptung des Klägers bereits durch ihren Inhalt individualisiert (wie z.B. bei Klagen auf Feststellung von dinglichen Rechten oder Rechtsverhältnis« Lehrbuch, § 47 II (S. 179). 44 § 263 Abs. 1 ZPO = § 261 Abs. 1 ZPO geltende Fassung. 45 Streitgegenstand (o. Fn. 6), S. 54. 46 AcP 154 (1955), 271, 276f. 47 AcP 154 (1955), 271, 277 48 Lehrbuch, § 106 I 1 (S. 414); Streitgegenstand, S. 150.
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sen), so stellt das darüber entscheidende Urteil das Bestehen oder Nichtbestehen des behaupteten Rechts schlechthin fest, d. h. ohne Beschränkung auf einen bestimmten Erwerbs- oder Entstehungsgrund. 49 Ein Beispiel mag dies erläutern: Die auf Einigung und Ubergabe gestützte rechtskräftig abgewiesene Eigentumsfeststellungsklage kann nicht mit der Begründung erneuert werden, der Kläger habe das Eigentum durch Ersitzung erworben. 50 Wenn der Kläger dagegen eine bloße Rechtsfolge behauptet hatte, die erst der Klagegrund individualisierte (wie etwa bei den Leistungsklagen), so wird auch dieser von der Rechtskraft mit erfasst. Nikisch stellt daher folgerichtig fest: „Ist der Klage stattgegeben worden, so kann später nicht mehr bestritten werden, dass dem Kläger aus diesem Sachverhalt ein Recht dieses Inhalts erwachsen ist; ist sie als unbegründet abgewiesen worden, so steht nunmehr unbestreitbar fest, dass dem Kläger aus diesem Sachverhalt ein Recht dieses Inhalts nicht erwachsen ist.51 Im Falle der Zuerkennung der Klage verneint Nikisch, dass die rechtliche Qualifikation des geltend gemachten prozessualen Anspruchs durch das Gericht an der materiellen Rechtskraft teilnimmt, 52 und zwar mit folgender Begründung: „Hatte der Kläger weiter nichts behauptet, als dass der Beklagte ihm aus einem bestimmten Sachverhalt eine bestimmte Leistung schulde, so ist diese Behauptung der ,Anspruch', über den rechtskräftig zu entscheiden ist. Und die Rechtskraft erstreckt sich deshalb auch allein auf die Frage, ob dieser so gekennzeichnete Anspruch besteht. Dagegen wird nicht rechtskräftig festgestellt irgendein Anspruch des materiellen Rechts, den das Gericht nur im Wege der Rechtsanwendung ermittelt hatte, um daraus den Schluss auf die Richtigkeit der Rechtsbehauptung zu ziehen" 53 . Ergeben sich aus dem vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt mehrere materiellrechtliche Ansprüche gleichen Inhalts, so handelt es sich nach Nikisch hierbei nur um rechtliche Gesichtspunkte, die der rechtlichen Begründung der Entscheidung dienen, über die selbst aber nicht entschieden wird. Mithin kann der Kläger nicht mit dem Hinweis auf das Wort „insoweit" (§ 322 Abs. 1 ZPO) die abgewiesene Klage wiederholen, falls das Gericht den festgestellten Sachverhalt nicht unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten geprüft hat. 54 Der Kläger, der Schadensersatz wegen seiner durch Hundebiss erlittenen Verletzung verlangt, kann also die 49
Lehrbuch, § 106 I 2 (S. 414). Selbstverständlich verstößt der Kläger nicht gegen die Rechtskraft, wenn er sich in einem zweiten Prozess darauf beruft, dass die Ersitzung nach Schluss der letzten Tatsachenverhandlung vollendet worden sei; denn die Rechtskraft kann sich nur auf solche Tatsachen erstrecken, die in diesem Zeitpunkt bereits existent waren. 51 Streitgegenstand (o. Fn. 6), S. 147. 52 Streitgegenstand, S. 149 ff. 53 Streitgegenstand, S. 150/151. 54 Streitgegenstand, S. 151. 50
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rechtskräftig abgewiesene Klage nicht deshalb erneuern, weil er das Vorliegen eines Anspruchs aus unerlaubter Handlung oder positiver Vertragsverletzung behauptet, während das Gericht im Urteil nur den Tatbestand der Tierhalterhaftung geprüft und eine Schadensersatzpflicht des Beklagten aus diesem Gesichtspunkt verneint hat. Demnach kommt es für Nikisch, soweit die Angabe von Tatsachen für die Individualisierung des prozessualen Anspruchs notwendig ist, auch für die Rechtskraft entscheidend auf die Identität des Klagegrundes an. Hatte der Kläger im ersten Prozess einen Umstand nicht vorgetragen, der sich auf denselben tatsächlichen Vorgang bezog, mit dem schon die erste Klage begründet worden war, so kann dieser in einem zweiten Prozess nicht mehr verwertet werden, selbst wenn er die Anwendung eines anderen materiellrechtlichen Anspruchstatbestandes ermöglicht haben würde. 5 5 Dagegen hindert die Rechtskraft den Kläger nicht, die gleiche Rechtsbehauptung in einem zweiten Prozess auf einen anderen Klagegrund zu stützen, den das Gericht noch nicht geprüft hat, wobei es Nikisch für gleichgültig hält, ob der andere tatsächliche Vorgang schon im ersten Prozess vorgetragen war oder nicht. Ist der Kläger z.B. mit seiner Darlehensklage abgewiesen worden, so kann er demnach eine neue Leistungsklage auf ein über das Darlehen abgegebenes Anerkenntnis stützen. 56 Nicht anders verhält es sich, wenn der Klage nur auf Grund eines von mehreren Vorgängen stattgegeben worden ist. Alsdann steht die Rechtskraft einer zweiten Klage nicht entgegen, mit der der Kläger die zugesprochene Summe ein zweites Mal, nunmehr aus einem anderen Grund, begehrt. Allerdings schiebt Nikisch einer solchen Klage dadurch einen Riegel vor, dass er für sie das Rechtsschutzinteresse verneint. 57 Die materielle Rechtskraft hat nach Nikisch zur Folge, dass jedes mit dem Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung unvereinbare Vorbringen des Klägers oder Beklagten ausgeschlossen wird, sofern es auf Tatsachen beruht, die bereits zur Zeit der letzten Tatsachenverhandlung existent waren und zum Klagegrund des rechtskräftig erledigten Anspruchs gehören, selbst dann, wenn sie der Partei weder bekannt waren noch ihr hätten bekannt sein müsStreitgegenstand (o. Fn. 6), S. 152. Hiergegen macht Schwab (o. Fn. 4), S. 153 ff, mit Recht geltend, dass von einer Einschränkung der Rechtskraft keine Rede sein kann, wenn vorgebrachte Tatsachen vom Gericht nicht berücksichtigt worden sind. Wie Nikisch das Problem aus der Sicht seiner neuen Lehre von der alternativen Klagenhäufung beurteilt, lassen seine Ausführungen in AcP 154 (1955), 271, 286 ff, nicht erkennen. Dass ein abweisendes Urteil erst ergehen kann, wenn das Gericht die Begründetheit der Klage aus beiden Klagegründen verneint hat (vgl. Nikisch, aaO. S. 288), schließt nicht aus, dass das Gericht den zweiten Grund übergeht. In diesem Falle sieht Schwab aaO. den Anspruch vom Standpunkt Nikischs weiterhin als rechtshängig an; der Kläger könnte deshalb eine zweite Klage nicht auf Anerkenntnis stützen. 57 Streitgegenstand, S. 152 f. Auch zu diesem Problem äußert sich Nikisch nicht von seinem neuen Standpunkt aus. 55
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sen. In diesen Fällen kann nach Nikisch nur die Wiederaufnahme des Verfahrens helfen. 58 Wo die Rechtsbehauptung auch ohne Tatsachen hinreichend individualisiert ist, ergreift die Rechtskraft alle vor der letzten Tatsachenverhandlung objektiv vorhandenen Lebensvorgänge, auf die der Anspruch hätte gestützt werden können, und verhindert ihre Verwertung in einem zweiten Prozess. Einer besonderen Betrachtung bedarf noch die Auffassung Nikischs zu den Gestaltungsklagen, weil sie erst in jüngster Zeit eine Änderung erfahren hat. Aus § 616 ZPO59, dessen Wirkung er noch in seinem Lehrbuch 60 als Erstreckung der materiellen Rechtskraft über den abgeurteilten Anspruch hinaus kennzeichnet, entnimmt er nunmehr im Umkehrschluss für andere Gestaltungsklagen als Ehescheidungsklagen - damit kommt er für diese zu einem von seinen Ausführungen im „Streitgegenstand" abweichenden Ergebnis - , dass die Klageabweisung einer neuen Klage nicht entgegenstehe, wenn sie auf Tatsachen gestützt werde, die der Kläger im früheren Prozess nicht vorgebracht habe, obgleich sie ihm bekannt gewesen seien. 61 Das gelte selbstverständlich erst recht für solche Tatsachen, die ihm nicht bekannt gewesen seien, weil er mit ihnen nicht einmal im Eheprozess (durch § 616 ZPO) ausgeschlossen werde. Da das Gericht lediglich über den auch bei Gestaltungsklagen durch Tatsachen zu individualisierenden Anspruch entscheide, könne die Beschränkung des § 616 ZPO nicht als Wirkung der Rechtskraft, sondern nur als rechtskraftfremde Präklusion verstanden werden. 62 Diese Begründung setzt voraus, dass der Terminus „Tatsachen" in § 616 ZPO auch selbständige Klagegründe in dem von Nikisch sonst verstandenen Sinne einschliesst. Ganz klar sind Gedankengang und Anliegen Nikischs in diesem Zusammenhang nicht. Er bemüht sich um den Nachweis, dass bei Gestaltungsklagen der prozessuale Anspruch individualisiert wird „durch die Gesamtheit der vom Kläger zu seiner Begründung im Prozess vorgetragenen Tatsachen" 63 . Das ist aber doch gegenüber seiner allgemeinen Auffassung von der Individualisierung nichts Besonderes. Der wesentliche Punkt kommt unmittelbar anschließend, wenn er ausführt: „Beantragt der Kläger mit seiner Klage eine bestimmte Gestaltung eines bestimmten Rechtsverhältnisses, z.B. die Scheidung der Ehe, und begründet er die Klage mit mehreren Sachverhalten, z.B. mit Ehebruch und außerdem mit einer schweren ansteckenden Krankheit des Beklagten (§ 46 EheG), so macht er nur einen Anspruch geltend. Der entscheidende Grund ist aber nicht der, dass nur ein Antrag geLehrbuch, § 107 I 2 (S. 421). Die Vorschrift ist durch das 1. EheRG 1976 aufgehoben worden. § 139 V 5 (S. 562). « AcP 154 (1955), 271, 290; s. auch S. 294. 62 AcP 154 (1955), 271, 291. « AcP 154 (1955), 271, 292. 58
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stellt wird,64 sondern dass der Kläger, auch vom materiellen Recht her gesehen, nur ein Gestaltungsrecht hat und mit seiner Klage verfolgt" 65 . Hierin liegt ein Widerspruch im Ergebnis und in der Begründung: im Ergebnis, weil er nach seiner neuen Auffassung bei Leistungsklagen in den Fällen, in denen der Klageantrag auf zwei selbständige materiellrechtliche Entstehungsgründe gestützt ist, Klagenhäufung annimmt; in der Begründung, weil er jetzt entscheidend auf das materielle Recht abstellt.66 - Nikisch gesteht dem Kläger jedoch die Befugnis zu, die mehrenen Scheidungsgründe in Eventualstellung geltend zu machen, wenn die Urteilswirkungen je nach dem Scheidungsgrunde verschieden sind.67 Von hier aus verneint er folgerichtig eine Klageänderung, falls der Kläger im Laufe des Prozesses einen anderen Sachverhalt einführt, der ebenfalls die beantragte Gestaltung zu rechtfertigen geeignet ist. Diese Verschiedenheit gegenüber der Klageänderung bei Leistungsklagen erklärt er damit, „dass die Gründe für die Entstehung eines Gestaltungsrechts sich gegenseitig ergänzen" 68 . Unterstützend weist er auf § 614 ZPO 69 hin, der von Klagegründen und nicht von anderen Scheidungsrechten spreche. Obgleich grundsätzlich bei Gestaltungsklagen trotz Anführens mehrerer Klagegründe nur ein prozessualer Anspruch vorliegt, steht nach Nikisch die Rechtshängigkeit einer zweiten Klage nicht entgegen, mit der der Kläger dieselbe Rechtsgestaltung auf Grund eines anderen Sachverhalts beantragt. „Da mit jeder Klage ein ,Anspruch' erhoben wird, hat man es in diesem Falle unbestreitbar mit 21»« Ansprüchen zu tun, es fragt sich nur, ob diese Ansprüche identisch sind. Das ist zu verneinen, weil der mit der Gestaltungsklage erhobene Anspruch durch die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen individualisiert wird"70. Den naheliegenden Einwand, dieses Ergebnis stehe im Widerspruch zu seiner für die Klageänderung vertretenen Auffassung, nimmt er vorweg und versucht ihn mit der Überlegung zu entkräften, dass es sich dort um die Frage der Einheit oder Mehrheit der mit einer Klage, hier um die Identität der mit mehreren Klagen erhobenen Ansprüche handele. Er fährt fort: „Die Tatsachen, die dort lediglich die Begründung des einheitlichen Anspruchs ergänzen, können hier, allein vorgebracht, die Identität des neuen Anspruchs mit dem früher erhobenen, anders begründeten Anspruch aufhe-
Damit wendet sich Nikisch gegen Schwab. " AcP 154 (1955), 271, 292. 66 Die Formulierung Nikischs, dass der Kläger, auch vom materiellen Recht her gesehen, nur ein Gestaltungsrecht habe, ist überdies ungenau, da sich die Frage der Zahl von Gestaltungsrechten nur nach dem materiellen Recht beurteilt. " AcP 154 (1955), 271, 292 f. 68 AcP 154 (1955), 271, 293. 69 Seit dem 1. EheRG 1976 § 611 Abs 1 ZPO. 70 AcP 154 (1955), 271, 293. 64
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ben.71 Daraus ergibt sich für Nikisch eine weitere Besonderheit: Einer zweiten Klage fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, da der Kläger sein Ziel durch Einführung des neuen Klagegrundes in den bereits anhängigen Prozess einfacher erreichen könne. 72 Deswegen und nicht wegen der Rechtshängigkeit ist sie als unzulässig abzuweisen. In diesem Falle scheitert also eine Gestaltungsklage am fehlenden Rechtsschutzinteresse, obgleich die einhellige Meinung davon ausgeht, dass bei Gestaltungsklagen das Rechtsschutzinteresse stets vorliegt und deshalb nicht besonders zu prüfen ist. 73 Die Auffassung Nikischs zu den Gestaltungsklagen überzeugt weder im Ergebnis noch in der Begründung. Es gibt - prozessual gesehen - keinen zwingenden Grund, die Gestaltungsklagen anders zu behandeln als solche Leistungsklagen, bei denen der Kläger zwar mehrere Klagegründe anführt, die Klagesumme aber nur einmal verlangen kann. Was dort aus der Natur der Rechtsgestaltung folgt, ergibt sich hier aus den zugrunde liegenden materiellrechtlichen Verhältnissen: dass nämlich der Kläger die behauptete Rechtsfolge nur einmal beanspruchen kann. Bei Gestaltungsklagen können sich die Gründe für die Entstehung des Gestaltungsrechts gegenseitig ergänzen; sie brauchen es aber nicht zu tun. Eine Ergänzung in diesem Sinne wird regelmäßig dort vorliegen, wo die Rechtsgestaltung von Rechtsbegriffen abhängig ist, die der Ausfüllung durch das richterliche Ermessen bedürfen (wie z.B. der „wichtige Grund" oder die „Zerrüttung der Ehe"). Dann mag die in Anspruch genommene Rechtsfolge erst durch die Verbindung mehrerer Klagegründe gerechtfertigt erscheinen. Hierbei handelt es sich aber um eine Frage der Begründetheit der Klage, d. h. um die Anwendung des materiellen Rechts. Immerhin führt dieser Gesichtspunkt auf ein möglicherweise richtiges Gleis, indem er zu der Frage zwingt, wie der Klagegrund bei Gestaltungsklagen abzugrenzen ist. Auf § 614 ZPO kann sich Nikisch nicht berufen. Diese Vorschrift besagt nicht, dass das Vorbringen neuer Klagegründe keine Klageänderung ist, sondern nur, dass die Frage der Klageänderung nicht aufgeworfen zu werden braucht, weil das Vorbringen ausnahmsweise stets zulässig sein soll. 74 Die praktische Bedeutung der von Nikisch erörterten Problematik ist nicht groß, da die wesentlichen Fragen (mit Ausnahme der Rechtshängigkeit) für die wichtigen Gestaltungsklagen gesetzlich geregelt sind. Im übrigen wird der Kläger, schon um auf jeden Fall mit seiner Klage Erfolg zu haben, regelmäßig alle Tatsachen vortragen, die ihm zu ihrer Rechtfertigung geeignet erscheinen. Tut er dies nicht, so geht er das Risiko einer Klageabweisung ein. AcP 154 (1955), 271, 293/294. AcP 154 (1955), 271, 294. 73 Allerdings hat die hM dabei kaum an Nikischs Lösungsmöglichkeit gedacht. 74 Die Kritik Nikischs AcP 154 (1955), 271, 294 Fn. 28, an Schwab ist insoweit unberechtigt, als sie den Vorwurf eines „vollendeten Widerspruchs" enthält. Nikisch übersieht, dass Schwab für die Rechtshängigkeit allein auf die Identität des Klageantrags abstellt. 71
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Der Bundesgerichtshof zur Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts - Ariadnefaden aus dem Labyrinth oder Durchtrennung des gordischen Knotens ? WOLFGANG LÜKE
I. Einleitung D i e juristische Qualifikation der Gesellschaft bürgerlichen Rechts gehört zu den stark umstrittenen Problemen im deutschen Gesellschaftsrecht. D i e Äußerungen im Schrifttum hierzu sind fast unübersehbar, 1 entsprechend schwierig ist es, die Meinungsvielfalt zu erfassen. Vereinfacht gesagt stehen sich jene S t i m m e n , die am traditionellen Bild der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als nichtsrechtsfähiger Personenvereinigung festhalten, 2 und die vor allem im Gesellschaftsrecht z u n e h m e n d vertretene Auffassung, dass die G e sellschaft bürgerlichen Rechts ein verselbständigtes Gesellschaftsvermögen hat und ihr daher Teilrechtsfähigkeit 3 z u k o m m e , gegenüber. Teilweise wird dieser Kreis auf Erwerbsgesellschaften, unternehmenstragende Gesellschaf1 Umfassende Aufbereitung des Schrifttums vor allem bei Hennnchs/Kießling WM 1999, 877, 878 ff; s ferner Blenske NJW 2000, 3170; umfassende aktuelle monographische Ausarbeitungen finden sich etwa bei Reiff Die Haftungsverfassungen nichtsrechtsfähiger unternehmenstragender Verbände, 1996; Dauner-Lieb Unternehmen in Sondervermögen, 1998, insbes S. 541 ff; Wertenbruch Die Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000; aus früherer Zeit bereits Huber Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970; Schulze-Osterloh Das Prinzip der gesamthänderischen Bindung, 1972; Flume Die Personengesellschaft, 1977 2 S insbes Zöllnerin: FS Gernhuber, 1993, S. 566 ff; ders in: FS Claussen, 1997, S. 423,431 ; ders in: FS Kraft, 1998, S. 701, 704 ff; Hueck'm: FS Zöllner, 1998, S. 275, 276 ff; ders Gesellschaftsrecht, 19. Auf 1991, S. 20 ff, 65 ff; Beuthien/Emst ZHR 156 (1992), 227, 231 ff; Kögel DB 1995, 2201 ; Kühler Gesellschaftsrecht, 5. Aufl 1998, S. 27 ff, 52 ff; Cordes JZ 1998, 545, 549; Huber Vermögensanteil aaO, S. 61 ff, 89 ff, 102 ff; Schulze-Osterloh aaO, S. 1 ff, 163 ff. 3 S - mit erheblichen Unterschieden im Einzelnen - MiinchKommBGB/ Ulmer Bd 5, 3. Aufl 1997, § 705 Rn 130 ff; ders ZIP 1999, 509; ders ZIP 1999, 554; Soergel//¿*¿í&«gBGB, Bd 4, 11. Aufl 1985, § 714 Rn 9 ff; ders in: FS Rittner, 1991, S. 133, 138; Habersack JuS 1993, 1 ; ders AcP 198 (1998), 152, 154; ders BB 1999, 61 f; Wackerbarth ZGR 1999, 365, 374 ff, 401 ; Flume aaO, S. 55 ff, S. 68 ff; Schünemann Grundprobleme der Gesamthandsgesellschaft, 1975, S. 110 ff, 148 ff; Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, 3. Aufl 1997, § 6 III (S. 203 ff), § 60 III (S. 17, 84 ff); Wiedemann WM 1994, Sonderbeilage 4, 6 ff, 15 ff; Bälz in: FS Zöllner, 1998, S. 35, 54; s auch Erman/ Westermann BGB, Bd 1, 2000, Vor § 705 Rn 14 ff
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ten oder Außengesellschaften beschränkt. 4 Im Einzelnen weichen die vertretenen L ö s u n g e n stark voneinander ab, ohne dass hierauf zunächst eingegangen werden soll. Schon ein flüchtiger Blick auf den Meinungsstreit offenbart eine Diskussion mit einer auffallend historischen Prägung. 5 D a s individualistische Verständnis der B G B - G e s e l l s c h a f t , nach dem die Gesellschafter Zuordnungssubjekt des Gesellschaftsvermögens sind, begründet sich auf dem römischen Recht, während die neueren Auffassungen von einem verselbständigten Verständnis der Gesellschaft bürgerlichen Rechts letztlich auf der deutschrechtlichen G e s a m t h a n d beruhen. 6 Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser weit zurückgreifenden Aspekte beruft m a n sich in der Diskussion häufig auf historische Argumente, vor allem auf die Vorstellungen des Gesetzgebers. Dies ist u m s o erstaunlicher, als die Versuche eines „ n e u e n " Verständnisses der B G B - G e s e l l s c h a f t wohl vor allem durch die gegenüber der Zeit der E n t stehung dieser Regeln veränderten tatsächlichen Gegebenheiten veranlasst sind. 7 Unabhängig davon stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung des gesetzgeberischen Willens für die A n w e n d u n g , zumal es mittlerweile gesetzliche Regelungen gibt, denen eine vom traditionellen Verständnis abweichende Qualifizierung zu Grunde zu liegen scheint. 8 Ein zweiter Grundzug des Meinungsstreits ist sein stark verfahrensrechtlicher B e z u g . Dieser erklärt sich nicht nur aus dem U m s t a n d , dass sich die Frage der klageweisen D u r c h s e t z u n g und Vollstreckung von Titeln gegen die Gesellschaft stellt und gelöst werden m u s s , sondern sich einerseits aus bürgerlich-rechtlichen Vorschriften (§§ 714, 718 f. B G B ) , vor allem aber aus § 7 3 6 Z P O ein schwerwiegendes Argument gegen die A n e r k e n n u n g der
4 In der Vergangenheit insbesondere Flume aaO S. 330 ff; Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, 3. Aufl 1997, § 60 III 1 b, 3-5 (S. 1785 f, 1795 ff); Reiff ZIP 1999, 1329, 1333 ff; ders Ν ZG 2000, 281, 283 f; ders aaO (Fn 1), S. 183 ff, 222 f, 292 ff, 332; Wiedemann WM 1994, Sonderbeilage 4, 17; Bäk, in: FS Zöllner, aaO S. 35, 54; Ulmer ZI? 1999, 554, 559; ders in: MünchKomm, aaO (Fn 3), § 714 Rn 31 f, 41 ; Blenske NJW 2000, 3170, 3172; nunmehr aber abl. Goette DStR 1999, 1707, 1708; Henze BB 1999, 2260, 2262; Dauner-Lieb DStR 1999, 1992, 1994; ÄjW/WM 2000, 697, 702. 5 Uberblick über die historische Entwicklung der Diskussion bei Wiedemann WM 1994, Sonderbeilage 4, 3 ff; Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 994 ff. Umfassende Aufbereitung vor allem auch bei Wertenbruch aaO(Fn 1), inbes 211 ff. 6 Darstellung bei Huber in: FS Lutter, 2000, 107, 113 f; Wertenbruch aaO (Fn 1), 40 ff; Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 994 f, alle mwN. 7 Vgl BGH ZIP 2001, 330, 331, 1. Sp. 8 § 14 Abs 2 BGB; § 11 Abs 2 Nr 1 InsO; häufig werden auch Bestimmungen über die Umwandlung etwa von einer körperschaftlich-strukturierten Gesellschaft in eine Personengesellschaft unter Wahrung der Identität - vgl § 191 Abs 2 Nr 1 UmwG - sowie des Formwechsel zwischen GbR und OHG (§ 105 Abs 2 HGB) angeführt. Hierzu BGH ZIP 2001, 330, 331 ff; Blenske NJW 2000, 3170, 3172 f, 3174; Dauner-Lieb DStR 2001, 356 f; Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 996; kritisch zur Heranziehung des § 11 Abs 2 Nr 1 InsO: Prutting ZIP 1997, 1725; ablehnend schon zum alten Recht W. Luke ZGR 1994, 266, 283.
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Rechts- und Parteifähigkeit der Β GB-Gesellschaft ableitet. 9 Nach dieser Vorschrift bedarf die Zwangsvollstreckung in das Vermögen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts eines gegen alle Gesellschafter gerichteten Urteils. Nach einhelliger Auffassung10 muss dieser Titel allerdings kein gemeinsames Urteil sein, solange es sich bei den zu vollstreckenden Schulden um von allen Gesellschaftern zu erfüllende Verbindlichkeiten handelt. Streitig ist, ob es um Gesamthands- oder „nur" um Gesamtschulden gehen muss. 11 Welche Folgerungen aus § 736 ZPO für die Frage der Rechts- und Parteifähigkeit gezogen werden müssen, soll an späterer Stelle dargestellt werden. Vor allem das verfahrensrechtliche Schrifttum sieht sich durch diese Vorschrift an der Befürwortung einer Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft gehindert. Sie sei, so wird häufig geäußert, 12 nur durch eine entsprechende Gesetzesänderung möglich. Dagegen tun sich die Gesellschaftsrechtler mit einer abweichenden Deutung offenbar viel leichter.13 Das mag damit zusammenhängen, dass es stärker die verschiedenen Erscheinungsformen der BGB-Gesellschaft im Blick hat. Sie reichen von Fahrgemeinschaften über Ehegattengesellschaften bis hin zu Objekt- und Besitzgesellschaften sowie unternehmenstragenden Gesellschaften oder bauwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften zwischen selbständigen Bauunternehmungen. 14 Darunter gibt es durchaus eine Anzahl Gesellschaften bürgerlichen Rechts mit einem großen Bestand an Gesellschaftern, der auch wechselnd sein kann. Beispielhaft sei die anwaltliche Großkanzlei genannt. Zwar kann diese nunmehr auch in Form einer GmbH (§§ 59 c ff. BRAO) oder Partnerschaftsgesellschaft (§ 1 Abs. 1 PartGG) organisiert werden, doch findet sich die BGBGesellschaft als Organisationsform nach wie vor sehr häufig. Eine individualistische, auf die Gesellschafter ausgerichtete Qualifizierung der BGB-Gesellschaft bereitet in diesen Fällen naturgemäß auch im Prozessrecht Schwierigkeiten, deren Lösung zumindest eine gewissen (Argumentations-) Aufwand erfordert.15 Beispielhaft sei die Notwendigkeit genannt, im 9 ZB Stein/Jonas /Bork ZPO, 21. Aufl 1992, § 50 Rn 17; Rosenberg/Gaul/Schilken Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl 1997, § 19 I 1; Miither MDR 1998, 625. 10 Schuscbke/Walker Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, 2. Aufl 1997, § 736 Rn 2; Jauernig Zwangsvollstreckung und Insolvenzrecht, 21. Aufl 1999, § 5 II 1. 11 Zu diesem Streit s Stem/]onas/Münzberg ZPO, 21. Aufl 1994, § 736 Rn 5 mwN. 12 Jauernig ζaO (Fn 10); Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 9). 13 S etwa Wiedemann WM 1994, Sonderbeilage 4, 9 f; Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 996 f; Habersack BB 2001, 477, 480 f; sehr gewiss über das Ergebnis vor allem Dauner-Lieb DStR 2001, 356, 358; Goette DStR 2001, 315. 14 Uberblick über solche Erscheinungsformen bei Schücking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts (Hrsg ν Riegger/Weipert), Bd 1, 1995, § 4 Rn 17 ff (S. 53 ff); MünchKommBGB/ Ulmer aaO (Fn 3), § Vor § 705 Rn 3 ff. 15 S den Überblick bei W. Luke ZGR 1994,166, 278 ff; detailliert: GöckelerDie Stellung der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts im Erkenntnis-, Vollstreckungs- und Konkursverfahren, 1992, S. 89; Heller Der Zivilprozess der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, 1989, S. 113 ff.
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Passivprozess allen (streitgenössischen) Gesellschaftern die Klage zuzustellen, oder die Bestimmung des Gerichtsstandes. Um diesen zu vermeiden neigt die im Gesellschaftsrecht herrschende Auffassung der Gegenansicht zu.16 In diesem Meinungsstreit hat sich mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. 1. 200117 eine neue Entwicklung ergeben, deren Folgewirkung sich noch nicht völlig überschauen lässt.18 Der II. Zivilsenat hat nun für die „(Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts" eine Rechtsfähigkeit befürwortet, „soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet". In diesem Rahmen sei, so das Gericht in seinem zweiten amtlichen Leitsatz, die BGB-Gesellschaft auch aktiv und passiv parteifähig. In den nachfolgenden Darlegungen soll zunächst die Argumentation des Senats dargestellt werden. Dem schließt sich eine erste Einschätzung der prozessualen Folgen an, die mit dem Standpunkt des Gerichts verbunden sind. Der Beitrag muss sich dabei auf einzelne wichtige Fragen beschränken. Zugleich sollen die vom Bundesgerichtshof angeführte Argumente gewürdigt werden, ohne zu dem Meinungsstreit umfassend Stellung zu nehmen. Dies geschieht in der Uberzeugung, dass nur eine sorgfältige Untersuchung der einzelnen Folgen der Rechtsprechung eine angemessene Würdigung der vom Gericht vertretenen Auffassung und deren sachliche Bewertung gestatten.
II. Entscheidung des II. Zivilsenats 1. Der II. Zivilsenat bezieht sich in seinem Urteil auf verschiedene Stimmen im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum. Der Senat greift dabei vor allem Anregungen aus der Diskussion auf, die sich in der Folge der Entscheidung zur GbR mbH 19 ergeben haben. Der Senat will damit vor allem praktischen Bedürfnissen Rechnung tragen. Darüber hinaus biete, so das Gericht, die 16
Aderhold Das Schuldmodell der BGB-Gesellschaft, 1981, S. 165 ff; Soergel/Hadding BGB, 12. Aufl 1985, § 714 Rn 52; HüfferVS Stimpel, 1985, S. 165, 168 ff; Karsten Schmidt aaO (Fn 3), § 60 IV 1 (S. 1805 ff); Wiedemann WM 1994, Sonderbeilage 4, 9 f; Timm NJW 1995, 3214; s aus dem verfahrensrechdichen Schrifttum: Wieczorek/Schütze/Hausmann ZPO, 3. Aufl 1994, Rn 33 f; MüncbKommZVO/Lindacherl. Aufl 2000, Rn 23 ff; Musielak/ Weth ZPO, 2. Aufl 2001, § 50 Rn 22. 17 ZIP 2001, 330 = NJW 2001, 1056. 18 Zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung bestimmt. Neben den bereits Vorgenannten auch besprochen von Römermann DB 2001, 428; Hellwig BB 2001, Heft 10, „Erste. Seite"; Wilhelm LM N r 5/2001 zu § 50 ZPO N r 52; Goette DStR 2001, 315. Die Beiträge von UlmerZW 2001, 585; H. P. Westermann NZG 2001, 289; PfeiferNZG2001,296 und / M N Z G 2001, 300, erschienen erst nach Drucklegung und konnten nicht mehr berücksichtigt werden. i» BGHZ 142, 315; besprochen ua von Dauner-Lieb DStR 1999, 1992; ReiffVersk 1999, 1427; ders NZG 2000, 281 ; UlmerZGR 2000, 339; Altmeppen ZIP 1999, 1758; Blenke NJW 2000, 3170; Hadding WuB 1/2000 zu § 705 BGB; Hasselhach M DR 2000, 95; Kindl WM 2000, 697; Petersen/Rothenfußer G m b H R 2000, 757, 801; Peres DStR 2000, 639; M. Wolf W M 2000, 704.
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Annahme einer beschränkten Rechtssubjektivität ein „weitgehend widerspruchsfreies Modell" 20 für die vom Gesetz (§§ 718 - 720 BGB) gewollte rechtliche Absonderung. Mit der Anerkennung der Rechtsfähigkeit könne der BGB-Gesellschaft Parteifähigkeit im Zivilprozess nicht abgesprochen werden. Da auch eine notwendige Streitgenossenschaft nur ein einheitliches Urteil sicher stelle, nicht aber eine Verpflichtung zur gemeinschaftlichen Vornahme von Prozesshandlungen, und im übrigen der Umfang des prozessual abgestimmten Verhaltens gering sei, finde sich das materiellrechtliche Gesamthandsprinzip bei Befürwortung einer Streitgenossenschaft nicht prozessual abgebildet. Probleme ergäben sich, wenn sämtliche Gesellschafter als Streitgenossen zu verklagen seien. Die Mängel werden vor allem darin gesehen, dass es für den Kläger schon schwierig sei festzustellen, wer die Gesellschafter seien. Eventuelle Gesellschafterwechsel führten zu einer weiteren Verkomplizierung der Situation. Der denkbare und auch vorgeschlagene Weg über § 727 BGB sei „in praktischer Hinsicht unzulänglich". b) § 736 ZPO ist nunmehr auch nach Auffassung des II. Zivilsenates kein Hindernis für die Annahme einer Parteifähigkeit. Das Gericht folgt jener namentlich von Huber21 und detailliert von Wertenbruch12 entwickelten Auffassung, nach der § 736 ZPO nichts gegen die Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts aussage, sondern statt dessen die Vorschrift verhindern solle, dass Gläubiger einzelner Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen vollstreckten. Die Bestimmung entspreche damit jener des § 719 Abs. 2 BGB, nach der es keine Gegenseitigkeit zwischen den Forderungen der BGB-Gesellschaft einerseits und einer Forderung des Schuldners des erstgenannten Anspruchs gegen einen einzelnen Gesellschafter andererseits gebe. Beide Bestimmungen seien Ausdruck der gesamthänderischen Bindung. Zugleich ermögliche § 736 ZPO aber die Vollstreckung auch bei einem Titel gegen sämtliche Gesellschafter der BGB-Gesellschaft. Für diese nach dem Wortlaut der N o r m sicherlich mögliche Deutung wird vor allem auf das seinerzeitige Verständnis und die Entstehungsgeschichte der Vorschrift verwiesen. 23 Die hierzu veröffentlichten Materialien sind freilich nicht so sonderlich ergiebig, weshalb das Gericht sich dann auch mit der Feststellung begnügt, es spreche auch in der amtlichen Begründung „kein durchgreifendes Argument" 24 gegen eine Anerkennung der Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft.
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Auffallend ist, dass das Gericht auch in prozessualer Hinsicht von einem - dann aber „praktiziertem Modell" spricht, also offenbar in einem Modell nicht nur eine theoretische Denkfigur sieht, sub II 2 vor (a). 21 Huber in: Festschritft für Lutter, aaO (Fn 6), 107ff. 22 Wertenbruch aaO (Fn 1), S. 122ff. 23 Wertenbruch aaO (Fn 1), S. 123ff. 24 BGH ZIP 2001, 330, 334 f.
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Das Gericht sieht dagegen seine Ansicht auch in der 1./2. Auflage der Kommentierung von P l a n c k , dem Generalreferenten der 2. Kommission, bestätigt. In ihr findet sich als Erläuterung zu § 736 Z P O , dass ein gegen alle gerichtetes Urteil erforderlich sei. Der Anteil des Gesellschafters sei gem. § 859 Z P O dem einzelnen Gläubigerzugriff unterworfen, während Anteile an den einzelnen z u m Gesellschaftsvermögen gehörenden Gegenständen nicht gepfändet werden könnten. Diese Regelungen seien in dem Grundsatz der „gesamten H a n d " begründet, berührten aber die Parteifähigkeit nicht. Die Uberzeugungskraft dieser historischen Argumente soll hier nicht ausführlich erörtert werden. Man mag sich zumindest fragen, weshalb diese Textstelle Plancks in der 1./2. Auflage seines Kommentars ein derartiges Gewicht bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens z u k o m m e n soll. Zumindest gibt es doch die eine oder andere Textstelle in den Protokollen, 2 6 die eine geringe Neigung des Gesetzgebers erkennen lässt, die Gesamthand wie bei den Personalhandelsgesellschaften zu deuten. Der Umstand, dass der vom II. Zivilsenat in Bezug genommene Satz schon in der Folgeauflage von Plancks Kommentar nicht mehr aufgenommen ist, 27 lässt den Schluss zumindest nicht abwegig erscheinen, auch Planck selber habe dies nicht als authentische Äußerung des gesetzgeberischen Willens verstanden. Die Materialien geben eben keinen sicheren Aufschluss über die Vorstellungen des Gesetzgebers, die wohl seinerseits auch nicht definitiv waren. 2 8
III. Prozessuale F o l g e r u n g e n 1. Gerichtsstand und Parteibezeichnung Mit der Annahme einer Rechtsfähigkeit und hieraus folgend einer Prozessfähigkeit der BGB-Gesellschaft lassen sich Fragen problemlos lösen, die bislang gewisse Schwierigkeiten bildeten, von der Praxis allerdings in der Vergangenheit - wenn auch mit gewissem Aufwand - bewältigt wurden. Beispielhaft seien hier alle Fragen im Zusammenhang mit dem Wechsel des Gesellschafterbestandes genannt. Hier erkannte man rasch, dass die Streit25
Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1./2. Aufl 1900, Vor § 705 Anm 11.2 (S. 453). Motive zur Novelle 1898 der ZPO in Hahn/Mugdan S. 138; vgl auch Protokolle zum BGB, Bd II, S. 434 f; hierzu schon - weitergehend - Rosenberg/Gaul/Schilken Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl 1997, § 19 I 1 (S. 315 ff). 27 Planck Bürgerliches Gesetzbuch, Bd 2, 3. Aufl 1907, vor § 705 Anm. II, VI; s auch Stromal (Hrsg.), Planck's Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd 2, 4. Aufl 1928, vor § 705 Anm II.3 a. E., VI. 28 Kritisch zu dem Urteil insoweit Karsten SchmidtNyW 2001, 993, 997; s auch schon Ulmer ZGR 2000, 339, 344. 26
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genossenschaft durchaus zu sinnvollen Ergebnissen führte. 2 9 Sie unterschieden sich zwar vielfach nicht von jenen der Vertreter der Parteifähigkeit, erforderten aber demgegenüber einen größeren Begründungsaufwand. 3 0 Einfacher lässt sich auch der Gerichtsstand bestimmen. Da das geltende Zivilverfahrensrecht einen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nicht kennt, 31 bedurfte es nach der bislang vertreten Auffassung einer Streitgenossenschaft zwischen den Gesellschaftern - sei es bei der Gesamtschuld- wie auch bei der Gesamthandsschuldklage - einer Bestimmung des Gerichtsstandes gem. § 36 Nr. 3 ZPO. 3 2 Folgt man der Ansicht des II. Zivilsenats, so ergibt sich für die rechts- und parteifähige BGB-Gesellschaft der allgemeine Gerichtsstand aus § 17 ZPO, da es sich um eine Vermögensmasse handelt, die als solche verklagt werden kann. Maßgeblich ist danach der Sitz der Gesellschaft, der sich nach dem O r t richtet, an dem die Gesellschaft ihre Verwaltung hat (§ 17 ZPO). Bei Erwerbsgesellschaften ist das der O r t , an dem die Geschäfte geführt werden, bei Besitzgesellschaften jener an dem sich das Vermögen befindet. 33 Doch ergeben sich auch bei einer Zuständigkeit nach § 17 ZPO angesichts der Vielgestaltigkeit der Erscheinungsform einer BGB-Gesellschaft noch immer Schwierigkeiten; denn im Einzelnen kann es durchaus sehr schwierig sein, diesen Sitz zu bestimmen. Das zeigt sich schon an der in Form einer BGB-Gesellschaft organisierten Anwaltskanzlei mit verschiedenen Büros in Deutschland. Hier ist schon zweifelhaft, ob die Kanzlei als solche oder aber die jeweiligen lokalen Büros die rechts- und parteifähige Gesellschaft darstellen. 34 Die Schwierigkeiten vergrößern sich, wenn es sich um eine international tätige Anwaltskanzlei handelt und damit eine internationalrechtliche Dimension hinzukommt. Dann stellt sich nicht zuletzt die Frage nach der Bestimmung des anwendbaren Rechts. Die Befürwortung einer Parteistellung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts erleichtert aber auch die Bezeichnung der Partei. Hierzu ist nun nicht mehr notwendig, dass sämtliche Gesellschafter benannt werden. Vielmehr muss nach den allgemeinen Grundsätzen des § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die Identität der Gesellschaft klar bestimmt werden können. Eine gewisse Schwierigkeit kann dabei bilden, dass die BGB-Gesellschaft eben nicht notwendigerweise unter einer Geschäftsbezeichnung auftritt und es keine Re29 S W. Luke ZGR 1994, 166, 278 ff, insbes 290; Göckeler aaO (Fn 15), S. 89 ff, 247 ff; Heller aaO (Fn 15), S. 113 ff, 244; Stein/Jonas/Bork § 62 Rn 18, 20 a. 30 Heller S. 201. 31 Stein/Jonas/Schumann § 12 Rn 24; zu den Ausnahmen: Spellenberg, ZZP 95 (1982), 17, 33 ff. 32 BGHZ 90, 155; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht, 15. Aufl 1993, § 38 I 3 (S. 187); Zöller/ VollkommerZPO, 22. Aufl 2001 § 36 Rn 14; aA dagegen Stein/Jonas/Schumann § 36 Rn 11. 33 MünchKommZPO/Lindacher, § 50 Rn 29 m w N , zur Gegenauffassung. 34 Zum Sitz s Kunz in: Sozietätsrecht, München 2000, § 2 Rn 28; er empfiehlt eine vertragliche Regelung bei überörtlichen Sozietäten.
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gister für solche Bezeichnungen gibt. Dies kann letztlich dann doch erfordern, dass die Gesellschafter benannt werden. Im Gegensatz zur Streitgenossenschaft 35 kommt es freilich nicht auf die Vollständigkeit der Aufzählung an, sondern deren „möglichst exakte" Bezeichnung. 3 6 In Übereinstimmung mit dem Bundesgerichtshof kann aber auch die Nennung der gesetzlichen Vertreter oder die Geschäftsbezeichnung zur Identifizierung der Partei beitragen. Für Aktivprozesse stellt diese Benennung ein zu bewältigendes Problem dar. Weit schwieriger ist es für die Passivprozesse der BGB-Gesellschaft. Insoweit kann auf die nachfolgenden Darlegungen verwiesen werden. 2. Kreis derpartei- und rechtsfähigen BGB-Gesellschaften Nicht eindeutig lässt sich der Kreis jener Gesellschaften bestimmen, die rechts- und parteifähig sein können. Hier stößt man auf die Schwierigkeit, dass es bislang keine in Rechtsprechung und Literatur allgemein akzeptierte Abgrenzung von Außen- und Innengesellschaft gibt. Der erste amtliche Leitsatz der Entscheidung des II. Zivilsenats hinterlässt eine gewisse Ratlosigkeit aufgrund der wenig hilfreichen Formulierung einer „(Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten . . . " begründe. O b damit zugleich eine Bestimmung der Außengesellschaft gegeben werden soll, erscheint fraglich. Die Auffassungen zur Außengesellschaft in Abgrenzung zur reinen Innengesellschaft sind sehr unterschiedlich. Teilweise wird das Fehlen von Gesamthandsvermögen als ein Kennzeichen der Innengesellschaft gesehen. Für andere ist das fehlende Auftreten der Gesellschaft nach außen allein maßgeblich. Schließlich gibt es Gegner jeglicher Differenzierung, ohne dass der Bundesgerichtshof dieser Ansicht gefolgt wäre. 3 7 Auf den Streit kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Die mit der Unterscheidung von Innen- und Außengesellschaft verbundene Unsicherheit sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht wird mit der vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung auf die Behandlung der Β GB-Gesellschaft als rechtsund parteifähige Personenvereinigung übertragen. 38 Aus der Sicht des Verfahrensrechts ist es dringend erforderlich, dass die Merkmale zur Abgrenzung der Innen- und Außengesellschaft in ihrer Anwendung möglichst einfach sind und ihr Vorliegen auch von Außenstehenden festgestellt werden kann. Dies lässt sich zwar in Anbetracht der fehlen" Hierzu GöckelerzzO (Fn 15) S. 93; aaO (Fn 15) S. 120; W Lüke ZGR 1994, 266, 281 mwN. Vgl auch BGH ZIP 2001, 330, 335. 37 Für einen Uberblick s MiinchKommBGB/ Ulmer § 705 Rn 208 ff; ausführlich zu dieser Abgrenzung Bälz FS Zöllner, 1998, S. 35ff. 38 Ausführlich hierzu Habersack BB 2001, 477, 478 f.
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den Registerpflicht von Gesellschaften bürgerlichen Rechts nur schwer erreichen, doch sollte sich die Abgrenzung an diesen - wegen der Parteifähigkeit auch prozessualen - Bedürfnissen zumindest orientieren. Knüpft man die Parteifähigkeit an diese Unterscheidung, so besteht ohne eine klare Abgrenzung die Gefahr einer für den Prozess abträglichen Unsicherheit. Nur mit einer einfachen Bestimmbarkeit der rechtsfähigen Außengesellschaft lassen sich mit der Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts die praktische Vereinfachungen erreichen, die vom II. Zivilsenat angestrebt werden.39 Der Bundesgerichtshof sieht dieses Problem durchaus und schlägt als prozesstaktisches Verhalten vor, dass der Kläger gegen eine Gesellschaft zugleich die Klage gegen sämtliche Gesellschafter erhebt. Es sei im Passivprozess „praktisch immer ratsam, neben der Gesellschaft auch die Gesellschafter persönlich zu verklagen"40. Für den Kläger sieht er damit den Vorteil verbunden, dass bei einer von ihm fehlerhafterweise angenommenen Außengesellschaft (mit Gesamthandsvermögen) nur diese Klage gegen die Gesellschaft abgewiesen werde, während die Gesellschafter aus gemeinschaftlicher Verpflichtung schuldeten (§ 427 BGB) und damit der Klage insoweit stattgegeben werde.41 Karsten Schmidt rät statt dessen zu einem anderen Vorgehen. „Optimale Strategie" dürfte sein, so führt er aus,42 wenn der Kläger in einem solchen Fall nur die Gesellschafter verklage. Habe diese Klage Erfolg, so könne der Kläger einschließlich der Kosten des Rechtsstreits gegen die Gesellschafter persönlich vorgehen, zudem aber auch nach § 736 ZPO in noch vorhandenes Gesellschaftsvermögen vollstrecken, wenn sich die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als eine mit solchem Vermögen ausgestattete Außengesellschaft erweise.43 Dieser Vorschlag überrascht, wenn man die ursprüngliche Zielrichtung bedenkt, die mit der Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts verfolgt wurde. Die Frage hängt eng mit dem Problem zusammen, welches Verhältnis zwischen der Haftung der Gesellschaft und jener der Gesellschafter besteht. Bislang hat die h. M. zumindest bei Ablehnung einer Rechts- und Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft zwischen Gesamthand- und Gesamtschulden unterschieden.44 Diese Differenzierung hat sich, und auch dies ist dem Urteil des II. Zivilsenats zu entnehmen, mit der Anerkennung RechtsfähigS o sub III. 1. BGH ZIP 2001, 330, 335. 41 Zustimmend Römermann DB 2001, 428, 429, auch um eine Zeugenstellung der Gesellschafter zu vermeiden. « Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 1001. 43 Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 1000. 44 Aber auch Befürworter einer Teilrechtsfähigkeit, wie etwa MünchKommBGB/ Ulmer § 714 Rn 23, befürworten eine solche Unterscheidung. 39
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keit der BGB-Gesellschaft erübrigt. 45 Nunmehr sind die Gesellschafter einer solchen Gesellschaft, sofern sie als solche in Anspruch genommen werden, Gesamtschuldner. Nach Auffassung des II. Zivilsenats besteht dagegen auch bei Annahme der Parteifähigkeit der Gesellschaft kein Unterschied zu der Situation, wie sie sich bei der bislang vom Gericht vertretenen Streitgenossenschaftslösung darstellte. 46 Auch hier sei zwischen der Klage gegen die Gesamthand (Gesamthandschuldklage) und die Gesellschafter (Gesamtschuldklage) unterschieden worden. O b der Senat damit seiner Auffassung über der Qualifikation der BGBGesellschaft gerecht wird, erscheint zumindest fraglich. Bei Annahme einer eigenen Rechtsfähigkeit ist, wenn man die Begriffe nicht völlig auflösen will, die Gesellschaft als solche Schuldner einer Verbindlichkeit und die auf Erfüllung dieser Schuld gerichtete Klage gegen sie zu richten. Dies wird vom II. Zivilsenat nicht anders gesehen. 47 Hierin liegt aber der maßgebliche Unterschied zu der vom Gericht bezeichneten „Streitgenossenschaftslösung". Verpflichtete waren in diesem Fall die Gesellschafter als solche, wenn auch in ihrer gesamthänderischen Bindung. An die Stelle der Gesamthandsschuldklage gegen die Gesellschafter tritt nach der nunmehr vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung die Klage gegen die Gesellschaft, ein von den Gesellschaftern zu unterscheidendes „Zuordnungsobjekt". Parteien des Verfahrens sind somit nach der nunmehrigen Lösung verschiedene Subjekte, die Gesellschaft und deren Gesellschafter. Nicht anders ist bei Ablehnung der Parteifähigkeit (aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen) das Verhältnis zwischen der Gesamthandsschuldklage und der Gesamtschuldklage der Gesellschafter zu beurteilen, wenn man mit der Trennung von Gesellschaftsvermögen und Gesellschaftervermögen ernst macht. 48 Zwar handelt es sich auf der Passivseite um identische Parteien, einmal werden die Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit verklagt, im anderen Fall nur in der weniger engen Verbindung als Gesamtschuldner, gleichwohl unterscheiden sich die Streitgegenstände. Der vom II. Senat vorgeschlagene Weg der Klage gegen die Gesellschaft ist somit nur dann erfolgreich, wenn es sich um eine Gesamtschuldklage handelt und es Absicht ist, ausschließlich in das Privatvermögen der Gesellschafter zu vollstrecken. Will der Kläger sowohl in das Privatvermögen der Gesellschafter als auch das Gesamthandsvermögen vollstrecken, bedarf es dagegen einer subjektiven Klagenhäufung, da die Gesellschafter in unterschiedlichen Rollen in Anspruch genommen werden. 49
« Vgl auch Karsten Schmidt NJW 2001, 939, 999. 4 6 BGH ZIP 2001, 330, 335, r Sp. 4 7 BGH ZIP 2001, 330, 336,1 Sp. 48 Hierzu s u sub II 3. 49 Heller S. 178 f.
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Zwischen der Klage gegen die Gesellschaft und der Gesamthandsschuldklage besteht ein Verhältnis der Alternativität, s o dass bei gleichzeitiger Erhebung der Klage zwingend eine der beiden Klagen abzuweisen ist. Dies lässt sich letztlich nur vermeiden, wenn die Gesamthandsschuldklage, nach d e m sich die Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts im Verfahren herausgestellt hat, entsprechend geändert wird. Die Streitgegenstände eines Verfahrens gegen die Gesellschafter mit der Begründung ihrer gesamtschuldnerischen H a f t u n g u n d jene eines Verfahrens gegen die Gesellschaft sind - jedenfalls wenn man der Auffassung des Bundesgerichtshofs folgt - somit verschieden. Inwieweit im materiellen Recht hier Gesamtschuldregeln entsprechende A n w e n d u n g finden können, wie v o m Bundesgerichtshof vorgeschlagen, 5 0 soll nicht weiter untersucht werden. Im Prozess sind Gesellschaft und Gesellschafter lediglich einfache Streitgenossen, 5 1 da die Verfahren einen unterschiedlichen A u s g a n g haben können. D e n Gesellschaftern stehen nämlich Einwendungen z u , die von der Gesellschaft möglicherweise nicht geltend gemacht werden können. Entsprechend ist damit auch die Frage der Rechtskraftwirkung eines Urteils gegen die BGB-Gesellschaft zu beantworten. Bei der O H G geht die h. M . von einer Erstreckung der Bindungswirkungen aus 5 2 als konsequente Fortsetzung der akzessorischen H a f t u n g im Prozessrecht. D a b e i ist im prozessrechtlichen Schrifttum streitig, ob es sich u m eine Rechtskrafterstreckung oder aber eine materielle Wirkungserstreckung handelt. 5 3 Der U m fang der Gesellschafterhaftung richtet sich nach jenem der Gesellschaft. Ein Urteil zu Gunsten der Gesellschaft wirkt danach auch zugunsten der Gesellschafter. 5 4 Soweit aber zu U n g u n s t e n der Gesellschaft entschieden wird, 5 5 nimmt ein solches Urteil den Gesellschaftern die Möglichkeit zu solchem B G H ZIP 2001, 330, 335. Heller S. 178. Hieran ändert sich auch nichts, dass bei einer (vollstreckungsrechtlich rechtswidrigen) Vollstreckung in Gesellschaftervermögen der Drittwiderspruchsklage des Gesellschafters gem. § 242 BGB der Einwand entgegengehalten werden könnte, der Gesellschafter habe ohnehin für die Verbindlichkeit einzustehen, da ihm persönliche Einwendungen nicht zustünden, s hierzu Habersack BB 2001, 477, 481 unter Bezug auf die entsprechende Problematik im Recht der O H G ; dazu Staub/Habersack Großkommentar z u m H G B , 4. Aufl, 17 Lieferung 1997, § 129 Rn 27; sowie Karsten Schmidt in: Schlegelberger, H G B , 5. Aufl, Bd III/l, 1992, § 129 Rn 25. 52 Vgl hierzu ausführlich S t e i n / J o n a s / I ^ o / ¿ § 325 Rn 92 ff m w N . ; M ü n c h K o m m Z P O / Gottwald § 325 Rn 60 f; wobei Gottwald diesen Fall aber nicht unter die akzessorischen Haftung ordnet. 53 Grundlage für die angenommene Rechtskrafterstreckung ist § 129 Abs 1 H G B ; s Stein/ J o n a s / L e i p o l d a a O (Fn 52); dies dagegen als materiellrechtliche Folgen deutend: Schack NJW 1988, 865, 870; vgl auch W. Lüke Die Beteiligung Dritter im Zivilprozess, 1993, S. 136 ff. 54 Stein/Jonas/Leipold a a O (Fn 52); Staub/Habersack § 129 Rn 10; Baumbach/Hopt, HGB 30. Aufl 2000, § 128 Rn 43; 129 Rn 7. 55 Leipold § 325 Rn 94; Habersack a a O (Fn 54) Rn 11; Baumbach/Hopt a a O (Fn 54). 50
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Vorbringen, das bereits der Gesellschaft möglich war. Persönliche Einreden können dagegen gleichwohl geltend gemacht werden. 5 6 Diese Bindungserstreckung ist mit Annahme der akzessorischen Haftung analog den Grundsätzen zur O H G für die BGB-Gesellschaft zu befürworten, wenn es sich um eine rechts- und parteifähige BGB-Gesellschaft handelt. 57 Diese Folge ist notwendigerweise mit der Übertragung der Haftungsregeln für die O H G gem. § 128 f. H G B - wie vom Bundesgerichtshof vertreten 58 - auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts verbunden. 3. Anwendungsbereich des § 736 ZPO Ein Kernproblem, 5 9 das sich bei der Annahme einer Rechts- und Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft stellt, liegt darin, den Anwendungsbereich des § 736 Z P O festzustellen. Wie bereits ausgeführt, wird von jenen Vertretern, die eine Rechts- und Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft ablehnen, diese Vorschrift als wesentliches Argument für ihre Auffassung angesehen. Die Vorschrift wird so verstanden, dass es zur Vollstreckung in das Gesellschaftsvermögen zwingend eines Titels gegen sämtliche Gesellschafter bedarf. 60 Vom Standpunkt der eher traditionellen Auffassung ist das konsequent. Wenn die BGB-Gesellschaft nicht rechtsfähig ist, das Gesellschaftsvermögen aber dem Zugriff der Gläubiger der BGB-Gesellschaft offen stehen muss, dann bedarf es eines solchen Titels. O b auch gemeinsame Privatgläubiger unter diesen Umständen in das Gesellschaftsvermögen vollstrecken dürfen, wird dagegen unterschiedlich beantwortet. 61 Uberwiegend wird wohl eine Vollstreckung in das Gesellschaftsvermögen nicht nur aus Gesamthandstiteln, sondern auch aus solchen gegen die Gesellschafter als Gesamtschuldner befürwortet. Es reiche aus, wenn mehrere Titel vorlägen, soweit sie auf einen einheitlichen Rechtsgrund beruhten. 6 2 Von der Gegenauffassung wird ein Titel gegen die Gesellschafter als Gesamthandsschuldner verlangt. Dabei wird bei Gesamtschulden teilweise die Vollstreckung zunächst zugelassen, und den Gesellschaftern auferlegt, klageweise einzuwenden, dass das Gesellschaftsvermögen in Anbetracht eines GesamtLeipold§ 325 Rn 93; HabersackaaO (Fn 54) Rn 12; Baumbach./HoptzzO (Fn 54) Rn 6. Für eine einheitliche Anwendung der entsprechenden Regelungen bei der GbR auch Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 994; Blenske, NJW 2000, 3170, 3174; Habersack, BB 2001, 477, 480. 58 BGH ZIP 2001, 330, 336. 59 AA Karsten Schmidt NJW 2001, 993, 997 - („Nebenkriegsschauplatz"). 60 Stein/Jonas/Münzberg § 736 Rn 1 ; MünchKommZPO//ie/?/er § 736 Rn 1; Schuschke/ Walker § 736 Rn 1; Zöüer/Stöber § 736 Rn 1 -, Rosenberg/Gaul/Schilken aaO (Fn 9), § 19 I 1 (S. 313 ff); Jauernig aaO (Fn 10) § 5 II 1 (S. 30 f). 61 S hierzu den Uberblick über den Meinungsstand in MünchKommZPO///