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German Pages 1716 Year 2011
Schriften zum Strafrecht Heft 215
Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Hans-Ullrich Paeffgen, Martin Böse, Urs Kindhäuser, Stephan Stübinger, Torsten Verrel und Rainer Zaczyk
Duncker & Humblot · Berlin
H.-U. Paeffgen, M. Böse, U. Kindhäuser, St. Stübinger, T. Verrel und R. Zaczyk (Hrsg.)
Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion
Schriften zum Strafrecht Heft 215
Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Hans-Ullrich Paeffgen, Martin Böse, Urs Kindhäuser, Stephan Stübinger, Torsten Verrel und Rainer Zaczyk
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Mercedes-Druck, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-13211-9 (Print) ISBN 978-3-428-53211-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83211-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Ingeborg Puppe wurde am 11. Januar 1941 in Lodz (damals: Litzmannstadt) geboren. Ihr Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Gymnasiallehrerin (u. a. für Mathematik); eine Zukunft in der Verbindung von Jurisprudenz, Pädagogik und Logik war ihr also gewissermaßen in die Wiege gelegt. 1960 bestand sie in Bremen das Abitur und studierte anschließend vom Wintersemester 1960/61 bis zum Sommersemester 1965 Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg, wobei sie sich besonders von den Strafrechtslehrern Gallas und Lackner beeindruckt zeigte. Im Dezember 1965 legte sie die erste juristische Staatsprüfung vor dem Justizprüfungsamt Baden-Württemberg mit Prädikat ab, ebenso im August 1970 die zweite Staatsprüfung vor dem gemeinsamen Prüfungsamt der Länder Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein. Während der Referendarzeit hatte sie sich eineinhalb Jahre beurlauben lassen, um ihre Dissertation anfertigen zu können. 1970 promovierte sie dann in Heidelberg mit einer von Karl Lackner betreuten Arbeit, die in erweiterter Form 1972 im Druck erschien: „Die Fälschung technischer Aufzeichnungen“. Diese Arbeit ist noch heute das wissenschaftliche Standardwerk zur Norm des § 268 StGB. Ab dem 1. März 1971 war sie Assistentin bei Karl Lackner in Heidelberg und wurde dort 1977 mit der Arbeit „Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen“ habilitiert. Ihr wurde die venia legendi für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie verliehen. Noch im gleichen Jahr erhielt sie den Ruf auf eine Professur für Strafrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und wurde zum 1. Oktober 1977 als Professorin ernannt. Bis zu ihrer Pensionierung zum Ende des Wintersemesters 2005/2006 hat sie an dieser Universität gewirkt. Dieses Wirken als Hochschullehrerin bedeutete für Ingeborg Puppe immer beides: Forschung und Lehre. Groß ist die Zahl ihrer Veröffentlichungen – wovon das am Schluss des Bandes abgedruckte Schriftenverzeichnis zeugt –, weitgespannt sind die Themen, und stets spricht ein analytisch geschultes Denken höchst selbständiger Art aus ihnen. Dabei scheute sie sich nicht, anspruchsvolle Fragen in ironischer Themenstellung und -bearbeitung abzuhandeln.1 Unter ihren Hauptarbeiten seien nur ihre Lehrbücher, ihre Methoden1 Etwa: Der Umgang mit Gegenmeinungen, JuS 1998, 287; oder: Besorgter Brief an einen künftigen Strafrechtswissenschaftler, GA 1999, 409; oder: Gespräch in einem Wartezimmer über die Macht und die Wissenschaft, Festschrift für E. A. Wolff, Berlin/
VI
Vorwort
lehre und ihre Mitherausgeberschaft bei der ersten Auflage des Nomos-Kommentars zum StGB genannt. Durch ihre dortigen Kommentierungen im Allgemeinen wie im Besonderen Teil bis in die dritte Auflage hinein hat sie ganz wesentlich zu dem Renommee des Werkes beigetragen. Ihre Lehrbücher veranschaulichen, exemplarisch von Judikaten ausgehend, wie man – auf gehobenem Niveau – mit Sachproblemen und Argumenten umgehen sollte, und sind insofern keineswegs nur eine lohnende Lektüre für Studenten, sondern eine analytische Kritik der jeweiligen Urteile und von deren Rezeption in der Wissenschaft. Und ihre bescheiden daherkommende „Kleine Schule des juristischen Denkens“ ist eher eine Hohe Schule juristischer Methodik. Es nimmt daher nicht wunder, dass zahlreiche ihrer Abhandlungen in fremde Sprachen übersetzt wurden. Sie hatte – und hat – intensive wissenschaftliche Kontakte nach Griechenland, Japan und Taiwan, aber auch in den iberischen und den ibero-amerikanischen Raum, was sich in zahlreichen Gastvorträgen an dortigen Fakultäten widerspiegelt. Mit gleichem unbedingtem Einsatz wie in ihren Schriften hat Ingeborg Puppe auch ihre Arbeit in der Lehre ausgeübt. Um zu beschreiben, wie sie die Lehre an der Universität verstand, braucht man sich nicht um eigene Worte zu bemühen, sondern kann Ingeborg Puppe selbst sprechen lassen. Sie hat diese Seite des akademischen Wirkens eines ihrer Lehrer, Wilhelm Gallas, in einer Weise dargestellt, die sich gut auch als Selbstbildnis deuten lässt. In ihrem Beitrag zur Gedächtnisfeier für Gallas („Wilhelm Gallas als akademischer Lehrer“) schreibt sie etwa: „Gallas dachte hoch von seinen Studenten. Für ihn war ein Student nicht nur einer, der gerade damit beschäftigt war, sich die allernötigsten Kenntnisse und Fähigkeiten für seine künftige Karriere anzueignen, oder gar nur für die nächste fällige Prüfungsleistung, sondern zunächst und ganz selbstverständlich einer, der ausgezogen war, für sich – und so gut er konnte – die Welt verstehen zu lernen, mindestens die Welt seines künftigen Wirkungskreises.“ Oder: „Auch jene Simplifikationen, die man heute als Hochschuldidaktik empfiehlt, lehnte Gallas als eines Studenten im Grunde unwürdig ab.“ Und schließlich zitiert sie in diesem Text den folgenden Satz Max Webers, der in seinem bekannten Aufsatz über die Wissenschaft als Beruf formuliert: „Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, dass das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.“
Heidelberg, 1998, S. 417; oder: Zur Falschbeurkundung sprachlicher Fähigkeiten, JR 2001, 519; oder: Eine Strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt – Replik auf Rotsch, ZIS 2008, 67; Anmerkungen zur Befreiung des Strafrechts vom ökonomistischen Denken, Festschrift für Jörg Tenckhoff, ZIS 2010, 216.
Vorwort
VII
Angesichts der vielen und von ihr stets mit Leidenschaft geführten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die Ingeborg Puppe in ihrem Leben durchfochten hat, musste man ein wenig in Sorge sein, dass sich das etwas dämpfend auf die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen auswirken würde, an dieser Festschrift mitzuarbeiten. Den Beweis, dass diese Befürchtung grundlos war, erbringt der vorliegende, wahrlich fulminante Band. So ehrt die Strafrechtswissenschaft als Wissenschaft mit dieser Festschrift Ingeborg Puppe – und zugleich letztlich sich selbst. Ihre eindrucksvolle Art, zu denken und dies zu vermitteln, hat zahlreiche kluge junge Studierende in ihren Bann gezogen. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass sie vielen auch als zu anspruchsvoll und zu anstrengend erschien. Wer sich jedoch auf ihren fordernden, aber eben auch fördernden Lehrstil einließ, wurde reich belohnt. Zahlreiche Promovenden haben ihre „Lehre“ bei ihr durchlaufen und, durch ihr eigenes Engagement und Puppes unerbittliches Nachbohren getrieben, schöne Arbeiten in die Welt gesetzt. Wer Ingeborg Puppe kennenlernt, registriert notwendigerweise ihre starke Sehbehinderung. Während andere Kolleginnen und Kollegen mit einem Bündel von Seiten zur Vorlesung oder zum Vortrag antreten, kommt sie allenfalls mit einem kleinen Zettel, auf dem ein paar Fundstellen stehen. Diese unerhörte Konzentrationsleistung nötigt jedem Bewunderung ab, insbesondere wenn er dabei Zeuge eines inhaltlich so dichten Vortrags wird, wie etwa ihres Beitrags auf der Salzburger Strafrechtslehrertagung.2 Mit lang anhaltendem, stehend dargebrachtem Beifall reagierte die Zunft seinerzeit auf dieses eindrucksvolle Erlebnis. Deswegen dürfte es jeden, der Ingeborg Puppe nicht näher kennt, verwundern, zu hören, dass sie eine leidenschaftliche – und gute – Sportlerin ist: Sie fährt Ski, taucht, rudert, wandert mit Begeisterung. Ersteres tut sie mit einer Rasanz, dass man nicht glauben mag, von einer Sehbehinderung gehört zu haben. Vielen Bonner Jura-Adepten dürfte der Anblick einer im Nerzmantel gewandeten, einen Rucksack auf dem Rücken tragenden und mit schneller Fahrt auf einem „Cityroller“ (klappbarem Tretroller) des Weges entlangrauschenden Professorin zunächst verblüffend erschienen, aber alsbald wohl vertraut geworden sein. Über ihre Pensionierung hinaus hat sie weiterhin engagiert Vorlesungen abgehalten, in denen sie gerade die Wissbegierigen unter den Studentinnen und Studenten in die höheren Sphären des strafrechtlichen und methodischen Denkens entführt hat.
2 Die Beziehung zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, ZStW 99 (1987), 595.
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Vorwort
So wünschen wir als Kollegen – mit den anderen Autorinnen und Autoren – ihr noch lange gute Gesundheit und Schaffenskraft, auf dass wir noch manchen scharfsinnigen Beitrag aus ihrer Feder zu lesen bekommen und noch oft mit ihr die wissenschaftliche Klinge kreuzen können: Ad multos annos (in sanitate)! Bonn, im Januar 2011
Martin Böse, Urs Kindhäuser, Hans-Ullrich Paeffgen, Stephan Stübinger, Torsten Verrel, Rainer Zaczyk
Inhaltsverzeichnis I. Rechtsphilosophie Nikolaos Bitzilekis Sicherheit und Freiheit durch das Strafrecht. Ein „nicht juristischer“ Ansatz zu einem „juristischen“ Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Joachim Hruschka Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Urs Kindhäuser Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Klaus Lüderssen Spontaneität und Freiheit – neue Aspekte moderner Hirnforschung für Strafrecht und Kriminologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Wolfgang Schild „Das Recht erhält die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen“. Zu Hegels Theorie der Strafrechtsinstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
II. Rechtstheorie und Methodenlehre Volker Haas Methodische, rechtstheoretische und materiell-rechtliche Anmerkungen zum normativen bzw. unbestimmten Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Hans Joachim Hirsch Der Umgang des Gesetzgebers mit dem StGB und die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Berichtigung unterlaufener gesetzestechnischer Fehler. Über den Niedergang der deutschen Strafgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Hans Kudlich „Regeln der Grammatik“, grammatische Auslegung und Wortlautgrenze . . . .
123
Georg Küpper Auslegung und Methode. Ein Versuch, systematisch zu denken . . . . . . . . . . . . .
137
Reinhard Merkel Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Ingeborg Puppes Lehren dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
Ulfrid Neumann Regel und Sachverhalt in der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik . . . . . . . . . . . . .
171
X
Inhaltsverzeichnis
Lothar Philipps Auf die Entsprechung kommt es an! Die Logik der je/desto-Sätze im Recht . .
189
Joachim Renzikowski Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Uwe Scheffler Von Pilzen, die keine Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von Walen, die Fische sind. Zu biologischer Fachsprache und Wortsinngrenze im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Bernd Schünemann Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz. Am Beispiel der verfassungsfeindlichen Sabotage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Stephan Stübinger „Subjektiv-objektive“ Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
Friedrich Toepel Hinreichende Mindestbedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
Rainer Zaczyk Strafrecht in Universität und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
III. Rechtsgeschichte Heribert Ostendorf Zur Erinnerung: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1974–1984) . . . . . . . . .
325
IV. Strafrecht – Allgemeiner Teil Karsten Altenhain Vorbedingungen der Tatbestandsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
Klaus Bernsmann Irrtum und Amtsträgerbegriff (i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB) . . . . . . . . . . . .
361
Nikolaus Bosch Die Hypothese rechtmäßigen Verhaltens bei psychisch vermittelter Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
373
José de Faria Costa Die Analyse der Formen oder die Analyse der Deliktsformen, insbesondere des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
391
Jorge de Figueiredo Dias Betrachtungen zur Konkurrenzlehre im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Wolfgang Frisch Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425
Inhaltsverzeichnis
XI
Helmut Frister Gibt es keine unechten oder keine reinen Amtsdelikte? Zugleich ein Beitrag zur „Ehrenrettung“ des § 28 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
451
Sabine Gless „. . . hebt die Zeit sich selber auf “ – Strafverfolgung in Spätschadensfällen . . .
467
Walter Gropp Schuldhaftigkeit und Schuld – „allzu leicht verführt die Sprache das Denken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
Rolf Dietrich Herzberg Entlastung des Täters durch freiverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
Andreas Hoyer Wozu brauchen wir eine fahrlässige Mittäterschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515
Yu-An Hsu Die Lehre von der Vorsatzgefahr und dolus indirectus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
Günther Jakobs Mittäterschaft als Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547
Jan C. Joerden Anstiftung als Aufforderung zu freiverantwortlichem deliktischem Verhalten . .
563
Michael Kahlo Überlegungen zum objektiven Zusammenhang zwischen Grunddelikt und qualifizierender Folge bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten . . . . . .
581
Diethelm Klesczewski Die Grundformen beteiligungsdogmatischer Systembildung. Ein Streifzug durch Europa in kritischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
613
Detlef Krauß y „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
635
Kristian Kühl Strafrecht und Moral in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
653
Lothar Kuhlen Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
669
Heiko Lesch Zur Amtsträgereigenschaft der Aufsichtsräte von kommunalen Gasversorgungsbetrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
685
Manfred Maiwald Die Krise der Tatbestandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
695
Juan Pablo Mañalich R. Die Struktur der mittelbaren Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
709
Wolfgang Mitsch Überindividuelle Rechtsgüter und aberratio ictus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
729
XII
Inhaltsverzeichnis
Carsten Momsen Der „Compliance-Officer“ als Unterlassensgarant. Ein neues Zurechnungsmodell oder ein weiterer Schritt auf dem Weg der Evaporation von Zurechnungsparametern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
751
Uwe Murmann Zur Einwilligungslösung bei der einverständlichen Fremdgefährdung . . . . . . .
767
Hans-Ullrich Paeffgen Rücktrittshorizont vs. fehlgeschlagener Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
791
Cornelius Prittwitz Risikovorsatz und Vorsatzgefahr. Zum Verständnis und zur strafrechtlichen Relevanz des Verdrängens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
819
Henning Radtke Objektive Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht bei Mitwirkung des Verletzten und Dritter an der Herbeiführung des Erfolges . . . . . . . . . . . . . . . . . .
831
Rudolf Rengier Die Zurechnung von einzelnen objektiven Tatbeiträgen gemäß § 25 Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
849
Klaus Rogall Bemerkungen zum Versuch der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
859
Thomas Rotsch „Gemeinsames Versagen“. Zu Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
887
Claus Roxin Der Verunglückte und Unglück bewirkende Retter im Strafrecht . . . . . . . . . . .
909
Frank Saliger Public Private Partnership und Amtsträgerstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
933
Horst Schlehofer „Pflichtwidrigkeit“ und „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ als Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen? Insbesondere zur Frage des Unrechtsausschlusses bei hypothetischer Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
953
Kay H. Schumann Der Täter und sein Opferwerkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
971
Jesús-María Silva Sánchez Identität und strafrechtliche Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
989
Bernd-Rüdeger Sonnen Systematisierung der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 Günter Stratenwerth Einverständliche Fremdgefährdung bei fahrlässigem Verhalten . . . . . . . . . . . . . 1017 Franz Streng Der Eintritt der Regelwirkung in Versuchskonstellationen. Ein Beitrag zum Umgang mit den „besonders schweren Fällen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025
Inhaltsverzeichnis
XIII
Carl-Friedrich Stuckenberg Zur Erfolgszurechnung in den „Verfolgerfällen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039 Ulrich Weber Zu den Grenzen des strafrechtlichen Denkens in Rechtsmäßigkeitsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059 Gerhard Wolf Kriminelles Versehen? Verbrecherische Unaufmerksamkeit? Die bloß objektive Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist de lege lata nicht strafbar! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067
V. Strafrecht – Besonderer Teil Jörg Eisele Fälschung beweiserheblicher Daten bei Anmeldung eines eBay-Accounts unter falschem Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091 Volker Erb Die Unvereinbarkeit der „Zufallsurkunde“ mit einem dogmatisch konsistenten Urkundenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 Thomas Fischer Störung des Öffentlichen Friedens (§ 130 Abs. 4 StGB): Strafwürdigkeit als Tatbestandsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119 Tatjana Hörnle Wider das Dogma vom Finalzusammenhang bei Raub und sexueller Nötigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143 Walter Kargl Aussageerpressung und Rettungsfolter. Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen des Menschenwürdeschutzes im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163 Rainer Keller Strafbare Untreue und Gemeinwohlbindung von Gesellschaftsvermögen . . . . . 1189 Ralf Krack Sind Bestellungen zu Belästigungszwecken eine Betrugskonstellation? . . . . . . 1205 Wilfried Küper Die „täuschende Warnung“: eine Drohung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 Klaus Letzgus Strafrechtliche Bekämpfung der Zwangsheirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1231 Harro Otto Dolus eventualis und Schaden bei der Untreue, § 266 StGB . . . . . . . . . . . . . . . 1247 Andreas Ransiek Aussteller einer Urkunde und Täter der Falschangabedelikte . . . . . . . . . . . . . . . 1269
XIV
Inhaltsverzeichnis
Detlev Sternberg-Lieben Strafbarkeit nach §§ 222, 229 StGB durch Rauschgiftüberlassung an freiverantwortlichen Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 Frank Zieschang Das Mordmerkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1301 Jan Zopfs Täterschaft und Teilnahme bei der Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323 Gabriele Zwiehoff Untreue und Betriebsverfassung – Die VW-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1337
VI. Nebenstrafrecht, insbesondere Medizinstrafrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht Martin Böse Vorsatzanforderungen bei Blankettgesetzen am Beispiel des Kartellrechts . . . 1353 Dieter Dölling Zur gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1365 Karl Heinz Gössel Verkauf und Erwerb unrechtmäßig erworbener Daten sowie deren Verwertbarkeit im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1377 Heike Jung Das Übernahmeverschulden als Regulativ im ärztlichen Feld . . . . . . . . . . . . . . 1401 Jürgen Seier Zur Lockerung der Akzessorietät in § 14 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411 Ulrich Stein Alkoholverbot für Fahranfänger und Fahranfängerinnen. Zur Gesetzgebungspraxis im Ordnungswidrigkeiten- und Straßenverkehrsrecht am Beispiel von § 24c StVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1425
VII. Internationales und Europäisches Strafrecht sowie Völkerstrafrecht und Europarecht Manuel Cancio Meliá Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im spanischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1449 Michael Köhler Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1461 Claus Kreß und Nikolaos Gazeas Europäisierung des Vereinigungsbegriffs in den §§ 129 ff. StGB? Einige Gedanken zur neueren Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1487
Inhaltsverzeichnis
XV
Bernd Müssig und Frank Meyer Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Bundeswehrsoldaten in bewaffneten Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1501 Dionysios Spinellis Bombardierung mit abgereichertem Uran: Ein Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1529
VIII. Allgemeines Prozessrecht und Strafprozessrecht Hans Dahs Zeugenbeistand zwischen Strafvereitelung und Parteiverrat . . . . . . . . . . . . . . . . 1545 Klaus Ferdinand Gärditz Gerichtliche Feststellung genereller Tatsachen (legislative facts) im Öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1557 Uwe Hellmann Straf- und zivilprozessrechtliche Konsequenzen der „elektronischen Aktenführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579 Henning Rosenau Plea bargaining in deutschen Strafgerichtssälen: Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe am Beispiel der Absprachen im Strafverfahren betrachtet . . . 1597 Torsten Verrel Selbstbelastungsfreiheit und Täuschungsverbot bei verdeckten Ermittlungen . . 1629
IX. Verfassungsrecht Felix Herzog Strafrecht, Armut und soziale Gerechtigkeit. Eine kriminalpolitische Bußpredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1647 Eric Hilgendorf Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde . . . . . . 1653 Brigitte Kelker Grundfragen eines Zusammenhangs zwischen Menschenwürde und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1673 Veröffentlichungen von Ingeborg Puppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1691
I. Rechtsphilosophie
Sicherheit und Freiheit durch das Strafrecht Ein „nicht juristischer“ Ansatz zu einem „juristischen“ Problem Von Nikolaos Bitzilekis I. Es wird heute nur über wenige Begriffe so ausführlich und lebhaft diskutiert wie über den Begriff der Sicherheit und der Freiheit. Die Meinungen, die dabei über den Sinn und den Inhalt dieser Begriffe geäußert werden, weisen eine eindrucksvolle Vielfalt auf. Parallele Monologe und konstruktive Dialoge, die endlos dauern, zeigen die Bandbreite dieses Problems. Was heißt eigentlich Freiheit? Was heißt eigentlich Sicherheit? Was ist die Sicherheit im Gegensatz zur Freiheit? Welches Maß an individueller Freiheit soll hergegeben werden, um die erwünschte Sicherheit zu erzielen? Ferner noch: Wann wird Freiheit durch Strafrecht geschützt und wann wird sie durch zu viel Strafrecht bedroht? Welche Risiken sollen wir überhaupt hinnehmen? Und wirkt eigentlich unsere Risikobereitschaft im Falle einer Umweltverschmutzung oder einer Datenverarbeitung anders als im Falle einer terroristischen Bedrohung? Wo liegen die Grenzen zwischen Toleranz und Bedrohung und wann ist die Rede von neuartigen und veränderten Gefährdungs- und Bedrohungssituationen1, welche zur Unsicherheit führen und die Verschärfung des Präventionsstaates rechtfertigen können? Zu diesen grundlegenden Fragen wird immer noch nach einer geeigneten Antwort gesucht. Wo liegt sie eigentlich? Spricht man heute von Sicherheit, so kann die Rede von unterschiedlichen Erscheinungsformen der Sicherheit sein. Man kann z. B. auf die „öffentliche Sicherheit“, auf ein kollektives Rechtsgut im Sinne einer territorial oder sozial definierbaren Einheit hindeuten, die weiterhin als innere oder äußere Sicherheit des Staates begriffen werden kann und die sowohl den Bestand als auch die Funktion des Staates betrifft. Außer der staatlichen Sicherheit, die dem Staatsschutzrecht angehört, ist die Sicherheit als überindividuelles Rechtsgut durch das Strafrecht in verschiedenen speziellen Bereichen des öffentlichen Lebens anerkannt, wie z. B. die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweisverkehrs, des Straßen- oder Geldverkehrs, oder der Verhaltensstandards im Wettbewerb. 1 Wobei es noch der Abklärung bedarf, ob es sich hier um konkrete Gefahren oder diffuse Risiken handelt. Anhand welcher Kriterien lassen sich z. B. der Begriff und das Maß der terroristischen Gefahr oder der organisierten Kriminalität bestimmen?
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Der Begriff der Staatssicherheit ist aber eng mit dem Wesen des Staates verbunden, um dessen Sicherheit es hier auch geht. Sowohl nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag von Thomas Hobbes2 als auch nach der Lehre von John Locke3 wird ein Teil der individuellen Freiheit aufgegeben und an den Staat übergeben, um Sicherheit sowohl gegenüber Gefahren, die von außen auf das Gemeinwesen als auch von innen gegenüber gewaltsamen Aktionen, die sich im Kampf um Macht gegen die Bürgerfreiheit richten, zu gewährleisten. Das Sicherheitsversprechen des Staates an den Bürger scheint daher ein wichtiges Wesenselement seiner Legitimationskraft und seiner Aufgaben zu sein. Ist der Staat weiterhin ein Wohlfahrtsstaat, so kann man auch von sozialer Sicherheit sprechen, von Gewährleistung von sozialen Rechten, wie z. B. dem Arbeits-, Ausbildungsoder Fürsorgerecht. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit ändert sich also mit der Entwicklung vom repressiven Polizeistaat zum liberalen oder demokratischen sozialen Rechtsstaat. Im letzten Fall bezieht sich die Sicherheit hauptsächlich auf ein System der Garantien und des Schutzes von Interessen und Freiheiten der Bürger, mit anderen Worten auf den objektiven institutionellen Funktionsrahmen des Rechtsschutzes.4 Sicherheit ist somit hier gleichbedeutend mit der Gewährleistung der Freiheit. Wenn ein ethisch stark akzentuiertes Unwerturteil über das unter Strafe gestellte Verhalten vorausgesetzt wird, sind die Bürgerfreiheiten ein Bestandteil dieses strafrechtlich geschützten ethischen Kernbereiches. Nach der so genannten personalen Rechtsgutslehre dient das Strafrechtssystem ausschließlich dem Schutz menschlicher Interessen.5 Auf der selben Ebene der Garantien der Grundfreiheiten bewegt sich auch die Rechtssicherheit, die sich sowohl auf die deutliche Kenntnis des normativen Rahmens als auch auf die klare Definition seiner Grenzen bezieht und die dem Bürger erlaubt, sein Verhalten gegenüber dem Gesetz zu bestimmen und gleichzeitig die Richtigkeit und die Stabilität der Rechtsanwendung und der Justizgewährung garantiert. Das System der Rechtsanwendung, sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht, ist dasjenige, welches die Rechtssicherheit gewährleistet. Rechtssicherheit ist hier von unabdingbarer Relevanz jeder Rechtsstaatlichkeit. 2 Leviathan. Erster und zweiter Teil. Philipp Reclam Jun.; Stuttgart (1998), S. 155, 187 ff. 3 Zwei Abhandlungen über die Regierung, Übersetzt von Hans Jörg Hoffmann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1977, II § 19, 123. Es bleibt hier irrelevant, ob durch die Staatsbildung ein Kriegzustand aller gegen alle nach der Hobbes’schen Lehre aufgehoben wird oder ein Naturzustand des Friedens und des Wohlstandes nach der Lock’schen Lehre bewahrt wird. 4 Ob die Sicherheit in diesem Sinne ein Grundrecht darstellt oder nicht, ist eine andere Frage, deren vertiefter Behandlung es hier nicht bedarf. Dazu siehe u. a. die Monografien von Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987. Vgl. hierzu auch Hassemer, Polizei im Rechtsstaat, in: Festschrift für Mangakis, 1999, S. 633. 5 Zu diesen personalen Rechtsgutskonzepten vgl. z. B. Hassemer/Neumann, in: Nomos Kommentar zum StGB3, 2010, vor § 1 Rdn. 131 ff.
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Mit dem System des Rechtsgüterschutzes steht weiterhin das Unsicherheitsoder Bedrohungsgefühl in Zusammenhang, d.h. die Angst, die die Bürger wegen mangelnder Wirksamkeit dieses Schutzes fühlen (Gesetzes- oder Vollzugsdefizit). Eine andere Form von psychologischer Sicherheit ist das Vertrauen der Bürger in das Funktionieren einer sozialen Institution oder einer institutionalisierten Tatsache, wie z. B. des Kapitalmarktes, der Börse oder des Kreditverkehrs. Dieses ist ein wichtiges Wesenselement der Funktionsfähigkeit dieser Institutionen und stellt daher ein integraler Rechtsgutsbestandteil dar.6 Das Sicherheits- oder Unsicherheitsgefühl, die so genannte psychologische Sicherheit, stellt allerdings nicht immer das Ergebnis der objektiven Sicherheit dar. Es kann wohl vorkommen, dass das Unsicherheitsgefühl politisch manipuliert oder instrumentalisiert wird. Es kann aber auch vorkommen, dass sich die Bürger – trotz der Existenz und des Funktionierens faktischer Garantien für die Gewährleistung der Bürgerrechte – unsicher fühlen, wenn sie sich etwa in Verwirrung über die moralischen Konstanten und Wertvorstellungen befinden, die dem Leben Orientierung und Vision geben. Im letzten Fall würde man von einer ethisch-geistigen Unsicherheit sprechen. Wie steht nun diese Sicherheit der Freiheit gegenüber? Man betrachtete einst Sicherheit und Freiheit als Kontrahenten. Dies führte zu dem bekannten Dilemma, welcher der beiden Begriffe den Vorrang genießen sollte, oder problematischer noch, wie man einen Ausgleich zwischen den beiden Begriffen schaffen wollte. Die so genannten liberalen Stimmen votierten für die Freiheit und lehnten jede Einschränkung der Freiheit, die angeblich auf Sicherheitsgründen beruhte, ab als sie argwöhnisch feststellten, dass diese Sicherheitsbedürfnisse oft als bloßer Vorwand für den Abbau von Garantien und Grundfreiheiten dienten. Auf der anderen Seite ist seit den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Tendenz zu spüren, die Sicherheit – unter dem Druck ständiger Unsicherheit – eher auf Kosten der Freiheit herzustellen. Am Strafrecht konnte man besonders deutlich erkennen, wie eine Gesellschaft dieses Verhältnis von Sicherheit und Freiheit gestaltet. Die Ausdehnung der verbotenen Bereiche, die Straferhöhung, die Vorfeldkriminalität oder die Vorfeldermittlungen und allgemein die Verschärfung des strafrechtlichen Instrumentariums sollten der Sicherheitsverstärkung dienen. Fraglich bleibt aber dennoch, ob sie den Bürgern letztendlich mehr Sicherheit bieten konnten. Weder die absolute Sicherheit noch die absolute Freiheit können Ziele eines Rechtsstaates sein, soweit das eine nur durch die Einschränkung des anderen erreicht werden kann. Die Sicherheit im Sinne des staatlichen Schutzes der Güter
6 Dass die Vertrauenskomponente bei sozialen Institutionen eine das Rechtsgut konstituierende Komponente ist, siehe z. B. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 313 ff.; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, Bd. 1 Allgemeiner Teil, 1976, S. 85, 239.
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und der Bürgerfreiheiten ist nicht das Ergebnis einer rohen Repression, einer blinden Gewalt. Sie ist im Gegenteil in einem Rechtssystem eingegliedert und hat aus diesem Grund einen rationalen Charakter. Sie ist existenziell, solange sie nötig ist, um folgendem Zweck ihre Dienste zu erweisen: den Schutz von Rechtsgütern, d. h. bestimmten Lebensbeziehungen und -bedürfnissen durch die Verhütung sozialschädlicher Handlungen. Daher kann sie nicht jenseits des notwendigen Maßes funktionieren.7 Strafe, die sich nicht am Gewicht der begangenen Tat und dem Ausmaß der Schuld orientiert, entspricht nicht der Aufgabe des Strafrechts, d.h. der Gewährleistung eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens. Weitere Sicherheitsbedürfnisse können nicht mit dem Mittel der Strafe befriedigt werden.8 Die Erhöhung der Schutzmaßnahmen, die Förderung und Erweiterung der polizeilichen und strafrechtlichen Repression sowie die Verfolgungsintensität dienen nicht der Sicherheit, sondern im Gegenteil erschüttern sie und führen zu ihrer Vernichtung. Sie führen mit anderen Worten zu genau entgegengesetzten Ergebnissen als denjenigen, die sie verfolgen, die der Respekt von Rechtsgütern und die Verhütung von deren Beeinträchtigung sind. Der inflationäre Einsatz des Strafrechts gewährleistet keine Effektivität des Rechtsgüterschutzes, sondern im Gegenteil er untergräbt sie.9 Es gibt viele wohlbekannte und lehrreiche Beispiele von Gesetzen, die wegen der übermäßigen und unverhältnismäßigen Sanktionen, die sie einführen, nicht reibungslos angewendet werden können. Man würde daher sagen, dass die unverhältnismäßige Repression sowohl zur Nichtanwendung der Rechtsregeln und -maßnahmen als auch zu ihrer Ablehnung durch die Gesellschaft führt. Indessen setzt die Freiheit ebenfalls die Sicherheit voraus, die den Schutz des Bürgers vor den Missbräuchen jedes Machtverhältnisses, jeder Gewaltform oder Unterdrückung, garantiert. Es soll hier nicht nur an das Staat-Bürger Machtverhältnis gedacht werden, sondern auch an jedes Machtverhältnis, das sich auf eine willkürliche Weise im Rahmen der sozialen und finanziellen Ungleichheiten entwickelt und zwar nicht nur auf nationaler sondern auch auf übernationaler Ebene, auf der in jüngster Zeit die neue Praxis der internationalisierten Transaktionen, der globalen Börsenmärkte und des schnellen Eindringens der globalen Kommunikationsnetze oder der privaten Datenverarbeitung optimale Bedingungen für die Entwicklung nichtstaatlicher und institutionell schwer kontrollierbarer Macht7 Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, HRRS 2006, 130, 143, spricht hier von einem „rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrecht“ i. S. einer gerechten und angemessenen Antwort auf Unrecht und Schuld. 8 Vgl. etwa Frisch, Sicherheit durch Strafrecht, in: Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 672, 673. 9 Sie ist nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich. Vgl. Schünemann, Die Zukunft der Viktimo-Dogmatik: die viktimologische Maxime als umfassendes regulatives Prinzip zur Tatbestandseingrenzung im Strafrecht, Festschrift fur Hans Joachim Faller, 1984, S. 358; Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten I, 1975, S. 244 ff.; Kaiser, Verkehrsdeliquenz und Generalprävention, 1970, S. 10 ff.
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zentren schafft. Als Sicherheit soll also die Garantie und der Schutz unserer Freiheiten gegenüber jeder Art der Unterdrückung und der Gewaltausübung, jeder Art des Missbrauchs einer führenden Stelle verstanden werden. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Unterdrückung in der staatlichen Willkür oder in dem zügellosen gesellschaftlichen Antagonismus liegt – der zur sozialen Ungerechtigkeit und Ungleichheit führt – oder sogar auf die wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Mehrheiten oder sogar Minderheiten zurückzuführen ist, die in bestimmten sozialen Bereichen dominieren, indem sie geschlossene und autonome Felder sozialer Aktivität schaffen. Sicherheit und Freiheit befinden sich daher in einem solchen Ergänzungsverhältnis, dass die Eine ohne die Andere nicht denkbar wäre.10 Freiheit ohne Sicherheit ist ein leeres Wort: Die Bewegungsfreiheit hätte z. B. keinen Sinn, wenn der Zugang zu bestimmten Orten eines Landes oder zu bestimmten Stadtvierteln mit einem hohen Risiko für das Leben oder für die körperliche Integrität verbunden wäre. Die Privatsphäre hat ebenfalls wenig Sinn, wenn die Einwilligung in die Veröffentlichung und die Verarbeitung der persönlichen Daten für den Genuss der Güter, die durch die moderne Konsumgesellschaft angeboten werden, unentbehrlich ist. Sicherheit ohne Freiheit ist ebenfalls nutzlos: Welchen Sinn hätte nämlich diejenige Sicherheit, die den Bürger ständig mit Freiheitseinschränkungen und Verboten belasten würde? In einem Käfig ist man zweifellos sicher, es ist aber fraglich, ob man noch ein Mensch bleibt. Die so genannte innere Sicherheit, die ein Polizeistaat – ein repressives Regime – anbietet, kommt nicht der Sicherheit eines freien Bürgers, sondern der Stille und der Untätigkeit des Gefängnisses gleich. Es geht nicht um irgendeine Sicherheit, sondern um eine solche, die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Menschen in Freiheit leben können. In funktionierenden freiheitlichen Rechtsstaaten wird die Freiheit also durch die Sicherheit gewährleistet und die Sicherheit ist nur in der Ausübung der Grundrechte denkbar. Wo liegt aber der Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit in einem solchen Rechtsstaat, die Antwort gibt allein weder das Strafrecht noch die Kriminalpolitik. Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen“.11 Im Anschluss an ihn würde man sagen, dass der Sinn des Strafrechts außerhalb seiner selbst liegen muss. Man kann daher nicht bestimmen, ob etwas durch Strafrecht geschützt oder bedroht, gesichert oder eingeschränkt wird, ohne vorher dieses „etwas“ bestimmt zu haben. Die Sicherheit, nach der wir durch Strafrecht streben, steht daher in Zusammenhang mit Allem, nach dem wir uns 10 So werden z. B. von der EU-Grundrechtscharta Freiheit und Sicherheit gleichgestellt. In Art. 6 heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“. 11 Ferner noch: „Was es nicht zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muss außerhalb der Welt liegen“. Tractatus logicophilosophicus, Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1984, 6.41. Ebenso ders., Tagebücher 1914–1916, 11.6.16.
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sehnen. Sie steht in Zusammenhang mit dem Inhalt der Freiheit, die wir uns wünschen. Von welcher Freiheit ist aber die Rede? Welche Freiheit wollen wir wirklich sicherstellen, mit der Folge, dass wir uns unsicher fühlen, falls wir es nicht schaffen? Wann würde ein Eingriffsrecht, insbesondere das Strafrecht Freiheit in Sicherheit gewährleisten? Die Frage nach Sicherheitsgewinn oder Freiheitsverlust oder nach dem Maß hinzunehmender oder nicht hinzunehmender Risiken einer Gesellschaft muss entsprechend Wittgensteins Weltbild außerhalb des Strafrechts beantwortet werden. II. Im Recht sprechen wir von verfassungsrechtlichen Grundfreiheiten und -rechten. Wir betrachten sie allerdings im Rahmen einer antagonistischen Logik zur Erreichung des sozialen Zusammenlebens, als das Ergebnis des Antagonismus und der Gegenüberstellung von Gegeninteressen. Das Recht versucht nämlich sowohl diese Gegeninteressen als auch mögliche Forderungen so zu regeln, dass die größtmögliche Befriedigung der Konkurrenten erreicht wird, mit dem Endziel, dass deren gewaltiges Duell abgewendet wird und sozialer Frieden eintritt. Die soziale Koexistenz tritt jetzt als eine Notwendigkeit, als ein Mittel zur Befriedigung verschiedener personeller Bedürfnisse und Interessen auf. In vielen Fällen ist gerade die soziale Koexistenz der Faktor, der die Befriedigung der Lebensbedürfnisse und die Erreichung der individualistischen Ziele ermöglicht, sogar manchmal erweitert. Die Freiheit der Person ist dann nichts anderes als eine Freiheit, auf diese Güter einen Anspruch zu erheben, als eine Freiheit der Befriedigung aller möglichen Bedürfnisse in einer Logik der Maximierung des Komforts und der Minimierung der Anstrengung und des Selbstanbietens. Der Grundgedanke des größtmöglichen Gewinns mit dem geringsten möglichen Verlust, der so genannte Nutzenmaximierung, bekommt anscheinend eine allgemeine Geltung in jedem Bereich des sozialen Lebens und erscheint leider als Ausdruck sozialen Fortschritts und kultureller Entwicklung. Die Freiheit entpuppt sich nämlich als Freiheit des „Erwerbs“ und, um auf der Basis der Interessenbefriedigung aller Bürger funktionieren zu können, ist sie gezwungen, Kompromisse einzugehen oder ihre Grenzen am selben Bedürfnis des Anderen zu finden. Das Recht übernimmt also die Aufgabe der Verteilung dieser Güter und der Begrenzung der verschiedenen Interessen, indem es eine reine regulative Funktion ausdrückt, die bestenfalls von einem Geist der Gleichheit und der Gerechtigkeit, allerdings einer austeilende Gerechtigkeit (justitia distributiva) erfüllt ist, so dass sie die sozialen Vibrationen absorbieren und gesellschaftlichen Frieden erreichen kann. Es geht im Grunde um einen „utilitaristischen Kompromiss“, einen „Ausgleich der Beziehungen des Bedürfnisses“. Diese Logik, die das ganze Recht als soziale Institution durchdringt, verkennt dennoch die Tatsache, dass die Gesellschaft nicht die Notwendigkeit, sondern
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einen echten Ausdruck der menschlichen Natur darstellt. Sie ist nicht eine Pflichtsymbiose von Menschen, die sämtliche Güter für sich beanspruchen, sondern ein Wesenselement der Vervollständigung der menschlichen Existenz. Die Grenzen unseres Verhaltens gegenüber den Anderen haben folglich nicht nur mit dem erzwungenen Einhalten von einem Verhaltenskodex zu tun, der bloß ein reibungsloses Zusammenleben ermöglicht und die Erhaltung des Erworbenen garantiert. Sie sind vielmehr mit dem Ausdruck einer echten Freiheit, mit der Erweiterung der Grenzen unserer Existenz, mit der Enthüllung und Selbstentdeckung des Menschen in seinem Mitmenschen verbunden.12 Dieses Treffen mit dem Anderen begrenzt nicht unsere Freiheit, sondern vervollständigt sie. Meine Freiheit wird im Gesicht des Anderen, in Beziehung zu ihm verwirklicht. Es gibt keine Freiheit ohne den Anderen; wenn man allein auf der Welt lebt, ist man nicht frei, sondern leer. Die Freiheit bekommt also einen Inhalt. Welcher ist dieser eigentlich? Als Wesenselement des Menschseins kann sie nur im Rahmen der existenziellen Dimension des Menschen betrachtet werden. Als Freiheit sollte daher alles verstanden werden, was die menschliche Existenz ontologisch fördert. Alles was sie dagegen verdreht und entfremdet, macht den Menschen unfrei. Wodurch wird allerdings die menschliche Freiheit vergewaltigt? Bertolt Brecht hat dieses Dilemma auf eine besonders lebhafte Weise in seiner Dichtung „Über die Gewalt“ ausgedrückt: Der reißende Strom wird gewalttätig genannt Aber das Flussbett, das ihn einengt Nennt keiner gewalttätig.13 Man würde eine Antwort auf dieses Dilemma wagen, wenn man sich darüber Gedanken machen würde, was ontologisch gefördert oder entfremdet wird. Ob das Flussbett die Flüsse beschränkt oder nicht, ist ein Problem, das nur negativ beantwortet werden könnte. Die Antwort wäre nämlich von der Frage abhängig, was geschehen würde, falls es das Flussbett nicht gäbe: die am Fluss gelegenen Felder würden überschwemmt werden und die Flüsse ihren klaren Weg verlieren und zu Schlamm verwandelt werden. Es würde sich dabei nicht mehr um Flüsse handeln, die die Fische mit Nahrung und die Menschen mit Wasser versorgen, sondern um Sümpfe für Mücken und Frösche. Auf ähnliche Weise könnte eben12 Diese Beziehung zum Anderen ist eine Art der Selbstverwirklichung des Menschen. Zur Bedeutung der Relationsontologie im Recht siehe z. B. Arthur Kaufmann, Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen. Grundlegung einer personalen Rechtstheorie, Rechtstheorie 1986, S. 265, 281 ff. 13 Und weiter: Der Sturm der die Birken biegt Gilt für gewalttätig Aber wie ist es mit dem Sturm Der die Rücken der Straßenarbeiter biegt? Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 4. Band. Gedichte 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
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falls die Frage nach der Grenzen der menschlichen Freiheit beantwortet werden. Die Freiheit, die mich zur Katastrophe führt, die meine persönliche Existenzvollendung hindert, ist keine Freiheit, sondern Abnormität und Unterwerfung. Die Entfremdung der Existenz führt zu nichtliberalen Situationen, während der Mensch auf diese Weise seine existenzielle Dynamik und seine Fähigkeit zur Selbstkenntnis und zur Selbstverwirklichung verliert. Die Bremsen stellen im Automobil eine notwendige Bedingung seiner Funktion dar. Die „Befreiung“ von ihnen verfälscht im Gegenteil die ontologische Prädestination des Automobils und führt zu dessen Zerstörung. In gleicher Weise „kann“ ich nicht etwas Giftiges essen oder trinken, weil dies meine Gesundheit schädigen würde. Eine solche Möglichkeit soll, mit anderen Worten, nicht als Ausdruck der Freiheit betrachtet werden, da sie in Wirklichkeit ontologisch das, was sie anscheinend fördert, aufhebt. Auf dieselbe Weise kann auf einer moralischen Ebene die Frage beantwortet werden, ob die Aufhebung einer Einschränkung eine Form der Befreiung oder im Gegenteil eine Form der Sklaverei darstellt. Die Entfernung jeder (materiellen, moralisch-sozialen oder auch rechtlichen) Sperre, die das mühelose Leben der Genüsse, den egozentrischen Menschen, den Individualismus und den Eigennutz fördert, sollte daher nicht als Ausdruck von Freiheit betrachtet werden. Genauso wie sicher der Fluss ohne Flussbett zu Schlamm verwandeln wird, kann, ohne die Hemmungen die den stürmischen Fluss des Ichs hindern, nicht von einem Menschen die Rede sein, sondern von einem überflüssigen Egoismus, der den Menschen zum animalischen Zustand führt. Genauso wie die überschwemmten Gewässer sowohl die Substanz, die belebende Natur des Flusses verändern, als auch die Umwelt verderben, entfremdet das überschwemmte und übermäßige Ich sowohl den Menschen selbst als auch seine Beziehungen, auf die er die Vollendung seiner Existenz gründet. Eine Einschränkung sollte daher nicht ohne weiteres als Unterdrückung betrachtet werden; sie kann auch eine Bedingung der Kreativität und der existentiellen Vollendung und folglich ein Freiheitselement sein. Wann dies der Fall ist, kann nur aufgrund der ontologischen Frage beantwortet werden. Der Andere, der uns unserer Autonomie beraubt, muss nicht unbedingt eine andere Person sein. Er befindet sich nicht unbedingt draußen, er befindet sich möglicherweise in uns selbst, in Form einer entfremdeten Existenz, einer krankhaften Existenz unseres Ichs. Es ist möglich, dass die Befriedigung dieses Ichs und deren Forderungen eine Illusion der Autonomie provoziert, während wir in Wirklichkeit die schlimmste Heteronomie erleben (und es handelt sich dabei um die schlimmste Heteronomie, weil es besonders schwierig ist, uns dieser Abhängigkeit bewusst zu sein). Selbst wenn das Recht, dessen Aufgabe es ist soziale Beziehungen zu regeln, sich weigern würde sich mit den Verpflichtungen und der Abhängigkeit von unserem eigenen Ich zu engagieren, da es sich für die Beziehungen zum Anderen, d.h. für die sozialen Beziehungen interessiert, könnte es
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trotzdem nicht übersehen werden, dass sowohl unsere Beziehungen zum Dritten als auch unser Verhalten gegenüber ihm aus unseren Beziehungen zu uns selbst hervorgehen. In unserer Beziehung zum Anderen drücken wir das aus, was wir wirklich sind. Was wir aber tatsächlich sind, hängt davon ab, wie wir den Anderen betrachten. Es ist also nicht möglich, über Autonomie zu diskutieren, ohne dabei auf die ontologische Frage nach dem Menschsein zu achten. Die Freiheit, das bedeutet, den Sinn des eigenen Lebens ohne Zwang zu gestalten, kommt nicht dem Eindruck gleich, dass es gleichgültig ist, welchen Weg man im Leben wählt. Das Freiheitsverständnis ist letzten Endes ein Lebensverständnis. Nach einer negativen Definition des Begriffs Freiheit sind wir frei, nicht wenn wir von anderen nicht gehindert werden, etwas zu tun oder zu sein, sondern vielmehr, wenn wir die von uns ausgehenden Zwänge überwinden können. Diese Freiheit wird nicht durch die Befriedigung von unseren Ansprüchen und Bedürfnissen jeder Art, sondern eher durch die Befreiung von ihnen gefördert.14 Es ist weiterhin bemerkenswert, dass die echte Freiheit oft als negative Freiheit erscheint. Mit anderen Worten erscheint sie als Befreiung von unserem Ich und von alledem was unser Ich befriedigt, als Befreiung von boshaften Bindungen, die uns auf der existentiellen Ebene entfremden, uns mit Kummer und Verzweiflung, Leere und Einsamkeit füllen und unsere Natur verdrehen. Die Tatsache, dass wir uns oft an diese Verdrehung gewöhnt haben, dass wir sie als natürlich erleben, dass wir sie als Gewohnheit, Kultur, Tradition und Geschichte wahrnehmen, ändert nichts an der obigen Schlussfolgerung. Wir schließen gewöhnlich unsere Augen vor der Tatsache, dass die materiellen „Güter“ nach denen wir uns sehnen, Gewalt und stickige Isolation ausstrahlen. Uns wird nicht erlaubt wahrzunehmen, dass wir uns in Sklaven unserer Bedürfnisse, in Jäger unserer Wünsche und Genüsse umgewandelt haben, dass wir unser Ziel als Mittel und unser Mittel als Ziel betrachten. Von der Vielfalt der Luxusartikel getrübt und vom Traum eines möglichst mühelosen Lebens überzeugt, mit geringer oder sogar keiner kritischen Vernunft bewaffnet, sind wir nicht mehr in der Lage den Gebrauch vom Missbrauch, das Medikament vom Gift, die Schwimmweste von der Falle, die wissenschaftliche Wahrheit von der institutionalisierten Technologie, die unseren Luxus in Ersticken verwandelt, zu unterscheiden. Wir schwören unserer Fähigkeit Treue das eigene Schicksal selbst zu gestalten ohne dabei nachzudenken, in welcher Abhängigkeit wir leben und in welchem Maße wir durch unsere Bedürfnisse und diesen Bedürfnissen gerecht werdenden Entscheidungen bestimmt werden. 14 In dieser Richtung sucht die Freiheit die Philosophie der Stoa. Vgl. insbes. Epiktetus Dissertationes, 4.1. Ebenso schreibt Blaise Pascal in seinen Pensées: „Der Eigenwille wird nie zufrieden sein, und könnte er über alles verfügen, was er will; aber man ist in dem Augenblick zufrieden, da man auf ihn verzichtet. Ohne ihn kann man nicht unzufrieden sein; durch ihn kann man nicht zufrieden sein.“ (Blaise Pascal, Gedanken, 772, Nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rütternauer, Carl Schünemann Verlag Bremen, 6. Auflage 1964).
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Das Recht wendet sich also an diese Gesellschaft und drückt diese utilitaristische Zivilisation aus; es versucht diese Bedürfnisse zu befriedigen und es wird von diesen Zielen gesteuert. Es fördert die Freiheit in die Erfüllung der Wünsche und nicht die Freiheit in die Negation der Bedürfnisse. Es kann weder den Bürgern zu denken geben, noch kann es sich Gedanken über die Sklaverei der Bedürfnisse machen, über die Verzweiflung des Wohlstandes, über die Armut, die hinter der Vielfalt der Konsumgüter versteckt bleibt, über die Wahrheit, die wirklich befreit. Das Recht nimmt insbesondere die Pflicht wahr, das zu regeln und sicherzustellen, was die Menschen – manchmal sogar auf wahnsinnige und unmenschliche Weise – verfolgen. Es fühlt sich verpflichtet, die entstandene Konkurrenz zu begrenzen und zu rationalisieren, ohne sich dabei über die inneren Gründe Gedanken zu machen, die die Konkurrenz und den extremen Individualismus hervorrufen. Sein Hauptziel ist bloß sicherzustellen, dass diese Konkurrenz jedem den gleichen Zugang und gleiche Chancen gewährleistet. Das Problem der Sicherheit ist folglich mit der Frage verknüpft, was wir wünschen und nach welchen Gütern wir streben, mit der Folge der Forderung nach Kriminalisierung von Handlungen, die solchen Gütern bedrohlich sind.15 Man kann überhaupt von Unsicherheit sprechen, wenn das, was für uns wertvoll ist, bedroht wird. Die Antwort aber auf die Frage, was für uns Wert hat, setzt einen Lebenssinn voraus; und dieser Sinn drückt die Suche nach dem Zweck und der Perspektive der menschlichen Existenz aus. Die Angst, die menschliche Verzweiflung, mit anderen Worten das Unsicherheitsgefühl ist nichts anderes als das psychologische Symptom, hinter dem sich eine besondere Sinngebung des Lebens und dessen Bedürfnisse verstecken. III. Die Forderung nach Sicherheit oder (und) nach Freiheit kann nicht ohne die Beantwortung der ontologischen Frage befriedigt werden. Man kann nämlich nicht bestimmen, in welchem Maße ein Problem der Sicherheit vorhanden ist, bevor festgestellt werden kann, was auf dem Spiel steht, und folglich bevor man den eigenen Bedürfnissen und dem eigenen Leben einen Sinn gibt. Für das Lebensideal unserer Konsumgesellschaft wird die Freiheit als Freiheit in Erwerb und in Genuss, d.h. als „konsumistische Freiheit“ wahrgenommen. Der Mensch fühlt sich daher unsicher, wenn er mit dem Verlust seiner materiellen Güter bedroht wird, wenn er des Lebensmodells beraubt wird, nach dem er sich sehnt. Das Recht versteht den Menschen hauptsächlich als einen „homo oeconomicus“, als sein eigener Nutzenmaximierer, mit anderen Worten als jemanden, der ständig Bedürfnisse hat und die Befriedigung dieser Bedürfnisse zum Lebensziel macht. 15 Sowohl der Begriff als auch das rechte Maß der Sicherheit können nur anlass- und kontextbezogen konkretisiert werden. Vgl. Noll, Vor dem Sicherheitsstaat?, ÖZP 2004, 33, 36.
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Die sich während der letzten Jahrzehnte etablierten Institute, die ständig neu gestaltet werden und die als „moderne“ Rechtsinstitute und -bereiche besonderes Forschungsinteresse auf sich ziehen, zielen ausschließlich auf die Regelung eines solchen Lebensmodels oder stammen – und zwar heute auf einem globalen Niveau – aus der Durchsetzung gerade dieses Vorbildes von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Wohlstand: Die so genannten Allgemeinen Geschäftsbedingungen, das Verbraucherschutzrecht, das Wettbewerbsrecht, das Datenschutzrecht sowie auch das gesamte Kredit- und Finanzsystem regeln auf eine direkte Weise und fördern gerade dieses Konsumideal. Mann könnte sogar behaupten, dass sie den Bürger mit dem folgenden Motto adressieren: Werde ein Konsument, damit du Rechte hast! Wir reden, dennoch – heute sogar öfter als früher – von rechtsstaatlichen Garantien, von der nötigen Kontrolle des freien Marktes und des Systems des freien Wettbewerbs, das sowohl auf die größte mögliche Auswahl von Gütern als auch auf die freie Bildung der Preise zielt. Wir erlassen Gesetze zum Schutz der Investoren und der Verbraucher, ohne vielleicht dabei daran zu denken, dass die größte Gefahr für unsere Freiheiten in der Tatsache liegt, dass wir nicht mehr Bürger sondern Konsumenten geworden sind. Wir verlangen den Schutz unserer persönlichen Daten, unserer Privatsphäre, nachdem wir sie selbst preisgegeben haben, um die Güter zu genießen, die uns der Konsummarkt anbietet. Wir leben ständig mit einem Gefühl von Unzulänglichkeit und Unsicherheit und wir versuchen diese Leere mit Konsumgütern zu füllen, ohne uns bewusst zu sein, dass wir nichts anderes tun als dadurch die Kluft zu vertiefen. In einem solchen Konsumideal haben wir weiterhin unsere jüngste elektronische Kultur eingegliedert und eine neue Informationsgesellschaft gebildet. An das Internet gebunden und süchtig nach den Bedürfnissen, die es angeblich befriedigt, suchen wir nach Regelungen und Strafvorschriften, welche den Freiheiten Schutz gewähren können, die gerade durch das Internet in Gefahr sind. Nachdem wir uns einem extrovertierten Leben von vielfältigen und komplexen sozialen Beziehungen hingegeben haben – welches wir sogar als Errungenschaft und Fortschritt unserer utilitaristischen Zivilisation betrachten –, haben wir bewusst oder unbewusst einen wichtigen Anteil unseres privaten und persönlichen Lebensbereichs preisgegeben und versuchen es nachher durch Rechtsregelungen zurück zu gewinnen. Auf der Suche nach Schutz unseres persönlichen Lebens beklagen wir den Abbau des Rechtsstaates und wir sehnen uns nach Sicherheit, weil wir spüren, dass wir uns selbst verlieren, dass wir nämlich unsere Persönlichkeit in einer unpersönlichen und ungeselligen Menge, in einer Welt der Unsicherheit, einbüßen. Wir selbst haben die Risiken verursacht und gesteigert. Wir selbst sollen wieder die verlorene Sicherheit herstellen. Es ist mehr eine „Personenaufgabe“ und weniger eine „Staatsaufgabe“. Die ständige Ausdehnung des Rechts und insbesondere der Einsatz des Strafrechts mit seinen regulierenden und schützenden Anordnungen stellt leider das
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Ergebnis der Komplexität unseres Lebens dar. Es handelt sich hierbei um ein Recht, das unseren Bedürfnissen angepasst ist, ein Recht mit Regeln und Ausnahmen, mit trüben und feinartigen Vorschriften, das im besten Fall hauptsächlich von Wenigen verstanden wird und im schlimmsten Fall als Werkzeug auch von diesen Wenigen benutzt wird. Der Gesetzgeber ist nicht in der Lage, sich auf eine unkomplizierte Weise auszudrücken, weil der Mensch gleichfalls nicht bereit ist, unkompliziert zu leben. Je mehr Rechtsanordnungen wir erfassen, desto schlimmer ist die Ungewissheit, in die wir geraten, desto größere Schwierigkeiten haben wir, das Legale vom Illegalen zu unterscheiden. Es ist weiterhin unvermeidlich, dass deren Auslegung nicht der Mehrheit zugänglich ist, sondern ein Privileg nur für eine begrenzte Zahl an Fachleuten und Wissenschaftlern bleibt.16 Wir stellen leider fest, dass, je größer die Vielfalt unserer Rechtswerke ist, umso dichter wird unsere Finsternis, umso unglaubwürdiger wirken unsere Regelungen und schließlich, umso problematischer gestaltet sich unsere Kommunikation.17 Die Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche ist nicht Ausdruck eines freien sondern eines unsicheren Menschen. Man wird weiterhin seiner Freiheit nicht nur dann beraubt, wenn man seine moralische Autonomie verliert. Man bleibt auch dann unfrei, wenn man in seinen Entscheidungen eingeschränkt wird, die einen zur Unsicherheit und Verzweiflung führen und ihn unbefriedigt lassen.18 Wir fühlen uns weiterhin unsicher, nicht nur wenn unser Leben oder unsere Freiheit bedroht werden, sondern auch dann, wenn uns die Wertkonstanten und die Bindung mit den Anderen fehlen. Vielleicht ist die Unsicherheit in diesem zweiten Fall sogar schlimmer. Denn werden unser Ich und unsere Rechte bedroht, dann ist es für uns einfacher, diese Bedrohung wahrzunehmen und mit größerer Behaglichkeit darauf zu reagieren. Wir sind dagegen nicht derjenigen Bedrohung bewusst, die von unserem Ich, von uns selbst, hervorgeht.
16 In einem Gespräch zwischen Machiavelli und Galilei, das Puppe bildet, sagt Machiavelli: „Die Mächtigen lieben es nicht, sich eindeutig auszudrücken. Von allen Entscheidungskriterien, die man ihnen vorschlägt, werden sie immer diejenigen wählen, die zweideutig oder vage sind. So können sie in jedem Einzelfall so entscheiden, wie sie es für gut halten. Das nennen sie dann, je nach der herrschenden philosophischen Mode, Vernunft oder Staatsraison oder Klassenbewusstsein oder auch Billigkeit und EinzelfallGerechtigkeit“ (Puppe, Gespräch in einem Wartezimmer über die Macht und die Wissenschaft, Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 418). 17 Hier würde gut das Wort von T. S. Eliot passen: Knowledge of Speech, but not of silence; Knowledge of words, and ignorance of the Word. All our knowledge brings us nearer to our ignorance, All our ignorance brings us nearer to death. Collected Poems, 1909–1962 [The Rock (1934)]. 18 Sören Kierkegaard spricht gerade von einer tödlicher Krankheit, „bei der das Letzte der Tod ist und der Tod das Letzte ist. Und dies eben ist Verzweiflung“ (Die Krankheit zum Tode, 4. Aufl. 1992, Gütersloher Taschenbücher, S. 12).
Sicherheit und Freiheit durch das Strafrecht
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Als Freiheit soll daher die Überschreitung der ontologischen Entfremdung des Menschen betrachtet werden, mit anderen Worten seine Befreiung von der stickigen Umgebung der Sachen, die ihn binden, die Befreiung von den Bedürfnissen, die er selbst hergestellt hat und deren Befriedigung er erstrebt, von den boshaften Situationen, die sein Ich schmeicheln und die Vollendung seiner Existenz hindern.19 Das Recht unserer zivilisierten, europäischen Gesellschaft ist darauf stolz, dass es sich auf das Prinzip der Menschenwürde stützt. Es wird behauptet, der Mensch habe als Mensch, d.h. als Rechtssubjekt, einen Eigenwert, da er sowohl sich selbst als auch die Welt in Bezug zu sich selbst nach dem berühmten Protagoras Wort bestimme.20 Diese Feststellung ist aber eine egozentrische, weil der Mensch als Maßstab für die Bestimmung der Welt aus einer Stärkeposition seine eigenen Bedürfnisse und seine eigenen Entscheidungen heranzieht. Für welchen Wert interessiert sich aber das Recht? Für den Wert des Menschen als Konsumenten, d.h. als einer egozentrischen Person, oder vielmehr für den Wert des Menschen als eines Wesens, das im Anderen und durch den Anderen existentiell vollendet wird?21 Ähnliche Fragen ergeben sich auch aus dem bekannten Satz von Kant, nach dem der Mensch nicht bloß als Mittel sondern als Zweck gebraucht werden muss.22 Was heißt eigentlich hier Zweck? Der Zweck setzt einen Sinn voraus, nachdem er und das eingesetzte Mittel bestimmt werden. Wann wird also der Mensch als Mittel oder als Zweck gebraucht? Die Antwort auf diese Frage hängt wiederum von der Antwort auf die ontologische Frage nach dem Menschsein ab. Man kann daher nicht auf die kognitiven Elemente des Menschenbildes verzichten, von der Fähigkeit des Menschen nach dem Wahren zu suchen und seinem Leben nach diesem Suchen Sinn zu geben. Man darf hier nicht übersehen, dass unsere Kultur und insbesondere unser Recht von einem bestimmten Menschenbild ausgehen, von der Fähigkeit des Menschen zu beanspruchen und zu genießen, von seiner Fähigkeit zu nehmen und nicht von seiner Bereitschaft zu geben. Das Letzte tritt, wenn überhaupt nötig, nur auf, um dem Ersten zu dienen. Unser Recht ist anthropozentrisch. Es bleibt jedoch fraglich, für welche Art von Menschen es sich interessiert. Es ist leider anthropozentrisch im Sinne eher einer egozentrischen Betrachtung als im Sinne einer personorientierten Betrachtung.23 Die letzte sieht den Menschen in Beziehung zum Anderen, in einer Be19
Goethes Stimme lautet hier: „Entbehren sollst du! Sollst entbehren!“ (Faust, 1549). Sextus Empiricus, Pyr. hypotyposes, 1. 216 ff. Weiter auch Platon, Cratylus 385e. 21 Das ontologische Modell ist hier nicht ein Modell der Substanz- sondern der Relationsontologie. Dazu insbes. Arthur Kaufmann (Fn. 5). Vgl. auch Neumann, Die Tyrannei der Würde. Argumentationstheoretische Erwägungen zum Menschenwürdeprinzip, ARSP 1998, 162, 165. 22 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 38. 23 Zum Rechtsbegriff der Person siehe insbes. Coing, Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte, in: Zur Geschichte des Privatrechts20
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ziehung des Sichgebens. Normativ würde es dann heißen, dass das Recht nicht hauptsächlich auf Rechte und Ansprüche stünde, sondern es würde eher auf Aufgaben besonderen Wert legen und sie nicht bloß als nötige Bedingung der eigenen Rechtsbeanspruchung betrachten. Bewegt man sich dagegen im Rahmen einer egozentrischen Logik, einer Logik von Ansprüchen und ständiger Auseinandersetzung, so ist das Einzige was für das Recht übrig bleibt der Versuch, das Maß dieser Ansprüche und die Bedingungen der Auseinandersetzung zu definieren, so dass die Ansprüche „fair“ und ausgeglichen erscheinen und die Auseinandersetzung unter Kontrolle und noch „zivilisiert“ bleibt. IV. Obwohl in unserem Zeitalter unsere Rechtskultur mit ihren Instituten, ihrem normativen Rahmen und ihren komplizierten institutionellen Organen so reich und so entwickelt ist wie nie zuvor, fühlen wir uns dennoch unsicher und unfrei. Ein elektrischer black out in einer Großstadt, ein Terroranschlag, wie der vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika, der das Leben bedrohende Klimawandel oder die letzte Weltwirtschaftskrise zeigen uns in aller Klarheit, dass die Füße des Giganten, den wir konstruiert haben, aus Holz sind und wir fast hilflos vor den globalisierten Weltgefahren stehen. Solange wir die Hauptbedrohungen für unsere Freiheit in der Außenwelt suchen und solange wir den Mitmenschen und nicht unser entfremdetes Ich und dessen Ansprüchen als Gegner betrachten, werden wir uns unfrei und unsicher fühlen. Solange wir weiterhin versuchen, uns selbst und den Anderen davon zu überzeugen, dass wir autonom entscheiden, werden wir den gefesselten Gefangenen der Platonischen Höhle ähneln, die sich an ihre unterirdischen höhlenartigen Wohnung gewöhnt haben und sich weigern an das Sonnenlicht hinaufzukommen, da sie nichts anderes für das Wahre halten als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft.24 Das Rechtsproblem des Verhältnisses zwischen Freiheit und Sicherheit kann also nicht ohne die Untersuchung der ontologischen Frage gelöst werden, die den Sinn der menschlichen Existenz und der sozialen Koexistenz sucht und anschließend die Bedürfnisse und die Güter, die sie befriedigen, definiert. Diese Frage kann aber nur durch die Suche nach dem Wahren beantwortet werden. Und wie letzten Endes der griechische Rechtsphilosoph K. Tsatsos25 schreibt: „Wenn jemand glaubt, dass die Wahrheit das Nichts ist, kann ihn niemand aus der immensen Tiefe des Nichts herausziehen“.
systems, 1962, S. 56 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie8, 1973, S. 225 ff.; Hattenhauer, „Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs, JuS 1982, 405 ff.; Kobusch, Die Entdeckung der Person (Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild), 1996. 24 Platon, Politeia 514–517c. 25 Gespräche im Kloster (auf Griechisch)9, 1992, S. 207.
Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts Von Joachim Hruschka Die Leistungen der Aufklärungsphilosophie für das Strafrecht sind bisher kaum gewürdigt worden. Kant ist der erste, der den Rechtsstaat denkt, und infolgedessen denkt er auch die rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafrechts. Das geschieht vornehmlich in der Rechtslehre von 1797/98.1 Paul Johann Anselm Feuerbach greift einige dieser Gedanken auf, im Anti-Hobbes von 17982 und in der Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts von 1799, wo er die theoretischen Grundlagen legt,3 später im Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, das für die Verbreitung dieser Gedanken sorgt. Das Lehrbuch hat vierzehn Auflagen, elf von Feuerbach selbst besorgte (1. Aufl. 1801; 11. Auflage 1832) und drei weitere, die C. J. A. Mittermaier herausgegeben und teilweise ausführlich kommentiert hat (12. Aufl. 1836; 14. Aufl. 1847), woran man auch den Erfolg der Verbreitung rechtsstaatlicher Grundsätze und Grundbegriffe in der Strafrechtslehre ablesen kann. Die Würdigung der Leistungen Kants für das Strafrecht der Gegenwart setzt eine Interpretation der auf das Strafrecht bezogenen Teile der Rechtslehre voraus, die ihre Rationalität erkennen läßt. Das ist im (deutsch-sprachigen) Schrifttum von heute häufig nicht der Fall. Zu den Ausnahmen von der Regel gehören die Ausführungen von Altenhain zu Kants und Feuerbachs Strafrechtslehre.4 Der Beitrag geht auf den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ ein, den wir bei Kant (unten I. und III.) und bei Feuerbach (unten II.) finden. Kant formuliert auch zum ersten Male das Legalitätsprinzip, das Feuerbach zwei Jahre später auf1 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (kurz: Rechtslehre), 1. Aufl. 1797, 2. Aufl. 1798. Die beiden Auflagen unterscheiden sich voneinander vornehmlich durch einen „Anhang erläuternder Bemerkungen“, den Kant erst der 2. Aufl. angefügt hat. Zitate nach der Akademie-Ausgabe von Kants Werken mit der Angabe von Band, Seiten und Zeilen. 2 Genauer: Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn. 3 Die Zitate verweisen auf den „Ersten Theil“ des zweibändigen Werks. 4 Altenhain, „Die Begründung der Strafe durch Kant und Feuerbach“, in: Strafrechtsprofessoren der Tübinger Juristenfakultät u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Rolf Keller, 2003, S. 1–13. – Zum englisch-sprachigen Schrifttum vgl. etwa Byrd, „Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution“, in: Law and Philosophy Bd. 8 (1989), S. 151–200; Ripstein, Force and Freedom – Kant’s Legal and Political Philosophy, 2009, S. 300–324.
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greift (unten IV. und V.). VI. behandelt den Grundsatz, daß die Tat bewiesen sein muß, ehe sie bestraft werden kann. Unter VII. geht es um die Funktion des Strafrechts im Rechtsstaat bei Kant und Feuerbach, unter VIII. um Feuerbachs Zusammenfassung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Strafrechts, die auf Kants Grundsätze zurückzuführen sind. I. „Keine Strafe ohne Gesetz“ in Kants Rechtslehre In der Rechtslehre geht Kant auf die „richterliche Strafe“ ein, was er noch mit dem lateinischen „poena forensis“ erläutert. „Richterliche Strafe“ ist die Strafe, die von einem Richter, von einem forum (Gerichtshof), verhängt wird. Richterliche Strafe muß von der Androhung von Strafe durch den Gesetzgeber5 einerseits und der Vollstreckung der (durch den Richter verhängten) Strafe durch die vollziehende Gewalt6 andererseits unterschieden werden. Die Unterscheidung, die auf der Lehre von der Gewaltenteilung aufbaut, ist, haben wir sie erst einmal gefunden, eine bare Selbstverständlichkeit.7 Wenn Kant also von der „richterlichen Strafe (poena forensis)“ redet, dann meint er die Verhängung von Strafe durch einen Richter, und er meint weder eine gesetzliche Strafandrohung noch die Vollstreckung der Strafe. Wenn wir die sogleich wiederzugebende Stelle, die sich mit der richterlichen Strafe befaßt, richtig verstehen wollen, dann müssen wir uns in die Zeit zurückversetzen, in der der „Nulla poena sine lege“-Satz (Keine Strafe ohne Gesetz) noch nicht galt. Genau das war am Ende des 18. Jahrhunderts der Fall. Es war Feuerbach, der in der ersten Auflage seines Lehrbuchs von 1801 den lateinischen Satz zum ersten Male formulierte, dann in jeder Auflage des Lehrbuchs wiederholte8 und damit einen wichtigen Beitrag für die Durchsetzung des Satzes in Theorie und Praxis leistete. Eine deutsche Formulierung des „Nulla poena sine lege“-Satzes findet sich in der Revision von 1799. Die Stelle ist weiter unten (unter II.) abgedruckt. Wie sieht eine Strafpraxis aus, die den Satz „Keine Strafe ohne Gesetz“ nicht kennt oder jedenfalls nicht anerkennt? Schaffstein hat das beschrieben. Kraft der Lehre von den „außerordentlichen Delikten“ und verwandten Doktrinen waren die Richter des 18. Jahrhunderts weder an gesetzliche Straftatbestände noch an die gesetzlichen Strafrahmen gebunden. Es gab die „delicta extraordinaria“ und 5
6:331,22; 334,17–18. Von der Exekutive ist die Rede, wenn Kant am Beginn seiner Ausführungen zum Strafrecht vom „Befehlshaber“ spricht, der das Recht habe, den Untertan (Kant: den „Unterwürfigen“) „mit einem Schmerz zu belegen“ (6:331,4–5). Dieses Recht steht der Exekutive nur dann zu, wenn der Richter zuvor eine Strafe „verhängt“ hat. 7 Zur Gewaltenteilung in Kants Rechtslehre vgl. Byrd/Hruschka, Kant’s Doctrine of Right – A Commentary, 2010, S. 146–167. 8 Nachweise unten Anm. 90. 6
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den „stellionatus“ „als Bezeichnung für diejenigen Delikte, die zwar nicht nach dem Gesetz, wohl aber nach richterlichem Ermessen strafbar waren.“ Es gab weiter „die unbeschränkte Möglichkeit des Richters, die poena ordinaria beim Vorliegen besonders schwerer Umstände extraordinem beliebig zu verschärfen, der auf der anderen Seite ein praktisch unbeschränktes Milderungsrecht des Richters entsprach.“ 9 Statt gesetzliche Straftatbestände und Strafrahmen anzuwenden, haben die Richter des 18. Jahrhunderts Kosten-Nutzen-Kalküle angestellt.10 In dieser Situation schreibt Kant: „Richterliche Strafe (poena forensis) . . . kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden. . . . Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen“.11 Es ist offensichtlich, daß Kant sich hier gegen die Praxis wendet, die Schaffstein darstellt. Zweckmäßigkeitserwägungen dürfen nicht im Vordergrund stehen. Ihre Rolle ist auf jeden Fall eine untergeordnete. Vor allem können MittelZweck-Überlegungen nicht den Grund für eine Bestrafung liefern, beispielsweise wegen der behaupteten Gefährlichkeit eines Menschen. Statt dessen fordert Kant, daß ein Mensch nur dann von einem Strafgericht verurteilt wird, wenn er ein Verbrechen begangen (Kant: etwas „verbrochen“) und sich damit „strafbar“ gemacht hat. Es ist sinnvoll, sich schon an dieser Stelle klar zu machen, daß Kant sich hier einer Sprache bedient, die wir heute noch sprechen. Denn wir nehmen heute noch an, daß eine der Voraussetzungen für eine Verurteilung die Feststellung ist, daß der Täter ein Verbrechen (im weiten Sinn des Wortes) begangen und sich damit strafbar gemacht hat.12 9 Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des Gemeinen Strafrechts, 1930, S. 39–43 (Hervorhebungen im Original). 10 Ich untersuche hier nicht, ob und wie sich die Situation veränderte, nachdem in Preußen (drei Jahre vor Kants Rechtslehre) das ALR in Kraft getreten war. Die von Schaffstein beschriebene Lage war Kant jedenfalls vertraut. 11 6:331,20–31 (Hervorhebungen im Original). – Das erste „muß“ hat die Bedeutung von „darf“ (Strafe darf nur verhängt werden). Kant verwendet das Wort „müssen“ häufig mit der Bedeutung von „dürfen“, welche Bedeutung auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist; vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 6 1885 (Nachdruck 1984), Art. „müssen“, Sp. 2747–2760 (insbes. 2750–2751), Bearbeiter: Moriz Heyne. Das Wort wurde auch noch im 20. Jahrhundert mit dieser Bedeutung verwendet. Ich selbst habe eine Dame (eines Jahrgangs kurz nach 1900) gekannt, die den Satz „Das mußt du nicht tun“ mit der Bedeutung von „Das darfst du nicht tun“ benutzt hat. 12 Kant ist der erste, der diese Sprache spricht, die wir heute landauf, landab den Jura-Studenten im ersten Semester zu vermitteln suchen. Vor diesem Hintergrund wirken die Invektiven gegen Kants „weil er verbrochen hat“ und die damit angeblich ver-
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Was bei Kant „ein Verbrechen“ heißt, findet sich wenige Zeilen vor der zitierten Stelle. Ein Verbrechen ist eine „Übertretung des öffentlichen Gesetzes“.13 Dabei setzt Kant den Begriff eines Strafgesetzes voraus, wie wir ihn bei Achenwall finden.14 Ein „Strafgesetz“, so Achenwall, ist ein „Gesetz, dem für den Fall einer Zuwiderhandlung eine ausdrückliche Strafe angehängt, d.h. ein Gesetz, das mit einer Strafsanktion bewehrt ist“.15 Wenn also Kant an der hier zu interpretierenden Stelle sagt, daß ein Mensch nur dann und deswegen bestraft werden darf, wenn und weil „er verbrochen hat“, dann bedeutet das, daß eine (richterliche) Strafe nur dann zulässig ist, wenn der Täter ein öffentliches Gesetz, das Strafe androht, übertreten hat. Denn nur dann hat der Mensch ein Verbrechen begangen und also etwas „verbrochen“.16 bundene angeblich absolute Straftheorie Kants nur noch peinlich. Besonders hervorgetan hat sich Ulrich Klug, „Abschied von Kant und Hegel“ (1968), der auch Kants Text teilweise so verändert wiedergibt, daß das von ihm (Klug) gewünschte Ergebnis dabei herauskommt. Wenn Kant von „richterlicher Strafe“ spricht, läßt Klug den Hinweis auf den Richter weg, was den Weg freimacht, das „weil er verbrochen hat“ im Sinne des „Vergeltungsgedankens“ auszulegen. Wenn es bei Kant heißt, der Verbrecher müsse „vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen,“ heißt es bei Klug: „Bei der Bestrafung darf nicht daran gedacht werden, ob aus der Strafe einiger Nutzen für den Verurteilten oder seine Mitbürger gezogen werden kann. „Kants (rechtsstaatliche!) Forderung, daß der Richter zuerst die Strafbarkeit des Angeklagten festzustellen hat, bevor er Überlegungen zum Zweck der Strafe anstellen darf, wird damit völlig verbogen. Kant läßt Mittel-Zweck-Überlegungen durchaus zu, wenn auch nicht als den primären Grund für die Verurteilung eines Menschen. Demgegenüber heißt es bei Klug: „Denn der Mensch darf niemals als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden.“ Diese Behauptung (Klugs über Kant) ist falsch, weil unsere Stelle etwas anderes sagt („niemals bloß als Mittel“) und auch die zweite Formel des Kategorischen Imperativs die Benutzung eines anderen Menschen (etwa eines Taxifahrers) als Mittel, obgleich nicht bloß als Mittel, für meine Zwecke durchaus erlaubt (4:429,10–12). Die Klug-Zitate nach Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch – Der AlternativEntwurf der Strafrechtslehrer, 1968, S. 36–41, bes. S. 37. – Zur „absoluten“ Theorie vgl. auch unten Anm. 16. 13 6:331,7–10. 14 Zur Bedeutung Achenwalls für Kants Rechtslehre näher Byrd/Hruschka, Commentary (ob. Fn. 7) S. 15–19. 15 Achenwall, Iuris Naturalis pars posterior, 5. Aufl. 1763, § 191 (= 19:411,29–31): Lex poenalis, „hoc est, cui in casum inoboedientiae adiecta poena expressa, seu quae sanctione poenali munita est.“ Diesem Begriff entspricht es, wenn Kant von einem „Strafgesetz“ spricht, das einem Täter „den Tod zuerkennt“ (6:235,26–27), d.h. die Todesstrafe androht. 16 Das ganz nüchterne „weil er verbrochen hat“ wird, zusammen mit anderen Stellen, die genauso wie diese aus dem jeweiligen Zusammenhang gerissen werden, nicht nur von Klug (Anm. 12), sondern auch sonst dazu verwendet, Kant eine „absolute“ Straftheorie zu unterschieben. Vgl. nur Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, 1962, S. 32, siehe auch S. 36. – Aus der neuesten Literatur s. Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 182–191, der „Kants Straftheorie zwischen absolutem und relativem Strafbegriff“ ansiedelt, und Mohr, „nur weil er verbrochen hat“ – Menschenwürde und Vergeltung in Kants Strafrechtsphilosophie, in: Klemme (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, 2009, S. 469–499,
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Kant ist der erste, der den Rechtsstaat denkt. Das Wort „Rechtsstaat“, das zum Zeitpunkt der Abfassung der Rechtslehre noch nicht existiert, benutzt Kant freilich nicht. Statt dessen spricht er vom „rechtlichen Zustand“.17 Der Begriff eines rechtlichen Zustandes impliziert die Öffentlichkeit des in diesem rechtlichen Zustand geltenden objektiven Rechts. Öffentlich ist das Recht, das offen zutage liegt, weil es promulgiert worden und damit für jedermann zugänglich ist. Kant: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht“.18 Ein „öffentliches Gesetz“ ist danach ein Gesetz, das von einem Gesetzgeber in einem rechtlichen Zustand gegeben worden ist. Ist das Gesetz ein Strafgesetz, dann ist die Übertretung des Gesetzes ein Verbrechen im Sinne der von Kant gegebenen Definition.19 Daraus folgt zwanglos der „Nulla poena sine lege“-Satz. Nur dann, wenn sie ein Strafgesetz übertritt, kann eine Tat bestraft werden. Demgemäß heißt es schon in Kants Vorlesung über Achenwalls Naturrechtslehre von 1784: „Alle Strafe ist Zwang, aber nicht jeder Zwang ist Strafe. Strafe ist Zwang, der unter der Auctoritaet eines Gesetzes ist“.20 II. „Keine Strafe ohne Gesetz“ bei Feuerbach Im Anti-Hobbes greift Feuerbach Kants Gedanken auf, daß ein Mensch nur dann und nur deswegen bestraft werden kann, wenn und „weil er verbrochen“ (oder, in heutigem Deutsch, weil er ein Verbrechen begangen) hat.21 Feuerbach weiß natürlich, daß sich das „weil er verbrochen hat“ auf das berühmte Diktum
der das „weil er verbrochen hat“ im Sinne einer „Vergeltungstheorie der Strafe“ versteht, die Richtigkeit dieser Annahme aber nicht untersucht, sondern voraussetzt. 17 Einzelheiten bei Byrd/Hruschka, Commentary (Anm. 7), S. 25–28. Siehe auch unten VII. 18 6:311,6–8. 19 6:331,7–10. 20 27.2.2:1333,19–21. 21 Die 1. Auflage der Rechtslehre war spätestens Anfang Februar 1797 auf dem Markt. Denn die Rezension Bouterweks, die dies voraussetzt, ist in den Göttingschen Anzeigen vom 18. Februar 1797 erschienen (20:445,7–8). Vgl. auch Vorländer, „Einleitung“ zu Immanuel Kant Metaphysik der Sitten, 1959, S. XIV. Feuerbachs Vorrede zum Anti-Hobbes, S. XIX, trägt das Datum vom 12. August 1797. Zwischen dem Erscheinen der Rechtslehre und der Beendigung der Arbeiten Feuerbachs am Anti-Hobbes liegen also mindestens 6 Monate. Kant wird im Anti-Hobbes zwar nicht im Zusammenhang mit der Seneca-Passage, sondern auf S. XVIII nur ganz allgemein erwähnt, trotzdem müssen wir davon ausgehen, daß Feuerbach die einschlägige „Allgemeine Anmerkung E“ der Rechtslehre (6:331–337), die auch die oben (I.) wiedergegebene Stelle enthält, bei der Abfassung des Anti-Hobbes zur Kenntnis genommen hatte. – Auf die 2. Auflage der Rechtslehre von 1798 mit dem „Anhang erläuternder Bemerkungen“ dagegen, wo Kant die lateinischen Ausdrücke „quia peccatum est“ und „ne peccetur“ (in der Rechtslehre) zum ersten Mal benutzt (dazu unten III.), konnte Feuerbach bei der Fertigstellung des Anti-Hobbes im August 1797 noch nicht zurückgreifen.
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des Seneca bezieht „Nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur“ (Keiner, der klug ist, bestraft deswegen, weil ein Verbrechen begangen worden ist, sondern er bestraft, damit keine Verbrechen begangen werden).22 Daran knüpft er an. In einem Exkurs zum Strafrecht23 unterscheidet er zwischen der Androhung und der Zufügung von Strafe,24 und er unterscheidet zwischen dem Zweck und dem Rechtsgrund der Androhung und dem Zweck und dem Rechtsgrund der Zufügung. Hier interessiert im Moment allein die Unterscheidung von Zweck und Rechtsgrund der Zufügung der Strafe. Der Zweck der Zufügung der Strafe besteht in nichts anderem „als darin, die Androhung selbst wirksam zu machen. . . . Die Strafe muß . . . exequirt werden, wenn die Drohung nicht ein leerer Schall und der Zweck unmittelbar zerstört werden soll, welcher durch sie beabsichtigt wird.“ Dazu heißt es dann in einer Fußnote: „Die von den philosophischen Criminalisten so oft gebrauchte Sentenz des Seneca nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur ist daher in verschiedener Rücksicht wahr und falsch. Sie ist jenes, wenn sie auf den Zweck der Execution der Strafe; sie ist dieses, wenn sie auf den Rechtsgrund derselben bezogen wird.“ 25 Das soll heißen: Der Zweck der Exekution der Strafe ist das „ne peccetur“, ihr Rechtsgrund aber ist das „quia peccatum est“. Der Rechtsgrund der Strafzufügung besteht danach darin, daß der Täter ein Verbrechen begangen hat. In der Revision wird das noch einmal wiederholt: Mit Bezug auf die Exekution der Strafe ist der Satz des Seneca „durchaus falsch“. „Diese findet nicht darum statt, ne peccetur, sondern allein, quia peccatum est.“ 26 Im Anti-Hobbes zieht Feuerbach noch nicht die Konsequenzen für seinen späteren „Nulla poena etc.“-Satz. Das geschieht erst in der Revision. In der Revision geht Feuerbach davon aus, daß die Strafgesetze dazu da sind, durch die Androhung von Strafe die potentiellen Täter von der Begehung von Straftaten abzuschrecken.27 Diese Abschreckungsfunktion des Strafgesetzes bestimmt die „Natur der bürgerlichen Strafe“. Daraus folgt, als ein „Corollarium“, der „Nulla poena sine lege“-Satz. Feuerbach in der Revision: „Bürgerliche Strafe kann nur aus und nach einem Strafgesetze verhängt werden. In dem Strafgesetz und in der Uebertretung desselben durch die That liegt der einzige Grund zu der Zufügung des bürgerlichen Strafübels. Wo also gar kein Gesetz ist, da ist auch keine bürger22
Seneca, De ira 1, 19, 7. Anti-Hobbes S. 201–237. 24 Anti-Hobbes S. 221 mit Fn. *. 25 Anti-Hobbes S. 225–227, Fn. * auf S. 226. 26 Revision S. 61. Vgl. auch Revision S. 54 f., wo es heißt, daß „die begangene Handlung selbst wirklicher und zureichender Rechtsgrund des Uebels“ sei. Das Übel „wird zugefügt bloß um des Verbrechens willen; weil ein solcher Mensch das Gesetz verletzt hat, und eine Verletzung des Gesetzes, welche durch ein solches Uebel bedingt war, nach Rechtsprincipien ein zureichender Grund ist, um ihn das Uebel wirklich leiden zu lassen.“ 27 Revision S. 60. 23
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liche Strafe: wo das vorhandene Gesetz nicht anwendbar ist, da ist keine Strafe anwendbar.“ 28 Die lateinische Formel findet sich dann, wie bereits gesagt, in der ersten Auflage des Lehrbuchs von 1801. Damit folgt Feuerbach der Linie, die Kant vorgezeichnet hat. Wenn der Rechtsgrund der Strafe allein darin besteht, daß der Täter ein Verbrechen begangen hat, dann bedeutet das, daß ein Mensch nur dann bestraft werden kann, wenn er ein Verbrechen begangen hat. Das aber wiederum bedeutet, wenn wir hinzu nehmen, daß sich die Definitionen der Verbrechen allein aus dem Strafgesetz ergeben, daß ein Mensch nur dann bestraft werden kann, wenn er den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt hat. Damit aber sind wir beim „Nulla poena etc.“-Satz angelangt. Nun kennt Feuerbach freilich, genauso wie Kant, die einschlägigen Stellen im Leviathan des Hobbes, in denen der Gedanke des „Nulla poena sine lege“ bereits im 17. Jahrhundert ausgedrückt wird,29 und alle drei (Hobbes, Kant, Feuerbach) kennen die Bemerkung im Römer-Brief des Paulus „Wo kein Gesetz ist, da gibt es auch keine Übertretung“ 30 aus der sich der „Nulla poena etc.“-Satz ableiten läßt. Zweifellos waren diese Kenntnisse für die Entwicklung des „Nulla poena sine lege“-Gedankens hilfreich. Doch setzt der Gedanke selbst eine klare Unterscheidung zwischen der gesetzlichen Strafandrohung einerseits und ihrer Verhängung und Zufügung durch den Richter und die Strafvollstreckungsorgane andererseits und damit die Unterscheidung und Trennung verschiedener Funktionen der Staatsgewalt voraus, die Hobbes und Paulus noch nicht kennen. Wie Feuerbach erklärt, ist die staatliche Strafgewalt „unter die gesetzgebende, richterliche und ausübende Gewalt nothwendig verteilt.“ 31 Erst im Rechtsstaat bekommt der „Nulla poena sine lege“-Satz einen juristischen Gehalt.
28 Revision S. 63. Vgl. auch S. 131 Fn., wonach „keine Strafe ohne ein Gesetz gedacht werden kann.“ 29 Hobbes, Leviathan, 1668, Cap. XXVII und XXVIII; William Molesworth (Hrsg.), Hobbes, Opera Philosophica III 1841 (ND 1966), S. 211, 212, 225: „Ubi lex non est, peccatum non est. . . . Cessantibus legibus civilibus cessant crimina.“ (Wo kein Gesetz ist, das gibt es auch keine Verfehlung. Wenn die bürgerlichen Gesetze aufhören, hören auch die Verbrechen auf.) – „Quod ante legem latam factum est, crimen per legem illam fieri nequit. . . . Lex . . . post factum lata, quia cognosci non potuit, obligatoria non est.“ (Was vor dem Erlaß eines Gesetzes geschah, kann nicht als ein Verbrechen angesehen werden, das diesem Gesetz entsprechend geschehen ist. . . . Ein Gesetz, das nach der Tat erlassen worden ist, ist, weil es nicht erkannt werden konnte, nicht verbindlich.) – „Ante legem, transgressio legis esse non potuit; poena autem factum supponit probatum et judicatum violationem legis esse.“ (Vor einem Gesetz kann es keine Übertretung des Gesetzes geben; Strafe aber setzt eine erwiesene Tat voraus, die als eine Verletzung des Gesetzes zu beurteilen ist.) 30 Röm. 4, 15. 31 Revision S. 130–131 Fn., wo der Autor allerdings, anders als Kant, insgesamt vier Gewalten annimmt.
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III. Kants nachträglicher Kommentar zu dem „. . . weil er verbrochen hat“ Kehren wir zu dem „weil er verbrochen hat“ 32 zurück, das Kant im Kontext der Stelle benutzt, die wir oben (I.) wiedergegeben und interpretiert haben, und das eine Übersetzung des „quia peccatum est“ ist. In der zweiten Auflage der Rechtslehre hält Kant es für zweckmäßig, den Charakter dieses „weil er verbrochen hat“ noch einmal zu erörtern. Im „Anhang erläuternder Bemerkungen“ geht auch er, wie Feuerbach im Anti-Hobbes und in der Revision (siehe oben II.), ausdrücklich auf den Satz des Seneca ein. Die Stelle, um die es uns jetzt geht, lautet im Zusammenhang: „Die Strafgerechtigkeit (iustitia punitiva), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden und hat in der Topik der Rechtsbegriffe einen ganz anderen Ort, locus iusti, nicht des conducibilis oder des Zuträglichen in gewisser Absicht, noch auch den des bloßen honesti, dessen Ort in der Ethik aufgesucht werden muß.“ 33 Kant knüpft hier an die Argumentationstheorie seiner Zeit an. Mit der „Topik der Rechtsbegriffe“ bezieht er sich auf die an die Topik des Aristoteles angelehnten Topoi-Kataloge („topos“ = „Ort“), die im 18. Jahrhundert noch im Gebrauch waren. Topoi-Kataloge stellen die nach den Vorstellungen ihrer jeweiligen Verfasser wichtigsten Grundbegriffe einer Disziplin zusammen und ordnen diese Grundbegriffe so, daß sie in jeder Situation, in der argumentiert wird, benutzt werden können. Topoi-Kataloge sind damit Hilfsmittel bei Diskussionen. Es gab sehr allgemeine Topoi-Kataloge als Hilfsmittel für Argumentationen über beliebige Themen und Topoi-Kataloge für einzelne Fächer, weshalb zwischen den loci communes (Gemeinörtern) und den spezielleren loci (Örtern) für besondere Fächer unterschieden wurde.34 Kant denkt sich an der hier herangezogenen Stelle eine „Topik der Rechtsbegriffe“, also eine spezielle juristische Topik, in der die Strafgerechtigkeit und die Strafklugheit verschiedenen Örtern zugewiesen sind, 32
6:331,25. 6:363,31–364,36. 34 Loci communes sind naturgemäß sehr allgemein, und die Topoi-Kataloge für allgemeine Diskussionen wurden im 18./19. Jahrhundert so banal, daß der Ausdruck „Gemeinplatz“ (d.i. die wörtliche Übersetzung von „locus communis“) die negative Konnotation bekommt, die er heute noch hat. Vgl. etwa Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953, S. 6–26; Ch. Perelman/L. Olbrechts-Tyteca, Traité de l’Argumentation – La nouvelle rhétorique, 2. Aufl. Brüssel 1970, S. 112–115; O. Primavesi/Ch. Kann/ S. Goldmann, Art. „Topik; Topos“, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 10 (1998), Sp. 1263–1288. – Kant verwendet den Ausdruck „Gemeinplatz“ noch in einem positiven Sinne, und er verwendet „locus communis“ in einem weiteren Sinne, als wir oben voraussetzen (6:357,17–32). 33
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die Strafgerechtigkeit dem „locus iusti“ (wörtlich: dem „Ort des Gerechten“), die Strafklugheit dem „locus conducibilis“ (in Kants Sprache wörtlich: dem „Ort des Zuträglichen“ oder, in heutiger Sprache, dem „Ort des Zweckdienlichen“ oder „des Zweckmäßigen“). Unserer Stelle geht es ausdrücklich um „Argumente der Strafbarkeit“, d.h. um Argumente für die Strafbarkeit des Täters eines bestimmten Verbrechens. Zu unterscheiden ist, so Kant, zwischen der „Strafgerechtigkeit“, bei der „das Argument der Strafbarkeit moralisch ist,“ und der „Strafklugheit“, bei der „es“ (d.i. das Argument der Strafbarkeit) „bloß pragmatisch“ ist. „Quia peccatum est“ und „ne peccetur“ sind solche Argumente der Strafbarkeit. Sie sind Argumente der Strafbarkeit, weil sie, mögen sie nun durchschlagende Argumente sein oder nicht, immer dann, wenn sie anwendbar sind, einen Grund dafür angeben, daß ein Mensch zu bestrafen sei. Das „quia peccatum est“ behauptet, ein bestimmter Mensch sei zu bestrafen, wenn und weil er ein Verbrechen begangen hat; das „ne peccetur“ behauptet, ein bestimmter Mensch sei zu bestrafen, wenn und weil es darum geht, daß kein (weiteres) Verbrechen begangen werde. Die Strafgerechtigkeit und damit das moralische Argument der Strafbarkeit (nämlich das „quia peccatum est“) haben in der Topik der Rechtsbegriffe deswegen einen anderen Ort als die Strafklugheit und damit das pragmatische Argument der Strafbarkeit (nämlich das „ne peccetur“), weil das Argument der Strafgerechtigkeit ein „moralisches“, das Argument der Strafklugheit dagegen ein „bloß pragmatisches“ Argument ist. Wir müssen das Wort „moralisch“, das Kant hier gebraucht, richtig verstehen. Das Moralische steht dem Physischen gegenüber, Recht und Ethik gehören gleichermaßen zur Moral, weshalb Kant in der Metaphysik der Sitten sowohl die Rechtslehre als auch die Tugendlehre (die Ethik) behandelt.35 Ein moralisches Argument ist danach ein Argument, das entweder in die Rechtslehre oder in die Ethik gehört, im Gegensatz zu einem pragmatischen Argument, das einen technischen Charakter hat (Welche Handlung muß ich vornehmen, um meinen Zweck Z zu erreichen?). Da er die Ethik an unserer Stelle ausschließt (dazu sogleich weiter unten), charakterisiert Kant mit dem Ausdruck „moralisch“ das „quia peccatum est“ als ein rechtliches Argument. Wenden wir uns dem „locus iusti“ zu, dem im Kontext unserer Stelle eine Schlüsselrolle zukommt. „Locus iusti“ weist zurück auf die „lex iusti“ (wörtlich: das „Gesetz des Gerechten“). Die lex iusti ist das Gesetz des äußerlich Rechten oder, mit anderen Worten, das Gesetz, das in einem konkreten rechtlichen Zustand (Rechtsstaat) maßgeblich ist. In einem konkreten rechtlichen Zustand maßgeblich ist einerseits das unaufhebbare Naturrecht, andererseits aber auch das in dem fraglichen Rechtsstaat gegebene positive Recht (wobei Kant als „positives 35 Zu diesem Begriff von „Moral“ und „moralisch“ vgl. Byrd/Hruschka, Commentary (Anm. 7) S. 3–4.
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Recht“ nicht schon jedes beliebige Pseudo-Recht, sondern nur dasjenige statutarische Recht versteht, dem Verbindlichkeit zukommt, u. a. dann, wenn es dem Naturrecht nicht widerspricht).36 Wir können das auch noch anders formulieren. Die lex iusti ist das Recht, mit dem sich (in einem Rechtsstaat) die Juristen befassen. Der Ausdruck „locus iusti“ verweist auf diese lex iusti. Die lex iusti ist damit der Ort, wo es um reine Rechtsfragen geht. Wenn Kant also sagt, die Strafgerechtigkeit (und damit das moralische Argument der Strafbarkeit: „quia peccatum est“) gehöre in den locus iusti, dann meint er damit, daß es sich bei ihr (und bei diesem Argument) um eine rein juristische Angelegenheit handelt. Das „quia peccatum est“ ist ein moralisches Argument, aber, so Kant ausdrücklich, es gehört nicht in den „locus honesti“ (den „Ort des Ehrenhaften“, d.i. des ethisch Guten) und deshalb nicht in die Ethik. Infolgedessen ist es ein rechtliches Argument. Warum ist das „quia peccatum est“ ein rechtliches Argument? Machen wir uns das an dem Beispiel der „Grundform des juristischen Schlusses“ klar (die Terminologie nach Klug), welche „Grundform des juristischen Schlusses“ Kant schlicht einen „praktischen Vernunftschluß“ 37 nennen würde: (1) (Obersatz) Mörder sollen bestraft werden, (2) (Untersatz) A ist ein Mörder, (3) (Schlußsatz) A soll bestraft werden.38 Das Argument „quia peccatum est“ baut auf diesem Vernunftschluß auf. Es ist nichts anderes als eine Zusammenfassung dieses Schlusses. Es geht von dem Obersatz des Vernunftschlusses als einer allgemeinen Regel aus, subsumiert (im Untersatz) die Tat des A unter die Bedingung des Obersatzes und kommt zu dem Schluß, daß A zu bestrafen sei. A ist zu bestrafen, „weil er verbrochen hat“. Das ist eine rein juristische Angelegenheit. IV. Das Legalitätsprinzip bei Feuerbach Gehen wir auf einen anderen rechtsstaatlichen Grundsatz ein, den wir u. a. bei Feuerbach finden. Das Legalitätsprinzip, das heute in §§ 152 Abs. 2, 160 StPO gesetzlich festgeschrieben ist, besagt bekanntlich, daß die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte verpflichtet sind, ihnen bekannt gewordene Straftaten zu verfolgen, respektive abzuurteilen. In der Revision begründet Feuerbach das Legalitätsprinzip (das 1799 noch nicht diesen Namen hat) auf dem Wege über ganz allgemeine Überlegungen zum Strafrecht. Er fragt, wie der Staat den Bürgern die Überzeugung vermittele, daß mit einem Verbrechen die auf das Verbrechen folgende Strafe notwendig verknüpft sei.39 Die Vermittlung dieser Überzeugung ge36 Zum Begriff der lex iusti und über die Ableitungszusammenhänge, in denen die lex iusti steht, näher Byrd/Hruschka, Commentary (Anm. 7) S. 52–54. 37 Zu den praktischen Vernunftschlüssen bei Kant vgl. Byrd/Hruschka, Commentary (Fn. 7), S. 149–154. 38 Vgl. Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. 1966, S. 47–48. 39 Revision S. 47.
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schieht auf der Grundlage von zwei hintereinander geschalteten Überlegungen: (1) Das Mittel, das die Überzeugung bei den Bürgern bewirken soll, muß, so Feuerbach, die fragliche „Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Verknüpfung des Uebels mit dem Verbrechen“ selbst enthalten.40 Dann heißt es weiter: „Hieraus folgt, daß die Verknüpfung des Uebels mit dem Verbrechen durch das Gesetz angedroht seyn müsse. Das Gesetz ist allgemein und nothwendig. Es spricht zu allen Bürgern, droht jedem, der sich des Verbrechens schuldig macht, die Strafe, und stellt diese Strafe, eben weil es ein Gesetz ist, als eine rechtlich-nothwendige Folge des Verbrechens dar. Wer diese Handlung thut, soll diese Strafe leiden; niemand der sie thut, darf der Strafe entgehen. Strafe und Verbrechen sind durch einander bedingt: niemand kann das Eine ohne das Andere wollen; niemand zu der gesetzwidrigen That sich bestimmen, ohne dem damit verknüpften Uebel sich zu unterwerfen.“ 41
(2) Das Gesetz, das die Strafe androht, allein genügt zur Vermittlung der fraglichen Überzeugung freilich noch nicht. Es muß auch durchgeführt werden. Feuerbach schreibt: „Aber mit dieser gesetzlichen Drohung allein ist noch nicht alles getan. Sie bestimmt zwar die absolute rechtliche Nothwendigkeit der Strafe; aber nach dieser rechtlichen Nothwendigkeit muß auch wirklich gehandelt werden. Das in dem Gesetz angedrohte Uebel muß auch überall eintreten, sobald die Beleidigung, welche es voraussetzt, wirklich vorhanden ist. Denn die gesetzliche Drohung soll den Willen bestimmen, dieses kann sie aber nicht, wenn sie nicht eine Drohung künftiger, nicht nur rechtlich-nothwendiger, sondern auch wirklich eintretender Uebel ist. In diesem Falle wäre sie eine leere Drohung, die niemand[es] Furcht erwecken, mithin auch nicht Triebfeder zur Bestimmung des Begehrens seyn könnte. Das Gesetz würde daher sich selbst widersprechen und so gut wie gar nicht vorhanden seyn. Damit nun also die Drohung des Gesetzes eine wirkliche Drohung sey; so muß sie, wenn der bedingte Fall eintritt, wirklich ausgeführt, das Uebel wirklich vollzogen werden.“ 42
Es ist klar, daß das Legalitätsprinzip aus diesen Überlegungen folgt. Die gesetzlichen Strafandrohungen, sollen sie glaubwürdig sein, fordern, daß den Strafverfolgungsbehörden die Pflicht auferlegt wird, die begangenen Verbrechen auch zu verfolgen. In diesem Zusammenhang heißt es auch: „Das Gesetz sagt kategorisch, das Verbrechen soll mit dem Uebel verknüpft seyn.“ 43 Der Satz besagt, daß die Strafe (das „Uebel“) mit dem Verbrechen ohne jede weitere Bedingung verbunden ist. Denn „kategorisch“ bedeutet „unbedingt“. Danach ist der zitierte Satz – „Das Gesetz sagt kategorisch, das Verbrechen soll mit dem Uebel verknüpft seyn“ – Feuerbachs Formulierung (genauer: eine von Feuerbachs Formulierungen) des Legalitätsprinzips. Das setzt natürlich voraus, daß das Strafgesetz 40
Revision S. 48–49. Revision S. 49. 42 Revision S. 50. – Das Wort „Beleidigung“ (wörtlich übersetzt: „Leidzufügung“) hat im 18. Jahrhundert eine weitere Bedeutung als heute und meint „Rechtsverletzung“ (laesio) schlechthin. 43 Revision S. 55. 41
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zunächst einmal nicht so verstanden werden darf, daß es sich allein an die Bürger, sondern so verstanden werden muß, daß es sich in erster Linie an die Strafverfolgungsorgane und die Gerichte wendet. Genau das sagt Feuerbach ausdrücklich: Das Strafgesetz „bezieht sich . . . auf die Staatsbeamten, welche die richterliche Gewalt des Staats ausüben. Diesen legt es die vollkommene Verbindlichkeit auf, die Verbrechen nach ihm zu bestrafen und läßt sich in so ferne in zwei Propositionen auflösen: a) kein Verbrechen soll ohne die gesetzliche Strafe seyn; oder das Strafübel ist die Bedingung des Verbrechens (nullum crimen sine poena legali). b) Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen seyn, oder: die Bedingung (der nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legalis sine crimine).“ 44 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Strafgesetz bezieht sich mittelbar natürlich auch auf die „möglichen Verbrecher“.45 Seine primären Adressaten aber sind die Gerichte (und die Strafverfolgungsorgane). Die erste der beiden Propositionen, in die sich das Strafgesetz (nach Feuerbach) auflösen läßt, ist die, daß kein Verbrechen ohne die gesetzliche Strafe sein soll, oder, lateinisch: „Nullum crimen sine poena legali“ (Kein Verbrechen ohne die gesetzliche Strafe). Mit der Formulierung, „das Strafübel“ sei „die Bedingung des Verbrechens“, stellt Feuerbach die gesetzliche Strafe als eine notwendige Bedingung für das (mit dieser Strafe bedrohte) Verbrechen dar, woraus folgt, daß das Verbrechen eine hinreichende Bedingung für die Strafe ist,46 was seinerseits mit dem Grundsatz „Nullum crimen sine poena legali“ gleichbedeutend ist. In der Tat folgt der Satz schon aus dem Strafgesetz selbst, das sich an die Richter (und die Strafverfolgungsorgane) wendet, denen es gebietet, Verbrechen zu bestrafen. Er ist nichts anderes als ein Hinweis auf das „Sollen“, das an die Richter (und Strafverfolgungsorgane) gerichtet ist, oder, mit anderen Worten, er ist eine weitere (Feuerbachs zweite) Formulierung des Legalitätsprinzips. – Der zweiten Proposition, die Feuerbach aus dem Strafgesetz gewinnt, werden wir uns weiter unten (unter VI.) zuwenden. V. Das Legalitätsprinzip bei Kant Mit den unter IV. vorgetragenen Überlegungen knüpft Feuerbach an die Rechtslehre an, in der Kant das Legalitätsprinzip zum ersten Male mit den Worten formuliert: „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ“.47 Auch Kant 44
Revision S. 148. Revision S. 149. 46 Feuerbach wendet hier die Regel an: „Stets dann, wenn p eine notwendige Bedingung für q ist, ist q eine hinreichende Bedingung für p.“ Zu diesem Verhältnis von notwendiger und hinreichender Bedingung vgl. Klug, Juristische Logik (Anm. 38), S. 44. 45
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setzt voraus, was Feuerbach ausdrücklich sagt, daß nämlich die Strafverfolgungsorgane und die Gerichte die eigentlichen Adressaten des Strafgesetzes sind. Schon in Hobbes’ Leviathan heißt es: „Die Strafgesetze bestimmen die den Übertretern der Gesetze gebührenden Strafen und sind allein an die öffentlichen Diener gerichtet, denen die Vollziehung der Strafen obliegt.“ 48 Das ist für Kant, der den Leviathan genau kennt, eine Selbstverständlichkeit, zumal das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (also drei Jahre vor Kants Rechtslehre) Strafbestimmungen als kategorische Imperative formuliert, etwa in II 20 § 826 ALR, der lautet: „Derjenige, welcher mit vorher überlegtem Vorsatze zu tödten einen Totschlag wirklich verübt, soll als ein Mörder mit der Strafe des Rades von oben herab belegt werden.“ Kehren wir noch einmal zu der „Grundform des juristischen Schlusses“, dem „praktischen Vernunftschluß“ zurück, den wir oben III. angesprochen haben. Wenn Kant davon spricht, das Strafgesetz sei ein kategorischer Imperativ, dann müssen wir das als einen Hinweis auf den Obersatz dieses Vernunftschlusses („Mörder sollen bestraft werden“) verstehen, der eben ein kategorischer, d.i. ein unbedingter Imperativ ist, im Gegensatz zu den hypothetischen Imperativen, die unter einer Bedingung stehen (etwa: Wenn du einen Nagel in die Wand schlagen willst, dann mußt du die Spitze und nicht den Kopf des Nagels an die Wand halten. Oder: Wenn du nicht bestraft werden willst, dann solltest du es unterlassen, einen anderen Menschen zu töten).49 Obwohl Feuerbach Kants Formulierung wörtlich wiedergibt,50 darf doch ein Unterschied zwischen Kant und Feuerbach nicht übersehen werden. Feuerbachs Begründung für das Legalitätsprinzip ist u. a. die Glaubwürdigkeit der gesetzlichen Strafdrohungen. Mit diesem Gesichtspunkt kann Kant nicht arbeiten. Denn damit werden die (richterliche) Verhängung der Strafe und ihre Vollstreckung an dem jeweiligen Delinquenten zum Mittel für den Zweck gemacht, potentielle spätere Verbrecher in der Furcht zu erhalten, die von den (gesetzlichen) Strafdrohungen geweckt wird. Utilitaristische Überlegungen dieser Art kann es in einer reinen Rechtslehre nicht geben. Kants Satz „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ“ ist deshalb ein beschreibender, ein klarstellender Satz und nicht etwa 47 6:331,32–33. – Ein erster Hinweis darauf, daß der Satz Kants Formulierung für das Legalitätsprinzip ist, in meinem Beitrag in ZStW 115 (2003) S. 201 ff., 218. Eine Analyse, die in dieselbe Richtung geht, auch bei Altenhain (Anm. 4) S. 11–12. Vgl. auch Byrd/Hruschka, „Kant zu Strafrecht und Strafe im Rechtsstaat“, JZ 2007, S. 957– 964 (960–962). 48 Hobbes, Leviathan (Anm. 29), Cap. XXVI, S. 207: „[Leges] poenales sunt, quae poenas violatoribus legum infligendas definiunt, quaeque ministros, quorum officium est poenas exequi, solos alloquuntur.“ 49 Naucke (Anm. 16), S. 31, nimmt an, daß das Strafgesetz als ein kategorischer Imperativ mir etwas gebiete. Mit Bezug auf den Bürger ist das Strafgesetz jedoch nicht ein kategorischer, sondern ein hypothetischer Imperativ. 50 Revision S. 141 Fn.
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eine Vorschrift oder Norm. Der Satz teilt uns lediglich mit, was wir aus II 20 § 826 ALR und anderen ähnlichen Vorschriften ohnehin schon wissen, nämlich daß die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte die Verbrecher bestrafen sollen und also kraft dieser Vorschriften verpflichtet sind, die Täter zu verfolgen und abzuurteilen. § 152 Abs. 2 StPO und andere Normen, aus denen sich die Verfolgungs- und Verurteilungspflicht der Behörden und Gerichte ergibt, brauchen wir heute nur deswegen, weil unsere Strafgesetze in einer pseudo-deskriptiven Sprache abgefaßt sind („Wer tötet, wird bestraft“) und also nicht wie Normen aussehen, sondern in dieser Form eher in eine ethnographische Arbeit als in das Strafgesetzbuch gehören.51 VI. „Es kan niemand gestraft werden als nach bewiesenem Verbrechen“ Der in der Überschrift wiedergegebene Satz52 ist eine Bemerkung Kants zur Unschuldsvermutung, wie sie von Achenwall im Ius Naturae formuliert wird.53 Die Unschuldsvermutung setzt voraus, daß die Schuld des Angeklagten zu beweisen ist, woraus folgt, daß niemand bestraft werden kann, wenn seine Tat nicht bewiesen ist. Die Unschuldsvermutung gehört zum Gemeingut der Rechtsphilosophie der Aufklärung. Ihre bekannteste Fassung ist die Pufendorfs, die auch Kant in der Rechtslehre (teilweise) wiedergibt: „Quilibet praesumitur bonus, donec probetur contrarium“ (Jedermann wird als gut vermutet, bis das Gegenteil bewiesen ist).54 Kant arbeitet einerseits mit der Unschuldsvermutung, andererseits mit dem Begriff der Unbescholtenheit. Unbescholtenheit ist ein Moment des ursprünglichen Freiheitsrechts. Infolgedessen kommt die „Qualität eines unbescholtenen Menschen (iusti)„ „jedermann von Natur zu“.55 Das soll heißen: Jedermann ist von Natur aus als ein „gerechter“ Mensch („iustus“) anzusehen, d.i. als jemand, der tut, „was nach äußeren Gesetzen recht ist“.56 Ausdrücklich hebt Kant hervor, daß 51 Kant bringt Beispiele für die Anwendung des Legalitätsprinzips, das Beispiel des Verbrechers, der gefährliche Experimente an sich vornehmen läßt, um der Strafe zu entgehen (6:332,3–10), und das Insel-Beispiel (6:333,17–25), aus dem sich ergibt, daß ein Staat sich nicht auflösen darf, ohne dem Legalitätsprinzip Genüge getan zu haben. Dazu ist an anderer Stelle Ausreichendes gesagt worden, was hier nicht wiederholt zu werden braucht. Vgl. Byrd/Hruschka JZ 2007 (Anm. 47), S. 961 f. Es gehört ebenfalls hierher, daß Kant sich gegen mögliche Begnadigungen von verurteilten Verbrechern wendet (6:337,9–20); dazu JZ 2007, S. 959. 52 19:413,3–4. 53 Achenwall, Ius Naturae II (Anm. 15), § 198 (= 19:413,28–34). 54 Vgl. 6:301,15–16, wo Kant die letzten beiden Wörter durch ein „etc.“ ersetzt. Im übrigen vgl. meinen Beitrag „Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung“, ZStW 112 (2000), S. 285–300. 55 Vgl. einerseits 6:238,1–3, andererseits 6:237,21–23. 56 Vgl. 6:224,7–8.
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es dabei um die Frage geht, wem, bei einer „bezweifelten Tat“, „die Beweisführung (onus probandi) obliege.“ Kraft der Qualität eines unbescholtenen Menschen kann derjenige, der eine „Verbindlichkeit von sich ablehnt“, sich „auf sein angeborenes Recht der Freiheit“ und damit auf seine Unbescholtenheit berufen.57 Feuerbach arbeitet nicht mit der Unschuldsvermutung. Aber auch er kennt den Grundsatz, daß niemand bestraft werden kann außer nach bewiesenem Verbrechen. In der Revision leitet Feuerbach den Grundsatz aus dem „Nulla poena sine lege“-Satz ab. Im Anschluß an die deutschsprachige Fassung des „Nulla poena etc.“-Satzes58 heißt es: „Ein vorhandenes Gesetz ist nicht anwendbar, wenn die Bedingungen, an welche die Strafe als rechtliche Folge geknüpft ist, entweder gar nicht vorhanden, oder nicht erwiesen sind. Denn die Strafe ist nicht unbedingt festgesetzt, sondern ist an das Verbrechen als eine Bedingung geknüpft. Es giebt daher keine ausserordentliche Strafe bei unvollkommenem Beweis. Ein unvollkommener Beweis besteht in solchen Gründen für die Existenz des Verbrechens, welche nicht alle die Eigenschaften haben, die ein Gesetz zur vollkommenen Gewißheit erfordert. Da nun Strafe schlechterdings nach dem Gesetz erkannt werden muß; und eine Strafe nur nach dem Gesetz erkannt werden kann, wenn die Voraussetzung, die der rechtliche Grund der Strafe seyn soll, vorhanden ist; durch einen unvollkommenen Beweis aber, die Existenz jener Bedingung nicht festgesetzt ist; so folgt auch, daß das Strafgesetz bey unvollkommenem Beweis der Voraussetzung nicht statt finden, mithin auch keine Strafe erkannt werden könne.“ 59
Weil es ohne ein Gesetz keine Strafe gibt, jedes Gesetz aber neben der zu verhängenden Strafe auch die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Strafe formuliert, kann es keine Strafe nach diesem Gesetz geben, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Daraus folgt, daß stets dann, wenn der zuständige Richter zu der Aufassung gelangt, es sei nicht bewiesen, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind, er auch keine Strafe nach dem Gesetz verhängen kann. An einer anderen Stelle in der Revision arbeitet Feuerbach mit der Proposition, deren Bedeutung wir oben IV. offen gelassen haben: „Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen seyn, oder: die Bedingung (der nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legalis sine crimine).“ 60 Der lateinische Satz bedeutet: „Keine gesetzliche Strafe ohne ein Verbrechen.“ Im Lehrbuch wird der Gedanke etwas schärfer formuliert: „Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung (Nulla poena sine 57
6:238,12–20. Vgl. auch Byrd/Hruschka, Commentary (ob. Fn. 7) S. 82–83. Revision S. 63, oben (unter II.) abgedruckt. 59 Revision S. 63 f. – Beiläufig sei darauf hingewiesen, daß Feuerbach sich hier gegen „außerordentliche“ Strafen wendet. Zu dem Strafensystem des 18. Jahrhunderts, das außerordentliche Strafen kennt, siehe oben Text zu Anm. 9. 60 Revision S. 148. 58
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crimine).“ 61 Das soll heißen: Die Richter (und die Beamten der Strafvollstrekkungsbehörden) können eine gesetzliche Strafe nur dann verhängen (zufügen), wenn sie die „Existenz“ eines Verbrechens festgestellt haben. Denn nur dann, wenn ein Verbrechen „in concreto“ 62 begangen worden ist, ist eine Strafe fällig. In der Sache stimmt Feuerbach mit Kant überein, wenn auch das Fehlen der Unschuldsvermutung (für uns) ungewohnt und Feuerbachs Lehrsatz „Nulla poena sine crimine“ möglicherweise weniger handlich ist als die Unschuldsvermutung. VII. Zur Funktion des Strafrechts in einem Rechtsstaat Im „Anhang erläuternder Bemerkungen“ zur zweiten Auflage der Rechtslehre kommentiert Kant nicht nur das „. . . weil er verbrochen hat“, sondern er faßt auch mit einem Satz seine wesentlichen Vorstellungen zum Strafrecht zusammen: „Die bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich, welche der obersten Gewalt zusteht.“ 63 Von einem (Rechts)-Staat können wir nur dann reden, wenn wir eine „oberste Gewalt“ haben. „Oberste Gewalt“ meint dabei nicht jede beliebige faktische Gewalt über Menschen (violentia), sondern „oberste Gewalt“ ist eine Macht über Menschen (potestas), die Rechtscharakter hat.64 Der Begriff einer obersten Gewalt aber und der einer Strafgerechtigkeit oder, wie wir heute sagen würden, der Begriff einer „Strafjustiz“, d.i. einer menschlichen Strafgerichtsbarkeit, implizieren einander.65 Nicht nur ist es so, daß der (Rechts)-Staat eine notwendige Bedingung für eine (menschliche) Strafgerechtigkeit ist, sondern es ist auch so, daß eine (menschliche) Strafgerechtigkeit eine notwendige Bedingung für eine oberste Gewalt und einen Rechtsstaat ist. Oder, mit anderen Worten: Es ist nicht nur so, daß Strafe nur im Verhältnis einer obersten Gewalt gegen die einzelnen im Volk gedacht werden kann,66 sondern es ist auch so, daß nur dann, wenn die oberste Gewalt eine Strafgerechtigkeit einrichtet und unterhält, wir von einer obersten Gewalt und einem Rechtsstaat sprechen können.
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Der volle Text unten VIII. Revision S. 147. 63 6:362,31–33 (Hervorhebung im Original). 64 Kant unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Begriffen von Gewalt, nämlich zwischen „Gewalt (violentia)“ (6:307,13) und „Gewalt (potestas)“ (etwa 6:318,4), von denen sich die erste als rohe Gewalt, d.i. als tatsächliche physische Macht, die zweite als rechtliche Macht über Menschen beschreiben läßt. 65 Dazu, daß „Strafgerechtigkeit“ („Kriminalgerechtigkeit“) bei Kant die (rechtsstaatliche) Strafjustiz meint, siehe besonders deutlich 6:331,10–11. Vgl. auch Byrd/ Hruschka, Commentary (Anm. 7) S. 38–39, wo gezeigt wird, daß die iustitia distributiva eine Allegorie für die (rechtsstaatliche) Gerichtsbarkeit ist. 66 Vgl. etwa 6:347,11–12, wo es heißt, Strafe finde „nur im Verhältnisse eines Obern (imperantis) gegen den Unterworfenen (subditum) statt“ (Hervorhebung von mir). 62
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Vom Rechtsstaat und seinen Leistungen spricht Kant an einer anderen Stelle in der Rechtslehre. „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann.“ 67 Das ist der ganze Sinn eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats): Daß jeder seines Rechts teilhaftig werden kann. Das soll heißen: Daß jedem die Rechte, die er hat, nicht nur nominell zustehen, sondern daß jedermann diese seine Rechte auch ausüben kann. Auch im Naturzustand haben wir Rechte,68 aber diese Rechte sind noch „provisorisch (einstweilig)“. Die Funktion eines rechtlichen Zustandes ist es, unsere Rechte auch zu „peremtorischen (gesicherten)“ Rechten zu machen.69 Eine „bürgerliche Verfassung“, so heißt es einmal, „ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine . . . gesichert . . . wird.“ 70 Deshalb haben wir die (Rechts)-Pflicht, aus dem Naturzustand herauszugehen und in einen rechtlichen Zustand einzutreten. Dieses Gebot, das er „Postulat des öffentlichen Rechts“ nennt,71 gibt Kant in verschiedenen Formulierungen wieder, von denen eine lautet: „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann.“ 72 Wir treten in einen rechtlichen Zustand um der Sicherung unserer Rechte willen ein. Dabei begeben wir uns des Rechts auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung unserer Rechte. Statt dessen übernimmt der Rechtsstaat die Sicherung dieser Rechte. Zur Sicherung der Rechte der Staatsbürger und aller anderen Personen, die sich in einem (konkreten) rechtlichen Zustand befinden, aber gehört die Einrichtung einer „Strafgerechtigkeit“. Auch für die Strafgerechtigkeit gilt, was Kant im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum rechtlichen Zustand schreibt, daß man den „Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden kann.“ 73 Gehen wir über zu Feuerbach. Über den Zweck des Staates heißt es in der Revision: „Der Zweck des Staates ist die wechselseitige Freiheit aller Bürger, oder, mit anderen Worten, der Zustand, in welchem jeder seine Rechte völlig ausüben kann, und vor Beleidigungen sicher ist. Jede Beleidigung widerspricht daher der Natur und dem Zweck des bürgerlichen Vereins.“ 74 Abgesehen davon, daß er dabei von Kants Freiheitsbegriff ausgeht,75 definiert Feuerbach hier den 67
6:305,34–306,1 (Hervorhebung im Original). Etwa 6:313,5–8. 69 Terminologie nach 6:292,28–30 (Hervorhebung von mir). 70 6:256,27–29 (Hervorhebung von mir). 71 6:307,8–9. 72 6:237,7–8 (Hervorhebung von mir). 73 6:306,14–16. Wenn wir bei dem Wort „Gerechtigkeit“ das Wort „Justiz“ mitdenken, dann wird die Stelle dem heutigen Leser klarer. 74 Revision S. 39. Zum Ausdruck „Beleidigung“ siehe Anm. 42. 75 Revision S. 26. 68
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rechtlichen Zustand als einen Zustand, „in welchem jeder seine Rechte völlig ausüben kann, und vor Beleidigungen sicher ist.“ 76 Das genau ist Kants Position. Weiter führt Feuerbach aus: Der „Schutz der Rechte“ seiner Bürger ist der Zweck des Staates.77 Aus diesem Zweck des Staates ergibt sich auch die Antwort auf die Frage, warum dem Staat überhaupt eine Strafgewalt zukommt. „Der Grund der strafenden Gewalt ist die Sicherung vollkommener Rechte.“ 78 Auch das ist Kants Position. Die Übereinstimmungen zwischen Kant und Feuerbach sind auch kein Zufall. Feuerbach ist ein Anhänger Kants, und er macht keinen Hehl daraus. An verschiedenen Stellen der Revision verweist er ausdrücklich auf die Rechtslehre,79 und er hat auch den Kommentar zur Rechtslehre von Jacob Sigismund Beck benutzt.80 Über das bisher Gesagte hinaus unterscheidet Feuerbach, wie wir oben II. gesehen haben, zwischen dem „Zweck der Androhung der Strafe“, der in der „Abschreckung“ der potentiellen Verbrecher besteht,81 und dem „Zweck der Zufügung derselben“.82 Hier weicht Feuerbach insofern von der Position Kants ab, als Kant der Zufügung der Strafe keinen besonderen Zweck zuschreibt und das auch nicht tun kann (siehe oben V.). Die Abweichung ist Feuerbach vielleicht bewußt, möglicherweise sieht er sie (die Abweichung) aber auch nicht, zumal er sie nicht diskutiert. Sieht man von der Abweichung ab, dann passen Feuerbachs Ausführungen zu Androhung und Zufügung von Strafe durchaus in das Bild, das Kant vom Rechtsstaat (vom rechtlichen Zustand) zeichnet. Vor allem: Auch Kant geht für die gesetzliche Strafandrohung von einer Abschreckungstheorie aus. Das wird bei seinen Ausführungen zu dem klassischen Schulfall, dem Brett des Karneades, deutlich. Zum Brett-Fall heißt es ausdrücklich, das „Strafgesetz“ könne „die beabsichtigte Wirkung“ (nämlich den Schiffbrüchigen von der Tötung des Schicksalsgenossen abzuhalten) „gar nicht haben“. „Denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist, (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch) kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist, (nämlich dem Ersaufen) nicht überwiegen.“ 83 Entscheidend ist hier die Bemerkung, daß das Strafgesetz eine Wirkung 76
In Revision S. 66 spricht Feuerbach selbst vom „rechtlichen Zustand“. Revision S. 31. 78 Revision S. 65. 79 Im ersten und zweiten Kapitel der Revision siehe S. 35, 48, 141. 80 Revision S. 39. Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sitten, Erster Theil, 1798. An der von Feuerbach herangezogenen Stelle sieht Beck richtig, daß Kants Strafrechtslehre u. a. dahin geht, daß auf die „Uebertretungen der Gesetze“ vom Staat „Strafen bestimmt“ werden, „damit keine Verbrechen existiren“ (Commentar S. 450; Hervorhebung von mir). 81 Revision S. 59–60. 82 Revision S. 56. 83 6:235,26–35 (Hervorhebungen im Original). 77
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beabsichtigt. Kant stellt keine weiteren Überlegungen zur Abschreckungstheorie an, weil die Abschreckungstheorie sich aus der Aufgabe des Rechtsstaats, die Rechte der Bürger zu sichern, von selbst ergibt. Daß Kant von der Abschrekkungstheorie ausgeht, heißt nicht, daß Feuerbach diese Theorie gerade von Kant übernimmt. Es bedeutet lediglich das, was wir oben gesagt haben: Feuerbachs Ausführungen zu Androhung und Zufügung von Strafe passen in das Bild, das Kant vom rechtlichen Zustand zeichnet, hinein. Bei der Lektüre von Kants Ausführungen zum Brett des Karneades kann Feuerbach keine Schwierigkeiten gehabt haben. Für die Differenz von Androhung und Zufügung von Strafe und die damit verbundene Abschreckungstheorie haben Kant und Feuerbach in dem Naturrechtskompendium von Achenwall, das in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland weit verbreitet war,84 eine gemeinsame Quelle.85 Nicht nur Kant, auch Feuerbach kennt die einschlägigen Schriften Achenwalls.86 Achenwall unterscheidet zwei Mittel, die der Staat einsetzt, damit „jedem von jedem sein Recht gegeben wird“. Das erste und primäre Mittel ist die Herbeiführung von Furcht, das zweite und subsidiäre Mittel ist die Vornahme des angedrohten Zwangsakts selbst.87 Ausdrücklich gibt Achenwall die Abschreckung von Straftaten als den Zweck der staatlichen Strafdrohungen an.88 Achenwall äußert sich auch zu der Frage, warum im Falle einer Gesetzesübertretung Strafe zugefügt wird, und zwar sagt er, der Verbrecher werde wegen der Übeltat bestraft.89 Diese letztere Bemerkung erlaubt in ihrer Allgemeinheit nicht nur Kants These, das Verbrechen allein sei der Grund der Bestrafung des Verbrechers („weil er verbrochen hat“), sondern auch Feuerbachs These, mit der aktuellen Bestrafung einer
84 Vgl. dazu etwa Schröder/Pielemeier, „Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: Dann/Klippel (Hrsg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, 1995, S. 255–269, 261, wo gezeigt wird, daß Achenwalls Naturrechtskompendium in Deutschland häufig Gegenstand von Vorlesungen war. 85 Vgl. bereits meinen Beitrag über „Strafe und Strafrecht bei Achenwall – Zu einer Wurzel von Feuerbachs psychologischer Zwangstheorie“, JZ 1987 S. 161–169. 86 Siehe die Kritik des natürlichen Rechts, 1796, S. 204 Fn., wo Feuerbach Achenwalls Ius Naturae zitiert. Auch in der Revision, S. 80 Fn. ***, verweist Feuerbach auf Achenwall. 87 Achenwall, Prolegomena Iuris Naturalis, 2. Aufl. 1763, § 129, S. 121–122. 88 Achenwall, Ius Naturae II (Anm. 15), § 40 (= 19:347,14–15), wo es zu den Strafdrohungen heißt: „ut nempe proposito malo a transgressione legum absterreantur“ (daß sie [die Untertanen] nämlich durch das vorgestellte Übel von der Übertretung der Gesetze abgeschreckt werden) (Hervorhebung von mir). Vgl. auch § 118 (= 19:383,13), wo es heißt: „ut ab earum transgressione sufficiter deterreantur“ (daß sie von der Übertretung der Gesetze genügend abgeschreckt werden). 89 Ius Naturae II (Anm. 15), § 40 (= 19:347,15–17): „Consistit . . . poena . . . in malo, quod superior infligit inferiori ob eius maleficium.“ (Die Strafe besteht aus einem Übel, das der Oberherr dem Untergebenen wegen dessen Übeltat zufügt.) (Hervorhebung von mir).
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Person sei auch der Zweck verbunden, die gesetzliche Strafandrohung wirksam zu machen. VIII. Feuerbachs Zusammenfassung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Strafrechts Den Höhepunkt von Feuerbachs Überlegungen zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Strafrechts, die wir hier behandelt haben, finden wir nicht im AntiHobbes oder in der Revision, sondern im Lehrbuch. Feuerbach beschreibt dort einen Zusammenhang „höchster Principien des peinlichen Rechts“. Der Zusammenhang besteht in einem einzigen höchsten Prinzip und drei daraus folgenden, „keiner Ausnahme unterworfenen“, untergeordneten Grundsätzen. Das höchste Prinzip ist das folgende: „Jede rechtliche Strafe im Staat ist die Folge eines, durch die Nothwendigkeit der Erhaltung äusserer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Uebel bedrohenden, Gesetzes.“
Die untergeordeten Grundsätze lauten: „I. Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege). Denn lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe. II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine). Denn durch das Gesetz ist die gedrohte Strafe an das Factum als eine rechtlich nothwendige Voraussetzung geknüpft. III. Das gesetzlich bedrohte Factum (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali). Denn durch das Gesetz wird an die bestimmte Rechtsverletzung das Uebel als eine nothwendige rechtliche Folge geknüpft.“
An diesem höchsten Prinzip und den drei untergeordneten Grundsätzen hält Feuerbach in allen elf Auflagen seines Lehrbuchs fest.90 Das höchste Prinzip faßt nicht nur Feuerbachs Strafrechtstheorie zusammen, sondern, soweit es reicht, gibt das höchste Prinzip Feuerbachs auch Kants Strafrechtslehre korrekt wieder. Die drei „untergeordneten Grundsätze“ Feuerbachs sind (in der Reihenfolge des Lehrbuchs) der „Nulla poena sine lege“-Satz, der Grundsatz, daß das Verbrechen bewiesen sein muß, ehe eine Strafe verhängt werden kann, und das Legali90 Mir standen die folgenden Auflagen des Lehrbuchs zur Verfügung: 1. Aufl. 1801, S. 20; 2. Aufl. 1803, S. 19 f.; 3. Aufl. 1805, S. 20; 5. Aufl. 1812, S. 21 f.; 6. Aufl. 1818, S. 23 f.: 7. Aufl. 1820, S. 23 f.; 9. Aufl. 1826, S. 22 f.; 10. Aufl. 1828, S. 18; 11. Aufl. 1832, S. 19. Die oben wiedergegebenen Passagen sind (auf den angegebenen Seiten) in der 1. Auflage in den §§ 23, 24, ab der 2. Auflage jeweils in den §§ 19, 20 des Lehrbuchs enthalten. Die Hervorhebungen im Original. Ab der 7. Auflage sind die Wörter „die Existenz“ durch „das Daseyn“ und die Wörter „das [. . .] Factum“ (zweimal) durch „die [. . .] That“ ersetzt.
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tätsprinzip.91 Auch für die drei untergeordneten Grundsätze gilt, was wir zum „höchsten Princip des peinlichen Rechts“ gesagt haben. Sie sind Grundsätze, die nicht nur zu Feuerbach, sondern vor allem auch in Kants Rechtslehre gehören. Die Leistung von Kants Rechtslehre besteht unter anderem darin, für Feuerbachs Strafrechtsdoktrin die Grundlage gelegt zu haben.
91 Bohnert hält die drei lateinischen Sätze Feuerbachs für Sätze, „in welchen das Bestimmtheitserfordernis festgestellt wird“; vgl. Bohnert, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1982, S. 9. Auf die Stelle in der Revision S. 148, in der Feuerbach seinen zweiten und dritten Grundsatz in einen ganz anderen Kontext stellt (s. oben IV. und VI.), geht Bohnert nicht ein.
Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff Von Urs Kindhäuser I. Problemstellung In ihrer Kommentierung zur allgemeinen Straftatlehre kommt Ingeborg Puppe nach einer eingehenden Analyse der sog. strafrechtlichen Handlungstheorien zu dem Ergebnis, dass das genus proximum der Handlung und der Unterlassung kein Individuum, sondern ein Sachverhalt sei.1 Der Begriff des Sachverhalts erbringe „diejenige Leistung, für die dieses genus proximum des Verbrechens in der Verbrechenslehre wirklich notwendig“ sei: Er garantiere, dass es bei der Konstitution einzelner Verbrechensarten oder einzelner Verbrechen nicht zu einer Konfusion der Konstitutionsstufen komme. Nur über einen Sachverhalt, nicht über ein Individuum könne man „beispielsweise sagen, dass er Bedingung eines Erfolges ist, dass er von einer Person beherrscht oder beherrschbar ist, dass er gewollt oder nicht gewollt ist, dass er rechtswidrig oder rechtmäßig ist, dass er verschuldet oder entschuldigt ist“. Hieraus ergibt sich für Puppe folgende Definition des Handlungsbegriffs: „Eine Handlung ist ein Sachverhalt, der darin besteht, dass eine Person etwas Bestimmtes tut oder etwas Bestimmtes nicht tut (unterlässt), was zu tun oder nicht zu tun ihr äußerlich möglich ist“.2 Mit den nachfolgenden Überlegungen soll zum einen die Berechtigung der These unterstrichen werden, dass Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Haftung ein Sachverhalt ist, und zum anderen näher untersucht werden, an welche Voraussetzungen die Annahme, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen sei einer Person möglich, im Kontext einer Zuschreibung von Verantwortung gebunden werden kann. Was zunächst den letztgenannten Punkt anbelangt, wollte es der inhaltsarme kausale Handlungsbegriff ausreichen lassen, dass der Täter überhaupt nur willensgetragen agiert hat. Dass ein Verhalten willensgetragen sein muss, scheint die Minimalforderung an die Steuerbarkeit eines Geschehens zu sein. Sie beruht auf der Annahme, dass ein Verhalten entweder willensgetragen oder nicht willensgetragen ist und dass sich daher strafrechtlich relevante von strafrechtlich irrelevanten Bewegungen unschwer abgrenzen lassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kausalisten von der Annahme ausgehen, ein Verhalten 1 Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch3 (NK), 2010, Vor § 13 Rn. 56. 2 NK-Puppe Vor § 13 Rn. 61 (Fn. 1).
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sei willensgetragen oder sei es nicht, mag mit der Vorstellung vom menschlichen Willen zusammenhängen, die Ryle ironisch das Bild vom Gespenst in der Maschine3 nennt: Der Wille setzt Muskeln in Bewegung, und folglich sind Bewegungen entweder solche, die vom Willen verursacht sind, oder solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Doch ein einfaches Beispiel zeigt, dass ein und dasselbe Verhalten unter einem bestimmten Aspekt willensgetragen und unter einem anderen Aspekt nicht willensgetragen sein kann. Denn identische Bewegungen können unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, auf welche Begleitumstände ihre Bedeutung bezogen wird: A erhält von B einen Schlag, verliert das Gleichgewicht, stürzt und stößt beim Fallen eine Vase mit dem Arm herunter, die zerbricht. Der Sturz ist bei diesem Geschehen gewiss kein willensgetragenes Verhalten, so dass dem A ceteris paribus mangels Handelns (im kausalen Sinne) keine Sachbeschädigung zugeschrieben werden könnte. Vielmehr liegt es nahe, den Vorgang als Handlung des B zu interpretieren, der durch sein willensgetragenes Verhalten, das Schlagen des A, die Vase beschädigte; das Fallen des A ist in diesem Kontext nur ein durch vis absoluta bedingter Kausalfaktor des Schadensverlaufs. Doch angenommen, A sei in der Lage gewesen, beim Fallen seinen Arm noch dergestalt zu bewegen, dass er das Berühren der Vase hätte vermeiden können. Am Kausalverlauf ändert sich durch diese Möglichkeit nichts, da der Sturz, so wie er geschah, durch den Schlag und nicht durch einen Willensakt des A verursacht wurde. A hat seinen Arm nicht dergestalt bewegt, dass es aufgrund dieser Bewegung zum Berühren der Vase gekommen ist.4 Für die Kausalerklärung von Belang ist allenfalls die negative Tatsache, dass A die Stellung seines Arms nicht verändert hat. Aber dann bezieht sich die Willentlichkeit nicht auf die Herbeiführung dessen, was ist, sondern auf das, was hätte sein können. Das Beispiel verdeutlicht, dass es im Kontext der Zuschreibung von Verantwortung nicht darum gehen kann, ob ein Verhalten als solches willensgetragen ist oder nicht, sondern nur darum, ob sich der Betreffende in einer bestimmten Art und Weise – d.h. relativ zu bestimmten Umständen des Geschehens – hätte anders verhalten können, und zwar: intentional hätte anders verhalten können. Deshalb wäre die bloße Möglichkeit, dass A seinen Arm überhaupt noch ein wenig willentlich hätte bewegen können, im gegebenen Kontext irrelevant, sofern die Wahrnehmung dieser Möglichkeit nicht dazu geführt hätte, das Berühren der Vase zu vermeiden. Das potenzielle Moment der Willentlichkeit bezieht sich 3
Ryle, The Concept of Mind, London 1949, Kap. I und passim. Eine Verantwortlichkeit des A sub specie Sachbeschädigung ist deshalb zu verneinen: Aktiv hat A die Vase nicht umgestoßen, da er die Gefahr für die Beschädigung der Vase nicht durch eine Bewegung seines Armes verursacht hat. Dementsprechend muss er mangels Gefahrschaffung auch nicht kraft Ingerenz seinen Arm zur Verhinderung eines Schadens wegbewegen. Allenfalls ist ceteris paribus an eine unterlassene Hilfeleistung zu denken. 4
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nicht auf die Beweglichkeit des Arms als solche, sondern auf die Beweglichkeit des Arms relativ zur intentionalen Vermeidbarkeit des Anstoßens der Vase. Insoweit ist auch die Frage der Kausalisten, ob sich jemand überhaupt willensgetragen verhalten hat, ob er also durch sein Verhalten eine beliebige Intention verwirklichen wollte, als Basis strafrechtlicher Zurechnung zunächst ohne Belang. Denn ein und derselbe körperliche Vorgang kann je nach den äußeren Umständen, auf die er in einem Zurechnungskontext bezogen wird, eine unterschiedliche Bedeutung haben. Die mangelnde Tragfähigkeit, auf inhaltsleerer Willentlichkeit und nackter Kausalität strafrechtliche Verantwortung zu begründen, hat bereits Honig aufgezeigt.5 Abzustellen ist nach Honig auf die finale Vermeidbarkeit des tatbestandlichen Geschehens.6 Allerdings spaltete Honig diese Finalität beim Begehungsdelikt auf; hier sollte für die Zurechnung auf Tatbestandsebene eine objektive Bezweckbarkeit ausreichen, während der konkrete Täter erst im Rahmen des Schuldvorwurfs in den Blick genommen werden sollte. Beim Unterlassungsdelikt liegt dagegen die Sachwidrigkeit dieser Zweiteilung auf der Hand: Hier kann nicht eine generalisierte Betrachtung maßgeblich sein, sondern nur die Fähigkeit des konkreten Täters, den Erfolgseintritt zu verhindern. Daher verlangt Honig beim Unterlassungsdelikt schon auf der Tatbestandsebene eine bejahende Antwort auf die Frage, ob es dem Täter möglich war, „anstatt untätig zu bleiben, eine dem Erfolgseintritt entgegenwirkende Tätigkeit vorzunehmen“.7 Erforderlich soll es also sein, dass „das Untätigbleiben in Hinblick auf den Erfolg als zweckhaft gedacht werden kann“.8 Honigs Überlegungen geben Anlass, die Funktion des strafrechtlichen Handlungsbegriffs im Zurechnungsgefüge anders zu bestimmen und auf die normgemäße Vermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zu beziehen. Gegenstand des Vorwurfs ist es dann nicht, den Tatbestand durch ein Verhalten mit beliebiger Intention verwirklicht zu haben. Voraussetzung von Verantwortlichkeit ist es vielmehr, dass dem Täter vorgeworfen werden kann, den Erfolgseintritt nicht intentional vermieden bzw. verhindert zu haben. Der Frage, ob ein solcher Ansatz tragfähig ist, soll im Folgenden nachgegangen werden. Dies erfordert freilich zuvor noch einen kurzen Blick auf die Konstituenten des Handlungsbegriffs. II. Die Handlung als Interpretationskonstrukt 1. Handlung und Verhalten Der Begriff des (menschlichen) Verhaltens kann als Oberbegriff für alle körperlichen Veränderungen eines Menschen in Raum und Zeit angesehen werden 5 6 7 8
Frank-FG, 1930, S. 174 ff. Frank-FG (Fn. 5), S. 174 (187 f.). Frank-FG (Fn. 5), S. 174 (192). Ebda.
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und umfasst neben aktiven Bewegungen auch Passivität. Insoweit lässt sich ein Verhalten stets unschwer identifizieren: Es sind die (nicht) vorgenommenen Bewegungen eines Menschen zwischen zwei Zeitpunkten. Es spielt hierbei keine Rolle, ob die Bewegung bewusst erfolgt; auch eine Bewegung im Schlaf, ein Zucken im Reflex oder das Schreien eines Neugeborenen kann als Verhalten bezeichnet werden. Menschliches Verhalten in seiner schieren raum-zeitlichen Dimension unterscheidet sich daher – so betrachtet – nicht von pflanzlichem oder tierischem Verhalten. Ein bestimmtes Verhalten lässt sich in unterschiedlicher Weise beschreiben. Die beiden Sätze „A läuft zum Bahnhof“ und „A flieht vor der Polizei“ mögen sich jeweils auf ein bestimmtes Verhalten der Person A zu einem bestimmten Zeitpunkt beziehen. Jedoch geben diese beiden Beschreibungen dem Verhalten einen unterschiedlichen Sinn. Dieser Unterschied resultiert nicht nur aus den differierenden Umständen, unter denen das fragliche Verhalten gesehen und geschildert wird. Vielmehr wird mit der unterschiedlichen Darstellung des Geschehens auch das Verhalten des A in jeweils spezifischer Weise gedeutet. Diese spezifischen Interpretationen des Verhaltens können jeweils als Handlungen bezeichnet werden. Insoweit haben in dem Beispiel zwei Handlungen ein und dasselbe Verhalten zum Referenzobjekt. Es gibt Verben, die für Handlungs- wie auch für bloße Verhaltensbeschreibungen verwendet werden können, und Verben, die stets ein Verhalten als Handlung interpretieren. Zu letzteren zählen vor allem Verben, zu deren Sinn geistige oder voluntative Einstellungen, das Befolgen von Regeln oder bestimmte Fertigkeiten gehören, wie etwa „lügen“ oder „Klavier spielen“. Ferner können Verben, die auch auf bloßes Verhalten passen, durch adverbiale Ergänzungen zu Handlungsbeschreibungen werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Adverb eine notwendig bewusste, gewollte oder besondere körperliche Vorgehensweise impliziert, wie etwa „gezielt schlagen“ oder „höflich schweigen“. Auch moralische Charakterisierungen – wie „richtig“ und „böse“ – führen notwendig zu Handlungsbeschreibungen. Das wesentliche Merkmal, das eine Handlungsbeschreibung implizieren muss, ist Intentionalität. 9 Eine „ungewollte“ Bewegung ist keine Handlung. Die Intentionalität muss ausdrücklich oder unausgesprochen in der Handlungsbeschreibung enthalten sein. Hierbei ist die Intentionalität immer auf ein Ziel gerichtet, das über die bloße Bewegung hinausreicht: Eine Handlungsbeschreibung interpretiert ein Verhalten, indem sie es mit einem über das Verhalten hinausreichenden Gegenstand, der als Ziel oder Zweck fungiert, verbindet. Oder anders formuliert: Durch die Verbindung mit einem von einem Akteur verfolgten Zweck erhält das Verhalten seinen Sinn als Handlung. 9
Hierzu auch Aristoteles, Ethica Nicomachea, VI 2, 1139a, 31–33.
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Ist Intentionalität ein wesentliches Merkmal von Handlungen, so gehört zu den Wahrheitsbedingungen einer Handlungsbeschreibung, dass der Handelnde selbst sein Verhalten in der fraglichen Weise interpretiert oder sich zumindest die entsprechende Interpretation seines Verhaltens durch einen Dritten zu eigen machen kann. So wäre im Beispielsfall die Handlungsbeschreibung, dass A vor der Polizei flieht, unzutreffend, wenn A gar nicht weiß, dass er von einem Polizisten verfolgt wird und daher sein Verhalten nicht als Fliehen vor der Polizei versteht. Handlungsinterpretationen durch Dritte sind daher notwendig hypothetisch; der Handelnde kann ihre Zuschreibung prinzipiell entkräften. Für den Handelnden selbst ist dagegen die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten in einer bestimmten Weise begrifflich zu deuten, konstitutiv für dessen Intentionalität und Bewusstheit. Als sprachabhängige Interpretationen von Verhalten sind Handlungen insoweit objektiv geprägt, als der Sinn der zur Beschreibung herangezogenen Ausdrücke auf den allgemeinen Regeln ihrer Verwendung beruht. Wie man nicht „a b c d e“ sagen und damit meinen kann „die Heizung ist zu warm“, so lässt sich auch nicht sagen „ich spiele Trompete“ und damit meinen „ich trinke Wein“. Handlungen sind irreduzibel sprachlich konstituiert; sie sind Interpretationskonstrukte. 2. Handlungstypen Die Deutung eines Verhaltens als Handlung bezieht sich auf eine Situation, die durch eine Relation zwischen zwei Zuständen (bzw. Prozessen), der Handlungsgelegenheit, gekennzeichnet ist. Exemplarisch: Unter der Bedingung, dass das Licht in einem Zimmer ausgeschaltet ist, hat die Person A Gelegenheit zum Vollzug zweier Handlungen. Sie kann die Veränderung vom Ausgeschaltet- zum Eingeschaltetsein des Lichts durch eine Bewegung (Drücken des Schalters) herbeiführen, und sie kann das Herbeiführen dieser Veränderung unterlassen. Diejenige Veränderung, die nicht stattgefunden hätte, wenn A die jeweils kontrafaktische Alternative ergriffen hätte, kann als Ergebnis (Resultat, Erfolg) der Handlung bezeichnet werden. Dieses Ergebnis ist zugleich das Ereignis, durch das die betreffende Handlung im Falle ihres Gelingens definiert wird.10 A hat nur dann das Licht in dem Zimmer eingeschaltet, wenn die Lampe brennt. Eine Handlungsbeschreibung impliziert die Hypothese, dass die als Ergebnis genannte Zustandsveränderung nicht eingetreten wäre, wenn das Getane unterlassen bzw. das Unterlassene ausgeführt worden wäre, und setzt daher die Möglichkeit der Alternative voraus.11 Getan werden kann nur, was auch unterlassen werden kann, und vice versa. Hierin unterscheidet sich die Interpretation eines 10 Anscombe, Intention, Oxford 1957, S. 37 ff.; v. Wright, The Varieties of Goodness, London 1963, S. 123 f. 11 v. Wright, Norm und Handlung. Eine logische Untersuchung, 1979, S. 56 ff.
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Verhaltens als Handlung wesentlich von einer bloßen Beschreibung dieses Verhaltens. Systematisch lassen sich vier Konstellationen unterscheiden, die jeweils eine Gelegenheit für ein Tun oder Unterlassen bieten: (1) Ein Zustand z besteht nicht und tritt nur ein, wenn er herbeigeführt wird. (2) Ein Zustand z besteht nicht, tritt aber ein, wenn er nicht unterdrückt wird. (3) Ein Zustand z besteht, vergeht aber, wenn er nicht aufrechterhalten wird. (4) Ein Zustand z besteht und bleibt bestehen, wenn er nicht zerstört wird. Diesen Konstellationen entsprechen die vier Handlungstypen des Herbeiführens, Unterdrückens, Aufrechterhaltens und Zerstörens. Hierbei beziehen sich ein Tun und das ihm korrespondierende Unterlassen jeweils nur auf einen bestimmten Handlungstyp. So impliziert etwa das Unterlassen des Tötens eines Menschen als systematisches Gegenstück nur die Möglichkeit der Herbeiführung von dessen Tod, nicht aber die Möglichkeit, dessen Sterben zu unterdrücken.12 3. Basis-Handlungen und Akkordeon-Effekt Die Zustandsveränderungen, die als Ergebnis in Handlungsbeschreibungen eingehen, sind als Ereignisse in der Welt ihrerseits mit weiteren Zustandsveränderungen kausal verbunden. Diese Veränderungen kommen ebenfalls als Ergebnisse weiterer Handlungsbeschreibungen in Betracht. Wenn ein Akteur x tut und dadurch y verursacht, wodurch wiederum z verursacht wird, kann man ihm die Herbeiführung von x, y oder z als Handlungsfolgen zuschreiben. Dementsprechend können sich die Sätze „A drückt auf einen Lichtschalter“, „A schaltet das Licht an“ und „A weckt die Schlafende S“ auf denselben kausalen Geschehensverlauf beziehen. Als Handlungsergebnisse kommen jedoch nicht nur auf geraden kausalen Linien liegende Ereignisse, sondern auch Verzweigungen in Frage: A kann durch das Einschalten des Lichts den Stromzähler in Bewegung setzen, den gerade durchs Fenster einsteigenden Dieb D verjagen usw. Diese Möglichkeit, Kausalsequenzen unter einer Handlungsbeschreibung zu dehnen und zusammenzuziehen, kann als Akkordeon-Effekt von Handlungsbeschreibungen bezeichnet werden.13 Ein Akkordeon-Effekt kann sich auf kurze Geschehensverläufe, aber auch auf ganze Lebensabschnitte erstrecken (etwa: „I. P. studierte Jura“). Die als potenzielle Handlungsergebnisse von einem Akkordeon-Effekt erfassten kausalen Konsequenzen eines Verhaltens lassen sich mit Hilfe topologischer 12
v. Wright, Norm und Handlung (Fn. 11), S. 60 ff. Davidson, Agency, in: Binkley, Bronaugh, Marras (Hrsg.), Agent, Action, and Reason, Oxford 1971, S. 16 ff.; Feinberg, Action and Responsibility, in: Black (Hrsg.), Philosophy in America, London, S. 134 ff., 146. 13
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Handlungsbäume darstellen. Solch ein Handlungsbaum hat als Wurzel stets eine Veränderung, die der Akteur einfach dadurch bedingt, dass er in einer bestimmten Weise in den Geschehensverlauf eingreift (oder nicht eingreift). Im Beispielsfall weckt A die S, indem er das Licht einschaltet, und er schaltet das Licht ein, indem er die Stellung des Schalters verändert. Hinsichtlich der Veränderung des Schalters kann A jedoch nichts anderes tun, als mit einem Finger so auf den Schalter zu drücken, dass sich dessen Stellung verändert. Zwar ließe sich auch die Bewegung, die das Drücken des Schalters zum Ergebnis hat, in weitere Stadien zerlegen, aber eine solche Analyse wäre bedeutungslos, wenn die gesamte Bewegung als Bedingung der nachfolgenden Veränderung der Schalterstellung verstanden werden soll. Dieses als Bedingung eines möglichen Resultats relativ einfache Tun oder Unterlassen kann Basis-Handlung genannt werden.14 Basis-Handlungen sind insoweit relativ einfach, als sich ihre Gestalt allein aus ihrem Verhältnis zu dem in Frage stehenden Handlungsresultat ergibt. Hierbei kann die Ausführung der Basis-Handlung durchaus ein gewisses Maß an Komplexität aufweisen. Auch kann der Vollzug einer Handlung eine Fülle von BasisHandlungen erfordern, wie dies etwa beim Spielen einer Klaviersonate oder dem Schreiben eines Buches der Fall ist. Dem Akkordeon-Effekt potenzieller Handlungsresultate entspricht die Relativität der intentionalen Interpretation von Geschehensverläufen.15 Da sich jede Veränderung auf dem Handlungsbaum als durch eine vorangegangene Änderung verursacht darstellen lässt, hängt die Bestimmung des intentionalen Objekts der Handlung von der Wahl der Ergebniszuschreibung ab. Sprachlich lässt sich dies durch eine Transformation der kausalen Dadurch-dass-Relation in eine intentionale Um-zu-Relation ausdrücken. So kann die kausale Verhaltensbeschreibung „A hat S dadurch geweckt, dass er das Licht einschaltete“ in die Handlung „A hat das Licht eingeschaltet, um S zu wecken“ umformuliert werden. Zugleich ist mit dieser intentionalen Interpretation des Geschehens ein Grund genannt, warum sich A in einer bestimmten Weise – Einschalten des Lichts – verhalten hat. Wählt man dagegen eine andere Veränderung als intentionales Objekt aus, so erhält man auch eine abweichende Handlung, etwa: „A hat das Licht eingeschaltet, um den Dieb D zu vertreiben“. Damit ein Ereignis als intendiertes Objekt bezeichnet werden kann, muss es stets auch der Grund des Täterverhaltens sein. Es wäre sprachlich nicht nur ungenau, sondern falsch, dem A die Intention zuzuschreiben, den Dieb D zu vertreiben, wenn dieses Ereignis nicht der Grund des Lichteinschaltens war. Selbst wenn das Vertreiben des D für A ein höchst willkommener Nebeneffekt seines Verhaltens gewesen ist, erklärt doch die positive Einstellung zu diesem Erfolg in
14 15
Näher Kindhäuser, Basis-Handlungen, Rechtstheorie 1980, S. 479 ff. m.w. N. Anscombe (Fn. 10), S. 37 ff.
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keiner Weise das konkrete Verhalten. Es kann freilich sein, dass ein Akteur für ein bestimmtes Verhalten mehrere Gründe hat. 4. Handlung und Verantwortung In der Umgangssprache ist die primäre Funktion von Sätzen, die Handlungen zum Gegenstand haben, nicht deskriptiv, sondern adskriptiv.16 Deskriptive Elemente gehen in Handlungsbeschreibungen stets insoweit ein, als sich diese sowohl auf Verhaltensweisen beziehen als auch bestimmte Veränderungen als intentionale Objekte bezeichnen können. Jedoch impliziert eine Handlungsbeschreibung je nach Handlungstyp, dass der Akteur die Möglichkeit hatte, als intentionales Objekt statt des realisierten Zustands dessen kontrafaktische Alternative eintreten zu lassen. Damit wird der Eintritt eines mit einem Verhalten kausal verbundenen Ereignisses als vom Willen des Akteurs abhängig ausgewiesen. Insoweit ist die Deutung eines Verhaltens als Handlung der per se geeignete Weg, um Verantwortung für den Eintritt von Veränderungen zuzuschreiben. Freilich hat die Zuschreibung von Verantwortung nur in einem normativen Kontext Sinn, in dem es um Lob oder Tadel geht. 5. Identität von Handlungen Fraglich ist, ob sich die Identität von Handlungen nach dem jeweiligen Verhalten oder nach dessen Interpretation als Handlung richtet, ob also bei mehreren (zutreffenden) Handlungsbeschreibungen, die sich auf ein und dasselbe Verhalten beziehen, nur eine Handlung oder mehrere nicht-identische Handlungen gegeben sind. Nach Davidson haben alle Veränderungen, die sich auf einem Handlungsbaum nach Maßgabe des Akkordeon-Effekts darstellen lassen, eine identische Handlung zum Gegenstand, sofern es hinsichtlich zumindest einer Veränderung eine intentionale Beschreibung des fraglichen Verhaltens gibt.17 Die beiden Sätze „Ödipus erschlägt an einer Weggabelung einen ,widerspenstigen‘ Reisenden“ und „Ödipus erschlägt an einer Weggabelung seinen Vater Laius“ haben also eine identische Handlung zum Gegenstand, weil sie sich als Referenzobjekt auf ein und dasselbe Verhalten des Ödipus beziehen und weil dieses Verhalten unter seiner Beschreibung als Tötung des Reisenden intentional gedeutet werden kann. Werden Handlungen dagegen als Interpretationskonstrukte definiert, so kann für ihre Identität lediglich der semantisch irreduzible Sinn der Beschreibung, ihr intensionaler Gehalt, maßgeblich sein. Nur unter diesem Aspekt lässt sich auf-
16 Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Bd. 49, 1948/49, S. 171 ff. 17 Actions, Reasons, and Causes, 1963, S. 686; ders., Agency (Fn. 13), S. 7 f., 16.
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grund der Abhängigkeit einer Intention von ihrer Beschreibung der Sinnzusammenhang aufzeigen, den ein Verhalten in Beziehung zu bestimmten Veränderungen in der Welt für eine Person hat. Die Wahl der Beschreibung kann zudem wesentliche Auswirkungen auf die (persönlichen oder sozialen) Konsequenzen haben, die mit dem Handeln verbunden sind. Insoweit können Handlungsbeschreibungen, die sich in ihrem begrifflichen Sinn, ihren Intensionen, nicht decken, auch nicht als verschiedene Beschreibungen eines identischen Ereignisses verstanden werden. Die Tötung eines Reisenden ist eine andere Handlung als die Tötung des Laius, und auch nur diese haben die Götter Ödipus verübelt. Handlungen können demnach nicht mit bestimmten Zustandsveränderungen identifiziert werden, sondern ihre sprachliche Konstruktion gibt die Einstellung wieder, die eine Person kraft ihres Verhaltens zur Bedeutung bestimmter Veränderungen und ihrer kontrafaktischen Tatsachen hat.18 III. Handlungserklärungen 1. Der praktische Syllogismus Je nachdem, ob man die Beziehungen zwischen den Veränderungen im Kontext eines Handlungsbaumes mit Hilfe von Dadurch-dass-Relationen oder mit Hilfe von Um-zu-Relationen darstellt, erhält man zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Erklärung dieser Veränderungen. Bei Dadurch-dass-Relationen wird das spätere Ereignis durch ein vorangehendes kausal erklärt. So lässt sich im Beispielsfall19 nach Maßgabe des deduktiv-nomologischen Modells der Erklärung20 aus der Menge der gegebenen Fakten und aus den einschlägigen Naturgesetzen logisch ableiten, warum S durch das Einschalten des Lichts erwachte. Das Erkenntnisinteresse ist hier also auf die Beantwortung der Frage bezogen, warum die Veränderung, dass S zum Zeitpunkt t aufwachte, eintrat. Durch die Angabe einer Um-zu-Relation wird dagegen ein Grund dafür genannt, warum sich A so verhielt, wie er sich verhielt; sein Verhalten diente als Mittel zur Realisierung des jeweils angegebenen intentionalen Objekts. Die intentionale Deutung eines Verhaltens als Handlung kann daher als Ergebnis einer Deliberation verstanden werden, zu deren formaler Darstellung sich das 18 Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963, Kap. 8; Taylor, The Explanation of Behaviour, London 1964, S. 27 ff.; Warnock, Actions and Events, in: Pears, D. F. (Hrsg.), Freedom and the Will, London 1963, S. 69 ff.; v. Wright, The Logic of Action – A Sketch, in: Rescher, N. (Hrsg.), The Logic of Decision and Action, University of Pittsburgh Press, 1966, S. 121. 19 Oben II. 3. 20 Hempel/Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Hempel, C. G., Aspects of Scientific Explanations. And other Essays in the Philosophy of Science, New York 1965, S. 245 ff.
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auf Aristoteles21 zurückgehende Schema des praktischen Syllogismus heranziehen lässt.22 In diesem Modell ist ein bestimmtes (als Basis-Handlung gedeutetes) Verhalten Mittel zum Zweck und damit Endpunkt eines Schlusses (Konklusion), dessen Oberprämisse das intendierte Ereignis nennt. Vermittelt werden Oberprämisse und Konklusion durch Angabe der epistemischen und kognitiven Einstellung des Handelnden, namentlich seiner Einschätzung der (kausalen) Bedingungen, mit denen sich die Intention realisieren lässt.23 Exemplarisch: Oberprämisse: Eine Person P will e (zum Zeitpunkt ty) herbeiführen. Unterprämisse: P geht davon aus, dass sie e herbeiführen kann, wenn sie h (nicht später als zum Zeitpunkt tx) tut. Konklusion: Folglich macht sich P (nicht später als zum Zeitpunkt tx) daran, h zu tun. Im Gegensatz zu einem logischen Schlusssatz ist beim praktischen Syllogismus die Ableitung der Konklusion aus den Prämissen (vor Ausführung der dort genannten Handlung) nicht logisch notwendig. Es ist denkbar, dass die Person P eine Intention hat und um deren Realisierung durch das Ausführen von h weiß und dennoch h nicht tut. Insoweit vermittelt der Schluss nur eine praktische Notwendigkeit in dem Sinne, dass P h tun müsste, wenn sie e herbeiführen will. Hat P dagegen h ausgeführt, so folgt die Konklusion begrifflich aus den Prämissen. 2. Kausale Erklärungen Ein (äußeres) Verhalten, das Gegenstand einer Handlungsbeschreibung ist, kann als Ereignis ohne weiteres zu kausalen Erklärungen anderer (späterer) Ereignisse herangezogen werden. So kann etwa die Frage, warum das Licht in einem bestimmten Zimmer zum Zeitpunkt ty brannte, mit dem Hinweis, dass A ceteris paribus auf den Lichtschalter zum Zeitpunkt tx drückte, beantwortet werden. Hier sind das Verhalten des A (Drücken auf den Lichtschalter) und das Ereignis, dass das Licht angeht und brennt, zwei kontigente Fakten, die im Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen können. Will man dagegen das Verhalten selbst erklären, so kommen insbesondere zwei Arten der Erklärung in Betracht. Zunächst kann man die Ereignisse, die der Armbewegung empirisch wahrnehmbar vorangehen (Prozesse im Gehirn, Ner21
Ethica Nikomachea, VII 5, 1147a, mit dem Beispiel, Süßes kosten zu müssen. Broadie, The Practical Syllogism, Analysis, Bd. 29, 1968/69, S. 26; Kenny, Practical Inference, Analysis, Bd. 26, 1966, S. 65 f. 23 Brennenstuhl, Ziele der Handlungslogik, in: Lenk, H. (Hrsg.), Handlungstheorien – interdisziplinär, Bd. 1, 1980, S. 35 ff.; Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft. Grundbegriffe praktischer Philosophie, 1982, S. 238 ff.; Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, 1982; v. Wright, On So-Called Practical Inference, Acta Sociologica, Bd. 15, 1972, S. 39 ff. 22
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venimpulse, Muskelbewegungen usw.), als Antecedens-Bedingungen begreifen, die nach allgemeinen Gesetzen das Verhalten des A im Sinne des deduktiv-nomologischen Modells kausal erklären. Die praktische Durchführbarkeit einer solchen Erklärung hängt von hierzu hinreichenden empirischen Kenntnissen und technischen Voraussetzungen ab, welche die prinzipielle Möglichkeit einer solchen Erklärung nicht berühren. Daher kann man zur terminologischen Klarstellung der verschiedenen Arten, menschliches Verhalten zu explizieren, auf die tradierte Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen zurückgreifen. Ein Verhalten kann zur kausalen Erklärung eines (hierzu kontingenten) Ereignisses herangezogen werden, während eine Handlungsbeschreibung dem Verstehen eines Verhaltens durch dessen intentionale Interpretation dient. Als eine andere Art der Erklärung bietet sich der praktische Syllogismus unter Rückgriff auf die Intention und den Wissensstand des A an. Auch diese Erklärung gibt eine Antwort auf die Frage nach dem Warum des Verhaltens, verweist aber nicht auf die kausalen Antecedens-Bedingungen, sondern auf den Zweck, den A seinem Verhalten selbst gibt, z. B. auf diese Weise die schlafende S zu wecken. Hierbei ist die Intention, die das Verhalten in seiner finalen Ausrichtung verständlich macht, kein kausales kontingentes Ereignis, sondern verbindet das Verhalten begrifflich mit dem bezweckten Handlungsergebnis.24 Das heißt aber auch: Handlungsbeschreibungen sind ungeeignet zur kausalen Erklärung von Ereignissen, auf die sie als intentionales Objekt begrifflich gerichtet sind, weil sie für die Erklärung des Ereignisses keine neue Information liefern. Sagte man im Beispielsfall, S sei aufgewacht, weil A sie habe wecken wollen, so gibt man damit keine Erklärung für das Aufwachen der S, sondern erläutert z. B. nur, dass A nicht aus Versehen auf den Lichtschalter gedrückt hat. Dass das Drücken auf den Lichtschalter gewollt war, um S zu wecken, trägt zur kausalen Erklärung, dass S aufgewacht ist, nichts bei; S ist durch das Einschalten des Lichts aufgewacht, unabhängig davon, ob das Drücken auf den Schalter gewollt war, um S zu wecken, oder versehentlich erfolgte. Durch die dem A zugeschriebene Intentionalität wird sein Verhalten final interpretiert, aber nicht das Aufwachen der S durch die Angabe der Intention des A kausal erklärt. 3. Der neue Dualismus Für die Möglichkeit einer (prinzipiellen) Rückführbarkeit intentionaler Handlungsinterpretationen auf kausale Erklärungsmuster könnte jedoch sprechen, dass 24 Anscombe (Fn. 10), S. 19; Daveney, Intentions and Causes, Analysis, Bd. 27, 1966, 23 ff.; Melden, Free Action, London 1961, S. 53; Taylor, Explaining Action, Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy and the Social Sciences, Bd. 13, 1970, S. 54 ff.; White, The Philosophy of Mind, New York 1967, S. 147; Wittgenstein, Zettel, Schriften 5, 1970, §§ 53–60; v. Wright, Explanation and Understanding, London 1971, S. 94.
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sich der Zusammenhang zwischen einer Veränderung auf einem Handlungsbaum und der Intention, durch welche ein Verhalten als entsprechende Basis-Handlung gedeutet wird, mit Hilfe eines kausalen „Weil-Satzes“ darstellen lässt. Etwa: „S ist aufgewacht, weil A sie durch das Drücken auf den Lichtschalter aufwecken wollte“. Hier hat es den Anschein, als sei das Wollen ein von dem Betätigen des Lichtschalters unabhängiges Ereignis, also gewissermaßen ein dem körperlichen Verhalten vorausgehender Akt des Wollens, der seinerseits die Bewegung verursacht. Nun können zwar einem Verhalten Überlegungen vorausgehen, die dann zu einer Entscheidung führen, die A durch sein Verhalten in die Tat umsetzt. Aber weder die Überlegungen noch die Entscheidung als solche bewirken für sich eine Bewegung des Arms. Vielmehr kann A seine Entscheidung nur dadurch realisieren, dass er die Bewegung des Drückens auf den Lichtschalter vollzieht. Der Willensakt – wenn man diese Bezeichnung, die eine psychische Mechanik suggeriert, beibehalten will – ist also identisch mit dem als (Basis-)Handlung intentional interpretierten Verhalten. Und diese intentionale Charakterisierung des Verhaltens ist semantisch irreduzibel intensional. Ihre Bedeutung wird unabhängig davon festgelegt, ob der Bewegung eine bestimmte Neuronenerregung vorausgeht oder sie begleitet; eine solche Neuronenerregung gehört jedenfalls nicht zu den Voraussetzungen der sprachlich korrekten Zuschreibung einer Intention, die mit Hilfe einer „um-zu-Relation“ ausgedrückt wird.25 Dass identische Verhaltensweisen sowohl kausal als auch intentional gedeutet werden können, ohne dass die eine Sprachverwendung auf die andere als die fundamentalere reduziert werden kann, hat bereits Wittgenstein mit folgender Überlegung illustriert: „Aber vergessen wir eines nicht: wenn ,ich meinen Arm hebe‘, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt? (Sind nun die kinaesthetischen Empfindungen mein Wollen?)“.26 Es mag sich ein Experiment dergestalt durchführen lassen, dass ich infolge der Reizung einer meiner Gehirnregionen durch ein Gerät beobachten kann, wie sich mein zunächst herabhängender Arm nach oben bewegt. Vielleicht ist es sogar möglich, den kausalen Zusammenhang zwischen Neuronenerregung und Bewegung an einem Monitor zu verfolgen; die Beschreibung dieses Vorgangs lautete dann: „Mein Arm bewegt sich“. Dagegen wäre es sprachwidrig, in diesem Fall zu sagen: „Ich bewege meinen Arm“. Und dies wäre auch dann sprachwidrig, wenn ich auf meinem Monitor feststellen könnte, dass mein Gehirn bei meiner Bewegung in derselben Weise aktiv ist wie bei der mechanischen Reizung. Die beiden Sätze „Ich hebe meinen Arm“ und „Mein Arm hebt sich“ schließen sich – bezogen auf ein und denselben Sprecher – wechselseitig aus; sie haben einen mit25 Sehon, Deviant Causal Chains and the Irreducibility of Teleological Explanation, Pacific Philosophical Quarterly, Bd. 78, 1997, S. 195, 225 ff. 26 Philosophische Untersuchungen. Schriften, Bd. 1, 1963, § 621.
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einander unverträglichen Sinn. Diese Bedeutungsverschiedenheit beider Sätze hat offensichtlich nichts mit der Frage zu tun, was tatsächlich in meinem Körper vor sich geht. Denn es wäre ohne weiteres möglich, dass meine Hirntätigkeit von einem Dritten auf einem Monitor beobachtet werden könnte, mit der Folge, dass mein Satz „Ich hebe meinen Arm“ ebenso richtig wäre wie die Annahme des Dritten, dass sich mein Arm hebt. Wie derselbe Planet einmal als Morgen- und einmal als Abendstern bezeichnet werden kann, so ist es auch nicht logisch ausgeschlossen, dass ein und derselbe körperliche Vorgang in Ausdrücken mit unterschiedlicher Intension beschrieben werden kann. Ob im Bedeutungsumfang (extensional) eine faktische Identität im Referenzobjekt vorliegt, kann in diesem Kontext offen bleiben, da diese Frage den Sinn der Interpretation (intensional) nicht berührt. Vergleicht man nun mit Blick auf das Experiment die beiden Sätze „Ich hebe meinen Arm“ und „Mein Arm hebt sich“, so ist es möglich, dass in beiden Fällen das Geschehen auch mit dem Verb „verhalten“ umschrieben werden kann, nämlich „Ich habe mich in einer bestimmten Weise verhalten“ und „Mein Körper hat sich in einer bestimmten Weise verhalten“. Ein körperliches Verhalten kann also gleichermaßen aus der Ich-Perspektive und aus der Beobachter-Perspektive korrekt beschrieben werden. Mit dem Verb „handeln“ geht dies indessen nicht. Es lässt sich nur sagen, „Ich habe gehandelt, indem ich meinen Arm gehoben habe“, nicht aber „Mein Körper hat gehandelt, indem sich mein Arm gehoben hat“. Dies rechtfertigt die bereits eingangs vorgenommene begriffliche Differenzierung zwischen dem Begriff des Verhaltens, der gleichermaßen in kausalen und intentionalen Kontexten verwendet werden kann, und dem engeren Begriff des Handelns, der ein Verhalten nach Maßgabe einer bestimmten Interpretation zum Gegenstand hat (II.1.). Unter der Hypothese, dass der kausale und der intentionale Zugriff auf ein Verhalten zwar miteinander verträglich, aber nicht aufeinander rückführbar sind, sind Geist und Körper nicht als zwei verschiedene Entitäten anzusehen; vielmehr wird der Mensch als Einheit erfasst. Jedoch spiegelt sich einerseits seine Selbsterfahrung als eines geistbegabten, der Reflexion fähigen Wesens in der Sprache wider, mit der er sein Handeln und seine seelischen Vorgänge interpretiert, während andererseits eine hiervon logisch verschiedene Sprache den Rahmen bietet, mit dem sich die neurophysiologischen Prozesse menschlichen Verhaltens kausal erklären lassen. Insoweit könnte man – in sprachlich gewendeter Fortführung der Kantischen Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon – mit Landesman von einem „neuen Dualismus“ in der Erfassung des Menschen sprechen.27
27 The New Dualism in the Philosophy of Mind, Review of Metaphysics, Bd. 19, 1965, S. 329 f.
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Die Annahme, dass das Verstehen von Handlungen irreduzibel teleologisch sei, ist in der Handlungstheorie gleichwohl auf Widerspruch gestoßen. Namentlich Davidson besteht auf dem Primat nomologischer Erklärungen und verteidigt die Möglichkeit einer Rückführung teleologischer Deutungen auf kausale Explikationen (Davidsons challenge).28 Er hält einen Grund nur dann für handlungserklärend, wenn dieser Grund auch als Ursache der Handlung anzusehen ist. Sonstige Gründe können zwar als Rechtfertigungen für ein Handeln herangezogen werden, erklären dieses aber nicht tatsächlich. Ein handlungserklärender Grund – Davidson spricht auch von einem primären Handlungsgrund – setzt sich aus zwei Elementen zusammen: einem (motivbildenden) Wunsch und der Überzeugung, dass ein bestimmtes Handeln zur Zielverwirklichung geeignet ist. Exemplarisch: A schenkt sich eine bestimmte Flüssigkeit in ein Glas und trinkt diese. Für dieses Verhalten kann es mehrere Gründe geben, etwa: A will seinen Durst löschen, er will den Geschmack der ihm bislang unbekannten Flüssigkeit kennen lernen, er will einem drohenden Hustenanfall vorbeugen, er will verhindern, dass B die Flüssigkeit trinkt. Unter diesen Wünschen, die alle mehr oder weniger zutreffen mögen, soll nun derjenige der maßgebliche Teil des primären Grundes sein, der das Verhalten des Trinkens kausal erklärt. Und das heißt wiederum, dass der Grund über seine kausale Funktion zu identifizieren ist. Hierfür lässt sich jedoch allenfalls die Versicherung des A anführen, dass einer dieser Wünsche für ihn tatsächlich handlungswirksam war, so dass noch kein über die alltagspsychologische Plausibilität hinausgehendes substantielles Identifikationskriterium gefunden ist. Ferner sind Intentionen gerade auf Künftiges und nicht auf die Vorgeschichte eines Verhaltens bezogen. Mit der Angabe einer Intention wird das Verhalten als Mittel zur Erreichung eines Ziels gedeutet. Daher setzt eine kausale Erklärung notwendig voraus, dass sich das teleologische Vokabular mit Hilfe geeigneter Brückengesetze in eine (retrospektive) nicht-intentionalistische Sprache transformieren lässt. Eine der bei der Suche nach solchen Brückengesetzen auftretenden (und kaum überwindbaren) Schwierigkeiten dürfte darin bestehen, dass Kausalgesetze allgemeine Regelmäßigkeiten zum Gegenstand haben, während sich für handlungsleitende Gründe keine allgemeingültigen Gesetzeshypothesen auffinden lassen. Eng damit hängt das semantische Problem zusammen, das sich dem kausalen Ansatz stellt: Bestimmt man mit Davidson die Identität von Handlungen extensional, so ist es gleichgültig, ob man ein und dasselbe Verhalten des Ödipus als Tötung eines Reisenden oder als Tötung des eigenen Vaters beschreibt. Auch die herangezogenen Gesetze beziehen sich unabhängig davon auf bestimmte neuronale Vorgänge und darauf, wie diese beschrieben werden. Dann kann aber das bloße kausale Geschehen auch keinen Beitrag dazu leisten, ob die Tötung des Reisenden oder die Tötung des eigenen Vaters die maßgebliche Intention war. 28
Actions, Reasons, and Causes (Fn. 17), S. 685 ff.
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Ein weiteres Gegenargument gegen den kausalen Ansatz lässt sich mit Blick auf sog. abweichende Kausalketten formulieren, bei denen die Absicht des Handelnden unter Bedingungen realisiert wird, unter denen das Geschehen nicht mehr als intentionale Handlung interpretiert werden kann. Exemplarisch: A will, um den B zu schädigen, dessen wertvolle Vase mit seinem Arm umstoßen, wird wegen dieses Vorhabens aber so nervös, dass er die Vase durch ein Zucken des Arms umstößt. In diesem Fall wird – akzeptiert man die kausalistische Prämisse – durch die Intention eine Kausalkette initiiert, die zu dem gewünschten Schaden führt, obgleich das Verhalten mangels Kontrolle nicht die sonstigen Voraussetzungen einer Handlung erfüllt.29 Davidson begegnet diesem Einwand mit der Forderung, die Kausalkette müsse in der richtigen Weise verlaufen.30 Damit wird freilich eine normative Betrachtung eingeführt, die mit einem rein empirischen Ansatz unverträglich ist. Die Schwierigkeit der Kausalisten, abweichende Kausalketten adäquat zu erklären, wurzelt auch in dem tiefer liegenden Problem, das bereits im Kontext der Basis-Handlungen angesprochen wurde (II. 3.). Während Ursachen ceteris paribus Wirkungen erzeugen, sind Intentionen keine Ereignisse, die aufgrund gegebener Rahmenbedingungen notwendig zu einem bestimmten Verhalten führen. Wenn A seinen Durst mit einem Glas Wasser löschen möchte und auch davon überzeugt ist, dass eine Flasche Mineralwasser und ein Glas in der Küche stehen, dann ist damit keineswegs gesagt, dass sich nun A „automatisch“ in Bewegung setzt, sich ein Glas Wasser einschenkt und dieses austrinkt. Vielmehr muss A, damit es zum gewünschten Erfolg kommt, jeden weiteren Schritt intentional gesteuert ausführen.31 Die Realisierung der Intention qua Verhalten ist zu keinem Zeitpunkt etwas, das von selbst abläuft; vielmehr ist Handeln kontrolliertes Verhalten unter einer intentionalen Beschreibung. Gründe bewirken als solche gar nichts, sondern sind nur Deutungen eines Verhaltens, das eine Person unter einer Beschreibung vollzieht. Insoweit ist auch an die Möglichkeit zu denken, dass eine Person aus einem bestimmten Grund mit der Ausführung einer Handlung beginnt, sich aber dann anders entscheidet und sich nun anders als ursprünglich intendiert verhält.32 A will z. B. mit B telefonieren, entscheidet sich aber während des Wählens um und ruft C an. Schließlich sieht sich ein kausaler Ansatz mit dem Problem konfrontiert, dass die normativen Wertungen, mit denen Gründe gegeneinander abgewogen und ins 29 Frankfurt, The Problem of Action, American Philosophical Quarterly, Bd. 15, 1978, S. 157 ff. 30 Essays on Actions and Events, Oxford 1980, S. 78 f.; vgl. auch Mele, Goal-directed Action: Teleological Explanations, Causal Theories, and Deviance, Philosophical Perspectives, Bd. 14, 2004, S. 279 ff. 31 Frankfurt, The Problem of Action (Fn. 29), S. 157 ff. 32 Wilson, Reasons as Causes for Action, in: Holmström-Hintikka/Tuomela (Hrsg.), Contemporary Action Theory, Bd. I, Individual Action, 1997, S. 65 ff.
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Verhältnis zueinander gesetzt werden, nicht in einer rein empirischen Sprache berücksichtigt werden können. Gründe werden handlungsleitend, wenn sie vom Handelnden als sinnvoll, lohnend, zwingend usw. angesehen werden und ggf. in eine das Leben bestimmende Wertorientierung eingebettet sind.33 4. Intentionen höherer Ordnung In Kontexten, in denen eine Person für den Eintritt eines Ereignisses lobend oder tadelnd verantwortlich gemacht wird, impliziert die Zuschreibung einer entsprechenden Handlung zwei kontrafaktische Hypothesen: Dass das fragliche Ereignis nicht eingetreten wäre, wenn der Betreffende sich in einer Weise verhalten hätte, die als ein dem jeweiligen Handlungstyp korrelierendes Unterlassen anzusehen wäre, und dass die betreffende Person diese Verhaltensalternative um der Vermeidung des fraglichen Ereignisses willen hätte ergreifen können. Sofern eine Person für ein Unterlassen zur Verantwortung gezogen wird, gelten die beiden Hypothesen in entsprechender inhaltlicher Umkehrung. Mit diesen kontrafaktischen Annahmen kommt das entscheidende Kriterium der Zuschreibung von Handlungen und Unterlassungen zum Ausdruck: die Kontrolle des Geschehens nach Maßgabe normativer Präferenzen. Die Kontrolle wiederum ist abhängig von den Fähigkeiten einer Person, die Realität in der Orientierung an ein Sollen zu gestalten, insbesondere sich normativen Handlungsanforderungen gemäß zu verhalten. Ein analytisches Modell, das die Strukturen der Zuschreibung von Verantwortung adäquat erfassen will, muss die beiden kontrafaktischen Annahmen und die relevanten Kriterien ihrer Verifikation auf zwei Ebenen darstellen.34 Verdeutlichen lässt sich dies unschwer mit Blick auf die Befolgung einer Verhaltensnorm. Auf einer ersten Ebene des Modells kommen die Fähigkeiten zur Realisierung einer der eigenen Steuerung unterliegenden Intention zu normgemäßem Verhalten in Ansatz; man kann insoweit von Handlungsfähigkeit sprechen. Auf einer zweiten Ebene, die sich von einer höheren Stufe aus auf die erste Ebene bezieht, sind die Kriterien zu lozieren, welche die Fähigkeit zur handlungswirksamen Realisierung dieser Intention um der Normbefolgung willen zum Gegenstand haben; diese Fähigkeit kann als Motivationsfähigkeit bezeichnet werden. Exemplarisch: A verspricht seiner Freundin F, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Bahnhof abzuholen und nach Hause zu bringen.35 Die hier relevante 33 Schueler, Action Explanations: Causes and Purposes, in: Malle u. a. (Hrsg.), Intentions and Intentionality. Foundations of Cognition, Cambridge/Mass. 2001, S. 251 ff.; Sehon, Deviant Causal Chains and the Irreducibility of Teleological Explanation (Fn. 25), S. 195 ff. 34 Grundlegend Frankfurt, Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, 1981, S. 287 ff.
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Norm ist das moralische Gebot, Versprechen zu halten, bzw. das Verbot, sie zu brechen. Die von A in Aussicht gestellte Handlung ist die Verwirklichung der Intention, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Bahnhof zu begeben, dort auf F zu warten und sie sodann nach Hause zu begleiten. Um diese Intention in die Tat umsetzen zu können, muss A zumindest zwei Voraussetzungen erfüllen: Er muss die erforderlichen Kenntnisse (Ort des Bahnhofs, Zeitpunkt usw.) besitzen, und er muss physisch fähig sein, die nötigen körperlichen Bewegungen zu vollziehen. Fehlen dem A aktuell die erforderlichen Kenntnisse, ergibt sich aus dem Versprechen die weitere Anforderung, sich diese Kenntnisse rechtzeitig zu verschaffen. A wird sich für sein Nichterscheinen nicht mit dem Hinweis entlasten können, ihm sei der Weg zum Bahnhof unbekannt gewesen. Das Versprechen setzt mithin voraus, dass A aktuell handlungsfähig ist, also das nötige Wissen und physische Können zur Realisierung der versprochenen Handlung in einer konkreten Situation tatsächlich besitzt, oder dass er dafür Sorge trägt, sich das nötige Wissen und physische Können rechtzeitig zu verschaffen. Handlungsfähigkeit allein genügt jedoch zur Einhaltung des Versprechens nicht. Damit A die Intention, zum Bahnhof zu gehen, realisieren kann, muss er diese Intention auch zu einem bestimmten Zeitpunkt bilden und rivalisierenden anderen möglichen Intentionen handlungswirksam vorziehen.36 A darf jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem er sich auf den Weg zum Bahnhof machen müsste, nicht Einkäufe tätigen, einen Freund besuchen oder einfach nur zu Hause bleiben wollen, um zu schlafen. Insoweit impliziert das Versprechen, eine bestimmte intentionale Handlung zu vollziehen, zugleich die Fähigkeit, die Intention zur versprochenen Handlung zu bilden und dominant zu realisieren. Es wäre ein Selbstwiderspruch, die Verwirklichung einer bestimmten Intention zu versprechen, hierbei aber offen zu lassen, ob man zur Realisierung dieser Intention überhaupt willens und in der Lage ist. Man kann die Intention, aus einem mehr oder minder großen Kreis möglicher intentionaler Handlungen eine bestimmte Handlung nach Präferenzgesichtspunkten auszuwählen und konkurrierenden Intentionen handlungswirksam vorzuziehen, eine Intention höherer Ordnung nennen. Und die Fähigkeit, Intentionen höherer Ordnung zu bilden und zu realisieren, sei in Abgrenzung zur Handlungsfähigkeit als Motivationsfähigkeit bezeichnet. Im Beispielsfall wird von A erwartet, dass er die Intention, F vom Bahnhof abzuholen, gerade deshalb rivalisierenden Wünschen vorzieht, weil er die Realisierung dieser Handlungsintention versprochen und damit als für ihn verbindlich und vorzugswürdig anerkannt hat. Die Motivationsfähigkeit ist die entscheidende Voraussetzung, um Normen befolgen zu können. Und wiederum gilt: Durch das Versprechen bindet sich A nicht nur, genau zu dem Zeitpunkt, zu dem er F abho35 Näher zum Sprechakt des Versprechens Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, 1982, S. 88 ff. 36 Zur Selbstbindung Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001, S. 23 ff.
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len müsste, die entsprechende Intention anderen Intentionen handlungswirksam vorzuziehen. Vielmehr muss er auch dafür Sorge tragen, zum fraglichen Zeitpunkt motivationsfähig zu sein. Es würde ihn gegenüber F nicht entlasten, wenn er sein Nichterscheinen am Bahnhof zur fraglichen Zeit mit dem Hinweis erklären würde, er sei eingeschlafen oder sinnlos betrunken gewesen. Nach Frankfurt vermag das Modell gestufter Intentionen auch einen Beitrag zum Begriff der Willensfreiheit zu liefern: Eine Person sei dann in ihrem Willen frei, wenn die Intention erster Stufe, die sie handlungswirksam realisiert, ihrer entsprechenden dominanten Intention zweiter Stufe entspricht.37 Willensfrei ist nach dieser rein subjektiven Theorie also derjenige, der die Intention realisiert, die er auch haben will. Dementsprechend ist nur derjenige nicht frei, dem bewusst ist, dass er die von ihm gewünschte Intention – aus internen (z. B. Sucht) oder externen Gründen (z. B. Nötigungsdruck) – der tatsächlich realisierten Intention nicht handlungswirksam vorzuziehen vermag. Eine solche Sicht der Dinge entspricht jedoch kaum der intuitiven Vorstellung, auch Hindernisse, die dem Handelnden nicht bewusst sind, als Einschränkung seiner Willensfreiheit zu sehen.38 Dieser Einwand ist jedenfalls dann plausibel, wenn man an die Möglichkeit denkt, einen Menschen dergestalt extern zu manipulieren, dass der Betreffende genau die Intentionen für vorzugswürdig hält, die ihm der ihn Kontrollierende suggeriert. Dagegen berührt der Einwand nicht die Erklärungskraft des Modells, mit dem die für die Zuschreibung von Verantwortung maßgeblichen Kriterien rekonstruiert werden. Denn in diesem Kontext geht es nicht um die Frage, welche Intention der Handelnde selbst haben will, sondern um die Frage, ob der Handelnde in der Lage ist, die von der Norm vorgegebene – und damit als vorzugswürdig ausgewiesene – Intention einer beliebigen anderen und insbesondere der tatsächlich realisierten Intention handlungswirksam vorzuziehen. Pointiert: Wenn es darum geht, den A wegen der Tötung des B zur Verantwortung zu ziehen, so betrifft das Problem der Freiheit nicht die Frage, ob A es für richtig gehalten hat, die Intention, den B zu töten, zu bilden und zu realisieren, sondern um die Frage, ob es A möglich gewesen wäre, die Intention, den B nicht zu töten, um der Befolgung des Tötungsverbots willen handlungswirksam zu bilden. Damit stellt sich – für die Moral wie für das Recht gleichermaßen – das Problem, welche positiven oder negativen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um auf der Ebene der Motivationsfähigkeit hinreichende Freiheit zur Begründung von Verantwortung bzw. hinreichende Unfreiheit zum Ausschluss von Verantwortung zu bejahen.
37 38
Frankfurt, Willensfreiheit und der Begriff der Person (Fn. 34), S. 289 ff. Kane, The Significance auf Free Will, New York 1996, S. 64 ff.
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IV. Der Handlungsbegriff im Strafrecht 1. Problem und Lösungsansätze Die Straftat ist nach allgemeiner Ansicht als eine Handlung zu definieren, die einen (Delikts-)Tatbestand verwirklicht, nicht gerechtfertigt ist und dem Handelnden zur Schuld zugerechnet werden kann. In dieser Konstruktion ist die Handlung das Basiselement eines Delikts, dem die Prädikate tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft zugeordnet werden. Die „Handlung“ wird damit als eine Entität angesehen, die unabhängig von ihren deliktischen Charakterisierungen bereits existiert. Doch ein solches Verständnis ist ersichtlich nicht mit einem intentionalen Handlungsbegriff im Sinne der analytischen Handlungstheorie zu vereinbaren. Wenn eine Handlung ein beschreibungsabhängiges Interpretationskonstrukt ist, so wird eine strafbare Handlung überhaupt erst durch die begrifflichen Elemente des Tatbestands und der weiteren Deliktsstufen konstituiert. Vor dem Tatbestand kann folglich als factum brutum nur ein Verhalten existieren, das erst durch die Prädikate des jeweils einschlägigen Delikts als eine bestimmte Straftat gedeutet wird. Aber selbst wenn man als Basisbegriff einer Straftat nicht die Handlung setzt, sondern das Verhalten, das erst durch die Zuschreibung der begrifflichen Deliktselemente die Qualität einer bestimmten Handlung erlangt, stellt sich das weitere Problem, ob das Resultat einer solchen Zuschreibung stets als Handlung angesehen werden kann. Die Antwort fällt eindeutig verneinend aus, wie folgendes einfache Beispiel zeigt: A, der auf einem hohen Gerüst eine Hauswand anstreicht, tritt aus Unachtsamkeit gegen einen Farbeimer, der herabfällt und einen Passanten auf der Straße verletzt. Das in diesem Fall fraglos gegebene Delikt einer fahrlässigen Körperverletzung basiert ersichtlich nicht auf der Zuschreibung einer Handlung. In der Körperverletzung liegt nicht die Realisierung einer Intention: weder war die Verletzung des Passanten intentionales Objekt des A noch hat A bedacht, dass sein Verhalten für die Verletzung kausal werden könnte. Ganz im Gegenteil: A hätte, wovon auszugehen ist, die zum Herabfallen des Eimers führende Bewegung unterlassen, wenn er die potenziellen Schadensfolgen bedacht hätte. Der sog. kausale Handlungsbegriff bestimmt die Handlung als willensgetragenes Verhalten, wobei das Verhalten aktive Bewegungen wie auch deren Unterlassen umfasst.39 Im Beispielsfall des Anstreichers müsste nach diesem Ansatz bei der Schuldprüfung eine intentionale Kontrolle des Schadensverlaufs verneint werden. Der Tritt gegen den Eimer erfolgte weder bewusst noch gewollt und damit nicht vorsätzlich. Und der Fahrlässigkeitsvorwurf beruht auf der Verifikation 39 Vgl. nur Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 9; v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts2, 1884, S. 104 ff.; Mezger, Strafrecht. Ein Lehrbuch, 1931, S. 91 ff.
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des irrealen Konditionalsatzes, dass A den Tritt gegen den Eimer hätte vermeiden können, wenn er den situativen Sorgfaltsanforderungen gemäß aufmerksam gewesen wäre; er war aber nicht aufmerksam und hatte das Geschehen ex hypothesi eben nicht unter seiner intentionalen Kontrolle. Das Verhalten wiederum, das von A bei Aufbietung sorgfaltsgemäßer Aufmerksamkeit zu erwarten war, ist keine bloß willensgetragene Bewegung, sondern ein intentionales Handeln: sich gezielt so zu verhalten, dass der Passant nicht verletzt wird, also ein intentionales Unterlassen vom Handlungstyp des Herbeiführens. Das aber heißt: Die kausale Handlungslehre propagiert einen Handlungsbegriff – bloßes willensgetragenes Verhalten –, der den Kern des strafrechtlichen Vorwurfs, die Vermeidbarkeit des Schadens bei normgemäßem Handeln, nicht trägt. Lediglich willensgetragenes Verhalten reicht nicht aus, um eine Norm zu befolgen; die Norm muss vielmehr, um realisiert werden zu können, ein inhaltlich bestimmtes Motiv sein und verlangt damit zu ihrer Befolgung ein intentional kontrolliertes Verhalten. Der sog. finale Handlungsbegriff sieht das Proprium der Handlung in der finalen Steuerung des Geschehens und wendet sich damit gegen das inhaltsleere Handlungsverständnis der Kausalisten, deutet aber wie diese die Straftat selbst als eine Handlung.40 Damit setzt sich diese Lehre nicht nur allen Einwänden aus, die gegen den kausalen Ansatz sprechen, sondern muss obendrein noch die Deliktselemente in eine intentionale Struktur pressen. Dass dies bei Fahrlässigkeitsdelikten nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Hier verfolgt der Täter ein Ziel, das die deliktische Schädigung nicht in einer Zweck-Mittel-Relation erfasst. Der Ausweg, für Fahrlässigkeitsdelikte eine Handlung mit einem beliebigen intentionalen Objekt zu verlangen, wäre ein Widerspruch zur eigenen Prämisse. Wenn im Beispielsfall das Verhalten des A als eine Körperbewegung zur intentionalen Ausführung des Anstreichens gedeutet werden kann, lässt es sich nicht zugleich als intentionale Verletzung des Passanten interpretieren; beide Kausalstränge verlaufen auf verschiedenen Zweigen des topologischen Handlungsbaumes. Daher ist die Straftat – also das Verhalten, auf das sich die deliktischen Elemente der Körperverletzung als Referenzobjekt beziehen – keine finale Handlung; die Verletzung war nicht der Grund des Verhaltens. Auch für den Vorsatz, der neben der Absicht den sog. dolus directus (sicheres Wissen) und den sog. dolus eventualis (konkrete Möglichkeitsvorstellung) umfasst, lassen sich allenfalls solche Schadensfolgen als intendiert begreifen, die mit dem intentionalen Objekt des Handelnden auf einer kausalen Linie nach Maßgabe von Dadurch-dass-Relationen verbunden sind. Seitenzweige des Handlungsbaums liefern dagegen selbst dann keinen Handlungsgrund, wenn sie der Handelnde als sichere Folge seines Verhaltens prognostiziert.
40 Vgl. nur Welzel, Kausalität und Handlung, ZStW Bd. 51 (1931), 703 ff.; ders., Das Deutsche Strafrecht11, 1969, S. 129 ff.
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Die Lehre vom sog. sozialen Handlungsbegriff versucht zum einen, die von Radbruch41 behauptete Unmöglichkeit, Tun und Unterlassen unter einen gemeinsamen Oberbegriff der Handlung zu verbinden, zu umgehen, indem sie die soziale Erheblichkeit eines aktiven oder passiven Verhaltens zum (disjunktiv definierten) Basisbegriff macht. Zum anderen will sie einen Handlungsbegriff anbieten, auf den Vorsatz- wie Fahrlässigkeitsdelikte gleichermaßen rekurrieren können.42 Eine solche Begriffsbildung ist jedoch nicht nur wegen der Uferlosigkeit und Unbestimmtheit des Prädikats „sozialerheblich“, das sich auch auf Naturvorgänge anwenden lässt, kaum brauchbar, sondern füllt ebenso wenig wie der kausale Handlungsbegriff die vom Schuldvorwurf implizierte Fähigkeit zu alternativem normgemäßen Handeln mit Inhalt. 2. Die Straftat als Normwiderspruch Daraus folgt für den strafrechtlichen Deliktsaufbau: Sofern der Tatbestand eines Delikts eine Schadensverursachung vorsieht und sich nicht auf die Inkriminierung einer bloßen Tätigkeit beschränkt, ist der Rückgriff auf ein (beliebiges) menschliches Verhalten notwendig, aber auch hinreichend. Es bedarf hierfür noch nicht einmal der vom kausalen Handlungsbegriff geforderten Mindestvoraussetzung eines willensgetragenen Verhaltens. Als Anknüpfungspunkt von Kausalität genügt mithin das Ereignis, dass sich ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Weise (nicht) bewegt hat. Denn die strafrechtlichen Zurechnungsregeln verlangen keineswegs, dass die Verantwortung für eine Schadensfolge auf ein Verhalten zurückzuführen ist, das im fraglichen Zeitpunkt der Realisierung einer bestimmten Intention diente; es kann etwa jemandem vorgeworfen werden, die Vornahme einer Rettungshandlung verschlafen zu haben. Ist der Pflichtige zur Ausführung der gebotenen Handlung zum Tatzeitpunkt nicht fähig, so kann ihm dies dann angelastet werden, wenn er die Obliegenheit hatte, durch geeignete Maßnahmen für seine Fähigkeit zur Pflichterfüllung zu sorgen. Unter der Voraussetzung, dass sich die Zuschreibung von Verantwortung auf eine kontrafaktische Relation zwischen einem Geschehen und dem Ausbleiben dieses Geschehens bei normgemäßem Handeln bezieht, so beinhaltet eine Straftat nur den Vorwurf, dass der Täter das von ihm durch sein Verhalten verursachte Geschehen nicht durch normgemäßes Handeln vermieden hat. Dagegen impliziert die Zuschreibung einer Straftat nicht den Vorwurf, dass der Täter das Geschehen durch ein (hierauf abzielendes) Handeln realisiert hat, es sei denn, das
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Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Rechtssystem, 1904. Vgl. nur Jescheck, Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung, in: Bockelmann/Gallas (Hrsg.), Festschrift für Eberhard Schmidt, 1961, S. 139, 140 f.; Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, 1953. 42
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spezifische Unrecht eines Delikts verlangt – wie bei Betrug oder Diebstahl – gerade eine solche Absicht. Dementsprechend erfordert das Tötungsverbot, dass der Pflichtige die Tötung eines anderen Menschen durch sein Verhalten gezielt unterlässt. Insoweit verstößt gegen das Tötungsverbot, wer – auf welche Weise auch immer – durch sein Verhalten den Tod eines anderen (unmittelbar) verursacht, obgleich er hinreichend fähig war, dieses Verhalten um der Vermeidung des Todes willen gezielt zu unterlassen. Jeder strafrechtliche Vorwurf setzt die Fähigkeit des Täters zur Realisierung der normgemäßen Intention qua Handlung voraus. Dass auch die Verwirklichung des normwidrigen Geschehens als Handlung, gar als intentionale Handlung, zu interpretieren wäre, ist dagegen zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit nicht vonnöten. Für einen auf einem intentionalen Handlungsbegriff basierenden strafrechtlichen Deliktsaufbau lässt sich aus diesen Überlegungen folgender Schluss ziehen: Dem Schuldprinzip zufolge kann jemandem nur die für ihn intentional vermeidbare Verwirklichung tatbestandlichen Unrechts bei Strafe vorgeworfen werden.43 Unter Schuld ist hierbei zu verstehen, dass durch die Tat ein strafwürdiges Defizit an Rechtstreue ausgedrückt wurde, woraus sich wiederum hinsichtlich der Vermeidbarkeit ergibt, dass Strafe nur verhängt werden darf, wenn der Täter die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes hätte gezielt vermeiden können und müssen, falls er in dem durch Strafe zu sichernden Maße hinreichend rechtstreu gewesen wäre. Anders formuliert: Der Schuldvorwurf beruht auf der Verifikation der Hypothese, dass der Täter bei Aufbietung der von ihm erwarteten Rechtstreue die Verwirklichung des betreffenden Unrechtstatbestands hätte vermeiden können und müssen. Wäre der Täter dagegen bei Aufbietung der von ihm erwarteten Rechtstreue zur gezielten Vermeidung des tatbestandlichen Unrechts nicht fähig gewesen, so kann ihm kein mit Strafe zu ahndender Vorwurf gemacht werden. In dieser Interpretation ist der Schuldbegriff insoweit normativ, als er keinen empirischen Nachweis der tatsächlichen individuellen Fähigkeit zur Aufbietung hinreichender Rechtstreue erfordert.44 Der Schuldvorwurf geht vielmehr im Sinne einer normativen Hypothese von der Fähigkeit zu rechtstreuer Motivation aus, sofern nicht bestimmte Defizite – wie z. B. zu geringes Alter oder biologisch fundierte psychische Unfähigkeiten – als Schuldausschließungsgründe oder bestimmte (typisierte) psychische Zwangslagen – wie z. B. Notstand – als Entschuldigungsgründe eine normgemäße Motivation nicht erwarten lassen. Bei empirischer Betrachtung ist die Verwirklichung eines Deliktstatbestands ein Geschehen unter einer spezifischen Beschreibung. Hierbei hat der Täter bestimmte Vorstel43 Zur einschlägigen Rechtsprechung vgl. BVerfGE 20, 323; 95, 96, 131; BGHSt 2, 194, 200. 44 Vgl. auch Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2 Hälfte 12, 1914, S. 210 f.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969, S. 22 ff.
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lungen und Motive, bewegt sich in einer bestimmten Weise unter bestimmten äußeren Rahmenbedingungen. Die Zuschreibung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für dieses Geschehen erfolgt jedoch dogmatisch in einzelnen analytisch ausdifferenzierten Schritten. Aus dem Geschehen werden einzelne Aspekte herausgegriffen und nach Maßgabe der einschlägigen Normen und Zurechnungsregeln beurteilt. Wie bei der Einlösung eines Versprechens45 setzt auch die handlungswirksame Anerkennung strafrechtlicher Normen die Fähigkeit des Normadressaten voraus, das Gesollte als Gewolltes in die Tat umzusetzen. Damit etwa der Vater V sein am Strand spielendes, von einer Welle erfasstes Kind K vor dem Ertrinken retten und damit das Gebot aus §§ 212, 13 StGB befolgen kann, muss er zunächst aktuell in der Lage sein, die lebensgefährliche Situation, in der sich K befindet, zu erfassen und ihm zur Verfügung stehende Möglichkeiten zur Rettung zu erkennen. Außerdem muss er fähig sein, die Intention, K zu retten, anderen Intentionen – z. B. dem Wunsch, sich ungestört zu sonnen – als die für ihn rechtlich verbindliche vorzuziehen. Zur Normbefolgung muss also V als Normadressat zum einen physisch und intellektuell in der Lage sein, das Gesollte – die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung – zu realisieren. Zum anderen muss er die Verhinderung des tatbestandlichen Todeseintritts von K als das von ihm rechtlich Gesollte erkennen und zum dominanten Motiv seines Handelns machen können. Methodisch bietet die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Motivationsfähigkeit im analytischen Modell gestufter Intentionen in diesem Kontext nicht nur eine sinnvolle Möglichkeit der Strukturanalyse normgemäßen Verhaltens, sondern gewährt auch und vor allem einen schematischen Rahmen zur Feststellung eines schuldhaften Normverstoßes. Mit Hilfe dieser beiden Kriterien der Normbefolgungsfähigkeit lässt sich ermitteln, ob ein den Tatbestand verwirklichendes Geschehen einem Täter als schuldhaftes Unrecht zugerechnet werden kann. Als Resultat muss dem Täter vorgeworfen werden können, er habe bei hinreichend rechtstreuer Motivation die Tatbestandsverwirklichung intentional vermeiden können und müssen. Zur Begründung ist zunächst auf der ersten Zurechnungsstufe zu konstatieren, dass der Täter in hinreichendem Maße intellektuell und physisch handlungsfähig war, um die Intention zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung zu bilden und zu realisieren. Hat etwa der Vater V im Beispielsfall seine Brille abgesetzt, um sich am Strand zu sonnen, und daher die Lebensgefahr für K nicht erkannt, so fehlt eine wesentliche kognitive Voraussetzung zur Bildung der Intention, K zu retten. Selbst wenn V zufällig aktuell bedacht hätte, dass Väter verpflichtet sind, ihre in Not geratenen Kinder aus dem Wasser zu ziehen, und zudem bereit gewesen wäre, zur Befolgung dieser Norm auch das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, hätte er keine Veranlassung gehabt, sich anders zu verhalten, als er sich tatsächlich verhalten hat. Die den Tatbestand 45
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verwirklichende Kausalität des eigenen Verhaltens für den Todeserfolg war hier aktuell nicht erkannt und daher, auch bei unterstellter rechtstreuer Motivation, für V aktuell nicht vermeidbar. Spricht jedoch nichts dagegen, dem Täter die erforderliche intellektuelle und physische Handlungsfähigkeit zur Bildung und Realisierung der auf die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung gerichteten Intention zuzuschreiben, so kann ihm das Unrecht seiner Tat subjektiv als Pflichtverletzung zugerechnet werden. Auf einer zweiten Zurechnungsstufe ist dann zu fragen, warum der Täter die Intention zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung nicht gebildet und realisiert hat, obgleich er hierzu doch in hinreichendem Maße handlungsfähig war. Im Rahmen dieses Zurechnungsschritts ist zu prüfen, ob es Gründe gibt, welche es nach Maßgabe der strafrechtlichen Wertungen hinreichend erklären (Schuldausschließung) oder verständlich machen (Entschuldigung), dass der Täter die normgemäße Intention nicht handlungswirksam gebildet hat. Insoweit wird also unterstellt, dass jeder Normadressat in ausreichendem Maße zur handlungswirksamen Bildung des Normbefolgungsmotivs fähig ist, falls dem nicht im Allgemeinen oder in der konkreten Situation bestimmte Gründe, zu denen auch die unvermeidbare Normunkenntnis gehört, entgegenstehen. Das hier skizzierte zweistufige Zurechnungsmodell geht davon aus, dass der Täter zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt aktuell zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung handlungs- und motivationsfähig ist. Es müssen also alle zur Normbefolgung erforderlichen Voraussetzungen bis auf den Umstand erfüllt sein, dass der Täter ohne akzeptablen Grund die Intention zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung nicht gebildet hat. Genau diese mangelnde handlungswirksame Bildung des Vermeidemotivs eines Normadressaten, dem hinreichende Handlungs- und Motivationsfähigkeit zuzuschreiben ist, bildet den Gegenstand des den Schuldvorwurf begründenden Defizits an Rechtstreue. Sind dagegen die Erfordernisse hinreichender Handlungs- und Motivationsfähigkeit nicht erfüllt, greift zunächst der Grundsatz impossibilium nulla est obligatio ein: Niemand ist über seine (konkreten) Fähigkeiten hinaus verpflichtet. Wie sich jedoch bereits bei der Analyse des Versprechens46 zeigte, entlastet fehlende aktuelle Handlungs- und Motivationsfähigkeit nicht per se. Denn die aktuelle Unfähigkeit zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung kann als Ausdruck mangelnder Rechtstreue angesehen werden, wenn der Täter die Situation einer zu vermeidenden Tatbestandsverwirklichung prognostizieren konnte, aber keine Sorge dafür getragen hat, im erforderlichen Maße handlungsfähig zu sein. Für einen rechtstreuen Normadressaten wäre es ein Selbstwiderspruch, eine Norm befolgen zu wollen, ohne auch in der Lage sein zu wollen, dies physisch und intellektuell zu können. Daher sieht das Strafrecht vielfältige haftungsbe46
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gründende Ausnahmeregelungen für den Fall vor, dass der Täter zwar die Tatbestandsverwirklichung aktuell nicht vermeiden kann, bei Aufbietung der von ihm erwarteten Rechtstreue aber in hinreichendem Maße zur Sicherung der aktuellen Handlungsfähigkeit hätte Sorge tragen können und müssen.47 Im Beispielsfall wäre von einem rechtstreuen Vater zu erwarten, dass er wegen der Risiken, die mit einem Strandaufenthalt für sein Kind verbunden sind, seine Fähigkeit zur Abwendung von Schäden nicht etwa durch ein Abnehmen der Brille dezimiert. Solche Konstellationen werden auf der Ebene der Pflichtwidrigkeit mit der Zurechnungsfigur der Fahrlässigkeit48 erfasst und haben auf der Schuldebene beispielsweise mit dem vermeidbaren Verbotsirrtum oder der umstrittenen actio libera in causa ihre Entsprechungen.
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Vgl. §§ 16 Abs. 1 S. 2, 17 S. 2, 35 Abs. 2 StGB. Hierzu Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 23 ff. 48
Spontaneität und Freiheit – neue Aspekte moderner Hirnforschung für Strafrecht und Kriminologie? Von Klaus Lüderssen Vor sieben Jahren startete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ eine Aufsatzserie über die gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Analysen und Beschreibungen der Funktionen des menschlichen Hirns.1 Auch „Verbrechen und Strafen“ gehörte zu den Themen.2 Inzwischen hat sich die Strafrechtswissenschaft – unter fortwährender Einspeisung sozusagen des jeweils Neuen – der Frage in breitem Umfang und intensiv angenommen.3 Da bedarf es also keiner Berichterstattung mehr. Nur soviel sei rekapituliert: Als Anknüpfungspunkt für die Reaktionen auf Delinquenz wird die Willensfreiheit im späten Mittelalter emphatisch bejaht und erfährt dann nach und nach diverse Relativierungen – in dem Maße, wie außerindividuelle Determinanten dessen, was man inzwischen Verbrechen nennt, auftauchen. Massive Zweifel an der Willensfreiheit kommen mit dem vormarxistischen sensualistischen Materialismus des späten 18. Jahrhunderts. Dann gibt es eine zweite Welle im Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturwissenschaften zu exakten Universitätsdisziplinen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Aber es bleibt im wesentlichen bei der Tradition; jeweils ist es die auf Kant gestützte Freiheitsphilosophie, die sich behauptet. Mit der Pervertierung genetischer Konzepte durch die Nationalsozialisten ist ein dritter partieller Angriff auf die Willensfreiheit zu verzeichnen, der zwar durch die Niederlage 1945 gewaltsam äußerlich erledigt wird, aber subkutan in Gestalt der Kunstfigur des Gewohnheits1 Vgl. Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neusten Experimente, 2004. 2 Lüderssen, Ändert die Hirnforschung das Strafrecht, in: Geyer, a.a.O., S. 98 ff. 3 Hillenkamp, Das lymbische System: Der Täter im Täter? In: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht? 2006, S. 85 ff.; Lampe, Willensfreiheit und strafrechtliche Unrechtslehre, ZStW, 118. Band (2006), S. 1 ff.; Lüderssen, Das Subjekt zwischen Metaphysik und Empirie, Einfluss der modernen Hirnforschung auf das Strafrecht?, in: Duncker (Hrsg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie. Zum 100jährigen Jubiläum der Gründung der Wissenschaftlichen Gesellschaft im Jahre 1906 in Straßburg, Stuttgart 2006, S. 189 ff.; Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handlungs- resp. des Schuldprinzips. Konsequenzen neuerer wissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht, 2006; Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008; Hirsch, Zur gegenwärtigen deutschen Diskussion über Willensfreiheit und Strafrecht, ZIS 2/2010, S. 62 ff.
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verbrechers fortbestehen (wie manches andere aus der Nazizeit, z. B. die Legende von der Notwendigkeit der Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken) und eine unheilige Allianz eingeht mit dem vierten Vorstoß, den Bemühungen der „défense sociale“ und „difesa sociale“, also den etwas oberflächlichen empirisch-soziologischen Richtungen der Kriminologie in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.4 Auch diese Tendenzen werden durch eine erneute Verteidigung einer mit der Kant’schen Freiheitsphilosophie gestützten Willensfreiheit aufgefangen, dieses Mal aber raffinierter und differenzierter. Deshalb haben die Strafrechtler den nunmehr aus der aktuellen Hirnforschung kommenden Angriff mit einer gewissen Müdigkeit abgewehrt. Was soll man noch sagen: Wir brauchen doch die philosophisch abgesicherte Willensfreiheit gar nicht für unseren Zurechnungsbetrieb.5 I. Lassen wir es also beim status quo der erreichten Abklärungen. Das wäre am Ende wirklich zu empfehlen, wenn nicht durch die Mitteilungen jener modernen Hirnforscher eine neue Qualität der Argumentation ins Spiel gekommen wäre. Alle bisherigen Versuche, indeterministische Positionen, welchen Grades auch immer, abzulehnen, liefen auf den Nachweis hinaus, dass äußere Faktoren das Handeln des Menschen bestimmen. Daraus wurde dann geschlossen, dass innere Impulse unmaßgeblich seien. Die zentrale These jener modernen Hirnforscher besteht nun aber gerade darin, das Fehlen der inneren steuernden Kraft nachzuweisen,6 woraus sich dann der Schluss ergibt, dass es andere Faktoren sein müssen, die das Handeln des Menschen bestimmen. Diese Umkehrung der Fragestellung7 lag gewissermaßen in der Natur des Forschungsverlaufs. In dem Maße, 4 In Deutschland am ehesten zu identifizieren mit Bauer, Das Verbrechen und die Gesellschaft, 1957. 5 Maßgebend aus strafrechtlicher Sicht ist der große Aufsatz von Bockelmann, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit, ZStW 75 (1963), S. 372 ff.; einen umsichtigen und kenntnisreichen Bericht über die ganze Diskussion liefert Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit der strafrechtsphilosophischen Diskussion der Gegenwart2, 1965; philosophisch ist es Adorno, der seine These von der Unentscheidbarkeit der Kontroverse zwischen Indeterminismus und Determinismus darauf stützt, dass „die Gesamtheit der Bedingungen, von denen dem Determinismus zufolge die Willensakte abhängen sollen, (. . .) nicht bekannt“ ist, man aber auch nicht von Idealkonstruktionen des Individuums her das Problem lösen könne (Kulturkritik und Gesellschaft II, in: Gesammelte Schriften, Band 10-2, 1977, S. 533 ff. (548); abschließend jetzt: Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, a.a.O., S. 110 ff. 6 Am besten nachzulesen bei Singer, Selbsterfahrung und neurologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen, in: Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, a.a.O., S. 129 ff. (137 ff.). 7 Deshalb war es von vornherein richtig, die so genannten Libet-Experimente nicht zu ernst zu nehmen, die noch den alten Weg beschritten, den Nachweis zu führen, auf welche Weise das menschliche Handeln objektiv vorbestimmt sei. Sie sind denn im
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wie die Hirnforschung Stück für Stück gleichsam die neuronalen Repräsentationen für geistig-seelische Vorgänge im Gehirn fixieren konnte, wuchs die Hoffnung, insoweit auch in Bezug auf die letzte Frage fündig zu werden. Wo ist das Ich? Die Überzeugung, diese Frage endgültig klären zu können, war so stark geworden, dass als Antwort nur noch möglich schien: Entweder man findet die neuronale Repräsentation des Ich jetzt, oder es existiert nicht. 1. Diese Gewissheit muss es gewesen sein, die jene Hirnforscher dazu veranlasst hat, sowohl die wissenschaftstheoretischen Einwände, an denen es von vornherein nicht gefehlt hat und die auch aus den eigenen Reihen8 kamen, in den Wind zu schlagen, als auch für das Strafrecht die radikalsten Reformforderungen zu erheben, die es je gegeben hat: Sie laufen auf völlige Konditionierung hinaus und Früherkennungs-Empfehlungen, und auch hier verhallen die wissenschaftstheoretischen Einwände ungehört. Wie steht es beispielsweise mit der Konditionierung der Richter oder Verwaltungsbeamten, die die Konditionierung der Delinquenten zu beschließen haben? Wie steht es mit der Konditionierung der Hirnforscher selbst und wie steht es mit anderen Rechtsgebieten, in denen auch Willenserklärungen – etwa bei Verträgen – stillschweigende Voraussetzungen des Funktionierens der bürgerlichen Gesellschaft sind? a) Die offenen Fragen sind umso ernster zu nehmen, als man ihnen nicht dadurch entgehen kann, dass man die Ausgangsbasis, für alle geistig-seelischen Prozesse eine neuronale Basis anzunehmen, beiseite schiebt, um in einen Dualismus zurück zu fallen, wonach das Geistige als Teil einer selbständigen erkenntnisunabhängigen Objektwelt zu begreifen ist.9 „Ein solcher Dualismus hat heute in Philosophie und Neurowissenschaften aus guten Gründen keine ernsthaften Anhänger mehr“10. „Ein Wille, der unabhängig von der physikalischen Welt (v. a. des Gehirns) wäre, aber dennoch in dieser kausale Wirkungen (z. B. Handlungen) hervor brächte“, liefe „auf die Verletzung eines Grundgesetzes der Physik hinaus: des (unbestrittenen) Satzes von der Erhaltung der Energie“.11 Dass „alle Bewusstseinszustände . . . neuronale, also physiologische Grundlagen“ haben, „Veränderungen im mentalen ohne solche im neuronalen . . . es nicht“ gibt, ist also die Grundlage aller weiteren Überlegungen.12 Laufe der Diskussion auch immer stärker in den Hintergrund getreten, vor allem wegen ihrer inneren Unschlüssigkeit (vgl. dazu schon Lüderssen, in: Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, a.a.O., S. 193 f.; dann aber vor allem Lampe, a.a.O., S. 8). 8 Belege bei Lüderssen, in: Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, a.a.O., S. 193– 194. 9 Über die dabei anzutreffenden Differenzierungen Lüderssen, a.a.O., S. 196 ff. 10 Merkel, Neuartige Eingriffe in das Gehirn – Verbesserung der mentalen conditio humana und strafrechtliche Grenzen, ZStW 121 (2009), S. 911 ff. (948); zur Position Kants: Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, a.a.O., S. 51 ff. 11 Merkel, ZStW, a.a.O. 12 Diese sind freilich keineswegs abgeschlossen, wie die Diskussion über die Funktion von „Gründen“ zeigt. Vgl. den Bericht über den Diskussionsstand bei Pauen/Roth,
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b) Wie kommt es dann zu den wissenschaftstheoretisch defizitären und normativ unreflektierten Folgerungen? aa) Meine erste Vermutung ist, dass die Vertreter der hier zur Debatte stehenden Hirnforschung sich in evolutions-biologischen Konzepten bewegen, die sie daran hindern, genauer hinzuschauen. In diesem Weltbild hat, was die idealistischen Philosophen Kausalität aus Freiheit nennen, der so genannte „freie Anfang“.13 keinen Platz. Vielmehr regieren die alten Muster über Leben, Fortpflanzen und ähnliches mehr,14 deren Primitivität der idealistische Philosoph und der erfahrene Sozialwissenschaftler rügen, die der Naturforscher aber in Bescheidenheit akzeptiert. bb) Mit dem Bekenntnis zu Evolutionsmodellen15 verbindet sich eine vorsichtige Sympathie für Meditation.16 Die Annahme, dass das menschliche Leben nicht Gründen, rationalen Zwecksetzungen, großen sozialkonstruktiven Konzepten folgt, sondern sich aus ganz anderen Quellen speist: Gefühlen, Naturerlebnissen, bis hin zu unerklärbar mythischen Eingebungen, macht es natürlich viel leichter, sich mit der Wahrnehmung zu arrangieren, dass das Hirn dezentralisiert sei, keine Ich-Institution, keine lenkende Instanz habe; die Kombination von meditativer Mentalität und dezentralisierter Gehirntätigkeit erscheint als eine Einheit, die man der begrifflich abstrakten und durchkalkulierten Welt, deren zentrale Kategorie der freie Wille sein soll, in aller Ruhe entgegen hält. Mit Psychoanalytikern erlebt man ähnliches. Man redet mit ihnen, erklärt gewisse Vorgänge, auch mit Blick auf Motive, reiht Ursache an Ursache, Argument an Argument, versucht Motivationsstrukturen hierarchisch zu entschlüsseln, aber der Gesprächspartner schaut einen ganz seltsam an und sagt: „So ist die Welt nicht, Sie gehen von ganz falschen Voraussetzungen aus, das sind ja alles Rekonstruktionen bewusster Prozesse. Die Wahrheit ist im Unbewussten, das wir nicht kennen, und das wir mühsam auf indirekten Wegen entdecken“. Und auf der Basis dieser Annahme ist es wiederum leicht zu begreifen, dass diesem Menschenbild die dezentralisierte Gehirntätigkeit entspricht, die das Ich nicht kennt. cc) Vergleichbare Perspektiven finden sich bei Historikern. So fragt der Mediävist Johannes Fried17: „Müssen wir vergangenes Handeln neu bewerten, weil Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. 2008, S. 117 ff., und Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, a.a.O., S. 39 ff. Aber das ist eine isolierbare Problematik. 13 Max Planck, Kausalgesetz und Freiheit, in: ders., Vorträge und Erinnerungen, 1949, S. 139 ff. (163). 14 Ausführlicher dazu Lüderssen, in: Beiträge, a.a.O., S. 195 ff. 15 Dazu auch Singer, a.a.O., S. 134 ff. 16 Vgl. Singer/Ricard, Hirnforschung und Meditation, 2006; vgl. auch Tugendhat, Egozentrik und Mystik, 2003. 17 Fried, Geschichte und Gehirn, 2003, S. 6/7; ders., Der Schleier der Erinnerung, 2009, S. 116 ff.
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es sich dem Willen der Handelnden entzog und statt dessen dem von genetischer Kondition, elektrochemischen Aktivitäten und kulturellen Inputs geregelten Spiel der Neuronen unterlag; weil alles, was der Mensch hervorgebracht, seine kollektiven und individuellen Lebensweisen, sein Können, seine Werke und deren Wirkungen, alle Kognition und Intention, die Religion und selbst die Philosophie, weil seine ganze geistige Existenz sich kontingenz-induzierten Interaktionen von Neuronen mit soziokulturellen Mächten, mithin einem neurokulturellen Geschehen verdankte, das mehr Natur und Gesellschaft als der Träger des Hirns, der sich als Ich erfahrende individuelle Mensch, zu verantworten haben? Wenn dem so wäre, welche Folgen zeitigte es für Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung?“ Die vorläufige Antwort ist: „Die Frage sei reduktionistisch an der Stelle aufgegriffen, an der Historiker stets einsetzen müssen, um ihr Datenmaterial zutreffend und zuverlässig zu erheben: bei ihren Quellen. Dieselben aber sind, zumal jene des Mediävisten, in weit überwiegendem Maße Erinnerungszeugnisse, mithin Produkte eines Gedächtnisses, das sich wohl mancherlei Hilfsmittel bediente, sich ursprünglich und im wesentlichen jedoch der natürlichen Leistungskraft des menschlichen Hirns verdankte. Diese Quellen unterlagen bei ihrem Zustandekommen eben jenen Bedingungen, welche die Neurowissenschaften mehr und mehr und in überraschender Klarheit aufzudecken vermögen. Keine zwei Beteiligte desselben Geschehens erinnern sich an identische Wahrnehmungen. Die dadurch bedingte Vielfalt gehört offenbar, noch kaum bedacht, zum Eigentlichen des Gewesenen“. c) Die Vorannahmen einer evolutionär-meditativ-assoziativ erschließbaren Welt gehen übrigens den Naturforschungen nicht immer voran. Eher ist es vielleicht so, dass ein mögliches Potential, die Welt so zu begreifen, durch die Überzeugung von der dezentralisierten Tätigkeit des Gehirns erst hervorgerufen wird. Ganz wird man das nicht aufklären können; wahrscheinlich handelt es sich um Interdependenzen. 2. Die Auseinandersetzung mit der modernen Hirnforschung, insbesondere mit Wolf Singer, sollte also gar nicht darüber gehen, was diese herausbekommt oder nicht herausbekommen hat, sondern unter dem Aspekt geführt werden, wie sie sich mit Evolution, Meditation und Psychoanalyse arrangiert. Diese Diskussion ist nicht naturwissenschaftlich, sondern kulturwissenschaftlich. Denn selbst wenn Meditation und Psychoanalyse gern auf Argumente verzichten, so können sie sich doch nicht der Erfahrung verschließen, dass Menschen, die sich realistisch verhalten, Argumente brauchen. Freilich ist schwer vorstellbar, dass ein Hirnforscher auf der Basis der wenigen Annahmen darüber, dass die zentralisierende Ich-Struktur nicht nachweisbar sei, sofort die ganze abendländische Philosophie in Frage stellt. Oder führt die Disposition zu der ganzheitlich und gefühlsmäßig das Unbegreifliche einbeziehenden
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Weltsicht dazu, dass Forschungen der Vorzug gegeben wird, die diese Disposition materialistisch – und deshalb prima vista verlässlich – bestätigen? Wissenschaftstheoretisch ist das eine vollkommen unaufgeklärte Frage, wahrscheinlich wird sie nicht einmal gestellt. Genereller müsste man fragen: Wie sind die im weitesten Sinne normativen Prämissen beschaffen für die Entdeckung von Relevanzstrukturen durch die Naturwissenschaften? Beginnen müsste man hier mit einer Introspektion. II. Was tut man bei dieser Sachlage? 1. Man könnte versuchen, das Prinzip der Verantwortlichkeit als Fiktion (notfalls kontrafaktisch) aufrecht zu erhalten, um sich von Zufall oder Willkür abzugrenzen.18 Die Ergebnisse sind ja – verglichen mit der imaginären Horrorszene der virtuellen Konditionierung und Früherkennung – ganz gut, entsprechen – nach Nietzsche – der schönsten Illusion. In der speziellen Perspektive des Strafrechts wäre das die normative Konstruktion des Zuschreibungsparadigmas – angesichts notorisch epistemologischer Zweifel sind wir ohnehin nicht weit davon entfernt.19 2. Denkbar wäre aber auch eine harmonisierende Hypothese. a) Könnte es nicht so etwas geben wie eine durch Hirnprozesse freigesetzte Freiheit, oder sozusagen determinierte Freiheitsprozesse? Gerhard Roth hat das in einer öffentlichen Diskussion in München eingeräumt.20 So überrascht es nicht, dass er zusammen mit Pauen21 die Frage aufwirft, „ob das Gehirn streng deterministisch oder quasi deterministisch arbeitet“22. Die Antwort fällt allerdings sehr vorsichtig aus: „Ob . . . mikrophysikalische Indeterminiertheiten makrophysikalisch-systemrelevante Auswirkungen haben und damit letztlich auch unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflussen, ist derzeit unklar“ 23. Andererseits wird weitergehenden Spekulationen rasch eine Riegel vorgeschoben: „Wenn das Gehirn tatsächlich nicht deterministisch oder nur ,quasi deterministisch‘ arbeitet, dann weitet dies nicht etwa unsere Freiheitsspielräume aus, sondern führt allenfalls zu mehr Zufall und weniger Kontrolle. Freiheit hängt nämlich nicht davon ab, ob unsere Entscheidungen und die sie realisierenden neuronalen Prozesse determiniert sind, vielmehr kommt es darauf an, wie sie de18
Dazu Max Planck, a.a.O., S. 158. Dazu Lampe, a.a.O., S. 18. 20 Forum Wissen der Süddeutschen Zeitung, 13.5.2004, „Wie frei ist der Mensch?“ Vgl. den Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 17.5.2004. 21 Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, 2008. 22 A.a.O., S. 111. 23 A.a.O., S. 110. 19
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terminiert sind. Werden sie durch uns selbst, d. h. durch unsere personalen Motive determiniert oder auch nur hinreichend sicher bestimmt, dann sind sie selbst bestimmt und damit frei (. . .)“ 24. Was heißt das? Dieses „selbst“ 25 ist doch gerade durch die These vom dezentralisierten Funktionieren des Gehirns in Frage gestellt. Was soll man nach so viel anspruchsvollen Mitteilungen hirnfunktioneller Details mit dieser biederen Beschwörung der Freiheit anfangen, die nicht anders klingt als das, was die Dualisten gegenwärtig dazu sagen.26 b) Wenn die Hirnforschung an dieser Stelle also gewissermaßen schlicht konventionell reagiert, muss man anderwärts nach Anknüpfungen dafür suchen, die Argumentationslücken zu füllen. Fündig wird man in der nicht-idealistischen philosophy of mind. Auszugehen ist von der Feststellung Searles: „Zu jedem Zeitpunkt ist der Gesamtzustand des Bewusstseins durch das Verhalten der Neuronen festgelegt, aber von einem Zeitpunkt zum nächsten ist der Gesamtzustand des Systems nicht kausal hinreichend, um den nächsten Zustand zu determinieren. Wenn Willensfreiheit überhaupt existiert, dann als Erscheinung in der Zeit“ 27. Von hier aus entwickelt sich die Position, die man inzwischen deterministischen Kompatibilismus nennt. Das ist die Lehre, wonach Willensfreiheit mit Determinismus vereinbar sein kann. Das liest sich dann so: Es muss „für freie Entscheidungen eine spezielle Art von neuronaler Indeterminiertheit geben, nämlich die Determinationslücken im Gehirnprozess, in die der freie Wille hineinstoßen kann. Der Rest des Willensbaus könnte dann durchaus determiniert sein“ 28. „Könnte (. . .)“, d. h., es kann auch anders sei, und deshalb spricht man hier – noch genauer – von agnostischem Kompatibilismus29. Man darf gespannt darauf sein, ob die Hirnforschung diese Anregung aufnimmt und den Charakter jener speziellen Art neuronaler Indeterminiertheit zu verifizieren versucht. So lange das nicht passiert, muss man sich mit dem vorhandenen geisteswissenschaftlichen Instrumentarium weiterhelfen.30 24
A.a.O., S. 111/112. Begriffliche Klärungen bei Singer, in: Beiträge, a.a.O., S. 129 ff.; Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, 2009. 26 Vgl. dazu Zaczyk, GA 2009, S. 371 und die treffende Erwiderung von Merkel, ZStW 948, Fn. 50. 27 Searle, Freiheit und Neurobiologie, 2004, S. 45. 28 Keil, Willensfreiheit, Antworten auf Walde, Willascheck und Jäger, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2009, S. 781 ff. (782). 29 Keil, a.a.O., S. 782. Gründliche Begriffsklärung bei Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, a.a.O., S. 22 ff. 30 Wichtige Ausgangspunkte bei Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, a.a.O., S. 80 ff. 25
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aa) Exemplarisch ist vielleicht zunächst der Aufsatz von Max Planck, „Kausalgesetz und Willensfreiheit“ 31. Er konfrontiert die sichere Überzeugung der Naturwissenschaftler „von dem Walten einer strengen Gesetzlichkeit in dem gesamten Getriebe der äußeren Welt“ mit der „in unserem Selbstbewusstsein, also durch die unmittelbarste Erkenntnisquelle, die es geben kann, verbürgten Gewissheit, dass wir letzten Endes selber Herr sind über unsere eigenen Gedanken und Entschließungen“ 32. Das führt ihn zu der Frage, ob es wirklich „von vornherein ganz ausgemacht und gar nicht anders denkbar“ sei, „dass es für ein Ereignis in jedem Fall eine natürliche Ursache geben muss?“33 Immerhin werde ja „nicht nur bei der Hypothesenbildung, sondern sogar in der endgültigen Formulierung fertiger wissenschaftlicher Resultate (. . .) oft kausalfreies Denken vorausgesetzt“ 34. Damit hat Planck die Basis für eine zuspitzende Konkretisierung der Frage gewonnen. Gibt es (. . .) auch in der Welt des Geistes, im Fühlen, Wollen, Denken und Handeln des Menschen überall einen strengen Kausalzusammenhang, so dass jedes Erlebnis, jeder Gedanke, jeder Willensakt durch einen oder mehrere vorhergehende Umstände oder Ereignisse notwendig und vollständig belegt ist, oder herrscht hier im Gegensatz zur Natur bis zu einem gewissen Grad Freiheit oder Willkür oder Zufall, wie man es nun eben nennen will?“ 35 Zunächst scheint Planck ganz der Erfahrung zu vertrauen, dass „sich bisher nirgends ein Anhaltspunkt für das Vorhandensein (. . .) sogenannter ,freier Anfänge‘ auffinden“ lasse.36 Und doch ist er beunruhigt: „Sollte der rein kausalen Denkweise an irgendeinem Punkte eine feste Grenze gesetzt sein, die sie nicht überschreiten kann?“ Mit dieser Frage sind wir dicht vor „dem Kernpunkt unseres heutigen Problems angelangt“, fährt Planck fort und findet sich nun zu der überraschenden Feststellung bereit, dass es „einen Punkt, einen einzigen Punkt in der weiten unermesslichen Natur- und Geisteswelt“ gebe, „welcher jeder Wissenschaft und daher auch jeder kausalen Betrachtung nicht nur praktisch, sondern auch logisch genommen unzugänglich ist, der immer unzugänglich bleiben wird: Dieser Punkt ist das eigene Ich“.37 Den denkbaren Einwand gegen diese Unhintergehbarkeit des Ich – dass ja „die Tätigkeit des Erkennens schon ein Teil des zu Erforschenden selber“ bildet und daher „die Befreiung unseres Ichs von den Ketten das Kausalgesetzes nur eine scheinbare, durch unsere mangelhafte Intelligenz bedingte“ sei – weist er zurück; die „Unmöglichkeit, das eigene gegenwärtige Ich dem Kausalgesetz zu unterstellen“, liege viel tiefer, sei „logischen Ursprungs“ 38. 31 32 33 34 35 36 37 38
Max Planck, a.a.O., S. 139 ff. A.a.O., S. 139. A.a.O., S. 141. A.a.O., S. 142. A.a.O., S. 148. A.a.O., S. 160. A.a.O., S. 163. A.a.O., S. 163–164.
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bb) Ähnliche Überlegungen stellt Popper an unter Hinweis darauf, dass Entscheidungen zwar frei getroffen, aber nicht vorausgesehen werden können, denn das „Voraussagegerät“ könne einen Teil des physikalischen Systems, zu dem es gehört, nicht voll erfassen, nämlich sich selbst, genauer, seine bisher gewonnenen Informationen über sich selbst“. McKay hat das dann dahingehend präzisiert, „dass selbst für den Fall, dass das menschliche Gehirn so mechanisch wäre wie ein Uhrwerk, den Subjekten Freiheit in einem bestimmten Sinn zugesprochen werden müsse“ 39. cc) Später ist das alles fixiert worden in der Theorie des transzendentalen Naturalismus40. „Die Erkenntnis steckt zwar in unserem Inneren, doch wir sind nicht imstande, uns Zugang zu ihr zu verschaffen“41. Hierher gehört auch alles was – unter Einbeziehung der schönen Literatur – über die „Unhintergehbarkeit des Individuellen“ herausgefunden worden ist, als Ziel für eine „unendliche Annäherung“ 42. c) Die Frage, was diese Einsichten für „Verantwortlichkeit und für Reaktionen wie Tadel oder Strafe“ bedeuten, ist freilich noch offen43. Die metaphysische Behauptung der Kohärenz von Freiheit und Sittlichkeit hat es da in der Tat leichter. Es besteht indessen kein Grund zur Resignation. Wir müssen die bisher nur formal zu Ende gedachte Unendlichkeit des Ichs einfach etwas substanzieller sehen. aa) Der Weg dahin ist eröffnet, wenn man sich einmal ausmalt, wie die Entscheidungssituation eines Menschen ist, sofern nicht von vornherein der Maßstab der Sittlichkeit angelegt wird. Hier weiß bereits Friedrich Schiller Rat. Denn er hat „die Kantische Identität vom guten und freien Willen, von Moralgesetz und Freiheit“ aufgelöst44 und damit im Grunde etwas antizipiert, was später in der 39 Ich beziehe mich sowohl für Popper wie für McKay auf die Berichte bei Pothast, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht, 1980, S. 183 ff. 40 McGinn, Die Grenzen vernünftigen Fragens, 1996, S. 11. 41 McGinn, a.a.O., S. 235. Ausführlicher dazu Lüderssen, in: Beiträge, a.a.O., S. 199 ff. 42 Darüber wiederum im einzelnen Lüderssen, a.a.O., auch unter Heranziehung von nachgelassenen Schriften Ernst Cassirers mit eindrucksvollen Formulierungen über das Problem des Idealismus, „zu seinem eigentümlichen Prinzip durchzudringen, um das Ich in seiner Selbständigkeit und mit einer spezifischen Gewissheit zu erfassen“. Cassirer wendet sich gegen die „inkonsistenten Argumentationen des metaphysischen Substanzendualismus“ (Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, 2010, S. 257). Vgl. auch die Hinweise auf parallele Entwicklungen in der Literaturwissenschaft, der Geschichtstheorie, der Psychoanalyse und der Politikwissenschaft, Lüderssen, a.a.O., S. 202 und 203. 43 Kritische Bemerkungen bei Pothast, die dahin gehen, dass es diese „Freiheit“ wohl geben möge. Sie könne „aber nicht die Basis für Verantwortlichkeit und für Reaktionen wie Tadel oder Strafe sein“. Sie könne „auch nicht benutzt werden, um diese Praxis gegen Angriffe eines Determinismus zu verteidigen“ (a.a.O., S. 187). 44 Käte Hamburger, Philosophie der Dichter, 1966, S. 153.
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Existenzphilosophie Sartres ganz deutlich ausgesprochen worden ist, dass nämlich die Haltung zur Ideenwelt auf dem Vorrang der Existenz vor der Essenz beruhe.45 „Der Mensch ist zur Freiheit verdammt“. Es geht um die „wahre Verantwortung des in jeder Situation mit sich allein gelassenen Menschen, der allein aus der Situation heraus sich so oder so entscheiden muss, aber indem er sich so oder so entscheidet, sich bewusst ist, dies für alle zu tun. Dies ist es, was Sartre als die eigentliche Freiheitserfahrung anerkennt“ 46. In den Lettres françaises (1944) hat er das für die furchtbarsten Widerstandssituationen wie folgt formuliert: „Für diejenigen, die der Untergrundbewegung angehörten, erzeugten die Bedingungen, unter denen sie kämpften, eine neue Art von Erfahrung. In Einsamkeit wurden sie gefangen genommen. Völlig verlassen und in äußerster Not hielten sie der Folter stand. Und dennoch waren es in der Tiefe ihrer Einsamkeit die anderen, die von ihnen verteidigt wurden“ 47. Im übrigen war Sartre ja vollkommen informiert über die modernen Einsichten in die Determination menschlichen Lebens, verarbeitete die einschlägigen Entdeckungen der Psychoanalyse und auch der Soziologie. Sein Freiheitsbegriff ist also zwar besonders radikal, aber gleichzeitig auch ehrlich und mutig, nicht gesteuert durch utopische, aus Angst vor der eigenen Courage geborene, religiös motivierte Postulate. Daher ist es beruhigend, dass es auch Bemühungen gibt, die substanzielle Engführung bei Kant durch den Blick in die Zeit vor ihm rückgängig zu machen. Das hat Ernst Troeltsch versucht mit dem Hinweis darauf, dass das Mittelalter eine Zeit nicht der unlösbaren Bindungen, sondern der unendlichen individualisierten Freiheit gewesen sei. In dieser stecke ein eigener Keim zur modernen Freiheit, der mit der moralischen Freiheit im Sinne Kants nicht identisch sei.48 bb) Wie man sieht, treten an die Stelle des sittlichen Impulses als Bedingung für Freiheit nicht etwa notwendig das Chaos oder der Zufall, sondern andere, ziemlich komplexe Phänomene. Ein Indiz dafür ist beispielsweise, dass ja auch mit relativierten Freiheiten gearbeitet wird; das Rechtsinstitut der verminderten Zurechnungsfähigkeit ist ein traditioneller Beleg. Ferner beweisen das die nicht unmittelbar im Individuum wurzelnden Determinanten menschlichen Handelns, welche die moderne Kriminalsoziologie ans Licht gezogen hat. Sie füllen die Lücke, die die Hirnforschung – jedenfalls vorläufig noch – lässt für die Determi45 Es liege deshalb, schreibt Hamburger, (a.a.O., S. 130) einer jener seltenen Fälle vor, „bei dem es möglich sei, eine einer früheren Epoche der Geistesgeschichte angehörige Erscheinung von einem in der Moderne eröffneten Gesichtspunkt hier zu erhellen, ohne der Gefahr zu erliegen, die Gegenwart in die Vergangenheit ungeschichtlich hinein zu interpretieren. 46 Hamburger, a.a.O. 47 Nach Hamburger, a.a.O., S. 160. 48 Troeltsch, Humanismus und Nationalismus unterm Bildungswesen, S. 232. Dazu Joas, Eine deutsche Idee von der Freiheit? Cassirer und Troeltsch zwischen Deutschland und dem Westen, in: Forst u. a. (Hrsg.), Sozialphilosophie und Kritik, 2009, S. 288 (303 ff.).
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nation zur Indetermination, und damit ist eine sehr plausible Möglichkeit eröffnet für eine moderne Legitimation des Strafrechts, das sich allmählich als System der objektiven und subjektiven Zurechnung entwickelt hat, mit allen seinen Schattierungen, Relativierungen und Abhängigkeiten. 3. Was müsste sich daran ändern, wenn am Tage X die Hirnforschung endlich den Beweis erbringt, dass es die zentrale leitende Instanz neuronal nicht gibt? An unserer Einbildung, dass es sie gebe, könnten diese Mitteilungen für sich genommen nichts ändern. Sie könnten natürlich eine normative Suggestivkraft entfalten in dem Sinne, dass nichts sein darf, was nicht sein kann. Aber das liefe am Ende auf Denkverbote hinaus, und selbst wenn eine Generation kommen würde, die sich in dieser Weise einschüchtern ließe, würden spätere Generationen, die die gegenwärtige Hirnforschung vielleicht wieder vergessen haben oder ignorieren, sich keineswegs daran halten müssen.49 Indessen kann man sich diese Phantasien schenken, denn die Hirnforschung ist ja eben noch nicht so weit. Alles hängt zunächst davon ab, ob mit der Verabschiedung der Konnexität von Sittlichkeit und Freiheit wirklich Chaos und Zufall regieren werden und unsere Maßstäbe der Zurechnung die Überzeugungskraft verlieren oder ob sie mit anderen Mitteln und sogar reichhaltiger weiter entwickelt werden können. Sartre, Troeltsch, Cassirer und im Hintergrund Schiller sind die klassischen Bürgen dafür, dass man damit nicht im Nichts landen werde. Das bedarf zwar weiterer philosophischer Konkretisierungen, die Praxis des Strafrechts indessen ist hier längst unterwegs, verabschiedet sich von der falschen Abstraktheit des staatlichen Strafanspruchs, sucht die Verständigung in der Vielfalt der möglichen Reaktionen auf die Vielfalt der Delinquenz.50
49 Frühe Vorwegnahmen dieser Position bei Kelsen, Reine Rechtslehre2, 1960, S. 102 (dazu Günther/Prittwitz, Individuelle und kollektive Verantwortung im Strafrecht, in: Festschrift für Hassemer, 2010, S. 331 (335), und Fauconnet, Warum es die Institution „Verantwortlichkeit“ gibt, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten II, 1975, S. 293 ff. 50 Ausführlicher dazu Lüderssen, Muss Strafe sein? Das Strafrecht auf dem Weg in die Zivilgesellschaft, in: Festschrift für Hassemer, a.a.O., S. 467 (479 f.).
„Das Recht erhält die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen“ Zu Hegels Theorie der Strafrechtsinstitution Von Wolfgang Schild Für Ingeborg Puppe einen Beitrag zu ihrer Ehrung zu schreiben, eröffnet eine breite Möglichkeit von Themen. Sie hat über fast alle Probleme der Strafrechtsdogmatik und deren Methode geschrieben. Ihre Arbeiten haben in ihrer analytischen Kraft und Scharfsinnigkeit die Diskussion befruchtet und in vielem weitergebracht. Über manches könnte man trefflich streiten, wie es eben für eine Wissenschaft gehört, wobei man sich dafür argumentativ schon gewaltig anstrengen muss. Es bleibt die Qual der Themenwahl, der man aber dadurch entgehen kann, indem man Ingeborg Puppe einen Beitrag zu einem Thema widmet, das einem selbst am Herzen liegt, in der Hoffnung, dass dieser Inhalt auch das weit gefächerte Interesse der Geehrten findet. Verbunden sind die folgenden Ausführungen mit den besten Wünschen für die sicherlich weiterhin wissenschaftlich ergiebige, aber auch für die persönlich-menschliche Zukunft, verbunden auch mit dem herzlichen Dank für die sehr faire Zusammenarbeit und Hilfestellung bei den Querelen um den Nomos-Kommentar, für den wir beide gemeinsam mit Ulf Neumann einst in einer verantwortlichen, freilich bis heute nicht klar definierten Weise tätig waren. Dieses Thema, das mir am Herzen liegt, betrifft die Stellung der Strafrechtswissenschaft zu der Philosophie der Strafrechtsinstitution, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor allem in seinem Studienbuch „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse zum Gebrauch für seine Vorlesungen“ im Jahre 1820 veröffentlicht hat, dessen zweiter Titel „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ bestimmend geworden ist. Unter I. soll kurz das grundlegende Missverständnis in der Rezeption(sgeschichte) aufgezeigt werden: Hegel gibt nicht eine Theorie der Strafe, sondern der Strafrechtsinstitution. Im II. Teil geht es um einen Inhalt dieser Theorie, der in der Diskussion meist vernachlässigt wird1; und der in dem Titelzitat dieses Beitrags anklingt2. 1 Vgl. Gaede, Auf dem Weg zum potentiellen Vorsatz? in: ZStW 121, 2009, 239– 280, 259 Fn. 108. Neben den hier zitierten Arbeiten ist zu verweisen auf: Schild, Das Gericht in Hegels Rechtsphilosophie, in: Nagl-Docekal (Hrsg.), Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für Erich Heintel, Wien 1982, 267–294 (mit weiteren Nachweisen); Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, 2007, 92 ff., 119 ff.
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Dabei wird der Text des 1820 veröffentlichten Buches in den einzelnen Paragraphen mit einem Hinweis auf deren Nummer zitiert. Hegel selbst hat oft diesen Text durch weitere Ausführungen in Anmerkungen konkretisiert, die dann als Paragraphennummer mit „Anm.“ zitiert sind. Die meisten Hegel-Ausgaben enthalten auch kleingedruckte „Zusätze“, die nicht wörtlich von Hegel stammen, sondern von späteren Herausgebern aus einigen Vorlesungsmitschriften genommen sind. Heute sind zu allen Vorlesungen, die Hegel über diese Philosophie des Rechts (oft unter dem Titel „Naturrecht und Staatswissenschaft“) gehalten hat, Mitschriften veröffentlicht3, die zum Teil Diktate Hegels, zum Teil dann die Inhalte enthalten, die die Hörer verstanden und niedergeschrieben, manchmal nachgeschrieben haben. Auf diese Mitschriften wird nur ergänzend hingewiesen, an Stellen, die Gedanken, die bereits aus dem Originaltext abgeleitet sind, weiterführen4. Schließlich wird in wenigen Fällen die dritte Auflage der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (aus 1831) – zitiert als 3E und dem entsprechenden Paragraphen – herangezogen, als deren konkrete Ausführung die „Grundlinien“ sich ja verstehen (weshalb in gewisser Weise diese 1831 erschienene Schrift die zweite Auflage der „Grundlinien“ darstellt). I. Die missverständliche Rezeption der Theorie Hegels Die Theorie Hegels von der Strafe wird im Regelfall als „absolute“ bezeichnet und dahingehend zusammengefasst, dass sie erstens Strafe als Wiedervergeltung
2 Die zitierte Stelle lautet genauer: „Vor den Gerichten erhält das Recht die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen“; und sie findet sich in § 222 der „Grundlinien“. 3 Zu nennen sind: Vorlesung 1821/22 (NN) (abgedruckt in: Hoppe [Hrsg.], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Philosophie des Rechts, 2005, 33–237); Vorlesung 1822/ 23 (Heyse) (abgedruckt in: Schilbach [Hrsg.], G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts, 1999, 3–85), ebenso (Hotho) (abgedruckt in: Ilting [Hrsg.], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Band III, 1974, 89–841); Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (abgedruckt in: Ilting [Hrsg.], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Band IV, 1974, 75–904). – Für die Vorlesungen vor dem Erscheinen der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820) sind folgende Nachschriften erhalten: Vorlesung 1817/18, noch in Heidelberg (Wannenmann) (abgedruckt in: Ilting [Hrsg.], G. W. F. Hegel, Die Philosophie des Rechts, 1983, 36–202; und in: C. Becker/u. a. [Hrsg.], Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, 1983, 5–265); Vorlesung 1818/19, bereits in Berlin (Homeyer) (abgedruckt in: Ilting [Hrsg.], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Band II, 1974, 231–351; und in: Ilting [Hrsg.], G. W. F. Hegel, Die Philosophie des Rechts, 1983, 205–285); Vorlesung 1819/20 (NN) (abgedruckt in: Dieter Henrich [Hrsg.], Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Philosophie des Rechts, 1983, 45–291), ebenso (Ringier) (abgedruckt in: Angehrn/u. a. [Hrsg.], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, 2000, 3–206. 4 Auf die Vorlesungsnotizen Hegels (aus den Jahren 1821–1825) braucht in diesem Zusammenhang nicht eingegangen zu werden. Sie sind abgedruckt in: Ilting [Hrsg.], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Band II, 1974.
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des verbrecherischen Unrechts im Sinne einer „Negation der Negation“ auffasse; und dass sie zweitens jede Berücksichtigung eines Strafzwecks – wie Besserung des Verbrechers, generalpräventive Abschreckung der Allgemeinheit, Sicherung, Herstellung oder Bestärkung des Rechtsvertrauens bei der rechtstreuen Bevölkerung5 – ablehne. Die Konsequenz scheint dann zwingend zu sein. Eine solche zwecklose, auf einen bloß logischen Zusammenhang dieser doppelten Negation sei lebensfremd, werde der Menschlichkeit von Recht, Staat und Täter nicht gerecht, eine Gedankenspielerei; und jedenfalls abzulehnen, vor allem für ein sozialstaatliches, die Menschenwürde als Grundlage anerkennendes Zusammenleben untragbar. Dabei beruft man sich auf Textstellen in den „Grundlinien“. Nach § 95 ist das Verbrechen die Negierung der Rechtsfähigkeit, Hegel spricht von einem „negativ-unendlichen Urteil“; § 101 bringt die Negation des Verbrechens in einen Zusammenhang mit der Wiedervergeltung. Von daher ist die Kennzeichnung der Strafe als „Negation der Negation“ plausibel, die nach § 99 zur „Wiederherstellung des Rechts“ führen soll6. In der Anmerkung zu diesem § 99 geht Hegel auch auf die „Theorie der Strafe“ in der Strafrechtswissenschaft seiner Zeit ein. So scheint die vorgestellte Charakterisierung dieser Theorie Hegels korrekt zu sein, wie auch der Aufweis ihrer Unverständlichkeit. § 97 – als ein Beispiel – ist für denjenigen, der die Hegelsche Philosophie und ihre Begrifflichkeit nicht genau kennt, nicht nachvollziehbar: „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung, – die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit.“ Doch zeigt eine genauere Lektüre dieser Stellen, dass es in ihnen überhaupt nicht um diese Strafe geht. Ausdrücklich hält Hegel in § 100 Anm. fest, dass die Strafe erst im „Staat“, also im dritten Teil der „Grundlinien“ mit dem Titel „Die Sittlichkeit“ (ab § 142) thematisiert werden kann. § 103 stellt diese „strafende Gerechtigkeit“ in einen Zusammenhang mit einem Willen, der „sich von der Unmittelbarkeit des Interesses befreit [und] als besonderer den allgemeinen Willen zum Zwecke [hat]“ (wie es § 86 – auf den § 103 verweist – formuliert) und von einer diese Aufhebung des Unrechts auch effektiv durchführenden Macht unterstützt wird. Gemeint ist damit der richterliche Wille in der Institution der staatlichen Rechtspflege. Was §§ 90 bis 103 unter dem Titel „Zwang und Verbrechen“ darstellen, ist somit nicht die Strafe, auch nicht das Verbrechen, sondern die äu5 Manchmal wird behauptet, dass die Hegelsche Theorie auf einen „Vergeltungszweck“ abstelle, was freilich ihrer Charakterisierung als „absoluter“ (d.h. eben: von jedem Zweck losgelöster) Theorie widerspricht. 6 Ausdrücklich findet sich diese Formulierung in der Niederschrift der Vorlesung 1817/18 (zitiert nach der Ausgabe Becker) (Anm. 3) 54.
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ßere Tat eines unrechtlichen Zwanges, der bzw. dem durch einen zweiten Zwang als Aufhebung begegnet wird (wie §§ 92, 93 sagen). Genauer geht es um die Wegnahme einer Sache, die im Eigentum einer Person steht7, gegen deren Willen, der dadurch missachtet wird, und um die Wiederherstellung des Eigentums durch zwangsweisen (den Willen des anderen verletzenden) Zugriff auf die weggenommene Sache und Restituierung des Eigentums8. Ausdrücklich stellt Hegel klar, dass es in diesem Zusammenhang nicht um das Verbrechen selbst geht. Denn es kommen weder die Bestimmungen zur Sprache, die das Unrecht als Verletzung des in einer Gesellschaft geltenden Gesetzesrechts ausweisen (§§ 95 Anm., 96 Anm.); noch wird das Unrecht als Handlung dargestellt (§ 96 Anm.). Deshalb muss der Leser zu diesen Stellen weiterblättern, in denen also diese „qualitative[n] Bestimmungen [zu finden sind, WS], wie die Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit“ (§ 96 Anm.) oder in denen die Kriterien angegeben sind, die aus einer äußeren Tat eine „Handlung“ machen (§ 96 Anm.). Bezüglich der ersteren muss der Leser zu den §§ 218, 220 gehen, in denen klargestellt wird, dass das Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft, in der das Eigentum gesetzlich anerkannt und gültig ist, „nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv-Unendlichen [ist], sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat. Es tritt damit der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft ein“ (§ 218). Damit – so § 218 Anm. – sind „in einem Mitglied der Gesellschaft die anderen alle verletzt“; die Verletzung trifft nicht „nur das Dasein des unmittelbar Verletzten“, sondern nun „die Vorstellung und das Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft“. Nun erst kann nach § 220 von „Strafe“ gesprochen werden. Denn „statt der verletzten Partei tritt das verletzte Allgemeine auf [. . .] und übernimmt die Verfolgung und Ahndung des Verbrechens, welche damit die nur subjektive und zufällige Wiedervergeltung durch Rache zu sein aufhört und sich [. . .] in Strafe verwandelt“. Bezüglich der Kriterien für das Verbrechen als „Handlung“ müssen berücksichtigt werden9 §§ 113 Anm. (wo es ausdrücklich heißt: „Die Seite des Verbrechens [. . .] als aus dem subjektiven Willen kommend und nach der Art und Weise, wie es in ihm seine Existenz hat, kommt erst hier in Betracht“), 118 Anm., 119 Anm., 120 Anm., 126 Anm., 127, 132 Anm., 137 Anm., 140 Anm. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass sich in dieser Entwicklung das Verbrechen als „gewalttätig böser Wille“ erweist, wie 3E § 499 ausdrücklich (allerdings erneut an systematisch unhaltbarer Stelle) formuliert. Ebenso Berücksichtigung muss 7
Dabei fasst Hegel auch den Leib als „Sache“ (vgl. § 47). So ausdrücklich Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 60. 9 Vgl. dazu Schild, Der strafrechtsdogmatische Begriff der Zurechnung in der Rechtsphilosophie Hegels, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981) S. 445–476. 8
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finden aus den Ausführungen zur Rechtspflege § 225, der zur Aufgabe des Richters „die Reflexion als Bestimmung der Handlung nach ihrem substantiellen, verbrecherischen Charakter (§ 199 Anm.)“ zählt. Schon § 132 Anm. hatte von der „gerichtlichen Zurechnung“ gesprochen. Doch ist auch § 225 nicht das letzte Wort Hegels in Sachen „Strafe“. Denn diese gerichtliche Zurechnung wird von ihm als eine „Erkenntnis“ qualifiziert, die „jedem gebildeten Menschen zusteht“, wobei es letztlich nicht um „objektive Bestimmungen“ gehen könne, sondern um eine „Entscheidung“, für die nur die „subjektive Überzeugung und das Gewissen (animi sententia)“ grundlegend seien (§ 227). Diese Grundlage ist aber zu wenig für eine wirkliche Rechtspflege10. Erforderlich ist das „Zutrauen zu der Subjektivität der Entscheidenden“ (§ 228), das nur in der Sphäre des sittlichen Staates garantiert werden kann (vgl. §§ 268, 295 Anm.)11. Nur als staatliche Institution der Gerichtsbarkeit, die Hegel der Regierungsgewalt zuordnet (§ 287), kann die Strafe rechtlich angesehen werden. Auch das Verbrechen erhält neue Bestimmungen durch die Einbeziehung der staatlichen Dimension (vgl. §§ 213, 282 Anm., 294 Anm., 319). Hegels Theorie erfasst die Strafrechtsinstitution. Somit ist das Thema der §§ 90 bis 103 dieser rechtliche Grund in der Aufhebung des Unrechts der Tat, die Hegel als „Wiedervergeltung“ dem Wert nach bestimmt (§ 101), weshalb er den eigentlichen Talionsgedanken ablehnt (§ 101)12. Diese Ausführungen betreffen durchaus die Strafe, aber nur, sofern diese rechtlicher Zwangsakt ist. Eine Theorie der staatlichen Strafmaßnahme selbst findet sich in diesen Paragraphen nicht. Ausdrücklich stellt dies Hegel klar, indem er betont, dass es in diesem Abschnitt nicht um die strafende, sondern um die „rächende Gerechtigkeit“ geht (§ 103). Mit anderen Worten wird hier die Wiedervergeltung durch das Opfer, den in seinem Eigentumsrecht Verletzten selbst, thematisiert, die deshalb (weil Aufhebung des Unrechts) rechtlich ist. Aber zugleich wird deutlich, dass diese Rachetat vom subjektiv-willkürlichen Interesse des Verletzten getragen ist, daher kein Maß in sich hat und deshalb selbst unrechtlich wird (was meint: notwendig unrechtlich werden kann, weshalb es Zufall ist, wenn die Rachetat dies nicht wird). Deshalb behandeln §§ 90 bis 103 zwar Recht (als Dasein der Freiheit) (wie die §§ 41 ff. das Eigentum an Sachen [denen auch der Leib zugeordnet ist, § 47] oder die §§ 72 ff. den Vertrag), aber mit dem Ergebnis, dass in letzter Konsequenz dieses Recht in Unrecht umschlägt. Der Abschnitt handelt deshalb nicht von „Zwang und Verbrechen“, wie die Überschrift vor § 90 umschreibt, nicht von „Unrecht und Verbrechen“, wie es § 40 meint, sondern von „Das Recht gegen das Unrecht“, wie es die Überschrift vor 3E § 496 ausdrückt.
Zu dieser Grenze vgl. ausdrücklich 3E § 532. Vgl. Schild, Sittlichkeit als politische Gesinnung des Staatszutrauens, in: HegelJahrbuch 1988 (1989), 158–169. 12 Noch deutlicher in Vorlesung 1817/18 (NN, zitiert nach Becker) (Anm. 3) 56. 10 11
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Aber selbst diese Terminologie ist noch ungenau. Eigentlich geht es um den Aufweis, dass diese Darstellung von Rechtsverhältnissen (Eigentum, Vertrag, Vergeltung) in ihrer Unmittelbarkeit als Verwirklichung von persönlicher Freiheit unzureichend ist, weil sie letztlich in einem Recht endet, das zugleich Unrecht ist: in einer Rachetat, die rechtliche Vergeltung und zugleich eigenes Unrecht ist. Deshalb erweisen sich solche Rechtsverhältnisse als „abstrakt“, weil sie von dem eigentlichen rechtlichen Grund in der sittlichen Staatsverfassung absehen. Das abstrakte Recht ist insofern „Naturrecht“, weil es in Absehung von der staatlichen Dimension rechtliche Inhalte (Person, Eigentum, Vertrag, Vergeltung) entfaltet, die aber nur dann wirklich rechtlich garantiert und damit wirklich Recht sind, wenn sie aufgehoben (d.h.: aufgenommen und verändert) sind in Gesetzen und Institutionen des sittlichen Staates. „Naturrecht und Staatswissenschaft“ müssen zusammengebracht werden zu einer „Philosophie des Rechts“, in der dieses Recht in der Spannung von Naturrecht und staatlicher Setzung begriffen wird (vgl. § 3). Von daher werden die beiden Titel dieses Buches verständlich: „Naturrecht und Staatswissenschaft“, „Grundlinien der Philosophie des Rechts“; wie auch die für Juristen seltsame Begriffsbestimmung von „Recht“ in § 29: „Dies, dass ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht“. Inhalt dieses Buches ist „das Rechtssystem [als] das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als seine zweite Natur“ (§ 4). Hegel war sich dieses Unterschieds in der Begrifflichkeit gegenüber der Jurisprudenz bewusst13, wie sich aus 3E § 486 ergibt, wo betont wird, dass dieses „Recht“ „nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist“. Auch die unterschiedliche Terminologie bezüglich des „Staates“ ist Hegel nicht entgangen.14 Die Juristen widmen sich dem „äußerlichen Staat“ als der äußerlichen Ordnung, in der die Rechtsverfassung als Mittel der Sicherheit der Personen und des Eigentums aufgefasst wird (§ 157), die für Hegel aber nur die bürgerliche Gesellschaft als „äußer[er] Staat“, „Not- und Verstandesstaat“ darstellt (§ 183), während der eigentliche Staat und die Staatsverfassung die gelebten Institutionen der Freiheit – Hegel spricht von den sittlichen Verhältnissen – ausmachen (vgl. § 157, 257 ff.). 13 Zu den Verständnisschwierigkeiten vgl. Schild, Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosophie, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 1978, 5–56; ders., Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz. Bemerkungen zu den Schwierigkeiten der Juristen mit Hegels Rechtsphilosophie, in: Alexy/Dreier/Neumann (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Gegenwart, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 44, 1991, S. 328–336. 14 Vgl. dazu Schild, Die Legitimation des Grundgesetzes als der Verfassung Deutschlands in der Perspektive der Philosophie Hegels, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, 65–96; ders., Der rechte Hegel: ein Rechtshegelianer? Bemerkungen zu Hegels Rechtsphilosophie, in: Smid/Fehl (Hrsg.), Recht und Pluralismus. Festschrift für Hans-Martin Pawlowski zum 65. Geburtstag, 1996, 179–216.
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In diesem Rahmen des freiheitlichen Staates wird auch eine Strafe rechtlich denkbar, die wie die Rache rechtlicher Zwang ist, aber durch die Fundierung in einer staatlichen Institution ihr Maß finden kann. Ihr Rechtsgrund bleibt die Orientierung am Verbrechen (und damit die Wiedervergeltung), das Unrecht sein muss als Verletzung des Rechts der Person (im Sinne des abstrakten [Natur-] Rechts), das aber auch verbrecherische Handlung sein muss im Sinn der gerichtlichen Zurechnung; und das von staatlichen Gesetzen näher bestimmt wird, weshalb auf ein Unrecht reagiert wird, das in der Verletzung dieser staatlichen Gesetze besteht. Die nähere Modalität der Strafe als staatlicher Maßnahme ergibt sich aus den differenzierten Aufgaben dieses Staates auch als „Polizei“. II. Hegels Theorie der Strafrechtspflege Aus dieser Nachzeichnung der Hegelschen Theorie der Strafrechtsinstitution15 wurde schon deutlich, dass diese nicht bei einem materiellen Strafrecht stehenbleibt, sondern den Grund für eine wirklich rechtliche Strafe – Strafe als Verwirklichung von Recht –, ihre Fundierung, in einer Institution der sittlichen Staatsverfassung sieht. Nur wenn es eine solche feste, anerkannte Gerichtsorganisation, zu deren Mitgliedern die Bürger Vertrauen haben (und haben können), und eine gerichtlich geleitete und kontrollierte Vollzugstätigkeit gibt, kann man nach Hegel von einem „Strafrecht“ – im Sinne des Rechtsbegriffs des § 29 – sprechen. Im Folgenden ist auf diese Theorie Hegels von der Strafrechtspflege genauer einzugehen. Dabei ist darauf hinzuweisen, wie wichtig diese Ausführungen für Hegel waren, was sich aus der Nachschrift der Vorlesung 1824/25 durch Griesheim ergibt: „Die Form der Rechtspflege eines Staats ist ein wesentlicher Punkt, die Rechtspflege ist eine der wichtigsten Institutionen im Staate, darüber zu meditiren, sie kennen zu machen und die Kenntnis dergleichen Institutionen ist von größerer Wichtigkeit als das was man oft von allgemeiner Freiheit, allgemeinem Liberalismus schwatzt. Man kann daran die Menschen unterscheiden, denen es um Recht zu thun ist, ob sie bloß stehen bleiben bei Deklamationen im Allgemeinen oder ob sie sich ins bestimmte Besondere einlassen, dieß zu ihrem Gegenstand machen und die Erkenntniß davon zu erlangen suchen“16. Hegel gehörte zu denen, die sich in das Besondere einließen. 15 Nähere Ausführungen finden sich in: Schild, Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs, in: Heintel (Hrsg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens, 1979, 199–233 (in englischer Übersetzung: The Contemporary Relevance of Hegel’s Concept of Punishment, in: B. Pippin/Höffe [Hrsg.], Hegel on Ethics and Politics, Cambridge 2004, 150–179); ders., Die unterschiedliche Notwendigkeit der Strafe. Zur Geschichte der Philosophie von Hobbes bis Hegel, in: Kodalle (Hrsg.), Strafe muß sein! Muß Strafe sein? Kritisches Jahrbuch der Philosophie Beiheft 1, 1998, 81–108; ders., Verbrechen und Strafe in der Rechtsphilosophie Hegels und seiner „Schule“ im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2003, Heft 1, 30–42. 16 Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 584 f. – Dazu vgl. Schild, Gericht (Anm. 1) 267 ff.
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1. Theorie des Verfahrens Es geht um das Verfahren – bei Hegel: um die Institution „Gericht“ innerhalb der Rechtspflege in der bürgerlichen Gesellschaft und dann weiter um die Rechtsprechung als Regierungstätigkeit innerhalb des Staatsorganismus – als um den Ort, in dem das Recht, das bereits in der Form des Gesetzes bestimmt, öffentlich bekannt gemacht und so als Recht auch bewusst ins Dasein gesetzt ist, nun auch im besonderen Fall erkannt und verwirklicht wird, „ohne die subjektive Empfindung des besonderen Interesses“; wie Hegel angibt, um den Unterschied zum „abstrakten Recht“ aufzuzeigen, bei dessen Darstellung – wie unter I. gezeigt – systematisch an falscher Stelle sich auch Ausführungen zur „Theorie der Strafe“ finden. Doch macht Hegel zugleich deutlich, dass es dabei nur um den abstrakten Begriff der Strafe als rechtlichen Zwang geht, weshalb nicht die „strafende“, sondern nur die „rächende Gerechtigkeit“ erörtert wird (§ 103). Diese kennt und anerkennt nun freilich ein Maß ihrer Reaktion nicht, setzt deshalb selbst neues Unrecht, woraus sich ein unendlicher Kreis von Recht zugleich als Unrecht ergibt, der für Hegel das Ungenügen dieses (eben:) abstrakten Rechts zeigt. Deshalb bedarf es – nach dem Durchgang durch die Darstellung der Moralität als der Lehre von der gewissenhaften Handlung, in der aber dieses erforderliche Maß für die Zwangsreaktion ebenfalls nicht gefunden werden kann (weil das Gewissen nur subjektiv ist) – der Rechtspflege der bürgerlichen Gesellschaft und dann des Staates, die dieses Maß nun allgemein verbindlich festlegen und so das abstrakte Recht – nun erkannt (und bezeichnet) als das bloße „Recht-an-sich“ – ablösen und konkretisieren als Gesetz. Es ist entscheidend, dass das Recht in die Vorstellung der Personen komme, also als geltend (und „daseiend“) gewusst und erfahren werde (§§ 215, 224)17. Zugleich wird das Recht damit Gegenstand des Denkens, also ein Allgemeines, das auch wissenschaftlich behandelt werden kann. Die gesetzlichen Regelungen der Eigentums- und Vertragsverhältnisse werden festgelegt, damit Eigentum und Vertrag als gesellschaftliche Institutionen anerkannt (§ 217). Auch das abstrakte Unrecht und die es aufhebende abstrakte Vergeltung erhalten diese neue Qualität bzw. Form: maßgebend ist nicht mehr die individuelle Person (als Verletzter), sondern die „allgemeine Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat“ (§ 218), also diese gesellschaftliche Institution selbst. Dadurch lässt sich nach Hegel nun auch die Frage des Maßes der Zwangsreaktion – die sich nun eigentlich erst als „Strafe“ darstellt – beantworten. Denn dadurch „tritt der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft ein, wodurch einerseits die Größe des Verbrechens verstärkt wird; andererseits aber setzt die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung desselben herbei“ (§ 218). In der Anmerkung 17 So Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 199; Vorlesung 1822/23 (Hotho) (Anm. 3) 644; Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 551.
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dazu führt Hegel aus, dass nun in einem Mitglied der Gesellschaft die anderen alle verletzt sind. Wie stark diese Verletzung eingeschätzt und bestimmt wird – also der „Strafkodex“ –, hängt von dem Zustand der Gesellschaft ab. In den Vorlesungen gab Hegel dazu näher an, dass bei einem festen Stand der Gesellschaft das Verbrechen immer eine bloße Einzelheit, ein bloß Subjektives sei, das nicht so sehr aus einem besonnenen Willen (und damit aus Freiheit), sondern aus natürlichen Antrieben entspringend angesehen werde. Deshalb sei es nicht notwendig, ein Exempel zu statuieren; es reiche eine milde Bestrafung aus, die auch die Besserung des Betreffenden bezwecken könne und solle18. Nun folgen die Ausführungen Hegels über die Erkenntnis und Verwirklichung dieses gesetzlichen Rechts im besonderen Fall vor dem Gericht. Dadurch erhält das Recht – das bereits seine Form als allgemein bekanntes Gesetz erhalten hat – „die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen. Der Rechtsgang setzt die Parteien in den Stand, ihre Beweismittel und Rechtsgründe geltend zu machen, und den Richter, sich in die Kenntnis der Sache zu setzen. Diese Schritte sind selbst Rechte; ihr Gang muss somit gesetzlich bestimmt sein, und sie machen auch einen wesentlichen Teil der theoretischen Rechtswissenschaft aus“ (§ 222). Dies bedeutet, dass die Frage nicht mehr nach dem unmittelbaren Recht-an-sich geht, das jemand zu haben glaubt und beansprucht, auch nicht um ein Unrecht, das jemand behauptet, sondern – wie Hegel in der Vorlesungen 1822/23 ausgeführt hat –: „das Recht aber, das ich habe, muß zugleich ein gesetztes sein, ich muss es darstellen, erweisen können, denn in der Gesellschaft muss das Ansichseiende auch gesetzt sein, äußerlich existieren“19. Das damit verbundene Problem sieht Hegel durchaus: „Dieß kann den Menschen empören, daß er weiß ein Recht zu haben, das ihm, als ein unerweisbares abgesprochen wird“ 20. Griesheim notiert in der Vorlesung 1824/25: „Da kann die harte Empfindung eintreten, daß ein Mensch Recht hat, aber es nicht beweisen kann“ 21. Aber es geht eben nicht um das abstrakte, von Gesellschaft und Staat abstrahierende Recht, sondern um das wirkliche, nun in der Gesellschaft und im Staat geltende und von der Rechtspflege verwirklichte (und darin gewusste) Recht. Deshalb tritt in den Vordergrund das Recht dieses Rechtsganges, also die Verfahrensordnung: „Diese Schritte sind selbst Rechte; ihr Gang muss somit gesetzlich bestimmt sein“ (§ 222). Hegel betont dieses Recht auf ein förmliches Verfahren22, das aber ebenfalls Dasein haben muss, d.h. (als Gesetz) gewusst werden kann. § 226 bezeichnet die einzelnen Rechtshandlungen der Parteien selbst als „Rechte“. Deshalb hat auch das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft das 18 19 20 21 22
Vgl. dazu Schild, Aktualität (Anm. 15); ders., Verbrechen (Anm. 15). Vorlesung 1822/23 (Hotho) (Anm. 3) 673. Vorlesung 1822/23 (Hotho) (Anm. 3) 672 f. Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 558. Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 559.
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Recht, im Gericht zu stehen, sowie die Pflicht, sich vor Gericht zu stellen und sein streitiges Recht nur von dem Gerichte zu nehmen (§ 221). Maßgebend ist das Verfahrensgesetz, das diese rechtlichen Schritte regelt: als Geltendmachung von Beweismitteln und Rechtsgründen, bis hin zum Urteil, dessen Gründe ebenfalls gewusst werden müssen23. Aus diesem Recht aller Bürger zum Wissen der Gesetze, des Urteils und seiner Gründe leitet Hegel die Notwendigkeit der Öffentlichkeit des Verfahrens ab (§ 224)24. Allgemein fordert er, dass die Parteien nicht nur mit den Füßen im Gericht stehen dürfen, sondern auch das, worum es hier gehe, verstehen, also auch „geistig, mit ihrem eigenen Wissen gegenwärtig“ zu sein hätten (§ 228 Anm). Das Geschäft des Rechtsprechens steht unter der Leitung des Richters (§ 226), der einerseits von den Polizeibehörden getrennt sein muss25, andererseits auch nicht der Monarch selbst sein kann26. Hegel nennt ihn in § 226 „Organ des Gesetzes“; doch ist er nicht bloßer Mund des Gesetzes27 oder gar eine Maschine28, sondern ein individuelles Subjekt, das deshalb immer auch als Gewissen entscheidet29. In der Vorlesung 1824/25 übertrug Hegel dem Gericht auch die Aufgabe, das Verbrechen zu verfolgen30. In der Vorlesung 1817/18 nannte Hegel einen „fiscal accusateur public“, der die Anklage vertritt31. Diesbezüglich ist zu beachten, dass Hegel sich in Heidelberg noch auf das französische Prozessrecht bezog. Näherhin unterscheidet Hegel die Erkenntnis der Beschaffenheit des Falls nach seiner unmittelbaren Einzelheit (also ob tatsächlich ein Verbrechen begangen worden ist) und die Subsumtion des Falles unter das Gesetz der Wiederherstellung des Rechts, worunter im Peinlichen Recht die Strafe begriffen wird (§ 225). Die erste Seite dieser Erkenntnis des Falles ist für Hegel kein eigentliches Rechtsprechen, da diese jedem gebildeten Menschen zusteht (§ 227). Doch kann diese Erkenntnis keine objektive Wahrheit beanspruchen, sondern ist im Letzten die subjektive Überzeugung und das Gewissen (animi sententia), also bloße Gewissheit und kein Wissen (§ 227). Deshalb bedarf es – um diese Erkenntnis als recht23
Vorlesung 1819/20 (Ringier) (Anm. 3) 137. Vgl. Vorlesung 1819/20 (Ringier) (Anm. 3) 135, 138; Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 209. 25 Vorlesung 1817/18 (Wannenmann) (Anm. 3) 135 (Ausgabe Ilting), 156 (Ausgabe Becker). 26 Vorlesung 1817/18 (Wannenmann) (Anm. 3) 136 (Ausgabe Ilting), 157 (Ausgabe Becker). 27 Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 211. 28 Vorlesung 1819/20 (Ringier) (Anm. 3) 134, 136. 29 Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 211. Vgl. auch Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 565. 30 Vorlesung 1824/25 (Anm. 3) (Griesheim) 556. 31 Vorlesung 1817/28 (Wannenmann) (Anm. 3) 129 (Ausgabe Ilting), 146 (Ausgabe Becker). 24
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lich anzuerkennen – des Zutrauens in die Subjektivität des Entscheidenden (§ 228). Dafür sieht Hegel – abgesehen von dem allgemeinen Erfordernis der Öffentlichkeit des Verfahrens (§§ 224, 228 Anm.) – zwei mögliche Wege32. Der erste, den er als den dem Recht des Selbstbewusstseins des Verurteilten eher entsprechenden charakterisiert, ist in dem Erfordernis des Geständnisses gegeben. Doch kann immer auch ein Falschgeständnis vorliegen, weshalb es überprüft werden muss. Doch ist dieser Weg nicht gangbar, wenn der Angeklagte kein Geständnis ablegt, was dann in den früheren Prozessordnungen zu dem Erfordernis der Folter geführt hat, die aber abzulehnen ist33. Daher bleibt der zweite Weg, nämlich die freie Beweiswürdigung der Umstände zuzulassen, was freilich das Problem der Subjektivität der Entscheidenden und damit das des genannten Zutrauens in erhöhtem Maße aufwirft. Hegel sieht eine Lösung in der Institution des Geschworenengerichts. Diese Laienrichter sollen aus demselben Stand wie der Angeklagte genommen werden, weil sie dann wegen dieser Verwandtschaft zu ihm die Möglichkeit haben, diesem in die Seele und aus der Seele zu sprechen34. Zusätzlich verlangt Hegel einen einstimmigen Schuldspruch der Geschworenenrichter35. 2. Weiterführung zu einer Theorie der Strafverteidigung Andreas Wernet hat in seiner Frankfurter Dissertation36 die Theorie Hegels weitergeführt und deutlich gemacht, dass Gegenstand dieses Verfahrens nicht nur nicht das an-sich-seiende (abstrakte) Recht bzw. Unrecht, sondern auch nicht die an-sich-seiende (ebenso abstrakte) Moralität (also das innere Gewissen) des Beschuldigten sein könne, sondern nur die vom Gesetz bestimmte Tat. Deshalb sei auch eine rechtliche Pflicht des Beschuldigten, an dem Verfahren zu seiner Bestrafung mitzuwirken, nicht zu begründen; was im Übrigen Hegel selbst in der Vorlesung 1824/25 ausgeführt hat37. Dies folge zwingend aus der Einordnung der Rechtspflege in den Bereich der bürgerlichen Gesellschaft (und nicht der Moralität) und damit in die Sphäre der Anerkennung der Interessen des Beschuldigten als der Rechtsperson, auch des Interesses, nicht oder zumindest so wenig als möglich bestraft zu werden. Dieses Interesse nehme seinen strukturellen Ort – so 32
So ausdrücklick Vorlesung 1922/23 (Hotho) (Anm. 3) 682. Vorlesung 1817/18 (Wannenmann) (Anm. 3) 128 (Ausgabe Ilting), 144 (Ausgabe Becker); Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 214; Vorlesung 1822/23 (Heyse) (Anm. 3) 58, dies. (Hotho) (Anm. 3) 684; Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 578 ff. 34 Vorlesung 1821/22 (NN) (Anm. 3) 214; Vorlesung 1822/23 (Heyse) (Anm. 3) 59; dies. (Hotho) (Anm. 3) 685 ff.; Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 580. 35 Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 582. 36 Wernet, Professioneller Habitus im Recht. Untersuchungen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Strafrechtspflege und zum Professionshabitus von Strafverteidigern, 1997. 37 Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 584: dies sei nicht zuzumuten. 33
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Wernet weiter – in dieser von Hegel herausgestellten rechtlichen Formalität des Verfahrens ein. Deshalb sei grundlegend die Beachtung der Unschuldsvermutung, mit der Konsequenz, dass freigesprochen werden müsse, wenn die Tatschuld nicht bewiesen werden könne. Dabei sei dieses Recht des „In-dubio-proreo“ nicht nur bloßes Interesse des Beschuldigten, sondern sein rechtlich anerkanntes Interesse und damit das Interesse des Rechts selbst, das anders nicht verwirklicht werden wolle und könne. „Das Recht des Beschuldigten ist das Recht des Verfahrens“38. Damit interpretiert Wernet Hegel von einer Auffassung her, wonach rechtliches Denken zuletzt immer prozessuales Denken sein müsse. Die Verwirklichung des Rechts im Verfahren kann danach nur in den gesetzlichen Formen erfolgen, ist aber zugleich auf die Verwirklichung der gesetzlichen Vorgaben (hier: der Tatbestände des Strafgesetzes) ausgerichtet. Wernet spricht in Übernahme von Kategorien Max Webers von der Spannung zwischen dem materialen und dem formalen Moment, die im Verfahren aufzuheben, d.h. zu vermitteln (zur Einheit des Urteils zu führen) sei; nämlich dadurch, dass der Staatsanwalt das materiale Moment vereinseitige, dem dann der Strafverteidiger gegenüberstehe in der Vereinseitigung des formalen Moments. Denn der Beschuldigte selbst könne diese Kompensation der Staatsanwaltsfunktion nicht leisten, weil er immer als individuelles Subjekt involviert sei, weshalb er den Strafverteidiger brauche, der nur die Tat zum Thema machen und damit in Distanz setzen könne39. Im Übrigen trifft er damit den Hegel der Vorlesung 1817/18: „Daß der Angeklagte einen Verteidiger haben muss, ist ebenso eine natürliche Sache, weil ihm ein Mann gegeben sein muß, zu dem er Vertrauen hat“ 40. Deshalb ist nach Wernet der Strafverteidiger vom Recht selbst (von seiner Verwirklichung und für sie) her notwendig. Aus diesem Grund müsse er zur Rechtspflege gestellt (also als „Organ der Rechtspflege“ betrachtet) werden. Die Strafverteidigung sei begrifflich immer notwendige Verteidigung, selbst wenn sie wegen des Vertrauensverhältnisses als „notwendige Wahl-Verteidigung“ ausgestaltet sei41. Die Konsequenz bedeutet – als Kompensation der Funktion des Staatsanwalts – die einseitige Fixierung des Strafverteidigers auf das formale Moment, auf die Einhaltung der subjektiven Rechte des Beschuldigten. Er sei die „Instanz der gesteigerten Gesetzesbindung“42. Er sei nicht orientiert an Praktikabilität, Schnelligkeit, Effizienz des Verfahrens, auch nicht an Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens. Er könne auch unwahrscheinliche Lesarten konstruieren und auf juristische Haltbarkeit testen43. Er sei vor allem nicht verantwortlich für die Entschei38
Wernet, Habitus (Anm. 26) 80. Wernet, Habitus (Anm. 26) 132. 40 Vorlesung 1817/18 (Wannenmann) (Anm. 3) 136 (Ausgabe Ilting), 158 (Ausgabe Becker). 41 Wernet, Habitus (Anm. 26) 135 f. 42 Wernet, Habitus (Anm. 26) 115. 39
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dung44. Wernet spricht von der Suspendierung des Strafverteidigers von den materialen Gerechtigkeitsimplikationen 45, was sogar dazu führen könne, dass er aus prozessrechtlichen Gründen gegen ein material gerechtes Urteil vorgehen könne und müsse. Damit wird der Strafverteidiger für Wernet in gewissem Sinne zum Komplizen des Beschuldigten: allerdings nicht im materialen Sinne als des beschuldigten Täters, sondern im prozessualen Sinne als des Prozesssubjektes, das seine Rechte geltend macht46 . Dabei sieht Wernet eine Grenze des verteidigenden Handelns: dieses dürfe nicht in die rechtlich geschützte Sphäre eines Dritten eingreifen, wozu er auch die Strategie des „blaming the victim“ zählt47. In vielem entsprechen diese Ausführungen der Einsicht Hegels, die in § 223 formuliert ist: „Durch die Zersplitterung dieser Handlungen [also der einzelnen Schritte im Rechtsgang, WS] in immer mehr vereinzelte Handlungen und deren Rechte, die in sich keine Grenze enthält, tritt der Rechtsgang, an sich schon Mittel, als etwas Äußerliches seinem Zwecke gegenüber“. Darin kommt diese Einseitigkeit des Formalen zum klarsten Ausdruck. Hegel verweist auf die dadurch eintretende Verlängerung der Verfahrensdauer: „Der Rechtsgang kann sehr weitläuftig werden, um den Partheien Gelegenheit zu geben ihr Recht erweisbar zu machen. Es muss gestattet und eingerichtet sein, daß das Recht des Erweisens der Sache seine vollständige Ausführlichkeit findet“48. Doch sieht er in der Möglichkeit, durch geschickte Prozesstaktik einen Zivilprozess so zu verlängern, dass die andere Partei finanziell zu Grunde geht49, ein Übel, das durch die Einrichtung von Schieds- oder Friedensgerichten begegnet werden soll, die summarisch vorgehen können (§ 223). Für das Strafverfahren hat er offenbar eine solche Vereinfachung nicht vorgesehen. Im Ganzen bleibt es für Wernet aber bei der Spannung zwischen dieser Einseitigkeit des Formalen und der Einbindung in das Verfahren, dessen Zweck auch die Verwirklichung des materialen Moments ist. Diese Spannung könne nur ausgehalten werden, wenn der Strafverteidiger sich als Mitglied eines wirklichen Berufsstandes, einer „Profession“, verstehe. Für Wernet ist eindeutig, dass die Strafverteidigung gerade kein helfender Beruf ist, sondern sich aus diesem Spannungsverhältnis innerhalb des Verfahrens selbständig konstituieren muss: als Profession, d.h. als eine für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung zentrale Tätigkeit, die sich gemeinschaftsbezogen versteht und letztlich an der Möglichkeit lebenspraktischer Autonomie orientiert ist. Aus diesem Grunde legt Wernet die Hegelsche Rechtsphilosophie zugrunde, für die das „Recht“ als „Da43 44 45 46 47 48 49
Wernet, Habitus (Anm. 26) 114. Wernet, Habitus (Anm. 26) 116. Wernet, Habitus (Anm. 26) 154. Wernet, Habitus (Anm. 26) 140. Wernet, Habitus (Anm. 26) 234. Vorlesung 1824/25 (Griesheim) (Anm. 3) 559. Vorlesung 1822/23 (Hotho) (Anm. 3) 675.
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sein freiheitlicher Verhältnisse“ bestimmt ist. Der Strafverteidiger als Vertreter seiner Profession müsse sich – so die Folgerung Wernets – als organischer Bestandteil des rechtlichen Verfahrens (und damit der Rechtspflege) verstehen50, was bedeute, dass er einerseits die notwendige Einseitigkeit des formalen Moments gegen die Einseitigkeit des materialen Moments des Staatsanwalts (und in abgeschwächter Form auch des Richters) anerkennen müsse und trotzdem andererseits das Ganze der Vermittlung dieser beiden Momente beachten, wenn auch nicht herbeiführen oder fördern müsse. Dies begründe eine notwendige Spannung, freilich nun: eine als notwendig eingesehene Spannung, die durchaus als psychische Krise bezeichnet werden könne, die nur zu bewältigen sei durch den professionellen und damit routinisierten Umgang mit ihr51. Zugleich bedeutet dies nach Wernet, dass die Individualität des Betreffenden als die oft hervorgehobene und vor allem in den literarischen Werken verherrlichte charismatischheroische Persönlichkeit des Strafverteidiger in den Hintergrund treten müsse; zugunsten eines Charismas, das sich aus der Dignität des Berufes und seiner professionellen Ausübung ergebe52. Mit Hegel kann man sagen: die Spannung und Krise kann der Einzelne nur schwer ertragen und aushalten; er bleibt mit seinem Gewissen allein, kann deshalb in Narzissmus oder Zynismus flüchten oder in der Verzweiflung des hilflosen Helfers landen oder in der Raserei der Negation enden; der Einzelne mag dadurch u. U. zu einem charismatischen Helden werden, der aber trotzdem nur mehr in seinem letztendlichen Scheitern erinnert wird. Mit Hegel wäre zu sagen, dass die Sphäre der Ethik (der Moralität) zu überwinden ist hin zu einer sittlichen „Korporation“ (im Sinne der wirklichen Profession), wie es zumindest in Ansätzen bereits geschehen ist. Es ist erstaunlich, wie man die Hegelsche Philosophie für gegenwärtige Probleme fruchtbar machen kann, wenn man sich auf sie einlässt. Es wäre zu wünschen, dass seiner Theorie der Strafrechtsinstitution mehr Gerechtigkeit entgegengebracht würde.
50 51 52
Wernet, Habitus (Anm. 26) 12. Wernet, Habitus (Anm. 26) 4. Wernet, Habitus (Anm. 26) 14.
II. Rechtstheorie und Methodenlehre
Methodische, rechtstheoretische und materiell-rechtliche Anmerkungen zum normativen bzw. unbestimmten Rechtsbegriff Von Volker Haas I. Einleitung Die Jubilarin hat sich nicht nur mit dem materiellen Strafrecht auseinandergesetzt, sondern sich auch intensiv mit der juristischen Methodik beschäftigt. Ihre „Kleine Schule des juristischen Denkens“ legt davon ein lesenswertes Zeugnis ab. Sie greift dort die im Strafrecht übliche Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Begriffen auf,1 gibt ihr aber durchaus zu Recht einen anderen Inhalt: Während die herrschende Meinung unter deskriptiven Begriffen solche versteht, die sich auf einen sinnlich wahrnehmbaren bzw. sachlichen Gegenstand beziehen,2 ist für die Jubilarin ein deskriptiver Begriff dadurch charakterisiert, dass ein Satz, mittels dessen er auf einen Sachverhalt angewendet wird, wahr oder falsch ist. Bei den betreffenden Tatsachen muss es sich ihres Erachtens nicht um natürliche Tatsachen handeln, es kann sich auch um sog. institutionelle Tatsachen handeln, die sich erst durch rechtliche Regeln konstituieren. Sätze, die auf derartige institutionelle Tatsachen Bezug nehmen, sind gleichermaßen wahr oder falsch. Begriffe, die durch diese rechtlichen Regeln definiert sind, werden daher von der Jubilarin ebenfalls als deskriptive Begriffe klassifiziert. Unter normativen Begriffen versteht sie hingegen Begriffe, die eine Wertung ausdrücken. Wertende Aussagen sind nicht wahr oder falsch. Genau darin besteht der maßgebliche Unterschied zu den deskriptiven Begriffen. Als Beispiele für wertende Begriffe nennt sie unter anderem „sittenwidrig“, „wider Treu und Glauben“,
1 Honig, Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1926, S. 7; Engisch, Die normativen Tatbestandselemente im Strafrecht, in: Festschrift für Edmund Mezger, hrsg. u. a. von R. Maurach, 1954, S. 127 ff.; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 9, Rn. 9 ff. 2 So schon Max Ernst Meyer, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1915, S. 182 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 14, § 10, Rn. 10; Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil39, 2009, Rn. 132; ähnlich Kindhäuser, Strafrecht AT, (Anm. 1), § 9 Rn. 9, für den sich deskriptive Tatbestandsmerkmale auf natürliche Eigenschaften beziehen, deren Vorhandensein empirisch oder durch Berechnung festgestellt werden kann.
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„niedriger Beweggrund“.3 Man könnte „angemessen“, „erhebliche Schwere“ oder „verwerflich“ als weitere Beispiele hinzufügen. Im Verwaltungsrecht hat sich hingegen eine etwas andere Nomenklatur eingebürgert. Termini wie „öffentliches Interesse“, „wichtiger Grund“, „Zuverlässigkeit“, „öffentliches Wohl“, „Gefahr“ oder „Eignung“ werden als unbestimmte Rechtsbegriffe bezeichnet.4 Zwar hat Bachof die unbestimmten Rechtsbegriffe wiederum in „Wertbegriffe“ und „Erfahrungsbegriffe“ unterteilt5 – letztere betreffen insbesondere prognostische Unsicherheiten und sollen im Rahmen dieses Beitrags ausgeblendet werden –, diese Unterteilung ist jedoch in der verwaltungsrechtlichen Literatur kaum aufgegriffen worden. Wenn überhaupt6 werden die unbestimmten Rechtsbegriffe als besonders vage oder mehrdeutige Begriffe qualifiziert,7 wobei Jestaedt zugesteht, dass sie infolgedessen gegenüber sonstigen Begriffen nicht qualitativ, sondern ausschließlich quantitativ abgegrenzt werden können. Der Grund ist offensichtlich: Jeder Rechtsbegriff verfügt mehr oder weniger über einen Begriffshof, bei dem es möglich, nicht aber sicher ist, ob der Begriff auf den Gegenstand zutrifft oder nicht.8 Vorgeschlagen wird des Weiteren von Stober, die unbestimmten Rechtsbegriffe als Typenbegriffe zu verstehen, denen verschiedene, aber ähnliche Lebenssituationen als ihre „Ausprägungen“ unterfallen. Ihr Inhalt soll nur einen Interessen-, Tatsachen oder Wertebereich, nicht aber die Gegenstände dieses Bereichs bestimmen.9
3
Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 20 ff. Vgl. nur Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht6, 2009, § 8, Rn. 468; Starck, Das Verwaltungsermessen und dessen gerichtliche Kontrolle, in: Bürger – Richter – Staat, Festschrift für Horst Sendler, hrsg. u. a. von Franßen, 1991, S. 167; Stober, in: Wolff/ Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I12, 2007, § 31 Rn. 7; Ule, Zur Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Verwaltungsrecht, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, hrsg. u. a. von Bachof, 1955, S. 309, 318. 5 Bachof, JZ 1955, S. 97, 99; ebenso Ule, Jellinek-GS (Anm. 4), S. 309, 318, der – wie im Strafrecht – statt von Wertbegriffen auch von normativen Begriffen spricht. 6 Vereinzelt wird auf eine nähere Charakterisierung gänzlich verzichtet; siehe zum Beispiel Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 35 ff.; kritisch dazu Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht13, 2005, § 10, Rn. 23. 7 So schon Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913, S. 37 ff.; Jesch, AöR 82 (1957), S. 163, 177 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht17, 2009, § 7, Rn. 27; Ule, Jellinek-GS (Anm. 4), S. 309, 324; ders., VerwArchiv 76 (1985), S. 1, 15; H.-J. Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979, S. 33 ff.; vgl. ferner Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, (Anm. 4), § 8, Rn. 462 ff., der unbestimmte Rechtsbegriffe dadurch definiert, dass der Gesetzgeber die semantische Unschärfe bewusst ausnutzt, weil das Verwaltungshandeln nicht weiter bestimmt werden soll. 8 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, (Anm. 6), § 10, Rn. 22, 24 ff. 9 Stober, in: Wolff/Bachof//Kluth, Verwaltungsrecht I (Anm. 4), § 31, Rn. 12. 4
Anmerkungen zum normativen bzw. unbestimmten Rechtsbegriff
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Ungeklärt ist, in welchem Maße die Verwaltungsbehörden durch unbestimmte Rechtsbegriffe gebunden werden, ob (zumindest theoretisch) nur eine Entscheidung richtig sein kann und in Abhängigkeit von der Beantwortung dieser Frage wiederum, wieweit die Prüfungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit reicht. Was den letzteren Punkt anbetrifft, so vertritt das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass auch solche Begriffe grundsätzlich der uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegen, deren Inhalt nicht durch einen festumrissenen Sachverhalt ausgefüllt wird, sondern bei der Rechtsanwendung auf einen gegebenen Tatbestand im Einzelfall der Präzisierung bedarf.10 Es hat wörtlich die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts übernommen, dass sich die uneingeschränkte gerichtliche Kontrolle sowohl auf die Bestimmung des Sinngehalts der Norm als auch auf die Feststellung der Tatsachengrundlagen und die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen erstreckt, soweit Schlussfolgerungen aus einem unbestimmten Rechtsbegriff zu ziehen sind.11 Ganz generell gelten nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die Regeln über die eingeschränkte Kontrolle des Verwaltungsermessens nicht für die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Ausnahmen von diesem Grundsatz lässt das Bundesverfassungsgericht nur zu, wenn die gerichtliche Kontrolle an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt.12 Das Bundesverwaltungsgericht möchte in diesen Ausnahmefällen durch Auslegung des jeweiligen Gesetzes ermitteln, ob der Gesetzgeber der Verwaltung insoweit einen Beurteilungsspielraum eingeräumt hat oder nicht.13 Beide Gerichte begründen jeweils ihren Standpunkt unter Berufung auf das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 IV GG.14 In der Wissenschaft wird demgegenüber nicht nur vereinzelt die vor allem bis in die fünfziger Jahre vorherrschende Ansicht15 vertreten, dass die Verwaltung bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe stets ein Ermessen auszuüben hat, das sich qualitativ nicht von dem Ermessen auf der Rechtsfolgenseite unter-
10 BVerwGE 94, 307, 309; 100, 221, 225; siehe zuvor auch schon BVerwGE 15, 207, 208; 24, 60, 63 f.; 45, 162, 164 ff.; 56, 71, 75; 59, 1, 2; 62, 86, 101 f.; 65, 19, 21 f.; 68, 267, 271; 81, 12, 17; 88, 35, 37 ff. 11 Siehe BVerfGE 64, 261, 279, deren Ausführung sich auf die gerichtliche Überprüfung einer Entscheidung der Vollzugsbehörde, dem Strafgefangenen Hafturlaub wegen der besonderen Schwere der Schuld (vgl. § 57a I Nr 2 StGB) zu versagen, durch die zuständige Strafvollstreckungskammer bezog; ebenso schon BVerfGE 7, 129, 154; 11, 168, 191 f. 12 BVerfGE 84, 34, 49 f. 13 BVerwGE 72, 195, 199; 81, 12, 17; 100, 221, 225; 129, 27, 33; vgl. auch BVerfGE 61, 82, 111. 14 BVerfGE, 64, 261, 279; 84, 34, 49; vgl. auch BVerfGE 15, 275, 282; 73, 339, 373; BVerwGE 94, 307, 309; 100, 221, 225; 129, 27, 33. 15 Siehe dazu Pache, Tatbestandliche Abwägung (Anm. 6), S. 52 ff.
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scheidet.16 Jestaedt zufolge kann die Befugnis zur Ausübung eines solchen Ermessens nicht auf die Eigenart unbestimmter Rechtsbegriffe gestützt werden. Die Ausübung eines solchen Ermessens setzt seines Erachtens vielmehr eine durch Auslegung zu ermittelnde Ermächtigung seitens des Gesetzgebers voraus.17 Die heute wohl herrschende Lehre beschränkt allerdings den legitimen Anwendungsbereich des Ermessens auf die Rechtsfolgenseite.18 Bekanntlich soll Bachof zufolge stattdessen der Verwaltung bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ein Beurteilungsspielraum zustehen. Auslegung und Subsumtion qualifiziert Bachof zwar als Rechtsfragen. Gleichwohl behauptet er, dass im Einzelfall die Subsumtion gerichtlicher Überprüfung entzogen sei, sofern die Verwaltungsbehörde subjektiv einen Sachverhalt bei pflichtgemäßer Beurteilung unter einen Tatbestand habe subsumieren dürfen.19 Ganz ähnlich lautet die Vertretbarkeitstheorie von Ule.20 Schließlich ist noch die normative Ermächtigungslehre zu nennen, die – entsprechend der Auffassung von Jestaedt – zwar nicht das Ermessen, wohl aber den Beurteilungsspielraum auf eine durch Auslegung zu ermittelnde Ermächtigung der Verwaltung durch den Gesetzgeber gründet.21 Im Folgenden soll die verwaltungsrechtliche Diskussion nicht in all ihren Facetten erneut nachgezeichnet, sondern sprachanalytisch untersucht werden, ob nicht zumindest ein Teil der unbestimmten Rechtsbegriffe – nämlich diejenigen, die man im Strafrecht als normative Rechtsbegriffe bezeichnen würde – Eigenschaften aufweist, die sie von anderen Rechtsbegriffen unterscheiden und daher zwangsläufig die vorgestellte Problematik auslösen.22 Es soll also insbesondere geklärt werden, ob die Intention, die Anerkennung von Ermessens- oder Beurteilungsspielräumen von rechtstheoretischen oder normlogischen Erwägungen abzukoppeln und einer normativ aufgefassten Auslegung zu überantworten,23 tragfähig ist.
16 Ehmke, „Ermessen“ und „unbestimmter Rechtsbegriff“ im Verwaltungsrecht, 1960, S. 23 ff.; Herdegen, JZ 1991, S. 747 ff.; Schmidt-Eichstädt, AöR 98 (1973), S. 173, 176 ff.; Starck, Sendler-FS (Anm. 4), S. 167 ff. 17 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, (Anm. 6), § 10, Rn. 21, 27, 32 ff. 18 Federführend Reuss, DVBl. 1953, S. 649 ff. 19 Bachof, JZ 1955, S. 99 ff.; ders., JZ 1972, S. 642 ff. 20 Ule, Jellinek-GS (Anm. 4), S. 323 ff.; ders., VerwArch 76 (1985), S. 15 ff. 21 Ossenbühl, DVBl. 1974, S. 309, 312; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 7), § 7, Rn. 34; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz Kommentar, 55. Lfg. 2009, hrsg. u. a. von Herzog, Art. 19 IV GG, Rn. 180; Stober, in: Wolff/ Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, (Anm. 4), § 31, Rn. 16 f. 22 Siehe Honig, Begriffsbildung, (Anm. 1), S. 20, demzufolge eine Verschiedenheit der logischen Struktur juristischer Begriffe besteht. 23 So deutlich Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 7), § 7, Rn. 34.
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II. Zur „Grammatik“ normativer bzw. unbestimmter Rechtsbegriffe Auf den ersten Blick scheint die „Grammatik“ normativer Rechtsbegriffe derjenigen deskriptiver Begriffe zu gleichen:24 In beiden Fällen findet eine Prädikation statt und es ist jeweils zu prüfen, ob sie zu Recht erfolgt. Ist dies zu bejahen, kann der Sachverhalt unter das Tatbestandsmerkmal subsumiert werden. Als Beispiel sei die Definition des Begriffs „Kulturdenkmal“ durch das Denkmalschutzgesetz von Baden-Württemberg herangezogen.25 Gemäß § 2 DSchG sind Kulturdenkmäler Sachen, Sachgesamtheiten und Teile von Sachen, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht. Offenbar hat die Verwaltung also zu untersuchen, ob der Begriff der Sache etc. und der Begriff des öffentlichen Interesses auf den Gegenstand, dessen Eigenschaft als Kulturdenkmal in Frage steht, zutreffen. Und dazu hat es – wie in jedem anderen Fall auch – den Begriff der Sache etc. und des öffentlichen Interesses auszulegen. Dabei wird im verwaltungsrechtlichen Schrifttum die richtige Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs im Vergleich zu sonstigen bestimmteren Rechtsbegriffen lediglich als schwieriger oder offener eingestuft.26 Genau dies ist Hintergrund der Ansicht von Jestaedt, dass aus diesem Grund die Kategorie des unbestimmten Rechtsbegriffs für die Klärung der Frage, ob und inwieweit der Verwaltungsbehörde auf der Tatbestandsseite ein gerichtlich nicht überprüfbares Ermessen wahrzunehmen hat, dogmatisch unergiebig ist.27 Doch handelt es sich hier im Kern überhaupt um ein Rechtsproblem, das der Auslegungsebene zugehört? Werfen wir zunächst einen Blick auf die neuere analytische Meta-Ethik, insbesondere auf die Diskussion um die Bedeutung des Wortes „gut“. Zu unterscheiden sind nach Hare eine beschreibende von einer wertenden Sprachverwendung.28 Wenn zum Beispiel jemand sagt, dass etwas gut sei, kann der Sprecher unter Umständen meinen, dass der Gegenstand jene Eigenschaften besitzt, die 24 Unter „Grammatik“ sollen hier im Anschluss an Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1984, Abschnitte 150, 182, 187, 199, 257, 293, 339, 350, 492, 657, 660, 693, die Regeln verstanden werden, die den Gebrauch eines Wortes bestimmen. 25 Vorzugswürdiger wäre es sicherlich gewesen, die Definition des Denkmalbegriffs gemäß § 2 Nr. 1 S. 1 des Denkmalschutzgesetzes Nordrhein-Westfalen als Beispiel auszuwählen. Die relativ umfangreiche Konkretisierung des Begriffs durch § 2 Nr. 1 S. 2 hätte aber die Erörterung unnötig verkompliziert. 26 Vgl. zum Beispiel Ule, Jellinik-GS (Anm. 4), S. 324, der insbesondere die Mehrdeutigkeit normativer Begriff hervorhebt; siehe ferner ganz eindeutig Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 4), § 8, Rn. 465, 471, der bei unbestimmten Rechtsbegriffen mehrere Auslegungsergebnisse für vertretbar hält. 27 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 6), § 10, Rn. 22, 24 ff. 28 Siehe Hare, Die Sprache der Moral2, 1997, (Titel der engl. Originalausgabe: The Language of Morals, 1952), S. 144 ff., 159 f.
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Dritte (gewöhnlicherweise) oder der Adressat der Aussage von dem betreffenden Gegenstand erwarten. In diesem Fall würde es sich bei der Aussage ausnahmsweise um eine rein beschreibende Behauptung handeln, bei der der Aussagende seine eigene Einstellung nicht zum Ausdruck bringt. Er würde lediglich feststellen, dass der Gegenstand den Anforderungen des von Dritten oder dem Adressaten vertretenen Wertmaßstabs genügt. Um die Behauptung zu verifizieren, wäre es notwendig, die genauen Eigenschaften des Gegenstandes und den vorausgesetzten Wertmaßstab der Dritten oder des Adressaten zu kennen. Die Aussage, dass etwas gut sei, kann aber noch in einem weiteren Sinne gemeint sein, der dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entspricht. Ebenso wie im ersten Fall behauptet der Sprecher implizit einerseits, dass der betreffende Gegenstand bestimmten, nicht ausdrücklich genannten Anforderungen genügt, wobei es sich in diesem Fall um jene des von ihm selbst vertretenen Wertmaßstabs handelt. Darüber hinaus gibt jedoch die Aussageperson dem Adressaten andererseits zu verstehen, dass er den Gegenstand aufgrund der Erfüllung dieser Anforderungen gegenüber anderen Gegenständen, bei denen dies nicht der Fall ist, vorzieht oder als vorzugswürdig bewertet. Er spricht damit (in der Regel) eine Empfehlung aus oder gibt einen Rat. Denkbar ist auch, dass der Äußernde den Adressaten zu einer bestimmten Handlung auffordern möchte. Für Hare ist Kennzeichen einer wertenden Sprachverwendung dieser illokutionäre Aspekt der Aussage.29 Nach hier vertretener Auffassung ist es primär der Umstand, dass der Aussagende seine Einstellung artikuliert und damit den betreffenden Gegenstand bewertet. Im Unterschied zu einer rein beschreibenden Sprachverwendung würde der Aussagende bei eine wertenden Sprachverwendung nicht nur die Erfüllung der Voraussetzungen des Wertmaßstabs verteidigen, sondern gegebenenfalls auch den Wertmaßstab selbst. Übertragen wir diese Analyse auf das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses in § 2 DSchG, das dem Terminus „gut“ in bestimmter Hinsicht gleicht. Denn der Begriff des öffentlichen Interesses meint nichts anderes, als dass die Allgemeinheit einen Zustand oder Vorgang (um seiner selbst oder um seiner Folgen willen) aus bestimmten Gründen gegenüber Alternativen vorzieht. Unterstellt man zunächst, dass das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses dem beschreibenden Sprachgebrauch im oben erläuterten Sinne entspricht, dann wäre die Aussage der Verwaltungsbehörde als Rechtsanwender, dass der Erhalt der Sache etc. aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen im öffentlichen Interesse liegt, als Behauptung über das Bestehen einer Präferenz der Allgemeinheit aufzufassen. Die Verwaltungsbehörde müsste infolgedessen den Nachweis führen, dass die Allgemeinheit im konkreten Fall den Erhalt der Sache etc. aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen tatsächlich bevorzugt. Diese Prüfung hätte offenbar nichts 29
Hare, Moral (Anm. 28), S. 144 ff., 159 f.
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mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des öffentlichen Interesses zu tun. Sie beträfe vielmehr die Tatsachenebene. Hätte der Gesetzgeber irgendwo einen abstrakten und vollständigen Wertmaßstab festgelegt, mit dessen Hilfe für jeden Fall entscheidbar wäre, ob an dem Erhalt der Sache etc. ein öffentliches Interesse besteht, dann könnte eine Verifikation der Behauptung dadurch erfolgen, dass die Verwaltungsbehörde ermittelt, ob die Sache etc. die relevanten Eigenschaften aufweist oder nicht. Allerdings existiert ein derartiger abstrakter vollständiger Wertmaßstab nicht. Die Verwendung des unbestimmten bzw. normativen Rechtsbegriffs „öffentliches Interesse“ verdankt sich gerade dem Umstand, dass sich der Gesetzgeber nicht in der Lage gesehen hat, alle denkbaren Fallgestaltungen und -konstellationen zu antizipieren und mit einer bestimmten Rechtsfolge zu verknüpfen. Und hätte sich der Gesetzgeber dazu in der Lage gesehen, dann hätte er das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses ohnehin durch die begrifflich umschriebenen notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen einer positiven Präferenz für den Erhalt der Sache etc. substituieren können. Da der Gesetzgeber nicht stellvertretend für die Allgemeinheit einen abstrakten und vollständigen Wertmaßstab festgelegt hat, bleibt nur noch der theoretisch denkbare Ausweg, im konkreten Fall das Vorliegen des öffentlichen Interesses an dem Erhalt der Sache etc. durch die Ermittlung der tatsächlichen Einstellung der Öffentlichkeit zu eruieren. Eine solche „Umfragejurisprudenz“ wird jedoch weder beschritten noch vorgeschlagen. Die ethischen und die (im vorliegenden Kontext relevanten) kulturellen Wertvorstellungen der privaten Rechtssubjekte sind sicherlich nur in einem abstrakten Modus von Relevanz. Verdichten sie sich zu einer allgemeinen Rechtsüberzeugung, sind die staatlichen Organe daran gebunden. Diese Bindung vermag aber keineswegs, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde als Rechtsanwender im konkreten Fall zu determinieren.30 Daraus folgt: Der Rechtsbegriff „öffentliches Interesse“ lässt sich nicht dem beschreibenden Sprachgebrauch zuordnen. Die Verwaltungsbehörde hat als rechtsanwendendes Organ überhaupt nicht die Aufgabe zu untersuchen, ob eine empirisch gegebene Präferenz der Allgemeinheit existiert oder nicht. Das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses stellt somit keine Rechtsfolgevoraussetzung dar, unter die aufgrund einer Tatsachenfeststellung im logischen Sinne des Wortes subsumiert wird!31
30 Anderer Ansicht Reuss, DVBl. 1954, S. 653; siehe dazu die Darstellung von Pache, Tatbestandliche Abwägung (Anm. 6), S. 67 f. 31 Vgl. Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht, S. 21: „Die Aufdeckung normativer Elemente in der faktischen Begriffsbildung führt zu einem Zurücktreten des rein logischen Charakters der Rechtsanwendung.“; vgl. die Analyse am Beispiel des Tatbestandsmerkmals der Unzuverlässigkeit von Ule, Jellinek-GS (Anm. 4), S. 319, dass sich seine Feststellung nicht in einer bloßen logischen Subsumtion erschöpfe.
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Das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses kann daher nur dem wertenden Sprachgebrauch im oben erläuterten Sinne entsprechen: Wenn die Verwaltungsbehörde nicht im konkreten Einzelfall festzustellen hat, ob die Allgemeinheit den Erhalt der Sache etc. vorzieht, und infolgedessen auch keine diesbezügliche Behauptung aufstellt, dann muss sie zwangsläufig die Präferenz der Allgemeinheit unter Beachtung bestimmter rechtlicher Grenzen durch eine Wertung selber stellvertretend festlegen. Mit der Aussage, dass aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse am Erhalt der Sache etc. besteht, würde die Verwaltungsbehörde einerseits implizit feststellen (und damit behaupten), dass die Sache etc. bestimmten Anforderungen eines unvollständigen Wertmaßstabs genügt, den sie durch ihre Rechtspraxis induktiv selbst erstellt hat, andererseits – und das ist entscheidend – festlegen (nicht aber behaupten), dass aufgrund dessen die Allgemeinheit den Erhalt der Sache etc. aus den gesetzlich aufgeführten Gründen bevorzugt. Die Verwaltungsbehörde würde damit stellvertretend für die Rechtsgemeinschaft einen verbindlichen Akt der Bewertung vollziehen.32 Ist diese Analyse richtig, dann könnte die Definition in § 2 DSchG so „übersetzt“ werden, dass es sich bei Sachen etc. dann um Kulturdenkmäler handelt, wenn die Verwaltungsbehörde aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen innerhalb bestimmter rechtlicher Grenzen verbindlich festlegt, dass ihr Erhalt im öffentlichen Interesse liegt. Der Begriff des öffentlichen Interesses wäre infolgedessen als Beispiel eines unbestimmten bzw. normativen Rechtsbegriffs so auszulegen, dass er die Festlegung der Präferenz der Allgemeinheit an die Verwaltungsbehörde als rechtsanwendendes Organ innerhalb eines gewissen rechtlichen Rahmens delegiert. Man könnte daher unbestimmte bzw. normative Rechtsbegriffe als Delegationsmerkmale bezeichnen.33 Dabei ergibt sich entgegen der Ansicht eines Teils der verwaltungsrechtlichen Literatur die Ermächtigung der Verwaltungsbehörde, eine Eigenwertung vorzunehmen, nicht aus irgendwelchen normativen Gesichtspunkten, sondern aus der Struktur des Wertbegriffs selbst sowie dem Umstand, dass es an empirisch vorfindbaren, bindenden Wertungen fehlt, die ihre Entscheidung determinieren könnten. Würden zwei Verwaltungsbehörden bei demselben Objekt zu einer abweichenden Beurteilung der Denkmalwürdigkeit gelangen, wäre dies somit nicht Folge einer unterschiedlichen Auslegung des Begriffs „öffentliches Interesse“. Die beteiligten Verwaltungsbehörden würden nicht darüber streiten, was dieser Terminus bedeuten würde. Sie würden beide von demselben Begriffsinhalt ausgehen – nämlich, dass der Begriff des öffentlichen Interesses nichts anderes meint, als dass die Allgemeinheit einen Zustand oder Vorgang (um seiner selbst oder um
32
So im Ergebnis auch Ule, Jellinek-GS (Anm. 4), S. 322 ff. Ähnlich die Terminologie von Weigel, Beurteilungsspielraum oder Delegationsbegriff?, 1971, S. 168 ff. 33
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seiner Folgen willen) aus bestimmten Gründen gegenüber Alternativen vorzieht. Sie würden vielmehr darüber streiten, ob im konkreten Einzelfall der Erhalt der Sache etc. im öffentlichen Interesse liegt oder nicht. Dieser Streit setzt jedoch das gemeinsame Verständnis des Begriffs schon logisch voraus, weil der Terminus „öffentliches Interesse“ von den Beteiligten des Disputs in ihren divergierenden Aussagen verwendet wird. Ein Streit um die Auslegung des Begriffs wäre hingegen auf der Metaebene zu verorten. In den Aussagen dieser Auseinandersetzung würde der Terminus „öffentliches Interesse“ von den Diskutanten nicht verwendet, sondern angeführt. Systematisch wäre die Fragestellung der Verwaltungsbehörden daher der Tatsachenebene zuzuordnen, was daran zu erkennen ist, dass die Festlegung der Verwaltungsbehörde zum Gegenstand einer Behauptung seitens eines Dritten gemacht werden könnte. Zugespitzt formuliert: Die Verwaltungsbehörde stellt die Tatsache, dass der Erhalt der konkreten Sache etc. aus den gesetzlichen Gründen im öffentlichen Interesse liegt, durch ihre verbindliche Wertentscheidung selber her. Nicht zuzustimmen ist daher der im Verwaltungsrecht vertretenen Ansicht, dass im Prinzip nur eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde richtig sein kann.34 Ohnehin würde dieser Standpunkt in Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Gebot stehen, dass jegliches Ermessen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen muss, das heißt, dass die Entscheidung der Behörde geeignet, erforderlich und angemessen sein muss.35 Bei den Begriffen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe. Würden diese Rechtsbegriffe (insbesondere der Begriff der Angemesssenheit) die Entscheidung des Rechtsanwenders vollständig determinieren, wäre eine Entscheidungsfreiheit der Verwaltungsbehörde undenkbar.36 Es ist überdies auch nicht ersichtlich, wodurch sich – ungeachtet des Nutzens einer terminologischen Differenzierung – die Entscheidungsfreiheit der Verwaltungsbehörde auf der Tatbestandsebene von dem Ermessen auf der Rechtsfolgenseite sachlich unterscheidet. Es gibt im Recht nur eine binäre Codierung: Bindung oder Nicht-Bindung. Schließlich ist es eine Frage reiner Gesetzestechnik, ob man auf der Tatbestandsseite mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert oder auf der Rechtsfolgenseite dem Rechtsanwender Ermessen einräumt.37 Im Strafrecht stellt sich das Problem der Analyse unbestimmter bzw. normativer Rechtsbegriffe ganz ähnlich. So betrifft der Streit, unter welchen Vorausset-
34 So Maurer, Verwaltungsecht Allgemeiner Teil (Anm. 7), § 7, Rn. 29; Ossenbühl, DVBl. 1974, S. 309, 310; Schoch, Jura 2004, S. 462 f.; wie hier Jestaedt, in: Erichsen/ Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 6), § 10, Rn. 9. 35 Pars pro toto BVerfGE 35, 382, 400 f.; 49, 168, 194; 69, 161, 169. 36 Vgl. schon Schmidt-Eichstädt, AöR 98 (1973), S. 179 ff.; ebenso Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe, S. 172 ff. 37 Starck, Sendler-FS (Anm. 4), S. 167; vgl. auch Schmidt, NJW 1975, S. 1754 f.
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zungen die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck im Sinne von § 240 I StGB als verwerflich anzusehen ist, nicht die Auslegung des Begriffs der Verwerflichkeit. Die Auslegung des Begriffs erschöpft sich nach herrschender Meinung in seiner Definition als erhöhter Grad sozialethischer Missbilligung38 oder als soziale Unerträglichkeit.39 Gegenstand des Streits ist vielmehr, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit das Verhalten des Täters ein derartige Negativbewertung verdient, wann das Verhalten also in diesem Maße zu missbilligen ist. Man könnte aufgrund der Attribute „sozialethisch“ oder „sozial“ postulieren, dass die Straforgane die Wertvorstellungen der Sozialgemeinschaft aufzugreifen haben. Dementsprechend verlangt die Rechtsprechung, dass das Nötigungsmittel nach allgemeinem Urteil sittlich zu missbilligen ist40 oder dass bei der Beurteilung des Nötigungsmittels als anstößig auf das Rechtsempfinden des Volkes zu achten ist.41 Allerdings gilt auch hier – wie im Verwaltungsrecht –, dass es nicht darum gehen kann, die Einstellung der Öffentlichkeit im konkreten Einzelfall aufzuklären. Die Straforgane sind lediglich gehalten, sich als Vertreter des Volkes an den abstrakten Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft zu orientieren und nicht ihre Privatmoral zu applizieren.42 Dennoch: Es kann nicht geleugnet werden, dass die Straforgane, wenn sie unter Berücksichtung sämtlicher Umstände des Einzelfalls die maßgeblichen Faktoren umfassend abwägen,43 bis zu einem bestimmten Grad eine eigene Wertung vornehmen, die angesichts eines fehlenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konsenses (Beispiel: Sitzblockaden!) immer auch vom persönlichen Wertehorizont des Organwalters getragen ist. Betroffen davon ist in erster Linie die Fallgruppe des Missverhältnisses von Nötigungsmittel und Nötigungszweck. Der Begriff der Verwerflichkeit ist daher zweifelsohne innerhalb eines gewissen Rahmens als wertender Begriff zu qualifizieren. Die Aussage des Straforgans, dass das Nötigungsmittel verwerflich ist, wäre insoweit einerseits als implizite Feststellung zu verstehen, dass das Verhalten des Täters bestimmte Eigenschaften aufweist, die dem unvollständigen Unwertmaßstab entsprechen, den das Straforgan auf induktivem Wege selber aufgestellt hat, sowie andererseits als verbindliche wertende Festlegung des Straforgans, dass aus diesem Grund das Verhalten des Täters sozial-ethisch in einem erhöhten Grade zu missbilligen ist.
38 So BGHSt 17, 328, 331; 13, 390, 391; 19, 263, 268; OLG Frankfurt, StV 2001, S. 407, 408. 39 BGHSt 18, 390, 391; OLG Frankfurt, StV 2001, S. 407, 408. 40 BGHSt 1, 84, 88 f.; 5, 254, 256; 18, 390, 391. 41 BGHSt 1, 84, 86; 5, 254, 256. 42 Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar27, 2006, hrsg. u. a. von Lenckner, § 240, Rn. 17. 43 Zu diesem Erfordernis BVerfGE 73 206, 257; BVerfG NJW 1991, S. 972; 1992, S. 2869; 2002, S. 1033.
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III. Materiell-rechtliche Konsequenzen der methodischen und rechtstheoretischen Analyse Es wurde oben dargestellt, dass die Rechtsprechung einer vollständigen gerichtlichen Überprüfung der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe das Wort redet, um einen Verstoß gegen Art. 19 IV GG zu vermeiden. Doch droht überhaupt ein derartiger Verstoß im Falle normativer Rechtsbegriffe? Art. 19 IV GG setzt voraus, dass jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden ist. Die Rechtsverletzung muss im Rechtswege in effektiver Weise geltend gemacht werden können. Akzeptiert man, dass die Verwaltungsbehörde auf der Tatbestandsseite ein bestimmtes Maß rechtlich anerkannter Entscheidungsfreiheit besitzt, das sie gemäß den gesetzlichen Vorgaben auszuüben hat, fehlt es schon an der Rechtsverletzung.44 Das Gebot effektiven Rechtsschutzes ist überhaupt nicht betroffen, weil es thematisch um die materiellen Kriterien rechtmäßigen Verwaltungshandelns geht. Zu einem anderen Ergebnis könnte man nur dann gelangen, wenn man unterstellt, dass theoretisch nur eine einzige Entscheidung der Verwaltungsbehörde rechtmäßig ist. Diese Ansicht wurde aber oben als unzutreffend zurückgewiesen. Verfassungsrechtliche Friktionen drohen vielmehr im umgekehrten Fall: Die Doktrin von der vollständigen Überprüfung des unbestimmten bzw. normativen Rechtsbegriffs hätte die Konsequenz, dass die Verwaltungsgerichte ihre Wertung an die Stelle derjenigen der Verwaltungsbehörden setzen. Würden die Verwaltungsgerichte beispielsweise festlegen, wann der Erhalt einer Sache etc. gemäß § 2 DSchG im öffentlichen Interesse liegt, würde sie zu einer Instanz mutieren, die selber öffentliche Interessen definiert und daher im öffentlichen Interesse tätig ist. Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre wiederum – wie im preußischen „System“ – Fortsetzung der Verwaltung mit anderen Mitteln.45 Damit aber würde sie ihre Neutralität einbüßen und nicht mehr Rechtsprechung gemäß Art. 92 GG ausüben. Rechtsprechung im Sinne dieser Norm ist dadurch definiert, dass die (der Rechtskraft fähige) Entscheidung über das (umstrittene) Rechtsverhältnis durch einen unbeteiligten Dritten getroffen wird.46 Jurisdiktion ist immer uninteressierte Rechtsanwendung.47 Im Strafrecht droht dieselbe Konsequenz. In dem Moment, in dem die Strafgerichte darüber entscheiden, was strafbar sein soll und 44 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 6), § 10, Rn. 38. 45 Siehe dazu Loening, Deutsche Verwaltung, 1949, S. 85, 89; Ule, Jellinek-GS (Anm. 4), S. 325; Menger, Der Schutz der Grundrechte in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Die Grundrechte, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbbd., hrsg. u. a. von Bettermann, 2. Auflage, 1972, S. 725; Kopp, BayVBl. 1980, S. 263, 265; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, 2000, § 1, Rn. 5. 46 Ausführlich Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 318 ff., 336 ff. 47 So schon zu Recht Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsanwendung, in: Festschrift für Richard Thoma, 1950, S. 21 ff.
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was nicht, ist nicht nur der verfassungsrechtlich verankerte Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG betroffen; es ist überdies zu beachten, dass sich die Strafgerichte dann als Straforgan zwangsläufig mit den staatlichen Strafinteressen identifizieren müssen. Insofern sie stellvertretend für die staatlich verfasste Allgemeinheit durch eine eigene Wertung festlegen, wann diese ein öffentliches Pönalisierungsinteresse besitzt oder nicht, repräsentieren sie den Staat. Sie können dann nicht mehr als unbeteiligte Dritte über das Bestehen des staatlichen „Strafanspruchs“ urteilen. Freilich üben die Strafgerichte nach geltendem Strafprozessrecht ohnehin die Rolle eines Strafverfolgsorgans aus. Aber dies steht auf einem anderen Blatt!48 IV. Schlussbemerkung Die vorgestellte Analyse hat die Ansicht der Jubilarin bestätigt: Zumindest in der Jurisprudenz gilt, dass wertende Aussagen, also Sätze, in denen wertende Termini verwendet werden, weder wahr noch falsch sind. Die Verifikation oder Falsifikation von rechtlichen Aussagen setzt eine rechtliche Bindung voraus, die beachtet oder missachtet wird. Daran fehlt es, sofern Rechtsbegriffe wertender Natur sind. Bei ihnen findet keine Subsumtion im logischen Sinne des Wortes und damit auch keine Rechtsanwendung statt. Vielmehr hat die Wertung des zuständigen Organs gegebenenfalls die Konsequenz, dass das betreffende Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Wie die Wertung ausfällt, hat hingegen keinen Einfluss auf die Auslegung des unbestimmten bzw. normativen Rechtsbegriffs. Seine Bedeutung wird davon nicht berührt. Man könnte abschließend fragen, ob nicht bei deskriptiven Rechtsbegriffen ebenso Wertungen eine Rolle spielen und ob nicht aus diesem Grunde die Unterscheidung zwischen beiden Begriffstypen praktisch undurchführbar ist. Zuzugeben ist zunächst, dass Tatbestandsmerkmale, die man auf den ersten Blick als rein deskriptive Begriffe klassifizieren würde, auf den zweiten Blick auch wertende Anteile enthalten können. Als Beispiel sei die Einschränkung der Rechtsgutsverletzung durch das Korrektiv der Erheblichkeit genannt. So setzt eine Misshandlung eine nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens voraus. Aber damit wird nur gezeigt, dass sich bestimmte Tatbestandsmerkmale einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Zuzugeben ist des Weiteren, dass es unter Umständen dann einer Wertung bedarf, wenn mit Hilfe des methodischen Kanons ein deskriptiver Begriff nicht eindeutig ausgelegt werden kann. Diese Wertung würde sich jedoch auf einer anderen logischen Ebene als bei den normativen bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen vollziehen, da durch sie gerade die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals bestimmt würde. An der Unterscheidung zwischen beiden Begriffstypen ist somit festzuhalten! 48
Umfassend dazu Haas, Strafbegriff (Anm. 45), S. 318 ff.
Der Umgang des Gesetzgebers mit dem StGB und die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Berichtigung unterlaufener gesetzestechnischer Fehler Über den Niedergang der deutschen Strafgesetzgebung Von Hans Joachim Hirsch I. In neuerer Zeit häufen sich die Hinweise auf gesetzestechnische Fehler, die bei Änderungen des Textes des StGB geschehen. Nicht zu Unrecht hat das 6. StrRG von 1998, das Änderungen bei Delikten gegen die Person, Eigentumsdelikten und Brandstiftungsdelikten brachte, eine Flut von Schelten gegenüber dem Gesetzgeber ausgelöst.1 Jüngst haben das 37. StÄG von 2005 (Einfügung von § 232 betreffend Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung) und das 40. StÄG von 2007 (Einfügung von § 238 betreffend Nachstellung [Stalking]) erneut hierzu Anlass gegeben.2 Es geht dabei nicht um Kritik an Wertentscheidungen des Gesetzgebers, über die gestritten werden kann, also nicht um Inhalte von Reformen, sondern um die handwerkliche Seite. Die deutsche Strafgesetzgebung konnte sich insoweit früher hohen Ansehens im In- und Ausland erfreuen. Ohne sie und die Vorarbeiten an ihr ist die weltweite Reputation, welche die deutsche Strafrechtswissenschaft bisher im Ausland genießt, nicht zu denken. Noch das 2. StrRG spiegelte den hohen Stand deutscher Gesetzgebungskunst wider. Diese Gesetzgebungskunst basiert auf dem Respekt, den die Textfassung eines Strafgesetzbuchs verlangt. Es geht bei einem Strafgesetzbuch nicht um ein im Stil einer Sammlung von Verwaltungsverordnungen abgefasstes Konvolut, sondern um die Kodifikation der in einem Staat für die Bürger geltenden elementaren Regeln und die Ermächtigung der Gerichte zur Verhängung von Strafen, d.h. der schwersten staatlichen Eingriffsermächtigung. Was im christlich-religiösen Bereich die Zehn Gebote darstellen, bedeutet im staatlichen das Strafgesetzbuch. Die der gesellschaftlichen Entwicklung einhergehende Veränderung von Rechts1 Vgl. die Übersichten über das umfangreiche Schrifttum im Kommentar von Schönke/Schröder27, 2006, bei §§ 223 ff. und 306 ff. Auch die Angaben bei F.-C. Schroeder, NJW 1999, 3612. 2 Zum 37. StÄG siehe F.-C. Schroeder, GA 2005, 307; zum 40. StÄG siehe N. Gazeas, JR 2007, 497.
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auffassungen und Schutzbedürfnissen sowie neue rechtswissenschaftliche Erkenntnisse bedingen, es in gewissen Abständen durch Gesetzesnovellen diesen Veränderungen anzupassen. Der hohe Rang des Gesetzbuchs verlangt dabei einen behutsamen Umgang mit ihm. Das umso mehr, wenn es sich wie beim deutschen StGB von 1871 (dieses aufbauend auf das preußische StGB von 1854 und das StGB für den Norddeutschen Bund von 1869) um eine herausragende rechtsschöpferische Leistung handelt, deren Dignität man bei der früheren Novellengesetzgebung – sieht man von politisch motivierten Verstößen während der NS-Zeit ab – auch stets im Auge behalten hat. Der gebotene Respekt verlangt zum einen die Beachtung der dem Gesetzbuch zugrunde liegenden Prinzipien: Tatstrafrecht, Gesetzesbestimmtheit und Schuldprinzip. Zum anderen eine abgestimmte Verwendung der Begriffe und Strafrahmen, die Widerspruchsfreiheit des Textes und eine dem Rang der Kodifikation angemessene sprachliche Gestaltung und Formulierung von Niveau. Man mag über Inhalte streiten, aber die gesetzestechnisch-handwerkliche Seite muss stimmig sein. Beachtet man das nicht, so stürzen die Gesetzesänderungen – unabhängig davon, ob sie inhaltlich von Reformbedarf motiviert sind –, die Kodifikation nach und nach in ein Chaos, in dem sich allenfalls noch mit Strafrecht befasste Theoretiker und BGH-Richter zurechtfinden. Strafgesetzbücher sind in herausgehobenem Maße an die Öffentlichkeit adressiert und gehören nicht in die Reihe kryptischer Schriften. Es geht daher im folgenden nicht um inhaltliche Vorschläge zur Reform von Reformen, sondern ausschließlich um handwerkliche Fehler der Gesetzgebung. II. Es soll hier keine lückenlose Aufzählung der korrekturbedürftigen Stellen erfolgen. Sie sind bereits alle im Schrifttum aufgezeigt worden.3 Im vorliegenden Beitrag genügt es, ausgewählte Beispiele zu nennen, um das in der Überschrift genannte Anliegen zu bekräftigen. 1. Zu beginnen ist mit im Text stehengebliebenen gesetzestechnischen Fehlern der Reformen der 60er und 70er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts. Als erstes ist die fehlerhafte Abstimmung der Strafrahmen der §§ 113 und 240 StGB bei der Reform des Demonstrationsstrafrechts (3. StrRG von 1970) zu nennen. Sie geht bereits zurück auf die 1936 erfolgte Reform des § 240 StGB. Damals wurde übersehen, dass die Nötigungsstrafbestimmung abweichend vom bis dahin geltenden Rechtszustand, den man insoweit keineswegs verändern wollte, eine schärfere Strafdrohung erhielt, als sie der § 113 StGB aufwies.4 Bei der späteren Reform des Demonstrationsstrafrechts beließ man es bei diesem Gesetzgebungsfehler und meinte – dem 68er Zeitgeist entsprechend – ernsthaft, dass die Nöti3 4
Siehe insbesondere die Nachw. oben Anm. 1 und 2. Vgl. Hirsch, in: Festschrift für Klug, 1983, S. 235, 236 f.
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gung gegenüber einem sein Amt ausübenden Vollstreckungsbeamten, insbesondere einem Polizeibeamten, milder einzustufen sei als ein entsprechendes nötigendes Verhalten gegenüber einer Privatperson.5 Aus damaliger Zeit sind auch die im 1. StrRG von 1969 und im EGStGB von 1969 unterlaufenen Gesetzgebungsfehler zu nennen. Bekanntlich war der Schwere Diebstahl (§ 243 StGB) bis dahin als Verbrechen eingeordnet. Das 1. StrRG stufte ihn herab zu einem besonders schweren Fall (mit Regelbeispielen) des Vergehenstatbestands des Diebstahls. Dabei geriet der zuvor als Verbrechen strafbare Versuch eines der straferhöhenden Merkmale des § 243 a. F. StGB aus dem Blick, nämlich die Fälle, dass der Diebstahl zwar vollendet oder versucht ist, aber hinsichtlich der straferhöhenden Merkmale nur ein Versuch vorliegt (z. B. die aufzubrechende Tür ist wider Erwarten offen oder das Aufschließen misslingt). Der Gesetzgeber beachtete nicht, dass er in § 243 n. F. StGB nur von vollendetem Diebstahl spricht, es nach der Systematik des StGB zur Strafbarkeit des im Vergehensbereichs bleibenden Versuchs erhöhender Merkmale jedoch stets einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedarf (vgl. §§ 106, 108, 160 Abs. 2, 224 Abs. 2, 225 Abs. 2, 244, 258a StGB u. a.). Der BGH sah sich daher genötigt, sich zwar sachentsprechend, aber contra legem über diese Gesetzessystematik hinwegzusetzen und die Strafschärfung durch die Annahme eines sonstigen besonders schweren Falles zu begründen.6 Im EGStGB erfolgte u. a. eine Reform des 8. Abschnitts (§§ 146 ff. StGB) unter der Überschrift „Geld und Wertzeichenfälschung“. Johannes Wessels7 kritisierte sie mit den Worten: „Eine Reform, die mehr Zweifelsfragen schafft als ausräumt, wird weder ihrem Namen noch ihrem Anliegen gerecht.“ Neben zahlreichen Unklarheiten weist er auf die offenbar versehentlich entstandenen Formulierungsunterschiede zwischen § 146 Abs. 1 Nr. 1, 2 und §§ 146 Abs. 1 Nr. 3, 147 hin. 2.a) Die gesetzestechnischen Fehler finden sich vor allem bei Änderungen des Besonderen Teils. Nur wenige sind – dank der mehrjährigen, gewissenhaften Vorbereitung – bei der Reform des Allgemeinen Teils unterlaufen. Zu nennen ist in diesem Bereich die aus § 50 Abs. 2 und 3 StGB in der Fassung von 1968 durch das 2. StrRG als § 28 Abs. 1 und 2 StGB n. F. übernommene Regelung. Beide Absätze stehen in Widerspruch zueinander, was beim damaligen Stand der Dogmatik noch nicht erkannt wurde und sachlich abwegige Konsequenzen etwa in Fällen der Teilnahme an § 225 und § 340 StGB hat.8 Auch sind bei der Ver5 Zum Zeitgeist siehe in diesem Zusammenhang Hirsch (Anm. 4), S. 241. Jetzt ist unter dem Zwang der Realität eine Anhebung des Strafrahmens in Vorbereitung. 6 Vgl. BGHSt. 33, 370. 7 Wessels, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 669, 781, siehe auch S. 676 ff. 8 Vgl. hierzu Roxin, Allg. Teil II, 2003, § 27 Rn. 16 ff.; Hirsch, in: Festschrift für Schreiber, 2001, S. 153, 156, 170 f.; Puppe, in: NK3, 2010, §§ 28, 29 Rn. 6 ff. (mit eigenwilliger Lösung Rn. 8); m.w. N.
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weisung auf § 14 StGB die Unterschiede zu den von diesem erfassten Merkmalen nicht gesehen worden.9 Die Häufung des technischen Gesetzgebungsfehler setzte mit den Reformgesetzen zum Besonderen Teil ein. Bekanntlich war 1975 eine Gesamtreform vom Allgemeinen und Besonderen Teil „aus einem Guß“ zeitlich nicht möglich. Sie war auch in den Entwürfen nicht gesetzesreif vorbereitet. Das lag daran, dass sich in der Wissenschaft die Reformdiskussion nach dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend auf Fragen des Allgemeinen Teils konzentriert hatte und auch der Schwerpunkt der Interessen und das Engagement der wissenschaftlichen Mitglieder beim Allgemeinen Teil lag. Der damalige Verzicht auf eine den Besonderen Teil umfassende Gesamtreform hatte zur Folge, dass die nachfolgenden Teilreformen des Besonderen Teils nicht nach einem einheitlichen, die gesamte Kodifikation im Auge behaltenden einheitlichen Konzept erfolgte. b) Einen Höhepunkt erreichten die Gesetzgebungsfehler im 6. StrRG von 1998. aa) Die lange Liste beginnt damit, dass in dem neu geschaffenen § 176b StGB die im leichtfertig verursachten Tod des Kindes bestehende Erfolgsqualifizierung nicht nur auf den Tatbestand des § 176a n. F. StGB (Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern), sondern darüber hinaus auch uneingeschränkt auf § 176 n. F. StGB erstreckt wird. Betrachtet man § 176 Abs. 4 n. F. StGB, bedeutet dies, dass nach dem Gesetzeswortlaut schon die Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind und das Einwirken auf das Kind durch Vorzeigen pornographischer Schriften das Risiko der Todesfolge enthält. Das entspricht sicherlich nicht der Realität. Weiterhin ist die Anhebung des Strafrahmens des § 213 StGB von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu nennen. Das Missverhältnis zum Normalstrafrahmen des § 212 StGB wurde übersehen. Ein „minder schwerer Fall des Totschlags (amtliche Überschrift des § 213 StGB n. F.), der zehn Jahre Freiheitsstrafe verdient, aber zugleich keinen Regelfall für den Strafrahmen von § 212 StGB darstellt, ist kaum vorstellbar. Weiterhin ist bei der Streichung des privilegierten Tatbestands der Kindestötung (§ 217 a. F. StGB) nicht beachtet worden, dass die Vorschrift das positivrechtliche Argument für den Beginn des Rechtsguts der §§ 211 ff. StGB „in der Geburt“ bildete, so dass dann zum Problem wurde, ob jetzt auch strafrechtlich die in § 1 BGB gezogene Grenze ausschlaggebend ist.10 Als schweren Mißgriff des modernen Gesetzgebers“ hat man die Neufassung des § 221 StGB charakterisiert.11 Weil der Gesetzgeber durch die Erweiterung des Vgl. Fischer, StGB57, 2010, § 14 Rn. 2 m.w. N. Dazu näher Hirsch, in: Festschrift für Eser, 2005, S. 309 ff. Gesetzgeberisch ungenau war bereits, dass in § 219 Abs. 1 StGB i. d. F. des SFHÄndG 1995 von „ungeborenem Leben“ und „Ungeborenen“ die Rede ist, was zum damaligen Zeitpunkt aber durch den noch vorhandenen § 217 StGB relativiert wurde. 9
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Opferkreises, der Tathandlungen und des Gefährdungserfolgs alle denkbaren Fälle erfassen wollte, wurden von ihm die seit jeher gegenüber einem allgemeinen Lebens- und Leibesgefährdungsdelikt bestehenden gravierenden Bedenken außeracht gelassen. Hinzu kommen die Wertungswidersprüche zwischen § 221 n. F. StGB und den übrigen Delikten gegen Leib und Leben sowie zwischen Grundtatbestand und Qualifikationen. Was die Reform der Körperverletzungsdelikte angeht, hat das 6. StrRG trotz seiner auf abschließende Reform gerichteten Ambitionen die beiden Hauptreformprobleme, nämlich die Ersetzung des Begriffs „gute Sitten“ durch präzisere Merkmale in § 228 StGB und die Einordnung des eigenmächtigen Heileingriffs, ganz beiseite gelassen.12 Dafür finden sich mehrere Ungereimtheiten und Fehler: Die exorbitante Verschärfung (Verdopplung) des Strafrahmens der Gefährlichen Körperverletzung (§ 224 n. F. StGB) von bisher drei Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe auf sechs Monate bis zehn Jahren verträgt sich nicht mit den Strafrahmen anderer Vorschriften. So ist die neue Obergrenze identisch mit der bei der Schweren Körperverletzung (§ 226 n. F. StGB), auch entspricht sie dem mittleren Bereich der Strafdrohung für Totschlag. Ferner fragt man sich, ob es – von der Sachwidrigkeit ganz abgesehen – heute noch gesetzeskonform ist, wenn man bei der Schweren Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 n. F. StGB) den Fall des dolus eventualis mit dem der Fahrlässigkeit „in einen Topf“ wirft. Systemgerecht wäre die von der Rechtsordnung allgemein praktizierte Gegenüberstellung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt. Wieso z. B. bei den Tötungsdelikten der §§ 211 ff. StGB klar zwischen Vorsatztatbeständen unter Einbeziehung der Dolus-eventualis-Fälle abgegrenzt, bei der Schweren Körperverletzung der Eventualvorsatz dagegen der Fahrlässigkeit an die Seite gestellt (Absatz 1) wird, entbehrt rationaler Begründung.13 Gesetzestechnisch leuchtet auch nicht ein, dass 11 Vgl. Struensee, in: Dencker/Struensee/Nelles/Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz, 1998, S. 45. 12 Zur notwendigen Reform der Gesetzesfassung des § 228 StGB siehe bereits eingehend Hirsch, ZStW 83 (1971), 140, 165 ff. und jetzt die Erörterungen in BGHSt. 49, 166 m. Anm. Hirsch, JR 2004, 475. Zur Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung des eigenmächtigen Heileingriffs bereits Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, 1939, S. 69 ff.; Engisch, ZStW 58 (1939), 1, 5 ff.; Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S. 66 f.; Gallas, ZStW 67 (1955), 1, 21 f.; Gössel, Bes. Teil 12, 2004, § 13 Rn. 53 ff.; Hirsch, in: LK10, 1989, Vor § 223 Rn. 3 ff.; ders., in: Gedenkschrift für Zipf, 1999, S. 353 ff.; Lilie, in: LK11, 2001, Vor § 223 Rn. 3; F.-C. Schroeder, Besondere Strafvorschriften zur Eigenmächtigen und fehlerhaften Heilbehandlung?, 1998, S. 19 ff.; m.w. N. Siehe auch §§ 161, 162 E 1962 und § 123 AE BT 1970. Der VE. 6. StrRG enthielt eine Regelung, die allerdings hinsichtlich Einordnung und Strafdrohung so unbefriedigend war, dass das Vorhaben im weiteren Gesetzgebungsverfahren ganz aufgegeben wurde; vgl. F.-C. Schroeder (Anm. 12), S. 9 und 12 f.; Hirsch, in: Gedenkschrift für Zipf, 1999, S. 367 f. Kritisch zur „Reform“ der Körperverletzungsstrafbestimmungen durch das 6. StrRG näher Chr. Jäger, JuS 2000, 31, 34 ff. und F.-C. Schroeder, NJW 1999, 3612. 13 Dazu Hirsch, in: LK11, 2001, § 226 Rn. 42. Bei Schaffung des StGB von 1871 war die Vorsatzlehre noch unzureichend entwickelt.
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das erfolgsqualifizierte Delikt des Absatz 1 und das reine Vorsatzdelikt des Absatz 2 in derselben Strafbestimmung (unter einheitlicher Überschrift) geregelt worden sind. Für eine Reform der Tötungsdelikte hätte eine solche Vorgehensweise die absonderliche Konsequenz, den Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge als Absatz 1 des § 212 StGB zu regeln. Auch erhebt sich die Frage, wie es erklärbar sein soll, sonst bei Neufassungen von Erfolgsqualifizierungen die einfache Folgefahrlässigkeit (§ 18 StGB) als ungenügend für die Strafschärfung anzusehen und deshalb Leichtfertigkeit zu verlangen. (vgl. §§ 239a, 251, 306c, 307 Abs. 3, 308 Abs. 3), sie bei der Schweren Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 n. F. StGB) aber nach wie vor als ausreichend zu betrachten.14 Außerdem irritiert, dass sich der Gesetzgeber des im Laufe der neueren Novellengesetzgebung (§ 218 Abs. 2 Satz Nr. 2 StGB) entstandenen Nebeneinanders der Begriffe „Schwere Körperverletzung“ (wo Fälle der im Grundtatbestand § 223 StGB als körperliche Misshandlung oder Gesundheitsbeschädigung definierten Körperverletzung qualifiziert sind) und „Schwere Gesundheitsschädigung“ (§§ 225 Abs. 3 Nr. 1 n. F., 239 Abs. 3 Nr. 2 n. F. und § 250 Abs. 1 Nr. 1c) n. F. StGB) weiterhin bedient.15 Wenig glücklich ist außerdem die durch das 6. StrRG vorgenommene Ersetzung der traditionellen Überschrift des 17. Abschnitts „Körperverletzung“ durch „Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit“; denn diese Änderung könnte bei entsprechender Auslegung die noch ausstehende Einordnung des eigenmächtigen Heileingriffs fälschlich präjudizieren.16 Bekanntlich wird aber bereits seit Jahrzehnten im Schrifttum mit Recht darauf hingewiesen, dass der lege artis vorgenommene erfolgreiche ärztliche Heileingriff keine Verschlechterung, sondern eine Verbesserung des Körperzustandes bedeutet und daher keine Körperverletzung, sondern deren Gegenteil darstellt.17 Erfasst wird von den §§ 223 ff. StGB nach dieser bisherigen h. L. nur der kunstfehlerhaft misslungene Eingriff.18 Dagegen handelt es sich beim eigenmächtigen Eingriff wegen des Hinwegsetzen über den Patientenwillen um ein vom Gesetzgeber zu regelndes Freiheitsdelikt. Die bisherige Rspr., nach der jeder Heileingriff eine vorsätzliche Körperverletzung sein soll und die Problematik auf die Ebene des § 228 StGB verschoben wird, verdankt ihre Existenz dem Umstand, 14
Dazu Hirsch, in: LK (Anm. 13), § 227 Rn. 14. Zur Verselbständigung der Gesundheitsschädigung gegenüber dem sie umfassenden Gesetzesbegriff der Körperverletzung ist kein sachlicher Anlass erkennbar. 16 Weil medizinische Behandlungen regelmäßig einen Eingriff in die körperliche Sphäre erforderlich machen. Zwar spricht auch Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG von „körperlicher Unversehrtheit“. Aber dabei darf in Bezug auf die Abgrenzung zum eigenmächtigen Heileingriff nicht unbeachtet bleiben, dass in Art. 2 Abs. 1 Satz 2 GG ebenfalls die Freiheit der Person für unverletzlich erklärt wird. Zum Rechtsgut des 17. Abschnitts des StGB und dessen herkömmlicher Überschrift „Körperverletzung“ näher Hirsch, in: LK (Anm. 13), Vor § 223 Rn. 1; Lilie, in: LK (Anm. 12), Vor § 223 Rn. 1, und F.-C. Schroeder, in: Festschrift für Hirsch, 1999, S. 725 ff. 17 Vgl. die Nachw. oben Anm. 12. 18 Vgl. Hirsch, in: LK (Anm. 13). 15
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dass de lege lata anderenfalls eine Strafbarkeitslücke besteht. – Schließlich bleibt hinsichtlich des 17. Abschnitts noch auf die mehr als abwegige Änderung der auf § 223 StGB folgenden Paragraphenzahlen durch das 6. StrRG hinzuweisen. Ganz abgesehen davon, dass bei einer wirklichen, umfassenden Reform des Allgemeinen Teils die Körperverletzungsdelikte ebenso wie die Tötungsdelikte an die Spitze der Strafbestimmungen gehören würden, hat man nicht bedacht, welche Folgen diese sinnlose Umnumerierung für ein missverständnisfreies Arbeiten mit vorher erschienenen Urteilssammlungen, Kommentaren und Lehrbüchern hat. Die Änderungen sind nichts weiter als ein unsinniges Beschäftigungsprogramm für Verfasser von laufend erscheinenden Kommentaren und Lehrbüchern. bb) Als unzutreffend wird im Schrifttum mit Recht die für § 232 n. F. StGB gewählte Überschrift „Menschenhandel zum Zweck der persönlichen Ausbeutung“ kritisiert, denn die Vorschrift bedroht Handlungen mit Strafe, die dem Begriff eines „Handelns mit Menschen“ gar nicht unterfallen.19 cc) Bei einer Reform des § 240 StGB hätte es eigentlich um den Absatz 2 mit dessen allgemeiner Verwerflichkeitsklausel gehen müssen. Dieses dringende Reformproblem ist jedoch übergangen worden.20 Stattdessen hat sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, strafschärfend in einem Absatz 4 besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen einzuführen: Er hat hier u. a. der durch das EGStGB 1974 verwirrenderweise vorgenommenen unterschiedlichen Einordnung der Amtsdelikte eine weitere Variante hinzugefügt. Damals wurden die meisten „unechten“ Amtsdelikte aus dem 29. Abschnitt „Straftaten im Amt“ herausgenommen und als qualifizierte Tatbestände im Anschluss an die Grundtatbestände geregelt (oder ganz gestrichen), im Widerspruch dazu aber der Tatbestand der Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) an der alten Stelle belassen.21 Nun taucht als § 240 Abs. 4 Nr. 3 StGB die von einem Amtsträger begangene Nötigung als besonders schwerer Fall bei der allgemeinen Nötigungsvorschrift auf. Von einer klaren Linie der Gesetzgebung kann hier nicht mehr die Rede sein. dd) Völlig misslungen ist die im 6. StrRG vorgenommene Änderung des § 246 StGB, wonach es für eine Unterschlagung genügen soll, dass jemand eine fremde bewegliche Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zueignet. Zwar war die
19 Fischer (Anm. 9), § 232 Rn. 2 m.w. N. Kritik schon am 26. StÄG (Menschenhandel) von 1992 bei F.-C. Schroeder, JZ 1995, 231. 20 Siehe dazu auch noch unten II Ziff. 3. 21 An § 340 StGB mit seinem rechtsstaatlichen Gewicht wird besonders deutlich, dass alle Amtsdelikte wie früher in den ihnen vom Gesetz vorbehaltenen 29. Abschnitt gehören. Die Tendenz zur Herausnahme sog. „unechter“ Amtsdelikte verkennt – möglicherweise irregeführt durch die bisherige dogmatische Bezeichnung „unecht“ –, dass es sich bei ihnen um die gravierendsten, hinsichtlich ihrer tatsächlichen Echtheit nicht zu leugnenden Amtsübergriffe handelt. Zur gesetzlichen Einordnung des § 340 StGB vgl. auch Hirsch, in: LK (Anm. 13), § 340 Rn. 1, 7, und Lilie, in: LK (Anm. 12), § 340 Rn. 1.
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alte Wortfassung, die verlangte, dass der Täter die Sache in Gewahrsam hatte, zu eng: Ließ sich bei der Zueignung einer gefundenen fremden Sache noch mit einem zeitlichen Zusammenfallen von Gewahrsamserlangung und Zueignung argumentieren (sog. kleine berichtigende Auslegung), scheiterte § 246 a. F. StGB, wenn jemand die fremde Sache verliehen oder verpfändet hatte und dann weiterveräußerte.22 Indem die Neufassung sich darauf beschränkt, auf das bisherige Gewahrsamserfordernis zu verzichten, erfasst sie aber nun in Verbindung mit der Möglichkeit der Drittzueignung Fälle, in denen der Täter zu keinem Zeitpunkt eine Nähebeziehung zu der Sache hat. Beispielsweise würde in dem Fall, dass jemand seiner Freundin telefonisch den Porsche eines entfernten Dritten „schenkt“, der Drittzueignungswille manifestiert und mithin nach dem Gesetzeswortlaut Unterschlagung vorliegen, obwohl nicht einmal eine konkrete Gefährdung der Eigentümerposition des Dritten eingetreten ist. Der Gesetzgeber hat übersehen, dass der Begriff der Unterschlagung eine wenn nicht notwendig unmittelbare, so doch wenigstens mittelbare Sachherrschaftsbeziehung (hier mittelbarer Besitz) verlangt.23 Der Tatbestand der Unterschlagung taugt daher auch nicht als Grundtatbestand gegenüber dem Diebstahlstatbestand. Nicht durchdacht sind ebenfalls die Änderungen der §§ 244 und 250 StGB. Den Gesetzgeber leitete hier der Gedanke, dass sich nicht zwischen Schusswaffen und tatgeeigneten anderen Werkzeugen abstufen lasse. Er meinte deshalb, den im Tatbestand der Gefährlichen Körperverletzung (§ 224 n. F. StGB) genannten Begriff des gefährlichen Werkzeugs übernehmen zu können. Dabei hat er jedoch den Unterschied übersehen, der darin besteht, dass es in § 224 StGB um den Einsatz eines solchen Tatmittels geht, während in §§ 244 und 250 n. F. StGB allein das Beisichführen in Rede steht. Birgt das Beisichführen einer Schusswaffe immer ein Risikopotential (weshalb es auch ein Waffengesetz gibt), lässt sich das bei sehr vielen Objekten, die in § 224 StGB dem Begriff des gefährlichen Werkzeugs zugeordnet werden (so gewöhnliche Handwerkerausrüstung und auch Gürtel und spitze Schuhe) nicht schon ihrer Natur nach sagen24. Ein Installateur, der im Baumarkt in seiner mit Schraubenziehern und Bohrern gefüllten Arbeitstasche einige Installationsmaterialien mitgehen lässt, hat kein der unter Beisichführen einer Schusswaffe begangenen Tat vergleichbares Delikt begangen. Es zeigt sich vielmehr, dass das Werkzeug nur dann einer Schusswaffe gleichzusetzen ist, wenn der Täter ihm eine entsprechende deliktische Funktion gegeben hat.25 Vgl. Welzel, Strafrecht11, 1969, S. 345. Zur Auslegung durch die ebenfalls auf eine Nähebeziehung abstellende h. L. siehe Küper, Bes. Teil7, 2008, S. 487; Lackner/Kühl, StGB26, § 246 Rn. 4, 8 m.w. N. Nicht ohne Grund werden im Schrifttum wegen des zu weiten Wortlauts Bedenken bzgl. der Verfassungsmäßigkeit erhoben. 24 Vgl. die Aufzählung der in § 224 StGB unter die gefährlichen Werkzeuge subsumierten Fälle bei Lilie, in: LK (Anm. 12), § 224 Rn. 20 ff. 22 23
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ee) Fast schon als katastrophal einzustufen ist die im 6. StrRG erfolgte „Reform der Brandstiftungsdelikte“ (§§ 306 ff. StGB).26 Bekanntlich waren in dem bis dahin geltenden § 308 a. F. StGB zwei verschiedene, nur durch das gemeinsame Handlungsmerkmal „In Brand setzt“ zusammengehörige Delikte geregelt, nämlich das Inbrandsetzen fremden Eigentums einerseits und die durch Brandstiftung hervorgerufene Gemeingefahr. In § 306 a. F. (Schwere Brandstiftung) und § 307 a. F. (Besonders schwere Brandstiftung) ging es um Gefährlichkeit in Bezug auf Leib und Leben anderer. Diese Einteilung war sehr überaltert und daher besonders reformbedürftig. Das 6. StrRG setzte nun unter Außerachtlassung der Abschnittsüberschrift „Gemeingefährliche Straftaten“ einen mit „Brandstiftung“ überschriebenen Tatbestand der einfachen Tatbegehung an die Spitze, dessen Inhalt ausschließlich das Inbrandsetzen fremden Eigentums betrifft. Da diese Vorschrift ein reines Eigentumsdelikt beschreibt und deshalb der Sache nach eigentlich bei den Sachbeschädigungsdelikten einzuordnen wäre, taugt sie nicht als Grundtatbestand der Brandstiftungsdelikte. Das um so weniger, als schon sprachlich mit dem Begriff der Brandstiftung die Gemeingefährlichkeit verbunden ist. Die in § 306a n. F. StGB geregelte Schwere Brandstiftung bildet daher abweichend von der sonstigen Gesetzessystematik des StGB keinen qualifizierten Tatbestand, sondern ein eigenständiges, ggf. in Idealkonkurrenz stehendes Delikt. Neben diese grundsätzliche Kritik tritt die an einzelnen Neuregelungen der Brandstiftungsdelikte. So lässt § 306a Abs. 2 n. F. StGB für das Vorliegen einer Schweren Brandstiftung genügen, dass die Tat jemand in die Gefahr einer bloßen Gesundheitsschädigung bringt. Angesichts der Weite des Begriffs der Gesundheitsschädigung, der schon das sich bei Rettungsmaßnahmen leicht einstellende vorübergehende Hervorrufen einer vom Normalzustand nachteilig abweichenden körperlichen Befindens deckt,27 ist dieses Qualifikationsmerkmal offensichtlich unrichtig gewählt. An anderen Stellen des 6. StrRG wird stets eine schwere Gesundheitsschädigung verlangt.28 Zu monieren sind außerdem die Wertungswidersprüche bei der Neuregelung des Tatbestands der „Fahrlässigen Brandstiftung“. In § 306d Abs. 2 n. F. StGB wird strafschärfend erfasst, dass fahrlässig die in § 306a n. F. StGB genannte Gefahr der Gesundheitsschädigung verursacht ist, die Gefahr des Todes bleibt dage-
25 Zu weit daher das Abstellen auf objektive Eignung in BGHSt 45, 103, 105; BGH StV 1999, 91 f., zu eng die von einer Schrifttumsmeinung vertretene Ansicht, dass konkrete Verwendungsabsicht zu fordern sei. Zum Meinungsstand siehe Lackner/Kühl (Anm. 23), § 244 Rn. 3. 26 Zur einmütigen Kritik daran siehe Geppert, Jura 1998, 597; F.-C. Schroeder, GA 1998, 571; Radtke, ZStW 110 (1998), 849; Wolters, JR 1998, 271; Heine, in: Schönke/ Schröder (Anm. 1), Vor §§ 306 ff. Rn. 20 m.w. N. 27 Vgl. zum Begriff der Gesundheitsschädigung Lilie, in: LK (Anm. 12), §§ 223 Rn. 12 ff. 28 Siehe oben bei Anm. 15.
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gen unerwähnt. Widersprüchlich ist es auch, wenn gemäß § 306d Abs. 1 i.V. m. § 306 Abs. 1 n. F. StGB derjenige, der fremde Sachen fahrlässig in Brand setzt, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bedroht wird, dagegen jemand, der zusätzlich noch eine fahrlässige Gesundheitsgefährdung verursacht, sich nach § 306d Abs. 2 i.V. m. § 306a Abs. 2 n. F. StGB einem auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe lautenden Strafrahmen gegenübersieht. Beim Tatbestand der Herbeiführung einer Brandgefahr (§ 306f n. F. StGB) fehlt eine Vorschrift über die tätige Reue, was zu dem Wertungswiderspruch führt, dass bei demjenigen, der ein Waldstück anzündet und das Feuer vor Entstehung eines erheblichen Schadens löscht, die Strafe gemildert oder von Strafe abgesehen werden kann (§ 306e Abs. 1 n. F. StGB), aber derjenige, der in der trockenen Jahreszeit einen Zigarettenstummel auf den Waldboden wirft und ihn sofort austritt, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe zu bestrafen ist (§ 306f Abs. 1 n. F. StGB).29 Ferner sind durch die Erweiterung des Katalogs der in §§ 306 und 306a n. F. StGB aufgezählten Tatobjekte mehrere die Strafwürdigkeit betreffende Ungereimtheiten entstanden, z. B. durch die uneingeschränkte Verwendung des Begriffs „ernährungswirtschaftliche Erzeugnisse“.30 Schließlich trägt es nicht zu einem abgestimmten Gesamtbild des StGB bei, wenn das 6. StrRG in Bezug auf das Tatopfer die eigentlich wenig Anstoß erregende Bezeichnung „anderer“ lediglich in den von ihm „reformierten“ Strafbestimmungen durch eine geschlechtsneutrale Terminologie ersetzt, während in den sonstigen Tatbeständen des StGB die herkömmliche Wortwahl bestehengeblieben ist.31 Auch fragt man sich, warum an einigen Stellen für das Opfer nun die Bezeichnung „Mensch“, in anderen dagegen „Person“ verwendet wird. Dass Objekt einer Tötung, Körperverletzung oder Freiheitsberaubung nur eine natürliche Person sein kann, sollte eigentlich jedermann klar sein. c) Auch nach dem Debakel des 6. StrRG hat sich die Kette der Gesetzgebungsfehler fortgesetzt. Friedrich-Christian Schroeder hat bereits auf gesetzestechnische Mängel des 37. StÄG von 2005 hingewiesen.32 So heißt es in dem dort eingefügten § 232 29 Im Schrifttum behilft man sich zu Gunsten des Täters mit analoger Anwendung von § 314a Abs. 2 StGB, vgl. F.-C. Schroeder, GA 1998, 571, 576. 30 Zu diesen Ungereimtheiten siehe Radtke, ZStW 110 (1998), 848, 850 ff.; Sinn, Jura 2001, 803, 806; m.w. N. 31 Ersetzt ist sie in §§ 221, 223 ff., 232, 249 (Person oder andere Person) und §§ 221, 239, 239a, 239b, 240 (Mensch oder anderer Mensch). In § 240 StGB und seit dem 40. StÄG von 2007 auch § 238 StGB ist sowohl von Mensch als auch von Person die Rede. Tatbestände mit verbliebener herkömmlicher Wortwahl sind z. B. der auf den geänderten § 241 StGB folgende § 241a StGB und §§ 186, 187, 242, 249 StGB. 32 F.-C. Schroeder, GA 2005, 307; auch noch zu weiteren Fehlern in der neueren Gesetzgebung GA 2009, 213.
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Abs. 4 StGB: „Nach Absatz 3 wird auch bestraft, wer . . .“. Schroeder spricht von einer „absurden Formulierung“ und weist auf die Konsequenzen hin, die sich für die Tenorierung des Urteils ergeben: Der Täter hat den § 232 Abs. 4 erfüllt und muss „nach“ ihm und nur „wie nach Absatz 3“ bestraft werden. Er bezeichnet die Vorschrift für um so abwegiger, weil Absatz 3 Qualifikationen des Absatzes 1 enthält, während der neue Absatz 4 zwei eigenständige Tatbestände betrifft und daher eine völlig andere Rechtsnatur hat. Auch spart das 2007 in Kraft getretene Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen (40. StÄG) nicht an gesetzestechnischen Defiziten. Neben mehreren unbestimmten Rechtsbegriffen und – unter Verkennung der Rechtsnatur der erfolgsqualifizierten Delikte – einem erfolgsqualifizierten Versuch33 beschert es einen Auffangtatbestand § 238 Abs. 1 Nr. 5 n. F. StGB. Nach dieser Vorschrift soll zu bestrafen sein, wer eine der in Nrn. 1–4 des Absatzes 1 „andere vergleichbare Handlung“ vornimmt. Damit wird, wie Nikolaos Gazeas34 treffend betont, seit der während der NS-Zeit im Jahre 1935 stattgefundenen Änderung des § 315 a. F. StGB und deren 1952 in § 315b StGB erfolgten Beibehaltung, bei denen von einem „ebenso gefährliche Eingriff“ (in den Verkehr) die Rede ist,35 erstmalig wieder eine „Öffnungsklausel“ ins StGB aufgenommen. Mit einem solchen Auffangtatbestand will man, wie der Begründung durch den Rechtsausschuss des Bundestags zu entnehmen ist, Strafbarkeitslücken vermeiden. Es heißt dort,36 dass die Öffnungsklausel „der typischen Vielgestaltigkeit“ des Stalking-Phänomens sowie „künftigen technischen Entwicklungen“ Rechnung trage und insbesondere eine Reaktion auf neu auftretende Verhaltensweisen ermögliche. Diese Analogieermächtigung wird von Frank Neubacher mit Recht als „Offenbarungseid“ des Gesetzgebers bezeichnet, da dieser seine verfassungsrechtlich „ureigenste Aufgabe“ der Formulierung umgrenzter Strafbarkeit nicht erfüllt, sondern sie auf Rechtsprechung und Schrifttum verlagert.37 d) Die vorstehende Liste von Gesetzesmängeln erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, dürfte aber ein ausreichendes Bild vom derzeitigen desolaten Zustand des StGB vermitteln.
33 Zu den verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffen siehe die Hinweise bei N. Gazeas, JR 2007, 497. Zur Sachwidrigkeit einer Erfolgsqualifizierung beim Versuch siehe Hirsch, in: LK (Anm. 13), § 226 Rn. 32, § 227 Rn. 9 m.w. N.; siehe aber auch die abw. Sicht bei Stree, in: Schönke/Schröder (Anm. 1); Paeffgen, in: NK (Anm. 8), § 226 Rn. 3; Fischer (Anm. 9), § 226 Rn. 18 m.w. N. Jedenfalls war das noch nicht ausdiskutiert. 34 N. Gazeas, JR 2007, 497. 35 Wobei immerhin dort seit der Änderung durch das 1. StrRG von 1952 in § 315a StGB das Wort „gefährlich“ für eine gewisse tatbestandliche Begrenzung sorgt. 36 Vgl. BT-Drs. 16/1641, S. 14. 37 Vgl. Neubacher, ZStW 118 (2006), 855, 869.
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3. Es geht in diesem Beitrag, wie bereits betont, ausschließlich um die gesetzliche Beseitigung von technischen Gesetzgebungsfehlern. Notwendige sachliche Reformen bilden ein anderes Thema. Dass es zahlreiche Stellen mit inhaltlichem Reformbedarf gibt, wird nicht verkannt. Aber Fehlerkorrekturen und Reformen sind nicht dasselbe. Letztere bedürfen sehr eingehender Vorüberlegungen und müssen daher hier der weiteren fachlichen Diskussion überlassen bleiben. Das gilt auch für die Tötungsdelikte. Die aus dem Jahre 1941 stammende täterstrafrechtlichen Formulierungen „Mörder ist“ und „ohne Mörder zu sein“ könnten an sich ohne sprachliche Schwierigkeiten durch eine tatstrafrechtliche Wortwahl, die der in anderen Strafbestimmungen entspricht, ersetzt werden. Da auch einige Tatbestandsmerkmale des § 211 StGB gesinnungsstrafrechtliche Elemente enthalten und damit täterstrafrechtlichen Charakter haben (etwa niedrige Beweggründe), diese sich aber nicht lediglich berichtigen lassen, wird man die notwendigen Änderungen insgesamt einer Gesamtreform dieser Delikte vorbehalten. Für sie gibt es leider noch keinen wirklich überzeugenden Lösungsvorschlag.38 Auch die im StGB bei der Reform von 1975 unterbliebene Regelung des Erlaubnissachverhaltsirrtums würde nicht zu den in ein Berichtigungsgesetz gehörenden Punkten gehören. Der Streit um die Frage, wie ein solcher Irrtum dogmatisch einzuordnen ist und welche Lösung die sachlich zufriedenstellendste ist, der nun schon Jahrzehnte anhält, wäre vom Gesetzgeber nur in einem (inhaltlichen) Reformgesetz beizulegen.39 Der Verfasser würde es nach seinen Vorarbeiten zwar begrüßen, wenn der Gesetzgeber sich bald dazu entschließen könnte, den als positivrechtliche Stütze der subjektiven Versuchstheorie angesehenen § 23 Abs. 3 StGB zu streichen und in § 22 StGB die Versuchsdefinition unter Einbeziehung des Gefährlichkeitsgesichtspunkt zu präzisieren.40 Aber auch dabei ginge es für den Gesetzgeber um mehr als bloße Fehlerberichtigungen, nämlich um eine inhaltliche Änderung. 38 Die Reformvorschläge von Eser und Lackner auf dem Berliner DJT 1980 bis hin zum 2008 erschienenen AE-Leben ersetzen zwar das vom Gesinnungsstrafrecht der NSZeit beeinflusste Verwerflichkeitskonzept durch ein Gefährlichkeitskonzept. Bei genauerem Hinsehen geht es dabei aber vor allem um die Gefährlichkeit des Täters, so dass man sich weiterhin im Dunstkreis des Täterstrafrechts bewegt und von einer einheitlichen tatstrafrechtlichen Lösung noch nicht gesprochen werden kann. Beim 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009 wies der Vertreter des Bundesministeriums der Justiz darauf hin, dass derzeit nur eine kleine Reform beabsichtig ist, namentlich bzgl. der Eingrenzung des Merkmals „heimtückisch“. Man muss auch berechtigte Zweifel haben, ob sich heute eine überzeugende Reform der Tötungsdelikte erreichen ließe. Es wäre vielmehr zu erwarten, dass die Beratungen wegen der Euthanasieproblematik und der lebenslangen Freiheitsstrafe stark unter politischen Einfluss geraten und die primären Sachfragen, zu denen eine Neustrukturierung der Abstufung von Mord und Totschlag gehört, in den Hintergrund gedrängt werden mit den entsprechenden qualitativen Folgen. 39 Zur Aufnahme einer gesetzlichen Regelung, die befriedigende Ergebnisse ermöglicht, siehe Hirsch, in: Festschrift für F.-C. Schroeder, 2006, S. 223, 239. An herkömmlichen Bahnen festhaltend jedoch Schünemann/Greco, GA 2006, 777.
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Noch ein Wort zu den aus der NS-Zeit stammenden Verwerflichkeitsklauseln in § 240 Abs. 2 und § 253 Abs. 2 StGB. Sie sind wegen ihrer Unbestimmtheit Fremdkörper im StGB und werden vielfach als verfassungswidrig angesehen.41 Die negativen Auswirkungen dieser auf Lückenlosigkeit der Strafbarkeit zielenden Regelungen sind besonders deutlich geworden bei § 240 Abs. 2 StGB in den Sitzblockade-Fällen, bei denen es den Amtsrichtern überlassen blieb, in diesen politisch heiklen Sachverhalten über die Grenzen strafbarer Nötigung zu entscheiden.42 Den Umfang der Nötigungsstrafbestimmung (ebenso der Erpressung) im Gesetz zu präzisieren, wäre seit langem eine Aufgabe des Reformgesetzgebers gewesen. Eine solche Reform der Reform gehört indes wie schon die zuvor genannten Bereiche vom Thema her nicht in die hier angemahnte handwerkliche StGB-Berichtigung, sondern wäre Aufgabe der noch ausstehenden Reformgesetzgebung.43 In jüngster Zeit ist der Treubruchstatbestand des § 266 StGB stark ins Blickfeld getreten. Hatte er früher nur periphäre Bedeutung, gehört seine Anwendung heute zum Tagesgeschäft der Praxis.44 Dass die 1933 erfolgte Neufassung des § 266 StGB „mißglückt“ ist, weiß man seit langem.45 Die Konturierung der Treubuchsalternative gehört wohl zu den dringlichsten Aufgaben, vor denen heute der Strafgesetzgeber steht. Auch hier geht es jedoch nicht um die handwerkliche gesetzestechnische Berichtigung, sondern um inhaltliche Präzisierung. Eine inhaltliche Reform, die auf der Grenze zur gesetzestechnischen Gestaltung liegt, bildete die durch das 2. StrRG dem StGB implantierte (§ 12 Abs. 3 StGB) Kategorie Besonders schwerer Fälle. Sie verstößt gegen den Bestimmtheitsgrundsatz einschließlich des Analogieverbots, zumal sich die Handhabung in der Praxis inzwischen der von qualifizierten Tatbeständen angenähert hat (so durch die Erwähnung im Urteilstenor). Vergeblich sucht man nach sachlichen Kriterien, wann der Gesetzgeber eine Strafschärfung als qualifizierten Tatbestand und wann als besonders schweren Fall regelt. Die vom Lückenlosigkeitswahn geleitete (von der „fragmentarischen Natur“ des Strafrechts ist kaum noch die Rede) und die Aufgabe der tatbestandlichen Typisierung umgehende Einführung dieser Kategorie hat bezeichnender Weise in neueren ausländischen Kodifikationen keine Nachahmung gefunden. Aus dem deutschen StGB, in dem sie wie ein 40 Zur Kritik der subjektiven Versuchstheorie vgl. Hirsch, in: Festschrift für Roxin, 2001, S. 711; ders., in: Gedächtnisschrift für Vogler, 2004, S. 31 ff.; ders., JZ 2007, 494. 41 Dazu näher Hirsch, in: LK11, 1994, Vor § 32 Rn. 19 f. m.w. N. 42 Vgl. Hirsch in: Festschrift für Tröndle, 1989, S. 19, 24. 43 Dies beträfe auch den die Minimalansprüche des Strafrechts kaum erfüllenden Tatbestand des § 17 Nr. 1 TierschutzG, der ohne Einschränkung die Strafbarkeit der Tötung von Wirbeltieren „ohne vernünftigen Grund“ vorsieht. 44 Vgl. Seier, in: Bernsmann u. a. (Hrsg.), Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen, 2003, S. 145 ff. 45 Vgl. etwa Welzel, Strafrecht (Anm. 22); S. 384 („missglückte Neufassung“).
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Pilz wuchert,46 wird sie sich wohl erst bei einer noch in ferner Zukunft liegenden erneuten Reform des Allgemeinen Teils wieder beseitigen lassen. III. Man fragt sich, woran es liegt, dass dem Gesetzgeber immer häufiger handwerkliche Fehler unterlaufen. Fehler können an sich bei jedem Projekt entstehen. Die Häufigkeit ist aber bedenklich. Eine Ursache bildet wohl die punktuelle Vorgehensweise bei der Reform des Besonderen Teils und die damit verbundene einseitige Sicht auf das jeweilige Reformgebiet. Denjenigen, die konzentriert sind auf Reformprobleme eines Teilgebiets, gerät leicht das StGB in seiner Gesamtheit aus dem Blick, so dass sich dann fehlerhafte Abstimmungen von Formulierungen, Begriffen und Strafrahmen einstellen.47 Hinzu kommt, dass durch die Orientierung an Teilgebieten der unmittelbare Einfluss der Politik begünstigt worden ist. Man denke nur an die Reformen des Demonstrations-, Umwelt-, Abtreibungs- und Sexualstrafrechts. So verhält es sich bis in die Gegenwart. Der Beratungseinfluss der Ministerialbürokratie ist offenbar stark durch fachlich weniger ausgewiesene Meinungen von Parlamentariern verdrängt worden. Erinnert man sich an die parlamentarischen Beratungen des 2. StrRG, so verhielt es sich noch anders. Hochkarätige Experten wie die Ministerialbeamten Schafheutle, Dreher, Lackner und Horstkotte sorgten dafür, dass zumeist alles stimmig war.48 Auch wurde die Vorbereitung der Reformen bis zum 2. StrRG im starken Maße durch Kontakt mit der Wissenschaft flankiert. Nicht nur, dass der den amtlichen StGB-Entwurf 1962 vorbereitenden Großen Strafrechtskommission namhafte Theoretiker angehörten, auch war der das Rechtsfolgensystem des 2. StRG stark beeinflussende AE-Allgemeiner Teil ein Werk von Strafrechtsprofessoren. Der damalige Kontakt wurde dadurch verstärkt, dass die führenden Fachleute des Bundesministeriums der Justiz regelmäßig zu den Strafrechtslehrertagungen 46 Nach dem VE 6. StrRG sollten sogar die unterhalb der Schwelle von Todeserfolgsqualifikationen bleibenden bisherigen Qualifizierungen künftig weithin durch Besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen ersetzt und darüber hinaus zahlreiche neue Strafschärfungen dieser Art vorgesehen werden. Siehe dazu Hirsch, in: Festschrift für Gössel, 2002, S. 287 f. und Kreß, NJW 1998, 633, 636. Zu der inzwischen durch das Nebeneinander von qualifizierten Tatbeständen und Regelbeispielen Besonders schwerer Fälle entstandenen Konfusion siehe auch noch die folgende Anm. 47. 47 Auch hinsichtlich Verweisungen, wenn an Besonders schwere Fälle anderer Vorschriften angeknüpft wird und man, wie bei der Änderung des Nebenfolgen im Amt regelnden § 358 StGB durch das KorruptionsbekämpfungsG von 1997, damit übersieht, dass es sich bei ihnen nicht um Tatbestände, sondern um bloße Strafzumessungsvorschriften handelt. Dazu Zieschang, in: LK12, 2009, § 358 Rn. 6. 48 Schafheutle war Abteilungsleiter, Dreher Unterabteilungsleiter, Lackner Referatsleiter (später Universitätsprofessor), Horstkotte ebenfalls Referatsleiter (später Richter am BGH).
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erschienen und sich intensiv an der Diskussion beteiligten. Schon bei der Auswahl der Themen der Tagungsreferate wurde zwischen dem Vorstand der Strafrechtslehrertagungen und Vertretern der Strafrechtsabteilung des Ministeriums Fühlung aufgenommen.49 Auch zu den parlamentarischen Anhörungen wurden regelmäßig einige Theoretiker als Sachverständige geladen, wobei hier allerdings weniger die gesetzestechnische als die kriminalpolitische Seite im Vordergrund stand. Bei den nach der Verabschiedung des 2. StrRG einsetzenden Teilreformen des Besonderen Teils trat dann die durch Wissenschaftler erfolgende Beratung zunehmend zurück. Im Bundesministerium der Justiz spielte hierbei wohl eine Rolle, dass man den Einflussnahmen von Theoretikern – zumal angesichts deren damals leider nicht seltenen politischen „Schlagseite“ – überdrüssig geworden war und sich die fachliche Aufgabenbewältigung besser selbst zutraute. In der Tat ist die Wissenschaft damals von einigen ihrer Akteure in ihrem guten Ruf geschädigt worden. Bei den parlamentarischen Anhörungen erfolgte die Auswahl je nach parteipolitischer Ausrichtung nach dem Motto: „Deine und meine Sachverständigen“. Es ist verständlich, dass die Ministerialbürokratie diese Art von Bevormundungen leid war und die Vorbereitung der Gesetzentwürfe und die parlamentarische Fachberatung lieber ganz selbst in die Hand nahm. Dabei geriet dann jedoch nach und nach in Vergessenheit, dass man über eigene Fachleute (vor allem mit Erfahrungswissen) nicht mehr in dem Maße verfügte, wie das noch bei der Vorbereitung des 2. StrRG der Fall gewesen ist. In der anhaltenden unzureichenden Beteiligung von Vertretern der Strafrechtswissenschaft sieht Friedrich-Christian Schroeder mit Recht eine der Hauptursachen des gesetzestechnischen Niedergangs der deutschen Strafgesetzgebung.50 Hinzu kommt, dass Strafgesetzänderungen in völliger Verkennung des Ultima-ratio-Prinzips in jüngster Zeit wie am Fließband produziert werden, was eine Überlastung der personellen Ressourcen des Ministeriums mit sich bringt. So sind allein im Zeitraum von Anfang 1999 bis Ende 2009 nicht weniger als 53(!) Änderungen des Strafgesetzbuchs erfolgt.51 Diese negative Entwicklung hat sich am deutlichsten im 6. StrRG ausgewirkt. Der damalige Bundesjustizminister der Justiz wollte seine kurze Amtszeit mit einem Gesetz krönen, das die 1975 steckengebliebene Gesamtreform des Besondern Teils durch Inangriffnahme von Reformen in Zentralbereichen, nämlich bei den Delikten gegen die Person, Eigentumsdelikten und Brandstiftungsdelikten, dem Abschluss näher brachte. Der Entwurf wurde, wie bei Gesetzesentwürfen üblich, an die im Verteiler erfassten Lobbyisten (Anwaltsverein, Richterbund 49 Das bedeutete nicht, dass die Wissenschaft ins Schlepptau des Ministeriums geriet, war aber von beiderseitigem Vorteil. 50 F.-C. Schroeder, GA 1998, 571, 576; schon Hirsch, in: Gedenkschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 133, 158; auch Radtke, ZStW 110 (1998), 848 ff. sowie das Generalthema der Strafrechtslehrertagung in Halle 1998. 51 Vgl. die Übersicht bei Fischer (Anm. 9), S. XLIX ff.
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etc.) verschickt. Eine (geringe) Einflussnahme von Strafrechtstheoretikern erfolgte erst, nachdem bei der vorhergehenden Strafrechtslehrertagung nach Jahren ausbleibenden Interesses des Vorstands wenigstens die Einrichtung einer Kontaktstelle in Marburg beschlossen und deren Aufnahme in den Verteiler vom Ministerium akzeptiert worden war. Den von dort übermittelten Stellungnahmen von Wissenschaftlern ist es vielleicht mit zu verdanken, dass wenigstens die Realisierung der ursprünglichen Planung, alle qualifizierten Vergehenstatbestände durch besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen zu ersetzen, verhindert und damit eine totale Verunstaltung des deutschen Strafrechts verhindert werden konnte.52 Im übrigen spiegelt sich die Eile und das bürokratische Selbstbewusstsein, mit denen das 6. StrRG zusammengeklopft worden ist, auch darin wider, dass der Verfasser dieses Aufsatzes, obgleich zu jener Zeit wohl derjenige, der sich am intensivsten mit den Körperverletzungsdelikten und ihren Reformproblemen befasst hatte,53 damals nie konsultiert worden ist. Das gesetzgeberische Produkt, d.h. das 6. StrRG, wird wohl in die deutsche Strafrechtsgeschichte als besonders miserabel eingehen. Der damals zuständige Justizminister wird vermutlich nicht einmal als Miniatur-Justinian Erwähnung finden. Wenig tröstlich ist es, dass auch in anderen Gebieten der Rechtsordnung der angemessene Umgang mit einer Kodifikation nicht mehr gewährleistet zu sein scheint. Klagen über mangelnde Qualität neuerer Gesetzgebung vernimmt man ebenfalls aus dem Bereich des Bürgerlichen Rechts.54 Es handelt sich offenbar um ein allgemeines Phänomen, wobei aber darauf hinzuweisen ist, dass es sich im Strafrecht wegen dessen überwiegend auch verfassungsrechtlich garantierter strengen Grundprinzipien (insbesondere dem Bestimmtheitsgrundsatz) am fatalsten auswirkt. Der gesetzgeberische Respekt vor der Dignität herausragender Gesetzeswerke scheint der Gesetzgebung also allgemein verloren gegangen zu sein. An die Stelle von Sprache und Darstellungskraft früherer Gesetzgeber ist der Stil von Verordnungsverfassern getreten.55 IV. Warum sind die gesetzestechnischen Fehler trotz ihrer Evidenz bisher nicht durch den Gesetzgeber behoben worden? Man hätte eigentlich nach dem mängel52 Siehe außer der Stellungnahme des Marburger Arbeitskreises (vgl. Freund, ZStW 109 [1997], 455, 470 f.); auch die beim Marburger Strafrechtsgespräch 1997 erhobenen Einwände (vgl. den Bericht von Dietmeier, ZStW 110 [1998], 393, 408 ff. 53 Vgl. Hirsch, ZStW 83 [1971], 140; ders. (Anm. 12), § 223 Rn. 44, § 223a Rn. 28, § 223b Rn. 29, § 224 Rn. 35, § 226 Rn. 11, § 226a Rn. 52, § 227 Rn. 24, § 229 Rn. 33, § 230 Rn. 49. 54 Vgl. B. Kupisch, NJW 2002, 1401; G. Weick, JZ 2002, 442; R. Zimmermann, JZ 2001, 171. 55 Man betrachte nur die durch das OrgKG von 1992 als § 261 StGB eingefügte Strafbestimmung der Geldwäsche. Zu dieser näher Puppe, in: NK (Anm. 8), § 261; dies., JZ 1986, 992; dies., JZ 1991, 442, 550, 609.
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reichen 6. StrRG erwarten können, dass die damals alsbald aufgezeigten Fehler in einem „Reparatur“-Gesetz getilgt wurden. Stattdessen erschien im Bundesgesetzblatt eine unbedeutende kurze Berichtigung eines Schreibversehens, die sich also nicht auf juristischer Ebene, sondern der von Bürokräften bewegte.56 Aber der erwähnte notwendige Respekt vor dem Text großer, zentraler Kodifikationen ist wohl nicht mehr ausgeprägt genug, um solche Berichtigungen als selbstverständlich anzusehen. Die Verantwortlichen meinen offenbar, dass der BGH und die Wissenschaft die unterlaufenen Fehler schon ausbügeln werden. Es ist bequemer, sie der Auslegung durch Rechtsprechung und Lehre zu überlassen – zu Lasten der Gesetzesbestimmtheit und in Verkennung der durch das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip geforderten Aufgabenverteilung. Auch bleibt dabei oft unbeachtet, dass die Möglichkeiten der höchstrichterlichen Gesetzesauslegung eine Grenze finden, wenn der Text keinen Spielraum mehr bietet, vielmehr der BGH in die Rolle eines Ersatzgesetzgebers gedrängt wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Abwälzen der Aufgabe, präzise und stringente Gesetzestexte zu bilden, und stattdessen auf die Handhabung durch die BGH-Judikatur zu vertrauen, einem veränderten Rollenverständnis von Ministerialbürokratie sowie den mit der Verabschiedung von Gesetzen befassten Parlamentariern einerseits und der Richterschaft der oberen Bundesgerichte andererseits beruht.57 Vor allem aber fehlt das politische Interesse an derartigen nur als formal eingeschätzten Korrekturen.58 Unmittelbarer politischer Gewinn ist aus solchen Novellen ja nicht zu ziehen. Und dass später einmal registriert wird, dass zur Zeit des Wirkens dieser Rechtspolitiker das Strafgesetzbuch seinen kodifikatorischen Glanz verloren hat, wird die Verantwortlichen ungerührt lassen, da sich dann ohnehin niemand mehr für sie interessiert. Jedoch lässt das unberührt, dass 56 Siehe BGBl. I vom 3.4.1998, S. 102. Eine Berichtigung ist hier nur in Bezug auf das Inhaltsverzeichnis erfolgt. Es stimmt nachdenklich, dass man sich zwar bei diesen formalen Bürofehlern zu einer gesetzlichen Berichtigung genötigt sah, hinsichtlich der ernsten Gesetzgebungsfehler aber untätig geblieben ist. 57 Der auf Gewaltenteilung aufbauende Rechtsstaat nimmt bei uns zunehmend den Charakter eines Justizstaats an. Besonders übel ist es, wenn vom Bundestag Gesetze verabschiedet werden, deren Verfassungsmäßigkeit man sich nicht sicher ist, bei denen aber das Risiko der Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht in Kauf genommen wird. Es stärkt nicht das Ansehen des Gesetzgebers in der Bevölkerung, wenn das Bundesverfassungsgericht – wie zunehmend in jüngster Zeit – sich veranlasst sieht, gesetzliche Regelungen für verfassungswidrig und sogar ganze Gesetze für nichtig zu erklären. Was das StalkingG betrifft, ist immerhin darauf hinzuweisen, dass das Bundesministerium der Justiz hinsichtlich der Öffnungsklausel in § 238 Abs. 1 Nr. 5 n. F. StGB verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet hatte, diese aber im Rechtsausschuss des Bundestags unbeachtet geblieben sind. Der Niedergang der deutschen Strafgesetzgebung hat seine Ursachen daher auf mehreren Ebenen der Gesetzgebungsverfahren. Im Rechtsausschuss sind Fachkenner des Strafrechts und seiner Grundlagen offenbar unterrepräsentiert. 58 Auf den verstärkten Einfluss weltanschaulicher und tagespolitischer Interessen auf die Strafgesetzgebung hatte der Verf. schon in der Gedenkschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 158, 165 hingewiesen.
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die Gesellschaft und ihre Rechtsordnung es gebieten, die den Gesetzgebungsorganen übertragene Aufgabe sorgfältig und verantwortungsvoll auszuüben, und dazu gehört die Abfassung gesetzestechnisch einwandfreier Texte. Der Gesetzgeber vergibt sich nichts, wenn er für einen gesetzestechnisch korrekten Gesetzestext durch nachträgliche Berichtigungen sorgt. Er ist vielmehr hierzu verpflichtet.59 Die Ausführungen am Eingang dieses Aufsatzes zu Rang und Stellung eines StGB haben schon deutlich werden lassen, dass ein StGB-Berichtigungsgesetz überfällig ist. Da es sich um gesetzestechnische Fehler handelt und daher die meisten von ihnen ohne großen Arbeitsaufwand durch Sachkenner zu reparieren sind, sollte sich ein solches Reparaturgesetz alsbald vorbereiten und in Kraft setzen lassen. Da die Bezeichnung „Strafbereinigungsgesetz“ bereits vergeben und zudem historisch belastet ist, wäre wohl die Bezeichnung „StGB-Berichtigungsgesetz“ am zweckmäßigsten. Die Beantwortung der Frage schließlich, wie Abhilfe geschaffen werden kann, dass sich Gesetzgebungsfehler zunehmend ausbreiten – nicht allein bei der Strafgesetzgebung, sondern auch in anderen Bereichen – und sich damit der qualitative Niedergang der deutschen Gesetzgebung fortsetzt, muss wohl rechtsstaatskonformen organisationsrechtlichen Überlegungen von Verfassungsrechtlern überlassen bleiben.60 V. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Es ist an der Zeit, dass das StGB von gesetzestechnischen Fehlern gesäubert wird. Die Reparaturstellen des Textes vermehren sich fast mit jeder Novelle. Das Entwerfen eines solchen Berichtigungsgesetzes erfordert keine großen Vorbereitungen, da die handwerkliche Fehlerhaftigkeit der betreffenden Textstellen evident ist und der geistig-fachliche Reparaturaufwand sich in Grenzen hält. Ingeborg Puppe, der dieser Beitrag mit den besten Wünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, könnte der hier erhobenen Forderung wohl zustimmen. Ihre wissenschaftliche Arbeitsweise besticht durch das stete Bestreben nach Exaktheit von Definitionen und Begründungen. Schon in meiner Rezension ihrer im Jahre 1972 erschienenen Dissertation „Die Fälschung technischer Aufzeichnungen“ konnte ich dies hervorheben.61
59 Zur Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers siehe auch Hillenkamp, in: Festschrift für Eisenberg, 2009, S. 301. 60 Zu denken ist an ein in die Gesetzgebungsverfahren eingebautes Kontrollorgan, das die anstehenden Gesetze vor ihrer Verabschiedung auf gesetzestechnische Stimmigkeit hin prüft. Es hätte aus Experten der Hauptrechtsgebiete zu bestehen, die fachlich herausragend und politisch unabhängig sind. 61 Hirsch, ZStW 85 (1973), 721, 727.
„Regeln der Grammatik“, grammatische Auslegung und Wortlautgrenze Von Hans Kudlich I. Hinführung Spontan assoziiert man mit dem Namen Ingeborg Puppe zumeist wohl tiefschürfende Erörterungen zur allgemeinen Strafrechtsdogmatik. Insbesondere Kausalität und Zurechnungslehre (mit besonderer Betonung auch des Erfolgsbegriffs im Strafrecht1) sind von der Jubilarin nicht nur in zahlreichen Einzelbeiträgen, sondern u. a. auch in der Kommentierung „Vor § 13“ im Nomos-Kommentar sowie in einer vorrangig an Studenten gerichteten, gleichwohl aber für jeden Strafrechtler interessanten Monographie2 behandelt worden. Puppes Werk beschränkt sich aber nicht auf diese Fragen, sondern hat auch ausführliche und nicht minder scharfsinnige Auseinandersetzungen mit Fragen des Besonderen Teils (etwa in ihrer Kommentierung der Geldfälschungs- und Urkundsdelikte im Nomos-Kommentar) sowie auch der juristischen Methodenlehre (in jüngster Zeit nicht zuletzt in ihrer „Kleine Schule des juristischen Denkens“) zum Gegenstand. Die beiden Teilmaterien „Besonderer Teil des Strafrechts“ und „Juristische Methodenlehre“ werden hier bewusst in einem Atemzug genannt, sind doch traditionell die Tatbestandsmerkmale des Besonderen Teils in hervorgehobener Weise Gegenstand einer intensiven Auslegung mit Hilfe des juristischen Methodenkanons (sowie auch – mit der Auslegungsfrage aufs engste verknüpft3 – Prüfsteine für die Beachtung des nulla-poena-Grundsatzes aus Art. 103 II GG, § 1 StGB). Zwar ist eine Auslegung lege artis natürlich auch im Allgemeinen des Strafrechts außerordentlich bedeutsam, und auch dort beansprucht Art. 103 II GG nach zutreffender Ansicht durchaus Geltung;4 gleichwohl liegt auf der Hand, dass im Bereich der allgemeinen und vielfach ungeschriebenen ZurechnungsVgl. Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar zum StGB3-Puppe, 2010, Vor § 13 Rn. 62 ff. 2 Vgl. Puppe, Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, dann auch als erster Teil übernommen in: dies., Strafrecht. Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung – Band I, 2002. 3 Vgl. etwa (in verschiedenen Zusammenhängen) Krey, JZ 1978, 361, 363; Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S. 116 f. 4 Vgl. zur Problematik näher Jähnke, Zur Frage der Geltung des ,nullum-crimenSatzes‘ im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches, in: Geiß/Nehm/Brandner/Hagen 1
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strukturen etwa die Anforderungen an die Bestimmtheit einer gesetzlichen Regelung aufgrund der unübersehbaren Vielzahl der danach zu beurteilenden Fälle geringer ausfallen müssen und dass damit bei einer etwaigen Erweiterung des Zurechnungsmechanismus auch weniger leicht eine unerlaubte Rechtsanwendung praeter legem5 in malam partem angenommen werden kann. Dies erhellt leicht, wenn man sich etwa die ausgefeilte Dogmatik der mittelbaren Täterschaft6 samt den Sonderfällen des „Täters hinter dem Täter“7 vergegenwärtigt, welche als normative Anknüpfung im StGB im Grunde genommen nur das Wörtchen „durch“ i. S. d. § 25 I Alt. 2 StGB kennen. Oder anders gewendet: Während es im Allgemeinen Strafrecht stärker um die Bildung systematischer Kategorien geht, steht für die Merkmale des Besonderen Teils die Grenzziehung im Einzelfall im Mittelpunkt. Einer dieser zahlreichen „Einzelfallgrenzziehungen“ im Besonderen Teil, mit denen sich die Jubilarin insbesondere im Rahmen ihrer Kommentierungen zu beschäftigen hatte, soll der folgende Beitrag gewidmet sein. Dies nicht nur, weil sie bei dem betroffenen Problem (zumindest eine gewisse Zeit lang bis zu einer gegenläufigen Entscheidung des BGH) teilweise meinungsbildend gewirkt hat,8 sondern weil bei dieser Frage ein (wenngleich im konkreten Fall wahrscheinlich nur sehr eingeschränkt praktisch relevantes, so doch) sehr grundsätzliches Auslegungsproblem aufgeworfen wird, welches bis zu den Wurzeln von Analogieverbot und Wortlautgrenze zurückführt. II. Die Verwendung des Plurals in §§ 152a, 152b StGB als exemplarische Frage nach der Aussagekraft grammatikalischer Regeln für die Auslegung 1. Durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wurde im Jahre 1986 in § 152a StGB a. F. u. a. unter Strafe gestellt, „in der Absicht, dass inländische oder ausländische Euroschecks unter Verwendung falscher Vordrucke als echte in Verkehr gebracht werden oder dass ein solches Inverkehrbringen er(Hrsg.), BGH-FS [Praxis], 2000, S. 393 ff.; Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 260 ff. 5 Das Analogieverbot (Gebot der lex stricta) des Art. 103 II GG ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und überwiegender Ansicht nicht auf Analogien im technischen Sinn beschränkt, sondern erfasst jede Gesetzesanwendung über den Wortlaut hinaus zu Lasten des Angeklagten, vgl. nur BVerfGE 71, 108, 115; 92, 1, 12, 16; weitere Nachweise bei Laufhütte/Rissing van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB12-Dannecker, 2007 (Bd. 1), § 1 Rn. 245. 6 Vgl. ausführlich LK12-Schünemann (Fn. 5), § 25 Rn. 60 ff.; knapp v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), StGB-Kudlich, 2010, § 25 Rn. 19 ff. 7 Vgl. ausführlich LK12-Schünemann (Fn. 5), § 25 Rn. 89, 97 ff., 122 ff.; v. Heintschel-Heinegg-Kudlich (Fn. 6), § 25 Rn. 31 ff. 8 Vgl. näher die Nachweise unten Fußnoten 10 und 11.
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möglicht werde (. . .) falsche Vordrucke für Euroschecks“ herzustellen, sich oder einem anderen zu verschaffen, feil zu halten oder einem anderen zu überlassen. Nach einer Neufassung durch Art. 1 Nr. 18 des 6. Strafrechtsreformgesetzes und einer Verschiebung der Regelung in den heutigen § 152b samt Schaffung eines neuen § 152a durch das 35. Strafrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr 2003 wird nunmehr in § 152a StGB unter Strafe gestellt, „zur Täuschung im Rechtsverkehr oder, um eine solche Täuschung zu ermöglichen, (. . .) inländische oder ausländische Zahlungskarten, Schecks oder Wechsel“ nachzumachen oder zu verfälschen bzw. in § 152b StGB bei Strafe untersagt, eine der in § 152a I bezeichneten Handlungen in Bezug auf Zahlungskarten mit Garantiefunktion oder Euroscheckvordrucke“ zu begehen. Die Details der Regelungen sollen hier nicht interessieren. Entscheidend ist, dass von der ersten Fassung durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität an die entsprechenden Tatobjekte – sei es als „falsche Vordrucke für Euroschecks“, sei es als „inländische oder ausländische Zahlungskarten, Schecks oder Wechsel“ oder sei es als „Zahlungskarten mit Garantiefunktion oder Euroscheckvordrucke“ – durchweg im Plural bezeichnet wurden. Die Jubilarin hatte dies in ihrer Kommentierung zu § 152a in der (Loseblatt-)Erstausgabe des Nomos-Kommentars zum Anlass genommen, eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift nur anzunehmen, wenn mehrere falsche Euroscheckformulare oder Zahlungskarten hergestellt werden.9 Damit solle in erster Linie der professionelle Fälscher erfasst werden, der sich die erforderlichen Mittel verschaffe, um Fälschungen im großen Stil zu begehen. Sowohl Ruß in seiner Kommentierung im Leipziger Kommentar10 als auch Rudolphi im Systematischen Kommentar11 waren dem gefolgt; der 4. Strafsenat des BGH dagegen hat im Jahr 2000 mit der wohl überwiegenden Ansicht im Schrifttum im gegenteiligen Sinne entschieden12 und sich dabei darauf berufen, dass auch in einer Reihe anderer Tatbestände der Plural verwendet werde, obwohl anerkanntermaßen der Singular gemeint sei. Die Jubilarin selbst hat bereits in der 2. Auflage des Nomos-Kommentars (und ebenso nun in der aktuellen 3. Auflage) angedeutet, man werde dieser Ansicht des BGH jedenfalls „auf die Dauer nicht entgegentreten können“.13 2. Nun ist freilich das Argument, es gebe auch andere Tatbestände, in denen die Formulierung ähnlich sei und die auch traditionell abweichend verstanden würden (ungeachtet der Tatsache, dass die Jubilarin die Erfolgsaussichten in der Vgl. Neumann/Puppe/Schild (Gesamtredaktion), Nomos-Kommentar zum StGB1Puppe, 1995, § 152a Rn. 11; vgl. nunmehr auch NK3-Puppe (Fn. 1), § 152b Rn. 5. 10 Vgl. Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB11-Ruß, 2005, § 152a Rn. 4. 11 Vgl. Rudolphi (Gesamtredaktion), Systematischer Kommentar zum StGB6-Rudolphi, 48. Lfg. 1999, § 152a a. F. Rn. 6. 12 Vgl. BGHSt 46, 147, 150 f. 13 Vgl. NK3-Puppe (Fn. 1), § 152b Rn. 5. 9
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praktischen Rechtsanwendung insoweit richtig einschätzen dürfte) methodentheoretisch nicht unbedingt überzeugend. Vielmehr stellt sich gerade umgekehrt die Frage, ob eine Auslegung, welche die Betroffenheit eines einzelnen Tatobjektes genügen lässt, obwohl der Tatbestand die Verletzung der Tatobjekte im Plural beschreibt, in den anderen vom BGH genannten Fällen (z. B. §§ 174 ff. [sexuelle Handlungen], 132a [Amts- oder Dienstbezeichnungen usw.], 133 [Schriftstücke oder andere bewegliche Sachen] 168 [Teile des Körpers] oder 306 ff. [Brandstiftungsobjekte, z. B. „Gebäude“]) zutreffend, ja sub specie Art. 103 II GG überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist. Zumindest auf den ersten Blick scheint nämlich klar zu sein, dass die Verwendung des Plurals voraussetzt, dass auch mehrere Tatobjekte betroffen sind – bezieht sich der tatsächliche Sachverhalt dagegen nur auf ein einziges Tatobjekt, so scheint es an dieser Voraussetzung zu fehlen, so dass nach dem Grundsatz nulla poena sine lege keine Strafbarkeit begründet werden könnte. 3. Nur rein vorsorglich sei betont, dass das Problem sich hier auch nicht etwa durch die Überlegung lösen lässt, dass „ein Tatobjekt“ gleichsam als „Teilmenge“ in der durch den Plural formulierten Voraussetzung „mehrere Tatobjekte“ umfasst wäre. Da die straftatbestandliche Verhaltensumschreibung – auch dies gewissermaßen ein Ausfluss des Grundsatzes nulla poena sine lege – gleichsam die „Untergrenze“ bzw. „Minimalvoraussetzung“ strafbaren Verhaltens in Abgrenzung zum weiten Bereich des straflosen (und sei es im Einzelfall auch noch so verwerflichen) Verhaltens beschreibt, gilt dieser „Erst-Recht-Schluss“ nur umgekehrt: Wird es also vom Gesetz für ausreichend erachtet, dass ein Tatobjekt verletzt wird, so ist der Tatbestand erst recht erfüllt, wenn zwei oder mehr Tatobjekte erfüllt sind (wobei dann als konkurrenzrechtliche Frage zu behandeln ist, ob damit eine oder mehrere Tatbestandsverwirklichungen vorliegen14). Liest man den Tatbestand aufgrund des Plurals als Minimalvoraussetzung jedoch im Sinn von „mindestens zwei“ Tatobjekten, so scheint ersichtlich, dass diese Voraussetzung bei nur einem Tatobjekt nicht erfüllt ist. III. Disponibilität grammatikalischer Regeln bei der Auslegung? 1. Beschreibt man den Zusammenhang so, wie hier geschehen, scheint auf den ersten Blick überhaupt nicht zweifelhaft zu sein, dass die Tathandlung bezüglich eines einzelnen Tatobjektes (d.h. hier also z. B. das Nachmachen einer einzelnen Zahlungskarte mit oder ohne Garantiefunktion) den Tatbestand nicht erfüllen kann und dass alle Verweise darauf, dass die Vorschrift hier ähnlich wie in anderen Fällen der Verwendung des Plurals eben „anders zu lesen“ sei, einen Verstoß
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Vgl. hierzu nur NK3-Puppe (Fn. 1), § 52 Rn. 11, 17.
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gegen Art. 103 II GG darstellt. Und in der Tat ist es nach dem üblichen und verbreiteten Auslegungsverständnis nicht ganz einfach, darüber hinwegzukommen, wenn man sich nicht auf ein ergebnisorientiertes „es kann nicht sein, was nicht sein soll“ beschränken möchte: Nach der immer noch verbreiteten Vorstellung, nach welcher die für Art. 103 II GG, § 1 StGB relevante „Wortlautgrenze“ allein eine sprachliche Größe sei, die ausschließlich anhand der grammatischen Auslegung zu ziehen sei,15 liegt auf der Hand, dass „mehrere“ (wie sie durch die Verwendung des Plurals vorausgesetzt werden) nicht zugleich „eine einzige“ sein können. Aber auch soweit man für bestimmte Bereiche aufgrund der Unschärfe der natürlichen Sprache einen gewissen Konkretisierungsbedarf anerkennt,16 liegt hier kaum ein Fall vor, der sprachlich evident (d.h. über das übliche Maß hinausgehend) „unklar“ wäre. Auch wer anerkennt, dass die semantischen Grenzen der in Gesetzestexten verwendeten Begriffe unscharf sind, wird die grundlegende Unterscheidung zwischen „eins“ und „mehrere“ durch die Verwendung des Plurals als vergleichsweise eindeutig getroffen anerkennen können. Selbst wenn man schließlich – nach hier nicht vertieft zu begründender, aber im Ausgangspunkt zutreffender Ansicht – davon ausgeht, dass die Bedeutungsgrenzen von Wörtern als solche nicht nur unscharf sind, sondern prinzipiell überhaupt nicht angegeben werden können, da selbst umfassende Wörterbücher nur Verwendungsbeispiele aufzählen, nicht aber nach Art eines „Sprachgesetzbuches“ korrekte und inkorrekte Verwendungen dauerhaft und verbindlich festschreiben,17 könnte man hier geneigt sein, die Sache etwas anders zu sehen: Denn auch wenn (insbesondere bei einer „lebenden“ Sprache) eine Grammatik gewiss nicht immer nur präskriptiv, sondern zum Teil auch deskriptiv zu verstehen ist bzw. auch grammatikalische Strukturen hinsichtlich des Empfindens ihrer Korrektheit bzw. Inkorrektheit Änderungen unterworfen sind, wird man einer Grammatik eine gewisse Regelhaftigkeit nicht absprechen können. 2. Ungeachtet dessen machen schon ganz einfache Beispiele aus dem Alltag intuitiv deutlich, dass die Reduzierung der Verwendung des Plurals in bestimmten Regelsätzen auf zwingend mehrere Objekte so klar auch nicht ist: Selbst wer als Elternteil auf Grund eines intensiven Jurastudiums mit kriminalwissenschaftlichem und verfassungsrechtlichem Schwerpunkt durch und durch im Gedankengut des nulla poena-Grundsatzes sozialisiert ist, dürfte keine Bedenken dagegen haben, in der Aufforderung an seine Kinder, „Gulasch nicht mit den Händen zu essen“ auch das Benutzen nur der linken oder nur der rechten Hand allein als 15 Dafür etwa offenbar LK12-Dannecker (Fn. 5), § 1 Rn. 238, 301; scheinbar in diese Richtung auch Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 64 ff. 16 Vgl. aus der strafrechtlichen Literatur nur LK12-Dannecker (Fn. 5), § 1 Rn. 305. 17 Vgl. näher Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung – Vom Vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 97 f.; vgl. auch bereits dies., Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 148, jew. m.w. N. aus der sprachwissenschaftlichen Literatur.
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verboten erfasst zu sehen. Nämliches gilt für die Aufforderung „keine Haustiere mit ins Bett zu nehmen“ auch dann, wenn der Nachwuchs nur den Hund oder nur die Katze und nicht alle beide in seinem Bett schlafen lässt. Dass beide Beispiele nicht dem geltenden Strafrecht, sondern Regeln des familiären Zusammenlebens entnommen sind, spielt hier zunächst einmal keine Rolle, da das entsprechende Verständnis von „nicht mit den Händen essen“ bzw. „keine Tiere mit ins Bett nehmen“ nicht etwa auf dem laxeren Umgang mit solchen mündlich gesetzten Regeln beruht,18 sondern schlicht daran liegt, dass man die Reichweite der genannten Regelungen mit einer gewissen Evidenz im hier genannten Sinne verstehen wird, und zwar auch dann, wenn man den Kindern in der Erziehung „maximale rechtstaatliche Sicherheit“ hinsichtlich der ihnen gegenüber aufgestellten Regeln zu gewähren bereit wäre. Nebenbei: Auch der Gesetzgeber scheint den Plural mitunter relativ eindeutig (und nicht nur bei einem ergebnisorientierten Blick) so zu verstehen, dass auch einzelne Tatobjekte erfasst sind: So spricht etwa § 201a StGB in seinem Abs. 1 davon, dass unbefugte Bildaufnahmen (Plural) hergestellt werden müssen, während Abs. 2 das Gebrauchen einer Bildaufnahme (Singular) genügen lässt. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber hierdurch bewusst unterschiedlich hohe Hürden für die Rechtsverletzung statuieren wollte, da in § 201a II StGB die Rede von einer „durch eine Tat nach Abs. 1 hergestellte Bildaufnahme“ ist. 3. Kurz zusammengefasst also: An der weitgehenden „Eindeutigkeit“ der grammatikalischen Regel kann vorliegend kein Zweifel sein – ebenso wenig allerdings daran, dass die Verwendung des Plurals für das spontane und intuitive Verständnis der Vorschrift letztlich keine tragende Bedeutung hat. Wie passt dies nun zusammen? Erklärbar wird dieser scheinbare Widerspruch wohl nur, wenn man akzeptiert, dass in einer (jedenfalls natürlichen19) Sprache durchaus ein erhebliches normatives Potential in Gestalt von gewichtigen semantischen Verwendungsbeispielen und Geltung beanspruchenden grammatikalischen Regelungen besteht, dass beide zusammen jedoch die Bedeutung einer Zeichenkette gleichwohl nicht ein für alle Mal und verbindlich determinieren. Oder anders ausgedrückt: Das normative Potential besteht zwar, bleibt aber eben „Potential“, hier im Sinn eines „Kopplungs-Potentials“20, an das verschiedene andere Kontexte anschließen können, um letztlich den aufgeworfenen Bedeutungskonflikt – jedenfalls vorläufig im Sinne eines Standes argumentativer Geltung21 – zu entschei18 Deshalb war oben auch die Rede von dem durch und durch vom nulla poenaGrundsatz sozialisierten Elternteil! 19 „Natürliche“ Sprache hier verstanden als Gegenbegriff zu Kunstsprachen wie etwa Computersprachen, die strengen mathematischen Gesetzmäßigkeiten folgen. In einer in diesem Sinne „natürlichen“ Sprache sind auch Gesetzestexte verfasst, selbst wenn dies einem Laien bei der Lektüre des Einkommensteuergesetzes kontraintuitiv erscheinen mag. 20 Vgl. Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 17), S. 127, 156.
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den. Wörter – und letztlich auch Wörter in grammatikalischen Strukturen – bedeuten also nicht einfach, „was sie bedeuten“, sondern im Falle eines Bedeutungskonflikts muss über die Bedeutung situativ und jedenfalls unter Einbeziehung aller von den Beteiligten herangezogenen Kontexten eine Entscheidung getroffen werden. Dieser hier skizzierten – in der Terminologie der Sprachphilosophie „holistischen“ – Sichtweise wird nicht selten entgegnet, sie gehe an der Realität vorbei, da bei einem konsequent holistischen Charakter der Sprache letztlich eine Verständigung untereinander nicht möglich sei.22 Dabei wird jedoch verkannt, dass die Verständigungen in der Praxis ungeachtet des holistischen Charakters von Sprache deswegen funktioniert, weil regelmäßig beide Gesprächspartner daran interessiert sind und – gleichsam nach dem „Prinzip der Nachsicht“ handelnd23 – die Äußerungen des jeweils anderen gerade so aufnehmen, dass sie sich in das Gespräch einpassen und „Sinn machen“. Vor Gericht – oder auch in einer wissenschaftlichen Diskussion über die „richtige“ Auslegung einer Vorschrift – ist diese Situation jedoch gerade umgekehrt: Hier wird gerade über Bedeutungen gestritten, und von einer freundschaftlichen Nachsicht auf den anderen und einem rücksichtsvollen Eingehen gerade auf seine Verwendungsweise des streitigen Tatbestandsmerkmals kann keine Rede sein. Für unser hier interessierendes Beispiel könnte man auch sagen: Sollten sich alle Beteiligten darüber klar sein, dass die Verwendung des Plurals die Berücksichtigung einzelner Tatobjekte nicht ausschließen soll, wäre dies nicht etwa ein „einvernehmliches Hinwegsetzen über den Gesetzeswortlaut“, sondern gerade Zeichen dafür, dass über die Bedeutung des Textes als auch den Singular erfassend an dieser Stelle kein Streit besteht; würde sich dagegen ein am Bedeutungsdiskurs Beteiligter auf die grammatikalische Regelung „Plural ist gleich zwingend Mehrzahl von Objekten“ berufen, müsste man sich hiermit argumentativ auseinandersetzen (vgl. auch unten 4.). Aus dem soeben Dargelegten wird zugleich auch deutlich, dass die für Art. 103 II GG relevante Wortlautgrenze nicht allein auf eine grammatische Auslegung (sei diese nun stärker von der Semantik der Begriffe oder von den verwendeten grammatikalischen Strukturen geprägt) reduziert werden kann. „Die Wortlautgrenze“ ist der Auslegung nicht „in der Sprache vorgegeben“, sondern erst das Ergebnis eines Auslegungsvorganges, welcher neben der grammatischen Ausle21 Zur „Geltung“ als Stand eines Argumentationsverlaufs vgl. Wohlrapp, Die diskursive Tendenz, in: ders. (Hrsg.), Wege der Argumentationsforschung, 1995, S. 395 ff.; für die Jurisprudenz darauf aufbauend Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 17), S. 241 ff. 22 Zu diesem Argument auch Puppe, Kleine Schule (Fn. 15), S. 65. 23 Vgl. dazu aus der Sprachphilosophie nur Stüber, Davidsons Theorie sprachlichen Verstehens, 1993, S. 144 ff.; Schädler-Om, Der soziale Charakter sprachlicher Bedeutung und propositionaler Einstellungen, 1997, S. 54 ff.; zur Übertragung in die juristische Methodenlehre Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 17), S. 146 ff.
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gung auch die übrigen Kanones der Auslegung heranzuziehen hat.24 Dies steht auch in Übereinstimmung mit neueren Entscheidungen des BVerfG zur Reichweite des Art. 103 II GG: Sowohl in seiner Entscheidung zum Ende der Gleichsetzung „unvorsätzlich = entschuldigt“ in § 142 II Nr. 2 StGB25 als auch in seiner Entscheidung zum Waffenbegriff im Rahmen des § 113 II 2 Nr. 1 StGB26 beschränkt sich das Gericht zur Festlegung der Grenze des „möglichen Wortsinns“ der Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ bzw. desjenigen der „Waffe“ gerade nicht auf die grammatische Auslegung, sondern ergänzt diese jeweils um historische, systematische und teleologische Auslegungsgesichtspunkte.27 4. Was bedeutet dies nun für die „Verbindlichkeit“ grammatikalischer Regelungen für die grammatische Auslegung und damit auch (wenngleich nur als ein wichtiges Teilelement) für die Bestimmung der „Wortlautgrenze“? Selbstverständlich sind diese nicht einfach hinfällig und können nach Belieben ignoriert werden. Vielmehr gilt hier wie auch sonst: Die Tatsache, dass die Entscheidung über einen Bedeutungskonflikt nicht durch die Sprache bzw. den Gesetzestext determiniert ist, bedeutet umgekehrt keinesfalls, dass in einem System geschriebenen Rechts dieser Gesetzestext unrichtig wäre oder vom Interpreten nach eigenem Gutdünken vernachlässigt werden dürfte. Vielmehr spielen innerhalb der verschiedenen Auslegungskanones bzw. Konkretisierungskontexte die normtextnahen Kontexte eine überragende Rolle (ohne dass damit eine verbindliche und immer geltende Rangfolge der Kanones festgeschrieben wäre28), da sie normstrukturell am wichtigsten sind.29 Für das Strafrecht wird man aufgrund der normativen Vorgaben des Art. 103 II GG als methodenrelevanter Norm der Verfassung30 diesen Vorrang sogar in besonderer Weise betonen müssen. Dass für Wortlautgrenze oder gar Auslegungsergebnis gleichwohl nicht nur die normtextnahen Kontexte (also insbesondere grammatischen und systematische Auslegung), sondern auch normtextfernere Kontexte (etwa historische, genetische oder teleologische Auslegung) eine Rolle spielen, liegt daran, dass diese in ihrer „Intensität“ oftmals höher einzustufen sind als die viel-
24 Vgl. dazu auch bereits Kudlich, in: Jahn/Kudlich/Streng, Stöckel-FS, 2010, S. 93, 95 ff., insbesondere 100 ff. 25 Vgl. BVerfG NJW 2007, 1666. 26 Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627. 27 Hierzu sowie zur Würdigung der Entscheidung unter diesem Gesichtspunkt Kudlich, in: Stöckel-FS (Fn. 24), S. 100 ff. 28 Vgl. auch Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 17), S. 375 ff.; Puppe, Kleine Schule (Fn. 15), S. 88 ff. 29 Vgl. auch Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 17), S. 378; Puppe, Kleine Schule (Fn. 15), S. 91 ff. (für die grammatische, d.h. in den Worten der Jubilarin: semantische Auslegung). 30 Vgl. Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung (Fn. 17), S. 184 ff.
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fach eher indifferenten Kriterien der grammatischen oder systematischen Auslegung.31 In diesem Sinne sind „Regeln der Grammatik“ sogar von besonderer Bedeutung, da sie nicht nur normstrukturell als normtextnah wichtig, sondern in ihrer Trennschärfe vielfach semantischen Aussagen über den denkbaren Bedeutungsgehalt eines einzelnen Wortes überlegen sein dürften. Soweit es etwa um bestimmte Bezüge einzelner Satzteile zueinander (etwa Beziehung eines Relativsatzes auf einen oder mehrere Begriffe des Hauptsatzes; zeitliches Verhältnis verschiedener Tathandlungen zueinander etc.) geht, ist die Aussagekraft der verwendeten grammatikalischen Konstruktion groß und wird regelmäßig nur schwer durch andere (etwa historische oder teleologische) Argumente widerlegbar sein. In unserem ganz konkreten Fall freilich ist dies anders: Denn die Verwendung des Plurals in verkürzten Regelungen sowohl für mehrere als auch für einzelne Gegenstände ist im Alltagssprachgebrauch,32 aber auch bei formalen Anordnungen33 völlig gebräuchlich – und es ist nicht nur diese Gebräuchlichkeit, welche die Verwendung des Plurals hier als wenig bedeutsam erscheinen lässt, sondern auch die Tatsache, dass in Abgrenzung dazu eindeutige Formulierungen („mehrere Euroschecks“; „mindestens xy Zahlungskarten“) ohne weiteres möglich wären und dass auch vom Schutzzweck der Norm her eine Grenzziehung gerade zwischen einer und zwei Schecks/Vordrucken/Zahlungskarten etc. mehr oder weniger willkürlich wäre.34 Dem Argument, dass die Beeinträchtigung für das geschützte Rechtsgut bei mehreren (und sei es auch nur zwei) Tatobjekten immer größer ist als bei einem einzigen, wird man keine zu große Bedeutung zumessen können, da dies selbstverständlich auch bei der großen Zahl solcher Delikte gelten würde, bei denen der Gesetzgeber von vornherein die Verletzung eines einzelnen Tatobjekts als ausreichend erachtet, so dass die Annahme, in bestimmten Fällen seien aus teleologischen Gründen gerade mindestens zwei statt einem Tatobjekt erforderlich, doch wenig überzeugen kann. 31 Vgl. Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 17), S. 378 f. Dieser Zweiteilung der Gewichtung von Argumenten (Normtextnähe einerseits, Stichhaltigkeit andererseits) ausdrücklich zustimmend BGH JR 2008, 255, 256. 32 Vgl. dazu die Beispiele oben vor Fn. 18. 33 Man denke nicht nur an die auch vom BGH betonten anderen Vorschriften im StGB, sondern an Regelungen wie „das Mitführen von Tieren (bzw. von Metallteilen oder Uhren, von magnetischen oder elektronischen Datenträgern) ist verboten“ oder „Beförderung von Personen verboten“; anschaulich die Umschreibung der Inhalte von diversen Verbotsschildern etwa unter http://www.labelident.com/Verbotszeichen:::79:5. html. 34 Dies ändert zwar nichts daran, dass das auch von der Jubilarin herangezogene Argument, mit Blick auf den hohen Strafrahmen sei eine Begrenzung der Vorschrift auf Fälle professioneller Fälscher angezeigt, isoliert betrachtet vernünftig ist (vgl. dazu auch nochmals unten); die Grenze der Gefährlichkeit besonders professioneller bzw. organisierter Kriminalität wird aber nicht zwischen einem und zwei Formularen verlaufen.
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5. Tendenzen, die Wortlautgrenze nicht allein anhand der (möglicherweise sogar Umgangs-)Sprache bzw. der grammatischen Auslegung festzumachen, sondern diese erst als Ergebnis eines komplexen Auslegungsvorganges zu verstehen, wird gerne der Vorwurf gemacht, damit die Schutzrichtung des Art. 103 II GG zu verfehlen, da dieser gerade dem Bürger Orientierungssicherheit gewähren soll.35 Die grundsätzliche Richtigkeit dieser Aussage zum Zweck des nulla poenaGrundsatzes soll – gerade mit Blick auf seine historischen Wurzeln36 – einmal unterstellt werden. Damit ist freilich noch nicht entschieden, zu welchem Maßstab bzw. welchen Maßstäben sie führen muss: Die gleichsam erste Ebene liegt darin, dass idealiter tatsächlich der normunterworfene Bürger leicht selbst alle Grenzziehungen verlässlich vornehmen kann. Wirklich realistisch ist dieses Postulat freilich angesichts der Komplexität der Materie und der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte nicht. Nicht ohne Grund scheint daher auch das BVerfG gleichsam „auf zweiter Ebene“ die „Vorstellung von situationsabstrakter Bestimmtheit des Textes durch ein Konzept von anwendungsbezogener Bestimmbarkeit“ zu ersetzen,37 wenn es ausführt: „Das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit zwingt den Gesetzgeber nicht, Regelungstatbestände stets mit genau erfassbaren Maßstäben zu umschreiben. (. . .) Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen (. . .). Dabei reicht es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung oder einschlägiger Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lässt“ 38 – eine Aussage übrigens, die in ihrem Kern auch bereits in der bekannten Entscheidung zum Gewaltbegriff und damit unmittelbar im strafrechtlichen Kontext des Art. 103 II GG angelegt ist.39 Man könnte auch sagen: „Wenn der Leser den Text ohne weiteres versteht, um so besser. Aber wenn nicht, ist dem Bestimmtheitsgebot jedenfalls Genüge getan, wenn juristische Experten den Text in einer Anwendungssituation zu einem konkreten Verständnis entwickeln können.“40 Aber selbst, wenn man diesen Weg nicht mitgehen will, und sich auf eine Verständlichkeit bereits „auf der ersten Zu dieser Aufgabe des nulla poena-Grundsatzes vgl. LK12-Dannecker (Fn. 5), § 1 Rn. 51 ff., 250 (der „aus der Sicht des Bürgers mögliche Wortsinn“ als Grenze unter Verweis auf BVerfGE 71, 108, 115; 92, 1, 12 u. a. Judikate des BVerfG). 36 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 5 Rn. 18 ff. 37 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I10, 2009, Rn. 184. 38 Vgl. BVerfGE 102, 243, 337 (Hervorhebung hier). 39 Vgl. BVerfGE 92, 1, 11 f.: „Sie (= die Verpflichtung des Art. 103 II GG, H. K.) soll andererseits gewährleisten, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 II GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt“ (Hervorhebung hier). 40 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik (Fn. 37), Rn. 184. 35
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Ebene“ beschränken wollte, würde dies schon generell nicht gegen ein möglichst viele Kontexte einbeziehendes, holistisches Bedeutungsverständnis sprechen, ist dieses doch ursprünglich gerade nicht im Zusammenhang mit der Auslegung juristischer Fachtexte entwickelt worden, sondern zielt auf die Erklärung des Verstehensprozesses auch in der alltäglichen Kommunikation ab. Dies wird im vorliegenden Beispiel besonders deutlich (und zeigt damit zum einen, dass die Reduktion der Wortlautgrenze auf sprachliche Argumente gerade nicht der Verständlichkeit und Orientierungssicherheit des Bürgers dient, zum anderen aber auch die Besonderheit der grammatikalischen Größe „Plural und Singular“ in Fällen wie den vorliegenden). Würde man nämlich dem „unbefangenen Normalbürger“ eine Norm wie § 152a oder § 152b StGB in einer auf die wesentlichen Inhalte reduzierten und im Übrigen verständlichen Fassung vorlesen und ihm dann einen Fall schildern, in dem der Täter einen Scheckvordruck oder eine Zahlungskarte herstellt, würde er wohl ohne größeres Zögern eine Subsumtion unter den Tatbestand vornehmen. Der Hinweis darauf, dass im gesetzlichen Gebot der Plural verwendet wird, würde wohl als „typisch juristische Spitzfindigkeit“ und als ein „Kleben am Wortlaut“ gerade unter Verstoß gegen das allgemeine Sprachgefühl empfunden werden. Ebenso wie in anderen Kontexten, in denen es etwa um die Beachtlichkeit von Fach- oder Allgemeinsprache geht,41 liegt also auch hier ein Fall vor, in dem die Verständlichkeit bei zu enger Orientierung an der „sprachlich korrekten“ Verwendung eines Begriffs bzw. einer grammatikalischen Regel im Gegenteil eher leiden würde, oder zumindest umgekehrt formuliert: in dem die fachsprachliche bzw. hier grammatikalisch – bei isolierter Betrachtung – „unkorrekte“ Verwendung keine für den Bürger unvorhersehbare böse Überraschung darstellt, vor der ihn Art. 103 II GG beschützen möchte. IV. Fazit – Zugleich zum richtigen Umgang mit grammatischer Auslegung und Wortlautgrenze 1. Sprachliche Erwägungen – seien es nun solche semantischer Art über die Wortbedeutung oder solche grammatikalischer Art über das richtige Verständnis des Normtextes – bilden stets nur den Ausgangspunkt: und zwar nicht nur – das ist Gemeingut – den Ausgangspunkt der „Auslegung“, sondern auch (nur) denjenigen der Suche nach der „Wortlautgrenze“. Diese ist nicht durch die Sprache vorgegeben bzw. in der Sprache auffindbar, sondern im Einzelfall argumentativ zu ziehen, wobei sprachlichen Argumenten selbstverständlich grundsätzlich große Bedeutung, in besonderen Konstellationen aber (wie hier im vorliegenden Fall der Verwendung des Plurals) auch recht eingeschränkte Aussagekraft zu41 Vgl. Kudlich/Christensen/Sokolowski, Zauberpilze und Cybernauten – oder: Macht Sprache aus Pilzen Pflanzen?, in: Müller (Hrsg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 119–133, im Ergebnis zustimmend BVerfG StraFo 2009, 526.
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kommt. Ebenso, wie die Wortlautgrenze gegenüber einer isoliert sprachlichen Betrachtung nach außen verschoben werden kann, wenn hinreichend gewichtige Gründe dafür sprechen, kann sie umgekehrt auch enger gezogen werden, wenn genügend starke Argumente zusammenkommen, die im konkreten Kontext vertretbare Bedeutungsvarianten gegenüber indifferenten sprachlichen Fassungen des Gesetzes zurückzuschneiden.42 Dies handhabt im Ergebnis im Übrigen auch die Rechtsprechung so – und zwar nicht nur die oben bereits erwähnte neuere Rechtsprechung des BVerfG,43 sondern auch die Rechtsprechung des BGH, wenn dort bei allgemeinen Auslegungsüberlegungen (also auch ohne unmittelbaren Bezug zu Art. 103 II GG) die grammatische Auslegung selten isoliert verwendet, sondern fast immer in den Kontext mit anderen Auslegungsargumenten gestellt wird.44 2. Im Ergebnis ist – und das wird niemanden wundern, der Ingeborg Puppes sorgfältigen Argumentationsstil kennt – auch die Jubilarin in ihrer anfänglichen Kommentierung des § 152a StGB a. F. so vorgegangen: Ihr Argument ist dort nämlich nicht schlicht, aufgrund der Verwendung des Plurals müsse (gleichsam aus sprachlichen Gründen zwingend) eine Mehrzahl von Tatobjekten vorliegen, sondern sie argumentiert vielmehr dahingehend, die Verwendung des Plurals sei ernst zu nehmen und beachtlich, weil mit Blick auf den hohen Strafrahmen der Vorschrift,45 genauer: aufgrund des Verbrechenscharakters der Vorschrift eine enge, auf professionell handelnde täterbeschränkte Auslegung geboten sei, wobei die Professionalität gerade dadurch zum Ausdruck komme, dass nicht nur ein, sondern mehrere Tatobjekte nachgemacht, verfälscht, sich verschafft etc. würden. M.a.W.: Das grammatische Argument – hier in Gestalt der basalen grammatikalischen Regel, dass die Mehrzahl mehr als ein Objekt zum Ausdruck bringt – wird hier nicht als alleiniges und für eine nach Art. 103 II GG einzuhaltende Wortlautgrenze entscheidendes Kriterium herangezogen, sondern bildet nur den Ausgangspunkt der Auslegung, welche durch Sachgesichtspunkte und Strafrahmenerwägungen ergänzt wird. Dass in diesem Beitrag das Auslegungsproblem unter Berücksichtigung jener und anderer Sachargumente letztlich anders gelöst wird (bzw. Übereinstimmung nur mit der „geläuterten“ Auffassung in der Folgeauflage der Kommentierung besteht, ohne dass die Herleitung dieses Ergebnisses auf die etwas resignative Feststellung beschränkt bleibt, der Rechtsprechung des BGH könne man sich hier nicht dauerhaft widersetzen), ändert nichts am gemeinsamen methodischen Ausgangspunkt.
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Zu einem solchen Beispiel vgl. Kudlich, Stöckel-FS (Fn. 24), S. 93, 107 ff., 115. Vgl. oben Fn. 25 und 26. 44 Vgl. Kudlich/Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 25, 48. 45 Zur Berechtigung und näheren Einordnung einer strafrahmenorientierten Auslegung vgl. näher Kudlich, ZStW 105 (2003), 1 ff. 43
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3. Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunktes überwiegen im Ergebnis die Abweichungen von der Stellungnahme der Jubilarin: Von ihrer ursprünglichen, eigenständig begründeten Auffassung im Ergebnis – von der vorsichtigen Annäherung an die Rechtsprechung insoweit, als nach hier vertretener Auffassung die Argumente, der BGH sehe die Sache hier anders und handhabe dies auch in vergleichbaren Fällen anders, gerade nicht als die entscheidenden betrachtet worden sind. Die Jubilarin freilich dürfte dies kaum irritieren, hat sie doch in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie eine Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen nicht aus dem Weg geht, sondern – ganz unabhängig davon, welcher Auffassung man letztlich selbst eher zuneigt – jedenfalls eine wohlüberlegte Antwort zu entgegnen hat. Sollte ich den Dissens meiner Ausführungen zu den Puppe’schen Überlegungen richtig interpretiert haben, so bin ich überzeugt davon, dass die Jubilarin auch hierauf eine Antwort parat haben wird, aus der man – unabhängig davon, wie man zu ihr steht – etwas dazulernen kann. Dass sie solche Antworten auch in Zukunft in die Diskussion einwerfen wird, ist ihr und der Strafrechtswissenschaft insgesamt zu wünschen.
Auslegung und Methode Ein Versuch, systematisch zu denken Von Georg Küpper In ihrer – bescheiden als „kleine“ bezeichneten – Schule des juristischen Denkens hat Ingeborg Puppe der systematischen Denkweise zwei Kapitel gewidmet: Zum einen geht es um die systematische Auslegung, zum anderen um die systematische Methode.1 Beide Aspekte sollen hier einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Sofern sich dabei manche Abweichungen oder Einwände ergeben, wird dies nach meiner Überzeugung die streitbare Jubilarin nicht irritieren, sondern vielmehr zu einer vertieften Auseinandersetzung anregen. I. Systematik als Auslegungsmittel Die systematische Interpretation schließt sich regelmäßig an die grammatikalische an und sucht das Verständnis einer Gesetzesstelle aus deren Kontext zu erschließen.2 Mit Philipp Heck kann man das entsprechende Vorgehen als Übergang vom „Wortsinn“ zum „Textsinn“ bezeichnen.3 Bedeutung und Reichweite dieser Auslegungsmethode werden allerdings unterschiedlich beurteilt. 1. Anforderungen Nach Puppe4 geht die systematische Interpretation von vier Postulaten aus. (1) Widerspruchsfreiheit: Das Gesetz widerspricht sich nicht selbst. (2) Nichtredundanz: Das Gesetz sagt nichts Überflüssiges. (3) Vollständigkeit: Das Gesetz lässt keine Regelungslücken. 1 Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 66 ff., 175 ff. (im Folgenden als „Kleine Schule“ zitiert). Der Untertitel des Beitrags ist angelehnt an Puppe, SchwZStr 107 (1990), S. 141. 2 Zur systematischen Auslegung exemplarisch Bydlinski, Juristische Methode und Rechtsbegriff, 21991, S. 442 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, S. 324 ff.; eingehende Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 387 ff. 3 Heck, AcP 112 (1914), S. 1, 32. 4 Kleine Schule (Fn. 1), S. 66 f.
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(4) Systematische Ordnung: Die Vorschriften des Gesetzes sind sinnvoll geordnet. Zur Konkretisierung dient dabei vor allem das umstrittene Verhältnis von Raub und räuberischer Erpressung. a) Die innere Kohärenz und Folgerichtigkeit einer Rechtsordnung gebietet die Vermeidung formaler (logischer) und inhaltlicher Widersprüche.5 Sie können auf horizontaler und vertikaler Ebene entstehen. Ersteres kommt etwa im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht sowie von Verfassungsrecht und „einfachem“ Recht in Betracht. So hat das BVerfG allen rechtssetzenden Organen des Bundes und der Länder aufgegeben, die Vorschriften jeweils so aufeinander abzustimmen, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.6 Dem Vorrang des Grundgesetzes ist durch verfassungskonforme Auslegung – soweit als möglich – Rechnung zu tragen. Horizontale Widersprüche sind mittels der bekannten Kollisionsregeln aufzulösen. Im Strafrecht dürften eher Wertungswidersprüche auftreten, deren Beseitigung der Judikative oder Legislative obliegt. Ein Beispiel bildet die Frage, ob die leichtfertige Todesverursachung (§ 251 StGB) auch die vorsätzliche Herbeiführung der Todesfolge umfasst. Zunächst hatte der BGH gegen die verneinende Auslegung u. a. eingewandt, sie könne zu unvertretbaren Wertungswidersprüchen führen, etwa im Verhältnis der Strafdrohungen von §§ 212, 251 StGB.7 Der Gesetzgeber hat dann in allen einschlägigen Strafvorschriften die Formulierung „wenigstens leichtfertig“ vorgesehen. b) Nach dem zweiten Postulat soll jede Rechtsnorm einen eigenen Anwendungsbereich haben und nicht deshalb überflüssig sein, weil sie in einer anderen Norm bereits vollständig enthalten ist. Dieses systematische Argument wird in der Literatur von denjenigen herangezogen, die für (räuberische) Erpressung eine Vermögensverfügung verlangen: Der Tatbestand des § 249 StGB wäre überflüssig, wenn er sich nur als Spezialfall der mit den gleichen Rechtsfolgen bedachten räuberischen Erpressung darstellen würde.8 Der „pragmatische“ Gegeneinwand Puppes lautet: Das Bild des Raubes als Verbrechenstyp sei alt und tief im Allgemeinbewusstsein verwurzelt; deshalb habe der Gesetzgeber auf den anschaulichen Raubtatbestand nicht verzichtet.9 5 Fünf Arten von Widersprüchen unterscheidet Engisch, Einführung in das juristische Denken10, 2005, S. 211 ff. Zum Prinzip der Widerspruchsfreiheit ausführlich Sodan, JZ 1999, 864 ff.; R. Schmidt, FS-Canaris II, 2007, S. 1353 ff. 6 BVerfGE 98, 106, 118. 7 BGHSt 39, 100, 107; zum ehemals widersprüchlichen Strafrahmen der Kindestötung (§ 217 a. F.) und Aussetzung mit Todesfolge vgl. RGSt 68, 410. 8 So etwa Tenckhoff, JR 1974, 489, 490. 9 Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 72; zum gesetzgeberischen „Pragmatismus“ insoweit auch Schott, GA 2002, 666, 678.
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Für diese Betrachtungsweise lässt sich noch ein weiterer Anwendungsfall heranziehen. Durch das Verfälschen i. S. des § 267 I StGB wird eine echte in eine unechte Urkunde umgewandelt, so dass es eine gesetzlich geregelte Sonderform des Herstellens bildet. Allein deshalb dürfte aber die Fälschungsvariante, die dem Tatbestand gerade sein Gepräge verleiht, nicht überflüssig erscheinen.10 Vielmehr bleibt es auch hier dem Gesetzgeber unbenommen, eine besonders wichtige Fallgruppe ausdrücklich hervorzuheben.11 Es bestätigt sich nur, dass das genannte Postulat in seiner Konsequenz nicht einschränkungslos gilt. c) Das Gesetz soll keine Regelungslücken enthalten, wobei nicht selten bereits die Feststellung einer „Lücke“ problematisch ist.12 Eine solche tut sich für Puppe auf, wenn man in den Erpressungstatbestand das ungeschriebene Merkmal der Vermögensverfügung hineininterpretiert.13 Diese Lücke bestehe aus denjenigen Fällen, in denen der Täter mit (unwiderstehlicher) Gewalt, aber ohne Zueignungsabsicht, die Duldung der Wegnahme einer Sache erzwingt. Demnach erweise sich der Ausschluss von Gebrauchsanmaßung oder Pfandkehr aus dem Tatbestand der räuberischen Erpressung als inkonsequent und somit als Gesetzeslücke. Dem ist in dieser Allgemeinheit jedoch zu widersprechen. Es entsteht nämlich keine Strafbarkeitslücke, sondern (lediglich) eine Strafhöhendifferenz.14 Denn der Täter kann zumindest aus § 240 i.V. mit §§ 248a/289 StGB belangt werden, was für einen gewaltsamen furtum usus auch angemessen und hinreichend erscheinen mag. Ansonsten würden manche Vergehen zu Verbrechen hochgestuft.15 Mit einer systematischen Betrachtungsweise würde es auch übereinstimmen, durch das Verfügungsmerkmal zu einer „harmonischen“ Abgrenzung des Raubes von der räuberischen Erpressung entsprechend derjenigen von Diebstahl und Betrug zu gelangen.16 Dass es sich um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal handelt, dürfte keinen Einwand darstellen; denn dies gilt ja ebenso für den Betrug, in den – wohl unstreitig – diese Ergänzung „hineininterpretiert“ wird. d) Auch für das vierte Postulat der systematischen Interpretation wird der einschlägige Meinungsstreit herangezogen: Man werde es schwerlich als sinnvolle Ordnung bezeichnen, wenn das Gesetz den Grundtatbestand (räuberische Erpressung) an das Ende des Titels stellt und an den Beginn einen Spezialfall (Raub); 10
So aber Puppe, Jura 1979, 630, 639. Dahingehend Freund, JuS 1993, 731, 739; Küpper, Strafrecht BT 1/I3, 2007, § 1 Rn. 44. 12 Monographisch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz2, 1983. 13 Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 73; dort ist allerdings von „Raubtatbestand“ die Rede. 14 Zutreffend Schott, GA 2002, 666, 670 f. 15 Das „Unterlaufen“ gesetzlicher Privilegierungen kritisiert auch Eser, in: Schönke/ Schröder, StGB27, 2006, § 253 Rn. 8a. 16 Vgl. den Aufsatztitel von Rengier, JuS 1981, 654. 11
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hinzu komme, dass dann Qualifikationen dieses Spezialtatbestandes folgen und schließlich im Grundtatbestand darauf verwiesen wird.17 In der Tat können Gesetzgebung und Dogmatik eigene Wege gehen. So verhält es sich bekanntlich mit dem 16. Abschnitt, der den Mord an die Spitze stellt. Die einhellige Literaturansicht sieht hingegen in dem nachfolgenden Totschlag den Grundtatbestand aller vorsätzlichen Tötungsdelikte.18 Aber auch hier ist zu konstatieren, dass der einprägsame Tatbestand in der gesetzlichen Reihenfolge den Vorrang genießt; schon volkstümlich kommt dies in der Wendung „Mord und Totschlag“ zum Ausdruck. Allein aus der äußeren Anordnung lassen sich deshalb kaum sachliche Folgerungen ableiten, wenngleich die neuere Gesetzgebung eher darauf Bedacht nimmt. Das zeigt etwa die Ordnung der Brandstiftungsdelikte, die früher mit der schweren Brandstiftung (§ 306 a. F.) begonnen hatte, heute aber die einfache Brandstiftung (§ 306 n. F.) voranstellt. e) Im Ergebnis hält Puppe19 die Argumente der systematischen Auslegung für „eher schwach“, weil sie von zweifelhaften Prämissen über die Qualität und Leistungsfähigkeit des Gesetzes ausgingen. Von anderen Autoren werden Bedenken wegen der „vielfach veralteten Systematik“ des StGB erhoben; wollte man sich der Legalordnung und -einteilung unterwerfen, dann wären Fehlinterpretationen auf zahlreichen Gebieten unausweichlich.20 Diese Vorbehalte hängen offenbar damit zusammen, dass zu einseitig (nur) die Stellung der Norm im jeweiligen Gesetzesabschnitt in die Betrachtung einbezogen wird. Darauf sollte man den Blickwinkel jedoch nicht verengen. Eine größere Bedeutung erlangt die Systematik, wenn auch die Nachbartatbestände und das Gesetzesganze Berücksichtigung finden.21 Im Folgenden soll deshalb ihre Ergiebigkeit dergestalt untersucht werden, dass stufenweise von dem engsten bis zum weitesten Zusammenhang fortgeschritten wird. 2. Anwendungen a) Die innertatbestandliche (intrasystematische) Auslegung bewegt sich im Rahmen ein und derselben Norm, sofern dort verschiedene Begehungsweisen anzutreffen sind. Dies ist etwa bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung der Fall. So lässt § 224 I Nr. 1 StGB nach seinem Wortlaut das Beibringen von 17
Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 74. Dazu nur Gössel, ZIS 2008, 153 ff. 19 Kleine Schule, S. 74; vor einer „Überschätzung“ warnen Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 1 Rn. 39; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 31995, S. 147. 20 So Maurach/Zipf, Strafrecht AT I8, 1992, § 9 Rn. 17; skeptisch auch Rudolphi, in: SK-StGB6, 1997, § 1 Rn. 30. 21 Richtig Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 112003, § 9 Rn. 78; ähnlich Rengier, Strafrecht AT, 2009, § 5 Rn. 13; zwischen Gesetzes- und Rechtssystematik differenzierend Gropp, Strafrecht AT3, 2005, § 2 Rn. 21. 18
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gesundheitsschädlichen Stoffen genügen; eine (einfache) Gesundheitsschädigung reicht aber auch schon für das Grunddelikt aus. Ganz überwiegend wird jedoch die Eignung des Stoffes verlangt, erhebliche Schädigungen herbeizuführen, was zu einer stimmigen Angleichung an die Qualifizierung des § 224 I Nr. 2 StGB führt.22 Die Entfernung einer Niere hat der BGH nicht als Verlust eines wichtigen Gliedes i. S. des § 226 I Nr. 2 StGB (n. F.) angesehen.23 Als systematische Erwägung weist er auf die anderen Varianten der Vorschrift hin: Einerseits würde die Beseitigung bestimmter Funktionen gesondert berücksichtigt, so bei Geschlechtsorganen und Sinneswerkzeugen (Nr. 1); andererseits genügten für die Funktionsuntüchtigkeit innerer Organe allein Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit den Erfordernissen des Tatbestandes (Nr. 3). Die früher umstrittene „Scheinwaffenproblematik“ dürfte durch die heutige Fassung des schweren Raubes weitgehend24 geklärt sein. Da § 250 I Nr. 1a StGB das gefährliche Werkzeug beinhaltet, verbleiben für Nr. 1b eben (nur) ungefährliche Gegenstände. Schließlich ist die Tathandlung des „Erschleichens“ in § 265a StGB zu nennen: Bedarf es dafür eines heimlichen oder listigen Vorgehens? Nach Ansicht des OLG Hamburg muss jedenfalls berücksichtigt werden, dass jener Ausdruck auf vier unterschiedliche Betätigungen passen soll, darunter auch die Inanspruchnahme eines Automaten.25 Bei einheitlichem Verständnis könne es auf eine Täuschung nicht ankommen, vielmehr genüge jede unredliche Machenschaft. b) Die nächste Stufe bildet die Stellung der Norm im Gesetzesabschnitt. Exemplarisch sei hier der 28. Abschnitt herausgegriffen, der vor allem in der Rechtsprechung eine besondere Rolle spielt. Dies gilt zunächst für die Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB). Zum einen soll die Einwilligung des Mitfahrers in eine Gefährdung seiner körperlichen Unversehrtheit die Rechtswidrigkeit der Tat nicht ausschließen.26 Die Vorschrift diene dem Schutz der Allgemeinheit, so dass der Gefährdete über das Rechtsgut der Verkehrssicherheit nicht verfügen könne. Zum anderen scheide eine Strafbarkeit wegen Straßenverkehrsgefährdung aus, wenn der Täter nur das von ihm geführte, in fremdem Eigentum stehende Fahrzeug gefährde.27 Hier wird aus dem gesetzlichen Standort der Vorschrift geschlossen, dass mit ihr kein (zusätzlicher) Eigentumsschutz bezweckt sei.
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Vgl. Küpper, BT 1 (Fn. 11), § 2 Rn. 7b m.w. N.; wohl auch BGHSt 51, 18. BGHSt 28, 100 mit zust. Anm. Hirsch, JZ 1979, 109. 24 Übrig geblieben ist die Problematik der Beurteilung „offensichtlich“ ungefährlicher Gegenstände; dazu BGH NStZ 2007, 332; 2009, 95. 25 OLG Hamburg JZ 1987, 732; zu dieser Frage jüngst noch BGH NStZ 2009, 211. 26 BGHSt 23, 261; zum Streitstand vgl. Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 315c Rn. 32 mit zahlr. Nachw. 27 BGHSt 27, 40; ebenso BayObLG JZ 1983, 560; OLG Düsseldorf NZV 1994, 324. 23
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Das Durchführen medizinisch nicht indizierter Röntgenaufnahmen begründet nach Auffassung des BGH keine Strafbarkeit gem. § 311 StGB.28 Die Besonderheit der gemeingefährlichen Straftaten bestehe nämlich darin, dass der Täter Kräfte freisetzt, deren Auswirkungen auf eine unbestimmte Vielzahl von Menschen er nicht in der Hand hat. Bei Gebrauch einer – einwandfrei funktionierenden – Röntgeneinrichtung werde aber nur eine Person eingegrenzten Gefahren ionisierender Strahlen ausgesetzt; eine „gemeingefährliche“ Handlung könne darin nicht gesehen werden. Seit dem 6. StrRG ist außerdem die Schutzrichtung der einfachen Brandstiftung (§ 306 StGB) ins Blickfeld geraten. Neben ihrer Eigenschaft als qualifiziertes Sachbeschädigungsdelikt soll dem Tatbestand ein Element der Gemeingefährlichkeit anhaften.29 Dies finde nicht zuletzt in seiner systematischen Stellung im 28. Abschnitt eine Bestätigung. Allerdings bleiben manche Konsequenzen unklar: So wird eine Einwilligung des Eigentümers dennoch für möglich erachtet.30 Zumindest müsste der Aspekt der Gemeingefahr zu der einschränkenden Auslegung führen, eine generelle Gefährlichkeit der Tat für Menschen oder Sachen zu verlangen.31 c) Eine weitere systematische Herangehensweise stellt der Normvergleich dar. Für ihn ist weniger die Einordnung der Vorschrift als ihr Inhalt bedeutsam. Deshalb können auch voneinander entfernt liegende Normen in Beziehung gesetzt werden.32 Häufiger ist gleichwohl die Bezugnahme auf benachbarte Vorschriften. Das Nebeneinander von Urkundenfälschung (§ 267 StGB) und Fälschung technischer Aufzeichnungen (§ 268 StGB) hat der BGH als systematisches Argument dafür herangezogen, dass eine „Aufzeichnung“ in einem selbständig verkörperten, vom Gerät abtrennbaren Stück enthalten sein müsse.33 Der Begriff sei in seinen Erfordernissen denen der Urkunde angeglichen; eine Urkunde zeichne sich aber durch die dauerhafte Verkörperung ihres Erklärungsinhalts aus. Bei der Begünstigung geht es um die Sicherung der Tatvorteile, was keine Frage bloßer Sachidentität sein soll.34 Denn anders als § 259 StGB spreche § 257 StGB nicht von „erlangten Sachen“, sondern ganz allgemein von den „Vorteilen der Tat“, die beliebiger Natur sein können. Die Straßenverkehrsdelikte unterscheiden nach 28
BGHSt 43, 346 mit Anm. Rigizahn, JR 1998, 523. BGH NJW 2001, 765; ebenso bereits BT-Drs. 13/8587, S. 87; zust. Kreß, JR 2001, 315; krit. Wolff, JR 2002, 94. 30 Vgl. BGH NJW 2003, 1824; Fischer, StGB57, 2010, § 306 Rn. 12; a. A. Duttge, Jura 2006, 15 ff. 31 So auch Radtke, ZStW 110 (1998), 848, 862; abw. Rengier, Strafrecht BT II10, 2009, § 40 Rn. 6: Schutz bedeutender Werte. 32 Zur gesetzlichen Unterscheidung zwischen Verunstalten (§ 134 StGB) und Beschädigen (§ 303 StGB) vgl. BGHSt 29, 129, 133. Nicht nur das Gesetz, sondern auch das Urteil bedarf offenbar der „Interpretation“; siehe dazu Scheffler, NStZ 2001, 290. 33 BGHSt 29, 204, 208 f.; im Ergebnis zust. Puppe, in: NK3-StGB, 2010, § 268 Rn. 24. 34 BGHSt 36, 277, 281 mit Anm. Keller, JR 1990, 480. 29
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Eingriffen „in den“ Straßenverkehr (§ 315b StGB) und „im“ Straßenverkehr (§ 315c StGB), woraus zu schließen ist, dass der Verkehrsteilnehmer grundsätzlich nur einer Strafbarkeit aus § 315c StGB unterliegt.35 Eine Ausnahme wird bekanntlich im Falle der bewussten Zweckentfremdung des Fahrzeugs gemacht. An ihre Grenzen stößt die vergleichende Analyse im Hinblick auf die sog. Relativität der Rechtsbegriffe. Zwar mag ein Gesetz, wenn es an verschiedenen Stellen denselben Begriff wörtlich verwendet, in der Regel dasselbe verstehen.36 Aus dem Sinnzusammenhang können sich aber auch Abweichungen ergeben. So findet der Wohnungsbegriff (§§ 123/244 StGB) neuerdings eine unterschiedliche Auslegung: Beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll er einen geringeren Umfang haben, weil der Gesetzgeber durch die Qualifizierung (nur) den Kernbereich erfassen wollte.37 Für den Begriff des „Wegnehmens“ (§§ 242/289 StGB) wird angenommen, dass er im Falle der Pfandkehr nicht notwendigerweise einen Gewahrsamsbruch voraussetzt.38 Dies folge aus der abweichenden Zielsetzung beider Strafvorschriften. Die Teleologie überspielt also gleichsam die Homonymie. d) Letztlich kann die Einzelnorm auch mit dem strafrechtlichen Gesamtsystem abgestimmt werden. „Als Fundus steht dem Interpreten der gesamte Normenvorrat zur Verfügung. Nicht auf die räumliche Nähe der hilfreichen Sätze kommt es an, sondern auf die sachliche Nähe.“39 Desgleichen vermerkt der BGH, die Auslegung habe auch darauf Bedacht zu sein, dass sich die Gesamtheit der gesetzlichen Bestimmungen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügt.40 Ein umfangreiches Normeninventar stellen namentlich die erfolgsqualifizierten Delikte zur Verfügung. Bei ihnen betrifft der systematische Aspekt vor allem die Realisierung der tatbestandsspezifischen Gefahr des Grunddelikts.41 Welchen besonderen Risiken der Gesetzgeber mit dem jeweiligen Tatbestand entgegentreten will, kann verschiedentlich in Ansehung solcher Tatbestände ermittelt werden, die zwar (teilweise) Merkmale eines erfolgsqualifizierten Delikts, nicht aber eine entsprechende Qualifikation aufweisen. So enthält der Raub den Diebstahl, es gibt jedoch keinen „Diebstahl mit Todesfolge“. Daraus lässt sich schließen, dass § 251 StGB (nur) an die Nötigungsmittel und nicht an die Wegnahme an35
Siehe nur BGHSt 23, 4, 6; Lackner/Kühl, StGB (Fn. 26), § 315b Rn. 4. So jedenfalls RGSt 3, 209, 210; BGHSt 13, 178, 180. 37 OLG Schleswig NStZ 2000, 479; näher dazu Hellmich, NStZ 2001, 511 ff.; Seier, FS Kohlmann, 2003, S. 295 ff. 38 BayObLG JR 1982,31 mit Anm. Otto; weitere Anwendungsfälle bei Demko, Zur „Relativität der Rechtsbegriffe“ in strafrechtlichen Tatbeständen, 2002, S. 190 ff. 39 Zutreffend Gast, Juristische Rhetorik4, 2006, Rn. 222. 40 BGHSt 13, 102, 117. Bereits Savigny hat das systematische Element als die Verknüpfung der Rechtsregeln zu einer großen Einheit verstanden; vgl. die Hinweise bei Huber, JZ 2003, 1, 6; Zippelius, Juristische Methodenlehre10, 2006, S. 43 f. 41 Dazu bereits Küpper, Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982, S. 82 f. 36
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knüpft. Darüber hinaus können auch mehrere Erfolgsqualifizierungen einander gegenübergestellt werden, um ihren je eigenen Anwendungsbereich zu konkretisieren. Wird bspw. das Opfer niedergeschlagen und sodann von einem Auto überfahren, verwirklicht sich in der Todesfolge nicht die Gefahr der Körperverletzung (§ 227 StGB), sondern diejenige der hilflosen Lage (§ 221 III StGB). Ein aktuelles Beispiel bildet die Entscheidung des BVerfG, in der die Eigenschaft eines Personenkraftwagens als Waffe i. S. des § 113 II Nr. 1 StGB verneint wird.42 Das Gericht orientiert sich an den Bestimmungen der §§ 224, 244, 250 StGB und gelangt zu dem Ergebnis: Gegenstände, die nicht bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, wohl aber nach ihrer objektiven Beschaffenheit und der Art ihrer Benutzung im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Verletzungen herbeizuführen, würden dem in den genannten Vorschriften ebenfalls enthaltenen Begriff des „gefährlichen Werkzeugs“ zugeordnet. Der Sinnzusammenhang des Ganzen spricht deshalb dafür, dass dem Begriff der „Waffe“ ein engeres Verständnis beizulegen ist.43 e) Nach alledem hat die systematische Auslegung wohl einen größeren Anwendungsbereich, als ihr meist zugestanden wird. Es bleibt indes zu betonen, dass damit nicht unbedingt ein abschließendes Ergebnis zu erzielen ist. Denn sie bildet ja nur ein Interpretationsmittel im Kanon der Methodenlehre. Hinzu kommt, dass bei widersprechenden Resultaten die Rangfolge der Auslegungskriterien bis heute ungeklärt ist.44 Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden. II. Systematik als Gestaltungsmittel Aufgabe der systematischen Methode ist es, die Einzelprobleme in ein konsistentes Gefüge einzugliedern. Der Systembegriff orientiert sich bis heute an der von Immanuel Kant gegebenen Bestimmung45 als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ bzw. „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“. Gerade auch strafrechtliche Autoren haben das Strafrechtssystem schon im Titel ihrer Publikationen in den Vordergrund gerückt.46 42 BVerfG NJW 2008, 3627 mit Anm. Simon, NStZ 2009, 84 und Foth, NStZ-RR 2009, 138. 43 Eine andere Frage ist es, ob die systematische Auslegung überhaupt zu den Aufgaben des BVerfG gehört; von daher krit. Koch/Wirth, ZJS 2009, 90, 92 f.; Küpper, FS Krey, 2010 (im Erscheinen). 44 Zu dieser Problematik etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre (Fn. 19), S. 163 ff.; Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 88 ff. 45 Darauf Bezug nehmend Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz2, 1983, S. 11; Pawlik, FS Jakobs, 2007, S. 469 f.; jeweils mit Nachw. 46 Chronologisch: Zimmerl, Der Aufbau des Strafrechtssystems, 1930; v. Weber, Zum Aufbau des Strafrechtssystems, 1935; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 1951; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970; zusammenfassend Schüne-
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1. Dogmatik und System Herkömmlich wird zwischen „äußerem“ und „innerem“ System unterschieden.47 Ersteres besteht in nichts anderem als der gesetzlichen Anordnung. So ist der Besondere Teil des Strafgesetzbuches in 30 Abschnitte eingeteilt, deren Überschriften das jeweils geschützte Rechtsgut hervorheben sollen. Die Stellung der Einzelnormen mag dann – wie gesehen – manchen Hinweis für die systematische Auslegung liefern. Größere Bedeutung erlangt indes das innere System, das von der Rechtswissenschaft erarbeitet wird. Sein sachlicher Gehalt findet allerdings mancherseits eine zu weite Ausdehnung, indem Rechtsidee und Rechtsprinzipien, Grundrechte und Grundwerte dort untergebracht werden.48 Auch der BGH meint, das einzelne Gesetz könne nur als Teil des gesamten Rechtssystems in Verbindung mit der geltenden wirtschaftlichen, sozialen politischen und kulturellen Ordnung betrachtet werden.49 Einem „allumfassenden“ System würde jedoch kaum noch eine Gestaltungsfunktion zukommen. Man sollte deshalb den Begriff des inneren Systems auf die Dogmatik des betreffenden Rechtsgebiets beschränken, zumal bestimmte Elemente der Teilordnungen nicht als kompatibel erscheinen. So lässt sich etwa die zivilrechtliche Gefährdungshaftung oder objektive Fahrlässigkeit schwerlich ins Strafrecht transferieren. Das strafrechtsdogmatische System weist eine eigenständige Struktur auf. Dies gilt zunächst für den dreistufigen Deliktsaufbau und die Erfordernisse von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Aber auch die Gruppierung der einzelnen Tatbestände folgt sachlichen Gesichtspunkten und weicht nicht selten von der äußerlichen Systematik des Gesetzes ab. So ändert die gemeinsame Platzierung der §§ 258/259 StGB im 21. Abschnitt nichts daran, dass die Strafvereitelung ein Rechtspflegedelikt, die Hehlerei ein Vermögensdelikt darstellt. Auch Raub und Erpressung (20. Abschnitt) werden trotz ihrer „Nähe“ unterschiedlich als Eigentums- und Vermögensdelikt behandelt.50
mann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 ff. 47 Grundlegend Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 142 f.; daran anknüpfend Engisch, Studium Generale 10 (1957), S. 173, 180 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre (Fn. 19), S. 264 ff., 302 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 438 ff. 48 Dahingehend Larenz, Methodenlehre (Fn. 2), S. 474 ff.; enger wohl Vogel, Juristische Methodik 1998, S. 123. 49 So BGHSt 18, 279, 282. 50 Zur Entwicklung einer Systematik des Besonderen Teils siehe ausführlich Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT I10, 2009, S. 4 ff. Allein Haft folgt in seinen Lehrbüchern der gesetzlichen Reihenfolge; ein Lehrbuch (inneres System) ist jedoch kein Kommentar (äußeres System).
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Ein derartiges Rechtssystem muss gewissen Anforderungen genügen. Genannt werden Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Differenziertheit.51 Es soll also „ein Kosmos und kein Chaos“ sein.52 Damit dient die Systematisierung auch der Verwirklichung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Denn sie ermöglicht eine gleichmäßige Rechtsanwendung, während ohne diesen vorgegebenen Rahmen jede Einzelentscheidung willkürlich erscheinen müsste.53 Nicht zu unterschätzen ist schließlich die didaktische Funktion der inneren Systematik, weil sie die Materie darstell- und lernbar macht. Im Allgemeinen Teil des Strafrechts wird üblicherweise mit der Grundform des vorsätzlichen Begehungsdelikts begonnen; daran schließen sich die Sonderformen (Fahrlässigkeit, Unterlassen etc.) an, die erst vor diesem Hintergrund Gestalt annehmen. Dem besseren Verständnis dient auch die Aufteilung der Delikte in Straftaten gegen die Person und Gemeinschaft sowie Eigentums- und Vermögensdelikte. 2. Systematik und Topik Zu Anfang des einschlägigen Kapitels stellt Puppe54 die systematische der topischen Denkweise gegenüber. Die Jubilarin registriert einen „Niedergang“ der Systematik, die die an sie gestellten Erwartungen nicht habe erfüllen können. Stattdessen halte nun die Topik dem Systemdenken ein Problemdenken entgegen, indem sie unmittelbar am Problem ansetze und mit „Gemeinplätzen“ auf dessen Lösung abziele. Zwar könne man ohne solche isolierten Argumente bei der Anwendung des Rechts nicht auskommen. Aber das System sei ein Werkzeug der Erkenntnis, das jedenfalls für die Lösung komplexer Aufgaben unerlässlich ist.55 Von ihrem maßgeblichen Protagonisten Viehweg wird die Topik auch als „Kunst des Findens“ bezeichnet: Sie bestehe im Zusammenstellen aller Gesichtspunkte (1. Stufe) und dem Rückgriff auf ein stets bereites Repertoire (2. Stufe).56 Schon der erste Schritt ist problematisch, denn wie sollte man wirklich alle möglichen Gesichtspunkte auffinden. Tatsächlich gibt es bereits den Entwurf eines Topoikatalogs, der immerhin 64 Positionen umfasst.57 Darunter finden sich „Standardargumente“ wie Prioritätsprinzip oder Vertrauensschutz. Für den StrafVgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT5, 1996, S. 198. Treffend Zimmerl, Aufbau (Fn. 46), S. 1. 53 In diesem Sinne Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), S. 379, 405; Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 177. 54 Kleine Schule (Fn. 1), S. 174 ff. 55 Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 181; auf manche „Gefahren“ des Systemdenkens hinweisend Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 7 Rn. 43 ff. 56 Viehweg, Topik und Jurisprudenz5, 1974, S. 16 ff.; dazu Horn NJW 1967, 601 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 114 ff.; kritisch Canaris, Systemdenken (Fn. 45), S. 135 ff.; Diederichsen NJW 1967, 697 ff. 57 Vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 20 ff. 51 52
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rechtler mag der beliebte Satz zur Notwehr nützlich erscheinen: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ (Nr. 40). Abgesehen von der verbleibenden Unvollständigkeit stellt sich die Frage des Verhältnisses widersprüchlicher Aussagen; hierfür kann der Topiker kein Kriterium angeben. Neben dem Vorwurf der „Systemfeindlichkeit“ wird der Topik auch ihre Nähe zur Rhetorik vorgehalten: Topik sei Rhetorik, weil sie auf Wirkung berechnet ist; systematische Forschung hingegen sei Wissenschaft, weil sie Klärung anstrebt.58 Schon Descartes hat das topische Verfahren dahingehend beurteilt, dass es ermögliche, über jede Sache zu schwätzen, für jede Meinung zwar nicht solide, aber zahlreiche Argumente beizubringen und in der Disputation auf beliebige Einwände zu antworten. Weil das alles mit Wissenschaft nichts zu tun habe, sei diese „Kunst“ äußerst schädlich, denn sie verderbe die Vernunft.59 Das – auf Ballweg zurückgehende60 – ironische Fazit dürfte auch der Jubilarin gefallen: „Topoi gibt es wunderfeine. Wer sie kennt, der glaubt an keine.“ Gleichwohl ist damit nicht endgültig der Stab über die Topik gebrochen. Sie erweist sich bisweilen durchaus als hilfreich. Denn wirft man einen topos in die Debatte, so wird damit zumindest auf einen Gesichtspunkt hingewiesen, der beachtens- und prüfenswert sein könnte.61 Er kann zudem vielseitig verwendbar sein. Als Beispiel mag die Redeweise von der „Einheit der Rechtsordnung“ dienen. Sie wird etwa herangezogen, um den juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff zu stützen.62 Im Staatsexamen stellte ein zivilrechtlicher Kollege die Frage, ob strafrechtliche Rechtfertigungsgründe (hier: § 193 StGB) auch im bürgerlichen Recht Anwendung finden. Der vom Niveau mündlicher Prüfungen zumeist nicht allzu verwöhnte Prüfer wird sich erst einmal zufrieden geben, wenn ein Kandidat triumphierend auf die Einheit der Rechtsordnung verweist. Da heutzutage die juristische Interpretation verbreitet als Argumentation63 begriffen wird, ist gegen das Bereithalten und Verwenden bestimmter Argumente wenig einzuwenden. Es kann nur ein systematisches Denken nicht ersetzen, aber immerhin ergänzen. 58
So Hruschka, JZ 1985, 1, 9. Wiedergegeben bei Kriele, Rechtsgewinnung (Fn. 56), S. 115. 60 Zitiert nach Klenner, NJ 1992, 284, 288. 61 Ebenso Kriele, Rechtsgewinnung (Fn. 56), S. 147. 62 Statt aller Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 19), § 263 Rn. 83. Zur „Einheit der Rechtsordnung“ als Auslegungsargument siehe auch Rüthers, Rechtstheorie3, 2007, Rn. 276. 63 Dazu Hilgendorf, Argumentation in der Jurisprudenz, 1991; Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986; sogar als Gegensatz – „Argumentation versus Interpretation“ – formuliert bei Grasnick, JZ 2004, 232. 59
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3. Systematischer Deliktsaufbau Zum Abschluss befasst sich Puppe64 mit den sog. Aufbauschemata als Programmen zur Entscheidung von Einzelfällen. Als Bedingungen eines korrekten Prüfungsschemas werden genannt: Logisch richtige Reihenfolge, Kohärenz der Prüfungsschritte sowie Ökonomie und Universalität. a) Bedeutsam ist zunächst der Hinweis, dass in einem Aufbauschema logische Zusammenhänge ausgedrückt sind. So muss die Prüfung eines Versuchs mit dem subjektiven Tatbestand beginnen, weil man ein unmittelbares Ansetzen (§ 22 StGB) nicht feststellen kann ohne zu wissen, was der Täter – nach seiner Vorstellung – eigentlich verwirklichen wollte. Weniger eindeutig erscheint hingegen die „richtige“ Erörterung einer mittäterschaftlichen Begehung. Diesbezüglich wendet sich die Jubilarin vehement gegen die Anweisung, Mittäter in bestimmten Fällen gemeinsam zu prüfen. Letztere Konstellation bedarf jedoch eines differenzierten Schemas.65 Verwirklicht A sämtliche objektiven und subjektiven Deliktsmerkmale, während B (nur) Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlungen beiträgt, dann ist A jedenfalls Täter (§ 25 I StGB); für B muss eingeständig die Beteiligungsform erörtert werden. Führen aber beide die Tat gemeinschaftlich aus, indem sie z. B. mit vereinten Kräften einen Tresor fortschaffen, so kann von vornherein auch nur dasselbe Ergebnis dabei herauskommen. Eine getrennte Prüfung würde zu umständlichen Wiederholungen führen und damit gegen das Ökonomiegebot (3. Aufbauregel) verstoßen. Es ist zudem nicht einzusehen, warum der Bearbeiter dadurch in „unlösbare Schwierigkeiten“ geraten sollte.66 Denn er braucht ja nunmehr die Prüfung nicht fortzusetzen, da mit dem gefundenen Ergebnis die Frage der Beihilfe bereits abschlägig beschieden ist. b) Die ökonomische Handhabung eines Schemas wird darin gesehen, unnötige Prüfungsschritte zu vermeiden. Demnach erweise sich die Erörterung von Qualifikationen als überflüssig, wenn die Verwirklichung des Grundtatbestandes gerechtfertigt oder wenn der Täter von dessen Versuch wirksam zurückgetreten ist.67 Hinsichtlich dieser Vorgehensweise besteht allerdings keine Einigkeit. Mancherseits wird es als (klausurtaktischer) „Vorteil“ angesehen, dass Mordmerkmale selbst dann angesprochen werden, wenn die Tötung gerechtfertigt oder entschuldigt ist.68 Auch beim Mordversuch soll vor der Prüfung des strafbefreienden
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Kleine Schule (Fn. 1), S. 181 ff. Vgl. Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 882. 66 So aber Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 183. 67 Puppe, Kleine Schule (Fn. 1), S. 185 f. 68 Vgl. Jäger, Examens-Repetitorium, Strafrecht BT3, 2009, § 1 Rn. 14; Rengier, BT II (Fn. 31), § 1 Rn. 4. 65
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Rücktritts festzustellen sein, welche Strafe der Täter verwirklicht, von der er durch den Rücktritt befreit werden kann.69 Wiederum gebührt einer differenzierenden Lösung der Vorzug. Was zunächst die Rechtfertigung betrifft: Bei deren eindeutigem Vorliegen mag die Tatbestandsverwirklichung dahinstehen können. In zweifelhaften Fällen ist jedoch Sinn und Zweck des Gutachtens zu berücksichtigen, die Entscheidung vorzubereiten. Wenn nämlich der Leser den Rechtfertigungsgrund nicht anerkennt, dann bleibt für ihn offen, ob etwa ein Mord vorliegt; diesen hatte der Verfasser in die Prüfung ja nicht einbezogen. Hinzu kommt, dass die Anforderungen je nach Tatbestand unterschiedlich ausfallen können. So ist denkbar, dass eine in Notwehr begangene einfache Körperverletzung noch erforderlich und geboten erscheint, eine gefährliche oder schwere dagegen nicht. Bei der Körperverletzung mit Todesfolge wäre außerdem zu prüfen, ob die (ungewollten) Auswirkungen, die über das erforderliche Maß hinausgehen, der Notwehrhandlung ihre Rechtmäßigkeit nehmen.70 Ferner ist an die vorläufige Festnahme zu denken: Der im Rahmen des § 127 StPO geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit untersagt es regelmäßig, die Flucht eines Straftäters durch Handlungen zu verhindern, die eine ernsthafte Gesundheitsschädigung oder unmittelbare Lebensgefährdung zur Folge haben.71 Die Reichweite des Rechtfertigungsgrundes ist also vom Umfang der Tatbestandsverwirklichung abhängig! Das ökonomische Prinzip kann auch beim Rücktritt vom Versuch in ein (Aufbau-)Dilemma führen. Dies gilt etwa für den Rücktritt vom erfolgsqualifizierten Raubversuch. Würde der Bearbeiter hier lediglich den versuchten Grundtatbestand (§ 249 StGB) heranziehen und strafbefreienden Rücktritt bejahen, dann ginge das umstrittene Problem verloren, ob der Täter nach Eintritt der Todesfolge überhaupt noch vom Versuch zurücktreten kann.72 Eine Potsdamer Examensklausur hat deutlich gemacht, dass nun tatsächlich für den Kandidaten die „unlösbare Schwierigkeit“ entsteht, den nahe liegenden § 251 StGB in der Fallbearbeitung irgendwie unterzubringen. c) Das abschließende Fazit der Jubilarin73 lautet: „Der sicherste, einfachste und kürzeste Weg zur Lösung ist der beste.“ Das hat vieles für sich, ist aber – wie soeben dargestellt – mit der Einschränkung zu versehen, dass manche Abkürzungen auch am Problem vorbeiführen können.
So Otto, Übungen im Strafrecht6, 2005, S. 78. Siehe dazu BGHSt 27, 313. 71 Vgl. BGHSt 45, 378, 381; BGH NStZ-RR 2007, 303. 72 Bejahend BGHSt 42, 158; a. A. Streng, FS Küper, 2007, S. 629 ff.; Wolters, GA 2007, 65 ff. 73 Kleine Schule (Fn. 1), S. 186. 69 70
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III. Schluss Aus der „kleinen“ Schule konnte an dieser Stelle nur ein kleiner Ausschnitt zur Sprache kommen. Behandelt werden dort Begriffe im Recht, Argumentationsformen der Rechtsfortbildung, Recht und Logik u. a. Daraus ergibt sich ein wahrhaft „großes“ Kompendium des juristischen Denkens, das dem Studierenden anschaulich nahegebracht wird. Falls er dann – zu allem Überfluss – auch noch den hiesigen Beitrag zur Kenntnis nimmt, mag er feststellen, dass die Juristerei von der kritischen Auseinandersetzung lebt. Dies hatte ihm aber auch schon Ingeborg Puppe meisterhaft vorgeführt.
Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Ingeborg Puppes Lehren dazu Von Reinhard Merkel „Das Gesetz der Kausalität [. . .] ist ein Relikt vergangener Zeiten; wie die britische Monarchie überlebt es nur, weil man irrtümlich glaubt, es richte keinen Schaden an.“ Bertrand Russell, On the Notion of Cause, in: Proceedings of the Aristotelian Society, 13 (1912–13), S. 1 „Ich glaube nicht, daß [das tiefe Problem der Kausalität] für uns im eigentlichen Sinne lösbar ist. Wenn man längere Zeit darüber nachdenkt, stellt sich ein außerordentlich peinliches Gefühl ein, nicht von blödsinnigem Dösen herrührend, sondern eine Art geistiger Drehschwindel, weil man stets wieder glaubt, die Sache begriffen zu haben, dann aber gewahr wird, daß man sich beständig in enger und enger werdenden Kreisen bewegt.“ Erwin Schrödinger, Brief an Hans Reichenbach, 25. Januar 1924, abgedruckt in: Erkenntnis 3 (1932), S. 65
I. Philosophische Grundfragen Russells Prognose, sowohl der Begriff als auch das Problem der Kausalität würden aus den Naturwissenschaften allmählich verschwinden, hat sich nicht bestätigt. Er hatte vor allem die Physik im Auge, aber auch die auf sie bezogene Wissenschaftsphilosophie.1 Für das Strafrecht, dem die Prognose nicht galt, wäre sie ohnehin bedeutungslos geblieben. Die meisten strafgesetzlichen Tatbestände enthalten kausalistisch formulierte Handlungsmerkmale, auch wenn darin nicht, wie in den Fahrlässigkeitstatbeständen, ausdrücklich von „verursachen“ die Rede ist: töten, misshandeln, schädigen, einsperren, nötigen, vereiteln, Brände legen, 1 Er selbst hat übrigens seine Dia- bzw. Prognose in dieser starken Form auch für die Physik nicht aufrechterhalten. Weiterhin abgelehnt hat er nur den Begriff der „Ursache“; einen analytisch geklärten Begriff des „Kausalgesetzes“ dagegen für unentbehrlich gehalten; s. (schon zwei Jahre später) Russell, Our Knowledge of the External World, 1914, S. 215 ff.; s. auch ders., Analysis of Mind, 1921, Kap. V; ders., Human Knowledge. Its Scope and Limits, 1948, Teil IV, Kap. IX.
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etc. Genauso dicht durchsetzt von Kausalbegriffen ist unsere Alltagssprache. Aber selbst aus der theoretischen Physik, deren fundamentale Gesetze großenteils keine Kausal-, also Verlaufsgesetze sind, sondern Differentialgleichungen über funktionale Zusammenhänge und Zustände2, ist der Kausalitätsbegriff offenbar keineswegs verschwunden, von anderen Naturwissenschaften wie der Biologie oder der Medizin gar nicht zu reden.3 Das ist wohl einer der Gründe für die erstaunliche Renaissance des Themas Kausalität in der Wissenschaftstheorie seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie hat eine geradezu lawinenhafte Fülle kausalitätstheoretischer Untersuchungen hervorgebracht, deren konzeptionelle Vielfalt kaum noch überschaubar ist.4 Diese Bemühungen haben vieles geklärt, aber vieles andere rätselhaft gelassen und manchmal erst gemacht. Über grundlegende begriffliche und metaphysische Probleme ihres Gegenstands gibt es nicht den Schatten eines Konsenses. Im Gegenteil. „Die heutige Philosophie der Kausalität“, schreibt einer ihrer namhaften Vertreter, „ist ein verworrenes Dickicht höchst unterschiedlicher Ziele, Ansätze und Theorien“.5 Jedenfalls das zweite meiner beiden Mottos am Anfang dieser Zeilen, Schrödingers abwinkender Pessimismus, scheint also seine Plausibilität bewahrt zu haben. Andererseits und immerhin sind mindestens drei Bereiche prinzipieller Fragen, auf die jede ernsthafte Kausalitätstheorie eine Antwort geben sollte, in den vergangenen Jahrzehnten deutlich geworden:6 (1) Fragen zum ontologischen Status kausaler Relationen: Beziehen sich Kausalurteile und Kausalgesetze auf etwas Reales, von ihnen Verschiedenes in der Welt oder sind sie allein epistemischer Natur, also nur theoretische Instrumente 2 Das war eines von Russells zentralen Argumenten, s. On the notion of cause (oben, 1. Motto), S. 13 f.; zum Unterschied zwischen Kausalgesetzen und den Differentialgleichungen der Physik Field, Causation in a Physical World, in: Loux/Zimmerman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Metaphysics, 2003, S. 435 ff., 439 f. 3 Zur Physik s. die Nachweise bei Hitchcock, Causation, in: Psillos/Curd (Hrsg.) The Routledge Companion to Philosophy of Science, 2008, S. 317, sowie Corry, Causal Realism and the Laws of Nature, in: Philosophy of Science 73, 2006, 261 ff. 4 Die Datenbank „Philosopher’s Index“ weist zum Stichwort „Causation“ zwischen 1940 und 1970 rund 400 Aufsätze aus, von 1970 bis 1990 knapp 900 und von 1990 bis heute knapp 2500; nimmt man das Stichwort „causality“ hinzu, so verdoppeln sich alle diese Zahlen ungefähr. – Aus der Vielzahl der neueren Bücher nur Beebee/Hitchcock/ Menzies (Hrsg.), The Oxford Handbook of Causation, 2009; Pearl, Causality. Models, Reasoning and Inference2, 2009; Spohn, Causation, Coherence and Concepts, 2009; Kistler, Causation and Laws of Nature, 2006; Collins/Hall/Paul (Hrsg.), Causation and Counterfactuals, 2004; Dowe/Noordhof (Hrsg.), Cause and Chance. Causation in an indeterministic world, 2004; Dowe, Physical Causation, 2000; Keil, Handeln und Verursachen, 2000. 5 Hall, Philosophy of causation: blind alleys exposed; promising directions highlighted, in: Philosophy Compass 1, 2006, 1. 6 Angesichts der Vielzahl von Problemen und Theorien der Kausalität kann man natürlich auch anders differenzieren; s. etwa Tooley, Causation and Supervenience, in: Loux/Zimmerman (Anm. 2), S. 386 ff.
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zur Erklärung der Welt, gewonnen aus beobachteten und induktiv verallgemeinerten Regularitäten? Gibt es spezifisch kausale Eigenschaften als solche oder können sie (in welcher sprachlichen Gestalt immer) prinzipiell zurückgeführt werden auf andere, nichtkausale Eigenschaften der Welt, etwa die raum-zeitliche Verteilung intrinsischer physikalischer Eigenschaften über alle Punkte der universalen Raum-Zeit.7 Kurz: ist eine kausale Verbindung nichts weiter als eine wahre kausalgesetzliche Erklärung oder ist sie derjenige Vorgang in der Welt, der diese Erklärung wahr macht? (2) Fragen zum epistemischen Status von Kausalgesetzen: Solche Fragen tauchen unbeschadet der Realismus- oder Reduktionismus-Position auf, die man zum obigen Punkt (1.) vertritt. Etwa: Sind Kausalgesetze dasselbe wie verallgemeinerte kausale Erklärungen? Muss man Gesetze und Gesetzesaussagen unterscheiden? Gibt es einen Kausalitätsbegriff, der nicht nur die Regularität, sondern zugleich die spezifischen Asymmetrien in Kausalrelationen erfassen kann: die zeitliche (Ursache vor der Wirkung) und die der Abhängigkeit (nur der Wirkung von der Ursache, nicht aber umgekehrt)? Sind Kausalerklärungen rein deskriptiv oder können (sollten, müssen) sie normative Elemente enthalten? Drücken Kausalgesetze außer Regularitäten auch besondere „kausierende“ Eigenschaften aus? Wie wären diese nachweisbar? (3) Fragen nach den Relata kausaler Verknüpfungen: Sind es Ereignisse? Tatsachen? Zustände? Eigenschaften? Objekte? Zu jeder einzelnen Teilfrage in allen drei grundsätzlichen Problemsphären finden sich im „verworrenen Dickicht“ wissenschaftstheoretischer Konzeptionen der Kausalität zahlreiche unterschiedliche Positionen. Manches davon ist für die Strafrechtstheorie von geringem Interesse; aber vieles andere nicht. Mustert man die Streitfragen zur Kausalität im Strafrecht unter den Blickwinkeln der drei genannten Unterscheidungen, so wird deutlich, dass manche vermeintlich strafrechtsdogmatische Kontroverse in Wahrheit eine zwischen verschiedenen Überzeugungen zu den oben skizzierten Grundfragen ist. Meist bleiben diese Grundüberzeugungen freilich ungeklärt, und die Intuitionen, in denen sie offenbar wurzeln, ebenso. Jedenfalls darf der Strafrechtler hier neugierig werden. Wie nehmen sich vor dem verworrenen Hintergrund der Wissenschaftstheorie eigentlich die Lösungen aus, mit denen Judikatur und Lehre des Strafrechts ihre eigenen Kausalitätsprobleme bewältigen? Und wie vor der radikalen Skepsis Erwin Schrödingers, immerhin eines der bedeutendsten Schöpfer der modernen Physik?
7 So, etwas vereinfacht, die prominente Position von D. Lewis, Philosophical Papers, Vol. 2, 1986, S. IX f.
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II. Zu den Grenzen sämtlicher Kausalitätsbegriffe im Strafrecht Kaum jemand hat den strafrechtlichen Kausalitätsproblemen in den vergangenen drei Jahrzehnten soviel an durchdringender Analyse gewidmet wie Ingeborg Puppe. Zu den Eckpfeilern ihrer Lehre gehört die Kritik an der traditionellen „Äquivalenztheorie“, die in der Rechtsprechung so gut wie unangefochten ist, aber auch in der Literatur nach wie vor namhafte Anhänger hat.8 Ihr gilt jede condicio sine qua non eines tatbestandlichen Erfolges als Ursache, und damit jede Ursache als dessen notwendige Bedingung. Kausalurteile sind danach kontrafaktische Konditionalaussagen der Form: Ereignis (Erfolg) E wäre nicht eingetreten, wäre nicht (zuvor) Ereignis C geschehen; deshalb ist C die (oder doch eine) Ursache von E. Das entspricht ersichtlich einem geläufigen Alltagsverständnis. So oder ähnlich würde wohl ein unbefangener Laie einem ahnungslos Nachfragenden den Begriff der Kausalität erläutern. 1. Zur Kritik der Lehre von der condicio sine qua non Spätestens seit Engischs bekannter Untersuchung von 1931 gibt es auch im Strafrecht zwei Standardeinwände gegen diese Auffassung: Sie könne das Problem bereitstehender, aber irrelevant gebliebener Ersatzursachen nicht sauber lösen, und das der überbedingten Erfolge in Fällen mehrerer hinreichender (Gesamt-)Bedingungen, also das der sog. alternativen Kausalität, überhaupt nicht.9 Puppe nennt diese Theorie deshalb „logisch falsch“: „Würden wir wirklich verlangen, dass die Handlung des Täters eine nach Naturgesetzen notwendige Bedingung für den Eintritt des Erfolges ist, so müssten wir ihre Kausalität jedenfalls in den Fällen verneinen, in denen es mehrere schlüssige und wahre Kausalerklärungen gibt.“10 Auf diese Fälle der Überdetermination beschränke ich mich im Folgenden. a) „Alternative“ oder „Mehrfachkausalität“ Dass von mehreren de facto hinreichenden Bedingungen für einen Erfolg E keine kausal für E gewesen sei, ist gewiss eine irritierende Behauptung. In dem Lehrbuchfall der zwölf Mitglieder eines Exekutionskommandos, die gleichzeitig auf ihr Opfer O schießen und alle tödlich treffen, ist keiner der zwölf Schüsse für 8 Zum Ursprung der Äquivalenztheorie im deutschen Strafrecht v. a. von Buri, Ueber Causalität und deren Verantwortung, 1873. 9 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 15 ff. 10 Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 91; dies., ZStW 92, 1980, 863, 869 ff.; ebenso bereits Engisch (Anm. 9), 15 f.; zust. Roxin, AT I4, 11/13; Hardtung, in MK § 222 Rn. 6 (jeweils m.w. N.).
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den Tod notwendig, könnte jeder hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele, wäre also keiner für diesen kausal.11 Das sieht nach einer reductio ad absurdum aus: Soll der Tod des O von niemandem verursacht worden sein? Zwei Auswege zur Rettung des kontrafaktischen Kausalitätsbegriff bieten sich an: Der erste ist beliebt, aber in Wahrheit unattraktiv: Von mehreren Handlungen, die zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden könnten, ohne dass der Erfolg entfiele, sei jede ursächlich.12 Das wird einfach verordnet – ein offensichtlich ad hoc herbei zitierter Verlegenheitsbehelf. Mit der condicio-Formel, die er angeblich „verbessert“, hat er aber keinen fassbaren Zusammenhang. Vielmehr statuiert er begründungslos einen zweiten Kausalitätsbegriff. Das zeigt, dass die Untauglichkeit des ersten, „eigentlichen“, in den Fällen alternativer Kausalität auch von dessen Anhängern gesehen und unter der Hand korrigiert wird. Aus der condicio-Formel lässt sich aber eine Begründung dafür nicht herleiten. Und eine andere als die, hier führe der eigentlich richtige Kausalitätsbegriff zu einem falschen Ergebnis, wird nicht gegeben. Es ist auch keine ersichtlich. Deshalb ist diese Lösung weniger geeignet, die condicio-Formel zu verbessern, als sie zu diskreditieren.13 Der zweite Ausweg ist einfacher und raffinierter zugleich: Man brauche keinen Ausweg. Das Ergebnis der condicio-Formel sei richtig: Keiner der zwölf Schützen sei kausal für den Tod des O. Zwar seien dies alle zusammen, aber eben keiner allein. Denn keine noch so detaillierte Kausalanalyse sei hier imstande, zwischen den verschiedenen Kandidaten für die Verursacherrolle plausibel zu unterscheiden. Daher könne man schlechterdings nicht sagen, der eine und nicht der andere (oder umgekehrt) habe unter den gegebenen Umständen die entscheidende Bedingung für den Erfolg gesetzt (selbst wenn man diesen in seiner 11 Der zweite gängige Standardeinwand, die condicio-Formel tauge nicht zur Ermittlung der Kausalität im konkreten Fall, weil eine Antwort auf ihre „Wegdenk“-Frage die Kenntnis der Kausalität schon voraussetze, sollte freilich aus der Diskussion gestrichen werden. Auch kein Anhänger der „condicio“-Lehre würde diese gänzlich triviale Einsicht noch bestreiten. Das berührt aber die Frage nach dem richtigen Begriff der Kausalität nicht (zutr. Frister, AT4, 9/7). Und natürlich kann auch kein anderer Kausalitätsbegriff das jeweilige Ergebnis seiner Anwendung auf Einzelfälle, für das man stets Erfahrungswissen braucht, gleich selber liefern. 12 Diese „Alternativen“-Formel stammt von Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, S. 47 f. Für richtig halten sie z. B. BGHSt 39, 195, 198; Baumann/ Weber/Mitsch, AT11, 14/41; Wessels-Beulke, AT39, Rn. 157; Kühl, AT6, 4/20; Kindhäuser, AT4, 10/34; Heinrich AT I, Rn. 229 (alle m.w. N.). 13 Puppe, in: NK3 Vor § 13 Rn 92, weist überdies zu recht darauf hin, dass in Fällen, in denen mehr als zwei hinreichende Bedingungen als mögliche Ursachen miteinander konkurrieren, die „Alternativen-Formel“ auch irrelevante Scheinbedingungen zu Ursachen erklärt. Das folgt daraus, dass man jede hinreichende Bedingung um jeden beliebigen weiteren Umstand ergänzen kann und immer wieder eine hinreichende Bedingung erhält. Für zwei oder mehr hinreichende und wechselweise „weggedachte“ Bedingungen gilt ersichtlich das Gleiche.
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„ganz konkreten Gestalt“ bestimme).14 Deshalb könne, sofern solche alternativ ursächlichen Täter nicht „gemeinschaftlich“ i. S. d. § 25 Abs. 2 handelten, jeder von ihnen nur wegen Versuchs bestraft werden.15 An dieser Lösung ist zweierlei misslich: Erstens, dass ein de facto zweifelsfrei tödlicher Schuss allein deshalb keine Todesursache gewesen sein soll, weil weitere Schüsse hinzu kamen, von denen jeder genauso tödlich gewesen ist. Oder knapp: Gibt es zwei vollständige Ursachen, dann keine. Kindhäuser nennt das „offen unplausibel“.16 Immerhin ist es bemerkenswert, dass nicht alle dieses Evidenzerlebnis teilen. Und schlechthin evident ist es auch nicht. Man lasse sich nur einmal unbefangen auf die Überlegung Mackies bzw. Toepels und Fristers ein. Dann hat die These, etwas aus einem Knäuel untrennbar ineinander verschlungener Bedingungen, das als einzelne Ursache prinzipiell nicht identifizierbar sei, könne auch nicht als solche behandelt werden, nichts Befremdliches. Allerdings scheint ihr Ergebnis, und das ist die zweite Misslichkeit, gegen ein normatives Prinzip zu verstoßen, das die meisten ebenfalls für evident halten: Niemand könne sich allein mit dem (sei es wahren) Hinweis entlasten, der Erfolg wäre wegen der Sorgfaltsverletzung Anderer ohnehin eingetreten.17 Gilt dieses Prinzip allgemein, dann wohl auch für die Frage der (Handlungs-)Kausalität, nicht nur für die der sog. objektiven Zurechnung, wo es die h. L. bekanntlich unter dem Stichwort des „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ verhandelt. b) Weitere Einwände gegen den kontrafaktischen Kausalitätsbegriff Die bisher skizzierte Kritik an der condicio-Formel ist im Strafrecht geläufig. Doch lassen sich weitere Einwände formulieren. Es gibt zahllose kontrafaktische Konditionalsätze, die durchaus notwendige Bedingungen der Form „Wäre C nicht gewesen, dann auch nicht E“ enthalten und die dennoch keine Kausalrelationen bezeichnen. Die condicio-Formel erfasst sie aber ebenfalls alle und weist sie somit fälschlich als Kausalurteile aus. Hier sind, von beliebig vielen möglichen, vier18: 14 So die ursprüngliche Begründung dieser Position bei Mackie, The Cement of the Universe, 1974, S. 47; ihr folgt Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 72 ff.; zust. Frister, AT4, 9/12 f. 15 Selbst die mittäterschaftliche Haftung, die hier wohl niemand bestritte, wird freilich konstruktiv problematisch, wenn man zuvor jedem Einzelnen attestiert, sein Beitrag sei nicht (mit-)kausal für den Erfolg gewesen. Was an Erfolgsbedingung im Handeln jedes Anderen wird dann eigentlich jedem zugerechnet, wenn man zuvor genau dieses Erfolgsbedingungsquantum für Alle auf Null festgesetzt hat? (Elfmal Null ergibt auch nur Null.). 16 Kindhäuser (Anm. 12), 10/34; ähnlich Baumann/Weber/Mitsch (Anm. 12), 14/40. 17 Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 218; Hardtung, in: MK, § 222 Rn. 44. 18 In der philosophischen Diskussion hat, wenn ich recht sehe, erstmals Kim, Causes and Counterfactuals, in: J. of Philosophy 70, 1973, 570 ff., auf solche Fälle hingewiesen.
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(1) Wäre gestern nicht Freitag gewesen, dann wäre heute nicht Samstag. Dass der gestrige Freitag nicht den heutigen Samstag verursacht hat, ist sicher. Nun wird man vielleicht sagen, Wochentage seien keine Ereignisse, und nur zwischen solchen gebe es Kausalbeziehungen. Damit bekennt man sich in der oben unter I. (3) skizzierten Grundsatzfrage über die Relata kausaler Beziehungen zu einer der dort vertretenen Positionen. Freilich ist diese höchst umstritten. Puppe jedenfalls teilt sie nicht; sie nennt die Relata von Kausalitätsbeziehungen öfter „Tatsachen“.19 Tatsachen sind aber etwas anderes als Ereignisse. Freilich werden in der Strafrechtslehre beide Begriffe meist nicht unterschieden, wiewohl die Differenz deutlich und nicht selten auch wichtig ist. Ereignisse sind konkrete Vorkommnisse in Raum und Zeit, Tatsachen sind zeit- und ortlose Abstrakta über solche Ereignisse: der Sinn von Sätzen, mit denen sie beschrieben werden können. Dass Julius Caesar 44 vor Christus ermordet wurde, ist (Präsens!) eine Tatsache und wird es immer bleiben; dagegen geschah das Ereignis, das ihr zugrunde liegt, vor mehr als zwei Jahrtausenden und ist seither vorbei. Doch auch wer Tatsachen als geeignete Relata von Kausalbeziehungen ansieht und außerdem Anhänger der condicio-Formel ist, hält den gestrigen Freitag nicht für die Ursache des heutigen Samstags. Aber er wird nolens volens zugeben müssen, dass die Tatsache, dass gestern Freitag war, eine notwendige Bedingung für die Tatsache darstellt, dass heute Samstag ist. (2) Wäre Sokrates nicht gestorben, dann wäre Xantippe nicht zur Witwe geworden. Das Sterben des Sokrates war ein Ereignis und es war notwendige Bedingung für das Zur-Witwe-Werden der Xantippe. Gleichwohl wäre es verfehlt zu sagen, der Tod des Sokrates habe das Zur-Witwe-Werden der Xantippe verursacht.20 Das liegt nicht etwa daran, dass es sich in Wahrheit nur um ein einziges Ereignis handelte. Denn das ist nicht der Fall. Vielmehr unterscheiden sich beide Ereignisse nicht nur in den Orten, an denen sie geschahen, sondern (wie die Relata wirklicher Kausalbeziehungen auch!) durch das asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen. Das Zur-Witwe-Werden Xantippes hing vom Sterben des Sokrates ab, nicht aber dieses von jenem: Weil (oder indem) Sokrates starb, wurde Xantippe zur Witwe – die Umkehrung wäre Nonsens. Und dennoch hat der Tod des Sokrates Xantippes Zur-Witwe-Werden nicht verursacht.
19 Z. B. Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 115 u. ö.; dies., FS Roxin, 2001, S. 293; dies., SchwZStR 107, 1990, 141 (jetzt auch in dies., Strafrechtsdogmatische Analysen, 2006, S. 191, 201, 203). 20 Schon (aber nicht nur) deshalb, weil es keine zeitliche Differenz zwischen beiden Ereignissen gibt, nicht einmal die minimale einer Lichtgeschwindigkeitsbrücke zwischen ihnen; s. zu dem Beispiel Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 94.
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Man mag einwenden, der Witwenstatus sei bloß ein kulturelles Etikett, sein Eintreten nicht wirklich ein Ereignis und deshalb auch keine mögliche Folge einer Verursachung. Vielleicht (wiewohl es ganz gewiss eine Tatsache ist). Aber dann betrachte man das Folgende: (3) Wäre der Schlüssel nicht von mir gedreht worden, dann hätte ich die Tür nicht aufgeschlossen. Fraglos zwei Ereignisse, keineswegs identisch miteinander, vielmehr eine asymmetrische Abhängigkeitsrelation konstituierend: das erstere notwendige Bedingung des letzteren, nicht umgekehrt. Trotzdem ist mein Drehen des Schlüssels nicht die Ursache meines Aufschließens der Tür gewesen (wiewohl es natürlich die Ursache für das jetzige Offensein der Tür ist). (4) Wäre das Barometer nicht abrupt und stark gefallen, so hätte es kein Unwetter gegeben. Zwei Ereignisse, das Auftreten des ersteren eine (empirisch) notwendige Bedingung für das des letzteren und dennoch nicht dessen Ursache (das Sichbefinden des – funktionierenden – Barometers im Unwettergebiet natürlich vorausgesetzt). Der Grund liegt auf der Hand. Beide Ereignisse sind zwar gesetzmäßig korrelierte, aber kausal unverbundene Folgen derselben Ursache: der rapiden Veränderung bestimmter Werte des atmosphärischen Drucks. Die Befunde aus allen vier Beispielen sind gewiss trivial. Nicht trivial ist aber, dass der Kausalitätsbegriff der condicio-Formel sie nicht identifizieren und deshalb nicht definitorisch aussondern kann. Weil die in ihnen ausgedrückten Relationen seinem Kausalitätskriterium des asymmetrischen notwendigen Bedingungszusammenhangs vollständig entsprechen, erfasst er sie ausnahmslos als Kausalverhältnisse. Sie sind aber offensichtlich keine. Der Begriff ist hier zu weit. Er erfasst zu viel als vermeintlich kausal, während er sich oben in den Fällen der „alternativen Kausalität“, wo er überbedingende Mehrfachursachen ausgrenzt, gerade umgekehrt als zu eng erwiesen hat. Also ist er falsch. Oder sagen wir, vor der Musterung seiner Konkurrenten, vorsichtiger: Er passt für zahlreiche Fallkonstellationen nicht, auf die er sich gleichwohl bezieht. Sie lassen sich, wie die vier Beispiele zeigen, in zwei Grundtypen unterteilen: Im ersten konstituiert ein Ereignis (oder eine Tatsache oder ein Umstand) C einen bestimmten (Ereignis-, Tatsachen- oder Umstands-)Erfolg E als dessen notwendige Bedingung mit, ohne ihn doch zu verursachen; dafür stehen die Beispiele (2) und (3). Zum zweiten Typus gehören Ereignispaare, bei denen einem E jeweils notwendig ein C vorausgeht, E zu C in einem asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnis steht, aber dennoch nicht von C verursacht wird, weil vielmehr beide eine gemeinsame Ursache haben: Beispiele (1) und (4).21 21 Man mag zweifeln, ob Fall (1.) (Sukzession der Wochentage) dem Typus „gemeinsame Ursache“ oder dem der „Mitkonstitution“ zugehört. Zwar sind die Gravitationsverhältnisse unseres Sonnensystems der einheitliche Ursprung für den Ablauf von
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Nun liegt der Einwand nahe, solche Finessen spielten für das Strafrecht keine Rolle. Das ist vielleicht richtig. Aber sie deuten auf eine Einsicht, die für den Streit der Strafrechtler um den Kausalbegriff sehr wohl wichtig werden kann. Wenn wir fragen, inwiefern C für E kausal gewesen ist, dann liefert uns die Antwort „Weil C condicio sine qua non für E war“ offenbar weniger, als wir wissen wollen. Denn es gibt ersichtlich noch mindestens zwei weitere Typen von Relationen, die von kontrafaktischen Konditionalaussagen erfasst werden; deshalb wüsste man gerne, worin genau sich ein Kausalverhältnis von solchen Relationen unterscheidet. Oder anders: Kraft welcher spezifischen Eigenschaften verursachen manche condiciones sine quibus non ihre Folgen, während andere die ihren, wiewohl notwendig, bloß mitkonstituieren bzw. ihnen, wenngleich nomologisch, bloß vorangehen? Eine befriedigende Antwort des Anhängers der condicio-Formel müsste wohl lauten: „Kraft ihrer condicio-sine-qua-non-Rolle – plus X.“ Was dieses X ist, erführe man gern. 2. Zur Kritik der sog. Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung Einige der oben formulierten Einwände lassen sich, man ahnt es, auch gegen die im Strafrecht heute herrschende Kausalitätslehre vorbringen, die Lehre von der „gesetzmäßigen Bedingung“. Danach ist ein Handeln für einen Erfolg kausal, wenn sich daran „zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung nach den uns bekannten Naturgesetzen notwendig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen“.22 Auch Puppe stimmt diesem Kausalitätsbegriff nachdrücklich zu.23 Und er hat gegenüber dem Begriff der condicio-Formel eine Reihe von Vorzügen, die in der Strafrechtslehre ausführlich gewürdigt werden. Aber umfassend richtig ist er ebenfalls nicht. Dabei mag die unbefragte Voraussetzung, es gebe hinreichende Klarheit darüber, was ein „Naturgesetz“ sei, auf sich beruhen, wiewohl es eine solche Klarheit so wenig gibt wie über den Begriff der Kausalität.24 Ein Einwand, den schon Tag und Nacht; aber diese Verhältnisse sind wohl keine Kausalrelationen. Denn jeder zugehörige Himmelskörper ist permanent zugleich Ursache und Wirkung des gesamten Systems und seiner Bewegungen. Das widerspricht dem Begriff der Kausalität, der es nicht erlaubt, Ursache und Wirkung zu identifizieren. Deshalb spricht man hier besser von „funktionalen Zusammenhängen“ (ähnlich Keil, Anm. 4, S. 7). 22 So die auf Engisch (Anm. 9, S. 21) zurückgehende Formulierung Jeschecks, in: ders./Weigend, Strafrecht AT5, S. 283; zust. Roxin, AT I4, 11/15, m.w. N. zahlreicher Autoren. 23 Anders als die h. L. sieht sie aber richtig, dass sich daraus allein nicht ergibt, „wie die Beziehung zwischen einer Einzelursache und der Folge logisch zu bestimmen ist“ (Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 102; dies., Strafrecht AT Bd. 1, 2002, 2/13 ff.), und dass man deshalb allein mit der „Gesetzmäßigkeits“-Formel die Problemfälle der Reserveursachen und der Mehrfachbedingungen nicht lösen kann. 24 Viele Linien im wissenschaftstheoretischen Streit um den Begriff des Naturgesetzes laufen sachlich parallel zu denen in der Kausalitätsdebatte; s. dazu nur den Über-
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Russell formuliert hat, sei aber erwähnt25: Je „gesetzesartiger“ (genereller) man einen solchen Zusammenhang formuliert, desto weniger kann man seinen Charakter als Naturgesetz behaupten, ohne ihm zugleich eine große Menge sog. ceteris-paribus-Klauseln beizugeben. Und je spezifischer man ihn formuliert, desto weniger kann er als allgemeines Naturgesetz gelten. Exemplarisch: Dass ein Mensch, dem man eine bestimmte Menge der chemischen Substanz S beibringt, daran stirbt, kann gesetzesförmig allenfalls behauptet werden, wenn man zahlreiche Präzisierungen anfügt – etwa: Nicht ein zwanzig- bis fünfzigjähriger, sondern nur ein Mensch, der jünger als zehn oder älter als achtzig Jahre ist, und nur wenn nicht Hinderungsgründe H1, H2, H3, . . . Hn hinzutreten, etc. Alle diese ceterisparibus-Aussagen müssten, damit von einem naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen Vergiftung und Tod die Rede sein könnte, selber wieder als naturgesetzliche darstellbar sein; ihre Formulierung liefe also auf ein analoges Problem hinaus. Dass dieses ganze Geflecht positiver wie negativer Umstände am Ende als „naturgesetzlich ursächliches“ empirisch festgestellt, ja auch nur feststellbar wäre, erscheint eher abwegig. Was die Annahme, der nun einmal wirklich eingetretene Tod sei gleichwohl die Folge eines Zusammenspiels zahlreicher naturgesetzmäßiger Abläufe, trotzdem plausibel macht, ist etwas anderes: die stillschweigende prinzipielle Voraussetzung, in der Natur gehe eben alles stets „mit rechten Dingen zu“, nämlich strikt gesetzesförmig. Aber das ist keine naturgesetzliche, also empirische Erkenntnis, sondern eine metaphysische Hypothese, und in dieser gänzlich allgemeinen Formulierung ist sie wohl nicht einmal richtig. Gleichwohl mögen diese Fragen hier auf sich beruhen. Sie sollen übrigens nicht insinuieren, die Praxis der Zurechnung von Handlungsfolgen im Strafrecht sei eigentlich irrational. Das ist sie keineswegs; vielmehr ist sie in Form und Methode im Grundsatz ohne vernünftige Alternative. Was den gleichwohl allzu lockeren Gebrauch der „Naturgesetz“-Formel im Strafrecht regelmäßig unschädlich macht, ist dies: Es ist viel leichter, von bestimmten Erfolgen ausgehend die Linie der Begebenheiten, die zu ihnen geführt haben, bis zu den Ursachen zurückzuverfolgen, als umgekehrt aus (potentiellen) Ursachen irgendwelche Erfolge vorherzusagen. Oft kennen wir die Ursachen bestimmter Erfolge mit großer Gewissheit, ohne auch nur entfernt in der Lage zu sein, alle Naturgesetze anzugeben, die jene Begebenheiten in die unwandelbaren Bahnen ihrer Regularitäten gezwungen hätten.26 Anmerken darf man immerhin, dass in der Kausalitätslehre des Strafrechts ein Tonfall des allzu unbefangenen Glaubens an die Naturwissenschaften herrscht, zu dessen Bestätigung nicht selten auch die Wissenschaftstheorie bemüht wird, die ihn nicht teilt. blicksartikel von Caroll, Laws of Nature, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/laws-of-nature (kontaktiert am 20.4.10). 25 Russell, On the notion of cause (Anm. 2 und 1. Motto), S. 7 ff. 26 Ähnlich Anscombe, Causality and Determinism, in: dies., Metaphysics and the Philosophy of Mind (Collected Philosophical Papers, Vol. II), 1981, S. 133, 135 f.
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Ein wirklicher Einwand ist aber der Verweis auf einen Umstand, der oben auch gegen die condicio-Formel vorgebracht wurde: Es gibt zahlreiche gesetzmäßig miteinander verbundene Begebenheiten, deren eine die andere bedingt, also erklärt (nicht aber umgekehrt), ihr zeitlich auch vorausgeht – und dennoch nicht deren (Mit-)Ursache ist. Die sog. Formel von der gesetzmäßigen Bedingung weist solche nomologischen Korrelationen als Kausalbeziehungen aus. Das sind sie aber nicht. Also ist die Formel falsch, oder sagen wir wieder vorsichtiger: in vielen Fällen nicht brauchbar. Das gilt für beide oben identifizierten Typen solcher Korrelationen, den Typus „kausal unverbundene Folgen derselben Ursache“ wie den Typus „konstitutiv, aber nicht kausal“. Die Sukzession der Wochentage, die zeitlich geordnete Korrelation von Barometerfall und Unwetter oder das Drehen des Schlüssels und das Öffnen der Tür sind nomologisch korrelierte Paare von Vorgängen, deren jeweils erster den zweiten erklärt, aber nicht verursacht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Dass wir den Barometersturz regelmäßig nicht für die Erklärung des Unwetters nehmen, liegt daran, dass wir in diesem Fall (wie oft, aber nicht immer) mit „Erklärung“ sofort „Kausalerklärung“ meinen und dass die Nichtkausalität des Barometers für das Unwetter evident ist. Doch gibt es nicht bei allen gesetzmäßig, aber nichtkausal korrelierten Ereignissen eine solche Evidenz. (Ist der Blitz die Ursache des Donners? Oder haben beide eine gemeinsame Ursache: eine atmosphärische elektrische Entladung?) Wäre es richtig, dass wir nur, aber auch schon im induktiven Modus der Formel von der „gesetzmäßigen Bedingung“ zu wahren Kausalerklärungen kämen, dann müssten wir eigentlich noch immer den Barometersturz für die Ursache des Unwetters halten. Also ist die Formel jedenfalls zu grob. Hier ein letztes Beispiel: (5) Immer wenn Wasserstoff- und Sauerstoffmoleküle in hinreichender Menge und im Schema H2O zusammenkommen, entsteht ein Stoff mit den Makroeigenschaften des Wassers. Gewiss eine wahre Erklärung des „Verhaltens“, nämlich der Eigenschaften von Wasser aus den „gesetzmäßigen Bedingungen“ seiner Mikrostruktur, und dennoch keine Kausalerklärung. Es wäre Unsinn zu sagen, die Mikrostruktur H2O verursache das Wasser. (Permanent aufs neue?) Wohl aber konstituiert, determiniert, bedingt sie es. Aus all dem ergibt sich eine wichtige Einsicht. Ganz offensichtlich wissen wir mehr über Kausalverbindungen, als uns die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung sagt, etwas, das über die Regularität zeitlich geordneter Korrelationen von Ereignissen (oder Tatsachen oder Umständen) hinausgeht. Ein weiterer Einwand gegen die „Naturgesetz“-Formel macht das ebenfalls deutlich. Naturgesetzliche Korrelationen erlauben manchmal nicht nur die Erklärung des zweiten Relatums (des Explanandums) aus dem ersten (dem Explanans), sondern umgekehrt auch die des Explanans aus dem Explanandum. Mit dem Begriff einer Kausalerklärung ist das nicht vereinbar: Nur die Ursache er-
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klärt den Erfolg, nicht dieser jene. Es gibt, heißt das, noch weitere Erklärungen kraft „gesetzmäßiger Bedingung“, die keine Kausalerklärungen sind. Beispiel27: (6) Ein Turm der Höhe H wirft nachmittags um 16 Uhr im Sonnenschein einen Schatten der Länge L. Messen wir L, so können wir mithilfe diverser Naturgesetze (Position der Erde zur Sonne, elementare Gesetze der Geometrie und der Physik, etc.) die Höhe H genau berechnen, also aus der Länge des Schattens erklären, dass der Turm soundso hoch sein muss. Das ist eine vollständige und gültige deduktiv-nomologische Erklärung im Sinn der Lehre von der „gesetzmäßigen Bedingung“. Aber es ist keine Kausalerklärung, der Schatten offensichtlich nicht die Ursache der Turmhöhe. Auch hier wissen wir also deutlich mehr über Kausalität, als uns die „Formel von der gesetzmäßigen Bedingung“ sagen kann – nämlich, dass die naturgesetzliche Verbindung, die wir von L zu H knüpfen können, keine Kausalverbindung ist. Was sind dann aber die besonderen Eigenschaften von Kausalrelationen, kraft deren sich gerade das Verursachtsein der Folge durch ihre Bedingungen erklären lässt? Eine befriedigende Antwort des Anhängers der „Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung“ müsste wohl lauten: „Ihr naturgesetzmäßiges Bedingtsein – plus X.“ Erneut: Was dieses X ist, erführe man gern. 3. Ist ein Kausalzusammenhang nichts anderes als eine wahre kausale Erklärung? Das behauptet Puppe, und sie befindet sich damit in einer berühmten philosophischen Tradition, auf die sie sich auch beruft: in der David Humes und einer historisch langen Reihe seiner Anhänger bis in die Gegenwart.28 Damit ist vor allem eine Position in dem oben unter I. (1) skizzierten Grundsatzstreit über den ontologischen Status kausaler Relationen bezeichnet: die einer nachdrücklichen Ablehnung des kausalitätstheoretischen Realismus. Noch so viele Beobachtungen kausaler Abläufe, so Humes skeptisches Monitum, könnten uns keine Einsicht in 27 Nach Humphreys, Scientific Explanation: The Causes, Some of the Causes, and Nothing But the Causes, in: Kitcher/Salmon (Hrsg.) Scientific Explanations. Minnesota Studies in the Philosophy of Science XIII,1989, S. 283 ff., 300; dort noch weitere Einwände gegen die sog. deduktiv-nomologische Auffassung kausaler Erklärungen (das ist die „Formel von der gesetzmäßigen Bedingung“; dazu Puppe, FS für Spendel, 1992, S. 451, 457). 28 Siehe z. B. Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 81 f. (mit Fn. 12), u. ö. Humes berühmte regularitätstheoretische Kausalauffassung v. a. in: An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Sect. IV/1 sowie VII/1; 2; dort befürwortet er freilich unvermutet und ohne jeden Zusammenhang mit seiner regularitätstheoretischen Auffassung plötzlich auch eine condicio-sine-qua-non-Formel. Zu Humes Spuren in der Formel von der „gesetzmäßigen Bedingung“ im Strafrecht Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 159 ff.
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irgendetwas ontologisch „Kausierendes“, irgendeine Notwendigkeit oder gar „Wirkkraft“ in diesen Vorgängen liefern. Also sollten wir den Kausalitätsbegriff nicht mit einer solchen spekulativen Implikation überlasten. Puppe stimmt dem zu. „Kausalität“ bestehe in nichts anderem als in wahren kausalgesetzlichen Erklärungen. Sie sei nicht Teil der Welt, sondern unserer Theorien über diese – ein epistemischer, kein ontologischer Begriff: „Was Ursache und Folge tatsächlich miteinander verknüpft, ist allein das sog. Kausalgesetz.“ Dieses selbst stelle „den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung her“.29 Daraus ergeben sich für das Strafrecht Konsequenzen. Wenn „das Kausalgesetz selbst“ und nicht die Natur die kausierende Brücke zwischen Ursache und Wirkung schlägt, dann müssen die Relata der Kausalrelation nicht unbedingt Ereignisse, Vorgänge in Raum und Zeit, sein. Vielmehr kommen dafür auch Tatsachen, also zeit- und ortlose sprachliche Abstracta über solche Naturvorgänge, in Betracht. Puppes gelegentliche Bemerkungen über „Tatsachen“ als kausale Relata sind daher schlüssig.30 Und ebenfalls schlüssig ist deshalb ihr Votum für die Anerkennung einer echten (nicht bloß „Quasi“-)Kausalität des Unterlassens. Denn Bestandteil einer wahren kausalen Erklärung, also dessen, was nach Puppe die Kausalrelation ist, kann selbstverständlich „auch die Tatsache [sein], dass jemand etwas Bestimmtes nicht tut, also eine Unterlassung“.31 Als Ereignisse sind Unterlassungen dagegen nicht gut begreifbar. (Herr X spielt nicht Tennis. Wann und wo geschieht das? Die Tatsache hingegen, dass er nicht Tennis spielt, ist problemlos und wahr.) Diese Möglichkeit, negative Bedingungen wie Unterlassungen und Rettungshinderungen als echte Ursachen aufzufassen, hält Puppe für einen großen Vorteil der Identifikation von Kausalzusammenhang und kausaler Erklärung.32 Ein methodischer Vorteil ist das gewiss. Aber er wird erkauft mit einem Kausalitätsbegriff – dem der „gesetzmäßigen Bedingung“ –, der keineswegs rundum überzeugend ist. Das haben wir bereits oben an den beiden Falltypen nichtkausaler gesetzmäßiger Korrelationen zwischen Bedingungen und Erfolgen gesehen. Daneben gibt es aber noch einen spezifischeren Einwand gegen die Identifikation von Kausalität und kausaler Erklärung. Betrachten wir das Folgende: A fährt mit 70 km/h auf einer Landstraße, auf der eine Geschwindigkeit von 90 km/h erlaubt ist. Durch Regen und herabgefallenes Laub ist ein schmieriger Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 82, 84. Siehe oben, zu und in Anm. 19. 31 Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 117; s. auch dies., AT I (Anm. 23), 2/54 f. – Auch beim sog. Abbruch rettender Kausalverläufe müssen solche (nun zwar aktiv geschaffenen, aber immer noch) negativen Bedingungen dann als Ursachen gelten (a. a. O. Rn. 111). Hier stimmen verblüffenderweise viele zu, die andererseits eine Kausalität des Unterlassens verneinen (z. B. Jakobs, AT2, 7/22). 32 Puppe, AT I (Anm. 23), 2/56. 29 30
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Belag auf der Straße entstanden; als Fahrgeschwindigkeit angemessen wären deshalb 50 km/h. Weil A schneller fährt, gerät er in einer Kurve ins Schleudern und prallt gegen einen Baum. Woraus ist das Ereignis des Unfalls entstanden? Nun jedenfalls aus dem Ereignis des Fahrens des A auf der fraglichen Straße zu einer bestimmten Zeit und mit einer bestimmten Geschwindigkeit. Das steht außer Zweifel.33 Dieses Ereignis kann man in der Form verschiedener Tatsachen darstellen, z. B. der beiden folgenden: (1) „A ist 20 km/h schneller gefahren, als angemessen gewesen wäre.“ Und (2) „A ist 20 km/h langsamer gefahren, als auf dieser Landstraße generell erlaubt ist.“ Beide sind wahr und beide geben ein und dasselbe ursächliche Ereignis (A’s konkretes Fahren) wieder. Zur kausalen Erklärung des Unfalls taugt aber nur Tatsache (1), nicht dagegen Tatsache (2). Der Satz „Der Unfall ist deshalb passiert, weil A 20 km/h langsamer gefahren ist als dort generell erlaubt“ ließe jeden Nachfragenden kopfschüttelnd ratlos. Da beide Kausalerklärungen zugleich wahre Tatsachensätze über exakt dasselbe Ereignis enthalten, ist Tatsache (1) als Wiedergabe dieses Ereignisses gegen Tatsache (2) salva veritate austauschbar. Statt einer wahren Tatsache erhält man dann eine andere wahre Tatsache, aber zugleich statt einer wahren Kausalerklärung ein falsche. Der Kausalablauf des Ereignisses selber bleibt aber durch alle Varianten der Tatsachen- und Erklärungssätze über ihn ein und derselbe. Daher kann keine seiner beiden widersprüchlichen Erklärungen (aber wahren Tatsachen) mit ihm identisch sein. Wir scheinen also (erneut) von kausalen Relationen zwischen Ereignissen mehr zu wissen, als ihre regularitätstheoretischen Erklärungen besagen, nämlich: dass sie mit diesen jedenfalls nicht identisch sind. 4. Physikalistische Theorien: causa efficiens? Damit stehen wir wieder vor der Frage, was dieses zusätzlich Gewusste sei. Puppe hält jedes Räsonnement darüber für müßig, ja schädlich. Über die Klärung gesetzmäßiger Bedingungszusammenhänge hinaus sei dazu nichts in Erfahrung zu bringen, jedenfalls nichts Wissenschaftliches. Jede Spekulation über die Ontologie von Kausalzusammenhängen verführe nur zu der naiven Annahme einer causa efficiens, zu dem „philosophisch überholten und für die praktische Anwendung nutzlosen Postulat“ einer „sog. Wirkkraft“.34 Aber dieses Verdikt ist zweifach problematisch. Zum einen haben sämtliche ernsthaften Konkurrenten dieses „überholten“ Kausalitätsbegriffs, v. a. die beiden im Strafrecht prominen33 Auch wer, wie Puppe, primär Tatsachen als kausale Relata begreift, dürfte nicht bestreiten, dass die den Tatsachen zugrunde liegenden Ereignisse ebenfalls kausal (nämlich kausal erklärt) miteinander verbunden sind. 34 Puppe, AT I (Anm. 23), 2/53 ff.; ebenso Hilgendorf, in: NStZ 1994, 561, 564: Der im Strafrecht noch immer weithin vorausgesetzte „Wirkursachen“-Begriff sei „ein längst überholtes Kausalitätsverständnis“.
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ten35, prinzipielle Schwächen und Grenzen, und einige davon habe ich zu zeigen versucht. Zum andern ist der Kausalitätsbegriff einer (im weitesten Sinne) causa efficiens in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie keineswegs „überholt“. Im Gegenteil; er erlebt derzeit unter den Titeln „transfer accounts“ oder „physical connection accounts of causality“ und in diversen Varianten, die sich alle an der heutigen theoretischen Physik orientieren, eine in Quantität und Qualität erstaunliche Renaissance.36 Nichts daran ist wissenschaftstheoretisch naiv – ein Attest übrigens, das schon Hume den physikalistischen Kausaltheorien seiner Zeit ausgestellt hat. Viele der heutigen Wissenschaftsphilosophen halten es im Gegenteil für einen „Vorzug der Transfertheorie von Kausalität“, dass sie „eng an die Physik angebunden wird“; denn „alle verfügbare Evidenz“ spreche dafür, „dass kausale Beziehungen in etwas bestehen, das als Transfer einer physikalischen Erhaltungsgröße aufgefasst werden kann“.37 Als solche Größen, werden Energie, Impuls, oder komplizierte Erweiterungen und Verknüpfungen beider genannt. Davon soll hier schon deswegen keine Rede sein, weil die Beurteilung der Unterschiede zwischen diesen Theorien außerhalb meiner sachlichen Kompetenz liegt.38 Aber die vorsichtige Vermutung sei riskiert, dass Puppe, die solche Theorien rundum ablehnt, eine Variante davon gleichwohl selber implizit bejaht. In einem Aufsatz über den Zusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg befürwortet sie zur Unterscheidung von Ursachen und Ersatzursachen einen „kinetischen Kausalbegriff“, anhand dessen die „kinetische gesetzmäßige Entwicklung“ zwischen Ursache und Wirkung festzustellen sei.39 Vielleicht missverstehe ich sie hier, aber was wäre das spezifisch „Kinetische“ in der „gesetzmäßigen Entwicklung“ der Glieder einer Kausalkette anderes als der Transfer von Energie oder Impuls, also physikalischer Wirkungsgrößen? Doch auch physikalistische Kausalbegriffe haben, und das überrascht nun wohl niemanden mehr, prinzipielle Grenzen. Dass sie Unterlassungen als nichtkausal 35 Zu denen noch ein probabilistischer Kausalitätsbegriff käme, den Puppe ebenfalls aufnimmt und v. a. auf „prinzipiell nichtdeterminierte“ Geschehensabläufe anwenden will; s. dies., in: NK3, Vor § 13 Rn. 135 ff. monographisch Ziethen, Grundlagen probabilistischer Zurechnung im Strafrecht, 2004. 36 Aus der umfangreichen Lit. nur Dowe, Causal Process Theories, in: Beebee/Hitchcock/Menzies (Anm. 4), S. 213 ff.; ders., Physical Causation, 2000; Ehring, Causation and Persistence, 1997; ders.; The Transference Theory of Causation, in: Erkenntnis 14, 1986, 249 ff.; Fair, Causation and the Flow of Energy, in: Erkenntnis 14, 1979, 219; Kistler (Anm. 4); Salmon, Causality and Explanation, 1998; Woodward, Making Things Happen: a Theory of Causal Explanation, 2003. – Im Strafrecht hat bereits Haas (Anm. 28), S. 164 auf die Renaissance des physikalistischen Kausalitätsbegriffs hingewiesen (und freilich nur einen Bruchteil der Diskussion belegt). 37 Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie, 2002, S. 96. 38 Knappe (kritische) Darlegung der gemeinsamen Grundzüge bei Tooley, in: Loux/ Zimmerman (Anm. 2), S. 386 ff., 417 ff.; eindrucksvoll befürwortend dagegen Kistler (Anm. 4). 39 Puppe, in: ZStW 99, 1987, 595, 610.
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ausweisen, mag hinnehmbar sein; das wird im Strafrecht ja ohnehin mehrheitlich an- und hingenommen. Unerfreulicher schon für die Natur-, aber vor allem für sämtliche anderen Wissenschaften, in denen Kausalbegriffe eine dominante Rolle spielen,40 wäre die Konsequenz, dass von „wirklichen“ Kausalprozessen zuletzt nur auf der Gegenstandsebene der Mikrophysik die Rede sein könnte. Auch das mag hinnehmbar sein. Gewichtiger ist dann aber der folgende Einwand: Keineswegs für alle Kausalzusammenhänge lässt sich der durchgängige Transfer einer physikalischen Erhaltungsgröße von der Ursache bis zum Erfolg behaupten. Exemplarisch: Wenn A die Tragseile eines Lastenaufzugs durchtrennt und der ordnungsgemäß beladene Aufzug nun abstürzt und X erschlägt, so bezweifelt niemand die Kausalität von A’s Handeln für den Tod des X. Was aber den Transfer physikalischer Erhaltungsgrößen vom handelnden Körper des A zum Körper seines Opfers X angeht, so gibt es einen solchen Transfer wohl von A’s Hand über sein Instrument auf die Tragseile, aber nicht mehr von diesen auf den Aufzug, der zuletzt die tödliche Wirkung ausübt. Vielmehr stürzt dieser deshalb ab, weil er den Gesetzen der Gravitation unterliegt; aber deren Wirkung wird ihm nicht über die Seile vermittelt. Nicht das Herstellen also, sondern im Gegenteil das Unterbrechen eines physikalistischen Zusammenhangs mit dem instrumentum sceleris kennzeichnet hier den deliktischen Kausalverlauf.41 Trotz solcher prinzipiellen Grenzen des physikalistischen Kausalitätsbegriffs hält ihn die Strafrechtswissenschaft zu Unrecht für schlechthin diskreditiert, verjährt, unbrauchbar. Das zeigt sich, wenn man seine höchst erhellende Funktion für ein Kausalitätsproblem bedenkt, das die Strafrechtler überhaupt noch nicht irritiert zu haben scheint, obwohl es sie irritieren müsste. Auf dieses Problem will ich nun einen abschließenden kurzen Blick werfen. III. Mentale Verursachung? Jeder Student des Strafrechts kennt den Begriff der „psychischen Kausalität“: die Einflussnahme auf die mentale Sphäre eines andern, sei es durch Anstiftung, Drohung, Täuschung oder in anderer Weise. Auch unter den Vertretern der Lehre „von der gesetzmäßigen Bedingung“ zögern nur wenige, in solchen Fällen ohne weiteres von Kausalität zu sprechen. Aber jedenfalls wer im Schuldbereich eine Freiheit des Willens voraussetzt, müsste verneinen, dass es einen naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen der Aufforderung eines Anstifters und dem Wil40 Von der Psychologie über die Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie (etc.) bis zur Jurisprudenz. 41 Siehe dazu Schaffer, Causation by Disconnection, in: Philosophy of Science 67, 2000, 285. – Man mag hier daran denken, das Geschehen in geläufiger Diktion „Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufs“ zu nennen; doch ist das stabile Gehaltenwerden des Aufzugs durch das Seil (im Modus des Dritten Newtonschen Gesetzes) kein Kausalverlauf. (Sehr wohl ein Beispiel dafür wäre aber das tödliche Durchtrennen einer Halsschlagader!).
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lensentschluss des Angestifteten geben könne. Diesem Problem will ich hier nicht nachgehen.42 Was mich interessiert, ist sozusagen das andere Ende dieser (angeblichen) Kausalverbindung: die mentale Sphäre des Täters bzw. des Anstifters. Dass jemand auf einem physischen Weg (z. B. über die Schallwellen eines gesprochenen Satzes) die Psyche seines Adressaten soll kausal beeinflussen können, ist ja, sieht man nur ein wenig schärfer hin, rätselhaft genug. Noch rätselhafter ist aber, wie eigentlich umgekehrt sein eigener „Wille“ – per definitionem etwas Nichtkörperliches – jenes physische Mittel, sein Handeln als das Substrat seiner Tatbegehung, auf dessen kausalen Weg in die Körperwelt bringen soll. Das ist das Problem der mentalen Verursachung. In der Philosophie des Geistes gibt es inzwischen eine kaum noch überschaubare Flut an Erörterungen dazu.43 Dagegen kommt es in strafrechtlichen Diskussionen bislang praktisch nicht vor. Das ist, um das Mindeste zu sagen, erstaunlich. Seit eh und je postulieren wir unbefangen und ohne sachlichen Dissens eine „willensgesteuerte“, „willensgetragene“, „willenskontrollierte“ oder doch „-kontrollierbare“ Handlung des Täters als notwendige Minimalbedingung jeder strafrechtlichen Zuständigkeit. Die Frage, ob und wie so etwas möglich sei, hält man offenbar nicht für klärungsbedürftig.44 Sie ist es aber. Mehr als das: Auch nach Jahrzehnten intensiver philosophischer Diskussion widersetzt sie sich renitent jeder konsensfähigen Antwort. Wie etwas Nichtphysisches, per definitionem nicht zur Körperwelt Gehörendes (der „Wille“) in dieser Körperwelt physische Abläufe (Handlungen) soll verursachen oder steuern können, ist nach wie vor rätselhaft. In Wahrheit ist die Diskussion Jahrhunderte alt. Prinzessin Elisabeth von Böhmen schrieb in einem berühmten Brief vom 16. Mai 1643 an Descartes, den Urheber des ersten systematischen Versuchs einer Begründung für den kausalen Interaktionismus zwischen Geist und Körper, sie könne ihm nicht folgen; ihr falle es sogar „leichter, dem Geist Materie und Ausdehnung zuzuschreiben, als einer immateriellen Entität die Fähigkeit, einen Körper zu bewegen . . .“ 45. Dem Problem, den zahlreichen Vorschlägen zu seiner Lösung und am Ende dem skeptischen Befund ihres Scheiterns kann ich hier nicht nachgehen.46 Mir 42 Das tut vorbildlich klar Puppe, in: NK3, Vor § 13 Rn. 125 ff.; sie plädiert dort, wie ich meine völlig zu recht, für die Preisgabe der „Illusion eines einheitlichen Kausalbegriffs“. 43 Aus Hunderten von Titeln nur einige repräsentative: Heil/Mele (Hrsg.), Mental Causation (1993); Kim, Physicalism, or Something Near Enough, 2005; McLaughlin/ Cohen (Hrsg.), Contemporary Debates in Philosophy of Mind, 2007, II/3, S. 225 ff.; Peschl/Batthyany (Hrsg.), Geist als Ursache?, 2008; Pockett/Banks/Gallagher (Hrsg.), Does Consciousness Cause Behavior?, 2006; Walter, Mentale Verursachung, 2006; ders./Heckmann (Hrsg.), Physicalism and Mental Causation, 2003. 44 Ich selbst habe sie in „Willensfreiheit“ (Anm. 20), S. 83 ff. gestellt und knapp erörtert. 45 Zit. nach Garber, Descartes Embodied, 2001, S. 172. 46 Siehe noch einmal meine Problemskizze in Merkel (Anm. 20), S. 83 ff.
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kommt es auf etwas anderes an. Von den drei oben genauer erörterten Kausalitätsbegriffen ist allein der physikalistische imstande, das Problem der mentalen Verursachung immerhin offenzulegen. Die beiden anderen, im Strafrecht prominenten, dürften dagegen die Neigung fördern, dieses Problem zu übersehen. Begreift man Kausalität allein als kontrafaktischen oder als gesetzmäßigen Bedingungszusammenhang, dann mag einem nichts problematisch vorkommen, wenn auf die Frage „Was hat den Fausthieb des A verursacht, als dieser den B verletzen wollte?“ die Antwort gegeben wird „A’s Wille“. Per condicio-Formel: Denkt man diesen Willen hinweg, so hätte A nicht zugeschlagen. Oder per „naturgesetzmäßige Bedingung“: Der Faustschlag erklärt sich deduktiv-nomologisch aus (1) A’s Intention, B zu schlagen, (2) A’s Wissen, dass und wie das mittels eines Fausthiebs geht, und (3) der Abwesenheit jedwedes (naturgesetzmäßigen) Hindernisses in A’s Person oder den vorhandenen Umständen. Was wäre in diesen beiden Perspektiven am „Willensgesteuertsein“ einer solchen Handlung“ problematisch? Nun, nichts. Das ist vielleicht der Grund, warum die Strafrechtslehre das Thema „mentale Verursachung“ bis heute nicht wahrnimmt. Verfolgt man einmal „naturgesetzmäßig“ den kausalen Weg von A’s Faustschlag zurück zu dessen Ursprung, so gelangt man über die Muskelkontraktionen und die Innervierungsbahnen in den motorischen Cortex und von diesem noch in zahlreiche weitere Hirnareale und damit in zahllose Aktivitätskaskaden Hunderter Milliarden neuronaler Zellen und ihrer synaptischen Verbindungen, deren exaktes Zusammenspiel zu den Rätseln der Neurowissenschaften gehört. Damit ist die kausale Erklärung des physischen Vorgangs der Handlung schlechterdings vollständig. Fragt man nun, wie der Wille hier ins Spiel kommen und diese physischen Kausalprozesse buchstäblich anschieben soll, dann sieht man, dass die condicio-Formel darauf gar keine, und die „Naturgesetz“-Formel eine irreführende Antwort gibt. Die induktiv verallgemeinerte Regularität „Will jemand X tun und weiß er, wie das geht, und stehen ihm keine inneren oder äußeren Hindernisse entgegen, so tut er X“ lenkt ab vom eigentlichen Problem. Auf dieses deutet dagegen der physikalistische Kausalitätsbegriff hin: Der „Anschub“ der neuronalen Kausalkette im Gehirn verbraucht als ein physischer Prozess Energie. Diese Energie muss, sagt die Physik, „konserviert“ worden, also aus einer Quelle bezogen und umgewandelt worden sein, die selber zur physischen Welt gehört. Energieträger außerhalb dieser Welt kennen wir nicht; jedenfalls wäre die Möglichkeit ihrer kausalen Intervention in unsere Welt mit Grundannahmen der heutigen Naturwissenschaft nicht vereinbar.47 Daher wird, begreift man den Willen als etwas rein Mentales, das 47 Dazu Wilson, Mind-Brain Interaction and Violation of Physical Laws, in: J. of Consciousness Studies 6, 1999, 185. Das ist, beiläufig, der Grund, warum die französische Akademie der Wissenschaften seit über 150 Jahren Arbeiten, die ein Perpetuum mobile beweisen wollen, nicht mehr annimmt. – In der Philosophie des Geistes wird heute die Redeweise von der „kausalen Geschlossenheit der physischen Welt“ bevor-
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Problem seiner Ursächlichkeit für das Handeln unlösbar, will man nicht außerdem einem starken, interaktionistischen Geist-Körper-Dualismus Descartes’scher Provenienz das Wort reden, der heute in Philosophie und Wissenschaften keine ernsthaften Anhänger mehr hat.48 Erklärt man dagegen mentale Vorgänge mit ihren physiologischen, vor allem neuronalen Substraten für identisch, so löst man (vielleicht) das Problem der mentalen Verursachung, weil es dann keine „mentale“ mehr wäre, bezieht aber eine umstrittene metaphysische Position, die andere Fragen unlösbar macht.49 Kurz, von einer konsensfähigen Antwort auf die Frage der Kausalität des Willens ist der zuständige Teil der theoretischen Philosophie heute weit entfernt. Das muss die Grundbegriffe des Strafrechts gewiss nicht erschüttern. Aber wir sollten nicht so tun, als gäbe es die Frage nicht. Nicht jeder dogmatische Begriff, der in seiner Buchstäblichkeit keinen fassbaren Inhalt (mehr) hat, muss ja gleich abgeschafft werden. Erfreulich wäre aber eine größere Klarheit darüber, was daran sachlich beglaubigter Sinn und was bloß noch überlieferte Metaphorik ist. IV. Ein (höchst vorläufiges) Resümee Das fällt nun knapp aus: Keiner der gängigen Kausalitätsbegriffe, die wir gemustert haben, ist der schlechthin richtige. Schrödingers Satz am Anfang dieser Abhandlung hat seine pessimistische Renitenz sozusagen glänzend bewährt. Muss sich das Strafrecht davon irritieren lassen? Ich glaube nicht. Vielleicht sollten wir uns lieber an den Gedanken gewöhnen, dass der angemessene Umgang mit den metaphysisch unlösbaren Problemen der Kausalität nicht so sehr der Streit um deren allein richtigen Begriff, sondern die Einigung darüber ist, in welchem Zusammenhang der eine und wo der andere die besseren Dienste leistet. Ingeborg Puppe hat mit Recht den Abschied „von der Illusion eines einheitlichen Kausalbegriffs“ angemahnt.50 Wir sollten ihr Monitum erweitern und uns auch von der Idee eines rundum richtigen Kausalbegriffs verabschieden. Sie ist wohl ebenfalls nichts anderes als eine Fata Morgana.
zugt, um Quisquilien der Physik über den 1. Hauptsatz der Theromodynamik (Energieerhaltungssatz) zu vermeiden. Sachlich läuft das aber auf das Gleiche hinaus. 48 Verblüffenderweise aber in der deutschen Strafrechtsdogmatik, z. B. in Zaczyk, GA 2009, 371 (eine Polemik gegen mein oben, Anm. 20, zitiertes Büchlein, deren Skurrilität übrigens mit dem Umstand, dass sie nicht einen einzigen Gedanken meiner Abhandlung zutreffend wiedergibt, ohne weiteres versöhnt). 49 Vor allem das Problem des „phänomenalen Bewusstseins“, also des subjektiven Erlebens „wie es ist“, eine sinnliche Wahrnehmung zu haben oder Trauer, Freude, Verliebtsein etc. zu empfinden; auch dazu knapp Merkel (Anm. 20), S. 87 ff. (m.w. N.). 50 NK3, Vor § 13 Rn. 125.
Regel und Sachverhalt in der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik Von Ulfrid Neumann I. Einleitung Das wissenschaftliche Werk von Ingeborg Puppe, der dieser Beitrag in Hochschätzung und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, zeichnet sich nicht nur durch ein hohes Innovationspotential, sondern zugleich durch beispielhafte Klarheit, Stringenz und Präzision der Gedankenführung aus. Es verdankt diese Eigenschaften maßgeblich dem bewussten Einsatz von Logik, Wissenschaftstheorie und moderner Sprachtheorie. Mit Hilfe dieser Instrumente gelingt es Puppe, strafrechtsdogmatische Probleme zu größerer Klarheit und häufig auch zu besser begründeten Lösungen zu führen.1 Exemplarisch sind hier ihre Analysen zur Kausalität2 und zur strafrechtlichen Irrtumslehre3 zu nennen. Im Bereich der Irrtumslehre hat Puppe das Instrumentarium der Logik zur Verteidigung des so genannten „Umkehrschlusses“ 4 und das Instrumentarium der modernen Sprach- und Wissenschaftstheorie zur Abgrenzung von Tatbestandsirrtum und untauglichem Versuch einerseits, Verbotsirrtum und Wahndelikt andererseits eingesetzt.5 Die nachstehenden Überlegungen folgen diesen Spuren und versuchen, die Unterscheidung zwischen dem Irrtum über eine Regel einerseits, dem Irrtum über einen singulären Sachverhalt andererseits für bestimmte Probleme der strafrechtlichen Irrtumslehre fruchtbar zu machen.6 Ich beschränke mich dabei im wesentlichen auf die Frage des Verhältnisses von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum (II.) und das Problem der Struktur eines Irrtums über „institutionelle“ Tatsachen (III.). Einige abschließende Überlegungen zum Subsumtionsirrtum (IV.) knüpfen
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Näher dazu Neumann, GA 2008, 463 ff. Puppe, in: Nomos-Kommentar zum StGB3, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn 80 ff.; dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 1, 2002, S. 42 ff.; dies., Strafrechtsdogmatische Analysen, 2006, S. 101 ff., 169 ff., 191 ff. 3 NK3-Puppe (Anm. 2), Kommentierungen zu §§ 15, 16; dies., Analysen (Anm. 2), S. 265 ff., 309 ff. 4 Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 309 ff. (dazu Neumann, GA 2008, S. 463 ff., 465). 5 Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 265 ff. 6 Entsprechender Ansatz schon bei Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987, S. 347 ff. (dazu Puppe, Analysen [Anm. 2], S. 273 m. Anm. 13). 2
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an den Versuch von Puppe an, Tatbestands- und Subsumtionsirrtum mit Hilfe logisch-semantischer Kriterien voneinander abzugrenzen. II. Verbotsirrtum und Tatbestandsirrtum 1. Aktuelle Kritik der Unterscheidung zwischen Verbotsund Tatbestandsirrtum Die Unterscheidung, die das deutsche Strafgesetzbuch zwischen Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) und Verbotsirrtum (§ 17 StGB) trifft, gerät in der Strafrechtswissenschaft in letzter Zeit verstärkt in die Kritik. Bezweifelt wird zum einen, dass die unterschiedlichen Rechtsfolgen, die das Gesetz in § 16 StGB und § 17 StGB festlegt, in dieser Differenzierung angemessen seien. Dabei zeichnet sich eine Verlagerung der Stoßrichtung der Kritik ab. Hatte man in der Wissenschaft lange Zeit insbesondere beanstandet, dass § 17 StGB mit der Beibehaltung der Strafbarkeit im Falle eines vermeidbaren Verbotsirrtum, der für diesen Fall nur fakultativ vorgesehenen Strafmilderung, und, in seiner praktischen Anwendung durch die Gerichte, einem zu strengen Maßstab bei der Anerkennung der Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums „zu hart“ sei, lautet jetzt Tenor der Kritik zunehmend, § 16 StGB sei „zu weich“.7 Begründet wird diese Diagnose vor allem unter Hinweis auf Konstellationen einer grob fahrlässigen Verkennung des Sachverhalts. Insbesondere für die Fälle einer „Tatsachengleichgültigkeit“ sei die Rechtsfolge des § 16 StGB unangemessen milde.8 In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass Tatbestands- und Verbotsirrtum gleichermaßen zu einer Verkennung der Rechtswidrigkeit führten.9 Bezweifelt wird zum anderen, dass die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum sich mit hinreichender Trennschärfe vornehmen lasse.10 In dieser Kritik lassen sich ein normativ-wertendes und ein strukturelles Argument unterscheiden. Das normativ-wertende Argument lautet, § 16 StGB sei insofern zu täterfreundlich, als er auch bei grob fahrlässiger bzw. auf „Gleichgültigkeit“ beruhender Unkenntnis von tatbestandsrelevanten Tatumständen zum Ausschluss des Vorsatzes führe. Das strukturelle Argument bezweifelt die hinreichend präzise Abgrenzbarkeit des einen Irrtums von dem anderen. Als Verbindung beider Argumente lässt sich der Einwand lesen, dass sowohl Tatbestandsals auch Verbotsirrtum gleichermaßen zu einer Unkenntnis der Rechtswidrigkeit 7 Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, 2006, S. 241, 408 ff. 8 Nachw. und Kritik bei Gaede, Auf dem Weg zum potentiellen Vorsatz? Problematik und Berechtigung der zunehmenden Tendenzen zur normativen Relativierung des Vorsatzerfordernisses, ZStW 121 (2009), S. 239 ff. 9 Walter (Anm. 7), S. 397 ff. 10 Walter (Anm. 7), S. 389 ff., 422 ff.
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führen. Ich werde mich im Folgenden lediglich mit dem strukturellen Problem des Verhältnisses zwischen Verbots- und Tatbestandsirrtum befassen. 2. Das Verhältnis von Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) a) Der Tatbestandsirrtum als Sonderfall des Verbotsirrtums („Konkurrenzthese“) Nach verbreiteter Auffassung stellt der Tatbestandsirrtum einen Sonderfall des Verbotsirrtums dar.11 Für diese Einordnung spricht die Erwägung, dass derjenige, der nicht weiß, was er tut, auch nicht wissen kann, dass das, was er tut, verboten ist. Beispielhaft: wer nicht weiß, dass es sich bei dem Mantel, den er von der Garderobe nimmt, um den Mantel eines anderen Gastes handelt, irrt nicht nur über das Tatbestandsmerkmal der „Fremdheit“ der Sache, sondern weiß auch nicht, dass er etwas Verbotenes tut.12 Bei dieser Sichtweise ist jeder Tatbestandsirrtum „tatbestandlich“ zugleich ein Verbotsirrtum im Sinne des § 17 StGB. Die Festlegung der Rechtsfolge erfolgt dann im Wege der Bestimmung des Konkurrenzverhältnisses. Hier wird § 16 StGB im Verhältnis zu § 17 StGB als lex specialis angesehen.13 b) Exklusivität von Tatbestands- und Verbotsirrtum („Exklusivitätsthese“) Demgegenüber wird von anderen Autoren eine mögliche Konkurrenz zwischen Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum schon im Bereich der „tatbestandlichen“ Voraussetzungen der beiden Irrtumsregelungen ausgeschlossen. So liegt nach Roxin ein Verbotsirrtum vor, „wenn der Täter trotz voller Kenntnis des Unrechtssachverhalts nicht weiß, dass sein Handeln unerlaubt ist“14. Der Tatbestandsirrtum und der Erlaubnistatbestandsirrtum unterfallen damit von vornherein nicht der Bestimmung des § 17 StGB. Zwar führe mittelbar auch der Tatbestandsirrtum, ebenso wie der Irrtum über die sachlichen Voraussetzungen eines Rechfertigungsgrundes, „insofern zu einem Verbotsirrtum, als sie dem Täter die ,Einsicht, Unrecht zu tun‘, nehmen.“ § 17 StGB gelte aber nur für den „unmittelbaren“, also den nicht durch einen Tatbestandsirrtum oder einen Erlaubnistatbestandsirrtum vermittelten Verbotsirrtum.15 Auch Stratenwerth und Kuhlen nehmen einen 11 NK3-Puppe (Anm. 2), § 16 Rn. 65; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2005, § 13 Rn. 10; Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil9, 2004, S. 266; Herzberg, Fahrlässigkeit, Unrechtseinsicht und Verbotsirrtum, in: Otto-FS 2007, S. 265 ff., 265. 12 Haft, Strafrecht (Anm. 11), S. 266. 13 NK3-Puppe (Anm. 2), § 16 Rn. 65. 14 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I4, 2006, § 21 Rn. 1. 15 Roxin, Strafrecht4 (Anm. 14), § 21 Rn. 3.
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Verbotsirrtum im Sinne des § 17 StGB (nur) dann an, wenn dem Täter das Unrechtsbewusstsein „trotz Kenntnis des unrechtsbegründenden Sachverhalts“ fehlt.16 Diese Einschränkung resultiert nach Stratenwerth und Kuhlen aus der – heute allgemein geteilten17 – Voraussetzung eines tatbestandsspezifischen Unrechtsbewusstseins: Da sich das Unrechtsbewusstsein „gerade auf diejenigen Momente der Tat stützen“ müsse, „die sie als rechtlich verboten erscheinen lassen“, entfalle es mit Notwendigkeit schon bei einem Tatbestands- oder Erlaubnistatbestandsirrtum. Deshalb gehöre zur Definition des „eigentlichen“ Verbotsirrtums die Voraussetzung, dass dieser nicht aus einem Sachverhaltsirrtum resultiere.18 Diese unterschiedlichen Sichtweisen des Verhältnisses von Tatbestands- und Verbotsirrtum zeitigen erhebliche Folgen. So ist die strenge Schuldtheorie, der zufolge die irrige Annahme einer rechtfertigenden Sachlage als Verbotsirrtum (§ 17 StGB) einzuordnen ist, zwar mit der „Konkurrenzthese“, nicht aber mit der „Exklusivitätsthese“ vereinbar. Hinsichtlich der Fahrlässigkeitsdelikte führt die „Exklusivitätsthese“, worauf insbesondere Herzberg hingewiesen hat, zu einem weitgehenden Ausschluss des § 17 StGB.19 Denn bei Vorliegen eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums könne ihr zufolge lediglich § 16 StGB zur Anwendung kommen. Das gilt jedenfalls solange, als man die Exklusivitätsthese nicht durch die Zusatzannahme einschränkt, dass § 17 StGB durch § 16 StGB nur hinsichtlich der Voraussetzungen einer Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tatbegehung ausgeschlossen wird. III. Der Bezugspunkt des Verbotsirrtums 1. Verbotsnorm oder Verbotensein der Handlung als Bezugspunkt des Verbotsirrtums Ich meine, dass sich die Debatte zwischen „Konkurrenzthese“ und „Exklusivitätsthese“ einer Entscheidung näher bringen lässt, wenn man sie als Streit um das Bezugsobjekt des Verbotsirrtums rekonstruiert. Die Konkurrenzthese, so die Behauptung, bezieht den Verbotsirrtum auf die konkrete Handlung: Der Täter weiß im Falle eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums (§ 16) nicht, dass sein gegenwärtiges Verhalten verboten ist, weil er nicht weiß, was er tut. Die Exklusivitätsthese dagegen versteht den Verbotsirrtum als Irrtum über eine Regel, der zufolge eine Handlung dieses Typs verboten ist. Natürlich weiß auch hier der Täter im Ergebnis nicht, dass sein konkretes Verhalten verboten ist. Dieser Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, Die Straftat5, 2004, § 10 Rn. 64. 17 Exemplarisch: BGHSt 22, 318; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze57, 2010, § 17 Rn. 4. 18 Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht (Anm. 16), § 10 Rn. 65. 19 Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 265 (näher dazu unter 3. b)). 16
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Irrtum ist aber lediglich die Folge eines Irrtums über eine Verbotsregel. Man wird also sagen können: Die „Konkurrenzthese“ bezieht den Verbotsirrtum ausschließlich auf eine konkrete Handlung. Demgegenüber ist nach der „Exklusivitätsthese“ der Verbotsirrtum ein Irrtum über eine Regel. Selbst wenn man berücksichtigt, dass dieser Regelirrtum mittelbar einen Irrtum über das Verbotensein der konkreten Tat zur Folge hat, bleibt der Unterschied des Bezugsobjekt des Verbotsirrtums signifikant. Denn nur die Exklusivitätsthese, nicht aber die Konkurrenzthese bezieht den Verbotsirrtum auf eine Regel. 2. Das Verbotensein der konkreten Handlung als Bezugspunkt des Verbotsirrtums Für die Auffassung, dass der Verbotsirrtum im Sinne des § 17 StGB als Irrtum über das Verbotensein der konkreten Tat zu verstehen ist, spricht prima facie der Wortlaut der Norm. Denn nach der Formulierung des § 17 StGB liegt ein Verbotsirrtum dann vor, wenn dem Täter „bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun“ fehlt. Allerdings ist es ohne weiteres möglich, die „Tat“ im Sinne des § 17 StGB als tatbestandlich vertypte Tat zu verstehen und das Unrechtsbewusstsein funktional auf diese tatbestandlich vertypte Tat (und nicht auf das bloße Sichverhalten) zu beziehen. Im Übrigen kann die Beurteilung struktureller Fragen nicht maßgeblich von der Zufälligkeit der Normformulierung abhängen. Entscheidend ist, in welcher Deutung sich die Vorschrift des § 17 StGB konsistent in den Bestand anerkannter und gut begründeter dogmatischer Regeln einfügt. Unter diesem Gesichtspunkt stößt die Interpretation des Verbotsirrtums als Irrtum über das Verbotensein der konkreten Handlung auf erhebliche Probleme. 3. Kritik a) Die Tatbestandsbezogenheit („Teilbarkeit“) des Unrechtsbewusstseins Zunächst spricht gegen diese Interpretation, dass die zu diesem Irrtum komplementäre Kenntnis des Verbotenseins nach heute fast unangefochtener Auffassung für das nach § 17 StGB erforderliche Unrechtsbewusstsein nicht ausreicht. Der Täter muss nicht nur wissen, dass er mit seiner Handlung etwas Verbotenes tut; erforderlich ist auch die Kenntnis, unter welchem Gesichtspunkt seine Handlung den Normen der Rechtsordnung widerspricht (Tatbestandsbezogenheit bzw. „Teilbarkeit“ des Unrechtsbewusstseins).20 Das aber bedeutet: der Täter muss die Verbotsregel kennen, der zufolge sein Handeln mit der Rechtsordnung unvereinbar ist. Dass es hier um die Alternative „Kenntnis der Verbotsregel oder Kenntnis des Verbotenseins der Tat“ geht, gerät nur deshalb im Allgemeinen nicht ins 20
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Blickfeld, weil das Problem typischerweise in Hinblick auf mehrere, unterschiedliche Verbotsregeln auftaucht: Wer nicht weiß, dass die Ausfuhr eines (in casu: gestohlenen) PKW gegen ein Embargo verstößt, befindet sich hinsichtlich des Verbots des § 34 Abs. 4 AWG auch dann in einem Verbotsirrtum, wenn ihm bewusst ist, dass seine Handlung anderen strafrechtlich bewehrten Verboten der Rechtsordnung zuwiderläuft.21 Aber das Prinzip, dass die Kenntnis der einen einschlägigen Verbotsnorm die der anderen nicht substituieren kann, setzt logisch voraus, dass die Kenntnis des Verbotenseins der Tat als solches nicht genügt. Insofern ist das Prinzip der Tatbestandsbezogenheit (Teilbarkeit) des Unrechtsbewusstseins nur die Konsequenz des Grundsatzes: Ein „abstraktes“ Unrechtsbewusstsein genügt nicht.22 Würde man jemandem, der die von seiner Handlung verletzte Norm nicht kennt, nur sagen: „was du im Moment tust, ist verboten“ – ohne zu erklären, als was und unter welchem Gesichtspunkt sein Verhalten verboten ist – so hätte der Handelnde auch dann kein Unrechtsbewusstsein im Sinne des § 17 StGB, wenn er dieser Mitteilung vorbehaltlos Glauben schenken würde. Man könnte gegen diese Überlegungen einwenden, es gehe bei der Konkurrenzthese nicht um die Behauptung, dass die Kenntnis des Verbotenseins der konkreten Handlung einen Verbotsirrtum ausschließe, sondern um die These, dass die Unkenntnis des Verbotenseins einen nach § 17 StGB relevanten Verbotsirrtum begründe. Die Kenntnis des Verbotenseins der konkreten Handlung sei nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung des Unrechtsbewusstseins. Hinzukommen müsse die Kenntnis der einschlägigen Verbotsregel (Prinzip der Tatbestandsbezogenheit [„Teilbarkeit“] des Unrechtsbewusstseins). In der Konsequenz dieses Einwandes läge es, die Voraussetzungen für das Vorliegen und das Fehlen des Unrechtsbewusstseins asymmetrisch zu bestimmen. Das wäre logisch nicht zu beanstanden, aber in der Sache wenig überzeugend. Wenn für das Unrechtsbewusstsein eine Regelkenntnis (die Kenntnis der verletzten Verbotsnorm) erforderlich ist, liegt es nahe, den Verbotsirrtum über diese Regelunkenntnis zu definieren.23 Denn zwischen fehlendem Unrechtsbewusstsein und Verbotsirrtum besteht nach ganz herrschender Auffassung eine Äquivalenz.24 Wer für den Verbotsirrtum (das Fehlen des Unrechtsbewusstseins) das Fehlen der Kenntnis des Verbotenseins der konkreten Handlung ausreichen lassen will, für das Unrechtsbewusstsein aber die Kenntnis einer Verbotsregel verlangt, trägt dafür jedenfalls die Argumentationslast. Puppe vermeidet dieses Problem auf elegante Weise, indem sie auch hinsichtlich der Unkenntnis des Verbotenseins der konkreten, singulären Handlung auf 21
BGH StV 1995 (632). Eindringlich dazu Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht5 (Anm. 16), § 10 Rn. 63, 65, 66. 23 Klar formuliert findet sich ein solches Verständnis des Verbotsirrtums als eines normbezogenen Irrtums bei Ebert, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2001, S. 142 („Gegenstand des Verbotsirrtums ist in erster Linie die Verbotsnorm . . .“). 24 NK3-Neumann (Anm. 2), § 17 Rn. 9. 22
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das Fehlen des tatbestandsspezifischen Unrechtsbewusstseins abstellt. „Wer den tatbestandserfüllenden Sachverhalt ganz oder teilweise nicht kennt, kann auch das tatbestandsspezifische Unrechtsbewusstsein nicht haben“. Deshalb verhalte sich § 16 StGB zu § 17 StGB als lex specialis.25 Damit wird in der Formulierung der Regelbezug des Verbotsirrtums auch bei einem Irrtum über den singulären Sachverhalt gewahrt. Denn das „tatbestandsspezifische“ Unrechtsbewusstsein bezieht sich auf eine bestimmte strafrechtliche Verbotsregel. Aber weist der Irrtum des Täters in diesen Fällen eines Tatbestandsirrtums tatsächlich Elemente eines Regelirrtums auf? Zweifel daran stellen sich ein, wenn man versucht, diesen Irrtum als regelbezogenen Irrtum zu formulieren. Über welche Regel irrt der Täter, der bei einer Jagd versehentlich einen Menschen erschießt, weil er im Dämmerlicht geglaubt hat, ein jagdbares Tier vor der Flinte zu haben? Offensichtlich über keine. Er weiß, dass es strafrechtlich verboten ist, außerhalb von Notwehrsituationen einen Menschen zu erschießen. Richtig ist, dass er glaubt, nichts Verbotenes zu tun. Insofern fehlt ihm das „Unrechtsbewusstsein“. Und natürlich kann man argumentieren, wenn ihm das Unrechtsbewusstsein fehle, dann fehle ihm auch (vielleicht sogar: erst recht) das „tatbestandsspezifische“ Unrechtsbewusstsein. Aber diese Argumentation hätte etwas Künstliches. Denn die Frage der „tatbestandsspezifischen“ Prägung des Unrechtsbewusstseins stellt sich von vornherein nur dann, wenn der Täter überhaupt mit Unrechtsbewusstsein gehandelt hat. Der Topos des „tatbestandsspezifischen“ Unrechtsbewusstseins hat, was der synomym verwendete Begriff der „Teilbarkeit“ des Unrechtsbewusstseins zum Ausdruck bringt, seine Funktion in dem Kontext des Problems, ob der Verbotsirrtum hinsichtlich der Verwirklichung eines bestimmten strafbaren Unrechts dadurch ausgeschlossen wird, dass der Täter weiß, dass er mit seiner Tat strafbares Unrecht eines anderen „Unrechtstyps“ verwirklicht. Die entscheidende Frage dürfte sein, welche Konsequenzen man aus der Tatsache zieht, dass sich für den Täter, der einem Tatbestandsirrtum unterliegt, die Frage eines möglichen rechtlichen Verbots seiner Tat gar nicht stellt. Hier gibt es zwei einander diametral entgegen gesetzte Möglichkeiten. Entweder man argumentiert, es liege bei einem Tatbestandsirrtum immer zugleich ein Verbotsirrtum vor, weil der Täter, der nicht wisse, was er tue, auch nicht wisse – und gar nicht wissen könne – dass das, was er tue, verboten sei. Oder aber man argumentiert, umgekehrt, gerade weil sich für den im Tatbestandsirrtum handelnden Täter die Frage des Verbots gar nicht stelle und ihm insofern das „Unrechtsbewusstsein“ zwangsläufig fehle, sei in diesen Fällen allein die Regelung des Tatbestands-, nicht aber die des Verbotsirrtums einschlägig.26 Auf dem ersten Argumentationsweg gelangt man zu der „Konkurrenzthese“, auf dem zweiten zur „Exklusivi25 26
NK3-Puppe (Anm. 2), § 16 Rn. 65. In diesem Sinne etwa Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht5 (Anm. 16), § 10 Rn. 65.
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tätsthese“. Wie unterscheidet man an dieser Wegegabelung den Königsweg von dem Holzweg? Ich schlage vor, hier zwischen dem „Verbotsirrtum“ als psychologischem Sachverhalt einerseits, der strafrechtlichen Institution des Verbotsirrtums andererseits zu unterscheiden. Obwohl phänomenologisch nur ein einziger Irrtum vorliegt (der Täter weiß im Beispielsfall nicht, dass er einen Menschen tötet), kann man ihn als Irrtum über einen Sachverhalt und zugleich als Irrtum über das Verbotensein der Handlung beschreiben. Wenn man sich von der Kategorie des rechtlichen Verbots löst, kann man sagen: der Täter hatte bei seiner Handlung ein gutes Gewissen, eben deshalb, weil er nicht wusste, was er tat, was er mit seinem Schuss anrichten würde. Unter Bezug auf die Rechtsordnung: der Täter kam eben deshalb nicht auf die Idee, er könne gegen ein Verbot der Rechtsordnung verstoßen. Das bedeutet aber nicht, dass man seinen Irrtum im Sinne der rechtlichen Institution (§ 17 StGB) als Verbotsirrtum zu qualifizieren hätte. Denn gerade die Zwangsläufigkeit, mit der aus dem Tatbestandsirrtum die Unkenntnis des Verbots der Tat folgt, weckt Zweifel daran, ob es sinnvoll ist, diesen Irrtum (auch nur „tatbestandlich“) zusätzlich den Regeln des Verbotsirrtums zu unterstellen. Zumindest wird man Folgendes sagen können: Da der Tatbestandsirrtum den Vorsatz ausschließt, kann § 17 StGB unter dem Gesichtspunkt der Voraussetzungen für die Bestrafung einer Tat als Vorsatztat auf die Fälle eines Tatbestandsirrtums von vornherein keine Anwendung finden.27 b) Der Verbotsirrtum beim Fahrlässigkeitsdelikt aa) Unkenntnis des Verbotenseins der Handlung Während die Frage, ob sich der Verbotsirrtum auf das Verbotensein der konkreten Handlung oder auf eine Verbotsregel bezieht, im Bereich der Vorsatzdelikte (vom wichtigen Problem des Irrtums über rechtfertigende Umstände abgesehen) lediglich eine Frage der Konsistenz des dogmatischen Regelsystems ist, gewinnt sie im Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit erhebliche praktische Bedeutung. Ob und inwieweit § 17 StGB auf Fahrlässigkeitstaten Anwendung finden kann, ist umstritten.28 Da jedenfalls bei unbewusster Fahrlässigkeit der Täter rechtlich relevante Tatsachen (die Qualität bzw. die Folgen seiner Handlung) nicht kennt, fehlt es notwendig auch an einer durch Tatsachenkenntnis vermittelten Verbotskenntnis. Insofern begründet die Tatsachenunkenntnis bei unbewusster Fahrlässigkeit immer einen Irrtum über das Verbotensein der konkreten Handlung.29 Dass dieser Irrtum, der nur die „Kehrseite der subjektiven Fahrlässigkeit“ 27 Prüfungstechnische Reformulierung dieses Arguments bei Haft, Strafrecht (Anm. 11), S. 266. 28 Nachw. zum Diskussionsstand bei Roxin, Strafrecht4 (Anm. 14), § 24 Rn. 110–113. 29 NK3-Neumann (Anm. 2), § 17 Rn. 86.
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ist30, nicht zu einer Strafmilderung nach § 17 Satz 2 StGB führen könne, wurde bisher weitgehend als selbstverständlich angesehen.31 Dieser Sichtweise hat neuerdings Herzberg vehement widersprochen.32 Zwar komme in den Fällen bewusster Fahrlässigkeit ein Verbotsirrtum nicht in Betracht, weil bei bewusster Fahrlässigkeit die Einsicht, Unrecht zu tun, „per definitionem“ gegeben sei.33 Dagegen müsse nach dem Gesetz § 17 StGB auf die Fälle unbewusster Fahrlässigkeit grundsätzlich Anwendung finden. Für die von der herrschenden Meinung angenommene „Sperrung“ des § 17 StGB bei Fahrlässigkeitdelikten gebe es keinen überzeugenden Grund. Den Vertretern der herrschenden Auffassung attestiert Herzberg eine Missachtung des Gesetzes.34 Er wendet sich in diesem Zusammenhang auch gegen die Auffassung von Puppe, dass § 16 StGB zu § 17 StGB im Verhältnis der lex specialis zur lex generalis stehe.35 In Fällen unbewusster Fahrlässigkeit soll § 17 StGB durch einen Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) weder „tatbestandlich“ (Exklusivitätsthese) noch hinsichtlich der Rechtsfolgen (Konkurrenzthese) ausgeschlossen sein. Das ist eine nach dem Wortlaut des § 17 StGB mögliche, aber in dieser Allgemeinheit wenig plausible und deshalb dem Regelungsprogramm des Gesetzes wohl nicht entsprechende Interpretation. Im Fall einer unbewusst fahrlässig begangenen Straftat immer einen Verbotsirrtum im Sinne des § 17 StGB zu bejahen, wäre in der Tat ein „absurdes Ergebnis“.36 Denn es würde auf eine Doppelverwertung der Fehlvorstellung des Fahrlässigkeitstäters hinauslaufen, der im Vergleich zum vorsätzlich handelnden Straftäter (typischerweise) hinsichtlich des für die Tat vorgesehenen Strafrahmens privilegiert ist. Soweit der Irrtum des unbewusst fahrlässig handelnden Täters über das Verbotensein nur die zwangsläufige Folge, die „Kehrseite“ seiner Fehleinschätzung der Sachlage ist, muss man in der Tat mit Joecks davon ausgehen, dass dieser Irrtum „sozusagen in den Strafrahmen des Fahrlässigkeitsdelikts eingearbeitet“ ist.37
30
So Schünemann, JA 1975, 788. Vogel, in: Leipziger Kommentar zum StGB12, 2007, § 17 Rn. 109; Rönnau, in: Leipziger Kommentar zum StGB12, 2006, Vor § 32 Rn. 321; NK3-Neumann (Anm. 2), § 17 Rn. 86; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 19/34. 32 Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 265 ff. 33 Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 266. 34 Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 266 m. Fn. 7 (mit Bezug auf NK3-Neumann [Anm. 2], § 17 Rn. 86). 35 Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 265. 36 Schroeder, in: Leipziger Kommentar11, 2003, § 17 Rn. 2. Zust. LK12-Vogel (Anm. 31), § 17 Rn. 109; dagegen aber Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 266 m. Anm. 7. 37 Joecks, in: Münchner Kommentar zum StGB (2003), § 17 Rn. 73. Krit. dazu aber Herzberg, Fahrlässigkeit (Anm. 11), S. 266. 31
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bb) Unkenntnis der Verbotsregel Der Irrtum des Fahrlässigkeitstäters über das Verbotensein seines Tuns ist aber nicht zwingend nur das Spiegelbild seiner fehlerhaften Vorstellungen über die Sachlage. Sie kann auch eine eigenständige Bedeutung haben. Zur Abgrenzung der beiden Konstellationen ist wiederum der Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen einem Irrtum über das Verbotensein der singulären Handlung einerseits, dem Irrtum über eine Verbotsregel andererseits hilfreich. Der „Verbotsirrtum“ des unbewusst fahrlässig handelnden Täters ist mit der (typischerweise) geringeren Strafdrohung der Fahrlässigkeitstatbestände nur insoweit „abgegolten“, als er tatsächlich allein aus der per definitionem gegebenen Tatsachenunkenntnis des Fahrlässigkeitstäters resultiert, sich also in dem Irrtum über das Verbotensein der konkreten Handlung erschöpft. Das aber ist nicht notwenig der Fall. Möglich ist auch, dass die Fehlvorstellung über das Verbotensein der Tat auf einer Regelunkenntnis beruht. Ein solcher „überschießender“ Verbotsirrtum des Fahrlässigkeitstäters ist in der Tat nach § 17 StGB zu beurteilen. Beispielhaft: Macht ein betagter Zeuge vor Gericht unter Eid fahrlässig eine falsche Aussage zu dem von ihm beobachteten Tatverhalten des Angeklagten, dann besteht kein Anlass, bei einer Verurteilung wegen fahrlässigen Falscheids (§ 163 StGB) die Regelung des Verbotsirrtums heranzuziehen und die Strafe nach § 17 Satz 2 StGB zu mildern. Denn die Unkenntnis des Zeugen, etwas Verbotenes zu tun, resultiert hier allein aus dem (einen Tatbestandsirrtum begründenden) fehlenden Wissen, ein falsche Aussage zu tätigen. Weiß der Zeuge dagegen nicht, dass die Wahrheitspflicht sich auch auf Aussagen zur Person bezieht, dann ist § 17 StGB heranzuziehen, wenn er fahrlässig sein Alter unzutreffend angibt.38 Denn hier liegt zusätzlich zu der Unkenntnis des Verbotenseins der Tat, das aus der Unkenntnis des Sachverhalts (der Falschheit der Aussage) resultiert, ein Irrtum über die von dem Täter verletzte Verbotsregel vor. Der Täter befindet sich hier nicht nur in Unkenntnis darüber, dass die singuläre Handlung einem Verbot unterfällt. Er weiß hier nicht, dass Handlungen des von ihm verwirklichten Handlungstyps verboten sind. Allgemein: Nur der aus dem Tatsachenirrtum resultierende Irrtum über das Verbotensein der Tat ist bei unbewusster Fahrlässigkeit notwendig gegeben und deshalb mit dem (typischerweise) niedrigeren Strafrahmen der Fahrlässigkeitstatbestände abgegolten. Für einen auf Regelunkenntnis beruhenden Verbotsirrtum („überschießenden Verbotsirrtum“) ist dagegen auch bei Fahrlässigkeitsdelikten Raum.39 In diesem Sinne wird bei unbewusster Fahrlässigkeit ein nach § 17 StGB zu beurteilender Verbotsirrtum angenommen, wenn dem Täter die „jederDazu schon NK3-Neumann (Anm. 2), § 17 Rn. 87. Fischer57 (Anm. 17), § 17 Rn. 11; MüKo-Joecks (Anm. 37), § 17 Rn. 74; LK -Rönnau (Anm. 31), Vor § 32 Rn. 321; Roxin, Strafrecht (Anm. 14), § 24 Rn. 112; a. M. Arzt, ZStW 91 (1979), S. 857 ff., 880. 38
39 Ebenso 12
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zeit aktivierbare . . . Kenntnis von dem abstrakten rechtlichen Verbot“, das sich auf den fraglichen Handlungstyp bezieht, fehlt.40 IV. Der Regelirrtum als Element eines Tatbestandsirrtums 1. Der Vorsatz bezüglich institutioneller Tatsachen Nach der hier vertretenen Auffassung ist jeder Verbotsirrtum im strafrechtlichinstitutionellen Sinne (im Sinne des § 17 StGB) ein Irrtum über eine Regel. Das bedeutet nicht, dass der den Vorsatz ausschließende Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) nicht gleichfalls Elemente eines Regelirrtums aufweisen könnte. Die These lautet nur: Wenn es sich nicht um einen Irrtum über eine Regel handelt, liegt kein Verbotsirrtum vor. Das aber besagt natürlich nicht, dass jeder Irrtum über eine Regel, die für die rechtliche Beurteilung der Tathandlung relevant ist, als Verbotsirrtum einzuordnen wäre. Dass ein Irrtum über eine Regel vorliegt, ist nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Annahme eines Verbotsirrtums. Geläufig ist die explizite Einordnung eines strafbarkeitsrelevanten Regelirrtums als Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts, die den „strafrechtlichen“ Rechtsirrtum dem Verbotsirrtum, den „außerstrafrechtlichen“ Rechtsirrtum dem Tatbestandsirrtum zugeordnet hatte.41 Heute lässt sich das Problem im Rahmen der Theorie der institutionellen Tatsachen diskutieren.42 Institutionelle Tatsachen werden im Unterschied zu natürlichen Tatsachen (facta bruta) durch Regeln konstituiert, aufgrund derer bestimmte natürliche Tatsachen als institutionelle Tatsachen gedeutet werden – das Handaufheben einer Gruppe von Menschen als Beschluss eines Parlaments, das Überreichen eines Messingstückes als Verleihung eines Ordens etc.43 Zu den institutionellen
40 Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (Stand: 37. Lfg. Oktober 2002), § 17 Rn. 20. Ähnlich Jakobs, Strafrecht2 (Anm. 31), 19/34; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 197. 41 Ausführliche Darstellung (und „Rehabilitierung“) dieser Rechtsprechung bei Kuhlen, Unterscheidung (Anm. 6). Vgl. auch Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 276 ff. 42 Grundlegend zur Theorie der institutionellen Tatsachen John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, 1977 (engl. 1969), S. 78 ff.; ders., Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, 1997 (engl. 1995), passim. Zu einem institutionalistischen Ansatz in der Rechtstheorie MacCormick/Weinberger, Grundlagen des institutionalistischen Rechtspositivismus, 1985. Im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Irrtumsproblematik: NK-Puppe (Anm. 2), § 16 Rn. 45 ff.; Burkhardt, JZ 1981, 681 ff., 683; Darnstädt, JuS 1978, S. 441 ff., 443 ff.; Nierwetberg, Jura 1985, S. 238 ff., 239 m. Anm. 10; Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 278 m. Anm. 19; dies., Vorsatz und Rechtsirrtum, in: Herzberg-FS, 2008, S. 277 u. ö. 43 Näher dazu und zur Bedeutung der Theorie der institutionellen Tatsachen für ein sachgerechtes Verständnis des Problems der Rechtsgeltung Neumann, Das Problem der Rechtsgeltung (2008), in: ders., Recht als Struktur und Argumentation. Beiträge zur
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Tatsachen gehören auch singuläre Rechtsverhältnisse wie der Status einer bestimmten Person als Beamte(r), die Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einem bestimmten Bundesland, das Eigentum an einer konkreten Sache. Da institutionelle Tatsachen durch Regeln konstituiert werden, kann ein Irrtum über eine singuläre institutionelle Tatsache auch auf einem Regelirrtum beruhen. So etwa, wenn im Falle der Sicherungsübereignung der Sicherungsgeber glaubt, der Sicherungsnehmer erwerbe nur ein Pfandrecht an der Sache, diese sei deshalb für ihn keine „fremde“ Sache im Sinne der §§ 242, 246 StGB. Oder wenn, in einem komplementären Fall, der Verkäufer eine von ihm schon verkaufte, aber noch nicht übereignete Sache in Unkenntnis des Abstraktionsprinzips für eine fremde Sache hält (und sich diese Sache im Sinne des Tatbestands des § 246 StGB zueignet). In beiden Fällen basiert der Irrtum über die Fremdheit der Sache auf einem Regelirrtum – im ersten Fall mit der Folge der Unkenntnis, im zweiten mit der Folge der irrtümlichen Annahme der Fremdheit der Sache. Das ändert aber nichts daran, dass der Irrtum über die Fremdheit der Sache auch in diesen Fällen strukturell ein Irrtum über eine (institutionelle) Tatsache und deshalb als Tatbestandsirrtum einzuordnen ist. Dass hier auch ein Irrtum über eine Regel vorliegt, resultiert daraus, dass der Irrtum des Täters hier im Bereich der Regelkomponente der institutionellen Tatsache seinen Ursprung hat. Im Ergebnis aber nimmt der Täter hier einen Umstand an, der die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der „Fremdheit“ der Sache ausschließen würde. Der Wert der Theorie der institutionellen Tatsachen im Bereich der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik liegt gerade darin, dass sie diesen Zusammenhang verdeutlicht. Sie liefert mit der Analyse der Regelkomponente institutioneller Tatsachen eine Erklärung dafür, dass ein Irrtum, der „im Ursprung“ ein Irrtum über Regeln ist, strukturell ein Irrtum über Tatsachen sein kann. 2. Untauglicher Versuch und Wahndelikt beim Irrtum über institutionelle Tatsachen Damit stellt diese Theorie auch einen Ansatzpunkt zur Entscheidung der umstrittenen Frage bereit, ob eine irrtümliche Annahme von Rechtsverhältnissen, wie sie im Falle des Verkäufers gegeben ist, der in Verkennung des Abstraktionsprinzips die verkaufte, aber noch nicht übereignete Sache für fremd hält, zur Strafbarkeit wegen (untauglichen) Versuchs (so die h. M.) oder aber zur Annahme eines straflosen Wahndelikts führt. Puppe hat sich in Auseinandersetzung mit der abweichenden Auffassung insbesondere von Burkhardt44, Paeffgen45 und Theorie des Rechts und zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, 2008, S. 224 ff., 233 ff. 44 JZ 1981, 681 ff., 685 f. 45 NK3-Paeffgen (Anm. 2), Vor § 32 Rn. 264 f.
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Zaczyk46 für die herrschende Meinung ausgesprochen.47 In der Tat: man kann und sollte die fragwürdige gesetzliche Regelung der Versuchsstrafbarkeit, die von der grundsätzlichen Strafbarkeit auch des untauglichen Versuchs ausgeht (arg. § 23 Abs. 3 StGB), unter rechtspolitischen Gesichtspunkten kritisieren. De lege lata aber hat Puppe wohl die besseren Argumente auf ihrer Seite. In der Auseinandersetzung um die Strafbarkeit des Verkäufers, der eine verkaufte, aber noch nicht übereignete Sache in Unkenntnis des Abstraktionsprinzips für fremd hält und diese Sache unterschlägt (§ 246 StGB)48 und parallel gelagerte Fälle weist Puppe zutreffend darauf hin, dass hier ein Irrtum über eine tatbestandsrelevante Tatsache (Fremdheit des konkreten Tatobjekts) vorliegt, der nach den allgemeinen Regeln der Versuchsdogmatik dazu führt, dass die Handlung nicht als Wahndelikt, sondern als untauglicher Versuch zu bewerten ist. Da es aber nicht um eine natürliche, sondern um eine institutionelle Tatsache geht, kann dieser Irrtum, wie im Beispielsfall, auf einem Irrtum über die Regeln beruhen, anhand derer die Institution definiert wird. Die Fehlvorstellung des Handelnden ist dann im Ursprung eine Fehlvorstellung über eine (zivilrechtliche) Regel. Die Frage ist, ob man mit dieser Begründung die Annahme eines Wahndelikts rechtfertigen kann. Burkhardt, mit dessen Position sich Puppe in diesem Zusammenhang auseinandersetzt, argumentiert, der Täter überdehne bei dieser Fallkonstellation den Anwendungsbereich des Straftatbestands, weil er infolge seines Irrtums über die Voraussetzungen der Fremdheit einer Sache die Extension des Tatbestands verkenne.49 Letzteres ist zutreffend, weil der Täter in seiner Vorstellung dem Straftatbestand eine Fallkonstellation zuordnet, die von ihm nicht erfasst wird. Puppe verweist allerdings zu Recht darauf, dass dies auch für Fälle gilt, in denen die Annahme eines strafbaren Versuchs nicht umstritten ist. In der Tat irrt auch der Täter, der das von ihm schwer verletzte Opfer in Tötungsabsicht mit seinem Fahrzeug überrollt und dabei verkennt, dass das Opfer seinen Verletzungen schon erlegen ist, über die Extension des strafrechtlichen Tötungsverbots, weil er seine Handlung irrtümlich dem Anwendungsbereich dieses Verbots zuordnet. Natürlich besteht zwischen dieser Konstellation und dem Fall des Verkäufers, der über das Abstraktionsprinzip irrt, strukturell ein wichtiger Unterschied. Denn im Fall der versuchten Tötung des bereits verstorbenen Opfers erschöpft sich der Irrtum des Täters in einem Irrtum über eine singuläre Tatsache. Ein Regelirrtum kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil es sich um eine Fehlvorstellung hinsichtlich einer natürlichen, nicht hinsichtlich einer institutionellen Tatsache handelt. Aber gerade dieser Unterschied kann mit dem Kriterium des Irrtums über die Exten46 47 48 49
NK3-Zaczyk (Anm. 2), § 22 Rn. 45. Herzberg-FS (Anm. 42), S. 278 ff. Herzberg-FS (Anm. 42), S. 276 f. Burkhardt, JZ 1981, 681 ff., 685 f.
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sion des Straftatbestands nicht erfasst werden. Auch die Überdehnung des Anwendungsbereichs eines Straftatbestands um einen einzelnen Fall ist ein Irrtum über dessen Extension. Die Abgrenzung des Wahndelikts vom untauglichen Versuch kann deshalb nur dann gelingen, wenn man das Wahndelikt als Irrtum über die Intension eines Straftatbestands definiert.50 Kennzeichnet man das Wahndelikt als Überdehnung des „Anwendungsbereichs“ der Strafrechtsnorm, dann ist unter der Frage nach dem Anwendungsbereich die nach dem Gehalt der Regel zu verstehen, nicht aber die Frage, ob ein einzelner Fall ein „Anwendungsfall“ dieser Regel ist. V. Die formale Struktur des Subsumtionsirrtums 1. Sachverhalt und Regel als Bezugspunkte des Subsumtionsirrtums Gegenstand der Subsumtion ist nach allgemeinem Verständnis die Zuordnung eines singulären Sachverhalts zu einer rechtlichen Regel. Der konkrete Sachverhalt wird im Akt der Subsumtion als Anwendungsfall der Regel identifiziert. Dementsprechend wird der Subsumtionsirrtum weithin als Irrtum über die Relation zwischen dem Sachverhalt und einer rechtlichen Regel gekennzeichnet.51 Diese Kennzeichnung trifft selbstverständlich zu. Da sie sich auf die Relation zwischen Sachverhalt und Regel bezieht, lässt sie allerdings die Frage, ob der Subsumtionsirrtum als Irrtum über den Sachverhalt (nämlich über dessen rechtlich-normative Qualität) oder aber als Irrtum über die (fälschlich nicht für einschlägig erachtete) Regel einzuordnen ist, zunächst offen. Der schillernde Begriff der „Parallelwertung in der Laiensphäre“, der typischerweise zur Beantwortung der Frage herangezogen wird, ob der Subsumtionsirrtum zu einem Tatbestandsirrtum oder allenfalls zu einem Verbotsirrtum führen könne,52 legt eher nahe, den Irrtum auf den konkreten Sachverhalt und seine rechtliche Wertung zu beziehen. 2. Subsumtionsirrtum als Regelirrtum Die Beispiele, die für die Konstellation eines Subsumtionsirrtums angeführt werden, zeigen allerdings, dass es hier durchweg um einen Irrtum über eine rechtliche Regel geht. So kennt – im Standardfall eines Subsumtionsirrtums – der Täter, der nicht weiß, dass das Luftablassen aus den Reifen eines fremden Fahrzeugs unter Umständen den Tatbestand der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) 50
Zutreffend Puppe, Herzberg-FS (Anm. 42), S. 278. Vgl. etwa Gropp, Strafrecht (Anm. 11), § 13 Rn. 44; Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 13, 2008, § 10 Rn. 380. 52 Sehr klar bei Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil11, 2003, § 21 Rn. 7–9. 51
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verwirklicht,53 die Regel nicht, dass eine „Beschädigung“ im Sinne des § 303 StGB auch in einer nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Funktion der Sache liegen kann. Er irrt über die Definition des Begriffs „Beschädigung“ im Tatbestand der Sachbeschädigung.54 Ebenso irrt der Täter in einem anderen Standardbeispiel für einen Subsumtionsirrtum, dem Bierdeckelfall,55 über definitorische Merkmale der „Urkunde“ im Sinne des § 267 StGB. Dieser Befund dürfte sich verallgemeinern lassen: Der Subsumtionsirrtum ist strukturell ein Irrtum über die Definition eines in einem Tatbestandsmerkmal eines fallrelevanten Strafgesetzes verwendeten Begriffs. Definitionen aber erfolgen über Regeln, und Definitionen von Begriffen, die in gesetzlichen Regeln verwendet werden, haben, da sie über den Gehalt der jeweiligen gesetzlichen Regel entscheiden, selbst den Charakter von Rechtsregeln.56 Das Kriterium, auf das Puppe für die Abgrenzung zwischen Tatbestands- und Subsumtionsirrtum abstellt, scheint mir mit dieser Deutung des Subsumtionsirrtums als Regelirrtum vereinbar zu sein. Allerdings ist für Puppe der entscheidende Gegensatz nicht der zwischen Regel und Sachverhalt (Tatsache), sondern der zwischen Satz und Tatsache (Sachverhalt). Im Falle des Subsumtionsirrtums beziehe sich die Unkenntnis des Täters nicht auf eine tatbestandsrelevante Tatsache, sondern auf einen Satz, der die „tatbestandliche Satzfunktion“ beschreibt.57 Nun könnte man die „Satzfunktion“ als sprachliche Formulierung einer Regel verstehen, aber diese Deutung wird durch den Zusatz ausgeschlossen, es gehe um den „Irrtum über den Inhalt des Satzes, den die tatbestandliche Satzfunktion nach Ausfüllung ihrer Variablen beschreibt.58 Es geht also prima facie auch im Falle eines Subsumtionsirrtums nicht um die Kenntnis einer Regel, sondern um die rechtliche Bewertung eines singulären Sachverhalts. Trotzdem denke ich, dass auch Puppes Modell implizit auf das Regelkriterium zurückgreift. Denn für den Vorsatz soll es genügen, dass sich der Täter „einen Satz vorstellt, der einen . . . mit dem Tatbestand L-äquivalenten (nach logischen bzw. semantischen Regeln der Sprache äquivalenten, U. N.) Satz impliziert, also zu einem solchen Satz im Verhältnis der begrifflichen Spezialität steht“.59 Ob eine solche Implikation vorliegt, bestimmt sich aber nach den definitorischen („semantischen“) Regeln, die von der Strafrechtsdogmatik für die Interpretation von Tatbestandsmerkmalen entwickelt wurden. Das bedeutet: wer sich „einen 53
Vgl. etwa Roxin, Strafrecht (Anm. 14), § 13 Rn. 101. Roxin, Strafrecht (Anm. 14), § 13 Rn. 101. 55 Vgl. etwa Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2009, § 15 Rn. 6. 56 Zur daraus folgenden „Kreativität“ der Definition rechtlicher Begriffe vgl. Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 79 ff. 57 Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 271. 58 Hervorhebung von mir. 59 Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 271. 54
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Satz vorstellt, der einen . . . mit dem Tatbestand L-äquivalenten Satz impliziert“, aber zugleich einem „Irrtum über den Inhalt des Satzes, den die tatbestandliche Satzfunktion nach Ausfüllung ihrer Variablen beschreibt“ unterliegt, unterliegt zwangsläufig einem Irrtum über rechtliche Regeln. Man kann den Dialog zwischen dem Richter und dem Angeklagten, in dem Puppe ihr Abgrenzungskriterium operationalisiert, deshalb ergänzen. Wenn der Angeklagte zu seiner Verteidigung sage „Ich habe nicht gewusst, dass ich eine Urkundenfälschung begangen habe“, so könne diese Einlassung, so Puppe überzeugend, einen Tatbestandsirrtum oder einen Subsumtionsirrtum bedeuten. Um zu klären, ob das eine oder das andere der Fall sei, müsse der Richter „das abstrakte Niveau juristischer Begriffsbildung verlassen und konkreter fragen, dabei aber darauf achten . . ., dass die von ihm als Vorstellungsinhalt des Täters angebotenen Sätze die tatbestandsmäßige Sachverhaltsbeschreibung L-implizieren“.60 Habe sich der Täter wirklich in einem Tatbestandsirrtum befunden, so werde der Richter von dem Täter „einen solchen Satz nie bestätigt bekommen“61. Man kann hinzufügen: Bekommt der Richter einen solchen Satz bestätigt, dann muss es möglich sein, den Irrtum des Angeklagten als Regelirrtum zu identifizieren. Am (einfacheren) Beispiel der Sachbeschädigung: Beantwortet der Täter die Frage „Haben Sie gewusst, dass das Auto infolge des Ablassens der Luft aus den Reifen und der beträchtlichen Entfernung zur nächsten Tankstelle für nicht unerhebliche Zeit funktionsuntauglich sein würde?“ (wahrheitsgemäß) mit „Ja“, dann kann seine Unkenntnis, ein Sachbeschädigung im Sinne des Straftatbestands des § 303 StGB begangen zu haben, nur aus einem Regelirrtum resultieren. Naheliegenderweise hat er irrtümlich die Regel angenommen, dass eine „Sachbeschädigung“ im Sinne des § 303 StGB eine Substanzverletzung voraussetze.62 Im Falle der Urkundenfälschung wäre die Rekonstruktion des Irrtums als Regelirrtum vermutlich komplizierter, sie ist aber immer möglich, wenn tatsächlich ein Subsumtionsirrtum vorliegt. VI. Zusammenfassung Es wird vorgeschlagen, zur Strukturierung der strafrechtlichen Irrtumslehre Ansätze weiter auszubauen, die maßgeblich auf den Unterschied zwischen dem Irrtum über eine Regel einerseits, dem Irrtum über einen singulären Sachverhalt andererseits abstellen. Im Rahmen des resultierenden Koordinatensystem ist der Verbotsirrtum als Regelirrtum zu qualifizieren. Dafür spricht nicht nur das heute praktisch unbe60
Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 273. Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 274 (mit einer im vorliegenden Zusammenhang unwesentlichen Einschränkung). 62 Dazu schon oben bei Anm. 54. 61
Regel und Sachverhalt in der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik
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strittene Prinzip der Tatbestandsbezogenheit („Teilbarkeit“) des Unrechtsbewusstseins, demzufolge das Unrechtsbewusstsein sich nicht in dem Bewusstsein des Verbotenseins des konkreten Tuns erschöpft, sondern die Kenntnis einer bestimmten Verbotsregel voraussetzt. Es lässt sich auch zeigen, dass das Verständnis des Verbotsirrtums als Regelirrtum bei Fahrlässigkeitsdelikten eine sinnvolle Bestimmung des Anwendungsbereichs des § 17 StGB ermöglicht. Im Bereich des Irrtums über rechtlich konstituierte Tatbestandsmerkmale (z. B. „Fremdheit“ der Sache in § 242 StGB) kann zwischen einer Regelkomponente und einer Sachverhaltskomponente des Irrtums unterschieden werden. Mit Hilfe der Theorie der institutionellen Tatsachen lässt sich begründen, dass hier auch der Regelirrtum, als Bestandteil des Irrtums über die konkrete „institutionelle Tatsache“, einen Tatbestandsirrtum begründet bzw. komplementär (nicht zu einem Wahndelikt, sondern) zu einem untauglichen Versuch führt. Der Subsumtionsirrtum ist ebenso wie der Verbotsirrtum, zu dem er führen kann, strukturell ein Irrtum über eine Regel. Maßgeblich ist, dass der Täter die geltende strafrechtliche Verbotsnorm nicht kennt, gegen die seine Handlung verstößt. Eine Unkenntnis der geltenden Regel (Verbotsnorm) in diesem Sinne liegt auch dann vor, wenn der Täter den Gehalt der Regel fehlerhaft bestimmt und deshalb nicht weiß, dass der fragliche Handlungstypus von dieser Regel erfasst wird. Abschließend sei bemerkt: Die Unterscheidung zwischen dem Irrtum über eine Regel und dem über einen singulären Sachverhalt hat für die strafrechtliche Irrtumsdogmatik in erster Linie eine strukturierende Funktion. Sie kann dazu dienen, Strukturen zu verdeutlichen und anerkannte normative Regeln nach dem Muster logisch-analytisch begründeter Differenzierungen zu rekonstruieren. Soweit aus dieser Unterscheidung und der Zuordnung einer Irrtumsregelung zu der einen oder der anderen Struktur selbst normative Konsequenzen gezogen werden sollen, muss das selbstverständlich im Wege einer Argumentation geschehen, die den strukturellen Unterschieden überzeugend Wertungsdifferenzen zuordnet. Exemplarisch: wenn der Verbotsirrtum immer ein Irrtum über eine Regel ist, dann kann die irrtümliche Annahme tatsächlicher Voraussetzungen eines existierenden Rechtfertigungsgrundes nicht als Verbotsirrtum eingeordnet werden. Die strenge Schuldtheorie ist dann nicht aufrecht zu erhalten. Ob der Verbotsirrtum, wie hier vertreten, immer ein Irrtum über eine Regel ist, kann aber nur in einer Auseinandersetzung – auch – mit der strengen Schuldtheorie über die Angemessenheit der resultierenden dogmatischen Konsequenzen entschieden werden. Logisch-strukturelle Analysen können Wertungen nicht ersetzen. Auch darin weiß ich mich mit Ingeborg Puppe einig.63
63 Zur Leistungsfähigkeit der Logik im Recht und ihren Grenzen überzeugend Puppe, Analysen (Anm. 2), S. 351 ff.
Auf die Entsprechung kommt es an! Die Logik der je/desto-Sätze im Recht Von Lothar Philipps I. Die Entsprechung zwischen je und desto „Das Geld gleicht dem Seewasser. Je mehr davon getrunken wird, desto durstiger wird man.“ (Schopenhauer) Sätze dieser Form kommen auch im Recht vor; in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Gerhard Otte darauf aufmerksam gemacht.1 Solche Sätze sind nach Otte so aufzufassen: Wenn die „Intensität“ des Begriffs in der je-Komponente gesteigert werde, werde auch die Intensität des Begriffs in der desto-Komponente erhöht. Dabei werde allerdings nur die „Tendenz“ der Steigerung angegeben, nicht auch ihr „Ausmaß“. Schopenhauers Satz wäre demnach in diesem Sinne zu verstehen: „Wer in diesem Jahr viel verdient hat, möchte im nächsten Jahr noch mehr verdienen“ – schon ein bisschen mehr würde genügen. Das ist nicht ganz richtig. Je/desto-Sätze drücken nicht nur eine Tendenz aus, sondern auch ein Maß, in Form einer Entsprechung zwischen dem je und dem desto. Aus Schopenhauers Satz (etwas Alltagswissen hinzugefügt) könnte man deshalb folgern: Wer in diesem Jahr Zuwendungen (inklusive Boni) von fünf Millionen Euro bekommt, dessen Durst wird im nächsten Jahr nicht mit einer Steigerung um zehntausend Euro zu stillen sein. Denn bei fünf Millionen einerseits und zehntausend andererseits fehlt es an der Entsprechung. Je/desto-Sätze sind so verstehen, wie es in Adelungs Wörterbuch2 angegeben ist: „Je“ steht „vor zwey aufeinander folgenden Comparativen, wo es eine Ver1 Otte, Komparative Sätze im Recht, Zur Logik eines beweglichen Systems, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 (1972), S. 301–320, insbesondere S. 311. Wesentliche Partien der anschließenden Diskussion sind angeführt in Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in: Fr. Bydlinski/H. Krejci/B. Schilcher/ V. Steininger (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271–285. Erstaunlich viele Beispiele für je/desto-Sätze stellt dort R. Sack vor: Bewegliche Systeme im Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, a. a. O. S. 177–198. Dass Ingeborg Puppe, der diese Festschrift gewidmet ist, sich immer wieder mit dem Phänomen komparativer Vergleiche und ordinaler Skalen auseinandergesetzt hat, liegt auf der Hand. Mir ist dazu der Vortrag in bewundernder Erinnerung geblieben, den sie einst in München gehalten hat und der heute unter dem Titel „Ein Versuch, kriminalistisch zu denken“, elegant wie damals, in ihren „Strafrechtsdogmatischen Analysen“ steht: S. 191 ff.
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theilung eines gleichen Maßes oder Verhältnisses über beyde bezeichnet . . . Es wird je länger je schlimmer, d. i. nach dem Maße, wie die Zeit wächset, nach eben demselben Maße nimmt auch der schlimme Zustand an innerer Stärke zu.“ Adelung bezieht sich auf die Wendung je/je, die aber das gleiche bedeutet wie je/desto. Das Bundesverfassungsgericht hat einen je/desto-Satz ausdrücklich als Maßbeziehung interpretiert, in seiner Esra-Entscheidung.3 Esra ist die Titelheldin eines Romans, den der Schriftsteller Maxim Biller geschrieben hat. Die Frau, die dazu das Urbild war, hat durch alle Instanzen hindurch und bis zum Verfassungsgericht auf ein Verbot des Romans geklagt, weil sie sich in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt sah. Ein Leitsatz des Urteils lautet: „Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“ Das Gericht fand, dass im Falle Esra „besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts“ berührt seien und dass dem keine entsprechende Fiktionalisierung gegenüberstand; es bestätigte das Verbot des Romans. Allerdings können Sätze, wie sie Otte vorschweben, also mit Steigerungen, die nicht mit einer Entsprechung verbunden sind, durchaus sinnvoll sein, wenn auch wohl nur in einem theoretischen Kontext. „Wenn der Mensch älter wird, wird er klüger.“ Das schließt nicht aus, dass jemand steinalt wird und dabei nur ein kleines bisschen klüger. Aber sobald ich den Satz einem praktischen Kontext annähere, muss ich eine Entsprechung zwischen den Prädikaten und ihrer Steigerung, zwischen Alter und Klugheit einführen: „Je älter ein Arbeitsloser ist, desto klüger muss er sein, um noch eine Stellung zu finden.“ Nur ein bisschen klüger sein genügt im höheren Alter nicht mehr.
2 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2. Aufl. Leipzig 1796. 3 Aus den Urteilsgründen: „Die Klägerin . . . ist nicht nur, wie die Gerichte zutreffend festgestellt haben, in der Romanfigur der Esra erkennbar dargestellt. Ihre Rolle im Roman betrifft auch zentrale Ereignisse, die unmittelbar zwischen ihr und dem Ich-Erzähler, der seinerseits unschwer als der Autor zu erkennen ist, und während deren Beziehung stattgefunden haben. Sowohl ihre intime Beziehung zum Autor wie ihre Ehe, die Krankheit ihrer Tochter und ihre neue Beziehung sind nach den zutreffenden Feststellungen der Gerichte mehr oder weniger unmittelbar der Wirklichkeit entnommen . . ., so dass dem Leser . . . nicht nahegelegt wird, diese Geschehnisse als Fiktion zu verstehen, auch weil schon aus der Perspektive des Romans eigenes Erleben des Ich-Erzählers geschildert wird.“
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Bei einem juristischen je/desto wird die Notwendigkeit einer Entsprechung besonders deutlich, weil hier neben dem Sprachgefühl auch das Rechtsgefühl mitspricht. Im Strafrechtslehrbuch von Fritjof Haft findet sich ein gutes Beispiel für einen solchen Satz (zur Wartepflicht nach einem Verkehrsunfall, § 142 StGB): „Je schwerer der Unfall, desto länger die Dauer der Wartepflicht.“ „Mehr lässt sich nicht sagen“, fügt Haft hinzu.4 Man kann dazu in der Tat nicht viel sagen, aber etwas doch. Es würde als ungerecht empfunden werden, wenn ein Beteiligter nach einem leichten Unfall lange Zeit warten müsste oder nach einem schweren Unfall nur kurze Zeit. Dann würde es an der Entsprechung fehlen. II. Ein Skalierungsvorschlag Was ein schwerer oder ein leichter Unfall ist, was eine lange oder kurze Wartezeit bedeutet, ist zunächst eine Frage des vorjuristischen Weltverständnisses und dann der Gerichtspraxis, in der sich eine Kontinuität herausbilden kann. Nützlich wäre darüber hinaus, wenn man für die Intensitäten der Begriffe eine Skala aufstellte, um sich der Kontinuität bewusst zu werden. Empfehlenswert ist eine verbale Dreiteilung in niedrig – mittel – hoch (bzw. kurz – mittel – lang), welche man dann in weitere numerische Dreiteilungen auffächert. So teile man niedrig in 0,1 – 0,2 – 0,3 auf, mittel in 0,4 – 0,5 – 0,6 und hoch in 0,7 – 0,8 – 0,9. Innerhalb dieser Dreiergruppen reserviere man den mittleren Wert für den eindeutigen Fall und die beiden flankierenden Werte zur Rechten und zur Linken für die Übergangsfälle zu der angrenzenden verbalen Stufe. Der Grenzwert 0 bedeutet, dass der Begriff leer ist und überhaupt kein Schaden vorliegt bzw. keine Wartezeit erforderlich ist, und der Grenzwert 1, dass der größte anzunehmende Schaden (nach den Maßstäben des Straßenverkehrs) eingetreten ist bzw. dass die längste Wartezeit verlangt wird.5 Ein numerisches Dreierschema, zur Verfeinerung einer verbalen Aufteilung von „ungenügend“ bis „sehr gut“, wird in Deutschland bei der Bewertung von juristischen Übungs- und Examensarbeiten angewandt; Juristen können damit umgehen.6 Die Skala ermöglicht logische Operationen, von denen fortan die Rede sein wird. Soll damit der Anspruch erhoben werden, juristische Urteile mit logischer Präzision zu fällen? Soll die Intuition des Richters, die den Rechtsfall als etwas Ganzes und Individuelles erfasst, beiseite geschoben werden? Keineswegs. In die Haft, Strafrecht Besonderer Teil 7, 1998, S. 28. In einer Dissertation wurde festgestellt, dass die längste je von der Rechtsprechung verlangte Wartezeit drei Stunden betrug: Poeck, Wartepflicht und Wartedauer des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB, 1994. 6 So schon Philipps, Komparativ oder fuzzy? Zur Frage der sogenannten komparativen Sätze im Recht, in: Toward Comparative Law in the 21st Century, The 50th Anniversary of The Institute of Comparative Law in Japan, Tokyo 1998 (Chuo University), S. 1125–1134. 4 5
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Intuition des Richters sollte man jedoch Strukturen einfügen. Zum Vergleich: Die Gestalt eines Menschen und sein Gesicht sind von hoher Individualität, aber noch keinem Portraitmaler haben Kenntnisse der Anatomie geschadet. Die Sätze, die hier in Frage stehen, sind Bedingungssätze. Das bedeutet im Beispiel der Verkehrsunfallflucht: Damit ein Unfallbeteiligter sich richtig verhält, muss er die Bedingung erfüllen, so lange zu warten, wie es der Schwere des Unfalls entspricht. Wer einen kleinen Schaden (Stufe 0,2) verursacht hat, braucht dementsprechend nur eine kurze Zeit zu warten. Wenn der verursachte Schaden etwas größer ist (Stufe 0,3) und sich einem mittelgroßen Schaden annähert, so muss man etwas länger warten. Sofern man länger wartet, als der Schaden schwer ist, schadet das natürlich nicht; man ist jedenfalls auf der sicheren Seite. Wer nicht so lange wartet, wie es dem Schaden entspricht, verhält sich grundsätzlich rechtswidrig. Dabei kann es aber von Bedeutung sein, in welchem Maße er sich rechtswidrig verhält. Das gilt vor allem für das Strafmaß. (In einem zivilrechtlichen Kontext kann der Grad der Unrechts für die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung von Bedeutung sein.) Das Maß der Rechtswidrigkeit ergibt sich aus der Differenz zwischen der Höhe des Schadens und der dahinter zurückgebliebenen Länge der Wartezeit. Wer bei einem Schaden in Höhe von 0,3 eine Wartezeit in der Länge von 0,2 an der Unfallstelle bleibt, verhält sich nur um eine Stufe rechtswidrig. Bei einem Schaden von 0,9 und einer Wartezeit von 0,2 beträgt die Differenz 7 Stufen.7 III. Komplexe je/desto-Sätze „Besondere Beachtung verdienen Sätze, die mehrere Tendenzen zusammenfassen“, schreibt Otte. Was hier zum Ausdruck komme, sei „die Abhängigkeit der Intensität . . . eines Prädikates von der Intensität . . . mehrerer Prädikate“. Er führt ein Beispiel an; dass es kein juristisches Beispiel ist, spielt hier keine Rolle: „Je günstiger die Verkehrslage einer Gemeinde und je größer dort das Potential an Arbeitskräften und je niedriger die kommunalen Steuern, desto attraktiver ist die Gemeinde für Industrieansiedlungen.“ Wenn Otte in diesem Satz die Zusammenfassung mehrerer Tendenzen und die „Konjunktion“ mehrerer Teilsätze sieht, so hat er recht, denn dreierlei sollte mög7 Der Leser wird intuitiv richtig rechnen, aber er will wohl auch eine passende Formel sehen. Mit min(1–x + y,1) definiert der polnische Logiker Łukasiewicz die konditionale Verknüpfung in der mehrwertigen Logik. Auf das je und das desto von Unfallschaden und Wartezeit bezogen, bedeutet das: Je höher der Unfallschaden x, desto niedriger der Komplementärwert 1–x. Doch zu diesem wird y addiert, der Wert der Wartezeit: je höher y ist, in desto höherem Maße wird 1–x kompensiert. Allerdings sollte diese Summe die logische Obergrenze von 1 nicht überschreiten, deshalb wird 1 als höchstmögliches Minimum festgelegt.
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lichst zusammenkommen: Verkehrslage, Arbeitspotential und niedrige Steuern. Aber bestimmt die Konjunktion auch den folgenden je/desto-Satz, den Leitsatz zu einer BGH-Entscheidung? „Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint, je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind, je mehr Widersprüche bei der Beweiserhebung zu Tage getreten sind, desto größer ist der Anlass für das Gericht, trotz der erlangten Überzeugung weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen.“ (BGH 4 StR 499/02 – Beschluss vom 25. Februar 2003; Leitsatz des Bearbeiters)8 Hat der Bearbeiter, der diesen Leitsatz formuliert hat, damit wirklich ausdrücken wollen, dass nur wenn diese drei zusammenkämen: „wenig gesicherte Beweisergebnisse“ und „gewichtige Unsicherheitsfaktoren“ und schließlich „mehrere Widersprüche“, das Gericht weitere „erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen“ habe? Das ist kaum anzunehmen; eines von den dreien allein sollte schon ausreichen. Dann aber haben wir es nicht mit der Konjunktion zu tun, sondern mit der Disjunktion, die Teilsätze könnte man durch oder verknüpfen. Doch dürfen wir nicht vorschnell urteilen. In dem Leitsatz sind die Teilsätze durch Kommata voneinander getrennt. Wollte ich jedes Komma durch ein verbindendes Wort ersetzen, so würde ich auch hier das Und wählen, vom Sprachgefühl her: „Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint und je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind und je mehr Widersprüche bei der Beweiserhebung zu Tage getreten sind, desto größer ist der Anlass . . ., weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen.“ Aber eine Konjunktion wird trotzdem nicht daraus. Denn das Und dient hier, wie übrigens oft, nicht als Konjunktion, sondern als Ausdruck einer Aufzählung.9 Irgendwelche Konsequenzen aus seiner These derart, dass die Tendenz sich durch die Zusammenfassung verstärke oder aber abschwäche, zieht Otte nicht – wozu auch, wenn nach seiner Ansicht ohnehin kein Maß im Spiel ist. Wir hingegen, die wir an die Existenz von Maßverhältnissen glauben, müssen uns fragen: Wie wirkt es sich aus, wenn in den Bedingungen eines je/desto-Satzes gegensätzliche „Tendenzen“ von unterschiedlicher Stärke herrschen? Zu Ottes Beispiel könnte sich die Situation ergeben, dass die Verkehrslage der Gemeinde miserabel ist, doch an Arbeitskräften ist kein Mangel und über die Steuern würde die Verwaltung ein wenig mit sich reden lassen. Sollten solche Unterschiede die Logik wirklich gleichgültig lassen? Keineswegs. Wir bewegen uns hier auf dem Ge8 Die Entscheidung stellt klar, dass ein Gericht sich gegenüber der Revision nicht erfolgreich auf die „richterliche Überzeugung“ berufen kann, wenn das der Überzeugung zugrundegelegte Beweisergebnis zweifelhaft ist. Ob das der Fall ist, entscheidet sich freilich auf Grund des Textes des angegriffenen Urteils. 9 Wo im Deutschen ein Und steht, benutzt man übrigens im Englischen häufig ein Or: „The more beautiful a woman is or the richer she is the better are her chances of finding a husband of substance.“
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lände der Fuzzy Logic. Das ist eine sehr pragmatische Form der Logik: sie akzeptiert nicht nur die Werte „wahr“ und „falsch“ (als „völlig wahr“ und „völlig falsch“ interpretiert), sondern auch die Schattierungen des Alltags: dass etwas „halbwahr“, „teilweise wahr“, „überwiegend falsch“ oder „nicht ganz falsch“ ist – und dass man gelegentlich „jein“ sagen kann. Fuzzy logic sucht auch nicht nach dem „wahren Und“ und dem „wahren Oder“, sondern entscheidet pragmatisch über mehrere Formen des Oder und mehrere Formen des Und.10 Werfen wir zunächst einen Blick auf die Wahrheitswertetabelle der klassischen Logik für die Und- und die Oder-Verknüpfung, um dann zur Fuzzy Logic überzugehen: xy
x und y
x oder y
11
1
1
10
0
1
01
0
1
00
0
0
Wenn 1 für wahr steht und 0 für falsch, so ist die Verknüpfung x und y dann und nur dann wahr, wenn sowohl x wie y wahr sind; in den anderen drei Fällen ist sie falsch. „Die Verkehrsanbindung der Gemeinde ist gut, und die Gewerbesteuer ist niedrig.“ Wenn der Bürgermeister das behauptet, sagt er nur dann die Wahrheit, sofern in der Tat beides der Fall ist. Umgekehrt ist der Satz x oder y dann wahr, wenn auch nur einer der beiden Teilsätze zutrifft, wenn also wenigstens die Verkehrsanbindung gut ist oder die Gewerbesteuer niedrig. Er ist auch dann wahr, wenn beide Teilsätze wahr sind; es handelt sich um das nichtausschließende „und/oder“, das man vor allem in Schriftsätzen von Rechtsanwälten findet. Fuzzy Logic interpretiert 1 und 0 nicht als bloße Zeichen für „wahr“ und „falsch“, sondern als echte Zahlenwerte. So gesehen gibt es im Wesentlichen 10 Zum Geist dieser Logik vgl. Bart Kosko, fuzzy-logisch, eine neue Art des Denkens, Hamburg 1993. Eine gute Übersicht über die ungemein vielfältigen fuzzy-logischen Verknüpfungen findet sich bei Th. Tilli, Fuzzy-Logik2, 1991, S. 167 ff. Die Fuzzy Logic gleicht in vielem der mehrwertigen Logik, ihr Grundgedanke ist jedoch anders. Hinter der mehrwertigen Logik, jedenfalls hinter ihrem Ursprung bei Łukasiewicz, steht das Bestreben, eine „reine“ Logik zu schaffen (schon der Begriff der „Wahrheit“ stand im Verdacht der Psychologie); während umgekehrt die Fuzzy-Logik von einer ganz pragmatischen, anwendungsorientierten Einstellung bestimmt wird. Zur Fuzzy Logic im Recht vgl. beipielsweise Philipps, Das Nebeneinander von Maximum und Summe im Recht und in der Fuzzy Logic in: Slovenian Law Review Vol. III (2006), S. 37–43; Effer-Uhe, Die Bindungswirkung von Präjudizien. Eine Untersuchung aus dem Blickwinkel von Prinzipientheorie und Fuzzy-Logik, 2008, sodann Neural Networks and Fuzzy Reasoning, Special Issue of: Artificial Intelligence and Law, Vol. 7, 1999, hrsg. von L. Philipps/G. Sartor, speziell darin die Einleitung: From Legal Theories to Neural Networks and Fuzzy Reasoning, S. 115–128.
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zwei Wege, wie man von der Liste der Zweierkombinationen in der linken Spalte der Tabelle zu den Werten der Und-Verknüpfung in der mittleren Spalte gelangt: 1. Das Minimum-Prinzip. Man wählt aus den Kombinationen den jeweils niedrigsten Wert 2. Das Produkt-Prinzip. Man multipliziert die beiden Werte miteinander. Was die Oder-Verknüpfung anlangt, so erreicht man ihre Wertefolge in der rechten Spalte auf zwei entsprechenden Wegen: 1. Das Maximum-Prinzip. Man wählt aus den Kombinationen von 1 und 0 den jeweils höchsten Wert. 2. Das Summen-Prinzip. Man addiert die beiden Werte in den Kombinationen (unter der Zusatzannahme, dass sich der Höchstwert 1 nicht überschreiten lässt). Fuzzy Logic geht nun noch einen Schritt weiter und bezieht auch die Zahlenwerte aus dem Intervall zwischen 1 und 0 in die Rechnungen ein. 1 und 0 stellen sich dann als Grenzwerte einer Skala von abgestuften Wahrheitswerten dar: als „völlig wahr“ und „völlig falsch“. Anders als bei den Grenzwerten hat freilich bei den Zwischenwerten das Maximum der Werte nicht mehr denselben Wert wie ihre Summe. (Und das Minimum nicht denselben Wert wie das Produkt.) Beipielsweise sei x 0,5 und y sei 0,4. Das Maximum beträgt dann 0,5 und die Summe 0,9 – ein gewaltiger Unterschied, was soll man tun? Man sollte beide Verfahren in Erwägung ziehen und sich dann erst für das eine oder das andere entscheiden! Denn hinter jedem von ihnen steht ein wichtiger pragmatischer Gedanke. 1. Die fokussierende Betrachtung. Das Maximum-Prinzip für das Oder und das Minimum-Prinzip für das Und werden gern am Beispiel zweier Siebe veranschaulicht. Ein Bauarbeiter soll einen Haufen Kies sieben; er hat zwei Siebe zur Verfügung: eines mit kleinen Löchern und eines mit großen. Er kann also das größere oder das feinere wählen. Soll nun die Arbeitsleistung evaluiert werden gemäß der Menge des gesiebten Materials und der Dauer des Vorgangs (erstrebenswert sei möglichst viel Material in möglichst kurzer Zeit), so wird man als Maß der Bewertung das Sieb mit den großen Löchern nehmen. Das Maximum setzt sich selbstverständlich auch durch, wenn drei oder mehr Siebe zur Verfügung stehen. Anders verhält es sich bei der Konjunktion, der Und-Verknüpfung: Wenn als Ergebnis des Siebens feines Material erwünscht ist und der Bauarbeiter dazu beide Siebe benutzt, das mit den großen und das mit den kleinen Löchern, so werden die Feinheit und die Menge des gewonnenen Materials vom Sieb mit den kleineren Löchern bestimmt, vom Minimum. Bei einer Evaluation würde man vielleicht sagen: Der Mann hätte sich das gröbere Sieb ersparen und gleich das feinere nehmen sollen. (Übigens nicht immer: Um Stockungen zu vermeiden, kann es zweckmäßig sein, in der Tat beide Geräte zu benutzen, zuerst das gröbere und dann das feinere.)
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2. Die umfassende Betrachtung. Die Anschaulichkeit des Siebmodells macht auch seine Grenzen deutlich. Die Entscheidung nach Maximum und Minimum ist Ausdruck einer Fokussierung, und die ist in vielen Fällen angebracht, aber nicht immer. Auf den BGH-Leitsatz über prozessuale Mängel passt das Maximum-Prinzip mit seiner Fokussierung auf den größten Mangel nicht, richtigerweise müsste auch eine Vielzahl kleiner Fehler ein Urteil zu Fall bringen können. Man sollte hier also nach dem Summenprinzip entscheiden, alle Mängel und ihre Werte sammeln und addieren und dann prüfen, ob die Summe ausreicht, eine Entscheidung über eine Anfechtung des Urteils zu treffen (was natürlich nicht ausschließt, dass einer der Mängel allein schon gravierend genug für eine Aufhebung sein kann). Ottes Beispiel von der Industrieansiedlung ist besonders interessant, weil hier – es geht um ein Konjunktion von Kriterien – sowohl das Minimumprinzip wie das Produkt-Prinzip erwägenswert sind. Die Lage kann sich aus der Sicht eines Unternehmers so darstellen: – Geeignete Arbeitskräfte gibt es dort in der heutigen Zeit der Arbeitslosigkeit die Fülle. Geschätzter Wert also 1. – Die Gemeinde lockt – wohl nicht zuletzt deshalb – mit einem sehr günstigen Steuerbescheid. Geschätzter Wert 0,9. – Die Verkehrsanbindung ist aber sehr mangelhaft, und das lässt sich in der gegenwärtigen Finanzkrise auch nicht ändern. Die Schätzung liegt bei 0,2. Darüber kommt man nicht hinweg. Eben dies ist der pragmatische Gedanke, der hinter dem Minimum-Prinzip steht: Man kommt nicht hinweg über einen niedrigen Wert, mögen begleitende Werte noch so hoch sein. Im Unterschied dazu drückt das Produkt-Prinzip den Gedanken aus, dass zusammen auftretende Werte nicht voneinander isoliert sind, sondern in Wechselwirkung stehen. Hohe Werte bleiben beim Kontakt mit hohen Werten erhalten, schmelzen aber durch den Kontakt mit niedrigen Werten zusammen. Bilden wir das Produkt aus den Werten zu einer möglichen Industrieansiedlung – also aus 1; 0,9; 0,2 –, so erhalten wir 0,18 – wegen der hohen Begleitwerte übrigens gar nicht so sehr verschieden von dem Minimalwert 0,2 für das Arbeitspotential. Stünde freilich auch der Begleitwert Steuer bei 0,2, so ergäbe sich nach dem Produkt-Prinzip ein Wert von nur 0,04, während das Minimum unverändert bei 0,2 bliebe.11
11 Zu beachten ist noch, dass das Produkt als Entscheidungsgrundlage unsicherer ist als das Minimum. Bei der Multipikation vervielfältigen sich auch kleinere Abweichungen, und was alles man als Faktor der Multiplikation einsetzen sollte, darüber kann man leicht unterschiedlicher Meinung sein.
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IV. Zahlen und Maße Braucht der Jurist das wirklich: Minimum und Maximum, Summe und Produkt? Ja, er braucht das! Ein Jurist braucht ein Gefühl für Maße und Proportionen, und dazu gehören Minimum und Maximum, Summe und Produkt. Dieses Gefühl ist nicht von Zahlen abhängig, aber es kann an Hand von Zahlen eingeübt werden. Lotfi Zadeh, der Begründer der Fuzzy Logic, hat mir gesagt: „Zahlen werden gebraucht wie Krücken. Sobald man sie nicht mehr braucht, sollte man sie wegwerfen.“ V. Ein Blick auf die Statistik Wie häufig je/desto-Sätze in der Rechtsprechung vorkommen, kann man mit Hilfe des Retrieval-Systems JURIS ermitteln: Man frage nach den Häufigkeiten von „desto“ und dem gleichbedeutenden „umso“. Allerdings wird man auf diese Weise nicht alle „komparativen Sätze“ erfassen, und einige werden ein bloßer Beifang sein (man denke an das Gegensatzpaar von recall and precision). Statt „desto“ kann man auch, wie wir gleich zu Anfang gesehen haben, etwas umständlicher „in dem Maße“ sagen, und das „umso“ wird in der deutschen Sprache etwas freier benutzt als das „desto“: „Er ist reich? Umso besser!“ Die im Retrieval gewonnenen Zahlen sind also nicht genau. (Und diese hier sind auch schon älter: von März 2009.) Aber Tendenzen wird man doch feststellen können.12 Die Möglichkeit, überhaupt nach Komparationen suchen zu können, ist nicht selbstverständlich. Zunächst einmal kommt ihr eine Besonderheit der deutschen Sprache zugute, in der es das markante Wörtchen „desto“ gibt. Das „plus“ („plus . . . plus“) des Französichen ist viel weniger für eine trennscharfe Abfrage geeignet als das „desto“; und das „the“ des Englischen („The longer the better“) ist, weil ubiqitär, völlig ungeeignet. (Vielleicht ist es aber aussichtsreich, nach „the more“ zu suchen.) Doch auch das „desto“ und das „umso“ lassen sich in JURIS erst seit einigen Jahren erreichen. Die Schöpfer der Datenbank gingen davon aus, dass an diesen Wörtchen kein juristisches Interesse hänge, so wenig wie an „der“, „die“, „das“ und vielen anderen scheinbar trivialen Wörtern. An die Möglichkeit, JURIS für soziologische, linguistische oder argumentationstheoretische Zwecke einzusetzen, dachten sie nicht. Zudem waren Computer seinerzeit langsam, und Rechenzeit war knapp und teuer. Der Tabelle und dem Balkendiagramm am Schluss dieser Ausführungen liegt die Gliederung in „Rechtsgebiete“ zugrunde, die von JURIS angeboten wird. Das Balkendiagramm veranschaulicht, in welchem Maße je/desto-Argumentationen
12 Die Ergebnisse verdanke ich Claus Cramer, der mir mit Rat und Tat geholfen hat wie immer wieder seit jener Zeit, als ich noch Vorlesungen hielt und er noch kein Oberverwaltungsrat war.
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in den Entscheidungen zu den einzelnen Rechtsgebieten vorkommen. Die linke Hälfte eines Doppelbalken zeigt an, wie stark das jeweilige Rechtsgebiet in der Datenbank vertreten ist; die rechte Hälfte repräsentiert den Anteil der je/destoSätze in diesem Rechtsgebiet – bezogen auf den Bestand aller je/desto-Sätze in den Entscheidungsdatenbank überhaupt. Wenn in einem Rechtsgebiet der Anteil des je/desto groß ist, größer vor allem als der prozentuale Wert, mit dem das Gebiet in der Datenbank vertreten ist, dann darf man vermuten, dass komparativische Prüfungen dort häufig sind. Sehr oft wird das je/desto im Staats- und Verfassungsrecht verwandt. Bei den vielen Abwägungsproblemen im Bereich der Grundrechte war das zu erwarten. Ähnlich steht es mit dem Verwaltungsrecht, wo Prüfungen der „Verhältnismäßigkeit“ einer administrativen Maßnahme typisch sind. Vielleicht erklärt sich die hohe Quote im Baurecht aus ähnlichen Gründen. Auffallend ist, dass junge Rechtsgebiete wie das „IT- und Medienrecht“ und das „Umweltrecht“ eine hohe je/desto-Quote haben. Zu Unrecht habe ich im Arbeitsrecht eine höhere Quote erwartet, und im Sozialrecht liegt sie sogar – erstaunlicherweise, finde ich – unter dem Anteil, den das Gebiet im ganzen in der Datenbank hat. Dass sie im Kosten- und Gebührenrecht niedrig ist, war wohl zu erwarten. Niedrig ist sie auch im Steuerrecht, und da war ich mir meiner Erwartung keineswegs sicher. Dass im Strafrecht der Anteil des je/desto gering sein werde, war wegen des nulla poena sine lege auch nicht überraschend. Gilt das aber auch für die Strafzumessung? Immerhin spielt die komparative oder ordinale Betrachtungsweise in der Literatur zur Strafzumessung eine beachtliche Rolle13, und schon der alte Topos „Charakter belastet, Motiv entlastet“ verlangt nach Paraphrasierungen wie „Je tiefer das Böse in einem Menschen verwurzelt ist, desto . . .“ und „Je stärker die Versuchung war, desto . . .“ Ich habe deshalb § 46 StGB gesondert geprüft – („desto“ oder „umso“) und „§ 46 StGB“ –, mit dem Ergebnis: 33 Fälle. Bei insgesamt etwa hunderttausend Entscheidungen zum Strafrecht sind das nicht wenige; man nehme nur irgendeinen Strafrechtskommentar zur Hand und vergleiche das Ausmaß der Erläuterungen zur komparativen (ordinalen) Denkweise bei der Strafzumessung mit dem Gesamtvolumen des Werkes. Otte sprach seinerzeit von „Komparativen Sätzen im Recht“ und wohlgemerkt nicht von „Rechtsätzen“. Tatsächlich findet sich das je/desto vor allem in Entscheidungen, und dann zumal in den Leitsätzen. In Gesetzen und Verordnungen kommt es äußerst selten vor – auch das lässt sich dank JURIS belegen. Überraschend ist jedoch, dass man die Wendung in den Normen des Europarechts überaus häufig anzutreffen scheint (nahezu dreihunderttausend Treffer, das sind über 99 % des Vorkommens insgesamt). Wenn man Stichproben nimmt, zeigt sich allerdings, dass es hier gar nicht um Normen im traditionellen Sinne geht, sondern um Empfehlungen, Mahnungen, Erklärungen, Kommentierungen. Doch auch so 13
Vgl. Streng, im Nomos-Kommentar2, 2005, § 46 Rdn 109 ff.
Auf die Entsprechung kommt es an!
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gesehen, ist die Häufigkeit auffällig. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch gelernt, dass es heutzutage nicht nur „Soll-Vorschriften“ gibt, sondern auch „SollteVorschriften“.14 In ihnen kommt nicht der „Wille des Gesetzgebers“ zum Ausdruck, sondern einer seiner Seufzer. 60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00
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0,00
Abbildung 1: Anteil der Entscheidungen mit „umso“ oder „desto“ in der Rechtsprechung in den einzelnen Rechtsgebieten
14 Verordnung (EG) Nr. 40/2008 des Rates vom 16. Januar 2008 zur Festsetzung der Fangmöglichkeiten und begleitenden Fangbedingungen für bestimmte Fischbestände . . . 3. Einsatz von Tori-Leinen 3.1. Die Leine sollte von einer am Schiff befestigten Stange ins Wasser führen. Die Tori-Stange sollte so hoch wie möglich sein, . . . Je höher die Stange, desto größer der Köderschutz. (Tori bedeutet Vogel im Japanischen. Tori-Leinen sollen Vögel davon abhalten, nach den Ködern der Fangleinen zu schnappen und dann elendiglich umzukommen. Verf.)
200
Lothar Philipps Tabelle 1 Anteil der Entscheidungen – numerisch
Rechtsgebiet
Treffer insgesamt
Anteil Rechtsgebiet in %
Treffer „desto“ oder „umso“
Anteil „desto“ oder „umso“ in %
Treffer insgesamt (Mehrfachnennung möglich)
988.702
238,94
22.968
230,42
Arbeitsrecht
148.790
15,05
3.571
15,55
Bankrecht
91.115
9,22
1.977
8,61
Baurecht
51.824
5,24
2.516
10,95
Erbrecht
26.797
2,71
598
2,60
Europarecht
42.724
4,32
1.352
5,89
Familienrecht
80.959
8,19
1.196
5,21
143.118
14,48
2.823
12,29
Insolvenzrecht
27.903
2,82
664
2,89
IT- und Medienrecht
31.674
3,20
1.193
5,19
101.874
10,30
1.199
5,22
60.847
6,15
918
4,00
133.622
13,51
2.810
12,23
66.463
6,72
2.748
11,96
169.728
17,17
2.406
10,48
Strafrecht
99.862
10,10
1.781
7,75
Umweltrecht
23.496
2,38
1.204
5,24
Verkehrsrecht
97.144
9,83
1.703
7,41
Versicherungsrecht
134.853
13,64
2.040
8,88
Verwaltungsrecht
358.449
36,25
10.995
47,87
68.458
6,92
2.270
9,88
401.870
40,65
6.938
30,21
939
0,09
25
0,11
Handels- und Gesellschaftsrecht
Kosten- und Gebührenrecht Miet- und Wohnungseigentumsrecht Sozialrecht Staats- und Verfassungsrecht Steuerrecht
Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht Zivil- und Zivilprozessrecht Sonstige
Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?* Von Joachim Renzikowski I. Einleitung „Problematisch ist die sog. psychische Kausalität, dh die Kausalität für den Erfolg, dass ein anderer einen bestimmten Entschluss fasst. Dieser tritt als Zwischenerfolg auf, beispielsweise bei der Anstiftung, bei der Nötigung und beim Betrug. Entgegen einem unter Strafrechtswissenschaftlern verbreiteten Glauben (. . .) liefern uns die Humanwissenschaften keine allgemeinen Regeln des Ablaufs psychischer Vorgänge.“ – „Es bleibt also nichts anderes übrig, als die Illusion eines einheitlichen Kausalbegriffs preiszugeben und die Zurechnung von Erfolgen kraft psychisch vermittelter Beeinflussung anderer Personen auf eine grundsätzlich andere Basis zu stellen als die Zurechnung äußerer Erfolge kraft Beeinflussung von Naturvorgängen . . .“1 So schreibt Ingeborg Puppe in ihrer Kommentierung Vor § 13 ff. im Nomos Kommentar. Die herkömmliche Meinung sieht das freilich anders. So wird das Bestimmen zur Tat nach § 26 StGB üblicherweise definiert als „Verursachung des Tatentschlusses“2, wobei es auf die strittige Frage, ob darüber hinaus noch weitere Anforderungen an die Anstiftungshandlung zu stellen sind, hier nicht ankommt. Für § 240 StGB wird ebenfalls ein Kausalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und dem abgenötigten Verhalten des Opfers verlangt.3 Schließlich setzt der Betrug einen „durchlaufenden ursächlichen Zusammenhang“ zwischen Täuschung, Irrtum, Vermögensverfügung und Vermögensschaden voraus.4 Wer in diesen Fällen, in denen es um die „Verursachung“ der Handlung eines anderen geht, psychische Kausalität ablehnt, etwa weil jede Handlung eine freie Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen impliziert5, zieht sich leicht den Vorwurf zu, „damit die Verwendbarkeit des Kausalbegriffs in der Jurisprudenz im Ganzen in Frage [zu] stellen“.6 * Für wertvolle Hinweise bei der Erschließung des philosophischen Backgrounds danke ich Alexander Aichele und Jakob Meier. 1 Puppe, in: NK, StGB3, 2010, Vor § 13 ff. Rn. 125 und 131. 2 Siehe Joecks, in: MüKo, StGB, 2003, § 26 Rn. 21 m.w. N. 3 Siehe Eser, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 240 Rn. 14 m.w. N. 4 Siehe Rengier, Strafrecht. Besonderer Teil I11, 2009, § 13 Rn. 1. 5 So bereits Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die condicio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968, S. 22 ff.; s. ferner Hart/Honoré, Causation in the Law2, 1985, S. 51 ff.; v. Wright, Erklären und Verstehen2, 1984, S. 71.
202
Joachim Renzikowski
Hier soll eine schärfere Behauptung begründet werden: Psychische Kausalität ist als Begriff nicht denkbar. Es geht bei der „psychischen Kausalität“ darum, Handlungen durch Motive zu erklären. Diese „Sinn-Deutung des Verhaltens“7 durch die Zuschreibung von Handlungsgründen ist eine völlig andere Kategorie als die der Kausalität, nämlich die Kategorie der Zurechnung. Selbstverständlich muss auch die Zuschreibung von Handlungsgründen begründet werden. Da die Gründe verallgemeinerbar sein müssen, muss die Begründung einer allgemeinen Regel folgen. Aber das ändert nichts daran, dass es sich bei diesen Regeln nicht um die Regeln handelt, nach denen Kausalurteile gefällt werden. Im Folgenden soll zunächst unter Bezugnahme auf die einschlägig bekannten Stellen bei Hume und Kant gezeigt werden, dass Kausalität ein Begriff ist, der sich nicht auf einen empirischen Gegenstand bezieht, sondern auf eine Relation. Damit verbunden ist das Problem der Anwendung dieses Begriffs auf die „wirkliche Welt“; dazu soll allerdings nur das in unserem Zusammenhang Nötigste gesagt werden (II.). Sodann soll der Begriff der Zurechnung und sein Verhältnis zur Kausalität geklärt werden (III.). Schließlich sollen noch einige Bemerkungen dazu gemacht werden, auf welche Weise eine Handlung durch Motive erklärt werden kann (IV.). II. Die Kausalität als Konditionalrelation Seit Hume geht man weitgehend davon aus, dass Kausalität kein beobachtbares Phänomen ist. In seiner „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ aus dem Jahr 1748 schreibt Hume: „It appears that, in single instances of the operation of bodies, we never can, by our utmost scrutiny, discover anything but one event following another, without being able to comprehend any force or power by which the cause operates, or any connexion between it and its supposed effect. (. . .) So that, upon the whole, there appears not, throughout all nature, any one instance of connexion which is conceivable by us. All events seem entirely loose and separate. One event follows another; but we never can observe any tie between them. They seem conjoined, but never connected.“8 Eine wie auch immer geartete Verknüpfung zweier Ereignisse kann nach Hume trotz allem Aufwand nicht beobachtet werden. Möglich ist lediglich die Beobachtung, dass einem Ereignis ein anderes nachfolgt. So kann man beispielsweise sehen, wie eine weiße Billardkugel an eine rote stößt; die weiße Billardkugel bleibt stehen und die rote bewegt sich fort. Die äußeren Sinne („outward senses“) nehmen allein die Bewegung war. Der Impuls der weißen Kugel, der sich in der roten Kugel fortsetzt, ist Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil I4, 2006, § 11 Rn. 31. Fischer, StGB57, 2010, Vor § 13 Rn. 22. 8 Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Nachdruck der Ausgabe von 17773, 1975, S. 73. 6 7
Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?
203
kein Gegenstand der Erfahrung, sondern beruht nur auf Vorstellung („idea“).9 Deswegen können wir nicht allein von dieser einzelnen Beobachtung darauf schließen, dass sich beide Kugeln beim nächsten Mal in derselben Weise bewegen werden: „It being justly esteemed an unpardonable temerity to judge of the whole course of nature from one single experiment, however accurate or certain.“10 Nur wenn eine besondere Art von Ereignissen häufig in räumlicher und zeitlicher Nachbarschaft auftritt, neigt man dazu, das frühere Ereignis die Ursache und das spätere Ereignis die Wirkung zu nennen. Diese Redeweise entspringt aber letztlich der Gewohnheit, von ähnlichen Geschehensabläufen auf zukünftige ähnliche Geschehensabläufe zu schließen, beruht also auf dem Glauben an die Gleichförmigkeit der Natur.11 Aber dieser Schluss ist nicht zwingend, denn es steht keinesfalls fest, dass sich die Dinge auch in der Zukunft ebenso verhalten werden wie in der Vergangenheit: „It is impossible, therefore, that any arguments from experience can prove this resemblance of the past to the future; since all these arguments are founded on the supposition of that resemblance. Let the course of things be allowed hitherto ever so regular; that alone, without some new argument or inference, proves not that, for the future, it will continue so.“12 Für Hume ist Kausalität also keine Aussage über reale Zusammenhänge. Da er es aber ablehnt, über Kausalität a priori überhaupt nachzudenken13, ist sein Begriff der Kausalität genau genommen ein leerer Begriff ohne Bezugsgegenstand. Kant übernimmt von Hume dessen skeptizistische Position, nicht aber die Ablehnung eines Kausalbegriffs. Im Gegenteil: Erst sinnliche Eindrücke und Vernunft, d.h. Begriffe, zusammen ermöglichen Erfahrung und Erkenntnis.14 Anders als bei Hume beschränkt sich die Erfahrung nicht auf die unmittelbare Sinneserfahrung, sondern die Sinneserfahrung ist eine Bedingung für Erfahrung. Die Kategorie der Kausalität ist hierbei notwendig, um zwei verschiedene Phänomene in Raum und Zeit überhaupt als zusammengehörig vorstellen zu können. Kant entwickelt den Begriff der Kausalität im Zusammenhang mit der Frage, ob synthetische Urteile a priori möglich sind. Synthetische Urteile nennt Kant auch „Erweiterungsurteile“15, denn im Unterschied zu den analytischen Urteilen – oder 9
Vgl. Hume (Fn. 8), S. 73 f. Hume (Fn. 8), S. 74. 11 Hume (Fn. 8), S. 78. 12 So Hume (Fn. 8), S. 38, zum sog. „Induktionsproblem“. 13 Hume (Fn. 8), S. 27: „I shall venture to affirm, as a general proposition, which admits of no exception, that the knowledge of this relation is not, in any instance, attained by reasonings a priori.“ 14 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung, Band 4, 1911, A 51: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ S. auch A 106: „Alle Erkenntnis erfordert einen Begriff.“ 15 Kant, Kritik der reinen Vernunft2, 1787, in: Kants gesammelte Schriften, Band 3, 1911, B 11. Ein synthetisches Urteil ist wahrheitsfähig, d.h. möglicherweise wahr, wenn 10
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Joachim Renzikowski
auch „Erläuterungsurteilen“16 – ist mit ihnen ein Erkenntnisgewinn verbunden, sofern sie wahr sind. Sie verknüpfen etwas mit dem Subjektterm, was nicht schon zuvor in ihm enthalten ist (z. B.: „Die Kugel ist rot.“). Ferner unterscheidet Kant zwischen Urteilen a priori, die unabhängig von aller Erfahrung gelten, und Urteilen a posteriori, die gerade aus der Anschauung bzw. Erfahrung stammen (z. B.: „Dieser Pilz ist ungiftig.“).17 Die Frage, ob und wie erfahrungsunabhängig gültige Erweiterungsurteile möglich sind, behandelt Kant in dem 1781 erschienenen Werk „Kritik der reinen Vernunft“. Dort bejaht er die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, weil unsere Erfahrung nur in bestimmten Anschauungsformen (Raum und Zeit) und Kategorien, darunter der Kausalität stattfindet.18 Diese Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung gelten für alle überhaupt möglichen Gegenstände von Erfahrung. Also bestimmen nicht die Gegenstände die Erkenntnis, wie noch die Empiristen gedacht haben, sondern die Erkenntnis bestimmt die Gegenstände. Um das Beispiel von Hume aufzugreifen: Zwar nehmen wir nicht mehr wahr als eine weiße Billardkugel, die eine rote Billardkugel berührt und sodann stehen bleibt, sowie das Weiterrollen der roten, aber aufgrund des Begriffs der Kausalität können wir denken, dass der Impuls der weißen Billardkugel die Ursache für die Bewegung der roten Kugel ist. Dieses Kausalurteil ist ein synthetisches Urteil a priori – synthetisch deshalb, weil die Bewegung der roten Kugel nicht durch Zergliederung des Begriffs der rollenden weißen Kugel erkannt werden kann, und a priori, weil die Begriffe von Ursache und Wirkung für sich genommen unabhängig von einer konkreten Erfahrung gedacht werden können. Der Begriff von Kausalität versetzt uns in die Lage, nicht nur aneinander gereihte Sinneseindrücke zu erfahren, sondern sie zueinander in Beziehung zu setzen und zu reflektieren.19 Es stellen sich also zwei Probleme: Wie muss der Begriff der Kausalität gebildet werden und welche logischen Eigenschaften kommen ihm demzufolge zu? Wie kann der Begriff der Kausalität auf Geschehensabläufe in der Welt angewendet werden oder anders ausgedrückt: Was bedeutet es, ein Kausalurteil zu fällen? der Prädikatsterm mit dem Subjektsterm vereinbar ist. Die Wahrheit eines synthetischen Urteils kann aber nicht anhand der verwendeten Begriffe bestimmt werden. Vielmehr benötigen wir dazu i. d. R. eine weitere Instanz, die Erfahrung. 16 Kant (Fn. 15), B 11. In einem analytischen Urteil sagt der Prädikatsterm nur etwas aus, was bereits im Subjektsterm enthalten ist, z. B.: „Die Kugel ist rund“. Es gehört zum Begriff einer jeden Kugel, rund zu sein. Daher ist ein analytisches Urteil stets wahr. 17 Siehe dazu Ratke, Systematisches Handlexikon zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 1965, S. 17 und 22. 18 Zur Kategorientafel s. Kant (Fn. 15), B 106; zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der kantischen Kategorie vgl. Schnepf, Die Frage nach der Ursache. Systematische und problemgeschichtliche Untersuchungen zum Kausalitäts- und Schöpfungsbegriff, 2006, S. 293 f. 19 Siehe Ertl, Auflösung der „dritten Antinomie“. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre, 1998, S. 39.
Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?
205
Nach Kant bedeutet der Begriff der Ursache „eine Synthesis (dessen, was in der Zeitreihe folgt, mit anderen Erscheinungen) nach Begriffen (. . .), die ihre Regel a priori hat.“20 Es handelt sich also um eine Relation zwischen zwei voneinander zu unterscheidenden Begriffen, nämlich zwischen A als Ursache und B als Wirkung von A.21 Weiterhin stehen A und B in der Kausalitätsrelation im Verhältnis des logisch früher und später, so „daß in dem, was vorher geht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendiger Weise) folgt.“22 Nach Kant liegt in der Abfolge der Wirkung auf eine Ursache eine bestimmte notwendige Zeitfolge, die vom Verstand wahrgenommen werden kann.23 Daher ist die Kausalitätsrelation asymmetrisch, d.h. sie gilt nur in einer Richtung, denn wenn A die Ursache von B ist, kann nicht zugleich B die Ursache von A sein.24 Sie ist zudem irreflexiv, denn kein Sachverhalt kann Ursache seiner selbst sein.25 Schließlich ist die Kausalitätsrelation transitiv, denn als Ursache gilt auch die Ursache einer Ursache, also: „wenn A, so B“ und „wenn B, so C“, dann gilt auch „wenn A, so C“.26 Das leuchtet unmittelbar ein: Wer etwa den Abzug einer Schusswaffe betätigt hat, wird nicht damit gehört, dass es – erst und nur – die Explosion der Triebladung in der Waffe war, die den Tod des Opfers verursacht hat. Die Transitivität von Kausalitätsrelationen thematisiert im Strafrecht vor allem die vorherrschende Äquivalenztheorie, die – für den vorliegenden Zusammenhang relevant – ein Regressverbot bei vorsätzlichem Verhalten ablehnt. Ihr zufolge soll es gerade möglich sein, die Handlung eines anderen – auf welche Weise auch immer – zu verursachen.27 Wenn also Otto von Theo ermordet wird, hat demzufolge auch Anton Ottos Tod verursacht, indem er Theo zur Tat bestimmt, d.h. durch seine Anstiftung eine Ursache für den Mord gesetzt hat. Kann man – bei allen Schwierigkeiten – die Kausalitätsrelation in der Form eines Konditionals darstellen („Wenn A, dann B“), dann sind für den Begriff der 20
Kant (Fn. 14), A 112. Genau genommen werden zwei kategorische Urteile miteinander verknüpft, nämlich „A ist p“ und „B ist q“ in der Form „Wenn A p ist, dann ist B q“. 22 Kant (Fn. 15), B 246. 23 Dagegen für die Möglichkeit der Verursachung eines früheren Ereignisses durch ein späteres v. Wright (Fn. 5), S. 48 ff. 24 Näher zu der nicht unproblematischen Abbildung der Zeit in der Kausalitätsrelation Meier, Die Tätergemeinschaft als logisches Problem, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 17 (2009), S. 385 (397 ff.); Schnepf (Fn. 18), S. 352 ff. 25 Vgl. Joerden, Logik im Recht2, 2010, S. 255. 26 Siehe Wolff, Philosophia prima sive ontologia (1736), in: Gesammelte Werke, 2001, § 928: „Causa causae est etiam causa causati.“ Näher dazu Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988, S. 16 ff. 27 Siehe als „leading case“ RGSt 64, S. 316 (318 ff.); Lenckner/Eisele, in: Schönke/ Schröder27 (Fn. 3), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 77 m.w. N.; näher zu diesem Streit Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 157 ff. 21
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Joachim Renzikowski
Kausalität die einschlägigen logischen Regeln zu beachten, auch wenn die Begriffe A und B, da sie auf Wahrnehmungen in der Welt reflektieren, empirisch gebildet werden. Im vorliegenden Zusammenhang soll allein die Modalität der Kausalitätsrelation betrachtet werden. Die logische Modalität der Verknüpfung beider Teile der Kausalitätsrelation ist nach Kant die Notwendigkeit. Demnach „enthält selbst der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff einer Nothwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn, wie Hume tat, von einer öftern Beigesellung dessen, was geschieht, mit dem was vorhergeht, und einer daraus entspringenden Gewohnheit (mithin bloß subjectiven Nothwendigkeit), Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte“.28 Diese Notwendigkeit beschreibt das Kausalgesetz, welches dadurch zur Bedingung der Möglichkeit von objektiver Erfahrung wird. „Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewißheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufällig wären.“29 Die notwendige Verknüpfung beider Teile der Kausalitätsrelation gewährleistet also ihre Wahrheitsfähigkeit. Nach Bunge kann daher das kantische Kausalprinzip mit den Begriffen Konditionalität und Konstanz beschrieben werden. Konditionalität bedeutet dabei, dass ein Ereignis als Bedingung für das Folgen eines anderen angesehen wird. Konstanz meint die unumstößliche Verknüpfung, dass auf eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung notwendig folgt.30 Wie gezeigt kann Kausalität nicht durch Beobachtung gewonnen werden, denn eine Konditionalrelation besteht nicht zwischen zwei Ereignissen, sondern zwischen Sätzen. Ereignisse sind „nur wirklich“ und können daher nicht in einer logischen Relation zueinander stehen, da die Relata auch logisch sein müssen. Damit stellt sich das Problem der Anwendung des Kausalitätsbegriffs auf die Wirklichkeit. Denn im Ernstfall der Hauptverhandlung möchte das Gericht wissen, ob der Angeklagte den ihm vorgeworfenen Mord begangen hat. Während es in der Wirklichkeit immer um Einzelnes geht, sind Begriffe zwangsläufig allgemein-abstrakt, weshalb nur ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Ereignistypen formuliert werden kann. Nun stimmen alle klassischen Kausalitätstheorien, und seien sie so unterschiedlich wie die von Kant und Mill, darin überein, dass der Kausalzusammenhang durch irgendeine Form von Gesetzmäßigkeit identifiziert werden kann31, und sie behandeln Ursachen als hinreichende Bedingung.32 Nach verbreiteter Auffassung muss zunächst ein generelles Gesetz benannt wer28
Kant (Fn. 14), B 5. Ibid. 30 Bunge, Kausalität, Geschichte und Probleme, 1987, S. 41 ff. 31 Ebenso die auf Engisch zurückgehende Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, s. Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 20 ff.; die h. L. hat diese Lehre übernommen, vgl. Lenckner/Eisele in: Schönke/Schröder27 (Fn. 3), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 75 m.w. N. 29
Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?
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den, unter das der konkrete Geschehensablauf subsumiert werden kann.33 Diese als „Hempel-Oppenheim-Schema“ in den Naturwissenschaften bekannt gewordene Methode34 darf jedoch nicht darüber täuschen, dass es sich nicht um einen gültigen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere handelt. Gewissheit kann allein bei universalen Urteilen durch eine Analyse des Subjektterms erreicht werden.35 Dagegen kann die Wahrheit von singulären synthetischen Urteilen – wie beim Kausalurteil (s. o.) – nicht logisch bewiesen werden. Der Subsumtionsschluss kann daher nur eine Hypothese mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit generieren, deren Grad sich aus einem Vergleich des Inhalts der Aussage mit der konkreten Vorstellung des in Bezug genommenen Einzeldings ergibt. Stimmen Aussage und Vorstellung in dem Sinn überein, dass vernünftige und nicht bloß auf denktheoretischen Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht mehr aufkommen36, dann kann die Aussage als wahr behandelt werden; es besteht – subjektive – „praktische Gewissheit“.37 Das damit verbundene Problem der Anwendung von Begriffen auf einen Sachverhalt wird unter dem Stichwort „species facti“ bereits in der Aufklärung diskutiert.38 Diese Frage kann und soll hier nicht vertieft werden. Geboten ist jedoch eine Bemerkung zu dem Vorschlag, das Problem der psychischen Kausalität durch 32 Siehe dazu Schnepf (Fn. 18), S. 384 ff.; vgl. auch Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, in: ZStW 92 (1980), S. 863 (875 ff.); dies. (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 102 f. 33 Vgl. Puppe (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 82; Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, 1999, S. 107 ff. 34 Siehe Hempel, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135 ff.; das nomologische Verständnis von Kausalität ist in der Erkenntnistheorie jedoch sehr umstritten, vgl. etwa Cartwright, How the Laws of Physics Lie, 1983; näher dazu Keil, Handeln und Verursachen, 2000, S. 151 ff. 35 So schon Gundling, Logica seu Ars rationandi genuinis fundamentis superstructa et a praesumptis opinionibus vacua2, 1726, III. sec.I § 19: „Sed fac, sensus non sufficere ultimo ad probandam veritatem iudicii, tum sane inquiro cum cura, an ideae subiecti, seu definitioni eiusdem idea, seu definitio praedicati congruat, quam utramque mente anticipavi, & teneo, inque iis praenotionibus alios mihi consentientes habeo e. g. imperanti est parendum. Scio, quid sit imperans, quid itidem parere, seu oboedire. Hoc praedicatum non solum fert subiectum, sed & in eo latet. Ergo inquam: enunciatio haec vera est, quia idea praedicati congruit ideae subiecti. Neganti vero repono merito: Tua negatio repugnat ideae subiecti, idque removet, quod praedicatum non solum esse potest, sed & debet: igitur repugnat, & vera non est enunciatio tua negans, seu iudicium tuum sensum negantem continens. Igitur in genere adsumo hanc PROPOSITIONEM: Quodcunque praedicatum, aut quaecunque idea, seu definitio praedicati definitionem subiecti subruit (quod idem sonat ac NON CONGRUIT) falsa est sane: sicuti vicissim certissimum habendum: Quodcunque PRAEDICATUM ideis, seu definitionibus SUBIECTI congruit, verum est. Quodcunque rursum sonat: quaecunque IDEA praedicati, aut DEFINITIO praedicati. Definitio ideam continet, idea definitionem signat.“ 36 So BGH, NStZ 1988, S. 236; NStZ-RR 2008, S. 350. 37 Vgl. Gundling (Fn. 35), § 18. 38 Siehe insbesondere Baumgarten, Initia Philosophiae Practicae Primae acromatice, 1760, sec. VII: „Imputatio facti“.
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einen Rückgriff auf statistische Gesetze zu lösen.39 Diese Überlegung liegt auf den ersten Blick nahe, denn wenn bei einer singulären Kausalaussage objektive Gewissheit aus prinzipiellen Gründen unerreichbar ist, worin unterscheidet sich dann die insoweit erreichbare Wahrscheinlichkeit, dass die Kausalhypothese zutrifft, von der Aussage über eine Einzelfallwahrscheinlichkeit einer Relation („Wenn Y ein Lotterielos abgibt, beträgt die Wahrscheinlichkeit für einen Hauptgewinn X Prozent“)? Doch allenfalls hinsichtlich der prozentualen Höhe der Wahrscheinlichkeit. In diesem Sinn bezeichnet etwa Hoyer die Kausalität als Bedingungszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg, gestützt auf ein Wahrscheinlichkeitsurteil.40 Gleichwohl überzeugt dies aus mehreren Gründen nicht. So behauptet ein Wahrscheinlichkeitsgesetz nur die logische Modalität der Möglichkeit. Die Wahrheit der Feststellung, dass B tatsächlich auf A folgt, hängt somit von zusätzlichen Bedingungen ab, die in der Relation nicht enthalten sind. Ferner kann von einem – gültigen – Wahrscheinlichkeitsgesetz keine singuläre Kausalaussage abgeleitet werden. Hoyer meint hierzu, dass das Tatverhalten den Erfolgseintritt ex ante wahrscheinlicher gemacht und sich gerade diese Wahrscheinlichkeit ex post im Erfolgseintritt niedergeschlagen haben muss.41 Dabei bleibt jedoch völlig offen, wie von einer Wahrscheinlichkeitsaussage über Ereignistypen zu einem entsprechenden singulären Urteil übergegangen werden könnte.42 Es lässt sich bestenfalls dieselbe Wahrscheinlichkeit für das einzelne Ereignis behaupten. Eine probabilistische Verursachung aber gibt es nicht. Und daher wird die Wahrscheinlichkeitsrelation zwischen Ereignistypen (z. B. „Rauchen verursacht mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 % Lungenkrebs“) weder dadurch bestätigt, dass Onkel Alfred, ein starker Raucher, mit 54 Jahren an Lungenkrebs verstorben ist, noch dadurch widerlegt, dass Onkel Berthold, ebenfalls ein starker Raucher, ohne Krebs das hohe Alter von 91 Jahren erreicht hat, während Tante Clara schon mit 31 Jahren an Lungenkrebs erkrankte, ohne jemals eine Zigarette geraucht zu haben. „Ein statistisches Gesetz kann . . . mit einem singulären Satz niemals unvereinbar sein.“43 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein be-
39 So etwa Hilgendorf, Der „gesetzmäßige Zusammenhang“ im Sinne der modernen Kausallehre, in: Jura 1995, S. 514 (519 f.); ders., Was meint „zur Tat bestimmen“ in § 26 StGB?, in: Jura 1996, S. 9 (11 ff.); Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 36 ff.; Hoyer, Kausalität und/oder Risikoerhöhung, in: Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi, 2004, S. 95 (102). 40 Hoyer (Fn. 39), S. 102. 41 Ibid. 42 Siehe etwa Davis, Probabilistic Theories of Causation, in: Probability and Causality, 1988, S. 133 (145); Menzies, Probabilistic Causation and the Pre-emption Problem, Mind 105 (1996), S. 85 ff.; weitere Einwände bei Keil (Fn. 34), S. 213 ff.; anschaulich dazu auch Mackie, The Cement of the Universe2, 1980, S. 40 ff. 43 Pap, Analytische Erkenntnistheorie, 1955, S. 129; vgl. auch Puppe (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 145 und 151, die gleichwohl eine Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsregeln bei nicht vollständig determinierten Prozessen für alternativlos hält.
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stimmtes Urteil (über einen Kausalzusammenhang) zutrifft, ist nicht dasselbe wie ein Urteil über die wahrscheinliche Abfolge von zwei Ereignissen. III. Zum Begriff der Zurechnung Der Begriff der Zurechnung in der Form, wie er sich bei Kant findet, ist das Resultat einer langen Entwicklung innerhalb der Universaljurisprudenz der deutschen Aufklärung seit Pufendorf.44 Die eminente Bedeutung des Zurechnungsbegriffs für die kantische Rechts- und Morallehre zeigt sich daran, dass die Zurechnungsfähigkeit die Person konstituiert: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“45 Die berühmte Definition in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten lautet: „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser That bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudicaria, s. valida), sonst aber nur eine beurtheilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde.“46 Zurechnung ist für Kant also ein moralisches und kein empirisches Urteil über einen Urheber, der von sich aus eine „Tat“ hervorbringt. Als Tat definiert Kant „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Act als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusammt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruht.“47 Eine Handlung ist somit nur dann eine Tat, wenn sie unter eine geltende Norm, sei es moralischer, sei es rechtlicher Provenienz, subsumiert werden
44 Näher dazu Hruschka, Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts, in: Kaufmann/Renzikowski, Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, 2004, S. 17 ff.; die weitere Darstellung folgt der Analyse des kantischen Zurechnungsbegriffs von Aichele, Persona physica und persona moralis: Die Zurechnungsfähigkeit juristischer Personen nach Kant, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 16 (2008), S. 3 (16 ff.). 45 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Kants gesammelte Schriften, Band 6, 1907, S. 203 (223). Insofern ist der kantische Begriff der Zurechnung von der in der Strafrechtsdogmatik weit verbreiteten sog. „objektiven Zurechnung“ grundverschieden, denn dem letzteren Ansatz geht es lediglich darum, aus der Uferlosigkeit der äquivalenten Kausalität die strafrechtsrelevanten Verhaltensweisen normativ herauszufiltern, vgl. statt vieler Roxin (Fn. 6), § 11 Rn. 46 ff.; zur Kritik s. nur Haas, Die strafrechtliche Lehre von der objektiven Zurechnung – eine Grundsatzkritik, in: Kaufmann/Renzikowski (Fn. 44), S. 193 (202 ff.). 46 Kant (Fn. 45), S. 227. 47 Kant (Fn. 45), S. 223.
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kann.48 Die fragliche Rechts- oder Moralnorm nötigt unbedingt, d.h. „durch bloße Vernunft“ zur Befolgung.49 Daraus folgt, dass eine Zurechnung nur bei einer Abweichung von einer Norm – durch einen Verstoß oder eine überobligationsmäßige Handlung – möglich ist, nicht aber bei der bloßen Erfüllung einer Pflicht.50 Die rechtliche Folge der Zurechnung ist dann je nachdem Strafe oder Belohnung.51 Das retrospektive Zurechnungsurteil weist ein bestimmtes Subjekt als Urheber einer bestimmten Handlung aus. Insofern ist jedes Zurechnungsurteil ein moralisches Einzelurteil. Seine maßgebliche Voraussetzung ist die von Kant so genannte „freie Willkür“. Unter Willkür versteht Kant die Fähigkeit, etwas „nach Belieben zu tun oder zu lassen“, verbunden „mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts“.52 Willkür setzt demnach die Kenntnis der zur Erreichung des Handlungsziels geeigneten Mittel, m. a. W. die prospektive Kenntnis der entsprechenden kausalen Prozesse voraus. Sie hat aber nichts zu tun mit der moralischen – oder rechtlichen – Bewertung des vorgestellten Handlungsziels. Die Willkür ist „frei“, wenn sie in „Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe“ „zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden“ kann.53 Hierin unterscheidet sich die „menschliche Willkür . . ., welche durch Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt wird“, von der „tierische[n] Willkür (arbitrium brutum)“, die nur „durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) bestimmbar ist“.54 Ein Subjekt, das in seinen Handlungen der Gesetzgebung der praktischen Vernunft folgen, d.h. zwischen verschiedenen denkbaren Handlungsmaximen auswählen kann, bezeichnet Kant als Person.55 Ihre Persona48 Näher dazu Hruschka, Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhundert, in: J. Schröder, Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 203 ff.; Aichele, Moralische Autonomie und theoretische Neutralität: Einzellfallberatung als intersubjektive Ethikanwendung, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 15 (2007), S. 251 ff. 49 Kant (Fn. 45), S. 216 ff.; s. auch Höffe, Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe, in: R. Brandt, Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981, 1982, S. 335 (344). 50 So ausdrücklich Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, in: Kants gesammelte Schriften, Band 19, 1934, Refl. 7124: „1. Was ich gutes thue, ob ich gleich nicht schuldig bin es zu thun, das kan mir imputirt werden. / 2. Was ich gutes nicht thue, ob ich zwar schuldig bin es zu thun, das kan mir imputirt werden. (. . .) / 1. Was ich gutes nicht thue und auch nicht schuldig bin es zu thun, das kan mir nicht imputirt werden. / 2. Was ich gutes thue und auch schuldig bin es zu thun, das kan mir (nicht) imputirt werden.“ 51 Kant (Fn. 45), S. 227; vgl. auch Hruschka, Superrogation and Meritorious Duties, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), S. 93 (105 ff.). 52 Kant (Fn. 45), S. 213. 53 Ibid. 54 Ibid. 55 Näher dazu Aichele, Grüße von Sam. Zum Verhältnis von Zurechnungsfähigkeit und Menschheitsbegriff am Paradigma der Rechtsphilosophie Kants, in: Kaufmann/ Renzikowski (Fn. 44), S. 247 ff.
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lität erweist sich jedoch erst im konkreten Einzelfall durch gültige Zurechnungsurteile, da die bloße Zurechnungsfähigkeit grundsätzlich jedem vernünftigen Wesen, das von sich aus zu handeln vermag, bis zum Nachweis des Gegenteils unterstellt wird. In diesem Sinne verzichtet das StGB zweckmäßigerweise darauf, den positiven Nachweis der Zurechnungsfähigkeit zu verlangen, sondern regelt in § 20 StGB nur Fälle ausgeschlossener Zurechnung. Wie der Klammerzusatz „causa“ in der Definition des Begriffs der Zurechnung zeigt, setzt ein Zurechnungsurteil in theoretischer Hinsicht Kausalität voraus, nämlich zwischen der Handlung und dem eingetretenen Erfolg. Allerdings unterscheidet sich das Kausalurteil im Fall der Zurechnung wesentlich von einem Kausalurteil im üblichen, unter II. vorgestellten Sinn, etwa bei der Zuschreibung der Bewegung der roten Billardkugel als Wirkung der Bewegung der weißen. Denn das bei der Zurechnung thematisierte Kausalurteil wird nicht nur in theoretischer, sondern in „moralischer Bedeutung“ gefällt, d.h. das Urteil bezieht sich auf eine „Kausalität aus Freiheit“, die „immer außer der Sinnenwelt im Intelligibelen gesucht werden muß“.56 Der Handelnde wird zwar als Ursache ausgezeichnet. Er ist jedoch eine besondere Ursache, nämlich eine „causa libera“, d.h. er kann davon abstehen, eine Ursache zu sein.57 Somit hat das Zurechnungsurteil die Spontaneität des Relates zum Gegenstand, da es aussagt, dass es von sich aus zur Ursache geworden ist, „d.h. als aus freyheit entsprungen vorgestelt wird“.58 Darin unterscheidet sich eine Handlung von einer natürlichen Ursache, die innerhalb der Relation einer Kausalität der Natur notwendig die entsprechende Wirkung hervorbringen muss. Also ist aus folgenden Gründen ein Begriff der psychischen Kausalität nicht denkbar: Erstens kann eine Handlung als causa libera nicht von etwas anderem außer sich selbst herbeigeführt werden. Zweitens kann eine causa libera nicht als Wirkung eines vorangegangenen Ereignisses begriffen werden. Denn ein Sachverhalt kann nicht zugleich als determiniert, d.h. als causa naturalis, und als frei, d.h. als causa libera, behandelt werden. Das wäre ein Selbstwiderspruch.59 Wenn also ein Ereignis B die notwendige Folge eines anderen Ereignisses A ist, dann kann B keine Handlung sein.60 Aus diesem Grund kann drittens eine Gesetzmäßigkeit zwischen einem verursachenden Ereignis und einer dadurch bewirkten Handlung noch nicht einmal theoretisch konstruiert werden. Daher entfällt auch die Transitivität der Kausalitätsrelation. Eine Handlung bricht den Regress ab, da mit der causa libera eine neue Ursachenkette beginnt. Damit hat die Lehre vom 56 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: Kants Gesammelte Schriften. Band 5, 1913, A 188. 57 Vgl. Kant (Fn. 56), A 175. 58 Kant (Fn. 50), Refl. 6775. 59 Hruschka, Regreßverbot und Anstiftung, in: ZStW 110 (1998), S. 581 (587); unzutreffend daher Dencker (Fn. 39), S. 39, 41. 60 Siehe auch v. Wright (Fn. 5), S. 136 f.; Hruschka, ZStW 110 (1998), S. 584 f.
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Regressverbot in ihrer ursprünglichen Ausprägung recht: „Keine Ursachen sind die Vorbedingungen einer Bedingung, die frei . . . auf die Herbeiführung eines Erfolges gerichtet war.“61 Daher wird die Äquivalenztheorie auch nicht dadurch gerettet, dass man im Einzelfall einfach behauptet, die fragliche Handlung wäre ohne die vorhergehende Beeinflussung nicht vorgenommen worden.62 Diese Behauptung ist kein sinnvoller (i. S. von wahrheitsfähiger) Satz. Schließlich sind Kausalurteil und Zurechnungsurteil, obwohl beide Male zwei Begriffe zueinander in Verhältnis gesetzt werden, in ihren Voraussetzungen unvereinbar. Die Relation der Kausalität zwischen zwei Ereignisarten beschreibt eine Notwendigkeit. Nach dem gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen A und B folgt, dass wenn A gegeben ist, notwendig auch B eintreten muss. A und B sind dabei sinnlich erfahrbare Sachverhalte in Raum und Zeit. Ein Zurechnungsurteil lässt sich dagegen nicht in die logische Modalität der Notwendigkeit überführen und bleibt somit – nur – wahrscheinlich.63 Denn die freie Willkür als Anknüpfungspunkt für jedes Zurechnungsurteil ist nicht empirisch erfahrbar, sondern bloße Spekulation, eben „intelligibel“. Diese Annahme ist jedoch notwendig, wenn wir uns in der Welt des Rechts bewegen. Denn das Rechtsgesetz wendet sich als Bestimmungsgrund an die freie Willkür. Etwas, das notwendig in einer bestimmten Weise geschieht (z. B. ein Lawinenabgang, ein Blitzschlag oder ein Zeckenbiss), kann nicht Gegenstand einer Rechtsnorm sein, die sich als Aufforderung auf contingentia futura bezieht. Damit erweist sich die Freiheit, sowohl in negativer Hinsicht als Unabhängigkeit des Handelnden von determinierenden Trieben, als auch positiv als Fähigkeit zur Befolgung von Regeln64, als die logische Voraussetzung von Normen.65 Andernfalls würde sich die normative Gebotenheit eines Sachverhalts nicht von seiner metaphysischen Erscheinung unterscheiden. IV. Handlungen und Handlungsgründe Während die Kausalitätsrelation allein zwischen empirischen Begriffen, d.h. Gegenständen der Wahrnehmung hergestellt wird, beschäftigen wir uns bei der Suche nach Handlungsgründen nicht mit empirischen Größen. Die Erklärung von Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich16, 1925, S. 15. So aber Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen, 2001, S. 76; Frisch, Die Conditio-Formel: Anweisung zur Tatsachenfeststellung oder normative Aussage?, in: Festschrift für Karl-Heinz Gössel, 2002, S. 51 (67 f.); Frister, Strafrecht. Allgemeiner Teil4, 2009, 9/37. 63 Siehe Kant (Fn. 56), A 188. 64 Kant (Fn. 45), S. 213 f.: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.“ 65 Siehe auch v. Wright, Norm und Handlung, 1979, S. 114 ff. 61 62
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Handlungen durch Motive oder Handlungsgründe wird in der analytischen Handlungstheorie thematisiert. Zu nennen wären hier etwa die „intentionale“ Handlungstheorie66 oder die „kausalistische“ Handlungstheorie, derzufolge das Handlungsziel die Handlung „bewirkt“.67 Auf den Streit zwischen diesen beiden Ansätzen, etwa die Kritik, dass das Haben einer Intention nicht ohne die Handlung verifiziert werden könne68, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Den Grundgedanken, nämlich die Zurückführbarkeit der Handlung auf die freie Willkür, findet man auch hier schon bei Kant. So schreibt er: „Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird. Eine jede Handlung hat also ihren Zweck, und da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgendeinen Zweck der Handlung zu haben.“69 Wenn eine intentionale Handlungserklärung auf die Absichten, Wünsche und Überzeugungen des Handelnden referiert, dann beschreibt man dabei nicht die Ursachen seiner Handlung, sondern zeigt, warum es für den Handelnden aus seiner Perspektive rational war, so zu handeln, wie er gehandelt hat. Man erklärt also seine Handlung mittels der damit verfolgten Intention. Hierfür kann man dann auf den praktischen Syllogismus verweisen: Wenn die Vornahme einer Handlung vom Typ H generell geeignet ist, um ein Handlungsziel vom Typ Z zu erreichen, dann ist es vernünftig, die Handlung h (als Fall von H) vorzunehmen, wenn man das Ziel z (als Fall von Z) erreichen möchte. Da Albert die Handlung h vorgenommen hat – und im Übrigen einen vernünftigen Eindruck macht –, verfolgt er offenbar das Ziel z.70 Wie v. Wright ausgeführt hat, geht es darum, ein Verhalten als Handlung zu verstehen. Dabei ist die Intentionalität keine psychische, sondern eine semantische Kategorie.71 Nun kann man eine andere Person dazu bringen, etwas zu tun. A kann B eine Pistole an die Schläfe halten und ihn dadurch zwingen, ihm das in der Kasse befindliche Geld auszuhändigen (§§ 253, 255 StGB). C kann D vorspiegeln, dass das angebotene Fahrzeug keinen Unfallschaden hat, und ihn dadurch bewegen, das Fahrzeug für einen Preis weit über seinem Wert zu kaufen (§ 263 StGB). 66 Vgl. etwa v. Wright (Fn. 5), S. 83 ff.; Geach, Mental Acts. Their Content and their Objects, 1971; Kindhäuser, Intentionale Handlung, 1979, S. 202 ff. 67 Zu nennen wären etwa Davidson, Actions, Reasons and Causes, in: Journal of Philosophy 60 (1963), S. 685 ff.; Goldman, A Theory of Human Action, 1970; Thompson, Acts and Other Events, 1977. 68 Vgl. dazu Kindhäuser (Fn. 66), S. 122 ff. m.w. N. 69 Kant (Fn. 45), S. 384 f. 70 Erstmals wohl Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen zur Beförderung ihrer Glückseeligkeit4, 1733, §§ 191 ff.; ferner Anscombe, Intention, 1957, S. 66 ff., 82; v. Wright (Fn. 5), S. 93 ff. 71 v. Wright (Fn. 5), S. 20.
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E kann F eine hohe Geldsumme dafür versprechen, dass F einen Mordanschlag verübt (§§ 211, 26 StGB). In allen diesen Beispielen besteht keine kausale Verknüpfung zwischen dem Nötiger, Betrüger oder Anstifter und der späteren Handlung des Genötigten, Betrogenen oder angestifteten Haupttäters. Vielmehr hat der Nötiger usw. der Willkür des anderen einen möglichen Handlungszweck vorgestellt, und es ist immer noch die freie Entscheidung des anderen, ob er dieser Anregung folgt. Der BGH hat dies einmal sehr schön ausgedrückt: Man dürfe nicht „Grundsätze, nach denen Ursachenzusammenhänge in der äußeren Natur beurteilt zu werden pflegen, . . . auf geistige Vorgänge im Innern des Menschen“ übertragen.72 Für die Anstiftung hat Puppe daraus bereits früh ihre Lehre vom „Unrechtspakt“ entwickelt: Da der Anstifter keineswegs den Tatentschluss des Haupttäters verursacht, muss die Anstiftung anders erklärt werden. Der Anstifter liefert dem Täter den Grund zur Tatbegehung, welchen der Täter in einer Art Selbstbindung gegenüber dem Anstifter übernimmt.73 Man kann einer Person freilich nur dann einen Handlungsgrund vorstellen, wenn sie selbst dazu imstande ist, die Bedeutung der sprachlichen Äußerung zu verstehen.74 Doch hat dieses Verstehen mit Kausalität nichts zu tun. Die Einwirkung auf einen anderen, um ihn zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, lässt sich ebenfalls in der Form des praktischen Syllogismus rationalisieren, aber auch dadurch gelangt man nicht zu einer kausalen Erklärung der Handlung des anderen, sondern nur – und immerhin – zu einer teleologischen Handlungserklärung.75 V. Schluss Psychische Kausalität ist als Begriff nicht möglich, weil man nicht ohne Selbstwiderspruch von ein und demselben Ereignis sagen kann, es wäre eine – freie – Handlung, und zugleich, sein Eintreten wäre notwendig gewesen. Auf diesem Regressverbot, welches zunächst nicht mehr bedeutet, als dass alle Ereignisse, die vor einer Handlung liegen, nicht als ihre Ursachen aufgefasst werden können, beruht die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme76 und damit der restriktive Tatbegriff. Diesen Zusammenhang haben schon Vertreter sogenannter „individualistischer Kausalitätstheorien“ in ihrer Kritik an der Äqui72
BGHSt 13, S. 13 (15). Puppe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, in: GA 1984, S. 101 (112 ff.); ebenso Joerden (Fn. 26), S. 121 ff.; Altenhain, Die Strafbarkeit des Teilnehmers beim Exzeß, 1994, S. 112 ff.; die gängige Kritik, z. B. von Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil II, 2003, § 26 Rn. 73, trifft den Kern nicht. 74 Vgl. Hart/Honoré (Fn. 5), S. 53 f. 75 Siehe v. Wright (Fn. 5), S. 133 ff.; Bernsmann, Zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Recht, in: ARSP 68 (1982), S. 536 (548 ff.). 76 So dezidiert Hruschka, ZStW 110 (1998), S. 587 f. und 591 ff. 73
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valenztheorie betont.77 Aus dem Fehlen (äquivalenter) Kausalität resultiert aber noch nicht automatisch ein Zurechnungsausschluss. Freilich sind dann zusätzliche Rechtsgründe erforderlich78, die das Gesetz auch durchaus thematisiert. Soweit aber der Ausdruck „verursachen“ im Gesetz verwendet wird (z. B. in §§ 222, 229 StGB), kann man psychische Interaktion nicht darunter subsumieren. Die Anhänger eines restriktiven Täterbegriffs bei den Fahrlässigkeitsdelikten dürfen sich bestätigt fühlen. Wenn man freilich die Annahme der Äquivalenztheorie teilt, dass die (mittelbare) Ursache einer (unmittelbaren) Ursache eines Erfolgs auch als die Ursache des Erfolgs selbst angesehen werden kann und beide Ursachen rechtlich gleichwertig sind, dann entfällt, sofern man sich an die Regeln der Logik hält, die Möglichkeit, Anstiftung und Täterschaft voneinander zu unterscheiden.79 Damit wird aber auch die Lehre von der objektiven Zurechnung infrage gestellt, denn sie hält an der Äquivalenz fest, die jetzt allerdings nicht mehr für alle Bedingungen per se gilt, sondern nur für solche, die als Setzung eines unerlaubten Risikos beschrieben werden können. Nun lehnt Puppe ebenfalls ein Regressverbot ab.80 Das ist im Hinblick auf ihre Kritik an der psychischen Kausalität nicht nur inkonsequent, sondern geht auch an den §§ 26, 27 StGB vorbei. Die Vorschriften über die Teilnahme setzen keine Mitursächlichkeit für fremde Vorsatztaten voraus, sondern dem Teilnehmer wird verboten, dem Täter ein Motiv oder ein Mittel für die Ausführung der Tat zu liefern.81 Der Begriff der Kausalität ist nicht erforderlich, um die Verbote von Anstiftung und Beihilfe zu erklären. Man wird aber noch weiter gehen müssen. Entgegen Puppe ist es auch nicht möglich, beliebig viele Handlungen, „wie andere Zufälle auch“ in ein kausales Feld zu integrieren. Dazu ein abschließendes Beispiel: Mit Beschluss vom 20.02. 2008 verneinte das OLG Stuttgart die Strafbarkeit eines Brandstifters wegen fahrlässiger Tötung von zwei Feuerwehrleuten, die bei den Löscharbeiten infolge eines schwerwiegenden Fehlers der Einsatzleitung ihr Leben verloren hatten. Obwohl sich keine Personen im brennenden Objekt mehr aufhielten, war ein Löschtrupp überflüssigerweise und noch dazu ohne die bei der Atemschutzüberwa-
77 Siehe etwa Goltdammer, Ueber den Kausalzusammenhang und dessen Zurechnung bei fahrlässiger Tödtung, in: GA 1867, S. 15 (19 ff.); Ortmann, Zur Lehre vom Kausalzusammenhang, in: GA 1875, S. 268 ff.; Horn, Causalitäts- und Wirkensbegriff, dessen empirische Bedeutung und criminalrechtliche Feststellung, in: Der Gerichtssaal 54 (1897), S. 321 (367 ff.); näher dazu Ling, Die Unterbrechung des Kausalzusammenhanges durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten, 1996, S. 128 ff. 78 Vgl. dazu etwa Aichele (Fn. 44), S. 22 f.; Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 80 ff., 112 ff.; Meier (Fn. 24), S. 405 ff. 79 Insofern konsequent für ein Einheitstätermodell Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 285 ff., 422 ff. 80 Puppe (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 167. 81 Vgl. etwa Renzikowski (Fn. 27), S. 123 ff.; Haas (Fn. 78), S. 134 ff.
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chung vorgeschriebene Zeiterfassung in das Gebäude geschickt worden.82 Puppe hat dem OLG Stuttgart zu Recht entgegengehalten, dass der Gesichtspunkt der eigenverantwortlichen, weil unvernünftigen Selbstgefährdung in diesem Fall nicht zum Tragen kommen kann. Die Zurechnung des Todes der Feuerwehrleute stützt sie darauf, dass der Brandstifter die Notwendigkeit für den Rettungseinsatz geschaffen habe und dadurch kausal für den Tod geworden sei.83 Es lohnt sich, einige Passagen wörtlich zu zitieren: „Die Unterscheidung zwischen Ursachen und bloßen Bedingungen ist durch die Erkenntnis der Äquivalenz aller Erfolgsbedingungen auf der Ebene der Kausalität widerlegt, so dass man sie nicht ohne gründliche Auseinandersetzung mit der Äquivalenztheorie wieder aufgreifen kann. Aber schon die Ausgangsthese . . . beruht auf einem Missverständnis. Es handelt sich nämlich nicht darum, dem Erstverursacher die Pflichtverletzung des Zweitverursachers als solche zuzurechnen, sondern nur darum, sie als Kausalfaktor in die kausale Erklärung des Erfolges einzubeziehen, wie einen unglücklichen Zufall, der nach dem Täterverhalten in der Kausalkette auftreten mag und der den Täter auch nicht von der Verantwortung für den weiteren Kausalverlauf entlastet. (. . .) Hat man in Gestalt dieses Vordermannes einen Sündenbock, dem man das Unglück auf jeden Fall anlasten kann, so lässt das Bedürfnis nach, es noch einem zweiten, nämlich dem Hintermann zuzurechnen. Aber die grobschlächtige Regel, den Letzten beißen die Hunde, ist kein Prinzip gerechter Erfolgszurechnung.“84 Puppe widerspricht ihrer Position zur psychischen Kausalität. Zwischen dem der Tod der Feuerwehrleute und der Brandstiftung steht – mindestens – das Handeln der Einsatzleitung. Dieses Handeln kann dem Brandstifter nach den obigen Ausführungen nicht zugerechnet werden. Denn hierbei handelt es sich um die „freie Ursache“ (causa libera) einer neuen Ursachenkette. Man kann aber nicht diese Handlung einerseits als frei und damit als Grund für die Zurechnung – des Todes der Feuerwehrleute zum Fehlverhalten des Einsatzleiters – ansehen und gleichzeitig als durch das Handeln des Brandstifters verursachte causa naturalis – „wie jeden anderen Kausalfaktor“ – behandeln. Will man gleichwohl den Brandstifter für den Tod der Feuerwehrleute zur Rechenschaft ziehen, dann muss man Gründe dafür anführen, die sich in den normativen Rahmen des § 25 StGB einbetten lassen – nicht mehr und nicht weniger.85
82 Das OLG Stuttgart, NStZ 2009, S. 331 ff., bejahte zwar die Kausalität der Brandstiftung für den Tod der Feuerwehrleute, lehnte aber die (objektive) Zurechnung ab. 83 Puppe, Anmerkung zu OLG Stuttgart, NStZ 2009, S. 333 ff. 84 Puppe (Fn. 83), S. 334 f. 85 Zu entsprechenden – selbstverständlich nicht abschließenden – Überlegungen s. Renzikowski (Fn. 27), S. 261 ff.
Von Pilzen, die keine Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von Walen, die Fische sind Zu biologischer Fachsprache und Wortsinngrenze im Strafrecht Von Uwe Scheffler „Da alle Auslegung zunächst einmal Auslegung eines Gesetzestextes ist, muss sie mit der wörtlichen, sog. grammatischen Interpretation beginnen . . . Führt die grammatische Interpretation zu dem negativen Ergebnis, dass der vorliegende Einzelfall unter den Tatbestand der Norm nicht subsumierbar ist, so kann die Norm auf diesen Fall nur im Wege der Analogie angewandt werden . . . Besteht . . . ein Analogieverbot, so ist ihre Anwendung auf einen Fall, den der Wortlaut nicht erfasst, durch noch so einleuchtende Erwägungen oder eindeutige Äußerungen des historischen Gesetzgebers über den Sinn und Zweck der Norm nicht zu begründen. Dies erscheint trivial. Der BGH hat aber gegen diese Regel öfters verstoßen . . .“1 I. Ausgangsüberlegungen Nachdem der deutsche Verordnungsgeber (siehe § 1 BtMG) 1998 geglaubt hatte, durch die in der 10. BtMÄndV gewählte Formulierung „Pflanzen und Pflanzenteile“ für Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG auch sog. „Drogen“-Pilze pönalisiert zu haben,2 fanden sich alsbald auch einige diesbezügliche höchstrichterliche Urteile. Der BGH ging – offenbar genauso wie die Angeklagten und ihre Verteidiger – zunächst mehrfach ohne jegliche Begründung davon aus, dass Dro1
Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 91. Art. 1 Nr. 1 Buchst. e der 10. BtMÄndV (Betäubungsmittelrechts-ÄnderungsV) vom 20.01.1998: „Am Ende der Anlage I wird folgender Gedankenstrich neu eingefügt: – Pflanzen und Pflanzenteile, Tiere und tierische Körperteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen, wenn sie als Betäubungsmittel mißbräuchlich verwendet werden sollen.“ Durch die 15. BtMÄndV vom 19.06.2001 wurde der betreffende Satz wie folgt geändert: „– Pflanzen und Pflanzenteile, Tiere und tierische Körperteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen, sowie Früchte, Pilzmycelien, Samen, Sporen und Zellkulturen, die zur Gewinnung von Organismen mit in dieser oder einen anderen Anlage aufgeführten Stoffen geeignet sind, wenn ein Missbrauch zu Rauschzwecken vorgesehen ist.“ 2
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genpilze zu den Drogenpflanzen gehörten und es insofern mit den Bestrafungen seine Richtigkeit habe.3 Drogen- oder Zauberpilze, Narrische Schwammerl, Magic Mushrooms und Shrooms sind umgangssprachliche Bezeichnungen für psychoaktive Pilze. Meist handelt es sich dabei um die psilocybin- bzw. psilocinhaltigen Gattungen der Kahlköpfe (Psilocybe), Risspilze (Inocybe) und Düngerlinge (Panaeolus) aus unterschiedlichen Familien der Ordnung Blätterpilze (Agaricales). Seltener werden ibotensäurehaltige Arten der Gattung Wulstlinge (Amanita) so bezeichnet. Es sind mehr als 100 psychoaktiv wirkende Arten weltweit bekannt.
Das BayObLG führte 2002 als zunächst einziges Gericht zu aufkommenden Zweifeln, ob denn hier eine Wortsinnüberschreitung vorliegen könnte, apodiktisch aus:4 „Bei den verfahrensgegenständlichen psilocybinhaltigen Pilzen handelt es sich um ,Pflanzen‘ i. S. von §§ 1 I, 2 I Nr. 1 BtMG i. V. mit Anlage I und damit um Betäubungsmittel. Der Gesetzgeber hat – in Übereinstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur – die Pilze den Pflanzen zurechnen wollen. Dieser weite, über spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidungen hinausgehende Pflanzenbegriff entspricht auch dem allgemeinen Sprachverständnis, auf das bei der Auslegung des im Wortsinn zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens abzustellen ist. Demnach wird unter ,Pflanzen‘ der Oberbegriff aller nicht zu den Menschen und Tieren gehörenden Organismen verstanden und unter ,Pilzen‘ eine (Unter-)Abteilung des Pflanzenreichs (vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Stichworte ,Pflanzen‘ und ,Pilze‘). Diesem eindeutigen, im gesetzgeberischen Willen verankerten Begriffsverständnis sind Rechtsprechung und Kommentarliteratur gefolgt.“
Ein gutes Jahr später hatte das OLG Köln die gleiche Frage zu entscheiden und kam nach ausführlicher Erörterung letztlich zu demselben Ergebnis.5 In dem unveröffentlichten Beschluss heißt es: „Pilze werden in der neueren Biologie mangels Photosynthese zwar vielfach nicht den Pflanzen zugerechnet, sondern, weil sie auch nicht zu den Tieren gehören, in einem eigenen Reich mit über 100.000 Arten zusammengefasst. Nach anderer Auffassung, die höhere und niedere Pflanzen unterscheidet, gehören die Pilze mit den Algen und Moosen hingegen zu den sogenannten niederen Pflanzen. Gemäß diesem weiten, über spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidungen hinausgehenden Pflanzenbegriff, der auch dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht, hat der Verordnungsgeber jedenfalls die Pilze den Pflanzen zugeordnet, wie sich aus der ausdrücklichen Aufführung der Pilze in der Begründung der 10. BtMÄndV. . . ergibt . . .“
3 BGH, Beschluss vom 01.09.2004 – 2 StR 353/04 – NStZ 2005, 229; BGH, Urteil vom 25.06.2002 – 1 StR 157/02; siehe auch BayObLG, Beschluss vom 21.2.2002 – 4 St RR 7/02 – BayObLGSt 2002, 33 (35). 4 BayObLG, Urteil vom 25.09.2002 – 4 St RR 80/02 – NStZ 2003, 270 (271); zustimmend OLG Nürnberg, Beschluss vom 02.10.2006 – 2 St OLG Ss 207/06 – DRsp Nr. 2006/28579 Rn. 18. 5 OLG Köln, Beschluss vom 14.10.2003 – Ss 396-397/03.
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Nachdem dann der Verordnungsgeber 2005 dennoch die „Pflanzen und Pflanzenteile“ (einschl. der „Tiere und tierischen Körperteile“) zur „Klarstellung“ zu „Organismen“ zusammengefasst (oder erweitert?) hatte,6 setzten sich im Jahre 2006 zunächst das OLG Koblenz7 und dann der 1. Strafsenat des BGH8 mit der Frage, ob diese Auslegung bei „Altfällen“ angesichts der Wortlautgrenze möglich ist, nochmals detailliert auseinander. Nach weitgehender Fertigstellung dieses Manuskripts wurde nunmehr auch noch ein Beschluss einer Kammer des BVerfG zu dieser Frage bekannt.9
1. Der vom OLG Koblenz mitgeteilte Sachverhalt kann, leicht gekürzt, die praktische Relevanz des Problems veranschaulichen:
6 Ab der 19. BtMÄndV vom 10.03.2005 lautete der betreffende Satz: „– Organismen und Teile von Organismen in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen sowie die zur Reproduktion oder Gewinnung dieser Organismen geeigneten biologischen Materialien, wenn ein Missbrauch zu Rauschzwecken vorgesehen ist.“ Siehe dazu Begr. BRegE, BR-DrS 958/04, S. 4: „Durch die Neufassung wird die bisherige Aufzählung durch die allgemeine Bezeichnung ,Organismen‘ ersetzt. Nach der bisherigen Formulierung war unklar, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind. In der neuen botanischen Literatur werden Pilze nicht mehr zum Pflanzenreich gezählt, sondern als eigene Gruppe angesehen. Pilze wie z. B. Psilocybe-Arten und deren Mycelien werden häufig missbräuchlich verwendet. Durch die Neufassung wird klargestellt, dass Pilze, sofern sie Stoffe enthalten, die in einer der Anlagen genannt sind, Betäubungsmittel sind.“ Vgl. auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 02.10.2006 – 2 St OLG Ss 207/06 – DRsp Nr. 2006/28579 Rn. 18: Die frühere Streitfrage, ob Pilze als „Pflanzen“ im Sinne des BtMG anzusehen sind . . ., ist nunmehr auch durch den Gesetzgeber geklärt, der mit der 19. BtMÄndV vom 10.3.2005 die bis dahin in der Anlage I verwendeten biologischen Begriffe durch den Oberbegriff „Organismen“ ersetzt hat.“ So richtig eindeutig ist diese Formulierung allerdings immer noch nicht gewesen, hatte der Gesetzgeber doch § 2 Abs. 1 Nr. 1 i. d. F. vom 10.10.1999 BtMG unberührt gelassen („Stoff: eine Pflanze, ein Pflanzenteil oder ein Pflanzenbestandteil in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand sowie eine chemische Verbindung und deren Ester, Ether, Isomere, Molekülverbindungen und Salze – roh oder gereinigt – sowie deren natürlich vorkommende Gemische und Lösungen . . .“). Durch Art. 5 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17.07.2009 (BGBl I S. 1990) ist nunmehr der Wortlaut der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Nr. 1 BtMG dahingehend erweitert worden, dass als Stoffe im Sinne des Gesetzes neben Pflanzen ausdrücklich auch Pilze genannt werden (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BtMG: „Pflanzen, Algen, Pilze und Flechten sowie deren Teile und Bestandteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand“). Gleichzeitig ist in Anlage 1 der Oberbegriff „Organismen“ wieder gestrichen worden („Stoffe nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b bis d mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen sowie die zur Reproduktion oder Gewinnung von Stoffen nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b bis d geeigneten biologischen Materialien, wenn ein Missbrauch zu Rauschzwecken vorgesehen ist“). 7 OLG Koblenz, Urteil vom 15.03.2006 – 1 Ss 341/05 – NStZ-RR 2006, 218. 8 BGH, Beschluss v. 25.10.2006 – 1 StR 384/06 – NJW 2007, 524. 9 BVerfG (2. Kammer des 2. Senats), Beschluss vom 04.09.2009 – 2 BvR 338/09 – StraFo 2009, 526.
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„Der in den Niederlanden lebende Angeklagte handelte dort seit 2004 mit sog. ,Zauberpilzen‘ (Magic Mushrooms) [was dort bis Dezember 2008 teilweise erlaubt war10]. Am 9. April 2004 war der Angeklagte mit einem von ihm geführten PKW auf dem Weg von den Niederlanden nach Süddeutschland. Im Kofferraum des Fahrzeugs führte er einige Plastikbehälter mit frischen ,Magic Mushrooms‘ mit. Der Angeklagte ging zutreffend davon aus, dass die von ihm eingeführten Pilze den Wirkstoff ,Psilocin‘ enthielten; er wusste, dass dieser berauschende Wirkung hat. Er war allerdings der Auffassung, dass der Umgang mit entsprechenden Pilzen (auch) in der Bundesrepublik Deutschland nach dem damals geltenden Betäubungsmittelrecht – mangels einer entsprechenden Regelung – straflos sei.“
Das OLG Koblenz machte mit seiner Entscheidung Furore. Es bestätigte den insoweit ergangenen Freispruch des Landgerichts: „Nach § 1 Abs. 1 BtMG in Verbindung mit der Anlage I (nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel) in den vom 1. Februar 1998 bis 17. März 2005 geltenden Fassungen galten – außer den hier nicht interessierenden Stoffen – nur Pflanzen und Pflanzenteile, die eine der zahlreichen in dieser Anlage aufgeführten Substanzen enthalten, als Betäubungsmittel. Zu diesen Substanzen gehören auch Psilocin und Psilocybin. Die Staatsanwaltschaft weist zwar zutreffend darauf hin, daß der Gesetzgeber mit der 10. BtMÄndV vom 20. Januar 1998 (BGBl. I S. 74) die von ihm damals als niedere Pflanzen angesehenen psilocybin- und/oder psilocinhaltigen Pilze (Magic Mushrooms) dem Anwendungsbereich des Betäubungsmittel(straf)rechts unterstellen wollte.11 Jedoch hat ein Bedeutungswandel des Begriffes ,Pflanze‘, der damals bereits im Gange war, dazu geführt, daß diese Pilze jedenfalls im Jahre 2004 – und damit zur Tatzeit – aus dem Anwendungsbereich herausgefallen waren.
10 Übrigens Folge davon, dass der niederländische Hoge Raad (vergleichbar dem deutschen BGH) es abgelehnt hatte (HR, Urteil vom 18.11.1997 – Nr. 3705 – NJ [Nederlandse Jurisprudentie] 1998, 213; Urteil vom 05.11.2002 – Nr. 01059/01 – NJ 2003, 488 (http://www.wetboek-online.nl/jurisprudentie/ljnAE2094.html), frische (!) „Zauberpilze“ vom Wortlaut her noch als „psilocinhaltige Präparate“ zu verstehen: Eine Orange sei eine Frucht, die Vitamin C enthalte, eine Orange sei kein (natürliches) „Gemisch mit Vitamin C“. Wenn man sie in den Mixer werfe und zermixe, so habe man ein Gemisch, welches Orangenschale, Fruchtfleisch, Wasser und Vitamin C und andere Stoffe enthalte. Das sei dann ein „Gemisch mit Vitamin C“. Genauso sei es erst dann ein „Gemisch, welches Psilocin enthält“, wenn man getrocknete Zauberpilze pulverisiere. Das Züchten von Zauberpilzen könne allerdings unter Umständen eine strafbare Vorbereitungshandlung im Sinne von Art. 10a niederlBtMG darstellen. – Heute zählt das niederländische Betäubungsmittelrecht in einer Anlage über 130 verbotene Pilze, darunter auch den in Deutschland legalen Fliegenpilz (Amanita muscaria var. muscaria) aus der Gattung der Wulstlinge (Amanita) auf. Siehe näher Went, Chronik der niederländischen Betäubungsmittelgesetzgebung, 2008, S. 61 ff. (http://floriaanwent.com/text/ Chronik%20der%20niederlaendischen %20Betaeubungsmittelgesetzgebung %20WENT. pdf). 11 Genauer gesagt unterfallen die Wirkstoffe Psilocin und Psilocybin schon seit 1967 dem Betäubungsmittelrecht. Siehe § 1 der Vierten Betäubungsmittel-Gleichstellungsverordnung (4. BtMGlV) vom 21.02.1967: „Den in § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b des Opiumgesetzes genannten Stoffen werden die folgenden Stoffe gleichgestellt: . . . Kurzbezeichnung . . . Psilocin – Psilocin-(aeth) – Psilocybin – Psilocybin-(aeth) . . .“
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Die . . . Nachforschungen des Senats haben ergeben, daß die schon vor zwei Jahrzehnten nicht völlig neue naturwissenschaftliche Erkenntnis (siehe z. B. Lexikon der Biologie, Herder-Verlag 1986; Meyers Taschenlexikon in 10 Bänden 1996; Das Wissen unserer Zeit – Bertelsmann Universal Lexikon 1998), wonach Pilze keine Pflanzen, sondern eine eigenständige Lebensform sind, spätestens ab dem Jahre 2000 zunehmend Eingang in Schulbücher, populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, Standardnachschlagewerke und andere allgemein zugängliche Informationsquellen bis hin zum Internet gefunden hat.“
2. Dem ist der 1. Strafsenat des BGH dann aber im Fall eines deutschen Händlers, der psilobinhaltige Pilze eingenäht in „Duftkissen“ verschleiert verkaufte, nicht weniger sprachgewaltig entgegengetreten:12 „Die Bedeutung des Pflanzenbegriffs ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen und nicht anhand der spezifisch wissenschaftlichen Terminologie in der Biologie . . . Denn die Anlagen [zu § 1 Abs. 1 BtMG] wenden sich, da sie strafbegründende Wirkung haben, auch an den Bürger und berücksichtigen – trotz der Komplexität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Betäubungsmittel – dessen Sprachverständnis. So sind dort etwa für die Wirkstoffe nicht nur die chemischen Namen, was für eine wissenschaftliche Klassifikation ausreichend wäre, genannt. Vielmehr finden sich auch wissenschaftlich nicht eindeutige Bezeichnungen (,Trivialnamen‘) . . . Aber selbst die auf der biologisch-systematischen Terminologie beruhende Argumentation greift zu kurz. Zwar ist in der Biologie mittlerweile anerkannt, dass Pilze als eine eigene Organismengruppe neben den (Grün-)Pflanzen stehen. Diese Abgrenzung wird jedoch nicht trennscharf durchgehalten. So wird die Pilzkunde (Mykologie) auch weiterhin als ein Teilgebiet der Botanik (Pflanzenkunde) angesehen. Botanische Standardwerke widmen sich nach wie vor in eigenen Abschnitten den Pilzen . . . Im Übrigen hat die auf einer naturwissenschaftlichen Fachsprache beruhende biologische Systematik in den allgemeinen Sprachgebrauch nur fragmentarisch Eingang gefunden. Wenngleich die teilweise uneinheitliche Terminologie in der Biologie zwar einen Hinweis auf die Bestimmung der Wortlautgrenze – nämlich in einem weiten Sinn – geben kann, kommt es letztlich entscheidend auf den möglichen Wortsinn nach dem allgemeinen Sprachverständnis an. Der Pflanzenbegriff – zumal im Kontext der Anlage I aF zu § 1 Abs. 1 BtMG – schließt daher nicht schon deshalb psilocybin- bzw. psilocinhaltige Pilze aus, weil die biologische Terminologie inzwischen – wenn auch nur teilweise und stark vereinfacht – Eingang in zahlreiche Nachschlagewerke und Lehrbücher gefunden hat (so aber OLG Koblenz . . .). Dies besagt nämlich noch nicht, dass mit dem Wort ,Pflanzen‘ umgangssprachlich gleichwohl nicht auch Pilze gemeint sein können. Denn Nachschlagewerke und Lehrbücher können zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen, die dort verwendete Terminologie spiegelt ihn aber häufig nicht genau wider und gibt mithin keine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand. Vor dem Hintergrund der Einteilung der lebenden Natur mittels des Begriffspaars Flora und Fauna werden die Pilze (Pilzfruchtkörper) wegen ihrer für den Laien au-
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BGH, Beschluss v. 25.10.2006 – 1 StR 384/06 – NJW 2007, 524.
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genscheinlichen Nähe zu den Pflanzen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch vielmehr nach wie vor – jedenfalls im Tatzeitraum – diesen zugeordnet. Immerhin kauft man Pilze auch gemeinhin beim Obst- und Gemüsehändler.“
3. Im Ergebnis schloss sich nunmehr auch die 2. Kammer des 2. Senats des BVerfG dieser Auffassung an.13 II. Biologisch-methodologische Überlegungen In der biologischen Taxonomie ist in den letzten Jahrzehnten, vor allem in den letzten Jahren, vieles verändert, geradezu revolutioniert worden. 1. a) Das althergebrachte Linnésche System hat große Umwälzungen zu bewältigen. Das System, alle Lebewesen nach Regnum, Classis, Ordo, Genus und Spezies nach dem Schema eines sich verzweigenden Baumes zu klassifizieren, war zunächst nur durch neue Einteilungen (wie Phylum [bzw. Divisio], Familia, Tribus; später gar Dominum, Grex, Legio, Kohors u. a.) und etliche weitere Untergliederungsmöglichkeiten (z. B. Sub-, Infra-, Parv- sowie Grand-, Super-, Magna-) detaillierter, aber damit auch komplizierter geworden und bedurfte lediglich hie und da größerer oder kleinerer Reparaturen. Vor allem die Linnésche Einteilung der Invertebrata (Wirbellose Tiere) nur in die Klassen der Insekten (Insecta) und Würmer (Vermes) hatte sich schnell als völlig unzureichend erwiesen. Seit einiger Zeit jedoch wird dieses Ordnungssystem durch die sog. Kladistik sogar grundsätzlich in Frage gestellt (das soll hier nicht weiter vertieft werden), zumindest aber zu Kompromissen veranlasst. Vor allem aber wird seine doch weitgehend noch phänotypische Ausrichtung durch die immer mehr an Bedeutung gewinnenden molekulargenetischen Erkenntnismöglichkeiten und den einhergehenden Bedeutungsgewinn der Paläontologie zurückgedrängt. So manches, was bislang verwandt erschien, wird nunmehr nur als zufällig entwickelte parallele Anpassungsstrategie gewertet, ganz so wie wir alle längst etwa die Ähnlichkeiten von (großen) Fischen und Walen verstehen. So gibt es beispielsweise nicht mehr den Superordo Ungulata (Huftiere), seit man die Säugetierordnungen auf gemeinsame Vorfahren innerhalb der Urkontinente zurückführt (Superordines Laurasiatheria und Afrotheria). Wale (Cetacea) beispielsweise sind nun mit See13 BVerfG (2. Kammer des 2. Senats), Beschluss vom 04.09.2009 – 2 BvR 338/09 – StraFo 2009, 526, Orientierungssatz 3a: „Die Subsumtion von Pilzen unter den Begriff der ,Pflanzen‘ entspricht dem im Wortlaut zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers. Mit der Einführung des Begriffs ,Pflanze‘ wollte der Gesetzgeber entsprechend der traditionellen Sicht in der Biologie auch Pilze erfassen. Zudem sollte durch die Erweiterung der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BtMG um ,Pilze‘ die Rechtslage in der Sache nicht geändert werden . . . Dies ist auch mit dem möglichen Wortsinn aus Sicht der Normadressaten im Tatzeitpunkt vereinbar. Auch wenn die biologisch-systematische Fachsprache im Jahr 2004 begrifflich bereits klar zwischen Pflanzen und Pilzen unterschied, fand sich dieser Sprachgebrauch noch nicht in der Allgemeinsprache wieder, die Pilze als Pflanzen betrachtete.“
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kühen (Sirenia), der einzigen anderen Säugetierordnung, die (wieder) im Wasser lebt, nur noch „um mehrere Ecken“ und nicht schon als Huftiere verwandt. b) Auch das Subphylum Vertebrata (Wirbeltiere) gibt es so nicht mehr. Die ehemalige Classis Aves (Vögel) ist nur noch eine ferne Untergruppierung der Classis Reptilia (Kriechtiere), nunmehr meistens Sauropsida genannt, direkte Abkömmlinge der Dinosaurier. Panzerechsen (Crocodila) sind dementsprechend enger selbst mit völlig anders phänotypisch gestalteten Vögeln wie etwa Kolibris (Trochilidae) verwandt (gemeinsamer Superordo Archosauria) als mit Eidechsen (Lacertidae) (gemeinsame Subclassis Diapsida). Die Classis Mammalia (Säugetiere) heißt nun Synapsida, erweitert um die früheren Reptilien Pelycosauria und Therapsida. Und auch die Classis Pisces (Fische) existiert nicht mehr. Sie teilt sich in Knorpelfische (Chondrichthyes) und Knochenfische (Osteichthyes). Letztere sind umgetauft in die Knochenkiefermünder oder -mäuler (Osteognathostomata), weil sie nunmehr auch als gemeinsamer Urahn aller Klassen der Reihe (Series) der Landwirbeltiere (Tetrapoda) gelten. Alle Säugetiere gehören damit eigentlich zu den Knochenfischen (es gibt ihn also doch, den Walfisch!). Oder: Die Anthropologie ist genaugenommen ein Untergebiet der Ichthyologie . . . Schwerste Umwerfungen auch im Reich der Pflanzen: Abgesehen von den Pilzen sind dem alten stolzen Regnum Plantae auch die Blaualgen (Cyanophyta) – nunmehr: Cyanobakterien (Cyanobacteria) –, die Grünalgen (Chlorophyta) und die Rotalgen (Rhodophyta) entzogen worden. Man kann deshalb inzwischen statt vom Regnum Plantae vom Reich der Landpflanzen (Embryophyta) sprechen.14 Neben das Unterreich der Gefäßpflanzen (Tracheobionta) wird hier das Subregnum der Moose (Bryophyta) gestellt – gegliedert zumeist in die drei Abteilungen (Hornmoose [Anthocerotophyta], Lebermoose [Hepaticophytina] und Laubmoose [Bryophytina]).
2. Aber halten wir hier erst einmal kurz ein und werfen wir einige sich daraus im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG aufdrängende Fragen dazu auf: Es begeht eine Ordnungswidrigkeit, wer gem. § 60 Abs. 2 Nr. 26 LFGB (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch) i.V. m. §§ 24 Abs. 3 Nr. 1, 12 Abs. 2 Satz 1 Tier-LMHV (Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung) Fleisch von „Huftieren“ unter bestimmten, hier nicht interessierenden Umständen in Verkehr bringt. – Könnte sich nun jemand, der etwa mit Rind- oder Schweinefleisch handelt, darauf berufen, dass es Huftiere (Ungulata) in der zoologischen Systematik nicht mehr gebe? Oder umgekehrt, da zu den (nunmehr Sauropsida genannten) Kriechtieren seit einiger Zeit auch die Vögel gezählt werden: Würde ein – angenommenes – Verbot des Inverkehrbringens von Reptilien den Vogelhandel unterbinden? Oder gar: Stammen alle Landwirbeltiere (Tetrapoda) zwar nicht von den Knorpel-, wohl 14 Eine Entwicklung, die übrigens durchaus Parallelen im Reich der Tiere hat, wo ähnliche Differenzierungen dazu geführt haben, dass immer öfter statt vom Regnum Animalia vom Regnum Metazoa (Mehrzellige Tiere) die Rede ist.
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aber von den Knochenfischen ab, würde dann ein Normbefehl „Fischen verboten“ vielleicht auch die Jagd auf Wild, Vögel oder Krokodile betreffen? 3. Schon ein flüchtiger Blick in einige Rechtsvorschriften zeigt, dass diese Gedanken so völlig abwegig nicht zu sein scheinen. § 10 Abs. 2 Nr. 3 BNatG besagt sogar ausdrücklich, dass „für die Bestimmung einer Art ihre wissenschaftliche Bezeichnung maßgebend“ ist. a) Ganz im Sinne dessen kann man dann auch in § 1 Abs. 2 Nr. 4 TierSeuchenG lesen: „. . . als Fische in diesem Sinne gelten auch Neunaugen (Cyclostomata), Zehnfußkrebse (Dekapoden) und Weichtiere (Molluska)“. Denn die Neunaugen oder Rundmäuler bilden eine eigenständige Überklasse der Wirbeltiere (Vertebrata) neben den Kiefermäulern (Gnathostomata) (zu denen u. a. die Taxa der Knorpelfische und Knochenkieferfische bzw. -tiere gehören), die Mollusken einen eigenständigen Stamm neben dem der Chordatiere (Chordata). Die Zehnfußkrebse sind eine Ordnung innerhalb der Klasse der Höhere Krebse (Malacostraca). b) Ähnlich versuchen die „Leitsätze des deutschen Lebensmittelbuches für Fische, Krebs- und Weichtiere und Erzeugnisse daraus“15 den traditionell im Fischhandel feilgebotenen Teil tierischer Produkte zu umschreiben – wobei hier freilich erste Ungenauigkeiten zu beobachten sind: In den auf „Weichtiere und Weichtiererzeugnisse“ bezogenen Begriffsbestimmungen wird zwar noch korrekt ausgeführt, dass Muscheln, Schnecken, Tintenfische Mollusken sind, also zum Stamm der Weichtiere gehören; unklar dann aber die „Begriffsbestimmungen für Fische“: „Als Süßwasserfische gelten ebenfalls solche Fische, die sich zeitweilig auch im Meer aufhalten, wie Lachs, Forelle, Aal (Flussaal), Maifisch, Finte, Maräne, Schnäpel, Flussneunauge, Stint, Stör.“ Das mittendrin aufgeführte Flussneunauge geht, wie erwähnt, schon auf der Ebene der Superclassis eigene Wege.16 – Könnte sich hier jemand verteidigen, „seine“ Flussneunaugen seien jedenfalls keine Fische, mithin nicht von der Vorschrift berührt? Ferner sind auch die „Begriffsbestimmungen für Krebstiere“ nicht problemlos, gerade weil sie so taxonomisch präzise erscheinen: „Krebstiere sind zum Verzehr bestimmte Tiere der Klasse der Crustacea (Krebse)“. Nach heute h. M. gibt es 15 Neufassung vom 27.11.2002 (Beilage Nr. 46b zum BAnz. vom 07.03.2003, GMBl. Nr. 8–10 S. 157 vom 20.02.2003), geändert am 01.10.2008 (Beilage Nr. 89 zum BAnz. vom 08.06.2008, GMBl. Nr. 23–25 S. 451 ff. vom 09.06.2008). Die Leitsätze (vgl. § 15 LFGB) sind keine allgemein verbindlichen Rechtsnormen; sie sind aber als gutachtliche Äußerung aller am Verkehr mit Lebensmittel in Betracht kommenden Kreise anzusehen; sie unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung (Rohnfelder/Freytag in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand 176. Erg.-Lfg. 2009, § 11 LFGB Rn. 113). 16 Besser deshalb Anlage 1 zu § 1 BArtSchG: „Pisces et Cyclostomata – Fische und Rundmäuler“.
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jedoch keine Classis der Krebse, sondern die Crustacea bilden einen Unterstamm (bestehend u. a. aus der Classis der Höheren Krebse [Malacostraca], zu der die zum Verzehr bestimmten Krebse zählen), der wiederum u. a. zusammen mit den Insekten das Phylum der Gliederfüßler (Arthopodra) bildet. – Eröffnete auch dies Verteidigungsmöglichkeiten, hat jemand etwas Verbotenes mit Hummern oder Langusten angestellt? 4. Zumindest für Außenstehende schwer durchschaubares Chaos herrscht im Bereich der hier interessierenden Pilze, von denen etwa schon Adam Lonitzer (Lonicerus, 1528–1586) etwas ratlos sagte, sie „seind weder Kräuter noch Wurzeln, weder Blumen noch Samen, sondern nichts anders dann ein oberflüssige feuchtigkeit des Erdtrichs, der Bäume, der Hölzer und fauler ding“.17 Carl von Linné (1707–1778) stellte die Pilze dann zusammen mit Farnen, Moosen und Algen zu seiner (24.) Klasse Cryptogamia (Blütenlose Pflanzen). a) Heute ist man hier über die Annahme von drei eigenständigen Reichen, dem Regnum Fungi [T. L. JAHN & F. F. JAHN, 1949] neben dem der Pflanzen und der Tiere, also den Pilzen als „Lebewesen zwischen Pflanze und Tier“18, schon längst wieder hinaus. Seit 1959 war man bereits bei fünf Reichen (Animalia, Fungi, Plantae, Protista, Monera) [WITTHACKER, 1959], ab 1977 bei sechs (Animalia, Fungi, Plantae, Protista, Archaebacteria, Eubacteria) [WOESE, 1977], 1978 bei sieben Regna (Animalia, Fungi, Amoebozoa, Plantae, Chromalveolata, Rhizaria, Excavata) [WHITTAKER & MARGULIS, 1978]. Später wurde auch noch das Regnum Chromista genannt [CAVALIER-SMITH, 1981] (wohlgemerkt: alles vor der Hinzufügung [nur] der „Pflanzen“ zur genannten Anlage zum BtMG!). Im Zuge dieser Entwicklung wurden das Regnum durch die neue Klade Dominum (oder auch Imperium) getopt und das statische Nebeneinander der Regna löste sich in immer größere Unübersichtlichkeiten bei zunehmenden Meinungsverschiedenheiten auf. b) Inzwischen geht man davon aus, die Pilze seien mit den Tieren viel enger verwandt als mit den Pflanzen: Eine Zeitlang wurde angenommen, die Tiere seien ihre Geschwister (Schwestertaxon Regnum Animalia bzw. Metazoa) innerhalb des sog. Tier-Pilz-Zweiges Ophisthokonta, während sich Tiere und Pilze mit Pflanzen (deren nächste Verwandte: die Armleuchteralgen [Characeae]) erst auf den gleichen Urgroßvater beziehen könnten (Dominum Eukaryota [Echte Zellkernträger]). Statt Flora und Fauna – Fungi und Fauna. Neuestens glaubt man, innerhalb der „Supergrex Ophisthokonta“ als Schwestertaxon der Tiere die Kragengeißelträger oder Choanoflagellanten (Choanozoa) 17 Ähnlich formulierten auch Hieronymus Bock 1539 in seinem „Kreütter Buch“ und Caspar Bauhin (1560–1624). 18 So der Titel eines Buches des Mikrobiologen Georg Schön (2005).
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ansiedeln zu müssen, während die Pilze als Schwestertaxon der Gruppe Holozoa fungieren (in der die Tiere noch mit verschiedenen taxonomisch selbständigen Einzellern zusammengefasst werden, die nicht einmal ein deutsche Bezeichnung haben [Ichthyosporea, Mesomycetozoea, Ministeria, Capsaspora]).19 An dieser Darstellung, die, so hoffe ich als Nichtbiologe inständig, einigermaßen korrekt ist, fällt nicht nur auf, dass die Dinge taxonomisch sich so im Fluss bewegen, dass man sich fragt, inwieweit etwa die Jurisprudenz sich ihres aktuellen Meinungstandes bedienen sollte, sondern auch, dass sie sich vom gewohnten allgemeinen Alltagsverständnis weit entfernt. 5. Damit kommen wir aber zu einem entscheidenden Punkt: Systematisierungen, Ordnungen, Klassifizierungen dienen immer einem Zweck. Jede Taxonomie ist eine Hilfskonstruktion, die versucht, von subjektiv gewählten Kriterien ausgehend ein Gebiet möglichst sinnvoll zu ordnen. Linné ordnete in seinem Systema naturae das Pflanzen- und Tierreich noch durch anatomische, morphologische Vergleiche. Es hatte eine einnehmende, überzeugende Schönheit und Plausibilität. Tiere – Pflanzen. Mehrzeller – Einzeller. Gewebetiere – Gewebelose. Zweiseitigsymmetrische – Radialsymmetrische. Neumünder – Urmünder. Schädeltiere – Schädellose. Und heute? Tiere – Kragengeißelträger. Pflanzen – Armleuchteralgen. Gegenwärtig ist die Phylogenese insbesondere durch molekulargenetische Untersuchungsmethoden völlig neu zu entdecken. Ob das neue System für uns allgemein „besser“ ist, wenn es etwa die Huftiere als Überordnung für äußerlich ähnliche Tiere zerreißt und uns die Verwandtschaft von Krokodil und Kolibri bringt (und überhaupt die Vögel nur noch in untersten taxonomischen Schubladen auftauchen lässt), ist mehr als zweifelhaft. Es gibt keine Vögel – wir sind alle Fische? Dies mag dem Evolutionsbiologen weiterhelfen. Wollen wir aber auch unsere Curricula in der Schule darauf ausrichten? („Seit weit über 200 Mio. Jahren nehmen die Dinosaurier eine herausragende Stellung in der Tierwelt ein und haben insbesondere die Lüfte erobert“ – „Immer mehr Fischarten zogen seit dem Karbon auf das Land um und bevölkern heute sämtliche Kontinente“). Und: Wollen wir gar unsere gesamte Lebensordnung entsprechend einstellen? Haben Botanische Gärten Pilze aus ihrer Sammlung auszusondern? Und Vögel im Reptilarium gehalten zu werden? Oder müssen eh gleich alle Tiergärten mit Ausnahme ihres Insektariums Aquarienhäusern zugeschlagen werden? Hat der Wurstverkauf als selbstverständlicher Geschäftsbereich des Fischhandels zu gelten? Und gehören Krokodilsteaks hinter die Geflügeltheke, dann aber vielleicht „Echsenthresen“ genannt?
6. Natürlich ist all dies Unfug. Unabhängig von der biologischen Taxonomie ordnen wir die Lebensformen immer so, wie sie jeweils sachgerecht sortiert er19 Neuerdings wird als Schwestertaxon der Holozoa auch die Grex Nucletmycea bezeichnet, bestehend aus Fungi und Cristidiscoidia [BROWN ET AL. 2009].
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scheinen. In der Antike wurde bei Pflanzen beispielsweise die Wuchsform (Kraut, Staude, Strauch, Baum) zugrunde gelegt:20 Im alten China wurden Tiere in Schuppen-, Schalen-, Feder-, Haar- und nackte Tiere unterschieden. Für die Menschen des Mittelalters war alles, was im Wasser lebte, ein Fisch (also auch Wale, Robben, Krebse, Quallen, Muscheln usw.) – im Gegensatz zu den „Tieren“ an Land und den Vögeln in der Luft. a) Sucht man nach solchen Ordnungsprinzipien im geltenden Recht, so kann man beispielsweise bei einigen aktuellen Vorschriften eine ethisch orientierte Klassifizierung annehmen, weitab von biologischer Taxonomie: So beschränkt § 17 TierSchG die Strafbarkeit des sinnlosen Tötens oder Quälens auf Wirbeltiere.21 Weiter wird nach § 4a Abs. 1 (i.V. m. § 17 Abs. 1 Nr. 6) TierSchG bei Schlachtungen der Schutz für Warmblütige Tiere (Homoiotherme), also Vögel und Säugetiere, gegenüber kaltblütigen Wirbeltieren noch ausgebaut (Betäubung grundsätzlich erforderlich).22 Gem. §§ 4 Abs. 3 i.V. m. § 9 Abs. 2 Nr. 7 TierSchG dürfen Affen und Halbaffen23 nur getötet werden, sofern sie für Versuchszwecke gezüchtet worden sind. Wer in dieser verwandtschaftlich abgestuften Reihung Wirbeltiere – Warmblüter – Primaten nur Reflexe des Tötungsverbotes gegenüber dem Artgenossen („Hemmschwellentheorie“) hineininterpretieren will, sei freilich darauf hingewiesen, dass §§ 4a Abs. 3 i.V. m. § 9 Abs. 2 Nr. 7 TierSchG zugleich auf „Hunde“ und „Katzen“ verweist, übrigens genauso wie im 2005 außer Kraft getretenen FleischhygieneG (§ 28 Abs. 1 Nr. 3: „. . . wird bestraft, wer entgegen § 1 Abs. 1 Satz 4 Fleisch von Affen, Hunden oder Katzen zum Genuss für Menschen gewinnt“).24 20 Ähnlich später Albertus Magnus (1193–1280), der in seinem Werk „De vegetabilibus libri VII“ als weitere Gruppe die Pilze hinzufügte, die jedoch die unterste Klasse der Pflanzen darstellten, weil sie keine Blätter besitzen und auf andere Pflanzen für ihre Existenz angewiesen seien. Siehe näher Forschergruppe Klostermedizin, Geschichte der Klostermedizin (http://www.klostermedizin.de/html/geschichte_der_klostermedizin.html). Die erste erhaltene wissenschaftliche Beschäftigung mit Pilzen in der Antike stammt von Theophrastos von Eresos (371–288 v. Chr.), der in den Pilzen Pflanzen sah, denen aber die Wurzeln fehlten (Brocke, Zunderschwamm und Hexenröhrling, 2006, S. 10). 21 Am Rande: Das herkömmliche Subphylum Wirbeltiere (Vertebrata) wird neuerdings durch das Subphylum Craniota (Schädeltiere) ersetzt; die Vertebrata werden zu einem Infraphylum unter Ausschluss der Schleimaale bzw. Ingerförmigen (Myxinoidea bzw. Hyperotreta) herabgestuft. Hat das deren Schutz durch § 17 TierSchG aufgehoben? 22 In der zoologischen Systematik spielt die Homoiothermie, das einzige große Band zwischen den hochentwickelten Vögeln und Säugetieren, erstaunlicherweise keinerlei Rolle. 23 Die moderne Systematik unterscheidet in dem Ordo Primates übrigens nicht mehr zwischen den Subordines der Simiae und der Prosimiae, sondern denen der Trockennasenaffen (Haplorrhini) und der Feuchtnasenaffen (Strepsirrhini). 24 Ab Januar 2004 lautete die Norm: „. . . wird bestraft, wer . . . Fleisch von Hunden, Katzen, anderen hundeartigen oder katzenartigen Tieren (Caniden und Feliden) oder Affen zum Genuss für Menschen gewinnt“ – „redaktionelle“ Angleichung „an das ent-
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Dass hier keine biologische verwandtschaftliche Nähe (oder gar das Kannibalismustabu) eine Rolle spielt, zeigt sich schon daran, dass der Ordo Carnivora (Raubtiere), zu der die Hunde- als auch Katzenartigen gehören, und der Ordo Primates zu verschiedenen Superordines (Laurasiatheria bzw. Euarchontoglires [Superprimates]) gehören, während wir Vertreter der Ordnung Glires (Nage- und Hasentiere), (nach Riesengleitern [Dermoptera] und Sitzhörnchen [Scandentia]) engste Verwandte der Primaten, als (langohrige) Sonntagsbraten sogar besonders schätzen. Als ethischer Hintergrund liegt etwas anderes auf der Hand: (Nur) „Muschi“ und „Bello“ haben es sozial als Schoßtiere zu quasi-Familienmitgliedern des Menschen gebracht.25 b) Andere rechtliche Klassifizierungen sind weder durch die biologische Taxonomie noch ethisch, sondern schlichtweg pragmatisch geleitet. So haben wir schon gesehen, dass verschiedene Rechtsnormen die (tierischen) „Meeresfrüchte“, also bestimmte Mollusken und Krebstiere, pragmatisch den Regeln für Fische zuordnen („Fischereierzeugnisse“), eben weil sie im Spektrum der (tierischen) Lebensmittel einander nahestehen, insbesondere, was Haltbarkeitsfragen und Hygieneprobleme betrifft. Und selbstverständlich kauft man sie im „Fischgeschäft“. Und bei den eigentlichen Fischen wiederum ist im Fischhandel die taxonomische Unterscheidung in Knochen- und Knorpelfische völlig irrelevant; bedeutsam ist – aus naheliegenden pragmatischen Gründen – ob es sich um Süß- oder Salz- bzw. Seewasserfische handelt.26 Oder: § 2 Abs. 1 BJagdG unterscheidet mit „Haar“- und „Federwild“ zwar auf den Punkt zwischen den Säugetieren oder aber den Vögeln zuzuordnenden (Jagd-) Tieren, die dann dort aber weitgehend unabhängig von der biologischen Taxonomie aufgezählt werden – freilich mit den dort eingeführten lateinischen Bezeichnungen. Soweit in § 1 Abs. 4 BJagdG weiter zwischen „Hoch“- und „Niederwild“ unterschieden wird, wird die Taxonomie völlig verlassen: Beide Gruppen enthalten sowohl Säugetiere als auch Vögel. Ähnliches gilt, soweit man – über § 1 Abs. 2 Nr. 3 TierseuchenG hinaus – den Begriff „Vieh“ einteilt, der zunächst einmal neben Säugetieren auch Vögel („Federvieh“) umfasst. Die Unterteilungen „Groß“- und „Kleinvieh“ sprengen dann jedoch diese Einteilung, weil unter Letzterem Schafe, Ziegen, Kaninchen und Geflügel zusammengefasst werden. sprechende Verbot der Einfuhr von Fleisch hunde- und katzenartiger Tiere“ (Begr. BRegE FleischhygieneÄndG, BT-DrS 15/2293 S. 25) in § 15 FleischhygieneG. 25 Vgl. Begr. Gesetzesantrag Hessen zum Entwurf eines Gesetzes über das Verbot des Schlachtens von Hunden und Katzen, BR-DrS 183/85, S. 2: „Hunde und Katzen nehmen eine besondere Stellung unter den Haustieren ein. Aus ethischen Gründen ist es daher nicht hinnehmbar, daß Hunde und Katzen zu wirtschaftlichen Zwecken getötet werden.“ 26 Siehe dazu oben die „Begriffsbestimmungen für Fische“ in den „Leitsätzen des deutschen Lebensmittelbuches für Fische, Krebs- und Weichtiere und Erzeugnisse daraus“.
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Beim Verkauf findet sich die Unterteilung übrigens in der „Wild- und Geflügelhandlung“ wieder. Hier wird offenbar gerade zwischen dem wichtigsten Niederwild beider (ehem.) Klassen, Hühnervögeln und Kaninchen, kaum mehr eine große Trennung vollzogen.27 Ein älteres Beispiel pragmatischer Systematisierung: Von der Katholischen Kirche wurden Biber (Castoridae), eigentlich semiaquatische Säugetiere aus der Ordnung der Nagetiere (Rodentia), als Fische definiert, um so deren fettes, schmackhaftes Fleisch zur Fastenspeise der Mönche erklären zu können.28
Schließlich wird niemand Paprika, Tomaten, Zucchini, Kürbisse und Gurken (außer Wassermelonen [Cucumis melo]) auf dem Wochenmarkt am Obststand kaufen wollen, obwohl sie wie alles Obst aus der (befruchteten) Blüte entstanden sind, sondern vielmehr beim Gemüsehändler – dort (worauf auch der 1. BGHSenat hingewiesen hat!), wo auch Pilze angeboten werden . . . III. Juristisch-methodologische Überlegungen Unsere bisherigen Überlegungen erlauben es uns, erste Ergebnisse zum Thema Pflanzen/Pilze festzulegen: Das Systema naturae Carl von Linnés und seiner Nachfolger hilft nur ein Stück weiter. Als eine Art allgemeinverbindliches „Regelwerk“ nutzt es heute immer weniger. Gesetzgeberischer Wille und systematisches Ordnungsstreben können genauso auseinanderfallen wie allgemeiner Sprachgebrauch und naturwissenschaftliche Terminologie. Einige Schlussfolgerungen sind jedoch möglich: 1. Die biologische Fachsprache wirkt in zwei Varianten sicher wortlauteinschränkend (und damit strafbarkeitsbegrenzend): Zum einen, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich sein Schicksal in die Hand der Biologen legt.29
27 Vgl. auch § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Tierische Lebensmittel-HygieneVO: „Kleine Mengen“ sind „Fleisch von nicht mehr als insgesamt 10.000 Stück Geflügel oder Hasentieren jährlich . . .“ 28 „Bezüglich seines Schwanzes ist er ganz Fisch“, legitimierte dies der Jesuit Pierre-Francois-Xavier Charlevoix 1754, „und er ist als solcher gerichtlich erklärt durch die Medizinische Fakultät in Paris, und im Verfolg dieser Erklärung hat die Theologische Fakultät entschieden, dass das Fleisch während der Fastenzeit gegessen werden darf.“ Heute sollen vor allem in Mexiko Meeresschildkröten während der katholischen Fastenzeit verzehrt werden, weil sie „kein rotes Fleisch haben und somit Fische sind“ (Pressemeldung des WWF-Deutschland vom 09.04.2006 – http://www.wwf.de/presse/ details/news/lecker_schildkroeten/). 29 Vgl. nochmals § 10 Abs. 2 Nr. 3 BNatG „. . . für die Bestimmung einer Art [ist] ihre wissenschaftliche Bezeichnung maßgebend“ sowie die Leitsätze des deutschen Lebensmittelbuches für Fische, Krebs- und Weichtiere und Erzeugnisse daraus: „. . . Tiere der Klasse der Crustacea (Krebse)“.
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Mit dieser Argumentation hatte es 2004 das AG Hamburg verneint,30 dass der Handel mit psilocybinhaltigem Pilzmaterial bis zum 30.06.2001 strafbar gewesen sei,31 da diese Substanzen keine Pflanzen im Sinne der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG in der damals geltenden Fassung gewesen seien. Weil nämlich die in den Anlagen I bis III verwendeten Bezeichnungen („Ester oder Ether, Salze oder Stereoisomere“) allesamt wissenschaftlicher Art seien, komme es für deren Auslegung nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch an, sondern es müsse hier auf die Fachsprache zurückgegriffen werden, und diese verstehe unter „Pflanzen“ eben nicht „Pilze“.
Zum anderen wirken Bezeichnungen der systematisierenden Biologie wortlauteinschränkend, wenn die verwendeten Termini als taxonomische Begriffe quasi „Eigenleben“ entwickelt haben: Bei einem bloßen Einfuhrverbot von „Kriechtieren“ scheiterte die Bestrafung eines Käferschmugglers schon an der Wortlautgrenze.32 Ein krabbelnder Käfer (Ordo Coleoptera – Classis Insecta – Phylum Arthopoda [Gliederfüßer]) ist kein Kriechtier (Reptilium), sondern allenfalls ein „kriechendes Tier“. Ähnliches gilt für eine Reihe von Tieren, die dem Namen nach einem völlig fremden Taxon zugehörig zu sein scheinen: Ameisenbären (Myrmecophagidae) gehören zum Superordo der Nebengelenktiere (Xenarthra) und haben nichts mit Bären (Ursidae) zu tun, Meerschweine (Caviidae) als Nagetiere (Ordo Rodentia) nichts mit Schweinen (Suidae) und Seepferde (Hippocampinae) als (Knochen-)Fische nichts mit Pferden (Equidae). Das mag im Einzelfall (obwohl biologisch eindeutig) nicht so einfach zu erkennen sein. Wer weiß schon, dass etwa weder der Zitteraal (Electrophorus electricus) noch die Schleimaale (Myxinoida) irgendetwas mit der Ordnung der Aalartigen (Anguilliformes) zu tun haben?
Umgekehrt stellt es keine Überschreitung der Wortsinngrenze dar, soll beispielsweise bei einem Einfuhrverbot von „Landwirbeltieren“ bzw. „Tetrapoda“ (wörtlich: „Vierfüßer“) der Importeur eines Delphins (beflosstes Meerestier) oder eines Papageis (zweifüßiges Flugtier) bestraft werden. Ungeachtet der Ausbildung ihrer Extremitäten sind Wale wie Vögel unbestritten Angehörige der Series Landwirbeltiere (Tetrapoda).33
30 AG Hamburg, Urteil vom 18.03.2004 – 147 Ds 6001 Js 680/02 – StraFo 2004, 360; dagegen Kotz/Rahlf, NStZ-RR 2005, 194. 31 Durch die 15. BtMÄndV vom 19.06.2001 wurden in die Anlage 1 „Früchte, Pilzmycelien, Samen, Sporen und Zellkulturen“ zusätzlich aufgenommen. 32 Wen das nicht überzeugt, der muss in aller Regel zum gleichen Ergebnis auf der Stufe der folgenden Auslegung, hier insbesondere der historischen, am Willen des Gesetzes ausgerichteten Auslegung kommen. Abweichungen wären allenfalls denkbar, wenn der Gesetzgeber tatsächlich mit dem Terminus technicus „Kriechtiere“ ungeschickt alles erfassen wollte, was kriecht. 33 Linné noch hatte, als er die Wale von den Fischen trennte, wegen ihrer fehlenden hinteren Extremitäten die damals so bezeichneten Quadrupedia (Vierfüßer) in Mammalia (Säugetiere) umbenannt!
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2. Schwieriger wird es, wenn der biologische Sprachgebrauch und der sonstige Sprachgebrauch nicht übereinstimmen. Ein paar – konstruierte – Fallbeispiele: 1. Variante: Obwohl das „Fische“ angeln verboten ist, fängt jemand Neunaugen. (Wir erinnern uns: Neunaugen bilden eine eigenständige Superclassis der Wirbeltiere neben den Kiefermäulern [Gnathostomata], aus denen sich erst die Taxa der Knorpelfische und Knochenkieferfische [bzw. -tiere] herausgebildet haben). Kulinarisch zählen sie jedoch zu den Speisefischen.
Das Ergebnis ist klar: Es wäre genauso bedeutungslos, dass es das Taxon „Fische“ als solches, als (nur) alle Fische umfassende Kategorie nicht (mehr) gibt, wie es irrrelevant ist, dass Neunaugen nicht in der biologischen Taxonomie, sondern „nur“ im Rahmen des Fischhandels zu den Fischen zählen.34 2. Variante: Jemand bringt Rind- oder Schweinefleisch entgegen § 60 Abs. 2 Nr. 26 LFGB i.V. m. § 24 Abs. 3 Nr. 1, § 12 Abs. 2 Satz 1 Tier-LMHV in Verkehr. Er beruft sich darauf, dass dort von „Huftieren“ (und nicht von Rindern und Schweinen) gesprochen werde, die es in der zoologischen Systematik nicht mehr gebe. Auch hier ein klares Ergebnis: Abgesehen davon, dass eine Minderansicht in der zoologischen Systematik immer noch von der Existenz eines Taxons der Huftiere ausgeht (Grandordo Ungulata: MCKENNA & BELL, 1997), ist die Bezeichnung aus dem Alltagssprachgebrauch nicht verschwunden. 3. Variante: Ein Geflügelhändler sorgt sich in Kenntnis der neueren Taxonomie, wonach Vögel Überbleibsel der Dinosaurier sind, ob ein neues Importverbot für das Fleisch von Reptilien auch Vögel umfassen könnte. Zunächst einmal: Der Wortlaut, den der Gesetzgeber sich frei gewählt hat, darf grundsätzlich jeden Wortsinn abdecken, egal, ob er modern oder altmodisch, alltags- oder fachsprachlich ist. Forderungen nach der Verwendung von Begriffen aus der Sicht des Normadressaten, also grundsätzlich nach dem allgemeinen Sprachverständnis der Gegenwart35 sind insoweit bloße Postulate, die auf die Wirksamkeit der Norm – anders als eine Wortlautüberschreitung – keinerlei Einfluss haben.36 Die Gefahren des Gebrauchs eines völlig unüblichen Wortlauts trägt zuvörderst der Gesetzgeber. Es ist sein Risiko, dass der Normadressat ihn nicht versteht. Die gewollte Auslegung muss noch sowohl für den Rechtsanwender als
34 Vgl. nochmals § 1 Abs. 2 Nr. 4 TierSeuchenG sowie die „Leitsätze des deutschen Lebensmittelbuches für Fische, Krebs- und Weichtiere und Erzeugnisse daraus“. 35 BVerfGE 71, 108 (115); 92, 1 (12). 36 Vgl. Foth, NStZ-RR 2009, 138.
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auch für den Normadressaten erkennbar sein.37 Auch ein Zoologe oder unser biologisch gebildeter Geflügelhändler muss die Möglichkeit haben, sich zumindest anhand der Gesetzesmaterialien darüber zuverlässig zu informieren, falls der Gesetzgeber tatsächlich den längst nicht alltäglich üblichen Wortsinn als Gesetzesgrundlage nehmen wollte.38 Eine ungewöhnliche, wenngleich auch noch vom möglichen Wortsinn gedeckte Auslegung ist nicht a priori vom Normbefehl umfasst.39 Die gelegentlich anzutreffende Argumentation, eine Auslegung sei „noch“ vom Gesetzeswortlaut gedeckt, „also“ sei das Verhalten strafbar, überspringt hier einen Schritt, der nicht immer selbstverständlich sein mag. Diese Schlussfolgerung hat letztlich auch das BVerfG in seiner Kammerentscheidung zur „Pilzfrage“ gezogen:40 „Kommt es zwischen Erlass und Anwendung einer Norm zu einem Bedeutungswandel, so folgt aus der Doppelfunktion des Art. 103 Abs. 2 GG, dass die Rechtsprechung einen Sachverhalt nur dann unter eine Strafnorm subsumieren darf, wenn dies sowohl nach dem ursprünglichen Sprachverständnis des Gesetzgebers (Gesichtspunkt der parlamentarischen Verantwortung für die Strafdrohung, Parlamentsvorbehalt) als auch nach dem aktuellen Sprachverständnis der Normadressaten (Gesichtspunkt der Erkennbarkeit der Strafdrohung) möglich ist.“
Lässt sich kein Hinweis finden, dass der Gesetzgeber eine theoretisch nach dem Wortsinn zwar noch mögliche, aber äußerst ungewöhnliche Wortbedeutung wollte, ist vielmehr von der Straflosigkeit auszugehen. Wie bei einer Allgemeinen Geschäftsbedingung muss gelten: Zweifel gehen zu Lasten des Verwenders (§ 305c Abs. 2 BGB). 4. Variante: Ein erfahrener Jäger schießt im Wissen, dass das Jagen von „Nagern (Glires)“ verboten ist, einen Hasen. Er rechtfertigt sich damit, er habe extra nochmals nachgelesen, dass zwar Linné die Hasenartigen als Subordo Lagomorpha in den Ordo Glires integriert habe (LINNAEUS, 1758), diese Einordnung aber seit fast hundert Jahren überholt sei (GIDLEY, 1912). – Nicht gewusst habe er, dass seit kurzem die Lagomorpha als Ordo mit dem Ordo Rodentia (Nagerartige) in einem neuen Grandordo Glires (wieder) zusammengefasst würden (NIKAIDO ET AL., 2001).
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Siehe dazu Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 188 ff. Wer das nicht für erforderlich hält, wird zumeist – aber nicht immer, wie unser Geflügelhändler-Fall zeigt – sachgerechte Ergebnisse über das Verbotsirrtumsrecht erhalten. 39 „Es gibt keine greifbaren Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber den Ausdruck . . . in einem weiteren, über den umgangssprachlichen Gebrauch hinausgehenden Sinn verwenden wollte“, hat kürzlich eine Kammer des BVerfG die Auslegung, ein PKW sei eine Waffe, zurückgewiesen (BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschluss vom 01.09. 2008 – 2 BvR 2238/07 – NStZ 2009, 83 m. Anm. Simon und Anm. Foth, NStZ-RR 2009, 138). 40 BVerfG (2. Kammer des 2. Senats), Beschluss vom 04.09.2009 – 2 BvR 338/09 – StraFo 2009, 526, Rn. 21. 38
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In einer solchen Konstellation ist natürlich an einen – unvermeidbaren – Verbotsirrtum zu denken. Dürfte das Handeln, hier: das Jagen „auf gut Glück“, bei einem ersichtlich nicht zuverlässig erfassten Normbefehl immer vermeidbar sein (Erkundigungspflicht!), so bleibt zu beachten, dass nur Zweifel an einer Norm (Kenntnis von einem „Kenntnismanko“41) Anlass zu Nachforschungen geben können. Es ist gut zu vertreten, dass unser Jäger, der die alte Rechtsentwicklung genau kannte, selbst dann zu exkulpieren gewesen wäre, hätte er nicht gleichwohl vorsorglich die vermeintlich aktuelle Rechtslage (nochmals) nachgeprüft! Das Wechselspiel zwischen großzügiger Ziehung der Wortsinnschranke und Anforderungen an den Verbotsirrtum wird viel zu häufig nicht gesehen. Die Großzügigkeit gegenüber dem Gesetzgeber, auch suboptimalen Sprachgebrauch so weit wie möglich zu akzeptieren, erfordert die gleichzeitige Bereitschaft, ggf. den Normadressaten mangels Normkenntnis zu exkulpieren. 5. Variante: Entgegen einem Verbot, „Fische“ zu fangen, harpuniert jemand einen Großen Tümmler (Tursiops truncatus) (Familia: Delphine [Delphinidae] / Ordo: Wale [Cetacea]), von dem er aber glaubt, er gehöre zu den „richtigen“ Fischen. – (Auch) hier bleibt unser jemand straflos: Zunächst einmal: Die Aussage, zu den (Knochen)-Fischen zählten (als ihre Abkömmlinge) auch Säugetiere (und Amphibien, Reptilien, Vögel), ist zwar letztlich nicht falsch, wäre nach soeben Gesagtem aber als gesetzgeberische Ausgangsbasis allenfalls bei deutlicher Klarstellung (noch) möglich. Ansonsten ist ein Normbefehl „Fischen verboten“, der auch die Jagd auf Wild, Vögel oder Krokodile (und Wale!) betreffen soll, schlechterdings nicht vorstellbar. Das dürfte auch darin Bestätigung finden, dass selbst der innigste Anhänger der neuen Taxonomie wohl kaum eine entsprechende Worterstreckung von „Fische fangen“ oder „fischen“ zu „(wilde) Tiere jagen“ mitgehen würde. Umgekehrt wird die Auffassung, ein „Walfisch“ gehöre tatsächlich zu den „Fischen (Pisces)“ (bis Linné allgemeine Ansicht42), wohl heute nicht einmal mehr von denen vertreten, die den Ausdruck verwenden. Die Parallele wäre also beinahe schon bei den erwähnten Ameisenbären, Meerschweinen und Seepferden oder auch den Tintenfischen (Coleoidea) (Phylum Mollusca) zu suchen. Entsprechendes gilt für die längst vergessene mittelalterliche Gleichstellung der Begriffe Fisch und Wassertier.43 Nicht vorstellbar, dass ein Gesetzgeber eine Wortsinnbestimmung Wal = Fisch ohne Klarstellung („als Fische gelten auch andere im Wasser lebende Tiere“) vornehmen könnte. 41
Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, 1969, S. 95; siehe dazu Timpe, GA 1984,
46 f. 42 Allerdings hatte schon Aristoteles auf die anatomischen Unterschiede aufmerksam gemacht! 43 Die auch in Deutschland bis in das 18. Jahrhundert zu der Sitte führte, in der Fastenzeit (Wasser-)Schildkröten zu verspeisen! (http://www.wwf.de/presse/details/news/ lecker_schildkroeten/).
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Nimmt nun aber tatsächlich ein Fischer an, der Wal zähle zu den Fischen (oder, realistischer, er glaubt dies von einem seiner kleineren, anders benannten Verwandten, eben dem Tümmler), so liegt ein strafloses Wahndelikt (und nicht etwa ein untauglicher Versuch!), ein umgekehrter Verbotsirrtum vor. IV. Resümierende Überlegungen zu den „Drogenpilzen“ Nun endlich haben wir alles beisammen, um den Pflanzen-Pilz-Disput zwischen dem OLG Koblenz und dem 1. Strafsenat des BGH zu entscheiden: 1. In der biologischen Taxonomie hat sich in der Tat seit einiger Zeit – und zwar schon bevor der Verordnungsgeber 1998 die Worte „Pflanzen und Pflanzenteile“ in die Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG aufnahm, die Auffassung durchgesetzt, dass Pilze nicht zu den Pflanzen gehören. Der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber hat auch grundsätzlich die Möglichkeit, den von ihm gewollten Wortsinn auf eine (auch neu herausgebildete) Fachsprache zu beschränken. Das mag bei Gesetzen oder Verordnungen, die sich – anders als das BtMG – nur an eine einzelne spezifische Berufsgruppe o. ä. richten, auch grundsätzlich sinnvoll sein. Freilich gibt es als Alternative zur Alltagssprache hier nicht nur die eine Fachsprache der biologischen Taxonomie; im Bereich der Betäubungsmittel hätte eine Orientierung an die Fachsprachen der Pharmakologie oder der Toxikologie vielleicht näherliegend sein können; dann wären wohl weniger die „pflanzliche“ Herkunft als die halluzinogenen, mit LSD verwandten Wirkstoffe systematisch bestimmend gewesen.
Die Auffassung des AG Hamburg, der Verordnungsgeber habe eine Orientierung auf die biologische Fachsprache gezeigt,44 ist nicht zustimmungswürdig:45 Dann hätte er 1998 hinter dem 4. Spiegelstrich nicht vom „menschlichen oder tierischen Körper“, sondern nur vom tierischen Körper sprechen dürfen und keinen Anlass gehabt, die Primatenordnung Homo gesondert zu erwähnen. 2. Im allgemeinen Sprachgebrauch kann es keinem Zweifel unterliegen, dass das Wort „Pflanzen“ heute noch – und sicher noch sehr lange Zeit – auch „Pilze“ mitmeinen kann. a) Dass auch der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber bereits 1998 Pilze vom Verbot von Pflanzen mit umfasst verstanden wissen wollte, ergibt sich zweifelsfrei schon daraus, dass der BRegE in der Begründung der 10. BtMÄndV ausdrücklich „Psilocybin in Pilzen“ als Beispiel verwendete.46
44 Ohnehin wohl nur im unteren Teil der genannten Anlage, beinhaltet doch die am Anfang stehende Tabelle eine Spalte mit „Trivialnamen“! 45 So jetzt auch BVerfG (2. Kammer des 2. Senats), Beschluss vom 04.09.2009 – 2 BvR 338/09 – StraFo 2009, 526, Rn. 29. 46 Begr. BRegE 10. BtmÄndV, BR-DrS 881/97 S. 40.
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Auch andere neuere Gesetze zeugen von diesem Sprachgebrauch: Die Waffenliste in der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KriegswaffenkontrollG, zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.10.2002,47 enthält in einer Rubrik „Biologische Kampfmittel“ u. a. die Einteilung „Pflanzenpathogene Erreger“, unterteilt nur in „Bakterien“ und „Pilze“ – beides heute, wie wir wissen, keine „Pflanzen“ mehr! – Das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) vom 25.03.200248 enthält in § 42 Abs. 1 und 2 Zugriffs- bzw. Besitzund Vermarktungsverbote für „[Tiere und] Pflanzen der besonders geschützten Arten“. Die Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) vom 16.02.2005,49 eine aufgrund des BNatSchG erlassene Rechtsverordnung,50 schränkt in § 2 Abs. 1 ein: „Die Verbote des § 42 Abs. 1 Nr. 2 [heute: Nr. 451] und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes gelten nicht für Pilze der nachstehend aufgeführten Arten . . .“52. In § 1 BArtSchV wird auf eine Anlage Bezug genommen, in der die geschützten „[Tier- und] Pflanzenarten“ genau bestimmt seien.53 Die Anlage 1 (zu § 1 BArtSchVO) vom gleichen Tag,54 gliedert sich „in die Hauptteile Fauna und Flora“. Ihr „liegt innerhalb des Pflanzenreichs eine systematische Einteilung zugrunde: Farne und Blütenpflanzen, Moose, Flechten, Pilze. Damit werden weiterhin auch Niedere Pflanzen erfasst.“55
Selbst taxonomisch ausgerichtete Lexikonartikel – der BGH wies darauf hin – gehen noch heute mitunter von der Zugehörigkeit der Pilze zu den Pflanzen aus. Sogar den Richtern des BayObLG war offenbar die Antiquiertheit dieser Ansicht vor ein paar Jahren noch – beinahe – unbekannt. Auch wenn, wie das OLG Koblenz meint, seit einigen Jahren die neue Auffassung in fast allen (Schul)Büchern vertreten werden mag, scheint mir die Vermutung nicht abwegig, dass 47
BGBl. I S. 3970. BGBl. I S. 1193. 49 BGBl. I S. 258 (berichtigt am 18.03.2005, BGBl. I S. 896). 50 § 52 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG: „Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates . . . bestimmte besonders geschützte Arten oder Herkünfte von Tieren oder Pflanzen besonders geschützter Arten sowie gezüchtete oder künstlich vermehrte Tiere oder Pflanzen besonders geschützter Arten von Verboten des § 42 ganz, teilweise oder unter bestimmten Voraussetzungen auszunehmen . . .“ 51 Siehe dazu Gellermann, NuR 2007, 784 ff. 52 Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand 56. Erg.-Lfg. 2009, § 52 BNatSchG Rn. 12 sowie Stöckel/Müller, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand 176. Erg.-Lfg. 2009, § 2 BArtSchV Rn. 3 verlieren hierzu kein Wort. 53 „Die Bezeichnung der Arten in der Anlage 1 der Bundesartenschutzverordnung erfolgt mit ihrem zoologischen oder botanischen Namen oder unter Verwendung der einer höheren Ordnungsstufe der Systematik in seiner Gesamtheit . . . bzw. der einem bestimmten Teil zukommenden Benennung. Der wissenschaftlichen Bezeichnung wird jeweils der deutsche Name an die Seite gestellt. Der Nomenklatur liegen die in den Erläuterungen zur Anlage 1 unter Nr. 7 aufgeführten Werke zugrunde. Dies dürfte gegenüber mancher Uneinigkeit selbst im naturwissenschaftlichen Schrifttum, erst recht angesichts der in sonstigen Publikationen verwendeten Ausdrucksweisen, einen Zweifel darüber ausschließen, welche Art unter besonderen/strengen Schutz gestellt ist.“ Stöckel/ Müller (Fn. 52), § 1 BArtSchV Rn. 7; 20. 54 BGBl. I 2005, S. 264. 55 Stöckel/Müller (Fn. 52), § 1 BArtSchV Rn. 27; 46. 48
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jedenfalls diejenigen, die vorher ihre Schulausbildung abgeschlossen hatten, zu einem Gutteil die neue Taxonomie bis an ihr Lebensende nicht zur Kenntnis nehmen werden.56 b) Sofern das OLG Koblenz dagegen betont, es müsse „daher davon ausgegangen werden, daß es insbesondere unter den Angehörigen jüngerer Generationen unzählige strafmündige Bürger gibt . . ., denen die Annahme, zu den Pflanzen gehörten auch Pilze, völlig fremd ist und die deshalb nicht auf den Gedanken kämen, Pilze unter ,Pflanzen‘ einzuordnen“, ist dies zu relativieren: Einem – unvermeidbaren – Verbotsirrtum unterläge, wem in der Tat der Gedanke, Pilze unter „Pflanzen“ einzuordnen, „völlig fremd“ wäre. Wäre das aber wirklich bei jedem der Fall, der gerade von der Schule kommt? Selbst die vom OLG Koblenz zitierten Lehrmaterialien erhalten oftmals schon in dem kurzen Zitat Formulierungen wie: „Pilze gehören nicht mehr wie früher zu den Pflanzen“. „Völlig fremd“ bliebe Schülern mithin die Auffassung nicht. Und hält sich die Dichotomie Flora – Fauna, bleibt es beim Obst- und Gemüsegeschäft als Pilzverkaufsstelle, wird im Alltag die alte Bedeutung noch lange Zeit jedenfalls nicht so vergessen, dass man „nicht mehr auf den Gedanken käme“, Pilze könnten (auch) unter den Pflanzenbegriff fallen. Die Unvermeidbarkeit des Irrtums zu erklären, dürfte jedenfalls nicht einfach sein. Eine „Steilvorlage“ für Einlassungen, man habe im (unvermeidbaren?) Irrtum gehandelt, lieferte allerdings der Verordnungsgeber 2001, als er in die Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG neben die „Pflanzen- und Pflanzenteile“ u. a. die „Pilzmycelien“ stellte (15. BtMÄndV). Mycelien sind das Geflecht des Pilzes unter der Erde, in etwa vergleichbar also dem, was man bei Pflanzen als Wurzeln bezeichnet: der Teil, der nicht Fruchtkörper ist. – Analysiert man diese Rechtssetzung, liegt doch wohl folgender Schluss (vermeintlich) nahe: Pilze wären mit „Pflanzen“ 1998 nicht gemeint gewesen! Denn sonst hätten 2001 Mycelien nicht extra genannt werden müssen, wären sie doch schon als „Pflanzen“-Teile (genauso wie Pflanzenwurzeln) seit 1998 umfasst gewesen. Und: Pilzfruchtkörper wären dann bis 2005 (bis zur Aufnahme des Oberbegriffs „Organismen“ in die Anlage durch die 19. BtMÄndV) weiterhin nicht umfasst gewesen!57
V. Ergänzende Überlegungen zur Gesetzgebungstechnik Solche Probleme zu vermeiden, hat nur einer in der Hand: Der Gesetz- (bzw. Verordnungs-)Geber. Er verfügt alleine über den Streitgegenstand „Wortlaut“. Er 56 Eine solche Vermutung wäre übrigens durch eine empirische Sprachgebrauchsanalyse überprüfbar; näher Lorenz/M. Pietzcker/F. Pietzcker, NStZ 2005, 429. 57 Anders aber BGH, Beschluss v. 25.10.2006 – 1 StR 384/06 – NJW 2007, 524, Rn. 13: „Dass der verständige Leser des Normtextes ernsthaft annehmen konnte, der Umgang mit Mycelien zum Zweck der Gewinnung von psilocybin- oder psilocinhaltigen Pilzfruchtkörpern unterfalle dem BtMG, beim Umgang mit diesen Pilzfruchtkörpern selbst bestehe aber kein Risiko, sich strafbar zu machen, liegt fern.“
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kann seine Worte in Ruhe überlegen, vermag sich um ihre Zeitlosigkeit bemühen. Er kann so komplizierte Entscheidungen wie die vom OLG Koblenz und vom 1. Strafsenat des BGH überflüssig machen, er kann ihre vielleicht falschen Ergebnisse verhindern – und auch Aufsätze wie diesen vermeiden. War es unbedingt nötig, noch in der 10. BtMÄndV von 1998, als ein Regnum Fungi schon nahezu ein halbes Jahrhundert deklariert worden war [T. L. JAHN & F. F. JAHN, 1949], wie zu Aristoteles’ Zeiten von Pflanzen und Tieren zu sprechen, ging es um die Vorfeldkriminalisierung von gerauchtem Kraut (Marihuana), gekauten Blättern (Khat), getrunkenen Lianen (Ayahuasca), gegessenen Kakteen (Peyote), abgeleckten Kröten-Sekreten (Bufo marinus) oder eben aufgebrühten Pilzen? Musste dann tatsächlich 2001 mit der Aufnahme der „Pilzmycelien“ durch die 15. BtMÄndV die Rechtslage nochmals komplizierter gestaltet werden?
Aber der Gesetzgeber kann jederzeit für Nachbesserung sorgen. (So hat er für die Hinzufügung inkriminierter Stoffe in § 1 Abs. 2 BtMG eine Verordnungsermächtigung aufgenommen, so dass ohne schwerfälligeres Gesetzgebungsverfahren der Umgang mit Salbei58 und Kräutermischungen59, irgendwann vielleicht auch mit Meerträubel [Ephedra-Kraut]60, Rauschpfeffer [Kawa-Kawa]61 oder gar Muskat als Rauschdrogen per „Eilverordnung“62 untersagt werden kann.) Vor allem aber stehen dem Gesetzgeber gerade für schwierige Fälle des Sprachgebrauchs verschiedene Formulierungstechniken zur Verfügung. – In aller abschließenden Kürze: 1. Nächstliegend erscheint es, sich der vor allem im angelsächsischen Bereich beliebten Technik der Legaldefinition zu bedienen. a) Diese Technik hat der Gesetzgeber für den Stoffbegriff in § 2 Abs. 1 BtMG verwandt:
58 Mit der 21. BtMÄndV vom 18.02.2008 wurde der Azteken-Salbei (Salvia divinorum) ebenfalls in der Liste der nicht verkehrsfähigen Betäubungsmittel in Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG aufgenommen. 59 Mit der 22. BtMÄndV vom 22.01.2009 wurden Wirkstoffe der sog. Kräutermischung „Spice“ in die Liste der verkehrsfähigen, aber nicht verschreibungsfähigen Betäubungsmittel in Anlage II zu § 1 Abs. 1 BtMG aufgenommen. 60 Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat am 11.07. 2007 bekanntgegeben, dass Ephedra der Grundstoffüberwachung unterstellt wurde. Damit ist der Handel mit dem Heilkraut rechtlich deutlich eingeschränkt worden. Im Internet wird Ephedrakraut (Ephedrae herba) auch als sog. „Smart Drug“ gehandelt. Die neue Regelung soll die Quellen für diesen Handel trockenlegen. 61 Die Zulassung für Präparate Kawa-Kawa (Piper methysticum) wurde am 14.06. 2002 und endgültig am 21.12.2007 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) widerrufen. 62 Bundesministerium für Gesundheit, Presserklärung vom 21.01.2009: „Die Regelung gilt zunächst befristet für ein Jahr, sie wird innerhalb dieses Jahres durch eine dauerhafte Regelung abgelöst.“
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„Im Sinne dieses Gesetzes ist 1. Stoff: a) chemische Elemente und chemische Verbindungen sowie deren natürlich vorkommende Gemische und Lösungen, b) Pflanzen, Algen, Pilze und Flechten sowie deren Teile und Bestandteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand, c) Tierkörper, auch lebender Tiere, sowie Körperteile, -bestandteile und Stoffwechselprodukte von Mensch und Tier in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand, d) Mikroorganismen einschließlich Viren sowie deren Bestandteile oder Stoffwechselprodukte . . .“63
Betrachten wir in dieser, 2009 weitgehend aus § 3 AMG übernommen Definition den Buchst. b, so sehen wir: Der Gesetzgeber hat sich hier mit wenigen Worten eine maßgeschneiderte Gruppe für seinen Stoffbegriff geschaffen: Algen stellen keine echte Verwandtschaftsgruppe im Sinne der biologischen Systematik dar. Flechten werden den Pilzen (Fungi) zugerechnet, unter denen sie als eigene Lebensform eine Sonderstellung einnehmen. Der Gesetzgeber kann grundsätzlich, leicht abweichend, auch wie in § 1 Abs. 2 TierSeuchenG vorgehen, wo er „Fische“ wie folgt definiert:64 „Fische in allen Entwicklungsstadien einschließlich der Eier und des Spermas, die a) ständig oder zeitweise im Süßwasser leben oder b) im Meerwasser oder Brackwasser gehalten werden; als Fische in diesem Sinne gelten auch Neunaugen (Cyclostomata), Zehnfußkrebse (Dekapoden) und Weichtiere (Molluska) . . .“
Dort hat er sich nicht nur wie bei den „Stoffen“ zunutze gemacht, dass er seinen Gegenstandsbereich selbst begrenzen darf, sondern hat zudem den Vorteil wahrgenommen, durch eine Legaldefinition einen Begriff auch über den Wortlaut hinaus ausdehnen zu können (Eier, Sperma bzw. Krebse usw.) b) Verschonen sollte der Gesetzgeber den Normadressaten allerdings mit sinnlosen Legaldefinitionen, die obendrein noch Verwirrung stiften können. Ein extremes Beispiel findet sich in Art. 2 Abs. 1 Buchst. e der VO (EG) 1774/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates65 vom 03.10.200266 mit der Definition für „Tier“: 63 Das Abschreiben des Buchst. d aus § 3 AMG (vgl. BRegE eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-DrS 16/12256, S. 59) muss ein wenig verwundern: Will der Gesetzgeber wirklich vorbauen, kommt irgendwann einmal vielleicht das Schnüffeln von Bakterien, das Inhalieren von Archaeen oder das Einreiben mit Viren zu Rauschzwecken in Mode? 64 Siehe auch § 3 Abs. 1 Satz 2 LandesfischereiG Schleswig-Holstein vom 10.02. 1996 (GVOBl. Schl.-H. 1996, S. 211): „Fische im Sinne dieses Gesetzes sind auch Neunaugen, zehnfüßige Krebse, Muscheln und Tintenfische.“
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„Wirbeltiere und wirbellose Tiere (einschließlich Fische, Reptilien und Amphibien) . . .“
Dass sich Tiere in altherkömmlicher Weise in Wirbeltiere und das informelle Taxon der Wirbellosen Tiere (Invertebrata) einteilen lassen, hilft genauso wenig weiter wie der offenbar falsch verortete Klammerzusatz hinter den Wirbellosen Tieren, der drei der fünf (es fehlen die Warmblüter Vögel und Säugetiere) in der überkommenden Systematik unbestrittenen Klassen der Wirbeltiere nennt. Erklären lässt sich diese Umschreibung nach einem Blick auf die Legaldefinition für „Tier“ in Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 98/58/EG des Rates vom 20.07.1998 über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere,67 die – nachdem Art. 1 Abs. 2 Buchst. c erklärt, dass sie nicht für wirbellose Tiere gelte! – „jedes Tier (einschließlich Fische, Reptilien und Amphibien) . . .“ nennt und so klar und einsichtig ist. Offenbar ist die 2002er Definition in der EG-VO also nur eine überhastete Übernahme aus der EGRichtlinie von 1998.68
c) Nun bergen solche Legaldefinitionen darüber hinaus auch noch Risiken in sich. Zunächst einmal können sie zu eng sein. Die Geschichte von § 2 Abs. 1 BtMG legt dafür beredtes Zeugnis ab. Darüber hinaus sind sie immer dann, wenn sie nicht mehr an der eigentlichen Wortsinngrenze haltmachen wollen, in Gefahr, des Guten zu viel zu tun Zumindest hart an der Grenze die Definition für „Tiere“ in § 7 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b BNatSchG: „Eier, auch im leeren Zustand . . .“69
Umgekehrt kann eine Definition auch so viele Herausnahmen aus dem eigentlich gängigen Wortlaut vorsehen, dass der beschriebene Begriff kaum noch in gebräuchlicher Bedeutung erhalten bleibt. Ein Beispiel hierfür liefert die vollständige Definition des Begriffs „Tier“ in der eben erwähnten der Richtlinie 98/58/EG des Rates vom 20.07.1998, wo in Art. 2 Nr. 1 schon einmal alle Wirbellosen ausgenommen wurden – immerhin etwa 95% der Spezies. Art. 1 Nr. 1 schließt weiter noch sämtliche wildlebenden Tiere aus, die folgenden Nummern der Vorschrift endlich alle auf Ausstellungen, Sportplätzen, in Zirkuszelten oder Forschungslaboren verwendeten Tiere, so dass letztlich tatsächlich prak65 „Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte“. 66 ABl. L 273 vom 10.10.2002, S. 1. 67 ABl. L 221 vom 08.08.1998, S. 23. 68 Köstlich, wenn der so produzierte Unfug („,Tier‘: Wirbeltiere und wirbellose Tiere [einschl. Fische, Reptilien und Amphibien“]) sich dann auf einmal brav (bei Quellennennung!) übernommen findet in der „Satzung über die Erhebung von Gebühren für die Leistungen des Zweckverbandes Tierkörperverwertung Unterfranken“ vom 05.04. 2005! 69 Und wohl sicher über die Grenze hinaus: „Weihnachtsmänner im Sinne dieses Gesetzes sind auch Osterhasen“ – siehe AG Rheine, Urteil vom 30.08.1993 – 5 Ds 84 Js 782/93 – BA 2000, 358 (360).
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tisch nur noch landwirtschaftliche Nutztiere (wie aber ohnehin schon aus der Überschrift bekannt) übrig bleiben. Zu deren Beschreibung trägt die Legaldefinition zudem nichts bei außer der nochmaligen Einschränkung (?), die Tiere müssten „zur Erzeugung von Nahrungsmitteln, Wolle, Häuten oder Fellen oder zu anderen landwirtschaftlichen Zwecken gezüchtet oder gehalten“ werden (wiederum Art. 2 Nr. 1).
2. Eine alternative, vielleicht vorzugswürdige Möglichkeit zur Verwendung von Legaldefinitionen, die den Sprachgebrauch klarer für den Normadressaten gestalten könnte, wäre der Gebrauch von Exemplifikationen. Exemplifikationen sind eine „Erfindung“ des fast vergessenen Adolf Wach, der vor 100 Jahren den heute noch wertvollen Beitrag über „Legislative Technik“ in der monumentalen „Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“ verfasst hatte. Wach damals:70 „Das StrGB. macht davon ein nicht sehr reichlichen, aber immerhin beachtenswerten Gebrauch . . . Wertvoll . . . ist die Verbindung ,Geschenke oder andere Vorteile‘ (§§ 331–334), ,Schlingen, Netze, Fallen oder andere Vorrichtungen‘ (§§ 293, 295), ,Schuldscheine, Wechsel, Empfangsbekenntnisse, Bürgschaftsinstrumente oder eine andere eine Verpflichtung enthaltende Urkunde‘ (§ 301), ,unter Verwendung der Ehre, auf Ehrenwort, eidliche oder unter ähnlichen Versicherungen oder Beteuerungen‘ (§§ 302, 302b), ,ein Gebäude, eine Brücke, einen Damm, eine gebaute Straße, eine Eisenbahn oder ein anderes Bauwerk‘ (§ 305 . . .) . . .“ Wir haben uns an meinem Lehrstuhl etwas intensiver mit seiner Exemplifikationstechnik beschäftigt,71 soweit sie die durch die gleichzeitige Nennung eines Oberbegriffes und einiger treffender Unterbegriffe einen Regelungsbereich umschreibt. Im Sinne einer „normativen Dialektik“, so meinen wir, könnten Ober- und Unterbegriffe sich gegenseitig stärken: Würden also die Witterungszustände „Regen, Schnee, Wind, Kälte und Nebel“ mit dem Zusatz „oder sonst schlechtes Wetter“ versehen werden, würde der Oberbegriff „schlechtes Wetter“ nicht nur dahingehend präzisiert, dass etwa unter „Wind“ nicht die laue Brise an einem Sommertag subsumiert werden darf; andererseits wäre verdeutlicht, dass z. B. „Hagelschauer“ mit umfasst sind, ohne dass man diskutieren muss, ob dies schon irgendwie unter die Begriffe „Regen“ oder „Schnee“ zu subsumieren ist. Umgekehrt würde durch die Aufzählung unmissverständlich klar, dass unter „schlechtes Wetter“ nicht etwa der milde und schneelose Winter in einem Skigebiet verstanden werden kann.
Nun wäre im Bereich reichlich vorhandener Begriffsdefinitionen dieser Vorteil der Exemplifikationen weniger auszuspielen. Dennoch: Die (Um-)Formulierung des Beginns des letzten Spiegelstrichs der Anlage 1 von 1998 zu § 1 Abs. 1 BtMG ungefähr in:
70 Wach, Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil Bd. VI, 1909, S. 41 f. 71 Scheffler, ZStW 117 (2005), 782 f.; 787 f.; ders.: Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa, 2006, S. 53 ff.; insbes. S. 73 ff.; D. Matthies, Exemplifikationen und Regelbeispiele – Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“, 2009, S. 105 ff.
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„– Hanfgewächse, Sträucher, Lianen, Kakteen, Pilze oder andere Pflanzen und Pflanzenteile . . . in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen, wenn sie als Betäubungsmittel mißbräuchlich verwendet werden sollen“
hätte zum einen dem unbedarften, jungen Normadressaten vor Augen führen können, dass es hier um genau die angeblich „ganz natürlichen, überall erlaubten“ Pflanzen geht, die ihm vielleicht im Freundeskreis angeboten werden – und zum anderen dem gewieften Normadressaten von vornherein Schranken gesetzt: „Wer . . . eine gesetzliche Regelung spitzfindig unter Ausnutzung vermeintlicher Regelungslücken zu unterlaufen versucht, darf dabei bezüglich der Erlaubtheit seines Handelns nicht auf . . . vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende rein fachwissenschaftliche Begriffsdefinitionen vertrauen.“72
Er käme dann nicht umhin, „Pilze“ unter „Pflanzen“ zu subsumieren!
72
BayObLG, Urteil vom 25.09.2002 – 4 St RR 80/02 – NStZ 2003, 270 (272).
Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz Am Beispiel der verfassungsfeindlichen Sabotage Von Bernd Schünemann I. Das Problem Ingeborg Puppe, die verehrte Jubilarin, hat nicht nur in ihren dogmatischen Arbeiten jahrzehntelang Musterbeispiele hochgradig methodenbewusster und logisch präziser juristischer Argumentationen geschaffen, sondern auch in ihrer beileibe nicht von der Inhaltsfülle, sondern nur vom Umfang her „Kleinen Schule des juristischen Denkens“ (2008) das von ihr zur Ordnung und Entscheidung so vieler Einzelprobleme benutzte rechtstheoretische Gerüst insgesamt aufund vorgeführt. Darin hat sie den üblichen juristischen Definitionen ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: Sie seien „eine Aneinanderreihung von Merkmalen, deren Bedeutung weniger klar, weniger eindeutig und weniger präzis sind als die alltagssprachliche Bedeutung des zu definierenden Begriffs:“1 „Aber“, hat sie tröstend hinzugefügt, „die Juristen können nichts dafür: Juristische Begriffe sind nun einmal nicht präzise und dürfen es auch nicht sein.“2 Diese alltagssprachliche Bedeutung bildet dann wohl auch für sie den Ausgangspunkt der Gesetzesinterpretation3 und zugleich deren äußerste Grenze, jenseits derer nur die (im Strafrecht in malam partem unzulässige) Analogie möglich ist.4 Zwischen diesen beiden Polen liegt ein strafrechtsspezifisches Problem der Gesetzesinterpretation, mit dem sich Ingeborg Puppe in ihrer allgemeinen Behandlung der juristischen Methodenlehre nicht zu befassen brauchte und das sie vermutlich wegen ihrer bemerkenswerten Geringschätzung der historischen Auslegung5 auch nicht als Sonderproblem thematisiert hat: ob die Rechtsprechung die Straftatbestände auf Konstellationen anwenden darf, die zwar noch innerhalb der „Wortlautgrenze“6 1
Kleine Schule, S. 48. Kleine Schule, S. 49. 3 Kleine Schule, S. 64 ff. unter der Überschrift „Interpretation nach dem Wortlaut“. 4 Kleine Schule, S. 93. 5 Die im Kapitel über die „klassischen Methoden der Gesetzesinterpretation“ als solche nicht einmal vorkommt, s. Kleine Schule, S. 64 ff., zur Skepsis gegenüber der „subjektiv-teleologischen Auslegung“ S. 78 f. und beispielhaft S. 91 ff. 6 Womit natürlich die äußerste Grenze des Umgangssprachgebrauchs gemeint ist, näher dazu im folgenden; auch die Jubilarin verwendet diesen eingebürgerten, stricto 2
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liegen, an die der Gesetzgeber aber mit Sicherheit nicht gedacht hat, womöglich (weil sie zu seiner Zeit noch gar nicht existierten) nicht einmal denken konnte. Auch wenn es hierbei formal nicht um die von Puppe sog. „Argumentationsformen der Rechtsfortbildung“7 geht (d.h. vor allem um Analogie und argumentum a fortiori), so doch um eine über die anschaulichen Vorstellungen des Gesetzgebers hinausgehende Pönalisierungsentscheidung der Rechtsprechung. Liegt darin womöglich per se eine verfassungswidrige Usurpierung legislatorischer Gewalt oder zumindest eine Missachtung von „nulla poena sine lege scripta“? II. Was Rechtstheorie und Grundgesetz dazu sagen 1. Obwohl das von Montesquieu entwickelte Modell der Dreiteilung der Staatsgewalten nicht nur die Staatsphilosophie, sondern auch die Staatspraxis so weitgehend geprägt hat wie kaum eine andere politische Idee, ist man sich unter Einschluss der Jubilarin8 darüber einig, dass Montesquieu sich von der dritten, der richterlichen Gewalt eine völlig falsche Vorstellung gemacht habe. Seine Auffassung, dass die richterliche Gewalt in gewisser Weise gar keine Gewalt darstelle, weil es sich bei dem Richter nur um den Mund handele, der die Worte des Gesetzes ausspreche,9 hat zwar noch die den Kodifikationen der Aufklärungszeit beigegebenen Kommentierungsverbote beherrscht und methodologisch bis in die Ära der Begriffsjurisprudenz nachgewirkt. Die in radikalster Form von der Freirechtsschule an der Begriffsjurisprudenz geübte, in der analytischen Sprachphilosophie endgültig abgesicherte und deshalb heute nicht mehr angezweifelte Kritik hat dagegen aufgedeckt, dass die generell-abstrakte Regelung der Gesetze vermöge der „open texture“ der Umgangssprache (d.h. ihrer ontologisch unaufgebbaren Vagheit, Porosität und ggf. Doppeldeutigkeit)10 notwendig einen bald größeren, bald geringeren Interpretationsspielraum aufweist, dessen Ausfüllung nach den Prinzipien der juristischen Methodenlehre nicht eindeutig ist, sondern dem Richter einen eigenen Gestaltungsspielraum belässt. Die ontologische Hermeneutik hat aus diesem Befund die Folgerung gezogen, dass zwischen richterlicher Rechtsfindung und richterlicher Rechtsschöpfung kein prinzipieller Unterschied sensu falschen Ausdruck, s. Kleine Schule, S. 64, 92 f. u. ö., notabene im vorstehenden Sinn und stellt mit Recht fest, man solle statt von „grammatischer“ besser von „semantischer“ Auslegung sprechen (ibid. S. 64), wobei die Bezeichnung als „alltagssemantische Auslegung“ noch präziser wäre (Schünemann, FS f. Klug, 1983, S. 169, 182). 7 Kleine Schule, S. 95. 8 Kleine Schule, S. 118. 9 De l’esprit des lois, 1748, XI. Buch 6. Kapitel. 10 Grdl. Waismann, Verifiability, Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Vol. 19 (1945), S. 119 ff.; aufgegriffen von H. L. A. Hart, The Concept of Law6, Oxford 1961, 1972, S. 120 ff.; zur aktuellen englischsprachigen Diskussion Bix, Law and Philosophy 10 (1991), S. 51 ff.; Margalit, in: ders. (Hrsg.), Meaning and Use, Vol. 3 (1979), S. 141 ff.
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bestehe, weil auch die richterliche Entscheidung eines Einzelfalles einen Prozess der Analogiebildung bedeute, bei dem die Norm am Sachverhalt und der Sachverhalt an der Norm entfaltet und beide zueinander in einem analogischen Prozess in Beziehung gesetzt würden; selbst das strafrechtliche Analogieverbot vermöge der sog. Wortlautgrenze, wie es einer konventionellen Interpretation des Art. 103 Abs. 2 GG entspreche, sei deshalb sprachlogisch nicht aufweisbar, und für die Richtigkeit eines im Rahmen des hermeneutischen Zirkels bzw. der hermeneutischen Spirale unternommenen Rechtsfindungsprozesses gebe es außerhalb seiner selbst keine objektiven Kriterien.11 Nach der gemäßigten und die Ergebnisse der analytischen Sprachphilosophie sorgfältiger notierenden Unterscheidung von Bedeutungskern, Bedeutungshof und Rest der Welt sowie von Objektund Metasprache existiert sehr wohl eine heteronome Grenze der richterlichen Gesetzesinterpretation sowohl in Gestalt der äußersten Grenze des Bedeutungshofes i. S. des („noch möglichen“) Umgangssprachgebrauches als auch in Gestalt der vom Richter in jedem Fall zu respektierenden umgangssprachlichen Kernbedeutungen der Gesetzestermini, womit sich der Bereich der dem Richter notwendig anvertrauten rechtsschöpferischen Rechtsfindung auf den Bedeutungshof der Gesetzestermini reduziert.12 Auch das Gerichtsverfassungsgesetz geht von einer eigenen Kompetenz der Rechtsprechung zur Rechtsschöpfung aus, indem es ausdrücklich eine Anrufung der jeweiligen Großen Senate in Zivilsachen oder Strafsachen durch einen beteiligten Senat des Bundesgerichtshofes für den Fall vorsieht, dass dessen Entscheidung bei einer Frage „von grundsätzlicher Bedeutung . . . zur Fortbildung des Rechts . . . erforderlich ist“ (§ 132 Abs. 4 GVG). An dieser Regelung ist bemerkenswert, dass sie sowohl für Zivilsenate als auch für Strafsenate gilt, so dass der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgegangen ist, dass eine „Fortbildung des Rechts“ in Strafsachen nicht anders als in Zivilsachen durch die Rechtsprechung verfassungsrechtlich zulässig ist. 2. Diese Sicht einer ontologisch notwendigen und deshalb unbestreitbaren richterlichen Kompetenz zur schöpferischen Rechtsfindung wird auch von den einschlägigen Kompetenzzuweisungen im Grundgesetz und im Gerichtsverfassungsgesetz unterstützt. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung bezeich11 Umfassend Arth. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1965; Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968; speziell zum Analogieverbot bereits Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, 1953, S. 147 f. 12 Näher Schünemann, nulla poena sine lege?, 1978, S. 18 ff.; ders., Klug-FS (Fn. 6), S. 177 ff.; ders., FS f. Arth. Kaufmann, 1993, S. 299 ff.; ders., FS f. Hassemer, 2010, S. 239 ff.; grdl. zum Kern-Hof-Ansatz Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 173 u. ö.; von Hart aufgegriffen als „core“ und „penumbra“, Harv. L. R. 1958, S. 593, 607, 610 ff.; ders., Concept (Fn. 10), S. 321 ff. Die Jubilarin (Kleine Schule, S. 64) sieht hierin eine Sprechweise von „früher“ und bevorzugt die von Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 195 benutzte Sprechweise von positiven, negativen und neutralen Kandidaten, die mir aber weniger glücklich erscheint, weil es primär um eine Beschreibung des Begriffsumfanges und nur indirekt um diejenige der Kandidaten geht.
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nenderweise nicht nur an das Gesetz, sondern an „Gesetz und Recht“ gebunden, was einem bloßen Positivismus im Sinne einer strikten Unterwerfung unter den Machtspruch des Gesetzesgebers eine Absage erteilt.13 Entsprechend ist gemäß Art. 92 GG den Richtern die „rechtsprechende Gewalt“ anvertraut, wodurch ebenfalls der Vorstellung von einem die Worte des Gesetzes nur nachsprechenden, quasi papageienhaften Automatismus eine Absage erteilt wird. 3. Die rechtsschöpferische Aufgabe des Richters bei der Auslegung des geschriebenen Gesetzes wird auch in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt, welches sich (ohne sich auf rechtstheoretische Einzelheiten festzulegen) allgemein zur sog. objektiven Auslegungstheorie bekannt hat, wonach das Ziel der Auslegung von dem auch zur Anwendung auf neuartige Fragestellungen geeigneten objektiven Sinngehalt der Norm gebildet werde und nicht vom subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers, der nur als Auslegungsmittel im Rahmen der Gesamtauslegung berücksichtigt werden könne.14 Zwar sind danach die traditionellen sog. canones der Auslegung zu berücksichtigen, also die grammatische, systematische, historische und teleologische, doch soll es zwischen diesen Auslegungsmethoden keine allgemeingültige Rangfolge geben.15 4. Die eingangs aufgeworfene Frage einer Sonderstellung der strafrechtlichen Gesetzesinterpretation in Ergänzung des in Art. 103 Abs. 2 GG mit Verfassungskraft ausgestatteten Verbots strafbegründender Analogie durch eine Restriktion der Auslegung auf die die Anschauung des historischen Gesetzgebers ursprünglich prägenden Lebenstypen des sozialschädlichen Verhaltens wird dagegen kaum diskutiert. a) Die vor nahezu einem halben Jahrhundert von Naucke aufgestellte These, aus Art. 103 Abs. 2 GG folge die „Verpflichtung, einen Straftatbestand nur in der vom Gesetzgeber wirklich (empirisch) gewollten Form anzuwenden“,16 ist selbst im Schrifttum vereinzelt geblieben und von der Rechtsprechung niemals in Erwägung gezogen worden. Paradigmatisch ist die Entscheidung BGHSt 10, 375 f., wonach die in § 3 Abs. 1 Nr. 6 des preußischen Forstdiebstahlsgesetzes von 1878 vorgesehene Qualifikation des Forstdiebstahls, wenn zu dessen Zweck ein „Fuhrwerk, ein Kahn oder ein Lasttier mitgebracht ist“, auch auf das Mitbringen eines Kraftfahrzeuges anzuwenden sei. Denn weil die erste Konstruktion eines Kfz durch Carl Benz aus dem Jahr 1885 stammt, kann in der Anschauung des
13 Vgl. dazu etwa Sachs, in: Sachs, GG5, 2009, Art. 20 Rn. 103; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts3, Bd. II, 2004 § 26 Rn. 41; Schapp, in: v. Münch/Kunig, GG5, Bd. 2, 2001, Art. 20 Rn. 43. 14 Ständige Rechtsprechung, zuletzt BVerfGE 105, 135, 157; 110, 226, 248; 116, 271, 313; Sachs, in: Sachs, GG5 (Fn. 13), Einführung Rn. 37. 15 Zahlreiche Nachweise bei Sachs, GG5 (Fn. 13), Einführung Rn. 39 ff. 16 Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 202.
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Gesetzgebers die Nutzung eines Kfz zum Forstdiebstahl schlechterdings nicht enthalten gewesen sein.17 b) Anlässlich der Mauerschützenrechtsprechung hätte auch das BVerfG zu der Frage Stellung nehmen können, ob eine Subsumtion neuer, dem Gesetzgeber nicht vorschwebender Fallgruppen unter den (umgangssprachlich dazu tauglichen) Gesetzeswortlaut zulässig ist, denn der BGH hatte in seinen ersten einschlägigen Urteilen versucht, die Strafbarkeit des letalen Schusswaffengebrauchs zur Verhinderung einer Republikflucht direkt auf eine die bisherige Staatspraxis umstürzende Auslegung des DDR-Rechts zu stützen.18 Das BVerfG ist aber durch den doppelten Kunstgriff einen anderen Weg gegangen, (nur) den Straftatbestand aus dem DDR-Recht zu entlehnen, die einschlägigen Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts wegen Verstoßes gegen überpositive Gerechtigkeitsprinzipien für unwirksam zu erklären und die Schutzwirkung von Art. 103 Abs. 2 GG auf die „besondere Vertrauensgrundlage“ zu reduzieren, „welche die von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassenen Gesetze tragen“19. Zu der Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 GG für die Auslegung von Strafrechtsvorschriften im Falle einer Veränderung des Sprachgebrauchs hat es dann aber in seinem Kammerbeschluss vom 4.9.2009 bei Beantwortung der Frage Stellung genommen, ob der Handel mit zu Rauschzwecken verwendbaren Pilzen (die biologisch seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als eigenes Lebewesen-Reich begriffen werden) unter das Tatbestandsmerkmal der „Pflanzen“ im Sinne der bis 2005 geltenden Anlage I zum Betäubungsmittelgesetz 20 subsumiert werden könne.21 Unter deutlicher Erweiterung der in BVerfGE 95, 96 bevorzugten Engführung entnahm es nunmehr Art. 103 Abs. 2 GG den doppelten Zweck, dass jedermann vorhersehen könne, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht sei, und dass sichergestellt werden solle, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheide, indem der strenge Gesetzesvorbe17 Dass das prFDG ausdrücklich den Begriff des „bespannten Fuhrwerks“ benutzte, so dass die BGH-Entscheidung die Grenze des Umgangssprachgebrauchs überschritten haben dürfte und deshalb eine unzulässige Analogie bedeutete (Schünemann, nulla poena [Fn. 12], S. 22; ders., Klug-FS [Fn. 12], S. 180), steht auf einem anderen Blatt. 18 BGHSt 39, 1, 23 ff.; 39, 168, 184 mit der Formel von den „Auslegungsmethoden, die dem DDR-Recht eigentümlich waren“. Der endgültige Übergang von der Interpretation zu einer überpositivistischen Argumentation findet sich in BGHSt 40, 241, 249 f., dessen Hinweis auf die begründungslose Antizipation in BGHSt 39, 30 ebenso wenig überzeugt wie die Charakterisierung „im Anschluss an BGHSt 39, 1 und 39, 168“ im Leitsatz. 19 BVerfGE 95, 96 ff.; scharfe Kritik zur Einschränkung des Art. 103 II GG bei Schünemann, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ Band II/2, 1999, S. 1304, 1359 ff.; zum Kunstgriff der Aufspaltung in Tatbestand und Rechtfertigung ders., in: Pawlowski/Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP Beiheft Nr. 65, 1996, S. 97, 110 f. 20 Fassung des Art. 1 der Verordnung vom 19.6.2001, BGBl. I S. 1180. 21 StraFo 2009, 526.
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halt es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehre, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen (Rn. 16). Der Normadressat müsse voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar sei, mindestens ob das Risiko einer Bestrafung bestehe; beides sei nur möglich, wenn in erster Linie der von den Adressaten verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Straftatbestandes maßgeblich sei. Es dürfe nicht zu Lasten des Bürgers gehen, wenn erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Interpretation zu dem Ergebnis der Strafbarkeit eines Verhaltens führe (Rn. 17). Wenn sich der mögliche Wortsinn des Gesetzes als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (Rn. 19) im Laufe der Zeit wandele, so folge aus der Doppelfunktion des Art. 103 Abs. 2 GG, dass die Rechtsprechung einen Sachverhalt nur dann unter eine Strafnorm subsumieren dürfe, wenn dies sowohl nach dem ursprünglichen Sprachverständnis des Gesetzgebers (Gesichtspunkt der parlamentarischen Verantwortung für die Strafdrohung, Parlamentsvorbehalt) als auch nach dem aktuellen Sprachverständnis der Normadressaten (Gesichtspunkt der Erkennbarkeit der Strafdrohung) möglich sei. Weil es genüge, dass das Risiko einer Bestrafung erkennbar sei, könne allerdings nicht jede Veränderung im tatsächlichen Sprachgebrauch sogleich die Erkennbarkeit der Strafdrohung in Frage stellen; vielmehr dürfe ein nach herkömmlichem Sprachgebrauch von einer Strafnorm erfasster Sachverhalt erst dann nicht mehr unter die Vorschrift subsumiert werden, wenn sich der „neue“ Sprachgebrauch soweit gefestigt und durchgesetzt habe, dass das Bewusstsein für das herkömmliche Verständnis nicht mehr als allgemein vorhanden vorausgesetzt werden könne; dabei sei zu berücksichtigen, dass Normadressaten, die den Sprachgebrauch des Gesetzes nicht mehr verstünden und deshalb ohne Unrechtsbewusstsein handelten, durch die Vorschrift über den Verbotsirrtum ausreichend geschützt würden (Rn. 21). c) Man könnte einen Moment versucht sein, in der Wendung von dem „Parlamentsvorbehalt“ eine sensationelle Wiedergeburt von Nauckes Position zu erblicken, aber eine genauere Analyse des Kammerbeschlusses und vor allem eine Berücksichtigung der neueren, gegenüber früher durchaus strengeren Rechtsprechung des BVerfG zum Bestimmtheitsgrundsatz ergibt dann doch ein anderes Bild: In dem „Rauschpilzbeschluss“ wird ja zur Erfüllung des „Parlamentsvorbehalts“ nur gefordert, dass die betreffende Interpretation „nach dem ursprünglichen Sprachverständnis des Gesetzgebers möglich22 ist“, nicht aber, dass der konkret zur Debatte stehende Verhaltenstyp bereits Teil der Anschauung des Gesetzgebers war. Sonst wäre auch die von derselben Kammer im Grundsatz erklärte Akzeptanz der Rechtsprechung zur „schadensgleichen Vermögensgefährdung“ als Form des Vermögensschadens bzw. -nachteils in den §§ 263, 266 StGB23 nicht verständlich, denn weder das dahinter stehende Konzept des wirt22 23
Hervorhebung vom Verf. BVerfG wistra 2009, 385 ff.
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schaftlichen Vermögensbegriffs noch die heute dazu gehörenden Verhaltenstypen lassen sich bis zur Anschauung des historischen Gesetzgebers im 19. Jahrhundert zurückverfolgen.24 5. Als von der Rechtsprechung selbst akzeptierte, unübersteigbare Barriere der richterlichen „unbegrenzten Auslegung“ wirkt also die sog. Wortlautgrenze, d. h. die maximale Extension der umgangssprachlichen Verwendung der vom Gesetzgeber benutzten Termini, im Sinne des klassischen Analogieverbots25 in Form einer sowohl den Sprachgebrauch bei Gesetzes- als auch den bei Urteilserlass umfassenden Doppelschranke. Damit steht es dem Gesetzgeber frei, durch die Wahl von Tatbestandsmerkmalen mit bald größeren, bald kleineren Bedeutungshöfen (also größerer oder geringerer Vagheit) der Rechtsprechung einen bald größeren, bald kleineren Interpretationsspielraum zu übertragen, natürlich nicht zur Ausfüllung nach Willkür, sondern mit Hilfe der anerkannten, hier nicht weiter zu behandelnden Rechtsfindungsmethoden.26 Wie steht es aber mit der Porosität der vom Gesetzgeber benutzten Ausdrücke, d. h. mit der (erstaunlichen) Fähigkeit der Umgangssprache, neu entstehende oder geschaffene Objekte mit alten Namen zu bezeichnen? Sie wird offensichtlich gesteuert über spontane Evidenzerlebnisse von Analogie- oder sogar a-fortiori-Beziehungen zwischen den schon vorher bekannten und den neuen Objekten unter der leitenden Perspektive der Begriffsmerkmale (sei es der differentiae specificae im Sinne der Definitionslehre des klassifikatorischen Begriffs, sei es im Sinne der graduell abstufbaren Züge des Typusbegriffs27). In den Kategorien der Logik und Sprachphilosophie28 verändert 24
Dazu i. E. Naucke, Lehre (Fn. 16), S. 115 ff. Warum das BVerfG ständig Wert auf die Feststellung legt, dass hier „Analogie“ nicht im technischen Sinn zu verstehen sei (StraFo 2009, 526 Tz. 19; wistra 2009, 385, 387), wird nicht recht klar; wie denn sonst? 26 Eine weitere Einschränkung des richterlichen Auslegungsspielraumes dürfte sich aus einem nachweisbar einschränkenden Wortverständnis des Gesetzgebers ableiten lassen, woraus sich m. E. (und hier weiche ich von dem Standpunkt der Jubilarin in „Kleine Schule“, S. 91 ff., ab) ein „relativer Vorrang (nicht der semantischen, sondern) der historischen Auslegung“ ergibt. Aber das kann hier nicht weiter vertieft werden. 27 Dazu Puppe, Kleine Schule, S. 38 ff.; früher bereits dies., GS für Armin Kaufmann, 1989, S. 15, 25 ff.; Kuhlen in: Herberger/Neumann/Rüßmann (Hrsg.), Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft Nr. 45, 1992, S. 101, 119 ff.; Schünemann, Kaufmann-FS (Fn. 12), S. 299 ff., 305 ff.; ders., FS f. Hirsch, 1999, S. 363 ff.; ders., FS f. Otto, 2007, S. 777, 796 f.; LK11-Schünemann, § 266 Rn. 19 ff. Der bisher umfassendste Versuch einer Typusentfaltung seit der Entschlüsselung von dessen logischer Struktur findet sich bei Duttge, Zur Bestimmung des Handlungsunwerts bei Fahrlässigkeitsdelikten, 2001. Avant la lettre bietet aber schon Roxins „Täterschaft und Tatherrschaft“ 1 (1963) ein Musterbeispiel; zu meinem eigenen typologischen Verständnis der Täterschaft als „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ s. LK12 /Schünemann, § 25 Rn. 38 ff. 28 Zur Unterscheidung von Intension und Extension grdl. Frege, Über Sinn und Bedeutung, Ztschr. f. Phil. u. phil. Kritik, NF 100 (1892), 25 ff.; vgl. ferner etwa v. Kutschera, Sprachphilosophie, 1993, S. 66 ff.; v. d. Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription, 1993, S. 133 ff. 25
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sich also nur die Extension des Begriffs, während die Intension unverändert bleibt. Am Beispiel des Forstdiebstahls mittels eines Fuhrwerks: Nach dem Zweck der Qualifikation, die Taten mit quantitativ größerer Rechtsgutsbedrohung (Diebstahl größerer Mengen) und schwererer Bekämpfbarkeit wegen höherer krimineller Energie (schnellerer Abtransport) mit strengerer Strafe zu bedrohen, bestand und besteht die Intension in der Nutzung einer von Menschenhand geschaffenen (Werk!) Vorrichtung zum beschleunigten Abtransport größerer Beutemengen; dass damit zur Extension auch Kraftfahrzeuge gehören, konnte aber vor 1885 in der Anschauung des Gesetzgebers noch nicht präsent sein. Dass diese nach ihrer Erfindung von der Rechtsprechung unter den Begriff des „Fuhrwerks“ subsumiert werden29, fällt dann in eine geradezu sachlogisch notwendige Kompetenz der Rechtsprechung, weil allein sie das sprachlich unvermeidbare Phänomen der Porosität bewältigen kann und eine Fixierung der Gesetzesanwendung auf die bei Gesetzeserlass existierende Extension geradezu zu einer Paralysierung des Rechts in der sich rasant entwickelnden postmodernen Gesellschaft und sich dadurch selbst ad absurdum führen würde.30 Natürlich hat die Rechtsprechung dabei zu prüfen, ob die neuen Objekte von dem den Gesetzgeber leitenden und weiterhin überzeugenden telos „hinter“ der Intension der Gesetzestermini gedeckt werden31, aber damit wird die Kompetenz der Rechtsprechung zur Bewältigung der Porosität nicht etwa beschränkt, sondern bestärkt. III. Die Interpretation der verfassungsfeindlichen Sabotage als experimentum crucis Es liegt auf der Hand, dass diese aus der Porosität der Umgangssprache der Rechtsprechung notwendig zuwachsende Aufgabe der „extensionalen Rechtsfortbildung“ bei Straftatbeständen, in deren Merkmalen die der Umgangssprache ebenfalls unaufhebbar anhaftende Vagheit einen erheblichen, aber vom BVerfG noch tolerierten32 Grad aufweist, besonders häufig zu erfüllen und zugleich wegen ihrer reduzierten Limitierung durch den Gesetzestext besonders prob-
29 Wobei hier notabene das besondere Problem von BGHSt 10, 375, dass das PrFDG ein „bespanntes“ Fuhrwerk verlangte, beiseite bleibt, weil es dabei nicht um die Bewältigung der Porosität, sondern um die Maßgeblichkeit einer teleologisch zu eng gezogenen Wortlautgrenze geht. 30 Man denke an den von Goethe in einer vergleichsweise idyllischen Epoche erhobenen Vorwurf „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewge Krankheit fort . . .“ (Faust I, 1972 ff.). 31 Beispielhaft Schünemann, nulla poena (Fn. 12), S. 22 Fn. 78; ders., Klug-FS (Fn. 12), S. 182. 32 Aus der neuesten Rspr. des BVerfG instruktiv die Kammerentscheidungen wistra 2009, 269; NVwZ 2009, 239; NJW 2009, 2370 = wistra 2009, 385, alle m.w. N. der früheren Rspr.; Landau, ZStW 121 (2009), 965, 973 ff. Eindringliche Warnung am Beispiel der DDR bei Schroeder, NJW 1999, 89.
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lematisch ist. Als experimentum crucis wähle ich den Straftatbestand der verfassungsfeindlichen Sabotage (§ 88 StGB). 1. § 88 StGB ist in der heutigen Fassung durch das 8. StrÄndG33 geschaffen worden, geht jedoch letztlich auf § 90 StGB in der Fassung des 1. StrÄndG34 zurück. Dieser unterschied sich von der durch das 8. StrÄndG geschaffenen Fassung des § 88 StGB im subjektiven Tatbestand vor allem dadurch, dass eine Absicht zur Beeinträchtigung des „Bestandes der Bundesrepublik Deutschland“ oder der zentralen Verfassungsgrundsätze gefordert wurde, während § 88 StGB nunmehr zusätzlich erfasst hat, dass sich der Täter absichtlich für Bestrebungen „gegen die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland einsetzt“, die wiederum in § 92 Abs. 3 Nr. 2 StGB dahin definiert worden sind, dass es um Bestrebungen gehen muss, deren Träger darauf hinarbeiten, „die äußere oder innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen“. Die unverändert gebliebene Schutzrichtung des Straftatbestandes gegen eine Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik und ihrer tragenden rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsgrundsätze, die früher in § 88 Abs. 2 StGB definiert waren und sich heute in der Formulierung nahezu und in der Sache vollständig gleichlautend in § 92 Abs. 2 StGB finden, ist heute im Unterschied zum Entstehungsjahr 1951 kriminalpolitisch weithin obsolet geworden. Denn während damals die vom sowjetrussischen Machtblock ausgehende äußere Gefahr ebenso real war wie die eines kommunistischen Umsturzes im Inneren unter Einführung einer mit den Verfassungsgrundsätzen der BRD nicht zu vereinbarenden Einparteienherrschaft, ist eine äußere Bedrohung der Bundesrepublik gegenwärtig nirgendwo in Sicht,35 während eine Beeinträchtigung der deutschen Verfassungsgrundsätze allein von der darauf keine Rücksicht nehmenden Schaffung gubernativer Machtstrukturen im Zuge der Europäisierung droht, gegenüber der jedoch aus politisch naheliegenden Gründen nicht mit strafrechtlichen Mitteln, sondern allein mit Warnungen und verbalen Vorbehalten des Bundesverfassungsgerichts reagiert wird36. 33
Vom 25.6.1968, BGBl. I S. 741. Vom 30.8.1951, BGBl. I S. 739. 35 Die Frage, ob man die halboffizielle politische Parole, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt, juristisch-dogmatisch Ernst nehmen und dementsprechend eine Sabotage des Afghanistanfeldzuges unter § 88 StGB subsumieren müsste, soll hier nicht weiter verfolgt werden. 36 Auf die denkwürdigen großen Versuche des BVerfG in der Maastricht-Entscheidung (BVerfGE 89, 155 ff.) und der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267 ff.) kann im weiteren Text aus Raumgründen nur insoweit eingegangen werden, wie es um den Begriff der inneren Sicherheit geht. Zwei Feststellungen und Hinweise zu den in der Diskussion der quasi professionellen Europarechtler angelegten Scheuklappen sind allerdings auch im vorliegenden Kontext unverzichtbar: Die Rechtsprechung des EuGH zur angeblichen Rolle des Strafrechts als angeblicher Gegenstand einer europarechtlichen Annexkompetenz (Rs. C-176/03, Slg. 2005, I-7879, und C-440/05, Slg. 2007, I-9097) verstößt eindeutig gegen den im Maastricht-Urteil zum Angelpunkt der Entscheidung gemachten „Willen der Vertragsparteien, das Prinzip der begrenzten Einzel34
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Die Angriffsrichtung auf die „innere Sicherheit“, die erst durch das 8. StrÄndG in den Straftatbestand der verfassungsfeindlichen Sabotage hineingekommen ist, ist deshalb wegen des Wandels der geopolitischen Rahmenbedingungen in den letzten 40 Jahren unversehens in das kriminalpolitische Zentrum dieser Vorschrift getreten und bildet damit den springenden Punkt ihrer „extensionalen Rechtsfortbildung“, deren Aufgabe es sein muss, die 1951 und womöglich auch noch 1968 unbekannten, aber heute zentralen Gefahren für unsere Staats- und Gesellschaftsordnung zu erfassen und vermöge der Porosität dieses Begriffs als Tatbestandskonkretisierungen quasi einzusaugen. 2. Aufgrund der Erfahrungen mit der Verwendung des Topos der „inneren Sicherheit“ in den politischen Debatten der letzten Jahrzehnte könnte man zunächst geneigt sein, die zentralen Gefahren im Terrorismus zu sehen – in den 70er Jahren und zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in Gestalt der RAF, seitdem vor allem in Gestalt islamistischer Gruppierungen. In der politischen Diskussion ist der Begriff der „inneren Sicherheit“ dementsprechend mehr und mehr auf den Schutz der Gesellschaft und des Staates vor Terrorismus und Kriminalität reduziert worden. a) Um mit der heute in der EU angesiedelten Speerspitze des Sicherheitsdenkens zu beginnen: In dem sog. Stockholmer Programm der EU37 wird unter 4.1 ermächtigung vertraglich festzuschreiben und einzelne Befugnisnormen deutlich einzugrenzen“ (BVerfGE 89, 455, 195), so dass man die vom EuGH ausgesprochene Usurpation gesetzgebender Kompetenzen im Bereich des Strafrechts durch die EG, die zu einer partiellen Verlagerung strafgesetzgebender Gewalt auf die nicht vollständig demokratisch legitimierten Organe der EG führte, mit gutem Grund in Bezug auf Deutschland als einen Akt verfassungsfeindlicher Sabotage gemäß § 88 StGB qualifizieren könnte. Die von Lüderssen und mir über Jahre hinweg unablässig eingeforderte, von den quasi professionellen Europarechtlern aber mit Vorbedacht ignorierte Forderung einer ungeschmälert demokratischen Legitimation speziell des Strafrechts (vgl. Lüderssen, GA 2003, 71 ff.; Schünemann, StV 2003, 116, 120; ders., StV 2003, 531 ff.; ders., ZRP 2003, 185 ff., 472; ders., GA 2004, 193, 200; ders., in ders. [Hrsg.], Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 93, 95 ff.; ders., FS Szwarc, 2009, S. 109 ff.) ist nunmehr in der Lissabon-Entscheidung vom BVerfG mit seiner Autorität unterstrichen worden (BVerfGE 123, 267, 359 f.). Dass diese Entscheidung nach Abschluss des Lissabon-Verhandlungsprozesses zu spät kommt und besser schon die janusköpfige Entscheidung des BVerfG zum europäischen Haftbefehl (BVerfGE 113, 273) getragen hätte, ferner dass das Schicksal der auf den demokratisch unzulänglich legitimierten und deshalb für Deutschland unwirksamen EU-Rahmenbeschlüssen beruhenden nationalen Gesetzgebung außerhalb der Perspektive des Lissabonurteils lag, tut dem Enthusiasmus über diese Entscheidung einen gewissen Abbruch, rechtfertigt aber nicht die europatümelnde Kritik, die daran von denjenigen quasi professionellen Europarechtlern geübt worden ist, die zuvor die Sonderstellung des Strafrechts unter dem Aspekt notwendiger demokratischer Legitimation nicht zu erkennen vermochten (exemplarisch etwa v. Bogdandy, NJW 2010, 1; s. ferner Classen, JZ 2009, 881; Halberstam/Möllers, German Law Journal 2009, 1241; besonders polemisch Oppermann, EuZW 2009, 473). 37 „Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“, ABl. EU 2010/C 115/01.
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als „Strategie der inneren Sicherheit“ hervorgehoben, dass organisierte Kriminalität, Terrorismus, Drogenhandel und Menschenhandel weiterhin die innere Sicherheit der EU herausfordern würden; das grenzüberschreitende ausgedehnte Verbrechen sei eine dringende Herausforderung geworden, die eine klare und umfassende Antwort verlange. Erheblich weiter wird der Begriff der (inneren) Sicherheit dagegen im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verstanden. Der in Art. 67 Abs. 1 AEUV proklamierte Raum der Sicherheit wird durch Abs. 3 dahin erläutert, dass durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten sei, zu welchem Zweck gemäß Art. 71 AEUV ein ständiger Ausschuss zur Sicherstellung der Förderung und Verstärkung der operativen Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit eingesetzt und gemäß Art. 75 Abs. 1 AEUV vorgesehen wird, dass im Rahmen der Notwendigkeit zur Erreichung dieser Ziele in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundenen Aktivitäten europäische Verordnungen für Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen erlassen werden können. Hiernach geht also das Verständnis des AEUV bezüglich des Begriffs der inneren Sicherheit über die Bedrohung durch Kriminalität einschließlich des Terrorismus zumindest insoweit hinaus, als auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darunter subsumiert werden, die nicht gemäß Art. 83 Abs. 1 Satz 2 AEUV der Strafgesetzgebungskompetenz der EU überantwortet worden sind und also den Bereich des Strafrechts überschreiten,38 ferner als auch Maßnahmen der Kapitalverkehrskontrolle ergriffen werden können. Auch wenn die vorherrschende politische und europäische Diskussion dazu tendiert, den Begriff der „inneren Sicherheit“ im Kern auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und hier wieder vor allem des Terrorismus zu konzentrieren, kann infolgedessen doch von einer klaren Begriffsverwendung keine Rede sein. b) Eine Konzentration auf terroristische Bestrebungen wäre auch viel zu eng, weil die von diesem vor 40 Jahren übrigens so gut wie unbekannten Bedrohungsszenario für die Gesellschaft ausgehenden Gefahren quantitativ gegenüber anderen Risiken nicht einmal besonders ins Gewicht fallen, sondern bei einer realistischen Betrachtung für die Allgemeinheit primär nur von symbolischer Bedeutung sind. Die Gefährdung der deutschen Bevölkerung durch den RAF-Terror lag unter 1:1 Mio., und selbst das in dieser Dimension kaum jemals wiederholbare 38 Zu dem vordergründig einschlägigen Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28.11.2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ABl. L 328 vom 6.12.2008, ist zu bemerken, dass ihm nach den Grundsätzen des Lissabon-Urteils die notwendige demokratische Legitimation fehlt, so dass er für Deutschland nicht verbindlich ist (auch wenn dies von den professionellen Europarechtlern bisher nicht bemerkt worden ist).
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Attentat „9-11“ lag mit einem statistischen Risiko von unter 1:100.000 für den Durchschnittsbürger deutlich unter den Risiken beispielsweise des Straßenverkehrs. Freilich weicht die soziale Gefahrwahrnehmung deutlich von den statistischen Größen ab, und es soll deshalb auch gar nicht in Zweifel gezogen werden, dass die Bedrohung durch den Terrorismus eine ernste und für den Straftatbestand des § 88 StGB ausreichende Gefahr für die innere Sicherheit darstellt. Nur wäre eine Beschränkung darauf verfehlt, weil die Schutzbedürfnisse der Bevölkerung nicht mit dem punktuellen Bedarf des nur auf ein einziges Zugpferd angewiesenen „Governing through crime“39 verwechselt werden dürfen. c) Umgekehrt wäre eine Einbeziehung der gesamten Kriminalität (auch bei Beschränkung auf organisierte Formen) viel zu weit, auch wenn dies dem Verständnis der „öffentlichen Sicherheit“ im Polizeirecht entspräche.40 Der gesamte Inhalt des § 88 StGB lässt keinen Zweifel daran, dass es hier um Angriffe auf die Fundamente der staatlich verfassten Gesellschaft gehen muss, nicht nur um einzelne (sei es auch organisierte) Rechtsgutsverletzungen. 3. Als nächstes könnte eine Identifizierung mit Gewaltfreiheit in Betracht gezogen werden. Im strafrechtlichen Standardschrifttum wird für die „innere Sicherheit“ der im Einklang mit Gesetz und Verfassung sich vollziehende Handel und Wandel innerhalb der Staatsgrenzen reklamiert, wobei Sicherheit als die Gewähr verstanden wird, vor gewaltsamen Einwirkungen und Beeinträchtigungen aller Art durch Menschen geschützt zu sein.41 Steinmetz42 definiert die innere Sicherheit als den Zustand relativer Ungefährdetheit von Bestand und Verfassung gegenüber gewaltsamen Aktionen innerstaatlicher Kräfte, Schroeder43 hebt auf die relative Ungefährdetheit gegenüber gewaltsamen Aktionen innerstaatlicher Kräfte ab. Hinter diesen Umschreibungen könnte der Gedanke stehen, die innere Sicherheit schlicht mit der Gewaltfreiheit der Beziehungen zwischen den Bürgern und dem Staat zu identifizieren. Vollends deutlich wird das aus den zitierten Wendungen zwar nicht, weil insbesondere unklar bleibt, ob die „Beeinträchtigungen aller Art“ nur gewaltsame oder auch sonstige umfassen sollen. Jedenfalls wäre das Verständnis der inneren Sicherheit als Gewaltfreiheit einerseits viel zu 39 Dazu Simon, Governing through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, 2007; Sack, Governing through Crime, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Sicherheit vor Freiheit? Terrorismusbekämpfung und die Sorge um den freiheitlichen Rechtsstaat, 2003, S. 59 ff.; ders., Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft. Governing through Crime als neue politische Strategie, in: Lautmann/Klimke/Sack (Hrsg.), Punitivität, 8. Beiheft KrimJ 2004, 30 ff.; Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 830 ff. 40 Siehe Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts 4, 2007 E Rn. 16 ff., insb. 17; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht7, 2009, Rn. 79 ff., insb. 81; Ipsen, Nds. Polizei- u. Ordnungsrecht4, 2010, S. 57 ff. 41 LK/Laufhütte-Kuschel, § 92 Rn. 9; ebenso NK-Paeffgen, § 92 Rn. 11. 42 MüKo, § 92 Rn. 18. 43 Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970, S. 392.
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weit und andererseits erheblich zu eng. Weil eine einzelne Gewalthandlung nicht die Fundamente des Lebens in der staatlich verfassten Gesellschaft erschüttern kann, müsste die Gewaltfreiheit als Institution verstanden, also die Unterstützung von Bestrebungen zur Wiedereinführung des Faustrechts verlangt werden, was dann aber die vom historischen Gesetzgeber gewollte Intension vollständig verfehlen und auch mit einer systematischen, die im Tatbestand beschriebenen Tathandlungen berücksichtigenden Auslegung in Widerspruch stehen würde. In dem Entwurf des 8. StrÄndG waren die Störmaßnahmen des § 88 StGB (im Entwurf als § 92 geführt) noch durch Aussperrung oder Streik exemplifiziert, also durch Maßnahmen, die selbst keinen gewaltsamen Charakter tragen, weshalb es wenig folgerichtig erschiene, dass der Tatbestand gegen die Untergrabung der Gewaltfreiheit und nur dagegen schützen sollte. Entsprechendes lässt sich auch dem schließlich verabschiedeten Text des § 88 StGB entnehmen, denn die etwa in Abs. 1 Nr. 2 ausdrücklich erfassten Störhandlungen gegen Telekommunikationsanlagen, für die im Schrifttum als Beispiel das Betreiben eines Störsenders genannt wird,44 erfassen ebenfalls Beeinträchtigungen, die nichts mit der Gewaltfreiheit der innerstaatlichen Beziehungen zu tun haben. Ferner heißt es in der Begründung des 8. StrÄndG ausdrücklich, dass zur Tatbestandserfüllung ein Substanzeingriff in Form der Zerstörung oder Beschädigung von Sachen nicht vorausgesetzt sei,45 und bei der Erläuterung der Einbeziehung der inneren Sicherheit in den Definitionskatalog (im Entwurf § 97) wird eigens hervorgehoben, dass Handlungen, die Ausdruck eines bloßen Nonkonformismus oder Nörglertums seien, nicht unter die Tatbestände fielen, da sie nicht als Angriffshandlungen gewertet werden könnten.46 Daraus geht hervor, dass bei einer nicht von Nörglertum, sondern von Verfassungsfeindlichkeit bestimmten Motivation auch bei Meinungsäußerungen und damit abseits von Gewalthandlungen eine Strafbarkeit in Betracht kommt. Dementsprechend war auch von Anfang an die Tatbestandsmäßigkeit der gewaltlosen Sabotage zwecks Erfassung der „kalten“ oder „gewaltlosen Revolution“ vom Gesetzgeber gewollt.47 Konsequenterweise ist vom BGH die Weitergabe von geheimem Informationsmaterial an die Presse nicht schon wegen der Gewaltlosigkeit der damit intendierten Konsequenzen aus dem Tatbestand des § 88 StGB ausgeschieden worden, sondern allein mit der Begründung, vom Schutzbereich dürften nicht „auch solche Handlungen . . . erfasst werden, die im wesentlichen allein darauf abzielen, das Ansehen einer Dienststelle . . . zu schmälern“.48
44
LK/Laufhütte-Kuschel, § 88 Rn. 11. BT-Dr V/898, S. 24. 46 BT-Dr V/898, S. 29. 47 BGHSt 27, 307, 310, 312 unter Hinweis auf die Beratungen im Ausschuss für Rechtswesen pp. des Deutschen Bundestages in der 1. Wahlperiode. 48 BGHSt 27, 310. 45
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Weil der Tatbestand des § 88 StGB somit vom Ansatz her nicht allein auf gewaltsame Aktionen, sondern eindeutig auch auf gewaltlose Angriffsformen ausgerichtet ist, wäre es nicht folgerichtig, den Begriff der inneren Sicherheit, die durch diese Aktionen gefährdet wird, auf Gewaltfreiheit als Institution einzuschränken. 4. Zu einer überzeugenden Lösung dringt man m. E. vor, wenn man entsprechend der allgemeinen Empfehlung unserer Jubilarin vom (umgangssprachlichen) Wortsinn ausgeht,49 wegen der anderenfalls drohenden Unbestimmtheit eine strikte Begrenzung auf eine für die gesamte staatlich verfasste Gesellschaft unentbehrliche Institution vornimmt und sich sodann bezüglich der Extension von den gegenwärtigen Bedrohungen, die für die Bevölkerung durchaus mit der Furcht vor der sowjetischen Bedrohung 1951 vergleichbar sind, den Weg weisen lässt. a) Der Begriff der Sicherheit bezeichnet nach dem üblichen sozialen Sprachgebrauch keinesfalls nur die fehlende Bedrohung durch Kriminalität (erst recht nicht nur durch Gewaltkriminalität), sondern auch andere Bedrohungen des alltäglichen Lebens. So spricht man allgemein von der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Sicherheit der Altersversorgung, namentlich der Sicherheit der Renten, und auch der Sicherheit der Spareinlagen wie überhaupt ganz allgemein des Geldes. Dieser Sprachgebrauch wird auch nicht dadurch wesentlich eingeschränkt, dass es in § 92 Abs. 3 Nr. 2 StGB um die „innere Sicherheit“ geht, denn diese grenzt die damit in Bezug genommenen Drohungen lediglich gegen die Bedrohung durch auswärtige Mächte ab, ändert aber nichts daran, dass die gesamte Spannbreite des sorgenlosen bürgerlichen Lebens innerhalb der Staatsgrenzen in Bezug genommen wird. b) Ähnlich wie bei dem Schutz vor Straf- oder Gewalttaten können aber natürlich einzelne Verunsicherungen nicht ausreichen, um die „innere Sicherheit“ als solche zu beeinträchtigen, es muss um die institutionellen Grundlagen gehen. Die Rechtsprechung ist in einem anderen Zusammenhang durch einen Rückgriff auf den Bestimmtheitsgrundsatz zu einer vergleichbaren Einschränkung gelangt, nämlich bei der Interpretation der vom Wortlaut her weitgehend identischen Bestimmung des § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GVG. Weil dieser Rechtsbegriff „für sich konturenlos und wenig aussagekräftig“ sei, bedürfe er „in besonderer Weise der wertenden Ausfüllung durch die Rechtsprechung und der einengenden Konkretisierung“, dergestalt dass „die konkrete Tat [. . .] das innere Gefüge des Gesamtstaats beeinträchtigen könne“.50 Diese strikt restriktive Interpretation wegen 49
Kleine Schule, S. 91. BGHSt 46, 238, 249 f.; bestätigt im Beschluss vom 24.11.2009, 3 StR 327/09. Weil für die Interpretation von § 120 GVG auf den Gesichtspunkt der Abgrenzung der Bundes- von der Länderkompetenz abgehoben worden ist, die für die §§ 88, 92 StGB nicht relevant ist, weil diese Delikte sowohl gemäß § 74a Abs. 1 Nr. 2 GVG bei der 50
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der drohenden „Konturenlosigkeit“ ist im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG und dessen Akzentuierung in der neueren Rechtsprechung des BVerfG51 auch für die §§ 88, 92 StGB einschlägig, und der in BGHSt 46, 230 geprägte Ausdruck des „inneren Gefüges des Gesamtstaats“ bietet auch hierfür einen interessanten Fingerzeig. Die vorstehend angesprochenen Aspekte für die Sicherheit des Lebens des Einzelnen, also die Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Renten, des Geldes etc. zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht auf die in § 92 Abs. 2 StGB näher spezifizierten einzelnen Verfassungsgrundsätze des demokratischen Rechtsstaats Bezug nehmen, sondern auf die Garantie des Sozialstaats, die sich in Art. 20 und 28 GG findet.52 Von einer Beeinträchtigung der inneren Sicherheit wird man deshalb bei der gebotenen restriktiven Interpretation im Hinblick auf diese Sicherheitsaspekte nur sprechen können, wenn es nicht um einzelne Störungen, sondern um einen Angriff auf das grundlegende Gefüge des Sozialstaats geht, der zu dessen Erschütterung geeignet ist. c) Um sich einen solchen Angriff vorzustellen, der eine allgemeine Bedrohung der ehemals unangefochtenen Sicherheit der Arbeitsplätze, der Sicherheit der Altersvorsorge (insbesondere der Renten) sowie schließlich ganz allgemein der für diese Sicherheiten die Vorbedingung bildenden Sicherheit des Geldes, also der Geldwertstabilität, mit sich bringt, bedarf es auf Grund der Entwicklung der jüngsten Zeit keiner besonderen Phantasie, sondern nur einer gelegentlichen Zeitungslektüre: Es ist offenkundig, dass die Stabilität des Euro gegenwärtig bedroht ist oder jedenfalls war, weil die Missachtung der bei Gründung der Europäischen Währungsunion bedungenen Konvergenzkriterien seitens des EU-Mitgliedstaates Griechenland den Ansatzpunkt für groß angelegte Spekulationen gegen den Euro gebildet hat, wobei CDS-Papiere für Staatsrisiken den Hauptgegenstand dieser Spekulation bildeten. Ziel dieser Spekulationen war, am Ende vermöge einer Schuldenkrise, die die Europäische Währungsunion zerbrechen und die Geld-
Staatsschutzkammer des LG als auch gemäß § 120 GVG beim Strafsenat des OLG angeklagt werden können, kann die gerichtsverfassungsrechtliche Differenzialdiagnostik, die der BGH für seine Interpretation der inneren Sicherheit in BGHSt 46, 238, 249 ff. entwickelt, logisch zwingend nicht auch für denselben Begriff im Rahmen des materiellen Strafrechts verwendet werden, wobei die Wortgleichheit vermöge des in der Rechtstheorie unstrittigen Grundsatzes der sog. Relativität der Rechtsbegriffe hieran nichts ändert. Die Quintessenz in BGHSt 46, 250 kann deshalb für die Interpretation der §§ 88, 92 StGB formal nur die Wirkung eines a fortiori-Arguments besitzen: Effekte, die das „innere Gefüge des Gesamtstaats“ beeinträchtigen können, müssen erst recht als Beeinträchtigungen der inneren Sicherheit im Sinne des materiellen Strafrechts qualifiziert werden. 51 Nachw. o. Fn. 32. 52 Hierzu näher etwa Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 13), § 28; Badura, Staatsrecht3, 2003, D Rn. 35 ff.; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG9, 2007, Art. 20 Rn. 112 ff.; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 Rn. 46 ff.
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wertstabilität in der Eurozone zerstören könnte, eine Dollarparität des Euro zu erreichen.53 Dass die Geldwertstabilität gewissermaßen den archimedischen Punkt für die Stabilität und damit für die innere Sicherheit eines nach dem Muster der Bundesrepublik Deutschland in der Verfassung verankerten und proklamierten Sozialstaates darstellt, hat das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil in eindringlichen Wendungen ausgedrückt.54 Das beruht wiederum auf den Erfahrungen, die die deutsche Bevölkerung mit einer zweimaligen Inflation gemacht hat; und in einer Epoche, in der die Alterssicherung vor allem auf der Mitgliedschaft in der 53 „Spiel mit höchstem Risiko“, Nr. 8/2010 von „Der Spiegel“; „Hedge-Fonds formieren sich gegen Europa“, FAZ vom 27.2.2010 S. 21. Nach Mitteilung in Spiegel-online vom 25.2.2010 kauften internationale Geldhäuser massenhaft Kreditversicherungen und wetteten damit auf eine mögliche Staatspleite Griechenlands, was in weiterer Konsequenz dazu zu führen drohte, dass die Europäische Währungsunion zu einer „Inflationsgemeinschaft“ würde („Der Spiegel“ Nr. 8/2010, S. 68), ähnlich wie die „modellbildende“ Spekulation von George Soros vor 20 Jahren eine Abwertung des britischen Pfundes zur Folge gehabt hatte. 54 „Die Währungsunion ist . . . als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert, die vorrangig die Preisstabilität zu gewährleisten hat (BVerfGE 89, 200). Darüber hinaus genügt die Verpflichtung der Europäischen Zentralbank auf das vorrangige Ziel der Sicherung der Preisstabilität . . . auch einer gesonderten Verfassungspflicht der Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft (BVerfGE 89, 201 unten) . . . zumal sich sonst das Grundkonzept der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft . . . nicht verwirklichen ließe (BVerfGE 89, 202). Der Unions-Vertrag regelt die Währungsunion als eine auf Dauer der Stabilität verpflichtete und insbesondere Geldwertstabilität gewährleistende Gemeinschaft (BVerfGE 89, 204). Der Vertrag setzt langfristige Vorgaben, die das Stabilitätsziel zum Maßstab der Währungsunion machen, die durch institutionelle Vorkehrungen die Verwirklichung dieses Ziels sicher zu stellen suchen und letztlich – als ultima ratio – beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen (BVerfGE 89, 204). Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen (BVerfGE 89, 205). Die im Blick auf die Europäische Union vorgenommene Ergänzung des Art. 88 GG gestattet eine Übertragung von Befugnissen der Bundesbank auf eine Europäische Zentralbank, wenn diese den ,strengen Kriterien des Maastrichter Vertrages und der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Priorität der Geldwertstabilität‘ entspricht. . . . Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers zielt also ersichtlich darauf, für die im Unions-Vertrag vorgesehene Währungsunion eine verfassungsrechtliche Grundlage zu schaffen, die Einräumung der damit verbundenen, in der dargelegten Weise unabhängig gestellten Befugnisse und Institutionen jedoch auch auf diesen Fall zu begrenzen. Diese Modifikation des Demokratieprinzips im Dienste der Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauens ist vertretbar, weil es der – in der deutschen Rechtsordnung erprobten und, auch aus wissenschaftlicher Sicht, bewährten – Besonderheit Rechnung trägt, dass eine unabhängige Zentralbank den Geldwert und damit die allgemeine ökonomische Grundlage für die staatliche Haushaltspolitik und für private Planungen und Dispositionen bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheitsrechte eher sichert als Hoheitsorgane.“ (BVerfGE 89, 208).
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Rentenversicherung beruht, genießt die Geldwertstabilität für die Fortdauer des Sozialstaats als Voraussetzung des inneren Friedens und damit für die innere Sicherheit eine herausragende Bedeutung. Neben den in § 92 Abs. 2 StGB aufgeführten, den rechtsstaatlich-demokratischen Gehalt des Grundgesetzes auszeichnenden Verfassungsgrundsätzen stellt deshalb die Sorge für die Geldwertstabilität eine zentrale Vorbedingung für die innere Sicherheit dar. Und wie im Maastricht-Urteil des BVerfG ausgeführt worden ist, hängt diese Geldwertstabilität seit der durch den Euro gestifteten Währungsunion von dessen Stabilität ab. 5. Dass die Geldwertstabilität eine Erscheinungsform der „inneren Sicherheit“ bildet und ein prinzipieller Angriff darauf den Schutzbereich des § 88 StGB berührt, ist deshalb in meinen Augen eine nach den Regeln der Methodenlehre gebotene Anpassung der Extension an den Wandel der sozialen Verhältnisse, die in die Kompetenz der Rechtsprechung fällt. Auf die weiteren Fragen zum objektiven Tatbestand des § 88 StGB kann ich im vorliegenden Rahmen nicht mehr näher eingehen. Es sprechen aber jedenfalls gewichtige Gründe dafür, dass eine konzertierte Spekulation auf den Staatsbankrott Griechenlands mit einem Absturz des Euro in dessen Folge auch unter die weiteren Tatbestandsmerkmale subsumiert werden kann. a) Die Aufzählung der Sabotageobjekte in § 88 Abs. 1 Nr. 1–4 StGB ist weitgehend mit derjenigen in §§ 316 b und 317 StGB identisch und umfasst grob gesagt die staatlichen Organisationen, die mit einem von Forsthoff geprägten Begriff „Daseinsvorsorge“55 betreiben. Der Gesetzgeber hat sich offenbar bemüht, alle diejenigen staatlichen (seien es mittlerweile auch privat abgewickelten) Leistungen zu umschreiben, auf die der Bürger angewiesen ist. Die Herkunft aus dem durch das 1. StrÄndG geschaffenen § 90 StGB a. F. erklärt hierbei die spezifische Innovation, weil der Gesetzgeber damals offenbar aus Sorge vor einem zu Umsturzzwecken angezettelten kommunistischen Streik gehandelt hat, so wie ja auch bis zum 8. StrÄndG die Tathandlungsform des Streiks ausdrücklich im Gesetz genannt worden war. Obwohl eine im Wesentlichen stabile Währung die Voraussetzung dafür ist, dass alle die im Einzelnen in § 88 StGB aufgeführten Leistungen in Anspruch genommen werden können, ist freilich die Währung nicht als solche als mögliches Tatobjekt aufgeführt worden, offenbar weil sich vor 60 Jahren niemand vorstellen konnte, dass ein Währungssystem mit Hilfe großangelegter Spekulationsgeschäfte wesentlich gestört werden könne. Infolgedessen stellt sich die Frage, ob es mit den allgemeinen Auslegungsregeln und dem speziellen strafrechtlichen Analogieverbot vereinbar wäre, die Funktionsfähigkeit des Währungssystems mittelbar unter die in § 88 StGB genannten Tatobjekte zu subsumieren. In Frage kommt hierfür zum einen das Tatbestandsmerk55 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 5 ff.; ders., Die Daseinsvorsorge und die Kommunen, 1958; ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 11 ff.; ders., Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd. 110, 1973, S. 370.
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mal der „Einrichtungen“ in § 88 Abs. 1 Nr. 4 StGB, worunter in § 316 b Abs. 1 Nr. 3 die Gesamtheit von Personen und Sachen, die einem bestimmten Zweck zu dienen bestimmt sind, verstanden wird.56 Die Wortgleichheit zwingt aber nicht zu einer identischen Auslegung, weil der Handlungskontext durchaus unterschiedlich ist: In § 316 b StGB wird die Anwendung von Gewalt gegen Sachen durch Zerstörung, Beschädigung etc. als Tathandlung verlangt, während § 88 StGB auch die „gewaltlose“ Sabotage umfasst. Angesichts des außerordentlich weiten Umgangssprachgebrauchs beim Begriff der „Einrichtung“ würden deshalb keine grundsätzlichen Hindernisse bestehen, die Währung, konkret den Euro, als eine „Einrichtung“ zu qualifizieren, die sogar nicht nur überwiegend, sondern ganz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dient, weil ohne eine funktionierende Währung das Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft überhaupt nicht mehr möglich ist.57 Diese Frage kann jedoch letztlich dahingestellt bleiben, weil es sich jedenfalls bei der Deutschen Bundesbank bzw. der Europäischen Zentralbank gemäß Art. 88 GG um „Dienststellen“ handelt, die mit der Währungssicherung und der Notenausgabe zentrale Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfüllen.58 In der Rechtsprechung ist beispielsweise anerkannt, dass es sich bei dem Bundesamt für Verfassungsschutz um eine Dienststelle in diesem Sinne handelt.59 Dies muss für Bundesbank und Europäische Zentralbank erst recht gelten. b) Als Tathandlung wird vorausgesetzt, dass durch eine „Störhandlung“ (d. h. durch ein „regelwidriges Zugreifen auf die Tatobjekte mit Schädigungstendenz“60) die betreffende Dienststelle den bestimmungsmäßigen Zwecken entzogen wird. Dass dieses Merkmal restriktiv ausgelegt werden muss, ist in der schon mehrfach zitierten Entscheidung BGHSt 27, 307 mit Recht dargelegt worden. Die in einem üblichen Rahmen bleibenden und insoweit sozialadäquaten Devisenspekulationen genügen dafür sicher nicht, denn es besteht ja gerade die Aufgabe der Zentralbanken darin, auf solche Geschäfte am Devisenmarkt zweckmäFischer, StGB57, 2010, § 316 b Rn. 4; BGHSt 31, 2. Die bei NK/Paeffgen, § 88 Rn. 4, vorgenommene Beschränkung der Angriffe auf „Sach-Objekte“ ist wegen der unterschiedlichen Schutzrichtung des § 88 StGB im Vergleich zu den §§ 316 b und 317 StGB nicht zwingend, weshalb die Prüfung in BGHSt 27, 307 ff., ob die Beeinträchtigung der Arbeit des Verfassungsschutzamtes durch Indiskretionen unter § 88 StGB subsumiert werden könne, die nach Paeffgen (a. a. O.) „merkwürdig anmutet“, ohne die Beschränkung auf Sach-Objekte durchaus konsequent erscheint. 58 Vgl. nur Sachs/Siekmann, in: Sachs GG5 (Fn. 13), Art. 88 Rn. 18, 20. 59 BGHSt 27, 307, 309, dagegen allerdings Paeffgen (Fn. 57). 60 NK5 /Paeffgen, (Fn. 57) § 88 Rn. 6. Dem Gesetzgeber kam es hierbei vor allem darauf an, die vor der Neufassung ausdrücklich im Tatbestand aufgeführten Streikmaßnahmen nunmehr (in einer politisch gänzlich veränderten Situation) vom Tatbestand auszuschließen, jedenfalls soweit es sich um Arbeitskampfmittel handelt (BT-Dr V/ 2860, S. 11; zur Frage, inwieweit das gelungen ist, siehe LK12 /Laufhütte-Kuschel, § 88 Rn. 4; NK/Paeffgen [Fn. 57] § 88 Rn. 6). 56 57
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ßig zu reagieren und die Geldwertstabilität gleichwohl zu behaupten. Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn die Geschäfte planmäßig ein solches Ausmaß annehmen und in einer derartigen Weise durchgeführt werden, dass die Leistungsfähigkeit der Bundesbank bzw. der Europäischen Zentralbank überfordert wird und entweder ein Auseinanderbrechen des Euro als Währung droht oder aber eine starke Inflation ausgelöst wird. Die gegenwärtig in der Presse beschriebenen Versuche, den „Währungscrash“ auszulösen, würden deshalb, wenn sie Erfolg haben, ohne weiteres dazu führen, dass Bundesbank und Europäische Zentralbank ihre bestimmungsmäßigen Zwecke nicht erfüllen könnten. Weil § 88 Abs. 2 StGB bereits den Versuch für strafbar erklärt, können also bereits die auf einen Währungscrash abzielenden Spekulationsgeschäfte unter die Tathandlungsbeschreibung des § 88 Abs. 1 und 2 StGB subsumiert werden. c) Damit muss ich die Erörterung des experimentum crucis aus Raumgründen abbrechen. Die nicht weniger intrikaten Probleme, die der Straftatbestand der verfassungsfeindlichen Sabotage hinsichtlich Vorsatz, Schuld (§ 17 StGB?), Beteiligung und Strafanwendungsrecht bereithält, können nicht mehr erörtert werden. Auch wenn meine bisherigen Überlegungen auf keinen Beifall stoßen sollten, dürften sie eines gezeigt haben: In der extensionalen Rechtsfortbildung durch Strafgerichte steckt mehr Sprengstoff, als unsere Schulweisheit sich bei Betrachtung eines Forstdiebstahls mittels eines Kraftfahrzeuges träumen lässt, und dessen Entschärfung eine enorme Herausforderung für das juristische Denken bildet, für dessen Erlernung sich jedoch glücklicherweise das Gesamtwerk von Ingeborg Puppe als eine „Große Schule“ anbietet.
„Subjektiv-objektive“ Tatbestandsmerkmale Von Stephan Stübinger Was mag das sein – ein „subjektiv-objektives“ Tatbestandsmerkmal? Die Anführungszeichen deuten bereits an, dass es sich hierbei um ein erläuterungsbedürftiges Wortkonstrukt handelt. Ungewöhnlich ist die Kombination „subjektivobjektiv“: zwei Worte in einer Form, die eine begriffliche Einheit andeutet. Dies scheint dem nicht nur im Strafrecht üblichen Auseinanderhalten beider Adjektive zuwider zu laufen, denn Subjektives und Objektives wird in vielfacher Hinsicht unterschieden.1 Etwas ist entweder subjektiv oder objektiv; dass es beides zugleich sein könnte, gilt meist als ausgeschlossen. In strafrechtlichen Standarddarstellungen hat sich auf der ersten Stufe des Deliktaufbaus einer vorsätzlichen Tat eine strikte Differenzierung zwischen dem objektiven Tatbestand, der die gesetzlichen Merkmale einer Straftat (i. d. R. also eine bestimmte Handlungsweise inklusive Handlungssubjekt und -objekt und ggf. ein „Erfolg“) beschreiben soll, und dem subjektiven Tatbestand, der regelmäßig den Vorsatz bzgl. der objektiven Seite meint und eventuell noch zusätzliche Absichten oder andere subjektive Unrechtsmerkmale umfasst, etabliert.2 Ingeborg Puppe, der dieser Beitrag verbunden mit herzlichen Glückwünschen und mit Dank für die freundliche Aufnahme an dem von ihr maßgeblich mitgeprägten Bonner Fachbereich gewidmet ist, hat indes darauf hingewiesen, dass sich eine scharfe Trennung zwischen subjektivem und objektivem Tatbestand „genau genommen als undurchführbar“ erweist, da u. a. einige objektive Tatbestandsmerkmale „eine subjektive Konnotation“ aufweisen.3 Ehe anhand von Beispielen gezeigt werden soll, dass das deutsche Strafrecht tatsächlich zumindest einige objektive Tatbestandsmerkmale kennt, zu deren Verständnis subjektive Momente gehören (II.), soll zuvor in einem ersten Schritt (I.) eine historische Skizze der wechselvollen Geschichte des Verhältnis1 Zu diversen Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen „objektiv“ und „subjektiv“ s. a. Schild, FS-Verdross, 1980, S. 215 ff.; Mir Puig, GdS-Arm. Kaufmann, 1989, S. 253 ff. 2 Vgl. Kühl, Strafrecht AT6, 2008, §§ 3 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT4, 2009, § 9; Rengier, Strafrecht AT, 2009, §§ 13 f.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 133 ff./ 152 ff./201 ff.; einen etwas anderen Aufbau empfiehlt dagegen weiterhin Spendel, FSKüper, 2007, S. 597 ff., für den nach dem objektiven Tatbestand zunächst das ebenfalls rein objektiv zu bestimmende „Unrecht“ als „Unwert bzw. negative Wertung des objektiven Tatbestandes“ zu prüfen ist, ehe der subjektive Tatbestand „als Gegenstand (,Objekt‘) des Unwerts bzw. der negativen Wertung“ bestimmt werden kann, der bzw. die wiederum als Schuld zu bezeichnen sei (600). 3 Puppe, FS-Otto, 2007, S. 394 mit Beispielen.
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ses zwischen objektiven und subjektiven Komponenten geliefert werden, die von der Kontingenz der Verhältnisbestimmung zwischen Subjektivem und Objektivem Zeugnis ablegt. I. Die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand Die heute übliche Systematik, die jene Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Tatbestand trifft, ist alles andere als selbstverständlich. Sie gilt bekanntlich als eine Errungenschaft des sog. „Finalismus“ im Strafrecht4 und wird als solche auch von vielen akzeptiert, die sonst eher kritisch gegenüber diesem Theorieansatz eingestellt sind. Als systematische Anweisung für den korrekten Aufbau eines Gutachtens ist die schematische Unterscheidung zwischen einer objektiven und einer subjektiven Seite der Tatbestandsmäßigkeit weitgehend anerkannt. Die Anerkennung eines subjektiven Tatbestandes erweist sich jedoch im historischen Rückblick bereits als eine Relativierung der Differenz zwischen objektiven und subjektiven Verbrechensmerkmalen. Zuvor wurde sogar versucht, eine noch striktere Grenze zwischen beiden Seiten eines Verbrechens zu ziehen. Nach dem heute sog. „klassischen“ Verbrechenssystem, das um 1900 maßgeblich von Franz v. Liszt und Ernst Beling entwickelt worden ist, sollte der Tatbestand eines Delikts bzw. das Unrecht insgesamt allein objektiv, d.h. unabhängig von allen subjektiven Merkmalen, bestimmbar sein, während alles Subjektive im Rahmen der Schuld konzentriert werden sollte, die als drittes Merkmal nach Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit rangiert. Anlass für ein derart scharfes Differenzierungsbedürfnis war die Anlehnung an die zu dieser Zeit aufkeimenden Naturwissenschaften. Nach deren Idealvorstellung sollte alles äußere Geschehen in reinster Objektivität darstellbar sein; danach konnten die Veränderungen der Außenwelt zunächst objektiv, d.h. im Sinne der Naturwissenschaft wertfrei und subjektunabhängig beschrieben werden, ehe auf die Befindlichkeiten der beteiligten Subjekte zurückzukommen sei. Aussagen über Subjektivität galten hingegen als wissenschaftlich „unrein“ und standen unter Metaphysikverdacht. Die subjektiven Momente einer Tat sollten allenfalls als Phänomen der Psyche eines Delinquenten aufgefasst werden dürfen und als solche einer einigermaßen wissenschaftlichen Beurteilung zugeführt werden. So hat etwa Ernst Beling in seinem berühmten Werk „Die Lehre vom Verbrechen“ besonders hervorgehoben, „daß der Tatbestand selber ganz objektiv und von allen subjektiven 4 Für diesen „Aufbau des Unrechtstatbestandes“ grundlegend: Welzel, Studien zum System des Strafrechts (1939), in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 120 ff., bes. 146; dazu Sticht, Sachlogik als Naturrecht?, 2000, bes. S. 297 ff.; zur Geschichte der strafrechtlichen Systementwicklung s. a. die Übersichten von Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 18 ff./34 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts5 1996, S. 201 ff./210 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Band I4 2006, § 7 Rn. 15 ff.; Ambos, ZIS 10/ 2006, S. 464 ff.; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 29 ff./61 ff. jeweils m.w. N.
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Momenten derart frei ist, daß ein ,subjektiver‘ (= psychischer) Tatbestand‘ eine contradictio in adjecto ist“.5 Er wendet sich hierbei gegen eine im 19. Jahrhundert durchaus bereits geläufige Verwendung des Ausdrucks „subjektiver Tatbestand“ als „Inbegriff derjenigen Merkmale eines Verbrechens, welche sich auf das handelnde Subject beziehen“ – im Unterschied zum „objektiven Tatbestand“ als „Inbegriff derjenigen Merkmale eines Verbrechens, welche die That an sich, d.h. ohne Rücksicht auf das Subject betreffen“.6 Teilweise wurden „dolus und culpa“ ausdrücklich als die „beiden Formen“ genannt, die „der subjective Thatbestand beim strafbaren Unrechte“ umfasse.7 Der Gebrauch dieser früheren Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand erwies sich jedoch als sehr instabil, da eine genauere Abgrenzung vielfach in Zweifel gezogen worden ist; außerdem mahnten einige an, genauer zwischen dem Tatbestand und der Zurechnung bzw. Zurechnungsfähigkeit zu unterscheiden bzw. eine solche Differenzierung herauszuarbeiten.8 5 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 178. Ähnlich M. E. Mayer, Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts2 1923, S. 8. 6 Bauer, Abhandlungen aus dem Strafrechte und Strafprocesse, Band 1, 1840, S. 231; ähnlich ders., Lehrbuch des Strafrechtes2 1833, S. 178; anders noch ders., Lehrbuch des Naturrechts, 1808, S. 94, wo er den „ T h a t b e s t a n d “ ausschließlich als „allgemeine objective Bedingung der Anwendung des Rechtsgesetzes“ bezeichnet und davon die „Subjektive Bedingung“, d.h. die Zurechnung unterscheidet. Zur Differenzierung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand s. a.: C. G. Wächter, Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Theil 1, 1825, S. 77 ff.; ders., Deutsches Strafrecht, 1881, S. 128; Abegg, System der Criminal-Rechts-Wissenschaft, 1826, S. 34 ff.; ders., Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft, 1836, S. 104; Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Band 1, 1827, S. 105 f.; Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen Criminal-Rechts2 1829, S. 64 ff.; Luden, Handbuch des teutschen gemeinen und particularen Strafrechtes, 1842, S. 228 ff.; Birnbaum, Archiv des Criminalrechts N.F. 1845, S. 493 ff., bes. 522 ff.; Häberlin, Grundsätze des Criminalrechts nach den neuen deutschen Strafgesetzbüchern, Band 1, 1845, S. 31 f.; Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts14, 1847, S. 150 ff. inklusive der „Noten“ von Mittermaier als Herausgeber dieser Auflage; Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen3, 1856, S. 62 f.; Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechtes6, 1857, S. 56; Geib, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Band 2, 1862, S. 195 ff.; Meyer, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1875, S. 140; Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 503; Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechtes18, 1898, S. 70. 7 Freilich in kritischer Absicht Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, 1867, S. 38. 8 Vgl. Stübel, Ueber den Thatbestand der Verbrechen, 1805, S. 2 ff.; der aber eine Einteilung in den „realen und personalen“ Tatbestand befürwortet (7 ff./23 f.); Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft, Band 12, 1822, S. 69; Roßhirt, Entwickelung der Grundsätze des Strafrechts nach den Quellen des gemeinen deutschen Rechts, 1828, S. 179 ff./282 ff./300 ff.; Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Band 2, 1840, S. 63 f. m. Fn. 2/S. 74 ff.; Temme, Lehrbuch des Preußischen Strafrechts, 1853, S. 148; siehe aber auch ders., Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, 1876, S. 61; Bekker, Theorie des heutigen Deutschen Strafrechts, Band 1, 1859, S. 233, der jedoch eine Unterscheidung zwischen „,äussern‘ und ,innern
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Als problematisch musste schon damals die exakte Platzierung des Vorsatzes im Verbrechenssystem empfunden werden, wenn in dieser Weise zwischen Tatbestand und Zurechnung unterschieden werden sollte. Dies wird z. B. in Feuerbachs Lehrbuchdarstellung deutlich: er behandelt zunächst die Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit im Abschnitt „Von der Natur des Verbrechens“ als Problem ihrer „Verschiedenheit nach dem intellectuellen Grund der Uebertretung“ (a. a. O. (Fn. 6), S. 45/99 ff.); insoweit behandelt er die allgemeine begriffliche Bestimmung dessen, was unter dolus und culpa zu verstehen ist. In einem späteren Kapitel geht es ihm dann um die Rolle, die diese beiden Formen des Verbrechens spielen, d.h. um die „ G r ü n d e d e r a b s o l u t e n S t r a f b a r k e i t “ , die er grundsätzlich „ t h e i l s o b j e c t i v , t h e i l s s u b j e c t i v “ fassen möchte (S. 149). Zu den objektiven Begründungsmomenten zählt dabei die Behandlung des Begriffs vom „Thatbestand des Verbrechens“ (S. 150), der demnach prinzipiell allein die objektiven Gründe zusammenfassen soll. Allerdings will er durchaus einige Tatbestände anerkennen, zu denen notwendig „gewisse s u b j e c t i v e . . . G r ü n d e der rechtswidrigen Handlung, entweder a. eine g e w i s s e A b s i c h t , oder b. eine gewisse A r t d e r W i l l e n s b e s t i m m u n g “ schon begrifflich zählen; z. T. „gehört auch der Dolus zum Thatbestand des Verbrechens“ (S. 152), d.h. trotz der prinzipiell objektiven Begründung der Tatbestandsebene will Feuerbach bei zahlreichen Delikten auch schon auf dieser systematischen Stufe subjektive Momente anerkennen.9 Als eigentliche „Subjective Gründe der absoluten Strafbarkeit“ behandelt er hingegen die „Zurechnung (Imputation)“, die „die Schuld (das Verschulden) als allgemeinen Grund der Strafbarkeit“ bestimme. Für eine genauere Einteilung dieses Begriffs tauchen dann nochmals „Dolus und Culpa“ als eine näher „bestimmte Art des Verschuldens“ auf (S. 153 f./159). Feuerbachs Einteilungsversuch klang für einige seiner Zeitgenossen allzu verwirrend. Insbesondere Birnbaum hat sie als „die allerunklarste unter den Begriffsbestimmungen des Thatbestandes“ bezeichnet; er wirft Feuerbach sogar einen groben „Verstoß gegen alle gesunde Logik“ vor, der just darin bestehe, dass er „erst Subjectives und Objectives . . . unterscheidet und dann zu dem Objectiven, an das der Begriff von Thatbestand geknüpft wird, wieder Subjectives und Objectives zählt“.10 Dass eine Unterscheidung auf einer Seite des Unterschiedenen als Differenz eingeführt werden kann, galt offenbar als logische Unmöglichkeit. Das Problem einer angemessenen Differenzierung musste zumindest solange bleiben wie der Ausdruck Tatbestand lediglich als ein diffenzierungsfähiges KorThatbestand‘ “ vornimmt (S. 236 ff.), wobei für ihn der „innere Thatbestand“ der „geistige Keim des Verbrechens“ darstellt (S. 240 – ähnlich S. 243); Schaper, in: Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. v. Holtzendorff, Band 2, 1871, S. 110. 9 Insofern ähnlich Stübel, Thatbestand (Fn. 8), S. 24; Roßhirt, Entwickelung (Fn. 8), S. 301 ff. 10 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts N.F. 1845, S. 495/499 f.
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relat zum gesamten Begriff des Verbrechens aufgefasst worden ist, wobei sich beide inhaltlich deckten: mit dem Wort Verbrechen konnte die synthetische Einheit symbolisiert werden, während Tatbestand durchaus wörtlich genommen die analysierbaren Teile meint, aus denen eine strafbare Tat bestand. Dabei wurde am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem „Kunstnamen des T h a t b e s t a n d e s “ 11 zunächst lediglich eine Übersetzung des lateinischen „Kunstausdrucks corpus delicti“12 in die strafrechtliche Literatur eingeführt. Erst allmählich ist dieser Begriff immer mehr von seiner ursprünglich prozessualen Bedeutung, in der er in den Lehrbüchern der zweiten Hälfte des 18. und z. T. noch am Beginn des 19. Jahrhunderts Verwendung findet13 und für die bereits eine Unterscheidung zwischen einem „subjektiven“ und „objektiven“ corpus delicti vorgeschlagen worden ist,14 ins materielle Strafrecht übernommen worden.15 Allerdings hat gerade diese Zwitterstellung zwischen prozessualer und strafrechtlicher Bedeutung des Wortes Tatbestand für reichlich „Begriffsverwirrungen“ gesorgt.16 Die zuvor vereinzelt gebrauchte wortgetreuere Wendung vom „Körper des Verbrechens“17 konnte sich zwar nicht durchsetzen, mag aber immerhin zu dem Wortspiel angeregt haben, neben dem „Leib“ auch nach der „Seele“ eines Verbrechens zu suchen, worunter dann die subjektiven Momente verstanden werden konnten.18 We11
Martin, Lehrbuch (Fn. 6), S. 62. Biener, Beiträge zu der Geschichte des Inquisitionsprozesses und der Geschworenengerichte, 1827, S. 94 Fn. 38. 13 Vgl. Engelhard, Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechtes, 1756, S. 585; Westphal, Das Criminalrecht, 1785, S. 676 ff.; Koch, Anfangsgründe des peinlichen Rechts, 1790, S. 486 ff.; Steltzer, Lehrbuch des teutschen Criminalrechts, 1793, S. 69 ff.; v. Quistorp, Grundsätze des deutschen Peinlichen Rechts, Theil 25, 1794, S. 105 ff.; Mittermaier, Handbuch des Peinlichen Processes, Band 1, 1810, S. 464 ff.; Salchow, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts3 1823, S. 546 ff. (siehe aber auch S. 50); Grolman, Grundsätze der Criminalrechts-Wissenschaft4, 1825, S. 510 f.; Jenull, Das Österreichische Criminal-Recht nach seinen Gründen und seinem Geiste, Theil 32, 1837, S. 44 ff.; Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, Theil 4, 1838, S. 820 ff.; s. a. Tittmann, Handbuch (Fn. 8) Band 32,1824, S. 276 ff. 14 Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts III (1800), S. 38 ff.; s. a. v. Almendingen, in: Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde I/3 (1799), S. 69 f.; kritisch zu Kleinschrods Einteilung: Mittermaier, Handbuch (Fn. 13), S. 475 ff. 15 So wohl als erster Klein, Grundsätze des gemeinen Deutschen und Preussischen Peinlichen Rechts, 1796, S. 54; zur Geschichte dieses Begriffs und dessen Wandlungen bei der Übernahme vom formellen in das materielle Strafrecht: Luden, Abhandlungen (Fn. 8), 5 ff. mit Hinweis auf Klein auf S. 40 Fn. 1; s. a. Roßhirt, Entwickelung (Fn. 8), S. 284 ff.; Geib, Lehrbuch (Fn. 6), S. 193 ff.; Schütze, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts auf Grund des Reichsstrafgesetzbuches2, 1874, S. 85 ff. jeweils m.w. N. 16 Dazu ausführlich Birnbaum, Archiv des Criminalrechts N.F. 1845, S. 493 ff. (505). 17 Vgl. das anonym erschienene Buch: Das peinliche Recht nach den neuesten Grundsätzen vollständig abgehandelt, Theil 2, 1783, S. 111 ff. 18 Berner, Lehrbuch (Fn. 6), S. 70; ders., Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, 1843, S. 43 f.; s. a. die Anspielungen bei Wächter, Lehrbuch (Fn. 6), S. 79 und Bekker, Strafrecht (Fn. 8), S. 240 ff. 12
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gen der anhaltenden Vagheit dieser Begriffsverwendung wurde noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts teilweise für die Abschaffung dieses Begriffs plädiert.19 Das klassische Verbrechenssystem hatte folglich an der Wende zum 20. Jahrhundert die ältere Bedeutung der Rede von einem „subjektiven Tatbestand“ getilgt und dadurch immerhin für Klarheit bzgl. der Verwendung des Wortes Tatbestand gesorgt, indem es eine Ausdifferenzierung dreier allgemeiner Verbrechensmerkmale (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) vollzog. Tatbestand sollte nun nicht mehr für das Verbrechen als solches (Zurechnung/Zurechnungsfähigkeit inklusive oder exklusive) stehen, sondern nur noch als „Verbrechenstypus“20, der von allen subjektiven Momenten gereinigt sein sollte. Die vermeintliche Objektivität der Tat wurde von der Subjektivität des Täters abgegrenzt und als zwei Ebenen – Unrecht und Schuld – im Deliktsaufbau geschieden. Zudem verändert sich das Verständnis des Subjektiven im Verlauf des 19. Jahrhundert: Zum einen geht es um eine veränderte Behandlung des Willens. Während die klassische Imputationslehre vom Begriff des freien Willens eines vernunftbegabten Wesens ausging, wird der Wille zunehmend nur noch als bloße „Willkühr“21 eines eigensüchtigen und triebgesteuerten Menschen verstanden. Nicht mehr primär die moralische, sondern die psychologische oder gar physiologische Qualität des menschlichen Begehrungsvermögens steht fortan im Zentrum des Interesses.22 Insgesamt wird die Philosophie aus ihrer Rolle als traditionelle Hauptquelle des Wissenschaftsverständnisses des Strafrechts von anderen vornehmlich natur-wissenschaftlichen Disziplinen verdrängt.23 Der veränderte Blick auf den menschlichen Willen hat zum andern Auswirkungen auf die Zurechnungslehre, die sich nicht mehr wie zuvor nur philosophisch, sondern auch (natur-)wissenschaftlich informiert. So wird die Frage der Zurechnung mehr und mehr zum Thema medizinischer und psychologischer Abhandlungen, die sich mit den Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit, d.h. den möglichen Ursachen für den Ausschluss der Zurechnung beschäftigen.24 Der Begriff der Zurechnung umspannt 19
So vor allem Schütze, Lehrbuch (Fn. 15), S. 86 f. Beling, Lehre (Fn. 5), bes. 110 ff. 21 Martin, Lehrbuch (Fn. 6), S. 69. 22 Vgl. z. B. Steltzer, Ueber den Willen, 1817, passim; Warnkönig, Rechtsphilosophie als Naturlehre des Rechts, 1839, S. 175 ff.; Knapp, System der Rechtsphilosophie, 1857, S. 68 ff.; Börner, Die Willensfreiheit, Zurechnung und Strafe in ihren Grundlehren, 1857, bes. S. 28 ff.; s. a. die Gleichsetzung von „Wollen und Begehren“ bei v. Kirchmann, Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral2, 1873, S. 6 (ff.). 23 Zu diesem Bedeutungsverlust der Philosophie: Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte, 2000, bes. S. 161 ff. 24 Siehe z. B. Steltzer, Ueber den Willen (Fn. 22), bes. S. 171 ff.; Friedreich, System der gerichtlichen Psychologie2 1842, S. 192 ff.; Ruf, Psychische Zustände, 1852, S. 7 ff./20 ff.; Volkmann, Grundriss der Psychologie, 1856, S. 397 ff.; Ebers, Die Zurechnung, 1860, S. 1 ff.; s. a. die Hinweise bei Mittermaier, Neues Archiv des Criminalrechts IV (1820), S. 413 ff.; sowie den Überblick von Wahlberg, Magazin für Rechtsund Staats-Wissenschaft XV (1857), S. 7 ff./105 ff./281 ff./448 ff. 20
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folglich nicht mehr die objektiven und subjektiven Momente von Taten und deren Verhältnis zu den übertretenen Gesetzen, sondern betrifft fast nur noch innere Zustandsbeschreibungen des Täters. Hierzu passt dann die Umdeutung des Schuldbegriffs zu dem Gattungsausdruck für Vorsatz und Fahrlässigkeit als (psychologische) Schuldformen, die als solche nicht mehr mit der Bewertung einer unrechtmäßigen Willensbestimmung bzw. des Freiheitsmissbrauchs einer Person, d.h. mit einem Unwerturteil verwechselt werden sollte. Die skizzierten Wandlungen hat die naturwissenschaftlich inspirierte Strafrechtswissenschaft am Ende des 19. Jahrhundert aufgenommen und in ihren „klassischen“ Verbrechensbegriff umgeformt. In kritischer Abgrenzung zum strafrechtlichen Hegelianismus, dessen Vertreter immerhin noch für eine vermittelte Einheit des Subjektiven und Objektiven im Begriff der strafbaren Handlung eingetreten sind,25 wurde die Trennung einer rein objektiven Unrechtsseite und der subjektiven Schuldebene vorgenommen, d.h. das vermeintlich wertfrei und wissenschaftlich ermittelbare Äußere eines Geschehensablaufs von der Innenseite der Täterpsyche geschieden, wobei die psychologische Deutung der Zurechnung als Zuschreibung von Zurechnungsfähigkeit affirmativ übernommen wurde und in den in dieser Zeit vorherrschenden „psychologischen Schuldbegriff“ eingegangen ist. Insbesondere der Begriff der Kausalität, der als besonders geeignet für eine rein wissenschaftliche Erklärung objektiver Begebenheiten angesehen wird, da er die Notwendigkeit eines Geschehens unabhängig von subjektiven Freiheitsvorstellungen zu erlauben scheint, tritt insoweit in den Mittelpunkt der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens. Es sollte nun deutlicher zwischen der „Ursache (objectiv) und Verantwortlichkeit für die Ursache (subjectiv)“ unterschieden werden, denn der „Causalzusammenhang“, den man „nicht juristisch oder moralisch untersuchen“ könne, sei „lediglich bedingt . . . durch das Ineinandergreifen von Thatsachen“, während „in Betreff der Verantwortlichkeit für denselben lediglich die Willenbeschaffenheit entscheidet“.26 Der Gehalt dessen, was dann noch Zurechnung heißen sollte, reduziert sich schließlich auf die bloße „Erklärung, daß die Handlung eines Zurechnungsfähigen auf dessen Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruhe“. Die auf die Tätersubjektivität bezogene Zurechnungsfrage soll folglich unabhängig von der Feststellung des objektiven Unrechts behandelt werden, das dann nicht mehr zugerechnet, d.h. einem Urteil unterliegen soll, sondern – wie jedes reale Geschehen in der Welt – schlicht erkannt bzw. als Ereignis erklärt werden könne. Zurechnung sei nur auf die Schuld zu beschränken, die 25 Vgl. vor allem die Systematisierung bei Berner, Die Lehre von der Theilnahme am Verbrechen, 1847, S. 165; ders., Lehrbuch (Fn. 6), S. 68 ff. 26 v. Buri, Ueber Causalität und deren Verantwortung, 1873, S. 5/2/13; s. a. ders., Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafgesetzbuche, 1894, S. 70 ff. Vgl. dazu die kritische Darstellung bei v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Band II, 1907, S. 164 ff., sowie ders., Die Lehre vom Causalzusammenhange im Rechte, besonders im Strafrechte, 1871, der demgegenüber einen „Begriff der Ursache im rechtlichen Sinne“ formulieren wollte (S. 4/11 u. ö.).
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freilich als „rechtliche Schuld . . . mit der ethischen oder religiösen Schuld nichts als – leider! – den Namen gemein“ haben könne.27 Die Abwendung von dem früheren Verständnis über den Zusammenhang zwischen Wille und Zurechnung wird zudem noch durch das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkende Aufkommen des Rechtsgutsgedankens unterstützt,28 der die Vorstellung begünstigt, Unrecht lasse sich allein durch rein objektive Beschreibungen angemessen erfassen;29 schließlich gehe es um Beeinträchtigungen von rechtlich geschützten Gütern durch menschliches Tun oder Unterlassen. Beide Formen menschlichen Verhaltens seien gerade in ihren realen Auswirkungen für die objektive Rechtsgutssphäre stets als äußere Begebenheit durch Rekonstruktion empirischer Wahrnehmung darstellbar. Ein Verbrechen wird dann nicht mehr primär als Realisierung eines zuvor entsprechend gefassten Willens gesehen, sondern als eine externe Angelegenheit. Die Beziehungsweisen zwischen Handlung und Erfolg werden auf diese Weise als eine objektiv beschreibbare Mittel-Zweck-Relation gedeutet.30 Sowohl die schädigenden Akte als auch die am Rechtsgut eintretenden Einbußen können demnach einer objektiven Darstellung als Realgeschehen zugänglich werden, wobei dieser Blick auf das schädigende Ereignis an sich nicht durch subjektive Momente getrübt werden soll. Nur die psychologischen Schuldelemente müssten noch im eigentlichen Sinne zugerechnet werden, wobei eine solche Zurechnung als Deutung von der auf das Unrecht bezogenen objektiven Erkenntnismöglichkeit unterschieden werden soll. II. Subjektiv-objektive Tatbestandsmerkmale Diese extrem objektivistische Sicht des „klassischen“ Verbrechensbegriffs hat sich in ihrer ursprünglich vorgestellten Reinform freilich nicht allzu lange halten können. Sie ist alsbald in beinahe jeder Hinsicht wieder relativiert worden ist. So wurde schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine „neoklassische“ Systemvariante formuliert, die sich vor allem durch die Anerkennung subjektiver Unrechtsmomente und durch die Normativierung des Schuldbegriffs auszeichnet;31 schließlich sind beide wiederum durch die „finalistische“ Verbrechenslehre 27
v. Liszt, Das Deutsche Reichsstrafrecht, 1881, S. 108/105. Zur Entstehung der Rechtsgutslehre im 19. Jahrhundert und zu deren Durchsetzung im Zeitalter des Rechtspositivismus und Naturalismus vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 38 ff./52 ff.; s. a. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Band 1, 1925, S. 10 ff.; Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 19 ff./39 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 15 ff. jeweils m.w. N. 29 Vgl. hierzu schon Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band 14, 1922, S. 339 f.; kritisch zu Bindings Rechtsgutstheorie: Keßler, Der Gerichtssaal 39 (1887), 104 ff. 30 Siehe dazu schon in einer kritisch ergänzenden Hinsicht Welzel, Abhandlungen (Fn. 4), S. 227 ff. 28
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und inzwischen sogar „postfinalistsiche“32 oder „funktionale“ Systementwürfe abgelöst worden,33 durch die wieder zunehmend subjektive bzw. personale Momente an verschiedenen Stellen des Deliktsaufbaus aufgenommen worden sind. Selbst die Vertreibung einer als Zurechnung zu bezeichnenden Komponente aus der Ebene des Tatbestandes ist durch die Lehre von der objektiven Zurechnung inzwischen wieder revidiert worden,34 wobei selbst die objektive Zurechnung eine „subjektive Seite“ aufweist.35 Dennoch scheint zumindest die Grundintuition des „klassischen“ Verbrechenssystems von der Existenz prinzipiell rein objektiv bestimmbarer Tatbestandsmerkmale als solche durchaus erhalten geblieben zu sein.36 Auf dieser Abstraktionsleistung beruht unser gegenwärtiges Verständnis von objektiven Tatbestandsmerkmalen, soweit damit Handlungen gemeint sind, die in einem Ursachenzusammenhang mit einem tatbestandlichen „Erfolg“ verbunden werden. Das in einem gesetzlichen Straftatbestand umschriebene Verhalten wird dabei zwar grundsätzlich als eine auf menschlichem Willen basierende Tätigkeit verstanden, um es z. B. von bloßen Reflexen oder tierischen Verhaltensweisen unterscheiden zu können, das Willensmoment ist insoweit allerdings noch formal und inhaltlos zu denken, so dass es für die Beschreibung einer solchen Handlung zunächst nicht auf subjektive Momente ankommen mag. Für die Feststellung der Erfüllung des objektiven Tatbestandes lässt sich jedenfalls davon abstrahieren, solange die äußere Handlungsweise gleichsam wie ein Instrument zur Schädigung eines Rechtsguts begriffen werden kann: der Handelnde setzt seinen Körper als Mittel zur Rechtsgutsverletzung ein und dieser instrumentelle Einsatz kann noch unabhängig vom Willen des Handelnden beschrieben werden. Die Frage der subjektiven Beziehung des Täters zu seiner Tat soll dann zunächst zurückgestellt werden, da sich die intellektuelle und voluntative Erfassung des Geschehens bzgl. der eigenen physischen Beteiligung nicht von derjenigen der anderen objektiven Tatbestandsmerkmale zu unterscheiden scheint. Das Verhalten kann als eine Art Tatwerkzeug angesehen werden, das wie andere Tatmittel auch beschrieben werden kann. Das konkrete Wissen und Wollen des Täters wird quasi gegenüber seiner Tat auf Distanz gehalten. Eine solche Deutungsmöglichkeit ist freilich an 31
Vgl. etwa Safferling, Vorsatz (Fn. 4), S. 41 ff./49 ff. m.w. N. So bezeichnet u. a. Tonio Walter seinen Systementwurf: Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 1 u. ö.; kritisch dazu Kuhlen, ZStW 120 (2008), S. 140 ff., bes. 148. Allgemeiner – als Sammelbezeichnung für alle Ansätze nach Welzel – verwendet diesen Begriff auch Safferling, Vorsatz (Fn. 4), S. 81 ff. 33 Vgl. dazu Schünemann, in: Grundfragen (Fn. 4), S. 45 ff. 34 Hierzu etwa Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, 2004, S. 46 ff.; Kahlo, FS-Küper, 2007, S. 257 ff. 35 So lautet die Diagnose von Arzt, GdS-Schlüchter, 2002, S. 163 ff.; s. a. Burkhardt, in: Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, hrsg. v. Wolter/Freund, 1996, S. 99 ff., bes. 103 f./132 f.; Greco ZStW 117 (2005), S. 519 ff. 36 Insofern ähnlich Schmidhäuser, FG-Schultz, 1977, S. 61 ff., bes. 67. 32
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die Vorstellung gebunden, dass es sich auf dieser Beschreibungsebene lediglich um eine körperliche Beeinträchtigung eines materiellen Gutes handelt, so dass es sich insoweit gleichsam um eine rein physische Angelegenheit handelt. Die Handlung wird so zu Analysezwecken auf die äußere Körperbewegung reduziert und deren reale Auswirkung innerhalb der Welt der Rechtsgüter beobachtet. Paradebeispiel hierfür ist die Tötung eines Menschen gem. § 212 StGB: Um feststellen zu können, ob jemand getötet worden ist, genügt zunächst der bloße Befund, dass der Tod in Folge eines menschlichen Tuns eingetreten ist (von eventuell auftretenden Problemen der objektiven Zurechenbarkeit einmal abgesehen). Mehr Information bedarf es diesbezüglich in den meisten Fällen nicht, insoweit sowohl die Tötungshandlung als auch das geschädigte Leben nur als äußere Begebenheiten betrachtet werden: die Auslöschung einer physischen Existenz einer Person durch die physische Einwirkung einer anderen. Die eigentlich rechtliche Dimension des Ereignisses, dass es nicht nur um die Schädigung bzw. Zerstörung eines Gutes, sondern auch um eine Rechtsverletzung geht, ist hierbei freilich noch nicht tangiert. Die Frage, ob der Täter diesen „Erfolg“ wollte oder nicht, lässt sich jedenfalls vorübergehend ausblenden bzw. auf eine systematisch spätere Stelle verschieben. Eine solche Möglichkeit, ein Handeln als objektives, d.h. zunächst noch subjekt-frei beschreibbares Geschehen zu denken, ließe sich für eine Vielzahl von gesetzlichen Tatbeständen aufzeigen, in denen die Ausführung der Handlung von der Frage nach dem bewussten und gewollten Bewirken des Erfolges isoliert werden kann. Der Vorsatz bezieht sich dann einerseits auf die Handlung, andererseits auf den Erfolg; beide Seiten lassen sich aber getrennt von einander im Wissen und Wollen des Handelnden unterscheiden. Gleichwohl lassen sich doch auch einige Beispiele nennen, für die eine derartige Isolierung rein objektiver Handlungsmerkmale nicht zu funktionieren scheint, bei denen schon die Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung subjektive Momente enthalten muss, da andernfalls die rechtsrelevante Bedeutung nicht verständlich gemacht werden könnte. Dies scheint immer dann der Fall zu sein, wenn aus dem Gesetz hervorgeht, dass nicht nur gewisse Schäden, sondern bestimmte Verhaltensweisen als solche unterbunden werden sollen, deren Handlungssinn unmittelbarer auf das Recht bezogen werden müssen, insofern nämlich die rechtliche Beeinträchtigung nicht erst als objektive Folge des Verhaltens auftritt, sondern schon mit der subjektiven Vorstellung des Täters verknüpft werden muss. Dann wird die Intention, d.h. die subjektiv gesetzte Zielrichtung des Handelnden bereits vom Begriff des objektiven Tatbestandsmerkmals mit erfasst, ohne dass hierdurch jede Differenzierungsmöglichkeit wegfiele. Dabei soll es im Folgenden bei der Nennung einiger Beispielsfälle37 aus dem Besonderen 37 Weitere Beispiele derartiger Tatbestandsmerkmale, die er als „final gefasste Verben“ bzw. „finale Tätigkeitsworte“ bezeichnet, nennt u. a. Roxin AT I (Fn. 4), § 10 Rn. 65, wobei nicht alle der dort genannten Merkmale im hier gemeinten Sinne „subjektiv-objektiv“ sind, sondern einen durchaus weiter gefassten Zweckbezug aufweisen.
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Teil nicht um dogmatische Konsequenzen, sondern „nur“ um die Begriffsbestimmung der jeweils vorgestellten Tatbestandsmerkmale gehen. Eine solche „Arbeit am Begriff“ ist allenfalls sekundär ergebnisorientiert. 1. Zueignen Als Hauptbeispiel kann der Begriff der Zueignung i. S. v. § 246 StGB angeführt werden, der bisweilen explizit als eine „objektiv-subjektive Sinneinheit“ bezeichnet wird.38 Zwar wird zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich bei der Zueignung gem. § 246 StGB – im Unterschied zum Erfordernis einer bloßen Zueignungsabsicht i. S. v. § 242 – um ein objektives Tatbestandsmerkmal handelt,39 so dass noch einmal klargestellt wird, dass ein bloß „interner Zueignungs-Akt“ selbstverständlich nicht ausreichen kann; das „Innere“ muss stets geäußert, d.h. in die Tat umgesetzt werden, was nach außen hin ausreichend deutlich werden muss.40 Dennoch handelt es sich um „einen stark subjektiv geprägten Begriff“.41 Dieses Tatbestandsmerkmal hat daher – jedenfalls nach h. M.42 – als Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT/232, 2009 Rn. 280; Sonnen, Strafrecht BT, 2005, S. 119; s. a. entsprechende Hindeutungen bei Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 6), S. 518; Merkel, in: Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. von v. Holtzendorff, Band 3, 1874, S. 699 f.; Schmidt, Grundriss des Deutschen Strafrechts, 1925, S. 204; Bockelmann JZ 1960, S. 622. 39 Basak, in: Institut für Kriminalwissenschaften . . . (Hrsg.), Irrwege der Strafgesetzgebung, 1999, S. 179; ders., GA 2003, S. 110; Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (= SK), 7./8.Aufl. – Stand: 120. Lieferung 2009, § 246 Rn. 11; Hohmann, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch (= MK), Band 3, 2003, § 246 Rn. 16; anders ist wohl Schmidhäuser, FS-Bruns, 1978, S. 345 ff., zu verstehen, der auch die Zueignung gem. § 246 im „Auslegungstatbestand“ als Zueignungsabsicht lesen wollte, die damit zur gemeinsamen Voraussetzung von Diebstahl und Unterschlagung werde (346 f.). 40 So bereits RGSt 65, 147; Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Band II/ Abt. 1, 1884, S. 349 f.; Wachenfeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1914, S. 385; v. Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, 1932, S. 249; Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht2, 1932, S. 605 f.; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich18, 1931, § 246 III. (S. 539) m. N. auch zur damals vereinzelt vertretenen Gegenmeinung; differenzierend z. B. Eckstein, Der Gerichtssaal 80 (1913), S. 283 ff., der einerseits den inneren Willensakt zur Bestimmung des Zurechnungsbegriffs an sich für ausreichend hält, andererseits jedoch darauf hinweist, dass damit noch nicht gesagt sei, ob dies für eine Strafbarkeit genüge (290 ff.); kritisch dazu Kargl, ZStW 103 (1991), S. 166 ff. 41 Tenckhoff, JuS 1984, S. 778; s. a. Eisele, Strafrecht BT-II, 2009, Rn. 239; kritisch gegen die übliche subjektive Lesart des Zueignungsbegriffs: Kargl, ZStW 103 (1991), S. 136 ff., der in der „Subjektivierung der Zueignung“ sogar die „Gefahr des Gesinnungsstrafrechts“ wittert und daher für einen „objektiven Zueignungsbegriff“ plädiert, der auf bestimmte „Idealtypen“ wie den „Verbrauch und . . . Verkauf einer Sache“ eingeschränkt werden soll, die nichts an äußerlicher Deutlichkeit schuldig bleiben sollen (S. 162 f.; s. a. S. 181 ff.). 42 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Küper, Strafrecht BT7 2008, S. 488; anders z. B. Mitsch, Strafrecht BT – Teil 2/1. Teilband2, 2003 § 2 Rn. 31/36 m.w. N. 38
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solches „eine objektive und eine subjektive Tatseite“.43 Wie Ingeborg Puppe treffend festgestellt hat, ist es daher, „weder verwunderlich noch beunruhigend, dass es nicht gelingen will, die Unterschlagung rein objektiv zu definieren“.44 Ob sich jemand eine fremde Sache zugeeignet hat, lässt sich demnach nicht allein objektiv, d.h. nicht ohne Bezug auf dessen Willen sagen. Es genügt nämlich nicht, dass eine Sache rein äußerlich betrachtet dem Herrschaftsbereich einer Person bloß zufällt; das Zueignen setzt vielmehr voraus, dass diese Person die betreffende Sache reflexiv erfasst und auch als eigene verwenden will. Zwar kennt das Zivilrecht auch die Möglichkeit eines zunächst noch unwillkürlichen Eigentumserwerbs kraft Gesetzes (z. B. Erbschaft, Vermischung), d.h. eine willensunabhängige Zuordnung von Sachen zum Eigentum einer Person, doch fallen diese Formen als solche nicht unter den Begriff des Zueignens. Das „Zu-eigen-machen“ hat nämlich nicht nur einen äußeren Sachbezug, sondern einen unmittelbaren Rechtsbezug, d.h. sie ist nicht bloße Verschiebung der Sachherrschaft, sondern die subjektive Anmaßung rechtlicher Herrschaftsmacht charakterisiert den Begriff der Zueignung einer Unterschlagung,45 denn Zueignung ist ein „reiner Angriff auf die Eigentumsordnung“.46 Insoweit versagt hier die Möglichkeit, ein schlichtes physisches Ereignis als tätige Einwirkung auf empirische Begebenheiten zu schildern, die für rein objektive Handlungsmerkmale eines Tatbestandes sonst vorausgesetzt werden muss. Daher hat die Bestimmung der Zueignung vom Willen auszugehen und dann nach den erforderlichen Formen seiner Objektivierung zu fragen, was die h. M. bekanntlich eine „Manifestation“ nennt.47 Kindhäuser, Strafgesetzbuch. Lehr- und Praxiskommentar (= LPK)4, 2010, § 246 Rn. 8. Es mag dahinstehen, ob es konsequent ist, wenn Kindhäuser gleichwohl vorschlägt, die beiden Seiten im Rahmen eines Gutachtens dennoch zu trennen und den Zueignungswillen erst im subjektiven Tatbestand zu prüfen: so sein Vorschlag in seinem Lehrbuch: Strafrecht BT II5, 2008 § 6 Rn. 7 f./50; sowie NK3-Kindhäuser, § 246 Rn. 7; wohl auch Kudlich, Strafrecht BT, Teil I2, 2007, S. 61 f.; ders., in: Satzger u. a. StGBKommentar (= SSW) 2009, § 246 Rn. 10; Eisele, BT-II (Fn. 41), Rn. 242; immerhin lässt sich dann als Ergebnis der Prüfung des objektiven Tatbestand schwerlich festhalten, der Täter habe sich die Sache zugeeignet, wenn noch gar nicht feststeht, ob das begrifflich notwendige Willensmoment ebenfalls erfüllt ist. Für einen anderen Aufbau, der dem subjektiven Element der Zueignung sichtbarer Rechnung trägt: Rengier, Strafrecht BT I12, 2010 § 5 Rn. 4; Wessels/Hillenkamp (Fn. 38), Rn. 304; Krey/Hellmann, Strafrecht BT-215, 2008, Rn. 66 ff. 44 Puppe, FS-Otto, 2007, S. 394. 45 I. d. S. ähnlich Rudolphi, GA 1965, bes. S. 37; Ulsenheimer, Jura 1979, S. 169 f.; Tenckhoff, JuS 1980, S. 723; Sinn, NStZ 2002, S. 66 ff.; Hauck, Drittzueignung und Beteiligung, 2007, bes. S. 145 ff./195 ff.; Gropp, FS-Maiwald, 2010, S. 266 ff.; NK-Kindhäuser, § 242 Rn. 70 f.; kritisch zur Beschreibung der Zueignung mit Hilfe der gängigen Formel von einer „Anmaßung einer eigentümerähnlichen Herrschaftsmacht über die Sache (se ut dominum gerere)“ allerdings MK-Schmitz, § 242 Rn. 107, der sogar empfiehlt, „auf diese Formel zu verzichten, weil sie bestenfalls inhaltsleer ist, schlechtestenfalls zu Fehlinterpretationen einlädt“; ähnlich skeptisch – jedenfalls vor der nur phrasenhaften Verwendung dieser Formel warnend: Zopfs, ZJS 6/2009, S. 651; Rengier, BT-I (Fn. 43), § 2 Rn. 39. 46 Binding, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts BT, Band 12, 1902, S. 275. 43
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Gegen eine solche Herleitung des Zueignungsbegriffs wird teilweise eingewendet, sie vermenge „in zirkulär-tautologischer Manier Definiens (Zueignungswille, Zueignungshandlung) und Definiendum (Zueignung)“; demgegenüber benötige man gerade umgekehrt zuerst „einen Begriff von ,Zueignung‘, um daran anknüpfend den ,Zueignungswillen‘ definieren zu können“.48 Damit wird offenbar angedeutet, dass die Zueignung als Gegenstand des Willens verstanden werden soll, d.h. als etwas, was von jemandem gewollt sein muss, womit dann eine als Zueignung zu bezeichnende Handlung gemeint sein kann. Dies verfehlt aber die Bedeutung des Willensmomentes als Konstituens des Zueignungsbegriffs. Zueignung ist nichts, was man als solches wollen kann, so wie man etwa eine Tafel Schokolade oder aber den Tod eines Menschen samt der dazu führenden Handlung „will“. Es gibt keine Zueignung, die vor bzw. unabhängig von dem Willen vorhanden wäre und von diesem erst als Inhalt ergriffen werden müsste. Insoweit gilt: ohne einen Willen, die quasi-rechtliche Herrschaftsmacht über eine fremde Sache zu erlangen, kann von einer Zueignung nicht die Rede sein. Der Zueignungswille ist daher nicht erst ein Bestandteil des Vorsatzes, von dem die Zueignung als Objekt erfasst werden könnte.49 Es kann demnach nicht genügen, eine Verhaltensweise zu wollen, die gewöhnlich als Zueignungshandlung angesehen wird; Zueignen meint nicht bloß die vorsätzliche Begehung einer anerkannten Unterschlagungshandlung. Die objektiv zu fordernde Tätigkeit kann vielmehr nur als sichtbarer Ausdruck eines Willens zum „Zu-eigen-machen“ einer Sache verständlich gemacht werden. Der Wille bezieht sich damit unmittelbar auf das Rechtsverhältnis und nicht allein auf äußere Umstände. Es ist die Veränderung des rechtlichen Beziehungsgeflechts im interpersonalen Verhältnis das gewollt werden muss und den Begriff der Zueignung kennzeichnet. Denkt man sich das entsprechende Wollen weg, so bleibt nicht viel mehr als eine Standortbestimmung von Sachen übrig, deren Verbleib im Strudel diverser Verhaltensweisen geschildert wird. Die Frage nach der Zueignung lautet nicht: wer hat die Sache, sondern wer will sie als eigne und handelt entsprechend? Es bedarf daher mehr als die Beschreibung äußerer Geschehensabläufe, um von einer Zueignung sprechen zu können. Der Zueignungswille muss die spezifische Rechtsdimension des eigenen Zueignungsaktes erfassen. Ein „ungewolltes“ Erlangen oder Festigen der Sachherrschaft ist nicht etwa eine bloß unvorsätzliche, sondern gar keine Zueignung. 2. „Sich-Verschaffen“ Ein ähnlich starker subjektiver Gehalt lässt sich für das (objektive) Tatbestandsmerkmal des „Sich-Verschaffens“ im Sinne einer Erwerbshehlerei gem. 47 Zu verschiedenen Versionen der „Manifestationstheorie“ und deren Kritik Küper, BT (Fn. 42), S. 489 ff. m.w. N. 48 Mitsch, BT 2/1 (Fn. 42) § 2 Rn. 36. 49 Insoweit ebenso Degener, JZ 2001, S. 394.
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§ 259 Abs. 1 StGB aufzeigen, das sich zudem auch im sog. „Geldwäsche“-Tatbestand des § 261 Abs. 2 Nr. 1 findet.50 Darunter wird regelmäßig ein bewusst-gewollter Erwerb der tatsächlichen und selbständigen Verfügungsgewalt über eine Sache verstanden, der zu eigenen Zwecken und im einverständlichen Zusammenwirken mit dem Vortäter oder sonstigen Vorbesitzer erfolgen muss.51 Genau genommen treten hier gleich mehrere subjektive Begriffsmomente auf, die dieses Merkmal konstituieren. Ebenso wie im Falle einer Zueignung, so geht es auch hier nicht allein um die Beobachtung der faktischen Verschiebung von Sachen, die lediglich vom Wissen und Wollen begleitet wird. Die subjektiven Momente sind auch hier konstitutiv für den Begriff. Schon die Verwendung des Reflexivpronomens „sich“ weist auf einen notwendigen Selbstbezug hin, der bei einem Hehler dieser Tatvariante vorausgesetzt werden muss, denn damit deutet sich bereits an, das es sich um einen zielgerichteten, mit Bewusstsein und Willen ausgeführten Akt handeln muss, der die spezifisch rechtliche Qualität der Handlung erfassen muss und nicht erst als Vorsatz bzgl. der objektiven Umstände der Tat erscheinen kann. Über dieses bewusst-gewollte Erwerben der Sachherrschaft hinaus ist sogar noch ein spezieller Zweckbezug erforderlich, denn der Sachherrschaftswille muss sich noch auf das Bewusstsein einer eigentümerähnliche Stellung erstrecken, die mit eigenständiger Zwecksetzung verbunden sein muss und als solche auch willentlich genutzt werden soll.52 Es muss klar sein, dass die Sache nicht nur für einen anderen verwaltet wird. Zudem wird von der ganz herrschenden Ansicht – als weitere subjektive oder gar inter-subjektive Voraussetzung – zu Recht ein Einvernehmen mit dem Vortäter vorausgesetzt.53 Teilweise erhebt sich sogar die weitergehende Forderung, dass dieses einvernehmliche Zusammenwirken „kollusiv“, d.h. auch von dem Unrechtsbewusstsein der Beteiligten getragen sein müsse.54
50 Zu zahlreichen weiteren Tatbeständen, die ein – nicht auf Sachen bezogenes – „Sich-Verschaffen“ voraussetzen vgl. den Überblich von Wagner, ZJS 1/2010, S. 24. 51 Entsprechende Definitionen bei Küper, BT (Fn. 42), S. 276; Maurach/Schroeder/ Maiwald, Strafrecht BT-110, 2009, § 39 Rn. 28; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze57, 2010, § 259 Rn. 14; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen26, 2007, § 259 Rn. 10; SSW-Jahn (Fn. 43), § 259 Rn. 15; LPK-Kindhäuser (Fn. 43), § 259 Rn. 17; Kindhäuser, BT-II (Fn. 43), § 47 Rn. 16; in der Sache ähnlich Mitsch, BT 2/1 (Fn. 42), § 10 Rn. 37, der sich allerdings auch hier sichtlich bemüht, die möglicherweise subjektiv gefärbten Definitionsbestandteile nicht allzu deutlich hervorzuheben. 52 Zu dieser Parallele zur Zueignung siehe schon RGSt 56, 335; BGHSt 15, 53, bes. 56 – noch zum Merkmal des „Ansichbringens“ i. S. d. alten Fassung des § 259. 53 Vgl. BGHSt 42, 196, 197 f.; Berz, Jura 1980, S. 61 ff.; Küper, BT (Fn. 42), S. 282 f.; Mitsch, BT 2/1 (Fn. 42), § 10 Rn. 38 jeweils m.w. N.; gegen dieses „Erfordernis des abgeleiteten Erwerbs“ z. B. Hruschka, JR 1980, S. 221 f.; Roth, JA 1988, S. 206 f.; Wagner, ZJS 1/2010, 17 ff., bes. S. 27 ff. 54 So LPK-Kindhäuser, (Fn. 43), § 259 Rn. 19; Kindhäuser, BT-II (Fn. 43), § 47 Rn. 20 Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-1 (Fn. 51), § 39 Rn. 24/26; dagegen Küper, BT (Fn. 42), S. 282; Wessels/Hillenkamp (Fn. 38), Rn. 848 m.w. N.
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3. Täuschung Ob auch der Begriff der Täuschung, der als nicht genannter Oberbegriff für die in § 263 StGB aufgeführten Tathandlungsmöglichkeiten (Vorspiegelung falscher bzw. Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen) wohl nahezu allgemein akzeptiert ist,55 ebenfalls ein subjektives Moment enthält, lässt sich nicht so eindeutig behaupten. Dabei könnte freilich schon ein Blick auf die historische Herleitung des Betrugsbegriffs für dessen insgesamt subjektive Färbung sprechen, da als lateinische Bezeichnung für den Betrug im allgemeinen und besonders im zivilrechtlichen Sinne zeitweise das Wort dolus verwendet wurde,56 das sonst bekanntlich mit Vorsatz übersetzt wird. Der Wortlaut als solcher scheint hingegen eine subjektive Deutung nicht zwingend vorauszusetzen; immerhin wird von Täuschung – z. B. im Sinne einer optischen Täuschung oder einer Selbsttäuschung – auch gesprochen, wenn kein bewusst handelndes Subjekt unterstellt wird. In diesem Fall wird das Wort Täuschung freilich auch nicht als Tätigkeit verwendet, da im Grunde nicht das Täuschen, sondern dessen Folge, das Getäuscht-sein oder der Irrtum bzw. eine irrtümliche Auslegung einer Sinneswahrnehmung, gemeint ist. Anders als diese Redewendung vordergründig zu suggerieren scheint, sind es nicht die Optik oder unsere Sinnesorgane, die uns täuschen, sondern die Erkenntnisse der physikalischen oder geometrischen Regeln sollen uns über unsere (unreflektierten) Fehldeutungen aufklären, die so mit anerkannten Gesetzen der Physik und Geometrie nicht harmonieren. Es geht daher um die Folge einer Täuschung ohne Täuschenden. Auch der Begriff der Selbsttäuschung lässt sich nicht als ein Vorgang verstehen, bei dem sich jemand selbst bewusst und gewollt in die Irre führt; hier sind gleichsam Absender und Adressat der Täuschung identisch. Freilich fallen mit dieser Identität auch in diesem Fall wiederum Täuschung und Irrtum zusammen. Die Frage nach dem Subjekt der Täuschungshandlung stellt sich daher nur, wenn es von einem Objekt, d.h. einem anderen Subjekt, das sich irrt oder irren soll, unterschieden werden kann.
55 Vgl. nur Küper, BT (Fn. 42), S. 288 m.w. N.; kritisch zur Wendung „Täuschung über Tatsachen“, die der E 1962 vorgesehen hatte, allerdings noch Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 232 ff.; s.a die Bedenken von Kargl, FS-Lüderssen, 2002, S. 615 ff.; ders., ZStW 119 (2007), 258 f., der sich skeptisch gegen die Ersetzung der gesetzlich genannten Verhaltensweisen durch den Begriff der Täuschung äußert. 56 Vgl. Glafey, Vernunfft- und Völcker-Recht, 1723, S. 440 f.; Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, 1790, S. 117; Thibaut, System des Pandekten-Rechts, Erster Band5, 1818, S. 115; Ortloff, Lüge, Fälschung und Betrug, 1862, bes. S. 166; Kuntze, Institutionen und Geschichte des römischen Rechts, Erster Band, 1869, S. 344; Zimmermann, Der Gerichtssaal 29 (1878), S. 120 ff. (127); s. a. Gmelin, Grundsäze der Gesezgebung über Verbrechen und Strafen, 1785, S. 205, der als eine von „mancherlei Benennungen“ für das „Verbrechen der Betrügerei“ auch „doli in contractu“ auflistet. Vgl. auch die Hinweise bei Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts in vergleichend-historischer und dogmatischer Darstellung, Band I, 1895, S. 74 Fn. 52.
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In diese Hinsicht deutet das Verständnis des Täuschens i. S. v. § 263 StGB, bei dem gerade zwischen der Täuschungshandlung und der Irrtumserregung unterschieden werden soll, so dass aus dem Vorliegen einer irrtümlichen Vorstellung allein noch nicht auf eine sie auslösende Täuschung geschlossen werden darf.57 Der Irrtum ist zwar ein „(Zwischen-)Erfolg“ des Betrugstatbestandes; daher könnte der Eindruck entstehen, dass die darauf bezogene Handlung mit dem gewöhnlichen Vorsatzerfordernis verwirklicht werden könne, falls eine entsprechende Differenzierung zwischen dem kommunikativen (Täuschungs-)Akt als solchem und dem darauf bezogenen Wissen und Wollen denkbar wäre. Es genügt aber nicht jedes beliebige – unwillkürliche – Auslösen einer Fehlvorstellung, d.h. es reicht nicht, wenn jemand lediglich eine eigene irrige Annahme äußert und dabei einen anderen beiläufig quasi mit dem eigenen Irrtum ansteckt. Die Äußerung einer Selbsttäuschung von Ego ist noch nicht gleich eine Täuschung von Alter-Ego. Das Gesetz kann und will nicht jeden Irrtum unterbinden, sondern stellt nur jene unwahren Tatsachenbehauptungen unter Strafe, die einen vermögensschädigenden Irrtum erregen, wobei nicht allein die Unwahrheit der Äußerung maßgeblich ist; es muss sich gleichsam um eine „gefälschte“ Aussage handeln. Insofern Kommunikation strafrechtsrelevant werden kann, lässt sich nicht von dem inhaltlichen Verständnis der Beteiligten abstrahieren. Nicht die bloße Weitergabe von falschen Inhalten, d.h. nicht allein die Diagnose bzgl. des Wahrheitsgehalts einer Aussage zählt, sondern nur der scheinbar geweckte Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Insoweit zieht der schon häufig bemerkte Vergleich zur Lüge, bei der es ebenfalls nicht nur um die Unwahrheit, sondern um Unwahrhaftigkeit geht.58 Vorauszusetzen ist hierbei eine gezielte Einwirkung auf das Vorstellungsbild des Erklärungsempfängers. Diese intentionale Struktur ist dem Täuschungsbegriff prägend eingeschrieben. Eben diese Zielrichtung nach Möglichkeit zu verhindern, gehört zur Aufgabe des Betrugstatbestandes und zum Be57 Dazu BGHSt 47, 1, bes. S. 5; SK-Hoyer (Fn. 39) § 263 Rn. 23; s. a. Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 71 ff.; missverständlich Fischer (Fn. 51), § 263 Rn. 10, der davon spricht, dass „die Begriffe ,Täuschung‘ und ,Irrtumserregung‘ deckungsgleich“ seien und sich in dieser Hinsicht zu Unrecht auf Kargl (ZStW 119 (2007), S. 259) beruft, da Kargl an dieser Stelle zunächst lediglich beschreibt, „was der allgemeine Sprachgebrauch als Täuschung bezeichnet“. 58 Vgl. Becker, Der Tatbestand der Lüge, 1948, S. 9 ff.; Herzberg, Unterlassung (Fn. 57), S. 72; Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 98 ff.; Kargl, ZStW 119 (2007), S. 258 f.; s. a. schon Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker5, 1790, S. 35 f.; a. A. Klien, Neues Archiv des Criminalrechts I (1816), S. 126 f., der „Lüge (Lug) und Trug . . . im objectiven Sinne“ als „Gegensatz von Wahrheit, also eben soviel als Unwahrheit“ bestimmt und daher selbst denjenigen für einen Lügner halten mochte, der das „Unwahre im guten Glauben nacherzählte“; s. a. Freund, Lug und Trug, Band 1, 1863, S. 5, der zumindest in der „weitesten Bedeutung des Wortes“ eine Lüge mit Unwahrheit gleichsetzen möchte, dann jedoch auch andere Deutungen aufzeigt, worunter auch das „Täuschen“ zählt (S. 6); vgl. zur angeblichen Gleichsetzung von Lüge und Unwahrheit in einem anderen Zusammenhang: Stübinger, ZIS 11/2008, S. 538 f.
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deutungsbereich des Täuschungsbegriffs, nicht etwa der subjektfrei gedachte Austausch von Information. Die h. M. erklärt daher für das Täuschen i. S. d. § 263 StGB zutreffend das Bewusstsein von der Unrichtigkeit der irreführenden Tatsachenbehauptung zur Prämisse;59 teilweise wird auch der Begriff der Täuschung ausdrücklich als „objektiv-subjektive Sinneinheit“ bezeichnet.60 Dagegen werden allerdings zahlenmäßig zunehmende Bedenken laut. Zunächst wird von einigen geltend gemacht, durch die Aufnahme des Täuschungsbewustseins als notwendiges Begriffsmerkmal werde „ohne Not ein systemwidriges ,objektives Tatbestandsmerkmal mit subjektiver Komponente‘ kreiert“.61 Andere halten die Deutung des Täuschungsbegriffs als „eine objektiv-subjektive Sinneinheit“ gar für „sachwidrig“; sie könne zudem „zu erheblichen Konfusionen im Gutachtenaufbau führen“.62 Der Vorwurf der Sach- bzw. Systemwidrigkeit setzt allerdings die unzutreffende Annahme eines geschlossenen Systems voraus, in dem ausnahmslos zwischen objektiven Tatbestandsmerkmalen und einer subjektiver Seite differenziert werden müsste; dies lässt sich gerade mit Blick auf die bereits genannten Beispiele nicht behaupten. Ferner hat sich die Bestimmung eines Begriffs nicht dem Bedürfnis eines Aufbauschemas zu beugen; die schematische Darstellung folgt vielmehr umgekehrt allenfalls den begrifflichen Vorgaben. Andere halten die angedeutete Nähe zwischen Täuschung und Lüge und damit die Fokussierung der Wahrhaftigkeit statt der Wahrheit für bedenklich, da eine solche Gegenüberstellung zu sehr dem „traditionellen theologischen und moralphilosophischen Verständnis“ geschuldet sei. Daher wird teilweise dafür plädiert, dass „die Intention des täuschenden Täters objektiv rekonstruiert werden muß“.63 Schließlich wird für die Möglichkeit, von rein objektiven Täuschungshandlungen ohne entsprechendes Bewusstsein sprechen zu können, ein Argument aus der Gesetzessystematik der Betrugsdelikte mobilisiert. Aus § 264 Abs. 4 StGB, der 59 Vgl. BGHSt 18, 235, 237; 47, 1, 5; Bockelmann, FS-Eb. Schmidt, 1961, bes. S. 440; Wittig, Das tatbestandsmäßige Verhalten des Betrugs, 2005, bes. S. 210; dies., Wirtschaftsstrafrecht, 2010, § 14 Rn. 21; Küper, BT (Fn. 42), S. 287/289; Eisele, BT-II (Fn. 41) Rn. 495; Otto, Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte7, 2005, § 51 Rn. 14; Rengier, BT-I (Fn. 43), § 13 Rn. 5; Roxin AT I (Fn. 4), § 10 Rn. 53; wohl auch Puppe, FS-Otto, 2007, S. 394; im Grundsatz auch MK-Hefendehl, § 263 Rn. 74, der es allerdings für eine „pragmatische Lösung“ hält, in manchen Fällen auf „eine Aufspaltung des Täuschungsmerkmals in eine objektive und eine subjektive Komponente“ zu verzichten; i. S. d. heute herrschenden Meinung schon Rommel, Der Betrug, 1894, S. 34 f.; Binding, Lehrbuch 1 (Fn. 46), S. 345; Gerland, Reichsstrafrecht (Fn. 40), S. 634; Frank, StGB (Fn. 40) § 263 Anm. II.1.b) (S. 582). 60 Wessels/Hillenkamp (Fn. 38), Rn. 493. 61 SSW-Satzger (Fn. 43), § 263 Rn. 29. 62 Kindhäuser, BT-II (Fn. 43), § 27 Rn. 2 Fn. 1; ähnlich – noch ohne die Bewertung als „sachwidrig“: ders./Nikolaus, JuS 2006, 194 Fn. 7; s. a. LPK-Kindhäuser (Fn. 43), § 263 Rn. 46; NK-Kindhäuser, § 263 Rn. 58; ohne ausdrücklich benannten Grund i. E. ebenso: Duttge, in: Dölling u. a. (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht – Handkommentar (= HKStGB) § 263 Rn. 8; Fischer (Fn. 51) § 263 Rn. 10. 63 Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 81 (f.).
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eine leichtfertige Begehung eines sog. „Subventionsbetruges“ unter Strafe stellt, ergebe sich nämlich die Notwendigkeit, auf eine notwendig „subjektive Deutung des Täuschungsbegriffs“ zu verzichten, denn die grob fahrlässige Verwirklichung dieses Tatbestandes „im Vorfeld des Betruges“ postuliere die Existenz eines objektiv bestimmten Täuschungsbegriffs, der „ein Täuschungsbewusstsein nicht voraussetzt“.64 Dagegen lässt sich zwar nicht einwenden, die in § 264 Abs. 1 genannten Tathandlungen (insbesondere Nr. 1: unrichtige oder unvollständige Angaben machen), auf die in Abs. 4 verwiesen wird, seien ohnehin schon generell „nicht mit der Täuschung gleichzusetzen“, 65 denn eine bewusst unrichtige Angabe i. d. S. lässt sich durchaus als eine Täuschungshandlung bezeichnen. Gleichwohl lassen sich aus der Strafdrohung für ein „leichtfertiges Machen unrichtiger Angaben“ keine Rückschlüsse für die inhaltlich angemessene Bestimmung des Täuschungsbegriffs ziehen, zumal sich die Leichtfertigkeit nicht auf die Handlung als solche, sondern auf eine Eigenschaft ihres Gegenstandes, nämlich die Unrichtigkeit der angegebenen Information beziehen kann: es geht um eine grob fahrlässige Verkennung dieses Umstandes. Wenn sich der Gesetzgeber dazu entschließt, schon allein an die objektive Tatseite einer Täuschungshandlung (die bloße Übermittlung unwahrer Information) Sanktionen zu knüpfen, so ändert sich dadurch nichts an der Bildung des Täuschungsbegriffs als solchem, für die auch weiterhin das subjektive Moment als notwendiges Bestimmungsmerkmal gefordert werden kann. Diese begriffliche Anforderung schließt nämlich nicht aus, dass es auch ohne Täuschungsbewusstsein übermittelte Fehlinformationen gibt, deren Fehlerhaftigkeit also nicht der bewusst-gewollten Verdrehung eines Subjekts geschuldet ist; werden solche Verhaltensweisen unter Strafandrohung gestellt, dann wird eben kein Täuschender, sondern schon derjenige bestraft, der eine inhaltlich unzutreffende Mitteilung angibt, deren Unrichtigkeit er grob fahrlässig verkennt. Am Begriff der Täuschung ändert sich nichts, wenn auch solche „Nicht-Täuschungen“ bestraft werden sollen. Eher noch müsste bezweifelt werden, ob der Tatbestand des § 264 insgesamt als Subventions-„Betrug“ bezeichnet werden darf, da im Grunde auf sämtliche sonst typische objektive und subjektive Betrugs-Merkmale (Irrtumserregung, Vermögensverfügung, Vermögensschaden, Bereicherungsabsicht) verzichtet wird. Doch die Tatsache, dass trotz des Verzichts auf all die üblichen Prämissen bereits ein Verhalten, das bloß geeignet ist durch vorsätzlich oder leichtfertig gemachte unrichtige Angaben das Vermögen eines Subventionsgebers abstrakt zu gefährden, als „Betrug“ bezeichnet wird, kann jedenfalls den allgemeinen Betrugsbegriff nicht beeinflussen.
64 Krey/Hellmann, BT 2 (Fn. 43), Rn. 337a; s. a. NK-Hellmann, § 264 Rn. 74; Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht2, 2008, Rn. 810; ähnlich Mitsch, BT 2/1 (Fn. 42), § 7 Rn. 25. s. a. Wittig, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 59), § 17 Rn. 39, die insoweit ebenfalls von einer Täuschung spricht, aber – entgegen ihrer Auffassung zu § 263 – für § 264 kein Täuschungsbewusstsein voraussetzen möchte. 65 So aber Wessels/Hillenkamp (Fn. 38), Rn. 688, s. a. Rn. 493.
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Ebenso wenig vermag die in § 261 Abs. 5 StGB ausgesprochene Pönalisierung desjenigen, der leichtfertig nicht erkennt, dass ein in seinen Besitz gelangter Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, etwas an der subjektiven Ausrichtung des Merkmals des „Sich-verschaffens“ zu ändern, das der Geldwäschetatbestand in § 261 Abs. 2 Nr. 1 mit der Hehlerei gem. § 259 teilt. Die grob fahrlässige Verkennung der makelhaften Herkunft eines Tatobjekts führt nicht dazu, dass der Betreffende durch die bloße Erlangung der Sachherrschaft den Gegenstand auch „sich verschafft“ hat, wenn die oben (im Text zu Fn. 51) aufgezeigten subjektiven Voraussetzungen gerade nicht erfüllt sind. In diesem Fall wird ebenfalls nur die objektive Seite dieser Handlungsweise mit einer Strafandrohung bedacht, ohne dass sich dadurch die Begriffsbestimmung des Tatbestandsmerkmals des „Sich-Verschaffens“ wandeln müsste. Zu beachten ist zudem noch die normtheoretische Verschiebung, die sich bei der Einfügung einer Bestrafung bloßer Leichtfertigkeit in den genannten Fällen jeweils einstellt. Während die Pönalisierung einer Täuschung i. S. d. § 263 (oder auch § 264 Abs. 1 StGB) bzw. des „Sich-Verschaffens“ gem. § 259 und § 261 Abs. 2 Nr. 1 auf einem Verstoß gegen eine Verbotsnorm beruht, setzt die Sanktionierung von Leichtfertigkeit in den in Rede stehenden Vorschriften ein Gebot voraus, die Angaben auf ihre Richtigkeit bzw. den erlangten Gegenstand auf seine Herkunft hin zu überprüfen. Mit einem Verbot belegt werden kann aber gerade nur die bewusst-gewollte Darstellung unwahrer Tatsachenbehauptungen als vermeintlich wahre bzw. die bewusst-gewollte Perpetuierung einer unrechtmäßigen Vermögenslage, während die Leichtfertigkeitsstrafdrohung zur Prüfung dieser objektiven Umstände erst verpflichten soll, d.h. die Erwartung bzgl. einer anderen Handlung – die Probe des Wahrheitsgehaltes einer Behauptung bzw. der Rechtmäßigkeit einer Besitzlage – ausspricht. Ob dadurch überhaupt strafwürdiges Unrecht erfasst wird, ist ein umstrittenes Problem der Kriminalpolitik,66 tangiert jedenfalls nicht die Ebene der Definition der Begriffe „Täuschung“ und „Sich-Verschaffen“. 4. Falsch aussagen a) Falschheit vs. Wahrheit? Dass auch das Merkmal der Falschaussage gem. § 153 StGB im Kontext der Suche nach subjektiv-objektiven Tatbestandsmerkmalen auftaucht, dürfte eigent66 Zur Kritik der Bestrafung von Leichtfertigkeit in § 264 vgl. z. B. Schubart, ZStW 92 (1980), bes. S. 100; Mitsch, Strafrecht BT 2/Halbband 2, 2001, § 3 Rn. 60; NK-Hellmann, § 264 Rn. 151 ff.; SSW-Saliger (Fn. 43), § 264 Rn. 3; s. a. die Kommentierung von Samson/Günther in der Vorauflage des Systematischen Kommentars (Stand Dezember 1996) § 264 Rn. 16 ff. jeweils m.w. N.; zur kritischen Diskussion zu § 261 Abs. 5 siehe z. B. Kargl, NJ 2001, S. 59 f.; SSW-Jahn (Fn. 43), § 261 Rn. 62 m.w. N.
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lich nicht überraschend erscheinen.67 Schließlich ist es sattsam bekannt, dass dieses Tatbestandsmerkmal seit langem umstritten ist und es dabei auch um die Frage nach objektiven und subjektiven Kriterien der Begriffsbestimmung geht. Nur die Kräfteverhältnisse, die sich in dieser Kontroverse eingestellt haben, verhindern es meist, dass der hier in Rede stehende subjektive Einschlag dieses Merkmals noch angemessen wahrgenommen wird. Der Streit dreht sich vordergründig darum, was als eigentlicher Gegenstand einer Aussage angesehen werden kann, der mit dem Inhalt der vor einer zuständigen Stelle geäußerten Behauptung verglichen werden soll.68 Dabei wird das Aussagen allein als eine äußere Verhaltensweise, d.h. als beobachtbarer Vorgang genommen und dann nach der Falschheit als mögliche Eigenschaft ihres Inhalts gefragt. Daher erscheint dies insgesamt als ein Problem der Bestimmung allein der objektiven Seite dieses Merkmals, da es sich insoweit um ein Attribut einer sinnlich wahrnehmbaren Begebenheit handeln soll, bei dem das Gesetz sogar den Ort des Geschehen nennt, nämlich „vor Gericht oder einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle“ (§ 153). Die ganz herrschende Meinung will in diesem Sinne die Falschheit einer Aussage dementsprechend objektiv bestimmen;69 sie resultiere aus einem Vergleich zwischen dem Inhalt der vorgebrachten Behauptung eines Zeugen oder Sachverständigen und dem, was „objektiv“ als Tatsache angesehen wird. Wenn sich „Wort und Wirklichkeit“ widersprechen, gilt die Aussage als falsch.70 Die Kenntnis des aussagenden Sub67
Vgl. Puppe, FS-Otto, 2007, S. 394, die zu den objektiven Tatbestandsmerkmalen, die ein subjektives Element enthalten, auch „falsch schwören“ zählt; s. a. schon Mannheim, Der Gerichtssaal 81 (1913), S. 394/403 m. Fn. 2/418 f./423. 68 Vgl. hierzu und zum Folgenden z. B. Küper, BT (Fn. 42), S. 31 ff. m.w. N. 69 I. d. S. etwa BGHSt 7, 147, 148 f.; Wolf, JuS 1991, S. 177 ff., bes. 182; Katzenberger/Pitz, ZJS 6/2009, S. 659 f.; Eisele, Strafrecht BT-I, 2008, Rn. 1066 ff., bes. 1071; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT-29, 2005, § 75 Rn. 13 ff./16 ff.; Kindhäuser, Strafrecht BT-I4, 2009, § 46 Rn. 14 ff.; Krey/Heinrich, Strafrecht BT114, 2008, Rn. 552; Heinrich, in: HK-StGB (Fn. 62), § 153 Rn. 14 ff.; Rengier, Strafrecht BT-II11 2010, § 49 Rn. 7 f.; Ruß, in: StGB – Leipziger Kommentar (= LK)11 2000, Vor § 153 Rn. 13; Lenckner, in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch-Kommentar27, 2006 (= S/S), Vorbem. zu §§ 153 ff. Rn. 4 ff., bes. 6; SSW-Sinn (Fn. 43) § 153 Rn. 8 f.; Joecks, Strafgesetzbuch – Studienkommentar8, 2009, Vor § 153 Rn. 5; Fischer (Fn. 51) § 153 Rn. 4 f.; im Grundsatz – allerdings mit einigen Differenzierungen – auch: Kaufmann, FS-Baumann, 1992, bes. S. 128 f.; Kargl, GA 2003, S. 791 ff., bes. 803 ff.; früher schon – Dochow, in: Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. von v. Holtzendorff, Band 3, 1874, S. 236; Hälschner, Strafrecht (Fn. 40), Band II/Abt. 2, 1887, S. 914 f./920 f.; Frank, StGB (Fn. 40), § 153 Anm. III. (S. 354 f.), bezogen auf den Meineid (§ 153 a. F.); differenzierend: Wachenfeld, Lehrbuch (Fn. 40), S. 567 f., der grundsätzlich von einem Falscheid ausgehen möchte, wenn dieser „der Wahrheit nicht entspricht“, allerdings dem „subjektive(n) Moment . . . eine den Tatbestand des Delikts einschränkende Bedeutung“ beimisst, da „trotz Unwahrheit der beschworenen Tatsache kein Meineid“ vorliege, „wenn der Täter die feste Überzeugung von der Wahrheit hatte“. 70 Zu dieser Redewendung, wonach die Falschheit einer Aussage i. S. d. „objektiven Theorie“ im Widerspruch „zwischen Wort und Wirklichkeit“ bestehe, vgl. schon Niethammer, Deutsches Strafrecht N. F. 7 (1940), S. 162.
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jekts (Zeuge oder Sachverständiger) spielt als solches folglich erst im Rahmen des subjektiven Tatbestandes eine Rolle, wenn es um dessen Wissen und Wollen bzgl. der Falschheit des Aussageinhalts geht. Für diese Ansicht lassen sich zunächst einige ganz plausibel klingende Argumente anführen: Wenn Falschheit das Gegenteil von Wahrheit bezeichnen soll, dann passt eine solche Relation zwischen Aussage-Inhalt und Aussage-Gegenstand am besten zu der im Alltag vorherrschenden Vorstellung von Wahrheit als Übereinstimmung von Erkenntnis und Sache, die in der disziplinierten Debatte der Philosophie als Korrespondenztheorie der Wahrheit bezeichnet wird.71 Eine Aussage ist dann eben falsch, d.h. unwahr, wenn die mit ihr behauptete Erkenntnis nicht mit deren Gegenstand übereinstimmt. Dieses Grundverständnis scheint der Systematik der Aussagedelikte insgesamt zu Grunde zu liegen. Die objektive Theorie kann daher für sich beanspruchen, einen einheitlichen Begriff der falschen Aussage für alle Tatbestände der §§ 153 ff. StGB unterstellen zu können, der insbesondere auch zu § 160 (Verleitung zur Falschaussage) und § 161 (Fahrlässiger Falscheid) passt, die regelmäßig als Beleg für die systematische Richtigkeit der objektiven Theorie herangezogen werden. Eine wichtige Stütze findet die herrschende Meinung zudem in der innerhalb der gegenwärtigen Verbrechenslehre auch im Übrigen vorherrschenden Ansicht, das Unrecht einer Tat werde durch die Verletzung eines Rechtsguts bestimmt. Danach muss stets ein solches Schutzgut benannt werden, das durch ein äußeres Verhalten geschädigt wird. Dies lässt sich zumindest bildhaft immerzu als rein objektives Geschehen vorstellen. Als Rechtsgut der Aussagedelikte wird heute meist – mitunter ergänzt durch einige Erweiterungen – die (innerstaatliche) Rechtspflege genannt,72 die durch falsche Aussage gleichsam torpediert werde. 71 Vgl. zu diesem Zusammenhang z. B. Stein, FS-Rudolphi, 2004, S. 554 m. Fn. 2; Kargl GA 2003, S. 798; Kaufmann (Fn. 69), S. 119 ff., bes. 128; Hilgendorf, GA 1993, S. 547 ff., bes. 554 ff., der allerdings meint, dass nicht nur die objektive Theorie, sondern letztlich „alle strafrechtlichen Aussagetheorien auf der Korrespondenztheorie der Wahrheit basieren“ (559); insofern zustimmend Paulus, GdS-Küchenhoff, 1987, S. 436; Müller, Falsche Zeugenaussage und Beteiligungslehre, 2000, S. 85. Allgemein zu philosophischen Wahrheitstheorien und speziell zu verschiedenen Varianten der Korrespondenztheorie: Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 391 ff./460 ff. m.z.N. 72 Vgl. etwa BGHSt 8, 301, bes. 309; Schulz, Probleme der Strafbarkeit des Meineids nach geltendem und künftigen Recht, 1970, S. 10, der neben der Rechtspflege als Rechtsgut noch die „Wahrheitsfindung im Prozeß“ als „Schutzobjekt“ heranziehen möchte (S. 12); Dedes, JR 1977, S. 442; Welzel, Das Deutsche Strafrecht11, 1969, S. 526; Krey/Heinrich, BT-1 (Fn. 69), Rn. 551; HK-StGB-Heinrich, § 153 Rn. 1; LPKKindhäuser, Vor §§ 153–163 Rn. 1; Kindhäuser, BT-I (Fn. 69), § 46 Rn. 1; LK-Ruß (Fn. 69), Vor § 153 Rn. 2; SSW-Sinn (Fn. 43), § 153 Rn. 2; differenzierter Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/133, 2009, Rn. 738; S/S-Lenckner (Fn. 69), Vorbem. zu §§ 153 ff. Rn. 2; SK-Rudolphi, Vor § 153 Rn. 2 ff.; NK-Vormbaum, Vor §§ 153 ff. Rn. 1; grundlegend: v. Liszt, Die falsche Aussage vor Gericht oder öffentlicher Behörde nach deutschem und österreichischem Recht, 1877, S. 18 ff.; ders., Reichsstrafrecht (Fn. 27), S. 421; ders., Lehrbuch des Deutschen Strafrechts2, 1884, S. 575; zu v. Liszts Rechtsgutsbestimmung s. a. Voscherau, Die unerhebliche falsche Zeugenaussage, Diss.-Ham-
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Daher kommt es nicht von Ungefähr zur Substantivierung des im Gesetz verwendeten Adjektivs falsch, so dass die Falschheit/das Falsche gleichsam als Werkzeug oder Instrument der Schädigung bzw. – da kein „Erfolg“ vorausgesetzt wird – zumindest der Gefährdung der Rechtspflegeorgane vorgestellt werden kann. Die quasi dinghaft zu denkende Falschheit der Aussage entspricht dann einem gewöhnlichen Tatmittel, dessen Einsatz vom Tatvorsatz umfasst sein muss, so wie auch bei anderen Delikten das Wissen und Wollen des Täters das eingesetzte Tatwerkzeug erfasst. Schon diese sprachliche Form suggeriert, dass in gewohnter Weise über die Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung gesprochen werden kann, ohne gleich auf subjektive Momente Rücksicht nehmen zu müssen, denn es braucht dann nur noch die in der Aussage steckende Falschheit und ihre potentielle Außenwirkung in Betracht gezogen zu werden, um die übliche Form einer rechtsgutsschädigenden Handlung vorstellen zu können. b) Kritik der „objektiven“ Theorie Die zugestandene Plausibilität der objektiven Theorie schwindet jedoch rasch, wenn die von ihr gesetzten Prämissen in Frage gestellt werden.73 Zunächst lässt sich beispielsweise fragen, ob im Kontext der Aussagedelikte die Falschheit in dieser Weise stets als Gegenbegriff zur Wahrheit gemeint sein kann. Zwar lassen sich Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, so dass der ausgesagte Inhalt als wahr oder unwahr, d.h. insoweit dann „falsch“ bezeichnet werden kann. Diese Unterscheidung ist grundsätzlich aber wohl nur dann relevant, wenn es gilt, ein theoretisches Urteil über einen Aussageinhalt im Hinblick auf den behaupteten Sachverhalt zu fällen. In diesem Sinne wird offenbar in § 160 von der Ableistung eines falschen Eides oder einer falschen uneidlichen Aussage gesprochen.74 Da die Falschheit in dieser Strafvorschrift nicht unmittelbar als Unrechtsmerkmal der Tathandlung des Verleitenden zu verstehen ist, um dessen Strafbarburg 1970, S. 93 ff., der allerdings vermutet, dass sich dahinter „der Staat als das eigentlich geschützte Rechtsgut“ verstecke, denn für v. Liszt gelte es mit der Sicherung der Rechtspflege zugleich „klarzustellen, daß der Staat Selbstzweck ist“ (S. 97). Im Ergebnis ähnlich auch Alsberg, Der Gerichtssaal 66 (1905), 54 ff., der zwar mit großem Begründungsaufwand darstellt, dass er „im Meineid ein Fälschungsverbrechen, ein Verbrechen gegen den Beweis sieht“, gleichwohl aber zugibt, „daß dieses Delikt in seiner Wirkung die Rechtspflege trifft“ (S. 75). Ausführlich zur Geschichte der Schutzgutbestimmung der Aussagedelikte und zur Kritik der vorherrschenden Meinung: Müller, Zeugenaussage (Fn. 71), S. 27 ff. 73 Zu den folgenden und weiteren Kritikpunkte an der h. M. vgl. auch die zumindest partiell übereinstimmenden Argumente bei: SK-Rudolphi, Vor § 153 Rn. 40 ff.; MKMüller, § 153 Rn. 42 ff.; NK-Vormbaum, § 153 Rn. 72 ff. m.w. N. 74 Dies gestehen selbst Vertreter der sog. „subjektiven Aussagetheorie“ zu, z. B. Gallas, GA 1957, S. 323; kritisch dazu NK-Vormbaum, § 153 Rn. 76; a. A. aus der Warte der sog. „Pflichttheorie“ z. B. Schmidhäuser, FS OLG Celle, 1961, S. 227, der meint: „,Falsche‘ Aussage des Verleiteten kann also auch hier nur die pflichtwidrige Aussage sein“.
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keit es in diesem Zusammenhang geht, sondern eine objektive Voraussetzung der beeideten oder unbeeideten Aussage des Verleiteten beschreibt. Im Gegensatz dazu bezieht sich das Wort „falsch“ im Rahmen der §§ 153 und 154 hingegen auf die Beschreibung der Aussage als tatbestandliches Handlungsmerkmal. Insofern müsste ein solches Urteil dann zugleich eine Rolle bei der praktischen Beurteilung der Tathandlung spielen, denn die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit ist kein Ort für wahrheitstheoretische Satzanalysen. Im Strafrecht geht es um Handlungsweisen, die als strafbar ausgewiesen werden. Strafrechtliche Relevanz käme einem theoretischen Urteil dann zu, wenn die Wahrheit gleichsam dinghaft vorgestellt würde, so dass sie vom Zeugen verlangt werden könnte, wie vom Mieter der Mietzins.75 Nur wenn man in einer solchen Weise unterstellt, dass jemand tatsächlich über den geschuldeten Gegenstand, d.h. den objektiv wahren Sachverhalt verfügen kann, ließe sich ein solcher Vergleich ziehen, denn dann würde die Tathandlung gleichsam darin bestehen, das Wahre zu verweigern und stattdessen etwas Falsches zu geben. Ganz in diesem Sinne hatte eine ältere Lehre von einem „Recht auf Wahrheit“ gesprochen, das von Seiten eines Staates gegenüber seinen Bürgern postuliert werde.76 Ein solches „Recht auf Wahrheit“ wurde dabei vor allem im Kontext eines weiten – noch nicht auf das Vermögen beschränkten und mit der Fälschung im Allgemeinen zusammenfallenden – Begriffs des Betruges propagiert, zu dem zwischenzeitlich auch der Meineid gezählt wurde.77 So konnte die Verweigerung der „Wahrheits-Gabe“ als Rechtsverletzung deklariert werden. 75 Eine solche Sicht hat schon Hegel kritisiert: „Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andere hüben ohne Gemeinschaft mit dem andern isoliert und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann“, Phänomenologie des Geistes, Werke, hrsg. v. Moldenhauer/Michel, Band 3, S. 40. 76 So etwa Ortloff, Lüge (Fn. 56), S. 41; ders., Der Gerichtssaal 12 (1860), S. 107 f.; Hälschner, Strafrecht II/2 (Fn. 69), S. 905; s. a. v. Liszt, Lehrbuch (Fn. 72), S. 575 m. Fn. 10. 77 Vgl. etwa die Einteilung bei Heffter, Lehrbuch (Fn. 6), S. 303 ff., der sowohl die „Falsche Zeugschaft“ (S. 311 f.) als auch den Meineid (S. 325 ff.) zu den „Verbrechen gegen die Rechtspflichten zur Wahrheit und Redlichkeit“ zählt; s. a. Wächter, Lehrbuch (Fn. 6), Theil 2, 1826, S. 203 ff., bes. 255 ff.; ähnlich bereits Westphal, Criminalrecht (Fn. 13), S. 513, der den „Meineyd“ zu den „strafbaren Verletzungen der Wahrheit“ zählt – ebenso wie „Betrug und Verfälschungen“ (S. 476); v. Quistorp, Grundsätze (Fn. 13), Erster Theil5, 1794, S. 615; Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts II/1 (1799), S. 119; Klien, Neues Archiv des Criminalrechts I (1816), S. 128/229; ähnlich noch Alsberg, Der Gerichtssaal 66 (1905), S. 54 ff., der den Meineid zu den Fälschungsverbrechen gezählt hat und dabei insbesondere eine Parallele zur Urkundenfälschung herstellen wollte. Zur Geschichte der Diskussion um ein vermeintliches „Recht auf Wahrheit“ vgl. allgemein Annen, Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung, 1997, S. 194 ff.; speziell im Strafrecht Pawlik, Betrug (Fn. 63), S. 114 ff. jeweils m. N.
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Die vermeintlich korrelierenden Begriffe – Wahrheit und Falschheit – können aber nicht als eine Art Gegenstand begriffen werden, den man in Aussagen schlicht von sich geben kann. Daher kann es auch nicht um eine Beschreibung ihres instrumentellen Einsatzes zur Rechtsgutsschädigung bzw. -gefährdung gehen. Aus einem solchen Bickwinkel wird gerade die Sicht auf den primär handlungsbezogenen Sinn gesetzlicher Tatbestandsmerkmale verstellt. Die hinter den §§ 153 f. StGB stehende Norm kann nicht schlicht lauten: „Du sollst die Wahrheit sagen!“, um der Rechtspflege nicht zu schaden. Wie bereits Hegel in einem allgemeinen Zusammenhang angemerkt hat, muss zu einer solchen Anforderung: „Jeder soll die Wahrheit sprechen . . . sogleich die Bedingung zugegeben werden: wenn er die Wahrheit weiß“.78 Das Sollen kann sich folglich aber zumindest nicht allein auf das Wahre beziehen, sondern muss sich weiter noch auf das Wissen des aussagenden Subjekts erstrecken, das in einer Aussage geäußert wird. Nur wenn diese Kenntnis des wahren Sachverhaltes bei einem Zeugen oder Sachverständigen unterstellt werden kann, soll von ihm verlangt werden können, dass sie gleichsam unbehandelt aussagt wird. Wenn eben diese Unterstellung als normative Voraussetzung der Aussagedelikte angesehen werden kann, dann mag es zumindest nicht primär um die Beurteilung von Inhalt und Gegenstand der Aussage in theoretischer Perspektive gehen. Die Wahrheit als solche ist insoweit rechtlich noch irrelevant und ebenso die bloße Tatsache, dass etwas Unwahres geäußert wird,79 ebenso wie es in ethischer Hinsicht „keinen sittlichen Wert der Wahrheit“ für sich allein betrachtet geben kann.80 Aus strafrechtlicher Perspektive wird nicht das Ausgesagte, sondern vielmehr die verstellende Außendarstellung der Kenntnis durch das Aussagesubjekt in den Blick genommen. Nicht ein Wahrheits-Gebot, sondern ein Lügen-Verbot bildet den normtheoretischen Kern der §§ 153 ff. StGB. Eine Lüge entspricht jedoch nicht einer unwahren sondern einer unwahrhaftigen Aussage, die stets das Bewusstsein der Falschheit impliziert.81 Insofern ist eine Isolierung des objektiven „Wahrheits-Gehalts“ einer Aussage – als tatbestandsmäßige Handlung – von ihrem bewusst-gewollten Vollzug nicht 78 Hegel, Phänomenologie (Fn. 75), S. 313; vgl. dazu Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, 2000, S. 167 f. 79 In dieser Hinsicht ähnlich z. B. auch Abegg, Archiv des Criminalrechts N. F. 1838, S. 297; Luden, Abhandlungen (Fn. 8) Band 1, 1836, S. 494; Thomsen, Der Gerichtssaal 60 (1902), S. 60 f./63; Binding, Lehrbuch (Fn. 46), Band 2/1. Abt.2 1904, S. 134 m. Fn. 3; Gerland, Reichsstrafrecht (Fn. 40), S. 371. 80 So z. B. ausdrücklich Hartmann, Ethik4, 1962, S. 460. 81 Vgl. etwa schon Mannheim, Der Gerichtssaal 81 (1913), S. 401. Dazu allgemein zuletzt auch Fallis, Journal of Philosophy 106 (2009), S. 29 ff., bes. 33; Schmetkamp, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 127 ff., bes. 129 jeweils m.w. N. aus der (moral-)philosophischen Diskussion. Die philosophiehistorisch bedeutsamste Verknüpfung von Lüge und Unwahrhaftigkeit findet sich bekanntlich in Kants berühmten Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (zuerst 1797), Werkausgabe VIII, S. 637 ff.
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möglich. Wenn dies in der Form eines Gebotes reformuliert werden soll, so ändert sich die normative Erwartung: nicht die Wahrheit der Aussage, sondern die Wahrhaftigkeit des Aussagenden kann geboten sein, denn gebieten lässt sich nur, was auch tatsächlich geleistet werden kann.82 Die Reformulierung des LügenVerbots in ein Gebot wahrhaftiger Aussagen wird durch den Bezug zur prozessualen Rolle der Aussagepersonen als Zeugen bzw. Sachverständigen erforderlich. Beide sind zwar „zur Wahrheit verpflichtet“, was indes nicht mehr und nicht weniger als eine Pflicht zur wahrhaftigen Äußerung der eigenen Wahrnehmung beim Zeugen bzw. der sachverständigen Erkenntnisse bedeuten kann. Dieser Unterschied wurde schon früher anerkannt und anhand der Differenz zwischen „logischer“ und „moralischer“ Falschheit bzw. Wahrheit bezeichnet. So hat am Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise Johann Christoph Koch ganz in diesem Sinne betont: „Der Umstand, daß die Sache an und für sich betrachtet, mit dem Zeugniß des Aussagenden im Widerspruch steht – daß die Aussage logisch falsch ist – begründet noch keinen Meineid, sondern die Aussage muß moralisch falsch, in Rücksicht auf den Aussagenden unrichtig seyn, und gegen dessen bessere Wissenschaften von der Sache anstosen“.83 Entsprechendes drückt sich im Grunde in der Eidesformel durch den Verweis aus, dass der Zeuge nur „nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen“ haben muss (§§ 64 f. StPO). Unrein wird die Wahrheit daher nicht schon durch objektiv unwahre Mitteilungen, sondern durch unwahrhaftige Wissensvermittlung. Der auch durch die prozessuale Rollenverteilung bedingte Bezug zum Wissen des Zeugen und Sachverständigen lässt das schuldige Bemühen um wahrhaftige Aussagen nicht erst als Anforderung des allgemeinen Vorsatzerfordernisses entstehen, sondern gehört schon zur Beschreibung des objektiven Zuschnitts der jeweiligen Pflicht, „die reine Wahrheit“, wie sie sich für das Aussagesubjekt darstellt, nicht zu verfälschen.84 Nun ließe sich weiter gehend behaupten, nicht Wahrheit, sondern Wahrhaftigkeit sei das wahre Gegenteil der Falschheit,85 wenn darin nicht die Gefahr einer Verwechslung zu befürchten wäre; denn im hier relevanten Zusammenhang kann es nicht darum gehen, von Wahrhaftigkeit als Tugend und Falschheit als Laster oder einer bestimmten Gesinnung zu sprechen.86 Genau dies schwingt bei der 82 Ebenso Gallas GA 1957, S. 315; Otto, Grundkurs (Fn. 59), § 97 Rn. 10 ff.; ders., Jura 1993, 389 f.; Müller, Zeugenaussage (Fn. 71), S. 76/85 f. u. ö. MK-Müller, § 153 Rn. 52; NK-Vormbaum, § 153 Rn. 74; ähnlich Kargl, GA 2003, S. 804 f. 83 Koch, Anfangsgründe (Fn. 13), S. 379. Zur Unterscheidung zwischen „logicalischer“ und „moralischer Unwahrheit“ s. a. Glafey, Vernunfft- (Fn. 56), S. 522 f. 84 Ebenso – wenngleich nur beiläufig – wohl auch Pawlik, Betrug (Fn. 63), S. 81. 85 Diese Möglichkeit übersieht z. B. Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 254, der „dem Merkmal ,falsch‘ drei Gegenbegriffe“ zuordnet: „,richtig‘, ,wirklich‘ und ,wahr‘“, wobei nur der letztgenannte für den Kontext der Aussagedelikte „relevant“ sein könne; ebenso NK-Vormbaum, § 153 Rn. 58.
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Rede von Wahrhaftigkeit jedoch meist mit.87 Wahrhaftigkeit meint jedoch keineswegs nur eine tugendhafte Haltung, sondern weist immer auch einen konkreten Handlungsbezug auf.88 Ebenso wie bei den anderen subjektiv-objektiven Tatbestandsmerkmalen, so zeigt sich auch hier ein besonderes reflexiven Verhältnis zur Tathandlung, das sich nicht erst als Vorsatz bzgl. des Wahrheitsgehaltes der eigenen Aussage verstehen lässt; denn nicht erst als Wissen und Wollen der Falschheit oder Wahrheit kommt das Subjekt ins Spiel. Die Tathandlung – das Aussagen89 – muss auch in diesem Fall gleichsam „ins Innere“ verlängert werden; dementsprechend darf die Beurteilung nicht beim äußeren Aussageverhalten halt machen. Aussagen ist ein „Sich-Äußern“. Jemand sagt falsch aus, wenn sich im äußeren Akt des Äußerns zugleich ein vorausgegangener interner „Fälschungs“-Akt ausdrückt, der mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit – nicht aber notwendig auch mit einem Wahrheitsanspruch – auftritt, den er nicht einlöst. Durch die Verlängerung Tathandlung in das subjektive Vorfeld des Aussageverhaltens relativiert sich auch die Fixierung auf eine angeblich notwendige Rechtsgutsverletzung zur Beschreibung des Unrechtscharakters einer Falschaussage.90 Wenn eine Aussage vor Gericht durch unwahrhaftige Äußerungen (und nicht allein durch die objektive Unwahrheit des Inhalts) „falsch“ wird, dann lässt sich diese Eigenschaft der Tathandlung nicht mehr als quasi-substantiviertes Tatmittel beschreiben, mit dem die Rechtspflege gefährdet oder verletzt werden kann. Die Subjektivierung des Merkmals der falschen Aussage muss folgerichtig auch auf der Ebene der Unrechtsbestimmung zu einer Einbeziehung des Subjekts und ihrer Rolle im Verfahren führen, d.h. dessen prozessuale Pflichten insofern in Betracht gezogen werden müssen, nach deren Maßgabe auch der Umfang des geforderten Maßes an Wahrhaftigkeit bestimmt wird. Nicht eine Rechtsgutsgefährdung, sondern eine Pflichtverletzung bildet insoweit den Unrechtskern der Falschaussage i. S. d. § 153 StGB. 86 So etwa Krause, Über die Wahrhaftigkeit, 1844, S. 5 f., für den „das Gegentheil der Wahrhaftigkeit die Falschheit“ ist, verstanden als „Gesinnung welche die Unwahrheit will“. 87 Als tugendethisches Ideal ist die Wahrhaftigkeit eingehend von Bernhard Williams zum Thema gemacht worden: vgl. ders., Der Wert der Wahrheit, 1998, S. 11 ff.; ders., Wahrheit und Wahrhaftigkeit, 2003, S. 11 ff. und passim. 88 Vgl. hierzu und zum Folgenden Cohen, Ethik des reinen Willens5, 1981, S. 498 ff., für den die Wahrhaftigkeit zwar primär „die erste Tugend“ ist (500), als solche jedoch als „Tugendwegweiser der Handlung“ fungiert, wobei er darunter vor allem das „innere Sprechen, in dem das Denken präzis wird“ versteht, denn dies „ist selbst schon Handlung“ (520 f.); in dieser Hinsicht spielt die Wahrhaftigkeit dann auch eine entscheidende Rolle für die Zeugenaussage, denn sie fordert „zum genauen Durchdenken des Falles“ auf, „über den die Aussage zu erstatten ist“ (525). 89 Ausführlicher zum Begriff der Aussage z. B. Schneider, GA 1956, S. 338 ff.; Kargl, GA 2003, S. 794 f.; Stein, FS-Rudolphi, 2004, S. 553 f./561 f. 90 In dieser Hinsicht ähnlich Gallas, GA 1957, S. 318 f.; Schmidhäuser, FS OLG Celle, 1961, S. 219 ff./234 ff.
Hinreichende Mindestbedingung Von Friedrich Toepel Eine Theorie, die mit dem Namen der verehrten Jubilarin stets untrennbar verbunden sein wird, ist ihr Konzept von der Kausalität als hinreichender Mindestbedingung.1 Von einer Theorie, die mit so viel Genauigkeit im Detail ausgearbeitet worden ist wie diese, darf man erwarten, dass sie Bestand hat. Manchmal bereitet es auch Vergnügen, zu beobachten, wie eine derartige wohletablierte Theorie den Anstürmen der Kritiker ausgesetzt wird, um dann siegreich aus der Auseinandersetzung hervorzugehen. Leider besteht nicht oft die Gelegenheit, eine solche detaillierte Auseinandersetzung mit dem Kausalkonzept der verehrten Jubilarin zu verfolgen. Zu fest gegründet scheint diese Ansicht zu sein, als dass noch ein respektabler „Ritter von der konkreten Gestalt“ den Mut für einen ernsthaften Angriff auf eine derart sichere Burg aufzubringen vermöchte. Um so mehr muss es interessieren, wenn ein Jurist und Philosoph aus dem angloamerikanischen Rechtskreis, der Amerikaner Michael S. Moore, eine umfangreiche Monographie über die Kausalität veröffentlicht und in dieser ein ganzes – ablehnendes – Kapitel den generalisierenden Kausalkonzepten widmet2, zu denen wohl auch das Konzept der verehrten Jubilarin zu rechnen ist. Man fragt sich, wie wohl die Antwort auf die dort vorgebrachten Argumente lauten würde, und da eine Nachfrage nicht möglich ist, denn dieser Beitrag soll ja eine Überraschung werden, habe ich mich entschlossen, mich in die Rolle der verehrten Jubilarin hineinzuversetzen und die Gegenargumente vom Boden des Puppeschen Kausalkonzepts aus selbst zu beantworten, ebenso wie Dr. Watson zuweilen in Abwesenheit des großen Meisters dessen Methoden mit mehr oder weniger großem Erfolg anzuwenden versuchte:3
1 Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 875 ff.; dies., SchwZStr 1990, 141, 151, Fn. 12; dies., Strafrecht AT/1, 2002, 2/68; NK-StGB3 /Puppe, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 80–134, insbesondere 103. 2 Moore, Causation and Responsibility, Oxford 2009, S. 471–496. 3 Doyle, The Hound of the Baskervilles, London 1902, ch. 8–11; ders., His Last Bow, London 1917, dort die Erzählung ,The Disappearance of the Lady Frances Carfax‘.
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I. Die Präzision der Formulierung von Kausalgesetzen Einen ersten Einwand streift Moore, wenn er herausarbeitet, welche Bedeutung eine generalistische Kausalitätstheorie haben könnte. Die generalistische Theorie ist von einer singularistischen zu unterscheiden, die singuläre Kausalsätze als grundlegend betrachtet und generelle Aussagen allenfalls als zweitrangig. Moore scheidet zunächst eine solche Auffassung von generellen Kausalsätzen aus, die in diesen nur von singulären Kausalsätzen abgeleitete Regularitäten sieht, also Generalisierungen, die induktiv aus allen wahren singulären Sätzen gewonnen werden.4 Eine derartige Ansicht könnte kaum von einer „moderaten“ singularistischen Theorie unterschieden werden, die singuläre Kausalsätze für grundlegend hält, jedoch zugesteht, dass jede singuläre Kausalrelation von einem generellen Kausalgesetz begleitet wird. Denn für eine solche Ansicht wären Kausalgesetze nicht nur notwendig für eine Kausalrelation, sondern auch hinreichend. Ob man sich für eine generalistische Ansicht entscheidet oder eine singularistische, bliebe dann weitgehend ein Streit um Worte. Es bleiben nichttriviale generalistische Ansätze wie die Spielarten der hinreichenden Minimalbedingung.5 Die Theorie von der hinreichenden Minimalbedingung ist eine Verbesserung des Ansatzes, dass eine Ursache eine hinreichende Bedingung für den strafrechtlich missbilligten Erfolg sein muss. Es soll nicht ein beliebiger Begleitumstand zu einer hinreichenden Bedingung hinzugerechnet werden, der nichts daran ändern würde, dass insgesamt eine hinreichende Bedingung vorliegt. Wenn z. B. als grobe Gesetzmäßigkeit formuliert werden würde, dass Funken ein Feuer verursachen, so könnten Funken als notwendige Bestandteile einer aus den Funken, brennbarem Material und Sauerstoff bestehenden hinreichenden Bedingung verstanden werden. Wenn zu dieser hinreichenden Bedingung der Faktor hinzugerechnet würde, dass sich in der Nähe des Funkens Asbest befindet, könnte auch ein solches erweitertes Set insgesamt als hinreichende Bedingung bezeichnet werden. Jedoch wäre die Nähe des Asbests nicht ein notwendiger Bestandteil der hinreichenden Bedingung. Das gesamte hinreichende Set einschließlich der Nähe des Asbests wäre nicht eine hinreichende Minimalbedingung, weil es die Nähe des Asbests als überflüssigen Faktor enthielte. Moore lässt offen, ob die „ernsthaften Bedenken“ gegen die zugrundeliegende Auffassung von Gesetzmäßigkeiten berechtigt sind, und führt mit Ausnahme eines Hinweises auf die Schwierigkeiten von Hume, Gesetze als Regularitäten zu identifizieren, nicht näher aus, welche Bedenken er meint,6 weil er diesem Einwand offenbar kein ausschlaggebendes Gewicht verleihen will. Es lässt sich je4
Moore (Fn. 2), S. 472. Oft im Anschluss an Mackie, The Cement of the Universe, Oxford 1974, S. 62: „a minimal sufficient condition“. 6 Moore (Fn. 2), S. 472 f.; s. auch Armstrong, What is a Law of Nature, Cambridge 1984, passim. 5
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doch denken, dass er den Einwand gemeint haben könnte, der auch dem diesem Ansatz verwandten deduktiv-nomologischen Schema von Hempel-Oppenheim7 entgegengehalten wurde: Wenn die Motivation für die Ergänzung einer Auffassung von der Ursache als hinreichender Bedingung um das Element der Minimalbedingung die präzisere Identifikation des wirklich ausschlaggebenden Faktors ist, dann reicht eine grobe Umschreibung, wie wir sie oben von dem Zusammenhang zwischen Funken und Feuer gegeben hatten, nicht aus. Alltagssprachliche Ausdrücke wie „Funken“ identifizieren niemals präzise die für die Kausalität relevanten Faktoren, und die Naturwissenschaften könnten sich dem Ideal der Formulierung einer Gesetzlichkeit ohne jedes überflüssige Detail nur langsam nähern. Daher wird teilweise die Formulierung eines präzisen Gesetzes, so dass es dem Sinn des nomologischen Schemas entspricht, nicht für möglich gehalten.8 Dementsprechend hat auch Stegmüller auf die Frage, ob es Erklärungen gibt, die diesem Schema entsprechen, nicht gewagt positiv zu antworten, sondern nur festgestellt, dass die Möglichkeit solcher Systematisierungen bis heute nicht widerlegt ist.9 Hempel selbst hat sein Schema als (ideales) Modell bezeichnet, welches nicht bezwecke, wiederzugeben, wie praktizierende Wissenschaftler tatsächlich Erklärungen formulieren.10 Wer dem Ideal einer solchen besonders „reinen“ Erklärung nicht entspricht, läuft Gefahr, Formulierungen von Naturgesetzen zuzulassen, die keinen größeren Erklärungsgehalt besitzen als entsprechende singuläre Kausalsätze. Jedenfalls gibt es kein klares Abgrenzungskriterium, wann eine Formulierung hinreichend detailliert und präzise ist, um noch als Erklärung zu gelten. Doch wollen wir Moore folgen, diesem Einwand kein entscheidendes Gewicht beimessen und uns stattdessen dem nächsten Kritikpunkt zuwenden: II. Die abschließende Formulierung von Kausalgesetzen Vielleicht sollte auch dieses Argument am besten stillschweigend übergangen werden: Moore fragt, ob eine Bedingung jemals abschließend formuliert werden kann, wenn die Möglichkeit auch negativer Bedingungen anerkannt wird.11 Wenn 7
Hempel, Aspects of Scientific Explanation, New York 1965, S. 249. Ruben, Explaining Explanations, London 1990, S. 206 f.; ders., Midwest Studies in Philosophy, IX, 1990, S. 130, 143; vgl. auch Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises im Strafprozeßrecht, 2002, S. 189 f.; ders., Legal Proof and Scientific Explanation, in: Sources of Law and Legislation, Attwooll/Comanducci (Hrsg.), ARSP Beiheft 69, 1998, S. 80, 83. 9 Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie Bd. 12, Berlin 1983, S. 190. 10 Hempel (Fn. 7), S. 412. 11 Moore (Fn. 2), S. 475 f. 8
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zugestanden wird, dass negative ebenso wie positive Bedingungen kausalrelevant sein können,12 lässt sich dann jemals ein Kausalgesetz abschließend formulieren, oder müssten nicht Myriaden negativer Bedingungen mit aufgenommen werden, damit das Kausalgesetz auch wirklich so stimmt, dass es in der jeweiligen Situation zutrifft? Zugegeben, es wird mitunter nur formuliert, dass auch „die Tatsache, dass jemand etwas Bestimmtes nicht tut, notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen Gesetzen zureichenden Bedingung eines Erfolgs sein kann“.13 Aber wenn einmal negative Bedingungen – und sei es nur als negatives Verhalten – als notwendige Bestandteile der hinreichenden Bedingung zugelassen worden sind, wie kann man sie dann wieder ausschließen? Wenn der Täter z. B. einen Menschen durch einen Schuss tötet, gehört dann nicht zur Formulierung der hinreichenden Bedingung, dass das Gewehr nicht blockiert, dass der neben dem Täter Stehende nicht den Gewehrlauf im entscheidenden Moment zur Seite gestoßen hat, dass der Täter nicht vergessen hat, die Kugel zum Tatort mitzubringen etc. ad infinitum? III. Abgrenzung von nichtkausalen Regularitäten Wie können nichtkausale von anderen Regularitäten mit Hilfe einer Theorie von der hinreichenden Mindestbedingung unterschieden werden? Moores Beispiel zeigt, wie dies im Kontext der Frage nach der Ursächlichkeit relevant werden könnte:14 Angenommen, dass ein Fahnenmast unter Sonneneinstrahlung einen 5 Fuß langen Schatten auf den Boden wirft und der Winkel des Sonnenlichteinfalls 45 ë beträgt, dann bedeutet das, dass der Fahnenmast 10 Fuß hoch sein muss. Was hindert, zu sagen, dass die Tatsache der Länge des Schattens von 5 Fuß notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung für die Länge des Fahnenmasts von 10 Fuß war, die aus dieser Tatsache und derjenigen eines Sonnenlichteinfalls von 45 ë bestand. Dennoch ist die Länge des Schattens keine Ursache für die Länge des Fahnenmasts. Warum? Schon Mackie erkannte, das wir eine Zusatzannahme benötigen, die der kausalen Notwendigkeit, an die wir uns nur langsam durch Tests heranarbeiten können.15 Doch diese Zusatzannahme ist nicht im Kriterium der hinreichenden Mindestbedingung enthalten. Wie definieren wir sie, ohne zirkulär zu werden? 12 NK-StGB3 /Puppe, Vor §§ 13 ff., Rn. 117; auch von mir geteilte Auffassung, Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten, 1992, S. 93–95; a. A. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 7/26, 29/15 ff.; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den Unterlassungsdelikten, 1990, S. 310. 13 Puppe (Fn. 12), Rn. 117. 14 Moore (Fn. 2), S. 476 f. 15 Mackie (Fn. 5), S. 230.
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IV. Ursachen und Nebeneffekte Moore bezieht sich insoweit auf ein Beispiel von Mackie.16 Die Fabriksirenen in Manchester ertönen um 5 Uhr, kurz danach legen die Londoner ihre Arbeit nieder. Hier stellen die Tatsache, dass die Sirenen in Manchester ertönen, und die negative Tatsache, dass alle Bedingungen fehlen, die bewirken könnten, dass die Sirenen nicht um 5 Uhr ertönen, sicher, dass es 5 Uhr ist. Dass es 5 Uhr ist, veranlasst die Londoner, ihre Arbeit wenig später niederzulegen. Wie aber wird sichergestellt, dass das Ertönen der Sirenen in Manchester nicht die Ursache für das Niederlegen der Arbeit durch die Londoner zu betrachten ist, was offensichtlich falsch wäre? Dass die Sirenen in Manchester ertönen und dass alle Bedingungen fehlen, die bewirken könnten, dass die Sirenen nicht um 5 Uhr ertönen, stellt sicher, dass es 5 Uhr ist. Dass es 5 Uhr ist, veranlasst die Londoner, ihre Arbeit wenig später niederzulegen. Also ist insgesamt, dass die Sirenen in Manchester ertönen und dass alle Bedingungen fehlen, die bewirken könnten, dass die Sirenen nicht um 5 Uhr ertönen, eine hinreichende Bedingung dafür, dass es 5 Uhr ist. In dieser hinreichenden Bedingung ist notwendiger Bestandteil, dass die Sirenen in Manchester ertönen, weil in diesem Set nur diese Tatsache sicherstellt, dass es 5 Uhr ist, was wiederum eine hinreichende Bedingung dafür ist, die Londoner zu veranlassen, ihre Arbeit niederzulegen. Folglich ist eine hinreichende Mindestbedingung nicht hinreichend, um einen Faktor als Ursache zu identifizieren. Es bedarf noch weiterer Zusatzannahmen außer der kausalen Notwendigkeit. Mackie sieht diese in der kausalen Richtung. Bedingende Regularitäten werden nur akzeptiert, wenn sie Situationen wiedergeben, in denen ein früherer Faktor einen späteren herbeiführt.17 Bei dieser Betrachtungsweise ist es möglich, den Fehler zu eruieren. Die Tatsache, dass es 5 Uhr ist, bewirkt das Ertönen der Sirenen, nicht das Ertönen der Sirenen die Tatsache, dass es 5 Uhr ist, weil es erst 5 Uhr sein muss, damit die Sirenen in Manchester ertönen können. Das Ertönen der Sirenen in Manchester ist folglich nicht seiner kausalen Richtung nach hinreichend dafür, dass es 5 Uhr ist, sondern die Tatsache dass es 5 Uhr ist, dafür, dass die Sirenen in Manchester ertönen. Diese Lösung aber führt hinüber zum nächsten Einwand, der Harmonisierbarkeit von hinreichenden Bedingungen und temporaler Asymmetrie.18 Vom Ansatz von Puppe her könnte auch daran gedacht werden, den bei der Abgrenzung von Ersatzursachen angeführten Gedanken aufzugreifen, dass überprüft wird, ob die Kausalkette ein nach Nahwirkungsgesetzen ablaufender Prozess ist, dergestalt, dass Ursache und Erfolg miteinander über gesetzmäßige Zwischenstadien verknüpft sind.19 Für eine Ursächlichkeit des Ertönens der Sirenen 16 17 18 19
Moore (Fn. 2), S. 481–483; Mackie (Fn. 5), S. 84. Mackie (Fn. 5), S. 85. Dazu sogleich unter V. Puppe (Fn. 12), Rn. 114 f.
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in Manchester für das Niederlegen der Arbeit durch die Londoner fehlt es an einer über gesetzmäßige Zwischenstadien verbundenen Kette. Dies aber ist ein sehr problematischer Ausweg wegen der damit verbundenen ontologischen Implikationen, auf die noch unten zurückzukommen sein wird.20 V. Asymmetrie der Kausalrelation Eine hervorstechende Eigenschaft singulärer Kausalsätze ist ihre Asymmetrie. Es sind zwar Zirkel denkbar. Betrinken kann z. B. Scham verursachen, die ihrerseits zum Betrinken führt.21 Die einzelne Ursache ist jedoch stets in einer Richtung auf den rechtlich missbilligten Erfolg hin mit diesem verbunden und nicht umgekehrt der Erfolg auf die Ursache hin mit dieser. Bei generellen Kausalsätzen, die Relationen zwischen Ereignistypen beschreiben, ist dies nicht von vornherein ausgeschlossen.22 Funken können ebenso Feuer wie Feuer Funken verursachen. Nach Moore gibt es nur drei Wege, diesem Problem zu begegnen, die er alle für unbefriedigend hält: Es könnte versucht werden, die Asymmetrie in die kausalen Regularitäten hineinzulesen. Zunächst zitiert Moore dazu Mackie, jedoch in unrichtigem Zusammenhang.23 Das Zitat24 stammt aus dem zweiten Kapitel von Mackies Buch, in dem er gerade nicht Regularitäten, sondern singuläre Kausalsätze behandelt, auf die sich auch die zitierte Stelle bezieht. Es ergibt m. E. durchaus Sinn, aus singulären Kausalsätzen im Wege der Interpretation eine zeitliche Richtung herauszulesen. „X tötet Y.“ bedeutet z. B, dass auf Xs Verhalten hin zeitlich versetzt der tatbestandliche Erfolg, der Tod des Y, eintritt. Freilich ist kenntlich zu machen, dass die kausale Richtung hier durch eine Auslegung des Kontexts ermittelt wurde, dass es sich nicht um ein der Ursache als Bedingung immanentes Kriterium handelt. Richard Wright25 versucht eine derartige Verknüpfung von Bedingung und kausaler Gerichtetheit. Moore weist zu Recht darauf hin, dass eine derartige „gerichtete hinreichende Bedingung“ einen nur schwach verdeckten zirkulären Hinweis auf eine „kausale hinreichende Bedingung“ bedeutet. Dagegen kann ich mich Moore nicht anschließen, wenn er dies gewissermaßen als unerbittliche Konsequenz eines Hineinlesens der Asymmetrie in kausale Regularitäten betrachtet. Moore glaubt, bei diesem Ansatz bliebe unerklärt, weshalb
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Dazu unter VI. De Saint-Exupéry, Le petit prince, Paris 1943, ch. 12 (le buveur). Moore (Fn. 2), S. 483–485. Moore (Fn. 2), S. 484 Fn. 34. Mackie (Fn. 5), S. 53. Wright, Vanderbilt Law Review 54 (2001), S. 1071, 1103, Fn. 113.
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das Zusatzelement der kausalen Richtung angemessen sei.26 M. E. ist es ebenso wie bei singulären Kausalsätzen, durchaus möglich, eine zeitliche Gerichtetheit durch Auslegung der generellen Kausalsätze zu erhalten. Dasselbe Ergebnis wie bei der Beziehung zwischen singulären Ereignissen in singulären Kausalsätzen kann auch durch Auslegung der Beziehung zwischen Ereignistypen erhalten werden, wie sie durch den gesetzlichen Tatbestand umschrieben wird. Wenn ein Mensch getötet wird, ist ein Täterverhalten gemeint, dass zeitlich später zu einer Verkürzung des Lebens eines anderen Menschen führt. Durch eine solche Auslegung wird nicht ausgeschlossen, dass es im Prinzip eine Wirkung in die Vergangenheit hinein geben könnte, wie Wissenschaftler zuweilen gegenwärtig annehmen, wenn sie von der Möglichkeit einer „Zeitreise“ ausgehen.27 Jedenfalls im rechtlichen Kontext kann im Regelfall vorausgesetzt werden, dass der Gesetzgeber recht konservativ gedacht hat und daher nicht von Anomalien wie rückwärts gerichteter Kausalität ausgegangen ist. Moore führt als zweite Möglichkeit an, das Erfordernis einer zeitlichen Gerichtetheit der Kausalrelation einfach zu postulieren.28 Es lässt sich ohne weiteres zustimmen, dass ein derartiger Ansatz bedenklich wäre. Jedoch besteht – wie bereits ausgeführt – in rechtlichem Kontext kein Grund, einen derartigen Weg einzuschlagen und auf eine Begründung des Zusatzkriteriums durch Auslegung zu verzichten. Die dritte Möglichkeit, die Moore sieht, bestünde darin, plausible Gründe für eine zeitliche Gerichtetheit von hinreichenden Kausalbedingungen anzugeben.29 Jedoch ist dies nach dem bereits Gesagten kein eigenständiger dritter Weg, sondern eine Ergänzung der bereits genannten Möglichkeit, durch Auslegung des jeweiligen Wortlauts der Strafrechtstatbestände den Sinn herauszudestillieren. VI. Die Beliebigkeit der hinreichenden Bedingung und kausale Überdeterminiertheit Das wichtigste Argument von Moore gegen die Theorie von der hinreichenden Mindestbedingung betrifft die verschiedenen Möglichkeiten, die hinreichende Bedingung zu formulieren.30 Befinden sich mehrere, für sich hinreichende Bedingungen im kausalen Umfeld der Situation vor dem Erfolg, so lässt sich die Formulierung so treffen, dass Kausalität vorliegt oder auch so, dass Kausalität abgelehnt werden muss: 26
Moore (Fn. 2), S. 485. Z. B. Sider, Philosophical Studies 110 (2002), S. 2 ff.; auch bereits Mackie (Fn. 5), S. 161–166. 28 Moore (Fn. 2), S. 484. 29 Moore (Fn. 2), S. 485. 30 Moore (Fn. 2), S. 486–495. 27
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Die berühmten zwei Wilderer A und B treffen zufällig, ohne voneinander zu wissen, den Förster C gleichzeitig so in den Kopf, dass jede Kugel für sich den Tod genau zu dem Zeitpunkt t1 herbeigeführt hätte, zu dem der Tod auch wirklich eingetreten ist. Eine hinreichende Bedingung ist das Gewehr des A mit dem Finger des A am Abzug zur rechten Zeit, mit der Kugel und dem Abstand von C. Teil dieser hinreichenden Bedingung ist der Schuss des A. Es handelt sich um einen notwendigen Teil der Bedingung, denn ohne den Schuss sind die Begleitumstände nicht geeignet, den Erfolg von selbst herbeizuführen. Aber die hinreichende Bedingung kann auch so formuliert werden, dass sie beide Schüsse, den des A und den des B umfasst. Dann ist der Schuss des A nicht mehr notwendiger Bestandteil der hinreichenden Bedingung. Insoweit liegt keine „Mindestbedingung“ vor. Wie wird bestimmt, welche von beiden Beschreibungen ausschlaggebend ist? Es scheint die Antwort denkbar, es komme doch nur darauf an, dass irgendeine Mindestbedingung formulierbar sei, ganz gleich, wie man sie aus der Situation herauslese. Damit jedoch wird die Formel zum untauglichen Werkzeug, um Ersatzursachen auszuscheiden, jedenfalls wenn man sie auf generalisierende Kausalaussagen anwendet, wie es die generalistischen Theorien ja tun. Fälle, bei denen es darum geht, Ursachen von Ersatzursachen abzugrenzen, sind typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass sich mehrere generell geeignete (= hinreichende) Faktoren im kausalen Umfeld befinden. Alle diese Faktoren haben notwendige Bestandteile, so dass jede von ihnen als Ursache zu betrachten ist. Wenn B im Wildererbeispiel etwas später schießt als A, so dass die Kugel den Tod erst zum Zeitpunkt t2 herbeigeführt hätte und den Kopf des C trifft, als dieser schon tot ist, lässt sich der Schuss des B als generell geeignete Mindestbedingung formulieren, wenn die Kugel des A unberücksichtigt gelassen wird, so wie es soeben für den Fall des gleichzeitigen Schusses für erlaubt gehalten wurde. Natürlich würde ein solches Ergebnis niemand akzeptieren. Aber dies ist umso schlimmer, als dadurch auch der Wert unseres Ergebnisses im Fall der gleichzeitigen Schüsse in Frage gestellt würde, denn zu welchem anderen Zweck musste das Kriterium der hinreichenden Mindestbedingung dort appliziert werden, wenn nicht dazu, Ursachen von Ersatzursachen zu trennen? Es sieht so aus, als ob hier kein anderer Ausweg besteht, als Kriterien der konkreten Situation heranzuziehen und dadurch mit dem Modell einer generalisierenden Kausalitätstheorie zu brechen. Nur der Verlauf, der z. B. den Erfolg mit dem zu prüfenden Faktor über (konkrete) gesetzmäßige Zwischenstadien verbindet, ist ein Kausalverlauf.31 Dies ist eine Zusatzannahme, die nicht im Kriterium der hinreichenden Bedingung enthalten ist.
31
Puppe (Fn. 12), Rn. 114 f.
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Es lässt sich dafür vielleicht eine Begründung finden, z. B. die Erwägung, dass Kausalität ein in der Zeit nach Nahwirkungsgesetzen ablaufender Prozess sei.32 Dann aber muss darüber Klarheit bewahrt werden, dass dieser Schritt hinüberführt zu einer schwer ontologiebelasteten Auffassung. Kontinua, die über Zwischenstadien vermittelt werden, lassen sich nicht durch Gesetzesformulierungen beschreiben.33 Kausalketten erhalten dann vielmehr eine eigene Realität, nicht weniger als der Begriff der Ursache als Wirkkraft34 und mit allen Nachteilen einer derart mystischen Entität. Im Grunde wird das Kriterium der Mindestbedingung dann überflüssig. Was benötigt man noch, wenn man eine Kette von Zwischenstadien zwischen Ursache und Erfolg festgestellt hat? Und hält man die hinreichende Mindestbedingung dennoch für notwendig, dann muss Vorsicht walten bei der Ergänzung des Kriteriums einer Mindestbedingung (das doch gerade gesetzmäßige Bedingungen herausarbeiten soll) um ein Kriterium der Verbundenheit von Ursache und Erfolg durch gesetzmäßige Zwischenstadien. Gesetzmäßige Zwischenstadien dürfen hier wohl nicht hinreichende Mindestbedingungen sein, sonst wäre das Zusatzkriterium ja überflüssig: Wenn jedes Zwischenstadium eine hinreichende Mindestbedingung für den Erfolg wäre, dann auch der erste Faktor, den die Zwischenstadien mit dem Erfolg verbinden. Aber die hinreichende Mindestbedingung soll ja gerade nicht als Kriterium für Kausalität hinreichen, wie wir soeben am Beispiel der zeitlich aufeinanderfolgenden Schüsse gesehen haben. Aber was bedeutet dann hier gesetzmäßige Zwischenstadien? Der Begriff scheint ganz unerklärt; und wenn man die gesamte Begründung der Kausalität in Fällen wie den aufeinanderfolgenden Schüssen betrachtet, scheint die Argumentation zirkulär zu sein: Die Ursache ist eine gesetzmäßige Bedingung, d. h. eine hinreichende Mindestbedingung, die mit dem Erfolg durch gesetzmäßige Zwischenstadien verknüpft ist. Zudem fällt es schwer zu sehen, wie eine derartige ontologisch belastete Auffassung wie die der kontinuierlichen Verbindung durch Zwischenstadien noch die Kausalität von Unterlassungen oder auch nur des Abbruchs rettender Kausalverläufe begründen will.35 Wenn darauf hingewiesen wird,36 dass auch Zwischensta32 Puppe (Fn. 12), Rn. 115. Dieser Gedanke geht wohl auf Russells Annahme einer räumlich-zeitlichen Kontinuität (spatio-temporal contiguity) zurück, Russell, Human Knowledge, New York 1948, S. 491. 33 Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 180 ff.; Puppe (Fn. 12), Rn. 115, Fn. 37. 34 Dies wird von Moore gutgeheißen, Moore (Fn. 2) S. 500, 511. In der deutschen Diskussion machte Haas (Fn. 33) S. 180 ff., auf diesen Aspekt aufmerksam. Von Puppe (Fn. 12), Rn. 115, Fn. 37, wird dies ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen. 35 Moore (Fn. 2), S. 444–459 hält den Schluss für zwingend, dass Unterlassungen und der Abbruch rettender Kausalverläufe nicht für den Erfolg kausal werden können, ebenso in Deutschland Haas (Fn. 33) S. 163, 183; Puppe (Fn. 12), Rn. 115, Fn. 37, glaubt hingegen, diese Konsequenz nicht ziehen zu müssen. 36 Puppe (Fn. 12), Rn. 115, Fn. 37.
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dien eine Kausalkette zwischen Ursache und Erfolg vermitteln können sollen, die durch negative Ereignisse oder Situationen verbunden sind, fällt es schwer, sich von diesem Argument überzeugen zu lassen. Negative Ereignisse oder Situationen besitzen doch gerade nicht den ontologischen Gehalt, der benötigt wird, um die Ersatzursache von der Ursache zu trennen. Negative Ereignisse oder Tatsachen haben keine „Existenz“.37 Negative Ereignisse bilden vielmehr Lücken, die verhindern, dass rettende Kausalketten auf das Opfer zulaufen können. Ebenso verhält es sich mit dem Abbruch rettender Kausalverläufe bezüglich der abgebrochenen Kausalkette und der auf das Opfer zulaufenden schädigenden Kausalkette. Beide Verläufe sind durch eine Lücke getrennt. Die Verhinderung von rettenden Kontinua zwischen einem Faktor und dem Erfolg ist nicht selbst ein Kontinuum zwischen Ursache und Erfolg. Wer anderer Ansicht ist, muss Lücken, die zur Ablehnung von Kausalverläufen führen, von Lücken abgrenzen, die nicht zur Ablehnung, sondern vielmehr zur Bildung von Kausalverläufen führen. Welches Kriterium könnte diese Unterscheidungsleistung erbringen? Wer etwa „gesetzmäßige“ Lücken von „nicht gesetzmäßigen“ Lücken abgrenzen will, braucht wiederum einen Begriff der Gesetzmäßigkeit, der – wie im letzten Absatz gezeigt – sowohl vom Begriff der hinreichenden Mindestbedingung verschieden als auch nicht zirkulär sein muss. Aber ein solcher Begriff der Gesetzmäßigkeit existiert nicht. Dies wird auch an anderen Vertretern einer generalisierenden Kausaltheorie deutlich wie John Stuart Mill und Richard Wright. Auch ihre Modelle führen zu zirkulären Lösungen, wie Moore zeigt. Mill glaubt, das Problem lösen zu können, indem er davon ausgeht, dass bei einer Ersatzursache die hinreichende Bedingung nicht komplett verwirklicht ist. Die hinreichende Bedingung werde stets komplettiert „durch die Abwesenheit von verhindernden oder gegensteuernden Kausalverläufen“38. Wie Moore bemerkt, ist dieser Schritt harmlos, sofern „die Abwesenheit von verhindernden oder gegensteuernden Kausalverläufen“ nur ein abgekürzter Ausdruck für eine Enumerierung der Umstände in nicht-kausaler Sprache ist, die „die Abwesenheit von verhindernden oder gegensteuernden Kausalverläufen“ ausmachen.39 Aber natürlich ist es nicht das, was Mill meint, denn diese Umstände sind viel zu verschiedenartig und zu zahlreich, um sie im Einzelnen abschließend aufzuzählen. Mill will vielmehr eine umfassende negative Bedingung formulieren und kann dies nur, indem er auf irreduzibel kausale Termini zurückgreift, eben auf „die Abwesenheit von verhindernden oder gegensteuernden Kausalverläufen“. Dann aber ist Moore40 darin beizupflichten, dass Mill hier insgesamt ein hoffnungslos zirkuläres Kriterium propagiert. 37 Vgl. Lewis, Journal of Philosophy 97 (2000), S. 195, der negative Ereignisse „bogus entities“ nennt und Moore (Fn. 2), S. 445, der der Ansicht ist, dass Abwesenheiten keine Dinge sind „außer in schlechten Witzen und Heideggerscher Philosophie“. 38 Mill, A System of Logic8, London 1872, Book III, Ch. V, sec. 3. 39 Moore (Fn. 2), S. 492.
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Ähnlich propagiert Richard Wright, der durch seinen NESS Test bekannt wurde,41 die Ergänzung der hinreichenden Mindestbedingung um eine umfassende negative Bedingung, um Ersatzursachen auszuscheiden. Wenn dem Opfer zuerst Gift verabreicht wurde, es dann aber erschossen wurde, bevor das tödliche Gift wirken konnte, töte nur der Schuss das Opfer, nicht das Vergiften, da bezüglich des Vergiftens die umfassende negative Bedingung nicht erfüllt sei.42 Moore ist m. E. zuzustimmen, dass eine solche Antwort einen Kausalbegriff impliziert, der dem Begriff der hinreichenden Bedingung vorausliegt. Richard Wrights Antwort ist nicht weniger bedenklich, als es die folgende wäre: „Kein Set von Bedingungen ist vollständig hinreichend, wenn es nicht eine umfassende negative Bedingung einschließt, die die Abwesenheit von kausalen Faktoren fordert, welche nicht im hinreichenden Set enthalten sind.“43 Dann aber wäre die Zirkularität offensichtlich. VII. Versuch einer Diagnose Zurückblickend muss ich eingestehen, dass das Kausalkonzept von der hinreichenden Bedingung recht gut abschneidet: Das Problem der Formulierbarkeit präziser Kausalgesetze44 spricht nicht speziell gegen das Konzept, sondern weist nur auf ein allgemeines Problem der Naturwissenschaften hin, den Kampf um immer reinere, von überflüssigem Ballast gesäuberte Erklärungen. Wenn dieses Ideal nicht in den Naturwissenschaften erreicht wird, kann es niemandem verübelt werden, dass präzise Naturgesetze nicht im viel weniger präzisen juristischen Kontext formuliert werden können. Das Prinzip der hinreichenden Mindestbedingung bleibt dennoch als Arbeitshypothese wertvoll, weil es eine Kerneigenschaft von Naturgesetzen beschreibt. Dass man eine kausale Notwendigkeit und eine kausale Richtung der Prozesse45 postulieren muss, über die sich nach der philosophischen Literatur intensiv der Kopf zerbrochen wird,46 würde mich ehrlich gestanden auch wenig beunruhigen. Eine zeitliche Priorität der Ursache vor der Wirkung erscheint so natürlich, dass abweichende Möglichkeiten selbst dann vernachlässigt werden können, falls jemand eine Relativitätstheorie entwickelt, die Zeitreisen noch wahrscheinlicher macht, als manche gegenwärtige Philosophen glauben. Dass sich ein ge-
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Moore a. a. O. (Fn. 39). Wright, California Law Review 73 (1985), S. 1735 ff. (NESS = Necessary Element of a Sufficient Set). 42 Wright (Fn. 25), S. 1130: „the omnibus negative condition [. . .] was not satisfied“. 43 Moore (Fn. 2), S. 492. 44 Siehe oben I. 45 Siehe oben III. bis V. 46 Mackie (Fn. 5), S. 160 ff. 41
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wöhnlicher Verbrecher einer Zeitmaschine bedient, um seine Taten auszuführen, ist so weit vom juristischen Alltag entfernt, dass man die Unfähigkeit einer Kausaltheorie, damit fertig zu werden, getrost übersehen darf. Es bleibt die Frage der vollständigen Formulierbarkeit hinreichender Sets besonders im Zusammenhang mit dem Problem, Ersatzursachen auszuscheiden.47 Dieser Aspekt scheint mir ein echtes Problem für die Theorie von der hinreichenden Mindestbedingung zu bedeuten. Aber es gibt einen Weg, das Problem zu beseitigen: Die Theorie von der hinreichenden Mindestbedingung sollte nicht für die Abgrenzung von Ursachen und Ersatzursachen in Kontexten wie dem juristischen oder historischen verwendet werden, weil sie dafür nicht geeignet ist. Die mangelnde Formulierbarkeit vollständiger hinreichender Sets zeigt die entscheidende Schwäche dieser Theorie. Sie kann nicht ein ungeordnetes kausales Umfeld bewältigen, mit dem es typischerweise ein Jurist oder Historiker zu tun hat. Damit meine ich, dass der Jurist oder der Historiker die von ihm zu beurteilenden Situationen als gegeben hinnehmen muss, weil sie in der Vergangenheit liegen. Er kann nicht die Begleitumstände manipulieren oder in Variationen wiederholen, so dass er das Ersatzursachenproblem von vornherein ausschaltet. Ganz anders verhält es sich in einem typischen naturwissenschaftlichen Kontext. Wenn durch einen Versuch naturwissenschaftliche Zusammenhänge bestätigt oder aufgedeckt werden sollen, wird peinlich darauf geachtet, die Bedingungen des kausalen Umfeldes präzise zu definieren. Falls der Verdacht besteht, dass ein anderer Umstand als der jeweils getestete für den Erfolg verantwortlich war, wird dieser Umstand eliminiert und der Versuch dann wiederholt. Insofern könnte auch z. B. eine Situation, in der der Verdacht der Doppelkausalität besteht, nie dazu dienen, ein signifikantes Ergebnis zu stützen. Wenn im Tierversuch geprüft wird, welche Menge Gift für die bestimmte Tierart tödlich wirkt, dann wird der Versuch so oft mit verschiedenen Giftmengen wiederholt, bis genau erkennbar wird, welche Menge minimal für die Tötung des Tiers benötigt wird. Nur wenn das Versuchstier an dieser minimalen Dosis stirbt, kann davon gesprochen werden, dass die konkrete Menge ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung war. Wenn im Versuch die doppelte Menge Gift verabreicht würde, käme im naturwissenschaftlichen Kontext niemand auf die Idee, die Menge künstlich zu teilen und dann zu sagen, wenn jede Menge für sich betrachtet in Verbindung mit der jeweiligen Versuchsanordnung ohne Berücksichtigung der übrigen Menge des Gifts betrachtet würde, könnten wir hier zwei hinreichende Mindestbedingungen formulieren, die beide für den Erfolg kausal geworden wären. Für sich genommen hätte ein Experiment mit einer überflüssig großen Menge Gifts vielmehr keine andere Bedeutung als diejenige, dass der Naturwissenschaftler sagen kann, die gesamte in einem solchen Fall verabreichte Giftmenge reiche jedenfalls 47
Siehe oben II. und VI.
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aus, um das Versuchstier zu töten. Die Juristen hingegen, die das Kriterium von der hinreichenden Mindestbedingung anwenden, versuchen auch aus den Teilen einer Gesamtbedingung, z. B. zwei gleichzeitigen jeweils tödlichen Schüssen, einzelne Ursachen herauszukonstruieren, wenn sie dieses Kriterium aus seinem angestammten naturwissenschaftlichen Gebiet in ihre Kontexte verpflanzen. Dabei missachten sie genau die Unsicherheiten des kausalen Umfeldes, die die Naturwissenschaftler als Misslingen des Versuchs stets beachten würden. Mein Vorschlag lautet daher: Man lasse die hinreichende Mindestbedingung als Kriterium für unter Laborbedingungen ermittelte Kausalgesetze bestehen. Für die Beurteilung einer singulären Kausalrelation verwende man hingegen ein anderes Kriterium. Hier ist das kausale Umfeld zu einem großen Teil unbekannt. Das, was herausgefunden werden soll, ist, ob ein bestimmtes Ereignis x die Welt so verändert hat, dass der Erfolg y eintrat. Was ist natürlicher, als dieses Ziel so zu übersetzen, dass herausgefunden werden soll, ob das Ereignis x notwendig für das Ereignis y war? Wie lassen sich diese Bedeutungen der Ursache im generellen und im singulären Sinne miteinander vereinbaren? Nun, die Bedeutung der Ursache im Sinne genereller Kausalaussagen kann als Argument für eine Ursache im Sinne singulärer Kausalaussagen dienen.48 Ein Naturgesetz stützt dann die singuläre Kausalaussage, wenn nach allen bekannten Eigenschaften des kausalen Umfeldes die Situation mit der entsprechenden naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung übereinstimmt oder ihr zumindest sehr ähnlich ist. Es lässt sich auch leicht anhand der Bedingungsverhältnisse zeigen, wie die generelle Aussage zugunsten der singulären wirken kann. Wenn ein Ereignis vom Typ X hinreichend ist, ein Ereignis vom Typ Y herbeizuführen, dann gibt dies der These, dass ein Ereignis x vom Typ X für ein Ereignis y vom Typ Y notwendig ist, eine gewisse Wahrscheinlichkeit, nachdem Ersatzursachen ausgeschlossen worden sind. Freilich ist dann noch nicht die Schwierigkeit bewältigt, bei Anerkennung der These, dass die Ursache in singulären Kausalsätzen eine notwendige Bedingung ist, Ersatzursachen auszuscheiden. Es gibt hier kein anderes Rezept, als auf konkretisierte Beschreibungen zurückzugreifen. Dies zieht das bekannte Problem nach sich, zwischen relevanten und irrelevanten Konkretisierungen zu unterscheiden. Ich hatte in meiner Dissertation versucht, dieses Problem zu lösen, indem ich verlangte, dass konkretisierte Erfolgsbeschreibungen nur dazu verwendet werden dürften, zwischen Beiträgen zu differenzieren, die jeder für sich eine notwendige Bedingung wären, falls die rivalisierenden Ursachenkandidaten hinweg48 Angedeutet wurde dies von mir bereits in Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises, 2002, S. 195, Fn. 598. Dieses Verhältnis lässt sich auch mit Hilfe des Toulminschen Argumentationsschemas verdeutlichen, dazu Toepel, Causal Overdetermination, Vortrag auf dem International Book Symposium on Michael S. Moore’s Causation and Responsibility vom 15.–17. März 2010 (erscheint demnächst).
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gedacht würden.49 Ich halte das immer noch für die beste Idee, wenn man mit einem uneingeschränkten Kriterium vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt“50 arbeiten will. Leider aber versagt auch dieser Verbesserungsversuch: Wenn ich zwei gleichzeitige für sich tödliche Schüsse habe, dann wird jeder zu einer notwendigen Bedingung, sofern der andere hinweggedacht werden soll. Ist dieses Ergebnis gemäß meiner früheren Lösung ein Freifahrschein für jede beliebige konkretisierende Erfolgsbeschreibung, dann müsste auch die Konkretisierung hinreichen, dass der Tod bei Hinwegdenken eines Schusses ein Tod ohne die auf den hinweggedachten Schuss zurückzuführende Kugel im Kopf des Opfers wäre, mit dem Schuss hingegen ein Tod mit eben dieser Kugel im Kopf des Opfers.51 Es erscheint jedoch völlig unplausibel, davon die Entscheidung für oder gegen Kausalität abhängig zu machen. Ich möchte daher der verehrten Jubilarin das Geburtstagsgeschenk machen, zuzugeben, dass es kein geeignetes generelles Kriterium für die Abgrenzung zwischen relevanten und irrelevanten Konkretisierungen gibt, das für alle Konkretisierungen zutreffen würde. Ich gebe dieses Kriterium deshalb auf. Allerdings erscheint es mir unmittelbar einleuchtend, dass eine zeitliche Konkretisierung immer zugelassen werden kann. Jedoch konzediere ich, dass sich diese Konkretisierung nicht unmittelbar aus dem Kriterium der notwendigen Bedingung ableiten lässt. Die Bedeutung eines zeitlichen Unterschiedes zwischen Erfolg und Ersatzbedingung lässt sich vielmehr aus der Bedeutung eines reinen Erfolgsdelikts als Verbot, die Lebensdauer des Tatobjekts zu verkürzen, durch Auslegung ermitteln. Zugegeben, es lässt sich nicht begründen, dass gerade der Tod oder die Zerstörung zu diesem konkreten Zeitpunkt notwendig ist. Aber es lässt sich doch begründen, dass jeder Augenblick der Existenz des Tatobjekts zählt52 und deshalb die Differenzierung nach Zeitpunkten zur Hilfe genommen 49
Toepel (Fn. 12), S. 80. RGSt 1, 373; BGHSt 1, 332. 51 Meine gegenteiligen Ausführungen in Toepel (Fn. 12), S. 84 überzeugen mich nicht mehr. Das wird vielleicht etwa noch vorhandene Anhänger der condicio sine qua non freuen, die in der Fallgruppe alternativer Kausalität zur Bejahung eines Ursachenzusammenhangs kommen wollen. Überzeugen würde sie die Annahme einer condicio sine qua non aber auf die Dauer nicht, sonst hätte niemand den Verzweiflungsschritt getan, mit der einheitlichen Definition der Ursächlichkeit als notwendiger Bedingung zu brechen und die Traegersche Formel zu entwickeln, Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, S. 45 f.: Von mehreren Handlungen, die nicht kumulativ, aber alternativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele, ist jede kausal. 52 Töten bedeutet Leben verkürzen. Plastisch kommt dieser Gedanke zum Vorschein bei Gundling, Ausführlicher Diskurs über das Natur- und Völckerrecht, 1734, S. 131: „Gott wird mich zu seiner Zeit schon in Himmel bringen. Der Kerl soll mich nicht hinein bringen.“ 50
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werden darf, um eine relevante Zeitdifferenz festzustellen, um die die Dauer des Tatobjekts durch die Täterhandlung verkürzt worden ist. Die Differenzierung zwischen den zeitlichen Erfolgen ist eine Wertung, die durch Auslegung des Tatbestandes gewonnen wird. Aber sie bleibt eine Wertung, die nicht im Begriff der Kausalität enthalten ist. So kann man bei zwei aufeinanderfolgenden für sich genommen tödlichen Schüssen durchaus sagen: Der erste Schuss, der das lebende Opfer trifft, hat nicht dazu beigetragen, dass das Opfer überhaupt sterben muss. Das steht für jeden Menschen fest, sobald er geboren wird. Der erste Schuss war auch nicht dafür kausal, dass das Opfer in einem Zeitraum von 24 Stunden nach dem ersten Schuss starb. Die Welt, zu der der zweite Schuss gehörte, war geeignet, diesen Erfolg von selbst hervorzubringen. Aber der erste Schuss war kausal dafür, dass das Opfer zum Zeitpunkt t1 starb, kurz nachdem die durch den ersten Schuss abgefeuerte Kugel auf den Kopf des Opfers auftraf, und nicht zum Zeitpunkt t2, zu dem der Erfolg ohne den ersten Schuss eingetreten wäre. Ich will nicht ausschließen, dass auch weitere Konkretisierungen zugelassen werden können. Dies kann jedoch nur durch eine wertende Entscheidung geschehen, die sich durch Auslegung des jeweiligen Tatbestands stützen lassen muss. Es erscheint für mich z. B. ebenso mit guten Gründen vertretbar, räumliche Konkretisierungen bis zu einem gewissen Grad zuzulassen, wie, sie nicht zuzulassen: Wenn der Gleiswärter die Weiche umstellt, und der Personenzug exakt zum gleichen Zeitpunkt auf einem durch Bergrutsch verschütteten Gleis zerschellt, zu dem er auch auf dem ursprünglichen Gleis durch einen anderen Bergrutsch zerschellt wäre, kann durchaus die Frage gestellt werden, ob der Gleiswärter wirklich den Tod von Passagieren verursacht hat. Nehmen wir an, dass der Tod der Passagiere exakt zum selben Zeitpunkt wie in der hypothetischen Situation erfolgte, dann ist der Gleiswärter jedenfalls für keine erkennbare Lebensverkürzung verantwortlich. Ob die Ortsveränderung hinreichend ist, von einer Veränderung vom Leben zum Tod zu sprechen, die mit den Tötungsdelikten erfasst werden soll, ist eine Wertung. Wer die Ortsveränderung für hinreichend hält, steht vor dem Problem, bedeutende Ortsveränderungen von unbedeutenden abzugrenzen. Wie wäre es z. B., wenn der Gleiswärter die Weiche stellt, so dass der Zug auf einer Parallelstrecke fährt, die vor dem Bergrutsch wieder auf das ursprüngliche Gleis zurückführt und die von der Weiche bis zur Vereinigung mit dem ursprünglichen Gleis exakt dieselbe Länge besitzt wie das ursprüngliche Gleis, so dass sich insgesamt kein zeitlicher Unterschied ergibt? Soll dann immer noch der Gleiswärter für den Tod der Passagiere ursächlich geworden sein? Mit der oben unter VI. besprochenen ontologisierenden Methode, auf durch Zwischenschritte vermittelte Kontinua zurückzugreifen, würde man zur Bejahung der Kausalität gelangen, jedoch aller Intuition zuwider.
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Friedrich Toepel
Ich will nicht ausschließen, dass Dr. Watson sich an dieser Stelle bereits gehörig im Dickicht der Kausaltheorien verirrt hat. Er neigt ja so manches Mal zu abschweifenden Gedanken.53 Es wird also hohe Zeit, dass Sherlock Holmes den Fall wieder übernimmt, und was Sie zu dem hier Ausgeführten sagen, darauf bin ich gespannt.
53
Siehe z. B. Doyle, The Sign of Four, London 1890, Ende von Ch. 2.
Strafrecht in Universität und Praxis Von Rainer Zaczyk I. In ihrem reichen wissenschaftlichen Werk hat Ingeborg Puppe neben vielen Fragen des Allgemeinen und Besonderen Teils des Strafrechts immer wieder Methodenprobleme behandelt und zudem auch Reflexionen über Aufgabe und Gestalt der Rechtswissenschaft im Allgemeinen und der Strafrechtswissenschaft im Besonderen vorgelegt.1 Auch Ausbildungsfragen hat sie stets im Blick behalten und das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis war ihr immer ein Problem. Vor die Wahl gestellt, einen Beitrag zu einem der von Puppe behandelten strafrechtsdogmatischen Fragen zu schreiben (und damit das Risiko einzugehen, von der Bonner Kollegin bereits wenige Tage nach ihrem Geburtstag in einem wissenschaftlichen Streitgespräch scharfsinnig zur Rede gestellt zu werden) oder aber ein Thema zu erörtern, bei dem wir meist schneller einig sind, habe ich letzteres gewählt. Zwar ist das Thema (oft formuliert als das Verhältnis von Theorie und Praxis) schon häufig behandelt worden.2 Es soll aber hier insofern auf etwas andere Weise dargestellt werden, als Wissenschaft in Forschung und Lehre sowie Praxis vor dem Hintergrund der sie einigenden Aufgabe „Strafrecht“ in einen 1 Zu letzterem s. Puppe, Vorwort, in: dies., Strafrechtsdogmatische Analysen, 2006, S. 13 ff.; dies., Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008; dies., Besorgter Brief an einen künftigen Strafrechtswissenschaftler, GA 1999, S. 409 ff. (sarkastisch); dies., Gespräch in einem Wartezimmer über die Macht und die Wissenschaft, in: Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 417 ff. – Über das Anliegen Ingeborg Puppes als Hochschullehrerin sagen viel ihre Ausführungen über ihren eigenen Lehrer: Wilhelm Gallas als akademischer Lehrer, in: Küper (Hrsg.), In memoriam Wilhelm Gallas (1903–1989), 1991, S. 29 ff. 2 Vgl. aus neuerer Zeit für das Verhältnis Strafrechtswissenschaft-Strafrechtspraxis z. B. Burkhardt, Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik, in: Hassemer u. a. (Hrsg.), Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 111 ff.; Erb, Strafrechtswissenschaft, höchstrichterliche Rechtsprechung und tatrichterliche Praxis des Strafrechts, in: ZStW 113 (2001), S. 1 ff.; Frisch, Zum Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis im Strafrecht, in: Tröndle-Festschrift, 1989, S. 19 ff.; Meyer-Goßner, Theorie ohne Praxis und Praxis ohne Theorie im Strafverfahren, in: ZRP 2000, S. 345 ff.; Radtke, Gestörte Wechselbezüge?, in: ZStW 119 (2007), S. 69 ff. – Die folgenden Ausführungen ergänzen eine Gruppe früherer Arbeiten des Verf.: Strafrecht als Wissenschaft an der Universität, in: Festgabe für Otto Theisen, 1996, S. 35 ff.; Über Theorie und Praxis im Recht, in: Festschrift für Hans Dahs, 2005, S. 33 ff.; Was ist Strafrechtsdogmatik?, in: Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 723 ff.
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Zusammenhang gebracht werden. Anlass dafür sind auch neuere Tendenzen in der Wissenschaft selbst, zu denen Stellung bezogen werden muss.3 II. 1. An der Universität wird Strafrecht als Teil der Rechtswissenschaft erforscht und gelehrt; Professoren haben ihr Fach in Forschung und Lehre zu vertreten (z. B. nach § 35 Hochschulgesetz NRW). Zumal im außeruniversitären Bereich verknüpft sich mit dem Begriff „Forschung“ geradezu reflexhaft die empirische Forschung speziell nach naturwissenschaftlichen Mustern. In der „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ würde nach diesem Verständnis zwar z. B. in der Kriminologie, der forensischen Psychologie und Psychiatrie oder der empirischen Strafvollzugskunde geforscht, nicht aber im Allgemeinen und Besonderen Teil des Strafrechts; hier gäbe es dann nur „Meinungen“, aus denen sich nach dem Prinzip der größten Zahl irgendwann eine „herrschende Lehre“ formierte. Ersichtlich hilft gegenüber einer solchen – letztlich abschätzigen – Einstellung der Hinweis nicht weiter, bei der Rechtswissenschaft handele es sich um eine Geisteswissenschaft. Denn wenn man der Geisteswissenschaft – wie in der Gegenwart üblich – die Möglichkeit abspricht, zu gesicherten Ergebnissen zu kommen,4 verbleibt ihr eben das Schicksal, als sog. Buch- und Diskussionswissenschaft abgetan zu werden. Wollte man es realistisch für die Rechtswissenschaft auf den Punkt bringen, so beendet der Gesetzgeber durch seinen Machtspruch jedwedes Palaver der Wissenschaft. Man kann der (Straf-)Rechtswissenschaft einen Eigenbereich für die Forschung nun dadurch zu sichern versuchen, dass man in ihr wesentlich kritische Grundlagenforschung sieht;5 der (kritischen) Legitimation von Strafrecht und Strafe gilt dann das Bemühen der Wissenschaft. So gewiss das ein Teil ihrer Aufgabe ist, liegt doch in dieser Reduktion auch eine Gefahr: Wenn man Kommentatoren wie Reinhard von Frank als bloße „Rechtsgehilfen“ bezeichnet und der Wissenschaft nur aufgibt, auch für die Praxis noch zu „sorgen“6, nährt man das 3 Siehe dazu Rotsch, Zur Hypertrophie des Rechts, in: ZIS 2008, S. 1 ff. (dazu schon Puppe, Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt, in: ZIS 2008, S. 67 ff.); Fischer, Strafrechtswissenschaft und strafrechtliche Rechtsprechung – Fremde seltsame Welten, in: Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 63 ff. 4 Dazu sei hier die These gewagt, dass sich in dieser Haltung eine Verfallsgeschichte des Denkens zeigt, in dem man meint, dass man nur in dem Feld, das weniger ist als der Mensch (der Natur) zu sicheren Gesetzen kommen kann, nicht aber in dem, was er selbst ist (wobei das jedoch keine Naturgesetze sein können). – So gesehen steht die Gegenwart auf dem Boden des Wortspiels, das Bertrand Russell von seiner Großmutter berichtet: „What is mind? Never matter. What is matter? Never mind.“ (Russell, Autobiographie I, 1972, S. 55) 5 Vgl. dazu Jakobs, Strafrecht als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 103 ff. 6 Beide Formulierungen bei Jakobs (Fn. 5), S. 135.
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Missverständnis, die wahren Meister der Strafrechtswissenschaft seien nur die, die sich um die großen Fragen kümmern, während der Rest das Recht nur „handhabbar“ macht.7 Aber es fragt sich, ob die Forschung im Recht allein den Grundlagenfragen gilt.8 Schon immer hatte jedenfalls im kontinentaleuropäischen Raum die Rechtswissenschaft (relativ) festen Boden ihrer Tätigkeit dadurch, dass sie als Gegenstand ihrer Untersuchungen die Rechtsregeln und geltenden Gesetze ansah.9 Nicht zu schnell sollte man an Kants Hinweis vorbeigehen, dass auch bei der (letztlich rechtsphilosophischen) Frage nach dem allgemeinen Kriterium der Erkenntnis von Recht oder Unrecht die geltenden Gesetze „vortrefflich zum Leitfaden dienen können“.10 Auslegung, Systematisierung und bisweilen Korrektur und Fortbildung des Gesetzesstoffs bieten also genügend Material für Forschung. Doch gilt es im Auge zu behalten, dass dies für den hier zu erörternden Zusammenhang nur ein Teilaspekt ist. 2. a) Puppe wählt für ihre „Kleine Schule des juristischen Denkens“ einen Ausgangspunkt, der heute keineswegs selbstverständlich ist: Das erste Kapitel des Buches ist überschrieben mit „Die Begriffe im Recht“.11 Vergleicht man das mit anderen Methodenlehren, so wird die Besonderheit gerade dieses Anfangs deutlich. Hans Martin Pawlowski beginnt seine „Methodenlehre für Juristen“12 nach der Einleitung mit dem Kapitel „Die Funktion der Rechtsnorm“; bei Reinhold Zippelius heißt das erste Kapitel „Begriff und Funktion des Rechts“13 und Karl Larenz stellt an den Anfang des systematischen Teils seiner „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ eine „Allgemeine Charakteristik der Jurisprudenz“.14 Es wäre voreilig, zu vermuten, Puppe wähle diese Vorgehensweise nur deshalb, weil sie – anders als die soeben genannten Autoren – Strafrechtlerin ist und sie daher wegen der Vorgabe des Artikels 103 Abs. 2 GG den Begriff in den Mittelpunkt stellen muss. Zwar mag das ein Motiv für den Aufbau ihres Buches sein, doch
7 So ein Ausdruck von Schulz, Die Strafrechtsdogmatik nach dem Ende der vor- und außerjuristischen Gerechtigkeit, in: Engel/Schön (Fn. 5), S. 136 ff., S. 144 u. ö.; diese Formulierung enthält durchaus etwas Richtiges, wenn man sie nicht technokratisch missversteht. 8 Das Feld ganz richtig weiter ziehend Kindhäuser, Die deutsche Strafrechtsdogmatik zwischen Anpassung und Selbstbehauptung – Grenzkontrolle der Kriminalpolitik durch die Dogmatik?, in: ZStW 121 (2009), S. 954 ff. 9 Daher bezeichnet Frisch, Wesenszüge rechtswissenschaftlichen Arbeitens – am Beispiel und aus der Sicht des Strafrechts, in: Engel/Schön (Fn. 5), S. 156 ff., die Rechtswissenschaft als „hermeneutische Wissenschaft“. 10 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § B (Ak. Ausg. Bd. 6, S. 230). 11 Kleine Schule (Fn. 1), S. 15 ff. 12 3. Aufl. 1999, S. 23 ff. 13 Zippelius, Juristische Methodenlehre10, 2006, S. 1 ff. 14 6. Aufl. 1991, S. 189 ff.
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lassen sich die Gründe für ihn aus sehr viel tieferen Schichten des Rechtsdenkens heraufholen als durch den bloßen Verweis auf positive Regelungen –, selbst wenn sie in der Verfassung positiviert sind. b) Nach den Methodendiskussionen in der Rechtswissenschaft der letzten 150 Jahre scheint der Ausgang vom Begriff auf den ersten Blick etwas Naives zu haben. Denn in der Rechtswissenschaft vollzog sich in dieser Zeit eine Entwicklung parallel zu derjenigen in der Philosophie. Noch bei Hegel enthielt der Begriff in seinem Kern Dynamik, er vermittelte Form und Inhalt auf eine wirklichkeitsgestaltende Weise, in der noch immer der eigentliche Ursprung des deutschen Idealismus sich zeigte, Kants praktische Philosophie. Im Gang der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts verschwand diese Verbindung. Der Begriff wurde nur mehr sprachliches Zeichen oder logische Form, rückte damit von seinem Inhalt ab und in den Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfassung der gegebenen Welt ein. Das Recht aber als eine die Wirklichkeit über das Sollen gestaltende Größe konnte dabei nicht stehenbleiben; es musste – in welcher Weise auch immer – die Lebenswirklichkeit mit sich, dem Recht selbst, in eine Beziehung bringen. Diese Verbindung wurde (etwa bei Rudolf von Ihering oder Franz von Liszt) so hergestellt, dass bei festgehaltener objektivierender Distanz der Begriffsform die Lebenswirklichkeit (gedacht als Kräftespiel von Lebensinteressen) mit dem Rechtsbegriff äußerlich verkoppelt wurde. Ausdruck dieser Entwicklung ist die Auseinandersetzung zwischen Begriffs- und Interessenjurisprudenz am Anfang des 20. Jahrhunderts. Zwar wurde bei ihr vonseiten der Interessenjurisprudenz jederzeit zugestanden, dass die Rechtswissenschaft ohne Begriffe nicht auskommt.15 Aber das genügt für die Qualität der „Rechtlichkeit“ eines Begriffs ersichtlich nicht, denn auch der Machtspruch eines Diktators erfolgt über Begriffe. Auf der Seite der Lebensinteressen war das Recht genauso wenig zu finden; dort herrscht die Macht des stärkeren Interesses. Die unweigerliche Konsequenz, das Recht dem Sozialdarwinismus auszuliefern, sollte dadurch vermieden werden, dass es zu einer Formierung und Gewichtung der Lebensinteressen kommen sollte, die durch die Gesetzgebung und die „Politik“ zu leisten war, und zwar, wie Heck schreibt, unter „Berücksichtigung“ der materiellen Gerechtigkeit.16 Rechtsbegriffe wurden damit letztlich zu Funktionsbegriffen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Den klarsten Ausdruck hat dieses Denken in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens gefunden. Es bleibt aber die Frage, wie hier die Gerechtigkeit „berücksichtigt“ werden kann. c) Auch Puppe treibt den Gedankengang in Richtung auf dieses Problem weiter, indem sie zunächst davon spricht, es gehe bei der Bildung von Rechtsbegrif15 Siehe etwa Heck, Begriffbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 52 ff.; Homberger, Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz, in: Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, 1976, S. 252 ff. 16 Siehe dazu Heck (Fn. 15), S. 36 ff., 40.
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fen darum, „dass wir unsere Begriffe selbst bilden und bestimmen müssen.“17 Das könne freilich nicht beliebig geschehen, da aus der Begriffsbestimmung „praktische Konsequenzen“ gezogen würden. Puppe gibt dazu drei Richtigkeitskriterien an: Die Verwendung des Begriffs durch den Gesetzgeber (subjektive Auslegung), den allgemeinen Sprachgebrauch und schließlich als praktisch wichtigstes Kriterium die Orientierung an den „praktischen Konsequenzen für die Rechtsanwendung, die sog. teleologische Auslegung.“18 Fragt man vor diesem Hintergrund, worin die methodische Erforschung eines beliebigen Rechtsbegriffs („Eigentum“, „öffentlich-rechtlicher Vertrag“, „Vorsatz“) liegen könnte, so kommt nach Puppe dem Rechtswissenschaftler eine doppelte Aufgabe zu: Er muss einerseits den Rechtsbegriff sprachlich interpretieren, in diese Interpretation andererseits aber die „praktischen Konsequenzen“ integrieren. Puppe zeigt das an folgendem Beispiel: Im Zivilrecht verstehe man unter dem Beginn des menschlichen Lebens (genauer: der Rechtsfähigkeit) die Vollendung der Geburt (§ 1 BGB). Im Strafrecht dagegen werde dieser Zeitpunkt mit dem Beginn der Geburt angesetzt. Letzteres geschehe, um Fehler bei der Entbindung (durch Geburtshelfer und Ärzte) als (fahrlässige) Körperverletzung oder Tötung bestrafen zu können. Puppe sieht, dass das den Verdacht der Zirkularität erweckt (aus der Folge wird ihr eigener Grund). Sie meint aber, ein solcher Zirkel lasse sich dadurch aufbrechen, dass das Ergebnis „anderweitig“ begründet würde: Die These, dass ein Kind während der Geburt bereits „Mensch“ im Sinne der §§ 211, 223 ff. StGB 19 ist, lasse sich darauf stützen, „dass die Geburt eine besonders kritische Lebensphase ist, die äußerste Aufmerksamkeit und Sorgfalt von den Geburtshelfern erfordert, und dass deshalb das Kind bereits in der Geburt eines strafrechtlichen Schutzes vor Fahrlässigkeit bedarf.“ 20 Es ist jedoch zu bezweifeln, dass es auf diese Weise zur Aufhebung eines Zirkels in der Begründung kommt; er wird lediglich in einen größeren Rahmen verschoben. Der Grund wird weiterhin aus der Folge bestimmt, jetzt aber so, dass die Folge des ersten Zirkels (Strafe) nun ihrerseits als zweckhafte Folge erläutert wird. Es fragt sich dann aber nicht nur, ob Strafe diesen Zweck überhaupt erreichen kann, sondern es fragt sich für den konkreten (Verletzungs-)Fall vor allem, weshalb sie hier eingesetzt werden soll, obwohl ihre Androhung ihn gerade nicht verhindert hat. Die Frage der Richtigkeit eines Rechtsbegriffs kann über ein teleologisches Verständnis allein nicht geklärt werden. d) Puppe selbst bietet aber einen gedanklichen Ansatzpunkt an, von dem aus sich ein erweiterter Blick auf die Begriffserforschung in der Rechts- und insbe17
Kleine Schule (Fn. 1), S. 18 Kleine Schule (Fn. 1), S. 19. 19 Ich übergehe hier das Problem, dass das StGB in den §§ 223 ff. nicht vom „Menschen“, sondern von der „Person“ spricht. 20 Kleine Schule (Fn. 1), S. 20. 18
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sondere Strafrechtswissenschaft ergibt. Sie sagt, es gehe letztlich um das „geistige Verstehen“ eines Begriffs.21 Damit ist allerdings ein gewichtiges Wort in den Zusammenhang eingeführt. Denn „geistiges Verstehen“ ist mehr als nur die Beschreibung des Zugangs zu einem von außen (etwa vom Gesetzgeber) geschaffenen Begriff; in ihm liegt auch mehr als nur die bloße Zusammenfassung verschiedener Interpretationsmethoden, selbst wenn man sie durch die allgemeine Lehre der Hermeneutik erhöht. Im „geistigen Verstehen“ ist eine Verbindung zwischen dem Begriff, seinem Gehalt und dem Verstehenden selbst angelegt und zudem eine Verbindung zum Geist dessen hergestellt, der den Begriff gesetzt hat. Damit ist zugleich ein bestimmtes Verständnis des „Machens“ rechtlicher Begriffe überwunden. Denn dieses „Machen“ ist kein technisches „Gemächsel“, dessen Gelingen allein davon abhängt, dass es „funktioniert“; wäre es so, dann unterschieden sich Gesetzeswerke nicht von Regeln der Herstellung eines Automobils. Ganz auf dieser Linie liegt aber das heute so verbreitete Verständnis des Rechts als Steuerungs- oder Lenkungsinstrument für eine Gesellschaft; ein solcher von den Subjekten abgehobener Funktionalismus fällt staatstheoretisch bestenfalls auf Hobbes zurück und hat seine Aufklärung gewiss noch vor sich.22 Im Gang dieser Aufklärung muss dem Rechtsbegriff die Qualität (wieder)gewonnen werden, als Praxisbegriff Ausdruck rechtsvernünftigen Wollens und Handelns der Rechtssubjekte zu sein – seien sie „Rechtsanwender“, seien sie allgemein „Normadressaten“, die beide nach der Idee der Republik Teilhaber am vernünftigen Allgemeinwillen selbst sind. Das „Machen“ von Rechtsbegriffen muss also beanspruchen, einen rechtsvernünftigen Gehalt im Begriff zu erfassen, denn jeder Rechtsbegriff ist ein Praxisbegriff und soll Handeln bestimmen. In die Arbeit am Rechtsbegriff ist damit die Arbeit an der Gerechtigkeit integriert, sie tritt nicht erst äußerlich zu ihr hinzu. In einem demokratisch verfassten Staat muss auch die Arbeit des Gesetzgebers selbst ausschließlich auf Rechtsgründen ruhen; nur dann kann er behaupten, Allgemeinverbindlichkeit zu schaffen. Im „geistigen Verstehen“ so geschaffenen Rechts, seiner Prinzipien und seiner Begriffe liegt damit zugleich die Forderung, die Richtigkeit und Gültigkeit eines Begriffs herauszuarbeiten.23 Um im Beispiel von Puppe zu bleiben: Leben und Integrität des Kindes bedürfen während der Geburt besonderer Fürsorge (noch 21
Kleine Schule (Fn. 1), S. 22. Zu einem solchen Verständnis des Rechts vgl. etwa Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, bes. S. 124 ff.; 550 ff. Der Mangel wird nicht dadurch behoben, dass man von der Selbststeuerung der Gesellschaft spricht; er wird so nur versteckt. Siehe auch Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 81 ff. 23 Nicht aber kann es der Rechtswissenschaft darum entscheidend gehen, die Folgen einer Regelung abzuschätzen, Folgen-Verantwortung zu übernehmen, wie Fischer meint (Fn. 3, S. 81). Da die Folgen eines gesollten Verhaltens niemals vollständig abzuschätzen sind, können sie auch nicht Prinzip einer wissenschaftlichen Klärung sein. Etwas anderes ist es, die Realmöglichkeit eines gesollten Verhaltens in die Begründung einzubeziehen. 22
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ganz unabhängig von einer möglichen Strafbarkeit etwa eines Geburtshelfers) und deshalb kann es als Unrecht begriffen werden, wenn diese Fürsorge nicht erbracht wird. Erst angeschlossen an diese grundlegende Aufgabe entfalten sich dann methodische Fragen wie z. B. die Systematisierung, die innere Kohärenz von Begriffen, der angemessene sprachliche Ausdruck, aber auch die Berücksichtigung des Lebensgebietes, in dem die Begriffe Handeln bestimmen sollen. Zumal bei der Bewältigung dieser letztgenannten Aufgabe fließt die je kulturelle Besonderheit einer Rechtswissenschaft mit ein.24 Eine solche Arbeit kann mit der für sie erforderlichen Gründlichkeit und Beharrlichkeit nur an einer sie ermöglichenden Institution arbeitsteilig geleistet werden. Diese Institution ist die Universität. 3. An diesem Punkt des Gedankengangs wird mancher meinen, es bedürfe dringend eines gleichsam realistischen Zwischenrufs. Denn die geforderte substantielle Arbeit der Rechtswissenschaft und speziell der Strafrechtswissenschaft müsste einhergehen mit der Anerkennung dieser Arbeit. Ganz zu Recht hat aber Fischer in seinem oben Fn. 3 zitierten Aufsatz hingewiesen auf „die schon fast demütigende Behandlung (. . .), welche die Strafrechtswissenschaft inzwischen durch den Gesetzgeber erfährt“25. Wissenschaftliche Beratung werde nicht mehr wirklich eingeholt, sondern nur parteipolitisch ins Machtkalkül eingesetzt. Verantwortlich dafür ist – neben dem Umstand, dass die politischen Parteien sich selbst schon für den Staat halten – gewiss die von Fischer im gleichen Aufsatz angesprochene „recht verbreitete Theorie- und Intellektualitätsfeindlichkeit“26, deren Scheu vor etwas längeren Gedankenketten wesentlich auf Denkfaulheit beruht. Die Wissenschaft könnte sich stolz darauf zurückziehen, dass die Lösung intellektueller Problemlagen bei anderen nicht ihre Aufgabe sei. Aber zumal die Strafrechtswissenschaft würde dann verkennen, dass ihr für diese Situation Mitverantwortlichkeit zukommt. Zwei Punkte sind zu nennen: 24 Das BVerfG hat in seinem Lissabon-Urteil diesen Punkt des Rechtsdenkens verdienstvollerweise gegenüber einer abstrakten Allgemeingültigkeit des Rechts hervorgehoben, s. Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u. a. –, Nr. 249, 363. 25 Fischer (Fn. 3), S. 77. – Diese Haltung der gegenwärtigen Politik entspricht aparterweise einem (aufgeklärten) Absolutismus: In einer Kabinettsordre Friedrich II. zu Beginn der Arbeit am Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten, 1780, heißt es: „Wenn Ich . . . Meinen Endzweck (sc. ein einfaches, populäres, vollständiges Gesetzbuch) erlange, so werden freylich viele Rechtsgelehrten bey der Simplifikation dieser Sache ihr geheimnißvolles Ansehen verlieren, um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht, und das ganze Corps der bisherigen Advokaten unnütz werden. Allein Ich werde dagegen (. . .) desto mehr geschickte Kaufleute, Fabrikanten und Künstler gewärtigen können, von welchen sich der Staat mehr Nutzen zu versprechen hat.“ (Zit. bei v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, wiederabgedruckt in: Hattenhauer (Hrsg.), Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, 1973, S. 95 ff., 148 Fn. 1). 26 Fischer (Fn. 3), S. 64 Fn. 4.
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a) Die Strafrechtswissenschaft hat besonders seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ihr Verhältnis zur Kriminalpolitik so diffus bestimmt, dass dieser nach und nach der Primat zukam. Handgreiflich nachzuweisen ist das an einem Text eines der renommiertesten Strafrechtler, Claus Roxin: „Kriminalpolitik und Strafrechtsystem“27. Zwar betont Roxin dort: „Rechtliche Gebundenheit und kriminalpolitische Zweckmäßigkeit dürfen einander nicht widersprechen, sondern müssen zu einer Synthese gebracht werden (. . .)“28. Aber jede Synthese zwischen zwei Elementen bedarf eines sie verbindenden Dritten. Nach dem Staatsverständnis der Neuzeit wird dieses Dritte von den Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaats gebildet, denen Kriminalpolitik und Strafrecht gleichermaßen unterworfen sind. Lässt man beide aber unvermittelt nebeneinander bestehen, so darf man sich nicht darüber verwundern, dass – wie es bei Roxin auch schon die Reihenfolge im Titel andeutet – der Kriminalpolitik (zumal in der schlichten Weise, wie sie gegenwärtig praktiziert wird) der Primat zuwächst. Dem Recht kommt keine Bindungswirkung gegenüber der Politik zu, es wird zur Magd der Politik – und es ist durchaus nicht mehr zweifelhaft, „ob sie ihrer geistigen Frauen die Fackel vorträgt, oder die Schleppe nachträgt.“29 Dabei geht es keineswegs darum, der Strafrechtswissenschaft etwa eine Letztentscheidungsbefugnis über Strafrechtsfragen zuzusprechen. Aber eine Politik, die Rechtspolitik sein will, muss mit der Rechtswissenschaft ein wirkliches Gespräch zu führen bereit sein. Roxin dürfte das seinerzeit nicht anders gesehen haben. Die (Kriminal-)Politik hat es aber offenbar anders aufgefasst und nach und nach bemerkt, welche Übermachtposition sie wegen des ungeklärten Verhältnisses von Recht und Politik einnehmen konnte. Das hat sie dann in einer die Strafrechtswissenschaft in der Tat demütigenden Weise umgesetzt – sei es beim 6. Strafrechtsreformgesetz30, bei der Regelung der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung oder bei der Schaffung der gedankenpolizeilichen Straftatbestände §§ 89a, 89b, 91 StGB.31 b) Ein zweiter, scheinbar äußerlicher Punkt prägt die Außenwahrnehmung der Rechtswissenschaft (vielleicht besser: ihres Wissenschaftsbetriebs), zumal bei denjenigen, die der Wissenschaft eher fern stehen: Nicht nur, dass die Wissenschaft streitet (das gilt für alle Wissenschaften und ist auch notwendig), sondern dass sie mit einer wahren Publikationsflut streitet,32 wirft einerseits die Frage auf, ob sie denn überhaupt mit einer Stimme sprechen kann, und zum anderen die 27
Erscheinungsjahr 1973. Roxin (Fn. 27) S. 10. 29 Kant, Zum ewigen Frieden, Ak. Ausg. Bd. 8, S. 369 (zum Verhältnis von Theologie und Philosophie). 30 Siehe dazu nur Lackner in der letzten von ihm mitbetreuten Auflage seines Kommentars (24. Aufl. 2001, Rn. 8, 10, 12 vor § 38). 31 Vgl. dazu etwa NK3-Paeffgen, 2010, § 89a Rn1 ff., 89b Rn. 3, § 91 Rn. 3 ff. und passim. 32 Vgl. dazu etwa Burkhardt (Fn. 2), S. 125 m. Fn. 66. 28
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Frage nach der Qualität des Publizierten. Beide Fragen hängen zusammen. Die erste zielt auf das Selbstverständnis jedes Wissenschaftlers einer Einzeldisziplin und der Disziplin selbst. Sie kann nur als – hier – „Strafrechtswissenschaft“ auftreten, wenn sie (bei aller Vielfalt der Argumentationen in Einzelfragen) durch jeden ihrer Wissenschaftler vertreten wird, der sich dabei zugleich als verbunden mit allen anderen in ihr Arbeitenden begreift. Dann wird er zwar noch immer seinen Argumentationsgang vertreten, aber weil er ihn als Argumentationsgang dieser Wissenschaft versteht, mit allen in ihr Tätigen verbunden sein. Nur auf dieser Basis sind überhaupt wissenschaftliche Auseinandersetzungen denkbar; wäre es anders, handelte es sich um einen kakophonen Chor von Angebern. Dass also überhaupt publiziert und diskutiert wird, ist – ganz unabhängig von der Quantität – notwendig für eine lebendige Wissenschaft und keineswegs ein Mangel. Für die Qualität der Beiträge ist freilich die Quantität nicht unerheblich. Dabei ist zunächst hervorzuheben, dass über die Qualität ihrer Argumentationen nur die Wissenschaft selbst entscheiden kann. Dass aber Quantität und Qualität nicht in einem direkt proportionalen Verhältnis stehen, weiß in der Wissenschaft jeder. Wissenschaftliches Publizieren heißt, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit einen Text über einen Gegenstand zur Prüfung vorzulegen, über den man in einer dem Gegenstand angemessenen Weise nachgedacht hat. Hier kommt die Zahl insofern ins Spiel, als sie den Werdegang des Wissenschaftlers selbst abbildet und zugleich die Dauer der Arbeit, in der der Text entstand. Was das erste betrifft, so fällt auf, in welch jugendlichem Alter man gegenwärtig mit dem Veröffentlichen beginnt.33 Man vergleiche einmal die Publikationsverzeichnisse von Hans Welzel, Karl Engisch oder Wilhelm Gallas34 bis zur ersten Berufung mit den Veröffentlichungslisten mancher heutiger Privatdozenten. Was die Dauer der Arbeit an einem Text betrifft, so sollte an die schlichte Einsicht erinnert werden, dass gut Ding Weile haben muss. Wilhelm Gallas soll einmal in einem Berufungsverfahren eine ebenso vielseitige wie viel-seitige Publikationsliste mit der Bemerkung kommentiert haben: „Das kann ja gar nichts sein.“ Es ist daher sehr zu begrüßen, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft künftig bei Förderanträgen die Nennung der fünf vom Antragsteller selbst für wichtig gehaltenen Texte fordert und für den Ausweis des Gelingens eines Projekts nur zwei Aufsätze pro Jahr for-
33 Hierzu eine Anekdote. In einem strafrechtlichen Seminar des Verf. hatten zwei Studenten ein – in zwei Teilen gefertigtes – Seminarreferat gehalten, das – als solches – recht ordentlich gelungen war und mit „vollbefriedigend“ bewertet wurde. Sehr zu meinem Erstaunen las ich das Referat wenig später in einer durchaus angesehenen juristischen Zeitschrift, ohne dass ein Wort geändert worden wäre. 34 Vgl. für Welzel (Prof. seit 1937) das Verzeichnis seiner Schriften in chronologischer Reihenfolge, in: FS Welzel 1974, S. 1 ff.; für Engisch (Prof. seit 1934) das Verzeichnis in: FS Engisch, 1969, S. 725 ff.; für Gallas (Prof. seit 1934) das Verzeichnis in: Küper (Hrsg.) (Fn. 1), S. 65 ff.
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dert.35 Hier sind Zahl und Qualität in ein vernünftiges Verhältnis gebracht. Für den einzelnen Wissenschaftler genügt schon eine Orientierung an dem von Wilfried Küper formulierten „kategorischen Inhibitiv“: „Publiziere nichts, von dem du nicht vollkommen überzeugt bist, dass du es unbedingt lesen müsstest, wenn es ein anderer geschrieben hätte!“ 36 III. 1. An diesem Punkt kann gut auf die Lehre als die andere Seite des Strafrechts an der Universität eingegangen werden, denn ein Teil der Publikationsflut ist Ausbildungsliteratur.37 Aber in diesem Abschnitt soll gar nicht diese Seite der Lehre im Vordergrund stehen, sondern ihre Aufgabe und ihre Situation an der Universität. Die Aufgabe der Lehre kann aus dem zur Forschung Gesagten entwickelt werden: Die Studierenden müssen die Fähigkeit erwerben, mit den Begriffen des geltenden Rechts in einer verantwortlichen Weise arbeiten zu können. Da diese Arbeit verantwortlich sein muss, darf die Lehre nicht auf unkritische Übernahme („Dressur“) eines äußerlich zu lernenden Stoffs gerichtet sein. Sie muss Ausbildung durch Wissenschaft, nicht etwa zur Wissenschaft sein.38 Die Lehre an der Universität ist auf die Grundlegung für den Juristenberuf gerichtet, sie ist keineswegs Berufsausbildung (das kann die Universität gar nicht leisten). Keinen Augenblick aber darf vergessen werden, dass sie Lehre ist für diejenigen, die später in einem dieser Berufe tätig sind; das wird im letzten Abschnitt dieses Textes noch von Bedeutung werden. Diese einfache Aufgabenbeschreibung lässt sich im gegenwärtigen Universitätsunterricht nur äußerst schwer in die Wirklichkeit umsetzen. Bedingt ist dieser 35 Siehe dazu Schmoll, Qualität statt Quantität, FAZ v. 24.02.2010, S. 6; Osel, Qualität durch die Hintertür, SZ v. 24.02.2010, S. 13. 36 Siehe Küper, Theorie und Praxis des Strafrechts in wissenschaftlicher Solidarität (Rez. FS Tröndle), in: GA 1991, 193, 199. 37 Die im vorigen Abschnitt angesprochenen Qualitätsmerkmale sollen nicht wiederholt werden; sie gelten noch in verschärfter Form auch hier. Nur soviel sei gesagt: Ein Vorlesungsskript wird nicht dadurch zum Lehrbuch, dass es in gebundener Form verkauft wird. Als Gegenbild sei der Anfang des Vorworts von Hans-Heinrich Jescheck zur ersten Auflage seines Lehrbuches zitiert: „Nach vielen Vorarbeiten habe ich mich entschlossen, ein Lehrbuch des Allgemeinen Teils des Strafrechts zu veröffentlichen. Die Grundidee zu diesem Werk stammt aus den Jahren 1954–1959 (. . .).“ Das Vorwort stammt aus dem Jahr 1969. 38 Dazu Kahlo, Wozu heute Rechtswissenschaften lehren und studieren?, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, 2002, S. 583 ff. – Sehr befremdlich eine Aussage des damaligen nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministers Pinkwart, der, in einem Interview nach den Aufgaben der Universität befragt, die Antwort gab, sie sei vorrangig für die Gewinnung des wissenschaftlichen Nachwuchses da (Generalanzeiger Bonn 13./ 14.02.2010, S. 5).
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Zustand durch vielerlei Faktoren, die ein sinnvolles Studieren immer schwieriger machen und in denen die von Fischer beklagte Theorie- und Intellektualitätsfeindlichkeit (man kann auch sagen: Geistferne) von Parteipolitik und Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Zu nennen sind der immense Zeitdruck, unter den Studierende heute (wohl gezielt) gestellt werden, die mehr und mehr ungeformte und prinzipienlose Masse an Stoff, der ihnen abverlangt wird, die Einführung des verführerischen „Freischusses“ (ein Wort aus dem Sprachschatz des Aberglaubens), das wachsende Missverständnis, Universitäten seien Orte etwas gehobener Berufsausbildung und schließlich die Vermassung der Universitäten mit ihrem (besonders in der Rechtswissenschaft) völlig unangemessenen Verhältnis von Lehrenden und Lernenden.39 Gleichwohl darf das eingangs genannte Ziel nicht aufgegeben werden, will sich die Universität nicht selbst aufgeben. Und speziell in der Rechtswissenschaft darf nicht übersehen werden, dass hier die künftigen Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Verwaltungsjuristen usw. ausgebildet werden. 2. Beharrt man auf der prinzipiell kritisch-begriffsorientierten Ausbildung durch Wissenschaft, ergibt sich für die Lehre eine Schwierigkeit, die zumal in der gegenwärtigen Ausbildungssituation (bedingt durch die soeben genannten Faktoren) erhebliche Folgen nach sich zieht. Die Rechtsbegriffe als Elemente von Strafrechtsnormen sind Praxisbegriffe (s. o. II.). Als solche werden sie gleichsam lebendig in Einzelfällen. Gemessen an der Grund-Ausbildung erfordert diese Anwendung die Ausbildung einer ganz eigenen, zusätzlichen Qualität: der juristischen Urteilskraft. Die Besonderheit dieses Teils der Ausbildung besteht darin, dass sie sich nicht ihrerseits wieder in allgemeine Regeln abstrahieren lässt. „(D)ie Urteilskraft (iudicium) kann nicht belehrt, sondern nur geübt werden (. . .). Es ist auch leicht einzusehen, dass dies nicht anders sein könne; denn Belehrung geschieht durch Mitteilung der Regeln. Sollte es also Lehren für die Urteilskraft geben, so müsste es allgemeine Regeln geben, nach welchen man unterscheiden könnte, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht: welches eine Rückfrage ins Unendliche abgibt.“ 40 In den letzten etwa 30 Jahren hat sich an diesem Punkt eine fundamentale Verschiebung in der Lehre und auch in der Ausbildungsliteratur ergeben. Bedingt durch die zunehmende Orientierung der Prüfungen an Klausuren (wofür die Universitäten ebenfalls die Mitverantwortung trifft), bedingt wohl auch durch eine gerade in Deutschland beliebte Unterwürfigkeit gegenüber dem angloamerikanischen Recht, geriet die Fallbearbeitung immer mehr in den Mittelpunkt der Ausbildung. War ursprünglich der Fall nur Anschauungsmaterial für den Begriff, ge39 Der sog. Bologna-Prozess ist in der Festschrift für eine Wissenschaftlerin keiner Erwähnung wert; vgl. dazu Verf., Rechtswissenschaft oder McLaw?, Myops 2008, S. 56 ff. 40 Kant, Anthropologie, Ak. Ausg. Bd. 7, S. 199.
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riet mehr und mehr der Fall selbst und seine – als ginge es um ein Rätsel – „Lösung“ in das Zentrum der juristischen Ausbildung. Gelernt wird der entschiedene Fall statt dass die Entscheidung des Falles geübt wird. Diese Entwicklung steht in einem Wechselverhältnis mit der Ausbildungsliteratur. Lehrbücher werden zunehmend zu Lern- und Klausurbüchern, von denen sich manche von früheren Repetitorenskripten nur dadurch unterscheiden, dass ein seriöser Verlag sie verlegt und ein Professor das Ganze als von ihm verfasst ausweist. Das ist einerseits immerhin ehrlich, denn man bietet den Studierenden das (geringe) Maß an Komplexität des Stoffes, das in einer Klausur präsentiert werden kann.41 Andererseits aber und wirklich schwerwiegend ist eine dadurch eintretende Deformierung der Ausbildung, die gerade nicht im Interesse der Studierenden liegen kann. Denn auf diese Weise geht nicht nur der höhere Anspruch der Universitätsausbildung verloren, was schon für sich genommen schlimm genug wäre. Es wird zudem den Studierenden etwas vorgegaukelt, was auf diese Weise gar nicht geleistet werden kann, in der Ausbildung aber geleistet werden muss: die Einübung der Urteilskraft auf der Basis guten Wissens. Geht die Entwicklung so weiter wie im Moment, hat das Auswirkungen auch auf Verständnis und Aufgabe der Universitätslehre. Die Idealgestalt eines Professors wäre dann ein etwas in die Jahre gekommener Korrekturassistent, der sich z. B. um Fragen des Handlungsbegriffs im Strafrecht schon deshalb nicht kümmern muss, weil sie keine Klausurrelevanz haben. Keinesfalls sollte sich die Rechtswissenschaft auf die auch schon früher vorgeschlagene Trennung von Forschungsprofessuren und Lehrprofessuren einlassen.42 Dies schon deshalb nicht, weil angesichts der gegenwärtigen geistigen Situation die Behauptung, in der Rechtswissenschaft werde geforscht, kaum noch Gehör findet; Lehrprofessoren würden dann in absehbarer Zeit alle. Vor allem aber ist diese Trennung deshalb abzulehnen, weil es in der Rechtswissenschaft eben nicht um eine bloß äußere Wissensvermittlung gehen darf; sie führt zu subalternen Juristenknechten, die zwar der Traum jedes Machtpolitikers sind,43 aber ein Elend für den freiheitlichen Rechtsstaat. Kritische Distanz kann lehren nur, wer sie in eigener Arbeit 41 Die mittlerweile ebenfalls zu beobachtende Bebilderung von Lehrwerken hat es auch früher schon gegeben, wie man einer Fußnote in Kants Anthropologie entnehmen kann ([Fn. 40], S. 183 Fn. *): „So ist die Bilderfibel, wie die Bilderbibel, oder gar eine in Bildern vorgestellte Pandektenlehre ein optischer Kasten eines kindischen Lehrers, um seine Lehrlinge noch kindischer zu machen, als sie waren. Von der letzteren kann ein auf solche Art dem Gedächtnis anvertrauter Titel der Pandekten: de heredibus suis et legitimis zum Beispiel dienen. Das erste Wort wurde durch einen Kasten mit Vorhängeschlössern sinnlich gemacht, das zweite durch eine Sau, das dritte durch die zwei Tafeln Mosis.“ 42 Siehe dazu etwa Gutzwiller, Der Universitätslehrer, in: ders., Elemente der Rechtsidee, 1964, 289 ff. 43 Der bolivianische Präsident Evo Morales soll Juristen, die eine seiner Maßnahmen für verfassungswidrig erklärten, entgegengehalten haben: Wenn es verfassungswidrig ist, dann macht es verfassungsgemäß; wozu habt ihr denn studiert.
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erworben hat und fortlaufend neu erwirbt. Im Bereich des Geistes zeugen Knechte nur wieder Knechte. 3. Die Lehre an der Universität ist kein selbstgenügsamer Zweck, der mit der Ablegung des Examens abgetan wäre. An der Universität wird der Grund gelegt für das Verständnis von (Straf-)Recht, mit dem die Studierenden dann ihr Berufsleben bestreiten (zum gründlichen Nachdenken kommen sie, da mache man sich nichts vor, erst wieder nach dem Eintritt in den Ruhestand). Das lässt sich plakativ formulieren: Je kümmerlicher die Ausbildung, desto kümmerlicher die Praxis – Praxis hier natürlich nicht als Sammlung alltäglicher Fertigkeiten und Klugheitsregeln verstanden, sondern als verantwortliches Arbeiten in den Feldern des Rechts. Für das Strafrecht ist dieser Punkt von außerordentlicher Bedeutung, denn in seinem Bereich ist das Abgleiten ins Emotionale und Irrationale44 eine besondere Gefahr. Bedenkt man, dass gerade in der Strafrechtsausbildung die Anforderungen in vielen Bundesländern nur noch auf eine Examensklausur abgesenkt sind, die zudem noch viel zu oft nur mit einer Art mechanischem Wissen zu bewältigen ist (erneut ein Appell an uns Professoren, bessernd einzugreifen), dann darf man vor einer Folge warnen, die möglicherweise (nach dem, was hinter vorgehaltener Hand erzählt wird) schon Wirklichkeit geworden ist: dass „brillante“ Juristen auch im Bereich des Strafrechts auf hoher Verantwortungsebene tätig sind, die ihre „Brillanz“ auf anderen Rechtsgebieten erworben haben und das Strafrecht nur auf Repetitorenniveau kennen.45 Diese Ausführungen können leicht dahin missverstanden werden, dass es sich dabei um nichts anderes als die (bekannte?) Überheblichkeit eines Universitätsprofessors handelt. Der Verfasser denkt, diesen Verdacht zerstreuen zu können, indem er nun auf das Strafrecht in der Praxis zu sprechen kommt. IV. 1. Man könnte zunächst fragen, ob denn überhaupt ein Hochschullehrer etwas Kompetentes über die Rechtspraxis sagen kann. Fischer hat schon in der Überschrift des bereits mehrfach erwähnten Aufsatzes über das Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis gesagt, es handele sich um „fremde selt44 Beides kann sich unterschiedlich äußern: Während etwa in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die emotionale Zuwendung dem Täter galt, dessen Taten als „abweichendes Verhalten“ verniedlicht wurden, steht heute ganz das Opfer im Mittelpunkt und der Täter wird als ein wegzuschließendes Etwas behandelt. Beides ist auf seine Weise falsch. 45 Dass in der Berufspraxis beispielsweise ein grundlegendes Verständnis des Strafprozessrechts erworben werden kann, wird niemand ernsthaft behaupten. (Angesichts der im Strafprozessrecht mittlerweile eingezogenen Käuflichkeit des Rechts, s. §§ 153a, 257c StPO, könnte man allerdings auch resignierend fragen, ob solches Verständnis noch nötig ist.)
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same Welten“.46 Aber er hat – am Schluss seines Beitrags47 – auf das Verbindende beider, das Recht selbst, hingewiesen. Das ist nur scheinbar banal, das wurde bereits gesagt. Nun wurde im vorliegenden Text eine weitere Brücke zwischen beiden Welten gezeichnet: Jeder Praktiker hat einmal ein Universitätsstudium durchlaufen. Auch dieser Hinweis scheint banal und dennoch sind beide genannten Verbindungen von Bedeutung und allen Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis im Recht zugrundezulegen. Für das angemessene Verständnis der Strafrechtspraxis kommt jedoch ein Punkt hinzu, der das Verhältnis zur Strafrechtswissenschaft wesentlich ins rechte Licht rückt. Die Strafrechtspraxis (als Recht) ist zentriert um die gerichtliche Entscheidung, denn nur ein Gericht kann strafrechtliche Sanktionen verhängen. Fischer hat daher mit Grund die strafrechtliche Rechtsprechung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt.48 Die ganze Bedeutsamkeit dieser Tatsache macht man sich aber erst dann bewusst, wenn man hinzunimmt, dass es sich bei der Rechtsprechung um die Dritte Gewalt im Rechtsstaat handelt. Wenn Fischer davon spricht, dass der Gesetzgeber die Strafrechtswissenschaft demütigend behandele, so kann der Strafrechtswissenschaftler darauf hinweisen (allerdings ohne damit Trost zu spenden), dass die Rechtsprechung (und die Justiz insgesamt, also z. B. auch die Staatsanwaltschaften) ebenfalls vom (Haushalts-)Gesetzgeber und den Finanzministerien Jahr für Jahr gedemütigt werden: Die ständige Verknappung ihrer Personal- und Sachmittel ist eines Rechtsstaats unwürdig.49 An der sachlichen Bedeutung der Rechtsprechung als der Dritten Gewalt ändert das freilich nichts – und nur um sie soll es hier gehen. Da sie damit aber Teil der Rechtsverwirklichung in einem Rechtsstaat ist, kommt ihr eine Qualität zu, die von jedem Rechtswissenschaftler Achtung fordert: Anders als er gestaltet sie rechtliche Verhältnisse unmittelbar. Ihre Entscheidungen haben die Eigenschaft, in Rechtskraft erwachsen zu können – kein noch so gelehrtes Buch kommt ihr darin gleich („zum Glück“ werden Spötter – aber nicht nur sie – sagen). Damit ist eine gegenüber der Rechtswissenschaft ganz besondere Verantwortung bezeichnet, der der Richter in der Bindung an Gesetz und Recht nachkommen muss. 2. a) Hält man diesen Punkt fest, so lässt er zunächst einmal jeden Eigendünkel der Rechtswissenschaft zurücktreten; sie hat ihrer eigenen Verantwortung nachzukommen (s. o. II. und III.). Zugleich aber liegt hier der Ursprung einer Fehlentwicklung, die ebenfalls gegenwärtig in einer besonderen Schärfe verläuft. Denn die von Fischer diagnostizierte Theorie- und Intellektualitätsfeindlichkeit verbin46
Fischer (Fn. 3), S. 63. Fischer (Fn. 3), S. 81. 48 Das ändert nichts daran, dass Staatsanwaltschaften und Verteidiger integrale Elemente in der Verwirklichung des Strafrechts sind. 49 Siehe dazu auch Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen 2001, S. 201 ff. 47
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det sich (als eine Folge dieses Grundmangels) mit einem Pragmatismus, der die Tatsache, dass irgendetwas geschieht, für wichtiger hält als die Frage, ob es denn auch gut und richtig geschieht. Das birgt für die gegenwärtige Rechtspraxis die Gefahr (besonders angesichts ihrer immer knapper werdenden Mittel), jedes gründliche Überlegen für eine besondere Art von Zeitverschwendung zu halten. Für die Rechtswissenschaft aber birgt es die Gefahr, in ihrer unübergehbaren Ohnmacht, die Dinge unmittelbar zu beeinflussen, einen Fehler ihrer selbst zu sehen und nun krampfhaft zu versuchen, „praktisch“ zu werden. Dabei bemerkt man nicht, dass solche Versuche in ihrer Sinnlosigkeit die Wissenschaft selbst schwächen und sie zudem noch von dem abziehen, was in Forschung und Lehre ihre eigentliche Aufgabe ist.50 b) Als Beleg für eine Fehlreaktion der Wissenschaft auf ihre vorgebliche Praxisferne sei ein Aufsatz von Rotsch herangezogen, auf den auch die Jubilarin bereits eingegangen ist: „Zur Hypertrophie des Rechts“.51 Rotsch schreibt dort: In „keinem anderen Strafrechtssystem der Welt sind Strafrechtswissenschaftler mit einer solchen Akribie der letzten Verfeinerung einer praktisch irrelevanten Theorie auf der Spur.“52 Rotsch belegt die durch die Wissenschaft angeblich entstehende Hypertrophie des Strafrechts mit sechs Beispielen, von denen erheiternderweise drei aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stammen, eines aus der Gesetzgebung und nur zwei aus der Wissenschaft, wobei in dem einen von diesen beiden Rotsch selbst zur „letzten Verfeinerung“ beigetragen hat;53 das andere Beispiel aus der Wissenschaft stellt die Diskussion um den Begriff des „Feindstrafrechts“ dar –: aber dabei geht es gewiss nicht um eine „Verfeinerung“ im Sinne der Verästelung, sondern um eine Grundlagendiskussion, die in der Wissenschaft selbstverständlich geführt werden muss und geführt worden ist. Dass Rotsch kein überzeugendes Beispiel für seine These gefunden hat, ist kein Wunder: Sie ist falsch. Wenn die Wissenschaft ihre Fragestellungen nicht wissenschaftlich angeht, also gründlich, beharrlich, minuziös und gelehrt, dann ist sie keine Wissenschaft mehr;54 Fehlentwicklungen muss sie aus sich selbst heraus berichtigen, und selbstverständlich hat sie dabei auch auf Hinweise aus der Praxis der Rechtsanwendung zu hören. Wenn Rotsch am Ende seines Beitrags dem von ihm – ganz im Einklang mit Fischer und auch zu Recht – als oberflächlich 50 Damit soll keineswegs die Möglichkeit eines Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis (wie z. B. durch den „Karlsruher Strafrechtsdialog“) in Abrede gestellt werden; das ändert aber nichts an der Diagnose des Textes. Denn in solchen Veranstaltungen vollzieht sich lediglich im persönlichen Gespräch das gleiche wie beim Studium von Texten. 51 ZIS 2008, S. 1–8. Dazu Puppe, ZIS 2008, 67 ff. 52 Rotsch (Fn. 51), S. 2. 53 Siehe Rotsch/Sahan, § 3 StPO und die materiell-rechtlichen Regelungen von Täterschaft und Teilnahme oder: Gibt es einen strafprozessualen „Beteiligtenbegriff“? in: ZIS 2007, 142 ff. 54 Vgl. dazu auch Puppe (Fn. 51), S. 67.
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kritisierten Zeitgeist die an der Universität zu pflegende „Lust auf Nachdenklichkeit“ entgegensetzt, von wissenschaftlicher Vertiefung usw. spricht, fragt man sich, was genau er nach allem von ihm Gesagten damit meint. Wissenschaft geschieht nicht schon dann, wenn jemand die Stirne runzelt und nachdenklich dreinschaut. Im Besonderen das Allgemeine zu erkennen ist strenge gedankliche Arbeit, die gerade wegen der Mühe,die sie kostet, in der täglichen Rechtsanwendung gar nicht geleistet werden kann. c) Auf eine weitere etwas merkwürdige Tendenz zur Selbstbeschränkung zumal der deutschen Strafrechtswissenschaft sei wenigstens am Rand eingegangen. Im Zuge der großflächig sogenannten „Europäisierung“ und „Internationalisierung“ des Strafrechts wirft sich die deutsche Strafrechtswissenschaft zunehmend selbst vor, mit ihren theoretischen Ausführungen nicht überall auf der Welt verstanden zu werden. Man könnte darin den im Inhalt geminderten Versuch sehen, die eigenen Vorstellungen eben doch durchzusetzen und auf diese Weise „Marktführer“ zu sein.55 Aber eine Wissenschaft macht sich so nur lächerlich. Die Frage zum Beispiel, ob es einen „bedingten Vorsatz“ gibt, muss sich stellen und bearbeiten lassen unabhängig davon, ob diese Frage in jeder Strafrechtskultur gleich ernst genommen wird. In jeder anderen Wissenschaft würde eine solche Selbstbeschränkung mit Verachtung behandelt werden. Hätte Einstein mit der Allgemeinen Relativitätstheorie warten sollen, bis alle es so sehen wie er? V. So sicher es ist, dass die Aufgaben von Universität und Praxis unterschiedlich sind und auch selbständig wahrgenommen werden müssen, so sicher ist es auch, dass sie in einer inneren Verbindung miteinander stehen: Es geht um nichts anderes als um die Arbeit am (Straf-)Recht, sowohl personal als auch inhaltlich. Daher ist es eine Selbstverständlichkeit, dass diese Wechselbeziehung in der Sache auch in einem Wechselgespräch zum Ausdruck kommt. Wenn Fischer meint, wissenschaftliche Zeitschriften würden in der Praxis nicht gelesen,56 so ist darauf (vielleicht überraschend) zu antworten: Das ist auch gar nicht nötig. Richter lesen Akten. Man wird aber vermuten dürfen, dass auch ein „Praktiker“ gelegentlich dann, wenn eine Frage schwieriger wird, nicht nur in Kurzkommentare hineinsieht, sondern auch den einen oder anderen der vielen dort zitierten Aufsätze bzw. Rechtsprechungsnachweise heranzieht. Ein Strafverteidiger hat den Verfasser einmal auf seine Klage, unsere Aufsätze und Anmerkungen würde ja doch niemand lesen, durch seinen Widerspruch beruhigt: Wenn es gelte, in einem Ver55 Diesen für die Wissenschaft etwas sonderbaren Begriff verwendet Vogel in einer Rezension des Buches von Klip, European Criminal Law – An Integrative Approach, in: GA 2009, S. 606 („. . . wer Markt- und Meinungsführerschaft anstrebt, muss in englischer Sprache schreiben . . .“). 56 Siehe Fischer (Fn. 3), S. 65.
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fahren eine eigene Position auch theoretisch zu untermauern, beschäftige man sich durchaus auch mit wissenschaftlicher Literatur. Und in umgekehrter Richtung sind auch Gerichtsentscheidungen wichtiger Gegenstand der Strafrechtswissenschaft in ihren Fallkonstellationen und Argumentationsgängen. Selbstverständlich dürfen sie auch einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Allerdings muss sich dabei die Wissenschaft vor einem Fehler hüten: Praktiker, etwa Richter eines Strafsenats des BGH, sollten nicht als eine Art frühzeitig entsprungener Studenten behandelt werden, die sich durch Flucht hinreichender Belehrung entzogen haben. Die Selbständigkeit und Schwierigkeit ihrer Aufgabe ist immer vor Augen zu stellen. Erst dann kann eine Diskussion wirklich geführt werden. Gerechtigkeit, so sagt Sokrates in Platons „Staat“ 57 sei es, wenn „man das Seine tut“. Das sollte, bei vorausgesetzter gemeinsamer Aufgabe der Rechtsverwirklichung, auch das Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis prägen. Für dieses Verständnis gibt es Vorläufer. 1857 erschien in den österreichischen Blättern für Literatur und Kunst ein Aufsatz von Julius Glaser, in dem er eine Anzahl von Sammlungen strafgerichtlicher Präjudizien vorstellte.58 Mit einem längeren Zitat aus diesem Aufsatz soll der Beitrag schließen, den ich meiner verehrten Bonner Kollegin Ingeborg Puppe herzlich zum 70. Geburtstag widme: „In die Aufgaben, um deren Lösung es sich handelt, werden die Juristen freilich sich immer teilen müssen; während der Eine bemüht ist, die Rechtsnorm sich und anderen klarzumachen, wird der Andere mehr damit beschäftigt sein, den einzelnen Fall zu der bereits erkannten Rechtsnorm ins richtige Verhältnis zu bringen, und insofern gibt es allerdings einen Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern. Allein die Theorie wäre eine falsche, welche nicht immer und immer sich die Aufgabe stellte, Resultate zu gewinnen, die geeignet und berechtigt sind, für die Praxis maßgebend zu werden, und die Praxis wäre eine handwerksmäßige und unjuristische, welche den einzelnen Fall erledigen zu können meinte, ohne seine Beziehung zur Rechtsnorm und zum ganzen Gebiete, dem diese angehört, rechtlich zu würdigen.“ Es werde „vielfach verkannt (. . .), was eben angedeutet wurde, dass nämlich die geistige Atmosphäre, in welcher Theoretiker und Praktiker sich bewegen, eine und dieselbe ist, und nur die Art, wie dieses geschieht, die Einen von den Anderen unterscheidet.“ 57
Platon, Der Staat, übersetzt von Otto Apelt, 4. Buch, 433b . Hier zitiert nach dem Abdruck in Glaser, Gesammelte Schriften I, 1868, S. 65 ff. – Zur Person Glasers, der in Wien Strafrechtslehrer, später Justizminister und dann Generalprokurator am obersten Gerichtshof war, s. die Worte R. v. Jherings aus freundschaftlicher Nähe in der Vorrede zur 2. Auflage des „Zweck(s) im Recht“, S. XV ff. Darin ein Satz über Glaser, der ein unvermindert aktuelles Postulat ausdrückt. „. . . den Minister hat man bei ihm nur gemerkt an dem, was er leistete.“ (S. XVII) (Zitat nach der 5. Aufl., Bd. 2; 1916). 58
III. Rechtsgeschichte
Zur Erinnerung: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1974–1984)* Von Heribert Ostendorf I. Gegenstand des Verfahrens „Gegenstand dieses Verfahrens sind Tötungshandlungen, die in dem vom NSRegime während des Zweiten Weltkrieges in Südost Polen errichteten Konzentrationslagers Lublin, das in Anlehnung an eine entsprechende „Flurbezeichnung“ von der einheimischen Bevölkerung bereits damals und in der Nachkriegszeit allgemein „Majdanek“ genannt wurde, in der Zeit von Ende 1941 bis Frühjahr 1944 an Häftlingen des Lagers und anderen Menschen begangen worden sind bzw. begangen worden sein sollen.“1 Weiter heißt es in der Urteilsbegründung: „Über die Gesamtzahl der im KL Majdanek durch Vergasung, Erschießung und auf andere Weise gewaltsam Getöteten, durch Seuchen und Unterernährung, infolge von Misshandlungen und Entbehrungen sowie aus sonstigen Gründen umgekommenen Menschen hat die Beweisaufnahme keinen genauen Aufschluss erbracht. Mindestens 200.000 Opfer, darunter wenigstens 60.000 jüdische Menschen, hält die Schwurgerichtskammer jedoch für sicher.“2 Es geht somit um die strafjustizielle „Bewältigung“ der systematischen Ermordung der Juden und anderer „Volksschädlinge“ des NS-Regimes. Die staatlich organisierte Ermordung von ca. 6 Mio. Juden und weiterer zigtausender anderer Menschen konnte trotz der massenhaften Vernichtung in den Gaskammern nicht von wenigen Tätern durchgeführt werden. Tausende waren beteiligt. So gehörten dem Konzentrationslager Auschwitz, in dem etwa 1,1 Mio. Menschen umgebracht wurden, etwa 7.000 Männer und Frauen dem SS-Personal an. Im Auschwitz-Prozess (Dezember 1963 bis August 1985) wurden hiervon 17 Angeklagte verurteilt, drei freigesprochen. Insgesamt wurden weniger als 800 Angehörige des SS-Personals von ausländischen und deutschen Gerichten zur Rechenschaft gezogen. Bis zur Errichtung der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg gab es nur vereinzelte * Für die Aufbereitung des Prozessverlaufs und der veröffentlichten Kommentierungen bedanke ich mich bei meiner früheren Mitarbeiterin Anne Quandt. 1 So beginnen die Gründe des Urteils des LG Düsseldorf vom 30.6.1981, Az.: XVII1/75, S. 14. 2 LG Düsseldorf (Fn. 1), S. 89, 90.
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Anklagen und noch weniger Verurteilungen – Kritiker sprechen von einer „Zufallsjustiz“. So wurde auch der Auschwitz-Prozess von überlebenden Häftlingen angestoßen. Selbst nach der Errichtung der Zentralstelle fehlte es an Personal. Darüber hinaus war die Beweisführung schwierig, weil viele Zeugen im Ausland lebten und den Opfern die Namen der Täter weitgehend unbekannt waren, z. T. wurde die Beweisführung unmöglich, weil Zeugen verstorben waren. Es kamen rechtliche Hürden hinzu. Die Verjährung erlaubte nur noch eine Anklage wegen Mordes, die damals vertretene subjektive Teilnahmetheorie entlastete die Befehlsempfänger: Bei Teilnehmern, denen keine täterbezogene Mordqualifikation nachgewiesen werden konnte, musste nach der Rechtsprechung die Strafe gemildert werden. Unter diesen Umständen konnte im Majdanek-Prozess das tatsächliche Unrecht nicht gesühnt werden, konnten nur wenige Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. II. Der Prozessverlauf Im Jahr 1960 wurden die Vorermittlungen wegen Straftaten im Zusammenhang mit dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek von der zentralen Stelle in Ludwigsburg eingeleitet. Das Verfahren wurde Anfang 1962 an die zentrale Stelle des Landes Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von NS-Verbrechen in Konzentrationslagern bei der Staatsanwaltschaft in Köln abgegeben. Am 15. November 1974 sowie am 11. Juli 1975 wurde gegen 17 ehemalige Angehörige des Kommandostabs des Lagers, darunter sechs Frauen, Anklage wegen Mordes bzw. Beihilfe zum Mord erhoben. Die fünf Lagerkommandanten waren nicht mehr am Leben. Zwei wurden wegen „Korruptionsdelikten“ von NS- und Polizeigerichten kurz vor Kriegsende zum Tode verurteilt und hingerichtet; zwei wurden nach Kriegsende vor Gericht gestellt, mit dem Tode bestraft und am 29.5.1946 in Landsberg/Lech bzw. am 24.1.1948 in Krakau/Polen hingerichtet; einer nahm sich im Gefängnis das Leben. Die beiden Anklagen wurden miteinander verbunden, die Hauptverhandlung begann am 26.11.1975. Alle Angeklagten wählten Anwälte ihres Vertrauens, die aber auf Staatskosten als gerichtlich bestellte Pflichtverteidiger fungierten. Zum Teil wurden zusätzlich Pflichtverteidiger aus Düsseldorf bestellt, da nicht alle gewählten Verteidiger aus der näheren Umgebung stammten. Insgesamt gab es zu Prozessbeginn 29 Verteidiger. Die Strategie der Verteidigung war die der Konfliktverteidigung, wie sie später in den RAF-Prozessen praktiziert wurde. So wurden über 40 Anträge auf Ablehnung der Richter wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt3, gegen einen Sachverständigen wurde Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit bean-
3
Kaul, DuR 1981, 45.
Zur Erinnerung: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1974–1984)
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tragt, unter anderem, weil er bei einem jüdischen Professor promoviert hatte.4 340 in- und ausländische Zeugen wurden vernommen, davon 215 ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Majdanek, über 70 davon im Ausland. 85 ehemalige Angehörige des SS-Wachpersonals wurden als Zeugen gehört. Während des Verfahrens fuhren alle Prozessbeteiligten mehrfach nach Majdanek. Das Gericht, die Staatsanwälte, die Verteidiger und die den Nebenklägern beigeordneten Nebenklagevertreter reisten zudem zu Zeugenvernehmungen nach Israel, Österreich, Polen, in die USA, in die UdSSR, nach Kanada und Australien. Insgesamt fanden 40 bis 50 Auslandsreisen statt. Vier Angeklagte schieden im Lauf des Prozesses wegen Krankheit oder Tod aus. Das erste Urteil wurde – nach Abtrennung – am 19.4.1979 gesprochen: Freispruch in vier Fällen. Am 30.6.1981 wurde nach 474 Verhandlungstagen das zweite Urteil (Umfang: 795 Seiten) gesprochen: Gegen einen Angeklagten wurde eine lebenslängliche Freiheitsstrafe wegen Mordes in zwei Fällen, gegen 7 Angeklagte Freiheitsstrafen zwischen drei und zwölf Jahren wegen Beihilfe zum Mord in einer unterschiedlichen Anzahl von Fällen verhängt. Ein Angeklagter wurde freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte erheblich höhere Strafen beantragt: Für fünf Angeklagte lebenslänglich, für drei Angeklagte eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und zehn Jahren, einen Freispruch. Die Verteidiger plädierten jeweils auf Freispruch ihrer Mandanten. Alle Angeklagten leugneten eine Schuld, keiner war geständig. Die von sieben Angeklagten eingelegte Revision wurde vom BGH am 30.5.1984 verworfen;5 die Staatsanwaltschaft hatte ihre Revision zurückgenommen, um eine unzumutbare neue Beweisaufnahme zu verhindern sowie dem Eintritt der Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten mit der Folge, dass sie jeglicher Bestrafung entgehen würden, zuvorzukommen.6 Das Urteil wurde somit am 7.6.1984 rechtskräftig: 40 Jahre nach Tatbegehung, 24 Jahre nach Aufnahme der ersten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, nach einer Verhandlungsdauer von fünf Jahren und sieben Monaten. Es war dies der aufwendigste und kostspieligste Prozess in der Bundesrepublik Deutschland.7
4 Kaul, DuR 1981, 45; Mailänder-Koslov, Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975–1981): Ein Wettlauf mit der Zeit?, in: Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten, hrsg. von KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 2005, S. 80; Lichtenstein, Majdanek/Reportage eines Prozesses, 1979, S. 30 ff. 5 Az.: 3 StR 476/83. 6 Mailänder-Koslov (Fn. 4), S. 83. 7 Mailänder-Koslov (Fn. 4), S. 74.
328 Angeklagte*
Heribert Ostendorf Dienstrang/Tätigkeit im KZ Majdanek
Johanna Zelle Wilhelm Reinartz
Schuldspruch
Strafmaß
während des Prozesses für verhandlungsunfähig erklärt Sanitäter
Alice Orlowski
während des Prozesses für verhandlungsunfähig erklärt8 während des Prozesses verstorben
Rosa Süss
Freispruch Wäschereiaufsicht, Mitarbeiterin in der SS-Küche, Befehlshaberin über ein Arbeitskommando
Charlotte Mayer
Mitarbeiterin im SS-Beklei- Freispruch dungswerk, Aufseherin über das Häftlingsschneidereikommando
Hermine Böttcher
Freispruch
Heinrich Schmidt
SS-Truppenarzt
Freispruch
Hermine Ryan, geb. Braunsteiner („Die Stute“)
Aufseherin, stellvertretende Mord Schutzhaftlagerführerin des Lagers für Frauen und Kinder
lebenslange Freiheitsstrafe (Begnadigung nach 15 Jahren)
Hildegard Lächert („Die Blutige Brygida“)
Aufseherin, SS-Angehörige Beihilfe zum Mord
12 Jahre Freiheitsstrafe
Hermann Hackmann SS-Hauptsturmführer, Erster Schutzhaftlagerführer
Beihilfe zum Mord
10 Jahre Freiheitsstrafe
Emil Laurich
SS-Rottenführer, Mitarbeiter der Schutzhaftlagerabteilung
Beihilfe zum Mord
8 Jahre Freiheitsstrafe (bereits 1984 aus der Haft entlassen)
Heinz Hermann Villain
SS-Unterscharführer
Beihilfe zum Mord
6 Jahre Freiheitsstrafe
Fritz Heinrich Petrick
SS-Oberscharführer, Blockführer
Beilhilfe zum Mord 4 Jahre Freiheitsstrafe
8 Die Verfahrenseinstellung beruhte auf Weigerung des Angeklagten, sich einen seine Verhandlungsfähigkeit wiederherstellenden Herzschrittmacher einsetzen zu lassen, s. Kaul, DuR 1981, 39.
Zur Erinnerung: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1974–1984)
329
Angeklagte*
Dienstrang/Tätigkeit im KZ Majdanek
Schuldspruch
Strafmaß
Arnold Georg Strippel
SS-Untersturmführer, zweiter Führer des Schutzhaftlagers
Beilhilfe zum Mord 3,5 Jahre Freiheitsstrafe (Haft wegen Haftunfähigkeit nie angetreten)
Thomas Ellwanger
SS-Unterscharführer, Angehöriger des Wachbataillons
Beilhilfe zum Mord 3 Jahre Freiheitsstrafe
Heinrich Walter Gustav Groffmann
SS-Unterscharführer, Block- und Feldführer
Freispruch
* In einer früheren Veröffentlichung (Heribert Ostendorf in: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, hrsg. von Hankel/Stuby, 1995, S. 84 ff.) wurden die Namen der Verurteilten nur mit dem Anfangsbuchstaben wiedergegeben u. a. mit Rücksicht auf den Persönlichkeitsschutz und den Resozialisierungsanspruch (s. BVerfG NJW 1973, 1226). Da mittlerweile alle Angeklagten verstorben sind, entfällt ein solcher Schutz.
Anzumerken ist, dass nach Prozessbeobachtern und nach Prozessdarstellungen das Verteidigungsverhalten einiger Strafverteidiger, nicht aller Verteidiger9, weit über das erlaubte Maß hinausgegangen ist. Auf den unsachlichen und polemischen Befangenheitsantrag gegen einen Sachverständigen, weil dieser bei einem jüdischen Professor promoviert hatte, wurde bereits hingewiesen. So stellte Rechtsanwalt Bock am 2.6.1977 den Antrag, eine Zeugin, die als Häftling Zyklon B zur Gaskammer schleppen musste, wegen des dringenden Verdachts der Mordbeihilfe festnehmen zu lassen.10 Weiterhin stellte er den Antrag, einen Humanmediziner und einen Veterinär heranzuziehen, damit sichergestellt werden konnte, dass im Krematorium nicht Tierfleisch verbrannt wurde. Heute könnte ein solcher Beweisantrag als Auschwitzlüge gem. § 130 Abs. 3 StGB bestraft werden.11 Eben dieser Rechtsanwalt soll nach Anklageerhebung nach Israel gereist sein, um dort unter Verheimlichung seines Verteidigerstatusses Zeugen zu beeinflussen. Der Nebenklägervertreter Rechtsanwalt Kaul erstattete daraufhin gegen ihn Strafanzeige, woraufhin Rechtsanwalt Bock das Gericht um Entpflichtung bat. Das Gericht kam dieser Bitte nach.12
9 Ambach/Köhler, Lublin-Majdanek/Das Konzentrations- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen, hrsg. vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, 2003, S. XVII. 10 Schwarberg, Der Juwelier von Majdanek, 1998, S. 136. 11 Siehe BGH NJW 2002, 2115; NK3-Ostendorf, 2010, § 130 Rn. 27. 12 Kaul, DuR 1981, 45; Lichtenstein (Fn. 4), S. 97 ff.
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III. Die Taten Nach der Urteilsbegründung wurden den Angeklagten insgesamt mehr als 110 Fälle von Mord beziehungsweise Beihilfe zum Mord zur Last gelegt, zusätzlich eine Unzahl von Tötungshandlungen, die „lediglich“ als Totschlag im Sinne des § 212 StGB qualifiziert wurden. Diese Verbrechen waren nur ein Bruchteil der in Majdanek verübten Gräueltaten. Im Einzelnen wurden in der Anklageschrift 44 Tatvorwürfe erhoben; nur in 11 Fällen konnte der Tatnachweis erbracht werden. Zum Lagerleben, korrekter ausgedrückt zum Lagertod hat das Gericht Folgendes ausgeführt (S. 74–76): „Der ,einfache‘ Häftling musste von einem Minimum an Nahrung leben. Nur mit einem Drillichanzug oder zerschlissener, besonders gekennzeichneter Zivilkleidung versehen, wurde er tagsüber bei Appellen und den meisten Arbeitskommandos Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt. Nachts war er in größtenteils äußerst primitiven, zugigen und im Winter kaum beheizten Baracken untergebracht. Von den meisten Angehörigen des SS-Lagerpersonals wurde er zudem fortwährend schikaniert, verhöhnt, misshandelt und bei Verstößen gegen die Lagerordnung oder bei mangelnder Arbeitsleistung infolge Versagens der Kräfte obendrein auch noch mit offiziellen Strafen belegt. Diese Strafen bestanden im Wesentlichen im Entzug der lebenswichtigen Nahrung, stundenlangem, bewegungslosem Stehen in unbequemer Haltung insbesondere zwischen den Drähten der Lagerumzäunung, sowie vor allem in der Verabfolgung einer bestimmten Anzahl von Peitschenhieben. Diese „Prügelstrafe“ war die am meisten gebräuchliche Methode der Einschüchterung und der Quälerei. Sie wurde – zumeist beim Abendappell – auf einem besonders dafür konstruierten Holzgestell, dem sogenannten Bock, vollzogen. Der Häftling musste dabei die ihm mit Lederpeitschen auf das Gesäß versetzten Hiebe laut mitzählen und hatte damit zu rechnen, dass die Tortur im Falle einer Ohnmacht oder eines Verzählens von neuem begonnen wurde. Zumeist wurden 25 Schläge verabfolgt, mitunter waren es aber auch erheblich mehr.“
Weiter heißt es (S. 77): „Zu den unmenschlichen Behandlungs-Methoden trat die von der Lagerleitung bewusst hervorgerufene ständige Todesangst der Häftlinge. Es war keine Seltenheit, dass zu Arbeitskommandos eingeteilte Häftlinge von SS-Angehörigen oder ,Funktionshäftlingen‘ zu Tode misshandelt oder in sonstiger Weise brutal getötet wurden, oder dass SS-Angehörige der Wachtruppe Gefangene unter einem Vorwand zur Seite schickten und sie dabei erschossen, um mit der alsdann gemeldeten Verhinderung eines ,Fluchtversuchs‘ Sonderurlaub oder andere Vergünstigungen für sich zu erzielen. Auch wurden mehrfach Häftlinge, die bei einem tatsächlichen oder nur vermuteten Fluchtversuch gestellt und nicht sofort an Ort und Stelle erschossen worden waren, gemäß einem entsprechenden Erlass des RSHA anschließend ohne jedes förmliche Verfahren im Lager zur allgemeinen Abschreckung öffentlich erhängt.“
S. 79: „Die furchtbarste Belastung für die Häftlinge, insbesondere für die jüdischen Menschen, stellten die im Spätherbst des Jahres 1942 eingeleiteten und vor allem im Frühjahr und im Sommer 1943 durchgeführten Selektionen zur Tötung durch Vergasung dar.“
Zur Erinnerung: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1974–1984)
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S. 82: „Die Opfer der Vergasungen waren Juden aller Altersstufen und verschiedener Nationalität, insbesondere Mütter mit Kindern, Alte, Kranke und Verletzte sowie die sonst als nicht bzw. nicht mehr voll arbeitsfähig erscheinenden Menschen. Wer zu dieser Gruppe der von vornherein durch die ,Endlösung‘ Betroffenen gehörte, oder wessen Arbeitskraft noch eine Zeitlang für das NS-Regime genutzt werden sollte, entschied das SS-Lagerpersonal weitgehend nach eigenem Gutdünken.“
Und schließlich (S. 87, 88): „Die Vergasung der Opfer verlief durchweg immer in der gleichen Weise. Die zum Tode bestimmten Häftlinge wurden in das Badebarackengebäude gebracht und dort nach der Entkleidung in eine der Gaskammern getrieben. Sobald die Tür hinter ihnen luftdicht verschlossen war, wurde das Kohlenmonoxyd bzw. Zyklon B in die Kammer geleitet. Beide Gifte führten zu einer Lähmung der Atmungsorgane und damit zu einem qualvollen Erstickungstod. Bei der nur in der Anfangsphase der Vergasungen erfolgten Verwendung des Kohlenmonoxyd dauerte der Tötungsvorgang in der Regel etwas länger als bei Benutzung von Zyklon B. Auch dieses Gift ,wirkte‘ jedoch nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit, weil die Wirkung erst in dem Maße eintrat, in welchem das Zyanid-Salz durch die langsam ansteigende Raumtemperatur in einen gasförmigen Zustand zerfiel. Sobald nach Meinung des jeweils für die Beaufsichtigung des Vergasungsvorganges zuständigen SS-Angehörigen der Tod aller Opfer eingetreten war, wurden die Stahltüren weit geöffnet, so dass das Gas entweichen konnte. Danach wurden die Leichen von einem besonderen Häftlingskommando herausgeholt, auf Handkarren oder Fahrzeuge verladen und entweder zur Verbrennung in das alte bzw. das neue Krematorium oder zu vorbereiteten Gruben bzw. Verbrennungsstätten im Außenbereich des Lagers und der umliegenden Wälder geschafft.“
IV. Die Beweisprobleme Zum Beweiswert von Zeugenaussagen über Geschehnisse, die mehr als 35 Jahre zurückliegen, führt das Gericht aus (S. 18, 19): „Hiernach ist festzustellen, dass selbst mehr als 35 Jahre zurückliegende Ereignisse mit den Mitteln des Zeugenbeweises jedenfalls in einem gewissen Umfang auch heute noch aufklärbar sind, dass damit aber gleichzeitig die Obergrenze für ein im Wesentlichen allein mit Zeugenaussagen zu führendes Strafverfahren weitgehend erreicht ist. So standen der Schwurgerichtskammer bei einer ganzen Reihe von Anklagepunkten nur Zeugen zur Verfügung, deren sicheres Erinnerungsvermögen im Hinblick auf den Zeitablauf in Zweifel gezogen werden musste, oder die zwischenzeitlich verstorben bzw. aus Alters- oder Gesundheitsgründen vernehmungsunfähig geworden waren, und bei denen sich das Gericht infolgedessen über die Zuverlässigkeit ihrer früheren Aussage weder durch eine entsprechende Befragung noch durch den persönlichen Eindruck Gewissheit zu verschaffen vermochte. Das offensichtliche Missverhältnis zwischen dem – zeitgeschichtlich betrachtet – tatsächlichen Geschehen im Konzentrationslager Majdanek und dem Wenigen, was dazu in der Beweisaufnahme noch eindeutig festgestellt werden konnte, findet hierin seine Erklärung.“
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Dem ist beizupflichten.13 Hinsichtlich der Beweiswürdigung wurden auch keine Vorwürfe erhoben.14, wenn man von dem „ideologischen Machwerk“ von Graf/Mattogno absieht, in dem der Majdanek-Prozess zu einem politischen Schauprozess abgewertet wird, bei dem die Schuld oder Unschuld der Angeklagten völlige Nebensache sei und der in Wirklichkeit dem Zweck diene, das Bild vom „Vernichtungslager“ mit einem Urteilsspruch juristisch abzusichern. In diesem Sinne werden die Gaskammermorde bestritten und die Gaskammern als Entlausungsanlagen bezeichnet.15 Kritisiert wurde von Kaul, dass das Massenmordgeschehen in zahlreiche Einzeldelikte „zerhackstückt“ worden sei.16 Bei Anwendung des deutschen Strafrechts war dies aber geboten. Nur bei Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 wäre im Hinblick auf den Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eine globale Betrachtung und dementsprechend ein einfacheres Prozessieren möglich gewesen. Abgesehen davon, dass eine solche Strafrechtsanwendung dem deutschen Strafrecht und dementsprechend den deutschen Strafjuristen fremd war, war das Kontrollratsgesetz Nr. 10 im Jahr 1956 aufgehoben worden.17 Nur in der DDR galt ein auf „Nürnberg“ fußendes Völkerstrafrecht.18 Erst mit dem Völkerstrafgesetzbuch sind in § 7 Verbrechen gegen die Menschlichkeit kodifiziert. Dies leitet über zu den Rechtsproblemen. V. Die Rechtsprobleme Die Hauptrechtsprobleme bestanden zum einen in der Abgrenzung von Mord und Totschlag, da Totschlagsdelikte bereits verjährt waren, zum anderen in der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe), da Beihilfe zu einer obligatorischen Strafmilderung führte (§ 27 Abs. 2 S. 2 StGB). Zur Mordbewertung hat das Gericht folgende Ausführungen gemacht (S. 705– 716, auszugsweise): „Die Vergasung bzw. Erschießung der jüdischen Menschen in den Fällen V, 4, 5 B und 6 erfolgte als Teil der sogenannten Endlösung der Judenfrage allein deshalb, weil diese Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung waren und Hitlers fanatischer Rassenhass ihre biologische Ausmerzung verlangte. Die planmäßige Ausrottung dieser Menschen ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter nur ihrer religiösen oder rassischen Zugehörigkeit wegen war derart verwerflich und unwürdig, dass es einer weiteren Darlegung der Niedrigkeit dieser Motive nicht bedarf.
13 Ebenso bereits Ostendorf, in: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, hrsg. v. Hankel/Stuby, 1995, S. 86, 87. 14 Siehe Schultz, MDR 1979, 548. 15 Siehe Graf/Mattogno, KL Majdanek: Eine historische und technische Studie, 1998, S. 242 ff. 16 Kaul, DuR 1981, 41 ff. 17 BGBl. I., 437. 18 Siehe Ostendorf/ter Veen, Das „Nürnberger Juristenurteil“, 1985, S. 267 m.w. N.
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Klar zutage tritt die Grausamkeit bei der sogenannten Fleckfieberaktion im Fall V, 1 nicht nur auf Grund der Art und Weise der Durchführung der eigentlichen Exekution, die an Brutalität kaum noch überbietbar erscheint, sondern auch auf Grund des gesamten Ablaufes der ,Entseuchungsmaßnahme‘. Schon durch die Selektion wurden die Opfer in schreckliche Todesangst versetzt; durch die unmenschliche Art und Weise der Zusammenpferchung auf den LKWs ohne das Minimum an Fürsorge gegen Fieber, Schmerzen und Schüttelfrost, das ihnen zuvor noch zuteil geworden war, wurden sie weiteren furchtbaren Qualen ausgesetzt, die bei einigen von ihnen bis hin zum möglichen Verlust des Bewusstseins und zum Erleiden des Todes bereits nach der Selektion, während des Abtransports sowie beim Sturz in die Gruben führten. Grausam getötet worden sind daher nach Auffassung der Schwurgerichtskammer nicht nur diejenigen von ihnen, die im Zeitpunkt ihrer Erschießung noch am Leben und bei Bewusstsein waren, sondern von den wenigstens 200 ,Seuchenverdächtigen‘ alle diejenigen, die sich nicht von Anfang an in einem komaähnlichen Zustand befunden haben, d. h. also mindestens 100 Opfer. Das Gericht hält es ferner für sicher, dass sich außer der Reichsführungs-SS mit Himmler an der Spitze insbesondere der Lagerkommandant Koch zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch allgemein über die mit dieser ,Aktion‘ für die Opfer verbundenen schweren körperlichen und seelischen Leiden im klaren war, dass ihm das jedoch aufgrund seiner von der ,Ausmerzungsideologie‘ des NS-Regimes geprägten Einschätzung der Häftlinge als bloßem ,Ungeziefer‘ völlig gleichgültig war. Grausam war auch die Erhängung der beiden jungen Juden im Fall V, 3, und zwar vor allem deshalb, weil beide Opfer mit der Schlinge um den Hals auf dem Hocker stehend in höchster Todesangst auf das Ende der Ansprache und damit auf das Ende ihres Lebens warten mussten. Die speziell zur Steigerung der Abschreckungswirkung in dieser Form vollzogene Exekution ist zugleich kennzeichnend für die Gefühlskälte und Erbarmungslosigkeit, in der die Schutzhaftlagerführung mit den übrigen Taturhebern bei der Reichsführungs-SS und der nationalsozialistischen Führungsspitze voll übereinstimmte. Mit der gleichen gefühllosen und umbarmherzigen Gesinnung wurden auch den Opfern in den Fällen V, 4 und 5 B Schmerzen zugefügt, die das zur Herbeiführung des Todes erforderliche Maß weit überschritten. Das gilt nicht nur für den eigentlichen grausamen Tötungsakt in der Gaskammer, in der die Betroffenen entsprechend dem allmählichen Zerfall der Zyklon-B-Kristalle und der sukzessiv fortschreitenden Gasentwicklung erst nach und nach qualvoll umkamen, sondern auch schon für die Vorbereitung durch die Auswahl der Opfer bei der Selektion, die sie in größter Todesangst über sich ergehen lassen mussten, und für die körperlichen Schmerzen, die von den Peitschenhieben herrührten, mit denen die Fluchtversuche der Ausgesonderten verhindert wurden. Die Grausamkeit dieser Tötungen ist auch nicht insoweit in Zweifel zu ziehen, als es sich bei den Opfern im Fall V, 5 B um Kleinkinder ab etwa 2 bis 3 Jahren gehandelt hat. Kinder dieser Altersstufe sind zwar noch nicht ohne weiteres imstande, eine drohende Lebensgefahr zu erkennen und die Bedeutung eines gewaltsamen Todes verstandesmäßig zu begreifen; ihnen geht aber nicht jede Empfindungsfähigkeit ab, was unter den gegebenen Umständen allein zur Verneinung des Tatbestandsmerkmales der Grausamkeit hätte führen können. Sie sind vielmehr durchaus in der Lage, Schmerzen und unbestimmte Angst zu empfinden, und das haben sie hier den getroffenen Feststellungen zufolge auch in besonderem Maße getan.
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Eindeutig erwiesen ist auch die Grausamkeit der Erschießungen in den Fällen V, 6 und 7. Sie ergibt sich, ohne dass es hierzu einer näheren Begründung bedarf, aus den zur Art der Durchführung dieser Exekutionen getroffenen Feststellungen und vor allem schon daraus, dass die jeweiligen Opfer nicht gleichzeitig, sondern gruppenweise nacheinander getötet wurden und die jeweils noch am Leben befindlichen, auf ihren Tod wartenden Opfer die Liquidierung ihrer Leidensgefährten zumindest akustisch miterleben mussten.“
Diesen Ausführungen ist beizupflichten. Zur Täterschaft bzw. Teilnahme hat das Schwurgericht Düsseldorf in seinem Urteil (S. 742–745) folgende Ausführungen gemacht: „Die Angeklagte Ryan hat danach in den Fällen V, 4 und 5B zweimal den Tatbestand des gemeinschaftlichen Mordes im Sinne der §§ 211, 47 StGB a.V., 25 Abs. 2 StGB n. F. verwirklicht. Ihr festgestelltes Verhalten und die Umstände der Tatausführung ergeben: Ihre beiden Tatbeiträge waren für den Tod von jeweils mindestens 50 Menschen ursächlich, denn ohne ihr und der anderen Beteiligten Zutun wären die betroffenen jüdischen Frauen und Kinder nicht oder jedenfalls nicht so bzw. nicht zu dieser Zeit ums Leben gekommen. Die Taten erfolgten aus niedrigen Beweggründen und waren überdies grausam. Ihr war das auch bewusst. Sie nahm den Tod dieser Menschen aus eigener niedriger und zudem unbarmherziger Gesinnung billigend in Kauf und trug durch ihr Verhalten selbst dazu bei, dass die Tötung der Opfer so grausam war. Sie handelte dabei, unterstützt von anderen Kommandanturangehörigen, in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit den Taturhebern und deshalb gemeinschaftlich mit ihnen. Bei den übrigen sieben Angeklagten lässt sich dagegen nicht feststellen, dass ihr Wille über die Förderung einer fremden Tat hinausging und sie die Tötungen als eigene wollten. Obwohl sie alle unmittelbar oder als Gefolge zur SS zählten und bis auf die Angeklagten Villain, Lächert und Laurich Mitglieder der NSDAP waren, fehlte ihnen allen unwiderlegt während der Zeit ihrer Tätigkeit in Lublin eine engere ideologische Bindung an den Nationalsozialismus und seine Ziele. Sie waren weder fanatische Regimeanhänger, noch war ihnen ein anderes eigenes Interesse an den Mordtaten nachzuweisen, das sie zur Mitwirkung getrieben oder sonst motiviert hätte. Nach ihrem Werdegang, ihrem Gesamtverhalten im KL Majdanek und dem in der mehrjährigen Hauptverhandlung gewonnenen Persönlichkeitsbild dieser Angeklagten ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die sich nicht etwa deshalb an den Tötungen beteiligten, weil sie sich die Absichten und Pläne der Taturheber zu eigen gemacht hätten, sondern will sie als Folge ihrer grundsätzlichen Einstellung zu Befehl und Gehorsam die fremden Taten weisungsgemäß unterstützen wollten. Sie verrichteten sämtlich nur die ihnen anbefohlenen Tätigkeiten und beteiligten sich, wie es im Wesen des Handelns auf Befehl liegt, nicht aus eigenem Entschluss an der Tatausführung, sondern in Erfüllung einer vermeintlichen Pflicht. Zu ihrer Mitwirkung wurden sie ohne ihr Zutun abgestellt; sie hatten kein materielles oder politisches Interesse daran und wurden nur tätig, weil die Autorität einer verbrecherischen Staatsführung es verstanden hatte, sie zu ergebenen Ausführenden der verwerflichen Absichten des Regimes zu machen. Ihre innere Einstellung zu den befohlenen Taten lässt sich unter diesen Umständen nicht als ,Täterwille‘ (vgl. BGHSt 8/393 ff., 397) beurteilen; sie alle sind demnach keine Mittäter, sondern nur Gehilfen.“
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Diese Rechtsausführungen standen in Übereinstimmung mit der damals – noch – herrschenden subjektiven Teilnahmetheorie. Heute hat sich dagegen die materiell objektive Teilnahmetheorie durchgesetzt, wonach die faktische Tatherrschaft auch die Täterschaft begründet.19 Schon lange vor dem Urteil im Majdanek-Prozess hatte ein Meinungsumschwung eingesetzt. So hieß es in einer Entschließung der vom Deutschen Juristentag 1966 eingesetzten Kommission: „Die Kommission hat mit Besorgnis von Urteilen Kenntnis genommen, in denen NSGewaltverbrechen nach den in den Urteilen getroffenen Feststellungen mit auffallend niedrigen Strafen geahndet worden sind. In einem wesentlichen Teil dieser Fälle beruht das darauf, dass Täter des Mordes als Gehilfen verurteilt worden sind. Unabhängig davon, ob die Kommissionsmitglieder einer subjektiven oder einer materiell objektiven Teilnahmetheorie zuneigen, ist nach ihrer einhelligen Auffassung vielfach zu Unrecht Beihilfe anstelle von Täterschaft angenommen worden. Täter ist nach Ansicht der Kommission auf jeden Fall, ohne Rücksicht auf seine Beweggründe im Übrigen, a) wer ohne konkreten Befehl getötet hat; b) wer mehr getan hat, als ihm befohlen war; c) wer als Befehlshaber mit selbständiger Entscheidungsgewalt oder eigenem Ermessensspielraum Tötungen befohlen hat.“20
Das allgemeine Sprachverständnis geht darüber hinaus: Wer eigenhändig tötet, ist Täter. Entscheidend muss im Strafrecht der Wortlaut des Gesetzes sein. Im § 25 StGB heißt es seit dem Jahr 1969: „Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht.“ (Abs. 1). „Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter).“ (Abs. 2).
Wer die Tat in eigener Tatherrschaft ausführt, ist Täter. Er bleibt Täter unabhängig von seinem Tatmotiv, auch wenn er Teil einer Mordmaschinerie gewesen ist, die von anderen konstruiert und in Gang gesetzt wurde. Und wer, ohne selbst Hand anzulegen, als verantwortlicher Teil die Mordmaschinerie in Bewegung gehalten hat, ist Mittäter. Der Theorienstreit21 geht an dieser Figur der tatausführenden Person vorbei, betrifft die Täterausweitungen in Form von mittelbarer Täterschaft in Abgrenzung zur Teilnahme. Selbst bei Zugrundelegung der so genannten subjektiven Teilnahmetheorie ist die Argumentation des Gerichts teilweise nur schwer nachzuvollziehen. Nach den Siehe Kühl, Strafrecht AT6, 2008, § 20 Rn. 25 ff. Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Bd. II, Teil C, 1967, S. 9; s. hierzu auch Just-Dahlmann/Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945, 1988. 21 Zusammenfassend s. Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 510 ff.; Kindhäuser, StGB4, 2009, vor §§ 25–31 Rn. 20 ff. 19 20
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Ausführungen des Gerichts ist Täter bzw. Mittäter „derjenige, dessen Denken und Handeln sich mit dem der Taturheber deckt, der politischer Mordhetze willig nachgibt, sein Gewissen zum Schweigen bringt und fremde verbrecherische Ziele zur Grundlage eigener Überzeugung und eigenen Handelns macht oder dafür Sorge trägt, dass derartige Befehle rückhaltlos vollzogen werden, bzw. wer dabei anderweitig einverständlichen Eifer zeigt oder den staatlichen Mordterror für eigene Zwecke ausnutzt.“ 22 Zwar kann das Verteidigungshandeln im Prozess, die Leugnung von Schuld, nicht maßgeblich für die innere Einstellung zur Tatzeit herangezogen werden. Die Befehle zur Exekution wurden nach den Ausführungen des Gerichts aber rückhaltlos vollzogen. Wer nicht an der Tötung aus niedrigen Beweggründen der Befehlsgebenden mitwirken wollte, hätte sich um einen anderen Dienstposten bewerben können, ohne dass er einen Nachteil zu befürchten gehabt hätte.23 Auch nach Überzeugung des Gerichts bestand objektiv keine Notstandssituation im Sinne des § 35 StGB.24 Soweit den Angeklagten zugestanden wird, „dass sie in teilweiser Verkennung der wahren Sachlage Angst davor gehabt haben, im Falle einer offenen Gehorsamsverweigerung gegenüber den Tötungsbefehlen vor ein SS- und Polizeigericht gestellt oder sonst schwer gemaßregelt zu werden“, greift der Entschuldigungsgrund des § 35 StGB nicht ein, weil nach Darstellung des Gerichts die Angeklagten ihre Tatbeiträge nicht aus einer vermeintlichen Notstandslage heraus geleistet haben. Eine Verweigerung wurde nicht ernsthaft in Betracht gezogen: „Stattdessen sind sie sämtlich den bequemsten und risikolosesten Weg gegangen, indem sie die Befehle widerstandsund widerspruchslos ausgeführt haben.“25 Wer sich, wie das Schwurgericht im Majdanek-Prozess, stellvertretend für die Rechtsprechung in den NS-Prozessen, so weit nicht nur vom allgemeinen Sprachverständnis, sondern auch vom Gesetzeswortlauf entfernt, setzt sich wenn nicht dem Vorwurf von Willkür,26 so doch der Sophisterei aus.27 Dementsprechend groß war die Empörung über das Gerichtsurteil,28 wenngleich der Verhandlungs22
LG Düsseldorf (Fn. 1), S. 736. Nach Spieß, ehemaliger Leiter der Kölner Zentralstelle zur Aufklärung von NSVerbrechen, ist ihm kein Fall bekannt geworden, in dem jemand an Leib oder Leben Schaden genommen hätte, der sich geweigert hätte, verbrecherische Befehle auszuführen, zitiert nach DRiZ 1997, 10. 24 LG Düsseldorf (Fn. 1), S. 774. 25 LG Düsseldorf (Fn. 1), S. 776. 26 Siehe Noll, Die NS-Verbrecherprozesse strafrechtsdogmatisch und gesetzgebungspolitisch betrachtet, in: Schneider (Hg.), Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse, 1968, S. 46; Baumann, Die strafrechtliche Problematik der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, in: R. Henkys (Hg.), Die Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, 1964, S. 317; Roxin, GA 1963, S. 193 ff. (197). 27 Ähnlich Kaul, DuR 1981, 44; Fabian, Empörung allein genügt nicht/Erste Anmerkungen zum Majdanek-Urteil, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1981, S. 772; Kruse, KJ 1985, 145 ff.; Werle, NJW 1992, 2533 f. 28 Siehe Fabian (Fn. 27), 772; DRiZ 1981, 347; Kruse KJ 1985, 140 ff. 23
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führung des Vorsitzenden Richters Respekt gezollt wurde. Nach einem Zeitungsbericht (Frankfurter Rundschau vom 26.6.1991) hat der Vorsitzende des Gerichts, dem eine zurückhaltend-nachdenkliche Art zugesprochen wird, eine erhebliche Belastung eingeräumt, „im Nachhinein so das Gefühl zu haben, als Richter ein verkehrtes Urteil gesprochen zu haben“.29 Ebenso hält einer der Ankläger, Ambach, die Einordnung der meisten Angeklagten durch das Gericht als Gehilfen anstatt als Täter teilweise auch noch aus heutiger Sicht nicht für vertretbar.30 Hierbei soll nicht verkannt werden, dass auch nachvollziehbare, ja verständliche Gründe die Entscheidungen bestimmten. Die Angeklagten waren eingebunden in die nationalsozialistische Mordmaschinerie. Zugleich sollte damit die Hauptverantwortung den Hauptschuldigen übertragen werden. Das Schwurgericht im Majdanek-Prozess hat hierzu ausgeführt (S. 700): „Urheber der abzuurteilenden Straftaten waren in erster Linie die Mitglieder der nationalsozialistischen Führungsspitze, bestehend aus Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und dessen Nachfolger Kaltenbrunner, ferner die verantwortlichen Leiter bei den beteiligten nachgeordneten Reichsbehörden, namentlich bei der Reichsführung – SS und dem RSHA (sc. Reichssicherheitshauptamt), sowie im Einzelfall der Lubliner SSPF Sporrenberg (sc. SS- und Polizeiführer), der Lagerkommandant Koch und der Schutzhaftlagerführer Thumann. Sie sind als Taturheber, d.h. als mittelbarer Täter, aller in Durchführung ihrer Anordnungen begangenen Mordtaten anzusehen.“
Nur wenige dieser als hauptverantwortlich eingestuften Täter wurden aber tatsächlich von den Gerichten zur Rechenschaft gezogen. Erst der Bundesgerichtshof hat diese mittelbare Täterschaft für rechtswidrige Todesschüsse an der Grenze der ehemaligen DDR für die politisch-militärisch Verantwortlichen, die Mitglieder des nationalen Verteidigungsrates (NVR) der DDR – bei gleichzeitiger Täterschaft der Todesschützen! – in der Gerichtspraxis eingelöst.31 Eine zu späte Einsicht für die NS-Täter! Unauflösbar bleibt der Widerspruch, dass zu Zeiten der Einstufung von NS-Schergen zu bloßen Gehilfen ein Todesschütze, der erst auf wiederholten Befehl als Führer einer Grenzstreife der DDR auf einen Flüchtling geschossen hatte, als Täter eingestuft wurde.32 VI. Fazit Das Urteil ist aus heutiger juristischer Sicht hinsichtlich der Gehilfeneinstufung zwar verfehlt, stellt aber in aller gebotenen Deutlichkeit die beweismäßig erfassbaren Tötungshandlungen, deren Grausamkeiten und die niedrigen Beweg29 Siehe auch Mailänder-Koslov (Fn. 4), S. 83, wonach der Vorsitzende Richter in einem Interview (1996) deutlich gemacht hat, dass er in bestimmten Teilen des Urteils überstimmt worden ist. 30 Ambach/Köhler (Fn. 7), S. XVIII. 31 Vgl. BGHSt 40, 218 (232 ff.); BGHSt 45, 270; ausgeweitet in BGHSt 48, 77 (89 ff.) auf ein Unterlassungsverhalten. 32 Vgl. LG Stuttgart JZ 1964, 101 (103).
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gründe der Täter dar. Der Massenmord in den Konzentrationslagern wurde rechtskräftig dokumentiert. Das Urteil ist ein Opfergedächtniswerk. Es ist insoweit nicht nur in der Sache überzeugend, es ist auch in einer einfühlsamen Sprache geschrieben, die den Opfern und ihren Angehörigen gerecht wird. Deutlich wird aber auch, dass die gesetzlich formulierten Tatbestandsmerkmale des § 211 StGB nicht das verbrecherische Ausmaß dieser Taten erfassen können. So scheitert die zusätzliche Annahme der heimtückischen Ermordung nur an der zuvor herbeigeführten Wehrlosigkeit der Opfer. Erst recht können die ausgeurteilten Strafen nicht das verbrecherische Ausmaß dieser Taten angemessen vergelten. Das Urteil ist darüber hinaus ein außerordentlich bedeutsames Zeitdokument. Historiker hätten mit ihren Mitteln diese Taten und deren Urheber nicht so im Einzelnen erforschen können. Dies im Rahmen dieser Festschrift zu Ehren der Kollegin Puppe in Erinnerung zu rufen, war mir wichtig.
Literatur Ambach, D./Köhler, T. (2003), Lublin-Majdanek/Das Konzentrations- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen (hrsg. vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen). Baumann, J. (1964), Die strafrechtliche Problematik der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, in: R. Henkys (Hg.), Die Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, Stuttgart. Deutscher Juristentag (1967), Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Bd. II, Essen. Fabian, W. (1981), Empörung allein genügt nicht/Erste Anmerkungen zum MajdanekUrteil, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1981, S. 772–774. Graf, J./Mattogno, C. (2004), KL Majdanek. Eine historische und technische Studie, 2. Aufl., Hastings. Just-Dahlmann, B./Just, H. (1988), Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945, Frankfurt am Main. Kaul, F. K. (1981), Der Majdanek-Prozeß/Ein Beispiel für die Nichtbewältigung nazistischer Vergangenheit, in: Demokratie und Recht 1981, S. 39–48. Kindhäuser, U. (2009), Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 4. Aufl., BadenBaden. Kruse, F. (1985), Das Majdanek-Urteil/Von Grenzen deutscher Rechtsprechung, in: Kritische Justiz 1985, S. 140–158. Kühl, K. (2008), Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl., München. Lichtenstein, H. (1979), Majdanek/Reportage eines Prozesses, Hamburg. Mailänder-Koslov, E. (2005), Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975–1981): Ein Wettlauf mit der Zeit?, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten. S. 74–88.
Zur Erinnerung: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1974–1984)
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IV. Strafrecht – Allgemeiner Teil
Vorbedingungen der Tatbestandsmäßigkeit Von Karsten Altenhain I. Die Frage der systematischen Stellung der Regelungen zur Providerverantwortlichkeit Vor nunmehr fast 14 Jahren schuf der Bundesgesetzgeber Vorschriften zur „Verantwortlichkeit“ der Anbieter von Telediensten. Nach dem damaligen § 5 Abs. 2 TDG1 waren Hostprovider für die von ihnen bereitgehaltenen fremden Informationen nur dann verantwortlich, wenn sie von ihnen Kenntnis hatten und es ihnen technisch möglich und zumutbar war, ihre Nutzung zu verhindern. § 5 Abs. 3 S. 1 TDG sah vor, dass Accessprovider für die fremden Informationen, zu denen sie lediglich den Zugang zur Nutzung vermittelten, gar nicht verantwortlich waren. Das Besondere an § 5 TDG war nicht nur, dass der Gesetzgeber überhaupt für einen bestimmten Personenkreis, der bestimmte Tätigkeiten ausübt, eine Verantwortlichkeitsregelung schuf, anstatt es bei der Geltung der allgemeinen Regeln zu belassen. Außergewöhnlich war auch, dass er eine Querschnittsregelung traf, die für alle Teilrechtsgebiete gleichermaßen galt. Dabei ging er von der Vorstellung aus, dass die Verantwortlichkeitsregeln des § 5 TDG „der straf- und zivilrechtlichen Prüfung vorgelagert (sind). Ergibt sich danach im Grundsatz eine Verantwortlichkeit des Anbieters, ist in einem zweiten Schritt die straf- und zivilrechtliche Beurteilung vorzunehmen“.2 Die Bundesländer, die in Absprache mit dem Bund zeitgleich einen insoweit gleichlautenden § 5 MDStV3 für die Anbieter von Mediendiensten vereinbarten, betonten ebenfalls, dass § 5 MDStV „der straf- und zivilrechtlichen Prüfung vorgelagert“ sei.4 Auch als zur Umsetzung der an die deutschen Regelungen angelehnten Art. 12–15 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (ECRL)5 die Verantwortlichkeits-
1 Gesetz über die Nutzung von Telediensten (Teledienstegesetz) vom 22.7.1997, BGBl. I, S. 1870; außer Kraft getreten mit Inkrafttreten des TMG am 1.3.2007. 2 BT-Drucks. 13/7385, S. 51; zustimmend BT-Drucks. 13/8153, S. 8, 15; ausführlich die Referenten Engel-Flechsig/Maennel/Tettenborn, NJW 1997, 2981, 2984. 3 Staatsvertrag über Mediendienste vom 20.1./12.2.1997, GVBl. NW, S. 158. 4 NW LT-Drucks. 12/1954, S. 33. 5 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. EG Nr. L 178 vom 17.7.2000, S. 1.
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bestimmungen in §§ 8–11 TDG6 und §§ 6–9 MDStV7 neu gefasst und später in §§ 7–10 TMG8 zusammengeführt wurden, blieb der Gesetzgeber dieser Vorstellung treu. Wie schon bisher lasse sich die Wirkungsweise der Verantwortlichkeitsregelungen „untechnisch mit der eines Filters vergleichen“.9 Diese Konzeption der heute an die Stelle des früheren § 5 Abs. 2 und 3 TDG getretenen §§ 8–10 TMG hat die Frage nach ihrer dogmatischen Einordnung aufgeworfen. Unter den gerade mit Blick auf den Querschnittscharakter und die gesetzgeberischen Vorstellungen entwickelten zweistufigen Modellen, welche die §§ 8–10 TMG außerhalb der Haftungsvoraussetzungen der Teilrechtsgebiete ansiedeln, wird vornehmlich die Konstruktion eines Vorfilters vertreten, teilweise aber auch die eines Nachfilters, der erst im Anschluss an die Bejahung der Haftung nach den Regeln der jeweils einschlägigen Teilrechtsordnung zum Einsatz komme. Ihnen gegenüber stehen einstufige Modelle, die eine Integration der §§ 8–10 TMG in die Haftungsvoraussetzungen befürworten. Unter ihnen findet die Tatbestandslösung den größten Anklang, doch gibt es daneben auch Ansätze, welche die §§ 8–10 TMG als Rechtfertigungs-10, Schuld-11 oder Strafausschließungsgründe12 einstufen. Die bekannten und überzeugenden Argumente, die innerhalb der zweistufigen Lösung gegen die Konstruktion eines Nachfilters und innerhalb der einstufigen Lösung von den Vertretern der Tatbestandslösung gegen die übrigen Varianten vorgebracht werden, müssen hier nicht wiederholt werden. Interessanter und bislang kaum hinterfragt sind die Gründe, aus denen heraus gerade im Strafrecht die dem Gesetzgeber offensichtlich vorschwebende zweistufige Vorfilterlösung abgelehnt und stattdessen die einstufige Tatbestandslösung bevorzugt wird. Tatbestandslösung heißt im Strafrecht, dass die §§ 8–10 TMG in die Straftatbestände hineingelesen werden sollen. Geschehen soll dies auf der Ebene des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Indem der Gesetzgeber Access- und Hostprovidern zugestehe, dass sie nicht für die von ihnen vermittelten oder bereitgehaltenen fremden Informationen verantwortlich seien, selbst wenn diese strafrechtlich relevant seien, verneine er die rechtliche Missbilligung ihrer Dienstleistungen. Ein 6 Neufassung durch Art. 1 Nr. 4 Elektronischer Geschäftsverkehr-Gesetz (EGG) vom 14.12.2001, BGBl. I, S. 3721. 7 Neufassung durch Art. 3 Nr. 6 Sechster Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 20./ 21.12.2001, GVBl. NW 2002, S. 171. 8 Telemediengesetz vom 26.2.2007, BGBl. 2007 I, S. 179. 9 BT-Drucks. 14/6098, S. 23. 10 So Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 57; ders., in: Leipziger Kommentar zum StGB12 (LK), 2007, Vor § 13 Rn. 151. 11 So zu § 5 TDG a. F. LG München I, NJW 2000, 1051, 1052. 12 So Heghmanns, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht 2, 2008, Kap. VI 2 Rn. 49; ebenso schon zu § 5 TDG a. F. ders., ZUM 2000, 463, 465; ders., JA 2001, 71, 78; ihm folgend zu den §§ 9 ff. TDG Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Informationsvermittler im Netz, 2006, S. 244, 250 ff., 253.
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Access- oder Hostprovider, der gewaltverherrlichende oder volksverhetzende Informationen Dritter weiterleite oder in Unkenntnis ihres Inhalts zum Abruf durch andere Nutzer bereithalte, mache diese Informationen zwar zugänglich, jedoch sei dies rechtlich gebilligt. Diese systematische Einordnung hat aus der Sicht der Vertreter der Tatbestandslösung zwei Vorteile: Erstens erlaube sie eine unterschiedliche Auslegung der §§ 8–10 TMG in den Teilrechtsgebieten. 13 Daher sei es bei § 10 S. 1 TMG, der Unkenntnis des Hostproviders von der fremden Information verlange, nicht möglich, ihm im Strafrecht fremdes Wissen zuzurechnen, wohl aber im Zivilrecht. Ebenso komme im Strafrecht eine analoge Anwendung zum Nachteil des Providers nicht in Betracht, durchaus aber im Zivilrecht. Zweitens fänden auf die §§ 8–10 TMG infolge ihrer Einordnung in den Tatbestand die allgemeinen strafrechtlichen Regeln Anwendung. So unterliege ein Irrtum über die Voraussetzungen oder Reichweite der Verantwortlichkeitsregeln den §§ 16, 17 StGB14 oder bleibe die Teilnahme an einer Verbreitung von Informationen, für die der Provider gemäß der §§ 8–10 TMG nicht verantwortlich sei, mangels tatbestandsmäßiger Haupttat gemäß der §§ 26, 27 StGB straflos.15 Diese vermeintlichen Vorteile belegen jedoch im Gegenteil, dass die Tatbestandslösung nicht richtig sein kann. Wenn der Gesetzgeber erklärtermaßen in einem Spezialgesetz einheitliche, für alle Teilrechtsgebiete geltende Regelungen schafft, dann ist es nach allen Auslegungsgrundsätzen unzulässig, diese je nach Teilrechtsgebiet unterschiedlich auszulegen. Wenn also § 10 S. 1 TMG Hostprovider nur unter der Voraussetzung, dass sie „keine Kenntnis von der rechtswidrigen Handlung oder der Information haben“ von der Verantwortlichkeit freistellt, dann ist es unzulässig, ihnen je nachdem, ob man die Norm in einen zivil- oder strafrechtlichen Tatbestand hineinliest, das Wissen ihrer Mitarbeiter zuzurechnen oder nicht.16 Auf der Grundlage der Tatbestandslösung lassen sich zwei Wege für eine einheitliche Auslegung der §§ 8–10 TMG vorstellen: Entweder eine Ausle13 Haft/Eisele, JuS 2001, 112, 118; Lenckner/Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 184 Rn. 56; Sieber, Verantwortlichkeit im Netz, 1999, Rn. 248. 14 Dannecker, in: Hohl/Leible/Sosnitza (Hrsg.), Vernetztes Recht, 2002, S. 129, 156; Hilgendorf, NStZ 2000, 518 f.; Sieber, Verantwortlichkeit (Fn. 13), Rn. 248, 362; Spindler, in: Spindler/Schmitz/Geis, TDG, 2004, Vor § 8 TDG Rn. 28; Valerius, in: BeckOKStGB, Providerhaftung, Stand 10/2009, Rn. 6; v. Samson-Himmelstjerna, Haftung von Internetauktionshäusern, 2008, Rn. 90 f.; s. auch Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit (Fn. 12), S. 233, der sich dann aber für eine Einordnung als Strafausschließungsgrund ausspricht, S. 244, 250 ff., 253. 15 Sieber, Verantwortlichkeit (Fn. 13), Rn. 248; Spindler, in: Spindler/Schmitz/Geis (Fn. 14), Vor § 8 TDG Rn. 28; v. Samson-Himmelstjerna, Haftung (Fn. 14), Rn. 91. 16 So aber zu § 10 TMG: Hoffmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, § 10 TMG Rn. 29; v. Samson-Himmelstjerna, Haftung (Fn. 14), Rn. 265; zu § 11 TDG: Lenckner/Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 13), § 184 Rn. 56, 60; Scholz/Liesching Jugendschutz4, 2004, § 10 TDG Rn. 13; Spindler, in: Spindler/ Schmitz/Geis (Fn. 14), § 11 TDG Rn. 26.
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gung, die in allen Punkten den Maßstäben der jeweils strengsten Teilrechtsordnung genügt, oder eine eigenständige, rechtsgebietsunabhängige Auslegung. Der erste Weg hätte zur Folge, dass z. B. eine Wissenszurechnung niemals zulässig wäre. Da Provider zumeist keine Einzelpersonen sondern Unternehmen sind, würde im Zivilrecht der Hostprovider dadurch weitgehend dem Accessprovider gleichgestellt. Das widerspräche aber der inneren Systematik der §§ 8–10 TMG und dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Demgegenüber wäre der zweite Weg zwar mit dem TMG und den gesetzgeberischen Vorstellungen vereinbar. Jedoch wäre eine solche eigenständige Auslegung innerhalb des Straftatbestands, wie die Möglichkeit der Wissenszurechnung zeigt, ein Fremdkörper und würfe wieder die grundsätzliche Frage auf, ob nicht die zweistufige Lösung konsequenter ist. Auch mit Blick auf ihre zweite Konsequenz, dass auf die §§ 8–10 TMG die allgemeinen strafrechtlichen Regeln Anwendung finden, muss sich die Tatbestandslösung fragen lassen, woher sie die Legitimation dafür nimmt. Warum soll sich ein Provider, der auf seinem Server eigene und fremde Informationen zur Nutzung bereithält und bestimmte eigene Informationen nicht auf ihre rechtliche Zulässigkeit hin kontrolliert, weil er sie irrtümlich für fremde hält, auf § 16 Abs. 2 StGB berufen dürfen? Hier wird unterstellt, was es erst noch zu beweisen gilt, nämlich dass der Gesetzgeber diese Anwendung wollte. Dafür gibt es keinerlei Hinweise im Gesetz oder in den Gesetzesmaterialien. 17 Dasselbe gilt für jede andere Norm, die den Anwendungsbereich der §§ 8–10 TMG einschränkt oder erweitert. Warum soll etwa ein Hostprovider, der verkennt, dass ihm die Sperrung oder Löschung einer fremden Information nicht möglich ist, wegen Versuchs belangt werden, wenn er sich entschließt, gegen diese nicht vorzugehen? Das wäre zudem europarechtswidrig. Denn die Art. 12–15 ECRL sind, soweit sie die Verantwortlichkeit beschränken, als Vollharmonisierung gedacht. Der deutsche Gesetzgeber darf weder weitere noch engere Regelungen im nationalen Recht treffen.18 Er darf auch nicht andere Vorschriften auf sie für anwendbar erklären, die genau dies als Rechtsfolge vorsehen. Folglich darf auch eine Auslegung die §§ 8–10 TMG nicht in einen systematischen Kontext setzen, der genau dies bewirkt. Entgegen der Ansicht der Vertreter der Tatbestandslösung muss also dafür Sorge getragen werden, dass die allgemeinen strafrechtlichen Regeln nicht ohne Weiteres Anwendung finden. Das ist bei der zweistufigen Vorfilterlösung sichergestellt. Es fragt sich daher, mit welchen Argumenten die Anhänger der einstufi17 Die Bundesregierung führte im Gegenteil zu ihrem Entwurf aus: „Soweit sie die Verantwortlichkeit der Diensteanbieter beschränkt, handelt es sich um eine abschließende Regelung“, BT-Drucks. 13/8153, S. 8. 18 So explizit die Bundesregierung, Begründung RegE EGG (vgl. Fn. 6), BT-Drucks. 14/6098, S. 22.
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gen Lösung die zweistufige ablehnen. Genannt wird im Wesentlichen eines: Es gebe keine Kategorie vor dem Tatbestand. Ein Vorfilter sei „dem deutschen Strafrecht fremd“. Es sei auch „nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber durch ein Nebengesetz den klassischen Aufbau des Strafrechts: Tatbestand – Rechtswidrigkeit – Schuld habe ändern wollen“.19 II. Die Konstitutionsstufen des Verbrechens Wie Ingeborg Puppe gleich zu Beginn ihrer Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff. StGB ausführt, darf der dreistufige Verbrechensaufbau jedoch nicht mit „einer von Natur aus vorgegebenen Struktur eines tatsachlichen Phänomens“ verwechselt werden. „Von einem Aufbau des Verbrechens kann man nur in dem Sinne sprechen, dass die verschiedenen Feststellungen und Wertungen, die ein einzelnes Verbrechen (Verbrechensfall) konstituieren, logisch und semantisch aufeinander aufbauen und deshalb verschiedenen Konstitutionsstufen angehören.“20 Es ist daher nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es vor der Tatbestandsmäßigkeit eine weitere Konstitutionsstufe gibt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass dort Feststellungen oder Wertungen getroffen werden, die ebenfalls konstitutiv für das Verbrechen sind, sich begrifflich von den auf den anderen Konstitutionsstufen eingruppierten Feststellungen oder Wertungen unterscheiden und ihnen logisch vorausgehen. Da es nun keinen vorgegebenen Verbrechensbegriff gibt, ist konstitutiv für das Verbrechen alles, was erforderlich ist, damit nach dem Gesetz eine Freiheitsstrafe verhängt werden darf. Auch Beling, auf den der dreistufige Verbrechensaufbau zurückgeht,21 kannte vor der Tatbestandsmäßigkeit eine weitere Kategorie: Von „den Umständen, die innerhalb des Geltens eines bestimmten positiven Rechts die Strafbarkeit bedingen“ – gemeint waren neben Handlung, Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld die von Beling anerkannten Kategorien der Strafdrohungsbedingungen, persönlichen Strafbarkeitsbedingungen und Strafaufhebungsgründe –, „sind 19 Beide Zitate LG München I, MMR 2000, 171; ebenso: Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit (Fn. 12), S. 232 („Lehren vom Verbrechensaufbau grundlos über Bord werfen“); Heghmanns, JA 2001, 71, 77 („systematisch inakzeptabel“); Paul, Primärrechtliche Regelungen zur Verantwortlichkeit von Internetprovidern aus strafrechtlicher Sicht, 2005, S. 110 („Kuriosum“); Spindler, in: Spindler/Schmitz/Geis (Fn. 14), Vor § 8 TDG Rn. 28 („völlig von der Normstruktur losgelöstes Element“); vorsichtiger Haft/Eisele, JuS 2001, 112, 117 (eine vorgelagerte Prüfung werde „bei der Frage nach der Verantwortlichkeit auch sonst nicht vorgenommen“). Zumeist liegt diese Ansicht unausgesprochen zugrunde; vgl. Sieber, Verantwortlichkeit (Fn. 13), Rn. 236 ff.; Sieber/Höfinger, in: Hoeren/Sieber (Hrsg.), Handbuch Multimediarecht (Stand: 23. Ergänzungslieferung, 8/2009), Teil 18.1, Rn. 20. 20 Beide Zitate von Puppe, in: Nomos Kommentar zum StGB3 (NK), 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 1. 21 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 77.
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streng zu scheiden die Umstände, die darüber entscheiden, ob überhaupt dieses oder jenes Strafrecht anzuwenden sei, die Strafrechtsanwendungsbedingungen, wie man sie passend nennen kann.“22 Für Beling war „klar, daß man zur Handhabung dieser Strafbarkeitsbedingungen immer erst der Vorfeststellung bedarf, ob denn überhaupt auf das in Rede stehende Vorkommnis dieser oder jener Komplex von Strafrechtssätzen zur Anwendung gelangen soll“.23 Unter dem Stichwort Strafrechtsanwendungsbedingungen verhandelte er das intertemporale Strafrecht und die Abgrenzung zwischen Reichs- und Landesstrafrecht.24 Allerdings zählte Beling die Strafrechtsanwendungsbedingungen nicht zum Verbrechensbegriff. Grund hierfür war seine Ansicht, dass das Verbrechen eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung sei, es also beim Verbrechensbegriff um die Beschreibung der Eigenschaften einer Handlung gehe, ihre „Verbrechenseigenschaft“ 25, die sie nach dem Gesetz habe, während das Strafrechtsanwendungsrecht über die Vorfrage der Anwendung dieses Gesetzes bestimme. Die bis heute tradierte Vorstellung, dass das Verbrechen eine Handlung ist, welche die genannten Eigenschaften aufweist,26 ist jedoch in zweifacher Hinsicht falsch: Das Verbrechen ist keine Handlung, sondern zum Verbrechen gehören weitere vom Tatbestand geforderte Umstände, wie ein Erfolg oder eine bestimmte Tatsituation, die „sich allenfalls sehr gekünstelt als Eigenschaften einer Handlung beschreiben“ lassen.27 Ebenso wenig ist die Tatbestandsmäßigkeit eine Eigenschaft der Handlung, sondern lediglich die Aussage, dass ein Sachverhalt, zu dem auch eine Handlung gehört, unter einen Tatbestand subsumierbar ist.28 Daher ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, auch die Anwendbarkeit des Tatbestands als Konstitutionsstufe des Verbrechens anzusehen. Während sich Belings Verbrechensbegriff jedenfalls mit dem Dreiklang Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld durchgesetzt hat, ist seine Erkenntnis, dass es eine logisch vorrangige Kategorie gibt, auf welcher der anwendbare Tatbestand ermittelt wird, nicht mehr so präsent. Von einem Straf(rechts)anwendungsrecht spricht man nur noch sektoral im Zusammenhang mit dem sog. internationalen Strafrecht (§§ 3–7 StGB);29 von der Anwendbarkeit eines Straf22
Beling, Lehre (Fn. 21), S. 91. Beling, Lehre (Fn. 21), S. 92. 24 Sowie die Abgrenzung zwischen Reichs- und Kolonialstrafrecht, Beling, Lehre (Fn. 21), S. 92, 95. 25 Beling, Lehre (Fn. 21), S. 20 f., 30, Zitat auf S. 94. 26 Jedoch weist die heute h. M. der Handlung nicht mehr eine dem Tatbestand vorgelagerte Funktion zu; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 13), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 23/24, 37 m.w. N. 27 Puppe, in: NK3 (Fn. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 4. 28 Puppe, in: NK3 (Fn. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 5. 29 Wobei man den Begriff zu Unrecht Mezger, Deutsches Strafrecht, 1938, S. 34, zuschreibt. 23
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tatbestands im Europastrafrecht, im intertemporalen (§ 2 StGB) und im interlokalen Strafrecht. 1. Die systematische Einordnung der Regelungen des internationalen Strafrechts Wenn, wie es heute üblich ist, die §§ 3–7 StGB als Straf(rechts)anwendungsrecht bezeichnet werden, dann erfolgt die Verwendung dieses Begriffs allerdings nicht im Sinne Belings. Der Begriff steht heute nicht für eine bestimmte dogmatische Einordnung, sondern umschreibt lediglich eine der Funktionen der Regelungen des internationalen Strafrechts: Sie legen bei Sachverhalten mit Auslandsbezug – neben der Reichweite der Strafgewalt des deutschen Staates – die Anwendbarkeit des deutschen statt eines ausländischen Strafrechts fest.30 In der Sache ist man sich aber mit Beling darin einig, dass die §§ 3 ff. StGB Feststellungen oder Wertungen betreffen, die konstitutiv sind für den Verbrechensbegriff.31 Beling sah in den dort genannten Umständen, die eine Anwendung des deutschen Strafrechts begründen, keine außerhalb seines Verbrechensbegriffs stehenden Strafrechtsanwendungsbedingungen,32 sondern, wie er sie nannte, „Strafdrohungsbedingungen“.33 Entsprechend erblickt die heute herrschende Meinung in ihnen objektive Bedingungen der Strafbarkeit.34 Demgegenüber sieht eine Minderheitsmeinung die Umstände, die eine Anwendung des deutschen Strafrechts begründen, auch als unrechtskonstitutiv und da-
30 Ambos, Internationales Strafrecht2, 2008, § 1 Rn. 5; Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 8; Werle/Jeßberger, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 3 Rn. 9. Letzteres ist nicht zwingend, wie z. B. § 4 Abs. 3 StGB a. F. zeigt, der bis 1940 die Anwendung des milderen ausländischen Strafgesetzes vorsah. 31 Anders Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK), Stand 6/1997, Vor § 3 Rn. 4, der in ihnen Metanormen sieht; dagegen zutreffend Böse, FS Maiwald, 2010, S. 61, 66 ff.; Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 598 f. 32 Beling, Lehre (Fn. 21), S. 98 ff. 33 So zu den Regeln zum Tatort Beling, Lehre (Fn. 21), S. 102; später bezeichnete er sie als „reine Strafbarkeitsbedingungen“, zählte sie aber weiterhin zum Verbrechen; ders., Die Lehre vom Tatbestand, 1930, S. 19. Die Ansicht, dass das internationale Strafrecht zur Konstitution des Verbrechens gehöre, vertrat auch Mendelssohn Bartholdy, in: Birkmeyer et al. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Band VI, 1908, S. 85, 109 f.; ders., GA 67 (1919), 65, 68 f.; s. dazu Granitza, Die Dogmengeschichte des internationalen Strafrechts seit Beginn des 19. Jahrhunderts, 1961, S. 102 ff. 34 Ambos, Strafrecht2 (Fn. 30), § 1 Rn. 9; Eser, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 13), Vorbem §§ 3–7 Rn. 61; Gribbohm, in: Leipziger Kommentar zum StGB11, 1997, Vor § 3 Rn. 415; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil5, 1996, S. 180; Kreis, Die verbrechenssystematische Einordnung der EG-Grundfreiheiten, 2008, S. 121 f.; Satzger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), StGB, 2009, Vor §§ 3–7 Rn. 3; Werle/Jeßberger, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 3 Rn. 268.
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her als vor die Klammer gezogene Tatbestandsmerkmale an.35 Dafür werden normtheoretische, straftheoretische und straflegitimatorische Gründe vorgebracht. Nach der normtheoretischen Argumentation besteht nur die Wahl zwischen einer Zuordnung der Umstände, die eine Anwendung des deutschen Strafrechts begründen, zur Sanktionsnorm mit der Konsequenz, dass die Verhaltensnormen dann „Weltgeltung“ beanspruchen würden, oder zur Verhaltensnorm mit der Folge, dass sie Teil des Tatbestands wären.36 Nun ist die Normentheorie lediglich ein Modell, das keine Rechtsverhältnisse begründen kann. Die behauptete „Weltgeltung“ wäre also allenfalls eine normtheoretische, keine rechtliche. Aber eine solche Geltung – richtiger ist auch hier der Begriff Anwendbarkeit – seiner Verhaltensnormen beansprucht der deutsche Staat auch im Zivil- und Öffentlichen Recht nicht. Sondern er stellt ihnen dort Rechtsanwendungsnormen voran.37 Die Normentheorie muss diese Einschränkungen bereits auf der Verhaltensnormebene berücksichtigen; von einer „Weltgeltung“ der Verhaltensnormen, die bei einer Zuordnung der Umstände, die eine Anwendung des deutschen Strafrechts begründen, zur Sanktionsnorm bestünde, kann daher auch normtheoretisch keine Rede sein.38 Der gleiche Vorwurf ist gegen die straftheoretische Argumentation zu erheben. Von einer straftheoretischen Perspektive aus, in der Strafe wegen einer Verhaltensnormverletzung verhängt wird und nur derjenige zur Erduldung der Strafe verpflichtet ist, von dem der Staat die Einhaltung der Verhaltensnorm verlangen darf, sollen danach die Regelungen des internationalen Strafrechts festlegen, wer Verpflichteter der Verhaltensnorm ist. Sie seien „deshalb mitkonstitutiv für den Bereich kriminellen Unrechts“. Normtheoretisch bestimmten sie „nicht bloß über die Gestalt der Sanktionsnorm, sondern auch über jene der Verhaltensnorm“.39 Auch hier liegt die Prämisse zugrunde, dass die Verhaltensnormen des Zivil- und Öffentlichen Rechts ohne strafrechtliche Eingrenzung letztlich uneingeschränkt an jedermann gerichtet wären. Das ist falsch. Zur Anwendung auf den Sachverhalt müssen die zivil- oder öffentlich-rechtlichen Sachnormen erst durch Kollisionsnormen dieser Rechtsgebiete berufen werden. Die straflegitimatorische Argumentation differenziert zwischen originärer (§§ 3–5, 7 Abs. 1 StGB) und abgeleiteter Strafgewalt (§§ 6, 7 Abs. 2 StGB) und weist die Umstände, die eine Anwendung des deutschen Strafrechts begründen, 35 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 604; Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 373; mit Einschränkungen Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 9, 51. 36 Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 600 ff.; zustimmend Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 361. 37 v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Band 12, 2003, § 4 Rn. 62. 38 Ob die Einschränkungen der Anwendbarkeit der Verhaltens- und Sanktionsnormen in den Teilrechtsgebieten aufeinander abgestimmt sind, kann und muss hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls würde aus etwaigen Ungereimtheiten nichts für eine Zuordnung der §§ 3 ff. StGB zum Tatbestand folgen. 39 Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 373.
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bei ersterer dem Tatbestand zu, bei letzterer den Prozessvoraussetzungen.40 Die behauptete unterschiedliche Legitimation der Regelungen des internationalen Strafrechts mag ihre Zuweisung zum materiellen oder, was hier nicht hinterfragt werden kann, zum formellen Recht tragen, ihre Zuweisung innerhalb des materiellen Rechts zum Unrecht begründet sie jedoch nicht; andernfalls beträfe alles materielle Strafrecht ausschließlich Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Die Zuordnung zum Unrecht (und dort zum Tatbestand) wird daher auch hier wieder darauf gestützt, dass „die Bewertung des jeweiligen Verhaltens als Unrecht auf den Maßstab der deutschen Rechtsordnung bezogen ist“.41 Damit ist gemeint, dass ein Verhalten nicht an sich Unrecht ist, sondern nur als Verhalten einer Person, die zur Einhaltung des Rechts des bewertenden Staates verpflichtet ist. Letztlich wird also wieder vorgetragen, dass der zur Einhaltung der Verhaltensnorm Verpflichtete sich schon aus dieser selbst – und nicht erst aus der Sekundärnorm – ergeben müsse. Das führt zurück zur normtheoretischen Argumentation.42 Dass die von der Minderheitsmeinung vorgebrachten Argumente für eine Zuordnung zum Tatbestand nicht überzeugen, erlaubt nicht den Schluss, dass der herrschenden Meinung beizupflichten ist. Sie begründet ihre Einstufung der §§ 3–7 StGB als objektive Strafbarkeitsbedingungen regelmäßig nicht, sondern konstatiert allenfalls, dass diese Regelungen zum materiellen Recht gehörten, weil sie das Ausmaß der Geltung des materiellen Strafrechts auf Handlungen mit Auslandsbezug beträfen;43 das mache sie aber nicht zu Tatbestandsmerkmalen.44 Diese Zurückhaltung lässt sich vielleicht damit erklären, dass eine nähere Begründung eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Tatbestands verlangt. Auch die Minderheitsauffassung geht diesen Weg nicht mehr. Zuletzt hat ihn wohl Zieher beschritten. Ausgehend von der These, dass Tatbestände „Typen verbrecherischen Verhaltens“ umschreiben und folglich Strafbarkeitsvoraussetzungen, die den „eigentlichen Deliktscharakter einer Tat bestimmen“, zum Tatbestand gehören würden,45 untersuchte er, welche Merkmale der §§ 3–7 StGB „deliktstypenneutral“ seien, was er für die allermeisten bejahte.46 Zugrunde liegt 40 Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 9 f., 51, § 7 Rn. 2, 10; ders., FS Maiwald, 2010, S. 61, 64 ff.; ähnliche Einschränkungen bei Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil2, 1991, 5/12. 41 Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 51; ders., FS Maiwald, 2010, S. 61, 64 ff. 42 Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 51 Fn. 378, verweist auch auf Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, 589, 605. 43 BGHSt 20, 22, 25. 44 Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB (MK), Band 1, 2003, Vor §§ 3–7 Rn. 3; Jescheck/Weigend, AT5 (Fn. 34), S. 180. 45 Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 49, unter Verweis auf Gallas, Zum gegenwärtigen Stand der Verbrechenslehre, in: ders., Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 19, 33, der wiederum Beling, Tatbestand (Fn. 33), zitiert. 46 Lediglich § 5 Nr. 3a, 5b, 6–13 StGB a. F. betrafen seines Erachtens den Unrechtstypus; Zieher, Strafrecht nach der Reform (Fn. 45), S. 51 f.
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dem eine Definition Belings, der unter dem Tatbestand den „Inbegriff der Merkmale, die ergeben, um welches Verbrechen es sich typisch handelt“, verstand.47 Diese Umschreibung ist heute allerdings nur noch für den Systemtatbestand (Unrechtstatbestand, Tatbestand i. w. S.) – in Abgrenzung zum Garantietatbestand48 und zum Irrtumstatbestand – üblich.49 Wie Puppe betont, ist die „Forderung der Typizität allerdings nur für die klassischen Verbrechenstatbestände, wie Diebstahl, Raub, Betrug oder Mord, sinnvoll; von den neuen Straftatbeständen, etwa des Wirtschaftsstrafrechts und des Umweltstrafrechts, kann sie nicht erfüllt werden“.50 Schon deshalb kann sie schwerlich das maßgebliche Kriterium sein, anhand dessen bestimmt wird, ob ein Merkmal zum Systemtatbestand gehört oder nicht. Es ist zudem zweifelhaft, ob mit der Zugehörigkeit zum Systemtatbestand die Frage richtig gestellt wäre. Wenn sowohl die Vertreter der herrschenden wie auch der Minderheitsmeinung hervorheben, dass die Zuordnung gerade Bedeutung habe für die Behandlung des Irrtums über die tatsächlichen Umstände, aus denen sich die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ergibt,51 dann deutet dies darauf hin, dass es um den gesetzlichen bzw. Irrtumstatbestand geht. Für ihn ist Belings Definition irrelevant, weil sich die Zuweisung zum „gesetzlichen Tatbestand“ i. S. d. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nur aus dem Gesetz selbst ergeben kann. Bei den §§ 3–7 StGB ist das nicht der Fall. Sie legen nach ihrem übereinstimmenden Wortlaut fest, für welche „Taten“ „das deutsche Strafrecht gilt“. Da sie mit dem Begriff „Taten“ tatbestandsmäßige Sachverhalte voraussetzen, ist es mit ihrem Wortlaut unvereinbar, in ihnen zugleich Regelungen zu sehen, welche die Tatbestände inhaltlich auffüllen. Auch die Systematik, dass die §§ 3–7 StGB gerade nicht im Abschnitt über die „Tat“ stehen, sondern in dem in der Gliederungshierarchie gleichrangigen, aber numerisch vorangehenden Abschnitt über „das Strafgesetz“ zeigt, dass sie keine Bestimmungen zur Tat und damit auch nicht zum Tatbestand enthalten. Das belegen nicht zuletzt die weiteren Vorschriften in diesem Abschnitt, die z. B. nicht Tatzeit (§ 8 StGB) und Tatort (§ 9 StGB) allgemein zu Tatbestandsmerkmalen erheben. Auch die Gesetzesgeschichte gibt 47
Beling, Lehre (Fn. 21), S. 3. Art. 103 Abs. 2 GG gilt auch für die §§ 3 ff. StGB; BVerfG, wistra 2003, 255, 257; Jähnke, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 393, 401. 49 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 14, 2006, § 10 Rn. 1 (der Beling zitiert); Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 13), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 45 mit zahlreichen Nachweisen; s. auch Günther, in: SK (Fn. 31), Stand 5/1998, Vor § 32 Rn. 28 („Typus strafrechtlich relevanten Unrechts“). 50 Puppe, in: NK3 (Fn. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 24. 51 Nach h. M. ist der Irrtum unbeachtlich (Ambos, Strafrecht2 (Fn. 30), § 1 Rn. 9; Eser, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 13), Vorbem §§ 3–7 Rn. 61; Jescheck/Weigend, AT5 (Fn. 34), S. 180; Satzger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Fn. 34), Vor §§ 3–7 Rn. 3; Werle/Jeßberger, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 3 Rn. 452 [s. aber 453]; in diesem Sinne auch BGHSt 27, 30, 34), nach der M. M. ein Tatbestandsirrtum (Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 52; Neumann, FS Müller-Dietz, 2001, S. 589, 605; Pawlik, FS Schroeder, 2006, S. 357, 373 Fn. 85). 48
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keine Hinweise auf eine Zuordnung zum Tatbestand. Schließlich entspräche eine solche Zuordnung auch nicht dem Zweck der Regelungen. Das zeigt sich dann, wenn man den Blick vom Irrtum auf den Versuch lenkt: Gehörten die Merkmale des § 3 StGB zum Tatbestand, so müsste der deutsche Staat auch einen Ausländer bestrafen, der im Ausland einen Ausländer bestiehlt in der Annahme, er befinde sich im Inland. Mit dem Sinn des Territorialitätsprinzips wäre das jedoch unvereinbar, denn es fehlt jeder Anknüpfungspunkt im Inland.52 Es ist daher mit der herrschenden Meinung davon auszugehen, dass die Umstände, die eine Anwendung des deutschen Strafrechts begründen, konstitutiv für das Verbrechen sind und nicht zur Tatbestandsmäßigkeit gehören. 2. Die systematische Einordnung der Regelungen des interlokalen Strafrechts Ob und wo die Regeln des interlokalen Strafrechts in den Verbrechensaufbau einzugliedern sind, wird heute, soweit ersichtlich, nicht mehr erörtert. Neben der bislang geringen praktischen Bedeutung des interlokalen Strafrechts53 mag das seinen Grund darin finden, dass man wegen der Vergleichbarkeit mit dem internationalen Strafrecht davon ausgeht, dass hinsichtlich der systematischen Einordnung hier dasselbe gilt wie dort. Das stimmt, wenn man beim interlokalen Strafrecht die Kollision verschiedener Landesstrafrechte in den Blick nimmt.54 Dort geht es wie beim internationalen Strafrecht um die Fragen, ob ein Staat Strafgewalt für Sachverhalte außerhalb seines Territoriums beansprucht und welches Strafrecht er für anwendbar erklärt.55 Dass hierauf im internationalen und inter52 Man müsste sich schon zu der These versteigen, der Täter wolle (neben dem Eigentum des Opfers) den deutschen Staat angreifen und dieser sei bereits durch diese Intention in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Das ist unhaltbar; vgl. Altenhain, Das Anschlussdelikt, 2002, S. 322 f. 53 Ob das so bleibt, ist nach der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform (BGBl. I 2006, 2034) insb. für das Versammlungsstrafrecht fraglich. 54 Auch mit Blick auf die Fallgruppe des partiellen Bundesrechts gilt nichts anderes, bei der es entweder (1) um die Anwendbarkeit eines nicht für das ganze Bundesgebiet erlassenen Bundesgesetzes geht (vgl. Art. 125 GG) oder (2) um die nach einer Änderung der Gesetzgebungskompetenzen auftretende Frage der Anwendung von (a) fortgeltendem Bundesrecht oder neuem Landesrecht bzw. (b) von fortgeltendem Landesrecht oder neuem Bundesrecht (vgl. Art. 125a, b GG). In Variante (1) steht ähnlich wie im internationalen Strafrecht die Frage an, ob ein Bundesgesetz Anwendung findet oder nicht (oder, was keinen Unterschied macht, ein anderes). In Variante (2a) ist die Situation vergleichbar mit der der Kollision verschiedener Landesrechte, da hier das fortgeltende Bundesrecht Platzhalter für das noch nicht erlassene Landesrecht ist (so z. B. derzeit beim VersammlG, s. Fn. 53). In der umgekehrt gelagerten Variante (2b), dass anstelle der Länder der Bund zuständig ist, verliert mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes das bisherige Recht der Länder seine Geltung, weil davon auszugehen ist, dass der Bund das Strafrecht abschließend regelt (vgl. Weigend, in: LK12 (Fn. 10), Band 1, Einleitung Rn. 16). 55 Böse, in: NK3 (Fn. 20), Vor § 3 Rn. 71; Jakobs, AT2 (Fn. 40), 5/27.
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lokalen Strafrecht unterschiedliche Antworten gegeben werden – das internationale Strafrecht ordnet entweder die Anwendung deutschen Strafrechts an oder schließt eine eigene Strafrechtsanwendung ganz aus, während das interlokale Strafrecht immer die Anwendung eines Landesstrafrechts anordnet56 – findet seine Ursache ausschließlich in der unterschiedlichen Rechtsstellung der Staaten als Völkerrechtssubjekt oder Bundesland57 und begründet für sich genommen keine andere verbrechenssystematische Einordnung. Anders sah dies allerdings, wie bereits erwähnt, Beling, der das interlokale Strafrecht der von ihm außerhalb des Verbrechens angesiedelten Kategorie der „Strafrechtsanwendungsbedingungen“ zuwies, während er das internationale Strafrecht zu den verbrechensimmanenten „Strafdrohungsbedingungen“ zählte. Er begründete dies gerade damit, dass es bei den §§ 3 ff. StGB nicht um die Frage gehe, welches Strafrecht Anwendung finde. Es stehe im Gegenteil fest, dass deutsches Strafrecht angewendet werde. Aus diesem Grund lägen die §§ 3 ff. StGB „nicht vor der Anwendung des deutschen Strafrechts“, sondern seien „integrierende Bestandteile in diesem selber“, die folglich in die Lehre vom Verbrechen überführt werden müssten.58 Demgegenüber waren für ihn die Landesstrafrechte verschiedene, „in sich geschlossene Strafrechte . . ., deren Anwendbarkeit durch Strafrechtsanwendungsbedingungen geschieden ist“.59 Während der Eingliederung der §§ 3 ff. StGB in den Verbrechensbegriff zuzustimmen ist, überzeugt diese Unterscheidung zwischen internationalem und -lokalem Strafrecht nicht. Es besteht kein kategorialer Unterschied zwischen der Entscheidung, ob auf einen bestimmten Sachverhalt das Recht A oder das Recht B anzuwenden ist, und der Entscheidung, ob in einem bestimmten Fall das Recht A anzuwenden oder das Recht A nicht anzuwenden ist. In beiden Fällen geht es um die Frage der Strafrechtsanwendung und daher müssen auch die Regeln des interlokalen Strafrechts in die Lehre vom Verbrechen überführt werden. 3. Die systematische Einordnung der Regelungen des intertemporalen Strafrechts Auch die Regelungen des intertemporalen Strafrechts gehörten für Beling zu den „Strafrechtsanwendungsbedingungen“. Älteres und jüngeres Recht begriff er 56 Nach h. M. gilt das Recht des Tatorts (Werle/Jeßberger, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 3 Rn. 421 ff. m.w. N.) mit der Folge, dass das Gericht ggf. das Landesstrafrecht eines anderen Bundeslandes anwenden muss (BGHSt 4, 396, 398 f.). Die Anwendung des Tatortrechts lässt sich mit der auf ihr Landesgebiet begrenzten Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer begründen, so dass es der vielfach für erforderlich erachteten Heranziehung eines Gewohnheitsrechts (Werle/Jeßberger, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 3 Rn. 420) nicht bedarf. 57 Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 18, 1992, § 11 Rn. 49. 58 Beling, Lehre (Fn. 21), S. 99. 59 Beling, Lehre (Fn. 21), S. 92, 96.
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als verschiedene, voneinander getrennte Strafrechte. Da die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt ein Verbrechen sei, „immer nur im Sinne eines bestimmten positiven Rechts aufgeworfen und beantwortet werden“ könne, liege vor ihrer Erörterung die Vorfrage, ob das ältere oder das jüngere Strafrecht Anwendung finde.60 Stelle der Gesetzgeber mehrere voneinander getrennte Strafrechte als potentiell anwendbar auf und erlasse er Regeln, nach denen sich bestimme, welches Strafrecht auf welche Sachverhalte Anwendung finde, so seien diese Regeln rein präjudiziell und die von ihnen bezeichneten Umstände keine Verbrechensmerkmale. Was ein Verbrechen sei, ergebe sich erst aus dem jeweils anzuwendenden Strafrecht.61 Selbst wenn man einmal die Ausgangsthese von der Existenz mehrerer Strafrechte akzeptiert, ist diese Ausgrenzung der Regeln des intertemporalen (wie auch des interlokalen) Strafrechts aus dem Verbrechensbegriff nicht zwingend. Das gilt sogar, wenn man mit Beling die Verbrechensmerkmale als Eigenschaften einer Handlung ansieht. Dann kann die Zeit, zu der eine Handlung vorgenommen wird, durchaus ein das Unrecht vertypendes Merkmal sein, etwa weil bestimmte Handlungen dem Gesetzgeber nur in einer bestimmten Zeit missbilligenswert erschienen. Das zeigt gerade das Zeitgesetz (§ 2 Abs. 4 StGB). Mehr noch als beim interlokalen erscheint beim intertemporalen Strafrecht allerdings schon Belings Ausgangsthese anfechtbar, es existierten nebeneinander mehrere Strafrechte. Sie führt zu der Fiktion, dass es mit jedem Inkrafttreten jeder noch so geringfügigen inhaltlichen Änderung auch nur einer einzigen Strafnorm das gesamte vor diesem Zeitpunkt geltende Strafrecht wie in einer Zeitblase fortbesteht, mithin heute eine unübersehbare Anzahl von Strafrechten parallel existieren, über deren jeweilige Anwendbarkeit der offenbar für immer außen vor bleibende § 2 StGB entscheidet. Damit unvereinbar ist jedoch die Verschränkung von älterem und jüngerem Recht in § 2 Abs. 3 StGB, auf dessen Basis zwar der schärfere ältere Straftatbestand gilt, weil ohne ihn eine Verurteilung wegen Art. 103 Abs. 2 GG, der eine Rückwirkung des jüngeren Rechts ausschließt, unmöglich wäre, aber der mildere jüngere Straftatbestand Anwendung
60
Beling, Lehre (Fn. 21), S. 93 f. Wenn Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 226, wie hier Beling zitiert und hinzufügt, dessen Sicht entspreche „grundsätzlich auch der heute herrschenden Meinung“, so bezieht sich seine Einschätzung nicht auf die Frage der dogmatischen Verortung des § 2 StGB, sondern losgelöst davon auf den folgenden, zuvor von ihm zitierten Satz Belings, mit dem dieser die Exklusivität von altem und neuem Recht umschreibt: „Verweist das Gesetz seinen Anwender auf das heutige Recht, so heißt das so viel wie: es ist zu ignorieren, ob die Tat im Sinne des älteren ein Verbrechen war; verweist es ihn auf das ältere, so ist zu ignorieren, ob die Tat im Sinne des heutigen ein Verbrechen wäre“ (Lehre [Fn. 21], S. 93). Die Frage der verbrechenssystematischen Stellung des § 2 StGB wird weder von Dannecker noch, soweit ersichtlich, sonst in der Literatur aufgenommen. 61
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findet.62 Angemessener als Belings Vorstellung erscheint daher die heute vorherrschende, dass es sich um ein Strafrecht handelt, in welchem einzelne Normen in unterschiedlichen Fassungen fortgelten,63 aber nur eine, welche § 2 StGB bestimmt, anzuwenden ist. Indem § 2 StGB so den anzuwendenden Straftatbestand festlegt, konstituiert er das Verbrechen mit auf einer Stufe vor der Tatbestandsmäßigkeit. 4. Die systematische Einordnung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Während die verbrechenssystematische Verortung des interlokalen und -temporalen Strafrechts heute nicht einmal mehr angesprochen wird, wird die entsprechende Frage bei der Kollision von europäischem Unionsrecht mit deutschem Strafrecht kontrovers erörtert. Da das Unionsrecht als autonome Rechtsordnung neben den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten steht, können Kollisionen dort auftreten, wo Bestimmungen des Unionsrechts unmittelbar in den Mitgliedsstaaten gelten. Das Unionsrecht geht im Fall einer solchen sog. echten Kollision dem nationalen Recht vor, hebt dieses aber nicht auf.64 Dieser Anwendungsvorrang besteht auch bei einer echten Kollision mit nationalem Strafrecht.65 Auf welcher Konstitutionsstufe des Verbrechens diese Kollision zu erörtern ist, wird unterschiedlich beurteilt. Ähnlich wie zum TMG finden sich auch hier Äußerungen, dass kein Anlass bestehe, für den Anwendungsvorrang eine „neue Sphäre außerhalb des angestammten Verbrechensmodells zu erfinden, nur weil sie sich europäischen Rechtssätzen verdankt“.66 Dies richtet sich gegen die über62
Schröder, ZStW 112 (2000), 44, 55. So auch die h. M., wonach § 2 StGB eine Rechtsgeltungsregel ist, die den Grundsatz lex posterior derogat priori durchbricht und die Fortgeltung des älteren Rechts anordnet (Eser, in: Schönke/Schröder27 [Fn. 13], § 2 Rn. 2; Satzger, in: Satzger/Schmitt/ Widmaier [Fn. 34], § 2 Rn. 9; Schmitz, in: MK [Fn. 44], § 2 Rn. 5). Nach a. A. gilt nur das jüngere Recht (Dannecker, Strafrecht [Fn. 61], S. 229 ff.; ders., in: LK12 [Fn. 10], § 2 Rn. 16; Tiedemann, FS Peters, 1974, S. 193, 198 f.); das führt entweder zur Anerkennung einer Rückwirkung (Tiedemann, FS Peters, 1974, S. 193, 203 f.) oder zu der mit dem Grundansatz schwerlich zu vereinbarenden Konstruktion des § 2 Abs. 3 StGB als einer die „Weitergeltung“ des älteren Rechts bewirkenden Eingriffsermächtigung (Dannecker, Strafrecht [Fn. 61], S. 231); s. zur Kritik Eser, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 13); Schröder, ZStW 112 (2000), 44, 47 f. 64 Grundlegend EuGH Slg. 1964, 1251, 1270 (Costa/ENEL). 65 EuGH Slg. 1977, 1495, 1504 (Sagulo); EuGH Slg. 1983, 2727 (Auer); EuGH Slg. 1984, 2689 (Regina/Kirk); BGHSt 37, 168, 175; Ambos, Strafrecht2 (Fn. 30), § 11 Rn. 37; Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts3, 2007, § 2 Rn. 110 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht2, 2007, § 9 Rn. 10; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 478; Weigend, in: LK12 (Fn. 10), Band 1, Einleitung Rn. 87. 66 Walter, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 13 Rn. 201. 63
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wiegend vertretene Auffassung, wonach der Anwendungsvorrang des Unionsrechts „eine dem Strafrecht nicht systemimmanente Einwirkung“67 ist. Vielmehr müsse „die Figur der ,Unanwendbarkeit‘ eines Tatbestands als Ausfluss des Anwendungsvorrangs des EG-Rechts als selbständige Kategorie Eingang in das strafrechtsdogmatische Instrumentarium finden“.68 Vielfach wird statt von einem Anwendungsvorrang von einer „Neutralisierung“ des Straftatbestands durch das Unionsrecht gesprochen.69 Dieser Begriff findet sich auch im ausländischen Schrifttum.70 Ohne hier seiner dortigen Funktion nachgehen zu können, lässt sich jedenfalls feststellen, dass mit ihm im Inland keine dogmatische Aussage getroffen werden soll, sondern er lediglich vor dem Hintergrund der normtheoretischen Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm und der gesetzestechnischen Unterscheidung zwischen Ausfüllungsund Verweisungsnorm bei Blankettstraftatbeständen die Konsequenz des Anwendungsvorrangs plastisch machen soll: Sei die Verhaltensnorm wegen des kollidierenden Unionsrechts nicht anwendbar, so verliere die Sanktionsnorm „gleichsam ihr Bezugsobjekt, denn dieses werde durch das Gemeinschaftsrecht neutralisiert“.71 Letztlich wird mit Neutralisierung, was im allgemeinen Sprachgebrauch Aufhebung einer Wirkung bedeutet, nur der Umstand umschrieben, dass der Straftatbestand zwar gilt, aber nicht anwendbar ist.72 Nur: In diesem Sinne wird auch von einem „Tatbestandsausschluss“ gesprochen.73 Verbrechenssystematisch geht der Anwendungsvorrang der Tatbestandsmäßigkeit voran und ist nicht Teil derselben, denn das hieße, den Tatbestand zugleich für anwendbar und für unanwendbar zu erklären. Gegen eine Einordnung des Anwendungsvorrangs in die Tatbestandsmäßigkeit oder eine höhere Konstitutionsstufe des Verbrechens spricht zudem, dass eine echte Kollision auch (nur) auf der Ebene der Strafandrohung bestehen kann.74 67
Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 283. Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 65), S. 509 f. 69 OLG München, NJW 2006, 3588, 3591; Ambos, Strafrecht2 (Fn. 30), § 11 Rn. 38; Hecker, Europäisches Strafrecht2 (Fn. 65), § 9 Rn. 10; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, Vor § 13 Rn. 15; Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 65), S. 478 ff.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht3, 2009, § 8 Rn. 88; Streinz, FS Otto, 2007, S. 1029, 1033. 70 Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 65), S. 478 mit Nachweisen. 71 Ambos, Strafrecht2 (Fn. 30), § 11 Rn. 38; ganz ähnlich Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 65), S. 489 („Strafnorm ihres wesentlichen Teils entkleidet“). 72 Deutlich Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht3 (Fn. 69), § 8 Rn. 88. 73 Hecker, Europäisches Strafrecht2 (Fn. 65), § 9 Rn. 52; Schröder, Europäische Richtlinien (Fn. 67), S. 285 ff.; s. auch Lackner/Kühl26 (Fn. 69), Vor § 13 Rn. 15. 74 EuGH Slg. 1976, 1921, 1937 (Donckerwolcke/Procureur de la République); EuGH Slg. 1981, 2595, 2618 (Casati); Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 65), S. 510 ff.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht3 (Fn. 69), § 8 Rn. 93 ff.; s. auch Hecker, Europäisches Strafrecht2 (Fn. 65), § 9 Rn. 50, 53. Eine solche Kollision 68
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Andere sehen in den unmittelbar anzuwendenden Normen des Unionsrechts Rechtfertigungsgründe, weil sie das „fragliche Verhalten insgesamt, das heißt auf allen Rechtsgebieten“ erlaubten; eine solche umfassende Erlaubnis sei aber „das alleinige und abschließende Kennzeichen der Rechtfertigungsgründe“.75 Diese Ansicht missachtet zwei Spezifika von Rechtfertigungsgründen: Erstens sind sie Metaregeln, mit denen eine Kollision gegenläufiger Gesetzesbefehle aufgelöst werden soll. Eine solche Metaregel wäre im Fall der echten Kollision von nationalem mit Unionsrecht aber nicht die kollidierende Norm des Unionsrechts selbst. Da ihr Anwendungsvorrang auf einer (ungeschriebenen76) Norm des primären Unionsrechts beruht, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschafts- und Unionsverträgen in Verbindung mit Art. 23 GG (zuvor Art. 24 Abs. 1 GG) der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist,77 wäre allenfalls diese Norm die gesuchte Metaregel. Sie als Rechtfertigungsgrund einzustufen würde jedoch das materiell Spezifische von Rechtfertigungsgründen verfehlen. Deren Besonderheit liegt nicht schon darin, dass sie ein Verhalten generell erlauben. Das haben sie z. B. mit der Tatbestandslosigkeit gemein – der Unterschied liegt insoweit nur darin, dass dies Rechtfertigungsgründe positiv und Tatbestände negativ umschreiben. Rechtfertigungsgründe zeichnen sich, wie gerade der Blick auf die Unterschiede zwischen Tatbestandslosigkeit und Rechtfertigung, zwischen erlaubtem und gerechtfertigtem Risiko zeigt, dadurch aus, dass die Rechtsordnung mit ihnen Konflikte, in welche sie selbst geraten ist, löst, indem sie „das kleinere Übel wählt“ und eine tatbestandsmäßige, also grundsätzlich missbilligte Risikoschaffung zur Erreichung eines gebilligten Zwecks ausnahmsweise erlaubt.78 Das aber ist weder Regelungsinhalt noch -zweck der bezeichneten Norm des primären Unionsrechts. Sie nennt keine Kriterien, nach denen sich beurteilt, welches Recht anzuwenden ist, sondern erklärt bedingungslos immer das Unionsrecht für anwendbar. Sie soll keinen Konflikt zwischen zwei Rechtsordnungen79 lösen, indem sie ein grundsätzlich missbilligtes Verhalten unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise erlaubt, sondern immer das Unionsrecht durchsetzen. leugnen Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht2, 1999, S. 23 ff., und Kreis, Einordnung der EG-Grundfreiheiten (Fn. 34), S. 194 ff.; dagegen zutreffend Schröder, Europäische Richtlinien (Fn. 67), S. 201 ff.; Wietz, Vermögensbetreuungspflichtverletzung gegenüber einer im Inland ansässigen Auslandsgesellschaft, 2009, S. 105. 75 Walter, in: LK12 (Fn. 10), Vor § 13 Rn. 201; ihm folgend Kreis, Einordnung der EG-Grundfreiheiten (Fn. 34), S. 170 ff. 76 Im gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa war ihre Kodifikation in Art. I-6 vorgesehen, vgl. BT-Drucks. 15/4900, S. 1. Das geltende Unionsrecht enthält sie nicht. 77 So BVerfGE 75, 223, 244; Schröder, Europäische Richtlinien (Fn. 67), S. 284. 78 Puppe, in: NK3 (Fn. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 15. 79 Daran, dass es sich nicht um einen rechtsordnungsinternen Konflikt handelt, knüpft die Kritik von Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 65), S. 507 f., an.
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III. Die Vorbedingungen der Tatbestandsmäßigkeit Mit den Regeln des internationalen, interlokalen und intertemporalen Rechts sowie der Vorrangregel bei echten Kollisionen von nationalem mit Unionsrecht sind Beispiele gefunden, die gegen die geläufige These sprechen, dass die Konstitution des Verbrechens voraussetzungslos mit der Tatbestandsmäßigkeit beginnt. Es gibt offenbar Feststellungen und Wertungen, von denen abhängig ist, ob das deutsche Strafrecht oder einzelne seiner Straftatbestände anwendbar sind. Sie sind ebenso konstitutiv für das Verbrechen wie diejenigen Feststellungen und Wertungen, welche etwa die Tatbestandsmäßigkeit begründen. Die Aufzählung der Beispiele ist nicht abschließend. So ist schon früher angemahnt worden, der Tatbestandsmäßigkeit die Verfassungsmäßigkeit des Tatbestands voranzustellen.80 Auch wenn es dabei um die Geltung des Tatbestands geht und die Entscheidung hierüber beim Bundesverfassungsgericht liegt (Art. 100 GG), lässt sich doch nicht bestreiten, dass der Verbrechensbegriff nur in verfassungskonformen Gesetzen gründen kann. Die erste Konstitutionsstufe des Verbrechens betrifft mithin die Geltung und Anwendbarkeit des Strafgesetzes. Die hierzu erforderlichen Feststellungen und Wertungen kann man als Vorbedingungen der Tatbestandsmäßigkeit bezeichnen, um ihre verbrechenssystematische Stellung anzuzeigen und sie von den umstrittenen objektiven Bedingungen der Strafbarkeit abzugrenzen.81 Zu den Vorbedingungen zählen auch die Voraussetzungen der §§ 8–10 TMG, nach denen sich bestimmt, ob auf bestimmte Sachverhalte, die Zugangsvermittlung und das Bereithalten fremder Informationen, von vornherein bestimmte Straftatbestände Anwendung finden. Wer gegen diese Einstufung den Einwand erhebt, in ihrer Konsequenz liege es, dass die Straftatbestände „nicht mehr typisches, sondern nur noch möglicherweise typisches Unrecht beschreiben“,82 der muss dies konsequenterweise auch gegen die Verortung der Regeln des internationalen Strafrechts oder des Anwendungsvorrangs bei kollidierendem Europarecht vorbringen, was dann auf die unhaltbare Behauptung universeller und unbedingter Unrechtstypen hinausliefe. Wie eingangs angedeutet, ist die Forderung der Typizität auch ansonsten nicht sinnvoll. Selbst wenn man sie einmal als sinnvoll unterstellt, zeigen die beispielhaft angeführten Anwendungsregeln, dass das Gesetz bestimmte Personen den von den Unrechtstypen ausgehenden Appellen von vornherein nicht aussetzen will. Das gilt für den Ausländer im Ausland ebenso wie für den inländischen Access- oder Hostprovider. Was als Kritik an der Vorfilterlösung formuliert wird – der „Normbefehl gälte dann nicht mehr universell, son80
Marxen, Straftatsystem und Strafprozess, 1984, S. 359. Von „(Vor-)Bedingungen der Strafbarkeit“ spricht Satzger, in: Satzger/Schmitt/ Widmaier (Fn. 34), Vor §§ 3–7 Rn. 3, im Zusammenhang mit den Regeln des internationalen Strafrechts. 82 So Heghmanns, JA 2001, 71, 77. 81
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dern in Abhängigkeit von außerhalb der Norm und ihrem Kontext angesiedeltem Fremdrecht“83 – beschreibt also nur eine in anderen Kontexten schon seit langem bestehende Rechtslage. Der daraus abgeleitete Vorwurf allerdings, „dass die Strafrechtsnorm nicht mehr aus sich heraus klar, bestimmt und verständlich wäre, sondern gerade hinsichtlich ihres Adressatenkreises und ihrer inhaltlichen Reichweite vage und missverständlich“ und deshalb mit Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt geriete,84 geht fehl. Das Bestimmtheits- ist kein Typizitätsgebot.
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Heghmanns, JA 2001, 71, 77. Heghmanns, JA 2001, 71, 77; s. auch ders., in: Achenbach/Ransiek2 (Fn. 12), Kap. VI 2 Rn. 48; ihm folgend Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit (Fn. 12), S. 233. 84
Irrtum und Amtsträgerbegriff (i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB) Von Klaus Bernsmann I. Der in § 11 Abs. 1 Nr. 2–4 StGB legaldefinierte Begriff des „Amtsträgers“ hat Bedeutung für zahlreiche Straftatbestände. Das gilt nicht nur für Delikte, bei denen die „Amtsträgereigenschaft“ des Täters strafbegründend – wie etwa bei den §§ 331 f. StGB – oder straferhöhend (vgl. etwa: §§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 4; 266 Abs. 2; 340 StGB) wirkt, sondern auch für solche Tatbestände, bei denen es um Handlungen geht, die der Täter gegenüber einem „Amtsträger“ vornimmt (vgl. etwa die §§ 113 f.; 121 Abs. 1 Nr. 1; 194 Abs. 3; 239 Abs. 2, aber auch §§ 333 f. StGB). Insbesondere in den letztgenannten Fällen, in denen ein „Amtsträger“ das „Tatobjekt“ bzw. den Handlungsadressaten abgibt, kann es leicht vorkommen, dass der Täter sein Gegenüber gar nicht als „Amtsträger“ einordnet. Das ist insbesondere bei den Korruptionsdelikten durchaus nicht ausgeschlossen und es muss nicht unbedingt eine „Schutzbehauptung“ sein, wenn eine wegen „Bestechung“ nach § 334 StGB beschuldigte Person erklärt, der Geschäftsführer „einer GmbH könne doch kein beamtengleicher ,Amtsträger‘“ und schon gar nicht ein „Ermessensamtsträger“ sein.1 Aber auch dem „Amtsträger“ selbst kann seine „besondere“ Funktion unbekannt geblieben sein. Ein solcher „Irrtum“ mag insbesondere dann geltend gemacht werden, wenn es um „sonstige Amtsträger“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB geht. Hier reicht ein Blick in die in jeder Kommentierung dieser Norm wiedergegebene, äußerst reichhaltige Kasuistik und die meist wenig überzeugenden Versuche, die hin und her flatternden Produkte der Rechtsprechung in einer halbwegs konzisen Definition zusammenzuführen. Das führt zu der – häufig nur eher nebenbei behandelten, in Wahrheit aber nicht nur dogmatisch interessanten, sondern vor allem auch praktisch überaus geläufigen und wichtigen – Frage, welche Anforderungen an den Vorsatz eigener und fremder „Amtsträgereigenschaft“ zu stellen sind und welche Konsequenzen ein Irrtum über die eigene oder fremde „Amtsträgereigenschaft“ hat. Von – zumindest nach h. A. – weichenstellender Bedeutung für das strafrechtliche Endergebnis ist dabei, ob ein Irrtum über die „Amtsträgereigenschaft“ als vorsatzausschließend (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB) oder – lediglich – als sog. Subsumtionsirrtum behandelt wird. 1
Vgl. BGH wistra 2007, 17.
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In letzterem Fall wäre die Fehleinschätzung ein Unterfall des Verbotsirrtums (§ 17 StGB), der lediglich auf seine Vermeidbarkeit zu untersuchen wäre; mit einer – nach bisheriger Rechtsprechungspraxis – notorisch ungünstigen Prognose für die betroffene Person.2 II. Soweit der „Amtsträger“ als Tatbestandsmerkmal in Erscheinung tritt, müsste dieses Merkmal (eigentlich) gemäß § 16 StGB vom Vorsatz des Täters umfasst sein und jede Fehlvorstellung des Täters in Bezug auf die einzelnen Voraussetzungen der „Amtsträgereigenschaft“ könnte einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum begründen. Für die h. A. wäre das allerdings offenbar eine viel zu handliche Lösung. Ihr zufolge sind Merkmale, die zwar im Tatbestand erscheinen, die aber Rechtsverhältnisse umschreiben oder deren Feststellung ein Werturteil erforderlich macht, als sog. „normative Tatbestandsmerkmale“ einer Sonderbehandlung zu unterwerfen.3 Dem zur Ab- bzw. Eingrenzung eingesetzten Begriff des deskriptiven – und (daher) zwanglos der Regelung des § 16 Abs. 1 StGB anheimfallenden – Tatbestandsmerkmals sollen nur solche Tatbestandsvoraussetzungen zuzuordnen sein, die als „Phänomene des realen Seins“ allein durch sinnliche Wahrnehmung festgestellt werden können.4 Ob die dabei gleichsam im Vorbeigehen beanspruchte Möglichkeit einer trennscharfen Scheidung von hier: „Sein“ und dort: wertungsabhängigem „Sollen“ nicht allzu leichtfüßig daherkommt, weil sie tatsächlich kaum durchzuführen, geschweige denn aufrichtig durchzuhalten und ohnehin „erkenntnistheoretisch“ recht „naiv“ ist, soll bzw. muss hier dahinstehen, belastet aber hintergründig jede Auseinandersetzung mit „Tatbestandsirrtümern“. III. Der Begriff des „Amtsträgers“ wird – soweit er in einem Tatbestand erscheint – durchweg als normatives Tatbestandsmerkmal angesehen.5 Der Vorsatz des Täters muss sich daher nicht auf die „Amtsträgereigenschaft“ als solche, sondern 2 Vgl. zur „Strenge“ der Rechtsprechung in Bezug auf die „Vermeidbarkeit“ BGHSt 2, 194; 4, 1; 4, 236; 21, 18; 40, 257; 46, 67; BGH NStZ 1996, 236; wistra 1984, 178. 3 Vgl. allgemein zur Kategorie normativer Tatbestandsmerkmale: Schönke/SchröderCramer/Sternberg-Lieben, Strafgesetzbuch27, 27. Auflage 2006, § 15 Rn. 19; Münchener Kommentar zum StGB-Freund, Band 11, 2003, Vor §§ 13 ff. Rn. 15; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch25, 2007, § 15 Rn. 5. 4 Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 18. Vgl. allgemein zur Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen: dies., a. a. O., Rn. 18 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil5, 1996, § 29 IV. 2; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil6, 2008, 5/92; Mezger, in: FS-Traeger, 1926, S. 187, 225; ders., Lehrbuch3, 1949, S. 325; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil/ 14, 2006, § 12 Rn. 89; § 10 Rn. 57; SK-Rudolphi, § 15 Rn. 21; Warda, Jura 1979, 71, 79; Welzel, JZ 1953, 119, 120.
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nur auf die wesentlichen „Tatsachen“ beziehen, deren Vorhandensein aus der fraglichen Person einen „Amtsträger“ macht.6 Es fragt sich allerdings, welche „Tatsachen“ aus einem Bürger einen „Amtsträger“ machen (können) – zumindest auf den ersten Blick scheint ein „naturalistischer Fehlschluss“ zu drohen. Nach Rechtsprechung und h. M. soll zur Annahme vorsätzlichen Handelns ausreichen, dass der Täter Kenntnis davon hat, dass er in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehe bzw. Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme7 oder der ihn beschäftigende Betrieb Betätigung der Staatsgewalt darstelle und die Tätigkeit der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben diene8. Das ist zwar kein Schluss vom Sein auf ein Sollen, unerfindlich ist hier allerdings, welche „Tatsachen“ der Täter in Bezug auf die genannten Bezugspunkte eines Vorsatzes sollte erkennen können: Ob er bzw. das ihn beschäftigende Unternehmen „Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ wahrnimmt oder „Betätigung der Staatsgewalt“ ist, ergibt sich nicht aus „reiner Anschauung“. Was von Rechtsprechung und Literatur als „Tatsachen“ ausgegeben wird, sind in Wahrheit – außerstrafrechtliche – Wertungen, die der eigentlichen strafrechtlichen Subsumtion vorangehen: Wer annimmt, seine berufliche Tätigkeit – etwa als Angestellter eines als GmbH betriebenen kommunalen Verkehrsbetriebes – sei keine Betätigung der Staatsgewalt und angesichts privater Konkurrenzunternehmen auch keine Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben (mehr), kann daraus den zutreffenden9 oder unzutreffenden10 Schluss ziehen, er sei (k)ein „Amtsträger“. Zu welchem Ergebnis auch immer die betreffende Person gelangen mag, weder ein Irrtum noch eine zutreffende Bewertung würde maßgeblich auf irgendeiner „Tatsache“ beruhen – die Tatsache, dass die Person Fahrer eines Busses wäre, der zum Betrieb einer kommunalen GmbH gehört, wäre jedenfalls ohne subsumtionstechnische Bedeutung.
Daher ist es schon fast absurd, wenn sich fast allenthalben der Satz findet, zutreffende rechtliche Schlüsse müsse der Täter „aus diesen Tatsachen“ nicht ziehen.11 Was z. B. eine „sonstige“ (behördengleiche) Stelle“ in § 11 Abs. 1 Nr. 2c 5 So die Einschätzung von Leipziger Kommentar-Jescheck11, Strafgesetzbuch, 1996, § 331 Rn. 24. 6 Vgl. zur Rspr.: RGSt 53, 131; 57, 366, 367; RG JW 1939, 625; HRR 1942, 828; GA 1912, 348, 349; BGHSt 2, 119; 8, 321, 323; 54, 39; BGH NJW 1960, 253; OLG Frankfurt NJW 1953, 1075, 1076; Fischer, Strafgesetzbuch57, 2010, § 331 Rn. 31; Genckner, ZStW 106 (1994), 502, 546; Haft, NJW 1995, 1113, 1117; Schönke/Schröder-Heine, § 331 Rn. 30; LK12-Hilgendorf, 2006, § 11 Rn. 60; Satzger/Schmitt/Widmaier-Rosenau, StGB, 2009, § 331 Rn. 48. Eine tatsächliche Kenntnis des Bestellungsaktes fordert MüKo-Korte, § 331 Rn. 122. 7 RGSt 74, 105, 109; RG HRR 1937, 1684. 8 BGHSt 8, 321, 323. 9 OLG Düsseldorf NStZ 2008, 459. 10 BGHSt 49, 214. 11 BGHSt 8, 321, 324; RG GA 1912, 348, 349; OLG Frankfurt NJW 1953, 1075, 1076. Die Literatur übernimmt die Rspr. recht kritiklos: NK3-Saliger, 2010, § 11 Rn. 43; LK-Hilgendorf (Anm. 6), § 11 Rn. 60; MüKo-Radtke (Anm. 3), § 11 Rn. 78; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht, 2001, geht auf Vorsatzfragen kaum ein.
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StGB ausmacht, ergibt sich nicht aus „Tatsachen“, sondern aus einer (öffentlich-) rechtlichen Bewertung der „Stelle“ und entweder aus der strafrechtlichen „Überformung“ oder einer uneingeschränkt akzessorischen „Übernahme“ in das Strafrecht. In diesem Zusammenhang wird auch kein Gewinn an Schlüssigkeit, geschweige denn an Klarheit erzielt, wenn die Bejahung von Vorsatz davon abhängig gemacht wird, dass der Täter die Pflichtenstellung als Amtsträger in Form der jedweder beliebigen Zuschreibung Tür und Tor öffnenden „Parallelwertung in der Laiensphäre“ nachvollzogen hat.12 Auf das Ergebnis wirkt sich diese Kautele im Übrigen ohnehin kaum aus, weil bei Fehlen einer „Parallelwertung“ in der Regel ein für unbeachtlich gehaltener „Subsumtionsirrtum“ angenommen wird.13 IV. Die grundsätzliche Unterscheidung von deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen wurde immer wieder auch kritisiert. Und in der Tat dürfte kaum zu bestreiten sein, dass sog. deskriptive Begriffe grundsätzlich in einem normativen Kontext stehen, der sie „verständlich“ macht,14 und dass es in erster Linie alltagstheoretisch begründbare „Evidenz“-Erlebnisse sind, die allzu leicht bewirken, dass die normative Umgebung bzw. Prägung des jeweiligen Begriffs zugedeckt bleibt.15 Allerdings wird umgekehrt auch vertreten, dass viele von der h. M. als normativ bezeichnete Tatbestandsmerkmale mit lediglich leicht erhöhtem Aufwand als in Wahrheit deskriptive erfassbar seien. Insbesondere der verehrten Jubilarin kommt das Verdienst zu, die Künstlichkeit – wenn nicht: Beliebigkeit – der von der herrschenden Ansicht präferierten dogmatischen Konstruktion mit dem ihr eigenen Scharfsinn aufgedeckt zu haben. Vor allem im Zusammenhang mit den Urkundsdelikten hat sich Puppe gegen die Kategorie der normativen Tatbestandsmerkmale ausgesprochen.16 Der Unter-
12 Vgl. Fischer (Anm. 6), § 331 Rn. 31; Schönke/Schröder-Heine (Anm. 3), § 331 Rn. 30; LK-Hilgendorf (Anm. 6), § 11 Rn. 60; LK-Jescheck (Anm. 5), Vor § 331 Rn. 7; MüKo-Korte (Anm. 6), 2006, § 331 Rn. 122; NK-Kuhlen (Anm. 11), § 331 Rn. 97; NKSaliger (Anm. 11), § 11 Rn. 43; SK-Rudolphi/Stein, § 331 Rn. 30. 13 So Lackner/Kühl (Anm. 3), § 15 Rn. 15. Auf den Inhalt der Pflichtenstellung bezogene Irrtümer werden demgegenüber von vornherein nur als Grundlage eines möglichen Verbotsirrtums angesehen; vgl. BGHSt 8, 321, 324; LK-Jescheck (Anm. 5), Vor § 331 Rn. 7. 14 Vgl. hier nur: MüKo-Freund (Anm. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 15; Schönke/SchröderLenckner (Anm. 3), § 15 Rn. 64; Roxin AT I (Anm. 4), § 10 Rn. 59 f. 15 MüKo-Freund (Anm. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 15. 16 Zu erwähnen sind hier insbes. NK-Puppe (Anm. 11), § 348, VI. 1., VII. 2, 3; Puppe, NStZ 2001, 482; dies., NStZ 1993, 594, 595 f.; dies., NStZ 1988, 313.
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scheidung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen wirft sie vor, von falschen wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen auszugehen.17 Immerhin sei zur Feststellung des Vorliegens deskriptiver Merkmale unter Umständen differenziertes und spezialisiertes Wissen erforderlich.18 Richtigerweise ließen sich nahezu sämtliche, von der h. M. als normativ bezeichnete Tatbestandsmerkmale auf deskriptive Elemente zurückführen.19 Darüber hinaus hält es Puppe für inkonsequent, wenn eine „Parallelwertung in der Laiensphäre“ in Zusammenhang mit der Feststellung von Rechten, Rechtsverhältnissen und rechtsbezogenen Begriffen verlangt werde, nicht aber bei unter Umständen vergleichbar schwer festzustellenden „deskriptiven“ Begriffen.20 Unabhängig davon bliebe ohnehin unklar, welchen Inhalt die „Parallelwertung in der Laiensphäre“ hinsichtlich des durch sie geforderten wertenden Aktes eigentlich haben solle.21 Abgesehen davon werde die Lehre von der Parallelwertung in der Laiensphäre ausgerechnet auf jene wenigen verbleibenden Straftatbestände nicht angewandt, die tatsächlich eine Wertung erforderten.22 Im Ergebnis fordert Puppe – im Einklang mit zahlreichen höchstrichterlichen Entscheidungen, die nicht auf das Kriterium einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“ zurückgreifen, sondern lediglich die Kenntnis des Rechtsverhältnisses fordern –,23 dass der Täter die Tatsache, dass ein Rechtsverhältnis besteht, gekannt haben muss.24 Das Bestehen des Rechtsverhältnisses müsse als solches vom Vorsatz umfasst sein; eine darüber hinausgehende „Parallelwertung in der Laiensphäre“ sei überflüssig.25 Wie Puppe die Fehleinschätzung bezüglich eigener oder fremder „Amtsträgereigenschaft“ beurteilen würde, dürfte auch davon abhängen, von welchem Bezugspunkt – etwa: „förmliche Bestellung und Berufung in das Beamtenverhältnis“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB) oder „Bestellung zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bei einer Behörde oder einer sonstigen Stelle“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB) – die Einschätzung auszugehen hat: Im erstgenannten 17
Puppe, NStZ 2001, 482, 484. Vgl. NK-Puppe (Anm. 11), § 16 Rn. 44; dies., NStZ 2001, 482, 484. 19 Puppe, NStZ 2001, 482, 484. 20 Puppe, NStZ 2001, 482, 484; NK-Puppe (Anm. 11), § 16 Rn. 48. 21 Puppe, NStZ 2001, 482, 484. 22 Puppe, NStZ 2001, 482, 484, nennt hierfür als Beispiel die Tatbestandsmerkmale „pornographisch“, „gewaltverherrlichend“, „zum Haß aufstachelnd“ und „verächtlich machend“. 23 Puppe, NStZ 2001, 482, 484 f., beruft sich auf BGHSt 5, 90, 92; 16, 282, 285; 17, 87, 90; 42, 268, 272; BGH GA 1966, 211, 212; 1982, 144; NJW 1980, 1005, 1006; 1986, 1623; NStZ 1982, 380; 1988, 216; 1991, 89; StV 1992, 106; wistra 1986, 174; 1987, 98, 136; 1990, 350; 1994, 118; OLG Bamberg NJW 1982, 778. 24 Puppe, NStZ 2001, 482, 484. 25 Vgl. zur Abgrenzung zwischen Tatbestands- und Rechtsirrtum Puppe, GA 1990, 145; dies., ZStW 102 (1990), 892. 18
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Fall wird sich über das Bestehen eines Rechtsverhältnisses zumindest in Ansehung der eigenen Person kaum eine Irrtumsmöglichkeit ergeben, umso mehr allerdings in Bezug auf den nicht-beamteten „Amtsträger“ nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB; zumal aus der Sicht eines externen Dritten. Ein weiterer Verdienst von Puppe ist auch, die Vorzüge der Irrtums-„Lehre“ des Reichsgerichts und die vom Reichsgericht betriebene Unterscheidung von beachtlichen außerstrafrechtlichen Subsumtionsfehlern (und ihren Folgefehlern bei der strafrechtlichen Subsumtion) und unbeachtlichen innerstrafrechtlichen Fehlbewertungen hervorgehoben und gegen die Verschleierung durch Kategorien wie „normative Tatbestandsmerkmale“ und „Parallelwertung in der Laiensphäre“ verteidigt zu haben.26 V. Mag auch das Reichsgericht – jedenfalls soweit es um den Irrtum über die seinerzeitige „Beamten“-Stellung (vgl. § 359 a. F. StGB) ging – keine einheitliche Linie verfolgt haben,27 hat die Unterscheidung zwischen erheblichen Irrtümern über Tatumstände und ebenso erheblichen bloß außerstrafrechtlichen Rechtsirrtümern einerseits und unbeachtlichen innerstrafrechtlichen Subsumtionsirrtümern und solchen über die Strafbarkeit andererseits zumindest das Argument der Praktikabilität für sich – bezogen auf den „Amtsträgerbegriff“ nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB: Wechselnde Perspektiven und immer neue, überwiegend wenig überzeugende Annäherungsversuche an einen äußerst schwer fassbaren Rechtsbegriff würden nicht auf dem Rücken der Strafrechtsadressaten ausgetragen, die angesichts einer in diesem Bereich äußerst „dynamischen“, um nicht zu sagen: nicht prognostizierbaren Entwicklung der Rechtsprechung aus naheliegenden Gründen nicht dauernd auf aktuellstem Stand sein können. Wendet man die Differenzierung des Reichsgerichts auf das geltende Recht an, dann umschreiben die in § 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB genannten Begriffe des „Beamten“ und des „Richters“ ebenso wie das in Nr. 2b StGB erwähnte „sonstige öffentlich-rechtliche Amtsverhältnis“ Rechtsverhältnisse, deren primär außerstrafrechtliche Zuordnung, d. h. deren Verwaltungsrechtsakzessorietät nicht zu 26
Siehe etwa Puppe, GA 1990, 145, 154 ff. Vgl. einerseits: RGSt 23, 374; RG JW 1931, 62, 63; HRR 1937, 1684; GA 1894, 234: Vorsatzausschluss; andererseits: RGSt 53, 131; 57, 366, 367; 58, 10; 73, 171; 74, 109; RG GA 1911, 173; 1917, 432; JW 1939, 625. Der Grund dafür dürfte in der Fortentwicklung des sog. „strafrechtlichen Beamtenbegriffs“ zu suchen sein, mit der Folge, dass ein diesbezüglicher Irrtum nicht mehr als außerstrafrechtlicher betrachtet werden musste – zum „strafrechtlichen Beamtenbegriff“ vgl. RGSt 62, 24, 188; 67, 299; 69, 231; 75, 396; P. Schröder, Der strafrechtliche Beamtenbegriff in der Entwicklung der Rechtsprechung und der Entwürfe, 1965, S. 93 ff.; Rausch, Die Bestellung zum Amtsträger, 2007, S. 17 ff., 22 ff. 27
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bestreiten ist. Demgemäß muss der Täter wissen, ob er bzw. sein Gegenüber „Amtsträger“ ist. Die Kenntnis von bloßen äußeren Abläufen, d. h. die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die mit einer Beamtenstellung einhergehen, würde – entgegen der derzeit h. M., gleichwohl aber zu Recht – nicht ausreichen. VI. Nicht ganz so einfach zu identifizieren ist allerdings die Herkunft der Voraussetzungen einer „Amtsträgereigenschaft“, die nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB begründet sein soll. Doch wäre auch hier die Doktrin des Reichsgerichts zumindest zur Problemaufhellung nützlich. Denn entweder bezieht sich ein etwaiger Irrtum auf Vorstrafrechtliches oder auf „Tatumstände“ – im Ergebnis bliebe es bei der Erheblichkeit des Irrtums. Seit der sog. „GTZ“-Entscheidung des BGH28 sollen „privatrechtlich organisierte Einrichtungen, die Verwaltungsaufgaben erfüllen . . . Behörden unter bestimmten Voraussetzungen gleichzustellen“ sein. Das sei jedenfalls dann geboten, „wenn sie bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben derart staatlicher Steuerung unterliegen, daß sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale gleichsam als ,verlängerter Arm‘ des Staates erscheinen“.29 In neueren Entscheidungen hat sich der Blickwinkel etwas verschoben: Nicht mehr bzw. nicht nur die Vergleichbarkeit des privatwirtschaftlich organisierten Unternehmens mit einer Behörde soll angeben, ob die Angestellten „Amtsträger“ sind, entscheidend für das Ergebnis der „Gesamtbetrachtung“ wird nunmehr auch das „öffentliche Erscheinungsbild“ des Unternehmens bzw. „die Wahrnehmung des Unternehmens in der Öffentlichkeit“.30 Z. B.: Ein Unternehmen, das bewusst auf Gewinnerzielung und Wirtschaftlichkeit ausgerichtet ist und in der Öffentlichkeit „nicht als ein Staatsunternehmen . . . wahrgenommen“ wird,31 beschäftigt keine „Amtsträger“, mag sich das Unternehmen auch zu 100% in staatlicher Hand befinden. Aus der – zwar recht anschaulichen, aber auch ausladenden und deshalb alles andere als präzisen – Beschreibung der „sonstigen Stelle“ in § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ergeben sich zwei Bezugspunkte für eine ggf. irrtümliche Verkennung der eigenen und/oder fremden „Amtsträgereigenschaft“ (hier: §§ 331 f.; dort: §§ 333 f.): Entweder liegt der Schwerpunkt auf der Fehleinschätzung der Behördennähe des Unternehmens und des Umfangs der staatlichen Steuerung. Dann bezöge sich ein Irrtum auf außerstrafrechtliche, im Einzelfall sehr komplizierte 28 29 30 31
BGHSt 43, 370. BGHSt 43, 370, 377. BGHSt 49, 214, 227; BGH NJW 2007, 2932, 2934. BGHSt 49, 214, 227.
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verwaltungsrechtliche bzw. -technische Zusammenhänge32 und die Irrtums-„Lösung“ des Reichsgerichts würde eine Fehlbewertung verwaltungsrechtlicher Fragen zum Ausgangspunkt der strafrechtlichen Beurteilung machen: Wer Merkmale „behördengleicher Stellung“ verkennt, hält sein Unternehmen für keine „sonstige Stelle“ und sich selbst nicht für einen „Amtsträger“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB – entsprechendes gilt für einen verwaltungsexternen Bürger und dessen Vorstellung zu den verwaltungsrechtlichen Vorgaben eines Unternehmens, dessen Mitarbeiter(n) er z. B. Vorteile i. S. der §§ 333 f. StGB gewährt. Geht es dagegen bei der Ermittlung, ob ein staatlich dominiertes Unternehmen eine „sonstige Stelle“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ist, nicht (allein-)entscheidend um die Binnenstruktur und damit um eine verwaltungsrechtsakzessorische Betrachtung, sondern entscheidend um die Selbstdarstellung des Unternehmens in der Öffentlichkeit, nähert sich die „sonstige Stelle“ – und in ihrem Gefolge der „sonstige Amtsträger“ – einem deskriptiven (Tatbestands-)Merkmal: Das „Bild“, das ein staatliches Unternehmen in Bezug auf seine Ähnlichkeit mit rein privaten, konkurrenzbezogenen Wirtschaftsunternehmen in der Öffentlichkeit bietet, ist sicher kein normativ aufgeladenes Merkmal. Auf welchem Weg auch immer lässt sich mit Mitteln z. B. der empirischen Sozial-„Forschung“ oder der Medienanalyse durchaus ermitteln, ob ein staatliches Unternehmen in der Öffentlichkeit als „staatlich gesteuert“ in Erscheinung tritt oder sein „Auftritt“ von dem eines rein privaten Wettbewerbers nicht zu unterscheiden ist. Dass im Übrigen auch „Sperrminoritäten“, die bei Unternehmen, die in sog. „öffentlichprivater Partnerschaft“ („ÖPP“)33 geführt werden, über die Kategorisierung als „sonstige Stelle“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB entscheiden sollen,34 der „Anschauung“ zugänglich sind und damit (mittelbar) den „Amtsträgerbegriff“ zu einem deskriptiven Merkmal machen, wird sich kaum bestreiten lassen. VII. Der BGH hat sich der spezifischen Frage des Irrtums über die „Amtsträgereigenschaft“ bislang noch nicht näher angenommen. Für den BGH ist der „Amtsträger“ in den Tatbeständen, die ihn enthalten, ein normatives Merkmal. Ein Irrtum über eigene oder fremde „Amtsträgereigenschaft“ wird daher prinzipiell als Subsumtions- und damit als Verbotsirrtum i. S. von § 17 StGB behandelt.35 Dass allerdings Bezugspunkte des Irrtums, die der falsch Bewertende zutreffend 32 Um nachgerade feinste verwaltungsrechtliche Verästelungen mit einem kommunalen Anschluss- und Benutzungszwang geht es z. B. in der sog. „Fernwärme“-Entscheidung (BGH NStZ 2004, 380). 33 Auch: „PPP“ („public-private-partnership“) oder „gemischt-wirtschaftlich“ – dazu näher: Bernsmann, StV 2005, 685 ff.; ders., StV 2009, 308 ff. 34 Vgl. BGHSt 50, 299. 35 Vgl. die Nachweise in Anm. 6.
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erkannt haben müsste, kaum „Umstände“, sondern „Rechtsverhältnisse“ sind, wurde schon oben erwähnt. Mit der Auffassung, dass es bei der irrtümlichen Annahme, kein „Amtsträger“ zu sein oder – umgekehrt – einem Nicht-Amtsträger gegenüberzustehen, allenfalls um einen Verbotsirrtum geht, gerät das gesamte, seit der „GTZ-Entscheidung“36 anhaltende bzw. sich fortentwickelnde Elend einer an den Grenzen des Bestimmtheitsgrundsatzes operierenden Rechtsprechung zum „Amtsträgerbegriff“37 zum wesentlichen Bezugspunkt der Prüfung, ob der jeweilige Irrtum (un-)vermeidbar war (§ 17 S. 2 StGB). Für die Betroffenen hat das unangenehme Folgen. Zum einen gelten die „Kriterien der ,Vermeidbarkeit‘ als noch wenig geklärt“.38 Zum anderen stellt die Rechtsprechung strenge Anforderungen an die Bejahung eines unvermeidbaren Irrtums.39 Insoweit ist die Rede von einer erforderlichen „Gewissensanspannung“ und einer bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Tat entstehenden „Erkundigungspflicht“.40 Damit nicht genug, bietet die Rechtsprechung des BGH zum „Amtsträgerbegriff“ keine verlässliche Basis für eine auch nur halbwegs zuverlässige Prognose zur Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Unternehmen, das sich bei privatrechtlicher Organisation („AG“; „GmbH“)41 ganz oder zum Teil in öffentlicher Hand befindet, eine „sonstige Stelle“ i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ist (oder nicht) und ob demgemäß die dort beschäftigten Personen (alle oder ggf. auch nur das „Führungspersonal“) „Amtsträger“ sind: Die Ergänzung des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB in der Fassung des KorrBekG aus dem Jahre 1997 durch den Zusatz „unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform“ hat zu großer Geschäftigkeit der Rechtsprechung auf einem zuvor eher ruhigen Feld geführt.42 Was der Gesetzgeber angeblich zur „Klarstellung dessen, was schon immer galt“43 dem alten Recht hinzugefügt hat, bewirkte eine Fülle höchstrichterlicher (und obergerichtlicher) Entscheidungen zum „sonstigen Amtsträger“ mit wenig (oder gar nicht) konsistenten Ergebnissen. Indiz dafür sind Entscheidungen, die fast durchweg mit Unternehmens36
BGHSt 43, 370. Dazu näher etwa: Bernsmann, StV 2009, 308. 38 Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil39, 2009, Rn. 466. 39 Vgl. BGHSt 3, 357; 4, 1; ausf.: NK-Neumann (Anm. 11), § 17 Rn. 53 ff. 40 Vgl. hier nur: Puppe, in: Rogall/Stein/Wolter/Puppe (Hrsg.), FS-Rudolphi, 2004, S. 231; MüKo-Joecks (Anm. 3), § 17 Rn. 33 ff.; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 24 ff. 41 Zu sonstigen Organisationsformen des sich ins Privatrecht begebenden Staates etwa: Bernsmann, StV 2009, 308 ff. 42 Vgl. dazu: Bernsmann/Gatzweiler, Verteidigung bei Korruptionsfällen, 2008, Rn. 104 ff.; Rausch (Anm. 27), S. 50 ff. 43 Vgl. Schaupensteiner, NStZ 1996, 409, 415; Geis, BT Prot. 13/184, S. 15545 A. Der BGH schloss sich dieser ungeprüften Behauptung in der „GTZ“-Entscheidung (BGHSt 43, 370, 377) aus dem Jahr 1997 an. 37
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Klaus Bernsmann
namen belegt werden müssen („GTZ“44, „Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft mbH“45, „AVG“46, „Fernwärme“47, „Rhein-Sieg-Abfallverwertungs GmbH (RSAG)“48 etc.), um die vorgebliche Besonderheit der jeweiligen Konstellation zu betonen. Allerdings wird sich einem durchschnittlichen Normadressaten kaum vermitteln lassen, dass er bei gehöriger „Gewissensanspannung“ erkennen darf, dass die „DB-AG“ keine „Amtsträger“ beschäftigt,49 bei nächster Gelegenheit aber erkennen muss, dass die „Düsseldorfer Verkehrsbetriebe“50 – zumindest in der Vorstandsetage – „Amtsträger“ beschäftigen.51 Dass in der „DB-Netz-AG“, d. h. einer 100%-igen Tochter der amtsträgerfreien „DB-AG“, gleichwohl „Amtsträger“ beschäftigt sein sollen,52 mag sich aus verfassungsrechtlichen Besonderheiten bzw. Grenzen der Privatisierung der vormaligen „Bundesbahn“ herleiten lassen, hat aber viel mehr mit verfassungsrechtlichem Spezialwissen als mit alltagstheoretisch angeleiteter „Gewissensanspannung“ zu tun; ganz zu schweigen von dem völlig offenen Ausgang einer hypothetisch ex ante erfüllten Informationspflicht. In Bezug auf die „staatsfreien“, dem BGH zufolge aber dennoch behördengleichen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hätte eine Erkundigung jedenfalls keine verlässliche Prognose erbracht.53 Ebenso wird es Normadressaten verborgen bleiben, wenn die Sperrminorität eines Privaten die Beschäftigung von „Amtsträgern“ in einem gemischtwirtschaftlichen Unternehmen hindert:54 Von außen mag es sich – Sperrminorität hin oder her – um ein Unternehmen handeln, das erkennbar lediglich mit privatrechtlich organisierten Unternehmen in Konkurrenz steht. Ähnliches gilt für die Differenzierung zwischen einem Anschluss- und Benutzungszwang, der auf Seiten des beteiligten Unternehmens für die Beschäftigung von „Amtsträgern“ spricht55, während die öffentlich-rechtliche Anschlusspflicht 44
BGHSt 43, 370. BGH NJW 2001, 3062. 46 BGHSt 50, 299. 47 BGH NStZ 2004, 380. 48 BGH wistra 2007, 17. 49 BGHSt 49, 214. 50 OLG Düsseldorf NStZ 2008, 459. 51 Der Busfahrer eines kommunalen Verkehrsbetriebes soll dem KG zufolge kein Amtsträger sein – KG NJW 2008, 2132. 52 BGHSt 52, 290. 53 Vgl. BGH NJW 2010, 784 und zuvor: Hellmann, wistra 2007, 281; Bernsmann, in: Putzke/Hardtung/Hörnle/Merkel/Scheinfeld/Schlehofer/Seier (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, FS-Herzberg, 2008, S. 167, sowie andererseits: Fischer (Anm. 6), § 11 Rn. 22a. 54 Dazu einerseits: BGHSt 50, 299 („AVG-Köln“) und andererseits: BGH wistra 2007, 17. 55 Vgl. hierzu die sog. „Fernwärme“-Entscheidung BGH NStZ 2004, 380. 45
Irrtum und Amtsträgerbegriff (i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB)
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eines privatisierten Unternehmens die Beschäftigung von „Amtsträgern“ nicht vorgeben soll56. Solange nicht – wieder – die Rechtsform eines Unternehmens über die „Amtsträgereigenschaft“ der dort Beschäftigten entscheidet57, müssten zur Vermeidung eines Verbotsirrtums grundsätzlich das Binnenverhältnis des Unternehmens einschließlich etwaiger Beteiligungen Privater, Sperrminoritäten und selbst die Außendarstellung des Unternehmens erforscht werden. Aber selbst nach solchen Erkundigungen bzw. entsprechenden Versuchen ist immer noch damit zu rechnen, dass der BGH einen bislang noch nirgendwo behandelten Aspekt betont und wider aller Erwartung von einer „Amtsträgereigenschaft“ ausgeht.58 VIII. Wenn immer es zutrifft, dass die Rechtsprechung zum „Amtsträgerbegriff“ Irrtümer auf Seiten der Normadressaten gleichsam vorproduziert, mag die Unvermeidbarkeit von Irrtümern naheliegen, die sich auf noch nicht entschiedene Fallbzw. Unternehmensstrukturen beziehen. Der Herkunft des Irrtumsproblems würde es allerdings eher entsprechen, statt von einem Verbotsirrtum auszugehen, zunächst einem Tatbestandsirrtum nachzuspüren. Eine angemessene „Lösung“ der von § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB bereiteten Probleme bestünde allerdings allein in einer konsistenten Rechtsprechung zum Begriff der „sonstigen Stelle“ in § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB. Auf der Grundlage der viel zu weiten, sich permanent in z. T. mehr als Nuancen ändernden Formel vom „verlängerten Arm des Staates“ in seiner „Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit“ wird das allerdings kaum gelingen.
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BGHSt 45, 16 („Frankfurter-Flughafen-AG“). Vgl. BGHSt 38, 199: Privatrechtliche Organisationen begründen die Vermutung, dass die Angestellten keine „Amtsträger sind“; dazu ausf.: Bernsmann, StV 2009, 308; ders., in: Bernsmann/Gatzweiler (Anm. 42), Rn. 42 ff. 58 Vgl. zuletzt – unter Verzicht auf die Steuerungsformel – BGH NJW 2010, 784. 57
Die Hypothese rechtmäßigen Verhaltens bei psychisch vermittelter Kausalität Von Nikolaus Bosch Der Jubilarin einen Festschriftbeitrag über Kausalität zu widmen, dürfte ein ähnlich sinnvolles Unterfangen sein wie der sprichwörtliche Transport von Eulen nach Athen. Wenn dieses wenig gewinnbringend erscheinende Vorhaben hier dennoch unternommen wird, so vor allem deshalb, weil in dem von der Jubilarin so gründlich und wissenschaftlich akribisch durchpflügten Acker zwar keine Silbermünze mehr verborgen sein dürfte, ihre Ausführungen zur Kausalitätsbestimmung bei psychisch vermittelter Kausalität aber schon vor vielen Jahren das nachhaltige Interesse des Ehrenden geweckt haben und dieser Beitrag damit eher der Hoffnung Ausdruck gibt, die Jubilarin könne ihm noch auf einige wenige offen gebliebene Fragen eine Antwort geben. I. Unsicherheiten der Kausalfeststellung bei psychischer Unterlassungskausalität Dass hier zumindest ein praktisches Bedürfnis zur Bekräftigung von Thesen der Jubilarin besteht, belegen einige jüngere Entscheidungen des BGH. Vor allem eine im Schrifttum weitgehend unkommentiert hingenommene Entscheidung zur Garantenpflicht des Mitarbeiters einer Kfz-Werkstatt in Bezug auf Gefahren, die aus technischen Mängeln der von ihm zu wartenden Fahrzeuge bei deren Betrieb erwachsen, verdeutlicht die Problematik der Rechtsfindung bei psychischer Kausalität.1 Durch einen nicht hinreichend auf seine Bremsleistung überprüften Sattelschlepper wurde infolge Bremsversagens ein Unfall verursacht, bei dem drei Menschen getötet wurden. Der Angeklagte hatte zwar die Schadhaftigkeit 1 Vgl. BGHSt 52, 159 m. Anm. Bosch, JA 2008, 739; Kühl, NJW 2008, 1899; ders., HRRS 2008, 359; vergleichbar restriktiv bereits BGH NJW 2000, 2757. Jüngst hat der BGH zum Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall im Grunde die gleiche Auffassung vertreten, die Problematik allerdings wiederum auf die prozessuale Ebene verlagert, vgl. dazu BGH NJW 2010, 1091 f. Auch BGH JR 2004, 469 m. Anm. Puppe verlangt den Beweis, dass ein Patient sich dann gegen eine – tatsächlich ohne Aufklärung vorgenommene – Operation entschieden hätte, wenn er ordnungsgemäß aufgeklärt worden wäre. Da das Rechtsgut des Tatbestandes der Körperverletzung aber bei fehlender Aufklärung immer verletzt ist, handelt es sich nicht um eine Frage der Kausalität oder Zurechnung, sondern der BGH hat schlicht eine fehlerhafte Definition des Körperverletzungserfolges zugrunde gelegt.
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der Bremsen erkannt, aber das Ausmaß des Schadens nicht pflichtgemäß überprüft. Dies allein könnte ihm aber dann nicht zur Last zu legen sein, wenn nicht er, sondern sein „Juniorchef“ die Entscheidung über den Einsatz des nicht verkehrssicheren Fahrzeuges treffen konnte und musste.2 Diesem hatte er aber nur das ihm bekannte Ausmaß der Schäden mitgeteilt. Zudem hatte er nicht versucht, seinen Chef, der auf einen Einsatz des Fahrzeuges unter Benutzung von dessen Handbremse bestand, umzustimmen. Auf der Basis der herkömmlichen Bestimmung der Unterlassungskausalität, die eine Vermeidbarkeit des Erfolges mit einer „an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ verlangt,3 hat der BGH vielleicht zu Recht zurückverwiesen. Nach Auffassung des BGH mag es zwar nahe liegen, dass eine umfassende Aufklärung über den desolaten Zustand der Bremsen auch einen „zaudernden Chef“ überzeugt und zur Aufgabe seiner „kaufmännischen Überlegungen“ bewegt hätte, ob er sich durch den Hinweis des Angeklagten aber „tatsächlich“ hätte umstimmen lassen, sei nicht „belegt“ und müsse deshalb aufgeklärt werden. Diese Feststellungen der Rechtsprechung leben von der Prämisse, dass sich zumindest die tatsächlichen Voraussetzungen des Kausalurteils bei psychischen Zusammenhängen im Prozess durch Beweiserhebung feststellen lassen und eine Strafbarkeit wegen vollendeter Deliktsbegehung durch Unterlassen ausscheiden muss, wenn sich ex post die Erfolglosigkeit pflichtgemäßen Verhaltens des Unterlassenden erweist. Ob die Hürde zur Feststellung psychischer Kausalität bei einem Unterlassen des Täters tatsächlich so hochgeschraubt werden darf, hat die Jubilarin bereits sehr früh am Beispiel einer Mutter und Nichtschwimmerin problematisiert.4 Die Mutter sieht ihr Kind ertrinken, unterlässt es aber, den anwesenden Bademeister auf den Unglücksfall hinzuweisen, damit dieser ihr Kind aus den Fluten retten kann. Puppe zweifelt nicht zu Unrecht daran, dass in vergleichbaren Konstellationen mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ festgestellt werden kann, ob sich der zur Rettung verpflichtete Bademeister tatsächlich in die Fluten gestürzt hätte, um das Kind vor dem Ertrinkungstod zu bewahren. Eine Erforschung der Lebensgeschichte des Bademeisters, seines Verhaltens bei vorangegangenen Unglücksfällen oder auch seine Befindlichkeit am Tattag mag eine gewisse Erwartung hinsichtlich der vorzunehmenden Handlung ergeben, in der 2 Leider muss hier die weitere Problematik außer Acht gelassen werden, dass gerade der Wechsel von einem aktiven Tun zu einem Unterlassen und im Rahmen des Unterlassens die Auswechselung der Pflicht täterschaftsbegründend wirken kann, sich dann aber auch die Kausalfrage gänzlich anders stellt; vgl. dazu Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002, 109 ff., 127 ff. 3 Vgl. aus der Rspr. nur RGSt 63, 393; 75, 50; BGHSt 37, 126; BGH NJW 1953, 1838; 1998, 1573; 2003, 526; NStZ 2004, 296; 2007, 469; NStZ-RR 2002, 303; Düsseldorf NStZ-RR 2001, 209; BayObLG NStZ-RR 2004, 45. 4 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 907.
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konkreten Handlungssituation wird sich aber, die Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens unterstellt, nur schwerlich eine valide Wahrscheinlichkeitsaussage über ein mögliches Eingreifen des Bademeisters treffen lassen. Auf den ersten Blick könnte es sich deshalb eher um eine prozessuale Problematik handeln, weil das verurteilende Gericht letztlich nur die Möglichkeit hat, im Wege des Anscheinsbeweises aus den vorhandenen Indizien (schönes Wetter, ruhige See, gut gelaunter und körperlich in Bestform befindlicher Bademeister) die psychische Einstellung des Bademeisters abzuleiten.5 Macht es die Bestrafung hingegen vorwiegend von einer Einlassung des Bademeisters abhängig, dann hätte dies die unliebsame Konsequenz, dass gerade bei der naheliegenden Behauptung des pflichtgemäßen Handelns bei Information stets eine volle strafrechtliche Haftung des Unterlassenden begründet wird. II. Die Hypothese pflichtgemäßen Verhaltens Dritter Puppe hat Fälle vergleichbarer Art mit einer einfachen Rechtsregel beantwortet, die Gegenstand des vorliegenden Beitrages sein soll: Besteht das vorwerfbare Verhalten des Täters darin, dass er einem anderen (etwa durch Hinweise oder Warnungen) nicht die Gelegenheit gegeben hat, seine Pflicht zu tun, so ist zu unterstellen, dass der andere seine Pflicht getan hätte.6 Sie beschränkt diese Rechtsregel, mittels derer sie die an sich erforderliche Kausalfeststellung durchbricht, allerdings zunächst auf Fallgruppen, in denen das Verhalten des anderen durch Rechtsnormen festgelegt ist.7 Fehlen entsprechende Regeln, dann könne bei einem Unterlassen des Täters hinsichtlich des zu beeinflussenden Verhaltens des Dritten weder eine Rechts- noch eine Wahrscheinlichkeitsregel benannt werden, da sich auf rein tatsächlicher Basis nicht sagen lasse, wie sich ein Mensch verhalten hätte, wenn er sich in einer anderen Situation befunden hätte. Warum wird diese Rechtsregel aber auf Fälle einer Normierung des entsprechenden Lebensbereichs beschränkt und warum ist es überhaupt gerechtfertigt, bereichsspezifische Ausnahmen von einer ansonsten gebotenen Kausalfeststellung mittels empirisch begründeter Gesetzmäßigkeiten zuzulassen? Auch unabhängig von dem Streit, ob es bei unechter Unterlassung Kausalität i. S. eines realen Bewir-
5 Zu Formen systemfremder „Beweislastumkehr“, ohne die einige materiellrechtliche Vorgaben etwa bei der Feststellung subjektiver Merkmale nicht eingelöst werden könnten, u. a. Heine, JZ 1995, 651 ff.; Volk, GA 1973, 161 ff.; ders., JuS 1975, 25 ff.; ders., NStZ 1996, 106; krit. zum Ausschluss des prima facie-Beweises im Strafverfahren aber Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, 44 ff.; Müller, Anscheinsbeweis im Strafprozeß, 1998; vgl. erg. Bosch, Organisationsverschulden (Fn. 2), 119 ff. 6 Puppe, Jura 1997, 410; dies., ZStW 92 (1980), 909 f.; dies., ZStW 95 (1983), 296. Einen durchaus vergleichbaren Ansatz wählte bereits Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 30 ff. 7 Vgl. nur Puppe, ZStW 95 (1983), 296.
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kens des tatbestandlichen Erfolges geben kann,8 muss zudem nicht nur wegen der Gleichstellungsklausel des § 13 StGB die Frage aufgeworfen werden, ob und inwieweit Begehungs- und Unterlassungskausalität hier einheitlich behandelt werden müssen. 1. Die Feststellung psychischer Kausalität bei Begehungstaten Bei Begehungstaten scheint die Feststellung psychischer Kausalität vergleichsweise einfach vonstattenzugehen, da hier überwiegend keine Gewichtung des bestimmenden Einflusses des Täters für erforderlich erachtet wird. Vielmehr hat sich die Rechtsprechung bei vorsätzlicher Tatbegehung – etwa beim Betrug – meist mit einer Mitursächlichkeit des Täterverhaltens für das selbstschädigende Verhalten des Opfers begnügt. So hat sie im berühmt gewordenen Referendarfall9 ausgeführt, es spiele keine Rolle, ob das geschädigte Opfer das Geld dem Angeklagten vielleicht auch aus einem anderen Grund gegeben hätte, sofern zumindest feststehe, dass der Angeklagte das Geld erhielt, weil das Opfer ihm vertraute. Wenn sein Vertrauen zumindest mitbestimmend war, büße ein solcher Beweggrund seine rechtliche Bedeutung nicht deshalb ein, weil daneben ein anderer Beweggrund vorhanden war, der unabhängig von dem bestehenden Irrtum für sich allein zu demselben Entschluss geführt hätte.10 Anders als einige viktimodogmatische Ansätze dies fordern, hat die Rechtsprechung es damit auch auf normativer Ebene abgelehnt, diesen „Motivationszusammenhang“ zu bewerten und gegebenenfalls eine Zurechung zu verneinen.11 Entsprechende Ansätze ha8 Die darum kreisende Diskussion hat kaum einen praktischen Ertrag erbracht; vgl. auch Lackner/Kühl, StGB26, 2007, vor § 13 Rn. 12; Weigend, in: StGB, Leipziger Kommentar12 (LK), 2007, § 13 Rn. 70; explizit ablehnend BGHSt 48, 93. Die These, auch negative Bedingungen gehörten nach Erfahrungssätzen zu den Bedingungen eines Erfolges (vgl. etwa Spendel, in: FS für Herzberg, 2008, 249), ist für die Rechtsanwendung bedeutungslos, da aus der Unzahl hypothetisch erfolgsverhindernder negativer Bedingungen nur diejenigen interessieren, die normativ über eine Pflichtenstellung mit dem Erfolg verknüpft sind und deshalb rechtliche Relevanz besitzen. Damit hat die Suche nach ontologischen Gemeinsamkeiten zwischen Tun und Unterlassen oder die Konstruktion eines einheitlichen Handlungsbegriffs tautologischen Charakter. 9 Vgl. BGHSt 13, 13. Ein Referendar bat einen Kaufmann, der ihn für einen Richter hielt, mit der Behauptung, er erwarte in Kürze sowohl Geld aus Aktien als auch von seinem reichen Vater, um die Gewährung eines Kredits in Höhe von 2.000 DM. Der Kaufmann erklärte später im Prozess, er hätte ihm das Geld auch ohne diese Behauptungen und selbst dann gegeben, wenn er erkannt hätte, dass der Bittsteller kein Richter war. 10 BGHSt 13, 14; zust. u. a. Puppe, in: Nomos Kommentar zum StGB3 (NK), 2010, vor § 13 Rn. 117; dies., GA 1984, 109; Otto, Grundkurs Strafrecht, AT7, 2004, § 6 Rn. 38. 11 Ob es im Bereich psychischer Kausalität sinnvoll ist, einen (natur-)gesetzmäßigen Zusammenhang zu verlangen, oder ob der Nachweis eines „Motivationszusammenhangs“ einen Gegensatz hierzu kennzeichnet (so etwa Otto, AT7 [Fn. 10], § 6 Rn. 37 f.; vgl. auch Kahlo, GA 1987, 69 ff.; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychi-
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ben dem äußeren Anschein nach auch eine gewisse Beliebigkeit, da sich abgesehen von einem äußerst fragwürdigen psychologischen Befund nur schwer begründen lässt, warum und vor allem ab welchem Grad der Opferselbstverantwortung eine Zurechnung ausgeschlossen sein soll. Dies verdeutlicht eine jüngere Entscheidung, in der in unausgesprochener Abkehr von den Grundsätzen der Referendar-Entscheidung eine hypothetische Einschränkung auf Kausalitätsebene vollzogen wurde.12 Eine Täuschung über wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirksamkeit eines Medikaments (Galavit) soll nun nicht mehr ursächlich für die Vermögensverfügung der Krebspatienten (den Kauf des Medikaments) sein, sofern die Patienten auch verfügt hätten, wenn ihnen eine lediglich nicht ausschließbare Wirkung des Medikaments in Aussicht gestellt worden wäre. Da austherapierte Krebspatienten genötigt sind, nach „jedem Strohhalm“ zu greifen, läge dies nicht fern. Der Senat fragt damit nicht mehr danach, ob ein Entschluss des Opfers durch eine Handlung des Täters verursacht wurde, sondern erachtet eine Verursachung bei psychischen Kausalverläufen für ausgeschlossen, wenn sche Kausalität, 1988, 142 ff.), soll noch offen gelassen werden. Die Rechtsprechung hat den Ursachenbegriff insbesondere bei Fahrlässigkeit ohnehin häufig nicht „naturwissenschaftlich“, sondern nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben geprüft und eine „Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung“ bzw. eine „Kausalität im Rechtssinne“ verlangt; dazu abl. Schünemann, JA 1975, 578 mit N. zur Rspr. Daran lässt sich kritisieren, dass eine Pflichtverletzung als Urteil über einen Sachverhalt selbst nicht kausal für einen Erfolg sein kann. Kausal sind vielmehr nur die Umstände, die eine Pflichtverletzung begründen, vgl. dazu treffend Puppe, Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, 2 ff.; krit. zur Unterscheidung zwischen einem „faktischen“ und einem „normativen“ Kausalitätsbegriff hingegen Hilgendorf, in: FS für Lenckner, 1998, 702; auch Otto, in: FS für Maurach, 1972, 95 f., hat darauf hingewiesen, dass in Folge der Verknüpfung zwischen täterschaftlichen Momenten und der Kausalitätsbestimmung überhaupt nur diejenigen Bedingungen erörtert werden, bei denen angenommen wird, der Täter habe „ein Geschehen steuerbar auf den Erfolgseintritt hin (ge)lenkt“. Der von ihm geforderte generelle Verzicht auf eine naturalistisch begründete Kausalitätsprüfung hat sich jedoch nicht durchsetzen können (vgl. noch Otto, NJW 1980, 423 ff.); zur Kritik, die conditio sine qua non-Formel würde letztlich auf einem Zirkelschluss basieren, weil sie das zu Zeigende bereits voraussetzt, u. a. Erb, JuS 1994, 450 ff.; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil2, 1991, 7/8 ff.; Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, 12 f.; Rollinski, in: FS für Miyazawa, 1995, 487; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 14, 2006, § 11/11 ff.; Schulz, in: FS für Lackner, 1987, 42; Puppe, ZStW 92 (1980), 874 ff.; ZStW 99 (1987), 599. Dessen ungeachtet sollte man sich bewusst sein, dass sowohl mit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als auch mit der Äquivalenztheorie eine rechtliche Bewertung verbunden ist, da der Richter nicht etwa zunächst alle Bedingungen als gleichwertig erachtet, um sie in einem zweiten Schritt nach ihrer Erfolgsrelevanz zu gewichten, sondern bereits zuvor eine Vorauswahl unter dem Blickwinkel der rechtlich für maßgebend erachteten tatbestandlichen Handlung und des Erfolges vornimmt. Im Bereich des Unterlassens kann ohnehin nur eine rechtspflichtenbezogene Kausalitätsprüfung vorgenommen werden, da der Rechtsanwender zunächst festlegt, wer für einen bestimmten Erfolg verantwortlich ist und dann die Rechtsgutverletzung in Relation zu einem daraus abgeleiteten Unterlassen setzt; vgl. dazu auch Engisch, Die Kausalität (Fn. 6), 31: „(. . .) die Bedeutsamkeit der Frage nach der Kausalität hängt davon ab, dass die Unterlassung rechtswidrig ist“. 12 BGH NStZ 2010, 288.
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eine Ersatzursache (ein auf der Basis einer abweichenden Informationslage getroffener Kaufentschluss) die gleiche vermögensschädigende Verfügung zur Folge gehabt hätte. Die Begründung des Senats zeigt, warum es bei Zulassung von adressatenbezogenen hypothetischen „Nützlichkeitserwägungen“ gar nicht mehr um die Feststellung eines konkreten psychischen Kausalverlaufs gehen kann. Bewertet man einen psychischen Kausalverlauf anhand der Maßstabsfigur eines austherapierten Krebspatienten, so wird im Grunde nicht gefragt, welche bewussten Motive den Getäuschten in der konkreten Situation geleitet haben, sondern es wird eine Zurechnung anhand eines generalisierten Maßstabs verneint. Das Ausgangsgericht muss sich infolgedessen auf eine fragwürdige Suche begeben und die Geschädigten befragen, ob sie angesichts ihrer ausweglosen Situation auch ein voraussichtlich wirkungsloses Medikament gekauft hätten. Dabei kann weder im Referendarfall noch im Galavitfall in Zweifel gezogen werden, dass der Getäuschte den konkreten Handlungsentschluss jedenfalls auch deshalb gefasst hat, weil der Täuschende ihm in der konkreten Situation hierfür einen Grund gegeben hat.13 Eine Ursächlichkeit ließe sich allenfalls verneinen, wenn feststehen würde, dass ein Kreditgeber dem Kreditnehmer auch völlig ungefragt einen Kredit geben wollte oder die Krebspatienten bereits vor der Täuschung zum Kauf des Medikaments entschlossen waren. 2. Die Feststellung psychischer Kausalität bei Unterlassen Im Bereich der Unterlassung scheint hingegen ein dem Beweis zugänglicher Handlungsentschluss eines Erklärungsempfängers zu fehlen, so dass sich nur hypothetisch ermitteln lässt, inwieweit der Garant die Entschlussfassung hätte beeinflussen können. Die Rechtsprechung verfährt hier keineswegs einheitlich. So lehnte sie es etwa im Politbürofall ab, auf die Wirkungen abzustellen, die das jedem einzelnen von ihnen (den Angeklagten) gebotene Handeln gehabt hätte,14 während sie u. a. im eingangs erwähnten Werkstattfall gerade die hypothetischen Wirkungen der Einzelhandlung für die Erfolgszurechnung für maßgebend erachtete. Ohne die besondere Problematik der Gremienentscheidung vertiefen zu wollen, fällt zumindest auf, dass der Senat hier bei kumulativer Unterlassung auf den Gesamterfolg der gemeinschaftlichen Unterlassung, die Nichtfassung eines Beschlusses zur Abwendung der vorsätzlichen Tötung von Flüchtlingen, abstellt und nicht etwa auf die dem einzelnen Mitglied mögliche Handlung, die Einflussnahme auf andere Mitglieder des Gremiums, um eine Beschlussfassung herbeizuführen. Begründet wird dies nicht etwa mit einer mittäterschaftlichen Zurechnung, sondern mit dem ausschließlichen normativen Charakter der „Quasi-Kausalität“. Da das Recht von der Befolgung seiner Regeln auszugehen hat, sei ein 13 14
So die Formulierung von Puppe, Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 59. So BGHSt 48, 94.
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rechtmäßiges Verhalten der parallelen Garanten zu unterstellen.15 Nun scheint sich unmittelbar die Frage aufzudrängen, warum nicht auch im Werkstattfall von einem rechtmäßigen Verhalten des Juniorchefs ausgegangen werden muss, schließlich haften auch Werkstattmeister und Juniorchef als Nebentäter für ein täterschaftlich begangenes Unterlassen. Natürlich handelt es sich dabei zwar um eine „gleichgeordnete“, aber keine identische Pflichtenstellung, doch auch hier könnte ohne weiteres auf den Gesamterfolg des kumulativen Unterlassens, die Abwendung des Todeserfolges, abgestellt werden.16 Eine Rechtfertigung für die einseitige Einbeziehung einer Rechtsregel im Politbürofall wird jedenfalls kaum darauf gestützt werden können, dass der Werkstattleiter zunächst seinen Chef über die Mängel informieren muss, damit dieser die Stilllegung des Fahrzeuges beschließen kann, denn auch jedes Gremienmitglied kann nur dann seine Pflicht erfüllen, wenn die anderen Mitglieder zustimmen. III. Die Legitimation der Rechtsregel Doch wie lässt sich eine Hypothese des pflichtgemäßen Verhaltens Dritter oder sogar des Eigeninteressen wahrenden Verhaltens des Opfers legitimieren? Im eingangs erwähnten Bademeisterfall verweist Puppe vor allem auf den Verlust der Effektivität von strafrechtlichen Geboten.17 Man könnte zwar statt fehlender Kausalgesetze Wahrscheinlichkeitsgesetze aufstellen und das danach wahrscheinlichste Verhalten unterstellen. Würde der Fall aber nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen oder einer hypothetischen Kausalbetrachtung gelöst, dann wäre die Rettung des Kindes unterblieben. Die Mutter ist als Nichtschwimmerin nicht zur Rettung des Kindes in der Lage und der Bademeister hätte es auch bei Aufklärung gegebenenfalls nicht gerettet. Es sind deshalb bei kumulativer Kausalität von Unterlassungen, respektive der Unterlassung der psychischen Einflussnahme 15
Vgl. BGHSt 48, 95 unter Berufung auf Jakobs, in: FS für Miyazawa (Fn. 11), 423. Ausdrücklich gegen eine Gleichstellung, da die Unterlassung nicht auf gleicher Ebene angesiedelt sei, BGH NJW 2010, 1091 – Bad Reichenhall. Puppe hat bereits treffend auf die Bedeutung der Bestimmung des tatbestandlichen Erfolges für die Kausalitätsfeststellung hingewiesen. Die Entlastungsbehauptung bei Gremienentscheidungen, andere Mitglieder hätten ebenfalls dagegen bzw. nicht für ein bestimmtes Verhalten gestimmt, lässt sich problemlos dadurch entkräften, dass auf den Beschluss in seiner konkreten Gestalt, d.h. mit der jeweils tatsächlich gegebenen Mehrheitsverteilung, die Bedeutung des Gesamtbeschlusses für die Abwendung des Erfolges oder Vergleichbares abgestellt wird; zu weiteren Beispielen, wie durch Einfügen beliebiger Tatsachen in die Erfolgsbeschreibung eine Ursächlichkeit hergestellt werden kann, Puppe, Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 11 ff. Ausdrücklich für eine Bestimmung des Pflichtenkreises im Hinblick auf die folgende Kausalitätsfeststellung aber Hilgendorf, GA 1995, 531. 17 Vgl. dazu und im Folgenden Puppe, ZStW 92 (1980), 909 f.; ähnlich kriminalpolitisch argumentierend insoweit BGHSt 37, 131 f., mit der Feststellung, dass es widersinnig wäre, wenn sich ein Garant unter Hinweis auf die gleichrangige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit eines gleichgeordneten Garanten freizeichnen könne. 16
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auf den unmittelbar Erfolgsabwendungspflichtigen, vor allem Zweckmäßigkeitsund Effektivitätsüberlegungen, die eine Einführung der Rechtmäßigkeitshypothese nahelegen. Doch weder Präventionsinteressen noch die fehlende Verknüpfung mittels eines naturgesetzlich zu benennenden Kausalzusammenhanges scheinen ausreichend, um die unterschiedliche Behandlung von Begehungs- und Unterlassungstat bei psychischer Kausalität rechtfertigen zu können. 1. Generelle Kausalität und psychischer Befund Da Kausalität im Ausgangspunkt zunächst ein tatsächlicher (empirischer) Befund ist, scheint eine ausschließliche Zurechnung nach Rechtsregeln vorauszusetzen, dass insoweit eine Lücke vorhanden ist und bei psychisch vermittelter Kausalität eine Erfolgszurechnung jedenfalls nicht auf der Grundlage von Kausalgesetzen (bzw. Erfahrungsätzen), sondern allenfalls nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen (oder vergleichbar nach Risikoverminderungsgesichtspunkten) erfolgen kann.18 I. d. S. geht Puppe davon aus, dass zwar auch ein Unterlassen notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen Gesetzen zureichenden Bedingung eines Erfolges sein kann,19 die Humanwissenschaften würden aber, insbesondere wenn es um die Frage der Beeinflussung von Motivationen gehe,20 keine allgemeinen Regeln des Ablaufs psychischer Vorgänge zur Verfügung stellen.21 Ohne dass dies in der gebührenden Ausführlichkeit erörtert werden könnte, muss allerdings bereits bezweifelt werden, dass für den Normalfall ohne Subsumtion einer Kausalaussage für den konkreten Einzelfall unter ein generelles Kausalgesetz eine prozessuale Feststellung von Kausalität möglich ist (d.h. wenn Einzelaussage A nicht Bestandteil eines anerkannten Kausalgesetzes K ist, dann kann auch im Prozess keine Kausalität angenommen werden). Die zunächst vor allem nach dem Contergan-Verfahren geforderte Unterscheidung von genereller und konkreter Kausalität, die im Anschluss an das Lederspray- und Holzschutzmittel-Verfahren vermehrte Aufmerksamkeit erfahren hat, führt in die Irre, weil dadurch keine Aussagen über den konkreten Einzelfall ermöglicht werden können.22 Vgl. dazu Puppe, in: NK3 (Fn. 10), vor §§ 13 ff. Rn. 125 ff., 135 ff. Vgl. dazu Puppe, in: NK3 (Fn. 10), vor §§ 13 ff. Rn. 117; erg. Puppe, ZStW 92 (1980), 899 und JZ 1994, 1148, die jedoch der Diskussion um die Kausalität des Unterlassens kritisch gegenübersteht, weil ihr die in der Philosophie und Wissenschaftstheorie aufgegebene „Vorstellung vom Kausalzusammenhang als Kraftentfaltung“ zugrunde liege. 20 Vgl. dazu Puppe, in: NK3 (Fn. 10), vor §§ 13 ff. Rn. 129. 21 Vgl. auch Hilgendorf, in: FS für Weber, 2004, 42; Hoyer, GA 1996, 166; ders., in: FS für Rudolphi, 2004, 97 ff.; Puppe, ZStW 95 (1983), 297 ff.; dies., GA 1984, 5; zw. auch Eisele/Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, vor § 13 Rn. 75, ob es bei psychischen Kausalverläufen eine generelle Kausalität geben kann; a. A. aber Engisch, in: FS für Weber, 1963, 269; Jakobs, AT2 (Fn. 11), 7/27; Roxin, AT I4 (Fn. 11), § 11/31. 22 Bereits die Begriffsverwirrung bei der Definition genereller Kausalität zeigt, wie wenig hilfreich sie bei der Lösung konkreter Probleme ist; vgl. dazu exemplarisch die 18 19
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Sieht man von einfach gelagerten Fällen ab, in denen das im Rahmen der generellen Kausalität herangezogene „Naturgesetz“ dem im Einzelfall wirksam gewordenen Ursachenzusammenhang entspricht und sich damit konkrete und generelle Kausalität decken, kann und muss die Benennung allgemeiner Kausalgesetze zwar dem Richter die Kausalitätsfeststellung im Prozess erleichtern,23 ein allgemeines Kausalgesetz kann jedoch bei komplexen Wirkungszusammenhängen (wie auch psychischen Vorgängen) niemals isoliert einen Kausalzusammenhang erklären. So wird sich sicherlich ein allgemeines Kausalgesetz angeben lassen, Holzschutzmittel seien geeignet, Schwindelgefühl, Erbrechen oder ähnliche Symptome zu verursachen, nur führt dies deshalb nicht weiter, weil im Pro-
unterschiedlichen Definitionen von Schwartz, Strafrechtliche Produkthaftung, 1999, 54: „(. . .) exakte[n] Aussage[n] über den regelmäßigen Geschehensablauf beim Zusammentreffen zweier oder mehrerer Faktoren“; Deutscher/Körner, wistra 1996, 295 zum Contergan-Fall: Frage, „ob Thalidomid geeignet ist, unter bestimmten Voraussetzungen Missbildungen herbeizuführen“; Denicke, Kausalitätsfeststellung im Strafprozeß, 1997, 26: Die Verknüpfung zwischen zwei Ereignissen müsse „allgemeiner Natur“ sein („Wenn A dann B“); Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 1994, setzt die von ihm so bezeichnete „Lehre von der generellen Kausalität“ mit dem Ausschlussverfahren des BGH im Lederspray-Fall gleich, (vgl. a. a. O., 38, 41); Hilgendorf, in: FS für Lenckner (Fn. 11), 702, lässt als Obersatz auch statistische Gesetze genügen und möchte in einem zweiten Schritt überprüfen, ob der konkrete Fall unter den Obersatz subsumiert werden kann; Rolinski, in: FS für Miyazawa (Fn. 11), 483, löst sich von der bisherigen Diskussion, wenn er den Begriff der „generellen Kausalität“ mit dem der „statistischen Kausalität“ gleichsetzt und daraus folgert, Kennzeichen einer generellen Kausalität sei, dass sie im konkreten Fall nicht nachweisbar ist; verwirrend die Feststellung Rotschs, wistra 1999, 322, „ein ganz bestimmtes konkretes Verhalten“ könne nur dann ursächlich sein, „wenn es grundsätzlich geeignet ist, den in Frage stehenden Erfolg herbeizuführen“; im Ansatz zutreffend hingegen Puppe, JR 1992, 31, die einen Kausalzusammenhang annimmt, „wenn ein allgemeines Gesetz oder eine allgemeine Erfahrungsregel angegeben wird, kraft dessen die Wirkung aus der Ursache in Verbindung mit anderen singulären Tatsachen ableitbar ist“, wobei sich die Zahl der Einzeltatsachen so lange erweitern lässt bis aus dem allgemeinen ein Einzelfallgesetz wird. Entgegen Puppe lässt sich jedoch kein allgemeines Gesetz feststellen, unter das der Richter subsumieren könnte. Vgl. ergänzend Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, 109, 101 f., der auf die Rechtsfrieden schaffende Funktion des Strafurteils verweist und feststellt, ein dem Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit entsprechendes Urteil lasse sich nur finden, wenn der Richter allgemein anerkannte Kausalgesetze übernehme, denn nur dann könne die richterliche Begründung verstanden werden. 23 Dieses Anliegen hat bereits die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung betont, da sie den Richter verpflichtet, positiv einen naturwissenschaftlich überprüfbaren Wirkungszusammenhang zu suchen und konkrete Kausalverläufe unter bekannte Kausalgesetze zu subsumieren; so bereits Engisch, Die Kausalität (Fn. 6), 21, 25 f.; zust. etwa Otto, Jura 1992, 93; Roxin, AT I4 (Fn. 11), § 11/14; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK), Stand Nov. 2009, vor § 1 Rn. 41; Schünemann, JA 1975, 580. Da die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung aber lediglich auf die Kausalitätsdefinition anderer Wissenschaften verweist und selbst offen lässt, wie die jeweils zu erörternden Naturgesetzmäßigkeiten beschaffen sein müssen, bleibt sie im Grunde sogar noch hinter der Äquivalenzformel zurück, im Ansatz deshalb nicht zu Unrecht für eine „unverkrampftere“ Kombination beider Theorien Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, 522 f.; Schünemann, JA 1975, 580.
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zess alleine interessiert, unter welchen Umständen die Symptome verursacht werden. Will man eine Gesetzmäßigkeit benennen, so müssten zwangsläufig alle ebenfalls relevanten Mitumstände – beispielsweise das Alter der Betroffenen, die Art der Verwendung im Innenbereich, die Dauer der Belastung, die Konzentration des Mittels – einbezogen werden, um eine gesetzmäßige Verbindung zwischen Produkt und Körperverletzungserfolgen herstellen zu können. Überspitzt formuliert gibt es ohnehin keine Stoffe, die nicht generell geeignet sind, den durch das jeweilige Strafgesetz vorausgesetzten Erfolg herbeizuführen.24 Wenn deshalb der Richter immer nur über einen konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung möglichst vieler Einzelumstände befinden kann und dabei natürlich auch anderweitig festgestellte Gesetzmäßigkeiten heranzieht, so sind auch psychische Befindlichkeiten in beschränktem Maße ex post dem Beweis zugänglich und damit „gesetzmäßig“ mit dem Erfolg verbunden. Dass ex ante ein psychischer Kausalverlauf nichtdeterminiert sein mag und die Humanwissenschaften zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten könnten, ob sich ein Mensch auch in Kenntnis einer Gefahrensituation in diese begeben hätte, schließt jedenfalls nicht grundsätzlich aus, darüber ex post Beweis zu erheben, auch wenn vielleicht trotz eindeutiger Aussage etwa des Opfers dennoch keine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit des hypothetischen Ablaufs festgestellt werden kann. 2. Präventionsinteressen und Beweisbarkeit Da auch i. S. des von Puppe im Rahmen der Begehungstäterschaft vertretenen Befundes, eine Behauptung Grund für eine bestimmte Beschlussfassung sein kann,25 darf es umgekehrt auch nicht völlig gleichgültig sein, ob der Betreffende später im Prozess erklärt, er hätte sich niemals von dem Täter beeinflussen lassen. Erklärt der Bademeister auf Nachfrage, er wäre auch bei Kenntnis von dem Unglücksfall untätig geblieben, dann steht zumindest ex post fest, dass die Unterlassende den Erfolg nicht hätte abwenden können. Wenn hier dennoch eine Erfolgszurechnung vorgenommen wird, dann wird nicht nur Versuchs- und Vollendungsunrecht gleichgesetzt, sondern vor allem – entgegen des Gleichstellungserfordernisses des § 13 StGB – das Unterlassungsdelikt schwächeren Anforderungen an den Kausalnachweis unterworfen als das Begehungsdelikt.26 Deutlich wird dies etwa, wenn Puppe bei der Begehungstat bei psychischer Kausalität eine Zurechnung ausschließt, wenn die psychische Einflussnahme des Täters bei den 24 Vgl. auch zur tödlichen Wirkung von Kochsalz BGH NJW 2006, 1822 m. Anm. Bosch, JA 2006, 743. 25 So, natürlich unter Verzicht auf einen naturgesetzlichen Zusammenhang, Puppe, Die Erfolgszurechung (Fn. 11), 59. 26 Zur bekannten Kritik, die Risikoerhöhungstheorie verstoße gegen den In-dubiopro-reo-Grundsatz, vgl. u. a. Herzberg, MDR 1971, 882; Jakobs, AT2 (Fn. 11), 7/7; Krümpelmann, GA 1984, 495 ff.; dagegen Puppe, ZStW 95 (1983), 293 ff.; dies., Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 45.
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Überlegungen des Betrugsopfers im Referendarfall keine Rolle gespielt hat.27 Bei Begehungstaten ist es dem Täter verboten, einen bestimmten Willensentschluss des Opfers oder auch Dritter (etwa im Fall der Anstiftung) hervorzurufen, weil dadurch ein bestimmter Erfolg herbeigeführt wird, bei Unterlassungstaten hat er den Erfolg hingegen durch Einflussnahme auf den Entschluss eines anderen zu verhindern, ohne dass sich jedoch hinsichtlich der Zurechnung des Erfolgsunrechts eine abweichende Behandlung rechtfertigen lässt. Stimmt man dem zu, dann besteht zumindest theoretisch auch keine Einbuße an der Effektivität strafrechtlicher Normen, da der Unterlassende angesichts der Unsicherheit, wie der andere sich verhalten hätte, eine Erfolgsabwendung bei Information zumindest billigend in Kauf nahm und wegen Versuchs bestraft werden kann.28 3. Die offene Einbeziehung von „Obliegenheiten“ und „Klugheitsregeln“ Puppe hat die Hypothese rechtmäßigen Verhaltens des anderen allerdings auf die Fälle beschränkt, in denen der Unterlassende einem anderen nicht die Gelegenheit gibt, seine Pflicht zur Abwendung eines Erfolges zu erfüllen, während sie in den Fällen des selbstschädigenden Verhaltens eine Anwendbarkeit dieser Regel mit allerdings unterschiedlichem Begründungsansatz ablehnte. So hatte sie für den Fall, dass ein Produzent von Skifilmen seine Rennläufer nicht auf eine Lawinenwarnung hingewiesen hatte, eine Kausalität bzw. die Zurechnung des Lawinentodes der Rennläufern bejaht, obwohl kein juristisches Verbot besteht, sich in Lawinengefahr zu begeben.29 Ebenso wenig kann hier mit Wahrscheinlichkeitsgesetzen operiert werden, schließlich lässt sich nach Puppe trotz der Ge27
Vgl. Puppe, Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 59. Vgl. dazu auch BGHSt 14, 284; BGH StV 1985, 229 m. Anm. Schünemann, NJW 1987, 2940. Entgegen Schünemann, a. a. O., 232, lässt sich ein kriminalpolitisches Bedürfnis für eine kausalitätsersetzende Betrachtung für Fälle, in denen eine Rettungshandlung das Risiko des Erfolgseintritts lediglich verringert, nicht völlig in Abrede stellen. Auch eine Strafbarkeit wegen Versuchs setzt voraus, dass sich der Tatentschluss auf den Kausalverlauf erstreckt. Bei der Beweiswürdigung wird der Grad der subjektiv erkennbaren Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts ein gewichtiges Indiz dafür sein, ob sich der Täter damit abgefunden hat, dass möglicherweise der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden werden kann. Ebenso wenig überzeugt es aber, wenn Puppe, Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 46, meint, eine Versuchsstrafe müsse bei unsicheren, d.h. nach ihrer Terminologie nichtdeterminierten Prozessen ausscheiden, es sei denn, der Täter erachte den Prozess irrtümlich für determiniert. Völlig zu Recht hat der BGH es hingegen für ausreichend erachtet, dass der Täter es als eine Möglichkeit in Kauf nimmt, er könne den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeiden. Eine andere Betrachtung würde im Übrigen dazu führen, dass wohl auch die von Puppe aufgestellten Rechts- und Obliegenheitsregeln vom Vorsatz des Täters umfasst gewesen sein müssen, so dass zumindest bei Vorsatztaten die Feststellung nicht leichter wird. 29 Vgl. Puppe, Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 55; zum Sachverhalt vgl. auch BGE 91 IV 117. 28
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fahren keine empirische Aussage darüber treffen, ob sich nicht – wofür einiges spricht – zumindest einige der Schauspieler in das lawinengefährdete Gebiet begeben hätten. Die Lösung sieht Puppe darin, Klugheitsregeln, hier die Regel, sich nicht in Lawinengefahr zu begeben, als Grundlage der gesetzmäßigen Verknüpfung zwischen Täterhandlung und Erfolg anzuerkennen. Es sei „normativ inakzeptabel“, eine Schädigung des Opfers mit einer fiktiven Obliegenheitsverletzung des Opfers zu erklären. Hier sei deshalb eine Zurechnung zu bejahen, da die Skifahrer angesichts ihrer Unwissenheit nicht die Gelegenheit gehabt hätten, diese Klugheitsregel zu verletzen. a) Im Grunde wird damit wieder auf die Effektivität der Durchsetzung von Recht verwiesen, denn wenn die Skifahrer ein Recht auf Information haben, dann muss dieses auch strafrechtlich durchsetzbar sein. Dem lässt sich entgegenhalten, dass im Fall der unterlassenen Information des ebenso pflichtwidrig agierenden Dritten lediglich pflichtwidrig gesetzte Mitursachen ausgeschlossen werden, während im Fall der Obliegenheitsverletzung dem Täter nicht zwingend eine illegitime Entlastungsbehauptung abgeschnitten, sondern aus der konstruierten Pflicht zugleich auf die Erfolgszurechnung geschlossen wird. Ein wenig erläuterungsbedürftig erscheint auch der Umstand, dass Puppe im sog. Gasanschlussfall30 zunächst die Auffassung vertreten hatte, eine Zurechnung des Todes eines Arbeiters, der wegen eines vor Ort fehlenden Atemschutzgeräts infolge einer Kohlenmonoxidvergiftung verstarb, sei nur auf Basis der kausalitätsersetzenden Risikoerhöhungstheorie möglich.31 Tatsächlich dürfte sich die gerichtlich geforderte Aussage, ob der Arbeiter ein an der Arbeitsstelle vorhandenes Atemschutzgerät mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verwendet hätte, nach dessen Tod nicht mehr treffen lassen, da die Alltagserfahrung lehrt, dass unbequeme Arbeitsschutzmaßnahmen in einer Vielzahl von Fällen missachtet werden. Aber auch eine Zurechnungsregel, dass sich jeder „im eigenen Interesse vernünftig und vorsichtig verhält“, sei als bloße Obliegenheit normativ nicht zu begründen. Nun wird wohl nicht davon auszugehen sein, dass zwischen Klugheits- und Obliegenheitsregeln per se ein Unterschied besteht, und eine tatsächliche Verminderung des Risikos, dass der Arbeitnehmer ohne Schutzmaske gearbeitet hat, würde die von Puppe gerade für unmöglich und sinnlos erachtete Feststellung voraussetzen, ob der konkret betroffene Arbeiter zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu der Maske gegriffen hätte, wenn sie vorhanden gewesen wäre. In späteren Stellungnahmen zum Gasanschlussfall hat sie deshalb die normative Regel, dass sich ein Täter nicht mit einer fiktiven Sorgfaltspflichtverletzung entlasten könnte, dahingehend ergänzt, dass ebenso eine fiktive Obliegenheitsregel wie auch eine Steigerung der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen als Entlastung ausscheide.32 30 31
Vgl. dazu OLG Naumburg NStZ-RR 1996, 229. Vgl. Puppe, Jura 1997, 411.
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b) Jedenfalls scheint einer ausschließlich normativen Zurechnung bei Obliegenheitsverletzungen nicht entgegenzustehen, dass sich tatsächlich eine empirisch überprüfbare Aussage über die Wahrscheinlichkeit der Herbeiführung eines bestimmten Willensentschlusses des Opfers treffen lässt. Abgesehen davon, dass weder geklärt ist, welchen Grad an Wahrscheinlichkeit eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit nach statistischen Maßstäben verlangt, noch welcher Grad bei einem Verzicht auf eine gleichermaßen hohe Erfolgssicherheit maßgebend sein soll, lässt sich bei psychischer Kausalität jedenfalls häufig keine prozessual verifizierbare Wahrscheinlichkeitsaussage über die konkrete hypothetische Entscheidung treffen. Die Frage nach dem Grad der erforderlichen Wahrscheinlichkeit erscheint schon deshalb sinnlos, weil objektive Wahrscheinlichkeitsaussagen nur dann getroffen werden können, wenn die Grundgesamtheit der zu beurteilenden Phänomene endlich ist, die psychische Motivationslage bei unsicheren Entscheidungen aber dieser Grundanforderung gerade nicht genügt.33 Zudem scheint es ohnehin ein sinnloses Unterfangen zu sein, mit einer hohen stochastischen Abhängigkeit zweier Faktoren, die im Übrigen bei den meisten der hier genannten Fälle der Verletzung eigenüblicher Sorgfalt gerade nicht besteht, einen Kausalzusammenhang im konkreten Fall begründen zu wollen. Mit statistischen Abhängigkeiten lässt sich selbst bei aktivem Tun lediglich die abstrakte Gefährlichkeit einer bestimmten Handlung, nicht aber deren Ursächlichkeit für einen ganz bestimmten Erfolg erklären.34 Liegen Atemschutzgeräte bereit, dann steht unzweifelhaft fest, dass zumindest einige der Arbeiter diese auch benutzen werden. Macht man aber die „Gegenprobe“, so muss jedenfalls hinsichtlich des konkret zu Tode gekommenen Arbeiters die Steigerung des Risikos einer Kohlenmonoxidvergiftung verneint werden, wenn dieser, zugegebenermaßen etwas pietätlos, nach seinem Tode befragt und erklären würde, er hätte im Vertrauen auf den Nichteintritt des Erfolges niemals seine Maske benutzt. Generelle Wahrscheinlichkeitsaussagen bringen ex ante einen persönlichen Erwartungswert hinsichtlich der Wahrung von Obliegenheiten zum Ausdruck, ohne dass dadurch jedoch ex post in Zweifelsfällen eine statistische Korrelation mit 32 Vgl. Puppe, Die Erfolgszurechnung (Fn. 11), 56, mit der Subsumtion im konkreten Fall, dass die Nichtnutzung des griffbereiten Atemschutzgeräts eine noch „schwerwiegendere Obliegenheitsverletzung“ sei. 33 Vgl. auch Hilgendorf, in: FS für Lenckner (Fn. 11), 707 zur Verifizierbarkeit statistischer Aussagen. 34 Zur fruchtlos gebliebenen Diskussion, welche Wahrscheinlichkeit für den Nachweis im Prozess verlangt werden muss, vgl. u. a. Herdegen, NStZ 1987, 198; Hoyer, ZStW 105 (1993), 543; Rolinski, in: FS für Miyazawa (Fn. 11), 483; Wohlers, JuS 1995, 1022 ff. Wenig hilfreich insoweit die in der Rechtsprechung verbreitete Umschreibung des notwendigen Beweismaßes als „hochgradige Wahrscheinlichkeit“; vgl. etwa RGSt 61, 206; BGH StV 1993, 510; vgl. auch BGH GA 1988, 184 mit der Feststellung, dass 95% Wahrscheinlichkeit im konkreten Fall jedenfalls nicht ausreichten; ohne Festlegung auch BGH NJW 2010, 1091: „Frage der richterlichen Beweiswürdigung“ und nicht der Abstufung nach Wahrscheinlichkeitsgraden.
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der hypothetischen Willensentschließung der konkret betroffenen Person aufgezeigt werden könnte.35 c) Durchaus vergleichbaren Einwänden sieht sich auch die Risikoerhöhungstheorie ausgesetzt, wenn sie auf psychische Kausalverläufe, vor allem im Bereich des Unterlassens,36 angewandt wird. Dies vor allem dann, wenn eine unerlaubte Gefahrerhöhung danach bestimmt wird, ob eine Verhaltensweise bei Ex-ante-Betrachtung auf der Grundlage der dem Täter bekannten und einem umsichtigen Menschen erkennbaren Umstände den Eintritt schädlicher Folgen mit einem höheren Wahrscheinlichkeitsgrad erwarten lässt.37 Zur Vermeidung von Widersprüchen müsste die Risikoerhöhungslehre sich gänzlich von der Feststellung eines auf Wahrscheinlichkeitsaussagen gestützten Kausalverlaufs lösen und sich lediglich auf einen abstrakten Vergleich von verwirklichtem und normrelevantem Risiko stützen.38 Wenn die Norm gerade der Verhinderung des eingetretenen Risikos dienen soll, dann darf es keine Rolle spielen, ob vielleicht auch andere Umstände den Erfolg herbeigeführt haben. Eine in diesem Sinne normativ formulierte Risikoerhöhungstheorie bedingt aber zugleich eine grundlegende Modifikation der Erfolgsdelikte, die gerade bei Unterlassungstaten nicht mehr dem Postulat der Begehungsgleichheit der Erfolgszurechnung entspricht. Die Behaup35 Die unklare Trennung von ex ante- und ex post-Perspektive verdeutlicht etwa die Behauptung von Rolinski, in: FS für Miyazawa (Fn. 11), 483, da bei einem Sprung aus dem 4. Stock eines Hauses, der Betroffene nur in 95% aller Fälle sterbe, könne auch bei einem Stoß aus dem Fenster nur mit einer probabilistischen Gesetzmäßigkeit von 95% verurteilt werden. Da aber ex post feststeht, dass das Opfer tot auf der Straße liegt, spielt die handlungsbezogene Wahrscheinlichkeit überhaupt keine Rolle, sondern es lässt sich ex post allenfalls fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass das Opfer beispielsweise während des Fluges an einem ohnehin zu diesem Zeitpunkt eintretenden Herzinfarkt verstorben ist. 36 Dass das Risikoerhöhungsprinzip bei Unterlassungsdelikten die condicio-Formel ersetzt, vertreten u. a. Brammsen, MDR 1989, 123 ff.; Otto, in: FS für Spendel, 285; ders., AT7 (Fn. 10), § 9 Rn. 101; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil4, 2000, Rn. 1094 f.; ders., in: FS für Gallas, 1973, 237 f. m.w. N. in Fn. 30; vgl. auch Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff. und ders., AT I4 (Fn. 11), § 11/78 m. umfangreichen N. zu den Vertretern der Theorie im Schrifttum; erg. auch ders., GA 2009, 76 f.; weitere N. bei Kratzsch, GA 1989, 64 f.; zur Frage, ob der Risikoerhöhung eine ex post- oder eine ex ante-Betrachtung zugrundezulegen ist, vgl. u. a. Jakobs, AT2 (Fn. 11), 7/100 f.; Stratenwerth a. a. O., 229 f. m.w. N. 37 Vgl. etwa Rudolphi, in: SK (Fn. 23), vor § 1 Rn. 66; Stratenwerth, in: FS für Gallas (Fn. 36), 233; für eine Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsregeln Puppe, ZStW 95 (1983), 287 ff. 38 Vgl. bereits Bosch, Organisationsverschulden (Fn. 2), 100 ff. Ein anderes Ergebnis lässt sich nur erzielen, wenn man es mit Roxin, ZStW 74 (1962), 434, sogar für unerheblich hält, ob ein Verhalten die nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft vom Gesetzgeber in Kauf genommene Gefahr erhöht. So soll eine Bestrafung im Seitenabstands-Fall selbst dann möglich sein, wenn nicht feststellbar ist, ob durch die Abstandsdifferenz „die Gefahr eines tödlichen Ausgangs bei Situationen der gegebenen Art verändert wird“. Der Täter überschreitet damit bereits die Grenzen des erlaubten Risikos, wenn für die rechtsgüterverletzende Handlung keine Erfahrungsregel existiert, die das Maß des zusätzlich eingegangenen Risikos erfasst.
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tung, durch eine Verringerung der Erfolgswahrscheinlichkeit sei auch der „konkret“ eingetretene Erfolg ein anderer geworden,39 ist unzutreffend und der Geburtsfehler der Risikoerhöhungstheorie, da gerade nicht feststeht, ob auch der zum Erfolg führende Kausalverlauf tatsächlich ein anderer geworden wäre. Welche strafrechtsdogmatische „Manipulation“ dem vorangegangen ist, wird etwa im Lawinenfall deutlich. So ließe sich leicht argumentieren, der Erfolg sei schon deshalb ein anderer, weil nach einer Information der Skifahrer über die bestehende Lawinengefahr ihr Entschluss, sich dennoch in die Gefahr zu begeben, ein anderer gewesen sei. Der psychische Befund, in Kenntnis der bestehenden Gefahren in den Tod zu fahren, unterscheidet sich unzweifelhaft von einer unwissenden Abfahrt in den Tod und die Differenzierung scheint auch deshalb so einleuchtend zu sein, weil die Handlungspflicht gerade den Sinn hat, den Betroffenen eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Inkaufnahme tödlicher Risken zu ermöglichen. Dennoch ist sie verfehlt, weil die kausalitätsersetzende Risikoerhöhungstheorie „unter der Hand“ den tatbestandsmäßigen Erfolg ausgetauscht hat. Der Unterlassende wird nicht deshalb wegen fahrlässiger Tötung bestraft, weil er es unterlassen hat, einen bestimmten „freiverantwortlichen“ Willensentschluss herbeizuführen, sondern deshalb, weil die Skifahrer infolge der Unwissenheit zu Tode gekommen sind.40 4. Grenzen der Hypothese bei Obliegenheitsverletzungen Vielleicht ist aber gerade der von Puppe so trefflich analysierte LedersprayFall geeignet, zumindest eine Möglichkeit der Legitimation, aber auch der Begrenzung von Klugheits-, Obliegenheits- oder Rechtmäßigkeitsregeln im Rahmen der Betrachtung hypothetischer psychischer Kausalverläufe aufzuzeigen. Puppe hatte treffend darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Vorwurfs an die Geschäftsleitung, einen Rückruf der bereits im Handel befindlichen Produkte unterlassen zu haben, unklar blieb, ob ein Rückruf die Händler noch rechtzeitig erreicht und vor allem, ob diese auch tatsächlich auf einen Rückruf reagiert hätten.41 Sicherlich wäre die Gesamtzahl der Schadensfälle durch ein sorgfaltsVgl. Otto, AT7 (Fn. 10), § 9 Rn. 101. Gleiches gilt im Übrigen auch außerhalb des Bereichs psychischer Kausalität, etwa dem Paradebeispiel der Risikoerhöhungstheorie, dem Unterlassen ärztlicher Behandlungsmaßnahmen, die typischerweise nur eine gewisse Verhinderungswahrscheinlichkeit besitzen; vgl. etwa zur unterlassenen Bestrahlung nach erfolgreicher Entfernung eines Tumors, BGH GA 1988, 184; dazu auch Maiwald, in: FS für Küper, 2007, 336 f. Solange nicht feststeht, dass durch die Untätigkeit eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten und damit auch eine von dieser ausgehende Lebensgefahr erhöht wurde, kann auch ex post keine Risikosteigerung nachgewiesen werden (vgl. zu § 227 auch BGH NStZ 2006, 686). 41 Zur Prüfung dieser Frage vgl. BGHSt 37, 127; Puppe, Jura 1997, 410 f. Zutreffend weist allerdings Schünemann, in: 50 Jahre BGH, 2000, 638, auf die fragwürdige Ausdehnung der Garantenpflicht hin, da nicht analog der zivilrechtlichen Rechtslage 39 40
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gemäßes Verhalten der Geschäftsleitung verringert worden und so scheint ausgehend von der Pflichtwidrigkeit ex ante mit der Pflichtwidrigkeit des Unterlassens zugleich dessen risikoerhöhende Eigenschaft festzustehen. Ebenso sicher erscheint aber auch, dass zumindest einige der konkreten Erfolge nicht verhindert worden wären, wobei dies ja gerade die Fälle gewesen sein könnten, in denen besonders schwerwiegende Folgen eingetreten sind. Hinsichtlich der Zwischenhändler und im Vertrieb tätigen Personen lässt sich die fehlende Zurechung noch mit der aufgezeigten Rechtsregel überwinden. Leider hat Puppe, soweit ersichtlich, aber nicht im konkreten Fall dazu Stellung genommen, wie die „Zurechnungslücke“ im Hinblick auf die konkrete Verbraucherentscheidung überwunden werden kann. Hinsichtlich der Produkte, die sich bereits bei den Verbrauchern befunden haben, lehrt die Erfahrung, dass eine Rückrufaktion – etwa durch Zeitungsannoncen oder Rundfunkmitteilungen, aber auch durch Anschreiben, wie etwa im Automobilbereich – selbst bei hohen Benutzungsrisiken nur in einem Bruchteil der Fälle beachtet wird. Eine Begründung mit Risikoerwägungen würde demnach allenfalls bei einer dem Individualstrafrecht fremden Gesamtbetrachtung, nicht jedoch bei der an sich gebotenen rechtsgutsbezogenen Sichtweise in Frage kommen.42 Trifft es deshalb zu, dass zwar ein pflichtgemäßes Verhalten der Zwischenhändler, nicht aber der Verbraucher selbst unterstellt werden kann, weil eine Regel, jeder handle in eigenen Obliegenheiten vernünftig, normativ nicht zu begründen ist? Tatsächlich scheint mir dies das zutreffende Ergebnis zu sein. Wird die erforderliche Kausalität nur im Wege einer hypothetischen Betrachtung ermittelt43, dann entspricht das Gebot, zur Rettung des bedrohten Rechtsguts zu handeln, auch wenn die Möglichkeit bestehen sollte, dass Dritte durch ihr pflichtwidriges Verhalten den rettenden Kausalverlauf unterbrechen, dem Sinn und Regelbild des gesetzlichen Handlungsgebots. Wenn sich im Unterlassensbereich die Kausalitätsprüfung nur auf einen gedachten Verlauf erstrecken kann, über den es keine absolute Gewissheit gibt, weil die gegenteilige Entscheidung des Rechtsgutträgers nicht feststeht und nicht ermittelt werden kann, so dürfen diesem Kausalverlauf zumindest dann normative Kriterien zugrunde gelegt werden, wenn daein „Rückruf“ des Produktes, sondern lediglich eine Warnung der Verbraucher erwartet werden kann. 42 In BGHSt 19, 37 ff. (43) hat der BGH zwar für eine Verurteilung aus § 263 keine „namentliche Feststellung der Geschädigten“ verlangt, hier stand aber zumindest der Gesamtschaden eines Anlagebetruges fest. Man könnte es somit anders als beim Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit vielleicht auch bei der Strafzumessung für unerheblich erachten, welche Anleger konkret betroffen waren. 43 Wobei der Umstand, dass in Zweifelsfällen, etwa bei Tod der Skifahrer im Lawinenfall, der hypothetische Kausalverlauf nicht aufgeklärt werden kann, für sich genommen noch kein Grund ist, Zweifel contra reum wirken zu lassen; so aber Stratenwerth, in: FS für Gallas (Fn. 36), 233; Puppe, Jura 1997, 410 f. m.w. N.; zu Recht ablehnend Jakobs, AT2 (Fn. 11), 7/101.
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durch der Unterlassungs- nicht schlechter als der aktive Begehungstäter gestellt wird.44 Dem Täter wird hier lediglich vergleichbar dem Begehungstäter im Rahmen des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges die Berufung auf ein rechtswidriges Verhalten Dritter abgeschnitten und er kann sich nicht mit der Behauptung entlasten, dass an seiner Stelle ein anderer (fahrlässig) den Erfolg herbeigeführt hätte. Mit dieser Rechtsregel dürfte damit weder ein Verstoß gegen den Nullumcrimen-Satz noch ein Wandel von Erfolgs- in Gefährdungsdelikte verbunden sein. Die Ungewissheit, wie sich die Verbraucher im Lederspray-Fall hingegen tatsächlich verhalten hätten, kann nicht mittels einer vergleichbaren rechtspflichtbezogenen Zurechnungsregel aufgelöst werden, da eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Risikoübernahme durch das Opfer den Täter im Fall der Begehungstat tatsächlich entlasten würde und jedenfalls unabhängig von dem Streit um die Gesetzmäßigkeit psychischer Abläufe prozessual kein Gegenbeweis erfolgen kann. Insbesondere in Fällen fahrlässigen Unterlassens, in denen auch keine Versuchsstrafe bereit steht, scheint sich mir deshalb nur ein Ausweg anzubieten. Klugheits- oder Obliegenheitsregeln können dann die Kausal- bzw. Zurechnungsbetrachtung ergänzen, wenn eine gesetzliche Vorkonturierung eigenüblicher Sorgfalt erfolgte. So könnte beispielsweise in Fällen der Kursmanipulation die Feststellung genügen, dass sich der typische Adressat eines bestimmten Wertpapiers bei vollständiger Aufklärung gegen einen Kauf entschieden hätte,45 da hier umfangreiche normativen Vorgaben bestehen, über welche Umstände aufzuklären ist. Ob hingegen etwa § 5 I Nr. 1c GPSG eine ausreichende normative Grundlage für eine normative Zurechnung und Bildung einer Obliegenheitsregel bildet, könnte angesichts dessen offener Formulierung zumindest in Frage gestellt werden. Jedenfalls dürfte sich gezeigt haben, dass im Unterlassungsbereich bei psychischer Kausalität entsprechende Zurechnungsregeln immer zugleich pflichtund damit auch täterschaftsbegründenden Charakter haben können. Umgekehrt könnte dann aber vielleicht auch gerade die Frage nach einer Normativierung der Opferobliegenheit einen Ansatz zur Konturierung der von Puppe so trefflich diskutierten Obliegenheits- und Klugheitsregeln und ihrer Verbindung mit der Hypothese rechtmäßigen Verhaltens bieten.
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Vgl. auch Bosch, Organisationsverschulden (Fn. 2), 105 ff. And. Bernsmann, in: FS für Richter II, 2006, 54 f.
Die Analyse der Formen oder die Analyse der Deliktsformen, insbesondere des Versuchs Von José de Faria Costa I. Einleitung Das portugiesische Strafgesetzbuch1 behandelt in Kapitel 2 des 2. Titels des 2. Buches die „Deliktsformen“.2 Diese Kapitelbezeichnung muss, neben ihrem bloßen Namen, auch einen strafrechtlichen Inhalt haben.3 Diesen zu ermitteln, soll der Hintergrund des folgenden Beitrags sein, in dem auch die Analytik eine wichtige Rolle spielen wird. Denn selbst wenn das Strafrecht als Disziplin von der praktischen Vernunft geleitet wird, so wird, zur Erklärung was ein Delikt ist, auch auf Argumente zurückgegriffen, die in Bezug auf die verschiedenen Deliktsformen entwickelt werden. II. Was sind Formen? Die Alltagssprache – d.h. die Sprache, die als erstes in der rechtswissenschaftlichen Analyse4 betrachtet werden soll – zeigt sehr deutlich, wie wichtig die Be1
Im Weiteren als port. StGB abgekürzt. Das gesamte 2. Kapitel (Deliktsformen) besteht aus nur 10 Artikeln (von Art. 21 bis Art. 30 des port. StGB), die allerdings von entscheidender Bedeutung für die allgemeine Verbrechenslehre sind. 3 Das port. StGB ist das einzige StGB, berücksichtigt man diejenigen, die miteinander vergleichbar sind, das im selben Kapitel – Deliktsformen – Vorbereitung, Versuch, Beteiligung und Konkurrenzen regelt. Das deutsche StGB hat einen ersten Abschnitt über das Strafgesetz (§§ 1 bis 12) und einen zweiten Abschnitt, in dem der Versuch, die Beteiligung usw. geregelt sind. Dieser zweite Abschnitt untergliedert sich in vier Titel: 1 – Grundlagen der Strafbarkeit (§§ 13 bis 21); 2 – Versuch (§§ 22 bis 24); 3 – Täterschaft und Teilnahme (§§ 25 bis 31) und 4 – Notwehr und Notstand (§§ 32 bis 37). Das österreichische StGB hat einen Allgemeinen Teil, der acht Kapitel umfasst. Die „Deliktsformen“ des port. StGB, d.h. Versuch und Beteiligung, werden hier gleich im ersten Kapitel als allgemeine Bestimmungen geregelt. Das schweizerische StGB enthält im zweiten Titel des ersten Abschnitts des Ersten Buches Normen bezüglich der Strafbarkeit des Versuchs (Art. 22 und 23) und bezüglich der Beteiligung (Art. 24 bis 27). Im französischen StGB finden sich im 2. Titel (Die Strafbarkeit) des ersten Buches, welches die allgemeinen Bestimmungen umfasst, die Normen zur Täterschaft (Art. 121-4), zur Teilnahme (Art. 121-6 und 121-7) und zum Versuch (Art. 121-5), insbesondere im 1. Kapitel (Art. 121-1 bis 121-7). Zu guter Letzt behandelt das italienische StGB all diese Probleme im Titel III bei den Regelungen über die Tat (Art. 39 bis 84). 4 Dies könnte als heterodox verstanden werden. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass rechtliche Fragen durch eine spezifisch rechtliche Sprache ausgedrückt, 2
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ziehung zu den Formen ist. Man sagt, dass der Tisch eine runde oder eine quadratische Form hat; dass eine Fußballwiese eine viereckige Form hat; dass die bildliche Repräsentation der DNA schraubenförmig ist; dass das Armeegebäude der Vereinigten Staaten eine pentagonale Form hat; dass die Honigwabe eine hexagonale Form hat; dass die Zuglinien parallel zueinander verlaufen usw. Hieran sieht man, dass die Merkmale alltäglicher Objekte symbolisch durch deren geometrische Formen erfasst und reflektiert werden. Diese geometrische Idee ist sehr eng mit einer anderen, die sich als gemeinschaftliche Überzeugung, gewissermaßen im Gemeinsinn,5 entwickelt hat, verbunden: Die Form der Sachen entspricht ihrer Außenseite. Sie repräsentiert diese lediglich, berührt aber den Inhalt nicht. Trotzdem muss man unterstreichen, dass das portugiesische Recht – oder besser das Zivilrecht vom 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem schließlich das aktuelle Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft getreten ist,6 – einen Fall vorsah, in dem es ganz maßgeblich auf die menschliche Form ankam. Sie sollte nämlich eine wesentliche Voraussetzung für eine bestimmte Fähigkeit, die für die Qualität als Bürger unbedingt erforderlich war, darstellen. Die Form war also entscheidend für die Rechtsfähigkeit. So begann hiernach die Rechtsfähigkeit des Menschen mit seiner Geburt und damit in demjenigen Moment, in dem die „menschliche Figur“7 in Erscheinung trat. Damit war die Form die nötige Voraussetzung der Rechtsfähigkeit eines Menschen. Mittels der Form „menschliche Figur“ war eine Unterscheidung von res und persona8 möglich. verstanden und gelöst werden. Nur eine solche rechtliche Sprache ermöglicht das Verständnis der Rechtswirklichkeit und des Rechts selbst. An dieser Stelle wird jedoch ein anderer Standpunkt vertreten. Die Alltagssprache liefert die Vorgaben für die Rechtswissenschaft als Wissenschaft der praktischen Vernunft. Ob die Alltagssprache schließlich vom Recht für seine Bedürfnisse verwendet wird, ist eine andere Frage. Als Beispiel für eine solche Verrechtlichung der Alltagssprache dient der Begriff der Sache. Dieser wurde vom Zivilrecht in das Strafrecht übernommen und entsprechend der dort bestehenden konzeptuellen und dogmatischen Bedürfnisse eingepasst. Vgl. hierzu Faria Costa, José de Noções Fundamentais de Direito Penal (2. Aufl.), Coimbra, 2009, S. 135 ff. 5 Vom Gemeinsinn handelt die erste Proposition Descartes’ in seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung: le bon sens est la chose du monde la mieux partagé, car chacun pense en être si bien pourvu que ceux qui sont les plus difficiles à contenter en toute autre chose n’ont point coutume d’en désirer plus qu’ils en ont. 6 Das aktuelle portugiesische BGB wurde durch das Gesetz Nr. 47344 vom 25. November 1966 angenommen und ist am 1. Juni 1967 in Kraft getreten. Im Folgenden kurz BGB genannt. 7 Was sich aus den Art. 6, 110 und 1776 des port. BGB ergab. Zur dieser Zeit entsprach es der allgemeinen Auffassung, dass die Rechtsfähigkeit erst mit vollendeter Geburt erlangt werden konnte. Siehe Pires de Lima/Antunes Varela, Anm. Art. 6, in: Código Civil Português (3. Aufl.), Coimbra, 1960, S. 9. 8 An dieser Stelle soll der Frage, warum die „menschliche Figur“ so wichtig ist, näher nachgegangen werden. In diesem Zusammenhang fällt eine sehr starke Parallelität
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Dennoch stellte das soeben angeführte Beispiel stets einen Sonderfall dar, mithin war der Grundsatz der Form nicht verallgemeinerungsfähig. Allein in dem oben dargestellten Fall hat man die überragende Bedeutung der Form anerkannt, zumal die Form hier Ausdruck des Menschseins war. Ging es also um die grundsätzliche Frage nach der Rechtsfähigkeit – oder mit anderen Worten nach einem rechtlich vollkommenen Menschen – so konnten all diejenigen Formen, die nicht klassischen menschlichen Figuren entsprachen, hierfür nicht ausreichend sein. Für die figurative Repräsentation des Menschen konnte also allein die Essenz des Menschlichen maßgeblich sein. Abgesehen von diesem exzeptionellen Beispiel wurde indessen gerade der Unterschied zwischen Form und Substanz vielfältig als wichtiges Argument herangezogen, um zur näheren Charakterisierung der Substanz hervordringen zu können.9 Somit ist es auch nicht schwierig zu verstehen, dass diese Unterscheidung zwischen Form und Substanz auch einen Grund dafür darstellte, dass das Urteil über die Form immer unbedeutender im Vergleich zu dem Urteil über die Substanz wurde. Anders gewendet: Die Fragen hinsichtlich der Form waren durchaus wichtig, aber als von wirklich grundsätzlicher Bedeutung erwiesen sich die Probleme, die sich bei der näheren Analyse der Substanz ergaben.10 Diese Dominanz auf. Obwohl die Auseinandersetzungen über die Repräsentation Gottes – die Figur Gottes – die Geschichte der katholischen Kirche durchziehen, liegt das Schwergewicht auf einer nicht ikonischen Betrachtungsweise. Darf Gott demzufolge als eine Figur mit Gesicht und menschlicher Form dargestellt und repräsentiert werden, ist es fast schon zwingend, dass der Mensch als Gottes Schöpfung ebenso eine menschliche Figur aufweist. Würde man den Mensch nicht als Gottes Schöpfung anerkennen, müsste es etwas anderes geben, was das Menschsein ausmacht. An dieser Stelle wird klar, warum die Figur derart bedeutsam für das Recht ist. Dies zu verleugnen hieße, eine wichtige Schnittstelle zu verkennen, obgleich das Recht schon säkular war. Diese Überschneidung zwischen Kultur und Recht gibt es noch immer. Es gilt hier der Satz „chassez la nature, elle revient au galop“. Freilich könnte die Analyse dieses Problems – was die menschliche Figur ausmacht – entscheidende Antworten geben. So hatte sich eine Auffassung entwickelt, wonach Menschen nur dann als solche anzuerkennen sind, wenn sie mit einer menschlichen Figur geboren werden, und wer eine solche Figur nicht hatte, war ein Monster. Dies wurde dann mit dem Teufel und gerade nicht mit Gott assoziiert. Das Recht konnte freilich etwas Teuflisches nicht anerkennen. Damit wurde die Geburt mit einer menschlichen Figur als etwas Natürliches, gewissermaßen als der Normalfall, angesehen. Und so wurde das Recht – vielleicht sogar ohne sich dessen bewusst zu sein oder dies zu wollen – von diesem religiösen Gedankengut geprägt. 9 Es ist bekannt, dass die Unterscheidung zwischen Materie und Form in Bezug auf Fragen über die Substanz bereits bei Aristoteles auftaucht (Metaphysik [Buch VIII], 3; Physik, I, 9, II, 1) aber auch schon bei Platon, insbesondere in dem Ausdruck eidos, für den morphe nichts mehr als ein abgeschwächtes Synonym darstellt. Siehe Gobgy, Ivan (Hrsg.), Übersetzung ins Italienische: Villani, Tiziana, Vocabulario greco della filosofia, 2004. 10 Obwohl bei Platon die Ideenlehre grundsätzlicher Natur ist: The theory of forms is probably the most characteristic, and most contested of the doctrines of Plato (. . .). In escaping from this impasse Plato attempts to present a way in which the forms of things are intelligible but abstract shared features, in: Blackburn, Simon, Oxford Dictionary of Philosophy, Oxford, 1994, S. 143. Und in den Worten von Nicholas Dent: The comple-
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der Substanz über die Form war und ist noch immer Teil aller Überlegungen und Weltanschauungen, insbesondere im kontinentalen Gedankenraum im Gegensatz zum angelsächsischen Gedankenraum.11 Und noch eine Überlegung soll in diesem Zusammenhang nicht außer Acht bleiben. Es ist bekannt, dass die Form – oder mit anderen Worten ein Formalismus – in der Rechtswissenschaft sehr wichtig ist. Als Beispiele hierfür seien nur die Abhängigkeit der Wirksamkeit eines Kaufvertrages von der Schriftform sowie einer notariellen Beurkundung (Art. 850 des portugiesischen BGB), die formellen Anforderungen an ein Testament (Art. 2204 bis 2223 des portugiesischen BGB) sowie das Erfordernis der Schriftform und der notariellen Beurkundung bei Gründung einer Vereinigung oder einer Stiftung (Art. 168 Nr. 1 und 185 Nr. 3 des portugiesischen BGB) genannt, wobei noch eine Vielzahl anderer Beispiele aufgeführt werden könnte. Auch wenn man auf das Strafverfahrensrecht blickt, wird die Wichtigkeit der Einhaltung bestimmter Formen recht schnell deutlich. So ist beispielsweise ein Urteil nichtig, wenn es nicht alle Voraussetzungen von Art. 374 Nr. 2 und Nr. 3 b der portugiesischen Strafprozessordnung12 erfüllt. Das gesamte Gebiet des Verfahrensrechts – sowohl zivil- als auch strafrechtlich – zeichnet sich durch eine starke Bindung an formelle Elemente aus. Obwohl dies allgemein bekannt ist, ist die formelle Analyse rechtlicher Probleme vollends in den Hintergrund getreten. Dies stellt sich als Folge eines stark ausgeprägten Positivismus dar, der so extrem war, dass das reale Leben, der Alltag, gar keinen Platz mehr fand. Diese Gleichgültigkeit des Positivismus gegenüber dem wirklichen Leben führte zu einem Vordringen von Fragestellungen, die sich, à tort et à travers, mit der Substanz, der materiellen Seite, von Problemen beschäftigen. Einerseits ist dies sinnvoll, ist doch die Suche nach materieller Gerechtigkeit der ideale Ausgangspunkt für die Lösung eines konkreten Problems. Dennoch darf andererseits nicht verdrängt werden, dass analytische Genauigkeit und konzeptuelle Präzision – die nicht mit Formalismus oder normativem Positivismus verwechselt werden dürfen – grundsätzliche Elemente des Rechts sind, damit das Recht auch gutes Recht ist. III. Die Strafrechtswissenschaft und die Perfektion Es ist allgemein bekannt, dass sich jede Wissenschaft durch Konzepte und Kategorien organisiert. Diese Konzepte und Kategorien streben weitestgehende Permentary notions of form and matter are wholly central to the metaphysical theories of Plato and Aristotle, indeed to all ancient and modern metaphysical inquiry, in: „voce“ form and matter, Honderich, Ted (ed.), The Oxford Companion to Philosophy, Oxford, 1995, S. 288. 11 Zu „analytischer Philosophie“ und „kontinentaler Philosophie“ siehe Ferrari, Massimo, L’empirismo logico nel suo contesto, in: Rivista di filosofia, XC, 1999, S. 131. 12 Im Folgenden als StPO abgekürzt.
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fektion an. Dieses Ideal (das von so vielen Wissenschaften und auf so vielen Gebieten des Denkens angestrebt wird, wie z.B. die ästhetische Perfektion, die moralische Perfektion, die perfekte Stadt usw.13) hat stets die rechtliche und insbesondere die strafrechtliche Dogmatik beeinflusst. Dies wird deutlich, wenn man die Idee von der perfekten Norm (lex perfecta) betrachtet. Das Recht muss sich durch Normen ausdrücken und diese Normen sollten perfekt aufgebaut werden.14 An dieser Stelle lässt sich Binding anführen. So liegt nach Binding die Norm einem Ge- oder Verbot, welches im ersten Teil eines Strafgesetzes als Befehl verstanden werden soll, zugrunde.15 Darüber hinaus kommt er zu der Schlussfolgerung, dass alle Strafgesetze das Delikt als Übertretung einer außer ihnen liegenden Norm anerkennen.16 Insbesondere in Bezug auf die lex imperfecta – eine Rechtsnorm ohne Rechtsfolge – erkennt Binding an, dass eine Norm nicht unbedingt ein Strafgesetz zur Folge haben muss. In diesem Sinne legt er verschiedene Möglichkeiten der Verwertung von Normen in den Strafgesetzen dar:17 a) eine Norm, ein Strafgesetz; b) eine Norm, mehrere Strafgesetze;18 c) eine Norm, alternative Strafgesetze; d) mehrere Normen, ein Strafgesetz; und e) mehrere Normwidrigkeiten, ein Verbrechen. Darüber hinaus soll an dieser Stelle ein weiterer Gedankengang, der seinen Ursprung in der deutschen Strafrechtswissenschaft nimmt, aufgegriffen werden. Vor wenigen Jahren hat Jakobs ein Beitrag verfasst, in dem er die Auffassung vertreten hat, dass der Versuch einen perfekten Normbruch darstellt.19 Der Normbruch soll im Sinne des Täterverhaltens bezüglich der Norm verstanden werden. Und so ist für den Bonner Strafrechtler ein Delikt (. . .) immer schon vollendet, wenn diejenigen Tatbestandsmerkmale, die der BT nennt, in einem zurechenbaren Zusammenhang verwirklicht sind (. . .). Vollendung ist also ein formeller Begriff, der über eine Gutsverletzung nichts aussagt.20 Also, Strafgrund des Versuchs ist das Expressiv-Werden eines Normbruchs, und zwar beim Versuch im materiellen Sinn in einem externen Verhalten, beim Versuch im nur-formellen 13 Interessant ist, welche Rolle Utopien in den verschiedenen Wissenschaften spielten und noch immer spielen. 14 Zu der Unterscheidung von Normen nach den Kategorien perfekt/imperfekt siehe Baptista Machado, J., Introdução ao estudo do direito, Coimbra, 1983, S. 95 ff. 15 Binding, Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, Bd. 1 (4. Aufl.), 1922, S. 45. 16 Binding (Anm. 15), S. 70. 17 Binding (Anm. 15), S. 196 ff. 18 Binding (Anm. 15), S. 194: Der Gesetzgeber bezeichnet dadurch die Normwidrigkeiten, welche Strafe verdienen oder nicht verdienen, und er fixiert die Stufen der Strafbarkeit, worauf die Verbrechen stehen. 19 Jakobs, Rücktritt als Tatänderung versus allgemeines Nachtatverhalten, in: ZStW 104 (1992), S. 82 ff. 20 Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre (2. Aufl.), 1993, S. 705.
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Sinn in einem positivrechtlich für extern erklärten Verhalten.21 Trotzdem wurde diese Eindruckstheorie Jakobs’ zunehmend kritisch betrachtet,22 denn ein unbestimmter angeblich rechtserschütternder Eindruck eines Geschehens kann nicht Grund für die Strafbarkeit dieses Geschehens sein, sondern nur Folge von Strafunrecht, das aber gerade erst zu bestimmen ist.23 Folglich ist der Versuch die Verletzung eines Rechtsverhältnisses durch eine Person: Das Unrecht des Versuchs und damit der Grund für seine Strafbarkeit ist gedanklich zurückzuführen auf ein vorgängiges Verständnis vom Zusammenhang der Person mit dem Recht, in dem sie lebt: Der einzelne konstituiert die Rechtswelt durch sein eigenes praktisches Verhalten mit (. . .). Damit kann einsichtig gemacht werden, dass es von rechtlichem (. . .) Gewicht ist, wenn eine Person zur Verletzung übergeht, auch wenn es nicht zur Vollendung kommt.24 Folgt man diesen Gedanken, erkennt man damit zugleich die Existenz nicht perfekter Normen an. Insoweit wird auch unsere Zivilisation reflektiert: Menschen wollen immer Perfektes haben, selbst wenn sie sich selbst nicht als perfekt wahrnehmen. Ist dies nun der Befund aus onto-anthropologischer Sicht, kann es im Recht und insbesondere im Strafrecht nicht anders sein. Von diesem Fakt wird vorliegend ausgegangen. IV. Die Perfektion und der Versuch In der Strafrechtswissenschaft besteht Einigkeit, dass bei der Beschäftigung mit den Deliktsformen der Versuch der entscheidende Maßstab ist. Hieran soll freilich auch nicht gezweifelt werden, wenngleich ein anderer Blickwinkel eingenommen werden soll. Es geht aber nicht darum, dass der Versuch nicht der Maßstab sein soll, sondern eher um die Art und Weise, wie der Versuch in das System von perfekt und nicht perfekt einzupassen ist. In diesem Zusammenhang sollte Folgendes bedacht werden: Ein Abstellen auf Perfektion ist insoweit problematisch, als dass die Strafrechtswissenschaft – wie jedes andere Rechtsgebiet auch – eine Wissenschaft der praktischen Vernunft ist, in der alles – und dies liegt in der Natur der Sache – „imperfekt“ ist. Die normativen Wissenschaften sollten – auch wenn sie sich innerhalb einer abstrakten Welt bewegen – vermeiden, eine moralisch geprägte Sprache zu benutzen.25 In der Wissenschaft – auch 21
Jakobs, Strafrecht (Anm. 20), S. 713. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (1. Aufl.), 1997, S. 454 ff., Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil (4. Aufl.), 2002, § 15 Rn. 40 ff. und Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, Berlin, 1998, S. 137 ff. Siehe auch Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, Berlin, 1989, S. 21 ff. 23 Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch (2. Aufl.), 2005, § 22 Rn. 11. 24 Zaczyk, (Anm. 23), § 22 Rn. 12 und auch Zaczyk, Das Unrecht (Anm. 22), S. 194 ff. und 231 ff. 22
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in den normativen Wissenschaften – gibt es niemals Perfektion, sondern nur konzeptuelle Berichtigung und Genauigkeit. Analysiert man die wichtigsten Autoren der portugiesischen Strafrechtswissenschaft seit dem 2. Weltkrieg (wie Cavaleiro de Ferreira, Eduardo Correia und Figueiredo Dias), so können deren Ansätze auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: Normen, die das vollendete Verbrechen erfassen, sind Ausdruck perfekter Normen, während solche, die den Versuch betreffen, als Ausdruck von „Unvollkommenheit“ (Imperfektion) angesehen werden.26 Die Versuchsstrafbarkeit soll durch eine Verlängerungsnorm27 erreicht werden. Dies sind also zusammengefasst die Erkenntnisse, die der spezifischen Deliktsform des Versuchs zugrunde liegen.28 Insoweit zeigt die Versuchsstrafbarkeit – und damit ein Eingreifen des Strafrechts auch in anderen Fällen als einem vorsätzlich begangenen Verbrechen – auf, dass durch das Strafrecht auch andere Interessen und Werte geschützt werden. Ein solches Verbrechen ist – etwas radikal und vereinfacht ausgedrückt – der Kanon von der Perfektion im Strafrecht.29 Darüber hinaus darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Strafrechtswissenschaft auf eine Spra25 Die Perfektion ist grundsätzlich ein moralisches Konzept bzw. eine moralische Kategorie, die andere Bereiche kontaminiert. Eine solche Kontamination soll nicht als etwas Böses angesehen werden, wenngleich man sich ihrer bewusst sein muss. 26 Imperfektion, die sich auch in Perfektion verwandeln kann, wenn nur der Blickwinkel geändert wird. Bei Cavaleiro de Ferreira wird dies besonders deutlich, wenn er davon ausgeht, dass der Versuch perfekt oder imperfekt sein kann, was Grund zu weiteren Überlegungen gibt. Vgl. hierzu auch Anm. 28. 27 Verlängerungsnorm, die die italienische Strafrechtswissenschaft stark unterstreicht. Marinucci und Dolcini stellen deutlich heraus: Chi cerca di uccidere una persona, ma non riesce (ad es., spara, ma non colpisce la vitima) non incorrerebe in alcuna responsabilità penale. Per punirlo c’è bisogno della presenza nell’ordinamento di una norma che estenda la responsabilità anche a chi tenta senza riuscirvi di realizzare un fatto delittuoso. Vgl. Marinucci, Giorgio/Dolcini, Emilio, Manuale di Diritto Penale, 3. Aufl., Milan, 2009, S. 373. 28 Cavaleiro de Ferreira, zum Beispiel, drückt sich so aus: Das Gesetz erkennt als allgemeine Regel an, dass nur die vollendete Tat strafbar ist. Der Versuch, sowohl perfekt als auch imperfekt, ist nur in besonderen Fällen strafbar (Übers. des Autors). Vgl. Cavaleiro de Ferreira, Manuel, Lições de Direito Penal, 4. Aufl., Lissabon, 1992, S. 393. Auch Eduardo Correia unterstreicht in Bezug auf den Versuch diese Idee von der Verlängerung: es könne Handlungen geben, die wegen ihrer Verletzungsgefahr auch unter die Strafbarkeitsverlängerung des Versuchs fallen (. . .). Die Strafbarkeit des Versuchs bedeutet immer eine exzeptionelle Verbreitung des tradierten Strafbarkeitsrahmens (Übers. des Autors). Vgl. Correia, Eduardo, Direito Criminal, Bd. II, Coimbra (Neudruck 1966), 2000, S. 229 und 231. Sehr interessant ist die Art und Weise wie sich Figueiredo Dias ausdrückt: Statt „Imperfektion“ benutzt er „Mangel“, um die Imperfektionen zu bezeichnen. Siehe Figueiredo Dias, Jorge, Direito Penal. Parte Geral, Bd. I, 2. Aufl. Coimbra, 2007, S. 684. 29 An dieser Stelle soll die rechtliche Komplexität, die diese Perfektion verursacht, nur angerissen werden. Die Norm, die das Unrecht definiert, ist perfekt, aber das Objekt dieser Perfektion ist Ausdruck der Imperfektion, des Bösen. Mit Hilfe einer rationalen Herangehensweise kann durch ein Abstraktionsverfahren das Imperfekte in etwas Perfektes verwandelt werden. Der Wandel vom Imperfekten zum Perfekten gäbe Anlass
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che voller moralischer Bezüge zurückgreift.30 Spricht man also von iter criminis, so wird hier ein plastischer Ausdruck ins Feld geführt, der letztlich nichts mehr als den Weg zur Perfektion illustriert. Ausgehend von der nuda cogitatio über die Vorbereitungshandlungen31 bis zur vollendeten Tat stellt sich also eine Abfolge dar, die innerhalb einer subliminalen Logik zu einem Moment der „Perfektion“ hinführt. An einer solchen Denkweise ist nichts auszusetzen. Allerdings muss man sich die Ausgangsfrage verdeutlichen, nämlich das Problem einer Parallele zwischen moralischer Perfektion und rechtlich-normativer Perfektion. Dies aufzuzeigen und so sicherzustellen, dass hervorgebrachte Ergebnisse dieses Problem nicht verkennen, ist Aufgabe der Strafrechtswissenschaft. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass verschiedene „Perfektionen“ gefunden werden können. Die Aufgliederung nicht nur des portugiesischen Strafgesetzbuchs in einen Allgemeinen Teil (AT) und einen Besonderen Teil (BT) hat ihren Ursprung – als Relikt der Aufklärung – im 19. Jahrhundert und ihren Höhepunkt in der Kodifikation gefunden.32 Dies bedeutet aber auch, dass andere Modelle mit gleichem Ergebnis ebenso möglich sind und eine ebensolche Perfektion innehaben können. Hieraus folgt auch, dass nur dann bestraft werden kann – insbesondere aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips – wenn die Handlung all diejenigen Tatbestandsmerkmale, die im BT für ein verbotenes Handeln vorausgesetzt werden, verwirklicht. Dann liegt eine Vollendung vor und in der „Logik der perfekten Normen“ entspricht dies einer perfekten Norm. Der Gesetzgeber definiert Handlungen und erfasst sie in Tatbeständen. Aus diesem Grund ist es erforderlich, sich mit dieser Frage näher auseinanderzusetzen. Als Beispiel soll hier der Totschlag dienen. Wenn der Gesetzgeber im BT (Art. 131 des port. StGB) den Totschlag definiert – was macht er? Er definiert lediglich die vollendete strafbare Handlung. Aber man leitet aus diesem Tatbestand ab, dass ebenso die versuchte Tatbestandsverwirklichung bestraft werden soll. Also ist sowohl die vorsätzliche und fahrlässige rechtswidrige Tötung eines Menschen als auch die vorsätzliche und
zu weiteren vertieften Untersuchungen, die den Rahmen des vorliegenden Textes allerdings sprengen würden. 30 Siehe Anm. 25. 31 Gemäß Art. 21 des port. StGB sind Vorbereitungshandlungen nicht strafbar, es sei denn, es ist etwas anderes gesetzlich bestimmt. Was soll das rechtlich bedeuten? Das Gesetz geht davon aus, dass Vorbereitungshandlungen nur dann strafbar sind, wenn sie tatbestandlich erfasst werden. Allerdings gilt dies für sämtliche Handlungen. Gerade hierin zeigt sich der Wert der Norm zur Verhinderung einer uferlosen Strafbarkeit. Zugrunde liegt die Idee, dass jedes Verbrechen mit einer nuda cogitatio anfängt und das Stadium der Vorbereitungshandlungen durchläuft. Dies führt dazu, dass der Versuch gewissermaßen als Zwischenform, als etwas Imperfektes, verstanden wird. 32 Über die Beziehungen zwischen AT und BT siehe Faria Costa, José de, Relações entre a Parte Especial e a Parte Geral do Código Penal, in: Boletim da Faculdade de Direito, vol. 71 (1995), S. 117 ff.
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fahrlässige rechtswidrige versuchte Tötung eines Menschen strafbar. Das entspricht dem Willen des Gesetzgebers, aber wie ist dieses Ziel am besten zu erreichen? Sollen beide – die vollendete und die versuchte Handlung unter Strafe gestellt werden? Man könnte meinen – und früher wurde dies tatsächlich so gehandhabt – dass der Gesetzgeber zwei verschiedene Normen – eine für die vollendete Erfolgsherbeiführung und eine für die versuchte – schaffen würde. Der Gesetzgeber könnte eine dem aktuellen Art. 131 des port. StGB ähnliche Vorschrift mit dem Inhalt, „wer einen anderen Menschen zu töten versucht, wird mit einer Freiheitsstrafe X bestraft“, schaffen.33 Eine solche Regelung würde der Gesetzgeber immer dann schaffen, wenn er die versuchte Erfolgsherbeiführung für strafwürdig hält. Mittels eines rationell-illuministischen Modells und der Trennung des AT vom BT kommt man mit viel weniger Aufwand zum gleichen Ergebnis.34 Dennoch wird die Realität nicht dadurch abgeändert, dass das StGB einen AT hat. Der richtigen Lösung wird lediglich durch eine systematische Gliederung der Weg geebnet. Der Versuch, die Erscheinungen der Straftat mithilfe eines abstrakten Allgemeinen Teils zu verstehen, ist lediglich ein möglicher Weg, aber bei weitem nicht der Einzige. Genau deswegen ist der Versuch nicht als minus einer Vollendung anzusehen, schließlich gibt es darüber hinaus noch eine materielle Seite, die nicht vernachlässigt werden darf. Zusammengefasst stellt sich nämlich die Frage, wann eine Handlung in einem demokratischen Rechtsstaat bestraft werden soll. Der Gesetzgeber legt mit den einzelnen Tatbestandsmerkmalen diejenigen Handlungen oder Handlungsabläufe fest, die die Gesellschaft für strafbar erachtet; die vollendeten Rechtsgutsverletzungen genauso wie die versuchten. Insoweit gibt es keinen Unterschied zwischen Vollendung und Versuch. Darüber hinaus müssen – damit eine Handlung strafbar ist – bestimmte Voraussetzungen vorliegen, die Absichts- und Erfolgsunwert der Handlung bestimmen. Insoweit muss aber im Einzelfall keine vollständige Übereinstimmung von Absichts- und Erfolgsunwert vorliegen. Vielmehr reicht es für eine Strafbarkeit aus, wenn einzelne Handlungen diese Elemente nur teilweise in sich tragen. Und so reicht es für einen strafbaren Versuch aus, wenn Absichtsunwert ohne Erfolgsunwert vorliegt, während für eine Fahrlässigkeitstat Erfolgsunwert ohne Absichtsunwert vorliegen kann. Dennoch sind diese Deliktsformen im Vergleich zum vollendeten Delikt nicht mehr und auch nicht weniger „perfekt“.
33 Man darf nicht vergessen, dass es so etwas bereits hinsichtlich bestimmter Personen, die aufgrund ihrer Amtsfunktionen den Staat verkörpern, gibt. Genau das ist im Art. 327 des port. StGB (Nötigung von Verfassungsorganen) verkörpert. 34 Wenn es diese Trennung nicht gäbe, würde es auch keinen AT oder BT geben. Es würde nur Tatbestände geben, in denen alles bezüglich Versuch, Konkurrenzen, Beteiligung zusammen geregelt sein müsste.
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Die Strafrechtsordnung definiert – in Abhängigkeit von der jeweiligen Epoche – einen bestimmten abstrakten Rahmen mit einem Maximum und einem Minimum des jeweils für eine Strafbarkeit erforderlichen Absichts- und Erfolgsunwertes.35 Die nicht arithmetische Summe dieser beiden Werte stellt dann das vollendete Delikt dar. Innerhalb dieses vorgesteckten Rahmens zwischen den festgelegten Extrempunkten gibt es eine Vielzahl von Fallgestaltungen. Und so befindet sich auch der Versuch innerhalb dieses Rahmens. Aus diesem Grund soll der Versuch denselben normativen Status wie die Vollendung haben. Zwar sind Versuch und Vollendung verschiedene Erscheinungen der Straftat, da diese in beiden Varianten in unterschiedlicher Intensität erscheint, aber dennoch befinden sich beide Erscheinungsformen innerhalb desselben, von der nicht arithmetischen Summe von Absichts- und Erfolgsunwert abgesteckten Rahmens. Und weil sich in dieser Summe die unterschiedliche Intensität widerspiegelt, sind auch die Strafrahmen jeweils unterschiedlich. V. Die Relevanz versuchter Taten: normative Referenten Sämtliche Ausführungen und Überlegungen, seien sie noch so korrekt und logisch, würden nichts nützen, wenn sich hieraus keine Rechtsfolge ableiten ließe. Der analytische Systemumbau hat meiner Auffassung nach nur dann Sinn, wenn das Sein-Sollen – und das wird schließlich durch das Recht verkörpert – auch tatsächlich eingepasst werden kann. An dieser Stelle soll Art. 38 Nr. 4 des port. StGB herangezogen werden: Ist die Einwilligung dem Täter nicht bekannt, wird er mit der für den Versuch vorgesehenen Strafe bestraft. Hier soll nicht die Frage der Angemessenheit dieser gesetzgeberischen Lösung aufgeworfen werden. Es soll lediglich die Norm näher betrachtet werden. Ein Aspekt ist insoweit selbstverständlich:36 der Strafrahmen für eine Handlung, die von einer dem Täter unbekannten Einwilligung gedeckt ist, entspricht dem des Versuchs. Es wird also deutlich, dass es nach Auffassung des Gesetzgebers normativ sinnvoll ist, eine solche Handlung, deren Erfolgsunwert durch die Einwilligung ausgeblendet werden kann, so dass lediglich der Absichtsunwert verbleibt, dennoch zu bestrafen. Hierfür greift der Gesetzgeber nicht auf die normative Struktur der Vollendung, sondern auf die der versuchten Taten zurück. Der normative Referent für die Bestrafung einer solchen vollendeten Tat – hierin zeigt sich, dass es auch „imperfekte“ vollendete Taten gibt – ist die völlig eigenständige normative Struktur des Versuchs. Aber die Autonomie des Versuchs zeigt sich nicht nur in dem soeben genannten Artikel. Betrachtet man Art. 24 des port. StGB – die Regelung über den 35
Dieser Rahmen darf nicht mit dem abstrakten Strafrahmen verwechselt werden. Der Verfasser hat keine Scheu vor dem „selbstverständlich“, obwohl freilich stets Vorsicht angebracht ist, will man etwas als selbstverständlich betrachten. An dieser Stelle scheint es jedoch tatsächlich selbstverständlich zu sein. 36
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Rücktritt – kann man ebenso zu dem Befund einer Autonomie des Versuchs kommen. Die versuchten Taten haben ihren eigenen Unwert (Unwert hier im Sinne der Summe aus Erfolgs- und Absichtsunwert, wie dies oben bereits dargelegt wurde). Der Gesetzgeber bringt so zum Ausdruck, dass der Versuch unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich dass der Täter freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert oder trotz Vollendung zumindest den Eintritt sonstiger – nicht tatbestandsmäßiger – Nachteile verhindert, nicht mehr strafbar ist. An dieser Stelle zeigt sich sehr deutlich, dass der Versuch die grundsätzliche normative Struktur der Straftat aufzeigt. Die Vollendungsverhinderung ist lediglich conditio für den Ausschluss der Strafbarkeit. Und so ist auch die Vollendung, mithin dasjenige Element, welches für die „Perfektion“ kennzeichnend sein sollte, selbst lediglich eine conditio. Dennoch gibt es eine Norm, die scheinbar die Autonomie des Versuchs in Frage stellt. Gemäß Art. 23 Nr. 3 des port. StGB ist die Strafe für den Versuch – ausgehend vom Strafrahmen des vollendeten Delikts – lediglich zu mildern. Damit scheint das Gesetz auf den ersten Blick davon auszugehen, dass der Ausgangspunkt für die Bestrafung des Versuchs der Strafrahmen des vollendeten Delikts sein soll. Schaut man indessen genauer hin, ergeben sich auch andere Verständnismöglichkeiten. Man kann das Gesetz nämlich auch so verstehen, dass es sich bei dem Verweis auf den Strafrahmen des vollendeten Delikts lediglich um ein Mittel, Verkomplizierungen des Gesetzes zu vermeiden, handelt. Zwar kann man die tradierte Auffassung von der Struktur des port. StGB in dieser Weise begründen, ändert man allerdings den Blickwinkel, gerät diese Begründung ins Wanken. Betrachtet man nämlich Art. 23 Nr. 2 zusammen mit Art. 72 und 73 des port. StGB (Besondere gesetzliche Milderungsgründe), zeigt sich, dass die Verweisung der Versuchsregelungen auf den Strafrahmen der vollendeten Delikte allein der oben bereits dargestellten Gesetzesvereinfachung geschuldet ist und aus diesem Grund die Autonomie des Versuchs gar nicht in Frage stellt. Dies kann anhand eines einfachen Beispiels deutlich gemacht werden: Der Mond dreht sich um die Erde und dennoch ist er autonom. Würde der Mond verschwinden, hätte dies – und das ist allgemein bekannt – negative Folgen für die Erde. Die Tatsache, dass zwischen einzelnen Bereichen eine wechselseitige Abhängigkeit besteht – so wie dies auch innerhalb der Rechtswissenschaften der Fall ist – steht einer Autonomie dieser einzelnen Bereiche nicht entgegen. Es war Anliegen dieses kritischen Textes, der zu Ehren Ingeborg Puppes verfasst wurde, Möglichkeiten einer neuen dogmatischen Ausrichtung des port. StGB aufzuzeigen. Hierbei wurde eine methodische Arbeitsweise zugrundegelegt, wie sie die Verehrte, als eine der wichtigsten Strafrechtler(innen) im heutigen europäischen Strafrechtsraum, selbst häufig angewandt hat.
Betrachtungen zur Konkurrenzlehre im Strafrecht* Von Jorge de Figueiredo Dias Verschiedene Gründe haben mich zur Wahl des vorliegenden Themas bewegt, über das ich im Folgenden einige Betrachtungen anstellen möchte. Zunächst einmal liegt hier geradezu ein Paradebeispiel für die engen Beziehungen vor, die seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – und glücklicherweise bis zum heutigen Tag – zwischen der deutschen und der portugiesischen Strafrechtswissenschaft bestehen. Die Frage der Konkurrenz von Straftaten stellte sich der portugiesischen Strafrechtsdogmatik und Strafjustiz historisch gesehen unter dem Blickwinkel dieser Beziehungen. Doch zugleich liegt hier der seltene Fall einer Entwicklung vor, in deren Verlauf eine anfangs im Zeichen der Übereinstimmung erwachsene Theorie derart unterschiedliche Ausprägungen in Deutschland und Portugal erfuhr, besonders durch die gesetzgeberischen Maßnahmen im Zuge der Neufassung des portugiesischen StGB im Jahr 1982. Es stellt sich daher die lohnende Aufgabe, den Gründen für diese Entwicklung nachzugehen. Darüber hinaus jedoch erblicke ich ferner in den klugen und durchdringenden Gedanken der am heutigen Tage geehrten Ingeborg Puppe ganz wesentliche Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung des bis vor kurzem im portugiesischen Strafrecht vorherrschenden Denkens, hin zu gerechteren und adäquateren Lösungen. Ich hoffe nun, dass die nachfolgenden bescheidenden Betrachtungen unserer Jubilierten zu einer angenehmen Lektüre gereichen werden. I. 1. Ich beginne mit einer schlichten Feststellung: Das strafrechtliche Problem der Konkurrenz ergibt sich im Wesentlichen aus dem – durch die Sachlage selbst nicht vorgegebenen – Umstand, dass in den meisten Rechtsordnungen nicht jede Einzelstraftat im Rahmen eines eigenständigen Strafverfahrens gewürdigt wird. Vielmehr gebieten Gerechtigkeitserwägungen, praktische Motive der Prozessökonomie sowie Zweckdienlichkeit, den Angeklagten mit einer einzigen Strafe zu belegen, dass über mehrere von derselben Person verübte Straftaten im Rahmen eines einzigen Verfahrens zu befinden ist. An dieser Stelle, wo es sich um die „umfassende Tat“1 beziehungsweise das Gesamtverhalten des vor Gericht stehenden Angeklagten handelt, erhebt sich die Frage der „Konkurrenz von Straftaten“. * Übersetzung aus dem Portugiesischen von Andreas Anthony Isenberg.
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Es ist daher – vor allem im Hinblick auf die angezeigte spezifische Behandlung der Rechtsfolgen, insbesondere des Strafmaßes – unbedingt festzulegen, wann und unter welchen Voraussetzungen und Umständen eine Konkurrenz von Straftaten vorliegt. Zu Beginn ist festzuhalten, dass die Frage nicht nach allgemeinen Prinzipien (und noch viel weniger durch apriorische Festlegungen) ontologischer oder erkenntnistheoretischer Art entschieden werden kann. Hier wie in so vielen anderen Punkten unserer Wissenschaftsdisziplin können jene Betrachungsweisen natürlich nicht als völlig gegenstandslos verworfen werden. Aber es handelt sich hier unabweisbar um eine spezifisch strafrechtliche und kriminalpolitische Problematik, die nach methodologischen Grundsätzen abgewogen werden muss, die der Strafrechtsdogmatik eigen sind. Auf verfassungsrechtlicher Ebene ist zunächst zu klären, was unter gleichem Verbrechen (Artikel 29 Abs. 5 der portugiesischen Verfassung) bzw. derselben Tat (Artikel 103 Abs. 3 GG) vor dem Hintergrund des Grundsatzes des ne bis in idem zu verstehen ist. Zu diesem gehören in notwendig verdichteter Form sowohl das Verbot der Doppelbewertung sowie die Forderung nach erschöpfender Würdigung der gesamten dem urteilenden Gericht vorliegenden umfassenden Tat.2 Diese doppelte Implikation basiert zugleich auf der Erkenntnis, dass die Begriffe „Verbrechen“ bzw. „Tat“ der beiden vorgenannten Verfassungsgesetze sich auf ein und dieselbe juristische wie tatsächliche, strafrechtlich relevante Realität beziehen: Es gibt keine anderen Verbrechen oder Straftaten als jene, die in der strafrechtlichen Gesetzgebung als solche ausgewiesen werden. Auf der Ebene des strafrechtlichen Verfahrensrechts ist praktisch unbestritten, dass die Frage der Konkurrenz für den Umfang der Rechtskraft des Urteils sowie der richterlichen Erkenntnisgewalt von entscheidender Bedeutung ist und damit auch für die sowohl theoretisch wie praktisch höchst relevante (und bislang noch unerreichte) präzise begriffliche Definition des Verfahrensgegenstandes. Auf strafrechtlicher Ebene ist die vorliegende Thematik von Bedeutung für die theoretische wie praktische Bestimmung dessen, was unter „Verbrechen“ im allgemein-dogmatischen Sinn der Straftat zu verstehen ist. Von ganz entscheidender Bedeutung ist die Thematik ferner für die juristischen Konsequenzen der Straftat. Dies vor allem, weil auf kriminalpolitischer Ebene die Frage der Konkurrenz – vom Ergebnis her betrachtet – unmittelbar zum Ausdruck bringt, wie der Gesetzgeber konkurrierende Straftaten bestraft: ob mittels Einheitsstrafe oder Gesamtstrafe, und – bezüglich des Strafrahmens – durch Anwendung des Absorptionsprinzips, Asperationsprinzips oder der Kumulation der Einzelstrafen.3 1 Dieser zutreffende Begriff („grande facto“) stammt von Cristina Líbano Monteiro A pena „unitária“ do concurso de crimes, Revista Portuguesa de Ciência Criminal (RPCC) 2006, 159 ff. 2 So Puppe, NK2, 2005, vor § 52 Rn. 1, 7. 3 Der Inhalt der genannten Konzepte ist sowohl in der deutschen als auch der portugiesischen Rechtswissenschaft alles andere als unumstritten. Für diese s. Eduardo Cor-
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2. In diesem Kontext muss die Intervention des Gesetzgebers im Bereich der Konkurrenz von Straftaten gesehen und bewertet werden, die indessen in Deutschland und Portugal unterschiedliche Formen angenommen hat. Die deutsche Gesetzgebung erwähnt das Phänomen konkurrierender Straftaten an keiner Stelle in den allgemeinen rechtsdogmatischen Regelungen der Straftat, sondern verweist die Problematik insgesamt auf das Gebiet der juristischen Folgen (§§ 52–55 StGB). Der portugiesische Gesetzgeber hat sich in seinem StGB in der Fassung von 1982 ebenfalls für eine Bestrafung konkurrierender Straftaten durch Anwendung einer einzigen Strafe entschieden, die aus einer Kombination von Kumulation der Einzelstrafen und „juristischer Kumulation“ (Art. 77) besteht. Dabei bildet die Summe der Einzelstrafen die Höchstgrenze des Strafrahmens. Der Täter wird alsdann zu einer einzigen Strafe verurteilt, bei der „Straftaten und Täterpersönlichkeit gemeinsam zu berücksichtigen sind“ (was dieses Konzept im Grunde dem System der Einheitsstrafe annähert).4 Das portugiesische StGB hat es bezüglich der Regelung der Konkurrenz nicht hierbei belassen, sondern hat vielmehr im Teil, der sich mit der Regelung der Straftat generell befasst, die Aufgabe übernommen, festzulegen, was unter Konkurrenz jeweils zu verstehen sei.5 Artikel 30-1 StGB legt unmissverständlich fest, reia Pena unitária e pena conjunta, Direito Criminal, 1953, S. 173 ff., sowie Líbano Monteiro (Fn. 1), S. 160; für jene sehe man nur Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 33 Rn. 4 ff., 113. Angesichts dieser begrifflichen Diskrepanzen ist es vielleicht nützlich, klarzustellen, auf welche Weise diese Konzept im Folgenden verstanden werden. Im Falle der Einheitsstrafe hat der Richter eine Reihe vorliegender Straftaten als eine Einheit zu bewerten und auf diese dann eine einheitliche Sanktion zu verhängen, im Namen der „personalen Einheit“ des Verurteilten. Bei der Gesamtstrafe setzt der Richter zunächst für jede Straftat eine Einzelstrafe fest, bevor er aus diesen den einen Strafrahmen bildet. Was diesen anbelangt, so findet im Falle des Absorptionsprinzip die schwerste Einzelstrafe Anwendung; beim Asperationsprinzip die innerhalb bestimmter Grenzen erhöhte schwerste Einzelstrafe und im Falle der Kumulation ergibt sich die Höchstgrenze des Strafrahmens aus der Summe der auf die vorliegenden Straftaten verhängten Einzelstrafen. Siehe Figueiredo Dias, Direito Penal Português. As Consequências Jurídicas do Crime, 1993, § 397 ff. 4 Die Anwendung des Prinzips einer Kumulation von Einzelstrafen hat – trotz des nachfolgend greifenden Mechanismus der „juristischen Kumulation“ – dazu geführt, dass die in der portugiesischen Rechtspraxis verhängten Strafen deutlich schwerer und gravierender als in der deutschen Rechtsprechung ausfallen. Seit langem schon frage ich mich, ob nicht diese gesetzliche Vorgabe (vor allem auch infolge der Form ihrer Handhabung durch die portugiesische Rechtsprechung) eine der wesentlichen Ursachen für den merkwürdigen Sachverhalt ist (der wiederholt durch europäische Statistiken belegt worden ist: man sehe nur Council of Europe, Penal Statistics 2006 und 2007 tables 13.1 und 13.2), dass die in Portugal strafrechtlich Verurteilten im europäischen Vergleich die meiste Zeit im Gefängnis verbringen. Dies ist umso eigenartiger, als das portugiesische StGB für die relative Milde seiner Strafdrohungen bekannt ist und Portugal eine Gesamtkriminalität aufweist, die hinsichtlich Quantität und Schwere unterhalb des europäischen Durchschnitts liegt! 5 Eine riskante, meiner Meinung nach aber äußerst positiv zu beurteilende Entscheidung (für den gegenteiligen Standpunkt siehe Lobo Moutinho, Da Unidade à Pluralidade de Crimes no Direito Penal Português, 2005, S. 93 ff., 136 ff.), umso mehr, als die
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dass „die Zahl der Straftaten sich aus der Zahl der tatsächlich begangenen Verbrechenstypen oder aus der Anzahl von Malen ergibt, in denen der gleiche Verbrechenstyp vom Täter verübt wurde.“ Wenn man den Entstehungsprozess dieser gesetzlichen Bestimmung und diese vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Problematik in Deutschland betrachtet, wird die ihr zugrundeliegende und sie leitende dogmatische Konzeption recht deutlich: Es handelt sich hier um die Übernahme in Gesetzesform der grundlegenden, von Eduardo Correia in seiner Habilitationsschrift6 vertretenen Position, die bis heute das praktisch unbestrittene Fundament der portugiesischen Rechtsprechung ist.7 Seitdem die theoretische und rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem Phänomen konkurrierender Straftaten auf der Grundlage einer unablässig aktiven und tiefgreifenden deutschen Jurisprudenz ihren Ausgang nahm, wurden bei der Unterscheidung der Anzahl vorliegender Straftaten – soweit ich richtig sehe – bis zum heutigen Tag zwei grundlegende Wege eingeschlagen: zum einen die vorrangige Berücksichtigung der Anzahl verübter gesetzlicher Tatbestände und zum anderen die Anzahl der vom Täter verübten Handlungen als ausschlaggebendes Kriterium. Das erste Kriterium wird durch die geltende portugiesische Gesetzgebung offenkundig anerkannt und umgesetzt. Das zweite Kriterium setzte sich dagegen in der deutschen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft und über diese in verschiedenen Ländern durch und bewirkte die Unterscheidung zwischen Idealkonkurrenz (ein und dieselbe Handlung verletzt verschiedene strafrechtliche Normen oder die gleiche Norm mehrmals) und Realkonkurrenz (mehrere unabhängige Handlungen verletzen verschiedene strafrechtliche Normen oder die gleiche Norm mehrmals). Man könnte daher sagen, dass Artikel 30-1 des portugiesischen StGB für die deutsche Unterscheidung zwischen Realkonkurrenz und Idealkonkurrenz keinen Platz lässt: Innerhalb der portugiesischen Strafrechtsordnung liegt entweder eine effektive (und in diesem Sinne „reale“) Konkurrenz vor oder eine einzige Straftat. Schauen wir uns jedoch die Lehrgebäude etwas näher an, die im Zuge der gerade vollzogenen Darstellung als Alternativen im Raum stehen, um vor deren Hintergrund das Fundament für die anschließende Darlegung meines Standpunktes zu legen. Unterscheidung der betreffenden Konzepte eine ganz wesentliche Ergänzung und – in einem gewissen Maße – eine „Umstrukturierung“ oder zumindest wichtige Präzisierung für das Verständnis der konstitutiven Merkmale des Verbrechens impliziert, insbesondere dessen, was unter tatbestandlichem Unrecht zu verstehen ist. 6 Die zwischen 1939 und 1942 mitten im 2. Weltkrieg zusammen mit Mezger in München verfasst wurde: Eduardo Correia, Unidade e Pluralidade de Infracções, 1945. Dieses Konzept wurde von ihm selber dann in Artikel 33 seines Código Penal. Projecto da Parte Geral 1963 eingebaut, mit Erfolg vor der Prüfungskommission des StGB verteidigt (Actas da Comissão Revisora do Código Penal. Parte Geral II 1965, S. 152) und in den wesentlichen Punkten in seiner systematischen rechtswissenschaftlichen Darstellung erneut vertreten (Direito Criminal II, 1965, Nr. 35 ff.). 7 Und bereits schon während der letzten Jahre der Gültigkeit des portugiesischen StGB von 1852, das 1982 aufgehoben wurde.
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II. 1. Die Einwände gegen die Ergebnisse, zu der die unterschiedliche Behandlung von Idealkonkurrenz und Realkonkurrenz auf Grundlage der Anzahl von Tathandlungen führt, scheinen gegenwärtig sowohl auf kriminalpolitischer als auch rechtswissenschaftlicher Ebene wieder zuzunehmen.8 Aus kriminalpolitischer Sicht liegt die Unterscheidung von Idealkonkurrenz und Realkonkurrenz in der Absicht begründet, auf beide jeweils unterschiedliche Bestrafungsprinzipien oder -systeme in Anwendung zu bringen. Im Einzelnen soll bei Idealkonkurrenz eine einzige Strafe gemäß dem Absorptionsprinzip greifen und bei Realkonkurrenz eine Gesamtstrafe gemäß dem Asperationsprinzip. Nun ist aber gerade dies schlecht nachzuvollziehen und mir scheint, dass sich diesbezüglich auch in der neueren deutschen Rechtsforschung zunehmend Skepsis breit macht. Zugestandenermaßen handelt sich es sich in beiden Fällen um strukturell verschiedene Situationen. Doch das eigentliche Problem liegt nicht hier, sondern in der Fragestellung, ob einer möglichen ontologischen oder phänomenologischen Differenzierung auch eine für die Strafzumessung relevante unterschiedliche axiologisch-juristische Bewertung zu entsprechen hat. Und diese Frage muss meines Erachtens – jedenfalls auf prinzipieller Ebene – mit einem klaren Nein beantwortet werden. Das Argument, dass bei Vorliegen mehrerer Tathandlungen von einer stärkeren kriminellen Energie oder einer sozialethisch höheren Verwerflichkeit des Verhaltens auszugehen sei, entbehrt der Grundlage. Hier sehe ich den wesentlichen Kritikpunkt. Aus rechtsdogmatischer Sicht wird seit langem (im Grunde von jeher) argumentiert, dass eine sinnvolle Unterscheidung der Anzahl von Handlungen unmöglich sei, unter dem Hinweis, dass diese auf einem überholten positivistisch und mechanisch-naturalistisch ausgerichteten juristischen Weltbild beruhe. Eduardo Correias Kritik dieser Auffassung vor fast einem halben Jahrhundert setzte genau an diesem Punkt an. Ein Rückgriff auf bloß mechanische oder naturalistische Kriterien, so seine Argumentation, sei als Grundlage zur Unterscheidung der Anzahl von Tathandlungen ungeeignet, denn selbst die einfachste und gesellschaftlich-juristisch gesehen einheitliche Tat wird sich bei näherem Hinsehen unter naturalistischem Gesichtpunkt mit aller Wahrscheinlichkeit als eine Vielheit von Handlungen erweisen.9 2. Ein Jahrhundert nach dem Antipositivismus-Streit in der Rechtswissenschaft besteht heute jedoch die Möglichkeit, konkurrierende Straftaten auf einer Grund-
8 Dies auch in der neueren deutschen Fachliteratur, wenn auch gewöhnlich mit dem Akzent, dass eine Änderung die Initiative des Gesetzgebers voraussetze. Vgl. Erb, Überlegungen zu einer Neuordnung der Konkurrenzen, ZStW 2005, 37 ff.; sowie Roxin (Fn. 3), § 33 Rn. 9. 9 Eduardo Correia (Fn. 6, 1945).
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lage zu unterscheiden, die nicht rein naturalistischen, sondern eher natürlichen und in gewissem Maße gar normativen Charakters ist. In diesem Zusammenhang spricht man in der deutschen Rechtsprechung und Rechtsdogmatik von natürlicher Einheit, tatbestandlicher Einheit und in einigen Fällen (heute jedoch mit größten Bedenken10) von Fortsetzungszusammenhang. Mit dieser Differenzierung soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass von einer Handlungseinheit ausgegangen werden kann, obwohl die Tat – rein äußerlich betrachtet – aus einer (naturalistisch gesehenen) Mehrheit von Handlungen besteht. Ich gehe hier nicht näher auf das Verhältnis der Fortsetzung ein, das im portugiesischen positiven Recht eine eigene normative Einheit – des sogenannten „fortgesetzten Verbrechens“ – bildet und gesondert geregelt wird (im Artikel 30-2 des portugiesischen StGB). Ansonsten verstehe ich, dass eine tatbestandliche Handlungseinheit vorliegt, wenn ein gesetzlicher Tatbestand mehrere äußerlich erkennbare Handlungen zu einer tatbestandlichen Einheit zusammenfasst.11 Doch bereits die „Konstruktion“ einer natürlichen Handlungseinheit erscheint mir äußerst problematisch, wenn durch sie zum Ausdruck gebracht werden soll, dass „in vielen Lebensbereichen strafbare Verhaltensweisen, obwohl sie jeweils schon für sich den (selben) Straftatbestand erfüllten, sie in ihrer Gesamtheit sachgerecht zu erfassen seien“.12 Meiner Meinung13 nach soll durch dieses Konzept – was an sich lobenswert ist – dem Rechtsanwender im Hinblick auf die Rechtsfolgen ermöglicht werden, die ihm im Einzelfall am gerechtesten erscheinende Lösung anwenden zu können. Schwerlich in Kauf zu nehmen ist jedoch die begriffliche Unbestimmtheit des Konzepts. In den Fällen, die sich nicht mit der juristischen Figur des fortgesetzten Verbrechens decken, kann die besagte Handlungseinheit nur insofern akzeptiert werden, als sie auf eine irgendwie geartete „tatbestandliche“ Handlungseinheit zurückführbar ist. Was darüber hinaus geht, bedeutet in kriminalpolitischer und verfassungsrechtlicher Hinsicht eine Einladung zur Nichtbefolgung (oder nur oberflächlichen Befolgung) des Gebots der erschöpfenden Würdigung, das im Grundsatz des ne bis in idem enthalten ist. Nachdem eine mechanisch-kausale und positivistische Metholologie heute unvertretbar und nicht mehr in Betracht kommt, bleibt meines Erachtens als begründete Kritik an der vorliegenden Auffassung die Unterscheidung selbst der Konkurrenz nach dem Kriterium der Handlung, die stattdessen einem anderen Kriterium weicht, dem ich im Folgenden nachgehen werde.
10
Nach der grundlegenden Entscheidung BGHSt [GrS] 40, 162 ff. Fälle jüngeren Datums neben vielen anderen bei Roxin (Fn. 3), § 33 Rn. 19 ff. und Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT5, 2004, § 17 Rn. 2 ff. Im selben Sinne auch Líbano Monteiro, Roubo e sequestro em concurso efectivo?, RPCC 2005, S. 477, 494. 12 BGHSt 40, 162 f. 13 Wie auch erneut Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 11), § 17 Rn. 10. 11
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III. Man kann sagen, dass für die Bestimmung einer Konkurrenz nicht die Anzahl von Handlungen an sich ausschlaggebend ist, sondern die Anzahl von Tatbeständen, die durch das Verhalten ein und desselben Täters verletzt wurden14 und zusammen in einem Strafverfahren dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt werden. Dieses Kriterium wurde von Eduardo Correia und in seiner Nachfolge von der heute klar vorherrschenden portugiesischen Rechtsprechung stets nachdrücklich vertreten. Laut Eduardo Correia, der stets einen normativistisch geprägten allgemeinen Verbrechensbegriff vertrat, ist für die Unterscheidung der Konkurrenz ausschlaggebend allein „die Anzahl von Wertungen, die in der Welt des Kriminalrechts einem gegebenen Verhalten zukommen. [. . .] Eine Mehrzahl von Verbrechen ist daher gleichbedeutend mit der Mehrzahl verletzter Rechtsgüter. [. . .] Auf diese Weise gelangen wir für die Lösung unseres Problems zum ersten grundlegenden Befund: Erfüllt die Aktivität des Täters verschiedene Tatbestände, dann impliziert dies notwendig die Verletzung verschiedener strafrechtlich geschützter Rechtsgüter und folglich liegt eine Mehrzahl von Verbrechen vor. Wird hingegen nur ein Tatbestand erfüllt, so verletzt die Aktivität des Täters nur ein Rechtsgut und es liegt nur eine Straftat vor“.15 Dieser erste Befund sollte jedoch noch durch einen zweiten ergänzt werden: „Es kann vorkommen, dass ein konkretes Vorwurfsurteil mehrmals ausgesprochen werden muss, wenn es sich auf Handlungen bezieht, die unter denselben Straftatbestand fallen, auf Handlungen also, die das gleiche Rechtsgut verletzen [. . .]: Der Einheit des erfüllten Tatbestands steht nicht notwendig eine Einheit des ihn verwirklichenden Verhaltens gegenüber. So oft ein und derselbe Tatbestand verwirklicht wird, so oft ist ein Vorwurfsurteil auszusprechen, so dass in diesem Fall von einer Mehrzahl von Straftaten ausgegangen werden muss.“16 Diese Lehrmeinung gibt jedoch Anlass zu einigen Bemerkungen, die mir relevant erscheinen. Zunächst einmal auf konstruktiv-systematischer Ebene. Wenn auch der Tatbestand Ausgangspunkt für die Beurteilung ist, ob eine oder mehrere Straftaten vorliegen, so ist doch gebührend zu berücksichtigen, dass der Unrechtstatbestand, der eigentliche Träger materieller Rechtswidrigkeit, sich stets aus dem objektiven und dem subjektiven Unrechtstatbestand zusammensetzt. Von daher ließe 14 Eduardo Correia (Fn. 6), passim, und zusammenfassend (Fn. 6), Nr. 35; Faria Costa, Formas do Crime, in O Novo Código Penal Português e Legislação Complementar, Jornadas de Direito Criminal 1983, S. 180; Cavaleiro de Ferreira, Lições de Direito Penal. Parte Geral I4, 1992, S. 520; Marques da Silva, Direito Penal Português. Parte Geral II2, 1998, S. 310. 15 Eduardo Correia (Fn. 6), Nr. 35 II a, zusammenfassend, was er in (Fn. 6, 1945), S. 79 ff., 104 ff. dargelegt hatte. 16 Eduardo Correia (Fn. 6, 1965), Nr. 35 II, b und (Fn. 6, 1945), S. 114 ff.
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sich die Konkurrenz von Straftaten in ihren wesentlichen Punkten gegebenenfalls noch innerhalb der Kategorie des Unrechtstatbestands abhandeln ohne – wenigstens auf prinzipieller Ebene – die Kategorie der Schuld (auf die zu verweisen Eduardo Correia sich verpflichtet glaubte) miteinbeziehen zu müssen. Hinzu kommt, dass zu den konstitutiven Merkmalen des objektiven Tatbestands der Täter, das Verhalten und das Rechtsgut gehören, und nur aus der Verbindung dieser Bestandteile – und deren Beziehung zum subjektiven Unrechtstatbestand – ergibt sich der gesellschaftlich-rechtliche Sinn materiellen Unrechts der vom Tatbestand erfassten Straftat. Mit anderen Worten sind für die Bestimmung der Ein- oder Mehrzahl verletzter Tatbestände all diese Bestandteile zu berücksichtigen und einer Bewertung zu unterziehen – und dies nicht nur jeweils für sich, sondern gemäß dem Sinn, der sich aus ihrer globalen Betrachtung ergibt. Materiellrechtlich lässt sich gegen Eduardo Correias Argumentation einwenden, zu früh diesen globalen Aspekt des Unrechtstatbestands aus dem Auge verloren zu haben und anstatt dessen für die Bestimmung der Konkurrenz als letztendliches Kriterium die Anzahl der durch das Verhalten des Täters verletzten Rechtsgüter zu postulieren.17 Sicherlich ist das betroffene Rechtsgut für die Frage der Tatbestandsmäßigkeit unabdingbar von erstrangiger Bedeutung. Aber deshalb dürfen die übrigen tatbestandlichen Merkmale nicht vernachlässigt und vergessen werden, dass im Hinblick auf bestimmte Zielsetzungen neben der Analyse all dieser Merkmale eine globale Berücksichtigung der gesellschaftlich-sozialen Dimension des durch den Tatbestand erfassten Verhaltens unverzichtbar ist18. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Krankte der unter Abschnitt II. besprochene methodologische Ansatz trotz bester Absichten an einem übertriebenen Positivismus, so leidet die hier diskutierte Ansicht unter einem nicht minder übertriebenen Normativismus.19 Denn bei Tatbeständen handelt es sich stets um bloße Abstraktionen der lebendigen Wirklichkeit, der strafrechtlich relevanten gesellschaftlich-sozialen Wirklichkeit, in deren Kontext die Problematik der Anzahl strafbarer Tatsachen gesehen und gelöst werden muss. Während im ersteren Fall also gewissermaßen die psychophysische Welt des Menschen die wesentliche 17 Hier liegt meiner Meinung nach die eigentliche Ursache für die häufigen Unklarheiten, die der portugiesischen Rechtsprechung durch die Übernahme der Lehrmeinung Eduardo Correias bei der Würdigung verschiedener Einzelfälle unterlaufen. Klare Bespiele für jüngst zurückliegende zweifelhafte portugiesische Gerichtsurteile finden sich in den kritischen Anmerkungen seitens Helena Moniz, Violação e coacção sexual?, RPCC 2005, S. 299, sowie seitens Líbano Monteiro (Fn. 11), S. 477. 18 Notwendig beispielsweise auch im Bereich der Sozialadäquanz, Notwehr, der Überschreitung ihrer Grenzen, des Notstandes, der Strafbarkeit: vgl. Figueiredo Dias, Direito Penal. Parte Geral I, 22007, 11/18 f., 15/39 ff., 22/34 f., 26/11 ff. 19 Scharfe Anmerkungen in diesem Sinne finden sich bereits bei Mário Tenreiro, Considerações sobre o objecto do processo penal in Revista da Ordem dos Advogados, 1987, S. 1010 ff., 1017 ff.
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Ebene bildet, analysiert die letztere Auffassung stattdessen den Menschen innerhalb der Welt der Sollzustände und Werturteile. Hierin besteht meiner Meinung nach der wesentliche Mangel dieses Denkens. Für die Ermittlung der Anzahl von Straftaten sind maßgeblich weder äußerlich beobachtbare Handlungen, die als solche nichts über die Bedeutung des Verhaltens aussagen, noch sind es Tatbestände als abstrakte Wesenheiten, mögen sie auch auf den konkreten Fall zutreffen. Ausschlaggebend sind strafrechtlich relevante Sinnzusammenhänge des lebendigen Lebens, die im globalen Gesamtverhalten zum Ausdruck kommen. IV. Praktisch unbestritten ist jedoch, dass aus der Subsumierbarkeit eines Gesamtverhalten unter verschiedene Tatbestände nicht ohne Weiteres auf ein Vorliegen konkurrierender Straftaten geschlossen werden kann. Vielmehr gilt zu ermitteln, ob die anwendbaren Normen nicht dergestalt aufeinander bezogen sind (man könnte sagen: zueinander im Verhältnis einer „logischen Hierarchie“ stehen20), dass sie – wenn auch abstrakt gesehen auf ein Einzelverhalten anwendbar – im konkret vorliegenden Fall keine Anwendung finden, da die Anwendung einer von ihnen, der „vorrangigen Norm“, die Anwendung der anderen Norm, der „verdrängten Norm“, ausschließt. Kurz gesagt besteht allgemeiner Konsens hinsichtlich der Figur der sogenannten Gesetzeskonkurrenz. Selbstverständlich soll hier nicht die Richtigkeit dieser allgemein üblichen Praxis in Frage gestellt werden. Aber es sei mir gestattet, an dieser Stelle einige kurze Überlegungen anzustellen. Das wesentliche Argument zur Begründung der Gesetzeskonkurrenz besteht im Hinweis auf die Tatsache, dass mittels der vorrangigen Norm der Unrechtssachverhalt des Gesamtverhaltens erschöpfend gewürdigt werden kann. Nun ist hervorzuheben, dass hier lediglich eine logische und normenbezogene Operation (rechtslogische Operation) die Voraussetzung für die materiellrechtliche Untersuchung der Anzahl vorliegender Straftaten schafft. Daher hat eine solche Operation stets im Vorfeld der eigentlichen Fragestellung zu erfolgen, die in der Bestimmung der in Anbetracht eines gegebenen tatbestandlichen Unrechts vorliegenden Anzahl von Straftaten liegt. Wenn auch in der Jurisprudenz nach wie vor äußerst umstritten ist, welche Formen der Gesetzeseinheit als selbständige Kategorien anzusehen seien – ob nur das der Spezialität21 oder auch das der Subsidiarität22, ob auch das der Kon20
Eduardo Correia (Fn. 6), S. 204. Puppe (Fn. 2), vor § 52 Rn. 8. 22 Eine Position, zu der hin ich tendiere (vgl. nachstehende Ausführungen), insofern die vorliegenden Figuren in ihrem engen Sinn aufgefasst werden, wie bei Honig, Studien zur juristischen und natürlichen Handlungseinheit, 1925, S. 113. 21
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sumtion oder schließlich noch die straflose Nachtat –, so herrscht doch allgemeiner Konsens darüber, dass diese Unterscheidungen zwar von kategorial-klassifizierendem Interesse sind, jedoch unter normativ-praktischem Blickwinkel für die strafrechtliche Behandlung des Einzelfalls keine Bedeutung besitzen: Möge dieser wie auch immer einrubriziert werden, im Endergebnis findet allein die vorrangige Norm Anwendung. Und dennoch spricht sich gegenwärtig ein beträchtlicher Anteil der deutschen Jurisprudenz dafür aus, dass die Verhältnisse der Spezialität wie auch der Subsidiarität sich nicht immer allein auf eine rechtslogische Normabstimmung reduzieren lassen, sondern manchmal durch eine teleologische Perspektive zu ergänzen seien, die den Unrechtssachverhalt desjenigen Tatbestands miteinbezieht, dessen Anwendung im Prinzip ausgeschlossen wird.23 Ich denke jedoch, dass einer solchen materiellrechtlichen Ausweitung der Spezialität nicht zugestimmt werden kann, da sie das eigentliche Wesen und die logisch konzipierte Beschaffenheit der vorausgehenden Problematik der Gesetzeseinheit aushöhlt. In Fällen wie jenen einer Spezialität und Subsidiarität „im materiellrechtlichen Sinne“ ist im Prinzip eine Konkurrenz tatsächlich anzuwendender Normen vorauszusetzen und damit eine Konkurrenz von Straftaten. Von meinem Standpunkt aus gibt es noch andere und bessere Gründe für die Ausschließung der Konsumtion von der Kategorie der Gesetzeseinheit – verstehe man die Konsumtion nun in einem engerem klassischen oder einem weiter gefassten materiellrechtlichen Sinne, welch letzterer „dem jeweiligen Umfang der durch die konkurrierenden Normen strafrechtlich geschützten Werten“24 Rechnung trägt. Auf diesem Wege würde den Fällen Rechnung getragen, in denen die einzelnen Unrechtstatbestände sich in ihrem Schutzumfang überschneiden oder teilweise decken, wenn auch die durch diese jeweils verletzten Rechtsgüter verschieden sind. Der Unterschied zu den Kategorien der Spezialität und Subsidiarität liegt darin, dass bei der Konsumtion die konkreten Taten gemäß ihren tatbestandlichen Verknüpfungen bewertet werden, wobei vorausgesetzt wird, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung der betreffenden Strafrahmen bereits implizit Vorsorge für diesen Umstand getragen hat.25 Die Figur der Konsumtion ist kein logisches Prob23 Neben anderen Roxin (Fn. 3), § 33 Rn. 182. Bezüglich der Unterscheidung von formellrechtlicher und materiellrechtlicher Gesetzeseinheit, die allgemeiner als die oben beschriebene Theorie gefasst ist, jedoch meiner Meinung nach im Wesentlichen auf das Gleiche hinausläuft, Abels, Die „Klarstellungsfunktion“ der Idealkonkurrenz, 1991, 17 ff.; und in der portugiesischen Forschung Duarte d’Almeida, O “Concurso de Normas” em Direito Penal, 2004, S. 102 ff. 24 Eduardo Correia (Fn. 6), S. 171 und (Fn. 5), Nr. 36 I b. 25 Erneut Eduardo Correia (Fn. 6 1945), S. 168 ff. Außerdem Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT5, 1996, § 69 II 3.
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lem des gegenseitigen Verhältnisses von Normen, sondern ein axiologisches und teleologisches der Aufeinanderbezogenheit von Inhalt und Bedeutung eines Unrechts. Aus diesem Grunde bieten sich in Fällen der Konsumtion mehrere konkret anwendbare Normen an, womit sich die Fragestellung effektiver Konkurrenz stellt. Und dennoch kommt gerade der Kategorie der Konsumtion das Verdienst zu, das allgemeine Bewusstsein auf Fälle des Lebens gelenkt zu haben, in denen die einzelnen Inhalte und Bedeutungen begangenen Unrechts sich einander im Wege stehen oder sich gegenseitig decken, so dass deren totale Bewertung daher einer Verletzung des Verbots der Doppelbewertung gleich käme. Da die Überschneidung jedoch nur eine partielle ist, erfordert eine angemessene Bestrafung dieser Fälle andererseits, dass die Erfüllung des Gebots erschöpfender Würdigung einer Straftat nicht allzu früh eingestellt wird. Ich greife in gewisser Hinsicht meinen nachstehenden Ausführungen voraus, wenn ich an dieser Stelle festhalte, dass der Leitgedanke bei der Definition der Konsumtion in materiellrechtlicher Hinsicht im Kern derselbe ist, der entscheidend für die Bestimmung dessen ist, was ich als unechte oder uneigentliche Konkurrenz bezeichnen werde. V. 1. Das „Verbrechen“, nach dessen Einheit oder Mehrheit gefragt wird, besteht in der strafbaren Tat und folglich in der Verletzung von Rechtsgütern, die durch einen konkret anwendbaren Tatbestand erfasst werden. Man wird dem Wesen dieser Verletzung nicht gerecht, wenn man sie als bloße „Handlung“ oder als den diese Handlung erfassenden Tatbestand zu begreifen sucht. Ihr Wesen liegt vielmehr im Lebenssachverhalt, im Lebenstück, begründet, das mit einer negativen strafrechtlichen Wertung versehen ist; es liegt dogmatisch gesehen im tatbestandlichen Unrecht begründet: es ist die Anzahl von Bedeutungen des dem Gericht zur Entscheidung vorgelegten globalen tatbestandlichen Unrechts, die für die Anzahl der Straftaten von definitiv ausschlaggebender Bedeutung ist. Es ließe sich nun behaupten, dass ich damit im Endeffekt, zumindest auf praktisch-normativer Ebene, dieselbe Konzeption vertrete, die ich unter II. beschrieben und kritisiert habe: immer dann, wenn ein Täter durch sein Gesamtverhalten mehrere normativ festgelegte und auf den Einzelfall anwendbare Tatbestände verwirklicht – oder mehrere Male denselben Tatbestand –, dort läge Konkurrenz vor, die, eine einheitliche Behandlung erfordernd, für sich genommen keine Form der Wertung implizierte. Es bliebe dann in all diesen Fällen nur die Konstatierung eines Vorliegens mehrerer Straftaten, die alsdann mit einer Gesamtstrafe zu belegen sind. Aber der Fehler liegt in diesem Einwand selbst und in der ihm zugrunde liegenden Herangehensweise begründet. Aus dem Umstand, dass immer dann von Konkurrenz ausgegangen werden muss, wenn das Gesamtverhalten des Täters mehrere im Einzelfall anwendbare Tatbestände – oder mehrere Male denselben Tatbestand – verwirklicht, folgt kei-
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neswegs notwendigerweise, dass dieses einheitlich zu behandeln und mit einer Gesamtstrafe zu belegen ist.26 Dies würde bedeuten, dass in der vorliegenden Situation der Unrechtssachverhalt in seiner Totalität zum Tragen käme, was jeden einzelnen der durch das Gesamtverhalten verwirklichten Tatbestände umfassen würde. Eine solche Lösung wäre mit den Fällen inkompatibel, bei denen zwar technisch gesehen Konkurrenz vorliegt, die Unrechtssachverhalte der einzelnen Straftaten – in ihrer Bedeutung vor dem Hintergrund des Gesamtverhaltens – sich jedoch in mehr oder minder starken Maße teilweise überschneiden. Solche Fälle nach den Regeln der Gesamtstrafe zu bestrafen würde gegen das Verbot der Doppelbewertung verstoßen, das im Grundsatz ne bis in idem enthalten ist. Kein überzeugendes Gegenargument ist an dieser Stelle der Einwand, es läge umgekehrt ein Verstoß gegen das (ebenfalls im Grundsatz ne bis in idem enthaltene) Gebot erschöpfender Würdigung vorliegenden Unrechts vor, wenn die Bestrafung konkurrierender Straftaten innerhalb des Strafrahmens des gesetzlichen Tatbestands erfolgt, der sich bezüglich Bedeutung und Inhalt des verübten Unrechts als dominant erweist, als handele es sich schließlich nicht um Konkurrenz, sondern um eine einzelne Straftat. Dieser Einwand ist verfehlt, wenn der über den dominanten Tatbestand hinausgehende Tatbestand, wenn auch ohne Einfluss auf die Festlegung des Strafrahmens, dennoch von Relevanz für die Strafzumessung ist. Wenn nun die Untersuchung der Bedeutung des Gesamtverhaltens, die diesem seine materielle (gesellschaftlich-soziale) Unrechtsbedeutung verleiht, entscheidend ist, dann sind unter teleologischem und normativ-wertendem Gesichtspunkt zwei Fallgruppen zu konstatieren: Erstens der („Normal“-)Fall, bei dem die konkurrierenden Straftaten auf eine Mehrzahl autonomer gesellschaftlich-sozialer Bedeutungen des verübten tatbestandlichen Unrechts zurückführbar sind und folglich auf mehrere Straftaten. In diesen Fällen liegt Konkurrenz im eigentlichen oder echten Sinne vor. Und zweitens der Fall, bei dem trotz Vorliegens mehrerer, durch das Gesamtverhalten konkret verwirklichter konkurrierender Tatbestände gleichzeitig das durch das Gesamtverhalten verübte Unrecht unter eine einzige dominante Bedeutung subsumierbar ist; das im Einzelnen konkret begangene tatbestandliche Unrecht also einer grundlegenden dominanten einheitlichen Bedeutung entspricht. In diesen Fällen liegt uneigentliche oder unechte Konkurrenz vor. Diese Unterscheidung hat zur Folge, dass nur die erste Gruppe von Fällen mit einer Gesamtstrafe zu belegen ist, während für die Bestrafung der zweiten Gruppe der Strafrahmen desjenigen Tatbestands anzuwenden ist, der die dominante Bedeutung des Unrechts verkörpert; und innerhalb dieses Strafrahmens ist
26 Vor allem, wenn ihr Vorliegen aus den Regeln des Artikel 77 der portugiesischen StGB abgeleitet wird. Diese Norm, ich sagte es bereits, schreibt für die Bestrafung konkurrierender Straftaten einen Strafrahmen fest, dessen Höchstgrenze aus der Summe der auf jede der konkurrierenden Straftaten verhängten Einzelstrafen besteht.
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dem darüber hinausgehenden Unrecht bei der Strafzumessung Rechnung zu tragen27, 28. Ich denke, dass die vorangehenden Überlegungen den Schluss zulassen, dass ein Vorliegen mehrerer auf das Gesamtverhalten konkret anwendbarer Tatbestände Hinweis und Grund zur Prima-Facie-Annahme dafür ist, dass das Gesamtverhalten mehrere autonome Unrechtsbedeutungen umfasst und damit eine Konkurrenz von Straftaten im echten Sinne vorliegt. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen diese Annahme auszuschließen ist, da die einzelnen im Gesamtverhalten vorliegenden tatbestandlichen Unrechtsbedeutungen miteinander verknüpft sind, sich überschneiden oder teilweise decken und daher definitiv zu schlussfolgern ist, dass für jenes Verhalten eine bestimmte rechtlich-soziale Negativwertung dominierend und dermaßen beherrschend ist, dass bei Berücksichtigung der gesellschaftlich-sozial relevanten Bedeutungen – des wirklichen Lebens und nicht nur der Welt der Normen29 – die Verhängung einer Gesamtstrafe in solchen Fällen unangemessen und ungerecht (ne bis in idem) wäre. 2. Die Wurzel dieser Anschauung scheint mir in der bereits seit langem bekannten Kategorie der Konsumtion zu liegen, vor allem wenn diese wie bereits oben beschrieben in jenem weiten materiellrechtlichen Sinne verstanden wird,30 der „dem jeweiligen Umfang der durch die konkurrierenden Normen strafrechtlich geschützen Werten“ Rechnung trägt. Anders – geradezu radikal anders31 – ist jedoch, dass diese Kategorie jetzt unter dem Blickwinkel nicht der Verhältnisse zwischen Normen sondern der Verhältnisse zwischen Bedeutungen der einzelnen Rechtswidrigkeiten im Kontext der im Gesamtverhalten sich offenbarenden Lebenswirklichkeit gesehen wird.32 Innerhalb der aktuellen Rechtsdogmatik sehe ich im Denken Ingeborg Puppes die wertvollsten Bausteine zur Abstützung der Unterscheidung zwischen echter 27 Dieser Gedanke ist einem Teil der portugiesischen Strafrechtsforschung bereits seit langem nicht völlig neu; diese wird lobend erwähnt bei Duarte d’Almeida (Fn. 23), S. 85. 28 Dieser Lösung des Problems steht im Übrigen die gesetzliche Regelung der Konkurrenz gemäß Artikel 30-1 des portugiesischen StGB (supra I 2) nicht notwendig entgegen: Der dort verwendete Ausdruck „effektiv verübte Verbrechenstypen“ (und nicht effektiv verwirklichte Verbrechenstatbestände) bietet eine ausreichende Basis für die oben ausgeführte Konzeption. „Verbrechenstypen“ sind hier als die konkret verübten Deliktarten, das in der Lebenswirklichkeit begangene Unrecht, und nicht als die gesetzlich formulierten Archetypen, unter die sie jeweils fallen, zu verstehen. Siehe abweichende Auffassung bei Lobo Moutinho (Fn. 5), S. 94 ff. 29 So wörtlich übereinstimmend Líbano Monteiro (Fn. 11), S. 494. 30 Der Anschauung Eduardo Correias (Fn. 24) folgend, mit der dieser den Standpunkt eines wesentlichen Teils der gegenwärtigen deutschen Rechtsdogmatik in gewissem Sinne vorwegnahm. 31 Wie Eduardo Correia (Fn. 6), S. 168 ff. selbst hervorhob. 32 Wie im Übrigen vorgeschlagen von Eduardo Correia ibidem.
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und unechter Konkurrenz (in dem von mir verstandenen Sinne).33 Nach Puppe liegt der eigentliche Unterschied zwischen Realkonkurrenz und Idealkonkurrenz – in meinen Begriffen: zwischen „echter“ und „unechter“ Konkurrenz – im Umstand begründet, dass bei Idealkonkurrenz eine Unrechtsverwandtschaft der durch das Verhalten verwirklichten Tatbestände vorliegt. Demnach befänden sich beispielsweise die Verwendung einer gefälschten Urkunde und der mittels dieser verübte Betrug zueinander im Verhältnis der Idealkonkurrenz, da den verwirklichten Tatbeständen gemeinsam ist, das Opfer zu „täuschen“ oder „in Irrtum zu führen“. In die gleiche Kategorie fielen demnach auch Straftaten wie Nötigung, Raub, Körperverletzung und Mord, da das entscheidende übergeordnete Merkmal all dieser Tatbestände in der Ausübung von Gewalt gegen die Person besteht. Was auch auf schwere Körperverletzung und Entführung zutrifft, da jene eine erschwerte Form der letzteren darstellt.34 Umgekehrt wäre trotz möglicher Handlungseinheit durchaus plausibel von Realkonkurrenz (echter Konkurrenz) auszugehen in Fällen, in denen beispielsweise jemand seine Frau durch einen Schuss (vorsätzlich) tötet und dabei ihr Kleid beschädigt,35 oder wenn jemand durch einen Schuss ein Schaufenster zerbricht und dabei die in dieser befindliche Angestellte tötet. Denn die in diesen Fällen konkret anwendbaren Tatbestände – Mord (bzw. Totschlag) und Sachbeschädigung – weisen keine gemeinsamen Merkmale auf. Der Vorbehalt, der meines Erachtens gegen diese Konzeption erhoben werden kann, richtet sich darauf, dass das ihr zugrunde liegene Unterscheidungskriterium vielleicht eine genauere Untersuchung verdient: die durch das Gesamtverhalten gegebene Bedeutungsverknüpfung des globalen Unrechts. Denn es gilt zu vermeiden, bei der Untersuchung der Fälle erneut von der Unrechtsbedeutung eines Verhaltens zum (wenn auch jetzt nicht mehr logisch, sondern teleologisch begründeten) Verhältnis zwischen den durch dieses Verhalten verwirklichten Tatbeständen überzugehen. Denn andernfalls wären die sich ergebenden Schlussfolgerungen schwerlich haltbar. Beispielsweise besteht die innere Verwandtschaft des durch die Tatbestände erfassten Unrechts auch dann, wenn deren Verübung nicht zeitgleich erfolgt oder sogar durch lange Zeitabstände voneinander getrennt ist. Und zurückkommend auf das gegenseitige Verhältnis der anwendbaren Tatbestände ist andererseits die Frage von Relevanz, ob die Verwandtschaft zwischen diesen nicht zu allererst aus dem entscheidensten aller Tatbestandsmerkmale, dem Rechtsgut, herzuleiten und 33 Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen. Logische Studien zum Verhältnis von Tatbestand und Handlung, 1979, 125 ff.; dies., GA 1982, 143 ff., und dies. (Fn. 2), § 52, Rn. 24 ff. 34 Puppe (Fn. 33), S. 154 f. Es sei angemerkt, dass Eduardo Correia (Fn. 6), S. 168 ff., sich bereits auf das „Verwandschaftsverhältnis zwischen Rechtsgütern verschiedener Art“ als leitendem Grundgedanken für die Kategorie der Konsumtion bezog. 35 Puppe (Fn. 33), 159.
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von hier aus zu konstatieren oder zu verneinen ist; folglich also aus den insgesamt recht weit reichenden Verwandtschaftsbeziehungen der durch das Gesamtverhalten verletzten Rechtsgüter. Beantworten wir diese Frage nun aber im bejahenden Sinn, befinden wir uns wieder in enger Nachbarschaft – wenn nicht gar Überstimmung – mit dem Konzept Eduardo Correias und der vorherrschenden portugiesischen Rechtsprechung, für die das entscheidende Kriterium für die Anzahl vorliegender Straftaten in der Anzahl verletzter Rechtsgüter liegt. In diesem Falle verlöre die Kategorie einer unechten Konkurrenz, wenigstens weitestgehend, ihre Grundlage, Relevanz und ihren Anwendungsbereich. 3. Zentraler Gedanke für die Kategorie einer unechten Konkurrenz muss daher sein, dass es Lebenssachverhalte gibt, bei denen das Gesamtverhalten mehr als einen konkret anwendbaren Tatbestand umfasst und gleichzeitig zwischen den nebeneinander bestehenden Unrechtsbedeutungen eine objektive und/oder subjektive Verknüpfung36 dergestalt vorliegt, dass eine dieser Unrechtsbedeutungen als absolut dominant, überwiegend oder hauptsächlich (und, hoc sensu, „autonom“) hervortritt, während die übrige bzw. übrigen, wiederum nach ihrem rechtlich-sozialen Sinn befragt, sich als dominiert, sekundär oder abhängig erweisen. Derart, dass eine Behandlung solcher Fälle nach den Bestrafungsregeln der Konkurrenz mittels einer Gesamtstrafe unverhältnismäßig, kriminalpolitisch verfehlt und materiellrechtlich, wenigstens in der Mehrheit der Fälle, von verfassungsrechtlichen Bedenken getragen wäre. Die vorgenannte Dominanz einer der Unrechtsbedeutungen kann sich infolge verschiedener Kriterien ergeben. Von dem hier vorgelegten Ansatz her bestünde die Aufgabe der Dogmatik in einer ganz wesentlich vertieften Ausarbeitung dieser Kriterien. Ich möchte im Folgenden einen – rein provisorischen – Entwurf zeichnen. Dabei bin ich mir bewusst, dass wir es hier keineswegs mit Kriterien zu tun haben, die eine säuberliche und hundertprozentige Abgrenzung der möglichen Fälle – der lebenswirklichen Situationen – zulassen, die der Kategorie der unechten Konkurrenz ihren Inhalt und ihre Begründung verleihen: zum einen, weil in ein und demselben Fall mehr als eines der vorgeschlagenen Kriterien zur Anwendung kommen kann; und zum anderen, weil im Gegenteil diese Kriterien ergänzt oder umgekehrt eingeschränkt werden müssen infolge anderer Gesichtspunkte, die für die Wesensbestimmung der gesellschaftlich-sozialen Bedeutung des globalen Unrechts von Relevanz sind. a) Ein erstrangiges Kriterium dafür, dass es sich – trotz mehrerer durch das Gesamtverhalten verletzter Tatbestände – tendenziell um eine ihrer Substanz nach einheitliche Tat handelt, liegt in der von der gesellschaftlich-sozialen Bedeutung des Gesamtverhaltens her verstandenen Einheit des global-finalen Tatereignisses oder Taterfolgs (hoc sensu der „Tatfolge“ oder des „Resultats“). Die36 So im Wesentlichen, im Zusammenhang dessen, was sie „Idealkonkurrenz“ nennen, Duarte d’Almeida (Fn. 25), S. 80 ff. und Lobo Moutinho (Fn. 5), S. 1149 ff.
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ses Kriterium erhält – seine praktisch ausschließliche – Relevanz im Falle vorsätzlicher Straftaten. Hierbei hat sich der Täter die Verwirklichung eines bestimmten Tatbestands vorgenommen – sich an einer Person rächen, indem er sie tötet; sie bestrafen, indem er sie verletzt; seinen Sexualtrieb mittels ihrer befriedigen, indem er sie vergewaltigt; sich den Besitz einer Sache verschaffen, indem er diese stiehlt; einen Vermögensvorteil erlangen, indem er jemanden betrügt . . . –, und um den angestrebten Zustand zu erreichen (und/oder zu konsolidieren), hat er sich – direkt oder bedingt vorsätzlich – Methoden oder Prozesse bedient, die für sich genommen ebenfalls strafbar sind.37 Bei der hier vorliegenden Form des Gesamtverhaltens wird – ich denke in ausreichender Weise – deutlich, wie eine Unrechtsbedeutung sich als absolut dominant von einer oder mehreren anderen untergeordneten abhebt. Dies ist häufig der Fall bei den Deliktsgruppen der typischen Begleittat und vor allem der mitbestraften Nachtat. Dabei spielt grundsätzlich auf subjektiver Ebene keine Rolle, ob der Täter sich vor der Verübung der Haupttat zur Nachtat entschloss oder erst danach, wobei diese dann Ergebnis eines „erneuten“ Entschlusses wäre.38 Ebenfalls keine Rolle dabei spielt eine wie auch immer geartete objektive Verknüpfung der verletzten Tatbestände, insbesondere auf dem Wege einer Art Verwandschaft oder Ähnlichkeit zwischen den (verschiedenen) verletzten Rechtsgütern. b) Durch dieses Kriterium wird ein Teil der Fälle abgedeckt, bei denen das Verhältnis zwischen einer rein instrumentellen, als Mittel zum Zweck in Kauf genommenen Straftat und einer auf das eigentliche Ziel gerichteten Straftat gegeben ist. Mit anderen Worten Fälle, in denen eine einzelne Straftat ihren Sinn darin erschöpft, Mittel zur Verübung der Haupttat zu sein.39 Hier wird offenbar – derart, dass aus diesem Umstand heraus möglicherweise sogar eine (relative) Autonomie dieses Kriteriums gegenüber dem vorangehenden naheliegt –, dass eine selbständige Bewertung der typischen Begleittat einer Verletzung des Verbots der Doppelbewertung gleichkäme. Gleichzeitig verletzt deren Berücksichtigung als Bestandteil einer unechten Konkurrenz nicht das Gebot erschöpfender Würdi37 Einmal mehr finden sich bei Puppe (Fn. 21), § 52 Rn. 24 ff., 35 ff. wertvolle Gedanken für die Ausarbeitung dieser Konzeption. Vgl. bloß Honig, Straflose Vor- und Nachtat, 1927, S. 65 ff. Genau von „Objektiver Bewertung eines Ziels oder einer Täterabsicht“ sprach – auf Ebene der Untersuchung der vorliegenen Rechtsnormen – Eduardo Correia (Fn. 6), S. 184, in diesem Sinne bereits zitierend Beleza dos Santos, Crimes de moeda falsa, Revista de Legislação e Jurisprudência 66, 1933-4, 225 ff., 240 ff. 38 In einem wenigstens teilweise abweichenden Sinne Duarte d’Almeida (Fn. 23), S. 83. 39 Es besteht deshalb aber keine Veranlassung, dieses Kriterium so darzustellen (um es anschließend umso leichter kritisieren zu können), als ob es stets auf eine Konsumtion der Begleittat durch die Haupttat hinausläuft. Wenn beispielsweise jemand eine andere Person tötet, um ihr anschließend die Brieftasche zu entwenden, liegen zwei autonome gesellschaftlich-soziale Bedeutungen des Gesamtverhaltens vor. Vgl. Duarte d’Almeida (Fn. 23), S. 81.
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gung, da sie bei der Strafzumessung ins Gewicht zu fallen hat. Deshalb ist im vorliegenden Fall grundsätzlich von unechter Konkurrenz auszugehen. Dabei ist, es sei hier nochmals gesagt, eine objektive (Verwandtschaft der Rechtsgüter) oder subjektive (Anzahl der Tatentschlüsse) Verknüpfung zwischen den durch das Gesamtverhalten verletzten Tatbeständen irrelevant. c) Aus dem Dargelegten darf nicht der falsche Eindruck einer unbegründeten Unterschätzung der subjektiven Verknüpfung (ein oder mehrere Tatentschlüsse) als relevantem Faktor für die Zuordnung von unechter oder echter Konkurrenz entstehen. Möge es auch Situationen geben, in denen die Mehrzahl von Entschlüssen für sich genommen noch kein Vorliegen echter Konkurrenz bedeutet, so darf deswegen nicht vergessen werden, dass in verschiedenen Situationskontexten die Einheit der kriminellen Absicht 40 mehreren verwirklichten Tatbeständen eine einzige dominierende globale Unrechtsbedeutung verleihen kann. Und dies unabhängig davon, ob eine gleichartige oder ungleichartige Konkurrenz vorliegt, unabhängig auch von der Frage, ob die verwirklichten Tatbestände gleichzeitig oder ungleichzeitig verübt wurden. Einige Fälle sowohl von mitbestrafter Nachtat als auch der Aufeinanderbezogenheit von typischer Begleittat und Haupttat illustrieren die manchmal entscheidende Rolle, die dem Tatplan und der kriminellen Absicht des Täters zukommt, wenn es darum geht, dem rechtswidrigen Gesamtverhalten einen bestimmten dominanten Unwertsinn zuzusprechen. d) Ein weiteres für die Bestimmung unechter Konkurrenz zu berücksichtigendes Kriterium liegt in der raumzeitlichen Verknüpfung der verübten Tatbestände.41 Und in der Tat: eine gewisse räumliche und/oder zeitliche Einheit oder Nähe der verwirklichten Tatbestände kann als deutliches Indiz dafür gewertet werten, dass die einzelnen Unrechtsbedeutungen sich überschneiden, so dass die Unrechtsbedeutung des Gesamtverhaltens im Sinne einer Einheit aufzufassen ist und folglich eine unechte Konkurrenz vorliegt. Während umgekehrt eine „klare situationelle Diskrepanz“42 Indiz für das Vorliegen mehrerer autonomer Unrechtsbedeutungen des Gesamtverhaltens und daher für eine echte Konkurrenz ist. e) Fälle, in denen eine Konkurrenz von Normen vorliegt, die sich auf verschiedene Entwicklungsphasen oder Intensitätsgrade des verwirklichten globalen Tatbestands beziehen, sind direkt lösbar, wenn nur eine konkret anwendbare gesetzliche Norm in Frage kommt, insbesondere kraft der logischen Relation stillschweigender Subsidiarität. Wenn hingegen in Fällen dieser Art eine logische Relation der Subsidiarität – gegebenenfalls der Spezialität – verneint werden muss und im Gegenteil mehrere Normen konkret anwendbar sind, so ist dies als 40 Duarte d’Almeida (Fn. 23), 82, spricht – in einem mir im Wesentlichen identisch erscheinenden Sinne – von der Einheit der „kriminellen Wahlentscheidung“. 41 Dazu Puppe (Fn. 2), § 52 Rn. 35, 37 ff. 42 Ich greife hier zurück auf einen Ausdruck von Líbano Monteiro (Fn. 1), S. 493.
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Zeichen dafür zu werten, dass die Problemstellung nicht mehr in der gegenseitigen Beziehung von Normen, sondern darin besteht, dass konkurrierende Unrechtsbedeutungen vorliegen und im beschriebenen Sinne deren dominante zu bestimmen ist; kurz gesagt unechte Konkurrenz vorliegt. Die Frage stellt sich bereits in Fällen, in denen der Tatversuch eines qualifizierten Strafbestands mit der Verwirklichung der wesentlichen Straftat zusammenfällt. Jeder Ansatz, der diesen Fällen die Existenz echter Konkurrenz abspricht, würde mit Gewissheit das Gebot erschöpfender Würdigung des Unrechts verletzen, da neben dem Tatversuch zusätzlich ein vorsätzlich, wenn auch nicht absichtlich verwirklichter Tatbestand gegeben ist. Andererseits würde eine Bestrafung gemäß echter Konkurrenz das Verbot der Doppelbewertung verletzen, da auf der Ebene des globalen Unrechts die für die einzelnen konkurrierenden Tatbestände relevanten Umstände erneut Berücksichtigung fänden. Die richtige Lösung liegt daher darin, in diesen Fällen von einer unechten Konkurrenz auszugehen. Ein anderes sich in diesem Zusammenhang ergebendes Problem besteht im Verhältnis zwischen abstrakter Gefährdung, konkreter Gefährdung und Verletzung, wenn die Gefahr über ein (stillschweigend) bestehendes Subsidiaritätsverhältnis hinausgeht oder aus dessen Bereich fällt, insbesondere infolge der Mehrzahl gefährdeter oder verletzter Rechtsgüter. Auch in diesen Fällen ist, ausgehend von mehreren anwendbaren Strafrechtsnormen, für die Festlegung des dominanten Unrechtssinns des Gesamtverhaltens zumindest in der Regel das am intensivsten verletzte Rechtsgut ausschlaggebend. Deshalb erscheint als die angemessenste Lösung, von einer unechten Konkurrenz auszugehen. Ausgenommen sind dabei stets (und nicht notwendig nur) die – zweifellos häufigen – Fälle mit mehreren Opfern, bei denen folglich von echter Konkurrenz ausgegangen werden muss. 4. Eine besondere Problematik liegt mit jenen Fällen unechter Konkurrenz vor, in denen für den im obigen Sinne sekundären oder dominierten Tatbestand ein höherer Strafrahmen vorgesehen ist, als für den dominanten Tatbestand. Die portugiesische Doktrin der Konsumtion kennt diese Situationen seit langem unter der Bezeichnung unechte Konsumtion.43 Hier geht es um die Entscheidung, ob in solchen Situationen dem Strafrahmen des dominanten Tatbestands oder, aufgrund dessen größerer Strenge, dem des dominierten Tatbestands Vorrang einzuräumen ist. Eine erste Lösung dieser Fragestellung läge darin, sich eng an die Kriterien für die Bestimmung des jeweils dominanten und dominierten Unrechts zu halten und diese dann konsequent auch auf die Bestimmung des Strafrahmens von Konkurrenzen anzuwenden: auf das gesamte Verhalten wäre demnach der Strafrahmen 43 Ausführlich dazu, entsprechend der damaligen portugiesischen Gesetzgebung, Eduardo Correia (Fn. 6), 206 ff.
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für das als dominant zu betrachtende Unrecht anzuwenden. Doch diese Lösung muss verworfen werden, da ein Täter, der nur das dominierte Unrecht begangen hätte, härter zu bestrafen wäre als jener, der neben dem dominierten zusätzlich noch das dominante Unrecht verübt hat, womit die Begehung des letzteren am Ende auf den anzuwendenden Strafrahmen einen mildernden Einfluss hätte.44 Eine andere denkbare Lösung bestünde darin, die vorliegenden Fälle so aufzufassen, als hätten die einzelnen Unrechtsbedeutungen ihre Position vertauscht, wobei die dominierte Unrechtsbedeutung nun eine dominante und die bislang dominante eine dominierte Position einnehmen würde.45 Zugunsten dieser Auffassung lassen sich Argumente aus verschiedenen methodologischen Bereichen heranziehen. Zum einen der Gedanke, dass von den Rechtsfolgen her gesehen auf diesem Wege eine angemessene Lösung erzielt werde; dieser Gedanke basiert auf einem exakten, nach funktionellen Aspekten vorgehenden Denken. Zum anderen der Gedanke, dass die Strenge des vom Gesetzgeber angedrohten Strafrahmens exakt darauf bemessen ist (mal besser, mal weniger gut gelungen), den Grad des rechtlich-sozialen Unwerts zum Ausdruck zu bringen, den eine Gemeinschaft einer strafbaren Handlung beilegt; wobei argumentaiv nicht ins Gewicht falle, inwiefern dem Gesetzgeber bei der Festlegung dieser verhältnismäßig bedingten Härte im konkreten Fall Fehler oder Unaufmerksamkeiten unterlaufen oder von ihm Tatsachen übersehen werden. Hier läge also eine Situation vor, die innerhalb der Sphäre des Rechts (auch des Strafrechts) schwerlich in Abrede zu stellen wäre: dass es innerhalb gewisser Grenzen gesetzlich legitim ist, die Lebenswirklichkeit an normative Maßstäbe anzupassen. Aber gerade in dieser Logik erblicke ich das wesentliche Gegenargument zu Ungunsten der vorliegenden Auffassung. Eine derartige normativ bedingte Umgestaltung ist methodologisch nur innerhalb jener Grenzen zulässig, die ihr durch die ontologischen Gegebenheiten gezogen werden, oder anders gesagt, die ihr durch nichtjuristische (in diesem Fall: gesellschaftlich-soziale) Faktoren, durch das Substrat, vorgegeben werden. Die normative Vertauschung der Positionen dagegen zwischen einem Unrecht, dem infolge seiner gesellschaftlich-sozialen Bedeutung und damit seiner realen Gegebenheiten eine dominante Stellung zukommt, und einem anderen, diesem untergeordneten Unrecht käme der Überschreitung jener Grenzen gleich und würde damit zugleich das Fundament in Frage stellen, auf dem das Konzept einer unechten Konkurrenz, wie ich es hier vertrete, basiert. 44 Im Sinne dieser Kritik – die im Übrigen für die Doktrin der unechten Konsumtion allgemein kennzeichnend ist – vgl. schließlich auch in der portugiesischen Doktrin, bibliographische Angaben und übereinstimmende Rechtsprechung enthaltend, Duarte d’Almeida (Fn. 23), 74 ff. 45 Diese Auffassung war vermutlich stets die Eduardo Correias (Fn. 6), 203, 207; „es darf nur derjenige Straftatbestand zur Anwendung kommen, der vom positivrechtlichen Standpunkt aus die breiteste und vollkommenste Reaktion sicherstellt“; von den konkurrierenden Tatbeständen ist anzuwenden „zweifellos der umfassendste, was zur vollkommensten und vollständigsten Form der Bestrafung führt“.
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Damit bleibt nur noch – im Einklang, wie mir scheinen will, mit der von der klassischen Doktrin mehrheitlich vertretenen Lösung für die unechte Konsumtion,46 wenn auch mit unterschiedlicher Terminologie –, im vorliegenden Kontext die theoretische Unterscheidung von Verhaltensnorm und Sanktionsnorm heranzuziehen. Sagen wir also nun, dass auf der Ebene der Tat das dominante gesellschaftlich-soziale Unrecht weiterhin für die Bedeutung der globalen Straftat maßgeblich ist. Diesem dominanten Unrecht entspricht jedoch jetzt im Bereich der Sanktion der strengere Strafrahmen des dominierten Unrechts. Vom theoretischen Standpunkt aus hält diese Lösung der Kritik stand, ihr liege eine willkürliche Anpassung der Fallbehandlung an die Rechtsfolgen zugrunde, die man strafbezogen als die gerechtesten und angemessensten betrachtet. Dagegen setzt sie sich gegebenenfalls dem Verdacht aus, sie verstoße gegen das Legalitätsprinzip, wobei man davon ausginge, dass diese nicht nur zur Einhaltung der Prinzipien nullum crimen und nulla poena sine lege verpflichte, sondern ferner auch die notwendige formelle Verknüpfung beider in Anwendung auf ein und dieselbe Straftat vorschreibe. Doch diese Ansicht lässt sich definitiv nicht halten. Einerseits sind in Fällen unechter Konkurrenz die abstrakt anwendbaren Gesetze auch konkret anwendbar, sie sind in der Tat auf die „umfassende Tat“ anwendbar. Aus diesem Grund liegt andererseits keine Einschränkung und nicht einmal Abschwächung der durch das strafrechtliche Legalitätsprinzip gewährten Bürgschaft vor. Denn die Erwartungen, die der Täter infolge bestehenden Gesetzes bezüglich der Grenzen der Strafbarkeit jeder der von ihm verübten Einzelstraftaten hegt, werden in keiner Weise beeinträchtigt. VI. Damit schließe ich meine Betrachtungen bezüglich der Doktrin der Konkurrenz im Rahmen der allgemeinen Theorie der Straftat. Es sei mir jedoch noch eine kurze und entscheidende Anmerkung zur rechtlichen Regelung für die Bestrafung der unechten Konkurrenz gestattet. Im Unterschied zum deutschen StGB – dessen § 52 die Bestrafung der Idealkonkurrenz regelt – weist das portugiesische StGB keine Norm für die rechtliche Regelung der unechten Konkurrenz in der von mir skizzierten Bedeutung auf. Dem Ausleger stellt sich daher die unerlässliche Aufgabe, eine solche Regelung mit der strengstmöglichen Genauigkeit zu bestimmen, im Einklang mit den kriminalpolitischen Zielsetzungen des Systems und den diesem zugrunde gelegten dogmatischen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen, insbesondere dem Prinzip des nulla poena sine lege. Der Leitgedanke, auf den – auch in dieser Fragestellung – zurückzugreifen ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass die unechte Konkurrenz, möge sie auch eine Vielheit von durch das Gesamtverhalten verletzten Tatbeständen umfassen, das 46 In diesem Sinne auch A. M. Almeida Costa, in: Figueiredo Dias (Org.) Comentário Conimbricense do Código Penal II, 2001, art. 262 ë, § 7.
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vorliegende Unrecht durch eine dominante einzige Unwertbedeutung erfasst (und sich zugleich durch diesen Umstand auszeichnet), da die übrigen Unrechtsbedeutungen zu ihr in einer Relation der Überschneidung, teilweiser Deckung oder Abhängigkeit stehen. Diese Relation wird hier aus der Unrechtsbedeutung verstanden, nicht aus einer möglichen Relation zwischen Normen und ebenfalls nicht aus einer Relation zwischen konkurrierenden Rechtsgütern. Hieraus ergeben sich strafbezüglich wichtige Konsequenzen, die sich in gewissem Maße von der Gesetzeseinheit weg in die Nähe der sogenannten Idealkonkurrenz des deutschen Rechtssystems bewegen. 1. Jedes System, das zwecks Festlegung des Strafrahmens, und sei es nur dessen Höchstgrenze, für Fälle unechter Konkurrenz die Summe der auf jede Einzeltat verhängten Strafen heranzieht, muss als unangemessen betrachtet werden. Denn ein solches System steht nicht nur im Widerspruch zum Grundgedanken dieser Art von Konkurrenz, sondern es ermöglicht – die in der Mehrzahl der Fälle auch tatsächlich eintreffenden – Situationen, in denen es zur Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem in seiner Bedeutung des Verbots von Doppelbewertungen kommt. Von jenem für die unechte Konkurrenz kennzeichnenden Grundgedanken aus macht es nur Sinn, als ihren Strafrahmen jenen anzuwenden, der dem dominanten Unwertsinn des Unrechts entspricht. Auszunehmen sind hier die genannten Ausnahmefälle, in denen eine Trennung nach Verhaltensnorm und Sanktionsnorm vorzunehmen ist: in diesen Fällen ist als Strafrahmen der unechten Konkurrenz jener des „dominierten“ Unrechts anzuwenden. In jedem Fall also der strengste Strafrahmen innerhalb der konkret anwendbaren Tatbestandsnormen. 2. Innerhalb dieses Strafrahmens für die unechte Konkurrenz folgt der Richter bei der Strafzumessung den allgemeinen Kriterien. Anders als im Falle echter Konkurrenz darf der Richter die verübten Tatbestände nicht „in ihrer Gesamtheit“ betrachten, sondern hat zur Festsetzung der Strafe als erstes auf „die Schuld und die Erfordernisse der Prävention“ bezüglich des dominanten tatbestandlichen Unrechts abzustellen.47 Ebenfalls besonders ist hier, diesmal in Abweichung von der Gesetzeseinheit, dass der Richter ferner obligatorisch das zum dominanten in Konkurrenz stehende dominierte tatbestandliche Unrecht als erschwerenden Umstand bei der Strafzumessung zu berücksichtigen hat. Dieses wird also innerhalb seiner eigenen Tatbestandsmäßigkeit und somit in diesem Kontext als Element betrachtet, das eine eigene strafrechtliche Relevanz besitzt.48 47 Die Begriffe in Anführungszeichen entstammen Art. 71 ë-2 des portugiesischen StGB über die Strafzumessung. 48 Und deshalb von der Voraussetzung ausgehend, dass Strafurteile in Fällen unechter Konkurrenz nicht nur die für den Strafrahmen der Konkurrenz als maßgeblich gewählte Norm aufzuführen, sondern auch der übrigen verletzten Normen Erwähnung zu tun haben; im Sinne dessen, was eine bestimmte Richtung der deutschen Doktrin im Anschluss an Abels (Fn. 23) als „Klarstellungsfunktion der Idealkonkurrenz“ bezeichnet.
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3. Es können Fälle vorkommen, bei denen der Strafrahmen der dominierten Unrechtsbedeutung zwar bezüglich seiner Höchstgrenze niedriger oder gleich hoch wie der Strafrahmen des dominanten Unrechts ist, bezüglich seiner Mindestgrenze jedoch über diesen hinausgeht. Hier stellt sich die Frage, ob diese Mindestgrenze hinsichtlich des konkret anzuwendenden Strafmaßes in Fällen der Konkurrenz nicht eine Sperrwirkung zukommen sollte. Ich denke, dass diese Frage – einmal mehr im Unterschied zur Gesetzeseinheit – bejahend zu beantworten ist. Der Strafrahmen der Konkurrenz ergibt sich im Prinzip weiterhin aus der am schwersten bestraften Unrechtsbedeutung. Das dominierte Unrecht ist jedoch grundsätzlich als erschwerender Faktor bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Daher entspricht es den Regeln der Gerechtigkeit, dass die Erschwerung in ihrer Mindestwirkung keine konkrete Strafe zulässt, die unter der Mindestgrenze des Strafrahmens für das dominierte Unrecht liegt.49 4. Schließlich darf der Richter in Fällen unechter Konkurrenz eine beliebige der durch die konkret anwendbaren Normen vorgesehenen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung verhängen – und damit auch der Norm (bzw. Normen), die für die Bestimmung des Strafrahmens der Konkurrenz unerheblich ist –, insofern die Unrechtsbedeutung des konkurrierenden Unrechts dies erfordert.50
49 Nur in diesem Sinn und Umfang ist daher vertretbar die Terminologie von Roxin (Fn. 3), § 33 Rn. 113, wenn er diesbezüglich in einem analogen Kontext von einem Kombinationsprinzip spricht. 50 Diese Lösung wird für die echte Konkurrenz ausdrücklich durch Art. 77 ë-4 des portugiesischen StGB in Betracht gezogen und für die Idealkonkurrenz, unter gewissen Bedingungen, durch § 52 IV StGB.
Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien Von Wolfgang Frisch Dass Eingriffe in fremde Güter zur Abwendung von Not, das heißt von Gefahren für bedrohte Güter, nicht nur entschuldigt, sondern als Ausfluss eines Rechts auch gerechtfertigt sein können, ist im deutschen Recht inzwischen anerkannt. Nach ersten auf Sacheingriffe beschränkten Aussagen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§ 228 und 904 BGB) hat der Gesetzgeber durch den umfassenderen § 34 StGB schließlich auch im Strafrecht klargestellt, dass und unter welchen Voraussetzungen Handeln zur Abwendung von Not rechtfertigend wirkt. Ob dieses als Abschluss einer langen Entwicklung gedachte Wort des Gesetzgebers wirklich Klärung gebracht hat, wird man bezweifeln dürfen. Nicht nur die Lösung einer Vielzahl von Einzelfällen des Handelns in Not ist nach wie vor umstritten.1 Streit besteht bereits darüber, welche Fallkonstellationen § 34 StGB überhaupt erfasst – nur Sachverhalte des Aggressivnotstands oder auch solche des defensiven Notstands?2 Keine Einigkeit besteht weiter über die richtige Auslegung des Erfordernisses des „wesentlichen Überwiegens“3 und dessen Verhältnis zur Angemessenheitsklausel.4 Selbst die lange zuvor im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerten zivilrechtlichen Notstandsvorschriften sind nur im Kernbereich klar. Wie weit sie genau reichen, ist ebenso unklar5 wie die genaue Bedeutung ihrer Proportionalitätsklauseln. 1 Vgl. dazu z. B. Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand, 1990, S. 292 ff.; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, insbesondere S. 150 ff.; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 253 ff. 2 Vgl. dazu einerseits (nur Fälle des Aggressivnotstands und analoge Anwendung des § 228 BGB auf den Defensivnotstand) Hruschka, NJW 1980, 21 ff.; Renzikowski (Fn. 1), S. 243 ff.; andererseits Pawlik (Fn. 1), S. 133 ff.; weit. Nachw. bei Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 34 Rn. 16 ff. und Lenckner/Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB27, 2006, § 34 Rn. 1, 21 und 30. 3 Vgl. dazu einerseits (qualifiziertes Überwiegen) Zieschang, in: Leipziger Kommentar (LK) zum StGB12, 2006, § 34 Rn. 76; Hoyer, FS Küper, 2007, S. 173, 180 ff.; Neumann, in: Nomos-Kommentar zum StGB3, 2010, § 34 Rn. 9, 11, 21 und 67; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT5, 2004, § 9 Rn. 111; andererseits (nur eindeutiges Überwiegen erforderlich) Küper, GA 1983, 295, 296 f.; Lenckner/Perron, in: Schönke/ Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 45 m.w. N. 4 Vgl. die Darstellung des Streitstands bei Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 46 f. 5 Symptomatisch etwa die kontrovers beurteilten Versuche, die Fälle des Abschusses eines gekaperten Flugzeugs über § 228 BGB zu legitimieren (dazu einerseits Hirsch, FS Küper [Fn. 3], S. 149 ff.; Rogall, NStZ 2008, 1 ff.; andererseits Merkel, JZ 2007, 373,
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Die angedeuteten Unklarheiten kommen nicht von ungefähr. Sie sind zu einem erheblichen Teil die Folge von Defiziten in der theoretischen Fundierung des Notstandsrechts. Ausgangspunkt einer überzeugenden Fundierung und Ausarbeitung dieses Rechts – im Blick auf Voraussetzungen und Grenzen – muss deshalb die Arbeit an dessen Fundament sein. I. Zum theoretischen Fundament: Unterschiedliche Vernunftgründe für die Gestattung gefahrenabwendender Eingriffe in fremde Güter Woraus dieses theoretische Fundament besteht, ist abstrakt leicht umschrieben: Es geht um die Gründe, die es legitimieren, im Falle einer Güterbedrohung – der bedrohten Person oder einem Dritten – zur Abwendung dieser Gefahr das Recht zu einem Eingriff in fremde Güter zu geben. Eine tragfähige Basis für das Notstandsrecht bilden diese Gründe nur, wenn sie es aus der Sicht beider am Rechtsverhältnis Beteiligten, also des in Not Befindlichen und des von der Abwendungsmaßnahme Betroffenen, vernünftig erscheinen lassen, ein Notrecht zu geben. Die Anerkennung des Rechts muss also wechselseitig vernünftig sein.6 Da Letzteres ganz sicher nicht ohne zusätzliche Voraussetzungen und Grenzen der Fall ist, bedeutet dies zugleich ein Weiteres: Die legitimierenden Vernunftgründe müssen auch so beschaffen sein, dass sie Aussagen zu den Voraussetzungen und dem legitimierbaren Ausmaß des Rechts zur Abwendung der Gefahr (Not) enthalten. Im Hinblick auf das Wesen rechtlicher Aussagen muss die unter bestimmten Voraussetzungen erfolgende Zuerkennung von Rechten bestimmten Ausmaßes schließlich noch eine weitere Voraussetzung erfüllen: Sie muss verallgemeinerungsfähig sein.7 Das unter bestimmten Voraussetzungen zuerkannte Recht, zur Abwendung der Gefahr in bestimmtem Ausmaß in fremde Güter einzugreifen, muss – mit anderen Worten – für alle Fälle, die diese Voraussetzungen erfüllen, als wechselseitig vernünftige Gestaltung des Rechtsverhältnisses bestehen können. Es ist leicht ersichtlich, dass vor dem Hintergrund dieser Bedingungen ein einheitliches Recht, zur Abwendung von Gefahren in fremde Güter einzugreifen, ausscheidet. Auf dieser Abstraktionshöhe lassen sich keine vernünftigen akzeptanzfähigen Aussagen formulieren. Diese werden erst möglich, wenn man in die 383 f.; Neumann, in: NK-StGB [Fn. 3], § 34 Rn. 77c [mit Überblick über weitere Lösungsansätze Rn. 77a–77e]) und die Uneinigkeit darüber, was der Defensivnotstand genau voraussetzt (vgl. dazu Köhler, FS Schroeder, 2006, S. 257 ff. m.w. N.). 6 Übereinstimmend für den Bereich des Notstands auch Köhler (Fn. 5), S. 257, 269: einer Regel entsprechen, „an der die betroffene Person . . . mitkonstitutiv (gesetzgebend) teilhat.“ 7 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Rechtslehre, Einleitung, §§ B und C ff., (Band IV, S. 357 ff. in der von Wilhelm Weischedel besorgten Kant-Ausgabe 1956).
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ein Recht zum Eingriff anerkennenden Aussagen weitere Umstände aufnimmt, die für das Ausmaß des Eingriffsrechts relevant sind. Hierzu gehört vor allem die Bedeutsamkeit des zur Abwendung der Gefahr in Anspruch genommenen Gutes für das Bestehen der Gefahr – ob also in ein Gut eingegriffen werden soll oder muss, von dem die zu behebende Gefahr ausgeht, oder ob dies nicht der Fall ist, zur Abwendung der Gefahr vielmehr ein unbeteiligtes Gut in Anspruch genommen wird. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch formuliert erst auf dieser konkreteren Ebene Notstandsregeln; und die herkömmliche (zivilrechtliche und strafrechtliche) Dogmatik unterscheidet auf dieser Ebene Defensiv- und Aggressivnotstand. Freilich wird auch dort, wo diese Unterscheidung benutzt wird, nur selten deutlich genug herausgearbeitet, dass das Recht, zur Abwendung der Gefahr in fremdes Gut einzugreifen, in beiden Fällen auf ganz verschiedenen Vernunftgründen und Rechtsprinzipien beruht8 – das Verständnis beider Sachverhalte als Unterfälle eines (in Wahrheit letztlich nur phänomenologisch verknüpften) Notstandsrechts und als Ausprägungen des Gedankens vom Vorrang des überwiegenden Interesses9 tun ein Übriges, die fundamentalen Unterschiede beider Sachverhalte im Begründungszusammenhang des Eingriffsrechts zu verdecken. Dass sie bestehen, zeigt auch der Blick auf die Materie, die sich mit der institutionellen Gefahrenabwehr beschäftigt, also das Polizeirecht.10 Dieser lässt zugleich erkennen, dass es sich um weit über die privaten Notrechte hinaus bedeutsame Rechtsprinzipien handelt, die auch für die institutionelle Gefahrenabwehr (material) bedeutsam sind. Freilich sind die vielfältigen Unklarheiten der Notstandsdogmatik nicht nur eine Folge der unzureichenden Erfassung der verschiedenen rechtsprinzipiellen Begründungen des Defensiv- und des Aggressivnotstands. Die Dogmatik des Notstands leidet auch darunter, dass zu wenig darüber nachgedacht wird, ob die Dichotomie von Aggressiv- und Defensivnotstand wirklich differenziert genug ist, um für alle Sachverhalte der Not und der etwa erwünschten Abwehr von Gefahren der Vernunft gerecht werdende Voraussetzungen und Grenzen von Eingriffsrechten zu formulieren. Es scheint Sachverhalte zu geben, die sich mit dieser Dichotomie und den an sie anknüpfenden Regeln nicht überzeugend fassen lassen und für die vernünftigerweise eine andere Regel gelten muss. Die Versuche, dem Defensivnotstand zur Begründung eines Eingriffsrechts Fälle zuzuordnen, die sich von dessen Kernbereich sehr weit entfernen,11 könnten darauf ebenso hindeuten wie die verbreiteten Bemühungen, durch die Absenkung des 8 Deutlich jedoch z. B. Köhler (Fn. 5), S. 257; Neumann, in: NK-StGB (Fn. 3), § 34 Rn. 88. 9 Vgl. etwa Seelmann, Das Verhältnis von § 34 StGB zu anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S. 32 ff.; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 7; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 24 Rn. 1. 10 Vgl. unten II. 3. und III. 4. a). 11 Vgl. die Beispiele oben Fn. 5.
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Wesentlichkeitskriteriums in § 34 StGB sachgerechte Lösungen für jene Fälle zu gewährleisten, die sich mit der vernunftbegründeten Regel für die Fälle des Aggressivnotstands nicht überzeugend lösen lassen.12 Darauf wird nach der Untersuchung der Fälle des Defensiv- und des Aggressivnotstands und der die Eingriffsrechte insoweit fundierenden Vernunftgründe und Prinzipien zurückzukommen sein. II. Eingriffe in die Güter des für die Gefahr Verantwortlichen 1. Das Notstandsrecht als Recht zur ersatzweisen Gewährleistung des Rechtszustands Von den angedeuteten Konstellationen erscheint unter prinzipiellem Aspekt am eindeutigsten die üblicherweise13 als Defensivnotstand bezeichnete Konstellation. Charakteristisch für sie ist, dass sich die zur Behebung der Gefahr (und der damit verbundenen Notlage) in Betracht kommende oder vorgenommene Handlung gegen die Person richtet, von der oder von deren Gütern die Gefahr ausgeht. Die Gefahr für fremde Güter mag dabei vom Zustand bestimmter Sachen (z. B. eines Hauses, einer Fabrikanlage) oder deren Eigenart (z. B. bei Tieren) oder von den Handlungen der Person ausgehen, in deren Güter zur Behebung der Gefahr eingegriffen wird oder eingegriffen werden soll – wie z. B. dem Abstellen von Sachen auf fremdem Grund oder der unzureichenden Sicherung gelagerter Sachen.14 Die Eingriffsgüter werden häufig Sachgüter sein – wie in den Fällen des § 228 BGB. Doch ist das nicht zwingend; die Behebung der Gefahr kann auch den Zugriff auf personale Güter (etwa die Freiheit) erfordern. Die Anerkennung eines Notrechts zur Beseitigung der Gefahr in diesen Fällen beruht nicht auf utilitaristischen Erwägungen.15 Sie setzt also nicht voraus, dass der verhinderte Schaden im konkreten Fall größer wäre als derjenige, der durch die Abwendung der Gefahr verursacht wird. Den Ausgangspunkt aller Überlegungen bildet vielmehr die Einsicht, dass der Einzelne (als verantwortliche Rechtsperson) den anderen und der Gemeinschaft etwas schuldet: dass von seinen Handlungen und seinem Herrschaftsbereich keine Gefahren für die Freiheit
12
Vgl. oben Fn. 3 und eingehend unten IV. Vgl. statt vieler Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 15 Rn. 72 ff., 111 ff.; Lackner/ Kühl, StGB26, 2007, § 34 Rn. 9 und 14, je m.w. N.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 3), § 9 Rn. 156. 14 Wenn die Gefahr unmittelbar von der Handlung ausgeht, wird freilich häufig ein Fall der Notwehr vorliegen – ggf. mit Einschränkungen des Notwehrrechts; zu insoweit nicht erfassten Handlungen Ortrun Lampe, NJW 1968, 88, 91; Otte, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998, S. 47 ff. und Roxin (Fn. 13), § 16 Rn. 73. 15 Die nach verbreiteter Ansicht begründend hinter dem Aggressivnotstand stehen, vgl. dazu noch unten III. 2. bei Fn. 60 ff. Zutreffend Köhler (Fn. 5), S. 257, 265. 13
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und die Güter anderer ausgehen.16 Die Verpflichtung, das eigene Handeln und den eigenen Herrschaftsbereich gefahrenfrei für andere zu organisieren, ist die immanente Voraussetzung der (wechselseitigen) Zuerkennung der Handlungsfreiheit und der Herrschaftsbefugnis über den eigenen Bereich – eine Einsicht, die sich unter anderem in Verkehrssicherungspflichten und einer entsprechenden Garantenstellung niederschlägt.17 Natürlich folgt aus dieser Verpflichtung noch nicht unmittelbar ein Notrecht anderer. Werden Verpflichtungen nicht erfüllt, so hat derjenige, der an der Erfüllung ein berechtigtes Interesse hat, im Normalfall den Klageweg zu beschreiten (oder sich ggf. sonst um die Einschaltung staatlicher Organe zu bemühen).18 Anders ist dies nur, wenn der dem Recht entsprechende Zustand auf diesem Weg nicht erreichbar ist – wie im Falle von Gefahren, zu deren Abwendung sofort gehandelt werden muss.19 Kommt der rechtlich Verpflichtete hier seiner Pflicht zu einer für andere gefahrenfreien Organisation nicht nach, so muss die Rechtsordnung dem davon Betroffenen prinzipiell das Recht geben, selbst für den dem Recht entsprechenden Zustand zu sorgen – andernfalls hätte der seine Pflicht nicht Erfüllende es in der Hand, durch sein Verhalten den Rechtszustand (bei Nichterreichbarkeit der zuständigen staatlichen Instanzen) zu verändern. Das Notrecht des in seinen Gütern unmittelbar Gefährdeten ist mit anderen Worten die unabweisbare, wechselseitig vernünftige Konsequenz daraus, dass die mangelhafte Organisation des anderen bei nicht rechtzeitiger Erreichbarkeit der zuständigen staatlichen Instanzen nicht zur Fiktivität des Rechtszustands führen darf. Es gibt dem von der mangelhaften Organisation des Handelns oder des Herrschaftsbereichs eines anderen unmittelbar in seinen Gütern Betroffenen (bzw. für ihn tätigen Dritten) das Recht, diesen Zustand im Blick auf die Nichterreichbarkeit der den Rechtszustand gewährleistenden Instanzen ersatzweise und durch Zwang bzw. durch eingreifende Maßnahmen selbst zu gewährleisten (bzw. wiederherzustellen).20 Das verbindet es im Ansatz mit dem Notwehrrecht.21
16 Vgl. dazu Jakobs, Strafrecht AT2, 1991, 28/14, 29/29 ff.; Köhler, Bewusste Fahrlässigkeit, 1982, S. 335 ff., 360; ders. (Fn. 5), S. 257 ff. (mit Unterschieden zu Jakobs); Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 212. 17 Vgl. statt vieler Jakobs (Fn. 16), 7/56 ff., 28/14, 29/29 ff.; Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 219 ff. 18 Vgl. Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 41; Pawlik (Fn. 1), S. 219 ff. m.w. N. 19 Denn hier ist das staatliche Gewaltmonopol, das durch den Verweis auf den Rechtsweg gewahrt werden soll, nicht bedroht; zur einschlägigen philosophischen Diskussion im Bereich der Notrechte vgl. Kühl, Die Notrechte im Naturrecht des 19. Jahrhunderts, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 313, 325 ff. 20 Zu dieser Querverbindung zwischen dem hier diskutierten Notrecht und der ersatzweisen Herstellung des Rechtszustands näher auch noch unten 3. 21 Übereinstimmend Pawlik (Fn. 1), S. 310; Neumann, in: NK-StGB (Fn. 3), § 34 Rn. 86; Köhler (Fn. 17), S. 237; Kühl, Strafrecht AT6, 2008, § 8 Rn. 135; Kühnbach, Solidaritätspflichten Unbeteiligter, 2007, S. 87 ff. m.w. N. Zu Unterschieden noch unten III.
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2. Folgerungen für die Dimension des Rechts Unproblematisch ist diese ersatzweise Gewährleistung des Rechtszustands durch den unmittelbar Bedrohten prinzipiell dann, wenn sich dessen Handeln in dem erschöpft, was der Verpflichtete selbst zur Gewährleistung der Gefahrenfreiheit seines Organisationsbereichs hätte tun müssen. Das gilt auch dann, wenn dieses geschuldete Verhalten in der Veränderung oder Aufopferung eines Gutes bestanden hätte.22 Hier verliert der Verpflichtete nur das, was er rechtlich ohnehin hätte aufgeben müssen; zusätzliche Güterverluste entstehen nicht. Freilich muss dies nicht so sein. Nicht selten ist dem Organisationspflichtigen die Herbeiführung eines gefahrlosen Zustands oder die Entschärfung einer entstehenden Gefahr durch güterneutrale oder güterschonende Maßnahmen (z. B. das bloße Zurückrufen eines Tieres) möglich, während der unmittelbare Bedrohte die Gefahr nur durch relativ massive Maßnahmen – bis hin zur völligen Zerstörung des bedrohenden Gegenstands – oder durch zusätzliche, vor der rettenden Maßnahme noch zu ergreifende Güterbeschädigungen23 abwenden kann. Hier ist das Recht zur ersatzweisen Gewährleistung des Rechtszustands unter Umständen mit Güterverlusten verbunden, die über das vom Organisationspflichtigen ohnehin Geschuldete hinausgehen. Freilich ist das allein kein Grund, dem in seinen Gütern Bedrohten das Recht zur ersatzweisen Gewährleistung des Rechtszustands zu versagen. Wenn der zur gefahrenfreien Organisation Verpflichtete nicht rechtzeitig das hierfür Notwendige erbringt, so kann das nicht zu Lasten derer gehen, denen er einen gefahrenfreien Zustand schuldet, vielmehr muss er es als Folge seiner die Güter anderer bedrohenden Organisation hinnehmen, dass dadurch zur Gewährleistung des rechtlich geschuldeten Zustands entstehende zusätzliche Kosten als von ihm selbst veranlasst ihn auch treffen. Allenfalls mag man an eine – freilich noch eigens zu begründende – Grenze im Falle der Disproportionalität denken.24 Das Recht eines von Gefahren aus dem Organisationsbereich eines anderen Bedrohten, die vom anderen geschuldete Gefahrenfreiheit (bei nicht rechtzeitiger Einschaltbarkeit der zuständigen staatlichen Instanzen) durch gefahrenaufhebende Maßnahmen zwangsweise selbst herstellen zu dürfen, besteht nicht nur, wenn es sonst sicher zu Beeinträchtigungen seiner Güter kommen würde. Es besteht auch bei der nur ernsthaften Möglichkeit, dass es infolge des Handelns oder des Zustands des Herrschaftsbereichs des anderen zu Beeinträchtigungen kommt.25 Denn auch bei einer ernsthaften Möglichkeit wäre der andere bereits selbst gehalten gewesen, Maßnahmen zu ergreifen, die diese Möglichkeit aus22
Weil anders der geschuldete Rechtszustand nicht herzustellen ist. Wie z. B. das Aufbrechen der Tür, die den Zugang zum Gashahn versperrt, zur Abwendung einer auch den Handelnden selbst und sein Eigentum bedrohenden Explosionsgefahr. 24 Siehe dazu näher unten III. 4. c). 23
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schließen – und muss es deshalb hinnehmen, dass demnächst möglicherweise Beeinträchtigte auf seine Kosten Maßnahmen zur Erhaltung des Rechtszustands ergreifen, wenn er das nicht selbst tut. Entsprechendes gilt, wenn Außenstehende nach dem bisherigen Handeln einer Person oder nach dem Zustand ihres Herrschaftsbereichs begründet davon ausgehen dürfen, dass es infolge dieses Handelns oder aus dem Herrschaftsbereich heraus demnächst zu Beeinträchtigungen an ihren Gütern kommen kann – mag das auch aus der (vollständigen) internen Sicht der Gefahrenfreiheit schuldenden Person anders sein.26 Denn der Zustand der Gefahrenfreiheit in Richtung auf die Güter Dritter, den eine Person in der Gemeinschaft schuldet, ist nicht schon ein Zustand, den nur sie selbst als gefahrenfrei wahrnehmen kann. Es ist vielmehr ein Zustand, bei dem andere keine begründete Besorgnis einer Gefährdung ihrer eigenen Güter haben müssen – da schon eine solche Besorgnis diese anderen in der Ausübung ihrer Freiheiten beschränkt und damit den Rechtszustand verschiebt, wenn sie ihr nicht begegnen dürfen.27 An dem von ihr selbst veranlassten Schein, dass von ihrem Handeln oder Herrschaftsbereich für die Güter Dritter Gefahren ausgehen, muss sich eine Person also in dem Sinne festhalten lassen, dass auf Gefahrenabwehr gerichtete Handlungen Dritter ihr gegenüber hier rechtmäßig sind.28 Grenzen bestehen für das eben skizzierte Recht des bedrohten Einzelnen zur Gefahrenabwehr freilich nicht nur insoweit, als dieses gegenüber erreichbarer staatlicher Hilfe subsidiär und auf solche Fälle beschränkt ist, in denen sofort oder rasch gehandelt werden muss (was nicht nur, aber vor allem bei unmittelbar bevorstehenden Beeinträchtigungen der Fall ist). Das Recht ist vor allem auch auf die Maßnahmen beschränkt, die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderlich sind.29 Eine andere Frage ist, ob das zur Gefahrenabwehr Erforderliche immer gestattet ist. Nahe liegend (und dem geltenden Recht entsprechend) sind insoweit 25 Dem entspricht die ganz herrschende Interpretation der (das Notstandsrecht mit definierenden) „Gefahr“ als der (ernsthaften) Möglichkeit des Eintritts einer Güterbeeinträchtigung – jedenfalls soweit es um die Offenheit der Entwicklung auf der Basis der objektiv gegebenen jetzigen Umstände geht. Vgl. dazu z. B. Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), Vorbem. § 32 ff. Rn. 10a; Lenckner/Perron, in: Schönke/ Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 13 und 18. 26 Dies deckt sich mit jener Auffassung in der Diskussion um die Voraussetzungen des Notstandsrechts, die insgesamt auf die (ex-ante) Perspektive des Handelnden abstellt; vgl. z. B. Jakobs (Fn. 16), 11/9; Freund, Strafrecht AT2, 2009, § 3 Rn. 9 ff., 55; Armin Kaufmann, FS Welzel, 1974, S. 393, 400 f.; Rudolphi, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 371, 384 f.; Pawlik (Fn. 1), S. 306 f. Anders die Meinung, die in die Beurteilung alle Umstände, und damit auch solche, die nur die Gefahrenfreiheit schuldende Person kennt, mit einbeziehen will, wie z. B. Erb, in: MK-StGB (Fn. 2), § 34 Rn. 63 ff.; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 13 m.w. N. 27 In der Sache übereinstimmend Pawlik (Fn. 1), S. 306. 28 Übereinstimmend Jakobs (Fn. 16), 11/9 f. 29 So auch übereinstimmend die Notstandsvorschriften zum defensiven Notstand, also § 228 BGB und – soweit man § 34 StGB auch als Basis des defensiven Notstands ansieht (oben Fn. 2) – § 34 StGB.
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gewisse Einschränkungen – etwa in dem Sinne, dass das Recht seine Grenzen findet, wo die Vornahme des zur Gefahrenabwehr Erforderlichen zu unverhältnismäßig großen Schäden (im Verhältnis zu den abgewendeten Gefahren) führen würde. Doch verstehen sich solche Begrenzungen nicht von selbst, sondern bedürfen – als Beschränkung der Möglichkeit, (zwangsweise) am Rechtszustand festzuhalten – einer Begründung, die auch vom so Beschränkten mitgetragen werden kann. Darauf wird zurückzukommen sein.30 3. Parallelen im Polizeirecht Notstandsmaßnahmen, die sich gegen den für eine Gefahr Verantwortlichen richten, sind nach allem insoweit erlaubt, als sie (und weil sie) die ersatz- und zwangsweise Erhaltung des Rechtszustands auf Kosten dessen darstellen, der selbst seine Pflicht zur gefahrenfreien Organisation nicht erfüllt. Dass dies die zutreffende Basis des Defensivnotstands ist, zeigt auch der Blick auf jenes Rechtsgebiet, dessen Hauptgegenstand die Beseitigung von Gefahren ist, die durch das Handeln oder aus dem Herrschaftsbereich bestimmter Personen drohen: das Polizeirecht. Noch genauer: das Polizeirecht, soweit sich dieses mit gefahrenbeseitigenden hoheitlichen Maßnahmen gegen so genannte Störer befasst.31 Die insoweit vorfindbaren Kennzeichnungen und Begründungen bestätigen das hier Erarbeitete und liefern überdies Erkenntnisse, die für die weitere Konkretisierung des Notrechts des Notstandstäters hilfreich sein können.32 Die Übereinstimmungen beginnen bei der Kennzeichnung des legitimierenden Grundes des Vorgehens gegen den, der durch sein Handeln oder aus seinem Herrschaftsbereich heraus zur Gefahr für die Güter anderer oder die Allgemeinheit wird. Hier wie dort ist es die Nichterfüllung der Pflicht zur gefahrenfreien Organisation des eigenen Handelns bzw. des eigenen Herrschaftsbereichs, die das zwangsweise Vorgehen gegen den Pflichtigen legitimiert.33 Zwar hat die Polizei insoweit Möglichkeiten, die dem bedrohten Einzelnen fehlen; sie kann zunächst hoheitliche Anordnungen treffen und versuchen, auf diesem Weg die Herstellung 30
Siehe unten III. 4. c). Zum Begriff des „Störers“ im Polizeirecht Denninger, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts4, 2007, E 67 ff.; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr9, 1986, S. 307 ff., 318 ff.; Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für BadenWürttemberg6, 2009, § 6 Rn. 1, 8 ff., § 7 Rn. 2 ff.; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg6, 2005, Rn. 429 ff., 434 ff. 32 Die Parallele zwischen Notstand und staatlicher (institutioneller) Behebung von Gefahren findet sich auch bei Köhler (Fn. 5), S. 257, 262, 264, und Pawlik (Fn. 1), der die Pflicht zur Duldung notstandsbedingter Eingriffe Privater deshalb als „quasi-institutionelle Verpflichtung“ einordnet (z. B. S. 109, 112). Fortführung für den Defensivnotstand a. a. O. S. 308 ff. 33 Vgl. dazu für den Defensivnotstand eingehend Pawlik (Fn. 1), S. 311 ff. m.w. N. (dort S. 321 ff. auch zum umstrittenen Fall der Gefahr trotz rechtmäßiger Organisation); für das Polizeirecht Würtenberger/Heckmann (Fn. 31), Rn. 429 f., 343, 445 ff. 31
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des rechtlich geschuldeten Zustands zu erreichen.34 Aber wenn dies nicht weiterführt oder dieser Weg in concreto nicht gangbar ist, kommt es hier genauso zur direkten ersatzweisen Herbeiführung des Rechtszustands, die dem privaten Bedrohten von vornherein allein zur Verfügung steht – sei es im Wege der Ersatzvornahme, sei es durch unmittelbaren Zwang.35 Aber nicht nur in dieser grundsätzlichen Hinsicht bestätigt das Polizeirecht das hier zum Wesen des Handelns im (defensiven) Notstand und zum fundierenden Prinzip des Notrechts Gesagte. Es entspricht auch der ganz herrschenden Sichtweise im Polizeirecht, dass ein Recht zur Ergreifung gefahrenbeseitigender Maßnahmen nicht nur besteht, wenn es ohne diese Maßnahme wirklich zu Güterbeeinträchtigungen gekommen wäre, sondern auch dann, wenn im Zeitpunkt des auf Gefahrenbeseitigung gerichteten Handelns begründet vom Vorhandensein einer Gefahr ausgegangen werden durfte.36 Selbst in der Begründung bestehen insoweit Parallelen – so, wenn gesagt wird, dass durch die Verursachung einer scheinbar gefährlichen Situation gegen die unentbehrlichen Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens, nämlich die Basis für die freie Entfaltung anderer, verstoßen wird.37 Freilich bringt der Blick auf das Polizeirecht nicht nur eine Bestätigung der hier gewonnenen Einsichten zum Wesen und zum fundierenden Prinzip des Notrechts dessen, der im (defensiven) Notstand handelt. Die ausdifferenzierten Regelungen des Polizeirechts enthalten auch Aussagen über die zur Erhaltung des Rechtszustands in Betracht kommenden Maßnahmen, die in ihrer Detailliertheit weit über die Aussagen der Notstandsdogmatik zu den zulässigen Abwehrmaßnahmen hinausgehen.38 Auch wenn hier nicht alles übertragbar ist, bilden die gestuften, zugleich mit Verhältnismäßigkeitserwägungen verknüpften Kataloge der zulässigen Maßnahmen doch wertvolle Anhaltspunkte für die Konkretisierung der Handlungen, die bei der Behebung des defensiven Notstands vorgenom34 Vgl. wegen dieser – in der Regel zu nutzenden – Möglichkeiten OVG Berlin DVBl. 1980, 1053; Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 348 ff.; Wolf/Stephan/Deger (Fn. 31), § 8 Rn. 1, 13; Würtenberger/Heckmann (Fn. 31), Rn. 494 ff.; Kästner, JuS 1994, 361. 35 Vgl. dafür statt vieler Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 522 ff., 532 ff.; Würtenberger/Heckmann (Fn. 31), Rn. 769, 781 f.; Wolf/Stephan/Deger (Fn. 31), § 8 Rn. 1 ff. (mit Abgrenzung der Ersatzvornahme vom [bloßen] unmittelbaren Zwang). 36 Sog. Anscheinsgefahr; vgl. dafür Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 226 f.; Wolf/Stephan/Deger (Fn. 31), § 1 Rn. 34; Würtenberger/Heckmann (Fn. 31), Rn. 425; aus der Rspr. z. B. BVerwGE 45, 51, 60; VGH Baden-Württemberg VBlBW 2004, 218; OLG Düsseldorf NJW 1994, 2837. 37 So deutlich Würtenberger/Heckmann (Fn. 31), Rn. 425; Poscher, Gefahrenabwehr, 1999, S. 82; Drews, Preußisches Polizeirecht, 1. Band3, 1931, S. 65; wohl auch Drews/ Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 226. 38 Vgl. etwa die Kataloge zu polizeilichen Einzelmaßnahmen (in Baden-Württemberg §§ 26 ff. PolG) und die allgemeinen Vorschriften zur Art der Maßnahme (z. B. § 5 PolG BW).
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men werden dürfen – zumal wenn auch bei diesem Notstandsrecht Kriterien der Verhältnismäßigkeit zu beachten sein sollten.39 4. Konsequenzen für andere strafrechtliche Institute Das (aus der vernunftgebotenen Geltung des Rechtszustands abgeleitete) Prinzip, dass die von der Rechtsperson geschuldete Gefahrenfreiheit ihres Handelns und ihres Organisationsbereichs bei Nichterfüllung dieser Pflicht notfalls auch ersatzweise, durch Zwang und auf Kosten der Güter dieser Rechtsperson, hergestellt werden darf, bildet freilich nicht nur den gemeinsamen Hintergrund des defensiven Notstands und des Rechts der polizeilichen Gefahrenabwehr. Es ist auch das Prinzip, das am ehesten zur Legitimation von hoheitlichen Maßnahmen geeignet ist, deren grundsätzliche Berechtigung noch immer von manchen bestritten wird: der so genannten Maßnahmen der Besserung und Sicherung.40 Dass es zur Legitimation dieser Maßnahmen nicht ausreicht, ihre Nützlichkeit zur Gütererhaltung ins Feld zu führen, ist heute weitgehend anerkannt.41 Der gegenüber dem Gefährlichen geübte Zwang muss auch mit den Prinzipien des Rechts vereinbar sein.42 Manche halten das für unmöglich; für sie liegt im präventiven Zugriff auf die gefährliche Person eine mit der Verantwortlichkeit der Person unvereinbare Vorgehensweise.43 Sie lehnen daher das Konzept vorbeugender gefährlichkeitsbekämpfender Maßnahmen entweder überhaupt ab oder versuchen, Maßnahmen wie die Sicherungsverwahrung in eine vom Betroffenen angesichts seines bisherigen Verhaltens verdiente Strafe umzudeuten.44 Die hier als Hintergrund des defensiven Notstands wie des gefahrenabwehrenden Polizeirechts erfassten Prinzipien könnten auch in dieser Legitimationsfrage weiterhelfen. Denn sie lenken den Blick auf jene Aspekte, die in dem herkömmlichen Gefahrenvorbeugungskonzept der Maßregeln unterthematisiert sind, für die Legitimation der vorbeugenden Maßnahmen aber zentrale Bedeutung besitzen. Grund und Voraussetzung dafür, dass gegenüber einer Rechtsperson, die die Gefahrenfreiheit ihres Handelns und ihres Organisationsbereichs schuldet, ersatzund zwangsweise gefahrenabwendende Maßnahmen erfolgen dürfen, ist die be39
Dazu noch unten III. 4. c). Siehe dazu für das deutsche Recht die §§ 61 ff. StGB. 41 Vgl. dazu statt vieler Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil5, 1996, S. 86 f.; weit. Nachw. bei Frisch, ZStW 102 (1990), S. 343, 364 f.; anders z. B. noch Exner, Theorie der Sicherungsmittel, 1914, und eine Reihe anderer Autoren, die sich mit Erwägungen der Nützlichkeit begnügten. 42 So mit Nachdruck schon in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts Hellmuth Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1953, S. 37 ff.; Welzel, Das deutsche Strafrecht3, 1954, S. 175 f. 43 So z. B. Köhler (Fn. 17), S. 55 ff. 44 Im letzteren Sinne Mayer (Fn. 42), S. 65 f., 274 f.; Köhler (Fn. 17), S. 364, 371, 438 ff., 643. 40
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rechtigte Annahme, dass eine Aufhebung der Gefahren seitens der hierzu originär verpflichteten Person nicht erfolgt bzw. nicht gewährleistet erscheint. Das insoweit vorliegende Defizit seitens des Pflichtigen ist der legitimierende (Real-) Grund für Andere, institutionell oder quasi-institutionell ersatz- und zwangsweise tätig zu werden. Eben dies und nicht nur eine Prognose über zukünftige Entwicklungen ist auch das Entscheidende bei den vorbeugenden Maßnahmen des Strafrechts und ihrer Legitimation. Der Täter, der z. B. in der Vergangenheit mehrfach schwerwiegende Straftaten begangen hat, hat mit diesen Taten nicht nur mehrfach seine Pflicht zur straftatenfreien Organisation seines Handelns verletzt. Er hat durch diese Taten – zumindest in bestimmten Fällen – über die einzelnen Taten hinaus auch einen Sachverhalt geschaffen, der es nicht mehr (hinreichend) gewährleistet erscheinen lässt, dass er sein Handeln künftig straftatenfrei organisiert.45 Wir sprechen dem Täter damit nicht die allgemeine Verantwortlichkeit überhaupt ab.46 Es ist vielmehr so, dass die allgemeine Verantwortlichkeit, die normalerweise ausreicht, einer Person das Vertrauen entgegenzubringen, sie werde sich gefahrenfrei organisieren, und die uns von Einmischungen in ihre Lebensführung abhält, uns hier nicht mehr genügt.47 Der Täter hat dieses normative Grundvertrauen durch sein konträres empirisches Verhalten so nachhaltig erschüttert, dass es uns als (alleinige) Garantie für ein straftatenfreies Verhalten nicht mehr ausreicht und angesichts der unübersehbaren Empirie vernünftigerweise auch nicht ausreichen kann. Die Maßnahmen, die bei dieser Sachlage gegenüber dem Täter zur Gewährleistung des Rechtszustands ergehen, haben ihren Grund im defizitären Verhalten des Täters. Sie sind voraussehbare Folgen eines bestimmten Gesamtverhaltens, bei dem die Gemeinschaft wegen erkennbarer Defizite in der Handlungsorganisation des Täters nicht mehr auf die straftatenfreie Handlungsorganisation vertrauen kann und daher zur Gewährleistung des Rechtszustands zusätzliche Maßnahmen ergreifen muss.48 Das ist im Ansatz von denen richtig gesehen, die deswegen Maßnahmen wie die Sicherungsverwahrung nicht als vorbeugende (präventive) Maßnahmen, sondern als eine Form der Strafe ansehen49 – 45 Vgl. dazu schon Frisch, ZStW 102 (1990), 343, 373 ff.; das dürfte, wenngleich mit anderen Worten („fehlende kognitive Untermauerung der normativen Erwartung“) wohl auch Jakobs, HRRS 2004, 88, 91, meinen. 46 Das wäre auch ein Widerspruch zu seiner Bestrafung, zu der es in vielen Fällen ebenfalls kommt. Anders natürlich, wenn die allgemeine Verantwortlichkeit des Täters aus sonstigen Gründen (z. B. einer geistigen Erkrankung) zu verneinen ist. 47 Vgl. dazu auch schon Frisch, ZStW 102 (1990), 343, 373 ff.; ders., GA 2009, 385, 393 f. 48 Im Sinne des Verständnisses der sog. vorbeugenden Maßnahmen als Ersatz- oder Zwangsmaßnahmen („Fremdverwaltung“) zur Gewährleistung des Zustands der Straftatenfreiheit auch Jakobs, ZStW 117 (2005), 839, 842 f.; ders., HRRS 2006, 289, 295 f. 49 Wie z. B. Köhler (Fn. 17), S. 364, 371, 438 ff., 643; Mayer (Fn. 42), S. 65 f., 274 f.
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mag auch die Qualifikation als Strafe angesichts des fehlenden Tadelscharakters der Maßnahmen und ihrer bloßen Ausrichtung auf das, was zur Gewährleistung des Rechtszustands und der Verhinderung etwaiger Straftaten seitens des Täters im Blick auf dessen bisheriges Verhalten notwendig erscheint, zu weit gehen.50 III. Inanspruchnahme der Güter Unbeteiligter zur Abwendung von Gefahren 1. Die Problematik Die zweite Konstellation des Notstands, die Inanspruchnahme der Güter Unbeteiligter zur Rettung von in Gefahr (Not) geratenen Gütern, lässt sich mit dem bisher genannten Prinzip nicht begründen. Hier wird nicht zur Gewährleistung des Rechtszustands in die Güterwelt eines seinen Organisationspflichten nicht hinreichend Nachkommenden eingegriffen. Der Eingriff verändert – im Gegenteil – den an sich bestehenden Rechtszustand, jedenfalls den für den Normalfall bestehenden und gewährleisteten, aus Anlass der Not eines Einzelnen durch die Inanspruchnahme der Güter einer Person, von deren Organisationsbereich keinerlei Gefahren ausgehen. Dass das mit dem Recht vereinbar ist, sich gar auf ein rechtliches Prinzip zurückführen lässt, ist nicht selbstverständlich. Kant hat ein derartiges Notrecht mit Nachdruck in Abrede gestellt und es für nicht einsichtig erklärt, wie die Not einer Person dieser ein Recht soll geben können, in die Rechte und Freiheiten einer anderen Person einzugreifen.51 Hegel hat das anders gesehen und ein solches Notrecht nicht prinzipiell ausgeschlossen; doch hat auch er dieses Recht an enge Voraussetzungen geknüpft.52 Die Väter des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 haben sich dann zwar für die Kodifizierung eines solchen Notrechts in § 904 BGB entschieden, doch nur in engen Grenzen, nämlich in Gestalt des Rechts zum Eingriff in das Sacheigentum eines anderen, 50 Freilich ist die Beurteilung in diesem Punkt davon abhängig, was man als entscheidendes Kriterium der Strafe ansieht – nur den Rechtseingriff als (auch präventionsorientierte) Folge einer Straftat (so der EGMR, M. v. Deutschland, Beschw. Nr. 19359/04, Ziff. 122 ff. = HRRS 2010 Nr. 65) oder auch den Tadel und Vorwurfscharakter der Rechtsfolge (so die überwiegende Meinung in Deutschland, insbesondere auch die höchstrichterliche Rspr.). 51 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Einleitung in die Rechtslehre, Anhang, II. Das Notrecht (ius necessitatis), (Band IV, S. 343 in der Kant-Ausgabe von Wolfgang Weischedel, 1956); siehe auch Kant, Über den Gemeinspruch: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, 1793 (Band VI, S. 156 f. in der Ausgabe Weischedel); dazu Küper, Immanuel Kant und das Brett des Karneades, 1999, S. 1 ff., 20 ff. 52 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 127; ders., Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann und Homeyer, herausgegeben von Ilting, 1983, S. 84 und 244; eingehend dazu Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935; Küper, FS Otto, 2007, S. 79 ff.; Pawlik (Fn. 1), S. 80 ff.
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wenn dies zur Abwendung unverhältnismäßig großer Schäden notwendig ist.53 Dabei war selbst ein derartiges eng begrenztes Notstandsrecht bei seiner Einführung in hohem Maße umstritten.54 Im deutschen Strafgesetzbuch fehlte eine vergleichbare Vorschrift lange völlig; Rechtsprechung und Lehre behalfen sich mit der Figur eines so genannten übergesetzlichen Notstands,55 die (wohl) solche Konstellationen mit einschloss (ohne dass das freilich angesichts der diffusen Grenzen dieses übergesetzlichen Konstrukts völlig klar war).56 Der schließlich in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts kodifizierte allgemeine rechtfertigende Notstand des § 34 StGB lässt sich so verstehen, dass er Fälle der eben genannten Art mit umfasst – und zwar auch, wenn zur Abwendung von Gefahren in andere Güter Unbeteiligter als in deren Eigentum (z. B. in die Freiheit, die körperliche Integrität) eingegriffen wird.57 Da die Rechtfertigung in § 34 StGB an das wesentliche Überwiegen des Interesses am Eingriff gegenüber dem Interesse an dessen Unterbleiben geknüpft ist, wären damit auch Eingriffe in die Güter Unbeteiligter zulässig, wenn sie nur zur Rettung eines deutlich wertvolleren Interesses notwendig sind. Ob das nicht erheblich zu weit geht und das Gesetz hier nicht in Wahrheit mit Rücksicht auf elementare rechtliche Prinzipien zumindest einer deutlichen Einschränkung bedarf, ist in den letzten Jahren immer deutlicher als eines der Grundprobleme der Vorschrift erkannt worden.58 Hinterfragungsbedürftig ist die Figur des Notstands in der hier interessierenden Konstellation freilich nicht erst in Bezug auf die Weite und die Grenzen des Notrechts. Klärungsbedürftig ist, durchaus im Anschluss an Kant, vielmehr schon, ob es ein solches Recht überhaupt geben kann und wie es sich begründen lässt.59 53 Wegen des Hintergrunds der Vorschrift vgl. Hatzung, Dogmengeschichtliche Grundlagen und Entstehung des zivilrechtlichen Notstands, 1984, S. 134 ff., 152 ff., 167 ff.; Kühnbach (Fn. 21), S. 38 ff. 54 Zu dieser Diskussion vgl. z. B. Hatzung (Fn. 53), S. 134 ff.; Kühnbach (Fn. 21), S. 40 ff. 55 Vgl. dazu für die Lehre z. B. Graf zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestand strafbarer Handlungen, 1905, S. 127 f.; Beling, ZStW 18 (1898), 268, 276; ders., Grundzüge des Strafrechts11, 1930, S. 15 f.; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Band 2, 1930, S. 226 ff. m.w. N.; aus der Rspr. grundlegend RGSt 61, 242, 252 ff.; 62, 137 ff. 56 Die zentralen Entscheidungen des Reichsgerichts bezogen sich strukturell auf Kollisionsfälle, nicht unbedingt auf Fälle, in denen Handelnde sich zur Behebung einer Not der Güter völlig Unbeteiligter bedienten. Im Sinne der Einbeziehung auch eines solchen Falles aber z. B. BGHSt 12, 299 (eine Entscheidung, die dann auch gerade wegen dieses Ausgriffs von Bockelmann, JZ 1959, 495, heftig kritisiert wurde). 57 In diesem Sinne auch die heute ganz h. M.; vgl. statt vieler Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 1, 21 und 30 m.w. N.; Küper, JZ 1976, 516; eher strittig ist, ob auch die Fälle des Defensivnotstands in § 34 StGB geregelt sind; siehe dazu die Nachweise a. a. O. sowie bei Pawlik (Fn. 1), S. 132 ff. 58 Vgl. etwa Köhler (Fn. 17), S. 281 ff., 284 f.; Jakobs (Fn. 16), 13/33; Meißner (Fn. 1), S. 133 ff. 59 So auch Köhler (Fn. 17), S. 28 ff.; Kühl, FS Lenckner, 1998, S. 143 ff.; ders., FS Hirsch, 1999, S. 259 ff.; Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M.
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2. Versuche der Fundierung – Das Prinzip vernünftiger Selbstverpflichtung Um die Beantwortung dieser Grundfrage steht es nicht zum Besten. In vielen Darstellungen wird das Notrecht des § 34 StGB (oder werden die in diesem enthaltenen Notrechte) offenbar gar nicht als Problem empfunden. Wo Fundierungsversuche unternommen werden, sind diese oft relativ kurz und oberflächlich. Häufig begnügt man sich damit, dass es doch offenbar plausibel sei, wenn der drohende Untergang eines wertvollen Gutes oder Interesses durch den Zugriff auf ein deutlich weniger wertvolles abgewendet werde60 – wobei die Plausibilität dieser Lösung nicht selten noch durch die Anführung von Kollisionsfällen61 erhöht wird. Ein solcher Fundierungsversuch vermag nun freilich, ganz abgesehen von der Vermengung von Kollisions- und Aufopferungsfällen, nur aus der Sicht von Rechtsverständnissen zu überzeugen, die für die Richtigkeit rechtlicher Lösungen allein nach dem größeren Nutzen für die Güterwelt oder die Gemeinschaft fragen62 – also für utilitaristische oder kollektivistische Rechtskonzepte.63 Aus der Sicht eines Rechtsverständnisses, das die Autonomie und die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt rückt, fassen sie zu kurz und überzeugen nicht. Denn die Frage der Vereinbarkeit der genannten Lösungen mit der Freiheit und der Autonomie des von solchen Notstandsaktionen Betroffenen kommt in den genannten Fundierungsversuchen ja kaum vor. Eher diskutabel sind an dieser Stelle jene Ansätze, die die Duldungspflicht des von der Rettungshandlung einer anderen Person Betroffenen auf den Gedanken der Solidarität zurückführen64 und auch diese als Rechtsprinzip aufzuweisen versuchen. Das richtig verstandene Recht enthält damit nicht nur die Anerkennung (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1996, S. 171 ff.; Pawlik (Fn. 1), S. 3 ff. 60 Vgl. dafür z. B. Merkel, Die Kollision rechtmäßiger Interessen und die Schadensersatzpflicht bei rechtmäßigen Handlungen, 1895, S. 42; Graf zu Dohna (Fn. 55), S. 127 f.; Mezger, GS 89 (1924), 207, 313; Torp, ZStW 23 (1903), 100, 105; später Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 50 ff., 133 ff.; Joerden, GA 1991, 411, 414 ff., 420 ff. 61 Zu diesen und ihren Besonderheiten noch näher unten IV. 62 Wie – neben älteren Notstandskonzeptionen (oben Fn. 60) – in neuerer Zeit z. B. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode2, 1988, S. 68 ff., 110 ff.; ders., NJW 1980, 21, 22; Joerden, GA 1991, 414 ff.; Meißner (Fn. 1), S. 131 ff. 63 Über solche Konzepte im vorliegenden Kontext referierend Pawlik (Fn. 1), S. 32 ff., 51 ff. m.w. N.; zur Kritik z. B. Köhler (Fn. 17), S. 262 f.; Renzikowski (Fn. 1), S. 65, 203; Merkel (Fn. 59), S. 179 f.; Kühnbach (Fn. 21), S. 48 ff. m.w. N. 64 Vgl. neben Puppe, FS Stree/Wessels, 1993, S. 183, 185 z. B. Erb, in: MK-StGB (Fn. 2), § 34 Rn. 5 f.; Jakobs (Fn. 16), 11/3; Kühl, Strafrecht AT (Fn. 21), § 8 Rn. 1– 10; ders., FS Lenckner (Fn. 59), S. 143, 156 ff.; eingehender ders., FS Hirsch (Fn. 59), S. 259 ff.; Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983, S. 27, 31, 148; Merkel (Fn. 59), S. 180 ff.; Neumann, in: NK-StGB (Fn. 3), § 34 Rn. 9 ff.; Pawlik (Fn. 1), S. 57 ff., 112; Renzikowski (Fn. 1), S. 188 ff.
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der Autonomie und der Freiheit des Einzelnen, sondern schließt auch eine gewisse Solidaritätspflicht ein, die als Relativierung der Freiheit und Autonomie verstanden wird. In der Inanspruchnahme der Güter einer Person zur Rettung wesentlich überwiegender gefährdeter Interessen eines anderen realisiert sich damit das dem Recht ebenfalls eigentümliche Solidaritätsprinzip. – In der Sache weist das in die richtige Richtung. Freilich lässt der Ansatz manches offen.65 Leitfunktion und kritische Potenz hat er nur, wenn er nicht beim bloßen Aufweis der Solidarität als Rechtsprinzip stehen bleibt, sondern auch etwas zum Maß der geschuldeten Solidarität zu sagen vermag. Zudem bleibt die Frage nach der tieferen Begründung eines gewissen Maßes an Solidarität als Inhalt und Prinzip richtigen Rechts unbeantwortet – dass wir Belege für geschuldete Solidarität im positiven Recht vorfinden, ist insoweit keine ausreichende Fundierung.66 Indessen lässt sich die Antwort auf diese Fragen „nachliefern“. Tatsächlich hat die Anerkennung der Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Solidarität als Inhalt des Rechts dieselbe Wurzel, die auch der Anerkennung der Autonomie und der Freiheit des Einzelnen zugrunde liegt. Es ist die (allgemeine) Vernunft, die uns nicht nur gebietet, wechselseitig die Autonomie und die Freiheit des anderen anzuerkennen, sondern auch rät, uns – wiederum wechselseitig – zu einem gewissen Maß an Solidarität zu verpflichten.67 Zwar zwingt eine solche Selbstverpflichtung den, dessen Güter zufällig zur Abwehr der Gefahr für die Güter eines anderen benötigt werden, dazu, das benötigte Gut zu opfern. Aber sich zur Erbringung dieses Opfers wechselseitig (auch rechtlich) zu verpflichten, bleibt (und zwar für jedermann) trotzdem vernünftig, wenn man damit für den umgekehrten Fall das Recht erhält, erhebliche Schäden an den eigenen Gütern durch eine dem eigenen begrenzten Opfer entsprechende Inanspruchnahme fremder Güter zu verhindern. Es ist im Grunde die Vernunft einer maßvollen Versicherung, die hinter einer solchen Selbstverpflichtung steht.68
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Vgl. die Kritik von Pawlik (Fn. 1), S. 57 f.; Kühnbach (Fn. 21), S. 54 ff. Zumal die einschlägigen Vorschriften (wie z. B. § 323c oder § 34 StGB) keineswegs in allen Staaten existieren. 67 So – bei Unterschieden in den Einzelheiten – Merkel (Fn. 59), S. 171, 183 ff. (unter Weiterführung von Rawls „Theory of Justice“); Kühl, FS Hirsch (Fn. 59), S. 259, 272 ff. (unter Anknüpfung an den diskurstheoretischen Ansatz von Habermas) und Pawlik (Fn. 1), S. 80 ff., 103 ff. (unter Weiterführung der Überlegungen Hegels); zusammenfassend Kühnbach (Fn. 21), S. 63 ff., 82 ff. 68 Der Gedanke der Versicherung taucht u. a. auch bei Merkel (Fn. 59), S. 171, 185 auf; siehe nunmehr insbesondere Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 92 ff. (dort auch zu den Einwänden von Pawlik [Fn. 1], S. 69 ff. und Küper, JZ 2005, 109 f.); ders., GA 2010, 15, 20. 66
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3. Dimension der Selbstverpflichtung und des korrespondierenden Rechts Die (allgemeine) Vernunft steht freilich nicht nur hinter der Selbstverpflichtung überhaupt, sondern bestimmt auch deren Maß. Als vernünftig unmittelbar einsichtig ist eine solche Selbstverpflichtung insbesondere dann, wenn es auf der einen Seite um die Aufopferung nur sehr begrenzter, reparabler oder ersetzbarer Güter geht und das erbrachte Opfer vielleicht sogar noch durch Ersatzansprüche ausgeglichen oder relativiert wird,69 während auf der anderen Seite durch ein solches begrenztes, oft nur vorübergehendes Opfer der Verlust von oder gravierende Schäden an hochwertigen Gütern verhindert werden können. Beispiele sind die Rettung des Lebens oder die Verhinderung schwerer körperlicher Schäden durch die begrenzte Inanspruchnahme fremder Sachgüter oder Sachwerte. Aber auch wenn es auf beiden Seiten um Sachgüter oder Sachwerte geht, wird es noch allgemein als vernünftig angesehen, die Abwendung des Verlusts großer Sachwerte bei anderen durch begrenzte oder vorübergehende eigene Opfer zu ermöglichen,70 wenn man im nicht ganz unrealistischen reziproken Fall von einem entsprechenden Recht Gebrauch machen darf. Dagegen wird es z. B. ganz sicher nicht mehr allgemein als vernünftig akzeptiert, sich für den Fall der Lebensgefahr oder schwerer Leibesgefahr eines anderen im Blick auf eine vergleichbare Option im umgekehrten Fall zur Aufopferung eines wichtigen, wenn auch vielleicht paarig vorhandenen Organs zu verpflichten. Opfer dieser Art werden nicht nur von vielen zur Erhaltung des eigenen Lebensreservoirs und der eigenen Lebensgestaltung überhaupt abgelehnt, sondern bleiben, wenn sie erbracht werden, häufig bestimmten Situationen (etwa der Not eines nahen Angehörigen) vorbehalten – sind also jedenfalls Entscheidungen, die sich der Vernünftige als Ausdruck seiner freiwilligen konkreten Entscheidung vorbehält.71 Vor diesem Hintergrund ist die maßvolle Linie der zivilrechtlichen Vorschrift des § 904 BGB durchaus fundiert, während der allgemeine strafrechtliche Notstand des § 34 StGB insoweit keine hinreichende Konturierung aufweist und für die hier interessierenden Fallkonstellationen einer autonomieorientierten restriktiven Auslegung bedarf.72 Die Grundlinien dieser – selbstverständlich auch von 69 Ähnlich Pawlik (Fn. 1), S. 255 ff., 258 ff.: „Unerheblichkeit des Verlusts“ als Aufopferungsgrenze. 70 Siehe dazu auch Pawlik (Fn. 1), S. 268 ff., 273 f.; Roxin (Fn. 13), § 16 Rn. 72 – wobei freilich die Konkretisierung dieser Gedanken nicht ohne eine gewisse Dezision auskommt. 71 Ähnlich wohl Pawlik (Fn. 1), S. 259 ff.: keine Notstandsrechtfertigung von Eingriffen in die körperliche Integrität, die zu einer nachhaltigen Belastung führen würden, oder von Eingriffen, die sonst für die soziale Existenz des Eingriffsadressaten von besonderer Bedeutung sind.
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der zeitgebundenen Vernunft abhängigen – Konturierung wurden angedeutet; wegen ihrer Konkretisierung sei auf Ausführungen und Kommentierungen verwiesen, die dieser grundsätzlichen Linie verpflichtet sind.73 Wichtiger als diese Anreicherung im Detail erscheint es auch hier, noch kurz über diese Notstandskonstellation, das für sie maßgebende Prinzip und die daraus folgende Notstandsregel hinauszusehen. Denn wie schon im Falle des so genannten defensiven Notstands gibt es auch hier weitere Institute und Phänomene der Rechtsordnung, die ihre Wurzel im selben Prinzip haben. Und ebenso ist das gefundene Prinzip auch hier noch für die Lösung anderer strafrechtlicher Probleme bedeutsam. 4. Weitere Niederschläge des Prinzips a) Eine sehr deutliche Parallele zur notstandsrechtlichen Abwehr von Gefahren durch die Inanspruchnahme der Rechtsgüter unbeteiligter Dritter findet sich wiederum in dem der Gefahrenabwehr verpflichteten Polizeirecht.74 Ist die Gefahr weder durch Maßnahmen gegen den für die Gefahr Verantwortlichen noch durch eigene Maßnahmen der Polizei zu beheben, so kann diese auch die Güter und Freiheiten von Personen in Anspruch nehmen (nämlich ihnen gegenüber freiheits- oder güterbeanspruchende Anordnungen treffen), die für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht verantwortlich sind.75 Man ist sich einig, dass bei solcher Heranziehung eines Nichtverantwortlichen zur Gefahrenbehebung von diesem ein Sonderopfer verlangt wird.76 Das zeigt sich auch an den hohen Anforderungen, die in diesem Fall des so genannten polizeilichen Notstands an die Zulässigkeit der Heranziehung des Unbeteiligten gestellt werden: Wie im Falle des Notstandsrechts Privater muss eine Gefahr für bedeutende Güter bestehen.77 Aber selbst bei dieser Sachlage kommt eine Heranziehung nur in Betracht, wenn das dem Unbeteiligten abverlangte Sonderopfer zumutbar ist und ohne eigene Gefährdung erbracht werden kann.78 Sachlich bewegen sich die hinzunehmenden Opfer nach allem also im Bereich begrenzter Beeinträchtigungen
72 Übereinstimmend Köhler (Fn. 17), S. 281 ff.; Kühnbach (Fn. 21), S. 86 f.; Pawlik (Fn. 1), S. 160 ff., 244 ff., 258 ff., 273, 275. 73 Vgl. etwa Pawlik (Fn. 1), S. 236 ff., 244 ff., 268 ff. 74 Zutreffend Kühnbach (Fn. 21), S. 118 ff. 75 Sog. polizeilicher Notstand im Sinne des Vorgehens gegen einen Nichtstörer; vgl. dazu für Baden-Württemberg § 9 PolG; allgemein Denninger, in: Lisken/Denninger (Fn. 31), E Rn. 138 ff. (S. 357 ff.); Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 331 ff. 76 Vgl. etwa Würtenberger/Heckmann (Fn. 31), Rn. 473; Rachor, in: Lisken/Denninger (Fn. 31), L Rn. 33 (S. 1201); dem entspricht die Ausgleichspflicht gegenüber dem Nichtstörer (vgl. für Baden-Württemberg §§ 55 ff. PolG). 77 Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 333; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht6, 2009, Rn. 314; Schoch, Jura 2007, 676, 678. 78 Vgl. statt vieler Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 335; Schoch, JuS 1995, 30, 34: „Opfergrenze“.
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der Freiheit sowie gewisser Einschränkungen des Eigentums.79 Das entspricht dem oben aus grundsätzlichen Erwägungen zum zivilrechtlichen und strafrechtlichen Aufopferungsnotstand Entwickelten. Zwar ist die Beschränkung des zu Opfernden auf das, wozu sich der Vernünftige aus Gründen allgemeiner Vernunft letztlich freiwillig selbst verpflichten würde, nicht expressis verbis formuliert – in der Beschränkung auf das dem Unbeteiligten Zumutbare klingt sie aber doch an. Denn zumutbar ist letztlich nur das, was der Einzelne in Kenntnis aller relevanten Umstände vernünftigerweise auch selbst zu tun bereit wäre oder sein müsste – nicht das, wozu er sich aus Vernunftgründen nicht bereit erklären könnte.80 b) Der polizeiliche Notstand ist nicht das einzige Institut, in dessen Zusammenhang Unbeteiligten – wie im zivilrechtlichen und strafrechtlichen Notstand – begrenzte Sonderopfer zur Beseitigung von Gefahren oder zur Behebung von Not zugemutet werden. Auch das Strafrecht selbst enthält über die Notstandsregeln hinaus Beispiele, in denen Freiheiten und Güter Unbeteiligter zur Behebung von Gefahr und Not in Anspruch genommen werden. § 323c StGB, die so genannte unterlassene Hilfeleistung bei Notfällen und gemeiner Gefahr, ist insoweit ein Paradebeispiel. Diese Norm, die vom Einzelnen verlangt, dass er bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr die erforderliche Hilfe leistet, soweit diese ihm zumutbar ist, wird heute im Allgemeinen als Ausdruck einer Solidaritätspflicht verstanden.81 Für ein von der Autonomie des Einzelnen ausgehendes Rechtsverständnis liegt ihre tiefere Legitimation – vergleichbar mit den Fällen des Aufopferungsnotstands82 – darin, dass sie vom Einzelnen nur das fordert, wozu sich dieser aus Vernunftgründen selbst verpflichten müsste. Vor diesem Hintergrund ist dann insbesondere auch die Zumutbarkeitsklausel dieser Vorschrift auszulegen.83 c) Nicht nur Normen, die Unbeteiligte zur Behebung von Not in Anspruch nehmen, lassen sich als Ausdruck vernünftiger Selbstverpflichtung verstehen 79 Wie z. B. der befristeten Einweisung eines Obdachlosen; dazu Schenke (Fn. 77), Rn. 320 ff. – Als unzulässig werden dagegen Maßnahmen angesehen, die „zu einer Gefährdung an Leben oder Gesundheit oder dazu führen, dass überwiegende anderweitige Pflichten nicht erfüllt werden können“, vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 31), S. 335 m.w. N. 80 Zu diesem Zusammenhang zwischen Zumutbarkeit und Vernunft auch Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 408. 81 Vgl. statt vieler Lackner/Kühl (Fn. 13), § 323c Rn. 1; Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, S. 281 ff.; Kühnbach (Fn. 21), S. 104 f.; Momsen (Fn. 80), S. 407 f.; Seelmann, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 295; bei Kühnbach (Fn. 21), S. 105 ff. auch zu abweichenden Legitimationsversuchen. 82 Die Parallele wird oft betont, vgl. z. B. Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 53; Momsen (Fn. 80), S. 410 f. 83 Aus solcher Sicht weiterführende Überlegungen dazu bei Kahlo (Fn. 81), S. 293 ff., 301 ff., insbes. 331 ff., 343 ff., 348 ff., 354 ff.
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(und begrenzen). Der Gedanke vernünftiger Selbstverpflichtung bildet in Gestalt vernünftiger Selbstbeschränkung auch den Hintergrund der Einschränkung von Notrechten – gerade auch von solchen, die auf die Erhaltung des Rechtszustands zielen (wie das Recht des defensiven Notstands). Vernünftig erscheint es, auf die Erhaltung des Rechtszustands durch die Wahrnehmung eines Notrechts zu verzichten, wenn die Beeinträchtigung des eigenen Rechtszustands nicht sehr erheblich ist, während mit der Erhaltung des Rechtszustands durch Zwangsmaßnahmen große Schäden an den Gütern des von dem Notrecht Betroffenen verbunden wären. Zwar erschließt sich die Vernünftigkeit dessen nicht ohne weiteres aus der Perspektive der isolierten Betrachtung nur dieser Konstellation. Sie wird jedoch einsichtig, wenn man die wechselseitige Konsequenz eines solchen Verzichts bedenkt: Als allgemeine Regel wechselseitig gedacht und praktiziert, schützt die Bereitschaft zu solch begrenztem Opfer davor, im umgekehrten Fall selbst große Schäden bei der Erhaltung des Rechtszustands seitens anderer in für diese nicht sehr gravierenden Fällen hinnehmen zu müssen. Das Einverständnis mit einer solchen Regel, die für begrenzten Verzicht den Schutz vor großem Schaden in bestimmten Fällen verbürgt, ist vor allem dann vernünftig, wenn der Fall möglicher eigener Heranziehung durchaus realistisch ist – wie in Fällen leicht möglicher eigener Organisationsmängel oder von Kontrollverlusten mit nicht allzu erheblichen Auswirkungen auf fremde Güter und Rechte.84 Das ist der rationale Hintergrund der Verhältnismäßigkeitsklausel im Falle des defensiven Notstands (z. B. des § 228 BGB).85 Zugleich macht dieser Ansatz klar, warum der Vernünftige im Falle der Notwehr nicht so leicht bereit ist, das Recht auf Erhaltung des Rechtszustands an eine Proportionalitätsklausel zu binden:86 Da der Rechtstreue diesen Fall des Angewiesenseins auf die Regel durch die Unterlassung rechtswidriger Angriffe selbst leicht vermeiden kann,87 ist die Zustimmung zu einer solchen Regel für ihn nicht vernünftig – sie bedeutete für ihn nur Verzicht ohne Gegenleistung. Hier bedarf es mit anderen Worten anderer, möglicherweise nicht so weit tragender Gründe, um eine begrenzte Selbstverpflichtung zum Verzicht zu fundieren.88
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Zu solchen Fällen auch Pawlik, GA 2003, 12, 17 f.; Köhler (Fn. 5), S. 257 ff. Dazu, dass diese dem Betroffenen mit der Beschränkung des Abwehrrechts ein Sonderopfer zumutet, das dem Sonderopfer dessen vergleichbar ist, der vom Aggressivnotstand als Eingriffsadressat betroffen ist, vgl. auch Köhler (Fn. 17), S. 279; Pawlik (Fn. 84), S. 12 f.; Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 214; Kühnbach (Fn. 21), S. 89; Renzikowski (Fn. 1), S. 194 f., 238. 86 Zum Unterschied der Fälle auch Pawlik (Fn. 84), S. 12 f., 14 ff. 87 Dies jedenfalls, soweit es um vorsätzliche Angriffe seitens (in concreto) schuldfähiger Personen geht – also um die Fälle, für die das uneingeschränkte Notwehrrecht gilt. 88 Ein Versuch einer Erklärung unter Aufnahme des Unterschieds bei Pawlik (Fn. 84), S. 16. 85
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5. Zur Bedeutsamkeit des Prinzips für andere strafrechtliche Problemstellungen Der Gedanke, dass es auch aus der Sicht der autonomen Person vernünftig ist, die eigene Freiheit und bestimmte Güter zur Behebung von Not und Gefahren für die Güter anderer (einschl. der Allgemeinheit) in gewissem Umfang zur Verfügung zu stellen, bildet freilich nicht nur den legitimierenden Hintergrund schon heute bestehender Institute und Normen. Der Gedanke enthält auch eine fruchtbare Erkenntnisquelle für die Lösung mancher umstrittener Probleme, bei deren Lösung im Kern zu beantworten ist, inwieweit der Einzelne bei bestimmten Gefahren für fremde Güter die Wahrnehmung von Tätigkeiten, die an sich zu seiner Freiheit zählen, im Interesse der Erhaltung der (sonst gefährdeten) Güter zu unterlassen hat. Um diesen Punkt geht es letztlich in der Diskussion über die so genannte neutrale Beihilfe,89 soweit es sich um wirklich neutrale Tätigkeiten handelt.90 Kennzeichnend für diese Fälle ist, dass eine Person es für möglich oder wahrscheinlich hält, dass ihr neutrales Verhalten die Straftat eines anderen erleichtert oder ermöglicht – man denke an eine Bankangestellte, die es für wahrscheinlich hält, dass der Kunde, der eine Geldübertragung auf ein ausländisches Konto wünscht, eine Steuerhinterziehung oder eine Untreue plant. Als strafbare Beihilfe kommt ein solches Verhalten nur in Betracht, wenn das, was an sich zum Bereich der Handlungsfreiheit gehört,91 im konkreten Fall verboten ist – verboten deswegen, weil die Gefahr der Begehung einer Straftat besteht, die durch das Verhalten erleichtert oder ermöglicht werden könnte. Als Verbotsgrund taugt dabei naheliegenderweise nur die mögliche Begehung einer Straftat auf Grund des an sich neutralen Beitrags. Sachlich geht es damit darum, dass dem, der an sich neutral handelt, ein Stück Freiheit entzogen werden soll, um die Gefahr der Begehung einer Straftat durch den anderen zu reduzieren. Er wird mit anderen Worten in seiner Freiheit in Anspruch genommen, um die Straftat eines anderen zu erschweren und damit der insoweit bestehenden Gefahr für die Güter einzelner anderer oder der Allgemeinheit zu begegnen. Es geht also um die Aufopferung von Freiheit im Interesse der Reduzierung von Gefahren für die Güter anderer.92 Das ist ersichtlich die Grund89 Überblick über die verzweigte Diskussion bei Kindhäuser, Strafrecht AT4, 2009, 42/19–22; Lackner/Kühl (Fn. 13), § 27 Rn. 2a; Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 26 Rn. 218 ff. 90 Was nicht mehr der Fall ist, wenn es um Tätigkeiten geht, die ersichtlich bereits selbst deliktischen Sinnbezug aufweisen; zum Beihilfecharakter solcher Tätigkeiten Frisch, FS Lüderssen, 2002, S. 539, 544 ff. m.w. N., und ders., Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechung des Erfolgs, 1988, S. 280 ff. 91 Was bei den vorstehenden Handlungen unter dem Aspekt des Handlungstyps ersichtlich der Fall ist. 92 Zu dieser Sicht der Problematik schon Frisch, FS Lüderssen, 2002, S. 539, 549 ff.
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struktur jener Konstellation des Notstands, bei der die Güter von Personen, die an sich für die Gefahr nicht verantwortlich sind, zur Beseitigung oder Reduzierung der Gefahr für Güter anderer in Anspruch genommen werden. Dementsprechend sind es auch die Grundsätze des (Aufopferungs-)Notstands und das hinter diesem stehende Prinzip, die hier darüber bestimmen, ob die Freiheit des an sich neutral Handelnden in solchen Fällen besteht (und eine Beihilfe damit ausscheidet) oder nicht, weil nach den im Notstand maßgebenden Prinzipien verlangt und erwartet werden darf, dass eine an sich zum Freiheitsbereich gehörende Handlung unterbleibt – womit eine Beihilfe in Betracht kommt. Was das im Einzelnen bedeutet, habe ich an anderer Stelle ausgeführt.93 Angedeutet sei hier lediglich, dass die Aufopferung an sich bestehender Freiheit damit nur bei drohenden erheblichen Güterbeeinträchtigungen, also sehr gewichtigen Straftaten, in Betracht kommt und eine völlige Entziehung der Freiheit zum Handeln (und damit auch eine Beihilfe) ausscheidet, wenn es mildere Mittel gibt, die Gefahr einer Straftat zu reduzieren (wie etwa in den Fällen einer möglichen Steuerhinterziehung die Pflicht zur Mitteilung eines bestimmten Geschäfts, die diese Gefahr weitgehend ausschließt).94 IV. Eingriffe in Güter bei Kollisionen 1. Abgrenzung und Exemplifizierung der Fallkonstellationen Kennzeichnend für die Konstellationen des Defensivnotstands mit seinem weitreichenden Eingriffsrecht ist, dass zur Abwendung einer Gefahr in das Gut eingegriffen wird, von dem die Gefahr ausgeht – der vom Eingriff Betroffene muss es hinnehmen, dass auf seine Kosten der Zustand der Gefahrenfreiheit hergestellt wird, den er anderen schuldet und schuldig geblieben ist. Umgekehrt zeichnen sich die Fälle des Aggressivnotstands dadurch aus, dass zur Abwendung von Gefahren die Güter von Personen in Anspruch genommen werden, die mit der Gefahr an sich nichts zu tun haben, mithin Unbeteiligte sind. Das ihnen zugemutete Sonderopfer ist nur in den engen Grenzen vernünftiger Selbstverpflichtung legitimierbar. Ob sich mit diesen beiden Kategorien und den an sie anknüpfenden gravierend unterschiedlichen Eingriffsregeln alle Fälle sachgerecht bewältigen lassen, in denen drohende Gefahren nur durch den Eingriff in fremde Güter abgewendet werden können, erscheint fraglich. Dagegen sprechen nicht nur problematische Versuche, bestimmte Sachverhalte durch deren Qualifikation als Fälle des Defensivnotstands oder durch die Absenkung der Schwellen des Aggressivnotstands für Gütereingriffe zu öffnen. Auch die Analyse des Fallmaterials weist in diese Rich93 94
Vgl. Frisch (Fn. 92), S. 539, 550 ff. Vgl. dazu näher Frisch (Fn. 92), S. 539, 556 f.
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tung. In gewissen Fällen der Not (drohender Beeinträchtigungen) fällt es schwer, einen Gutsträger oder ein Gut als für die Gefahr verantwortlich anzusehen und dem Gutsträger oder dem Gut die Gefahr so zuzurechnen, dass es selbstverständlich erscheint, dass das Gut zu weichen hat, wenn dies zur Behebung der Not erforderlich ist – ohne dass freilich umgekehrt von einem an sich unbeteiligten, erst zur Gefahrenbehebung in Anspruch genommenen Gut gesprochen werden kann. Bisweilen scheint der Konflikt eher beiden oder keinem zuzurechnen, manchmal passt schon das Bild der von einem Gut ausgehenden Gefahr nicht – wie dann, wenn der zur Rettung oder Erhaltung der eigenen Güter erforderlichen Handlung die Güter und Freiheiten anderer im Wege stehen.95 Ohne fragwürdige und zufällig wirkende Qualifikationen mit gleichwohl schwerwiegenden Konsequenzen lässt sich in den betreffenden Fällen nur sagen, dass eine Kollision zwischen Gütern besteht oder dass die Vornahme bestimmter, an sich sinnvoller und zulässiger Handlungen mit Gütererhaltungsinteressen anderer kollidiert. Ein Beispiel dafür bildet der vom Reichsgericht als Kollisionsfall entschiedene Fall des Abbruchs einer Schwangerschaft zur Rettung des Lebens der Mutter,96 der heute freilich spezialgesetzlich geregelt ist.97 Man kann sich den Fall auch so vorstellen, dass eine notwendige Heilbehandlung oder Operation der Schwangeren zwangsläufig einen Abbruch der Schwangerschaft fordert oder diesen voraussichtlich bewirkt.98 Aber auch die Fälle der abgestürzten und an einem bald reißenden Seil hängenden Bergsteiger und das berühmte Brett des Karneades gehören strukturell zu dieser Fallgruppe.99 Ein besonders aktuelles Beispiel bilden die im Anschluss an die Ereignisse des 11. September 2001 intensiv diskutierten Fälle, in denen an sich zulässige Notwehrhandlungen gegen die terroristischen Entführer eines Flugzeugs, die mit diesem die Zerstörung eines Wirtschaftszentrums oder eines Kernkraftwerks mit Folgen für tausende von Menschen erreichen wollen, zwangsläufig nicht nur zur Tötung der Terroristen, sondern auch zum Tod der Insassen des entführten Flugzeugs führen würden.100 Auch hier kann man sich den Fall aber natürlich abgewandelt vorstellen – etwa in dem Sinne, dass es sich bei der entführten Maschine um ein freigepresstes Flugzeug handelt, das lediglich noch Fracht, allerdings sehr wertvolle, an Bord hat. Prakti95 Zu solchen Fällen im wörtlichen Sinne Pawlik (Fn. 1), S. 263 ff., und schon Pufendorf, De officio hominis et civis, Lund 1673, Lib. 1 Cap. V § 21 f. 96 RGSt 61, 242 ff. 97 Vgl. § 218a Abs. 2 StGB. 98 Die Fälle werden freilich durch die Fortschritte der Medizin, insbesondere der Neonatologie, immer seltener. 99 Zu ersteren die eingehenden Nachw. bei Pawlik (Fn. 1), S. 326 f.; zu letzterem umfassend Küper (Fn. 51), passim. 100 Vgl. zur Diskussion dieser Konstellation (im Rahmen der Prüfung des § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes von 2005) BVerfGE 115, 118 ff. = NJW 2006, 751 ff.; dazu u. a. Hirsch, FS Küper, 2007, S. 149 ff.; Merkel, JZ 2007, 373 ff. (dort auch 384 f. der Übergang zum Notstand); Rogall, NStZ 2008, 1 ff.
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sche Bedeutung haben heute vor allem solche Fälle, in denen zur Rettung gefährdeter Individualgüter Handlungen erforderlich sind, deren Vornahme Allgemeingüter verletzen würde – man denke an zur Rettung erforderliche Beeinträchtigungen der Verkehrssicherheit101 oder an Beeinträchtigungen von Umweltgütern, zu denen es kommt, weil zur Vermeidung einer Explosion und damit von Lebensgefahr bestimmte Gase oder Dämpfe freigesetzt werden müssen. 2. Die maßgeblichen Prinzipien: Praktische Konkordanz und Vorrang des höheren Wertes Es ist leicht ersichtlich, dass die bisher wegweisenden Prinzipien hier nicht mehr weiterhelfen. Das von der Rettungshandlung betroffene Gut (der Embryo, die Umweltmedien) oder dessen Träger (der andere Schiffbrüchige, die Insassen des Flugzeugs) haben die Notlage des an der Rettungshandlung Interessierten hier nicht dadurch verursacht, dass sie einem im Interesse des anderen bestehenden Organisationssoll nicht nachgekommen sind.102 Sie werden freilich auch nicht als Unbeteiligte in Anspruch genommen und – bildlich gesprochen – um ein Sonderopfer zur Behebung einer Not gebeten, die sie nicht unbedingt etwas angehen muss. Sie konkurrieren vielmehr aufgrund einer schicksalhaften Verkettung mit anderen Gutserhaltungsinteressen, insbesondere weil beide unbeeinträchtigt im konkreten Fall nicht nebeneinander bestehen können oder beide auf dasselbe Mittel zum Überleben oder zur Vermeidung sonstiger Beeinträchtigungen angewiesen sind.103 Sachlich bedeutet das, dass keines der konfligierenden Interessen hier von vornherein tendenziell zurückgesetzt werden darf, sich wegen einer besonderen Verantwortlichkeit für die Entstehung der Kollisionssituation oder für deren Lösung Abstriche gefallen lassen müsste. Beide Güter ringen vielmehr im Grundansatz gleichberechtigt um ihre Existenz und ihre Integrität. Und die Rechtsordnung hat für diesen Fall der Kollision von Gütern, der bei der diesen Gütern je für sich gegebenen Bestandsgarantie so noch nicht mitbedacht worden ist, eine Lösung zu entwerfen, die der prinzipiell gleichen Schutz- und Erhaltungswürdigkeit der Güter in angemessener Weise gerecht wird.104
101 Vgl. dazu die Rspr.-Nachweise bei Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 28. 102 Das kommt auch in der Diskussion zum Ausdruck, soweit etwa in den Fällen der Flugzeugentführung die Anwendbarkeit des Defensivnotstands wegen mangelnder Zurechnungsansätze verneint wird (Merkel, JZ 2007, 384 f.; Neumann, in: NK-StGB [Fn. 3], § 34 Rn. 77c). 103 Der Unterschied ist ansatzweise gesehen bei Erb, in: MK-StGB (Fn. 2), § 34 Rn. 150 ff.; Pawlik (Fn. 1), S. 262 ff. 104 Maßgebende gesetzliche Basis für die Auflösung solcher Konflikte wäre dabei § 34 StGB, der freilich im Wertungsmaßstab an die Besonderheit dieser Kollisionsfälle anzupassen ist.
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Das erste Ziel einer rechtlichen Lösung der Kollision muss es angesichts dieser gleichen Erhaltungswürdigkeit der Güter sein, möglichst beide Güter zu erhalten – wenn auch mit Abstrichen und der Zumutung begrenzter Risiken.105 Im Falle der Konkurrenz des Lebens oder der Gesundheit von Mutter und Embryo muss die erste Frage aus grundsätzlicher Sicht – nicht unbedingt im Einklang mit Zeitgeist und zeitgeistgeprägter Spezialgesetzlichkeit – also dahin gehen, ob es möglich ist, auf der Basis begrenzter und kontrollierbarer Risiken für die Mutter eine Fortsetzung der Schwangerschaft bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Kindes zu erreichen; im Falle der zur Lebensrettung erforderlichen Krankenhausfahrt müssen Abstriche von der optimalen Verkehrssicherheit in Gestalt abstrakter Risiken und Risikoschaffungen für die Integrität von Sachgütern (als ebenfalls in die Verkehrssicherheit eingeschlossene Güter) hingenommen werden, wenn dadurch die Rettungschancen entscheidend verbessert werden können.106 Die Lösung besteht also im Versuch, über das Prinzip einer praktischen Konkordanz107 die konkurrierenden Interessen durch Abstriche auf beiden Seiten zu versöhnen und in ihrem Kernbereich zu erhalten. Natürlich gibt es Kollisionsfälle, in denen eine Lösung auf diese Weise nicht erreichbar ist. Im Falle der unmittelbar bevorstehenden Explosion, die durch eine sofortige Öffnung aller Notventile mit entsprechender Belastung bestimmter Umweltmedien verhindert werden könnte, kann man sich eine Lösung nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz schwer vorstellen; ebenso wenig im Falle der in den nächsten Minuten notwendigen Maßnahmen gegen das von Terroristen gekaperte Flugzeug. Aber auch in anderen Fällen kann klar sein oder sich bald herausstellen, dass beide konkurrierenden Güter nicht nebeneinander bestehen können, sondern eines geopfert werden muss. In einem solchen Fall unumgänglicher Entscheidung zwischen den konkurrierenden Gütern kann das Recht sich nur für die Erhaltung des höherwertigen Gutes (Interesses) entscheiden, also ein Notrecht zu dessen Rettung geben. Es wäre unvernünftig und könnte im gedachten Diskurs der an einer sachgerechten Vorab-Lösung für diese Situationen beteiligten Vernünftigen nicht akzeptiert werden, in solchen Fällen dem geringeren Gut den Vorrang einzuräumen oder auf ein Notrecht für das höherwertige Gut überhaupt zu verzichten und dadurch möglicherweise dessen Untergang zu programmieren. Aber auch das Lösungsprinzip für die Entscheidung der Aufopferungsfälle, die Einräumung eines Notrechts nur für den Fall, dass das zu rettende Gut oder Interesse das von der Rettungshandlung betroffene bei weitem überragt, 105 Eine Konfliktlösung, die dem nicht Rechnung trägt, wäre im Sinne des § 34 StGB nicht angemessen. 106 In diesem Sinne auch die h. M.; eingehende Nachweise der Rspr. bei Erb, in: MK-StGB (Fn. 2), § 34 Rn. 125 ff.; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 28. 107 Zu diesem Prinzip wegweisend (insbesondere für Grundrechtskollisionen) Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20 (Neudruck), 1999, Rn. 317 ff.
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erscheint hier nicht sachgerecht.108 Denn die Zugrundelegung dieser Regel würde in den Kollisionsfällen dazu führen, dass der Rechtstreue ein Gut, das diesen hohen Distanzwert nicht erreicht, aber doch höherwertig ist als das kollidierende, ggf. preisgeben müsste. In Wahrheit gibt die hohe Distanz, die in den Aufopferungsfällen zwischen dem zu rettenden Gut oder Interesse und dem Eingriffsgut verlangt werden muss, in den Kollisionsfällen keinen Sinn. Sie hat ihren Grund bei den Aufopferungsfällen darin, dass die dort bestehende Not des einen den anderen, der mit seinem Gut an sich problemlos weiterleben könnte, zunächst nichts angehen muss, und von ihm daher nur das gefordert werden kann, was er als Vernünftiger zur Linderung einer ihn an sich nichts angehenden Not in freiwilliger Selbstverpflichtung beitragen müsste – und das ist eben nur eine begrenzte Leistung in Fällen, in denen sonst sehr erhebliche Güterverluste drohten. Von all dem kann in den Kollisionsfällen keine Rede sein: Hier geht es um konkurrierende Güter, die ein gemeinsames Problem haben, nämlich im hier interessierenden Ernstfall nicht einmal unter Abstrichen nebeneinander bestehen können. Hier muss dementsprechend, soll nicht das weniger wertvolle Gut das wertvollere verdrängen, schon die einfache Höherrangigkeit für die Befugnis zur Rettung genügen – also für die Rechtfertigung das ausreichen, was eine verbreitete Meinung jenseits der Defensivnotstandsfälle allgemeiner ausreichen lassen will: das eindeutige Überwiegen.109 Zuzugeben ist freilich, dass sich der Unterschied – zumal angesichts der zahlenmäßigen Begrenztheit der echten Kollisionsfälle – nur in wenigen Fällen auswirken dürfte. Sachlich folgt aus dem eben Gesagten zugleich, dass es Kollisionsfälle gibt, für die die Rechtsordnung nach ihren eigenen Maximen kein Notrecht zur Vornahme bestimmter Rettungshandlungen geben kann.110 So liegt es, wenn die Güter, die gerettet werden sollen, und die, die durch die Rettungshandlung vernichtet würden, gleichen Rang haben und auch sonst nicht mehr überzeugend differenziert werden kann – wie z. B. im Fall der Schiffsplanke, die auf Dauer nur einen der Schiffbrüchigen tragen kann.111 Ob dasselbe – bei Ablehnung eines Defensivnotstands – auch in den Fällen des als Rettungshandlung allein in Betracht kommenden Flugzeugabschusses gilt,112 ist eine offene Frage. Ihre Beant108 So wohl auch Erb, in: MK-StGB (Fn. 2), § 34 Rn. 150, allerdings ohne die Besonderheit solcher Kollisionsfälle ganz herauszuarbeiten. 109 Vgl. etwa Küper, GA 1983, 295, 296 f.; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 2), § 34 Rn. 45 m.w. N. auch der Auffassungen, die ein qualifiziertes Überwiegen fordern (was aber in Wahrheit nur in den Fällen der Inanspruchnahme der Güter Unbeteiligter zutreffend ist). Zum Ganzen auch Pawlik (Fn. 1), S. 269 ff. 110 Hier kommt dann vielmehr allenfalls eine (gesetzliche oder übergesetzliche) Entschuldigung in Betracht; vgl. auch Streng, FS Stöckel, 2010, S. 135, 156 f. 111 Übereinstimmend Erb, in: MK-StGB (Fn. 2), § 34 Rn. 117; Neumann, in: NKStGB (Fn. 3), § 34 Rn. 78. 112 Die Annahme eines Defensivnotstands im Verhältnis zu den Flugzeuginsassen (vgl. Hirsch, Köhler und Rogall [Fn. 5]) überzeugt nicht. Die Gefahr geht vom Flug-
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wortung hängt entscheidend davon ab, ob sich in Notstandslagen, in denen der Verzicht auf die Rettungshandlung dem von dieser betroffenen, ohnehin verlorenen Gut nicht helfen und nur zu zusätzlichen schweren Folgen an anderen Gütern führen würde, eine Ausnahme vom Erfordernis des Überwiegens des geretteten Gutes (Interesses) begründen lässt – etwa mit der Erwägung, dass das Verbot der Rettungshandlung hier keine sinnvolle Funktion mehr erfüllen könne.113 Diese letzte Frage bildet freilich ein schwieriges eigenständiges Thema, das im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr angemessen behandelt werden kann. Hier bleibt allein noch Raum für einen Glückwunsch: Ich widme den Beitrag Ingeborg Puppe, der hochgeschätzten Kollegin, die das Denken vom Grundsätzlichen her in besonderem Maße pflegt und die Theorie des Strafrechts so vielfältig bereichert hat, mit den besten Wünschen zum 70. Geburtstag.
zeug, nicht von den Insassen aus; und die vom Flugzeug ausgehende Gefahr kann den Insassen auch schwerlich überzeugend zugerechnet werden (Merkel, JZ 2007, 373, 384 f.; Neumann, in: NK-StGB [Fn. 3], § 34 Rn. 77c; Streng [Fn. 110], S. 135, 149 f.). 113 Zu solchen „asymmetrischen“ Gefahrengemeinschaften weiterführend Neumann, in: NK-StGB (Fn. 3), § 34 Rn. 77d–f m.w. N., aber auch Streng (Fn. 110), S. 135, 140 ff.
Gibt es keine unechten oder keine reinen Amtsdelikte? Zugleich ein Beitrag zur „Ehrenrettung“ des § 28 StGB Von Helmut Frister I. Einführung Beteiligt sich ein Extraneus an einem Amtsdelikt, so unterscheidet die überkommene und noch immer herrschende Auffassung1 bei der Anwendung des § 28 StGB danach, ob es zu dem von dem Amtsträger begangenen Delikt ein korrespondierendes Allgemeindelikt gibt oder nicht. Ohne ein solches Delikt begründe die Amtsträgereigenschaft die Strafbarkeit, so dass auf die Beteiligung eines Extraneus an solch „echten Amtsdelikten“ wie etwa der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) oder der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) § 28 Abs. 1 StGB anzuwenden sei. Gebe es dagegen ein dem begangenen Amtsdelikt korrespondierendes Allgemeindelikt, so werde durch die Amtsträgereigenschaft die Strafbarkeit lediglich verschärft. Auf die Beteiligung eines Extraneus an solch „unechten Amtsdelikten“ wie etwa der Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) oder der Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) sei deshalb § 28 Abs. 2 StGB anzuwenden. Dieses Ergebnis wird von Ingeborg Puppe2 und von vielen anderen Autoren3 als wertungswidersprüchlich kritisiert. Bei Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB werde der in der Amtspflichtverletzung liegende Unwert4 dem Extraneus in abgeVgl. etwa Fischer57 (2010), Vor § 331 Rn. 2; LK12 /Sowada (2009), Vor § 331 Rn. 9 f.; Lackner/Kühl26 (2007), Vor § 331 Rn. 2; Schönke/Schröder27 /Heine (2006), Vor § 331 Rn. 7 f., jeweils m.w. N. 2 Strafrecht AT Bd. 2 (2005), Rn. 43/20; NK3 (2010), §§ 28, 29 Rn. 6 f.; ZStW Bd. 120 (2008), S. 504 (505 ff.). 3 Vgl. besonders eingehend Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung (1999), S. 182 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 4 Ich verwende hier und im Folgenden den neutralen Begriff des „Unwerts“, um die Erörterungen nicht mit der von dem zugrundegelegten Deliktsaufbau abhängigen und m. E. sekundären Frage zu belasten, ob der Unwert der Kategorie des Unrechts oder der Schuld zuzuordnen ist. So hat z. B. Gallas es gerade als Errungenschaft der modernen Unrechtslehre angesehen, auch höchstpersönliche Unrechtsmerkmale zu ermöglichen (Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, in: Beiträge zur Verbrechenslehre [1986], S. 130 [158 f.]), während Puppe selbst die höchstpersönlichen Merkmale nunmehr wieder insgesamt in die Schuld verweisen will (ZStW Bd. 120 [2008], S. 504 ff.). 1
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schwächter Form zugerechnet. Da seine Strafe lediglich zu mildern sei, werde er für diesen Unwert ebenfalls bestraft. Bei Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB dagegen erfolge keine Zurechnung des in der Amtspflichtverletzung liegenden Unwerts. Der Extraneus werde so bestraft, als wenn der Haupttäter kein Amtsträger gewesen wäre. Für diese unterschiedliche Behandlung gäbe es keinen sachlichen Grund. Wenn der in der Amtspflichtverletzung liegende strafrechtliche Unwert „semiakzessorisch“ sei, müsse er auch bei den unechten Amtsdelikten in abgeschwächter Form zugerechnet werden. Sei er dagegen „nichtakzessorisch“, so dürfe eine solche Zurechnung auch bei den echten Amtsdelikten nicht erfolgen, so dass die Beteiligung eines Extraneus an solchen Delikten straflos bleiben müsste. Zur Abmilderung dieses (vermeintlichen) Wertungswiderspruchs innerhalb des § 28 StGB wird dessen Absatz 2 im Anschluss an Cortes Rosa5 teilweise nicht als Regelung des Schuldspruchs, sondern als bloße Strafrahmenregelung interpretiert.6 Beteilige sich ein Extraneus an einer im Amt begangenen Strafvereitelung oder Körperverletzung, so sei er zwar in Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB lediglich aus dem Strafrahmen der Strafvereitelung (§ 258 StGB) bzw. Körperverletzung (§ 223 StGB) zu bestrafen, aber gleichwohl wegen Beteiligung an einer Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) bzw. Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) schuldig zu sprechen. Auf diese Weise soll die Regelung des § 28 StGB wenigstens insoweit harmonisiert werden, als der in der Amtspflichtverletzung liegende strafrechtliche Unwert dem Extraneus im Rahmen des Schuldspruchs in allen Fällen, d.h. sowohl bei den echten als auch bei den unechten Amtsdelikten zugerechnet wird. Mit einer solch „halben“7, weil für den Strafrahmen folgenlosen und zudem – insbesondere wegen ihrer fehlenden Verallgemeinerbarkeit – mit dem Gesetz kaum zu vereinbarenden Lösung8 will sich Ingeborg Puppe nicht zufrieden geben. Sie plädiert im Anschluss an Sánchez-Vera9 für eine konsequent semiakzessorische Behandlung des Amtsträgermerkmals bei allen Amtsdelikten.10 Um eine solche zu ermöglichen, müsse das überkommene formallogische Verständnis der Begriffe „strafbegründend“ und „strafschärfend“ in § 28 StGB und die aus ihm resultierende Unterscheidung von echten und unechten Amtsdelikten aufgegeben 5
ZStW Bd. 90 (1978), S. 413 ff. Vgl. etwa Roxin, Strafrecht AT Bd. 2 (2003), Rn. 27/19; SK/Hoyer (2001), § 28 Rn. 4 f.; SK/Rudolphi/Stein (2003) Vor § 331 Rn. 23. 7 Puppe, ZStW Bd. 120 (2008), S. 504 (518). 8 Vgl. zu deren Kritik NK3 /Puppe (2010), §§ 28, 29 Rn. 38 f.; Frister, Strafrecht AT4 (2009), Rn. 25/36; sowie eingehend Grünwald, GS Armin Kaufmann (1989), S. 555, 567 ff.; und Küper, FS Jakobs (2007), S. 311 (318 ff.). 9 Pflichtdelikt und Beteiligung (1999), S. 195 ff. 10 Strafrecht AT Bd. 2 (2005), Rn. 43/23; ZStW Bd. 120 (2008), S. 504 (517 ff.); NK3 (2010), §§ 28, 29 Rn. 39 f. 6
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und auf die Beteiligung des Extraneus an einem Amtsdelikt einheitlich die Regelung des § 28 Abs. 1 StGB angewendet werden. Beteilige sich ein Extraneus an einer im Amt begangenen Strafvereitelung oder Körperverletzung, so sei er nicht nur wegen Beteiligung an einer Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) bzw. Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) schuldig zu sprechen, sondern auch aus dem – in Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB gemilderten – Strafrahmen dieser Delikte zu bestrafen. Diese Lösung beeindruckt durch ihre Konsequenz, hat mich aber ganz unabhängig von der offenen Frage, ob eine solch radikale Neuinterpretation des § 28 StGB mit dessen Wortlaut und Systematik wirklich zu vereinbaren wäre, im Ergebnis nicht überzeugt. Das Grundproblem der Diskussion über die Anwendung des § 28 StGB auf die Amtsdelikte sehe ich in der auch von Ingeborg Puppe nicht in Frage gestellten scheinbar selbstverständlichen Prämisse, dass der in der Amtspflichtverletzung liegende spezifische Unwert dem Extraneus im Rahmen des § 28 Abs. 1 StGB in abgeschwächtem Maße zugerechnet wird. Erst aus dieser Prämisse resultiert der vermeintliche Wertungswiderspruch innerhalb der überkommenen Interpretation des § 28 StGB, den Cortes Rosa durch die Deutung des Abs. 2 als Strafrahmenregel wenigstens abmildern und Sánchez-Vera sowie Ingeborg Puppe durch die generelle Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB vollständig beseitigen wollen. Nach meiner bereits an anderer Stelle11 skizzierten Auffassung, die ich im folgenden präzisieren und näher begründen möchte, beruht die Regelung des § 28 Abs. 1 StGB nicht auf einer abgeschwächten Zurechnung des in der Amtspflichtverletzung liegenden Unwerts, sondern erklärt sich daraus, dass auch die sogenannten echten Amtsdelikte neben diesem amtsspezifischen Unwert stets die Verletzung oder Gefährdung eines (anderen) Rechtsguts voraussetzen, das auch gegenüber dem Extraneus strafrechtlichen Schutz verdient. Wenn diese These richtig sein sollte, löst sich der vermeintliche Wertungswiderspruch in der überkommenen Interpretation des § 28 StGB auf, weil dann der spezifische in der Amtspflichtverletzung liegende Unwert dem Extraneus weder bei den echten noch bei den unechten Amtsdelikten zugerechnet, die Amtspflichtverletzung vielmehr in beiden Absätzen des § 28 StGB nichtakzessorisch behandelt wird. Ich werde meine Auffassung im Folgenden in drei Schritten entwickeln. Zunächst möchte ich zeigen, dass eine (abgeschwächte) Zurechnung des in der Amtspflichtverletzung liegenden Unwerts selbst durch die vorgeschlagene Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die unechten Amtsdelikte nicht widerspruchsfrei zu realisieren ist (unter II.). Nach dieser gewissermaßen immanenten Kritik wende ich mich dann der Frage zu, ob eine solche Zurechnung sachlich geboten ist, der in der Amtspflichtverletzung liegende Unwert also wirklich semiakzesso11
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rischer oder nicht doch höchstpersönlicher Natur ist (unter III.). Im dritten und letzten Schritt geht es dann um den Nachweis, dass die Regelung des § 28 Abs. 1 StGB und die daraus folgende Strafbarkeit der Beteiligung eines Extraneus an einem echten Amtsdelikt mit dieser höchstpersönlichen Natur der Amtspflichtverletzung durchaus vereinbar ist (unter IV.). II. Immanente Kritik der Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die unechten Amtsdelikte Der Vorschlag einer Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auch auf die unechten Amtsdelikte beruht – wie Ingeborg Puppe ausführt12 – auf der von ihrem akademischen Lehrer Gallas begründeten Lehre von der Doppelfunktion der Amtsträgerqualifikation bei den unechten Amtsdelikten.13 Der Unwert eines unechten Amtsdelikts ist nach dieser Lehre gegenüber dem entsprechenden Allgemeindelikt gleich in zweifacher Weise erhöht. Wer als Amtsträger eine Körperverletzung im Amt begehe, schädige zum einen das Ansehen und die Funktion des Amtes, womit seine Tat sozialschädlicher sei als ein entsprechendes Allgemeindelikt. Außerdem verletze er aber auch die besonderen Pflichten und das erhöhte Vertrauen, die mit seiner Amtsstellung verknüpft sind, worin ein zusätzlicher von der erhöhten Sozialschädlichkeit zu unterscheidender und im Gegensatz zu dieser höchstpersönlicher Unwert der Tat läge. Auch wenn sich Gallas selbst mit der herrschenden Meinung explizit für die Anwendung des heutigen § 28 Abs. 2 StGB (damals § 50 Abs. 2 StGB) auf die unechten Amtsdelikte ausgesprochen hat14, ist dessen Anwendung auf der Grundlage seiner Lehre insofern unbefriedigend, als der in der Amtspflichtverletzung liegende zusätzliche Unwert damit insgesamt nichtakzessorisch behandelt wird, obwohl er nur hinsichtlich der Pflichtverletzung höchstpersönlicher, hinsichtlich der erhöhten Sozialschädlichkeit aber akzessorischer Natur ist. Wenn die Amtspflichtverletzung teilweise akzessorischer Natur ist, dann ist deren Unwert dem Extraneus in abgeschwächtem Maße zurechenbar. Genau eine solch abgeschwächte Zurechnung wird durch die Regelung des § 28 Abs. 1 StGB ermöglicht, so dass es auf den ersten Blick naheliegt, die Überlegungen von Gallas in der Weise „zu Ende zu denken“, dass diese Regelung auch auf die unechten Amtsdelikte angewendet wird.
ZStW Bd. 120 (2008), S. 504 (517 ff.); NK3 (2010), §§ 28, 29 Rn. 40. Vgl. Gallas, ZStW Bd. 88 (1976), S. 174 f.; ders., Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, in: Beiträge zur Verbrechenslehre (1986), S. 130 (159). 14 Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, in: Beiträge zur Verbrechenslehre (1986), S. 130 (159). 12 13
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Die Problematik dieses Weiterdenkens wird jedoch offenbar, wenn man sich vor Augen führt, zu welchen Ergebnissen die Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB bei der Beteiligung eines Extraneus an einem unechten Amtsdelikt führt. Bei den beiden klassischen unechten Amtsdelikten, der Strafvereitelung und der Körperverletzung im Amt unterscheidet sich der Strafrahmen von dem der korrespondierenden Allgemeindelikte nur durch die erhöhte Mindeststrafdrohung von sechs bzw. drei Monaten, so dass der nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderte Strafrahmen des Amtsdelikts jeweils niedriger ist als der Strafrahmen des Allgemeindelikts. Die Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB führt damit bei beiden Delikten zu einem der intendierten Zurechnung des in der Amtspflichtverletzung liegenden Unwerts genau gegenteiligen Ergebnis. Die Beteiligung am Amtsdelikt würde nicht schwerer, sondern sogar leichter bestraft als eine Beteiligung an dem entsprechenden Allgemeindelikt. Ingeborg Puppe begegnet diesem von mir bereits an anderer Stelle15 erhobenem Einwand zwar mit dem Hinweis, dass es sich dabei um historisch überkommene Ungereimtheiten bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Strafrahmen handele, die nicht durch Auslegung des § 28 StGB, sondern nur durch den Gesetzgeber beseitigt werden könnten.16 Aber darauf ist zu entgegnen, dass die Auslegung des § 28 StGB dem Gesetzgeber nicht vorschreiben kann, wie stark er den Unterschied zwischen einem Amtsdelikt und einem korrespondierenden Allgemeindelikt gewichtet. Natürlich kann er bei einem unechten Amtsdelikt – wie dies z. B. bei der Gefangenenbefreiung im Amt (§ 120 Abs. 2 StGB) geschehen ist17 – auch eine gegenüber dem Allgemeindelikt erhöhte Höchststrafe vorsehen, aber dass er zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen generell dazu verpflichtet sein soll, die Strafrahmen so auszugestalten, dass der nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderte Strafrahmen des unechten Amtsdelikts den Strafrahmen des korrespondierenden Allgemeindelikts übersteigt, leuchtet nicht ein. Die Unangemessenheit einer derartigen Forderung wird offensichtlich, wenn man sich vorstellt, dass der Gesetzgeber – was ihm grundsätzlich unbenommen ist – ein Delikt des Totschlags im Amt schaffen wollte. Um zu gewährleisten, dass der nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderte Strafrahmen dieses neuen Delikts den Strafrahmen des § 212 StGB übersteigt, wäre selbst die absolute Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht ausreichend. Der Gesetzgeber müsste Strafrecht AT4 (2009), Rn. 25/35. ZStW Bd. 120 (2008), S. 504 (519 f.). 17 Vgl. für weitere Beispiele NK3 /Puppe (2010), §§ 28, 29 Rn. 33 f., die insbesondere darauf hinweist, dass das Gesetz seit 1998 die Amtspflichtverletzung auch als Regelbeispiel zur Konkretisierung besonders schwerer Fälle verwendet, die mit einer doppelt so hohen Strafe wie der einfache Fall bedroht sind (§§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 4, 264 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, 267 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 StGB), was aber m. E. insofern nicht besonders aussagekräftig ist, als bei diesen besonders schweren Fällen ganz heterogene Strafschärfungsgründe über einen Leisten geschlagen werden. 15 16
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deshalb dieses neue Delikt mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohen und zusätzlich noch den Strafrahmen des § 212 StGB absenken, um zu verhindern, dass bei einer Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB die Beteiligung eines Extraneus an einem Totschlag im Amt geringer bestraft wird als die Beteiligung an dem nicht von einem Amtsträger begangenen Totschlag. Dass damit die Unwertdifferenz zwischen dem neuen Amts- und dem Allgemeindelikt erheblich überzeichnet würde, liegt auf der Hand. Das Gedankenexperiment eines Totschlags im Amt mag arg theoretisch erscheinen, ist aber insofern lehrreich, als es besonders eindringlich daran erinnert, dass der Unwert eines unechten Amtsdelikts eben nicht nur durch die Amtspflichtverletzung, sondern auch und sogar vor allem durch die in dem korrespondierenden Allgemeindelikt selbstständig unter Strafe gestellte Rechtsgutsverletzung konstituiert wird. Dementsprechend besteht der Unwert eines unechten Amtsdelikts nach der Lehre von der semiakzessorischen Natur der Amtspflichtverletzung nicht nur aus zwei, sondern aus drei Komponenten: erstens aus der durch das korrespondierende Allgemeindelikt unter Strafe gestellten Rechtsgutsverletzung, zweitens aus der Schädigung des Ansehens und der Funktion des Amtes und drittens aus der Verletzung der besonderen Pflichten und des erhöhten Vertrauens, die mit einer Amtsstellung verknüpft sind. Führt man sich diesen Aufbau des Unwerts vor Augen, so wird deutlich, warum die Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die Beteiligung des Extraneus an einem unechten Amtsdelikt gerade bei einer harmonischen Abstimmung der Strafrahmen zu Ergebnissen führt, die der Intention der Lehre von der semiakzessorischen Natur der Amtspflichtverletzung genau entgegengesetzt sind. Da nach § 28 Abs. 1 StGB der gesamte Strafrahmen gemäß § 49 Abs. 1 StGB zu mildern ist, hat die Anwendung dieser Vorschrift auf die unechten Amtsdelikte die unbeabsichtigte Nebenfolge, dass auch der in diesem Strafrahmen mit enthaltene, durch das korrespondierende Allgemeindelikt selbstständig unter Strafe gestellte Unwert dem Extraneus nur noch in abgeschwächtem Maße zugerechnet wird. Sofern dieser Unwert – wie in der Regel – schwerer wiegt als die Amtspflichtverletzung selbst, ist die aus dieser unbeabsichtigten Nebenfolge resultierende Milderung gewichtiger als der angestrebte Effekt einer abgeschwächten Zurechnung der Amtspflichtverletzung, so dass sich per Saldo kein höherer, sondern sogar ein geringerer Strafrahmen ergibt. Als erstes Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass die Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die Beteiligung des Extraneus an einem unechten Amtsdelikt auch auf der Grundlage der Lehre von der semiakzessorischen Natur der Amtspflichtverletzung nicht zu überzeugen vermag. § 28 Abs. 1 StGB ermöglicht zwar die von dieser Lehre intendierte, im Rahmen des § 28 Abs. 2 StGB nicht erfolgende Zurechnung der Schädigung des Ansehens und der Funktion des Amtes, hat aber den gewichtigeren Nachteil, dass der durch das korrespondierende Allgemeindelikt unter Strafe gestellte Unwert dem Extraneus ebenfalls nur
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noch semiakzessorisch zugerechnet wird. Aufgrund dessen ist die der traditionellen Auffassung entsprechende Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB auf die unechten Amtsdelikte selbst bei einer semiakzessorischen Deutung des in der Amtspflichtverletzung liegenden Unwerts jedenfalls dadurch gerechtfertigt, dass sie gegenüber der vorgeschlagenen Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB noch immer das kleinere Übel darstellt. III. Legitimation der Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB auf die unechten Amtsdelikte Zu klären bleibt, ob es bei dieser Rechtfertigung als kleineres Übel sein Bewenden haben muss oder die Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB nicht darüber hinaus als sachlich richtig legitimiert werden kann. Letzteres würde voraussetzen, dass – entgegen der von Gallas begründeten Lehre – der in der Amtspflichtverletzung liegende Unwert nicht semiakzessorischer, sondern insgesamt höchstpersönlicher Natur ist. Um dies zu begründen, ist die für die Semiakzessorietät angeführte „Sozialschädlichkeit“ der Amtspflichtverletzung näher zu analysieren und dabei insbesondere der Frage nachzugehen, ob es sich bei ihr wirklich um eine zu der Verletzung der besonderen mit einer Amtsstellung verknüpften Pflichten hinzutretende weitere Unwertkomponente oder nicht lediglich um die generalpräventive Kehrseite dieser auch von Gallas als höchstpersönlich bewerteten Pflichtverletzung handelt. Gallas sieht die Sozialschädlichkeit der Amtspflichtverletzung in der aus dem Missbrauch des Amtes resultierenden Schädigung von dessen „Ansehen und Funktion“18, was der Sache nach der heute üblichen Beschreibung des gemeinsamen Unrechts der Amtsdelikte als Schädigung der „äußeren und inneren Funktionsbedingungen der Verwaltung“19 entspricht. Versucht man diese Schädigung näher zu beschreiben, so gelangt man zu den Überlegungen, mit denen in der Straftheorie allgemein die Folgen einer Normverletzung beschrieben werden.20 18 Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, in: Beiträge zur Verbrechenslehre (1986), S. 130 (159). Soweit er andeutungsweise die semiakzessorische Behandlung der Amtsträgereigenschaft auch damit rechtfertigt, dass sich die Anknüpfung an diese Eigenschaft auch aus der fehlenden Zugriffsmöglichkeit des Extraneus auf das geschützte Rechtsgut erkläre (vgl. in diese Richtung ZStW Bd. 88 [1976], S. 175; sowie auch Puppe, ZStW Bd. 120 [2008], S. 504 [512]), passt diese nur auf die echten Amtsdelikte, bei denen sie in der Tat der Schlüssel zur Erklärung des § 28 Abs. 1 StGB ist (vgl. dazu unter IV.). 19 Vgl. etwa Schönke/Schröder27 /Heine (2006), Vor § 331 Rn. 1; LK12 /Sowada (2009), Vor § 331 Rn. 16; sowie ausführlich SK/Rudolphi/Stein (2003), Vor § 331 Rn. 7 ff., alle m.w. N. 20 Besonders deutlich wird dies in der sehr präzisen und eingängigen Beschreibung dieser Schädigung bei SK/Rudolphi/Stein (2003), Vor § 331 Rn. 7 ff., die explizit von dem durch die Amtspflichtverletzung entstehenden „Geltungsschaden“ (Rn. 7b) sprechen.
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Das Ansehen (die äußere Funktion) des Amtes wird durch die Verletzung der besonderen mit einer Amtsstellung verknüpften Pflichten insofern geschädigt, als diese Verletzung das Vertrauen der Allgemeinheit beeinträchtigt, dass Amtsträger ihre mit dem Amt verbundenen besonderen Pflichten beachten, d.h. die Schädigung des Ansehens des Amtes ist nichts anderes als die aus der Straftheorie bekannte Beeinträchtigung des Vertrauens in die Beachtung der verletzten Norm. Entsprechendes gilt für die Schädigung der (inneren) Funktion des Amtes. Sie resultiert aus der negativen Vorbildfunktion einer Amtspflichtverletzung, ist also nicht anderes als die Beeinträchtigung der empirischen Geltung der verletzten Norm. Damit stellt sich heraus, dass die von Gallas beschriebene Doppelfunktion der Amtsträgerqualifikation kein Spezifikum der Amtspflicht (und auch kein Spezifikum von Sonderpflichten) ist, sondern sich für alle anderen Unwertmerkmale in prinzipiell gleicher Weise konstatieren ließe. Die Verletzung der mit einer Amtsstellung verknüpften besonderen Pflichten und die Schädigung des Ansehens und der Funktion des Amtes stehen zueinander in keinem anderen Verhältnis als die Tötung eines Menschen zu der Beeinträchtigung der empirischer Geltung des Tötungsverbots und des Vertrauens in dessen Beachtung. Die Verletzung der mit einer Amtsstellung verknüpften besonderen Pflichten beschreibt den Unwert und die Schädigung des Ansehens und der Funktion des Amtes den positiv-generalpräventiven Strafgrund der Amtspflichtverletzung. Wenn aber die „Sozialschädlichkeit“ der Amtspflichtverletzung nur die generalpräventive Kehrseite der höchstpersönlichen Pflichtverletzung ist, dann stellt sie keine eigenständige, zu dieser Pflichtverletzung hinzutretende und deshalb auch dem Extraneus zuzurechnende Unwertkomponente dar. Die Beschreibungen des strafrechtlichen Unrechts als Rechtsguts- bzw. Pflichtverletzung einerseits und als Normgeltungsschaden andererseits21 betrachten den gleichen Sachverhalt lediglich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und können deshalb nicht in der Weise kumuliert werden, dass man dem Täter neben der Rechtsguts- bzw. Pflichtverletzung zusätzlich vorwirft, einen Normgeltungsschaden verursacht zu haben. Eine solche Kumulation der traditionellen und der positiv-generalpräventiven Unrechtsbeschreibung ist schon deshalb ausgeschlossen, weil die der Ebene der Rechtsguts- bzw. Pflichtverletzung angehörenden strafrechtlichen Zurechnungsbegriffe auf der Metaebene des generalpräventiven Strafgrundes dieser Verletzung nicht anzuwenden sind. Das Charakteristikum des strafrechtlichen Unrechts besteht aus positiv-generalpräventiver Sicht nicht darin, dass der Täter in vorwerfbarer Weise (d.h. objektiv zurechenbar, vorsätzlich bzw. fahrlässig sowie 21 Vgl. zum Verhältnis dieser beiden möglichen Beschreibungen des strafrechtlichen Unrechts Deiters, Strafzumessung bei mehrfach begründeter Strafbarkeit (1999), S. 32 ff.
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schuldhaft) einen Normwiderspruch verursacht hat22, sondern dass er vorwerfbar eine Rechtsgutsverletzung verursacht bzw. eine besondere Pflicht verletzt und mit dieser vorwerfbaren Rechtsguts- oder Pflichtverletzung der Norm widersprochen hat.23 Wer die strafrechtliche Zurechnung damit begründet, dass der Täter einen Normwiderspruch verursacht habe, macht im Prinzip den gleichen methodischen Fehler, wie jemand, der sie deshalb ausschließen wollte, weil der Täter fest damit rechnete, dass seine Tat unentdeckt bleiben würde und deshalb hinsichtlich des Normwiderspruchs nicht vorsätzlich gehandelt habe. Er wendet die strafrechtsdogmatischen Zurechnungsbegriffe auf einer Metaebene an, für die sie nicht gedacht sind und auf der sie nichts zu suchen haben. Die strafrechtliche Zurechnung wird nur dadurch begründet, dass der Täter mit einer vorwerfbaren Rechtsguts- bzw. Pflichtverletzung der Norm widerspricht. Anderweitige Verursachungen von Beeinträchtigungen der empirischen Normgeltung können – wie etwa die Vortäuschung (§ 145d StGB) oder die Belohnung und Billigung (§ 140 StGB) von Straftaten – zwar ihrerseits eine (sekundäre) Rechtsguts- oder Pflichtverletzung sein24, aber nicht unabhängig von einer solchen die strafrechtliche Zurechnung begründen oder erhöhen. Dies gilt nicht nur für den Täter, sondern in gleicher Weise auch für den Teilnehmer. Auch er wird ungeachtet der (limitierten) Akzessorietät der Teilnahme nicht für eine fremde, sondern für eine eigene Normverletzung bestraft25 und haftet damit nur für seinen eigenen Normwiderspruch, d.h. die mit seiner eigenen Normverletzung verbundene Beeinträchtigung der Normgeltung. Deshalb könnte sowohl die als Schädigung der (inneren) Funktion des Amtes beschriebene negative Vorbildfunktion für andere Amtsträger als auch die als Schädigung des Ansehens (der äußeren Funktion) des Amtes bezeichnete Beeinträchtigung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Beachtung der verletzten Amtspflicht einem sich an einem Amtsdelikt beteiligenden Extraneus nur dann zugerechnet 22 So aber offenbar Niedermair, ZStW Bd. 106 (1994), S. 388 (391), der einen beim Täter vorliegenden verwerflichen Beweggrund dem Teilnehmer mit der Begründung zurechnen will, dass er die mit diesem Beweggrund verbundene „soziale Störung“, also den aus ihm hervorgehenden Normwiderspruch, verursacht habe (ihm zustimmend Roxin, Strafrecht AT Bd. 2 [2003], Rn. 27/12). Niedermairs Position ist insofern interessant, als sie die Verallgemeinerbarkeit der Begründung der Semiakzessorietät der Amtspflichtverletzung demonstriert. Wenn man damit beginnt, von höchstpersönlichen Unwertmerkmalen ihre generalpräventive Wirkung abzutrennen und letztere dem Teilnehmer zuzurechnen, dann gibt es am Ende nur noch semiakzessorische Merkmale. 23 Grundlegend Jakobs, Strafrecht AT2 (1991), Rn. 1/9; vgl. auch Frister, Strafrecht AT4 (2009), Rn. 2/23. 24 Vgl. dazu etwa Jakobs, Strafrecht AT2 (1991), Rn. 27/2, der auch die Regelung des § 30 StGB partiell als eine solche Sekundärnorm ansieht. 25 Vgl. dazu Langer, Das Sonderverbrechen (1972), S. 483; Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre (1988), S. 85 ff.; sowie aus generalpräventiver Sicht Jakobs, Strafrecht AT2 (1991), Rn. 22/6 ff.
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werden, wenn sie nicht nur eine ursächliche Folge seiner Teilnahmehandlung, sondern mit dieser selbst verbunden, d.h. die generalpräventive Kehrseite seiner Normverletzung wäre. Die Beteiligungshandlung eines Extraneus selbst intensiviert jedoch weder die negative Vorbildfunktion einer Amtspflichtverletzung für andere Amtsträger noch die mit einer solchen Verletzung verbundene Beeinträchtigung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Beachtung der verletzten Amtspflicht durch andere Amtsträger. Während sich bei der Verletzung allgemein geltender Normen der Normgeltungsschaden durch eine Teilnahme stets dadurch erhöht, dass neben dem Täter noch eine weitere Person der verletzten Norm widerspricht26, ist dies bei der Verletzung von Amts- und sonstigen Sonderpflichten nur der Fall, wenn auch der Teilnehmer der Norm widersprechen kann, d.h. seinerseits Adressat der verletzten Norm ist. Bei der Teilnahme eines Extraneus fehlt es an einem weiteren Normwiderspruch27, so dass sich der generalpräventive Gesamtschaden für die verletzte Amtspflicht durch eine solche Teilnahme nicht erhöht. So ist etwa bei einer im Amt begangenen Körperverletzung der Geltungsschaden für das Körperverletzungsverbot insgesamt höher, wenn der Amtsträger die Tat mit Hilfe eines Extraneus als wenn er sie allein begeht, weil der Extraneus durch seine Hilfeleistung ebenfalls dem Körperverletzungsverbot widerspricht. Aber der Geltungsschaden für die durch die Begehung der Körperverletzung zugleich verletzte Amtspflicht bleibt bei einer solchen Beteiligung konstant. In welchem Ausmaß eine im Amt begangene Körperverletzung das Ansehen und die Funktion des Amtes beeinträchtigt, hängt nicht davon ab, ob der Amtsträger allein oder mit Hilfe eines Extraneus gehandelt hat. Die Gesamtbeeinträchtigung von Ansehen und Funktion des Amtes erhöht sich nur, wenn sich der Amtsträger der Hilfe eines weiteren Amtsträgers bedient und damit beide eine Körperverletzung im Amt begehen. In der Feststellung, dass die Beteiligung eines Extraneus den aus der Haupttat resultierenden Geltungsschaden für die verletzte Amtspflicht nicht erhöht, spiegelt sich – wie aufgrund der Identität des betrachteten Gegenstands nicht anders zu erwarten – die auf der Primärebene der Rechtsguts- bzw. Pflichtverletzung konstatierte Höchstpersönlichkeit der Amtspflichtverletzung auch auf der Metaebene des positiv-generalpräventiven Strafgrundes wider. Die Beteiligungshandlung eines Extraneus ist also selbst nicht mit einer Beeinträchtigung des Anse26 Vgl. zur Bedeutung der Anzahl der Normwidersprüche und der widersprechenden Personen für den Normgeltungsschaden Deiters, Strafzumessung bei mehrfach begründeter Strafbarkeit (1999), S. 65 ff. 27 Anders Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung (1999), S. 170 mit der auf Jakobs, Strafrecht AT2 (1991), Rn. 23/15 bezugnehmenden Begründung, die vom Recht an einen Amtsträger gestellten Erwartungen gingen mittelbar alle Bürger an. Aber aus der Tatsache, dass die Einhaltung dieser Erwartungen für alle Bürger wichtig ist, folgt nicht, dass sie auch durch alle Bürger enttäuscht werden könnten.
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hens und der Funktion des Amtes verbunden und damit kann diese dem Extraneus nicht zugerechnet werden. Die Analyse dieses generalpräventiven Strafgrunds der Amtspflichtverletzung bestätigt im Gegenteil die Feststellung, dass es sich bei der Amtspflichtverletzung (wie bei allen echten Sonderpflichten) um ein höchstpersönliches Unwertmerkmal handelt. Als weiteres Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass die von Gallas begründete Lehre von der Doppelnatur der Amtspflichtverletzung nicht zu überzeugen vermag. Da die Schädigung des Ansehens und der Funktion des Amtes lediglich die generalpräventive Kehrseite der höchstpersönlichen Pflichtverletzung darstellt, ist auch sie einem Extraneus nicht zuzurechnen, so dass der in der Amtspflichtverletzung liegende strafrechtliche Unwert nicht semiakzessorischer, sondern insgesamt höchstpersönlicher Natur ist. Damit erweist sich auch das hinter dem Vorschlag der Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die Beteiligung eines Extraneus an den unechten Amtsdelikten stehende Anliegen als nicht begründet. Die traditionelle Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB ist also kein kleineres Übel, sondern die der Struktur des Unwerts entsprechende dogmatisch richtige Lösung, weil einem Extraneus der in der Amtspflichtverletzung liegende Unwert insgesamt nicht zuzurechnen ist. IV. Legitimation der Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die echten Amtsdelikte Damit stellt sich allerdings in aller Schärfe das Problem, wie die traditionelle Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB auf die Beteiligung des Extraneus an einem echten Amtsdelikt ungeachtet der höchstpersönlichen Natur der Amtspflichtverletzung legitimiert werden kann. Wenn einem Extraneus der in der Amtspflichtverletzung liegende Unwert insgesamt nicht zuzurechnen ist, dann scheinen diejenigen Autoren recht zu haben, die zumindest de lege ferenda für eine Straflosigkeit der Beteiligung des Extraneus an einem echten Amtsdelikt plädieren.28 Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Konsequenz jedoch als voreilig. Sie wäre nur dann zwingend, wenn es sich bei den echten Amtsdelikten tatsächlich um reines Amtsträgerunrecht handeln, d.h. der Unwertgehalt dieser Delikte sich – wie bei Dienstvergehen – in der Verletzung nur von Amtsträgern zu achtender Rechtsgüter erschöpfen würde. Dies allein daraus abzuleiten, dass die Amtsträgereigenschaft bei diesen Delikten definitionsgemäß strafbegründender Natur ist, das verletzte Rechtsgut also gegenüber einem als Täter handelnden Extraneus strafrechtlich nicht geschützt ist, greift insofern zu kurz, als dieser fehlende strafrechtliche Schutz auch darauf 28 Vgl. insbesondere Langer, Das Sonderverbrechen (1972), S. 480 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht AT2 (1975), Rn. 14/85 mit Anm. 25; weitere Nachweise bei SánchezVera, Pflichtdelikt und Beteiligung (1999), S. 168 Fn. 3.
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zurückzuführen sein kann, dass der tatsächliche Zugriff auf das betreffende Rechtsgut nur über einen Amtsträger möglich ist.29 So weist z. B. die Verfolgung eines Unschuldigen auch ohne die damit faktisch stets verbundene Amtspflichtverletzung sicherlich keinen geringeren Unwert auf als eine Strafvereitelung. Dass es zu der im Amt begangenen Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) anders als zu der im Amt begangenen Strafvereitelung (§ 258a StGB) kein korrespondierendes Allgemeindelikt gibt, erklärt sich allein daraus, dass man ohne eine entsprechende Amtsstellung zwar eine Bestrafung Schuldiger vereiteln, aber keine Unschuldigen strafrechtlich verfolgen kann. Dementsprechend unterscheidet sich der Aufbau des Unwerts der im Amt begangenen Verfolgung Unschuldiger nicht grundsätzlich von dem Aufbau des Unwerts einer im Amt begangenen Strafvereitelung. So wie bei dem unechten Amtsdelikt der Strafvereitelung im Amt der Unwert überwiegend durch die von der höchstpersönlichen Amtspflichtverletzung unabhängige Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs begründet wird, so liegt auch bei dem echten Amtsdelikt der Verfolgung Unschuldiger der Schwerpunkt des Unwerts auf einer Rechtsgutsverletzung, die zwar faktisch nur über einen Amtsträger herbeigeführt werden kann, aber normativ von der höchstpersönlichen Verletzung der Amtspflicht durchaus zu unterscheiden ist. Eine Verfolgung Unschuldiger wird nicht in erster Linie wegen der mit ihr verbundenen Amtspflichtverletzung, sondern deshalb bestraft, weil sie einem Bürger zu Unrecht den erheblichen Belastungen eines Strafverfahrens und der Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung aussetzt. Entsprechendes gilt bei näherer Betrachtung auch für alle anderen sogenannten echten Amtsdelikte. Bei der Rechtsbeugung (§ 339 StGB), der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB), der Gebührenüberhebung (§ 352 StGB) etc. erschöpft sich der strafrechtliche Unwert selbstverständlich nicht in der höchstpersönlichen Amtspflichtverletzung, sondern besteht auch und sogar in erster Linie in einer Rechtsgutsverletzung, die zwar faktisch nur über einen Amtsträger herbeigeführt werden kann, aber normativ von der höchstpersönlichen Verletzung der Amtspflicht ohne weiteres zu unterscheiden ist. Auch für die Vorteilsannahme und die Bestechlichkeit (§§ 331, 332 StGB) gilt – obwohl die gängige Beschreibung ihres Unrechts sich in der Formulierung kaum von der Beschreibung des allen Amtsdelikten gemeinsamen Unrechts unterscheidet30 – nichts anderes. Diese Delikte beugen der Gefahr vor, dass eine dienstliche Entscheidung durch Vorteile unsachlich beeinflusst wird.31 Dass eine solch unsachliche Beein-
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Dies deuten – wie in Fn. 18 ausgeführt – auch Gallas und Puppe jedenfalls an. Vgl. etwa NK3 /Kuhlen (2010), § 331 Rn. 9 ff.; Schönke/Schröder27 /Heine (2006), § 331 Rn. 3; SK/Rudolphi/Stein (2003), § 331 Rn. 4 f. 31 LK12 /Sowada (2009), Vor § 331 Rn. 34 ff., der in diesem Zusammenhang auch darauf hinweist, dass das Vertrauen der Allgemeinheit nur „die Kehrseite der faktischen Normgeltung darstellt“ (Rn. 35). 30
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flussung kein reines Amtsträgerunrecht ist, zeigen schon die Paralleldelikte der Vorteilsgewährung und Bestechung (§§ 333, 334 StGB). Handelt es sich damit bei dem Unwert der echten Amtsdelikte der Sache nach ebenfalls um durch die höchstpersönliche Amtspflichtverletzung lediglich qualifiziertes Allgemeinunrecht, so ist es nicht nur kriminalpolitisch verständlich, sondern dogmatisch richtig, dass der Gesetzgeber auch die Beteiligung eines Extraneus an einem echten Amtsdelikt nicht straflos lassen will. Anders als bei den unechten Amtsdelikten gibt es aber hier – weil nur Amtsträger einen faktischen Zugriff auf das geschützte Rechtsgut haben – im Besonderen Teil kein Allgemeindelikt, auf das zur Begründung einer solchen Strafbarkeit zurückgegriffen werden könnte, so dass sich die Notwendigkeit ergibt, die Teilnahmestrafbarkeit selbstständig zu regeln. Dies geschieht durch § 28 Abs. 1 StGB.32 Diese Regelung beinhaltet zum einen die grundsätzliche Wertentscheidung, dass das in den echten Amtsdelikten enthaltene Allgemeinunrecht auch als solches für eine strafrechtliche Ahndung hinreichend gewichtig ist, und quantifiziert zum anderen dieses Gewicht in der Weise, dass die in den Strafrahmen der echten Amtsdelikte mit enthaltene, dieses Unrecht qualifizierende höchstpersönliche Amtspflichtverletzung durch eine gemäß § 49 Abs. 1 StGB erfolgende Milderung dieser Strafrahmen pauschalierend wieder in Abzug gebracht wird. Natürlich ist eine solch pauschalierende Quantifizierung des in den echten Amtsdelikten enthaltenen Allgemeinunrechts der Natur der Sache nach sehr vergröbernd.33 Weil durch die Milderung des gesamten Strafrahmens gemäß § 49 Abs. 1 StGB genau genommen nicht der auf die höchstpersönliche Pflichtverletzung entfallende Anteil von dem auf das Allgemeinunrecht entfallenden Anteil abgezogen, sondern stattdessen beide Anteile in gleichem Maße gemildert werden34, hat dieses Vorgehen insbesondere den Nachteil, dass es keine Rücksicht darauf nimmt, welches Gewicht bei dem einzelnen Delikt das Allgemeinunrecht auf der einen und das Amtsunrecht auf der anderen Seite hat. Je relativ gewichtiger das in einem echten Amtsdelikt enthaltene Allgemeinunrecht ist, desto günstiger ist die Regelung des § 28 Abs. 1 StGB für den sich an einem solchen Delikt beteiligenden Extraneus. Aber daraus ließe sich nur dann ein durchschlagender Einwand gegen die vom Gesetzgeber gewählte Lösung ableiten, wenn eine bessere Alternative zur Verfü32 Vgl. zur strafbarkeitsbegründenden Natur dieser Regelung bereits Langer, Das Sonderverbrechen (1972), S. 482 ff. 33 Deshalb habe ich diese Form der Quantifizierung an anderer Stelle als „Notbehelf“ bezeichnet (Frister, Strafrecht AT4 (2009), Rn. 25/37). Puppe (ZStW Bd. 120 [2008], S. 504 [506]; NK3 [2010], §§ 28, 29 Rn. 7) greift diese Formulierung auf, versteht sie aber dahingehend, als würde ich aus kriminalpolitischen Gründen eine dogmatisch nicht begründbare Strafbarkeit befürworten. So war die Formulierung jedenfalls nicht gemeint. 34 Vgl. dazu bereits unter II.
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gung stünde. Diese könnte nur darin bestehen, die Beteiligung eines Extraneus an den echten Amtsdelikten im Besonderen Teil zu regeln35, d.h. bei jedem echten Amtsdelikt das in ihm enthaltene Allgemeinunrecht durch eine spezielle Strafdrohung für den sich an dem betreffenden Delikt beteiligenden Extraneus gesondert zu gewichten. Ein solches Regelungssystem wäre theoretisch durchaus denkbar, aber überaus aufwendig und würde in seinen Formulierungen notwendigerweise sehr gekünstelt erscheinen. Von daher kann man dem Gesetzgeber keinen Vorwurf daraus machen, dass er sich stattdessen für die das enthaltene Allgemeinunrecht pauschal gewichtende Regelung des § 28 Abs. 1 StGB entscheiden hat, die sich damit ungeachtet der höchstpersönlichen Natur der Amtspflichtverletzung bei den echten Amtsdelikten als eine sinnvolle und richtige Lösung erweist. Zu beachten ist allerdings, dass die bei einer Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB erfolgende Quantifizierung des in einem Amtsdelikt enthaltenen Allgemeinunrechts im Vergleich zur Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB nur die zweitbeste Lösung ist, so dass in Fällen, in denen die Anwendung beider Vorschriften möglich erscheint, die Regelung des § 28 Abs. 2 StGB den Vorrang verdient. Dies betrifft insbesondere den Fall, dass ein Delikt – wie die Gefangenenbefreiung im Amt (§ 120 Abs. 2 StGB) – hinsichtlich seiner Begehungsvariante ein unechtes und hinsichtlich seiner Unterlassungsvariante ein echtes Amtsdelikt ist.36 In diesem Fall ist auch bei der Beteiligung eines Extraneus an der Unterlassungsvariante die Regelung des § 28 Abs. 2 StGB entsprechend anzuwenden37 und aus dem Allgemeindelikt zu bestrafen, weil dieses das Gewicht des Allgemeinunrechts präziser zum Ausdruck bringt als die pauschalierende Regelung des § 28 Abs. 1 StGB. Diese Überlegenheit des § 28 Abs. 2 StGB besteht auf der anderen Seite nur, soweit es ein Allgemeindelikt gibt, welches das im Amtsdelikt enthaltene Allgemeinunrecht vollständig erfasst. Sieht man z. B. die Aussageerpressung (§ 343 StGB) im Hinblick auf die Nötigung (§ 240 StGB) als ein unechtes Amtsdelikt an38 und bestraft dementsprechend den bei einer Aussageerpressung behilflichen Extraneus nur gemäß §§ 240, 27, 28 Abs. 2 StGB, so bleibt unberücksichtigt, dass er sich an der Herbeiführung eines besonderen Nötigungserfolgs beteiligt hat, der erheblich schwerer wiegt als der Nötigungserfolg des § 240 StGB. Des-
35 So mit allerdings etwas anderem Akzent der Vorschlag von Langer, Das Sonderverbrechen (1972), S. 485; und Schmidhäuser, Strafrecht AT2 (1975), Rn. 14/85 mit Anm. 25. 36 Vgl. zu diesem Fall ausführlich Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung (1999), S. 188 ff. 37 Dies gilt allerdings nur, wenn diese Regelung – wie im Fall der Gefangenenbefreiung – für den Extraneus günstiger ist. Andernfalls stünde einer solchen Anwendung das Analogieverbot entgegen. 38 Vgl. etwa Lackner/Kühl26 (2007), § 343 Rn. 1; Schönke/Schröder27/Cramer/Sternberg-Lieben (2006), § 343 Rn. 1, beide m.w. N.
Gibt es keine unechten oder keine reinen Amtsdelikte?
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halb wird das in der Aussageerpressung enthaltene Allgemeinunrecht durch eine Milderung von deren Strafrahmen gemäß § 49 Abs. 1 StGB immer noch relativ besser erfasst als durch den Rückgriff auf die Nötigung, die das in der Aussageerpressung enthaltene Allgemeinunrecht nur partiell enthält. Daraus ist für die Abgrenzung von echten und unechten Amtsdelikten die Konsequenz zu ziehen, dass ein Amtsdelikt nicht schon dann unecht ist, wenn es alle Tatbestandsmerkmale eines Allgemeindelikts enthält, sondern nur dann, wenn das betreffende Allgemeindelikt mit Ausnahme der Amtspflichtverletzung auch alle Tatbestandsmerkmale des Amtsdelikts enthält, beide Delikte sich also nur durch das zusätzliche Merkmal der Amtspflichtverletzung unterscheiden. Davon kann aber z. B. bei der Aussageerpressung keine Rede sein, so dass diese mit der herrschenden Meinung39 nicht als unechtes, sondern als echtes Amtsdelikt zu qualifizieren und der bei einer Aussageerpressung behilfliche Extraneus gemäß §§ 343, 27, 28 Abs. 1 StGB zu bestrafen ist. Aus ähnlichen Gründen ist auch die Vollstreckung gegen Unschuldige (§ 345 StGB) ungeachtet der in ihr enthaltenen Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) als echtes Amtsdelikt anzusehen.40 V. Fazit Im Ergebnis hat sich damit gezeigt, dass die Regelung des § 28 StGB jedenfalls im Hinblick auf die Amtsdelikte besser ist als ihr Ruf. Der Wertungswiderspruch zwischen der vermeintlich semiakzessorischen Behandlung der Amtspflichtverletzung nach § 28 Abs. 1 StGB und deren höchstpersönlicher Behandlung nach § 28 Abs. 2 StGB löst sich auf, sobald man sich klarmacht, dass auch echte Amtsdelikte keine reinen Amtsdelikte sind, sondern einen aus einem Allgemeinunrecht und der Amtspflichtverletzung zusammengesetzten Unwert haben, und die Strafmilderung des § 28 Abs. 1 StGB gerade dazu dienen soll, von diesem zusammengesetzten Unwert den auf die Amtspflichtverletzung entfallenden Anteil pauschalierend in Abzug zu bringen. Es wird dann deutlich, dass die Amtspflichtverletzung nicht nur in § 28 Abs. 2 StGB, sondern auch § 28 Abs. 1 StGB ihrer sachlichen Struktur entsprechend als höchstpersönlich behandelt, d.h. dem Extraneus nicht zugerechnet wird. Da sich diese Überlegungen – ohne dass dies hier noch abschließend überprüft werden könnte – auch auf andere Sonderpflichten übertragen lassen dürften, erscheint mir die Regelung des § 28 StGB im Ergebnis lediglich im Hinblick auf die strafbegründenden besonderen persönlichen Beweggründe problematisch, weil hier der Teilnehmer gemäß § 28 Abs. 1 StGB sachwidrig auch dann bestraft 39 Vgl. etwa Fischer57 (2010), § 343 Rn. 1; LK12 /Zieschang (2009), § 343 Rn. 2; NK3 /Kuhlen (2010), § 343 Rn. 18, alle m.w. N. 40 Vgl. dazu Neumann, FS Lampe (2003), S. 643 (648 f.) m.w. N.
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wird, wenn er diese Beweggründe selbst nicht aufweist.41 Jedoch sind derartige Merkmale gottlob nur eine Randerscheinung und haben – wie Ingeborg Puppe überzeugend darlegt42 – in einem dem Tatschuldprinzip verpflichteten Strafrecht im Grunde keine Existenzberechtigung. Würden sie vom Gesetzgeber oder auch im Wege der Gesetzesinterpretation43 gänzlich beseitigt, so könnte die Strafrechtswissenschaft – wie mir derzeit scheint – mit der Regelung des § 28 StGB in ihrer traditionellen Auslegung ganz zufrieden sein. Aber wahrscheinlich wird mich Ingeborg Puppe schon bald nach dem Überreichen dieser Festschrift mit gewohntem Scharfsinn eines Besseren belehren.
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Vgl. dazu Frister, Strafrecht AT4 (2009), Rn. 25/33. ZStW Bd. 120 (2008), S. 504 (521); NK3 (2010), §§ 28, 29 Rn. 19 f. Vgl. dazu NK3 /Puppe (2010), §§ 28, 29 Rn. 22 ff.
„. . . hebt die Zeit sich selber auf“ – Strafverfolgung in Spätschadensfällen Von Sabine Gless I. Einleitung Ingeborg Puppe feiert in diesem Jahr ihren siebzigsten Geburtstag. Ihr umfangreiches Werk belegt mit seiner Vielfalt, Gedankentiefe und Originalität die vier Jahrzehnte, die seit Publikation ihrer ersten Monographie1 vergangen sind. Sie hat in fast allen Bereichen der Strafrechtswissenschaft geforscht. Viele Themen hat sie mit der ihr eigenen Denk- und Formulierungsschärfe über die Jahrzehnte so fortentwickelt, dass sie nicht mehr ohne ihren Beitrag gedacht werden.2 Wie jedes Jubiläum erinnert auch dieses daran, dass Zeitablauf zu den Grunderfahrungen des Menschen gehört, mit denen er beständig konfrontiert ist, ohne das Phänomen gänzlich fassen zu können. Zeit und ihre Bedeutung ist deshalb auch in vielfältiger Weise Gegenstand von Literatur. Nicht nur in Gestalt von Festschriften, sondern auch in anderen literarischen Kunstformen spielt die Zeit und ihr Ablauf eine zentrale Rolle. So hat etwa der Dichter Christian Morgenstern, den die Jubilarin für den ihm eigenen Sprachwitz ausserordentlich schätzt, einen anarchischen Weg gezeigt mit der Vergänglichkeit umzugehen. Er stellt die naturwissenschaftliche Prämisse in Frage, dass Zeit die Abfolge von Ereignissen beschreibt, die in eindeutiger Richtung als Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit kommend zur Zukunft fortlaufen. Exemplarisch dafür ist das Gedicht von der Korfschen Uhr: Korf erfindet eine Uhr, die mit zwei Paar Zeigern kreist, und damit nach vorn nicht nur, sondern auch nach rückwärts weist. Zeigt sie zwei, – somit auch zehn; Zeigt sie drei, – somit auch neun; Und man braucht nur hinzusehn, um die Zeit nicht mehr zu scheun. 1
Puppe, Die Fälschung technischer Aufzeichnungen, 1972. Dazu gehören etwa ihre Beiträge zur Kausalität im Rechtssinne, die in der Schweiz im Gepäck eines Ausserirdischen gelandet sind, vgl. Puppe, Kausalität – Ein Versuch kriminalistisch zu denken, ZStrR 107 (1990), S. 141–153. 2
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Denn auf dieser Uhr von Korfen, mit dem janushaften Lauf (dazu ward sie so entworfen): hebt die Zeit sich selber auf.
II. Verjährungsregelung im Sinne der Korfschen Uhr Wer aber glaubt, Christian Morgenstern stünde mit dieser skurrilen Erfindung alleine da, hat sich noch nicht näher mit § 78a StGB befasst. Dort heisst es: „Die Verjährung beginnt, sobald die Tat beendet ist. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährung mit diesem Zeitpunkt.“ § 78a Satz 2 StGB funktioniert genau nach dem Gesetz der Korfschen Uhr. Das führt das Beispiel der Verjährung von Fahrlässigkeitsstraftaten eindrücklich vor Augen: Zwar läuft die Zeit nach Vornahme einer pflichtwidrigen Handlung weiter, gemessen durch den Echtzeit-Zeiger, doch der andere Zeiger ist rückwärts gewandt und hebt mit Eintritt eines tatbestandsmässigen Erfolgs – allenfalls – die vergangene Zeit wieder auf. 1. Allgemein Die praktischen Konsequenzen einer solchen Konstruktion hat in jüngerer Zeit etwa der Einsturz des Holzdaches der Eiskunstlaufhalle in Bad Reichenhall vor Augen geführt. Das falsch konstruierte (und schlecht gewartete) Holzdach stürzte im Januar 2006 unter der Last einer tonnenschweren Schneedecke ein und tötete 15 Menschen, überwiegend Kinder; weitere Personen wurden verletzt. Die Fehler in der statischen Berechnung der Trägerkonstruktion hatte Anfang der 70er Jahre ein damals 30 Jahre alter Bauingenieur gemacht.3 Ihn verurteilte das LG Traunstein im November 2008 wegen fahrlässiger Tötung zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. 2. Strafrechtliche Zurechnung im konkreten Fall Das Tatgericht sah in dem Umstand, dass der Mann für einen Jahrzehnte zurück liegenden Fehler bestraft wurde, kein Hindernis für eine Verurteilung. Auch die extrem lange Zeitspanne zwischen den beiden Momenten, welche die strafrechtliche Zurechnung begründen – nämlich der pflichtwidrigen Handlung und der dadurch verursachten Rechtsgutsverletzung – lasse die strafrechtliche Zurechnung nicht entfallen. Vielmehr sei gerade bei Bauwerken ein schleichender
3 Unter anderem stand das Dach auf 2,87 Meter hohen Hauptträgern, obwohl sie bei der angewandten Bauweise nur bis 1,20 Meter Höhe zugelassen waren. Weder ein anderer Baubeteiligter noch die Bauaufsicht bemängelten die Konstruktionsfehler.
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Schadensprozess nicht völlig ungewöhnlich, sondern eher typisch.4 Die Argumentation des Gerichts erstaunt nicht wirklich, denn der Umstand, dass zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Erfolgseintritt sehr viel Zeit vergeht, wird regelmässig nicht auf der Ebene der Zurechnung, sondern im Rahmen der Verjährung berücksichtigt. Doch auch die Frage der Verjährung diskutiert das Gericht nicht umfänglich, sondern verweist im Wesentlichen auf die Regelung des § 78a StGB. Demzufolge beginne die Verjährung eben erst am 2. Januar 2006 und dauere dann gem. § 78 Abs. 3 Ziffer 4. StGB fünf Jahre.5 Zweifel an der Angemessenheit dieser Lösung äusserte das Gericht nicht, obwohl nach regulärer Zeitmessung zwischen pflichtwidriger Handlung und Erfolgseintritt ein Vielfaches der Dauer der Verjährungsfrist lag. 3. Lex mitior und Rückwirkungsverbot Lediglich im Nachsatz weist das LG Traunstein darauf hin, dass zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Pflichtwidrigkeit noch eine andere gesetzliche Regelung gegolten hat. Nach der zu Beginn der 70er Jahre gültigen Vorgabe des § 67 Abs. 4 StGB a. F. begann die Verjährung mit dem Tage, „an welchem die Handlung begangen ist, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des eingetretenen Erfolges.“6 Dem Wortlaut dieser Norm zufolge wäre die Tat des – über dreissig Jahre später – Angeklagten also bereits verjährt gewesen, und zwar noch bevor sie „begangen“ wurde bzw. bevor der sehr viel später hinzutretende Erfolg die pflichtwidrige Handlung als Anknüpfungspunkt für fahrlässige Tötungen qualifizierte. Dass diese Regelung dem Angeklagten nicht als lex mitior zu Gute kommen sollte, begründet das Gericht zum einen mit einem Hinweis darauf, dass das Rückwirkungsverbot nicht für Verfahrensrecht gelte, zum anderem mit der zum Tatzeitpunkt herrschenden Auslegung von § 67 Abs. 4 StGB a. F. Tatsächlich wendete die Rechtsprechung § 67 StGB zum Tatzeitpunkt in einer „korrigierenden Auslegung“ an: Nach dieser Praxis begann die Verjährung erst mit Eintritt eines Erfolges.7 Gerechtfertigt haben die Gerichte die Gesetzesanwendung contra legem damit, dass ansonsten in Fällen, in denen der Erfolg erst längere Zeit nach 4 LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 62; abrufbar unter BeckRS 2009 86563. 5 LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 61. 6 LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 61 f. 7 RGSt 5, 282; 21, 228; 26, 261; 33, 230; Leipziger Kommentar9-Mösl, 1974, § 67 Rn. 6; dagegen aber etwa: v. Olshausen/Lorenz, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich11, 1927, § 67, Rn. 9.
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der Pflichtwidrigkeit eintrat, eine Strafverfolgung – mangels verfolgbarer – Straftat gar nicht möglich sei.8 Als Erfolg im Sinne des § 67 Abs. 4 StGB a. F. hat die herrschende Lehre seinerzeit nur noch Umstände angesehen, die zu einer vollendeten und damit verfolgbaren Straftat hinzutreten und ihr einen besonderen Charakter verliehen.9 Die ursprüngliche Kritik an der Contra-legem-Anwendung der Verjährungsregelung ebbte im Laufe der folgenden Jahrzehnte ab und verstummte bis zu den 60er Jahren fast ganz. Eine generelle Diskussion um die richtige Anwendung von § 67 Abs. 4 StGB a. F. dürfte heute kaum erneut aufflammen. Gleichwohl sind die damit zusammenhängenden Grundfragen immer noch von allgemeinem Interesse: Hat ein Täter bei Änderung der Verjährungsregelung einen Anspruch auf die Anwendung der günstigeren Regelung? Und zwar auch dann, wenn diese schon vor Ausserkrafttreten contra legem, und damit nicht mehr zu seinen Gunsten angewendet wurde? Die erste Frage war Gegenstand einer Diskussion in den 60er Jahren.10 Die zweite Frage stellt sich im Regelfall nicht, da Strafgesetze nach ihrem Wortlaut angewendet werden müssen. Im Falle von Verfahrensrecht verfährt die herrschende Lehre aber anders, und nach herrschender Meinung ist die Verjährung vorrangig als prozessrechtliches und nicht als materiellrechtliches Institut anzusehen.11 Deshalb wird es nach h. M. nicht vom Rückwirkungsverbot erfasst. Ein Straftäter geniesse keinen Vertrauensschutz dahingehend, nur in einer bestimmten Art und Weise verfolgt zu werden. Zu einem abweichenden Ergebnis gelangt die Mindermeinung, die von einem anderen Verständnis des Rückwirkungsverbots ausgeht. Danach gibt das Gesetzmässigkeitsprinzip nicht vorrangig oder ausschliesslich Garantie für ein schutzwürdiges Vertrauen von Bürgern in den Bestand einer strafrechtlichen Bewertung, sondern statuiert eine objektive, gesetzliche Begrenzung der Strafgewalt des Staates.12 Grünwald etwa führt – zu Recht – das Argument ins Feld, dass es nach Begehung einer Straftat dem Staat immer 8 BGHSt 11, 119 (121); Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich17, 1926, § 67 Anm. II; vgl. a. Stratenwerth, Die Verjährung beim Unterlassungsdelikt, in: FS Riklin, Zürich 2007, S. 245, 248. 9 Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch16, 1972, § 67 Rn. 4. 10 Hintergrund war die drohende Verjährung von NS-Verbrechen, dazu etwa: Baumann, Der Aufstand des schlechten Gewissens, 1965; Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes „nulla poena sine lege“, ZStW 76 (1964), S. 1–18; Schreiber, Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Verjährungsfristen früher begangener Delikte, ZStW 80 (1968), S. 348–368; vgl. aber aus jüngerer Zeit: Jäger, Grund und Grenzen des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht, GA 2006, S. 615 ff. 11 Vgl. nur Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (Anm. 9), § 2 Rn. 58, § 66 Rn. 3, § 67 Rn. 4, 21; Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch43, 1961, § 67 Anm. 1; Bemmann, Zur Frage der nachträglichen Verlängerung der Strafverfolgungsverjährung, JuS 1965, S. 333, 335 f. 12 Arndt, Umwelt und Recht, NJW 1961, S. 14 ff.; Baumann, Aufstand des schlechten Gewissens, (Anm. 10), S. 10 und 19; Gerald Grünwald, Zur verfassungsrechtlichen Problematik der rückwirkenden Änderung von Verjährungsvorschriften, MDR 1965, S. 521 ff.; ders., ZStW 76 (1964) (Anm. 10), 1 ff.
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verwehrt sein müsse, die zum Tatzeitpunkt gesetzlich festgelegten Regelungen über die Strafverfolgung neu unter dem Eindruck einer bestimmten Tat zu ändern.13 Denn der Zweck des Rückwirkungsverbots ist eben der „Schutz vor Willkür ex post“.14 Schliesst man sich dieser Argumentation an, dann folgt weiter, dass ein Täter in den Genuss einer zum Tatzeitpunkt geltenden günstigeren Verjährungsregelung kommen muss, weil sonst unter dem frischen Eindruck der fatalen Folgen einer Tat die Verjährungsregeln willkürlich neu bestimmt werden könnten. Dass die Rechtspraxis die Bestimmung zum Tatzeitpunkt – unzulässigerweise – contra legem angewendet hat, ändert daran nichts. 4. Kritische Würdigung der Entscheidung Das LG Traunstein begründet die Ablehnung der lex mitior mit zwei Argumenten: Zum einen sei es Sinn und Zweck der Verjährung, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu schaffen und einer Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden entgegenzuwirken.15 Dieses Ziel könne die Verjährung aber nur dann erreichen, wenn eine strafbare Handlung tatbestandlich erfüllt, bei einem Fahrlässigkeitsdelikt der Erfolg also eingetreten sei. Das Gericht greift damit ein zentrales Argument in der Diskussion um den Beginn der Verjährungsfrist auf: Eine Straftat könne nicht bereits verjähren, bevor sie überhaupt „begangen“ sei. Dieser Hinweis knüpft aber sachwidrig an eine zivilrechtliche Denkweise an. Danach muss ein Anspruch erst entstehen, damit eine Partei ihn geltend machen und gegebenenfalls eben auch wieder verlieren kann, wenn sie die Durchsetzung nicht rechtzeitig anstrebt. Ein „Strafverfolgungsanspruch“ als Befugnis, den staatlichen Strafklageanspruch geltend zu machen,16 kann aber aus verschiedenen Gründen erlöschen, noch bevor er entstanden ist, etwa weil ein Strafantrag nicht gestellt wird.17 Zum zweiten führt das Gericht an, für die Richtigkeit der damals herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur, wonach die Verjährungsfrist – contra legem – erst mit dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges zu laufen beginne, spreche auch, dass sich der Gesetzgeber in der Neufassung des Strafgesetzbuches ausdrücklich für diese Ansicht entschieden habe.18 Auch dies überzeugt nicht, 13
Grünwald, MDR 1965 (Anm. 12), S. 521; Grünwald, ZStW 76 (1964) (Anm. 10),
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Baumann, Aufstand des schlechten Gewissens (Anm. 10), S. 19. LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 62. 16 Vgl. dazu auch: Bemmann, JuS 1965 (Anm. 11), S. 335. 17 Vgl. § 78 b Nr. 2, 2. Hs. StGB. 18 LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 62. 15
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denn ansonsten müsste ein früher geltendes günstigeres Gesetz immer durch die neuere, als besser erkannte gesetzliche Regelung derogiert werden. Eine solche Argumentation würde den Lex-mitior-Schutz gerade aushebeln. Lediglich bei der Strafzumessung hat das LG Traunstein den sehr langen Zeitraum zwischen sorgfaltswidriger Handlung und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges berücksichtigt.19 Die Bewährungsstrafe wurde mit der langen Zeit, die zwischen Verurteilung und Pflichtverletzung lag, sowie mit dem Umstand begründet, dass der Angeklagte sich weder in seinem Berufsleben etwas habe zu Schulden kommen lassen, noch weiter beruflich tätig sei, so dass es nahezu ausgeschlossen erscheine, dass er noch einmal durch sorgfaltswidriges Planen eines Bauwerks Leib und Leben anderer gefährde.20 III. Verjährungsregelung nach Echtzeit? Eine Regelung, welche bei Erfolgsdelikten den Zeitablauf zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolgseintritt allenfalls negiert (wie § 78a StGB), folgt nicht zwingend aus der Sachlogik der Verjährung. Das zeigt nicht nur die bereits erläuterte Regelung in § 67 Abs. 4 StGB a. F.21 Das illustrieren auch unterschiedliche Vorgaben in ausländischen Rechtsordnungen. 1. Allgemein In Frankreich gilt eine recht offen gehaltene prozessuale Verjährungsregelung, nämlich Art. 7 Code procédure pénal: „En matière de crime . . . l’action publique se prescrit par dix années révolues à compter du jour où le crime a été commis si, dans cet intervalle, il n’a été fait aucun acte d’instruction ou de poursuite.“ Diese Regelung führt – in der Auslegung der französischen Rechtsprechung – im Falle einer Fahrlässigkeitstat zum gleichen Ergebnis wie die deutsche Regelung.22 Da die Verjährungsfrist für eine Straftat erst zu laufen beginnt, wenn eine Tat begangen ist, verjährt eine Fahrlässigkeitstat nicht ab dem Zeitpunkt, in dem die pflichtwidrige Handlung, sondern erst wenn ein tatbestandsmässiger Erfolg vorliegt. 19 LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 62. 20 LG Traunstein: Urteil vom 18.11.2008 – 2 KLs 200 Js 865/06 (unveröffentlicht) S. 64 f. 21 Siehe oben Anm. 7. 22 Urteil des Cass. crim. 4. nov. 1985, Bull. crim. no. 339; Urteil des Cass. crim. 4. nov. 1990, Bull. crim. no. 413; ausf. dazu aus rechtsvergleichender Sicht: Juliette Lelieur-Fischer, Convergences et divergences, à propos de la prescription de l’action publique, in: Vers un Nouveau Procès Pénal? – Neue Wege des Strafprozesses (Hrsg.) Jocelyne Leblois-Happe, Paris 2008, S. 17 ff.
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Demgegenüber markiert Österreich auf den ersten Blick – von Deutschland aus gesehen – das andere Ende des Spektrums des möglichen Beginns einer Verjährungsfrist: Dort beginnt die Verjährung grundsätzlich „sobald die mit Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört“.23 Für den Beginn der Verjährung wird also auf die strafbare Handlung abgestellt, ein möglicherweise später hinzutretender Erfolg scheint unmassgeblich. Dieser Grundsatz steht indessen unter einem Vorbehalt, einer Art „Ablaufhemmung“24 der Verjährung: Tritt ein tatbestandsmässiger Erfolg nämlich erst lange Zeit nach der pflichtwidrigen Handlung ein, so wird zurück gerechnet: Die Tat ist verjährt, wenn entweder die Verjährungsfrist, auch vom Eintritt des Erfolgs an berechnet, verstrichen ist oder wenn von der Beendigung des strafbaren Verhaltens an die anderthalbfache Verjährungsfrist, mindestens aber drei Jahre, vergangen sind.25 In der Schweiz wiederum beginnt die Verjährungsfrist tatsächlich bereits zu laufen a) mit dem Tag, an dem der Täter die strafbare Handlung ausführt; b) wenn der Täter die strafbare Tätigkeit zu verschiedenen Zeiten ausführt, mit dem Tag, an dem er die letzte Tätigkeit ausführt; c) wenn das strafbare Verhalten dauert, mit dem Tag, an dem dieses Verhalten aufhört.“26 Eine Sonderregel wie im deutschen Recht, welche für Erfolgsdelikte die Zeit, die zwischen einer Handlung und einem später eingetretenen Erfolg aufhebt, existiert nicht. Diese Regelung beruht auf einer bewussten Entscheidung des Schweizer Gesetzgebers bei der Vereinheitlichung des Schweizer Strafrechts im Jahr 1937: Die Verjährung soll eben nicht erst mit dem Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolges, sondern bereits mit der pflichtwidrigen Handlung beginnen. Diese – zu jenem Zeitpunkt nicht unumstrittene – Entscheidung ist heute herrschende Praxis und Lehre,27 auch wenn als Konsequenz daraus folgt, dass Fahr-
23
§ 57 Abs. 2 österreichisches StGB. Vgl. Wiener Kommentar2-E. Fuchs, (10. Lieferung 2010), § 58, Rn. 1. 25 § 58 Abs. 1 österreichisches StGB. 26 Früherer Art. 71a StGB; heutiger Art. 98 lit. a StGB. In der ursprünglichen Fassung des Gesetzes von 1937 (Art. 71 StGB) wie auch nach der heutigen Fassung (Art. 98 lit. a StGB) steht an der Stelle des Begriffs der „strafbaren Handlung“ der Begriff der „strafbaren Tätigkeit“. 27 Vgl. etwa BGE 101 IV 24; 122 IV 63; Peter Müller, in: Basler Kommentar, StGB I2, 2007, Art. 98 Rn. 2 ff.; Rehberg/Donatsch, Strafrecht Bd. 1 – Verbrechenslehre7, Zürich 2001, S. 342; Hans Schultz, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. 14, Bern 1982, S. 248; Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar2, Zürich 1997, Art. 71 Rn. 1; Stratenwerth, FS Riklin (Anm. 8), S. 246 f. 24
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lässigkeitsdelikte verjähren können, bevor die Strafbarkeit nach dem Gesetz überhaupt begonnen hat.28 2. Strafrechtliche Zurechnung im konkreten Fall nach Schweizer Recht Die geschilderte Verjährungsregelung zwang die zuständigen Behörden vor wenigen Jahren ein Strafverfahren gegen Unternehmer, die in der Schweiz (und in Italien) bis 1994 asbesthaltige Rohre herstellten,29 wegen Verjährung einzustellen. Das Verfahren war durch eine von einem Opferverein erstatte Strafanzeige wegen Tötungsdelikten in vielfachen Fällen im November 2005 in Gang gekommen. Der Verein machte geltend, dass der Verwaltungsrat des Unternehmens über Jahrzehnte eine Produktion von Rohren in Betrieb hielt, ohne ausreichende notwendigen Schutzvorkehrungen zu treffen, weshalb die Arbeiter ungeschützt in Berührung mit asbesthaltigen Materialien kamen, und zwar auch dann noch, als es bereits vermehrt Fachveröffentlichungen gab, die den Zusammenhang zwischen dem Kontakt mir Asbestfasern und Krebserkrankungen darlegten. Die Krebserkrankungen manifestierten sich oft erst Jahre nach dem Kontakt mit Asbest; unzählige Arbeiter waren betroffen. Da aber die Verjährungsfrist spätestens im Jahr 1994 begonnen hatte und zehn Jahre später endete, bestätigte auch das Schweizer Bundesgericht im Rechtmittelweg die Einstellung des Strafverfahrens wegen Verjährung und wiederholte die ständige Rechtsprechung und herrschende Meinung: „Für den Verjährungsbeginn ist nach dem Wortlaut des Gesetzes auf den Zeitpunkt der Tathandlung und nicht auf denjenigen des Erfolgseintritts der Straftat abzustellen mit der Konsequenz, dass Straftaten verjährt sein können, bevor der Erfolg eingetreten ist.“ 30
Das Gericht begründete in seinem Urteil sehr ausführlich die im Schweizer Recht verankerte Ansicht, dass die Verjährung mit dem Tag beginnt, an dem der Täter die strafbare Handlung beziehungsweise Tätigkeit ausführt,31 also zum „Zeitpunkt des tatbestandsmässigen Verhaltens“ und nicht zum „Zeitpunkt des Eintritts des allenfalls zur Vollendung des Delikts erforderlichen Erfolgs“.32 Es verschwieg aber auch nicht, dass Stimmen in der Rechtswissenschaft Kritik an 28 Trachsel, Die Verjährung gemäss den Art. 70–75bis des Schweizerischen Strafgesetzbuches, Zürich 1990, S. 82. 29 BGer 6B_627/2007 und 6B_629/2007. 30 BGE 134 IV 297 mit Verweis auf BGE 102 IV 79 E. 6; 122 IV 61 E. 2a/aa; H. Schultz, Einführung Allgemeiner Teil (Anm. 27), S. 248; Trechsel, Kurzkommentar (Anm. 27), Art. 71 Rn. 1; José Hurtado Pozo, Droit pénal – Partie générale, Basel 2008, S. 537, Rz. 1711; Donatsch/Tag, Strafrecht Bd. 1 – Verbrechenslehre8, Zürich 2006, S. 418; Riklin, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I3, Zürich 2007, S. 304; Peter Müller, Basler Kommentar, StGB I2, 2007, Art. 98 N 2. 31 BGE 134 IV 297 mit Verweis auf Art. 71 Abs. 1 aStGB [Fassung 2001] sowie Art. 98 lit. a StGB.
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der geltenden Regelung üben. Diese stützten sich auf die gleichen Argumente, die in Deutschland zu der bereits erwähnten Gesetzesänderung führten: Es sei paradox, dass eine Handlung verjähren solle, noch bevor sie überhaupt strafbar sei.33 Als Ausweg wiesen manche der Kritiker der Verjährungsregelung auf einen möglichen Umweg über die Unterlassungshaftung hin, mit der Konsequenz dass die Verjährung nicht beginnen könnte, solange der Gefahrenzustand andauere. Man sah eine solche Notlösung aber schon deshalb als zweifelhaft an, weil das dem gefahrschaffenden Handeln nachfolgende Unterlassen doch regelmässig eine „straflose Nachtat“ sei.34 In der Tat wäre einer solchen Konstruktion – aus Sicht des Schweizer Rechts – bereits ein Verstoss gegen das allgemein anerkannte Subsidiaritätsprinzip, wonach eine Unterlassung nur in Betracht kommt, wenn die strafrechtliche Haftung des Täters nicht an eine Handlung anknüpfen kann.35 Teilweise forderte man eine Differenzierung danach, ob ein Täter bewusst oder unbewusst fahrlässig gehandelt habe. Nur bei unbewusster Fahrlässigkeit solle das Ende des gefährlichen Tuns für den Beginn der Verjährung massgeblich sein, bei bewusster Fahrlässigkeit aber der Erfolgseintritt.36 Diese Forderung stand nicht nur im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut, sie hätte auch zu Wertungswidersprüchen geführt: Warum sollten Vorsatzhandlungen und unbewusst pflichtwidrige Handlungen, eine Verjährungsfrist in Gang setzen, bewusste Fahrlässigkeiten aber nicht? In jüngerer Zeit suchen Stimmen in der Literatur37 erneut nach einer Korrektur. Sie machen geltend, der Wortlaut der Schweizer Verjährungsregelung verlange gar nicht zwingend bei fahrlässigen Erfolgsdelikten, die Verjährung mit der Tathandlung beginnen zu lassen. Das Gesetz gehe nämlich jedenfalls davon aus, dass überhaupt eine strafbare Handlung vorliegen müsse, die verjähren könne, und erst ab diesem Zeitpunkt laufe die Verjährung,38 denn erst dann sei die Rechtsordnung gestört und könne allenfalls durch die heilende Wirkung des 32 BGE 134 IV 297 mit Verweis auf BGE 101 IV 20 E. 3; Schultz, Einführung Allgemeiner Teil (Anm. 27), S. 248; Logoz, Commentaire du Code pénal suisse, Partie générale2, Neuchâtel/Paris 1976, Art. 71 Rn. 1; Thormann/von Overbeck, Das Schweizerische Strafgesetzbuch – Bd. 1: Allgemeine Bestimmungen, Zürich 1940, Art. 71 N 1; Hafter, Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts – Allgemeiner Teil2, Bern 1946, S. 435; J. Hurtado Pozo, Droit pénal (Anm. 30), S. 536, Rz. 1710. 33 Walder, Probleme bei Fahrlässigkeitsdelikten, ZBJV 104 (1968), S. 186 ff. 34 Walder, ZBJV 104 (1968) (Anm. 33), S. 188. 35 Vgl. etwa Riklin, Zum Straftatbestand des Art. 229 StGB (Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde), Baurecht 1985, S. 44, 50 f. 36 Walder, ZBJV 104 (1968) (Anm. 33), S. 186 ff. 37 Jositsch/Spielmann, Die Verfolgungsverjährung bei fahrlässigen Erfolgsdelikten, AJP 2007, S. 189 ff. 38 Jositsch/Spielmann, AJP 2007 (Anm. 37), S. 194.
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Zeitablaufs wieder hergestellt werden.39 Diese Ansicht will Fallkonstellationen schlummernder Risiken und später Schäden Rechnung tragen. Letztlich soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass zwar der massgebliche strafrechtliche Vorwurf an die Sorgfaltspflichtverletzung anknüpft, aber vor allem der später hinzutretende Tatbestandserfolg den rechtserschütternden Eindruck hinterlässt, für den es der heilenden Wirkung des Zeitablaufs bedürfte. Weder aus der Gesetzgebungsgeschichte noch aus dem Gesetz selbst lässt sich diese Ansicht aber begründen. Vielmehr würde eine solche berichtigende Auslegung Art. 1 StGB verletzen.40 Denn der historische Gesetzgeber hat die im Strafgesetzbuch niedergelegte Verjährungsregelung sehenden Auges gewählt. Das geht auch aus anderen Regelungen des Schweizer StGB hervor, in denen klar zwischen Ausführung und Erfolg unterschieden wird.41 Würde man die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers für eine Verjährung ab Handlung mit Rücksicht auf ein öffentliches Strafbedürfnis nach spektakulären Fällen missachten, müsste man dies jedenfalls mit einer veränderten Gewichtung und Bedeutung von Handlung einerseits und Erfolg andererseits begründen. Es ist jedoch bis heute nicht geklärt, welche Bedeutung dem Erfolgsunrecht neben dem Handlungsunrecht überhaupt zukommt.42 Ein vorrangiges Anknüpfen an den Taterfolg zur eigenständigen Begründung strafrechtlichen Zurechnung bedürfte einer neuen dogmatisch einwandfreien Begründung. Diese ist bisher aber eben weder im Schweizer noch im deutschen Recht erbracht.43 Das Asbest-Urteil des Schweizer Bundesgerichts hat die Diskussion noch einmal entfacht: Könnte nicht doch die vorsätzliche oder fahrlässige Herbeiführung eines unerlaubten Risikos strafrechtlich nicht nur als aktives Handeln, sondern zugleich als gefährliches Vorverhalten bewertet und damit eine Garantenstellung begründet werden, welche dann den Urheber – über die unbestimmte Zeit bis zum Erfolgseintritt – verpflichtet, die entsprechende Gefahr wieder zu beseitigen? fragt etwa Stratenwerth.44 Er knüpft damit an das bereits erläuterte Argument Walders an.45 Dessen Einwand gegen seine eigene Argumentation, die An39
Jositsch/Spielmann, AJP 2007 (Anm. 37), S. 195. Vgl. Stratenwerth, FS Riklin (Anm. 8), S. 248; Walder, ZBJV 104 (1968) (Anm. 33), S. 186 ff. 41 Vgl. etwa Art. 8 und Art. 340 StGB. 42 Vgl. dazu etwa Dubs, Die fahrlässigen Delikte im modernen Strafrecht, ZStrR 78 (1962), S. 39 ff. und Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht AT I3, Bern 2005, § 16 Rn. 42; sowie aus deutscher Sicht: Roland Schmitz, Unrecht und Zeit, 2001, S. 13; Degener, Zu den Bedeutungen des Erfolgs im Strafrecht, ZStW 103 (1991), S. 357, 364 ff.; Frisch, Tatbestandsmässiges Verhalten, 1988, S. 513 ff. 43 Vgl. a. Gless, Zeitliche Differenz zwischen Handlung und Erfolg – insbesondere als Herausforderung für das Verjährungsrecht, GA 2006, S. 667–722; Kühl, Zum Verjährungsbeginn bei Anstellungs- und Rentenbetrug, JZ 1978, S. 549, 551; Schmitz, Unrecht und Zeit (Anm. 42), S. 219 f. 44 Vgl. Stratenwerth, FS Riklin (Anm. 8), S. 250 f. 40
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nahme einer nachträglichen Unterlassensstrafbarkeit komme einer Doppelbestrafung (von Haupttat und Nachtat) gleich, lässt er nicht gelten. Denn eine Nachtat können nur dann als mitbestraft gelten, wenn sie durch die Bestrafung der Haupttat tatsächlich mit abgegolten sei.46 Das sei bei vor der Verfolgung verjährten Spätschäden gerade nicht der Fall. Stratenwerth räumt jedoch selbst ein, dass eine Umwandlung des Handlungsvorwurfes in einen Unterlassungsvorwurf die Schweizer Verjährungsregelung contra legem korrigieren würde: Denn die Verjährungsfrist würde erst zu laufen beginnen, wenn entweder das schlummernde Risiko sich im Erfolg realisieren47 oder auf andere Weise beseitigt würde. 3. Kritische Würdigung Das Schweizer Bundesgericht hält sich also zu Recht an den Wortlaut des Gesetzes und führt überzeugend aus, dass die Regelung im schweizerischen StGB auf der Überlegung beruhe, dass es so lange nach der Tat nicht mehr sinnvoll sei, den allfälligen Täter zur Rechenschaft zu ziehen – nicht nur der heilenden Wirkung der Zeit wegen, sondern auch weil „[n]ach Jahr und Tag . . . zudem sowohl der Beschuldigte als auch die Strafverfolgungsbehörden mit Beweisschwierigkeiten konfrontiert“ wären.48 Auch die ruhigere Replik der Schweizer Regierung auf eine Anfrage hinsichtlich einer möglichen Reform des Verjährungsrechts (in den Nachwehen des Asbest-Urteils) verdient Lob. Nach Ansicht des Schweizer Bundesrats käme eine erst nach Erfolgseintritt einsetzende Verjährungsfrist „hauptsächlich dem Wunsch entgegen, einen Verantwortlichen zu finden und Vergeltungsbedürfnisse zu stillen. Aus strafpolitischer Sicht erscheint eine Strafe indessen kaum notwendig. . . . Darüber hinaus wird es mit der Zeit immer schwieriger, den Sachverhalt festzustellen; dies behindert sowohl die Anklage, die den Schuldbeweis zu erbringen hat, als auch die Verteidigung, die entlastendes Material beibringen möchte.“49
IV. Verjährungsregelung im Lichte prozessualer Notwendigkeit? Soll eine pflichtwidrige Handlung, die Jahrzehnte später, ohne weiteres Zutun des ehemals Handelnden durch den Erfolgseintritt zu einer Straftat wird, als solche geahndet werden? 45
Siehe oben Walder (Anm. 33). Vgl. nur BGHSt 38, 368 f.; Stratenwerth, AT I (Anm. 42), § 18 Rn. 10–14. 47 Theoretisch denkbar wäre die Fortdauer der Pflicht sogar in diesem Falle, wenn der Erfolg sich rückgängig machen lässt. 48 BGE 134 IV 297. 49 Antwort des Bundesrates vom 18.1.2009 auf Anfrage des Nationalrats JeanClaude Rennwald vom 22.9.2009. 46
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Die entgegengesetzten Antworten auf diese Frage im deutschen Recht einerseits und im Schweizer Recht andererseits haben in keinem der beiden Länder zu einer allseits akzeptierten Lösung geführt und erscheinen – vor dem Hintergrund der auf beiden Seiten mit fast gleichlautenden Argumenten geführten Diskussionen – fast willkürlich verschieden. Denn beide Rechtsordnungen sind darauf angewiesen für die Begründung verfolgbarer Schuld aus dem endlosen Ablauf von Szenen in der Vergangenheit jene zu bestimmen, welche als für die strafrechtliche Zurechnung als relevant erklärt werden können. Während jedoch das deutsche Strafrecht – dem Gesetz der Korf ’schen Uhr folgend – mit dem Eintritt des Erfolges die Wirkung des Zeitablaufs seit Begehung der Pflichtwidrigkeit aufgehoben sieht, folgt das Schweizer Recht der Intuition, dass auch im Strafrecht nicht zwei Momente zu einem Ereignis vereint werden können, wenn dazwischen eine extrem lange Zeitspanne liegt, wie in den geschilderten Spätschadensfällen.50 Für die deutsche Lösung spricht der keineswegs von der Hand zu weisende rechtserschütternde Eindruck, den ein tatbestandsmässiger Erfolg – etwa der Tod vieler Menschen – hervorrufen kann.51 Andererseits kann die dafür kausale Sorgfaltspflichtverletzung relativ gering und der faktische Vorgang Jahrzehnte später kaum rekonstruierbar sein. Dem trägt die Schweizer Regelung Rechnung. Letztlich ist zu konstatieren, dass die gesetzlichen Regelungen in beiden Staaten zwar einen Fristbeginn bestimmen, aber nicht befriedigend die Frage beantworten, ob in Spätschadensfällen Strafverfolgung noch sinnvoll ist. Ingeborg Puppe hat in ihrem zweibändigen Werk „Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung“ den „Spätschadensfällen“ ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Darin äussert sie sich zu einschlägigen Grundfragen. Allerdings haben ihre Ausführungen nicht vorrangig Fälle mit „schlummerndem Risiko“, sondern eine andere Fallgruppe im Blick, nämlich jene Fälle, in denen tatbestandliche Erfolge stufenweise eintreten. Puppe illustriert dies am Fall Rudi Dutschke. Dieser war von einem Attentäter mit Tötungsvorsatz angeschossen und in den Kopf getroffen worden. Er überlebte die Verletzung. Als Dauerschaden blieb ihm jedoch eine Epilepsie. Die epileptischen Anfälle liessen sich zwar durch Medikamente unterdrücken, das Risiko eines plötzlichen Anfalls war aber nicht völlig ausgeschlossen. Jahre später, nachdem der Attentäter bereits wegen Tötungsversuchs rechtskräftig verurteilt war, erlitt Dutschke einen solchen epileptischen Anfall in der Badewanne, verlor das Bewusstsein und ertrank. Dieser Fall hat – anders als die geschilderten Spätschadensfälle mit schlummerndem Risiko – eine strafrechtlich relevante Zäsur, denn die pflichtwidrige Handlung bewirkt zunächst einen tatbestandsmässigen Erfolg 1, nämlich der 50
Schmitz, Unrecht und Zeit (Anm. 42), S. 15. Vgl. etwa BGHSt 11, 393, 396; 12, 335, 337; Leipziger Kommentar11-Burkhard Jähnke, StGB, 1994, vor § 78, Rn. 7. 51
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Körperverletzung, der geahndet und abgeurteilt werden kann, bevor Erfolg 2, der Tod, eintritt. Puppe diskutiert unterschiedliche Möglichkeiten einer Nichtzurechnung des zeitlich viel später eingetretenen Erfolgs 2 und konstatiert, dass es nicht an Begründungen fehle, weshalb ein langer Zeitraum zwischen Handlung und Erfolgseintritt ein Zurechnungshindernis darstellte.52 Diese kranken nach ihrer Ansicht aber alle an verschiedenen Mängeln. Auch das Argument, der Zeitablauf schwäche das Unrecht der Tat ab, lässt sie nicht gelten. Es sei zwar ein allgemeines Lebensprinzip, dass die Zeit alles heile. Dieses Prinzip bringe jedoch nicht mehr als den generellen Erfahrungssatz zum Ausdruck: dass man im Regelfall an Ereignissen mit der Zeit das Interesse verliere. Anders sei es indessen, wenn ein neues Schadensereignisses eintrete, das sich für das Opfer bzw. seine Angehörigen als ein frisches objektives Unrecht darstelle, mit dem sie fertig werden müssten.53 Diese Argumentation entspricht dem von Ingeborg Puppe mit der herrschenden Meinung vertretenen dualistischen Unrechtsbegriff,54 den sie an anderer Stelle mit der Begründung untermauert: Der Taterfolg sei keine innere Angelegenheit des Täters sei, sondern müsse in seiner gesellschaftlichen Dimension erfasst werden, „die darin besteht, dass es auch jemanden gibt, der Unrecht leidet“.55 Trotz dieses klaren Bekenntnisses zum Taterfolg als Legitimation von Strafverfolgung schlägt Ingeborg Puppe eine Lösung der Spätschadensfälle auf fast pragmatischer Grundlage vor. Spätschäden stellen nach ihrer Ansicht in Wahrheit gar kein materiell-rechtliches, sondern ein prozessuales Problem dar: „Dass wir Spätfolgen nicht auf unabsehbare Zeit zurechnen können, hat seinen Grund . . . nicht in einem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, sondern allein in einem solchen der praktischen Konflikterledigung.“ Spätschadensfälle mit sukzessivem Erfolgseintritt will sie deshalb über einen verfahrensrechtlichen Ansatz lösen. Dass nach der Aburteilung eines bereits eingetretenen tatbestandlichen Erfolges eingetretene Spätschäden nicht mehr verfolgbar sind „ist keine Prinzipienfrage, sondern eine unvermeidliche prozessuale Konsequenz der Rechtskraft.“ 56. Fraglich ist, ob sich Puppes Herangehensweise auch auf Spätschadensfälle mit schlummerndem Risiko übertragen lässt. Denn hier fehlt zwar die klare und zwingende Grenze eines Urteils mit Strafklageverbrauch. Jedoch manifestiert 52
Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 2002, § 7 Rn. 4. Puppe, AT/1 (Anm. 52), § 7 Rn. 4. 54 Nomos Kommentar-StGB1-I. Puppe, 5. Lfg., 1998, vor § 13, Rn. 20; a. A. Armin Kaufmann, Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, in: FS Welzel, 1974, S. 393, 410 ff.; ders.: Die Dogmatik im Alternativ-Entwurf, ZStW 80 (1968), S. 34, 50 ff.; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, Berlin 1973, S. 128 ff. 55 NK1-Puppe (Anm. 54) vor § 13, Rn. 20; vgl. a. Stratenwerth, Zur Relevanz des Erfolgsunwerts im Strafrecht, in: FS Schaffstein, 1975, S. 177, 183 ff. 56 Puppe, AT/1 (Anm. 52), § 7 Rn 6. 53
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sich auch in jenen Fällen ein praktisches Beweisproblem: Es besteht nämlich die Gefahr, dass bei einer Verurteilung viele Jahre nach einem Sorgfaltspflichtsverstoss der strafrechtliche Vorwurf auf einer unsicheren Sachlage beruht. Die Tathandlung, an die der Pflichtwidrigkeitsvorwurf geknüpft wird, muss indessen zuverlässig rekonstruiert werden. Eine solche Rekonstruktion gestaltet sich viele Jahre nach dem Sorgaltspflichtverstoss regelmässig, aber nicht zwangsläufig, extrem schwierig. Problematisch ist eine allfällige Beweisnot nicht aus Sicht der Strafverfolgung, sondern vor allem aus Sicht des Angeklagten: Diesen kommt im Strafverfahren zwar grundsätzlich das Prinzip „in dubio pro reo“ zugute. Doch in der Praxis erhöhen sich die Verteidigungschancen erheblich, wenn die Verteidigung das Gericht auf Umstände hinweisen kann, die entlasten könnten und deshalb das Gericht verpflichten, sich mit den tatsächlich zugrunde zu legenden Anforderungen an die massgeblichen Sorgfaltspflichten oder auch etwaigen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen auseinanderzusetzen. Dieses Problem tritt im Bereich der Fahrlässigkeitsstraftaten in besonderer Weise hervor, weil der Erfolg klar vor Augen steht, die vorgeworfene Pflichtverletzung aber weit zurückliegt. Dadurch verschiebt sich das Ungleichgewicht zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert faktisch noch weiter zugunsten des letzteren. Gerade auch Ingeborg Puppes Ausführungen zur Berechtigung eines dualistischen Unrechtsbegriffs weisen auf das Problem hin. Ihrer Ansicht muss eine Rechtsordnung an die Appellwirkung des Erfolgsunrechts gerade im Fahrlässigkeitsbereich anknüpfen, weil sie oft nicht in der Lage sei, „klare und vollständige Verhaltensnormen anzugeben, sondern nur die zu vermeidenden Erfolge und allgemeine Massstäbe der Sorgfalt.“ 57 Deshalb sei es letztlich dem einzelnen überlassen, diejenigen Sorgfaltsnormen selbst zu entwickeln, durch deren Einhaltung ein negativ bewerteter Erfolg vermieden werde. Mit der Zuweisung dieser Verantwortung wächst im Falle eines Erfolgseintritts regelmässig auch die Beweisproblematik, für die es bisher weder eine klare materiellrechtliche noch eine prozessuale Lösung gibt. V. Fazit Die Uhr von Korf geht falsch. Zwar rückt mit dem Eintritt des Erfolges die Sorgfaltspflichtverletzung der Vergangenheit wieder in das Bewusstsein der Rechtsgemeinschaft. Doch der strafrechtlich relevante Vorwurf knüpft an die pflichtwidrige Handlung an – und diese ist mit Zeitablauf verblasst.58 Wird die Zeit, die zwischen Pflichtwidrigkeit und Eintritt des Erfolges vergangen ist, einNK1-Puppe (Anm. 54), vor § 13, Rn. 21. Vgl. dazu etwa: Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschliessungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 187 f.; Bockelmann, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 2, 1958, S. 330; Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 1950, S. 105 f. 57 58
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fach und schlagartig aufgehoben, so wird die Bedeutung des Erfolgseintritts für die Strafverfolgung verabsolutiert. Zwar verlangt der dualistische Unrechtsbegriff,59 dass nicht nur das verbots- oder gebotswidrige Verhalten, sondern auch der Erfolg, die Rechtsgutsverletzung, im Strafrecht berücksichtigt wird.60 Den Hintergrund dafür bildet im Wesentlichen immer das generalpräventive Argument: Der für alle sichtbare Erfolg (nicht die Handlung) bewirke die Erschütterung des Rechtsfriedens und daraus ergebe sich ein Bedürfnis nach einer Demonstration von Normgeltung durch Strafe in Anknüpfung an die Risikohandlung.61 Ein solcher Ansatz muss indessen zum einen immer auf den adäquaten Ausgleich der Handlungs- und Erfolgskomponente bedacht sein, um den Vorwurf auszuräumen, dass die strafrechtlichen Verhaltensverbote zu Verursachungsverboten modifiziert werden,62 Er muss zum anderen aber auch zu kohärenten Ergebnissen führen. Eine herausgehobene Bedeutung des Erfolgs für die Verjährung führt jedoch zu Ungereimtheiten: Wenn der Zeitablauf zwischen Handlung und Erfolg unter einem Vorbehalt steht, kann der Versuch eines Vorsatzdeliktes sehr viel früher verjähren als ein Fahrlässigkeitdelikt,63 konkrete Gefährdungsdelikte, wie etwa die Baugefährdung nach § 319 StGB werden letztlich zu Zustandsdelikten, die erst mit dem Fortfall der Gefahr beendet werden.64 Die Spätschadensfälle mit schlummerndem Risiko sind noch nicht befriedigend gelöst. In einem Strafrecht, dem ein dualistischer Unrechtsbegriff zugrunde liegt, beanspruchen beide, Handlung und Erfolg, ihre Bedeutung. Das gilt auch für das Verjährungsrecht. Weder das reine Abstellen auf die Handlung –, wie in der Schweiz, – noch die Negation des Zeitablaufs nach einer Handlung bis zum Erfolgseintritt, wie im deutschen Recht, haben zu einer allseits akzeptierten Lösung geführt. Ein prozessual begründeter Lösungsweg, wie ihn Ingeborg Puppe für die Spätschadensfälle mit sukzessivem Erfolgseintritt vorgeschlagen hat, weist auf einen Weg zur Lösung der Probleme bei der Verfolgung von Spätschadensfällen hin: Wenn eine strafrechtliche Verfolgung an eine sorgfaltswidrige Handlung an59
Dazu etwa: Schmitz, Unrecht und Zeit (Anm. 42), S. 13 f. m.w. N. Stratenwerth, Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, ZStrR 79 (1963), S. 233, 255; vgl. a. Krauß, Erfolgsunwert und Handlungsunwert im Unrecht, ZStW 76 (1964), S. 19, 32 ff. 61 Vgl. dazu: Degener, ZStW 103 (1991) (Anm. 42), S. 376; Dencker, Erfolg und Schuldidee, in: GS Armin Kaufmann, 1989, S. 441, 451: „Erfolg erleichtert die Botschaft strafender Tätigkeit.“; zu dieser „Vermittlungsfunktion“ des Erfolges auch: Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert (Anm. 54), S. 209 f.; Krauß, ZStW 76 (1964) (Anm. 60), S. 63; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, 1966, S. 93. 62 Degener, ZStW 103 (1991) (Anm. 42), S. 373. 63 Gless, GA 2006 (Anm. 43), S. 667 ff.; diese Erwägung ist ein Grund für die differenzierte österreichische Regelung: Wiener Kommentar2-E. Fuchs, (10. Lieferung 2010) (Anm. 24), § 58, Rn. 5. 64 Vgl. a. Stratenwerth, FS Riklin (Anm. 8), S. 251. 60
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knüpft, die Jahrzehnte zurückliegt, obliegt es faktisch oft dem Angeklagten die Umstände vorzutragen, die eine Sorgfaltspflichtverletzung seinerseits ausschliessen oder ihn rechtfertigen könnten. Allerdings fehlt in den Spätschadensfällen mit schlummerndem Risiko die klare Zäsur der Aburteilung des Ersterfolges, welche die von Puppe diskutierten Spätschadensfälle mit sukzessivem Erfolgseintritt auszeichnen. Denkbar wäre deshalb für andere Spätschadensfälle auch eine materiellrechtliche Lösung im Sinne einer funktionalen Aufspaltung des dualistischen Unrechtsbegriffs im Verjährungsrecht – mit der Folge, dass die Strafverfolgung an Handlungs- und Erfolgsunrecht anknüpfen muss. Denn wird eine sorgfaltswidrige Handlung erst Jahrzehnte später verfolgt, sollte sie der strafrechtlichen Beurteilung nicht nur deshalb entzogen sein, weil sie mit einem hohen Fehlerrisiko behaftet ist, sondern auch weil die vorgeworfene Pflichtwidrigkeit, an die der strafrechtliche Vorwurf anknüpft, in den Augen der Rechtsgemeinschaft verblasst ist. Das deutsche Strafrecht hält derzeit dafür keinen Lösungsansatz bereit. Eine Neuregelung der Verjährungsvorschriften erscheint deshalb geboten. De lege ferenda wäre etwa eine Neuorientierung im Sinne der österreichischen Regelung65 denkbar, die eben an Handlung und Erfolg anknüpft: Die Verjährung beginnt dort grundsätzlich mit Vornahme der pflichtwidrigen Handlung, wenn ein tatbestandsmässiger Erfolg aber sehr viel später eintritt, wenn Unrecht gelitten wird, dann rechnet das Strafrecht zurück: Die Tat ist verjährt, wenn von der Beendigung des strafbaren Verhaltens an die anderthalbfache Verjährungsfrist, mindestens aber drei Jahre, vergangen sind.66 Ein solches Lösungsmodell mag manchem auf den ersten Blick als vorrangig pragmatisch erscheinen, letztlich ist es aber sachgerecht. Denn auch das Strafrecht kann sich der menschlichen Erfahrung von Zeit nicht entziehen. Auch eine Straftat braucht eine zeitliche Grenze, die dem alltäglichen Erlebnis von Zeitablauf entspricht und dieses nicht willkürlich negiert. Ob diese Grenze durch das materielle oder das prozessuale Recht gezogen wird, ist letztlich nicht entscheidend.
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Vgl. o. III. 1., Fn. 23. § 58 Abs. 1 österreichisches StGB.
Schuldhaftigkeit und Schuld – „allzu leicht verführt die Sprache das Denken“ Von Walter Gropp I. Sprechen und Denken 1. Denken als inneres Sprechen Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass Sprechen und Denken als Ausdrucksweisen menschlicher Existenz nahe miteinander verwandt sind. Zwar mag es sein, dass uns etwas plötzlich „einfällt“, ohne dass dieser Gedanke in Form von Sprache in unser Bewusstsein tritt. In der Regel aber, und zwar gerade dann, wenn wir über etwas „nachdenken“, ist es die unausgesprochene Sprache, die uns als innere Stimme den Weg der Gedanken weist. Wenn die Sprache aber das Werkzeug des Nachdenkens ist, dann lässt es sich umso genauer nachdenken, je genauer die Sprache ist. Deutsch ist eine zwar komplizierte, dafür aber auch eine genaue Sprache, die sich als Denk-Vehiculum sehr gut eignet. Zu den Berufsgruppen, die in einem ganz besonderen Maße auf die Sprache als Werkzeug angewiesen sind, gehören die Juristen, nicht zuletzt die Strafrechtslehrer und -lehrerinnen. Unter ihnen wiederum zählt Ingeborg Puppe zu denjenigen, die sich in der Beherrschung der juristischen Sprache als besondere Meister erweisen, wobei bei ihr die Besonderheit hinzutritt, dass das gesprochene Wort in seiner Gedankenschärfe dem geschriebenen in keiner Weise nachsteht. Nie werde ich ihren Vortrag über Erfolgszurechnung beim Fahrlässigkeitsdelikt auf der Strafrechtslehrertagung 1987 in Salzburg vergessen, bei dem man dem gehörten Wort nicht anmerkte, ob es vorgelesen oder vorgetragen war. 2. Ungenauigkeiten behindern So sehr aber Einigkeit darüber besteht, dass die Sprache des Juristen höchstes Gut ist, so sehr verwundert es, dass diese Sprache bei näherem Besehen wesentlich weniger exakt gebildet und gebraucht wird, als man es erwartet und die Sache es erfordert. So hat jüngst Michael Hettinger1 in der Festschrift für Rainer 1 Hettinger, Petitessen?, in: Laubenthal (Hrsg.), Festgabe des Instituts für Strafrecht und Kriminologie der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg für Rainer Paulus, 2009, S. 73–86/73.
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Paulus darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Rechtssprache gerade auch im Strafrecht an Ungenauigkeiten leidet, die das Nachdenken sowohl über das materielle als auch über das formelle Strafrecht behindern. In diesem Sinne „tippt“ er in seinem Beitrag „Einiges aus dem materiellen Strafrecht“ an, „von dem man vermuten darf, dass eine ,Überprüfung‘ im Sinne eines ,Nachdenkens‘ (. . .) nicht schaden kann; denn nicht immer stimmen (. . .) hier die Begriffe, gibt das Geschriebene das Gemeinte wieder.“2 Hettinger geht unter anderem auf die irreführende Formulierung vom „Beisichführen einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs“ in den §§ 244 und 250 durch das 6. StrRG3 ein, das „Inverkehrbringen als echt“ in § 146 Abs. 1 Nr. 3 und § 147 Abs. 1 StGB4, die Lehre vom sog. „Tatbestandsirrtum“, obwohl das Gesetz von „Umständen“ spricht, „welche zum gesetzlichen Tatbestand gehören“,5 oder etwa die Bezeichnung „Verbrechen“ als unscharfen Oberbegriff in der Dogmatik für die Begriffe „Verbrechen“ und „Vergehen“ gleichermaßen.6 Man könnte „Hettingers Liste“ unschwer verlängern, etwa um die „Teilnahmelehre“ als Oberbegriff für „Täterschaft“ und „Teilnahme“ oder den Begriff des „Tatbestandes“, unter dem völlig unterschiedliche Gegenstände aus dem materiellen und formellen Strafrecht vermengt werden. Bedauerlich ist, dass die juristische Dogmatik viele Begriffsunschärfen und -fallen bis heute klaglos hingenommen, ja sogar internalisiert hat, was zu der absurden Situation führt, dass ein nicht unbedeutender Teil der Lehre an den Hochschulen darin besteht, den Studierenden die Bedeutung der unscharfen Begriffe zu erklären. Dabei darf die „Bedeutung der sprachlichen Begriffsfassung nicht unterschätzt werden“7. Denn gerade weil sich die juristische Fachsprache von der Alltagssprache darin unterscheidet bzw. unterscheiden sollte, dass ihre Begriffe genauer gebildet werden und dadurch das juristische Denken befördern, ist es um so abträglicher, wenn es der juristischen Fachsprache an jener Exaktheit mangelt. Wolfgang Schild hat dies in einer schönen Formulierung so ausgedrückt: „Es wäre durchaus zu überdenken, ob nicht bis in alle Einzelheiten die Terminologie auf Vereinbarkeit mit der Sache, die damit erfasst werden soll, geprüft werden sollte: denn allzu leicht verführt die Sprache das Denken“.8
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Hettinger, Petitessen (Anm. 1), S. 74. Hettinger, Petitessen (Anm. 1), S. 74 f. Hettinger, Petitessen (Anm. 1), S. 77. Hettinger, Petitessen (Anm. 1), S. 80 f. Hettinger, Petitessen (Anm. 1), S. 85. Schild, Die „Merkmale“ der Straftat und ihres Begriffs, 1979, S. 73. Schild, Merkmale (Anm. 7), S. 105.
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3. Worum es geht Im Folgenden soll versucht werden, den unscharfen strafrechtsdogmatischen zuschreibenden9 Begriff der „Schuld“ in diesem Sinne auf Vereinbarkeit mit der Sache, die damit erfasst werden soll, zu überprüfen. Dass das Ergebnis dieser Überprüfung angesichts des trägen Beharrungsvermögens, das die Strafrechtslehre und -praxis nach wie vor beherrscht, kaum von Erfolg gekrönt sein wird, darf uns nicht entmutigen. Auch Ingeborg Puppe, die in nicht wenigen Fällen – man denke nur an die Ablehnung der hypothetischen Einwilligung10 und der fahrlässigen Mittäterschaft11 – ihr Fähnlein nicht bequem nach dem Wind gerichtet hat, hat sich hier als leuchtendes Vorbild in Sachen Standfestigkeit erwiesen. Es war mir eine Freude, mich bei der hypothetischen Einwilligung12 und der fahrlässigen Mittäterschaft13 von ihren überzeugenden Gedanken anregen und befruchten zu lassen. Ob sie mir in der hier zu erörternden Sache zustimmt, könnte hingegen fraglich sein.14 Angesichts einer von herzlicher Wertschätzung geprägten kollegialen Verbundenheit ist dies aber nicht entscheidend. 4. Worum es nicht geht Um keine falschen Erwartungen zu wecken, sei an dieser Stelle vorsichtshalber auch erwähnt, was im Folgenden nicht behandelt wird: Über „eine der schwierigsten Fragen der praktischen Philosophie“15, die Frage, was Schuld im ethischen Sinne ist, soll hier nicht nachgedacht werden, auch nicht im Sinne einer Sozialethik.16 Denn die Kategorie ethischer Schuld tritt in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat in den Hintergrund.17 „Für ein Tatstrafrecht, wie es in einem Rechtsstaat gilt, geht es bei den Deliktsmerkmalen ausschließlich um Tatunrecht und die individuelle Verantwortlichkeit dafür. Zu verlangen, dass jemand die Tat aus einer negativ zu bewertenden geistigen Haltung oder einem solchen geistigen Verhalten heraus begangen hat, würde konsequenterweise dazu führen, dass ein solcher geistiger Befund zusätzlich vorzuliegen hätte,“ schreibt Hans 9
Vgl. Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 27 f. Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei mangelnder Aufklärung über eine Behandlungsalternative, GA 2003, 764–776. 11 Puppe, Wider die fahrlässige Mittäterschaft, GA 2004, 129–146. 12 Gropp, Hypothetische Einwilligung im Strafrecht?, in: Hoyer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, 2006, S. 197–207. 13 Gropp, Die fahrlässige Verwirklichung des Tatbestandes einer strafbaren Handlung – miteinander oder nebeneinander, GA 2009, 265–279. 14 Zweifel könnten sich insbesondere ergeben aus Puppe, vor § 13 Rn. 4, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Nomos-Kommentar, Strafgesetzbuch Bd. 1, Baden-Baden 2005. 15 Puppe, Kleine Schule (Anm. 9), S. 28. 16 Schild, vor § 13 Rn. 161, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Reihe Alternativkommentare, 1990. 17 Ramírez, Juan Bustos, Was ist Schuld?, in: Sieber u. a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Tiedemann, 2008, S. 345–352/352. 10
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Joachim Hirsch in einem Beitrag „Über Irrungen und Wirrungen der gegenwärtigen Schuldlehre“18. Man belange den Täter wegen des Unrechts der von ihm zu verantwortenden Tat, nicht wegen seines geistigen Zuschnitts.19 Sobald aber die Gesinnung des Täters in die strafrechtlichen Deliktsvoraussetzungen mit einbezogen werde, sei zu befürchten, dass zwischen Recht und Moral nicht hinreichend differenziert wird. „Bei der Moral spielt die Gesinnung eine entscheidende Rolle. Zum moralischen Verhalten gehört, dass man die ethischen Normen um des von ihnen geschützten Wertes willen befolgt, während für die Rechtstreue genügt, dass man die Rechtsnormen einhält.“20 Es kann hier schließlich auch nicht um die gerade in jüngerer Zeit zum Modethema avancierte Frage gehen, ob der Mensch über Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit verfüge oder ob sein Verhalten nur das unvermeidliche Ergebnis biochemischer Prozesse sei.21 Hier soll vielmehr davon ausgegangen werden, dass ein Mensch in der Lage ist, sich für oder gegen ein Handeln zu entscheiden und dass bei dieser Entscheidung ein strafrechtliches Verbot eine Rolle spielen kann. Innerhalb eines an Vernunft und Menschwürde orientierten Strafrechts ist die Annahme, dass der Täter sich für das Recht und gegen das Unrecht entscheiden kann, fundamental. In diesem Sinne wird Willensfreiheit hier schlicht vorausgesetzt. Es geht im Folgenden darum, den Begriff der „Schuld“ als strafrechtsdogmatischen Begriff, als „Überschrift“ im Aufbau der strafbaren Handlung zu überprüfen. II. Die „Schuld“ als Prüfungsstufe im Aufbau der strafbaren Handlung 1. „Schuld“ als Vorwerfbarkeit, Grundlage des Schuldprinzips, Unrechtsbewusstsein, Fehlen von Schuldausschließungsgründen und Entschuldigungsgründen Befragt man deutsche Lehrbücher zum Strafrecht, Allg. Teil, zum Begriff „Schuld“, so ergibt sich ein recht einheitliches Bild: Ausführungen zur „Schuld“ haben ihren festen Stammplatz nach den Erörterungen über die Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit.22 Die „Schuld“ bildet zumeist die dritte Gliede18 Hirsch, Über Irrungen und Wirrungen in der gegenwärtigen Schuldlehre, in: Dannecker (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 307–329/312. 19 Hirsch, FS Otto (Anm. 18), S. 312. 20 Hirsch, FS Otto (Anm. 18), S. 316. 21 Zur Willensfreiheit m.w. N. Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil11, 2003, § 18 Rn. 37 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 397. 22 Vgl. B. Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Aufl., 2010, Teil IV; Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil5, 1996, 2. Hauptteil, 2. Kapitel 2. Abschnitt; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 21; Köhler, Strafrecht
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rungsebene des Straftataufbaus. „Schuld“ wird dabei i. d. R. als Vorwerfbarkeit der Tat oder der Willensbildung im Hinblick auf die ihr zugrunde liegende rechtlich tadelnswerte Gesinnung beschrieben.23 Es rücke der individuelle Täter – nicht die Tat – in den Mittelpunkt der Betrachtung.24 Wert wird darauf gelegt, dass Gegenstand des Schuldvorwurfs die Einzeltatschuld ist25 und dass der Inhalt des Schuldvorwurfs ein „rechtlicher Tadel“ und nicht ein sittlicher Tadel sei.26 Schließlich findet man Hinweise, dass das Schuldprinzip gilt, wonach es keine Strafe ohne „Schuld“ geben darf.27 Auf dieser Grundlage wird die Rolle der „Schuld“ innerhalb der Prüfungsaufbaues der strafbaren Handlung besprochen. Die Lehrbuchautoren gehen dabei insbesondere auf das Unrechtsbewusstsein sowie auf die Problematik der Schuldausschließungsgründe und der Entschuldigungsgründe ein und erklären den Studierenden die Unterschiede.28 2. Schuldbegriff(e) Neben diesen auf die Falllösung bezogenen Darlegungen findet man aber auch Ausführungen zum Schuldbegriff bzw. zu den Schuldbegriffen. Vor allem werden der psychologische (geprägt durch den Vorsatz), der normative (geprägt durch die Eliminierung des Vorsatzes) und der funktionale Schuldbegriff (geprägt Allgemeiner Teil, 1996 Kap. 7; Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 13, 2008, 2. Teil Kap. 3; Otto, Grundkurs Strafrecht Allgemeine Strafrechtslehre7, 2004, 2. Teil 2. Kapitel; Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, Die Lehre vom Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld, 2002, Teil 2 C; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I. Die Straftat5, 2004, § 7 C; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), Teil III Abschnitt D; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), § 10. 23 Vgl. Heinrich, AT 1 (Anm. 22), Rn. 524; Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), § 36 II 2; Krey, AT 1 (Anm. 2), Rn. 219, 221; Stratenwerth/Kuhlen, AT (Anm. 22), § 10 Rn. 4; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 18 Rn. 1; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 400. 24 Heinrich, AT 1 (Anm. 22), Rn. 524.; Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), 2. Hauptteil, 2. Kap. 2. Abschn. S. 404; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 18 Rn. 27; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 394; einschränkend Stratenwerth/Kuhlen AT (Anm. 22), § 10 Rn. 4. 25 Vgl. Heinrich, AT 1 (Anm. 22), Rn. 528; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil. Personale Straftatlehre2, 2009, Rn. 528; Krey, AT 1 (Anm. 22), Rn. 220; §23 § 28 IV 1; Otto, GK AT (Anm. 22), § 12 Rn. 23; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I4, 2006, § 19 RN 62; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 18 Rn. 26; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 402. 26 Heinrich, AT 1 (Anm. 22), Rn. 529 f.; Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), § 38 I; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 18 Rn. 8; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 403. 27 Vgl. Heinrich, AT 1 (Anm. 22), Rn. 525–527; Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), § 37 I 1; Kindhäuser, AT (Anm. 22), Rn. 1 ff.; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 18 Rn. 2; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 398. 28 Vgl. Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2008, 17.–20. Kap.; Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), §§ 40 ff., 43 ff.; Krey, AT 1 (Anm. 22), §§ 20, 21; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil6, 2008, §§ 11, 12; Otto, GK AT (Anm. 22), §§ 13, 14; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 409 ff., 432 ff.
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durch präventive Bedürfnisse) erklärt.29 Nicht selten wird auch darauf hingewiesen, dass man über den Begriff der „Schuld“ positiv wenig sagen könne. Dies sei aber auch nicht erforderlich, weil – im Regel-Ausnahme-Verhältnis – „Schuld“ immer dann gegeben sei, wenn – bei gegebener Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit – Schuldausschließungsgründe oder Entschuldigungsgründe nicht vorliegen.30 Man kann dem nicht widersprechen. Und dennoch bleibt ein Gefühl der Unstimmigkeit. So wollen die Begriffe „Tatbestandsmäßigkeit“, „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“ schon grammatikalisch nicht so recht zusammen passen. „Tatbestandsmäßigkeit“ und „Rechtswidrigkeit“ sind Eigenschaften, Attribute, im Unterschied zum Substantiv „Schuld“. Die Ausführungen zur Prüfungsstufe der „Schuld“ beziehen sich aber in der Regel kaum auf dieses Substantiv, sondern liegen – vergleichbar mit der Erörterung von Rechtfertigungsgründen im Rahmen der Prüfungsstufe der Rechtswidrigkeit – schwerpunktmäßig auf der Darstellung typischer schuldausschließender und entschuldigender Lebenssachverhalte.31 Studierende bringt dies kaum in Verlegenheit, weil sie beim Lösen von Fällen nach der „Schuld“ nicht gefragt werden, weil die „Schuld“ kein Prüfungsstoff ist. Kristian Kühl32 bringt es auf den Punkt: Schuldprinzip und Schuldbegriff werden nur knapp angesprochen, „weil in der Bearbeitung von Übungsfällen dazu nicht Stellung genommen werden muss“. Weil sich innerhalb des Fallprüfungsschemas die Prüfung darauf beschränkt, die „Schuld“ als Strafbarkeitsvoraussetzung zu verneinen, falls Schuldausschließungsgründe oder Entschuldigungsgründe vorhanden sind, braucht man sich über die „Schuld“ als solche keine großen Gedanken zu machen. 3. Schuldhaftigkeit Im Lehrbuch von Georg Freund ist an der Stelle, an der ansonsten die „Schuld“ thematisiert wird, anstatt von „Schuld“ von dem „Erfordernis eines hinreichend gewichtigen Fehlverhaltens“ die Rede.33 Freund unterscheidet zwischen Fällen, in denen gewichtiges Fehlverhalten ausgeschlossen ist (Schuldausschließungsgründe) und solchen, in denen gewichtiges Fehlverhalten nicht hinreichend vorliegt (Entschuldigungsgründe). Genauer besehen unterscheidet Freund zwi29 Kindhäuser, AT (Anm. 22), § 21 Rn. 6 ff.; Krey, AT 1 (Anm. 22), Rn. 643 ff.; Otto, GK AT (Anm. 22), § 12 Rn. 10 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, AT (Anm. 22), § 10 A; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 18 Rn. 7 ff.; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), Rn. 405 ff. 30 Vgl. Kindhäuser, AT (Anm. 22), § 21 Rn. 11; Krey, AT 1 (Anm. 22), Rn. 222. 31 Vgl. z. B. Frister, AT (Anm. 28), 3. Teil 18.–20. Kap.; Heinrich, AT 1 (Anm. 22), Teil IV; Kühl, AT (Anm. 28), §§ 10–12; Wessels/Beulke, AT (Anm. 21), § 10. 32 Kühl, AT (Anm. 28), § 10 Rn. 1. 33 Freund, AT (Anm. 25), § 4 Rn. 6.
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schen einer ausgeschlossenen und einer nicht hinreichenden „Schuldhaftigkeit“. Damit gehört er zu jenen wenigen Autoren,34 die im Aufbau der Straftat im Anschluss an die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit eine weitere Eigenschaft beschreiben. Diese Eigenschaft muss sich auf irgendetwas beziehen. In der von Freund besorgten Kommentierung vor § 13 im Münchener Kommentar zum Strafrecht wird jenes Substrat auch genannt, wenn Freund von der „hinreichenden Schuldhaftigkeit des Fehlverhaltens“ spricht.35 Auch die in derselben Kommentierung gegebenen Literaturhinweise ergehen zur „hinreichenden Schuldhaftigkeit“. Dieses von Freund so genannte „Fehlverhalten“ ist aber nichts anderes als die Straftat, d. h. die strafbare Handlung. Betrachtet man den Sprachgebrauch in den Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des deutschen Strafrechts im Überblick, so fällt auf, dass die Formulierung, der Täter müsse „tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft“ gehandelt haben, ganz geläufig ist. Sobald aber von der strafbaren Handlung die Rede ist, „kippt“ die Sache um: Jetzt ist diese Handlung zwar tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft, die Eigenschaften der Handlung werden aber als Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und „Schuld“ bezeichnet.36 Neben Freund und dem Autor dieser Zeilen37 sei hier noch Gerhard Wolf genannt: In einem via Internet und wohl auch an seiner Fakultät als Papier veröffentlichten Beitrag kann man unter dem Titel „Der Begriff der Schuldhaftigkeit“ lesen: „Schuldhaftigkeit ist die Eigenschaft einer rechtswidrigen Handlung oder eines pflichtwidrigen Untätigbleibens eines Menschen“.38 Mit dieser schlichten Formulierung wird etwas angesprochen, was in Abhandlungen zum Allgemeinen Teil des Strafrechts zuweilen eher in Form des „sachgedanklichen Mitbewusstseins“ anzutreffen ist: die strafbare Handlung als Rückgrat der Strafrechtsdogmatik. Es droht die Tatsache, dass die sog. „Schuld“ zunächst nichts anderes ist als eine Eigenschaft der tatbestandsmäßigen Handlung und eine Voraussetzung für deren Strafbarkeit, aus dem Blickfeld zu geraten, obwohl die tatbestandsmäßige Handlung, die Straftat, gerade Gegenstand der allgemeinen Lehren des Strafrechts und der mit ihnen befassten Bücher ist. Was somit die Ausführungen zur „Schuld“ so in der Luft hängen lässt, ist die Tatsache, dass sich die Lehren zum Allg. Teil des Strafrechts ihres Fundamentes, 34 Näher hierzu unten III. sowie Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 17. Abschnitt Rn. 20; Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten, 2007, S. 15 ff., 374; Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, 2007, S. 260. 35 Freund, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafrecht, Bd. 1, 2003, vor §§ 13 ff. Rn. 215. 36 Vgl. Heinrich, AT 1 (Anm. 22) § 7 III; Kindhäuser, AT (Anm. 22), § 6 Überschrift I einerseits, 1–3 andererseits; Krey, AT 1 (Anm. 22), Rn. 214 einerseits, Rn. 218 andererseits. 37 Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2005, § 7. 38 http://www.prof-wolf.de/index.php?id=1686 zuletzt besucht 2010-02-26.
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ihres Bezugspunktes, ihres Bauplanes nicht mehr bewusst sind: der strafbaren Handlung. Sollte die babylonische Sprachverwirrung im Bereich von Schuldhaftigkeit und Schuld die „Quittung“ dafür sein, dass man – des Streites um die sog. finalen, kausalen, personalen und sozialen Handlungslehren überdrüssig – glaubt, man könne in einem modernen Strafrecht auf das Arbeiten mit dem Handlungsbegriff weitgehend verzichten?39 III. Die Schuldhaftigkeit als Merkmal der strafbaren Handlung Sobald es aus dem Blickfeld gerät, dass Gegenstand der Lehren zum Allgemeinen Teil des Strafrechts die Straftat und ihre Merkmale sind, können Begriffsbildungen nicht mehr gelingen. Um in die Begriffsverwirrung um „Schuld“ und „Schuldhaftigkeit“ etwas mehr Transparenz zu bringen, soll deshalb nach Meinungsäußerungen zur strafbaren Handlung gesucht werden. Insoweit stößt man u. a. auf Beiträge von Gustav Radbruch40, Ernst Beling41, Wolfgang Schild42 und Gerhard Wolf 43. 1. Gustav Radbruch In Radbruchs Monographie von 1904 „Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem“ bildet die Handlung, „wie bei der Klassifikation des Verbrechens seinen höchsten Gattungsbegriff, (. . .) so bei seiner Definition des Substantivum, zu dem alle übrigen Verbrechensmerkmale nur Attribute sind, ,Prädikate, die man der Handlung als dem Subjekte beilegt‘.“ 44 Die Lehre vom Verbrechen, „die rekonstruierende Synthese des Verbrechensbegriffs“, hat nach Radbruch mit dem Handlungsbegriff anzuheben.45 Die Handlung wird damit zu etwas, „was die Eigenschaft der Strafbarkeit zu tragen vermag und, da strafbar nur etwas schuldhaftes, schuldhaft nur etwas rechtswidriges zu sein vermag, etwas, was die Eigenschaften Rechtswidrigkeit, Schuldhaftigkeit, Strafbarkeit annehmen kann.“46 Danach ist die Handlung das Ganze. Der Strafrechtler – sei er 39 Vgl. Krey, AT 1 (Anm. 22), Rn. 240; Stratenwerth/Kuhlen, AT (Anm. 22), § 6 Rn. 3; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, AT (Anm. 21), § 13 IV; zur Unterscheidung zwischen Handlungslehren und Handlungsbegriff Schild, Strafrechtsdogmatik als Handlungslehre ohne Handlungsbegriff, GA 1995, 101–120. 40 Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1904, Nachdruck Darmstadt 1967. 41 Die Lehre vom Verbrechen, Tübingen 1906, Neudruck Aalen 1964. 42 Schild, Merkmale (Anm. 7); ders., Alternativkommentar (Anm. 16), vor § 13; ders., Strafrechtsdogmatik (Anm. 39), GA 1995, 101–120. 43 Wolf (Anm. 38). 44 Radbruch, Handlungsbegriff (Anm. 40), S. 71 f. Das Zitat bei Radbruch bezieht sich auf Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechtes, 1. Aufl. Leipzig 1857, S. 108. 45 Radbruch, Handlungsbegriff (Anm. 40), S. 72. 46 Radbruch, Handlungsbegriff (Anm. 40), S. 74.
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Wissenschaftler oder Praktiker – hat zu untersuchen, ob diese Handlung Eigenschaften besitzt, welche sie als eine „strafbare“ kennzeichnen. Während sich die „finalen“, „kausalen“ oder „funktionalen“ Handlungslehren vor allem darüber Gedanken machen, was im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit den Unwert der Handlung ausmacht,47 ist der 1904 von Radbruch beschriebene Handlungsbegriff weiter zu verstehen. Er bezieht sich auf alle Eigenschaften, welche eine Handlung zu einer strafbaren machen, und hält sich nicht damit auf, welche Elemente innerhalb dieses Handlungsbegriffs wo einzuordnen sind. Radbruch stellt fest, „dass der Handlungsbegriff durch die Begriffe Rechtswidrigkeit, Schuldhaftigkeit und Strafbarkeit schon notwendig bestimmt ist, so dass, wer Rechtswidrigkeit, Schuldhaftigkeit und Strafbarkeit richtig feststellt, gar nicht umhin kann, den richtigen Handlungsbegriff anzuwenden.“48 1930 allerdings, in der Festgabe für Reinhard Frank,49 nennt Radbruch unter ausdrücklicher Berichtigung seiner ursprünglichen Auffassung die Tatbestandsverwirklichung als den Grundbegriff der Verbrechenslehre, auf den „alle anderen Verbrechensmerkmale bezogen werden müssen“. Ingeborg Puppe schreibt in der ihr eigenen Brillanz: „Verbrechen ist nicht Handlung, es gehört zu ihm allenfalls eine Handlung.“50 An dieser Stelle kann man erkennen, dass im Grunde von zwei Handlungsbegriffen die Rede ist: einem weiten, der mit der strafbaren Handlung, der Straftat, identisch ist, und einem engen, der nur Bestandteil der Tatbestandsverwirklichung ist. Für unsere Fragestellung ist dieser Gesichtspunkt freilich weniger wichtig als es scheint: Denn auch wenn man der Auffassung folgt, dass nicht die (tatbestandsmäßige) Handlung, sondern die Tatbestandsmäßigkeit einschließlich der Handlung, mit Radbruch die Tatbestandsverwirklichung, den Grundbegriff der Verbrechenslehre darstellt, ändert dies nichts daran, dass auch jene Tatbestandsverwirklichung Attribute aufweisen muss, um strafbar zu sein, d.h. dass die Tatbestandsverwirklichung rechtswidrig und schuldhaft erfolgen muss. Diese Schuldhaftigkeit – sei sie bezogen auf die (tatbestandsmäßige) Handlung oder auf die Tatbestandsverwirklichung – ist das, was heute in Lehrbüchern in der Regel als „Schuld“ bezeichnet wird. 2. Ernst Beling In der 1906 erschienenen Tübinger Monographie „Die Lehre vom Verbrechen“ steht das Anliegen Belings im Mittelpunkt, „den Verbrechenstatbestand (Typus) als strafrechtlichen Grundbegriff“ zu erweisen.51 Innerhalb des ersten Abschnit47
Vgl. Gropp, AT (Anm. 37), § 3 Rn. 57 ff., § 4 Rn. 27 ff. Radbruch, Handlungsbegriff (Anm. 40), S.74. 49 Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, Festgabe für Reinhard von Frank, Bd. 1, Tübingen 1930, Neudruck Aalen 1969, S. 158–173/162. 50 Puppe, Nomos-Kommentar (Anm. 14), Rn. 4 vor § 13. 48
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tes, der mit „Verbrechen; Verbrecher; Strafbefreiungsgründe“ überschrieben ist, behandelt Beling die einzelnen Verbrechensmerkmale: Das Verbrechen als Handlung (B I), das Verbrechen als tatbestandsmäßige Handlung (B II), das Verbrechen als rechtswidrige Handlung (B III) und das Verbrechen als schuldhafte Handlung (B IV). Es schließen sich Ausführungen zum „Verbrechen als eine einer passenden Strafdrohung unterstellbare“ sowie „eine den Strafdrohungsbedingungen genügende Handlung“ an (B V, VI). Zum Verbrechen als schuldhafte Handlung schreibt Beling: „Wenn man es ablehnt, die Schuld als allgemeines Verbrechensmerkmal aufzufassen, so kann dies nur darin seinen Grund haben, dass man das Recht unserer Zeit noch nicht für soweit fortgeschritten erachtet, weil in ihm die Erfolgshaftung noch eine erhebliche Rolle spielt. So wenig nun letzteres zu leugnen ist, so ist doch unschwer nachweisbar, dass sich glücklich der Verbrechensbegriff soweit geläutert hat, um die Hineinnahme der Schuld in die Definition zu rechtfertigen.“52 Freilich ist sogleich erkennbar, dass Beling unter „Schuld“ nicht das versteht, was man heute allenthalben als „Vorwerfbarkeit der Tat“ bezeichnet. Denn er führt aus: „Für ein Strafrecht . . ., das nur an die Schuld die Strafe knüpft, kann darüber kein Streit herrschen, dass die Schuldhaftigkeit der Handlung ein Begriffsmerkmal des Verbrechens ist. So kann für das geltende deutsche Strafrecht das Definitionsproblem nur dahin gefasst werden: ob wir heute schon soweit sind, dass wir vom Schuldhaftungsprinzip reden können.“53 Damit versteht Beling unter „Schuld“ die Schuldhaftigkeit der Handlung. Dass es um die Schuldhaftigkeit geht, zeigt in aller Deutlichkeit eine weitere Überlegung: „So bedeutsam nun aber auch das Schuldrequisit ist, so wird doch nur der es in die rechte Beziehung zu dem Verbrechensbegriff zu setzen wissen, der sich darüber klar bleibt, dass die Schuld kein substantivischer Begriff, sondern – wie das „Unrecht“ – nur die Substantivierung einer Eigenschaft ist, die der Handlung zukommen muss, damit sie Verbrechen sein kann: der Schuldhaftigkeit. Dass das nicht immer erkannt worden ist, hat bereits bedenkliche Fehlauffassungen gezeitigt, bes. in der Vorsatzlehre. Wie die Schuld, so ist natürlich auch ihr Unterbegriff, der Vorsatz, adjektivisch zu fassen: ,Vorsatz‘ ist sprachlich substituiert für ,Vorsätzlichkeit‘.“ 54 Diese Ausführungen lassen erkennen, dass Beling die Lehre vom Verbrechen letztlich als eine Lehre von den Eigenschaften versteht, die die strafbare Handlung – sei es als Verwirklichung der Tatbestandsmäßigkeit oder als deren Bestandteil – aufweisen muss. Es ist bedauerlich, dass jene Formulierungen Belings im Eifer der Diskussionen um die kausale, die finale, die soziale und die funktionale Handlungslehre in 51 52 53 54
Beling, Lehre vom Verbrechen Beling, Lehre vom Verbrechen Beling, Lehre vom Verbrechen Beling, Lehre vom Verbrechen
(Anm. (Anm. (Anm. (Anm.
41), Vorwort, S. V. 41), S. 42 f. 41), S. 42. 41), S. 45.
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den Hintergrund zu treten scheinen. Denn die Einordnung der „Schuld“ nicht als substantivischer Begriff, sondern als die Substantivierung einer Eigenschaft, die der Handlung zukommen muss, damit sie Verbrechen sein kann, verblasst, indem nur noch von „Schuld“ die Rede ist. Die ungenaue Sprache verführt das Denken, macht es ungenau. 3. Wolfgang Schild Die adjektivische Bedeutung der „Schuld“, die Schuldhaftigkeit der strafbaren Handlung als „Merkmal“ der Straftat, ruft Wolfgang Schild in der Monografie mit dem Titel „Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs“ 1979 wieder in das Bewusstsein zurück. Für Schild sind Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit „Merkmale der Straftat“.55 Als Merkmale sind sie nicht Teile der Straftat, sondern sie sind Momente in dem Sinne, dass sich an diesen Momenten alle Bestimmtheiten des Ganzen wieder finden.56 Die Merkmale der Straftat sind zugleich Aspekte57, sie sind aber auch Fallprüfungs- und Argumentationsschemata.58 Durch die Charakterisierung der Merkmale der Straftat als Momente und Aspekte ergibt sich, dass im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit an der Straftat und ihrem Begriff die Straftat selbst stehen muss59. Die Merkmale der Straftat werden in ein Schema eingeordnet, „das sich vom Begriff des Rechts und dem ,Typus der praktischen Urteilskraft‘ (Regel-Ausnahme-Verhältnis) her als begründet und damit als System erweist, das auch der Sachgebundenheit der juristischen Methode verpflichtet ist.“60 Der Straftatbegriff wird mit Schild somit zum Argumentationssystem im Sinne einer Typus-Ausnahme-Argumentation, wobei die Tatbestandsmäßigkeit den Typus und das Fehlen der Rechtswidrigkeit bzw. der Schuldhaftigkeit jeweils die Ausnahme bildet. 4. Gerhard Wolf Die adjektivische Verwendung der Bezeichnung „Schuld“ tritt auch bei Gerhard Wolf zu Tage: „Im strafrechtlichen Sprachgebrauch werden dabei (im Unterschied zur Verwendung des Wortes Schuld im allgemeinen Sprachgebrauch) mit dem Wort ,Schuld‘ bestimmte, in der Person des Täters liegende Merkmale eines strafbaren Verhaltens zusammengefasst. Die Bezeichnung bezieht sich dabei (wie die Bezeichnungen ,gesetzliche Tatbestandsmäßigkeit‘ und Rechtswidrigkeit) auf 55 56 57 58 59 60
Schild, Merkmale (Anm. 7), S. 1. Vgl. Schild, Merkmale (Anm. 7), S. Vgl. Schild, Merkmale (Anm. 7), S. Vgl. Schild, Merkmale (Anm. 7), S. Vgl. Schild, Merkmale (Anm. 7), S. Schild, Merkmale (Anm. 7), S. 99.
32 m.w. N. 35 ff. 46 ff. 81.
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bestimmte Eigenschaften der einzelnen deliktischen Handlung bzw. des einzelnen deliktischen Untätigbleibens“.61 5. Zwischenergebnis Unabhängig davon, ob die Handlung Bestandteil der Straftat oder mit ihr identisch ist, kennt die Lehre von der Straftat den Begriff der „Schuld“ im Sinne einer Vorwerfbarkeit oder eines Tadels nicht als Merkmal der Handlung oder als Merkmal der Straftat. Die Lehre von der Straftat kennt aber Merkmale, welche zu dem Ergebnis führen, dass eine Handlung strafbar ist. Wo diese Merkmale im Einzelnen verortet werden – sei es auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit oder der Schuldhaftigkeit der strafbaren Handlung – ist eine sekundäre Frage der Handlungslehren, die hier nicht beantwortet werden kann und soll. Deshalb stellt sich die Frage der Schuldhaftigkeit auch unabhängig von der Diskussion um die sog. „Schuldbegriffe“, die in Wahrheit „Schuldhaftigkeitsbegriffe“ sind: Wer der Meinung ist, dass die Schuldhaftigkeit der Handlung oder der Tat gerade darin begründet liegt, dass der Täter vorsätzlich oder fahrlässig in Bezug auf die Elemente der Tatbestandsmäßigkeit handelt, mag sich für einen sog. „psychologischen Schuldhaftigkeitsbegriff“ stark machen. Wer der Auffassung ist, dass die Frage von Vorsatz und Fahrlässigkeit bereits den Unwert und das Unrecht der strafbaren Handlung betrifft, wird einen Begriff der Schuldhaftigkeit bilden, der diese Elemente nicht enthält und deswegen eher normativen Charakter hat. Wer der Auffassung ist, dass sich ein vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten auch auf die Beurteilung einer Handlung oder Straftat als schuldhaft auswirkt, der muss einem Schuldhaftigkeitsbegriff das Wort reden, der auch diese Elemente mit in die Wertung aufnimmt. Ungleich wichtiger ist es indessen, welche Merkmale (Schuldfähigkeit, Zumutbarkeit als Folge des Nichtvorliegens von Entschuldigungsgründen, Vorsätzlichkeit, Fahrlässigkeit) vorhanden sein müssen, damit überhaupt die Merkmale einer strafbaren Handlung, einer Straftat, gegeben sind. Hier bietet jede Lehre von der Straftat und jedes Lehrbuch über die Lehre von der Straftat reichhaltige Anregungen zur Diskussion. Diese Diskussion hat die Schuldhaftigkeit der tatbestandsmäßigen Handlung, der Straftat, zum Gegenstand. IV. Schuldhaftigkeit und Schuld – Strafbarkeit und Strafe – Abstraktes und Konkretes 1. Die Schuld als Substantivum Was bleibt nach der Einordnung der „Schuldhaftigkeit“ als Merkmal der (tatbestandsmäßigen) Handlung bzw. der Tatbestandsverwirklichung für den Begriff 61
Wolf (Anm. 38), II a.
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der „Schuld“ noch übrig? Die „Schuld“ ist das Ganze der Straftat, „wie sie z. B. dem strafprozessualen Schuldspruch unterliegt“62. Die Schuld ist damit die konkrete Tat. Während aber die Merkmale des Straftatbegriffs abstrakt die Voraussetzungen nennen, unter denen eine Handlung tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft, d. h. eine strafbare Handlung, begangen wird, ist die Schuld die ganze konkrete Tat, die dem Täter vorgeworfen wird. Wenn aber die Schuld des Täters die ganze Straftat ist, dann hat Schuld Substanz und dann ist dieser Begriff von Schuld nicht Bestandteil der Lehre von der Straftat. „Das Strafrecht kennt keine Schuld und daher auch kein Sich-schuldig-Machen; es kennt nur Straftaten in denen ein Mensch in recht-loser Motivation Unrecht setzt.“63 Die Strafrechtslehre befasst sich abstrakt mit den Voraussetzungen und Eigenschaften, „Merkmalen“, der strafbaren Handlung, die Strafrechtspflege stellt fest, ob und wie die abstrakten Voraussetzungen im konkreten Fall verwirklicht worden sind. Dann ist es aber letztlich kein Mangel, wenn in Lehrbüchern zum Schuldgehalt der konkreten Tat keine Aussagen getroffen werden. Denn wenn die konkrete Schuld nicht Bestandteil der Lehre von der Straftat ist, dann muss man im Rahmen der Lehre von der Straftat dazu auch nicht Stellung nehmen. Stellung nehmen muss man allerdings zur Schuldhaftigkeit. Diese sollte man dann aber auch Schuldhaftigkeit nennen, und nicht die sprachlich ungenaue Bezeichnung „Schuld“ verwenden. 2. Strafbarkeit und Strafe Die Schuldhaftigkeit ist eines von mehreren Merkmalen, welche – als Obersätze oder zumindest als Bestandteile der Obersätze – die tatbestandsmäßige Handlung als strafbar kennzeichnen. Im Rahmen der Subsumtion prüft der Rechtsanwender, inwieweit ein konkreter Sachverhalt die Voraussetzungen, die Merkmale der Obersätze erfüllt. Mit den abstrakten Merkmalen der Strafbarkeit – Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuldhaftigkeit – korrespondieren Unwert, Unrecht und Schuld64 der konkreten Tat. Letztere sind Maßstab nicht für die Strafbarkeit, sondern für die Strafe, d. h. die Strafzumessung im konkreten Fall. Damit kommen die Straftheorien ins Spiel: Für die an der Tatschwere orientierten Vergeltungstheorien sind Unwert, Unrecht und Schuld der Tat die quantifizierbaren Größen, die die Strafzumessung beeinflussen.65 Aber auch die relativen Straftheorien, die die Strafe nach Zweckmäßigkeit an den Gegebenheiten beim Täter oder generalpräventiv an den Gegebenheiten der rechtstreuen Allgemeinheit orientieren, müssen den durch das Schuldprinzip gesteckten Rahmen 62 63 64 65
Schild, Alternativkommentar (Anm. 16), vor § 13 Rn. 160. Schild, Strafrechtsdogmatik (Anm. 39), GA 1995, S. 115. Gropp, AT (Anm. 37), § 7 Rn. 21. Vgl. Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), § 82 IV 2.
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eines gerechten Ausgleichs einhalten.66 Was ausgeglichen wird, sind Unrecht und Schuld, verwirklicht durch die konkrete Straftat. Soweit die konkrete Schuld als Maßstab für die Strafzumessung dient, wird sie „Strafzumessungsschuld“ genannt.67 An dieser Stelle wird deutlich, wie irreführend es ist, strafrechtliche „Schuld“ als „Vorwerfbarkeit“ zu bezeichnen. Strafrechtliche Schuld ist nicht abstrakte Vorwerfbarkeit, sie ist nicht einmal identisch mit dem abstrakten Vorwurf. Sie ist das Objekt des Vorwurfs, das konkret Vorgeworfene, und wird erst metaphorisch zum Vorwurf gemacht. Schuld ist die von dem konkreten Täter schuldhaft begangene tatbestandsmäßige und rechtswidrige konkrete Tat, die schuldhaft begangene Straftat, deren er im Rahmen des Strafprozesses „schuldig“ gesprochen wird, deren er schuldig ist. „Bezugsgegenstand des abschließenden Schuldurteils ist . . . die gesamte Tat“.68 Die Schuld des Täters ist die schuldhaft begangene rechtswidrige Straftat. V. Fazit „Schuldhaftigkeit“ ist ein Merkmal des Begriffs der Straftat. Die „Schuld“ des Täters ist die hinsichtlich ihrer Schwere quantifizierbare schuldhaft begangene konkrete Straftat. Von „Schuldhaftigkeit“ sollten wir dann sprechen, wenn wir im Rahmen der Lehre von der Straftat ein Merkmal der abstrakten Straftat, des Begriffs der Straftat meinen. Von „Schuld“ sollten wir hingegen sprechen, wenn es um das geht, was wir im Rahmen der Strafrechtsanwendung dem Täter konkret vorwerfen und zum Maßstab für seine Bestrafung machen. „Schuldhaftigkeit“ ist ein Begriff aus der Strafrechtslehre, „Schuld“ ein Begriff aus der Strafrechtspflege. Erhalten wir uns um unseres Denkens Willen die exakte Sprache bei der Beschreibung und Analyse der strafbaren Handlung. Denn „allzu leicht verführt die Sprache das Denken.“ Im Vorwort zur „Kleinen Schule des juristischen Denkens“ ermuntert Ingeborg Puppe ihre Leser, den Versuch zu unternehmen, sie zu widerlegen und ihr einen Argumentationsfehler nachzuweisen. Der „Lerneffekt“ werde dadurch sogar noch größer.69 Ob die hier vorgetragenen Argumente überzeugen? In jedem Fall bleibt ein Lerneffekt – gerne auch bei mir! 66
Vgl. Jescheck/Weigend, AT (Anm. 22), § 82 IV 4–7. Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 2 ff.; Hirsch, FS Otto (Anm. 18), S. 317; Roxin, AT 1 (Anm. 25), § 19 E. 68 Hirsch, FS Otto (Anm. 18), S. 319; Sinn, Straffreistellung (Anm. 34), S. 294 m.w. N. 69 Puppe, Kleine Schule (Anm. 9), S. 14. 67
Entlastung des Täters durch freiverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers? Von Rolf Dietrich Herzberg So, nur ohne das Fragezeichen, überschreibt Ingeborg Puppe den VII. Abschnitt ihrer zweiteiligen Abhandlung zum Thema „Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung“.1 Ausgewiesen als „didaktischer Beitrag“, erfüllt der Aufsatz die an ihn zu stellenden Anforderungen in vorbildlicher Weise. Man lese nur die erste Seite, betreffend die rechte Methode des Jurastudiums und überschrieben mit „Verstehen, Lernen, Anwenden“! Eindringlicher, dichter und verständlicher kann eine Belehrung, die dieses Ziel verfolgt, nicht sein. Man wünscht sich, dass die Studenten sich auch belehren lassen und der Kreis der Leser nicht auf die am Sachthema Interessierten beschränkt bleibt. Aber wer Ingeborg Puppe und ihr reiches Œuvre kennt, der weiß, dass sie gar nicht anders kann, als auch mit einem den Studenten gewidmeten Beitrag die Probleme wissenschaftlich zu erörtern. Eigenständigkeit des Denkens, Scharfsinn, Tiefe und Klarheit, das sind die Qualitäten, die alles auszeichnen, was dem Kopf und der Feder der Jubilarin entstammt, ob Lehrbuch, Kommentar, Monographie oder Aufsatz. Darum kann man fast nach Belieben sich irgendwo ins Studium versenken, was Ingeborg Puppe geschrieben hat, gibt zu denken auf und macht klüger, mag es nun überzeugen oder zum Widerspruch herausfordern. I. Ein langer, aber vollkommen klarer, didaktisch resümierender Satz leitet den Abschnitt ein, der Ausgangspunkt und Gegenstand meiner Überlegungen sein soll: „Wenn alle bisher festgestellten Voraussetzungen der objektiven Zurechnung des Erfolges zum Täterhandeln erfüllt sind, wenn also die Handlung des Täters sorgfaltswidrig war, sie den Erfolg gerade durch ihre sorgfaltswidrigen Eigenschaften verursacht hat, so dass sich die Gefahr der Sorgfaltswidrigkeit im Kausalverlauf realisiert hat und die Einhaltung der vom Täter verletzten Sorgfaltsnorm auch generell geeignet war, Kausalverläufe dieser Art zu verhindern, so dass der Verlauf vom Schutzzweck der Norm erfasst wird, dann und erst dann 1 Zeitschrift für das Juristische Studium (ZJS) – www.zjs-online.com – 2008, 488– 496 (Teil 1), 600–609 (Teil 2) mit Abschnitt VII, 605–607. Im Folgenden beziehen sich im Text eingeklammerte Seitenzahlen auf diesen Aufsatz.
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kann sich die Frage stellen, ob der Täter sich zu seiner Entlastung auf eine freiverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers berufen kann“ (S. 605). Hervorzuheben ist an dieser Kennzeichnung des Problems zunächst seine dogmatische Einordnung, die mich überzeugt, aber noch nicht von allen gelehrt wird: Auch die von Puppe zuletzt aufgeworfene Frage nach der „Entlastung“ des Täters dank der Eigenverantwortung des Opfers ist – im weitesten Sinne – eine Frage der objektiven Zurechenbarkeit.2 Sie ist grundlegend und betrifft eine allgemeingültige Voraussetzung, ist also nicht auf Delikte fahrlässiger Erfolgsverursachung beschränkt. Roxin hat das mit Recht betont. Die Problematik „unter dem Gesichtspunkt der Reichweite des Tatbestandes“ zu erfassen habe den Vorteil, „dass diese Fälle, die bisher fast ausschließlich in der Fahrlässigkeitslehre erörtert werden, in die allgemeine Lehre der Zurechnung zum objektiven Tatbestand eingeordnet und damit auch für Vorsatzfälle fruchtbar gemacht werden können. In manchen Situationen [. . .] wird nämlich hinsichtlich des Verletzungserfolges sogar ein bedingter ,Vorsatz‘ vorliegen; soweit die Zurechnung zum objektiven Tatbestand ausgeschlossen ist, würde das an der Straflosigkeit nichts ändern“.3 Um es zu veranschaulichen: B ist mit seinem Rad eine gefährliche Geröllstrecke hinabgefahren und so gestürzt, dass er an Körper und Fahrrad schweren Schaden erlitten hat. Dazu ist es nur gekommen, weil A dem B in gehässiger Hoffnung auf ein solches Unglück die Hemmungen ausgeredet hat. Hier hat A sogar mit Absicht die Schadenserfolge verursacht, so dass zunächst die Vorsatzdelikte der §§ 223, 303 StGB zu prüfen sind. Schon im Rahmen ihres objektiven Tatbestandes stellt sich die Frage, ob die Zurechnung des Erfolges wegen der Selbstgefährdung des B entfällt oder, im Sinne der puppeschen Einordnung, ob die Sorgfaltspflicht des A wegen der Selbstgefährdung so begrenzt war, dass er in dieser Weise – durch Überredung – die Erfolge bewirken durfte. Verbreitet ist eine Fallgruppenbildung, die zwischen der Mitwirkung bei bewusster Selbstgefährdung und der einverständlichen Fremdgefährdung unterscheidet.4 Ich lasse die von Puppe daran geübte Kritik („von solchen Äußerlichkeiten kann die Entlastung des Täters nicht abhängen“, S. 606) zunächst beiseite 2 So verstehe ich die Einbeziehung der Frage in „Die Lehre von der objektiven Zurechnung“. Freilich betont Puppe, in: NK-StGB2, 2005, Vor § 13 Rn. 182, eine etwas andere Verortung im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts: „Primär“ kein Problem „der objektiven Zurechnung, also des Schutzzwecks der Norm“, sondern „eines der Bestimmung und Begrenzung von Sorgfaltspflichten gegenüber einem selbst am Schadensprozess beteiligten Rechtsgutsträger“; aber wenn dieser Aspekt die Pflichtwidrigkeit der Mitverursachung entfallen lässt, dann wird der Erfolg dem Mitverursacher eben nicht zugerechnet, und der Zweck z. B. des § 222 StGB umfasst nicht den Schutz des Rechtsgutsträgers vor solcher Mitverursachung. 3 Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 11 Rn. 136. 4 Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder27, 2006, § 15 Rn. 165; Kühl, Strafrecht AT6, 2008, § 4 Rn. 92; Roxin (o. Fn. 3), § 11 Rn. 107 ff.; Wessels/Beulke39, 2009, Rn. 185 ff.
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und stelle nur fest, dass mein Beispiel in die erste Gruppe fällt, weil das Opfer B im Gefährdungsprozess zuletzt allein gehandelt hat. Den Gegensatz kann man deutlich machen anhand des Falles, dass A dem B eine hohe Dosis Morphium verschafft, beide die Lebensgefahr kennen und nun das Mittel, allein zum Zwecke der Schmerzlinderung, aber mit tödlicher Wirkung, injiziert wird. Tut B es mit eigener Hand, dann hat A nur mitgewirkt an „bewusster Selbstgefährdung“, vollzieht dagegen A diesen letzten Akt, dann ist er Täter einer „einverständlichen Fremdgefährdung“. Ersichtlich hat man dabei die wohlbekannte Unterscheidung zwischen „Teilnahme am Selbstmord“ und „Tötung auf Verlangen“ im Auge. Denn sie hilft bei einem Bestreben, das nicht das der Rechtsprechung, wohl aber das der herrschenden Lehre ist, nämlich den straffreien Raum für Mitverursacher dort möglichst weit auszudehnen, wo das Opfer den Tod in freier Entscheidung erstrebt oder ihn ungewollt, aber eigenverantwortlich durch riskantes Verhalten ins Werk gesetzt hat. Die Fälle des Mitwirkens an eigenverantwortlicher, also vor allem risikobewusster Selbstgefährdung mit tödlichem Ausgang bringt man so „auf die sichere Seite“, weil sich die Parallele zur Straflosigkeit der Suizidteilnahme anbietet. Hier ist es bezeichnend für Puppes Denken und Lehren, dass sie ihre Leser vor unkritischer Gläubigkeit warnt. Entlastung des Mitverursachers, weil er sich „auf eine freiverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers berufen kann“? Aber wir haben doch den Grundsatz kennengelernt, „dass sich niemand, der sich falsch verhalten hat, zu seiner Entlastung darauf berufen kann, dass dieser Fehler nur deshalb den Erfolg herbeigeführt hat, weil auch noch ein anderer sich falsch verhalten hat. Soll das nun anders sein, wenn dieser andere das Opfer selbst ist?“ Puppe erinnert daran, dass ja auch ein gewöhnlicher Mittäter niemals allein hafte. „Soll das Opfer schlechter behandelt werden als ein Mittäter, indem man ihm die Verantwortung für sein Unglück allein zuweist, auch wenn es nur ein Mitverschulden daran trifft?“ (S. 606). II. Diesem Zweifel stellt sich nun ein argumentum a maiore ad minus entgegen. „Da nach deutschem Recht“, meint Roxin, „die Teilnahme am Suizid, d.h. an einer vorsätzlichen Selbsttötung oder auch an einer vorsätzlichen Selbstverletzung prinzipiell straflos ist, kann die Mitwirkung an einer vorsätzlichen Selbstgefährdung ebenfalls nicht strafbar sein. Denn wenn man das Mehr (die Selbstverletzung) straflos herbeiführen kann, muss man das Weniger (die Selbstgefährdung) erst recht sanktionslos auslösen dürfen“.5 Ist das schlüssig? Puppe verneint die Frage, weil „das postulierte Stufenverhältnis zwischen den beiden Fällen“ nicht bestehe. Wer sterben will, gibt das Leben preis, „wer sich selbst gefährdet, 5
(o. Fn. 3), § 11 Rn. 107.
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auch wenn er es bewusst tut, will sein Rechtsgut aber nicht verlieren“ (S. 605).6 Das ist ohne Zweifel richtig, und dies wird sogleich klar, wenn wir den besonderen Gefährdungsfall betrachten, worauf das Plus-Minus-Argument zuträfe: B verlangt zu sterben und bittet A um die nötige Menge Morphium. A lehnt ab und ist nur bereit, B zur Schmerzbefreiung zu verhelfen. B führt sich selbst die ihm von A verschaffte, auch schon lebensgefährliche Dosis zu. Wie von ihm erhofft und von A befürchtet, tritt tatsächlich der Tod ein. – Durfte A straflos den von B begehrten Tod durch Übergabe einer „todsicheren“ Menge Morphium gezielt mitverursachen, dann musste er, hier passen Roxins Worte, „das Weniger (die Selbstgefährdung) erst recht sanktionslos auslösen dürfen.“ So liegt es aber nur, weil für beide Fälle vorausgesetzt ist, dass B sterben wollte. Wie leicht ein PlusMinus-Argument, wenn unlogisch eingesetzt, irreführt, zeigt sich auch in der Umkehrung. Mit demselben Scheinrecht könnte man ja auch vorbringen: Wenn die Herbeiführung des Todes schon bei ernsthaft-ausdrücklichem Verlangen danach prinzipiell strafbar ist (§ 216 StGB), dann muss sie es erst recht sein, wo das Opfer nur ein Risiko eingehen, aber nicht sterben wollte. Für unsere Problemfälle ist aus der Straflosigkeit bestimmter Todesverursachungen, auf die sich Roxin beruft, sowenig etwas abzuleiten wie aus der Strafbarkeit anderer todesursächlicher Handlungen, die meine Umkehrung anführt. Das Suizidteilnahme-Argument ist aber noch aus einem ganz anderen Grund mit Skepsis zu betrachten. Denn die Straffreiheit, auf die man sich mit ihm immer wieder beruft, ist im positiven Recht durchaus nicht so solide begründet, wie die meisten glauben. Zum Vergleich: Bewegt Prokurist P seine Freundin F, die von ihr gerade vorgenommene Überweisung an seine Firma zu widerrufen, weil die Forderung verjährt sei, dann ist seine „Anstiftung“ straflos. Die von F freiverantwortlich verübte Schädigung des Firmenvermögens erfüllt keinen Tatbestand, also fehlt es an einer Haupttat, woran P strafbar teilnehmen könnte. Das schließt aber nicht aus, den P als Täter der Schädigung zu belangen. Nur der F war die Erfolgsverursachung strafrechtlich freigegeben, nicht auch dem P. Er ist Täter einer strafbaren Vermögensschädigung (§ 266 StGB). Im Ansatz genauso muss man es beim Selbstmord sehen. Nur dem Lebensmüden ist die Erfolgsverursachung strafrechtlich freigegeben, nicht auch dem, der den (freiverantwortlich begangenen) Suizid veranlasst oder dazu Hilfe leistet. Er ist zwar als Teilnehmer straflos, was aber nicht ausschließt, dass er als mittelbarer Täter haftet, der einen seinerseits tatbestandslos handelnden Tatmittler eingesetzt hat.7 Konkret: Wenn 6
Ausführlich Puppe (o. Fn. 2), Rn. 183–185. Roxin, Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 441, 448 f., hält dem so begründeten InBetracht-Ziehen einer mittelbaren Täterschaft des den fremden Suizid vorsätzlich Mitverursachenden entgegen, die Tötungsdelikte seien, anders als die Untreue, keine „Pflichtdelikte“. Indes darf man die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen, dass die Anfang der sechziger Jahre von Roxin innovierte Unterscheidung zwischen „Herrschafts-“ und „Pflichtdelikten“ nicht der Weisheit letzten Schluss bildet und dass 7
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jemand einem Suizidgefährdeten Gift verschafft, womit dieser sich dann tatsächlich umbringt, dann ist die übliche Begründung, dass die Selbsttötung keine „rechtswidrige Tat“ i. S. der §§ 26, 27 StGB und darum die Mitwirkung daran nicht strafbar sei, schlicht unschlüssig. Die Begründung besagt ja nur, dass die Voraussetzungen der Teilnahmevorschriften nicht erfüllt sind und somit Anstiftung und Beihilfe ausscheiden. Sie lässt aber auch bei eigenverantwortlicher Selbsttötung offen, ob nicht die Mitverursachung als (mittelbar-)täterschaftliche Tötung zu bewerten und zu bestrafen ist.8 Diese Frage muss man am Ende für das Beispiel der Giftverschaffung gewiss verneinen. Es steht fest, dass der Gesetzgeber die Straffreiheit negativ, durch Nichtschaffung besonderer Tatbestände, angeordnet zu haben überzeugt war. Dem muss die Dogmatik Rechnung tragen, indem sie begründet, warum in den fraglichen Fällen die gerade erwogene Fremdtötungstäterschaft zu verneinen ist. Puppe gibt die Antwort, indem sie „die Straflosigkeit der Beihilfe zum Selbstmord“ damit erklärt, „dass es eine Beihilfe zur vorsätzlichen Preisgabe eines Rechtsguts durch den Rechtsgutsträger ist. Sie ist aus den gleichen Gründen straflos wie die Beihilfe zur Preisgabe jeden anderen Rechtsguts des Opfers“ (S. 605). „Beihilfe“ steht hier wohl – pars pro toto – für alle möglichen Akte der Mitverursachung eines frei gewollten Todes, auch etwa für die an den Lebensmüden gerichtete Aufforderung, sich zu töten. Und mit den „gleichen Gründen“, die Puppe hier nicht namhaft macht, kann sie nur die Autonomie und die Verfügungsberechtigung des Rechtsgutsträgers meinen, der, was ihm gehört, nicht nur selbst straflos preisgeben, sondern – jedenfalls grundsätzlich – auch andere, die an der Preisgabe mitwirken, von strafrechtlicher Haftung befreien kann.9 Anhand
sie i. S. höherer Vereinheitlichung fortentwickelt werden muss; näher dazu Herzberg, NStZ 2004, 1 (4 f.). 8 Der Gedankengang stimmt mit dem Roxins bis zum hier erreichten Punkt im Grunde überein; vgl. Täterschaft und Tatherrschaft8, 2006, S. 572: „Im technischen Sinn kann wegen der mangelnden Tatbestandsmäßigkeit des Freitodes von Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe gleichermaßen nicht die Rede sein; dagegen liegt in allen drei Fällen eine Todesverursachung im Sinne der Äquivalenztheorie vor, die zu einer Bestrafung nach § 212 StGB führen könnte, wenn nicht der selbstverantwortliche Freitod des Betroffenen einen strafbaren Totschlag durch Mitverursacher ausschlösse.“ Die Frage ist nur, wie weit dieser Ausschluss reicht! 9 Die Begründung, weshalb er dies können muss, gibt Puppe an anderer Stelle: „Wem die Rechtsordnung eine Pflicht auferlegt, sich an der bewussten und willentlichen Selbstgefährdung eines anderen nicht zu beteiligen, sei es als Quasi-Täter oder Quasi-Gehilfe, den macht sie in diesem Bereich zum Vormund des anderen. Aber der mündige Bürger ist frei, selbst zu entscheiden, welchen Gefahren er sich aussetzt und wie er sich gegen sie schützt. Es handelt sich also [. . .] um dessen Freiheit von Bevormundung durch fremde Vernünftigkeit“ (Strafrecht AT, Band 1, 2002, § 6 Rn. 6). – Von diesem Grundsatz macht Puppe (o. Fn. 2), Rn. 189–191, eine „paternalistische“ Ausnahme, insbesondere für Fälle der Gefährdung durch Betäubungsmittel. Aber ihre Ausführungen beziehen sich offensichtlich nicht auf die Konstellation, dass das Opfer in Anwendung des gefährlichen Mittels den Tod erstrebt hat.
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eines Falles dargestellt, lautet Puppes Erklärung also: Die Ärztin, die Herrn Müller zum gewünschten Tod verhilft, sei es seinem eigenen oder dem seines altersschwachen Hundes, ist aus dem gleichen Grund, nämlich wegen Herrn Müllers Verfügungsmacht, straflos, im einen wie im anderen Fall. Das ist vollkommen richtig – soweit Straflosigkeit der Ärztin die richtige Lösung ist; was aber nun gerade auf den Fall, an den man zuerst denkt, nicht zutrifft.10 Denn leistet die Ärztin ihre Hilfe zur gewollten Preisgabe durch Vornahme der tödlichen Injektion, dann ist dieses Tun nur beim Hund straflos, bei seinem Herrn aber eine Straftat (§ 216 StGB). Mal wird der Ärztin der Todeserfolg wegen der freien Entscheidung des Berechtigten nicht angelastet (beim Hund und in den Fällen bloßer „Beihilfe“ zum Suizid), mal trotz ihrer sehr wohl zur Last gelegt (in den Fällen des § 216 StGB). Es läuft also auch in Fällen der Suizidmitverursachung auf die Allerweltsbegründung der objektiven Zurechnung hinaus. Engländer hat dies für die Fälle strafloser Mitwirkung (freilich auch nur für sie) zutreffend formuliert: „Eine Bestrafung des Mitwirkenden als Täter einer Fremdtötung kommt hier nicht in Betracht, weil ihm der Tod des Sterbewilligen nicht objektiv zurechenbar ist. Begründen lässt sich die Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs mit dem Prinzip der Eigenverantwortung des Verletzten. Danach trägt derjenige, der ohne Zwang und Täuschung seine eigenen Rechtsgüter gefährdet oder verletzt, grundsätzlich selbst die Verantwortung für die Folgen seines Handelns.“11 Solche abstrakten Thesen kommen uns gar leicht von den Lippen, meistens im Geiste der Wertung, es sei ein Gebot des Respektes vor autonomen Entscheidungen, den Suizidenten gewähren zu lassen, und es sei grundfalsch, andere durch Strafdrohung von der Mitwirkung abzuhalten. In der Lebenswirklichkeit nimmt sich diese Freiheits- und Selbstverantwortungsdogmatik dann freilich oft anders aus. Der Pflegebedürftige, den seine Angehörigen, den unfrei machenden Zwang knapp vermeidend, bedrängen („anstiften“), doch endlich das ihm hilfreicherweise verschaffte Gift („Beihilfe“) zu schlucken, und der es schließlich tut, weil er unter solchen Umständen lieber sterben als weiterleben will:12 Auch dann
10 Ich beeile mich, der Jubilarin zu versichern, dass mir ihre Missbilligung des geltenden Rechts, ausgesprochen u. a. in Strafrecht AT, Bd. 2, 2005, § 50 Rn. 33, sehr wohl bekannt ist; Näheres unter V. 11 Jura 2004, 234 (235 f.). 12 Würde Ingeborg Puppe hier den eigenverantwortlichen Suizid verneinen und einen Mord oder Totschlag in mittelbarer Täterschaft annehmen? Man könnte sie so verstehen, weil sie, jedenfalls für Fälle der Selbstgefährdung, u. a. fordert, „dass das Opfer sich wirklich frei, ohne äußeren, aber auch ohne inneren Zwang [. . .] entschieden hat“ (S. 606). Jedes sich durchsetzende Motiv ist ein zwingendes, begründet also inneren Zwang, selbst bei Alltagshandlungen wie dem Erwidern eines freundlichen Grußes. Quidquid fit, necessario fit; was geschieht, geschieht zwangsläufig. Fehlt das stärkere Gegenmotiv, so beherrscht den Begrüßten der innere Zwang, den Gruß zu erwidern. Doch auch der Indeterminist, der es anders wahrhaben will, würde doch wohl speziell beim Selbstmord einen inneren Zwang wirken sehen. Denn diese Tat zu begehen, bedarf es beim geistig Gesunden stärksten Leidensdrucks, der die Behauptung innerer
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keine Verantwortung der Mitverursacher, auch hier soll niemandem der Todeserfolg objektiv zugerechnet werden außer dem Suizidenten selbst? Ja, es ist wahr, so hat es sich der Gesetzgeber gedacht. Er wollte im Umfeld eines als (noch) freiverantwortlich zu bewertenden Suizids Straflosigkeit – es sei denn, die Mitverursachung muss auch bei restriktivem Verständnis dem Handlungsmerkmal „Tötung“ (§§ 212, 216, 222 StGB) subsumiert werden. Positivrechtlich fest verankert ist freilich nur die Strafbarkeit, die Straflosigkeit ist zwar gleichfalls, wie man zu sagen pflegt, „gesichert“, doch sehen wir uns hier, bei der Verneinung einer (täterschaftlichen) Tötung, auf restriktive Deutung und auf die weiche Begründung angewiesen, der Todeserfolg sei dem Mitverursacher nicht „objektiv zurechenbar“ (oder dieser genieße hier eine hinreichende „Begrenzung seiner Sorgfaltspflicht“ gegenüber dem Suizidenten). III. Das Erstaunliche ist nun, dass manche in den Mitverursachungsfällen die schwach begründete Straflosigkeit favorisieren und den harten Kern klar angeordneter Strafbarkeit aushöhlen. Es geht insoweit ja um das geradezu wörtlich zu nehmende Gebot „du sollst nicht töten“. Dagegen verstößt doch, man sollte meinen: zweifellos, wer z. B. einem anderen eine Pistole an die Schläfe hält und mit tödlicher Wirkung abdrückt, obwohl er hätte wissen oder für möglich halten müssen, dass die Pistole geladen war. So bestraft denn auch das OLG Nürnberg13 eine Angeklagte, die in dieser Weise den Tod ihres Mannes bewirkt hatte, wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB). Aber die h. L. widerspricht dem Urteil, weil der Mann den Tod erstrebt und seine Frau durch die Täuschung, die Pistole sei ungeladen, zur Tat verleitet hatte. Man verneint die objektive Zurechnung des vom Opfer gewollten Todes also selbst hier, wo die Mitverursachung im Totschießen besteht. „Aus der völlig unbestrittenen Straflosigkeit der aktiven Teilnahme am Selbstmord“, so lautet Roxins Lehrsatz, müsse „gefolgert werden, daß man in zurechenbarer Weise jemanden nur töten kann, wenn er sich nicht selbst vollverantwortlich handelnd getötet hat“.14 Aber hat er sich denn, mag man fragen, selbst „getötet“, wenn er doch gerade nicht mit eigener Hand geschossen, sondern seine Frau durch Täuschung zum Schießen verleitet hat? Das hier fragliche Glied in der Begründung liefert die Figur der mittelbaren Täterschaft: Man fingiert einen Straftatbestand der Menschtötung schlechthin, der auch den Suizid umfasst, und fragt, ob der Lebensmüde diese „Straftat selbst oder durch einen anderen“ begangen hat (§ 25
Freiheit absurd erscheinen lässt. Wollte man für so motivierte Suizide die Eigenverantwortlichkeit verneinen, dann könnte man sie wohl niemals bejahen. 13 NJW 2003, 454. 14 (o. Fn. 8), S. 572.
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Abs. 1 StGB). Engländer hält es anscheinend sogar für logisch ausgeschlossen, bei solchermaßen festgestellter Selbsttötungstäterschaft der Möglichkeit rechtswidriger Fremdtötung überhaupt noch Raum zu geben: „Es wäre widersprüchlich, in diesem Tun (scil. dem Totschießen, R. D. H.) einerseits als Element der Handlung des Sterbewilligen eine eigenverantwortliche Selbsttötung zu sehen, es andererseits aber gleichzeitig als tatbestandsmäßige Fremdtötung des Mitwirkenden zu bewerten.“15 Und dies ist wohl auch die Begründung, auf die Puppe ihre Freispruchsforderung stützt: Die Angeklagte „hätte freigesprochen werden müssen, weil [. . .] der Mann der alleinige (mittelbare) Täter war, der sich ihrer als vorsatzloses Werkzeug bediente“.16 Nimmt man Roxin und Engländer bei ihren hier zitierten Worten, dann ist ihre Lehre nachweisbar irrtümlich. In Form mittelbarer Täterschaft „sich selbst voll verantwortlich handelnd“ töten (Roxin) oder „eine eigenverantwortliche Selbsttötung“ begehen (Engländer) kann man auch durch Einsatz eines absichtlich tötenden Werkzeugs, eines Kindes, eines Geisteskranken, eines schwer Betrunkenen (§§ 19, 20 StGB). Und eine Selbsttötung in mittelbarer Täterschaft begeht auch, wer den anderen zur Tat bewegt, indem er ihn seinerseits mit dem Tode bedroht (§ 35 StGB) oder ihn davon überzeugt, eine Tötung auf Verlangen sei kein Unrecht (§ 17 StGB). All diese Tatmittler begehen aber durch ihre Mitverursachung des Suizids eine „tatbestandsmäßige Fremdtötung“ (Engländer) bzw. sie töten den Lebensmüden „in zurechenbarer Weise“ (Roxin). Ausgeschlossen ist nur ihre Schuld (was sie zu Werkzeugen macht), doch verwirklichen sie zweifellos das Unrecht eines vorsätzlichen Tötungsdelikts.17 Roxin räumt das jetzt ausdrücklich ein für meinen Beispielsfall,18 dass der dreizehnjährige Sohn seinen Vater auf dessen Verlangen hin erschießt: „Selbstverständlich begeht [. . .] der Sohn eine rechtswidrige, wenn auch schuldlose Tötung auf Verlangen.“19 Aber in mittelbarer Täterschaft tötet auch der Vater sich selbst! Also ist das mir gemachte Zugeständnis nicht vereinbar mit der dogmatischen These, man könne „in zurechenbarer Weise jemanden nur töten, wenn er sich nicht selbst voll verantwortlich handelnd“ töte, ein zentraler Lehrsatz, den Roxin in den Neuauflagen von „Täterschaft und Tatherrschaft“ immer wieder aufstellt (zuletzt 2006 auf S. 572).20 15 Jura 2004, 234 (236); nahezu wörtlich ebenso Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 133, 2009, Rn. 65a (mit weiteren Nachweisen zum Meinungsstand in Fn. 73). 16 (o. Fn. 2), Rn. 185. 17 Normalerweise das des § 216 StGB, denkbar ist aber auch, dass der Mitwirkende (schuldlos) einen Totschlag (§ 212 StGB) begeht; nämlich dann, wenn auf Seiten des den Tod Erstrebenden die Eigenverantwortlichkeit fehlt, z. B. weil er selbst geisteskrank ist. 18 Vgl. Herzberg, Jura 2004, 670 (671). 19 (o. Fn. 7), S. 449. 20 Mir die Verquickung gänzlich verschiedener Fragestellungen vorzuhalten, die „keinen Erkenntnisgewinn bringt“ (o. Fn. 7), S. 449, ist darum eine ungerechte Kritik. Roxin und Engländer waren es, die alle Formen der mittelbaren Täterschaft des Suizi-
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Davon rückt Roxin in seinem Beitrag zur Otto-Festschrift (2007) nun stillschweigend ab. Er zieht die Grenze neuerdings so, dass der Tatmittler des voll verantwortlichen Suizidenten ohne Tötungsvorsatz handeln müsse, um von der Zurechnung verschont zu bleiben. „Eine fahrlässige Mitwirkung an einem solchen Suizid ist in allen denkbaren Formen straflos [. . .]. Die vorsätzliche Eigenverantwortung des Suizidenten (schließt) die Zurechnung zur Fahrlässigkeit bei Außenstehenden aus. Der Schutzzweck des § 222 StGB erfasst [. . .] nicht die Verhinderung einer Mitwirkung an vorsätzlichen und verantwortlichen Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen.“ 21 Dieser Rückzug führt Roxin auf einen Standpunkt, der mir genauso problematisch scheint wie die alte weiterreichende These. Meine Begründung knüpfe ich an das Plus-Minus-Argument, das ich im vorstehenden Zitat ausgelassen habe. Roxin bringt nämlich gegen das OLG Nürnberg und für seine Straflosigkeitsthese auch noch vor: „Denn wenn die vorsätzliche Bewirkung einer frei verantwortlichen Selbsttötung (die so genannte Anstiftung und Beihilfe zum Suizid) mangels tatbestandsmäßiger Haupttat anerkanntermaßen straflos ist, muss die fahrlässige (und damit weniger intensive) Verursachung eines solchen Erfolges vernünftigerweise ebenso straflos sein.“ 22 Dieses Argument trifft dann zu, wenn man den Begriff „vorsätzliche Bewirkung“ so eng fasst, dass er sich deckt mit der eingeklammerten Kennzeichnung „Anstiftung und Beihilfe zum Suizid“. Denken wir uns in Anlehnung an den Fall BGHSt. 24, 342, dass jemand seine geladene Pistole gedankenlos einer lebensmüden Frau zugänglich macht und dadurch, wie für ihn voraussehbar, einen freiverantwortlichen Suizid verursacht. Bei dieser Sachlage haben wir ein Verhalten vor Augen, für das nach Puppes kluger Abschichtung alle zunächst zu prüfenden „Voraussetzungen der objektiven Zurechnung des Erfolges [. . .] erfüllt sind“, so dass sich nun die Frage stellt, „ob der Täter sich zu seiner Entlastung auf eine freiverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers berufen kann“ (S. 605). Und da haben wir sicheren Boden unter den Füßen. Wenn wir uns nämlich nun zum todesursächlichen Verhalten des Zugänglichmachens das Erkennen der Gefahr oder sogar die Absicht der Todesverursachung hinzudenken, dann wird der Sachverhalt zum klassischen Fall der sog. „straflosen Beihilfe zum Suizid“. In dieser Bezeichnung verbirgt sich, wie dargelegt, die Wertung, dass es für den Pistolenbesitzer an der objektiven Zurechenbarkeit des Todeserfolges fehlt, so dass auch die als Delikt allein in Betracht kommende täterschaftliche Tötung entfällt, und zwar schon im objektiven Tatbestand. Im Hinblick auf einen solchen Fall ist das Plus-Minus-Argument schlagend. Das denten „verquickt“, d.h. in einen Topf geworfen haben. Dass sie damit die objektive Zurechnung des Todeserfolgs auch zugunsten von Tatmittlern verneint haben, die unbestreitbar rechtswidrig den Tatbestand eines Tötungsdelikts erfüllen, das musste ich um des Erkenntnisfortschrittes willen aufdecken. 21 (o. Fn. 7), S. 442 f. 22 AaO.
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unbedacht gefährliche Hinlegen der Waffe kann nicht als fahrlässige Tötung strafbar sein, wenn das bewusst riskante, ja absichtsvolle Greifbarmachen anerkanntermaßen straflos ist. Betrachten wir nun in genau gleicher Weise den Pistolenfall des OLG Nürnberg! Dass auch hier die zunächst zu prüfenden „Voraussetzungen der objektiven Zurechnung des Erfolgs erfüllt sind“ (Puppe), liegt auf der Hand. So schwer es den Richtern gefallen sein mag, in dubio pro rea die Gefahrerkenntnis zu verneinen, an der Sorgfaltspflichtverletzung haben sie nicht gezweifelt.23 Es stellt sich aber bei Prüfung der objektiven Zurechenbarkeit noch die Abschlussfrage nach der Entlastung der Täterin dank der Eigenverantwortlichkeit des Opfers. Um sie zu beantworten, müssen wir uns wieder, im Geist des zu prüfenden Argumentes, vom Minus zum Plus bewegen und zum tödlichen Abdrücken das Wissen um die große Gefahr, d.h. diesmal die Kenntnis von der Kugel im Lauf, hinzudenken. Und auch hier bewegen wir uns auf sicherem Boden, nur dass wir jetzt nicht der Straflosigkeit einer „Beihilfe zum Suizid“, sondern einer Straftat nach §§ 211, 212 StGB sicher sein dürfen. Das ist auch für Roxin selbstverständlich. Er geht mit Recht noch weiter als das OLG, das für den hypothetischen Fall nur eine Tötung auf Verlangen annimmt. „Hätte die Angeklagte“, sagt Roxin, „von der Patrone im Lauf gewusst, so hätte freilich sogar ein Totschlag (§ 212 StGB) vorgelegen; für § 216 StGB hätte das erforderliche Verlangen des Erschossenen gefehlt“.24 Das Plus-Minus-Argument zum Schutz des Mitverursachers eines vom Opfer gewollten Todes, so schön es zutraf im Fall des unvorsichtigen Greifbarmachens der geladenen Pistole, es erweist sich, wie Roxin indirekt-unbewusst selbst einräumt, als unzutreffend und irreführend im Fall des unvorsichtigen Totschießens mit der Pistole. Nun ist über eine Theorie noch nicht der Stab gebrochen, wenn sich ein für sie angeführtes Argument zerschlägt. Könnte es nicht trotzdem richtig sein, die Ver23 In diese Richtung geneigt auch Roxin (o. Fn. 7), S. 444: Trotz gelungener Täuschung könne man das Verhalten der Schützin „angesichts der Befremdlichkeit der Situation immer noch als fahrlässig ansehen“. 24 (o. Fn. 7), S. 444. Zutreffend auch Küpper, JuS 2004, 757 (758): „Allein das Wissen um die Patrone würde für § 216 StGB nicht ausreichen, vielmehr müsste ein ausdrückliches und ernsthaftes Tötungsverlangen des E hinzukommen, der seine ,Aufforderung‘ in die Form eines Scherzes gekleidet hatte.“ Übersehen hat das anscheinend Beulke, Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 207, 216. Er spricht im Hinblick auf den Nürnberger Fall von § 216 StGB und dessen „Anwendungsbereich“, worein allein „die vorsätzlich vorgenommene Straftat“ (der Angeklagten) fallen würde. Nein, auch sie fiele nicht hinein! I. Ü. folgt Beulke in der Sache der h. L., verschiebt aber die Begründung der Straflosigkeit auf die Rechtfertigungsebene: „Wenn das Opfer in voller Risikokenntnis in die Fremdgefährdung einwilligt, ist diese auch dann gerechtfertigt, wenn der Todeserfolg fahrlässig herbeigeführt wird“ (S. 216). Diese von ihm sog. „Einwilligungslösung“ mutet uns starken Tobak zu, wenn sie im Nürnberger Fall das Totschießen mit der an die Schläfe gedrückten Pistole für rechtens erklärt (S. 218).
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ursachung des vom Opfer frei gewollten und heimlich eingefädelten Todes zwar als Mord oder Totschlag zu bestrafen, wenn die Schützin den Todeserfolg vorsätzlich bewirkt, aber für straflos zu befinden, wenn es am Tötungsvorsatz fehlt? Die Antwort muss lauten: Nein, das kann nicht richtig sein. Der Grund ist, dass in einem Mord oder Totschlag das Unrecht einer objektiv zurechenbaren Todesverursachung, also das Unrecht des § 222 StGB, enthalten ist. Gehen wir zur Probe einmal umgekehrt vom Fall des absichtlichen Totschießens, also eines Mordes oder Totschlags aus! Dann hat die Täterin den kompletten objektiven Tatbestand des § 212 StGB rechtswidrig verwirklicht. Denken wir uns nun allein im Subjektiven eine Verminderung, und zwar in dem Maß, dass es für den Vorsatz nicht mehr reicht! Das ist dann der Nürnberger Fall. Er kann gar nicht in die Straflosigkeit abstürzen, weil in ihm ja alles, bis auf den Vorsatz, erhalten bleibt. Um das ganz klar zu sehen, muss man sich ihn nur so vorstellen, wie er wahrscheinlich auch lag: Es blieben Zweifel, ob die Angeklagte mit Tötungsvorsatz oder nur bodenlos leichtsinnig gehandelt hat. Mir scheint es selbstverständlich, dass bei diesem Ermittlungsstand die Alternative „Totschlag oder fahrlässige Tötung“ lautet und nicht „Totschlag oder gar nichts“. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns eine Möglichkeit vergegenwärtigen, die in der bisherigen Diskussion noch niemand bedacht hat: dass zwar der Vorsatz zweifelhaft bleibt, die Angeklagte aber jedenfalls bewusst fahrlässig gehandelt hat. Da wirbt dann die h. L., wenn sie konsequent bleibt, tatsächlich für den Freispruch einer Angeklagten, die mit der Pistole ihrem Mann, ohne von seinem Sterbenwollen zu wissen, aber mit dem Bewusstsein, die Waffe könnte geladen sein, in den Kopf geschossen hat. In einem früheren Beitrag habe ich Engländer ganz zuletzt den Fall zu bedenken gegeben, dass ein Autofahrer aus Unachtsamkeit einen auf der Straße liegenden Suizidenten totfährt.25 Dann vermeidet er nicht, so habe ich argumentiert, „was er zweifellos von Rechts wegen zu vermeiden verpflichtet war und bei Sorgfaltswahrung auch vermieden hätte; darum greift § 222 StGB, obwohl der Lebensmüde den Fahrer als Werkzeug seiner Selbsttötung gebraucht. Engländer muss von seinem Standpunkt aus die Haftung des Fahrers wohl oder übel bestreiten und mir entgegenhalten, dass ,dem Eigenverantwortlichkeitsprinzip implizit die [. . .] Zuordnung zugrunde‘ liege26, die den Autofahrer von der Verantwortung befreie“. Nach wie vor halte ich meine Kritik für berechtigt, dass man so aus dem Prinzip nur herausholt, was man vorher hineingesteckt hat, und dies dem Fall als Lösung aufzwingt. Man muss aber umgekehrt die fraglichen Fälle unvoreingenommen betrachten, Konsequenzen bedenken, einleuchtende Beurteilungen gelten lassen und von daher endlich bestimmen, wie weit das Prinzip reicht und wann trotz Eigenverantwortlichkeit des Opfers der Beteiligte Tötungsunrecht begeht. 25 26
Jura 2004, S. 670–672. Engländer, Jura 2004, 234 (236).
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Hier sehe ich überhaupt das methodische Gebrechen der Straffreiheitskämpfer, die im Streit um die Suizidbeteiligung so deutlich den Ton angeben. Man stellt mit Aplomb ein liberalistisches Eigenverantwortlichkeitsprinzip in den Raum und bestreitet nun Strafbarkeitsbehauptungen einfach deshalb, weil sie dem Prinzip widersprechen. Das erinnert ein wenig an die Verteidigung jenes Odenwaldschullehrers, der sich auf den Grundsatz berief, die Gesellschaft habe gewaltfreie sexuelle Spiele zu tolerieren. Aber wenn diese Spiele sich zugleich als sexueller Kindesmissbrauch darstellen und einen Straftatbestand erfüllen? Da hätte der Lehrer denn doch wohl eine Gesetzesänderung abwarten oder seinen Spielen eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde vorschalten müssen. So zögere ich auch mit der Zustimmung, wenn Ingeborg Puppe „den abstrakten Lehrsatz“ aufzustellen riskiert, „dass fahrlässige Beteiligung am Selbstmord straflos ist.“ Zwar meint sie hier wohl nur den freiverantwortlichen Suizid, aber auch so eingeschränkt bedarf der Satz einer „Es-sei-denn“-Fortsetzung. Problematisch ist ferner die Aussage, dass im Nürnberger Fall „der Mann der alleinige (mittelbare) Täter war“, der sich seiner Frau „als vorsatzloses Werkzeug bediente“.27 Alleiniger Täter einer Selbsttötung war natürlich der Mann, der insoweit seine Frau als Werkzeug benutzte. Aber (alleinige) Täterin einer Fremdtötung war die Frau, und ihre Strafbarkeit nach § 222 StGB ist nicht bestreitbar durch Herausstellung der Selbstverständlichkeit, dass ihre unwissentliche „Beihilfe“ zur Nichtstraftat „Selbsttötung“ straflos ist. Roxin hat mein Beispiel des Autofahrers aufgegriffen und es lebensfremd genannt. Wer sich überfahren lassen wolle, richte die Sache normalerweise so ein, dass der Autofahrer ihn zu spät erblicke und das tödliche Geschehen unvermeidbar sei. Natürlich gibt Roxin zu, dass es auch anders liegen könne und eine dem Fahrer gebotene Aufmerksamkeit dem Lebensmüden das Leben gerettet hätte.28 Aber dann sei zu bedenken, dass die Todesverursachung „bei dem unglücklichen Fahrer oft zu behandlungsbedürftigen Schockzuständen und traumatischen Schädigungen führt. Ihn obendrein auch noch mit Kriminalstrafe zu überziehen und dadurch vielleicht für immer aus seiner geordneten Lebensbahn zu werfen, wäre eine staatliche Überreaktion“.29 Diese Argumentation beruft sich nicht mehr auf den freiverantwortlichen Entschluss des Selbstmörders. Mit ihr könnte man gegen die Strafbarkeit nach § 222 StGB auch zu Felde ziehen, wenn der Autofahrer 27
(o. Fn. 2), Rn. 185 (beide Zitate). So wird es auch keineswegs nur ausnahmsweise liegen. Denn die Entscheidung des Lebensmüden entwächst oft einem tiefen Zwiespalt und will sich hilferufend anderen offenbaren, ohne dass man deshalb dem Suizid die Freiverantwortlichkeit absprechen könnte. Das hat ja auch niemand im Nürnberger Fall getan, obwohl dort der Hilferuf und tiefere Wunsch des Suizidenten, der sich gerade in seinem makabren Ansinnen ausdrückte, kaum zu überhören waren: Die Frau wollte die Scheidung, und er wollte den Tod nur für den Fall, dass das ersehnte Zeichen ausblieb. Hätte sie die Pistole weggeworfen und ihn in die Arme geschlossen, so hätte er weiterleben wollen. 29 (o. Fn. 7), S. 450 f. 28
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einen unfrei handelnden Suizidenten oder ein plötzlich in die Fahrbahn laufendes Kind überfährt. Es geht bei der objektiven Zurechnung um die Frage, ob § 222 StGB nach seinem Schutzzweck die konkrete Todesverursachung verhindern soll. Darauf geben Roxins Überlegungen keine Antwort. Sie begründen nicht, dass es in meinem Beispiel für die Tatbestandserfüllung darauf ankomme, ob der Suizident frei oder unfrei gehandelt habe, sondern sie nennen Gründe, warum bei nur leichter Fahrlässigkeit die Bestrafung nach § 222 StGB „ausgesprochen unbillig“ und eine „staatliche Überreaktion“ sei. „Behandlungsbedürftige Schockzustände und traumatische Schädigungen“ – das hat nichts mit der Zurechnungsund Schutzzwecklehre zu tun oder mit Puppes „Begrenzung von Sorgfaltspflichten“, sondern mit § 60 StGB: „Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre.“ Roxins Argumentation zielt gar nicht auf den Beweis, dass in meinem Beispiel das Delikt der fahrlässigen Tötung nicht vorliege, sondern sie setzt dessen Vorliegen stillschweigend voraus und begründet, warum der Täter (in manchen Fällen) gerechterweise von Strafe verschont bleiben sollte. So muss man der Stellungnahme doch wohl entnehmen, dass Roxin, ohne dass es ihm deutlich wird, auch von seiner neueren, die alte Theorie einschränkenden These abrückt, die da lautet: „Der Schutzzweck des § 222 StGB erfasst nur Fremdschädigungen, nicht die Verhinderung einer Mitwirkung an vorsätzlichen und verantwortlichen Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen“.30 Das muss man nur konkretisieren, um zu erkennen, dass der Schutzzweck in Wahrheit weiterreicht. Soll es u. U. straflos sein, angesichts einer in die Fahrbahn tretenden Frau in leichtfertigem Vertrauen auf rechtzeitiges Beiseitespringen weiterzufahren, bis es zu spät ist? Soll es hier wirklich darauf ankommen und gerichtlich erforscht werden müssen, ob die Frau, deren Leben zu schonen doch in jedem Fall die Pflicht des Fahrers war, sich auch selbst willentlich getötet und, wenn ja, ob sie es auch freiverantwortlich getan hat? Ein bisschen mehr an „Inkaufnahme“ und die herrschende Abgrenzung ergibt ohnehin einen bedingt vorsätzlichen Totschlag. Da kann es ja wohl nicht stimmen, dass sich nach unten statt strafbarer (bewusster) Fahrlässigkeit sogleich die Straflosigkeit anschließt. Dieser Sicht würde auch, wenn ich mich so ausdrücken darf, jede dogmatische Logik fehlen. Denn wegen der Selbsttötung verneint sie zugunsten des Fahrers eine ihm objektiv zurechenbare Todesverursachung. Diese ist i. S. von § 16 StGB ein „Umstand [. . .], der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Sie ist also beim vollendeten Delikt Gegenstand und Voraussetzung des Vorsatzes. Die fragliche Sicht will nun umgekehrt die objektive Zurechnung an die Voraussetzung binden, dass der Verursacher vorsätzlich gehandelt hat. Aber das kann er nur unter der Voraussetzung
30
(o. Fn. 7), S. 443.
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objektiver Zurechenbarkeit getan haben, die indes wiederum vom Vorsatz abhängen soll – ein circulus vitiosus. IV. Der Weg zur richtigen Lösung führt also über die Einsicht, dass in den fraglichen Selbstmordfällen ein Mord oder Totschlag vorläge, wenn der Ausführende unter sonst gleichen Umständen mit Tötungsvorsatz gehandelt hätte; konkret: wenn die Angeklagte eine Kugel im Lauf für möglich gehalten und den Tod „billigend in Kauf genommen“ hätte. Denn diese Beurteilung besagt, dass, wenn der Vorsatz fehlt, doch schon der objektive Tatbestand des § 212 StGB mit seiner Voraussetzung der objektiven Zurechnung des Todeserfolgs erfüllt ist. Das ist anders im Fall der fahrlässigen „Beihilfe“ zum Suizid. Hier kann man sich beim Mitverursacher sogar die sichere Voraussicht und die Absicht der Todesverursachung hinzudenken, ohne dass ein Mord oder Totschlag zustande kommt; konkret: straflose „Anstiftung“ oder „Beihilfe“, auch wenn der Besitzer die geladene Pistole zum Zwecke (und mit dem Erfolg) der Auslösung eines eigenhändigen Selbstmordes bereitlegt. Es bleibt die Frage, ob dem Mitverursacher, der die vom Lebensmüden gewollte Ausführungstat ohne Tötungsvorsatz begeht, auch dann Strafe nach § 222 StGB droht, wenn er bei gegebenem Vorsatz nicht nach §§ 211, 212 StGB, sondern nur nach § 216 StGB strafbar wäre. Dieser Fall wird in der Lebenswirklichkeit kaum vorkommen. Denn er setzt voraus, dass der Mitwirkende einerseits das ernstlich-ausdrückliche Todesverlangen kennt und ablehnt, andererseits in der gewünschten Weise den Tod versehentlich herbeiführt. Eine Pflegerin z. B. weist die ständige Bitte um eine tödliche Dosis Morphium immer wieder ab, injiziert eines Tages dann aber doch die Überdosis, weil ihr Pflegling, was sie bei gebotener Sorgfalt erkannt hätte, heimlich die Menge verdreifacht hat. Oder ein Beispiel in Abwandlung des Falles BGH, NJW 2003, 2326: Der Gelähmte spricht seinen schauerlichen Wunsch, verpackt in Plastiksäcke im Müllcontainer zu ersticken, offen aus, und der Zivildienstleistende tut das Erbetene, doch will er unverzüglich die rettende Befreiung aus dem Müllcontainer veranlassen. Wie für ihn vorhersehbar, misslingt die Rettung, weil das Opfer nach kurzer Zeit erstickt ist. Dass § 222 StGB auch diese Konstellation umgreift, ist nicht selbstverständlich. Ich habe mich an anderer Stelle mit dem Problem ausführlich befasst;31 darauf sei hier verwiesen. V. Im weiten Feld des Themas habe ich mich auf solche freiverantwortlichen Selbstgefährdungen beschränkt, die zu einem vom Opfer gewollten Tod führen. 31
NStZ 2004, 1, 8 ff.
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Gerade für diese Konstellation interessiert sich aber Puppe nur am Rande. Ihr geht es, jedenfalls in ihrem großen Aufsatz,32 um Fälle des Mitwirkens an einer Selbstgefährdung mit tödlichem Ausgang, den weder das Opfer noch der Mitwirkende gewollt hat. Diese umgekehrte Beschränkung macht den Blick geneigt, extreme Beiträge zur Selbstgefährdung eines anderen, die mit dessen Weiterlebenwollen kaum vereinbar sind und oft § 216 StGB ins Spiel bringen, auszublenden. Für die verbleibenden Fälle die objektive Zurechnung des Todes zu verneinen scheint dann allemal geboten oder vertretbar – wenn nur die Voraussetzung der Freiverantwortlichkeit des Opfers erfüllt ist. So kommt es zu einer Grenzziehung, die allein darauf abstellt. Puppe sagt zunächst, dass von den meistens genannten „Äußerlichkeiten [. . .] die Entlastung des Täters nicht abhängen“ könne. Gemeint ist die Unterscheidung danach, ob die Mitwirkung sich als Teilnahme an der Selbstgefährdung erschöpft oder sich darüber hinaus schon als „einverständliche Fremdgefährdung“ darstellt (z. B. wenn ein Betrunkener am Steuer für seinen Beifahrer das beiderseits erkannte Risiko eines tödlichen Unfalls schafft). „Entscheidend ist vielmehr, ob das Opfer sich frei in eigener Verantwortung für die Selbstgefährdung entschieden hat. Das hat zwei Voraussetzungen: Erstens muss das Opfer die unerlaubten Eigenschaften der Gefahr kennen, der es sich aussetzt, und zwar vollständig [. . .]. Die zweite Voraussetzung ist, dass das Opfer sich wirklich frei, ohne äußeren, aber auch ohne inneren Zwang, für seine Selbstgefährdung entschieden hat, dergestalt, dass es eines Schutzes durch die Rechtsordnung vor dieser Gefährdung nicht bedarf, weil es auf seine eigene Vernunft verwiesen werden kann“ (S. 606). Die so begründete Entlastung (Nichtzurechnung) geht, wie hier begründet, zu weit, weil sie bei freiverantwortlicher Entscheidung des Opfers für ein mit Lebensgefahr verbundenes Handeln nicht mehr differenziert. Das aber muss man, und es geht dabei auch nicht nur um Fälle, in denen das Opfer ausdrücklich oder heimlich zu sterben begehrt. Angenommen, B bedrängt A, mit ihm um des Angstkitzels willen russisches Roulette zu spielen dergestalt, dass sie sich gegenseitig Revolver an die Stirn setzen und mit je knapp siebzehnprozentigem Risiko abdrücken. Kommt so der B ums Leben, dann hat das weder er selbst noch der Todesschütze A gewollt. Selbst wenn man, was ich für richtig halte, dem A über die bewusste Fahrlässigkeit hinaus einen sog. „bedingten“ Tötungsvorsatz anlastet, eine „Tötung auf Verlangen“ (§ 216 StGB) liegt nicht vor (in Betracht kommt aber die analoge Anwendung der Vorschrift). Es mag sein, dass Puppe so krasse Fälle der „einverständlichen Fremdgefährdung“ nicht bedacht hat.33 Aber ihr entlastendes Urteil bezieht die Taten ein: Die Rechtspflicht, „sich an der bewussten und willentlichen Selbstgefährdung eines anderen nicht zu beteiligen, sei es als Quasi-Täter oder Quasi-Gehilfe“ macht 32
(o. Fn. 1). Jedenfalls nicht im Rahmen des Aufsatzes (o. Fn. 1). An anderer Stelle (o. Fn. 2, Rn. 185) bedenkt sie sehr wohl den Nürnberger Fall. 33
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den einen „zum Vormund des anderen. Aber der mündige Bürger ist frei, selbst zu entscheiden, welchen Gefahren er sich aussetzt [. . .]. Deshalb darf man an der Selbstgefährdung eines anderen solange in jeder Weise mitwirken, wie diese Freiheit besteht“.34 Und wenn Puppe an anderer Stelle vom Gesetzgeber eine konsistente Regelung fordert, dann kann man das nach allem nur als Forderung weiterer Straffreiheit verstehen: „Die Behandlung der Teilnahme am Suizid im geltenden Recht ist in sich inkonsistent. Entweder der einzelne hat das Recht, über sein Leben zu verfügen, dann dürfte auch die Tötung auf Verlangen nicht strafbar sein, oder er hat dieses Recht nicht, dann müsste die Beihilfe zum Selbstmord ebenfalls bestraft werden.“35 Es trifft zu, die in diesem Bereich anerkannte Straffreiheit ist der Wille des Gesetzgebers. Aber seinem Willen ist nur dadurch zur Geltung zu verhelfen, dass man den Mitverursachern des Todes, die straflos bleiben sollen, auch unter dem Aspekt eigener Täterschaft den Erfolg nicht zurechnet (s. o. II.); theoretisch-begrifflich ließe sich die Konsistenz, die Puppe der lex lata abspricht, auf deren Boden herstellen, wenn auch nur in Richtung umfassender Strafbarkeit, und die hat der Gesetzgeber nicht gewollt. Aber er hat, nach seiner noch klareren, ganz eindeutigen Aussage, ebenso wenig gewollt, dass jedes Mitbewirken eines in Freiheit erstrebten Todes straflos bleibe. So dürfen wir es mit der Nichtzurechnung, die ja genau besehen immer eine Verneinung des Handlungsmerkmals (in unseren Fällen des „Tötens“ oder der „Tötung“) ist, keinesfalls übertreiben. Wer totschießt, „tötet“, das kann keine „Lehre von der objektiven Zurechnung“ hinweginterpretieren. Puppes Purismus, dessen innere Schlüssigkeit und liberalistische Konsequenz ich anerkenne, erscheint mir nicht als der allein vertretbare oder auch nur vorzugswürdige Standpunkt. Für sich selbst den Tod zu wählen ist immer eine schicksalhafte Entscheidung von äußerstem Gewicht. Auch wo wir sie, trotz ihrer Motivierung durch Qual und Drangsal, als „frei“ und „eigenverantwortlich“ bewerten, ist sie doch einer gewöhnlichen Maßnahme im Rahmen der allgemeinen Verfügungsmacht des Rechtsgutsinhabers, etwa dem Beschluss, seinen kranken Hund einzuschläfern, nicht gleichzusetzen. Darum spricht viel für die mittlere Lösung, die wir dem geltenden Recht entnehmen. In Fällen zurückhaltender Mitwirkung am Suizid durch „Anstiftung“ oder „Beihilfe“ ersparen wir dem Mitverursacher noch die Erfolgszurechnung, mag sein Tun moralisch auch schon verwerflich sein; er bleibt gleichsam abgeschirmt, weil der Suizident die entscheidende Tat ganz oder fast ganz in die eigene Hand nimmt. Wo die Mitwirkung aber in eben dieser Tat besteht, da findet die Zurechnung statt. Wollte man sie auch dort verneinen, so hieße das dem Gesetz Gewalt antun und seinen Wortsinn missachten. Die Ehefrau im Nürnberger Fall hat ihrem Mann, wie u. a. auch 34 35
(o. Fn. 9), § 6 Rn. 6. (o. Fn. 10), § 50 Rn. 33.
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Puppe zu Recht betont, als Tatmittlerin unwissentlich zur Selbsttötung verholfen, aber ihn zugleich, das ist genauso unbestreitbar, fahrlässig getötet. Noch einmal: Es liegt nicht anders als beim Dreizehnjährigen, der seinen lebensmüden Vater durch Erschießen vorsätzlich tötet (§ 216 StGB) und ihm zugleich eben dadurch als Werkzeug dient, sich selbst zu töten.36 Die Grenze zwischen Nichtzurechnung und Zurechnung, zwischen Nichttöten und Töten zieht das Kriterium der Unausweichlichkeit. Es kommt darauf an, ob der Suizident sich der Wirkung des kausalen Beitrags, nachdem der Beteiligte ihn geleistet hat, noch aus eigener Kraft hätte entziehen können; z. B. durch Nichtbefolgen der Aufforderung zum Selbstmord, durch Nichtschlucken des ihm verschafften Giftes, aber auch durch Verlassen des Zimmers, nachdem der Helfer es abgedichtet und den Gashahn geöffnet hat, oder durch Schwimmen, nachdem der andere den Zaudernden ins Wasser gestoßen hat. Gegenbeispiele: Das Erschießen, das Stoßen in den Abgrund, das Überrollen mit dem Auto, das Injizieren eines unabwendbar tödlichen Giftes, das Bewirken der Erdrosselung durch Wegreißen des Tisches, worauf der Lebensmüde steht, mit der Schlinge um den Hals.37 VI. Hat das Opfer sterben wollen und ausdrücklich-ernstlich um die Mitwirkung des anderen gebeten, dann wird sich wohl jeder so ungefähr des skizzierten Kriteriums zur Eingrenzung des § 216 StGB bedienen. Was diese Vorschrift mit Strafe bedroht, das ist strafbar, und also muss die in Freiheit verübte Selbsttötung zusammentreffen können mit einem von fremder Hand begangenen Tötungsdelikt. Der Meinungsstreit scheint mir erst zu beginnen, wo wir den Bereich des § 216 StGB verlassen, weil, wie im Nürnberger Fall, die Person, um deren Strafbarkeit es geht, die Gefahr gar nicht erkannt hat oder, wie in den meisten Fällen, beide Beteiligte, auch das Opfer, auf einen schadlosen Ausgang ihres riskanten Treibens gehofft haben. Für mich ist auch hier das genannte Kriterium entscheidend. Denn bei einigem Nachdenken erkennt man, dass es genau genommen nicht um die Eingrenzung des § 216 StGB geht, sondern um die des darin steckenden Merkmals „Töten“ oder auch um die Zurechnung des Todeserfolgs. Wo jemand seinen Spielpartner beim russischen Roulette erschießt oder einen Junkie-Gefährten mit kontaminiertem Heroin zu Tode spritzt, da „tötet“ er, da ist ihm der Todeserfolg objektiv zuzurechnen, mag ihm auch nur Fahrlässigkeit vorzuwerfen sein und das Opfer sich wissend und frei dem Risiko ausgesetzt haben. 36 Im Rahmen unseres Themas geht es nur um die objektive Zurechnung, um die Frage der Erfüllung des Tatbestandes, deren Bejahung es genau genommen stets offen lässt, ob die fragliche Tat rechtswidrig ist. Auch eine Tötung auf Verlangen kann – nach § 34 StGB – gerechtfertigt sein. Man denke etwa an den Gnadenschuss auf dem Schlachtfeld ! 37 Detaillierter habe ich die Grenze in NStZ 2004, 1 (6 f.) gezogen.
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Widerspreche ich damit, auf der breiten Grundlage unserer Übereinstimmung, Ingeborg Puppe? Es sieht so aus, denn, wie gesagt, sie stellt allein auf die Freiheit bei der Selbstgefährdung ab und will dem anderen erlauben, „in jeder Weise“ mitzuwirken, solange diese Freiheit besteht. Darüber mag man rechtsethisch und rechtspolitisch streiten, aber mit dem geltenden Recht scheint mir diese Lösung nicht vereinbar. So käme zu manchem Streitpunkt, den wir in Rede und Gegenrede erörtert haben, ein weiterer. Ich kenne Ingeborg Puppe seit fast vierzig Jahren. Wenn man so will, war es Karl Lackner, der die Begegnung vermittelt hat. Denn Frau Puppe war Assistentin an seinem Lehrstuhl, als ich im Sommersemester 1972 nach Heidelberg kam, um ihren Lehrer zu vertreten. Sofort, gleich nach der ersten Begrüßung, zog sie mich in ein kritisches Gespräch, betreffend einen Aufsatz von mir, den sie gerade gelesen hatte. Immer wieder hat uns seitdem die geistige Auseinandersetzung in Publikationen und Briefen verbunden und bereichert. Das wird sich, hoffe ich, fortsetzen, etwa mit diesem Beitrag zur Festschrift, den ich in Bewunderung und Dankbarkeit Ingeborg Puppe zu ihrem Lebensjubiläum zueigne.
Wozu brauchen wir eine fahrlässige Mittäterschaft? Von Andreas Hoyer I. Einleitung Einen Beitrag für eine Festschrift zu verfassen, scheint mir umso schwerer, je mehr wissenschaftliche und unwissenschaftliche Nähe man gegenüber dem bzw. der zu Ehrenden verspürt. Denn natürlich kann der Sinn eines solchen Festschriftbeitrags nicht darin bestehen, diese Nähe dadurch auf das Vollmundigste auszudrücken, dass man irgendeiner originären These des/der zu Ehrenden möglichst vorbehaltlos zustimmt und ihn/sie andachtsvoll für den ungeheuren Scharfsinn rühmt, der mit der Entwicklung dieser These bewiesen wurde und dafür gewiss unentbehrlich war – nichts würde mir gegenüber einer so bewunderungswürdigen Wissenschaftlerin wie Ingeborg Puppe leichter fallen, als eben in einer derartigen Bewunderung zu verharren. Stattdessen kann die Ehrung einer Person gerade in ihrer Eigenschaft als Wissenschaftlerin nur darin bestehen, in der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Thesen den wissenschaftlichen Fortschritt zu befördern, d.h. eine Antithese dazu in der Hoffnung zu formulieren, damit zur künftigen Erarbeitung einer Synthese durch wen auch immer (Ingeborg Puppe?) Anlass zu geben. In diesem Sinne möchte ich an einen 2004 erschienenen Aufsatz1 von Ingeborg Puppe mit dem Titel „Wider die fahrlässige Mittäterschaft“ anknüpfen, in dem sie sich ablehnend zu einem unter anderem auch von mir vertretenen Ansatz2 äußert und von dem sie mir deshalb seinerzeit dankenswerterweise auch einen Sonderdruck zugesandt hat. II. Puppes Einwände gegen die bisherigen Konstruktionen einer fahrlässigen Mittäterschaft Puppe kritisiert in ihrem angesprochenen Aufsatz, dass die Lehre von der fahrlässigen Mittäterschaft ausschließlich mit der Begründung und zu dem erklärten Zweck entwickelt worden sei, bei überbedingten Gremienentscheidungen trotz fehlenden Vorsatzes zu einer gegenseitigen (nämlich mittäterschaftlichen) Vorsatzzurechnung zu gelangen, um sich so den Weg zu einer Strafbarkeit (nämlich 1 2
Puppe, GA 2004, 129–146. SK7 /Hoyer, 2000, § 25 Rn. 154.
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wegen Fahrlässigkeitsdelikts) zu eröffnen.3 Erstens bilde es aber keine hinreichende Bedingung für eine dogmatische Konstruktion, wenn für sie lediglich angeführt werde, mit ihr ließen sich unerwünschte Strafbarkeitslücken bequem vermeiden.4 Zweitens sei die dogmatische Konstruktion einer fahrlässigen Mittäterschaft auch gar nicht notwendig, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, dass sämtliche Gremienmitglieder sich durch ihre gleichgerichtete Stimmabgabe strafbar gemacht haben.5 Und drittens sei der Lehre von der fahrlässigen Mittäterschaft vorzuwerfen, dass sie sämtliche für Vorsatzdelikte anerkannten Mittäterschaftserfordernisse kurzerhand preisgebe, sobald es um bloße Fahrlässigkeitsdelikte gehe und ohne für diese ersatzhalber irgendwelche auch nur annähernd gleich bestimmten Mittäterschaftserfordernisse entwickelt zu haben.6 Beim Vorsatzdelikt bestünden diese Mittäterschaftserfordernisse darin, dass zum einen jeder Beteiligte selbst einen erfolgskausalen Beitrag im Rahmen der Tatausführung erbringe, dass er dies zum anderen gerade auf der Grundlage eines spätestens bei Beginn der Tat verabredeten Plans mache und dass dieser Plan schließlich nach ihrer aller Übereinkunft eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung zum Gegenstand habe.7 Selbst bei vollständigem Erfülltsein dieser drei Erfordernisse müsse die Mittäterschaft als strengste Form der Zurechnung eingestuft werden, da sie im Unterschied zur Teilnahme jeden Beteiligten so stelle, als habe er sämtliche Tatbeiträge eigenhändig erbracht, und da sie dafür überdies im Unterschied zur mittelbaren Täterschaft nicht einmal eine Beherrschung der übrigen Beteiligten voraussetze.8 Wenn eine mittäterschaftliche Handlungszurechnung aber bereits bei Erfülltsein der genannten drei Erfordernisse äußerst streng erscheine, dann müsse sie bei einem Verzicht auf alle diese Erfordernisse ihre Legitimität jedenfalls gänzlich einbüßen. Eine Übertragung des differenzierten Beteiligungsformensystems auf Fahrlässigkeitsdelikte müsse deshalb ausscheiden9 und stattdessen für diesen Bereich – ganz unrevolutionär – am herkömmlichen Einheitstätersystem festgehalten werden.10 Die folgenden Ausführungen wollen versuchen zu zeigen, dass Puppes „Verriss“ der Lehre von der fahrlässigen Mittäterschaft zumindest nicht in Bezug auf alle in diesem Rahmen vertretenen Ansätze zutrifft, dass sich vielmehr durchaus eine fahrlässige Mittäterschaft in weitgehender Anlehnung an die für das Vorsatzdelikt gültigen Mittäterschaftserfordernisse konstruieren lässt und dass es einer solchen Konstruktion vor allem auch bedarf, um bei überbedingten Gremien3
Puppe (Anm. 1), 129, 132. Puppe (Anm. 1), 137, 142 f. 5 Puppe (Anm. 1), 137. 6 Puppe (Anm. 1), 131 f. 7 Puppe (Anm. 1), 131. 8 Puppe (Anm. 1), 131. 9 Puppe (Anm. 1), 146. 10 Puppe, ZIS 2007, 247, 249. 4
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entscheidungen, aber auch in anderen Sachverhaltskonstellationen zu den auch von Puppe für richtig erachteten Ergebnissen zu gelangen. Dabei wende ich mich – die Gedankenfolge in Puppes Aufsatz nachvollziehend – zunächst den Voraussetzungen einer fahrlässigen Mittäterschaft zu, die sich Puppes Befürchtung zufolge allzu weit von jenen einer vorsätzlichen entfernen, um eine gegenseitige Handlungszurechnung legitimieren zu können.11 III. Die Voraussetzungen einer fahrlässigen Mittäterschaft Als Beispielsfall, anhand dessen sie die behauptete Aufweichung aller Mittäterschaftserfordernisse demonstrieren will, wählt Puppe den Lederspray-Fall des BGH,12 durch den tatsächlich die gesamte wissenschaftliche Diskussion über Möglichkeiten einer fahrlässigen Mittäterschaft erst ausgelöst worden ist:13 Hält man für die fahrlässige Mittäterschaft am Erfordernis eines gemeinsamen Tatplans fest, so kann dessen Fassung allein in der gleichzeitigen, gleichgerichteten und voneinander unbeeinflussten Stimmabgabe durch alle Gremienmitglieder bestehen, wobei sich dieser Tatplan – anders als bei einem Vorsatzdelikt – naturgemäß nicht auf eine vorsätzliche, sondern lediglich auf eine fahrlässige Tatbestandsverwirklichung in Ausführung des gefassten Tatplans zu beziehen braucht. Puppe kritisiert an dieser Konstruktion nun, dass sich an die Fassung des „Tatplans“ gar keine davon gesonderte Ausführung desselben durch Erbringung der im Tatplan verabredeten individuellen Tatbeiträge mehr anschließe. „In der Stimmabgabe fallen also Tatplanbegründung und Tatplanausführung zusammen“,14 obwohl die Ausführung – wie beim Vorsatzdelikt – auf der Begründung beruhen müsse. Wäre es im Lederspray-Fall tatsächlich so, dass Fassung und Ausführung des Tatplans in der Stimmabgabe zeitlich und inhaltlich zusammenfallen, so läge darin zugestandenermaßen eine nicht mehr akzeptable Ausweitung der mittäterschaftlichen Zurechnung. Denn jedes Gremienmitglied haftete dann für die gleichgerichtete Stimmabgabe seiner Kollegen, einfach weil er sich diese bei seiner eigenen Stimmabgabe so gewünscht und damit innerlich einverstanden war, ohne aber darauf irgendeinen Einfluss ausgeübt zu haben.15 Eine strafrechtliche 11
Puppe (Anm. 1), 131 f. BGHSt 37, 106 ff. 13 Vgl. z. B. Simone Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft, 1999, S. 162 ff.; Christoph Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, 2001; Weißer, Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, 1996; Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen, 2001; Neudecker, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen, 1995; Sánchez Lázaro, Täterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt, 2007. 14 Puppe (Anm. 1), 133. 15 Puppe (Anm. 1), 134. 12
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Zurechnung fremder Handlungen allein darauf zu stützen, dass man sich diese Handlungen gewünscht hat und sie insgeheim billigt, würde in verfassungswidriger Weise auf bloßem Gesinnungsunrecht aufbauen. Im Lederspray-Fall folgt der Beschlussfassung im Gremium aber durchaus noch ein davon zeitlich und inhaltlich klar zu unterscheidendes Verhalten nach, nämlich die Ausführung des Beschlusses, indem das Lederspray weiter produziert und weiter vertrieben wurde. Diese weiteren Handlungen wurden zwar von den Abstimmenden nicht eigenhändig vorgenommen, können ihnen aber unter Umständen als mittelbaren Tätern kraft Leitung eines organisatorischen Machtapparats wiederum zugerechnet werden.16 Mit der „revolutionären“17 Anerkennung einer fahrlässigen Mittäterschaft müsste konsequenterweise ja auch eine solche der fahrlässigen mittelbaren Täterschaft einhergehen, so dass den beschlussfassenden Gremienmitgliedern das beschlussausführende Handeln ihrer weisungsgebunden tätigen Arbeitnehmer so zuzurechnen wäre, als hätten sie es allesamt eigenhändig vollzogen. Diese per mittelbarer Täterschaft begründete Ausführungshandlung jedes einzelnen Gremienmitglieds beruht auch kausal auf der vorherigen Beschlussfassung, d.h. auf einem zuvor gemeinsam entworfenen Tatplan, der genau diese Ausführungshandlungen vorsah, so dass insgesamt beide Mittäterschaftserfordernisse nacheinander und aufeinander aufbauend erfüllt worden sind. Es handelt sich beim Lederspray-Fall somit um einen Fall von in mittelbarer Täterschaft handelnden Mittätern,18 ohne dass von den für das Vorsatzdelikt anerkannten Regeln eines differenzierten Beteiligungsformensystems irgendwelche Abstriche für sein fahrlässiges Pendant gemacht werden müssten – außer, dass sich der Tatplan beim Fahrlässigkeitsdelikt eben nur auf eine fahrlässige Ausführungshandlung durch die in mittelbarer Täterschaft ihren Tatplan ausführenden Mittäter zu beziehen braucht. IV. Die Notwendigkeit einer fahrlässigen Mittäterschaft 1. Der Lederspray-Fall a) Kausalität bei überbedingten Gremienentscheidungen Puppes zweites Argument dafür, eine Strafbarkeit im Lederspray-Fall nicht mit Erwägungen zu einer etwaigen fahrlässigen Mittäterschaft zu begründen, besteht darin, dass es einer solchen Konstruktion dazu nicht bedarf.19 Zu Recht weist Puppe darauf hin, dass auch bei einer überbedingten Gremienentscheidung jede einzelne Ja-Stimme für den letztlich einstimmig gefassten Beschluss und damit 16 17 18 19
Vgl. BGHSt 40, 218, 237. So Puppe (Anm. 1), 132. Gropp, JuS 1996, 13, 16; SK/Hoyer (Anm. 2), § 25 Rn. 128 f. Puppe (Anm. 1), 137.
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auch für den aufgrund dessen eingetretenen tatbestandlichen Erfolg ursächlich geworden ist.20 Zwar würde die condicio sine qua non-Formel bei überbedingten Gremienentscheidungen zu dem unhaltbaren Ergebnis führen, dass keine einzige Ja-Stimme für den Erfolg unbedingt notwendig und damit kausal für ihn war21 – dieses Ergebnis erweist aber nur die Fehlerhaftigkeit der condicio-Formel bereits in ihrem gedanklichen Ansatz.22 Zu den besonderen Verdiensten Puppes rechnet es dagegen, zumindest in der Rechtswissenschaft die Einsicht verbreitet zu haben, dass es für die Erfolgskausalität eines Umstands ausreicht, wenn ohne ihn nicht alle notwendigen Bestandteile jedenfalls einer hinreichenden Minimalbedingung für den Erfolg vorlägen.23 Sind in einem Gremium fünf Ja-Stimmen für einen Beschluss abgegeben worden, der auch mit einfacher Mehrheit wirksam hätte gefasst werden können, so ist jede einzelne Ja-Stimme notwendiger Bestandteil gleich mehrerer Kombinationen von jeweils drei Ja-Stimmen, die allesamt eine hinreichende Mindestbedingung für den Erfolgseintritt konstituieren.24 Akzeptiert man diesen maßgeblich von Puppe entfalteten Kausalitätsbegriff, so brauchen tatsächlich nicht jedem einzelnen Gremienmitglied erst sämtliche übrigen Ja-Stimmen mittäterschaftlich zugerechnet zu werden, um seine Kausalität für die Beschlussfassung, -ausführung und damit letztlich auch für den tatbestandlichen Erfolg dartun zu können. b) Objektive Zurechnung bei überbedingten Gremienentscheidungen Mit der Bejahung allein der Kausalitätsfrage sind aber noch nicht sämtliche Rechtsprobleme, die sich aus überbedingten Gremienentscheidungen ergeben können, aus dem Wege geräumt: Um der Ja-Stimme eines Gremienmitglieds den tatbestandlichen Erfolg objektiv zurechnen zu können, muss die betreffende Stimmabgabe nicht nur generell erfolgskausal, sondern zudem auch noch unerlaubt riskant gewesen sein – und muss schließlich gerade aufgrund der Eigenschaften, die sie unerlaubt riskant erscheinen lassen, auch erfolgskausal geworden sein (Risiko- und Rechtswidrigkeitszusammenhang).25 Nun mag man sich eine Gremienentscheidung vorstellen, die dadurch zustande kommt, dass die Mitglieder in einer bestimmten Reihenfolge (offen oder geheim) nacheinander abstimmen, wie es § 197 GVG etwa für gerichtliche Abstimmungen anordnet. Bei Einstimmigkeit innerhalb eines fünfköpfigen Entscheidungsgremiums ist die erVgl. etwa NK3 /Puppe, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 108. So LK12 /Walter, 2007, Vor § 13 Rn. 83. 22 Puppe (Anm. 1), 137; dies., ZStW 92 (1980), 863, 876 ff.; dies., NK (Anm. 20), Rn. 91. 23 Puppe (Anm. 22), 863, 875, 878; dies., NK (Anm. 20), Rn. 102. 24 Puppe (Anm. 1), 139; dies., JR 1992, 30, 32. 25 Puppe, in: Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 287; dies., ZStW 99 (1987), 595, 601. 20 21
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forderliche absolute Mehrheit (vgl. § 196 I GVG) bereits nach Abgabe der dritten Ja-Stimme erreicht, so dass sich für die anschließend abgegebenen beiden Stimmen fragt, ob sie überhaupt noch ein zusätzliches (und zudem unerlaubtes) Risiko für das geschützte Rechtsgut bedeuten. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht mehr um ein Kausalitätsproblem, das wir vielmehr – Puppes Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung folgend – bereits oben befriedigend gelöst haben, ohne dafür Zuflucht zu einer mittäterschaftlichen Handlungszurechnung nehmen zu müssen. Es fragt sich aber, ob dasselbe auch für die Feststellung eines unerlaubt riskanten Verhaltens gilt, nachdem die zeitlich früheste hinreichende Minimalbedingung für den Erfolg (= drei Ja-Stimmen) bereits vollständig eingetreten ist. aa) Unterlassungsdelikte Puppe selbst hat dieses Problem bezogen auf die Mitglieder des Politbüros der SED erörtert,26 die erst nach Einführung des DDR-Grenzregimes in ihre Ämter gelangt sind. Diesen Gremienmitgliedern wurde allerdings kein Totschlag durch aktives Tun, sondern durch Unterlassen vorgeworfen, da sie es verabsäumt hatten, in einer der in ihrer Anwesenheit stattgefundenen Sitzungen des Politbüros die Abschaffung des Schießbefehls zu beantragen und sich für einen entsprechenden Beschluss einzusetzen.27 Auch hier war zunächst zweifelhaft, ob das Unterlassen eines einzelnen Gremienmitglieds ursächlich für den Tod von Grenzflüchtlingen geworden ist, da möglicherweise auch dann kein Beschluss zur Abschaffung des Schießbefehls gefasst worden wäre, wenn das einzelne Mitglied alles in seiner Kraft Stehende dafür getan hätte. Mit Recht weist Puppe aber darauf hin, dass diese Ungewissheit an der Kausalität des Unterlassens gemäß ihrer Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung nichts ändert, da sich die Unterlassungen verschiedener Politbüromitglieder ohne Weiteres so miteinander kombinieren lassen, dass durch sie insgesamt eine Mehrheit im Politbüro erreicht wird (= hinreichende Bedingung) und die Unterlassung jedes als Einzelner an dieser Kombination beteiligten Mitglieds für das Erreichen einer Mehrheit durch sie unverzichtbar ist (= Minimalbedingung).28 Puppe erkennt aber auch, dass es aus dem Blickwinkel des geschützten Rechtsguts sinnlos wäre, von einzelnen Gremienmitgliedern noch weiter heldenhaften Einsatz zu erwarten, „wenn eine solche, vom Täterverhalten unabhängige hinreichende Erfolgsbedingung schon vor Eintritt der Handlungspflicht sicher feststeht“.29 Um diese Konstellation zu veranschaulichen, nimmt Puppe auf das 26 27 28 29
Puppe (Anm. 1), 143 ff.; dies. (Anm. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 122. BGHSt 48, 77 ff. Puppe (Anm. 1), 144. Puppe (Anm. 1), 144.
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schlagkräftige Beispiel von Samson30 Bezug,31 demzufolge es einem Feuerwehrmann nicht geboten sein kann, seine Spritze unbeirrt auf ein brennendes Haus auszurichten, obwohl dessen weit entfernt am Hydranten eingesetzter Kollege es verabsäumt hat, den Wasserhahn zu öffnen. Anders als in Samsons Beispielsfall habe die Aussichtslosigkeit von Rettungsbemühungen im Politbüro-Fall aber nicht sicher festgestanden, so dass es einen guten Sinn behalte, jedes einzelne Mitglied zu verpflichten, wenigstens den Versuch zu machen, eine Aufhebung des Schießbefehls durch das Politbüro herbeizuführen.32 Wenn im Politbüro aber etwa offen und ohne die Möglichkeit zu einer vorherigen Aussprache in einer dem Dienstalter aller Mitglieder genau entgegengesetzten Reihenfolge (so wie sie § 197 GVG für gerichtliche Entscheidungen anordnet) über einen Antrag auf Schießbefehlsaufhebung abgestimmt worden wäre, so hätte ab Erreichen einer bestimmten Anzahl an abgegebenen Stimmen sicher festgestanden, dass sich keine Mehrheit für den Antrag einstellen wird. Nach Puppe soll für die anschließenden Unterlassungen dann zwar nicht die Kausalität, wohl aber die für ein unechtes Unterlassungsdelikt erforderliche Garantenpflicht entfallen, da „niemand . . . zu sinnlosen Aktivitäten verpflichtet ist“.33 Wenn man Strafrecht vom Gedanken des Rechtsgüterschutzes her konzipiert, so leuchtet diese Begründung auch durchaus ein, sie dürfte dann aber nicht nur für die qualifizierte Handlungspflicht eines Garanten gelten, sondern auch und erst recht für die einfache Handlungspflicht, die jedermann trifft und deren Verletzung gegebenenfalls zu einem echten Unterlassungsdelikt führt (in Samsons Feuerwehrbeispiel: § 323c StGB). bb) Begehungsdelikte Vor allem jedoch müsste die Begründung auch für Begehungsdelikte gelten, wenn also nicht über die Abschaffung, sondern umgekehrt etwa über die (Wieder-)Einführung des Schießbefehls abgestimmt worden wäre. Eine Pflicht, sinnlosen Widerstand gegen eine bereits unverrückbar feststehende Mehrheit zu leisten, kann doch ebenso wenig bestehen, wenn die Mehrheit sich für ein Unterlassen, wie wenn sie sich für ein Handeln ausgesprochen hätte. Um dieses Ergebnis nicht nur (wie bei Puppe34) für Unterlassungs-, sondern auch für Begehungsdelikte erzielen zu können, darf meines Erachtens sowohl ein etwaiges Handeln als auch ein etwaiges Unterlassen nicht mehr als unerlaubt riskant im Sinne der
30 31 32 33 34
Samson, StV 1991, 182, 185. Puppe (Anm. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 124. Puppe (Anm. 1), 144. Puppe (Anm. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 124. Puppe (Anm. 1), 144.
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Lehre von der objektiven Zurechnung eingestuft werden, nachdem zumindest eine hinreichende Minimalbedingung für den Erfolg bereits sicher erfüllt ist. cc) Mittäterschaftliche Verhaltenszurechnung In Samsons Beispielsfall müsste daraus die Straflosigkeit des an der Spritze eingesetzten Feuerwehrmanns folgen, da das Verhalten der beiden weit voneinander entfernt (un-)tätigen Feuerwehrleute hier nicht auf einer vorherigen Absprache zwischen ihnen beruht und somit keine Mittäterschaft zwischen ihnen besteht. Anders könnte es dagegen im Politbüro-Fall sein, wenn es innerhalb dieses Gremiums (wie oben fingiert) tatsächlich zu einer Abstimmung über die Abschaffung des Schießbefehls gekommen wäre. Die einstimmige Beschlussfassung, den Schießbefehl beizubehalten, wäre hier als gemeinsamer Tatplan anzusehen, der durch das Unterlassen, den Schießbefehl gegenüber den Mauerschützen zurückzunehmen, ausgeführt worden wäre. Jedes Politbüromitglied, das sich durch seine Nein-Stimme gegen eine Abschaffung des Schießbefehls ausgesprochen hat, wäre nach Puppes Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung für den Beschluss und damit auch für dessen Ausführung ursächlich geworden, so dass es sich diese Beschlussausführung nach den Regeln der mittelbaren Täterschaft kraft Leitung eines organisatorischen Machtapparats35 zurechnen lassen müsste. Da infolge der gemeinsamen Tatplanfassung und (mittelbaren) -ausführung auch die Voraussetzungen einer Mittäterschaft gegeben wären, müsste sich jedes einzelne Politbüromitglied auch die Nein-Stimmen seiner Kollegen so zurechnen lassen, als habe es sie selbst abgegeben. Damit könnte sich dann auch kein Politbüromitglied mehr darauf berufen, dass die Mehrheit bereits vor Abgabe der eigenen Nein-Stimme sicher festgestanden habe. Anerkennt man darüber hinaus auch eine fahrlässige Mittäterschaft, so ließe sich im Lederspray-Fall eine strafrechtliche Verantwortlichkeit jedes einzelnen Geschäftsführers nach §§ 229; 13; 25 I Alt. 2; 25 II StGB für die unterlassene Produktionseinstellung bzw. den unterlassenen Produktrückruf begründen. Bei überbedingten Gremienentscheidungen mit nacheinander abgegebenen Stimmen würden dann entgegen Puppe36 auch „den Letzten die Hunde beißen“, gleich ob es um ein Vorsatz- oder um ein Fahrlässigkeitsdelikt, ein Begehungs- oder um ein Unterlassungsdelikt geht. Anders als für Samsons Feuerwehr-Beispiel erschiene mir dies für die Gremien-Fälle auch im Ergebnis überzeugend: Hätte nämlich in den Gremien-Fällen niemand auch nur einen Antrag auf Beschlussfassung gestellt (wie es im Politbüro-Fall auch tatsächlich war), so hätte ohnehin jeder Unterlassende für die Fortsetzung der bisherigen Praxis strafrechtlich haften müssen – da der allseitige Verzicht auf eine Antragstellung bereits eine hinreichende Minimalbedingung für 35 36
Vgl. BGHSt 40, 218, 236 f. Puppe (Anm. 1), 144.
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den Fortgang dieser Praxis bildete37 und zudem nicht sicher feststand, wie die Abstimmung über einen Antrag ausgegangen wäre.38 Wenn aber bei unabgestimmter Untätigkeit aller Gremienmitglieder jedes einzelne gehaftet hätte, dann ist nicht einzusehen, weshalb sich daran im Falle einer durch Abstimmung offiziell beschlossenen Untätigkeit (wie in unserem Beispiel) etwas ändern sollte. Befreite die Fassung eines einstimmigen Beschlusses jedenfalls die zuletzt abstimmenden Gremienmitglieder von ihrer strafrechtlichen Verantwortung, dann würde das Erfülltsein der Mittäterschaftsvoraussetzungen entgegen deren Funktion nicht strafbegründend, sondern -entlastend wirken. Entgegen Puppe39 erweist sich die Konstruktion einer (auch) fahrlässigen Mittäterschaft bei Gremienentscheidungen also zumindest nicht in sämtlichen Fällen als überflüssig, selbst wenn man die Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung anzuerkennen bereit ist. 2. Der „rolling stones“-Fall a) Puppes Forderung nach Doppelkausalität jedes Mittäters Dies gilt erst recht, wenn über die Gremienentscheidungen hinaus ein anderer ebenso spektakulärer Fall in die Betrachtung einbezogen wird, nämlich der ebenfalls von Puppe untersuchte „rolling stones“-Sachverhalt,40 in dem sich zwei junge Männer leichtsinnig dazu entschlossen hatten, je einen Felsbrocken hangabwärts in Bewegung zu setzen. Trifft einer der beiden Brocken am Fuße des Hangs schließlich einen Angler, ohne dass nachträglich geklärt werden kann, welcher der jungen Männer gerade diesen Stein ins Rollen gebracht hat, so muss Puppe zufolge der in dubio pro reo-Satz zugunsten beider potentiellen Täter angewendet werden.41 Eine gegenseitige mittäterschaftliche Zurechnung unter den Beteiligten scheitere erstens daran, dass im Fahrlässigkeitsbereich mangels auf eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung bezogenen Tatplans ohnehin keine Mittäterschaft in Betracht komme, und zweitens daran, dass diese selbst im Vorsatzbereich erst angenommen werden dürfe, wenn jeder am Tatplan Beteiligte schon durch seinen eigenen Beitrag zur Planausführung mitursächlich für den Erfolg geworden sei.42 Die erstgenannten grundsätzlichen Bedenken Puppes gegen die Möglichkeit einer fahrlässigen Mittäterschaft sind bereits oben behandelt worden: Während sich der Tatplan im Falle einer vorsätzlichen Mittäterschaft auf jeweils vorsätz37 38 39 40 41 42
Puppe (Anm. 20), Vor §§ 13 ff. Rn. 122. Puppe (Anm. 1), 144. Puppe (Anm. 1), 137. Schweizerisches Bundesgericht BGE IV 1987, 58 ff. Vgl. Puppe (Anm. 1), 129 f. Puppe (Anm. 1), 131 f.
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liche Ausführungshandlungen der einzelnen Planungsbeteiligten beziehen muss, braucht er sich im Falle einer fahrlässigen Mittäterschaft naturgemäß nur auf jene fahrlässigen Ausführungshandlungen zu beziehen. Die gemeinsame Tatplanung bestand nun im „rolling stones“-Fall in der Abrede, jeweils einen Stein abwärts in Bewegung zu setzen, d.h. unerlaubt riskante Handlungen im Hinblick auf dasselbe Rechtsgutsobjekt auszuführen. Diesem Plan entsprechende Ausführungshandlungen sind von den beiden Tatbeteiligten dann auch vorgenommen worden, indem jeder seinen Stein in Bewegung gesetzt hat. Puppe fordert für eine Mittäterschaft schon beim Vorsatzdelikt (und damit erst recht beim Fahrlässigkeitsdelikt) nun aber zusätzlich, dass jeder Mittäter durch seine eigene Ausführungshandlung für den Taterfolg mitursächlich geworden ist.43 Dieses Kausalitätserfordernis müsse erfüllt sein, bevor und damit Mittäterschaft überhaupt bejaht werden könne – wohingegen es unzulässig sei, umgekehrt zunächst Mittäterschaft zu bejahen und über die damit begründete Handlungszurechnung dann zu dem Ergebnis zu gelangen, jeder „Mittäter“ habe eine erfolgskausale Ausführungshandlung vorgenommen.44 b) Einfachkausalität jedes Mittäters für die Tatausführung Andererseits gesteht aber auch Puppe zu, dass die von ihr verfochtenen notwendigen Mittäterschaftsvoraussetzungen im folgenden Fall eine „Ausnahme“ 45 erfahren müssen: Wenn zwei Beteiligte, die das Opfer vergiften wollen, im Voraus nicht wissen, welches von mehreren Getränken das Opfer wählen wird, und deshalb nun ein Beteiligter abredegemäß den Wein, der andere das Wasser vergiftet, so sollen beide Beteiligten als Mittäter für den letztlich eingetretenen Taterfolg ursächlich sein, gleich, welches Getränk das Opfer gewählt hat. Meines Erachtens entspricht dieser Fall der sog. alternativen Mittäterschaft46 im Rahmen eines Vorsatzdelikts ziemlich exakt der Konstellation, die sich beim „rolling stones“-Fall im Rahmen eines Fahrlässigkeitsdelikts stellt. Ebenso wie in Puppes Fall tatplanmäßig entweder das Gift im Wein oder das Gift im Wasser erfolgskausal werden sollte, so drohte im „rolling stones“-Fall entweder der tatplanmäßig weiter links oder der tatplanmäßig weiter rechts ins Rollen gebrachte Stein den Erfolg zu verursachen. Mir scheinen diese Fälle auch keine „Ausnahme“ 47 von einem grundsätzlich anerkannten und anerkennenswerten Kausalitätserfordernis bezogen auf die Ausführungshandlungen jedes einzelnen Mittäters zu bilden. Kausal für den Taterfolg wird jeder Mittäter bereits durch seine Mitwirkung am 43
Puppe (Anm. 1), 131. Puppe, JR 1992, 30, 32. 45 Puppe (Anm. 1), 131. 46 Vgl. Rudolphi, in: Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 369 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. II, 2003, § 25 Rn. 231 ff.; Kamm (Anm. 13), S. 58 ff. 47 So Puppe (Anm. 1), 131. 44
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gemeinsamen Tatplan, wie gerade Puppe erkannt hat, indem sie die Mittäterschaft als eine Spezialform gegenseitiger Anstiftung gekennzeichnet hat.48 Soll der eine Tatbeteiligte abredegemäß während des vom anderen eigenhändig verübten Einbruchsdiebstahls nur „Schmiere“ stehen, um notfalls ein Warnsignal geben zu können, so wird der Schmieresteher schon aufgrund dieser Abrede zwingend auch für den Wegnahmeerfolg ursächlich, selbst wenn sich das Schmierestehen ex post betrachtet als gänzlich überflüssig erweist.49 Ebenfalls gemäß Puppes Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung kommt es für die Kausalität des Schmierestehens nicht darauf an, ob der eigenhändig Wegnehmende die Tat notfalls auch ohne das Schmierestehen ausgeführt hätte. Denn ein solcher Entschluss zur alleinigen Tatbegehung hätte sich als Teil einer anderen hinreichenden Minimalbedingung für den Erfolg dargestellt und erübrigte sich zudem, nachdem das Schmierestehen verabredet wurde.50 Da aber jeder Beteiligte schon durch seine Zusage, den verabredeten Tatbeitrag vorzunehmen, für den -erfolg ursächlich wurde, ist nicht recht einzusehen, weshalb er darüber hinaus noch ein zweites Mal durch seine Ausführungshandlung für denselben Erfolg ursächlich werden müssen sollte. Auch bei der mittelbaren Täterschaft und bei der Anstiftung, die einer Mittäterschaft gem. §§ 25, 26 StGB im Strafrahmen gleichstehen, bedarf es einer solchen Doppelkausalität schließlich nicht. Dass Puppe dieses Mittäterschaftserfordernis dennoch verlangt, mag seinen Grund in ihrer Auffassung haben, der Mittäter werde ohnehin „am schlechtesten behandelt“,51 indem man ihm das Verhalten seines Komplizen (anders als dem nur akzessorisch haftenden Anstifter) voll zurechne, obwohl er dieses Verhalten (anders als ein mittelbarer Täter) nicht einmal wie ein Werkzeug beherrsche. Zum Ausgleich dafür unterscheidet sich ein Mittäter vom mittelbaren Täter bzw. Anstifter aber auch dadurch, dass er dem anderen Tatbeteiligten zusagt, im Ausführungsstadium der Tat selbst einen Beitrag zu leisten, der nach der Vorstellung dieses anderen unter Umständen kausal für den Erfolg dieser Tat sein könnte. Dies gilt in den Fällen des Schmierestehens ebenso wie in den Fällen alternativer Mittäterschaft: Die zugesagte Tathandlung muss nicht etwa nach einer objektiven ex post-Betrachtung erfolgskausal geworden sein,52 sie muss meines Erachtens nicht einmal vom Zusagenden objektiv ausgeführt oder subjektiv jemals als auszuführen beabsichtigt gewesen sein.53 Es genügt vielmehr als Zurechnungsgrund für die vom Zusageempfänger vorgenommenen Handlungen, 48 Puppe, GA 1984, 112 f.; dies., Strafrecht AT, Bd. 2; 2005, § 39 Rn. 28; dies., in: Festschrift für Dionysios Spinellis, 2001, S. 915, 919 f. 49 Puppe, Strafrecht AT (Anm. 48), § 39 Rn. 26. 50 Puppe, Strafrecht AT (Anm. 48), § 39 Rn. 26. 51 Puppe (Anm. 1), 131. 52 So auch Puppe, Strafrecht AT (Anm. 48), § 39 Rn. 25. 53 SK/Hoyer (Anm. 2), § 25 Rn. 110, 131; a. A. insoweit Puppe, Strafrecht AT (Anm. 48), § 39 Rn. 25.
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dass dieser sich bei deren Ausführung subjektiv vorstellte, der ihm zugesagte Tatbeitrag werde vorgenommen und möglicherweise erfolgskausal sein.54 Eine Doppelkausalität für den Taterfolg erstens durch die Zusage und zweitens durch die Ausführung des zugesagten Tatbeitrags ist jedenfalls nicht erforderlich, um die vorsätzliche Mittäterschaft in das System der übrigen Beteiligungsformen einzubetten. Also steht es einer fahrlässigen Mittäterschaft etwa im „rolling stones“-Fall nicht entgegen, dass in dubio pro reo zugunsten jedes Steinerollers anzunehmen ist, sein Stein habe keinen Schaden angerichtet. Es reicht vielmehr aus, dass jeder der beiden Beteiligten, als er seinen Stein in Bewegung setzte, dabei (zumindest auch) durch die Zusage des anderen beeinflusst wurde, seinerseits dasselbe unternehmen zu wollen. Um die Vorstellung, der eigene oder der vom anderen in Bewegung zu setzende Stein werde den tatbestandlichen Erfolg verursachen, kann es im Rahmen eines Fahrlässigkeitsdelikts naturgemäß wieder nicht gehen. Zurechnungsgrund ist hier stattdessen, dass die Beteiligten durch die gegenseitige Zusage unerlaubt riskanter Handlungen im Hinblick auf dasselbe Rechtsgutsobjekt ihre jeweils eigene Bereitschaft zur Vornahme derartiger unerlaubt riskanter Handlungen wecken bzw. steigern. Ob einer (oder sogar jeder) der beiden Beteiligten sich hypothetisch auch ohne die Zusage des anderen zur Tat aufgerafft hätte, spielt für die Beurteilung des realen Motivationsprozesses gemäß Puppes Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung wiederum keine Rolle.55 V. Fahrlässige Teilnahme und fahrlässige Mittäterschaft Ein weiterer oben bereits vorgestellter Einwand Puppes gegen die Verfechter einer fahrlässigen Mittäterschaft besteht darin, dass diese allzu sehr von dem Bemühen geleitet seien, Beweisschwierigkeiten in bestimmten Problemfällen wie dem „rolling stones“-Fall auszuweichen, um ihrer ungeachtet bequem eine für „gerecht“ erachtete Strafbarkeit aller Beteiligter begründen zu können.56 Solche „geradezu revolutionären Neuerungen“, wie sie die Lehre von der fahrlässigen Mittäterschaft einführen wolle, dürften aber nicht allein durch Verweis auf das Ergebnis legitimiert werden, dass sonst in wenigen Extremfällen einmal eine unerwünschte Strafbarkeitslücke auftrete.57 1. Abgrenzung zwischen fahrlässiger Teilnahme und Täterschaft Soweit durch die bisherigen Ausführungen der Eindruck entstanden ist, es gehe der Lehre von der fahrlässigen Mittäterschaft einseitig und um jeden Preis 54 55 56 57
Vgl. Puppe, in: Festschrift für Spinellis (Anm. 48), S. 915, 919 f. Puppe, ZStW 95 (1983), 287, 292. Puppe (Anm. 1), 137, 142 f. Puppe (Anm. 1), 132.
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immer nur darum, irgendwie doch noch zur Strafbarkeit aller Beteiligten zu gelangen, besteht tatsächlich ein dringender Bedarf, diesem Missverständnis entgegenzutreten. Indem bei Fahrlässigkeitsdelikten an die Stelle des traditionellen Einheitstätersystems ein differenziertes Beteiligungsformensystem tritt, ergibt sich keineswegs ausschließlich eine Ausweitung, sondern umgekehrt für viele Fälle auch eine bedeutende Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Da Anstiftung und Beihilfe gem. §§ 26; 27 StGB nur strafbar sind, wenn sowohl Teilnehmer als auch Täter vorsätzlich gehandelt haben, muss ein als Teilnahme zu qualifizierendes Verhalten im Fahrlässigkeitsbereich stets straflos bleiben. Nur wer eine der drei in § 25 StGB aufgeführten Täterschaftsformen verwirklicht, kann den Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts überhaupt erfüllen und sich dadurch strafbar gemacht haben.58 Wettet ein Beteiligter (B) beispielsweise mit einem anderen (A) darum, dass es diesem nicht gelingen werde, eine bestimmte Straßenstrecke in einer Zeitspanne zurückzulegen, die nur unter krasser Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit einhaltbar wäre, so haftet B bei einem dadurch bedingten Verkehrsunfall nicht nach § 222 StGB für den Tod des Unfallopfers (C). Dazu bedürfte es nämlich einer Zurechnung des Verhaltens von A zu B über die Regeln entweder der mittelbaren oder der Mittäterschaft. Für eine mittelbare Täterschaft fehlte es aber an einer besseren Kenntnis des mit der Fahrt verbundenen unerlaubten Risikos bei B, für eine Mittäterschaft daran, dass B keinen eigenen Tatbeitrag im Ausführungsstadium erbracht oder auch nur zugesagt hat. Anders als in den oben erörterten Fällen kommt es hier auf der Grundlage eines differenzierten Beteiligungsformensystems also zu einer Einschränkung gegenüber dem von Puppe favorisierten59 Einheitstätersystem. Sieht man entgegen Puppe als Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts nur denjenigen an, der Tatherrschaft in einer der drei von § 25 StGB beschriebenen Formen ausübt, so würde B erst dann zum (Mit-)Täter, wenn er mit A verabredet hätte, sich zeitgleich auf eine Wettfahrt mit diesem zu begeben. Der wesentliche Tatbeitrag des B jenseits der Tatplanfassung läge dann nämlich in dessen das Erfolgsrisiko für C verdoppelnder Beteiligung an dem Autorennen – parallel zum „zweiten Stein“ im obigen „rolling stones“-Fall. Wie bei einem Vorsatzdelikt kommt A und B hier also die Tatherrschaft in Form einer „Gefährdungsherrschaft“ 60 gemeinschaftlich zu, so dass es nicht mehr maßgeblich ist, wessen Tatbeitrag letztlich erfolgskausal geworden ist.
58 Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 261; SK/Hoyer (Anm. 2), § 25 Rn. 152. 59 Puppe (Anm. 10), 249. 60 Vgl. BGH NJW 2003, 2326, 2327; ablehnend dazu Puppe, GA 2009, 486, 492 f.
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2. Strafgrund für die fahrlässige Mittäterschaft Puppe wendet gegen eine solche Anlehnung an die für das Vorsatzdelikt entwickelte Tatherrschaftslehre allerdings ein, der Begriff einer fahrlässigen Tatherrschaft sei „in sich widersprüchlich“.61 Auch bei Vorsatzdelikten muss sich die dort erforderliche Tatherrschaft aber nicht notwendig auf eine Herrschaft über den Erfolg stützen, dessen Eintritt vielmehr sogar bei unmittelbarer Täterschaft weitgehend dem Zufall überlassen bleiben kann (z. B. beim russischen Roulette). Maßgeblich für Tatherrschaft ist stattdessen, wer den letzten erfolgskausalen Tatbeitrag beherrscht, sei es durch dessen eigenhändige Vornahme (unmittelbare Täterschaft), sei es aufgrund besonderen Einflusses auf den eigenhändig Handelnden (mittelbare und Mittäterschaft).62 Bei der Mittäterschaft beruht dieser besondere Einfluss auf dem – in Puppes Worten – „Unrechtspakt“ zwischen den Beteiligten, in dem sie sich wechselseitig rechtswidrige Tatbeiträge versprechen.63 Beim Vorsatzdelikt muss es sich dabei um vorsätzliche, beim Fahrlässigkeitsdelikt eben um fahrlässige Tatbeiträge im Hinblick auf den Erfolgseintritt handeln. Der über eine bloße Anstiftung hinausgehende Einfluss der Mittäter aufeinander besteht darin, dass sie sich gegenseitig zusagen, jeweils zum Überschreiten der Hemmschwelle zu rechtswidrigem Verhalten bereit zu sein, und dadurch zugleich die psychische Hemmschwelle für den jeweils anderen entsprechend herabsenken. Gerade deswegen muss sich die Zusage auch jeweils auf Tatbeiträge im Ausführungsstadium beziehen, d.h. auf Handlungen, die auf der Grundlage des gemeinsamen Tatplans eine unmittelbare Gefährdung für das dadurch vorsätzlich oder fahrlässig angegriffene Rechtsgut bedeuten und daher unerlaubt riskant sind.64 Aus dieser „Hemmschwellentheorie“ erklärt sich zugleich, dass die mittäterschaftliche Beteiligung an einer Selbstgefährdung nach anderen Regeln zu behandeln ist. Wäre im obigen Wettfahrtbeispiel nicht nur der C, sondern zudem der A selbst bei dem Verkehrsunfall tödlich verunglückt, so hätte sich B trotzdem weiterhin allein wegen mittäterschaftlicher Tötung des C, nicht des A nach § 222 StGB strafbar gemacht. Dies ergibt sich daraus, dass die Gefährdung und Verletzung der jeweils eigenen Rechtsgüter ohnehin nicht rechtswidrig ist, so dass es dem B auch nicht strafbarkeitsbegründend angelastet werden kann, durch seine Mitwirkungsbereitschaft in A eine sonst erst zu überwindende innere Hemmschwelle gegenüber rechtswidrigem Verhalten herabgesenkt zu haben. Die Beteiligung des B an der Selbstgefährdung des A bleibt daher in jedem Falle straflos, während hinsichtlich seiner Beteiligung an der Fremdgefährdung des C danach zu unterscheiden ist, ob B insoweit die Rolle eines fahrlässigen Mittäters 61 62 63 64
Puppe (Anm. 10), 249. Hoyer, in: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, 2008, S. 379, 385. Puppe, GA 1984, 101, 112. Vgl. SK/Hoyer (Anm. 2), § 25 Rn. 136.
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übernommen oder sich mit der eines bloßen fahrlässigen Anstifters begnügt hat. Im letztgenannten Fall kann dem B die von A vorgenommene Handlung und damit auch der an C eingetretene Erfolg nicht zugerechnet werden. 3. Straflosigkeit der fahrlässigen Teilnahme Puppe wendet gegen dieses Ergebnis ein, es erscheine unangemessen, „dass von allen Beteiligten nur den letzten die Hunde beißen“,65 in unserem Beispiel einer fahrlässigen Anstiftung also den (im Gegensatz zu B) nach § 222 StGB verantwortlichen A. Die dargestellte Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme beim Fahrlässigkeitsdelikt entspricht aber immerhin vollständig der beim Vorsatzdelikt anerkannten, wonach dem restriktiven Täterbegriff zufolge66 ebenfalls grundsätzlich nur derjenige als Täter einzustufen ist, der den letzten, ein unmittelbares Risiko für den Erfolgseintritt schaffenden Tatbeitrag ausgeführt hat. Dass sich die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme an derart „äußerlichen Kriterien“ orientiert,67 liegt in der Überlegung begründet, dass es im Interesse des Rechtsgüterschutzes grundsätzlich ausreichen müsste, wenn nur dieser letzte Tatbeitrag unterbliebe – so dass alle auf vorgelagerte Handlungen bezogenen Verbote mit Rücksicht auf die allgemeine Handlungsfreiheit erst gesondert begründet werden müssen. Entgegen Puppe68 bildet es daher durchaus einen Unterschied, ob in dem Kausalverlauf zwischen das Verhalten eines Hintermanns und den Erfolgseintritt noch das „Verhalten eines Vordermanns“ eingeschaltet ist oder dort lediglich „natürliches Geschehen“ stattfindet. Natürliches Geschehen lässt sich nämlich anders als das Verhalten eines Vordermanns normativ nicht beeinflussen, so dass nur bei letzterem speziell begründet werden muss, warum bereits gegen das Verhalten des Hintermanns strafrechtlich eingeschritten werden soll. Einen solchen Grund sieht das Gesetz in den Fällen einer mittelbaren oder Mittäterschaft wegen des besonderen Einflusses, den der Hintermann auf den Tatentschluss seines Vordermanns ausübt, offenbar als gegeben an und rechnet jenem deswegen die infolge seiner Einflussnahme beschlossene Tathandlung so zu, als habe (auch) er selbst sie ausgeführt. Die strafrechtliche Haftung eines bloßen Teilnehmers gründet sich dagegen (anders als die eines mittelbaren oder Mittäters) nicht darauf, dass ihm die Handlung seines Vordermanns und damit auch der tatbestandliche Erfolg voll zugerechnet werden kann.69 Er haftet vielmehr nur für seine eigenhändig vorgenom65 66 67 68 69
Puppe (Anm. 60), 493. Vgl. SK/Hoyer (Anm. 2), Vor § 25 Rn. 9 ff. Kritisch dazu Puppe (Anm. 60), 493. Puppe (Anm. 60), 492. So auch Puppe (Anm. 1), 131; Hoyer, GA 2006, 298, 299 f.
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mene Tathandlung und auch dafür grundsätzlich nur, soweit auch der Tatbeitrag des Täters Unrecht darstellt (Akzessorietätserfordernis). Das von einem fahrlässigen Teilnehmer verwirklichte Handlungsunrecht ist nun gegenüber dem eines vorsätzlichen Teilnehmers gleich aus doppeltem Grunde vermindert: Erstens weil er nicht den Vorsatz aufweist, mit seinem Handeln für den Taterfolg ursächlich zu werden, und zweitens, weil er auch nicht den Vorsatz aufweist, mit seinem Handeln für das Erfolgsunrecht der Haupttat ursächlich zu werden. Der Vorsatzmangel eines Fahrlässigkeitstäters wirkt sich demnach nur einfach mindernd auf das von ihm zu verantwortende (Handlungs-)Unrecht aus, der Vorsatzmangel eines fahrlässigen Teilnehmers dagegen doppelt, weil er neben dem Taterfolg auch den Erfolgsunwert der Haupttat betrifft. Diese doppelte Unrechtsminderung hat das Gesetz offenbar dazu veranlasst, die fahrlässige Teilnahme im Unterschied zur fahrlässigen Täterschaft generell straflos zu lassen. VI. Schluss Insgesamt fügt sich die fahrlässige Mittäterschaft damit meines Erachtens besser in das dogmatische Gesamtsystem ein, als Puppe bisher anzuerkennen bereit war. Im Interesse der Sache lautet meine Bitte daher, dass sie sich mit der Thematik erneut befassen und zusätzliches Licht ins reichlich verbliebene Dunkel bringen möge. Dass es sich bei dem Sturz des herrschenden, auch von ihr bislang verteidigten Einheitstäterbegriffs70 um eine „Revolution in der Strafrechtsdogmatik“ 71 handeln würde, kann doch wohl eine so vorurteilsfreie Denkerin wie Ingeborg Puppe weder beeindrucken noch gar auf dem Erreichten beharrend zurückschrecken lassen, sondern in ihren Augen allenfalls einen Anlass zur kritisch wägenden Mitarbeit an der Vermessung des weitgehend noch unerobert vor uns liegenden wissenschaftlichen Neulands bilden.
70 71
Puppe (Anm. 10), 249. Puppe (Anm. 1), 132.
Die Lehre von der Vorsatzgefahr und dolus indirectus Von Yu-An Hsu Als Frau Puppe, die hoch geehrte Jubilarin, im Frühling 1996 zum ersten Mal Taiwan besuchte, brachte sie ihre druckfrischen Manuskripte als Materialien für ein Referat mit, welche später als Hauptinhalt von §§ 15 und 16 StGB im Nomos Kommentar erscheinen sollten. Wie in Deutschland wurde die Lehre von der Vorsatzgefahr in Taiwan am Anfang als extreme Mindermeinung betrachtet, insbesondere wurde der mit dieser Lehre verbundene Lösungsansatz für die aberratio ictus als Alleingang angesehen. Aber als Puppe 2009 zum dritten Mal Taiwan besuchte, hatte sich die Situation nicht wenig verändert. Die Lehre von der Vorsatzgefahr ist mittlerweile eine wichtige Auffassung im Rahmen der Vorstellungstheorie in Deutschland und erhält viel Zustimmung. Dass Puppe für einen normativen Vorsatzbegriff offensichtlich eine ausschlaggebende Arbeit geleistet hat, ist nun weltbekannt. Durch diesen Beitrag versuche ich einen Rückblick auf die Entwicklung der Lehre zu werfen und tue dies mit großem Respekt. I. Die Lehre von der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsgefahr Puppe hat 1981 auf die allgemeinen Voraussetzungen der Zurechnung eines Erfolges zum Vorsatz hingewiesen1, die später von ihr als erste Regel der Vorsatzzurechnung bezeichnet wird2. Danach verlangt die Vorsatzzurechung einen Mindestinhalt des Vorsatzes, der vom subjektiven Tatbestand bestimmt ist, und Puppe beruft sich dabei auf § 16 StGB, um festzuhalten, dass die subjektive Erfolgszurechnung eines Sachverhalts vorliegt, sofern dieser und die Tätervorstellung den gesetzlichen Tatbestand erfüllen. Deswegen ist die notwendige Tätervorstellung auf den Tatbestand und seine ergänzende Auslegung beschränkt. Damit werden außertatbestandliche Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen für die Vorsatzzurechnung für rechtlich irrelevant erklärt. Vom Mindestinhalt des Vorsatzes ausgehend entwickelte Puppe später, 1991, eine Theorie, um zu bestimmen, was dieser Inhalt sein sollte. Der Inhalt ist durch eine normative Perspektive zu entfalten. Der Täter, der sich in der Rechtsgemeinschaft befindet, wird als vernünftige Person angenommen, die kompetent die
1 2
Puppe, GA 1981, 1, 10. Puppe, Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 1 ff.
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Norm versteht und ihre Erwartung erfüllen kann. „Vorsätzlich ist also ein solches Handeln, das ein vernünftiger Mensch in der Situation und mit dem Wissen des Täters nur dann vornehmen würde, wenn er den Erfolg in diesem Sinne billigen würde, dass also die Norm zum Ausdruck bringt: Der Erfolg soll bzw. darf sein.3“ Puppe bezeichnet dies als normative Interpretation des Verhaltens des Täters. Durch die Interpretation wird bereits darauf hingewiesen, dass die Kenntnis und die willentliche (oder: vom Willen gesteuerte) Handlung die Bedingungen konstituieren, welche für die Prüfung der Erfolgszurechnung zum Vorsatz notwendig sind. Um dolus eventualis von bewusster Fahrlässigkeit zu unterscheiden, wird verlangt, dass die vom Täter herbeigeführte und erkannte Gefahr keine zufällige ist. Die Gefahr muss so groß sein, dass „ein rational Handelnder (sie) nur dann eingeht, wenn er mit ihrer Realisierung einverstanden ist“4. Eine solche Gefahr wird als Vorsatzgefahr bezeichnet. Danach kann man durch normative Interpretation die rechtliche Bedeutung der Tat dergestalt ermitteln, dass sie zugleich nicht mehr von der faktisch-psychologischen Befindlichkeit abhängt. Das heißt, auf das Willenselement kann bei der Überprüfung des Vorsatzes verzichtet werden. Es ist erkenntnisreich, den normativen Vorsatzbegriff durch einen historischen Exkurs, nämlich eine Rückschau auf den alten dolus indirectus bei Carpzov und Böhmer zu vertiefen. Puppe betrachtet den alten dolus indirectus als heutigen dolus directus, obwohl beide begrifflich exakt gegenläufig sind. Denn dolus indirectus setze eine typische Gefahr voraus und hänge nicht von Absicht und Wille des Täters ab.5 Daraus leitet Puppe einen normativen Gedanke ab, nämlich „dass der Täter für die Folgen seines Handelns, um die er weiß, voll verantwortlich ist und sich von dieser Verantwortung nicht mit dem Hinweis darauf zurückziehen kann, er habe diese Folgen nicht beabsichtigt oder sonst in irgendeinem Sinne in seinen Willen aufgenommen.“ Der Grundgedanke der Wahrscheinlichkeitstheorie sei zu unterstützen und dolus eventualis sei als Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nur durch die Vorstellung des Täters zu bestimmen. Die Vorstellung sollte einen gewissen Grad der Gefahr zum Inhalt haben. Die Zurechnung zum Vorsatz hängt davon ab, ob der Täter erkennt, dass seine Handlung eine qualifizierte Gefahr für ein später tatsächlich betroffenes Objekt herbeigeführt hat.6 Die Lehre von der Vorsatzgefahr wurde dann in der Monografie „Vorsatz und Zurechnung“ von 1992 und in der Nomos-Kommentierung zu §§ 15 und 16 StGB von 1995 weiter entwickelt und vertieft. 2006 macht Puppe aus der Wissentlichkeit eine Analogie: „Wenn der Täter, der im Bewusstsein handelt, dass der Erfolg sicher oder nahezu sicher mit einem 3 4 5 6
Puppe, ZStW 103 (1991), 1, 14. Puppe (Fn. 3), 1, 18. Puppe (Fn. 3), 1, 26 f. Puppe (Fn. 3), 1, 31 f.
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von ihm angestrebten Ziel verknüpft ist, nicht mit der Verteidigung gehört wird, dass er den Erfolg nicht gewollt und auch nicht gewünscht habe, weil er sich gleichwohl um seines Zieles Willen für seine Herbeiführung entschieden hat, warum soll dann der Täter mit eben dieser Verteidigung gehört werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Verknüpfung von Erfolg und Ziel um ein weniges geringer ist?“7 Damit stellt Puppe dar, wie sie die Struktur des Vorsatzes durch die Vorsatzgefahrlehre verändert. Auf den Willen kann auch aus quasi beweisrechtlicher Perspektive verzichtet werden. Die Vorsatzgefahr hat also zwei Maßstäbe, nämlich einen subjektiven und einen objektiven. Der subjektive Maßstab ist das Wissen und der objektive ist eine qualifizierte Gefahr. Diese Theorie der Vorsatzgefahr ist nach der Überzeugung Puppes unmanipulierbar. Denn einerseits ist das Wissen anders als der Wille, welcher in Praxis und Lehre sehr weit psychologisiert und dann dadurch inhaltlich unklar sowie in seiner Anwendung unsicher geworden8 ist. Andererseits ist die Vorsatzgefahr ein objektiv feststellbarer Maßstab, der darauf basiert, ob eine Handlung für sich betrachtet eine taugliche Strategie zur Herbeiführung des Erfolges darstellt.9 Die objektive Betrachtungsweise ist aber noch abstrakt. Neuerdings hat Puppe die Konstellationen, in denen von ihr Vorsatzgefahr angenommen wird – wie etwa Schläge mit einem schweren Gegenstand gegen den Kopf, Stiche in die Herzgegend, Schüsse auf den Rumpf oder Würgen und Drosseln bis zur Bewusstlosigkeit – prägnant zusammengefasst10. II. Die Vorsatzgefahrlehre und Vorsatzstruktur 1. Vorsatzgefahrlehre und Vorsatzformen Nach der Vorsatzgefahrlehre ist das traditionelle Element des Vorsatzes, nämlich der Wille des Täters, entbehrlich. Puppe hat die Berücksichtigung des Willens abgelehnt, weil dieser nicht nur zweideutig sei, sondern auch bei der Anerkennung des dolus directus bereits vom alltagssprachlichen deskriptiven Willensbegriff abweiche.11 Ein entscheidender Grund dafür ist, dass Puppe den Willen nicht im psychologischen, sondern normativen Sinne versteht. Das Willenselement ist vielmehr bereits durch das Verhalten des Täters ausgedrückt, der als ein vernünftig denkender und handelnder Mensch begriffen wird.12 Es scheint, dass 7
Puppe, GA 2006, 65, 72. Puppe (Fn. 3), 1, 30 f. 9 Puppe kritisiert die Theorie der unabgeschirmten Vorsatzgefahr bei Herzberg (JuS 1986, 249, 253 ff.) wegen ihrer Manipulierbarkeit, vgl. dies. (Fn. 2), S. 38 f.; dies., in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB2, 2005, § 15 Rn. 65, 69. 10 Puppe (Fn. 7), 65, 74. 11 Puppe, NK2 (Fn. 9), § 15 Rn. 27; dies. (Fn. 3), 1, 13. 12 Puppe, NK2 (Fn. 9), § 15 Rn. 68; bereits dies. (Fn. 3), 1, 14 ff. 8
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auf den Willen nicht völlig verzichtet wird, sondern dieser nur in einem von Puppe empfohlenen normativen Sinne verstanden wird. Zum Vorsatz gehört deswegen weiterhin noch die Zurechnung zum Willen. Aber diese wird auf zwei Voraussetzungen, nämlich das Verhalten und die Kenntnis der Gefahr, reduziert.13 Nach der Theorie der Vorsatzgefahr gilt die Vorstellung einer objektiv betrachtet qualifizierten Gefahr als Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. Die Meinung stimmt mit den traditionellen Vorsatzformen nicht überein. Denn die Struktur des Vorsatzes wird durch die Vorsatzgefahrlehre nicht unerheblich verändert. Bei der Überprüfung des Vorsatzes kommt es dann hauptsächlich darauf an, ob die Handlung des Täters eine qualifizierte Gefahr der Tatbestandsverwirklichung verursacht. Dabei wird das Wissenselement marginalisiert. Das Wissenselement ist in der Tat kein entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung, da das Element bei den Fahrlässigkeitsdelikten auch vorliegt, nämlich bei der sog. bewussten Fahrlässigkeit. Das heißt, der Schwerpunkt der Überprüfung des Vorsatzes geht von den subjektiven Elementen zu den objektiven über. Ob der Übergang in der Strafrechtswissenschaft zutreffend und deswegen akzeptabel ist, bleibt offen und soll im Folgenden weiter untersucht werden. Aber eine Sache ist gewiss, nämlich dass der traditionelle dolus eventualis die Aufgabe der Vorsatzgefahr nicht erfüllen kann. Denn der dolus eventualis will die Emotionen des Täters zur Tatzeit berücksichtigen. Es scheint auf den ersten Blick, dass der dolus directus diese von der Vorsatzgefahrlehre verlangte Voraussetzung sicherlich erfüllen kann, weil der Täter in diesem Fall die Herbeiführung des Erfolges für gewiss hält. Die Gewissheit setzt aber voraus, dass eine Hauptfolge wie geplant eintritt.14 Wenn die Hauptfolge in der Tat nur wahrscheinlich oder weniger als wahrscheinlich ist, kann man freilich nicht sagen, dass die Nebenfolge sicher eintritt. Deswegen ist die sog. Sicherheit nicht absolut, sondern von der Realisierung der Hauptfolge abhängig. Der Grad der Gefährlichkeit des Eintritts der Nebenfolge kann geringer als der einer rein objektiv betrachteten qualifizierten Gefahr sein. Ob die Lehre von der Vorsatzgefahr mit der Absicht als traditioneller Vorsatzform übereinstimmt, ist auch fraglich, da die h. M. für die Absicht nur geringe Anforderungen an die Wissensseite stellt15. Um die o. g. Frage zu beantworten, bezeichnete Puppe einmal ihre Vorsatzgefahr als relativen Begriff, also nicht als absoluten. Das heißt, dass die Vorsatzgefahr schließlich eine Gefahr bezeichnet, die durch die Erreichung des angestrebten Ziels verursacht wird. Eine hochgradige Gefahr in diesem Sinne kann in der Wirklichkeit eigentlich gering gefährlich sein. Danach kann die Wissentlichkeit die Voraussetzung der Vorsatzgefahr erfüllen.16 Puppe will auch mit dem rela13 Deswegen bezeichnet Roxin die Theorie Puppes als kognitiven Normativismus, Rudolphi-FS, S. 243, 248. 14 Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, 12/18; Frister, Strafrecht AT3, 2006, 11/15. 15 Kühl, Strafrecht AT5, 2005, 5/36 f.; Roxin (Fn. 14), 12/8.
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tiven Vorsatzgefahrbegriff verteidigen, dass der Vergleich der Erfolgsgefahr bei der Absicht und dem dolus eventualis falsch angesetzt ist. Die Vorsatzgefahr im relativen Sinne könnte aus objektiver Gesamtbetrachtung jedoch noch entfernt und gering sein. Aber diese Erklärung der Vorsatzgefahr widerspricht gerade der Behauptung, dass die Vorsatzgefahr eine „qualifizierte“ Gefahr sei und durch sie eine taugliche Strategie zur Verwirklichung des Tatbestands bestehe. Die Erklärung der Vorsatzgefahr als relativer Vorsatzgefahrbegriff wurde sehr schnell von Puppe selbst aufgegeben.17 Danach stellte sich das ursprüngliche Problem erneut. Die Absicht ist selbst ein Wollen des tatbestandlichen Erfolgs und nach der Meinung von Puppe braucht es deswegen keine normative Interpretation mittels der Vorsatzgefahrlehre18. Dann wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Absicht selbst auch ein Gefahrenfaktor sei. Denn ein zielgerichtet agierender Täter wählt natürlich gerne eine taugliche Methode, um den Erfolg zu erreichen.19 Auf den ersten Blick entspricht diese Analyse der Erfahrung und ist überzeugend. Aber danach taucht die Frage auf: Welche Rolle spielt die Absicht eigentlich? Wenn die vom Täter gewählte Ausführungsweise schon eine qualifizierte Gefahr darstellt und er sie kennt, reicht das nach Puppe für die Vorsatzzurechnung. Dabei hat die Absicht überhaupt keine Bedeutung, denn der Grad der Gefahr muss objektiv gemessen werden. Mit anderen Worten bleibt die objektive Gefahr gleich, auch wenn eine Handlung mit Absicht durchgeführt wird. Ein AbsichtsTäter kann sich wohl auch für eine weniger aussichtsreiche Strategie entscheiden. In dieser Konstellation kann die Absicht die objektiv betrachtet geringere Gefahr nicht zur qualifizierten Gefahr erhöhen. 2. Vorsatzgefahr als Typusbegriff In ihrem Beitrag in der Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift versuchte Puppe, eine klare typologische Darstellung für die Struktur des Vorsatzes im Sinne der konventionellen Lehre zu entwickeln: Zum einen könnten sich das Wissenselement und das Willenselement gegenseitig ergänzen.20 Zum anderen könnten sich die Wahrscheinlichkeitsvorstellungen des Täters in verschiedenen Deliktsstufen ergänzen.21 Diesen Ausdruck kann man mit einem von Schünemann 1985 vorge16
Puppe (Fn. 3), 1, 39 f. Puppe (Fn. 2), S. 64 f. 18 Puppe (Fn. 3), 1, 39. 19 Puppe (Fn. 2), S. 37; dies., NK2 (Fn. 9), § 15 Rn. 81. 20 Puppe schreibt: „Je größer die Erfolgswahrscheinlichkeit nach der Vorstellung des Täters war, desto geringer muß sein Grad an Einverständnis mit dem Erfolg sein, um dolus eventualis anzunehmen oder umgekehrt [. . .]“, Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 15, 31. 21 „Je höher die vorgestellte Wahrscheinlichkeit war, desto geringer sind die Anforderungen an die Präsenz der Erfolgsvorstellung im Moment der Handlung [. . .]“, Puppe (Fn. 20), S. 15, 31. 17
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stellten Konzept vergleichen. Er hat zuerst Wissens- und Wollenskomponenten des Vorsatzes nach ihrer Stärke in drei Stufen gegliedert22: Bei der Wissenskomponente seien das Fürmöglichhalten, Fürwahrscheinlichhalten und Gewissheit zu unterscheiden. Bei der Wollenskomponente Unerwünschtheit, Gleichgültigkeit und Erwünschtheit. Dann behauptet Schünemann, Vorsatz setze voraus, dass wenigstens eine Komponente in ihrer mittleren Stärkeform ausgeprägt sei. Hingegen liege bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn lediglich die unterste Wissenskomponente, das Fürmöglichhalten, und die unterste Wollenskomponente, die Unerwünschtheit, kombiniert werden, weil „sich derjenige, dem eine für möglich gehaltene Rechtsgutverletzung unerwünscht ist, nicht eindeutig gegen das Recht stellt“. Danach entwickelt Schünemann seine Theorie vom Vorsatz als Typus.23 Im Schrifttum findet sich folgende konventionelle Beschreibung der Beziehung zwischen Wissen und Wollen: Für den Vorsatz können Wissen und Wollen sich gegenseitig ergänzen. „Ein hoher Wissensgrad (Höchstwahrscheinlichkeit) kompensiert beispielsweise ein Nichtwollen mit der Folge, dass Vorsatz zu bejahen ist“24. Das Kompensationsverhältnis zwischen Wissen und Wollen bleibt nur eine Beschreibung der psychologischen Phänomene und es ist insoweit zu bemerken: Zum einen ist sie ein Beweis dafür, dass der Intellektualismus in der Strafrechtsdogmatik unhaltbar ist. Das Wissen spielt keine dominierende Rolle über den Willen. Zum anderen hat diese Bestimmung des Vorsatzes dessen Kontur und dessen Sinn verwischt. Sie wird genutzt, um eine Faustregel zu formulieren. Obwohl Kühl zutreffend ausgeführt hat, dass es beim Eventualvorsatz an einer solchen Kompensation fehlt25, wird die Aussage des Kompensationsverhältnisses noch von der h. M. akzeptiert. Deswegen liegt der Vorschlag nahe, dass der Vorsatzbegriff als Typus zu betrachten sei. Die Bedeutung des typologischen Vorsatzbegriffs im Sinne von Schünemann und dessen Vorzüge werden immer noch von Puppe anerkannt.26 Dieser typologische Vorsatzbegriff stimmt aber mit der Vorsatzgefahrlehre nicht überein, denn nach dieser Lehre sollten Bedeutung und Funktion des Willens bei der Überprüfung des Vorsatzes völlig ignoriert werden. Puppe versteht den Vorsatzbegriff konsequenterweise nicht als Typusbegriff. Puppe bezeichnet jedoch die Vorsatzgefahr als Typusbegriff. Der Grund liegt in dem Zusammenhang des Grades der Gefährlichkeit und der Stellungnahme des Täters zu ihr. „Je größer die Gefahr nach der Vorstellung des Täters ist, je unmittelbarer sich ihm die Schadensmög22
Schünemann, GA 1985, 341, 364. Schünemann, Chengchi Law Review, Volume 50 (1994), S. 259, 270 ff.; ders., Hirsch-FS, 1999, S. 363, 370 ff. 24 Haft, Strafrecht AT, 9. Aufl., 2004, S. 151 f.; anschließend spricht er von einem „reziproken Verhältnis“ zwischen Wissen und Wollen, a. a. O., S. 156. 25 Kühl (Fn. 15), 5/43. 26 Puppe (Fn. 7), 65, 70 f.; dies., Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 40 f. 23
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lichkeit aufdrängt und je näher sie bevorsteht, desto eher ist eine Vorsatzgefahr anzunehmen“27. Hier kann man die Vorsatzgefahr als Typusbegriff deutlich erfassen. Die zwei Komponenten der Vorsatzgefahr, d.h. die Größe der Gefahr und die Anschaulichkeit der Gefahr, können einander ergänzen. Diese Beschreibung ist der Erfahrung nach zutreffend. Aber diese Beschreibung löst auch einige Probleme hinsichtlich der Struktur der Vorsatzgefahr aus. Die Vorsatzgefahr als eine qualifizierte Gefahr sollte für sich genommen ein Ergebnis der objektiven Beobachtung einer Handlung sein. Das heißt, die Vorsatzgefahr hängt nicht von individueller Betrachtung und Meinung über Handlung und Gefahr ab. Die Anschaulichkeit einer Gefahr ist nur ein Anzeichen, wie konkret die Gefahr ist. Das bezeichnet nichts anderes als die Größe einer Gefahr. Eine völlig geringe Gefahr ist auf jeden Fall fern liegend und ist deswegen unklar. Die Untersuchung der Elemente der Vorsatzgefahr als Typus ist deswegen nicht anders als die normale Überprüfung der Gefahrfaktoren in einem Sachverhalt. Die Behauptung, dass die Vorsatzgefahr ein Typusbegriff ist, bringt deswegen nicht viel. Die Vorsatzgefahrlehre hat ihre Bedeutung nicht in der Entwicklung der Typuslehre, sondern in der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Die Vorsatzgefahrlehre erklärt, was die Voraussetzungen der Vorsatzdelikte sind und warum der Wille bei der Abgrenzung überhaupt keine Rolle spielen kann. Dazu kann die Typuslehre kaum einen Beitrag leisten. III. Vorsatzgefahr und Irrtum Aus dem für alle Fallkonstellationen geltenden Mindestinhalt folgert Puppe, dass die Identität des vom Täter anvisierten Menschen ebenfalls irrelevant sein muss. Nur der Gesetzgeber, nicht der Täter, hat die Befugnis zu entscheiden, wie der subjektive Tatbestand erfüllt werden kann.28 Offensichtlich kann ein error in objecto deswegen nicht den Vorsatz ausschließen. Mit gleicher Begründung urteilt Puppe, dass die h. M. bei der aberratio ictus gegen diesen Grundsatz verstößt. Die Bedeutung der Vorsatzgefahrlehre besteht dann nicht nur in der Abgrenzung, sondern auch beim Tatbestandsirrtum, insbesondere bei der aberratio ictus. 1. Kausalverlaufsirrtum und aberratio ictus Soll dem Täter, der einen Nichtschwimmer von einer Brücke herunterwirft und damit versucht, diesen zu ertränken, der vorsätzliche Tod des Opfers zugerechnet werden, wenn dieses beim Sturz durch den Aufprall auf einem Brücken27 28
Puppe (Fn. 3), 1, 42. Puppe (Fn. 2), S. 10; dies., NK2 (Fn. 9), § 16 Rn. 99.
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pfeiler stirbt? Im Brückenfall soll diese Frage nach der Meinung von Puppe ohne Zweifel bejaht werden, da er zur Tatzeit auf diesen später tatsächlich eintretenden Kausalverlauf „schließen kann und soll“29. Diese Aussage ist verständlich, da die Möglichkeit des Aufschlags auf den Brückenpfeiler von einem vernünftigen Menschen nicht ausgeschlossen werden kann. Die Möglichkeit ist jedoch dem Täter in der Wirklichkeit unbekannt. Dann ist die Auffassung Puppes in der Tat nicht anders als die der herrschenden Meinung30, nämlich bezogen auf das Kriterium von der Wesentlichkeit der Kausalabweichung. Das Ergebnis stimmt dann jedoch mit der Vorsatzgefahrlehre nicht überein, da die Lehre die Kenntnis der Vorsatzgefahr verlangt. Zu dieser Frage erklärt Puppe später, dass der Sturz von einer hohen Brücke eine Vorsatzgefahr auslösen kann und die Gefahr dem Täter bekannt ist.31 Obwohl die Erklärung mit der Vorsatzgefahrlehre konsequent erscheint, bleibt doch ein Zweifel zurück. Beim Brückensturz kann man nämlich weiter fragen, ob der Sturz von einer hohen Brücke wirklich tödlich ist, insbesondere wenn die Brücke über einen großen Fluss wie etwa den Rhein führt. Der Sturz von der Brücke selbst ist noch keine qualifizierte Gefahr. Und der Aufschlag auf den Brückenpfeiler ist wenig wahrscheinlich. Dann kann man nur schwer behaupten, dass der Täter in dieser Situation eine Vorsatzgefahr schafft. Bei der aberratio ictus differenziert Puppe zwischen den folgenden Konstellationen: Wenn der Täter eine sich in der Menschengruppe befindende Person anvisiert und auf seine Schießkunst vertraut, hat er doch eine Vorsatzgefahr für die anderen Personen geschaffen, die in der Nähe seines Ziels stehen. Deshalb kann die aberratio ictus die Erfolgszurechnung zum Vorsatz nicht ausschließen. Puppe kritisiert damit zutreffend die starre h. M. und verdient Beifall. Wenn die Zielperson sich aber in einer Zone, in der es normalerweise sehr selten Menschen gibt, befindet, hat der Täter keine Vorsatzgefahr gegenüber dritten Personen geschaffen. Falls eine aberratio ictus tatsächlich vorliegt, wird der Täter allenfalls wegen vorsätzlichen Versuchs und fahrlässiger Vollendung in Tateinheit bestraft. Die Konsequenz stimmt in diesem Fall mit der der h. M. überein.
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Puppe (Fn. 2), S. 30. Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 27. Aufl., 2006, § 15 Rn. 55; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 73; Baumann/Weber/ Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl., 2003, 20/24; Krümpelmann, Beiheft ZStW 1978, 6; Bockelmann/Volk, Strafrecht AT4, 1987, S. 71 f.; Maurach/Zipf, Strafrecht AT I8, 1992, 23/28; Joecks, in: MK-StGB, Bd. 1, 2003, § 16 Rn. 49; Otto, Strafrecht AT7, 7/84; Kuhlen/Roth, JuS 1995, 711, 715; Krey, Strafrecht AT I2, 2004, Rn. 386; Kindhäuser, Strafrecht AT, 2005, 27/43; Zieschang, Strafrecht AT, 2005, S. 46; Heinrich, Strafrecht AT II, 2005, Rn. 1091. 31 Puppe, Chengchi Law Review 55 (1996), S. 291; dies., Strafrecht AT, 1, Bd. I, 2002, 9/12 f. 30
Die Lehre von der Vorsatzgefahr und dolus indirectus
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2. Vorzeitiger Erfolgseintritt und dolus generalis Ob der Täter beim vorzeitigen Erfolgseintritt wegen vollendeter Vorsatztat bestraft wird, hängt nach der Auffassung Puppes davon ab, ob der Täter schon im Erstakt die Vorsatzgefahr verursacht32, „denn solange eine Vorsatzgefahr noch nicht vorhanden ist, kann sie sich auch noch nicht im Kausalverlauf realisieren“33. Hier ist mit Vorsatzgefahr immer noch gemeint, dass sich eine Gefahr als tauglich für die Herbeiführung des Erfolges erweist.34 Daraus folgt, dass Schläge und Schlafmittel jeweils eine verschiedene rechtliche Behandlung erfordern. Die Schläge sind eine taugliche Gefahr, weil sie den Tod des Opfers herbeiführen können; deswegen ist die Handlung im Eisenbahnsturzfall (RG DStrR 1939, 177) als vollendete Vorsatztat zu beurteilen, beim Schlafmittelfall dagegen (zu geringe, nicht tödliche Dosis, aber Schocktod) nicht.35 Ob eine Gefahr für die Erfolgsverursachung tauglich ist, hängt von der objektiven Betrachtung ab. Nach der Auffassung von Puppe liegt Vorsatz vor, wenn der Täter die Vorsatzgefahr kennt. Aber in den Fällen des vorzeitigen Erfolgseintritts bleibt eben der frühere Eintritt außerhalb der Vorstellung des Täters. Der Zusammenhang zwischen dieser objektiven Betrachtung und der subjektiven Seite des Täters besteht darin, dass eine Vorsatzgefahr für den Täter relativ leicht zu erkennen ist. Diese Möglichkeit bedeutet natürlich nicht, dass die Gefahr dem Täter schon bekannt ist. Vielmehr kann man hier nur von Erkennbarkeit sprechen. Es ist deswegen fragwürdig, die Erkennbarkeit als Grund der Vorsatzzurechnung zu verstehen, da die Erkennbarkeit auch Fahrlässigkeit begründen könnte. Bei der Theorie von Puppe fehlt es noch an einer Begründung, die die Erkennbarkeit mit der Erkenntnis oder der Zurechnung des Erfolgs zum Vorsatz zu verbinden vermag.36 In der Fallgruppe des dolus generalis konzentriert sich Puppe im Hinblick auf die Unkenntnis des Täters bei der zweiten Handlung auch nur auf die erste.37 Beispielhaft stopft beim Jauchegrubefall38 die Täterin dem Opfer mit bedingtem Tötungsvorsatz zwei Hände voll Sand in den Mund. Sie glaubt, dass das Opfer schon dadurch verstorben sei. Um die vermeintliche Leiche zu beseitigen, wirft die Täterin das Opfer in eine Jauchegrube, wo es aber erst durch Ertrinken umkommt. Nach Ansicht Puppes ist die erste Handlung kausal für den Tod des OpPuppe, NK2 (Fn. 9), § 16 Rn. 86 ff. Puppe, NK2 (Fn. 9), § 16 Rn. 88; bereits dies. (Fn. 2), S. 56 ff. 34 Puppe, NK2 (Fn. 9), § 15 Rn. 69; dies. (Fn. 2), S. 29. 35 Puppe, Strafrecht AT I (Fn. 31), 20/8 ff.; dies. (Fn. 2), S. 58. 36 Kühl kritisiert deswegen an der Lehre von Puppe: „Dann ist sie (damit ist die Anwendung einer tauglichen Strategie zur Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs gemeint) eine Tötungshandlung, Körperverletzungshandlung, Brandstiftungshandlung usw. i. S. eines vorsätzlichen Erfolgsdelikts“, (Fn. 15), 13/45; ähnlich Schliebitz, Die Erfolgszurechnung beim „misslungenen“ Rücktritt, 2001, S. 61 f. 37 Puppe, NK2, § 16 Rn. 81. 38 BGHSt. 14, 193. 32 33
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fers, da das Opfer dem Werfen in eine Jauchegrube ansonsten Widerstand leisten würde. Die erste Handlung und die falsche Annahme, das Opfer sei tot, sind mitursächlich für den späteren Erfolgseintritt. Nach Meinung Puppes hat der Täter dadurch wissentlich eine Vorsatzgefahr herbeigeführt, deswegen liegt eine vorsätzliche Vollendung vor. Bei dieser Auffassung werden zwei Elemente miteinander kombiniert: Ob die erste Handlung kausal für den späteren Erfolgseintritt ist und ob sie eine Vorsatzgefahr verursacht. Diese Kombination ist insofern plausibel, als der Täter von Anfang an das Verbergen geplant hat. Im Schlafmittelfall (Tiefschlaf)39 räumt Puppe beispielsweise ein, dass der Täter mit der zu geringen Dosis nur den Schlaf des Opfers verursacht, stellt jedoch fest: „Im Hinblick auf die Gefahr, daß der Täter mit der vermeintlichen Leiche eine solche unvorsätzliche Tötungshandlung vornimmt, um sie zu verbergen, stellt die vorsätzliche Handlung, derentwegen das Opfer willenlos und scheinbar tot war, eine taugliche Tötungsstrategie und auch einen beendeten Versuch dar“. Das Ergebnis bleibt gleich, auch wenn der Täter bei der Ausführung der ersten Handlung das Verbergen der Leiche nicht in seine Überlegungen einbezieht. Denn nach der Erfahrung kann der Täter kaltblütig oder in heller Panik Manipulationen vornehmen, die für die vermeintliche Leiche lebensgefährlich sind.40 Die Behauptung, dass die vermeintliche Leiche sich stets in Lebensgefahr befindet, ist unklar. Die aus der Erfahrung abgeleitete Behauptung ist zirkulär. Die Kaltblütigkeit wird durch den Versuch einer Tötung und den Tod des unschuldigen Opfers schlechthin retrospektiv begründet. Die Frage nach der Lebensgefahr des Opfers wird deswegen immer nur bejaht. Im Schlafmittelfall ist die Situation jedoch in der Tat anders als von Puppe beschrieben: Die vom Täter wissentlich herbeigeführte Gefahr ist gering, da die Dosis den Tod des Opfers nicht herbeiführen kann. Erst die von ihm unwissentlich verursachte Gefahr ist tödlich. Denn ein Schlafmittel zu verabreichen ist selbst noch keine taugliche Tötungsstrategie. Deswegen müsste das Ergebnis nach der Theorie der Vorsatzgefahr eigentlich umgekehrt sein. IV. Die Doktrin vom dolus indirectus und seine Renaissance Die Vorsatzgefahrlehre hat ihre Grundlage wie gesehen im alten dolus indirectus. Wenn wir die Lehre vollständig untersuchen, ist die Grundlage ohne Zweifel der Mittelpunkt.
39 Ein Täter möchte seinen Feind durch eine Überdosis Schlafmittel töten. Aber die verabreichte Dosis ist viel zu gering und führt deswegen nur zu einem Tiefschlaf. Um den Beweis zu beseitigen, wirft der Täter sein vermeintlich totes Opfer in ein Gewässer, wo es wegen seiner Bewusstlosigkeit ertrinkt, siehe Puppe, Strafrecht AT-I (Fn. 31), 20/16. 40 Puppe (Fn. 2), S. 55 f.; dies., Strafrecht AT-I (Fn. 31), 20/16.
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1. Rückschau auf den alten dolus indirectus Der alte dolus indirectus geht auf den Begriff „voluntas indirecta“ von Covarruvias41, einen spanischen Rechtswissenschaftler des 16. Jahrhunderts, zurück.42 Ein Täter wurde von ihm als mit voluntas directa handelnd bezeichnet, wenn er eben mit Absicht nach dem gesetzwidrigen Erfolg strebte. Demgegenüber liegt voluntas indirecta vor, wenn etwa ein Täter, der nur auf eine Verwundung abgezielt hatte, durch seinen schweren Schlag das Opfer tötet. Der Handelnde hat die Tat zwar nicht auf den Tod des Opfers ausgerichtet, aber der Tod folgt unmittelbar aus seiner Handlung. Der Wille wird nicht anhand des Tatplans beurteilt, sondern durch die potenziell verletzenden Eigenschaften der Handlung. Das Merkmal der Unmittelbarkeit erschließt sich aus der gesamten Konstellation, nämlich der Beschaffenheit der gebrauchten Werkzeuge und deren Anwendungsweise. Deswegen könnte eine beabsichtigte Verwundung auch als homicidium voluntarium charakterisiert werden, wenn durch einen schweren Schlag unmittelbar der Tod herbeigeführt wird.43 Ein Wille dieser Art wird auch als „indirecte et per accidens“ bezeichnet, denn er richtet sich nicht eigentlich auf den Tod des Opfers, der aber dennoch nicht zufällig ist.44 Carpzov pflichtet diesem „indirecte et per accidens“ bestimmten Wille bei und hat ihn als dolus indirectus bezeichnet. Eine vorsätzliche Vollendung liegt auch vor, wenn ein unbeabsichtigter Erfolg eintritt. Die einzige Bedingung dafür ist, dass der Erfolg durch die Handlung des Täters unmittelbar herbeigeführt wird. Die Vorstellung des Erfolgs ist dann nicht notwendig für dolus indirectus. Carpzov erklärt, ein Täter, der mit dem Schwert zustößt und die Verwundung des Opfers will, könnte demnach wegen vorsätzlicher Tötung bestraft werden, da er weiß oder zumindest „wissen müsste“, dass ein Schwertstoß zur Tötung besonders geeignet ist.45 Carpzov zieht folgenden Schluss46: Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er mit „schlechter Absicht“ die Tötung vollzieht oder er den anderen schwer verletzt, woraus danach der Tod notwendig folgt.47 41 Engelmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren und ihre Fortentwicklung, 1895, Nachdruck 1965, S. 110. 42 Covarruvias verfolgte einen Gedankengang von Thomas von Aquin und entwickelte daraus die Theorie der voluntas directa und voluntas indirecta. Vgl. Engelmann (Fn. 41), S. 108; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, 1930, Nachdruck 1986, S. 110. 43 Engelmann (Fn. 41), S. 108. 44 Engelmann (Fn. 41), S. 108 f.; Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 61 Fn. 135. 45 Carpzov, Practicae novae imperialis saxonicae rerum criminalium pars I, übersetzt von Oehler, 2000, Qu. 1. Nr. 28; zur Übersetzung siehe auch Puppe (Fn. 3), 1, 25 Fn. 64. 46 Carpzov (Fn. 45), Qu. 1. Nr. 53. 47 Eine positivrechtliche Umsetzung dieses Gedankens vom dolus indirectus sei § 806 II 20 ALR: „Wer in der feindseligen Absicht, einen Andern zu beschädigen, solche Handlungen unternimmt, woraus, nach dem gewöhnlichen allgemein, oder ihm besonders bekannten Laufe der Dinge, der Tod desselben erfolgen mußte, und ihn dadurch
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Böhmer gilt auch als Anhänger der Rechtsfigur des dolus indirectus, versteht aber die Essenz des dolus indirectus darin, dass der Täter in den unbeabsichtigten Erfolg eventuell eingewilligt hat.48 Diese eventuelle Einwilligung bestehe darin, dass der Täter einen unbeabsichtigten und durch seine Handlung möglicherweise entstehenden Erfolg vorhergesehen hat. Mit diesem Gedanken gilt Böhmer in der Literatur49 als Begründer der Lehre vom dolus eventualis. Obwohl er selbst dolus indirectus und dolus eventualis als vollkommen gleich ansieht, sind beide aber in der Tat stark voneinander abweichende Begriffe geworden. Der Unterschied zwischen dolus indirectus und dolus directus bestehe dann darin, dass bei ersterem der Täter den Erfolg nur als möglich annimmt, bei letzteren hingegen für notwendig hält.50 Anhand dieser kurzen Rückschau auf den alten dolus indirectus kann man feststellen, dass die Kenntnis der möglichen Weiterung der Handlung entbehrlich ist und somit unterschiedlich vom dolus eventualis. Die Begründung des dolus indirectus ist folgende: Der Täter als Person in der Rechtsordnung muss nicht nur für den bekannten Erfolg seiner Handlung volle Verantwortung tragen, sondern auch für notwendige Weiterungen der Handlung, auch wenn sie ihm unbekannt sind. Denn eine Person wird in der Rechtsgesellschaft als vernünftiger Mensch angesehen, der rechtmäßig reagieren muss. Ein rechtsfeindlicher Wille als Defizit an Normbefolgungsmotivation wird auch durch notwendige Weiterungen der Handlung dargestellt, da die Vernunft des Handelnden diese allgemeine Qualität der Handlung umfasst. Die sinnliche Wahrnehmung der allgemeinen Qualität kann durch die Vernunft des Handelnden ersetzt werden. Auf den ersten Blick findet die Lehre der Vorsatzgefahr von Puppe ihre Grundlegung weniger beim Begriff des dolus indirectus, bei dem das Kriterium der Vorsatzzurechnung nicht ausschließlich auf die sinnliche Wahrnehmung des Täters begrenzt ist. Die Kenntnis der möglichen Weiterungen wird beim dolus indirectus nicht verlangt, wenn sie bei der Ausführung der Handlung unausweichlich sind. Der dolus indirectus stimmt deswegen auch mit dem heutigen dolus directus zweiten Grades nicht überein, der hauptsächlich vom Kenntniselement abhängt. Die Lehre der Vorsatzgefahr steht der Doktrin vom dolus eventualis seit Böhmer nahe. Nach der Ansicht Puppes würde sich eine Normativierung des Wissenselementes des Vorsatzes „allzu weit von dem allgemeinen Standard wirklich tötet; der hat als Todtschläger die Strafe des Schwerdts verwirkt“. Zit. nach Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998, S. 362. 48 Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, Band I, Abteilung I, 1895, S. 172; Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege B. I, 1989, S. 252. 49 Hälschner, Das preußische Strafrecht, Teil 2. System des preussischen Strafrechts Allgemeiner Teil, 1858, Nachdruck 1975, S. 132; Löffler (Fn. 48), S. 172; Schaffstein (Fn. 42), S. 124. 50 Schaffstein (Fn. 42), S. 124.
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gegenseitiger Beurteilung entfernen“51. Dieser Ausdruck stellt einen Intellektualismus in der Strafrechtsdogmatik dar und gibt dem Wissen eine dominierende Rolle gegenüber dem Willen. Der Intellektualismus ist jedoch einseitig. Denn in der Alltagssprache kommt es oft vor, dass bei einem Geschehen ein Ereignis und eine Dispositionseigenschaft als Ursache genannt werden: „Er ging in die Küche, weil er den Wunsch hatte, ein Bier zu trinken“52. Es ist auch häufig zu hören: „Ich habe gar keine Lust es zu wissen“. Auf die wechselseitige Beziehung zwischen Wissen und Wollen wurde längst von Aristoteles53 und Thomas von Aquin54 ausführlich hingewiesen. Der Handelnde möchte die Umstände nicht kennen, damit er eine Verfehlung leichter begehen oder danach einen Entschuldigungsgrund vorweisen kann. In dieser Konstellation kann der Handelnde sich weder ganz noch teilweise entschuldigen, sondern vielmehr wird die Sünde verschärft.55 Die Doktrin des dolus indirectus lehrt uns auch, dass Unkenntnis nur bedingt als Entlastungsgrund gilt, nämlich nur dann, wenn sie nicht durch den rechtsfeindlichen Willen des Täters manipuliert wird. Dieses Prinzip ist mit der italienschen Strafrechtsdoktrin im Mittelalter56 eng verbunden. Der Gedanke vom dolus indirectus wird von Hegel als Recht der Absicht in den Grundlinien der Philosophie des Rechts so benannt. Hegel erklärt: „Das Recht der Absicht ist, daß die allgemeine Qualität der Handlung nicht nur an sich sei, sondern von dem Handelnden gewusst werde, somit schon in seinem subjektiven Willen gelegen habe“57. Diese alte Theorie vom dolus indirectus wird von Jakobs ins Kommunikative umformuliert: Der gleichgültige Täter erklärt das nicht erfasste Risiko der Tatbestandsverwirklichung als subjektiv entscheidungsunerheblich. „Die Basis der Entscheidung ist nach seinen Kriterien
51
Puppe (Fn. 3), 1, 37. Das Beispiel ist entnommen aus Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geists2, 2001, S. 94. Vgl. Gean, Gründe und Ursache, in: Beckermann (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie Bd. 2, Handlungserklärungen, 1977, S. 195, 206. Zusammenfassend Beckermann (a. a. O.), S. 86 ff., 92 ff. 53 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Dirlmeier, 1969, Buch III5, 1109b ff. Vgl. Hsu, „Doppelindividualisierung“ und Irrtum, 2007, S. 171 ff., 179 ff. 54 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, 3. Bd. Teil 1. Buch III, Kapitel 10. Vgl. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin3 1998, S. 212 f.; Gläser, Zurechnung bei Thomas von Aquin, 2005, S. 44 ff.; Hsu (Fn. 53), S. 180. 55 Thomas von Aquin, de malo q. 3, a. 8 c. Vgl. Hruschka, Welzel-FS, 1974, S. 115, 143. 56 Engelmann, Irrtum und Schuld. Nach der italienischen Lehre und Praxis des Mittelalters, 1922, Nachdruck 1975, S. 228 ff., 248 f. 57 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werk 7, 1986, § 120. Die Behauptung, dass die Doktrin des dolus indirectus durch den Gedanken von Mezger und auch durch das sog. gesunde Volksempfinden begründet werde, ist völlig irreführend. So aber Vogel, GA 2006, 386 ff. 52
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komplett; das nicht Bedachte ist eben gleichgültig“58. Und erst diese subjektive Entscheidungsunerheblichkeit ist der Grund für die Höhe der Schuld. Dadurch kann der Unterschied zwischen Kenntnis und Unkenntnis ausglichen werden. 2. Dolus indirectus und Irrtum Aus der Wechselseitigkeit zwischen Kenntnis und Wollen ergibt sich, dass Unwissenheit allein kein ausreichender Entlastungsgrund sein kann. Jakobs59 beschreibt das Beispiel eines Terroristen, der mit seinem Kraftfahrzeug durch eine Straßensperre der Polizei bricht, um seinen Verfolgern zu entfliehen. Obwohl der Fliehende die Polizisten, die neben, vor oder hinter der Sperre stehen, gesehen hat, konzentriert er sich allein auf seine Flucht und bedenkt deswegen nicht, ob seine Handlung die Polizisten in Todesgefahr bringt. Jakobs nimmt bei dieser Konstellation Vorsatz an, denn die Unkenntnis folge aus der Gleichgültigkeit, also aus einem Willensfehler. Das Desinteresse am Wissen belege die Rechtsuntreue des Täters, weswegen seine Unkenntnis nicht entlastend wirken könne.60 Hinsichtlich des Wortlauts von § 16 Abs. 1 StGB nimmt die herrschende Lehre61 jedoch an, dass die Tatsachenblindheit nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründen könne. Denn der Eventualvorsatz setze voraus, dass der Täter die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung vorhergesehen habe. Anders als o. g. Meinungen schreibt Puppe zum Terroristenfall: „Denn hier kennt der Täter alle Einzeltatsachen, die Vorsatzgefahr begründen, er zieht nur daraus nicht den sich aufdrängenden Schluß“62. Aufgrund ihrer Theorie der Vorsatzgefahr soll diese Situation als vorsätzliche Tötung beurteilt werden. Hier wird dann die Kenntnis der Einzeltatsachen der Handlung mit der Kenntnis der Vorsatzgefahr gleichgestellt. Das zeigt, dass die Vorsatzgefahrlehre und die Doktrin des dolus indirectus nicht weit voneinander entfernt sind. Wenn ein Täter alle Einzeltatsachen seiner Handlung kennt, ihre Weiterungen aber nicht bedenkt, die wegen der Handlung nach allgemeinen Erfahrungsregeln kaum zu verhindern sind, kann er nicht davon profitieren. Das haben die Vorsatzgefahrlehre und die Doktrin des dolus indirectus gemeinsam. Der von Carpzov genannte Fall, dass der Täter mit einem langen und scharfen Schwert in den Oberkörper des Opfers
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Jakobs, ZStW 114 (2002), 584, 594. Jakobs, ZStW 101 (1989), 516, 529. 60 Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 19 ff.; ders. (Fn. 58), 584 ff.; zustimmend Lesch, JA 1996, 346; Pawlik, Person, Subjekt und Bürger, 2004, S. 85 f.; Müssig, Mord und Totschlag, 2005, S. 182; Voßgätter, Die soziale Handlungslehre, 2004, S. 186; Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 264; Kawaguchi, Jakobs-FS, 2007, S. 259 ff. Vgl. Zielinski in: AK-StGB, Bd. 1, 1990, §§ 15, 16 Rn. 19. 61 Zielinski (Fn. 60); S/S/Cramer/Sternberg-Lieben, Strafgesetzbuch27, § 16 Rn. 73; Schroth, Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 11. 62 Puppe (Fn. 3), 1, 37 f.; auch dies., NK, § 15 Rn. 7. 59
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stößt, wird auch von Puppe als vorsätzliche Tötung beurteilt, da dem Täter alle Einzeltatsachen dieser hoch lebensgefährlichen Handlung bekannt sind. Dass der Täter den Tod des Opfers nicht in seine Überlegungen einbezogen hat, sollte auch nach Ansicht von Puppe nicht gehört werden, solange der Tod nach vernünftiger Überlegung ein typischer Ausgang ist. Die Kenntnis der Einzeltatsachen der Handlung, z. B. dass das anvisierte Ziel ein Mensch ist, das Mittel ein Schwert, bzw. dass er den Oberkörper des Opfers angreift, ist auch für die Vorsatzzurechnung nach dem alten dolus indirectus nötig.63 Carpzov bildet seinen Schwertfall mit allen oben genannten Tatsachen, die dem Täter ohne Zweifel bekannt sind. Der aus den bekannten Tatsachen abgeleitete Schluss ist, obwohl nicht „faktisch“, aber offensichtlich keine Fiktion wie Kindhäuser behauptet64. Der Schluss ist realistisch und vernünftig. Diese Vernünftigkeit ist nicht anders als die bei Puppe, die sie zur Begründung der Vorsatzgefahrlehre dargestellt hat. Wir können unseren Gedankengang mit folgendem Ergebnis abschließen. Die von Puppe genannte Vorsatzgefahr enthält eine Voraussetzung: Es gibt einen objektiven Maßstab, an dem der Grad der auftretenden Gefahr zu messen ist. Dieser Maßstab ist die erfahrungsgemäße Vernunft. Das Vorhersehen des später eingetretenen Erfolgs ist keine absolute Bedingung für die Erfolgszurechnung zum Vorsatz. Das kann man bei der Meinung Puppes zur Problematik des Irrtums deutlich ablesen. Für die Lösung der aberratio ictus fragt Puppe nur, an welchem Ort der Täter seine Handlung vornimmt. Beim dolus generalis überprüft sie ausschließlich, ob die Ersthandlung für sich genommen eine taugliche Strategie zur Tötung ist. Ebenso verhält es sich beim vorzeitigen Erfolgseintritt. Deswegen gehört die Lehre der Vorsatzgefahr von Puppe m. E. zu einem bedeutenden Teil der Renaissance von der Doktrin des dolus indirectus, die in der Gegenwart wieder zum Leben erweckt werden soll.
63 Kenntnis dieser Art wird von Verfasser an anderem Ort als konkrete Kenntnis bezeichnet, Hsu (Fn. 53), S. 140 ff. 64 Kindhäuser, Eser-FS, 2005, S. 345 ff.; ähnlich Vogel (Fn. 57), 386 ff.
Mittäterschaft als Beteiligung Von Günther Jakobs I. Puppes Lehre und verbleibende Fragen 1. Puppes Lehre Nach Puppe erfordert Mittäterschaft eine „gemeinsame Tatausführung“1 auf Grund „gegenseitige(r) Anstiftung“:2 „. . . jeder (gibt) dem anderen einen maßgeblichen Grund . . ., die Tat zu begehen,“ und dieser Grund „motiviert“ den anderen,3 und zwar „im Moment der Tatausführung.“4 Dieses Motivieren „ist die Grundlage dafür, dass jedem der Beitrag der anderen nicht als zufälliger Kausalfaktor, sondern als eigenes von ihm mitzuverantwortendes Unrecht zugerechnet werden kann,“ 5 aber bei Puppe wird trotzdem niemand Mittäter durch den Aus1 Puppe, Der gemeinsame Tatplan der Mittäter, in: Courakis (Hg.), Festschrift für D. Spinellis, Bd. 2, 2001, S. 915 ff., 921 ff. 2 Puppe (Fn. 1), S. 917 ff.; dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 2, 2005, S. 196. 3 Ein Motiv kann nach Puppe nicht kausiert werden, da es sich um einen Bereich nicht vollständig determinierter Prozesse handele (Fn. 1, S. 918); eingehend Puppe, in: NK-StGB2, 2005, vor § 13 Rn. 135 ff. – Im hiesigen Beitrag wird Sinnvermittlung als ein Vorgang behandelt, an den der sich Motivierende anschließt. Für die dabei verfolgten Zwecke dürfte das dem Modell Puppes äquivalent sein. – Hirnforschern wird die Rede von Kausalität geradezu als selbstverständlich erscheinen und Sinnvermittlung oder Nicht-vollständige-Determination als schlechte Metaphysik, was sie allerdings nicht hindert, dies sinnvermittelnd mitzuteilen; zutreffend kritisch zu diesem Selbstwiderspruch Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 2009, S. 136 ff. 4 Puppe (Fn. 1), S. 919. 5 Puppe (Fn. 1), S. 919 f. – Puppe beschränkt diese Argumentation auf Vorsatzdelikte (Puppe, Wider die fahrlässige Mittäterschaft, GA 2004, S. 129 ff.); ansonsten, ohne Tatbestandsvorsatz, „geht es gar nicht darum, dem Hintermann das Verhalten des Vordermanns als Unrecht zuzurechnen, sondern es lediglich als einen Kausalfaktor . . . einzufügen, wie man es mit natürlichen Ursachen der Verletzung auch tut.“ (Puppe, Mitverantwortung des Fahrlässigkeitstäters bei Selbstgefährdung des Verletzten, GA 2009, S. 486 ff., 492): Bei Fahrlässigkeit soll ein Einheitstäterbegriff gelten (GA 2009, S. 493 mit weiteren Nachweisen ihrer Schriften). – Beiläufig zu dem von Puppe (in GA 2009, S. 486 ff.) behandelten Fall (BGH 53, S. 55): Wenn bei einem „wilden Rennen“ die „passiven (?) Teilnehmer auf ein gewisses Maß an Vernünftigkeit der Fahrer vertrauen“ können sollen (S. 496), so heißt das allein nicht, die Überschreitung dieses Maßes gehe sie nichts an: Sie haben gegenzusteuern, zumindest ihre eigene Mitwirkung abzubrechen etc.; dazu Jakobs, Die Ingerenz in der Rechtsprechung des Bundesgerichts-
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führungsbeginn eines anderen, sondern „erst in dem Moment . . ., in dem er selbst einen täterschaftlichen Beitrag leistet, erst dann dürfen ihm die Tatbeiträge der anderen Genossen nach den Regeln der Mittäterschaft zugerechnet werden.“6 Vorher, so lehrt Puppe, hat er „die Feuerprobe der kritischen Situation selbst (noch) nicht bestanden.“7 Trotz dieser strengen Voraussetzungen ist die Mittäterschaft für Puppe eine Art Täterschaft zweiter Klasse: Den höchsten Unwert sollen die Alleintäterschaft und die mittelbare Täterschaft aufweisen. „Die Mittäterschaft rangiert bereits darunter, weil der einzelne Tatgenosse die Tatherrschaft nicht allein . . . ausüben kann.“8 Die trotz dieses Mankos tätergleiche Strafe begründet Puppe mit der genannten „gegenseitigen Anstiftung“, die, wie jede Anstiftung, zu einem „Unrechtspakt“ führe.9 Wenn nachfolgend dieses – hier nur skizzierte – Konzept Puppes „gegen das Licht gehalten“ wird, so nicht in der Absicht, es als fehlerhaft zu erweisen, vielmehr einzig, um plausibel zu machen, dass man zwar wie Puppe verfahren kann, aber vielleicht nicht so verfahren muss, und diese Darlegungen erscheinen in der Festschrift für Puppe, weil sie mit einem strafrechtlichen Institut verbunden sind, das Puppe stets besonders gepflegt hat und wohl auch weiter pflegen wird, nämlich mit der Lehre vom unerlaubten Verhalten als Teil der Lehre von der objektiven Zurechnung, mit Puppes Worten, mit der Lehre von der „Sorgfaltspflicht und unerlaubte(n) Risikoschaffung“.10 Ich darf also hoffen, die Jubilarin sei geneigt, sich auf den folgenden Gedankengang einzulassen; zunächst befrage ich ihr Konzept und skizziere sodann ein anderes. 2. Verbleibende Fragen Puppe will zwar den Versuchsbeginn nicht akzessorisch bestimmen,11 errichtet damit aber nur eine Bezeichnungssperre, keine Haftungssperre; denn wenn einer hofs, in: Canaris u. a. (Hg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. IV (Hg.: Roxin u. a.), 2000, S. 29 ff., 44 ff. 6 Puppe (Fn. 1), S. 932 f.; dies., AT (Fn. 2), S. 196. 7 Puppe (Fn. 1), S. 932. 8 Puppe (Fn. 1), S. 943. – Das steht ein wenig unverbunden neben Puppes (zutreffender) Feststellung, Mittäterschaft erhöhe gegenüber der Alleintäterschaft das „energetische“ und „kybernetische Potenzial der Tatausführung,“ S. 921. 9 Puppe (Fn. 1), S. 943. – Zumindest für die schlichte Anstiftung dürfte ein „Pakt“ nicht zu fordern sein. Der Anstifter muss dem Angestifteten ein Motiv zur Tat geben (nicht nur eine günstige Gelegenheit nachweisen etc.). Diese Motiv mag der (dann) Angestiftete übernehmen, ohne dass es eine ihn (informell) bindende Lage gäbe. Beispielhaft, wenn ein Gastwirt jedem Mitglied eines Stammtisch verspricht, eine stattliche Summe für ein gewildertes Reh zu zahlen, hat er jeden der daraufhin Wildernden angestiftet, ohne dass auch nur einer zum Wildern in der Art eines Paktes „verpflichtet“ worden wäre. 10 NK2-Puppe (Fn. 3), vor § 13 Rn. 152 bis 199.
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der Mittäter zu seinem Beitrag in versuchsbegründender Weise angesetzt hat, ein anderer aber noch nicht, so heißt der andere zwar nach Puppe nicht „Mittäter eines Versuchs“, aber wegen der gegenseitigen Anstiftung liegt eine Anstiftung zum Versuch vor12 – mit identischem Strafrahmen. Nun argumentiert Puppe, das verschlage nichts; denn „Täterschaft (sei) . . . nicht akzessorisch“13 und deshalb müsse jeder Mittäter selbst zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar ansetzen.14 Aber der Beitrag eines jeden Mittäters kann – abgesehen vom zuletzt Handelnden15 – die Tatbestandsverwirklichung nicht allein, sondern nur dann bringen, wenn auch die anderen ihre Beiträge leisten, und die Zurechnung dieser Beiträge kann nur per Akzessorietät erfolgen.16 Beispielhaft, wenn in einem Brandstiftungsfall der erste Beteiligte die Tür aufbricht (vielleicht das technisch Schwierigste an der ganzen Unternehmung), der zweite eine brennbare Flüssigkeit verschüttet,17 die der dritte alsbald ansteckt,18 verhält sich das jeweils eigene Handeln akzessorisch zu den Leistungen, die noch nicht erbracht sind, und erst alles zusammen ergibt eine Tatbestandsverwirklichung, so dass ohne die VorabAnnahme, es gehe um Mittäterschaft, der Versuchsbeginn durch einen Beteiligten, der nicht als letzter handelt, überhaupt nicht begründet werden kann. Was Puppe darlegt, ist nicht das Fehlen von Akzessorietät bei der Mittäterschaft,19 sondern das Erfordernis, jeder Mittäter müsse einen Teil der Ausführung selbst verwirklichen. Wenn aber eine mittäterschaftlich begangene Tat zu vielleicht drei Vierteln durch Akzessorietät begründet werden kann, warum dann nicht auch völlig? Puppe argumentiert, ohne Mitwirkung bei der Ausführung komme niemand in „die Feuerprobe der kritischen Situation“ und diese Probe müsse jeder Täter nun einmal „selbst“ bestehen.20 Dabei bleibt offen, warum der tätergleich zu bestrafende Anstifter die Probe nicht zu bestehen hat. Aber diese Frage muss nicht beantwortet werden, denn es gibt eine solche Feuerprobe zwar in den Erbonkel11
Puppe (Fn. 1), S. 932 f.; dies., AT (Fn. 2), S. 196. Puppe, AT (Fn. 2), S. 197. 13 Puppe (Fn. 1), S. 931; dies., AT (Fn. 2), S. 196. 14 Puppe (Fn. 1), S. 931 f. 15 Es mögen auch mehrere Personen potenziell zuletzt handeln, etwa bei Schüssen mehrerer Flüchtender auf den Verfolger. 16 So auch Puppe, AT (Fn. 2), S. 196 (Erläuterung zu These 2). 17 Was der erste Beteiligte nicht mehr verhindern kann; Unterlassungshaftung scheidet also aus. 18 Zur Unterlassungshaftung gilt das in der vorangehenden Fn. Ausgeführte entsprechend. 19 So auch Puppe, wie Fn. 16. – Treffend Shimada, Ein neuer Aspekt der Täterlehre. Erkenntnisse aus der japanisch-deutschen Rechtsvergleichung, GA 2009, S. 469 ff., 472: Was die Vermittlung eines Beitrags durch den Ausführenden angeht, „gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen der Mitwirkung im Vorbereitungsstadium und der im Ausführungsstadium.“ 20 Puppe, wie Fn. 7. 12
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tötungsphantasien braver Bürger und wohl auch vereinzelt in der Praxis, aber das Gros der Verbrecher, zumal der gewohnheitsmäßigen oder gar organisierten, fürchtet allenfalls, irgendwann aufzufliegen, und solange ein Erwischt-Werden ausgeschlossen ist, kümmern sich solche Verbrecher um die Versuchsgrenze überhaupt nicht. Psychologismen (wie eben „Feuerprobe“) sind selten geeignet, normativ Bestimmtes treffend abzubilden.21 Das gilt nicht nur für Psychologismen, sondern für alle Naturalismen, und deshalb führt nichts an der Frage vorbei, weshalb „Tatherrschaft“22 das Zauberwort zur Bestimmung von Täterschaft sein soll, und neben „Tatherrschaft“ lässt sich der nicht minder naturalismusverdächtige „animus auctoris“ stellen sowie alles, was zwischen diesen beiden Begriffen liegt. Diese Frage ist – selbstverständlich – nicht allein an Puppe zu richten, und wird hier auch nicht erstmalig formuliert; etwa Haas, Rotsch und Marlie haben sie jüngst (wieder) aufgeworfen,23 und bei 21 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1991, 25/19 mit Nachweisen. 22 Zu den einzelnen Varianten der Verständnisse von Tatherrschaft – eher ontologisierend, eher naturalistisch, eher normativierend – eingehend Schild, Tatherrschaftslehren, 2009, S. 9–81. 23 Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen. Zur Notwendigkeit einer Revision der Beteiligungslehre (2008) S. 23 ff. und passim. – Rotsch entwickelt nach ausführlichen Darlegungen dazu, dass der Einheitstäter in der Dogmatik des geltenden Rechts nicht nur ante portas, sondern in erheblichem Umfang bereits intra muros stehe („Einheitstäterschaft“ als Tatherrschaft. Zur Abkehr von einem differenzierenden Beteiligungsformensystem in einer normativ-funktionalen Straftatlehre, 2009, S. 297 ff.), sein Beteiligungsmodell, das er nicht als Modell eines „Einheitstätersystems“ versteht, sondern als ein solches „restriktive(n) Unrechtsverständnis(ses)“ (S. 486): „. . . die normative Lehre von der objektiven Zurechnung“ soll „mit ihren flexiblen Zurechnungsparametern die starren Kategorien von Täterschaft und Teilnahme auflösen“ und zugleich die Kausalität des Verhaltens aufsaugen (S. 421). Bei der Durchführung unterscheidet Rotsch „zwei Wege“: die unmittelbar („ohne weitere kausale Handlung einer anderen Person“) rechtsgutsbeeinträchtigende Handlung und die mittelbar (durch eine vermittelnde Handlung) beeinträchtigende (S. 423); im letzteren Fall soll „die Handlung des einen . . . einen objektiv zurechenbar zu verursachenden Erfolg für den anderen“ darstellen (S. 425), und zwar unabhängig davon, ob die vermittelnde Handlung verantwortlich vollzogen wird oder, was ihre Zurechenbarkeit angeht, defekthaft (S. 427). – Dieser Ansatz ist freilich nicht „normativ-funktional“, sondern klebt am Phänotyp (letzter Akt versus vermittelnder Akt), ist also so naturalistisch wie die von Rotsch wegen ihrer naturalistischen Herkunft zu Recht verworfene Tatherrschaftslehre: Die Vermittlung durch – etwa – einen unvermeidbar Irrenden ist eine solche, die im Bereich des Wissensdefizits durch schiere Natur erfolgt. Beispielhaft, ob ein beleidigender oder betrügerischer Brief von einem ahnungslosen Boten überbracht oder per Rohrpost (für Romantiker: durch eine Brieftaube) zugestellt wird, ist in einem „normativfunktionalen“ System gleichgültig. Nun ist Rotsch durchaus offen für das Anliegen, die naturalistisch bestimmte Differenz bei der Strafzumessung zu korrigieren, aber durch den viel zu weiten Zuschnitt der Gruppe mittelbarer Rechtsgutsbeeinträchtigungen verbaut er sich den Blick auf Eigenheiten der Untergruppen, insbesondere auf die Gemeinsamkeit bei Beteiligung. – Marlie (Unrecht und Beteiligung. Zur Kritik des Tatherrschaftsbegriffs, 2009) bringt eine umfangreiche Darstellung und Kritik der Tatherrschaftslehre (S. 18–202). Im Anschluss an Schild, der Beherrschung als Beherrschbar-
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dem von Roxin entwickelten Pflichtdelikt spielt sie ohnehin keine Rolle.24 Beispielhaft, ein Dramatiker verfasst ein Theaterstück, ein Regisseur arrangiert es und studiert es mit der Truppe ein; während der Premiere sitzen der Dramatiker und der Regisseur still in einer Loge, oder sie sind an Grippe erkrankt und liegen zu Hause, jeder in seinem Fieberwahn. Eine Beteiligungstheorie, die den Dramatiker und den Regisseur aus dem Kreis der Hauptpersonen der Aufführung ausklammert, weil sie während dieser nichts mehr geleistet haben, dürfte dringend zu überdenken sein. Vielleicht wird Puppe einwenden, im Beispielsfall gebe es keine „Feuerprobe der kritischen Situation“; nun, dann soll das Stück eben beleidigend, volksverhetzend oder was sonst auch immer sein, und der Einwand entfällt. Puppe verfügt freilich noch über ein starkes Argument dafür, auf einer Mitwirkung eines jeden Mittäters im Versuchsstadium zu beharren: „Alles was im Vorbereitungsstadium einer Straftat geschieht, ist per se strafrechtlich irrelevant. Es gewinnt eine mittelbare Relevanz erst dadurch, dass es als Anstiftung oder Beihilfe zu einer später begangenen Straftat beiträgt. Die Strafbarkeit des Gehilfen oder Anstifters wird erst dadurch begründet, dass ihnen diese Straftat nach den Regeln der Akzessorietät mittelbar zugerechnet wird. Ihre eigenen Beiträge vermitteln nur diese mittelbare Zurechnung.“25 Kurz und knapp, Tatvorbereitung im Feld vor dem Versuchsbeginn ist kein Teil einer Tatbestandsverwirklichung und soll deshalb eben per se strafrechtlich irrelevant sein. Das heißt, Vorfeldverhalten sei kein Unrecht, aber dann kann es auch nicht schuldhaft vollzogen werden, denn ohne Unrecht gibt es keine Schuld. Wie soll dann aber die Schuld der nur im Vorfeld Beteiligten begründet werden? II. Skizze einer Theorie der Beteiligung 1. Vorfeldverhalten Inhalt einer negativen Pflicht ist die Sorge dafür, dass der eigene Organisationskreis sich nicht (deshalb: negativ) schädigend auf den Kreis einer anderen Person auswirkt; denn ansonsten, ohne Verstoß gegen das Schädigungsverbot, bleibt die Willkür der einen Person mit der Willkür einer anderen nach einem keit (genauer wohl: Beherrschbarkeit und Beherrschen-Sollen) versteht (NK2-Schild [Fn. 3], § 25 Rn. 4) formuliert Marlie: „Der Tatherrschaftsbegriff ist nicht mehr und nicht weniger als eine Zurechnungslehre“ (S. 203, auch S. 219). Eine Lehre von den Beteiligungsformen hält Marlie deshalb für „zurechnungsfeindlich“ und plädiert für ein Einheitstätersystem (S. 220). – Siehe auch Sánchez Lázaro, Was ist Täterschaft?, GA 2008, S. 299 ff., 301 ff., 309 ff., 311. 24 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, S. 352 ff.; Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung. Zugleich ein Beitrag zur Einheitlichkeit der Zurechnung bei Tun und Unterlassen, 1999, S. 147 ff. 25 Puppe, AT (Fn. 2), S. 196.
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allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinbar.26 Eine Norm, die eine Schädigung verbietet und nichts sonst, wird übertreten, wenn mit dem schädigenden Verhalten in seiner konkreten Gestalt begonnen wird, etwa beim Totschlagsversuch mit dem Erstechen oder Erschießen oder Gift-Eingeben etc. (Versuch27). Ein Verhalten vor diesem Beginn mag seinerseits durch flankierende Normen verboten sein, etwa das Sich-Beschaffen von Waffen oder Gift, und diese Normen mögen auch dem Lebensschutz dienen, aber das Verhalten ist nicht nach der Norm gegen Totschlag verboten, und deshalb muss die Legitimität flankierender Normen gesondert begründet werden (was nicht beliebig weit gelingen kann).28 Ein deliktsvorbereitendes Verhalten vor dem skizzierten Versuchsbeginn bricht nicht die eine Verletzung verbietende Norm, mit anderen Worten, es ist – wenn flankierende Regelungen fehlen – kein Unrecht, wie auch Puppe konstatiert.29 Wer also, um beim Tötungsverbot zu bleiben, einen Totschlag vorbereitet, indem er etwa die Gewohnheiten des ausersehenen Opfers auskundschaftet, ein Messer schleift, eine Gesichtsmaske herstellt oder sich auf den Weg zum vorgesehenen Tatort macht, hat noch kein Totschlagsunrecht verwirklicht. Übertragen auf Beteiligung heißt das: Ein Beteiligungsverhalten, das nicht seinerseits Versuchsverhalten ist, sondern im Vorfeld stattfindet, bricht allenfalls eine flankierende Norm, nicht aber ein Verletzungsverbot, und ist deshalb insoweit kein Unrecht. Wer also, entsprechend dem soeben angeführten Beispiel, für den späteren Totschläger die Opfergewohnheiten ausspioniert, ein Messer schleift, eine Gesichtsmaske herstellt oder den kommenden Täter zum Tatort fährt, bricht allein dadurch nicht die eine Tötung verbietende Norm.30 26 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre2, 1798, zitiert nach der Werkausgabe von Weischedel, Bd. 4 (1956, Nachdruck 1963), S. 337 (= B 33). 27 Dazu Jakobs (Fn. 21), 25/61 mit Nachweisen. 28 Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985), S. 750 ff., 773 ff., 779 ff. – Bung (Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person, HRRS 2006 Nr. 2., S. 63 ff., 66) wendet ein, eine Grenze legitimierbarer flankierender Normen lasse sich nicht finden und deshalb sei meine Lehre im Kern „totalitär“. Daran ist richtig, dass die Theorie des Normenschutzes so wenig genuin liberal ist wie diejenige des Rechtsgüterschutzes (dazu Jakobs, ZStW 97 [1985], S. 752 ff.; ders. [Fn. 21], 2/7 ff., 22 ff.; ders., Sozialschaden? – Bemerkungen zu einem strafrechtlichen Fundamentalproblem, in: Böse u. a. [Hg.], Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts. Festschrift für K. Amelung [2009], S. 37 ff., 41 ff.), und selbst ein extrem liberales Konzept kann die Sorge für Sicherheit allenfalls privatisieren („klassisch“: Nozick, Anarchie. Staat. Utopie, o. J.), nicht aber den Bürgern „austreiben“, und kommt nicht um die Ermittlung herum, wann die Umsetzung eines Gesellschaftsmodells „lebbar“ ist und wann eben bleibend utopisch. 29 Puppe, wie Fn. 25; Jakobs, Natürlicher Zusammenhang versus gesellschaftliche Bedeutung, in: Steinberg (Hg.), Recht und Macht. Zur Theorie und Praxis von Strafe. Festschrift für H. Rüping, 2009, S. 17 ff., 22. 30 Die Bindung der Strafe für Verbrechensvorbereitung nach § 30 StGB an die (gemilderte) Versuchsstrafe ist falsch und auch erst 1943 (!) Gesetz geworden. Richtigerweise geht es in diesem Zeitpunkt (vor dem Versuchsbeginn) einzig um die Störung der
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Diese Interpretation der normativen Lage scheint eine befriedigende Antwort auf eine oben bereits formulierte Frage unmöglich zu machen: Wenn der im Vorfeld Beteiligte nicht gegen die Norm verstößt, die später andere durch die Tatausführung brechen, wieso haftet er dann strafrechtlich, insbesondere, woher kommt – bei fehlendem Unrecht seines eigenen Verhaltens – seine Schuld? Liegt nicht die Interpretation näher, so wie die Versuchsregelung die (meist) vollendungsbezogene Tatbestandsformulierung erweitert, erweitere auch die Regelung der Beteiligung den Tatbestand, so dass das im Vorfeld geleistete Beteiligungsverhalten per se Unrecht sei, eben Beteiligungsunrecht? Nach Stein soll sogar „Einigkeit“ bestehen, „dass auch der Teilnehmer nur für (eigene Schuld und) eigenes Unrecht zu haften braucht. Genauer müsste man sagen: In einem Tatschuldstrafrecht kann (auch) der Teilnehmer nur für die eigene rechtswidrige und vorwerfbare Verletzung einer strafbewehrten Verhaltensnorm sowie für die zurechenbaren Folgen dieses Verhaltensnormverstoßes haften.“31 Stein formuliert folgende Verhaltensnorm für Anstiftung und Beihilfe: „Du sollst nicht einen anderen zur vorsätzlichen und rechtswidrigen Verwirklichung des im § . . . normierten Straftatbestands bestimmen bzw. ihm dabei Hilfe leisten.“32 Insoweit ähnlich verfährt Kindhäuser, wenn er – beschränkt auf Teilnahme – bei der Suche nach Unrecht und Schuld zum Zeitpunkt des Teilnahmeverhaltens eine „sekundäre Pflicht“ (neben derjenigen, die Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden) annimmt, nämlich eine Pflicht zur Vermeidung „des Initiierens, Ermöglichens oder Förderns der (konkreten) primären Pflichtverletzung.“33 Der Teilnehmer erhöht nach Kindhäuser „die Gefahr, dass die Tatbestandsverwirklichung des Täters . . . gelingt“34; Teilnehmerpflicht und Täterpflicht sind demnach nicht identisch. – Im Gegensatz dazu hält Haas Teilnahmetatbestände (zur Mittäterschaft siehe den übernächsten Absatz) nicht für separate Tatbestände,35 sondern für Tatbestände einer unzulässigen Rechtsausübung,36 die gegenüber dem Inhaber des Rechts, das durch die Haupttat verletzt wird, Unrecht ist.37 Haas wiöffentlichen Sicherheit; siehe Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 45 f. 31 Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 31 mit Nachweisen. – Dazu Küper, Ein „neues Bild“ von Täterschaft und Teilnahme. Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre Ulrich Steins, ZStW 105 (1993), S. 445 ff. 32 Stein (Fn. 31), S. 32. 33 Kindhäuser, Anmerkung zu BGH 42, S. 135 ff., NStZ 1997, S. 273 ff., 274. – Insoweit ebenso Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 123 ff., 127 ff. und passim. Nach Renzikowski ist die (Mit-)Haftung für das autonome Verhalten eines anderen ausgeschlossen (S. 50 ff., 67 ff.); mittäterschaftliche Haftung erfolgt über eine Zurechnung zum Kollektiv der Ausführenden (S. 100 ff.). – Aber wieso wird nicht aus allen Beteiligten ein Kollektiv „geschnürt“? 34 Kindhäuser, wie Fn. 33; Renzikowski (Fn. 33), S. 123. 35 Haas (Fn. 23), S. 132. 36 Haas (Fn. 23), S. 134. 37 Haas (Fn. 23), S. 137.
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derspricht ausdrücklich der von Puppe und auch hier vertretenen These, die Beteiligung im Vorfeld sei per se kein Unrecht:38 Sie soll als Unrecht zu behandeln sein, wie ein in § 226 BGB beschriebenes Verhalten gegenüber dem beeinträchtigten Rechtsinhaber Unrecht ist. Ganz abgesehen davon, dass nicht recht einzusehen ist, weshalb nach dem Bruch der von Stein, Kindhäuser und Haas formulierten Teilnahmenorm für die Strafbarkeit noch der weitere Fortgang bis (mindestens) zum Versuchsbeginn abgewartet werden soll,39 ergibt sich ein Widerspruch: Das Teilnahmeverhalten wird als (eigenes oder abgeleitetes) Unrecht verstanden, während ein ceteris paribus gleiches Vorfeldverhalten des späteren Täters mangels einer entsprechenden Tatbestandserweiterung kein Unrecht ist. Am Beispiel der Lehre von Haas:40 Wenn die Hingabe einer Tatwaffe Rechtsmissbrauch ist, warum dann nicht auch das Sich-Beschaffen einer solchen durch den später allein Ausführenden? Es führt also einigermaßen offenbar nicht zu einer Patentlösung, wenn bei einer gemeinsamen Tat das Unrecht nicht als gemeinsames, sondern mit Hilfe des Einzeltäterparadigmas dargestellt wird.41 Im Gegensatz zu den die Teilnehmer eher vereinzelnden Lösungsvorschlägen verbinden Kindhäuser und Haas Mittäter, indem sie diese als wechselseitige Repräsentanten verstehen.42 Kindhäuser: „Mittäterschaft ist . . . die Einbettung von Handlungen verschiedener Akteure in (gewollt) kongruente Deutungsschemata verschiedener Organisationskreise.“43 Die wechselseitige Repräsentanz verstehen beide Autoren als (verbindende) Arbeitsteilung. Mit den Worten von Haas: „Wenn sich mehrere Personen die Arbeit teilen, übernimmt jeder der Beteiligten eine spezielle Funktion und erbringt eben dadurch seinen Beitrag auch für die anderen Mitglieder der Vereinbarung. Zugleich lässt jeder der Beteiligten einen Teil seiner Arbeit durch andere verrichten.“44 – So treffend die Bezeichnung der Mittäterschaft als (verbindende) Arbeitsteilung auch ist (das wird noch präzisiert werden), so unklar ist der Übergang vom „isolierten Subsistenzwirtschaften“ bei 38
Haas (Fn. 23), S. 137 Fn. 380. Es böte sich an, analog zur acio libera in causa (wo diese Lösung freilich streitig ist, siehe Jakobs [Fn. 21], 17/68 mit Nachweisen) den Abschluss des eigenhändigen Beteiligtenverhaltens als Versuchsbeendigung zu verstehen. Aber bei der Vorfeldbeteiligung ist – anders als bei der a. l. i. c. – das nachfolgende Geschehen noch durch normative Erwartungen strukturiert, mit deren Enttäuschung bislang nicht einmal begonnen wurde. Dass diese Erwartungen nicht direkt dem Beteiligten gelten, verschlägt nichts: Über die Gemeinsamkeit werden sie an ihn vermittelt. 40 Haas, wie Fn. 36. 41 Treffend Küper (Fn. 31), S. 482. 42 Kindhäuser, Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft, in: Bohnert u. a. (Hg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, Festschrift für A. Hollerbach (2001), S. 627 ff., 645; Haas (Fn. 23), S. 112 ff. 43 Kindhäuser (Fn. 42), S. 645. 44 Haas (Fn. 23), S. 115. 39
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der Teilnahme zur „arbeitsteiligen Gesellschaft“ gerade an dieser Stelle: Arbeitsteilung ist nicht nur mehr oder weniger gleichzeitig möglich, sondern auch nacheinander;45 just in time ist kein Grundprinzip der Arbeitsteilung. Und von Gleichgewichtigkeit muss bei Arbeitsteilung auch nicht notwendig die Rede sein; beispielhaft, wenn dem – legal oder illegal – eine Jagdhütte Errichtenden die passenden Nägel geschenkt werden, ist das Arbeitsteilung. Kurzum, auch der Teilnehmer leistet einen Teil der Arbeit. Jeder, der nicht zumindest den Versuch beginnt (und bei mehreren Ausführenden setzt dieses Beginnen bereits die Verbindung der Ausführenden voraus), bricht durch sein Verhalten nicht selbst die Norm, und so bleibt die oben bereits mehrfach aufgeworfene Frage, was das Unrecht seines Verhaltens ist und wie seine Schuld begründet werden soll, eine Frage, die, genau betrachtet, bereits bei einem während eines Versuchs vor dem Letzten Mitwirkenden in der Gestalt auftaucht, wie ihm das nachfolgende Verhalten zuzurechnen sein soll (und die sich selbst beim Letzten als Frage nach der Erfolgszurechnung stellt). Der größeren Klarheit wegen wird eine Antwort hier nur für einen im Vorfeld Beteiligten gesucht – sie wird sich, erst einmal gefunden, auf die anderen Fälle übertragen lassen.46 2. Obliegenheitsverletzung Wer irgendetwas leistet, kann es, je nach der sozialen Situation, voll und ganz Sache des Empfängers der Leistung sein lassen, wie mit dem Geleisteten zu verfahren sein soll: trennende Arbeitsteilung, Regressverbot.47 So verhält es sich etwa beim Verkauf von Sachen, die keiner Handelsbeschränkung unterliegen, beim Bezahlen von Schulden, bei wahrheitsgemäßen Auskünften, die keine Geheimnisse preisgeben, etc. Es gibt aber auch Leistungen, die nach ihrer Art oder nach dem Zusammenhang, in dem sie erfolgen, auf die Möglichkeit einer deliktischen Verwendung verweisen: Waffen, nur beschränkt handelbare Gifte, aber auch Messer, die während eines handgreiflichen Streits an einen der Streitenden geleistet werden, oder das Versprechen einer Belohnung für ein noch zu begehendes Verbrechen. Hier kann sich der Leistende nicht aus dem Fortgang heraushalten: verbindende Arbeitsteilung.
45 So im Grundsatz auch Haas (Fn. 23), S. 129, freilich von seinem sehr weiten Begriff der mittelbaren Täterschaft her ohne Konsequenzen. 46 Siehe unten Fn. 50. 47 Eingehender Jakobs, Beteiligung, in: Dölling (Hg.), Jus humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für E.-J. Lampe, 2003 S. 561 ff., 563 f. und passim. – Auch ein allein Begehender baut auf einer durch Leistungen anderer gestalteten Welt auf: Trennende Arbeitsteilung. Einen „natürlich“ allein Begehenden kann es nicht geben!
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Details der Unterscheidung tun hier nichts zur Sache,48 da sie nicht spezifisch die vorgeschlagene Lösung betreffen; vielmehr wird nachfolgend eine Leistung im Vorfeld mit einem klaren Bezug auf ein Delikt unterstellt. Ob die Leistung gegen ein – vielleicht sogar strafbewehrtes – Leistungsverbot verstößt, bleibt dahingestellt; denn sie erfüllt per se nicht den Tatbestand desjenigen Delikts, in dessen Vorfeld sie erfolgt.49 Da sie aber den Sinn trägt, bei der Begehung dieses Delikts verwendet zu werden, gibt sie der Deliktsausführung, so es dazu kommt (!), einen Teil ihrer charakteristischen (nicht nur beiläufigen, akzidentiellen) Gestalt. Bei der Rückverfolgung des Delikts, bei der Suche nach seinen Gründen, landen die Rückverfolgenden zwingend auch beim Leistenden und erklären diesem, zumindest ein Charakteristikum der Ausführung stamme von ihm, rechtlich gesprochen, dieses charakteristische Merkmal und damit die gesamte Ausführung (sie lässt sich wegen der verbindenden Arbeitsteilung nicht in einzelne Stücke zerlegen) werde ihm zugerechnet. Wenn nunmehr der Leistende etwa einwendet, zur Zeit der Tatausführung habe er an die Leistung nicht mehr gedacht und, hätte er daran gedacht, sie nicht revozieren können, so wird ihm erwidert werden, trotzdem sei jedenfalls die Leistung – in einem sofort noch zu präzisierenden Sinn – verantwortlich erfolgt: Durch die Leistung bringt sich der Beteiligte in die Lage, von einem mit dem Geleisteten durch fremde Hand vollzogenen deliktischen Geschehen nicht distanziert werden zu können. Das ist zunächst „nur“ eine zu verantwortende Obliegenheitsverletzung; es besteht die Gefahr späterer Haftung. Wird das deliktische Geschehen ausgeführt, tritt die Lage des Nicht-distanziertwerden-Könnens ein; das ist Zurechenbarkeit von Unrecht (demjenigen der Haupttat!), und die Verantwortlichkeit für die Obliegenheitsverletzung wird zur Verantwortlichkeit für Unrecht und damit zur Schuld.50 48 Weitere Darstellung bei Jakobs (Fn. 47), S. 565 ff., 569 f.; siehe auch unten Fn. 65. – Mit „Tatausführung“ wird hier das gesamte Ausführungsverhalten der Ausführenden nebst Folgen bezeichnet, soweit es sich um eine Ausführung handelt. Diese Ausführung mag auch mitgestalten, wer für den Deliktserfolg nicht ursächlich wird. Dazu Jakobs, Beteiligung durch Chancen- und Risikoaddition, in: Putzke u. a. (Hg.), Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für R. D. Herzberg, 2008, S. 395 ff., 400 ff., 402; speziell zur „Kausalität“ der Beihilfe ders. (Fn. 29), S. 25. – Anders Puppe (Fn. 2), S. 154 f. und, gegen die Rechtsprechung, die wohl überwiegende Lehre; anders auch Chr. Becker, Das gemeinschaftliche Begehen und die sogenannte additive Mittäterschaft, 2009, S. 167: „Mittäterschaft (könne) bei den schlichten Erfolgsdelikten nur durch einen (mit-)ursächlichen Beitrag begründet werden.“ 49 So auch Puppe, wie Fn. 25. 50 Es liegt auf der Hand, dass sich über die Konstruktion einer Obliegenheitsverletzung (dazu Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode2, 1988, Anhang II, Lemma: Obliegenheit/Pflicht) auch die Haftung eines mit der Ausführung Beginnenden für das Verhalten des sie Beendenden erklären lässt: Er hat sich in die Lage gebracht, dafür, so es dazu kommt (!), einstehen zu müssen. – Gleichfalls lässt sich so das intrikate Problem der Zurechnung des Deliktserfolgs erledigen (dazu Jakobs [Fn. 21], 6/ 69 ff., 72 f. mit Nachweisen): Der Erfolg gehört zur Handlung, weil sich der Handelnde in die Lage begibt, ihn, so er eintritt (!), als sein Werk akzeptieren zu müssen. Wenn Armin Kaufmann (Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, in: Stratenwerth u. a.
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Der skizzierte Zusammenhang soll mit einem simplen Beispiel erläutert und erweitert werden. Der Beteiligte gibt dem späteren Täter ein nicht frei verfügbares Gift,51 und der Empfänger tötet damit das Opfer. Der Beteiligte hat eine Obliegenheit verletzt: Er hat sich in eine Lage gebracht, in der er, so es zur Eingabe des Giftes kommt (!), ein Charakteristikum der Tat und damit diese selbst zu verantworten hat. Kommt es nicht dazu, ist kein Unrecht geschehen und deshalb auch keines zurechenbar. Der Ausführende, der mit diesem Gift tötet, tötet auch für den Beteiligten, und dieser begeht die Tat durch fremde Hand.52 Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Ausführende von der Beteiligung weiß; auch wenn er etwa meint, das (für ihn vom Beteiligten bereitgestellte) Gift an dem Ort, wo es sich befindet, zufällig gefunden zu haben, ist der Beteiligte in der Ausführung „anwesend“, eben weil seine Leistung durch die Ausführung weitergeleitet wird. – Übrigens verhält sich das bei lobenswerten Werken ebenso: Wird nicht ein armes Opfer umgebracht, sondern ein Tyrann in legitimem Widerstand mit Gift „beseitigt“, so sind der Beschaffer des Gifts und der Ausführende Helden einer Unternehmung, gleichgültig was der Ausführende vom Beteiligten weiß (und wenn etwa das Beschaffen des Mittels ungleich schwieriger war als seine Applikation, liegt nicht vorab fest, der Ausführende sei der größere Held). Auch wenn die Leistungen im Vorfeld gewaltig vergrößert werden – das Opfer wird zum Tatort gelockt etc. – und Leistungen während der Ausführung hinzukommen – Retter werden am Eingreifen gehindert – würden Puppe und die weit überwiegende Lehre53 eine Mittäterschaft ablehnen, eben mangels eines gemeinsamen Tatentschlusses. Puppe argumentiert, wenn eine gegenseitige Anstiftung fehle, überlasse der Beteiligte „letztlich die Entscheidung über die Ausführung der Tat dem von ihm unbeeinflussten Willen des anderen.“54 Das dürfte zu be[Hg.], Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 393 ff., 403) ausführt, es sei „nicht ersichtlich“, warum, „wenn das Opfer lange nach der Tat . . . im Krankenhaus stirbt, sich Handlungsunrecht und Tatschuld erhöhen“ sollten, so setzt das voraus, es gebe kein verschuldetes Erfolgsunrecht (das freilich, wenn der Erfolg ausbleibt, auch nicht vorliegt). Die Schuld erhöht sich beim Erfolgseintritt, weil sich der Tatumfang vergrößert, und das ist zurechenbar, weil sich der Täter durch den Abschluss seines Verhaltens obliegenheitswidrig in die Lage gebracht hat, von einem eventuell eintretenden Erfolg nicht distanziert werden zu können. „Es ist die unspekulativste Betrachtungsweise von der Welt, wenn man zwischen Handlung und Erfolg einen Zwischenraum denkt“ (Berner, Die Lehre von der Teilnahme am Verbrechen, 1847, S. 181). – Zusammengefasst: Haftung für zukünftig Eintretendes erfolgt stets über eine Obliegenheitsverletzung. 51 Die Leistung ist also nicht neutral, ubiquitär erhältlich. 52 Siehe oben zu Haas, Text zu Fn. 44. 53 Ausnahmen: Lesch, Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 271 ff.; ders., Die Begründung mittäterschaftlicher Haftung als Moment der objektiven Zurechnung, ZStW 105 (1992), S. 271 ff., 291 f.; Derksen, Heimliche Unterstützung fremder Tatbegehung als Mittäterschaft. Zugleich ein Beitrag zur Struktur der Mittäterschaft, GA 1993, S. 163 ff., 169 ff.; Jakobs (Fn. 21), 21/43. 54 Puppe (Fn. 1), S. 920 f. – Auch Haas, der die Arbeitsteilung als Grundlage der Mittäterschaft erkennt, verlangt eine „wechselseitige (!) Repräsentation“ (Fn. 23,
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zweifeln sein: Einen Willen kann man kommunikativ beeinflussen – hier soll ja nicht bestritten werden, dass Anstiftung eine Form der Beteiligung ist –, aber ebenso durch die Gestaltung des Kontextes, in dem er sich bildet: Auch das Schaffen einer günstigen Gelegenheit beeinflusst den Willen, wenn auch unterhalb der Anstiftung. Beispielhaft, wer dem Durstigen, der zu trinken nur wünschen kann, unbemerkt ein Glas kühlen Wassers zugänglich macht, wirkt zur Willensbildung nicht weniger mit, als wenn er dem Durstigen geraten hätte, sich auf eine bestimmte Weise mit Wasser zu versorgen. Im Ergebnis ist die Mittäterschaft nur ein Phänotyp aus dem Kreis der Verhaltensweisen, durch die sich eine Person für zukünftiges Verhalten einer anderen, ihrerseits verantwortlich handelnden Person zuständig macht, so dieses Verhalten dann auch vollzogen wird. Der Akt des Sich-zuständig-Machens ist nicht schon per se Unrecht, vielmehr eine Obliegenheitsverletzung, auf Grund deren die kommende Ausführung durch fremde Hand auch eine Ausführung des Beteiligten ist. Unrecht ist also, ebenso wie beim allein Handelnden, einzig die Tatausführung (vom Versuchsbeginn an) mit ihren Folgen. Die Regeln der Akzessorietät sind in diesem Zurechnungsmodell genuin enthalten. Was die einzelnen Beteiligungsformen angeht, so unterscheiden sie sich nur quantitativ, und zwar nicht etwa nach der Quantität der Teilhabe an einer wie auch immer bestimmten Tatherrschaft, sondern nach der Quantität der Pflichtverletzung.55 Das heißt nicht, die Tatherrschaft als Herrschaft bei der Tatausführung dürfe keine Rolle spielen; wenn sie sich auf die Quantität der Pflichtverletzung bezieht, ist sie relevant. Aber man bliebe wieder im Phänotypischen stecken, wenn man das Verantwortungsmaß nur aus der Tatherrschaft herleiten würde; insbesondere die intensive Gestaltung des Geschehens durch Beiträge im Vorfeld, die eine Ausführung zum präformierten „Kinderspiel“ macht, und eine bestimmende geistige Urheberschaft müssen nicht hinter dem sprichwörtlichen „letzten Knopfdruck“ zurückstehen, und eben dieser letzte Akt mag in Einzelfällen nicht allzu schwer wiegen.
S. 115). – Bei Hoyer, in: SK-StGB7/8, 2008 wird immerhin – wie hier – auch bei einer Leistung im Vorfeld der Ausführung Mittäterschaft nicht ausgeschlossen (§ 25 Rn. 119), aber doch auf dem Erfordernis wechselseitiger Anstiftung beharrt (§ 25 Rn. 127): § 27 Abs. 2 StGB zeige, dass es „ein höheres Unrecht dar(stelle), den Tatentschluss eines anderen hervorzurufen (Anstiftung) als ihm nur zur Verwirklichung eines bereits gefassten Tatentschlusses zu verhelfen (Beihilfe . . .).“ Das ist ein einigermaßen klarer Zirkel: Dass eine Beteiligung, die im Hintergrund geleistet wird, immer nur Beihilfe sein könne, müsste erst einmal begründet werden. 55 Zur vergleichbaren völkerstrafrechtlichen Lage Vogel, Individuelle Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht. Zugleich ein Beitrag zu den Regelungsmodellen der Beteiligung, ZStW 114 (2002), S. 403 ff., 419 f.
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3. Beteiligung und „objektive Zurechnung“ Eine Beteiligungsformenlehre (falls diese nach dem Ausgeführten überhaupt noch sinnvoll möglich ist) wird hier nicht mehr entwickelt. Immerhin sollte deutlich geworden sein, dass bei einer Entwicklung nicht die Beteiligung als „verdünnte“ Einzeltäterschaft behandelt werden darf, vielmehr auf die spezifischen Verhältnisse bei (verbindender) Arbeitsteilung abzustellen ist, also auf etwas, das es bei einem allein Handelnden überhaupt nicht gibt.56 Es gilt also zu ermitteln, wer überhaupt Beteiligter ist, weil er wegen seiner Obliegenheitsverletzung für die Ausführung durch fremde Hand zuständig ist, und wer von der Ausführung distanziert werden kann (Regressverbot); dann erst ist das – in Hardwigs Formulierung57 – Positionsproblem zu lösen. Wie wird bestimmt, welches Verhalten eine Obliegenheitsverletzung ist, also für eine durch fremde Hand vollzogene Tatbestandsverwirklichung zuständig macht? Mit „Kausalität plus Vorsatz“ lässt sich ein solches Verhalten so wenig bestimmen, wie dieses Material zur Festlegung eines unerlaubt riskanten Ausführungsverhaltens hinreicht. Die zunächst auf die Erfolgszurechnung fokussierte Lehre von der objektiven Zurechnung brachte das Erfordernis mit sich, zur genaueren Bestimmung des Schutzzwecks einer Norm das verbotene (oder gebotene) Verhalten exakt herauszuarbeiten, und diese Lehre vom unerlaubten Verhalten ist mittlerweile zum Hauptgegenstand des heute nur noch missverständlich als Lehre von der objektiven Zurechnung bezeichneten Regelwerks avanciert. Puppe nennt unter der Überschrift „Sorgfaltspflicht und unerlaubte Risikoschaffung“58 neben der allgemeinen Bestimmung des unerlaubten Risikos59 den Vertrauensgrundsatz60, das Regressverbot61, das Prinzip der Selbstverantwortung62 und anderes mehr; beim hier leitenden Regelkomplex geht es um das Regressverbot: Greift es ein, so liegt keine Obliegenheitsverletzung vor; greift es nicht ein, handelt es sich um Beteiligung.
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Hardwig, Über den Begriff der Täterschaft, JZ 1965, S. 667 ff., 668. Hardwig (Fn. 56), S. 668, r. Sp. – Der allein Begehende baut – wie schon oben Fn. 47 dargelegt wurde – bei genauerer Betrachtung immer auf einer Lage auf, die von anderen gestaltet wurde: Die zu stehlende Sache wurde an den späteren Tatort gebracht, das zu tötende Opfer geht arglos zum Tatort etc. Aber das sind alles Leistungen ohne deliktischen Sinngehalt, und zwar auch dann, wenn der Leistende den deliktischen Fortgang kennt; beispielhaft, der Gärtner ist sich aus langer Erfahrung sicher, dass einige der im Vorgarten einer Villa gepflanzten Rosen demnächst gestohlen werden – keine Mitwirkung beim Diebstahl. Mit anderen Worten, solche Gestaltungen scheiden als Beteiligungen aus – Regressverbot. 58 NK2-Puppe (Fn. 3), vor § 13 Rn. 153. 59 Wie Fn. 58, Rn. 155 ff. 60 Wie Fn. 58, Rn. 162 ff. 61 Wie Fn. 58, Rn. 167 ff. 62 Wie Fn. 58, Rn. 178 ff. 57
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Welches Verhalten „Beteiligung“ bedeutet und welches nicht, wird – nicht anders als bei den Institutionen zur Bestimmung des unvermittelt unerlaubten Verhaltens – nur zum Teil gesetzlich bestimmt, nämlich nur soweit ein Leistungsverbot besteht, das (auch) dem Schutz des vom Ausführenden verletzten Opfers dient, wie es etwa bei den Verboten der Fall ist, Waffen oder Gifte an nicht besonders Berechtigte zu leisten. Insoweit wird die deliktische Bedeutung des Verhaltens gesetzlich festgeschrieben. Im verbleibenden Bereich ist – abermals nicht anders als bei unvermittelt unerlaubtem Verhalten – auf die im gesellschaftlichen Umgang gesicherten Standards abzustellen, wobei (und darauf dürfte Puppes Skepsis gegenüber einem „überpositiven Regressverbot“63 beruhen) diese Standards nie nur an einem Verhalten bestimmter Gestalt ausgerichtet sind; vielmehr wechselt die Bedeutung allen Verhaltens je nach dem Kontext. Beispielhaft, wenn der Verkäufer eines Messers, das die Gefährlichkeit geläufig angebotener Messer nicht übertrifft, an den Schandtaten, die der Käufer, wie vom Verkäufer vorausgesehen, mit dem Objekt begeht, nicht beteiligt ist, so beteiligt er sich doch, wenn er einem von mehreren aktuell bis zur Vernichtung gegeneinander Kämpfenden ein solches Messer in die Hand drückt.64 Einzelheiten sollen hier abermals zurückstehen, denn es geht einzig darum, die Parallelität der Zurechnungsvoraussetzungen bei der Beteiligung und bei der Ausführung aufzuzeigen: Diese schafft das unerlaubte Risiko einer Tatbestandsverwirklichung, jene liegt außerhalb des Regressverbots und schafft eine Obliegenheitsverletzung.65 Beispielhaft formuliert, ein in Bezug auf das Leben eines 63 NK2-Puppe (Fn. 3), vor § 13 Rn. 177. – Die Frage nach dem deliktischen (verbindende Arbeitsteilung) oder nicht deliktischem (trennende Arbeitsteilung) Sinn eines Verhaltens stellt sich nicht nur im Blick auf kommendes Verhalten anderer, sondern auch rückblickend beim zuletzt Handelnden: Geht diesen der Kontext seines Handelns, den andere zuvor geschaffen haben, jenseits der §§ 138, 323 c StGB etwas an? Beispielhaft, einen Arbeiter, der je nach Pegelstand die Schleuse zu einem Fluss zu öffnen oder zu schließen hat und nur dafür zuständig ist, gehen die vom Betriebsleiter eingemengten Schadstoffe auch dann nichts an, wenn er darum weiß (Sonderwissen; siehe unten Fn. 66 und den Text dazu). 64 Damit dürfte sich der Einwand von Puppe, NK2-Puppe (Fn. 3), vor § 13 Rn. 172, gegen die Regressverbotslehre erledigen. – Zu dieser Lehre in ihrer alten Gestalt (Straffreiheit der fahrlässigen Förderung von Vorsatztaten) zuletzt Naucke, Über das Regressverbot im Strafrecht, ZStW 76 (1964), S. 409 ff. – Seit der Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beginnt zunächst vereinzelt (Jakobs, Regressverbot beim Erfolgsdelikt, ZStW 89 [1977], S. 1 ff.) und sodann flutartig eine Auseinandersetzung mit den Arten von Arbeitsteilung, dem „Sinn“ eines Verhaltens und anderen Topoi mehr. Gründliche Nachweise bei Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten (2004); Caro John, Das erlaubte Kausieren verbotener Taten – Regressverbot (2007); Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007 (dazu Kudlich, Buchbesprechung, GA 2008, S. 740). Brauchbare „Plausibilitätsformeln“ bei Kindhäuser, Zum Begriff der Beihilfe, in: Dannecker u. a. (Hg.), Festschrift für H. Otto, 2007, S. 355 ff. mit treffender Abwertung der subjektiven Seite S. 355 ff. Kindhäusers Formeln sind freilich von der bei ihm perhorreszierten Sinnbezugsformel (S. 358 f.) nicht sonderlich weit entfernt.
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anderen unerlaubt riskantes Verhalten hat den Sinn eines Tötungsverhaltens, es bedeutet „töten“, und entsprechend hat die Hingabe einer Pistole, etwa an einen gedungenen Täter, den Sinn, in einer Tötung fortgesetzt zu werden und bedeutet „Beteiligung an einer Tötung“. Geradezu selbstverständlich taucht manche Unklarheit, die bei der Bestimmung des unerlaubten Verhaltens besteht, bei derjenigen der Beteiligung wieder auf, insbesondere das intrikate Problem der Behandlung rollenübersteigenden Sonderwissens,66 das freilich erheblich an Dramatik 65 Das dürfte im Ergebnis auch dem – nicht weiter spezifizierten – Konzept von Marlie (Fn. 23) entsprechen: Ersetzung der Tatherrschaft durch Regeln der objektiven Zurechnung (der Bestimmung des unerlaubten Verhaltens). – Die genannte Obliegenheitsverletzung ist von Vorsatz oder Fahrlässigkeit oder gar einem gemeinsamen Tatentschluss so unabhängig, wie es die anderen Institutionen der „objektiven Zurechnung“ sind. Es geht darum, ein unerlaubtes oder obliegenheitswidriges Verhalten zu bestimmen – auf die Art und das Maß der Steuerbarkeit zielt eine andere Frage (Jakobs, Beteiligung durch Chancen- und Risikoaddition [Fn. 48], S. 400 ff., 403 f. 404 ff.). Beispielhaft, wenn zwei Personen schwungvoll ein schweres Brett von einem Balkon auf die nicht abgesperrte Straße werfen, bedeutet dieses Verhalten „möglicherweise verletzen“, und zwar auch bei beidseitiger Fahrlässigkeit (in der Sache ebenso Renzikowski [Fn. 33], S. 261 ff., 282 ff., 288 ff.; ders., Die fahrlässige Mittäterschaft, in: Dannecker [Fn. 64], S. 423 ff., 429 ff., 436 ff. – jeweils bei einem restriktiven Täterbegriff; Gropp, Die fahrlässige Verwirklichung des Tatbestands einer strafbaren Handlung – miteinander oder nebeneinander. Überlegungen zur so genannten „fahrlässigen Mittäterschaft“, GA 2009, S. 265 ff., 274 ff. – bei einem extensiven Täterbegriff). – Wenn Puppe einwendet, die Gemeinsamkeit beziehe sich nur auf das Werfen eines schweren Gegenstands (Fn. 1, S. 922), so wird vorausgesetzt, was zu beweisen wäre, nämlich dass die Zusammengehörigkeit des Verhaltens verschiedener Personen nur durch einen gemeinsamen Tatentschluss und nicht auch durch eine objektive Zuordnung erfolgen könne (was im Übrigen für die Beihilfe nahezu unbestritten ist: Der Haupttäter muss nicht von ihr wissen.). – Ähnlich der Gedanke der „Einpassung“ bei van Weezel, Beteiligung bei Fahrlässigkeit. Ein Beitrag zur Verhaltenszurechnung bei gemeinsamem Handeln, 2006, S. 203 ff. und passim. 66 Die übliche Formel für seine Berücksichtigung lautet, es gehe um einen „besonnene(n) Angehörige(n) des maßgeblichen Verkehrskreises in der Lage des Täters“ (Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, 1992, S. 86 ff., 87; Hervorhebung nicht original). – Eingehende Nachweise bei Greco, Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens, ZStW 117 (2005), S. 519 ff., Fn. 6; dort S. 521 ff., 534 ff. auch Stellungnahmen zum Verhältnis von Sonderwissen und objektiver Zurechnung. – Zum Sonderwissen ablehnend bislang zuletzt Sacher, Sonderwissen und Sonderfähigkeiten in der Lehre vom Straftatbestand, 2006; dies., Systemtheorie und Strafrecht, ZStW 118 (2006), S. 575 ff., 617. Ihre Argumente „Kapitaldelikt“ (im Fall einer Tötung), „finale Steuerung des Geschehens“, „Ausschluss der Zurechnung . . . nicht akzeptabel“ sind offenbare Zirkel; das Argument „Schutzlosigkeit des Opfers“ beschreibt eine Faktenlage, aus der allein keine Rechtslage erschlossen werden kann (alle Zitate ZStW 118, S. 617). Das wegen der Bindung an psychische Fakten rechtlich notwendig Zufällige der Entscheidung wird bei Sacher deutlich, wenn sie bei „Bedarf“ vom Tun zum Unterlassen wechselt, um dann wegen Fehlens einer Garantenstellung Zurechnung verneinen zu können (Sonderwissen S. 103 f. Fn. 20). – Kindhäuser (Der subjektive Tatbestand im Verbrechensaufbau. Zugleich eine Kritik der Lehre von der objektiven Zurechnung, GA 2007, S. 447 ff., 460 ff., 462), legt zutreffend dar, der mit einem Sonderwissen ausgestattete Täter sei fähig, den Schadensverlauf zu vermeiden, begründet aber nicht, warum er ihn auch vermeiden soll, und zwar als Garant.
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verliert, wenn es von Fällen der Ermöglichung von Kapitaldelikten zu solchen der Ermöglichung mittlerer und kleiner Kriminalität heruntergefahren wird. Beispielhaft, soll wirklich wegen Beteiligung haften, wer seinem Nachbarn einen Kleinlaster zum Transport einer Waschmaschine leiht, die, wie der Verleihende ahnt oder weiß oder gar wünscht, Diebesgut ist? Die Ebene der schweren Delikte „erledigen“ die §§ 138, 323c StGB. Das Hauptargument gegen die Berücksichtigung lautet freilich: Eine Kenntnis, die man nicht haben muss oder auch nur haben sollte,67 kann nicht belasten, wenn man sie hat. III. Zusammenfassung 1. Die Tatherrschaft mehrerer bei der Tatausführung als Kriterium der Mittäterschaft erweitert zwar das Einzeltäterparadigma, verabsolutiert aber wie dieses die Ausführung und erreicht nicht die Problematik der Haftung der Vorfeldbeteiligten, insbesondere nicht den Grund dieser Haftung. 2. Die im Vorfeld Beteiligten verstoßen nicht unmittelbar gegen das Verletzungsverbot, verhalten sich aber obliegenheitswidrig dergestalt, dass sie für eine spätere Ausführung durch fremde Hand mit zuständig werden. 3. Die im Vorfeld Beteiligten stehen gegenüber den Ausführenden im Maß ihrer Pflichtverletzung nicht notwendig zurück. Deshalb ist eine Mittäterschaft auch durch Vorfeldbeteiligung möglich. Die Vorfeldbeteiligung wird mit der Ausführung nicht durch einen gemeinsamen Tatentschluss der Akteure verbunden, sondern durch ihren Sinn, in einer Ausführung fortgeführt zu werden (und diesen Sinn mag unter anderem ein gemeinsamer Tatentschluss indizieren). 4. Dem unerlaubten Risiko beim letzten Akt der Tatausführung entspricht bei allen vorangehenden Akten und also auch bei der Vorfeldbeteiligung die verbindende Arbeitsteilung mit dem zuletzt Ausführenden. Das Gegenteil dieser verbindenden Arbeitsteilung ist das Regressverbot.
67 Das Gegenteil behauptet Sacher, Sonderwissen (Fn. 66), S. 262 f.: „Das Sonderwissen muss . . . auch bei Fahrlässigkeitsdelikten zu Lasten des Täters gehen, wenn das Wissen über risikosteigernde Faktoren so aktualisiert ist, dass eine Sorgfaltspflicht zur Vermeidung rechtsverletzender Folgen entsteht.“ Woher soll die Pflicht zur Sichtung rollenübersteigender Wissenselemente (oder zur vorsorglichen Verhaltensänderung) kommen?
Anstiftung als Aufforderung zu freiverantwortlichem deliktischem Verhalten Von Jan C. Joerden I. Die Strafrechtswissenschaft bemüht sich zu Recht um möglichst klare Begriffe. Denn die Verwendung von unklaren, dunklen und daher in vielfacher Hinsicht auslegungsfähigen und -bedürftigen Begriffen ist die Kunst der Politik, die diese Kunst zudem wesentlich besser beherrscht, als es die Strafrechtswissenschaft je könnte. Die Strafrechtswissenschaft bemüht sich zudem – und wieder zu Recht – um nachvollziehbare, transparente Begründungen, die von offengelegten Voraussetzungen ausgehen und daraus argumentativ möglichst weitgehend abgesicherte Schlüsse ziehen. Im Unterschied zu mancher, auch höchstrichterlicher Rechtsprechung vermeidet es die Strafrechtswissenschaft dabei, ihre Argumente aus den unterschiedlichsten Quellen zu schöpfen, ohne darauf zu achten, ob diese Quellen überhaupt miteinander vereinbar sind. Auch in der Verwendung dunkler Begründungen sollte die Strafrechtswissenschaft nicht versuchen, mit der Rechtsprechung zu konkurrieren, da sie sich dabei mit einiger Sicherheit als unterlegen erweisen würde. Die Suche der Strafrechtswissenschaft nach klaren und transparent begründeten Begriffen stößt indes immer wieder einmal auch auf den Widerstand des positiven Rechts, das seinerseits nicht gerade dazu neigt, klare Begriffe zu verwenden. Die Strafrechtswissenschaft sollte sich davon jedoch nicht allzu sehr beeindrucken lassen, sondern zumindest versuchen, einerseits die gesetzlichen Begriffe so zu präzisieren, dass sie als möglichst klare Begriffe gelten können, und andererseits zugleich den Rückfall in eine bloß an den Gesetzeswortlaut angelehnte Kasuistik zu vermeiden. Ein strafrechtliches Feld, auf dem begriffliche Klarheit besonders schwierig zu erreichen ist, dürfte das Feld der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme und der verschiedenen Teilnahmeformen untereinander sein. Der sog. Einheitstäterbegriff kapituliert gewissermaßen vollständig vor diesem Problem, sofern dann nicht innerhalb dieses Begriffs doch wieder nach möglichst klaren (Binnen-)Differenzierungen gesucht wird. Wenn man dem Einheitstäterbegriff nicht folgen will, sieht man sich in der Verantwortung, klare Grenzziehungen zwischen den verwendeten Begriffen der Täterschafts- und Teilnahmelehre vorzuschlagen. Dies soll hier einmal mehr für den Begriff der Anstiftung versucht werden. Dabei ist mir vollkommen bewusst, dass dieser Versuch sich vor allem der Kritik des
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scharfsinnigen Erkenntnisvermögens von Ingeborg Puppe, der diese Zeilen zu ihrem Jubiläum gewidmet sind, wird stellen müssen, zumal sich die verehrte Jubilarin immer in vorbildlicher Weise für die Verwendung einer deutlichen Sprache mit klarer Begrifflichkeit engagiert und auch für den Begriff der Anstiftung wesentliche Präzisierungsarbeit geleistet hat.1 II. Die Abgrenzung der Anstiftung von anderen Formen der Beteiligung ist primär im Hinblick auf die Rechtsfiguren der sog. mittelbaren Täterschaft (§ 25 I 2. Alt. StGB) und der Beihilfe (§ 27 StGB) problematisch. Zwar soll hier die Begriffsgrenze zur Beihilfe im Vordergrund stehen, aber es sind doch vorab einige Bemerkungen zur Differenzierung zwischen Anstiftung und (vor allem: mittelbarer) Täterschaft erforderlich, da daran anknüpfend dem Anstiftungsbegriff weitere Konturen zu geben sind. Die Chance zu einer klaren Abgrenzung von Anstiftung und Täterschaft besteht wohl nur dann, wenn man Täterschaft versteht als freiverantwortliche Entscheidung zur Herbeiführung eines Erfolges und Durchführung dieser Entscheidung,2 während Anstiftung – wie andere Teilnahmeformen auch – voraussetzt, dass die freiverantwortliche Entscheidung zur Herbeiführung eines Erfolges und die Durchführung dieser Entscheidung von einer anderen Person als dem Anstifter (und zwar von dem Angestifteten) vorgenommen wird.3 Der Anstifter handelt m. a. W. „im Hintergrund“ des freiverantwortlichen Verhaltens einer anderen Person. Der mittelbare Täter handelt zwar auch „im Hintergrund“ des Verhaltens einer anderen Person (und zwar des Tatmittlers), aber nicht „im Hintergrund“ des freiverantwortlichen Verhaltens dieser Person, da sich diese gerade nicht freiverantwortlich verhält, sondern sich bei ihrem Verhalten in einem relevanten Zurechnungsdefekt befindet, der ihre Freiverantwortlichkeit ausschließt. Diese Grenzziehung ist zwar in der Strafrechtslehre im Grundsatz weitgehend Konsens, wird aber immer wieder auch in Frage gestellt, insbesondere durch die These von der Möglichkeit eines „Täters hinter dem (vollverantwortlichen) Täter“. Diese These hat unlängst auch von der Rechtsprechung Unterstützung erfahren, und zwar zunächst im Kontext des Prozesses gegen das SED-Politbüro wegen der Verantwortung für die Todesschüsse an der Mauer4 sowie – unter Einbe1 Vgl. insbes. Ingeborg Puppe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 1984, 101 ff.; dies., Was ist Anstiftung?, NStZ 2006, 424 ff. 2 Die Formulierung bezieht sich hier auf Erfolgsdelikte und muss für schlichte Tätigkeitsdelikte entsprechend abgeändert werden. 3 Dies ist natürlich nur eine Voraussetzung für den Anstiftungsbegriff; zu weiteren vgl. unten III. 4 Vgl. BGH NJW 2003, 525 ff.; hier wird der Gedanke des „Täters hinter dem Täter“ sogar auf „mittelbare Täterschaft durch Unterlassen“ bezogen.
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ziehung einer internationalrechtlichen Perspektive – durch die Verurteilung des ehemaligen peruanischen Präsidenten Fujimori5. Die Argumentation läuft dabei bekanntlich auf den Gedanken einer „Täterschaft kraft organisatorischen Machtapparats“ bzw. „kraft Organisationsherrschaft“ hinaus, wodurch ein nach Maßgabe der vorangehenden Überlegungen eigentlich nur teilnehmendes (anstiftendes) Verhalten zu einem täterschaftlichen Verhalten gleichsam aufgewertet wird, weil man meint, nur so das Verhalten der Hintermänner hinter dem freien und vollverantwortlichen Handeln der unmittelbar Tätigen in seinem Unrechtsgehalt angemessen erfassen zu können. Und dies, obwohl die Vorschrift des § 26 StGB für den Anstifter dessen Strafbarkeit „gleich einem Täter“ anordnet. Es bleibt daher letztlich nur der (rechtspolitische) Wunsch, den dirigierenden Hintermann in einem organisatorischen Machtapparat (den Mafiaboss, den Chef eines Unrechtsregimes etc.) nicht mit der vermeintlich harmloseren Etikettierung eines Anstifters statt der eines Täters davonkommen zu lassen. Dass es problematisch ist, die Bildung von Begriffen auf solche rechtspolitisch wertenden Überlegungen zu stützen, zeigt folgendes Gedankenexperiment. Angenommen der Gesetzgeber entschlösse sich – ohne die Tatbestandsfassung von § 26 StGB zu modifizieren –, die Rechtsfolge des § 26 StGB dahingehend zu ändern, dass die Anstiftung künftig schärfer bestraft wird als die Täterschaft. Man könnte (rechtspolitisch) für eine solche Gesetzesänderung etwa damit argumentieren, dass der Anstifter eine bisher nicht zu einer Tat entschlossene rechtstreue Person dazu bringe, ein Delikt zu begehen, und dieses „Verführen“ sei ein noch verwerflicheres Verhalten als das der „verführten“ Person selbst. Neben der (Mit-)Bewirkung des Erfolges jenes Deliktes sei unrechtssteigernd auch die Verstrickung eines anderen in das deliktische Geschehen zu würdigen.6 Es geht hier nicht darum zu klären, ob diese Argumentation (rechtspolitisch) zu überzeugen vermag, aber wer hätte Zweifel daran, dass die Rechtsprechung im Falle der Beurteilung des Handelns etwa eines Bandenchefs (also in Fällen, die für die Rechtsfigur eines „Täters hinter dem Täter“ in Betracht kommen) schlagartig wieder nach § 26 StGB i.V. m. der entsprechenden BT-Norm verurteilen würde? Und dies, ohne dass der Gesetzgeber den Begriff der Anstiftung auch nur in irgendeiner Weise modifiziert hätte. Diese Überlegung zeigt, dass man Begriffsklärungen (zumindest im Bereich des Tatbestandes einer Strafnorm) nicht von den angeordneten Rechtsfolgen bzw. den damit zusammenhängenden Einschätzungen der Deliktsschwere abhängig machen sollte. Die These, die die Grenze zwischen Anstiftung und mittelbarer Täterschaft durch die Antwort auf die Frage definiert, ob der unmittelbar handelnde Täter 5 Vgl. dazu die Ausgabe 11/2009 der ZiS mit Wiedergabe des Urteils und von Kommentaren dazu u. a. von Ambos, Herzberg, Jakobs, Rotsch, Roxin und F.-C. Schroeder. 6 Eine ähnliche Argumentation verfolgte früher einmal auch die sog. Schuldteilnahmetheorie; vgl. dazu etwa die Darstellung bei Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB27, Vorbem. §§ 25 ff., Rdn. 19, m.w. N.; s. a. Puppe, (Anm. 1), GA 1984, 111.
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freiverantwortlich agiert (dann Anstiftung) oder nicht (dann mittelbare Täterschaft), versucht solche Probleme zu vermeiden. Dabei bleibt natürlich klärungsbedürftig, was „freiverantwortlich“ bedeuten soll, insbesondere ob es hierfür nur auf Fragen der Handlungszurechnung (bzw. Tatbestandsmäßigkeit) oder auch auf Fragen der Schuldzurechnung ankommt. Das Gesetz hat sich bekanntlich mit der Regelung der limitierten Akzessorietät der Teilnahme insoweit nicht eindeutig entschieden, so dass es Fälle geben könnte, die beiden Kategorien (Anstiftung oder mittelbare Täterschaft) zugleich angehören. Dies ist etwa bei der Benutzung eines Schuldunfähigen zur Tatbegehung der Fall (A gibt Kind K eine Pistole, damit es den Nachbarn N erschieße). Zwar ist eigentlich (wegen der Limitierung der Akzessorietät) eine strafbare Anstiftung gegeben, und doch beansprucht auch der Begriff der mittelbaren Täterschaft hier Anwendung, weil das Kind nicht vollverantwortlich handelt. Für die Klarheit der Begriffsbildung förderlich wäre es hier, die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft auf die Fälle der Unfreiheit des Tatmittlers im Rahmen der Handlungszurechnung (Tatbestandsmäßigkeit) zu begrenzen und den übrigen Bereich für die Teilnahme (Anstiftung bzw. Beihilfe) zu reservieren. Komplementär dazu ist es natürlich auch denkbar, die Wendung „freiverantwortlich“ als volle Zurechenbarkeit (einschließlich der Schuld) zu interpretieren, womit die Möglichkeit von Anstiftung und Beihilfe zu schuldlosem, aber rechtswidrigem Verhalten entfallen und diese Beteiligungsform von der mittelbaren Täterschaft verdrängt würde. Man müsste dann allerdings auch Fälle wie den folgenden als mittelbare Täterschaft (und nicht nur als Beihilfe) des zurechnungsfähigen Hintermanns klassifizieren: A gibt dem Geisteskranken G, der einen Mitpatienten M töten will, ein Messer, mit dem G den M ersticht. Solange durch den Gesetzgeber keine Aufhebung der Limitierung der Akzessorietät der Teilnahme erfolgt, wird man sich demnach mit einer insoweit unklaren, auch auf die Begriffsbildung durchschlagenden Gesetzeslage arrangieren müssen. Umso mehr sollte man versuchen, die Grenzen der Anstiftung zu den übrigen Beteiligungsformen möglichst klar zu gestalten. III. Einer weiteren Grenzziehung bedarf es zwischen Anstiftung und Mittäterschaft. Während Mittäterschaft (nach allgemeiner Ansicht) zwingend eine arbeitsteilige Tatausführung der Mittäter erfordert, ist das bei der Anstiftung im Hinblick auf einen vergleichbaren Zusammenhang zwischen Anstifterverhalten und Verhalten des Angestifteten nicht der Fall. Auch erfordert die Anstiftung im Unterschied zur Mittäterschaft keinen gemeinsamen Tatentschluss des Anstifters und des Angestifteten. Dies zeigt sich bereits darin, dass eine völlig einseitige Kommunikation ausreichen kann, um Anstiftung zu begründen, was bei Mittäterschaft nicht ginge. Etwa so: A schreibt dem B per E-Mail, B solle C umbringen.
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B antwortet nicht und bestätigt nicht einmal den E-Mail-Empfang, sondern schreitet sogleich – motiviert allein durch die E-Mail des A – erfolgreich zur Tat. Dies dürfte (vorbehaltlich anderer begrifflicher Restriktionen) ein klarer Fall der Anstiftung sein; es ist aber offensichtlich keine Mittäterschaft begründet, weil die bloße „Einbahnstraßenkommunikation“ hier jedenfalls nicht zur Annahme eines gemeinsamen Tatentschlusses berechtigt. Deshalb vermag ich auch dem Vorschlag der Jubilarin letztlich nicht zuzustimmen, dass die Anstiftung einen „Unrechtspakt“ zwischen Anstifter und Angestiftetem erfordere.7 Denn hiermit würde m. E. die Grenze zwischen Anstiftung und Mittäterschaft allzu sehr eingeebnet. Zwar mag es so sein, dass ein Vertrag (zivilrechtlich) durch Angebot und Annahme zustande kommt. Man könnte daher auch für einen (strafrechtlichen) Pakt ähnliche Konstituierungsbedingungen annehmen. Während aber die Kontaktaufnahme des Anstifters im obigen Fall durchaus als „Angebot“ (zur Deliktsbegehung) gelten könnte, ist die bloße Befolgung dieses „Angebots“ durch den Angestifteten noch keine „Annahme des Angebots“, weil es dafür schon am Zugang einer entsprechenden Willenserklärung beim Anbietenden fehlt und dieser Zugang auch ohne Schaden für den Anstiftungsbegriff fehlen kann. Zwar könnte man die These vertreten, dann sei jener Fall eben kein Fall einer Anstiftung durch A, sondern mangels „Unrechtspakts“ nur eine (psychische) Beihilfe zur Tat des B; dabei würde indes vernachlässigt, dass es (vorausgesetztermaßen) überhaupt nur dank der Aufforderung des A zu der Tat des B gekommen ist. Sofern man es aber für einen solchen „Unrechtspakt“ auch ausreichen lässt, dass sich der Angestiftete dem Willen des Anstifters einseitig unterwirft (letztlich also keinen Pakt im eigentlichen Sinne mit ihm schließt), ist gegen diese Begriffsbestimmung nichts einzuwenden, nur dass der Ausdruck „Pakt“ dann kaum noch angemessen sein dürfte. Dies alles spricht natürlich nicht dagegen, die Mittäterschaft ihrerseits zumindest in bestimmten Fallkonstellationen als „wechselseitige Anstiftung“ (mit zusätzlicher „Arbeitsteilung“ der Mittäter bei der Tatdurchführung) zu interpretieren.8 Entscheidend ist dann aber eben die Wechselseitigkeit, die bei der Anstiftung gerade nicht erforderlich ist. Auch ist darauf hinzuweisen, dass nicht in jedem Fall der Mittäterschaft eine „wechselseitige Anstiftung“ erfolgen muss. So kann es Fälle geben, in denen der eine Mittäter sich dem Tatplan des bereits zur Tat entschlossenen anderen Mittäters (der daher als omnimodo facturus gar nicht mehr angestiftet werden kann) lediglich anschließt und auf diese Weise ein gemeinsamer Tatentschluss zustande kommt. Dies mag in der Praxis sogar die häufigere Fallgestaltung der Mittäterschaft sein.
7
Vgl. Puppe, (Anm. 1), GA 1984, insbes. S. 111 ff. Vgl. dazu auch Puppe, (Anm. 1), GA 1984, 119 Fußnote 58, allerdings auf der Basis ihres Konzepts eines „Unrechtspakts“ als entscheidendes Kriterium der Anstiftung. 8
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IV. Es bleibt die Problematik der Grenzziehung zwischen Anstiftung einerseits und anderen Formen der Beeinflussung der Entschlussfassung eines Straftäters andererseits, seien diese nun ihrerseits als Beihilfe strafbar oder sogar straflos zu stellen. Ausgangspunkt ist dabei ein wohl von recht vielen Autoren im strafrechtlichen Schrifttum geteiltes Unbehagen an der These, jede Form der „Verursachung“9 eines Tatentschlusses sei ein „Bestimmen“ im Sinne von § 26 StGB. Umstritten sind indes die Abgrenzungskriterien.10 Um insofern ein klares Abgrenzungskriterium zu gewinnen, sei hier der Vorschlag erneut zur Diskussion gestellt, den Anstiftungsbegriff auf die Fälle einer Aufforderung11 zu begrenzen.12 Dabei steht nicht so sehr dieser Ausdruck im Mittelpunkt des Interesses, sondern die damit m. E. zu verbindende Differenz zwischen zwei Sprachebenen, an der sich die Grenze des Anstiftungsbegriffs ausrichten lässt. Die These läuft darauf hinaus, dass der Anstifter (im Hinblick auf die Tatbegehung) eine vorschreibende Sprache verwendet, indem er zum Ausdruck bringt, dass die Haupttat begangen werden soll.13 Entscheidend ist demnach eine kommunikative Beeinflussung des Anstiftenden durch eine Vorschrift oder Forderung, eben durch eine 9 Genau genommen kann von „Verursachung“ eines Tatentschlusses schon deshalb keine Rede sein, weil der Tatentschluss des Angestifteten gerade freiverantwortlich gefasst und nicht vom Anstifter verursacht wird; sonst wäre er nämlich nicht frei. So bereits der Sache nach die auf Frank zurückgehende Lehre vom sog. Regressverbot; dazu näher Puppe, (Anm. 1), GA 1984, 101 ff.; s. a. Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs – Relationen und ihre Verkettungen, 1987, S. 35 ff.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 157 ff.; Diel, Das Regreßverbot als allgemeine Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1997, passim; Hruschka, ZStW 110 (1998), 581 ff.; jeweils m.w. N. 10 Vgl. etwa die Darstellungen bei Schild, NK-StGB3, 2010, § 26 Rn. 3 ff. und Kühl, Strafrecht AT6, 2008, § 20, Rn. 169 ff.; jeweils m.w. N. Siehe insbesondere auch die unterschiedlichen Stellungnahmen zur Abgrenzung von Anstiftung und Beihilfe bei Schulz, JuS 1986, 933 ff.; Hilgendorf, Jura 1996, 9 ff., Geppert, Jura 1997, 299 ff.; Heghmanns, GA 2000, 473 ff.; Krüger, JA 2008, 492 ff. 11 Vgl. Joerden, (Anm. 9), S. 119 ff. m.w. N. – Auf die Notwendigkeit einer Aufforderung als Merkmal der Anstiftung hat auch (allerdings auf der Basis einer teilweise anderen Begriffsbildung) insbesondere Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung des Anderen, 1986, S. 51 ff. hingewiesen. Ähnlich auch Roxin, in: FS Stree/Wessels, 1993, S. 365, 376 ff.; ders., LK12, 2003, § 26 Rn. 6. Vgl. weiterhin die Hinweise in den beiden nachfolgenden Fußnoten. 12 Der Vorschlag hat inzwischen sowohl (partielle) Zustimmung, insbesondere von Amelung, in: FS für F.-C. Schroeder, 2006, S. 147, insbes. S. 163 ff., und Nepomuck, Anstiftung und Tatinteresse, 2008, insbes. S. 144 ff., aber auch in Ergebnis und Begründung Ablehnung z. B. von Christmann, Zur Strafbarkeit sogenannter Tatsachenarrangements wegen Anstiftung, 1997, S. 46 ff., erfahren. 13 Vgl. auch Jakobs, AT2, 1991, 22/22: „. . . nicht die Kommunikation über die Handlungen, die man vollziehen kann, sondern die Kommunikation über Handlungen, die man vollziehen soll, gehört zur Anstiftung . . .“; s. a. Puppe, (Anm. 1), GA 1984, 113.
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Aufforderung. Keinen Anstiftungscharakter haben danach Kommunikationen mit dem (späteren) Haupttäter, die in eine nur beschreibende Sprache gefasst sind, wie dies etwa bei der bloßen Mitteilung einer Tatgelegenheit (zu weiteren Beispielen noch im Folgenden) der Fall ist. Sind hier keine vorschreibenden Sprachelemente vorhanden (natürlich können beide Sprachformen miteinander so kombiniert sein, dass eine Anstiftung jedenfalls in dem vorschreibenden Anteil der Kommunikation erkannt werden kann), so fällt diese Kommunikation aus dem Anwendungsbereich der Anstiftung heraus. Erst recht ist letzteres natürlich dann der Fall, wenn überhaupt keine (auch keine konkludenten) Kommunikationsanteile feststellbar sind (wie etwa beim bloßen Schaffen tatanreizender Situationen).14 Trennt man in dieser Weise die Fälle, in denen der Hintermann (deskriptiv) über das Sein redet, von denen, in denen er (präskriptiv) über ein Sollen (der Tatbegehung) redet, dann hat dies nicht nur den Vorteil der Trennschärfe für sich. Vielmehr lässt sich auf dieser Basis sehr viel besser als mit Hilfe anderer Konzeptionen der Anstiftung begründen, weshalb der Anstifter seine eigenständige Stellung im Kreis der Beteiligten an einer Tat hat und nicht ebenso gut von einer anderen Kategorie der Beteiligung miterfasst werden kann: Zum einen stellt sich der Anstifter mit seiner Vorschrift (d. h. mit dem von ihm formulierten Sollen) explizit gegen die staatlichen Sollensvorschriften. Letzteres tut zwar auch der Gehilfe, aber der Anstifter tut es gerade auf die Weise, dass er in der Psyche des Täters in Konkurrenz tritt zur staatlichen Sollensordnung und diese konterkariert. Folgt der Angestiftete dem Anstifter, hat er sich wirksam gegen die konkurrierende Aufforderung des Staates zur Befolgung der staatlichen Norm entschieden.15 Diese Konkurrenz der vom Anstifter gleichsam neu etablierten Sollensordnung (und sei diese auch nur auf einen einzigen Fall bezogen) mit der staatlichen Sollensordnung macht einen wesentlichen Aspekt der selbstständigen Anstifterrolle aus. Weiterhin findet diese selbstständige Rolle des Anstifters darin ihren Ausdruck, dass die von ihm in dem deliktischen Geschehen übernommene Aufgabe nicht einfach von dem Täter selbst übernommen werden könnte. Selbstverständlich kann sich ein Täter selbst zur Tat entschließen, aber er kann sich nicht selbst vorschreiben, seine Tat zu begehen. Denn einen sinnvollen Begriff von Selbstanstiftung gibt es nicht.16 Dies liegt daran, dass man nicht ohne Widerspruch zu14 Weitergehend insoweit, allerdings auf der Basis jeweils anderer Anstiftungsbegriffe, insbesondere Hilgendorf, (Anm. 10), S. 13; Christmann, (Anm. 12), passim; Heghmanns, (Anm. 10), S. 487. 15 Vgl. auch Amelung, (Anm. 12), S. 172, 177 f. 16 Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, Werke VI, Zürcher Ausgabe 1977, S. 46 formuliert eine parallele Problematik so: „,Kannst du auch wollen, was du willst!‘ – welches herauskommt, als ob das Wollen noch von einem andern, hinter ihm liegenden Wollen abhienge. Und gesetzt, diese Frage würde bejaht; so ent-
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gleich Verpflichtender und Verpflichteter sein kann.17 Denn wenn man sich selbst verpflichtet, etwas zu tun, ist man immer schon entschlossen, die Tat zu begehen, und kann sich daher nicht mehr (selbst) dazu verpflichten.18 Dies ist im Fall der Beihilfe, die auch insofern von der Anstiftung zu unterscheiden ist, anders. Denn hier lässt sich durchaus ein sinnvoller Begriff von Selbsthilfe bilden, bei der der Täter sich entweder das betreffende Tatmittel (oder andere Gegenstände) oder – im Falle intellektueller Hilfeleistung – die gewünschte Information selbst beschafft. (Dass er dazu rein faktisch manchmal nicht in der Lage sein mag, ist kein Gegeneinwand, weil sich jedenfalls ein paralleler Fall denken lässt, in dem er diese Möglichkeit hat. Einen solchen parallelen Fall gibt es bei der „Selbstanstiftung“ indes nicht19).20 Schließlich bietet schon der Wortlaut des § 26 StGB Anlass zu einer Interpretation des Anstiftungsbegriffs, wie sie hier vorgeschlagen wird. Denn ein Bestimmen zur Tat deutet auf eine vorschreibende Sprache hin, durch die bestimmt wird, was zu tun ist. Auch diese Formulierung lässt die „Konkurrenz“ der „normativen Kraft des Anstifters“ zu den (straf-)gesetzlichen Bestimmungen deutlich stände alsbald die zweite: ,Kannst du auch wollen, was du wollen willst?‘ und so würde es ins Unendliche höher hinaufgeschoben werden . . .“ 17 Allenfalls auf eine schizophrene Art, was aber gerade die Notwendigkeit von zwei Personen im Anstiftungskontext zeigt. Auch Kant, der sich ausführlich mit der Begründung von „Pflichten gegen sich selbst“ auseinandergesetzt hat (vor allem in: Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Band 6, S. 417 ff.), bezieht sich für die Begründung solcher Pflichten gleichsam auf zwei Personen, und zwar den homo phaenomenon einerseits und den homo noumenon andererseits; näher dazu im Rahmen der vorliegenden Fragestellung einer Präzisierung des Anstiftungsbegriffs Joerden, (Anm. 9), S. 128 f. 18 Hiergegen spricht auch nicht, dass der Ausdruck „Selbstverpflichtung“ durchaus gebräuchlich ist, denn auch dessen Strukturen lassen sich – wie Kant gezeigt hat – allenfalls dann aufklären, wenn man dabei zwei Personen (zumindest gedanklich) voraussetzt; vgl. Anm. 17. 19 Dagegen meint Christmann, (Anm. 12), S. 46 ff., es könne durchaus einen Fall von „Selbstanstiftung“ geben, „wenn man Anstiftung als (kausale) Hervorrufung des Tatentschlusses begreift: Der (spätere) Täter kann selbst auf eine Idee kommen, die ihn nach weiteren Überlegungen ursächlich zum Tatentschluß führt.“ (S. 48). Wie mir scheint, ist diese Argumentation jedoch nicht überzeugend. Zum einen ist nach der hier (und früher; vgl. Joerden, [Anm. 9], S. 124 ff.) vertretenen Auffassung eine Entscheidung des Täters zur Tat gerade als freie Entscheidung anzusehen und nicht als ihrerseits (etwa von einem Anstifter) „verursacht“ (vgl. Anm. 9). Zum anderen macht der von Christmann gebildete Fall auch im Übrigen nicht das deutlich, was er zeigen soll. Der dort erwähnte Täter hat sich nämlich gerade nicht selbst angestiftet. Denn das „selbst auf eine Idee kommen“ ist schon mangels Handlungsalternative gar keine Handlung, geschweige denn eine Anstiftungshandlung. Zudem fehlt dem Täter zum Zeitpunkt t1, als er auf die Idee zur Tat kommt, entweder der Anstiftervorsatz, weil er sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorstellt, dass er sich demnächst zur Tat entschließen werden wird bzw. soll, oder aber er hat diesen Anstiftervorsatz bereits, dann ist er aber selbst schon endgültig zur Tat entschlossen und jedenfalls zum Zeitpunkt t2, als er den Tatentschluss scheinbar erst fasst, schon längst ein omnimodo facturus, der bekanntlich nicht mehr angestiftet werden kann. 20 Näher zu diesen Thesen vgl. Joerden, (Anm. 9), S. 124 ff.
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werden: Nicht mehr der Gesetzgeber liefert das für den Normadressaten entscheidende Motiv für sein Verhalten, sondern stattdessen der Anstifter. Er bestimmt darüber, wie sich der Angestiftete zu verhalten hat.21 V. Mit großer Sorgfalt hat unlängst Lutz Nepomuck in seiner Kölner Dissertation Anstiftung und Tatinteresse (2008) nach einer Auseinandersetzung mit den zum Anstiftungsbegriff vertretenen Thesen die verschiedenen Fallkonstellationen möglicher Anstiftung daraufhin analysiert, ob sie unter den von ihm so bezeichneten Begriff der Anstiftung als „sanktionsbewehrte Tataufforderung oder Tataufforderung unter Ausnutzung eines Autoritäts- oder Abhängigkeitsverhältnisses“ fallen oder nicht.22 Dies kann und soll hier nicht in allen Einzelheiten rekapituliert werden. Gleichwohl werde ich die in diesem Zusammenhang wohl wichtigsten der in Betracht kommenden Fallkonstellationen noch einmal im Hinblick auf das oben unter IV. postulierte Kriterium der Aufforderung qua Kommunikation des Anstifters mit dem Angestifteten in vorschreibender Sprache Revue passieren lassen. 1. Drohen Die mit der Androhung einer (negativen) Sanktion im Weigerungsfall verknüpfte Bestimmung zum Tatentschluss ist geradezu der Prototyp der Anstiftung, sofern damit eine Aufforderung verbunden ist, ein Delikt zu begehen.23 Hier ist das „Bestimmen“ ganz analog zu dem Vorgehen des Gesetzgebers strukturiert, der ja auch (zumindest auf der Basis eines präventiv konzipierten Strafrechts) die strafrechtlichen Vorschriften mit der Androhung von (negativen) Sanktionen für den Fall ihrer Nichtbefolgung verbindet – gewissermaßen eine gesetzliche Form der Abstiftung von deliktischem Handeln bzw. der Anstiftung zu normgemäßem Verhalten. 21 Einmal mehr ist hier darauf hinzuweisen, dass es schon der Struktur der Anstiftung widersprechen würde, das „Bestimmen zur Tat“ im Sinne einer (allgemeinen) „Verursachung“ oder „Determinierung“ des Tatentschlusses zu interpretieren. Denn der Angestiftete handelt frei und entscheidet sich frei dazu, den Sollensanforderungen des Anstifters Folge zu leisten; wäre er dabei in relevanter Hinsicht unfrei, wäre er Tatmittler und der Hintermann mittelbarer Täter; vgl. oben Teil II. – Zur Interpretation des Begriffs „Bestimmen“ in § 26 StGB unter plausibler Bezugnahme auf die Formulierungen in § 30 StGB vgl. unlängst Krüger, JA 2008, 492 ff. m.w. N. 22 Nepomuck, (Anm. 12), insbes. S. 167 ff.; wegen der nachfolgend zu besprechenden Fallkonstellationen und der Diskussion ihrer Beurteilung in Literatur und Rechtsprechung beziehe ich mich ergänzend auf die umfangreichen Nachweise bei Nepomuck, a. a. O. – Zu der Arbeit von Nepomuck vgl. auch die Rezension von M.-K. Meyer, ZIS 2010, 149 ff. 23 Allerdings ist wieder die Grenze zur mittelbaren Täterschaft zu beachten; vgl. Nepomuck, (Anm. 12), S. 175 und oben Abschnitt II.
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Gedroht werden kann dabei grundsätzlich mit jeder von dem Angestifteten als negativ empfundenen Sanktion. Diese muss nicht in einer schädigenden Einwirkung bestehen, sondern kann auch im Entzug von (bisheriger) positiver Zuwendung liegen, so etwa, wenn der Anstifter indirekt damit droht, dem Angestifteten seine Achtung zu entziehen, weil dieser ein Feigling sei, sofern er die Tat nicht begehe; oder weil er dadurch die Familienehre in den Schmutz ziehe etc. Daran aber zeigt sich, dass eine (negative) Sanktion, die im Zuge der Anstiftungshandlung angedroht wird, stets ein eindeutiges Indiz dafür ist, dass hier etwas vorgeschrieben wird. Allerdings ist die Verknüpfung mit einer Sanktion keine notwendige Bedingung für eine Vorschrift, die Tat zu begehen. Die fragliche Vorschrift könnte auch die schlichte Schlussfolgerung aus einer wie auch immer ausgestalteten „Verbrechermoral“ sein, deren einziger sanktionsvergleichbarer Rest die Feststellung (und Kritik) des Normverstoßes selbst ist.24 Entscheidend ist, dass dem Angestifteten durch den Anstifter die Tatsache eines Verstoßes gegen die vom Anstifter „gesetzte“ Norm (zumindest inzident) vor Augen geführt wird, dessen er sich „schuldig“ machen würde, wenn er nicht die vom Anstifter geforderte Handlung vornimmt. Deshalb scheinen mir die von Nepomuck25 getrennt behandelten Anstiftungsformen der sanktionsbewehrten Tataufforderung einerseits und der ein Autoritätsoder Abhängigkeitsverhältnis ausnutzenden Tataufforderung andererseits Holz vom selben Stamm zu sein. Denn auch bei der Ausnutzung eines Autoritätsverhältnisses bzw. Abhängigkeitsverhältnisses wird von dem Anstifter eine der staatlichen Sollensordnung widersprechende Norm postuliert, die der Angestiftete befolgen soll. Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnis dienen dazu, dieser Normsetzung den erforderlichen Nachdruck zu verleihen. 2. Inaussichtstellen einer Belohnung Man kann eine Person auch dadurch zur Begehung einer Tat motivieren, dass man ihr eine Belohnung in Aussicht stellt. Hier besteht die mit der Begehung der Tat verknüpfte (positive) Sanktion in dem Lohn, den der Angestiftete erhält 24 So wie man sich ja auch entsprechend eine Normenordnung zumindest vorstellen kann, die auf eine Sanktionierung ganz verzichtet (unabhängig davon, wie effizient eine solche Normenordnung dann sein mag) und trotzdem ernst gemeint ist. Aus einer kantisch geprägten Perspektive betrachtet: Auch eine kategorische Aufforderung, ein Delikt zu begehen („Die Begehung dieses Delikts ist deine Pflicht, ohne wenn und aber“), wäre qua Verwendung einer vorschreibenden Sprache eine Anstiftung, selbst wenn diese kategorische Aufforderung gerade per definitionem auf eine Sanktionsandrohung verzichtet (anders als die bloß hypothetische Aufforderung: „Handle so, damit du nicht von mir bestraft wirst“, die wegen der Sanktionsandrohung auf jeden Fall eine Anstiftung darstellt). 25 Vgl. Nepomuck, (Anm. 12), S. 167 ff.
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(während bei der Drohung die mit der Nichtbegehung der Tat verknüpfte negative Sanktion die Motivationsleistung übernehmen soll). Nun mag man fragen, weshalb sowohl die Drohung mit einer negativen Sanktion als auch das Inaussichtstellen einer positiven Sanktion in derselben Weise als Anstiftungsmittel anzusehen sein sollen. Der Hinweis darauf, dass bei der Ankündigung einer Belohnung letztlich mit dem Ausbleiben dieser Belohnung im Falle der Verweigerung der Handlung gedroht werde, greift dabei allerdings zu kurz. Denn eine Drohung im eigentlichen Sinn dieses Wortes ist das schon deshalb nicht, weil das Ausbleiben der Belohnung denjenigen, der der Aufforderung nicht nachkommt, gar nicht schlechter stellt. Das beiden Formen der Sanktionsankündigung Gemeinsame ist vielmehr die Aufforderung gegenüber dem Anzustiftenden, dass dieser die Tat begehen soll. Denn auch die Inaussichtstellung einer Belohnung bedeutet gerade dies: Der Angestiftete soll die Tat begehen und der Anstifter spricht auch hier eine vorschreibende Sprache. Allerdings ist die Sollensanforderung bei der Androhung einer negativen Sanktion eine zwingende (d.h. mit Zwang verbundene) Sollensanforderung, während sie bei der Inaussichtstellung einer Belohnung (nur) eine nicht-zwingende Sollensanforderung im Sinne eines Anratens darstellt.26 Den Charakter einer Vorschrift verliert das Anraten aber nicht dadurch, dass bei ihm die Sanktion als Belohnung ausgestaltet wird. 3. Raterteilung Sofern aus einer der Tat vorangehenden Raterteilung an den Täter (zumindest konkludent) hervorgegangen ist, dass er die Tat begehen soll, ist diese Raterteilung eine Anstiftungshandlung, wie sich bereits im Wesentlichen aus den vorangehenden Überlegungen ergibt. Es gehört dazu auch die Konstellation, in der keine Belohnung in Aussicht gestellt, sondern lediglich die Begehung der Tat verbindlich empfohlen wird. Denn entscheidend für die Klassifizierung als Anstiftung ist wiederum nicht die Sanktionsbewehrung, sondern die Verwendung einer vorschreibenden Sprache. Die Bewehrung mit einer positiven oder negativen Sanktion ist – wie bereits erwähnt – lediglich ein eindeutiges Indiz für die Verwendung vorschreibender Sprache.27 26 Näher zu der parallelen Struktur des Anratens in den Fällen supererogatorischen Verhaltens siehe Hruschka/Joerden, ARSP 73 (1987), 93 ff.; Joerden, Logik im Recht2, 2010, S. 221 ff. 27 Insoweit wohl anders Nepomuck, der stets eine Sanktionsbewehrung fordert und deshalb von „qualifizierter Tataufforderung“ spricht; vgl. (Anm. 12), insbes. S. 316. Eher wie hier Jakobs, (Anm. 13). Auch Amelung, (Anm. 12), S. 167, scheint zumindest in bestimmten Fallkonstellationen eine Aufforderung i. S. v. Anstiftung auch dann annehmen zu wollen, wenn einmal keine explizite Ankündigung einer Sanktion mit der Aufforderung verbunden ist, wobei er – m. E. zu Recht – in den Vordergrund stellt, dass der Aufgeforderte erkennt, „daß er im Weigerungsfall im Dissens mit dem Auffordernden leben wird, und schon das kann ein Grund sein, wegen dieser Folge nachzugeben“ (und deshalb die angesonnene Tat zu begehen). Amelung verwendet auch die Ausdrücke
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Ganz anders dagegen ist die Erteilung eines Rates zu bewerten, der sich in beschreibender Sprache etwa auf die Tatmodalitäten bezieht. So z. B. dann, wenn der Rat erteilt wird, bei einem in Betracht kommenden Einbruch die Hintertür des Hauses aufzubrechen, oder wenn der Code einer Sicherungsvorrichtung mitgeteilt wird etc. Dies sind lediglich Beihilfehandlungen, und zwar hier im Sinne sog. intellektueller Beihilfe.28 Die Beurteilung ändert sich nur dann, wenn der Ratgeber seinen „technischen“ Rat zumindest konkludent auch mit der Aufforderung verbindet, die Tat solle begangen werden. Dies liegt in manchen Fällen zwar durchaus nahe, etwa wenn der Täter noch zögert, ob er die Tat begehen soll, und nun von dem Ratgeber einen entscheidenden Hinweis bekommt, durch dessen Befolgung die Begehung der Tat für ihn wesentlich leichter wird. Aber auch hier ist die bloße Mitteilung über die Taterleichterungsmöglichkeit als solche gerade nicht ausreichend, um die (intellektuelle) Beihilfe zur Anstiftung hoch zu stufen. Denn zwar entscheidet sich der Täter nunmehr zur Tatbegehung, aber nicht aufgrund einer Aufforderung des Ratgebers, sondern deshalb, weil sich entsprechend der Information des Ratgebers die allgemeinen Umstände der Tatbegehung zu seinen Gunsten geändert haben. Nur dann, wenn er sich gerade aufgrund der Aufforderung des Ratgebers, die Tat zu begehen, zur Tatbegehung entschließt, hat man es mit einer Anstiftung im hier vorgeschlagenen Sinn zu tun.29 Entsprechende Überlegungen gelten auch für das scheinbare Abraten. Sofern dieses Verhalten konkludent zum Ausdruck bringt, dass die Tat trotz des scheinbaren Abratens begangen werden soll, ist es Anstiftung. (Etwa so: „Ich rate dir „sanktionsträchtiger Appell“ oder auch (nur) „gegennormativer Appell“ (z. B. a. a. O., S. 177), die darauf hindeuten, dass bei der Anstiftung die Vorschrift durch den Anstifter im Vordergrund steht und nicht die Verknüpfung mit einer Sanktion. 28 Auch dann, wenn sich der Form nach die Raterteilung in einen Imperativ kleidet („Du solltest den Nachschlüssel mitnehmen“). Denn die Sollensanforderung bezieht sich hier auf die Mitnahme des Nachschlüssels, aber (zumindest mangels näherer Anhaltspunkte) nicht darauf, dass die Tat (Diebstahl) begangen werden soll. – M. E. zu eng zur Aufforderung durch „Konditionalsatz“ allerdings Nepomuck, (Anm. 12), S. 186 f., der bei einer Verwendung von Konditionalsätzen durch den Hintermann stets nur Beihilfe annimmt. Denn ein hypothetischer Imperativ „wenn du deine Frau hasst, dann bring sie doch um“, kann durchaus zum Ausdruck bringen, dass der Angesprochene die Tat begehen soll, wenn die Bedingung (Hass auf die Frau) erfüllt ist. 29 Es mag Fälle geben, in denen der potentielle Täter zögert, die ins Auge gefasste Tat zu begehen, weil er sie für zu gefährlich hält, wobei dieses „zu gefährlich“ auf der Einschätzung der Tatsituation (er fürchtet sich z. B. vor entschiedener Gegenwehr des Opfers) oder auf der Einschätzung der Verfolgung der Tat (er fürchtet sich z. B. vor einem raschen Eingreifen oder einem schnellen Fahndungserfolg der Polizei) beruhen kann. Wenn hier der Ratgeber dem Täter dessen Bedenken ausredet, weil er die Tat als relativ ungefährlich (in den bezeichneten Hinsichten) darstellt, dann ist er in der Regel Anstifter, weil er zwar einerseits deskriptiv über die Gefahrenlage spricht, aber darüber hinaus auch präskriptiv zumindest konkludent zum Ausdruck bringt, dass die Tat angesichts ihrer relativ geringen Gefährlichkeit begangen werden soll. Sofern er dies dagegen nicht zum Ausdruck bringt, weil er nur auf gefahrbegrenzende Umstände hinweist, ist er allenfalls Gehilfe.
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von dem Mord ab, weil du dann Ärger mit der Polizei bekommst“, wobei unter den Beteiligten klar ist, dass der Angestiftete sich gerade deshalb zur Tat entschließen wird, weil er sich von der Polizei nicht einschüchtern lässt und es auch gemeinsame Gesprächsbasis bei dieser Raterteilung ist, dass man sich eben von der Polizei nicht einschüchtern lässt). Auch die Erteilung eines bloßen Rechtsrates ist – wenn überhaupt strafbar – in aller Regel allenfalls Beihilfe und nicht Anstiftung. Dabei kann es etwa um einen Rechtsrat gehen, bei dem die Rechtslage (vorsätzlich) fehlerhaft dargestellt wird und der Haupttäter daher irrtümlich von einer Erlaubnis für sein geplantes Verhalten ausgeht. Dies sind Konstellationen, die angesichts der limitierten Akzessorietät der Teilnahme sowohl als Fälle mittelbarer Täterschaft angesehen werden können (vgl. oben II.) als auch als Fälle von Teilnahme in Betracht kommen (der Haupttäter handelt zwar wegen § 17 StGB bei Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums schuldlos, aber zu seiner Tat kann gleichwohl Anstiftung oder Beihilfe geleistet werden). Sofern man nicht (was näher liegt) von mittelbarer Täterschaft ausgeht, sondern Teilnahme annimmt, kommt m. E. nur Beihilfe, nicht aber Anstiftung in Betracht. Jedenfalls dann, wenn – wie hier vorausgesetzt – der Ratgeber nur (fehlerhaft) über die Rechtslage informiert, ohne zugleich zu sagen, dass die Tat begangen werden soll. Nur dann, wenn er letzteres (zumindest konkludent) hinzufügt, ist Anstiftung gegeben.30 Nichts prinzipiell anderes gilt auch, wenn ein zutreffender Rechtsrat gegeben wird. Dabei kann es insbesondere dann zu einer möglicherweise strafbaren Teilnahme kommen, wenn der Ratgeber Auskunft über das Bestehen oder die Anwendbarkeit eines Entschuldigungsgrundes gibt. So etwa im folgenden Fall: Zwei Bergsteiger sind im Hochgebirge eingeschneit; eine Rettung aus der Luft oder auf dem Landweg ist wegen anhaltend schlechten Wetters nicht möglich. Bergsteiger B1 erkundigt sich via Handy bei seinem Anwalt, ob er B2 töten dürfe, um dessen Blut zu trinken, um sich vor dem Verdursten zu retten. Der Anwalt teilt zutreffend mit, dass B 1 das nicht dürfe, er aber gem. § 35 I StGB31 entschuldigt und damit nicht bestraft werde, wenn er es gleichwohl tue. Sofern der Anwalt hier nicht sagt, dass B1 den B2 auch töten solle (weil er es straflos tun könne), ist sein Rat allenfalls bloße Beihilfe. Sofern er dagegen seine Information mit dem (vorschreibenden) Rat verknüpft, B2 nun auch zu töten, ist strukturell Anstiftung gegeben. Dabei ist es eine weitere Frage, die hier nicht näher diskutiert werden soll, ob es sich dabei in den beiden Subkonstellationen des Falles um strafbare Teilnahme handelt, d. h. ob der Anwalt die Rechtspflicht haben 30 Entsprechendes gilt dann, wenn der Ratgeber (zutreffend) mitteilt, dass eine bestimmte Handlung rechtswidrig und verboten ist, und der Täter diese Handlung (für den Ratgeber erkennbar) gerade deswegen vornimmt, weil sie verboten ist; zu einem solchen Fall vgl. Hruschka, in: JR 1984, 258, 261. 31 Es sei hier um der Argumentation willen vorausgesetzt, dass alle Voraussetzungen der Entschuldigung gem. § 35 I StGB im vorliegenden Fall gegeben sind.
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könnte, die Rechtslage falsch darzustellen, um den B1 zur Erfüllung seiner Unterlassungspflicht anzuhalten, oder ob er als Anwalt bei zutreffender Rechtsauskunft stets gerechtfertigt ist.32 4. Annahme eines Angebots zur Tatbegehung; Bitten; Wünschen; Fragen Anstiftung durch A und nicht lediglich Beihilfe zu einer Tat ist es auch, wenn B dem A vorschlägt, ihn (den B) für die Begehung einer Tat zu bezahlen oder anders zu entlohnen, und A daraufhin dieses Angebot zur Begehung der Tat annimmt. Denn – sofern man nicht davon ausgeht, dass B hier ohnehin qua omnimodo facturus nicht mehr angestiftet werden kann33 – hat der A mit der Annahme des Angebots zur Tat dem B gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass B die Tat nunmehr begehen soll. Zusammen mit der in Aussicht gestellten Belohnung ist dies auch für den B das entscheidende Motiv zur Tatbegehung. Entsprechendes gilt, wenn A den B ernsthaft bittet, eine Tat zu begehen oder dies als Wunsch äußert etc. Wieder ist – ganz unabhängig von einer Sanktion (vgl. oben) oder der Ausnutzung eines Autoritäts- oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnisses34 – von A zum Ausdruck gebracht worden, dass die Tat begangen werden soll. Auch in einer Bitte oder einem Wunsch nach Tatbegehung steckt demnach regelmäßig eine zumindest konkludente Aufforderung zur Tatbegehung. Sogar eine Frage kann je nach Kontext als Aufforderung gedeutet werden, wenn aus ihr sinngemäß hervorgeht, dass nach Auffassung des Hintermanns die Tat begangen werden soll.35 5. Hinweis auf günstige Tatgelegenheit; Tatsachenbericht; Warnung Der Hinweis auf eine günstige Tatgelegenheit (z. B.: „Herr Müller ist verreist, sein Haus steht leer“) kann eine Anstiftung sein, muss es aber nicht sein. Wenn der B den A gebeten hat, ihn über günstige Tatgelegenheiten zu informieren, liegt in einer entsprechenden Mitteilung des A keine Aufforderung im Sinne eines Sollens. Hier ist bloße Beihilfe durch Raterteilung (s. o.) gegeben. Nur dann, wenn A gegenüber B zugleich mit der Mitteilung über die günstige Tatgelegenheit zum Ausdruck bringt, dass die Tat begangen werden soll und B die Tat ge32 Näher zu dieser Frage Mallison, Rechtsauskunft als strafbare Teilnahme, 1979, S. 76 ff.; Hruschka, JR 1984, 258 ff. 33 Näher dazu Nepomuck, (Anm. 12), S. 177 ff. 34 Darauf abstellend allerdings Nepomuck, (Anm. 12), S. 183. 35 Etwa dann, wenn der Hintermann (zumindest konkludent) deutlich macht, dass er bei Nicht-Begehung der Tat den Adressaten der Frage „als Feigling“ verspotten wird. Vgl. zu einem solchen Fall BGH GA 1980, 183 f. Roxin weist zu diesem Fall allerdings mit Recht darauf hin, dass eine Frage dann keinen Aufforderungs- und damit Anstiftungscharakter hat, wenn sie nur als rein informatorisch zu deuten ist; vgl. Roxin, LK11, 2003, § 26 Rn. 58, 60; s. a. Riklin, GA 2006, 361 ff.
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rade deshalb begeht, weil A gesagt hat, dass sie begangen werden soll, ist (neben einer Beihilfe durch Rat) auch eine Anstiftung gegeben. In der Regel keine Anstiftung, sondern allenfalls Beihilfe, ist auch dann gegeben, wenn der Hintermann dem präsumtiven Täter einen bloßen Tatsachenbericht erstattet, auch wenn dieser Bericht den Täter zu seiner Tat motiviert haben mag. So in jenem bekannten Beispiel36, in dem der Hintermann dem Ehemann mitteilt, seine Ehefrau habe ihn betrogen, und der Ehemann daraufhin seine Frau tötet. Selbst wenn der Hintermann hier auf die Eifersucht als Tatmotiv spekuliert haben mag, ist er kein Anstifter,37 sofern er nicht seinen Tatsachenbericht mit der (expliziten oder zumindest konkludenten) Aufforderung verbunden hat, der Ehemann solle seine Frau töten. Dass eine Warnung von einer Drohung zu unterscheiden ist, ist schon aus anderen strafrechtlichen Kontexten bekannt. Wer eine Warnung ausspricht, schreibt sich (im Unterschied zur Drohung) selbst keinen Einfluss auf den Eintritt des Ereignisses zu, vor dem gewarnt wird. Die Ankündigung einer Sanktion für den Fall der Nicht-Begehung der angesonnenen Straftat ist daher eine Anstiftung, während die Warnung vor negativen Folgen, die nicht aus der Einflusssphäre des Warnenden kommen, keine Anstiftung darstellt, jedenfalls dann nicht, wenn man die hier vertretene These zugrunde legt, dass die Anstiftung sich gerade durch ihren Charakter als Sollensanforderung auszeichnet. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der Warnende seine Mitteilung an den präsumtiven Täter auf die Aufforderung eines Dritten bezieht (z. B.: A erinnert den B an die Androhung einer Sanktion durch D für den Fall, dass B die von D von ihm geforderte Straftat nicht ausführt). Zwar spricht hier der Warnende über eine Präskription des Dritten; diese Mitteilung erfolgt aber ihrerseits nur in einer deskriptiven Sprache („D hat von dir die Tat verlangt und dir eine Sanktion für den Fall der NichtBegehung angedroht“), denn der Warnende beschreibt nur, was der Dritte fordert. Anders liegt es nur dann, wenn der Warnende sich die Sollensanforderung des Dritten zu eigen macht („Du solltest der Forderung des D nachkommen!“), denn dann fordert er selbst (in präskriptiver Sprache) die Tat und wird damit zum Anstifter. 6. Abstiftung; Aufstiftung; Umstiftung Bei der Abstiftung bringt der Hintermann den Täter dazu, statt des eigentlich geplanten schweren Delikts ein leichteres Delikt zu begehen (Beispiel: A sagt zu 36
Vgl. F.-C. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, 1965, S. 162 ff. m.w. N. Dies gilt sogar dann, wenn er den Eifersuchtsgrund nur vortäuscht; denn auch dann hat er allein durch diese Tatsachenbehauptung noch kein Sollen der Tatbegehung zum Ausdruck gebracht. Mittelbare Täterschaft kraft Irrtumsherrschaft scheidet im Übrigen auch aus, weil nur über ein Tatmotiv getäuscht wird und dementsprechend beim Täter kein Zurechnungsdefekt gegeben ist. 37
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B, dieser solle statt des geplanten Raubes besser nur den Diebstahl ohne Raubmitteleinsatz begehen). Setzt man einmal voraus, dass es sich bei dem nunmehr begangenen Diebstahl um dasselbe Teil-Delikt handelt, das der Täter sonst mit Raubmitteln begangen hätte, ist zwar klar, dass der Täter sich für die Befolgung der Aufforderung durch den Hintermann entschieden hat. Das vom Hintermann zum Ausdruck gebrachte Sollen, dem der Täter Folge leistet, ist indes auf die Nicht-Begehung der Tat eines Raubes gerichtet; darin aber ist keine tatbestandsmäßige Anstiftung zu sehen (sondern eben nur eine Abstiftung).38 Hinsichtlich des leichteren (verwirklichten) Delikts fehlt es an einer Anstiftung durch den Hintermann, weil der Täter insofern omnimodo facturus war (sein Plan, einen Diebstahl zu begehen, steckte bereits notwendig als Minus in dem Plan, einen Raub zu begehen). Anders wäre dies nur dann, wenn der Täter auf die Vorhaltung des Hintermannes hinsichtlich des geplanten Raubes kundgibt, dass er das gesamte Vorhaben nunmehr aufgeben wolle, der Hintermann ihn dann aber dazu auffordert, den Diebstahl doch zu begehen; dann ist der Hintermann Anstifter zum Diebstahl. Bei der Aufstiftung entschließt sich der Täter wegen einer entsprechenden Aufforderung des Hintermannes zu einem schwereren Delikt als dem ursprünglich geplanten. Handelt es sich bei dem schwereren Delikt um eine Qualifikation des leichteren Delikts, kommt eine Bestrafung des Hintermannes wegen Anstiftung nur dann in Betracht, wenn der „überschießende“ Deliktsteil sich durch selbstständige Strafbarkeit auszeichnet, auf die die Teilnahmestrafbarkeit bezogen werden kann (Beispiel: A sagt dem B, dieser solle bei der Durchführung des geplanten Diebstahls Raubmittel einsetzen; hier ist Anstiftung zu § 240 StGB gegeben). Fehlt es an einer solchen selbstständigen Strafbarkeit, dann fasst der Täter seinen deliktischen Tatentschluss nicht aufgrund der Sollensanforderung des Hintermannes, sondern dies geschieht nur hinsichtlich der qualifizierenden Umstände (Beispiel: A sagt dem B, dieser solle bei seinem geplanten Diebstahl einen falschen Schlüssel verwenden; vgl. § 244 I Nr. 3 StGB). Hinsichtlich des nicht-qualifizierten Delikts war der Täter schon entschlossen, insofern also ein omnimodo facturus. Deshalb kommt es nicht zur Anstiftung wegen des leichteren Delikts und hinsichtlich des „überschießenden“ Anteils scheidet Anstiftung wegen des Fehlens der selbstständigen Deliktsqualität dieses Anteils aus.39 Von der Gestaltung des jeweiligen Falles hängt es dann noch ab, ob der Hintermann jedenfalls wegen
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Ähnlich Nepomuck, (Anm. 12), S. 311 ff. Bei der Schädigung quantifizierbarer Rechtsgüter (Eigentums- und Vermögensbeeinträchtigung, Dauer einer Freiheitsberaubung etc.) hat dies in der Regel die Konsequenz, dass der Aufstifter im Hinblick auf den von ihm zusätzlich geforderten Anteil der Rechtsgutsbeeinträchtigung (z. B. statt einen Schaden von 100 Euro einen Schaden von 300 Euro anzurichten) wegen Anstiftung haftet (im Beispiel also im Hinblick auf einen Schaden in Höhe von 200 Euro), es sei denn, der überschießende Anteil läge unterhalb der Bagatellschwelle. 39
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(psychischer) Beihilfe bestraft werden kann, weil er den Tatentschluss des Täters durch seine Forderung nach Verwirklichung der qualifizierenden Umstände insgesamt „bestärkt“ hat. Die Umstiftung unterscheidet sich von den anderen beiden zuvor besprochenen Fallgestaltungen dadurch, dass hier keine (rechtliche) Stufung zwischen den beiden in Betracht kommenden Delikten besteht, sondern eine qualitative Verschiedenheit. Wenn daher der Hintermann den Täter auffordert, statt des Delikts D1 das Delikt D2 zu begehen,40 dann ist er Anstifter im Hinblick auf Delikt D2. Dass die Begehung von Delikt D1, das vorausgesetztermaßen ein anderes Delikt ist als D2, wegen der Intervention des Umstifters unterbleibt, kann sich allenfalls im Rahmen der Voraussetzungen des § 34 StGB zu seinen Gunsten auswirken (Beispiel: A gelingt es, den B, der einen Mord begehen wollte, erfolgreich dazu aufzufordern, statt dessen eine Sachbeschädigung zu begehen).41 Dass der Täter (wohl) bereits omnimodo facturus hinsichtlich des Delikts D1 war,42 ändert nichts daran, dass eine vollständige Anstiftung zum Delikt D2 gegeben ist. Man kann allenfalls noch fragen, ob es dem Hintermann rechtlich „zugutekommen“ sollte, dass der Täter immerhin schon vor der Intervention des Hintermannes zu dem Delikt D1 entschlossen war, von dessen Begehung er dann Abstand genommen hat. Dies liegt am ehesten bei solchen Konstellationen nahe, in denen Delikt D1 und Delikt D2 – in einer aus der sog. Wahlfeststellungsdogmatik entlehnten Terminologie – „rechtsethisch und psychologisch gleichwertig“ sind bzw. bei denen eine „Identität des Unrechtskerns“ gegeben ist. Wenn daher etwa der Täter einen Diebstahl begehen wollte, aber der Hintermann ihn erfolgreich dazu auffordert, gegenüber demselben Rechtsgutsträger einen Betrug zu begehen, könnte man erwägen, die Anstiftungsstrafbarkeit des Hintermanns zu verneinen. Da man bei dieser oder ähnlichen Differenzierungen allerdings in vergleichbar problematischer Weise wie bei der sog. Wahlfeststellung die Tür für die Bildung unklarer Begriffe öffnet, erscheint eine tatbestandsbezogene Konzeption (wie für die Grundkonstellation der Umstiftung erläutert) vorzugswürdig.43
40 Wobei auch dann von Verschiedenheit auszugehen ist, wenn zwar derselbe Tatbestand erfüllt wird, aber ein anderer Rechtsgutsträger betroffen ist (A überredet den B, statt des C den D zu töten). 41 Allerdings wird zu fordern sein, dass A zunächst (vergeblich) versucht hat, den B von jedweder Deliktsbegehung abzubringen, da sonst die Gefahr nicht im Sinne von § 34 StGB als „nicht anders abwendbar“ anzusehen wäre. – Sofern von D1 und D2 derselbe Rechtsgutsträger betroffen ist, wäre an mutmaßliche Einwilligung als den dann gegenüber § 34 StGB spezielleren Rechtfertigungsgrund zu denken. 42 Man könnte dies sogar infrage stellen, weil er sich ja noch zu anderem Tun hat überreden lassen. 43 Vgl. Joecks, MüKo, 2003, § 26 Rn. 42; dagegen allerdings Nepomuck, (Anm. 12), S. 290.
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VI. Die Reihe der Anstiftungsmittel ließe sich fortsetzen, was hier aber nicht mehr ausgeführt werden kann. Die weitere Diskussion wird zeigen müssen, ob es mit dem vorgeschlagenen Begriff der Anstiftung als Aufforderung (gekennzeichnet durch die Verwendung vorschreibender Sprache) gelingen kann, die als Anstiftung strafwürdigen Verhaltensweisen von den allenfalls als Beihilfe strafwürdigen Verhaltensweisen abzuschichten. Zuzustimmen ist hierbei – trotz aller Unterschiede in den Details der Anstiftungskonzeption – jedenfalls der nachfolgenden Feststellung der Jubilarin, mit der sie eindrücklich auf die Notwendigkeit einer Präzisierung des Anstiftungsbegriffs hingewiesen hat: „[Die] Beziehung der Anstiftung zum Erfolg . . . ist im Gegensatz zur Kausalität nicht zwangsläufig und im Gegensatz zur Risikosteigerung objektiv nicht durch Wahrscheinlichkeitsregeln berechenbar. Wird diese Schwäche der Anstiftung nicht durch zusätzliche Begriffserfordernisse der Anstiftung ausgeglichen, so lässt sich deren Gleichstellung mit der Täterschaft nicht rechtfertigen; sie wäre dann allenfalls als eine besonders leichte Form der Beihilfe zu erfassen.“ 44
44 Puppe, (Anm. 1), GA 1984, 122; leicht gekürzte Wiedergabe der dortigen Passage, in der die Autorin mit solchen zusätzlichen Begriffserfordernissen allerdings nicht die Aufforderung durch den Hintermann meint, sondern den von ihr so bezeichneten „Unrechtspakt“; vgl. dazu oben III.
Überlegungen zum objektiven Zusammenhang zwischen Grunddelikt und qualifizierender Folge bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten Von Michael Kahlo I. Das bislang vorliegende wissenschaftliche Werk Ingeborg Puppes, der dieser Beitrag mit großer Hochachtung und in herzlicher Verbundenheit gewidmet ist, hat nicht zuletzt Fragen zum Gegenstand, die sich auf den das Unrecht einer Straftat mitbegründenden Zusammenhang zwischen personaler Handlung (Tun oder Unterlassen) und der durch diese bewirkten Rechtsgutsverletzung (Erfolg) beziehen. Soweit es dabei um die äußere und allgemein-normative Seite dieses Zusammenhanges, also um Kausalität und objektive Zurechnung als Merkmale strafrechtlicher Erfolgsdelikte („Verursachungstatbestände“), geht, haben ihre eindringlichen, mit großem Scharfsinn und Konsequenz vorangetriebenen Überlegungen zu dem Entwurf eines Kausalitätskonzepts geführt, das an vorangegangene Bemühungen Anderer, namentlich von Karl Engisch,1 zwar anknüpft, diese aber durch die Heranziehung zusätzlicher, insbesondere rechts- und wissenschaftstheoretischer Erkenntnisse zu untermauern und weiterzuführen unternommen hat.2 Darüber hinausgehend hat sie dieses Konzept auch für das Problem des 1 Vgl. dafür insbesondere dessen immer noch grundlegende Monographie „Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände“, Tübingen 1931. 2 Dieser Befund ist vor allem an Puppes Arbeiten zur Formel der gesetzmäßigen Bedingung, zur sog. Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung oder auch zur Kausalität der Unterlassung abzulesen; vgl. dafür neben ihren beiden Lehrbüchern „Die Erfolgszurechnung im Strafrecht – dargestellt an Beispielsfällen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung1“ (2000) und „Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung“, Band 1: Die Lehre von Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld1, 2002 (besonders S. 23–182 aus Teil 1: Die Erfolgszurechnung im Strafrecht), sowie ihrer eindringlichen Kommentierung im NK2-StGB, Band 1, 2005, Vor § 13, vor allem ihre grundlegenden Beiträge: Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), S. 863 ff.; Zurechnung und Wahrscheinlichkeit, ZStW 95 (1983), S. 287 ff.; Die Beziehung zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, ZStW 99 (1987), S. 595 ff. (Referat mit Anmerkungen, Strafrechtslehrertagung in Salzburg, Mai 1987); Kausalität, SchwZStR 107 (1990), S. 141 ff.; vgl. ferner dies., Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung – BGH NJW 1982, 292 in: JuS 1982, S. 660 ff.; dies., „Naturgesetze“ vor Gericht, JZ 1994, S. 1147 ff.; dies., Die adäquate Kausalität und der Schutzzweck der Sorgfaltsnorm, in: Bemmann-FS (1997), S. 227 ff.; dies., Brauchen wir eine Risikoerhöhungslehre?, in: Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 287 ff. – Nicht
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insbesondere von der Rechtsprechung häufig so genannten „Unmittelbarkeitszusammenhangs“3 bei den erfolgsqualifizierten Delikten und damit für ein Straftatmerkmal fruchtbar gemacht, dessen Bestimmung – über den für das Unrecht aller Verletzungserfolgstatbestände mitkonstitutiven Verursachungszusammenhang hinaus4 – insofern Überlegungen auch zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuches erfordert, als es je tatbestandsspezifisch zu begreifen sein soll. Damit ist freilich der Bereich dessen, was heute als geklärt und dementsprechend praktisch unstreitig gelten kann, schon (fast) erschöpft – ein Befund, der mittlerweile unter anderem sogar bereits die Grundsatzfrage danach hervorgerufen hat, ob die erfolgsqualifizierten Delikte sich überhaupt in das System des Strafrechts integrieren lassen.5 Gründe genug also, sich gerade anläßlich der Festschrift für Ingeborg Puppe mit dem Problem des tatbestandsspezifischen Zusammenhangs zwi-
weniger vermerkenswert sind ihre Leistungen im Zusammenhang mit der Erforschung auch anderer strafrechtswissenschaftlicher und -praktischer Probleme, namentlich des Tatvorsatzbegriffs, der Lehre von den Konkurrenzen oder der Urkundenstraftaten, deren Erträge freilich für das vorliegende Thema weniger einschlägig sind. 3 Dies gilt besonders für das erfolgsqualifizierte Delikt des § 227 StGB; vgl. dafür etwa BGH NJW 1971, 152 – „Rötzel-Fall“; BGHSt 31, 96 (99) – „Hochsitz-Fall“; BGHSt 32, 25 (28); BGH NStZ 1992, 333 (334) – „Gummihammer-Fall“; BGH NStZ 1992, 335 = BGH NJW 1992, 1708 – „Fenstersturz-Fall“; BGH NStZ 1994, 394 – „Behandlungsverweigerungs-Fall“; BGH NStZ 1997, 341 – „Herzinfarkt-Fall“; sowie BGH NStZ-RR 1998, 171 (172); siehe aus der Literatur z. B. Geilen, Unmittelbarkeit und Erfolgsqualifizierung, in: Welzel-FS (1974), S. 655; Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, GA 1972, 65 ff.; ders., Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, in: Oehler-FS (1985), S. 111 ff.; Jakobs, ZStW (Beiheft) 86 (1974), 35 ff.; Küpper, Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982; Wolter, Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, GA 1984, 443 ff.; auch Silva Sanchez, Zur strafrechtlichen Relevanz der Nicht-Unmittelbarkeit des Erfolgseintritts, GA 1990, S. 207 (208), bei und in Fn. 4 m.w. N. Von Seiten der Strafrechtslehre wird die Rede vom „Unmittelbarkeitszusammenhang“ allerdings zumeist (und wie im Folgenden sich zeigen wird: zu Recht) als zu ungenau kritisiert; vgl. für diese Kritik, neben den gerade zitierten Stimmen, zunächst Ferschl, Das Problem des unmittelbaren Zusammenhangs beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1999, sowie etwa Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 18 Rn. 8 m.w. N. und Kühl, AT6, 2008, §17a/14; MüKo-StGB1-Hardtung, 2003, § 18 Rn. 23; deutlich kritisch ferner Dencker, Zum Erfolg der Tötungsdelikte, NStZ 1992, 311 (312: „schillernder Begriff“) und Maiwald, Zurechnungsprobleme im Rahmen erfolgsqualifizierter Delikte – BGHSt 31, 96 in: JuS 1984, 439 (443: „mißglückte sprachliche Fassung“). 4 Es kann im Rahmen dieses Beitrages dahingestellt bleiben, wie dieser Zusammenhang als allgemeines Merkmal der strafrechtlichen Verletzungserfolgsdelikte beschaffen sein muß und wie er im konkreten Fall feststellbar ist; um den diesbezüglich aktuellen Erkenntnisstand habe ich mich zuletzt in meinen „Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der objektiven Zurechnungslehre im Strafrecht“ (Küper-FS [2007], S. 249 ff.) bemüht. 5 So bereits in der Überschrift der Beitrag von Paeffgen: Die erfolgsqualifizierten Delikte – eine in die allgemeine Unrechtslehre integrierbare Deliktsgruppe?, JZ 1989, 220.
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schen dem grunddeliktischen Geschehen und der qualifizierenden Folge (Erfolgsqualifikation) noch einmal näher zu befassen. Nun hat gerade die angeführte Grundsatzfrage ihren Grund allerdings nicht allein in Unklarheiten über den objektiven Zusammenhang zwischen dem Grunddelikt und der Erfolgsqualifikation, sondern sie ist veranlaßt auch durch das Problem, ob es für den Bezug des Willens zum Unrecht der Erfolgsqualifikation – vorbehaltlich strengerer Anforderungen in den Bestimmungen des Besonderen Teils – ausreichend ist, daß dieses fahrlässig bewirkt wurde, wie dies die Formulierung der Vorschrift des § 18 StGB („mindestens fahrlässig“) nahelegt, oder ob der Unrechtstypus der erfolgsqualifizierten Delikte, und sei es jedenfalls de lege ferenda, durchweg leichtfertige Begehung erfordert.6 – Dieses Problem muß hier im Folgenden aber deswegen ausgeklammert bleiben, weil es im Ansatz schon von der Voraussetzung abhängt, daß einfach fahrlässiges Handeln sich überhaupt als Kriminalunrecht begreifen läßt, wovon zwar unser gegenwärtiges Strafgesetzbuch ausgeht, wogegen aber gute unrechts- und schuldtheoretische Gründe sprechen, auch wenn diese im Rahmen dieses Festschriftbeitrages nicht angemessen zu entfalten sind.7 Die folgenden Überlegungen werden sich daher, wie schon im Titel angekündigt, ausschließlich auf den objektiven Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Grunddelikt und der Erfolgsqualifikation beschränken, und dies in ausschließlichem Hinblick auf die todeserfolgsqualifizierten Delikte.8
6 Vgl. dafür insbes. Paeffgen (Fn. 5), S. 223 ff.; ders., NK-StGB, § 18 Rn. 43 ff.; siehe auch schon Wolter, Zur Struktur der erfolgsqualifizierten Delikte, JuS 1981, 168 (177), der seinen Standpunkt allerdings später relativiert hat, vgl. ders. (Fn. 3), S. 444; überwiegend kritisch zum Leichtfertigkeitserfordernis aber die h. L., vgl. für diese statt anderer nur Engländer, Der Gefahrzusammenhang bei der Körperverletzung mit Todesfolge, GA 2008, 669 (684) m.w. N., der sich bei seiner Ablehnung allerdings nicht mit der Begründung Paeffgens (Gebot einer teleologischen Reduktion der erfolgsqualifizierten Delikte zugunsten des Täters) auseinandersetzt. – De lege ferenda für ein einheitliches Leichtfertigkeitserfordernis Küpper, Zur Entwicklung der erfolgsqualifizierten Delikte, ZStW 111 (1999), 785 (804); Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986, S. 292; Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 10 Rn. 111. 7 Näher zu diesen Gründen und damit grundlegend zur Beschränkung des Kriminalunrechts auf vorsätzlich oder schwer fahrlässig („leichtfertig“) begangene Rechtsverletzungen E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen, 1964, S. 24 ff.; Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 199 ff. und öfter; ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil1, 1997, S. 117/118 und insbes. S. 171 ff.; nahestehend Klesczewski, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2008, Rn. 194 ff.; vgl. zur Kritik der nach dem Maßstab des Schuldgrundsatzes zu weitgehenden lex lata bezüglich der Strafbarkeit fahrlässigen Handelns auch schon Art. Kaufmann, Das Schuldprinzip2, 1976, bes. S. 140 ff. 8 Diese weitere Einschränkung erscheint angesichts der „Entdeckung“ immer weiterer erfolgsqualifizierter Delikte, deren Unrechtsstruktur je eigene Besonderheiten aufweist, sachangemessen; vgl. zu solchen Delikten zuletzt nur F.-C. Schroeder, Verborgene Probleme der erfolgsqualifizierten Delikte, in: Lüderssen-FS. (2002), S. 599 ff.; zur Kritik gefährdungserfolgsqualifizierter Delikte siehe bereits Wilfried Küper, Gefährdung als Erfolgsqualifikation?, NJW 1976, 543 ff.
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Dabei sollen in einem ersten Schritt die wichtigsten Entwicklungslinien und Standpunkte der Rechtsprechung (dazu nachstehend unter II.) und der auf sie bezogenen Literatur rekonstruiert werden (dazu nachstehend unter III.). Diesen Standpunkten soll dann im zweiten Schritt die Lehre Ingeborg Puppes gegenübergestellt werden (dazu unter IV.), bevor in einem dritten, abschließenden Schritt eine positive Bestimmung des sog. Unmittelbarkeitszusammenhanges für die durch die Tötung des Opfers gekennzeichneten erfolgsqualifizierten Delikte unternommen werden soll (unter V.). II. Will man den gegenwärtigen Meinungsstand zum sog. Unmittelbarkeitszusammenhang bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten rekonstruieren, liegt es nahe, hierfür zunächst auf die Entwicklung der BGH-Rechtsprechung Bezug zu nehmen, deren Entscheidungen die gegenwärtige Bestimmung dieses Merkmals maßgeblich mitbestimmt haben, und so nicht zuletzt eine Maxime auch der Jubilarin zu befolgen, sich darum zu bemühen, den Graben zwischen Wissenschaft und Praxis möglichst zu überbrücken.9 1. Diese Entscheidungen hatten nun überwiegend Sachverhalte zum Gegenstand, in denen das Delikt der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) in Betracht kam. Gerade zu solchen Sachverhalten hat der BGH, wie schon erwähnt wurde, das problematische Merkmal denn auch in erster Linie entwickelt. Den Auftakt machten zwei von Dallinger in der MDR 1954, 150/151 berichtete Entscheidungen des BGH vom 20.10. und vom 3.12.1953. – In der Entscheidung vom 20. Oktober 1953 (1. StR 360/53) ging es dabei um einen Sachverhalt, in dem der Angeklagte dem betrunkenen Tatopfer einige Ohrfeigen gab, das daraufhin stürzte und den Tod fand. Für die Verwirklichung des § 226 StGB (damaliger Fassung) hielt es der 1. Strafsenat für maßgebend, ob das Opfer „infolge der Ohrfeigen zurückgetaumelt und gestürzt sei“, oder ob es „aus eigenem Entschluß einige Schritte zurückgegangen sei, um sich zu entfernen“ (und so weiteren Ohrfeigen zu entgehen), und dann deshalb gestürzt sei, weil es „infolge seiner Trunkenheit nicht fest auf den Beinen stand.“ Denn „in letzterem Falle (hätte) kein ursächlicher Zusammenhang im Rechtssinne zwischen den erhaltenen Ohrfeigen und dem tödlichen Sturz“ vorgelegen. Im Urteil vom 3. Dezember 1953 (4. StR 378/53) stand ein Sachverhalt zur Entscheidung, in dem der Angeklagte, der als Kapo in einem KZ tätig gewesen war, einen Gefangenen so schwer mißhandelt hatte, daß dieser, um weiteren Mißhandlungen zu entgehen, verfolgt vom Angeklagten die Flucht ergriff und dabei
9 Vgl. zu dieser Maxime Puppes deren „Einleitung“ zu ihrem AT-Lehrbuch (Fn. 2), S. 19–21.
Grunddelikt und qualifizierende Folge bei todeserfolgsqualifizierten Delikten 585
in eine Postenkette der Wachmannschaften lief, aus der heraus er ohne Anruf niedergeschossen wurde. – Nach Bejahung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Gewalttätigkeit des Angeklagten und dem Tod des Gefangenen (weil „ein vorsätzliches Tun des Verletzten . . . den Ursachenzusammenhang nur ausschließt, wenn es bewirkt, daß der Erfolg überhaupt nicht mehr auf das Verhalten des Täters zurückzuführen ist“) führte der 4. Strafsenat aus, daß die Strafschärfung des § 226 StGB voraussetze, „daß die Körperverletzung als solche, d. h. die sie unmittelbar hervorrufende Einwirkung auf den menschlichen Körper den Tod des Verletzten herbeigeführt hat“ (S. 151 unter Verweis auf RGSt 44, 137, 139 sowie auf OGHSt 2, 335). Eine Körperverletzung dieser Art habe der Angeklagte dem Gefangenen aber nicht zugefügt; vielmehr stünde der tödliche Schuß „nur im Zusammenhang mit einer äußerlich erkennbar beabsichtigten weiteren Körperverletzung.“ Diese könne jedoch, „da sie nicht mehr vollzogen wurde, strafrechtlich nur als ein Vergehen gegen § 240 oder § 241 StGB gewertet werden.“ Und gegenüber diesen Straftaten komme „die Erschwerung des § 226 StGB nicht zum Zuge.“ Es folgte die bekannte „Pistolenschlag-Entscheidung“ (BGHSt 14, 110), in dem das spätere Tatopfer den angeklagten Polizisten zunächst angegriffen hatte, von diesem aber mit dessen durchgeladener Dienstpistole durch zwei Schläge auf den Kopf abgewehrt und niedergestreckt worden war; im Anschluß daran beugte oder kniete sich der Angeklagte über den mit dem Gesicht nach unten auf der Straße Liegenden und stieß mit der Pistole nochmals gegen dessen Hinterkopf, wobei er wie zuvor schon den Zeigefinger am Abzugsbügel hatte; im Zusammenhang mit dieser Aktion löste sich ein Schuß, der den am Boden Liegenden in den Kopf traf und dessen Tod verursachte.10 – Der BGH bestätigte die erstinstanzliche Verurteilung des Angeklagten durch das Schwurgericht München II wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB damaliger Fassung) mit folgender Begründung: Der Begriff der Körperverletzung im § 226 StGB beziehe sich in erster Linie auf die (gesamte) den tödlichen Erfolg verursachende körperverletzende Tätigkeit; für die Verwirklichung des § 226 StGB komme es „deshalb darauf an, ob die Körperverletzungshandlung zum Tode des Angegriffenen geführt hat, ob also mit anderen Worten der von dem Willen, das Opfer zu verletzen, getragene und diese Verletzung im Ergebnis auch bewirkende Tätigkeitsakt zugleich auch den Tod des Opfers herbeiführte“ (S. 112); die – verglichen mit dem einfachen fahrlässigen Delikt – höhere Strafwürdigkeit des erfolgsqualifizierten Delikts sei „dadurch begründet, daß die fahrlässig herbeigeführte Todesfolge auf einer vorsätzlich begangenen, bereits für sich strafbaren
10 Ein ähnlicher Sachverhalt, bei dem es allerdings um einen Fall von Notzucht mit Todesfolge (§§ 177, 178 StGB damaliger Fassung) in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung ging, stand in BGHSt 20, 269 zur Entscheidung; vgl. dazu nachstehend unter Ziffer 4. lit. c).
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Verletzungshandlung beruhte“,11 und danach müsse gerade der zur Entscheidung stehende Sachverhalt „als bezeichnender Anwendungsfall des § 226 StGB erscheinen“ (S. 113).12 Es folgte die seither vieldiskutierte und vom BGH auch in der Folgezeit immer wieder in Bezug genommene „Rötzel-Entscheidung“ (BGH NJW 1971, 152),13 die einerseits die durch BGHSt 14, 110 vollzogene Anknüpfung des Eintritts der qualifizierenden Todesfolge an die vorsätzlich verübte Körperverletzungshandlung bestätigte, zugleich aber auch den Zusammenhang zwischen dieser Handlung und der genannten Folge im Sinne eines Unmittelbarkeitserfordernisses bestimmte, demzufolge das Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge nicht verwirklicht sei, „wenn der tödliche Ausgang letztlich erst durch das Eingreifen Dritter oder das Verhalten des Opfers selbst herbeigeführt wurde;“14 genau so lag es aber in dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, in dem der Angeklagte „im Obergeschoß des mütterlichen Hauses“ das Tatopfer, eine Hausgehilfin, tätlich angegriffen und diesem „eine tiefe Oberarmwunde und einen Nasenbeinbruch“ beigebracht hatte, weswegen die verängstigte Frau durch das Fenster ihres Zimmers vor den fortdauernden Angriffen des Angeklagten auf einen Balkon zu flüchten versuchte, dabei abstürzte und sich infolge dieses Absturzes tödlich verletzte. Der BGH hob die erstinstanzliche Verurteilung durch das Schwurgericht Krefeld wegen Körperverletzung mit Todesfolge unter Verweis auf das Unmittelbarkeitserfordernis mit der Begründung auf, wegen des unmittelbar todesursächlichen Opferverhaltens (Flucht vor fortdauernden Angriffen) fehle es an der vom Tatbestand des (damaligen) § 226 StGB geforderten „engeren Beziehung zwischen der Körperverletzungshandlung und dem tödlichen Erfolg“; im Tod des Opfers habe sich somit die der Körperverletzung anhaftende spezifische Gefahr des Eintritts der qualifizierenden Folge nicht realisiert.15 11 Dieser Gedanke wurde in der Folgezeit nicht nur durch die Rechtsprechung, etwa durch BGH MDR 1982, 102 (103), wiederholt bestätigt, sondern findet sich auch in der Literatur, so etwa bei Jakobs, AT2, 1991, Rn. 9/33 und Klesczewski, aaO. Fn. 7, Rn. 237. 12 Zustimmend Wessels/Hettinger, BT/133, 2009, § 5 Rn. 300; NK-Paeffgen, StGB, § 18 Rn. 57; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte, aaO. Fn. 6, S. 218; ders., BT II10, 2009, § 16 Rn. 11; ablehnend dagegen etwa Geilen, aaO. Fn. 3, S. 667 und 677 f.; LK11-Hirsch, StGB, 1992–2003, § 226 Rn. 5; Küpper (Fn. 3), S. 85 ff., auch schon S. 1 f.; Puppe, Erfolgszurechnung ( Fn. 2), S. 215 ff.; dies., AT (Fn. 2), S. 201 ff., bes. S. 203; Roxin, AT I (Fn. 6), § 10 Rn. 116. 13 Vgl. zu dieser Entscheidung etwa die Urteilsanm. von Schröder, JR 1971, 206 und die Besprechungen von Rengier, Opfer- und Drittverhalten als zurechnungsausschließende Faktoren bei § 226 StGB, Jura 1986, 143 (144) und Mitsch, Sturz aus dem Fenster, Jura 1993, 18 (19), sowie vor allem Puppe, Erfolgszurechnung, aaO. Fn. 2, S. 204; dies., Strafrecht AT, aaO. Fn. 2, S. 191. 14 Ausdrücklich bestätigt durch BGH MDR 1982, 102 (103). 15 So BGH NJW 1971, 152 (153) unter Hinweis auf den Beitrag von Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt als Gefährdungsdelikt, ZStW 69 (1957), S. 503 (513); das Unmittelbarkeitserfordernis behandelt Oehler (dessen Beitrag im übrigen im Rahmen
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Trotz dieser Einschränkung des objektiven Unrechtstatbestandes wurde Körperverletzung mit Todesfolge dann aber unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung des LG Darmstadt im sog. „Hochsitz-Fall“ (BGHSt 31, 96)16 bejaht, in dem der Angeklagte, offenbar ohne Tötungsvorsatz, den Hochsitz umgeworfen hatte, auf dem sein Onkel, das später verstorbene Tatopfer, in 3,50 m Höhe saß; das Opfer trug jedoch infolge seines Absturzes keine lebensgefährlich Körperverletzung davon, sondern „lediglich“ eine Sprunggelenkfraktur am rechten Knöchel; im Zusammenhang mit deren operativer Behandlung im Krankenhaus wurden dem Verletzten aber entgegen der medizinischen lex artis weder blutverflüssigende Mittel gegeben, noch waren ihm bei seiner Entlassung aus dem Hospital Anweisungen für sein Verhalten zu Hause erteilt worden; auch eine Nachbehandlung fand nicht statt. In Folge dessen verstarb das Opfer schließlich an einem Herz-Kreislauf-Versagen, das durch das Zusammenwirken einer doppelseitigen Lungenembolie mit einer herdförmigen Lungenentzündung in beiden Lungenunterlappen bedingt war, wobei beide Erkrankungen „sich in Abhängigkeit zu dem verletzungsbedingten längeren Krankenlager“ zu Hause entwickelt hatten. – Die Begründung der jedenfalls nach den zum „Rötzel-Fall“ aufgestellten Erfordernissen im Ergebnis überraschenden Entscheidung knüpft wiederum an die Körperverletzungshandlung (hier: das Umstürzen des Hochsitzes) an und hält darüber hinaus ausdrücklich auch an dem Unmittelbarkeitserfordernis fest, hält dieses aber im entschiedenen Fall (und überhaupt) immer schon dann für gegeben, wenn „der Körperverletzungshandlung das Risiko eines tödlichen Ausgangs anhaftet und sich dann dieses dem Handeln des Täters eigentümliche Risiko im Eintritt des Todes verwirklicht“, wobei eine solche Verwirklichung auch dann schon anzunehmen sei, wenn der Tod nach einem zunächst für sich genommen nicht lebensgefährlichen Körperverletzungserfolg erst „infolge des Hinzutretens besonderer Umstände“ (im Fall: der pflichtwidrigen Versäumnisse der das Opfer behandelnden Ärzte) eintrete, sofern diese Umstände nur „nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit“ lägen (S. 99, 100).17
von dessen Lehre der objektiven Bezweckbarkeit als einer Ausformung der Theorie der objektiven Zurechnung zu interpretieren gewesen wäre) freilich nicht an der zitierten Stelle, sondern zwei Seiten weiter (aaO., S. 515), wo festgestellt wird, daß die durch das vorsätzlich verübte Grunddelikt geschaffene Gefahr sich „nie auf Verletzungen (erstreckt), die anläßlich der vorsätzlichen Handlung mittelbar entstehen“ (kursiv nicht im Original), wie dies etwa der Fall sei, wenn „der Krankenwagen mit dem Verletzten infolge eines Verkehrsunglücks umgeworfen wird und der Verletzte dadurch zu Tode kommt.“ 16 Vgl. zu dieser Entscheidung zunächst Puppe, NStZ 1983, 22 sowie die weiteren Urteilsanm. von Hirsch, JR 1983, 78; Küpper, JA 1983, 229; Schlapp, StV 1983, 62; Stree, JZ 1983, 75 und den Besprechungsaufsatz von Maiwald (Fn. 3). 17 Damit dürfte freilich jedenfalls die zur Begründung der „Rötzel-Entscheidung“ in Anspruch genommene Lebensgefährdungs-Konzeption Oehlers (vgl. Fn. 15) verlassen sein.
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In ausdrücklichem Anschluß an BGHSt 31, 96 verneinte jedoch kurze Zeit später BGHSt 32, 25 ein Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge in einem Fall, in dem das Tatopfer – ein Gastwirt, der durch eine laute nächtliche Unterhaltung einer Personengruppe auf der Straße gestört wurde und dieser Gruppe, zu der auch der Angeklagte gehörte, zurief, sie solle endlich ruhig sein, sonst hole er die Polizei – an schweren Kopfverletzungen starb, die ihm wie folgt beigebracht wurden: Zunächst durch einen kräftigen Faustschlag des Angeklagten gegen seinen Kopf, durch den es „mit dem Schädel auf die Asphaltdecke“ der Straße aufschlug und sich ein „Bruchzentrum oberhalb des Hinterhauptbeines“ zuzog, sodann dadurch, daß ihm anschließend, am Boden liegend, entweder der Angeklagte oder eine weitere Person „mindestens einmal . . . mit großer Wucht gegen den Kopf“ trat, wodurch ein „Einbruch des Schädeldachs im Bereich der rechten Schläfe“ verursacht wurde; dabei „konnte nicht festgestellt werden, ob einer der beiden Schädelbrüche für sich allein todesursächlich war oder beide erst im Zusammenwirken zum Tod des Opfers geführt haben“ (S. 26, 27). Unter Anwendung des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“ – d. h. aufgrund der Annahmen, daß die durch den Fußtritt bewirkte Verletzung die alleinige Todesursache war und daß diese Ursache nicht von dem Angeklagten verwirklicht wurde – begründete der BGH seine das Urteil des LG Darmstadt insoweit bestätigende Ablehnung einer Körperverletzung mit Todesfolge damit, daß „der Tod des Verletzten nicht unmittelbar »durch« die Körperverletzung, sondern erst durch das Eingreifen eines Dritten herbeigeführt worden“ sei, so daß es am erforderlichen Unmittelbarkeitszusammenhang fehle; dieser werde auch nicht dadurch begründet, daß „auch der vom Angeklagten ausgeteilte Faustschlag lebensgefährlich war“, denn diese Gefahr habe sich im tödlichen Ausgang nicht realisiert (S. 28). Dagegen wurde ein „unmittelbarer (Gefahrverwirklichungs-)Zusammenhang . . . zwischen den Gewalthandlungen des Angeklagten und dem Todeseintritt (des Opfers) trotz des Eingreifens eines Dritten“ im sog. „Gummihammer-Fall“ (BGH NStZ 1992, 333)18 bejaht, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Der Angeklagte schlug dem Tatopfer ohne Tötungsvorsatz „im Verlauf eines zunächst nur mit Worten, später aber handgreiflich geführten Streits . . . mit einem 550 g 18 Vgl. zu dieser Entscheidung zunächst wiederum die ablehnende Besprechung von Puppe, JR 1992, 511 sowie die Beiträge von Dencker, Zum Erfolg der Tötungsdelikte, NStZ 1992, 311 (der dem Urteil mit der Maßgabe des Vorschlags zustimmt, den strafrechtlichen Begriff des Todes im Sinne der Tötungsdelikte dahingehend neu zu bestimmen, daß unter dem „Todeserfolg“ auch schon ein Zustand zu verstehen ist, in dem eine Person zwar noch am Leben ist, jedoch bei bereits eingetretener dauerhafter Bewußtlosigkeit unheilbare schwere Hirnverletzungen aufweist, die zwangsläufig zum endgültigen Erlöschen der gesamten Hirntätigkeit („Hirntod“) binnen kurzer Zeit führen, vgl. aaO., S. 313 ff.); Otto, JK 95, StGB, § 226/6; und Pütz, Strafrecht-BT: Die Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen Körperverletzung und Todesfolge, JA 1993, 285; siehe ferner Joerden, Tod schon bei „alsbaldigem“ Eintritt des Hirntodes? – Anmerkung zu einer These von Dencker, NStZ 1993, 268.
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schweren Hartgummihammer . . . wiederholt so heftig auf den Kopf, daß dieses zu Boden stürzte, bewußtlos liegenblieb und vom Angeklagten für tot gehalten wurde.“ Tatsächlich lebte das Opfer aber noch, hatte allerdings durch die Hammerschläge derart massive, unheilbare Schädelverletzungen erlitten, daß der (bewußtlose) Verletzte allenfalls noch wenige Stunden zu leben hatte. Sein Vetter, dem der Angeklagte kurz darauf von dem Vorfall berichtete, glaubte ihm nicht und ließ sich deswegen vom Angeklagten den Schlüssel zur Wohnung des Verletzten zu dem Zweck aushändigen, sich vom Wahrheitsgehalt der Schilderung zu überzeugen. In dieser Wohnung hängte er „das tödlich verletzte, aber noch lebende Tatopfer“ schließlich an einer Türklinke auf, vorgeblich, um einen Suizid des Opfers vorzutäuschen.19 – Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ging der BGH gemäß dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ davon aus, „daß es allein die Strangulation war, die unmittelbar zum Tode führte“, hielt „die Verletzungen durch die Hammerschläge“ jedoch gleichwohl für „ursächlich im Sinne der Bedingungslehre“ und bestätigte die durch das Bezirksgericht Dresden ausgesprochene Verurteilung des Angeklagten aus der (§ 226 Abs. 1 StGB entsprechenden) Strafvorschrift des § 117 StGB-DDR, wobei er auch vom Vorliegen des Unmittelbarkeitszusammenhangs zwischen den Schlägen und der Todesfolge ausging. Zur Begründung dieser Annahme verwies er dabei insbesondere auf zwei Gesichtspunkte: Zum einen hätten die Hammerschläge des Angeklagten „bereits zum Beginn des Sterbens geführt“, so daß für das Tatopfer „lediglich eine Überlebenszeit von wenigen Stunden . . . nicht auszuschließen (war)“, weswegen die spezifische Todesgefahr durch das Eingreifen des Dritten nicht erst geschaffen, sondern lediglich in ihrer Realisierung beschleunigt worden sei; zum anderen habe der Vetter des Angeklagten als eingreifender Dritter angenommen, „das Opfer sei durch den Angeklagten bereits getötet worden“, und sei deshalb nicht autonom im Sinne der Vornahme einer fahrlässigen oder vorsätzlichen Handlung tätig geworden, sondern allein zum Zweck der Tatverdeckung und damit im Interesse des Angeklagten, „gleichsam an dessen Stelle“.20 19 In ihrer gerade (Fn. 18) angeführten Urteilsanmerkung hat Puppe zu Recht darauf hingewiesen, daß dieses Motiv angesichts der schweren Schädelverletzungen des Opfers unglaubhaft ist. 20 Die Argumentation des BGH verkennt freilich, daß die Handlung des Vetters – gerade weil sie den Eintritt des Todes beschleunigt, die Lebenszeit des Tatopfers also verkürzt hat – als Tötungshandlung eines dazwischentretenden Dritten zu beurteilen ist, die dem Angeklagten nicht schon deshalb als eigene Handlung zuzurechnen ist, weil sie in dessen Interesse vorgenommen wurde. – Der im Hinblick auf § 18 StGB ergänzend angeführte Vergleich mit den „dolus-generalis-Fällen“ (aaO., S. 335) betrifft dagegen die subjektive Seite. Allerdings zeigt gerade dieser Vergleich, wie unangemessen die – auf das „Endergebnis“ des Kausalverlaufs beschränkte und dabei allein auf das Kriterium „des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorhersehbaren“ gestützte – Beurteilung dieser Fälle als unwesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf ist: Soll es (hier in einem „Dreipersonenverhältnis“) wirklich „unwesentlich“ sein, daß ein autonom handelnder Dritter durch sein fahrlässiges Tun den Tod des Opfers in einem anderen Rechtsverhältnis unmittelbar bewirkt? Vgl. zur Kritik der h. M. (auch schon für
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Nicht um das Eingreifen fahrlässig handelnder Dritter, sondern (wiederum) um das Verhalten des Verletzten selbst ging es im sog. „Fenstersturz-Fall“ (BGH NStZ 1992, 335 = NJW 1992, 1708),21 in dem die Angeklagten das Tatopfer in einer im 10. Stockwerk gelegenen Wohnung eine halbe Stunde lang schwer mißhandelten (kraftvolle Schläge mit einem Besenstiel auf die Stirn, „was zu einer stark blutenden Platzwunde, einer Schädelprellung und wahrscheinlich auch zu einem Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades führte“; „mehrere Faustschläge und Tritte, auch gegen den Kopf, die weitere Verletzungen hervorriefen“; kraftvoller Schlag mit einem Baseballschläger gegen das rechte Schienbein); als die Täter ihre Aktionen unterbrachen und dem Opfer gestatteten, das Fenster zu öffnen, um frische Luft zu schnappen, ließ sich dieses infolge Panik und völligen Verlusts der Selbstkontrolle aus dem Fenster fallen; sein Sturz aus 27 m Höhe war tödlich. – Der BGH bestätigte die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch das LG Berlin in ausdrücklicher Abgrenzung zum „Rötzel-Fall“ deswegen, weil das den Tod vermittelnde „Handeln des Verletzten . . . in der konkreten Situation wiederum Folge einer den vorausgegangenen Körperverletzungen eigentümlichen Gefahr“ gewesen sei. Begründet wird dies damit, daß das Opfer als Folge der erlittenen körperverletzenden Handlungen „benommen war und an Bewußtseinsstörungen litt“, weswegen „seine Fähigkeit zu klaren Denkabläufen und folgerichtigem Handeln beeinträchtigt“ gewesen sei. Aufgrund dessen sei die Panikreaktion des Opfers „die naheliegende, spezifische Folge einer Paniksituation (gewesen), die durch die konkrete Mißhandlung körperlich und psychisch hervorgerufen wurde mit der Folge, daß kein eigenverantwortliches Handeln des Verletzten als selbständige Ursache für die Todesfolge dazwischentrat“ (S. 336). Ebenfalls um die Bedeutung selbstschädigenden Handelns des Opfers selbst ging es im „Behandlungsverweigerungs-Fall“ (BGH NStZ 1994, 394), in dem der BGH die Verurteilung der Angeklagten durch das LG Leipzig wegen Körperverletzung mit Todesfolge für einen Sachverhalt bestätigte, in dem die Angeklagten das Opfer, eine alkoholkranke Frau, so schwer mißhandelten (drei Schläge „mit voller Wucht mit der Faust gegen den Kopf“; mehrfache Schläge „mit einer Schöpfkelle mit Wucht als auch mindestens dreimal mit der offenen Hand mit voller Kraft gegen den Kopf“; vielfache Schläge „mit Fäusten gegen Rumpf, Beine und Arme“; „weitere verletzende und demütigende Handlungen“; sowie zuletzt „Brechen des rechten Unterarmes“), daß diese in ein Krankenhaus geZweipersonenverhältnisse, zu denen die „dolus-generalis-Rechtsprechung“ entwickelt worden ist) die nach wie vor richtungsweisenden eindringlichen Überlegungen von Maiwald, Der „dolus generalis“ – Ein Beitrag zur Lehre von der Zurechnung, ZStW 78 (1966), 30 ff. und Hettinger, Der sog. dolus generalis: Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf“?, in: Spendel-FS (1992), S. 237 ff. 21 Vgl. zu dieser Entscheidung die Besprechungen von Graul, StV 1993, 73 und Mitsch, aaO. Fn. 13; ferner Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 213 ff.; dies., AT (Fn. 2), S. 199 ff.
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bracht wurde, wo sie untersucht und ihr mitgeteilt wurde, „daß sie stationär behandelt werden müsse, da Lebensgefahr bestehe“. Entgegen diesem ärztlichen Rat kehrte die Frau „nach Durchführung diagnostischer Maßnahmen und Eingipsung ihres gebrochenen Armes sowie einer Belehrung über die Gefahren des Behandlungsabbruchs in ihre Wohnung zurück, um dort weiter zu trinken. 3 Tage später wurde sie in ein Krankenhaus eingeliefert, wo sie alsbald an den Folgen einer zentralen Lähmung verstarb, die von einer durch wuchtige Faustschläge gegen ihren Kopf verursachten Blutung unter der Hirnhaut ausgelöst worden war.“ Bei stationärer Behandlung anläßlich ihres ersten Krankenhausbesuchs wäre die Frau gerettet worden. – Der BGH bejahte den „erforderlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Körperverletzung und Todesfolge“ mit der Begründung, daß die Angeklagten Handlungen begangen haben, „die für das Opfer das Risiko eines tödlichen Ausgangs in sich bargen,“ so daß sich in dem Tod der Frau „die dem Grundtatbestand anhaftende eigentümliche Gefahr . . . auch niedergeschlagen“ (habe). Insbesondere sei der Unmittelbarkeitszusammenhang „nicht durch die Weigerung der Inanspruchnahme erforderlicher ärztlicher Hilfe unterbrochen worden,“ weil nämlich der Tod der Verletzten auf Grund eines Geschehensablaufs eingetreten sei, der angesichts der Alkoholkrankheit und der schweren Verletzungen nicht außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit gelegen habe. In der Entscheidung BGH NStZ 1995, 287 stand zwar die Frage nach der individuellen Vorhersehbarkeit der Todesfolge für die stark alkoholisierten Angeklagten im Vordergrund, aber es wird in diesem Zusammenhang, angesichts der schweren dem Opfer zugefügten Faustschläge gegen den Kopf, der Blick auch auf das objektive Unrecht des § 226 StGB gerichtet und diesbezüglich der Standpunkt wiederholt, es reiche für den Tatbestand aus, „daß der Körperverletzungshandlung das Risiko eines tödlichen Ausgangs anhaftet und sich dann dieses, dem Handeln des Täters eigentümliche Risiko im Eintritt des Todes verwirklicht“ (S. 288). Dieser Standpunkt lag auch der „1. Herzinfarkt-Entscheidung“ des BGH (NStZ 1997, 341)22 zugrunde, in dem die Angeklagten auf das 63-jährige Tatopfer durch Körperverletzungshandlungen, die „ohne weiteres zum Tod des Opfers führen konnten und in zahlreichen Fällen auch schon zum Tod geführt haben“ – mitgeteilt wurden Faustschläge und Fußtritte, die unter anderem eine Nasenbeinfraktur, eine Unterblutung des Kehlkopfes, einen Trommelfelldefekt, diverse Hämatome (im Bereich des linken Auges, am oberen Thorax, an Rücken und Bauch sowie an der Innenseite des rechten Oberschenkels) und ausgeprägte Druckschmerzen (im Bereich des Brustmuskels links und im Bereich des rechten Rippenbogens) bewirkt hatten –, derart gewalttätig eingewirkt hatten, daß die Gewalttätigkeiten „zu einer besonderen psychischen Belastung und zu einer Über22 Siehe zu dieser Entscheidung Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 218; dies., AT (Fn. 2), S. 203 ff.
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ängstlichkeit des Geschädigten, zu einer Beschleunigung des Pulses und Überbelastung des Herzens“ führten, in deren Folge der Verletzte schließlich binnen drei Wochen zwei Herzinfarkte erlitt, von denen der zweite tödlich war. – Dabei stützte der BGH, unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung des LG Zwickau, die Annahme einer Körperverletzung mit Todesfolge und damit auch des Unmittelbarkeitszusammenhanges darauf, daß sich in dem Herztod des Opfers deshalb „die dem Grundtatbestand des § 223 StGB anhaftende Gefahr . . . niedergeschlagen“ habe, weil „die Ursachen für beide Herzinfarkte durch die Körperverletzungshandlungen gesetzt worden“ sind und der Eintritt des Todes „aufgrund eines Geschehensablaufs eingetreten (ist), der nicht außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit lag.“ Dagegen hat BGH NStZ-RR 1998, 171 die geforderte „engere Beziehung zwischen der Körperverletzung und dem tödlichen Erfolg“ für einen Fall verneint, in dem „der Angeklagte und sein Mittäter das Opfer (zunächst) zu Boden geschlagen und . . . anschließend ohne Tötungsvorsatz mit festen Schuhen so gegen Kopf und Rumpf getreten (hatten), daß es regungslos liegenblieb, bevor sie es – nach Prüfung der Halsschlagader in der irrigen Vorstellung, der Verletzte sei bereits tot – zur Tatverdeckung in einen Fluß warfen, wo es ertrunken ist. In dem Tod durch Ertrinken habe sich nämlich „nicht eine der vorangegangenen Körperverletzung anhaftende und ihr eigentümliche Gefahr“ verwirklicht.23 Bejaht wurde der Unmittelbarkeitszusammenhang schließlich – unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung des LG Cottbus – im Rahmen der Annahme eines erfolgsqualifizierten Versuchs der Körperverletzung mit Todesfolge von BGHSt 48, 34 („Gubener Verfolgungsjagd“)24 für einen Sachverhalt, in dem der Tod des Opfers – wie insbesondere im „Rötzel-“ und im „Fenstersturz-Fall“ – unmittelbar durch dessen eigenes Handeln vermittelt wurde, durch das es sich weiteren körperverletzenden Gewalttätigkeiten zu entziehen versuchte:25 Die elf 23 Zur Bestätigung dieses Ergebnisses verweist der 1. Strafsenat dabei auch auf die Entscheidungen BGHSt 10, 208 (wo ein Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge, dessen Erörterung nach dem Sachverhalt nahegelegen hätte, gar nicht erwogen wurde) und BGH StV 1993, 75 = NStZ 1992, 333 („Gummihammer-Fall“); vgl. zu dieser Entscheidung die Besprechung von Otto, JK 98, StGB, § 226 a. F./8. 24 Die Entscheidung BGH NStZ 2000, 29 behandelt nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 227 StGB, sondern dessen Konkurrenzverhältnis (Tateinheit) zum Totschlag durch Unterlassen. 25 Vgl. zu dieser Entscheidung insbesondere Engländer (Fn. 6) (Ablehnung eines Versuchs der Körperverletzung mit Todesfolge wegen fehlenden unmittelbaren Ansetzens zu einer Handlung der gefährlichen Körperverletzung i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB); Hardtung, NStZ 2003, 261 (grundsätzliche Ablehnung eines erfolgsqualifizierten Versuchs aufgrund einer „Strafschärfungslösung“ [Heranziehung der Strafdrohung des erfolgsqualifizierten Tatbestandes auch beim Versuch des Grunddelikts] i.V. m. der Annahme von Erfolgskausalität aufgrund des „Gefährlichkeitserfolgs“ des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB; Heger, JA 2003, 455 (mit dem kritischen Hinweis, der 5. Strafsenat habe sich mit dieser Entscheidung von seiner im „Rötzel-Fall“ vertretenen Bestimmung des
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Angeklagten, die der rechtsgerichteten Szene zuzurechnen waren, hatten nach einem Streit mit ausländischen Besuchern einer Diskothek beschlossen, einen der Kontrahenten mit drei Pkw zu suchen, zu ergreifen und ihm (körperverletzende) Gewalt anzutun. An Stelle des Gesuchten bemerkten sie drei Ausländer, unter ihnen das spätere Tatopfer, die sofort angstvoll die Flucht ergriffen, nachdem einige der Angeklagten aus den Autos gesprungen und (zum Teil mit Bomberjacken und Springerstiefeln bekleidet) auf sie zugestürmt waren. Im Zusammenhang mit der daraufhin von den Angeklagten veranstalteten Hetzjagd konnten diese nur einen der Flüchtigen einholen, während sie die Verfolgung der beiden anderen Ausländer (nicht aber die Suche nach diesen) nach einigen Metern abbrachen, weil sie diese aus den Augen verloren hatten und ihnen deren Vorsprung zu groß erschien. Die beiden Flüchtigen wähnten sich allerdings noch verfolgt und liefen deswegen zu einem etwa 200 m entfernten Mehrfamilienhaus, in dem sie Schutz suchen wollten. Da sie die Haustür jedoch nicht öffnen konnten, trat einer der beiden „in Todesangst die untere Glasscheibe der Tür ein. Dabei oder beim anschließenden Durchsteigen“ zog er sich an den im Türrahmen verbliebenen Glasresten „eine 8,5 cm tiefe Wunde am rechten Bein und die Verletzung einer Schlagader zu“, an der er „binnen kurzer Zeit verblutete“ (S. 35). – Zur Begründung stellt der BGH entscheidend darauf ab, daß das selbstschädigende Handeln des Tatopfers den erforderlichen Zurechnungszusammenhang deshalb nicht unterbrochen habe, weil dieses Handeln „eine naheliegende und nachvollziehbare Reaktion auf den massiven Angriff des Angeklagten“ gewesen sei, insofern es als Flucht „Hals über Kopf“ „bei den durch Gewalt und Drohung geprägten Straftaten geradezu deliktstypisch“ sei und „dem elementaren Selbsterhaltungstrieb des Menschen“ entspringe (S. 38/39). 2. Über die vorstehend dargestellten Entscheidungen zum Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge hinaus hat der BGH freilich auch zu einer ganzen Reihe weiterer todeserfolgsqualifizierter Straftatbestände Stellung genommen, die hier exemplarisch und kurz deshalb mit in die Überlegung einbezogen werden sollen, weil sie zeigen, daß die Rechtsprechung das Merkmal des Unmittelbarkeitszusammenhanges nicht bei allen erfolgsqualifizierten Delikten (gleich) bestimmt und verwendet.
Unmittelbarkeitszusammenhanges „de facto verabschiedet“, habe aber „eine explizite Abkehr möglicherweise“ deshalb vermieden, „um eine Anfrage bei anderen Strafsenaten und eine Anrufung des Großen Senats zu umgehen“, aaO. S. 458); Kühl, JZ 2003, 637 (mit kritischen Anmerkungen zur Behandlung des „selbstgefährdenden Opferverhaltens“ und zur Versuchsproblematik); Laue, Ist der erfolgsqualifizierte Versuch einer Körperverletzung mit Todesfolge möglich? – BGH NJW 2003, 150, JuS 2003, 743 (Ablehnung eines erfolgsqualifizierten Versuchs bei mitwirksamem Opferhandeln, das die Todesfolge unmittelbar verursacht, weil sich im Tod keine körperverletzungsspezifische, sondern eine nötigungsspezifische Gefahr verwirkliche, aaO. S. 746 f.); Puppe, JR 2003, 123 (ebenfalls kritisch gegen die Annahme eines körperverletzungsspezifischen Gefahrzusammenhanges).
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a) So wurde schon in BGHSt 19, 382 ein Verbrechen der Freiheitsberaubung mit Todesfolge (§ 239 Abs. 3 StGB damaliger Fassung) unter Bestätigung der erstinstanzlichen Entscheidung des Schwurgerichts Darmstadt für einen Sachverhalt bejaht, in dem das Tatopfer, das vom Täter zuvor durch die Verbringung mit dessen Pkw seiner äußeren Fortbewegungsfreiheit beraubt worden war, entweder „selbst aus dem Wagen gesprungen oder, ohne dies zu wollen, hinausgefallen ist“ (S. 387). In beiden Fällen sei nämlich der Tod „durch die Freiheitsberaubung verursacht worden.“ – Unter ausdrücklicher Zurückweisung der Ansicht, daß infolge von Fluchtversuchen erlittene Verletzungen nicht unter den Tatbestand des erfolgsqualifizierten Delikts fielen,26 wird diese Annahme damit begründet, daß der „Begriff der Verursachung . . . hier kein anderer (ist) als er allgemein für die Herbeiführung eines Erfolges von der strafrechtlichen Rechtsprechung vertreten wird (Bedingungstheorie).“ Der Tod sei daher „auch dann durch die Freiheitsentziehung verursacht, wenn das Opfer unmittelbar bei dem Versuch, ihr zu entrinnen, tödliche Verletzungen erleidet.“ Das soll nach einem Urteil des 2. Strafsenats (BGHSt 33, 322) aber nicht für den Tatbestand der Geiselnahme mit Todesfolge (§ 239b Abs. 2 i.V. m. § 239a Abs. 2 StGB damaliger Fassung) gelten. Angesichts der hohen Strafdrohung (lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren) erfordere das Unrecht dieses Delikts vielmehr eine „besondere Affinitätsbeziehung zwischen Qualifikationserfolg und Grunddelikt“, und diese Beziehung müsse „für jeden der in Betracht kommenden Straftatbestände nach dessen Sinn und Zweck sowie unter Berücksichtigung der von ihm erfaßten Sachverhalte in differenzierender Wertung“ bestimmt werden (S. 323). Im Hinblick auf den Tatbestand der Geiselnahme habe diese Bestimmung vor allem zu beachten, daß hier Vorgänge zur Beurteilung stünden, „die regelmäßig eine ganz besondere erhöhte Gefahr für das Leben von Menschen mit sich bringen, die sich in der Hand eines anderen befinden.“ Diese Gefahr realisiere sich aber nicht etwa nur, wenn „der Vorgang des Geiselnehmens (das »Sich-Bemächtigen«) oder die damit für die Geisel geschaffene Situation (z. B. lebensgefährliche Unterbringung, unzureichende Ernährung oder Versorgung) zum Tod des Opfers führt;“ Anwendung finde „der Qualifikationstatbestand vielmehr auch dann, wenn der Tod der Geisel als Folge einer Befreiungsaktion eintritt, die von ihr selbst, dem Erpressungsopfer oder Dritten, namentlich der Polizei, unternommen wird, um die Geiselnahme zu beenden. . . . Die Gefahr für das Leben der Geisel, die sich aus solchen der Beseitigung der Zwangslage dienenden Gegenmaßnahmen ergibt,“ gehöre „zu den tatbestandsspezifischen Risiken, die mit der Verwirklichung des Grundtatbestands typischerweise einhergehen“ (S. 324).27 Infolgedessen könne das Merkmal der Unmittel-
26 Der entscheidende 1. Strafsenat formuliert dabei allerdings insofern „vorsichtiger“, als er feststellt, er vermöge dieser Auffassung „wenigstens in solcher Allgemeinheit nicht zu folgen.“
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barkeit „kein Kriterium (sein), das für die Begrenzung der Erfolgshaftung des Täters bei einer Geiselnahme mit Todesfolge taugliche Maßstäbe liefert und zu angemessenen Ergebnissen führt“ (S. 323).28 Allerdings habe es, wie unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils des LG Aachen ausgeführt wird, an dem erforderlichen engen Zusammenhang zwischen dem vorsätzlichen Grunddelikt und der qualifizierenden Todesfolge deshalb gefehlt, weil die für die Geisel tödlichen Schüsse der Polizei ohne Kenntnis der Geiselnahme abgegeben wurden und daher „nicht in einem durch die Besonderheiten des Grundtatbestands vermittelten Zusammenhang“ standen (S. 325). b) Ebenfalls abgelehnt wurde eine Verurteilung wegen Raubes mit Todesfolge (§ 251 StGB) im sog. „Nacheile-Fall“ von BGHSt 22, 362 für einen Sachverhalt, zu dem „im Zweifel für den Angeklagten“ anzunehmen war, daß dessen Raubopfer, ein Rentner, nicht „an den Folgen der ihm schon durch den Angeklagten beigebrachten oder bei der Abwehr gegen dessen Gewalttätigkeit erlittenen Verletzungen verstorben“ war, sondern die zu seinem Tod führenden Verletzungen sich „möglicherweise bei dem Versuch, den fortgelaufenen Räubern nachzueilen oder Hilfe herbeizuholen“, zugezogen hatte, weil er dabei „im Dunkeln zu Fall gekommen ist.“ – Unter Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils des LG Saarbrücken wurde zur Begründung ausgeführt, daß der Tod des Angegriffenen (nach der damals geltenden Fassung des § 251 StGB) „durch die gegen ihn verübte (raubtatbestandsmäßige) Gewalt“ verursacht sein müsse und daß bereits die einfache Verursachung nicht nachgewiesen sei. Nur noch ergänzend (gleichsam „programmatisch“) wird deswegen unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zu § 226 StGB darauf hingewiesen, daß die Vorschrift des § 251 StGB in ihrer damaligen Fassung „im Hinblick auf die Anforderungen, die an die Verursachung der Todesfolge zu stellen sind, zumindest nicht weniger einschränkend auszulegen (sei) als § 226 StGB, zumal sie von den besonderen Merkmalen des Raubes (§ 249 StGB) nur die Gewaltanwendung, nicht aber die Drohung anführt, andererseits aber eine auffällig hohe Strafdrohung enthält“ (S. 363). In dem vom BGH aus tatsächlichen Gründen, nämlich wegen Unklarheit über ein im Hinblick auf die Todesfolge etwa leichtfertiges Handeln der Angeklagten, 27 Im Fall – in dem die Geisel durch Schüsse von Polizeibeamten getötet worden war – erfolgte eine Verurteilung wegen Geiselnahme mit Todesfolge deshalb auch nur deswegen nicht, weil die Polizeibeamten diese Schüsse abgaben, ohne von der Geiselnahme zu wissen, so daß ihr Eingreifen allein zu Strafverfolgungszwecken, nicht aber „als Teil des qualifikationsspezifischen Gefahrzusammenhangs“ erschien (S. 324/325); zustimmend Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 243; dies., AT (Fn. 2), S. 227 f. 28 Die vorsichtige „Eingrenzung“ dieser Aussage – dies gelte „jedenfalls insoweit, als dieses Kriterium solche Fälle aus dem Qualifikationstatbestand ausgrenzen soll, in denen der Tod des Opfers nur mittelbar durch die im Grunddelikt beschriebenen Handlungen, unmittelbar aber erst durch das Eingreifen Dritter oder das eigene Verhalten des Opfers herbeigeführt worden ist“ (S. 323/324), kann bei näherem Hinsehen außer Betracht bleiben.
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nicht abschließend entschiedenen „2. Herzinfarkt-Fall“ (NStZ-RR 1997, 269) wurde dagegen eine Verwirklichung des objektiven Unrechts des § 251 StGB in einem Sachverhalt bejaht, in dem der Tod gerade nicht unmittelbar durch den Erfolg der Raubtat eingetreten war, sondern infolge von Herzinfarkten, die beide Raubopfer – ein Ehepaar im Alter von 68 und 70 Jahren, das die Angeklagten in dessen Wohnung in einer Nacht überfallen, gefesselt und ausgeraubt hatten – aufgrund der durch den Raubüberfall verursachten Angst und Aufregung erlitten hatten, nachdem die Angeklagten mit ihrer Beute geflohen waren.29 Auch in der Entscheidung BGHSt 38, 295 – „Züricher Banküberfall“ (= BGH NJW 1998, 3361) bildeten Probleme des objektiven Unrechts eines todeserfolgsqualifizierten Verbrechens mit räuberischem Grunddelikt (§ 251 StGB) den Gegenstand der Beurteilung.30 Im Rahmen von Überlegungen zum zeitlichen und funktionellen Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer (Todes-) Folge31 führt der 3. Strafsenat aus, daß die genannte Strafvorschrift angesichts ihrer eminenten Strafdrohung (Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren) bereits in objektiver Hinsicht eine einschränkende Auslegung gebiete, wie sie der BGH auch für das Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge vertrete. Freilich lasse sich der zur Bestimmung dieses Delikts entwickelte „Unmittelbarkeitszusammenhang“ zwischen Grunddelikt und schwerer Folge nicht auf alle erfolgsqualifizierten Delikte übertragen; vielmehr müßten die gebotenen Einschränkungsmerkmale für jeden einzelnen Straftatbestand „nach dessen Sinn und Zweck sowie unter Berücksichtigung der von ihm erfaßten Sachverhalte in differenzierender Wertung ermittelt werden“ (S. 298 unter Hinweis auf BGHSt 33, 322, 323 zu § 239b StGB). Von dieser „Differenzierungslösung“ aus wird schließlich angenommen, daß auch tödliche Gewalthandlungen nach Vollendung der Wegnahme den Tatbestand des § 251 StGB verwirklichen sollen (S. 298/ 299).32 c) Es steht freilich im Widerspruch zu dieser Anforderung einer „Differenzierungslösung“, wenn im Zusammenhang der oben (Fn. 10) bereits zitierten Ent29 Ähnlich zuvor schon BGH NStZ 1986, 556 in einem Fall, in dem das Raubopfer jünger war, aber an einer Herzschwäche litt, die den Tätern nicht bekannt war. 30 Weitere wichtige Entscheidungen des BGH zu § 251 StGB bilden insbesondere BGHSt (GS) 39, 100 (für die inzwischen Gesetz gewordene „Konkurrenz-Lösung“ im Fall der Vorsatz-Vorsatz-Kombination) und BGHSt 42, 158 (derzufolge strafbefreiender Rücktritt von versuchter Tat (§§ 251, 22, 23 Abs. 1 StGB) auch noch nach Eintritt der schweren (Todes-)Folge möglich sein soll); ebenso BGH NJW 1999, 1039 f. 31 Vgl. dazu nur Kristian Kühl, Erfolgsqualifizierte Delikte in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), BGH-Festgabe IV (2000), S. 237 ff., bes. S. 241 und S. 248 ff. 32 Kritisch dagegen besonders H.-L. Günther, Der Zusammenhang zwischen Raub und Todesfolge (§ 251 StGB), in: Hirsch-FS (1999), S. 543 (544 f.); Küpper, Zur Entwicklung der erfolgsqualifizierten Delikte, ZStW 111 (1999), 785 (793); Rengier (Fn. 12), S. 220, 222; Schünemann, Raub und Erpressung (2. Teil), JA 1980, 393 (396).
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scheidung BGHSt 20, 269 für ein todeserfolgsqualifiziertes Delikt mit einer grunddeliktischen Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§ 177, 178 StGB damaliger Fassung) einen einfachen Ursachenzusammenhang zwischen dem grunddeliktischen Geschehen und der Todesfolge in folgendem Fall für ausreichend erachtet hat: Ein Mann hatte versucht, „auf einem einsamen Waldweg eine ältere Frau zunächst durch die Drohung mit einer Pistole zu veranlassen, mit ihm geschlechtlich zu verkehren. Dabei löste sich infolge der Abwehr der Frau ein Schuß, der sie in die Lunge traf“ und an dem sie schließlich „durch innere Verblutung“ starb (S. 270). Der 1. Strafsenat bejahte das erfolgsqualifizierte Sexualdelikt mit der ausdrücklichen Begründung, daß es für den Tatbestand des § 178 StGB im Fall der Begehung durch Drohung nicht erforderlich sei, „daß . . . der Tod unmittelbar und allein durch diese selbst, etwa infolge eines durch die Drohung bei dem Opfer hervorgerufenen Schocks herbeigeführt wird.“33 Schon die Entscheidung BGH NJW 1955, 1327 hatte einen Fall des § 178 StGB zu beurteilen, in dem der Täter einer versuchten Vergewaltigung das sich heftig wehrende Opfer bis zur Bewußtlosigkeit würgte, weswegen er es für tot hielt und zu einem Bach schleppte, in dem die vermeintliche Leiche ertrank.34 – Obwohl es in diesem Fall nahegelegen hätte, sich mit der Frage des „Unmittelbarkeitszusammenhanges“ beim todeserfolgsqualifizierten Sexualdelikt zu befassen,35 tat der 2. Strafsenat dies nicht, sondern lehnte das erfolgsqualifizierte Delikt wegen Fehlens der subjektiven Vorhersehbarkeit ab. d) Um ein erfolgsqualifiziertes Delikt mit gemeingefährlichem Grunddelikt (§§ 306 Nr. 2, 307 Nr. 1 StGB damaliger Fassung) ging es in der Entscheidung BGHSt 7, 3736 zu folgendem Sachverhalt: Die Angeklagte goß vorsätzlich brennendes Benzin gegen die Wohnungstür ihres Schwagers, um diesen durch einen Brand zu erschrecken. Da im selben Augenblick ein Freund des Tatopfers auftauchte, goß die Angeklagte, über das Auftauchen des Freundes ihrerseits erschreckt, „das übrige brennende Benzin mit Schwung ins offene Zimmer“ und traf damit ihren Schwager, von dessen Anwesenheit sie allerdings nicht wußte, der an den Brandwunden verstarb, die das brennende Benzin bewirkte. – Der BGH hob das erstinstanzliche Urteil des Schwurgerichts Regensburg schon deshalb auf, weil es an tragfähigen Feststellungen zum „Inbrandsetzen einer Sache 33 Damit stimmt diese Entscheidung zwar im Ergebnis, nicht aber auch in der Begründung mit der im Tatsächlichen ähnlich gelagerten „Pistolen-Entscheidung“ (BGHSt 14, 110) überein. 34 Der Sachverhalt dieser Entscheidung ist also in mancher Hinsicht dem des „Gummihammer-Falles“ (BGH NStZ 1992, 333) vergleichbar. 35 So zutreffend schon Geilen (Fn. 3), S. 665; ebenso Wolter (Fn. 6), S. 172 mit dem zutreffenden Hinweis auf die Widersprüchlichkeit dieser Entscheidung zur „dolus-generalis-Rechtsprechung“ des BGH, die konsequenterweise auch die Annahme einer „culpa generalis“ erfordern würde. 36 Vgl. dazu Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 252 ff.; dies., AT (Fn. 2), S. 236 ff.
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(§ 306 StGB)“ mangele. Darüber hinaus beschäftigte er sich aber auch mit der Verwirklichung des Tatbestandes der besonders schweren Brandstiftung gemäß § 307 Nr. 1 StGB, dessen Annahme er – abweichend von RGSt 40, 321 – auch für den Fall für möglich hielt, daß der Tod des Schwagers nicht durch vollendeten Brand, sondern durch eine nur versuchte Tat der Brandstiftung verursacht wurde. Zur Begründung dieser Annahme bezieht er sich, ohne auf den „besonderen, tatbestandsspezifischen Zusammenhang“ zwischen dem grunddeliktischen Geschehen und dem Tod des Opfers einzugehen, dabei auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum versuchten Raub mit Todesfolge, nach der „der straferhöhende Umstand der Todesfolge . . . für den Versuch dieselbe Bedeutung (habe) wie für die vollendete Tat.“ Entsprechendes müsse auch gelten, wenn das Opfer „beim Inbrandsetzen, aber vor dessen Vollendung, vom brennenden Zündstoff in für den Tod ursächlicher Weise verletzt wird“ (S. 39). Dagegen ging es im sog. „Retter-Fall“ (BGHSt, 39, 322) seinerzeit allein um die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Brandstifters aus § 222 StGB für den Tod einer Person (eines Sohnes der Gastgeberfamilie, der sich erst nach Ausbruch des Feuers in das brennende Haus begeben hatte, um „entweder im Obergeschoß noch irgendwelche Sachen vor dem Feuer in Sicherheit zu bringen oder die Bergung von Menschen“ zu versuchen).37 Die Verurteilung wegen besonders schwerer Brandstiftung gemäß § 307 Nr. 1 StGB aufgrund des Todes eines bereits bei Inbrandsetzung des Hauses in demselben befindlichen, schlafenden Gastes war unproblematisch (S. 323) und die inzwischen vorrangig einschlägige Vorschrift des § 306c StGB (Brandstiftung mit Todesfolge) gab es damals noch nicht.38 3. Faßt man die maßgebenden Aussagen der vorstehend in Erinnerung gerufenen Judikate zusammen, ist einerseits zwar in der Tat zu konstatieren, daß die Praxis des BGH – wie schon öfter vermerkt wurde – ein „buntscheckiges“ und „in sich widersprüchliches Bild“ bietet,39 dessen begriffliche Ungenauigkeiten und systematische Mängel gerade die Jubilarin wiederholt durch konstruktive Kritik der einschlägigen Entscheidungen zu beheben versucht hat. 37 Siehe dazu die Überlegungen von Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 260 ff., sowie dies., AT (Fn. 2), S. 242 ff. mit ausführlicher Darstellung des Meinungsstandes zu der Konstellation selbstgefährdender Rettungshandlungen Dritter; auch ich selbst habe mich in meiner Habilitationsschrift „Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt“, 2001 (S. 124 ff., bes. S. 140 ff.) um die strafrechtliche Beurteilung dieser Fälle bemüht. 38 Vgl. zu den durch das Inkrafttreten dieser Vorschrift eingetretenen Veränderungen der Rechtslage und der mit dieser Vorschrift verbundenen Fragestellungen, namentlich des „spezifischen Gefahrzusammenhanges“, ausführlich Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, 1998, S. 288 ff. einerseits, S. 309 ff., speziell S. 318–320 andererseits („Handlungslösung“ unter Einbeziehung der „brandtypischen Fluchttoten“). 39 Formulierungen von Geilen (Fn. 3), S. 657 („bis zur Gegensätzlichkeit widersprüchlich“) und S. 672 („einigermaßen buntscheckig“).
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Gleichwohl lassen sich in konstruktiver Absicht folgende maßgebenden Aussagen festhalten: Nach der Rechtsprechung ist das objektive Unrecht der todeserfolgsqualifizierten Delikte nicht notwendig durch den Eintritt eines für sich schon lebensgefährlichen grunddeliktischen Erfolges gekennzeichnet. Vielmehr soll es auch ausreichen, wenn die grunddeliktische Handlung lebensgefährlich war, sofern sich das mit dieser verbundene Risiko eines tödlichen Ausgangs im Eintritt der qualifizierenden Todesfolge verwirklicht hat. Eine solche Verwirklichung erfordere, daß der tödliche Ausgang mit der grunddeliktischen Handlung nicht nur in einem einfachen Kausalzusammenhang nach der Bedingungstheorie, sondern in einem enger zu verstehenden, tatbestandsspezifisch zu bestimmenden Zusammenhang stehe. Ein solcher Zusammenhang sei auch gegeben, wenn der Tod des durch die grunddeliktische Handlung verletzten Tatopfers erst aufgrund des Hinzutretens besonderer Umstände eintritt, vorausgesetzt, daß diese Umstände nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit liegen. Allerdings scheide der – jedenfalls für das todeserfolgsqualifizierte Delikt des § 227 StGB als „Unmittelbarkeitszusammenhang“ zu begreifende – Verwirklichungszusammenhang40 bei dem Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge dann im Grundsatz aus, wenn die Todesfolge letztlich erst durch das Eingreifen Dritter oder das Verhalten des Opfers selbst herbeigeführt wurde. Insofern kann man durchaus sagen, daß jedenfalls die kritisierte „Buntschekkigkeit“ auch dadurch mitbedingt ist, daß der Verwirklichungszusammenhang für jeden Tatbestand anders bestimmbar sein soll. III. Diese nach Tatbeständen differenzierende Betrachtung kennzeichnet freilich ganz überwiegend auch die strafrechtswissenschaftliche Dogmatik der todeserfolgsqualifizierten Delikte.41 1. Auch die sog. „Handlungslösung“, derzufolge die qualifizierende Todesfolge nicht zwingend auf den rechtsgutsverletzenden Erfolg des vorsätzlich verübten Grunddelikts zurückzuführen sein muß, sondern sich auch aus der grundtatbestandsmäßigen Handlung entwickelt haben kann, hat in der Literatur zum 40 Die diesbezüglichen Formulierungen der Rechtsprechung sind insofern nicht eindeutig, als sie nicht klar erkennen lassen, ob der geforderte „enge Zusammenhang“ nur bei der Körperverletzung mit Todesfolge ein „Unmittelbarkeitszusammenhang“ sein soll oder ob das Unmittelbarkeitserfordernis ein Merkmal aller todeserfolgsqualifizierten Tatbestände sein soll, das (freilich) für jeden Tatbestand spezifisch zu bestimmen ist; vgl. nur die einschlägigen Formulierungen in den ein allgemeines Unmittelbarkeitserfordernis verneinenden Entscheidungen BGHSt 33, 322 (323) und BGHSt 38, 295 (298) zu den Tatbeständen der Geiselnahme (§ 239b Abs. 2 StGB i.V. m. § 239a Abs. 3 StGB) und des Raubes mit Todesfolge (§ 251 StGB). 41 Vgl. dazu nur die Nachweise bei Kühl, AT (Fn. 3), § 17a Rn. 17.
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Teil durchaus Zustimmung erfahren.42 Damit sind die Gemeinsamkeiten aber auch schon weitgehend erschöpft. Auch die Vertreter einer Handlungslösung in der Literatur kritisieren daher nicht nur die gerade vermerkten Widersprüchlichkeiten in der Entwicklung der Rechtsprechung, sondern wenden sich gegen andere tragende Elemente der BGH-Rechtsprechung, namentlich gegen deren „Unmittelbarkeitserfordernis“, wie nunmehr kurz am Beispiel der Konzeption von Rengier ausgeführt werden soll. Nach dieser Konzeption43 soll es bei den erfolgsqualifizierten Straftatbeständen nicht etwa um Deliktstypen, sondern um Strafzumessungsvorschriften gehen, die man insbesondere „bei der schweren Fahrlässigkeit, im Nahbereich zu den §§ 211 ff. StGB“ brauche, wie eine „nüchterne und kriminalpolitisch orientierte Betrachtungsweise“ zeige.44 Was damit gemeint ist, zeigt sich besonders bei der Erörterung der todeserfolgsqualifizierte Delikte, deren Existenzberechtigung darauf gestützt wird, „schwere, aber nicht mehr (beweisbar) vorsätzliche Tötungen zu erfassen“ und so „die Lücke zwischen § 222 StGB und den §§ 211 ff. StGB zu schließen.“45 Dies sei nun aber gerade nicht mittels eines Kriteriums wie des Unmittelbarkeitszusammenhanges zu leisten, das richtigerweise durch die Kriterien der von der Rechtsprechung bislang nicht adaptierten Theorie der objektiven Zurechnung zu ersetzen sei, namentlich durch das allgemeine Unrechtsmerkmal des Schutzzweckzusammenhanges, das bei den erfolgsqualifizierten Delikten auf die Beziehung zwischen Grunddelikt und qualifizierender Folge anzuwenden sei.46 Etwa bei Klesczewski, AT (Fn. 7), Rn. 235 ff.; Otto, Grundkurs BT7, 2005, § 18 Rn. 2; Rengier, Strafrecht BT II (Fn. 12), § 16 Rn. 11 f. zu § 227 StGB; Sch/Schr-Stree, StGB27, 2006, § 227 Rn. 5; mit Einschränkungen zustimmend Wessels/Hettinger (Fn. 12), Rn. 299 f.; siehe zu den Grundlagen von dessen „differenzierender Zustimmung“ Engländer (Fn. 6), S. 673 ff., der einen spezifischen Gefahrzusammenhang (allein) zwischen Körperverletzungshandlung und Todesfolge (ohne den gewollten Körperverletzungserfolg zumindest als Durchgangsstadium) nur in den Fällen einer Verwirklichung des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB für möglich hält; sowie Ferschl (Fn. 3), S. 139: Es sei „sowohl auf die Gefährlichkeit der Handlung als auch des Erfolges abzustellen.“ 43 Vgl. zu weiteren Konzeptionen insbesondere die eingehende Darstellung und Auseinandersetzung bei Paeffgen, NK-StGB, § 18 Rn. 35 ff., der zu Recht zwischen denjenigen Meinungen, die „ein spezifisch gesteigertes Gefahrenpotential der Handlung“ fordern, und der Rechtsprechung (h. M.) unterscheidet, deren „Handlungslösung“ sich jedenfalls bei § 227 StGB bezüglich des qualifizierenden Erfolges mit bloßer Vorhersehbarkeit begnügt. 44 So Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte (Fn. 12), S. 130 ff., bes. S. 135: es seien „die erfolgsqualifizierten Delikte nicht als Delikte mit besonderer Rechtsnatur, sondern in ihrer strafzumessungsrechtlichen Funktion zu betrachten.“ 45 AaO., S. 291. 46 AaO., bes. S. 159 ff. (zu „grunddeliktsneutralen Fallgruppen“), S. 183 ff. („grunddeliktisch bedingtes Verhalten Dritter als erfolgsqualifizierender Faktor“), S. 191 ff. (grunddeliktisch bedingtes Opferverhalten als erfolgsqualifizierender Faktor) und S. 213 ff. (zum grunddeliktisch bedingten, versehentlichen Todesschuß aus der als 42
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Aber so zutreffend es sein mag, daß man zumindest einige der hinsichtlich der Rechtsprechung vermerkten Widersprüche bei der Anwendung des sog. Unmittelbarkeitszusammenhangs darauf zurückzuführen hat, daß diese (scil.: die Rechtsprechung) Gesichtspunkte der allgemeinen objektiven Erfolgszurechnung als spezielle und tatbestandsspezifische Kennzeichen todeserfolgsqualifizierter Delikte in deren Materien zu integrieren suchen muß, so wenig ist durch die vorstehend referierte Argumentation Rengiers Tragfähiges für seine eigene „Strafzumessungs- und Schutzzwecklösung“ beigebracht. Denn abgesehen davon, daß gerade die sog. Schutzzwecklehre als Teil der objektiven Zurechnungsdoktrin alles andere als ein inhaltsbestimmt-gesichertes Element dieser Doktrin darstellt,47 bedarf die Anerkennung todeserfolgsqualifizierter Tatbestände doch offensichtlich einer Theorie dieses Deliktstypus, die dessen (schweren) Verbrechenscharakter einsichtig machen kann.48 Und eine solche Theorie ist in der Handlungslösung Rengiers bereits im Ansatz gar nicht vorgesehen. 2. Gerade darum ist es hingegen der sog. Letalitätslehre zu tun, deren gegenwärtige Gestalt insbesondere durch die Arbeiten von Hans-Joachim Hirsch49 und Georg Küpper50 geprägt worden ist.51 Ausgangspunkt dieser Lehre ist einerseits eine strafrechtsgeschichtliche Rekonstruktion, die insbesondere den Entwicklungsgang von der gemeinrechtlichen Doktrin des dolus indirectus52 über Feuer-
Schlag- und Drohwerkzeug benutzten Schußwaffe als erfolgsqualifizierender Faktor); siehe auch schon ders., Opfer- und Drittverhalten als zurechnungsausschließende Faktoren bei § 226 StGB, Jura 1983, 143 (mit Besprechung der „Rötzel-Entscheidung“). 47 Vgl. zur Kritik dieser Lehre ausführlich Degener, Die Lehre vom Schutzzweck der Norm, 2001; auch ich selbst habe mich (etwa [Fn. 4], S. 258 ff.) um eine diesbezügliche Kritik bemüht. – Die Unklarheiten dieser Lehre zeigen sich denn auch im Zusammenhang der Dogmatik der todeserfolgsqualifizierten Delikte, wenn etwa Hardtung, gestützt auf den nämlichen Schutzzweckgesichtspunkt, zu einer anderen, nämlich auf den Erfolg des Grunddelikts abstellenden Konzeption gelangt, vgl. ders., MüKo-StGB, § 18 Rn. 26 ff. 48 Ähnliche Kritik (mit speziellem Bezug auf Rengiers Legitimationsversuch über die minder schweren Fälle) bei Paeffgen (Fn. 5), S. 222: „Gerechtfertigt werden muß im Systemrahmen von Unrecht und Rechtsfolge das Kerndelikt, also etwa § 226 Abs. 1“. 49 Vgl. besonders ders., Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, GA 1972, 65; ders., Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, aaO. Fn. 3, S. 111. 50 Vgl. insbesondere ders., Der „unmittelbare“ Zusammenhang, aaO. Fn. 3; ders., Unmittelbarkeit und Letalität, in: Hirsch-FS (1999), S. 615; ders., Zur Entwicklung der erfolgsqualifizierten Delikte, aaO. Fn. 6; siehe auch schon die Besprechung der „Hochsitz-Entscheidung“ (BGHSt 31, 96) in JA 1983, 229. 51 Im Ergebnis – jedenfalls bezüglich § 227 und § 251 StGB – zustimmend: Lackner/Kühl, StGB, § 227 Rn. 2; Sch/Schr-Sternberg-Lieben, (Fn. 42), § 18 Rn. 4; Roxin, AT I (Fn. 12), § 10 Rn. 115–117; ähnlich Jakobs, AT (Fn. 11), 9/35. 52 Vgl. dafür nur Benedict Carpzov, Practica Nova Rerum Criminalium (1635), Quaestio I Nr. 28 ff.
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bachs Lehre der culpa dolo determinata53 hin zum Typus des (todes-)erfolgsqualifizierten Delikts nachzeichnet und dadurch den vernünftigen Gehalt dieser Entwicklung dadurch fruchtbar zu machen sucht, daß gezeigt wird, wie die ursprünglich als ein Vorsatzproblem behandelte Konstellation – nämlich das vorsätzliche Bewirken einer Verletzung (etwa eines Körperverletzungserfolges), bei deren Eintritt der Tod mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, vom Vorsatz jedoch nicht umfaßt war – fortschreitend als Problem (auch schon) des objektiven Unrechts begriffen wurde.54 Zum anderen ist sie von dem Bemühen getragen, den durch das positive Recht gegebenen Sanktionssprüngen dadurch „gerecht“ zu werden, daß dem Gewicht der vorgesehenen Freiheitsstrafen ein Handlungs- und Unrechtstyp vorausgesetzt wird, der diesen Strafen auch entspricht.55 Und damit steht es im Zusammenhang, wenn die Notwendigkeit und die Berechtigung der erfolgsqualifizierten Delikte sich nicht zuletzt auch aus der strafgerechten Überlegenheit dieses Deliktstypus und der auf ihn bezogenen Strafvorschriften ergeben soll, die sich durch den Vergleich mit anderen möglichen Regelungsalternativen, namentlich der einer Änderung der Grundsätze zur Idealkonkurrenz, erweisen lasse.56 Auf dieser Grundlage soll das objektive Unrecht der (todes-)erfolgsqualifizierten Delikte nach der „Letalitätslehre“ maßgeblich und strikt dadurch geprägt sein, daß zwischen dem vom Vorsatz umfaßten grunddeliktischen Erfolg und der qualifizierenden schweren Folge ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, daß die genannte Folge also auf den Erfolg des Grunddelikts zurückzuführen ist („Erfolgslösung“).57
53 Siehe dazu P. J. A. Feuerbach, Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde, Band 2 (1800), S. 238 ff., bes. S. 241; ders., Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts14, 1847 (hrsg. von C. J. A. v. Mittermaier), §§ 54, 59 ff. 54 Vgl. dazu nur Küpper, Der „unmittelbare“ Zusammenhang (Fn. 3), S. 14–23; siehe – wenngleich (wie dargestellt) mit anderen Konsequenzen – ausführlich zur historischen Genese auch Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte (Fn. 12), Erster Teil, S. 11–75. 55 Vgl. dazu etwa Hirsch, Der „unmittelbare“ Zusammenhang (Fn. 3), sowie zuletzt etwa Küpper, Zur Entwicklung der erfolgsqualifizierten Delikte, ZStW 111 (1999), 785 (792 ff.). 56 Dazu eingehend Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, GA 1972, 65 (67 ff.). 57 Vgl. dazu schon Hirsch, aaO., S. 75/76 (unter Hinweis auf die damit gegebene Entsprechung zu dem vom BGH in der „Rötzel-Entscheidung“ aufgestellten „Unmittelbarkeitserfordernis“); ferner Küpper, Der „unmittelbare“ Zusammenhang (Fn. 3), S. 80 ff.; ders., Unmittelbarkeit und Letalität (Fn. 50), S. 618 ff. und S. 620 ff. – Für das todeserfolgsqualifizierte Delikt des § 227 StGB wird vereinzelt angenommen, der Wortlaut des Gesetzes und damit letztlich das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) gebiete die „Erfolgslösung“; so insbesondere Krey/Heinrich, Strafrecht BT 113, 2005, § 3 Rn. 271 ff.; dagegen aber überzeugend Kühl, Erfolgsqualifizierte Delikte (Fn. 31), S. 255; sowie Engländer, Der Gefahrenzusammenhang (Fn. 6), S. 673 f.
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3. Gegen dieses Konzept wird freilich, auch von Kritikern der „Handlungslösung“, eingewandt, daß es an einer Unklarheit leide: Nach der strikten Letalitätslehre sei die schwere Folge nämlich „immer das Resultat eines im Hinblick auf seine Letalität teilweise vorsätzlich, teilweise fahrlässig herbeigeführten Erfolges“, und angesichts dessen sei es kaum einzusehen, warum gerade der Erfolg letal sein müsse „und es nicht genügt, daß er mit anderen Umständen die schwere Folge herbeiführt.“58 Und da sich der spezifische Zusammenhang zwischen Grunddelikt und qualifizierender Todesfolge auch nicht als die Verwirklichung einer spezifischen Gefährlichkeit der vorsätzlichen Handlung bestimmen lasse,59 bleibe nur, ihn im Sinne der Lehre der Durchgangskausalität zu begreifen, derzufolge „die identischen Handlungsakte und weiteren Tatumstände . . . die Qualität besitzen (müssen), notwendige Bestandteile der kausalen Erklärung des vorsätzlich herbeigeführten grunddeliktischen Erfolges zu sein“; es müsse also das vollendete Grunddelikt „notwendiger Bestandteil der kausalen Erklärung der schweren Folge sein“,60 so daß es ausreicht, wenn das Unrecht des vorsätzlich verwirklichten Grunddelikts für den tödlichen Ausgang mitursächlich geworden ist. IV. Mit dem Erfordernis der Durchgangskausalität ist ein Kriterium benannt, dem gerade auch die Konzeption Ingeborg Puppes durchaus Bedeutung beimißt, die sich in ihren Untersuchungen zu den erfolgsqualifizierten Delikten ausführlich und eindringlich um deren nähere Begründung und die Bewältigung der mit ihnen verbundenen Probleme bemüht hat. Ihren Bemühungen soll daher auch der nächste Schritt gewidmet sein. Auch sie setzt zwar mit einer (kurzen) strafrechtshistorischen Erinnerung ein, die sie jedoch mit einer Grundsatzkritik an den Entwicklungen verbindet, welche die strafrechtliche Vorsatzlehre im Gefolge des Feuerbach’schen Dogmas der „culpa dolo determinata“ besonders hinsichtlich der Tötungsdelikte genommen hat.61 Infolgedessen führt sie diese Erinnerung auch weder zu einer (strikten) Le58 So Altenhain, Der Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge bei den erfolgsqualifizierten Delikten, GA 1996, 19 (31); ähnliche Kritik bereits bei Paeffgen, Die erfolgsqualifizierten Delikte (Fn. 5), S. 226 bei und in Fn. 77. 59 Näher dazu Altenhain (Fn. 58), S. 23 ff. 60 AaO., S. 33, auch S. 34 unter IV.; vgl. in diesem Sinne auch schon Engisch, Kausalität (Fn. 1), S. 71 f. 61 Vgl. Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 195 ff.; dies., AT (Fn. 2), S. 183 ff.; diese Kritik wendet sich zwar vor allem gegen die sog. „Hemmschwellentheorie“ des BGH zum Vorsatz bei den Tötungsdelikten, aber es kommt in ihr (besonders hinsichtlich des dolus eventualis) doch auch der allgemeine Zweifel an willensbegründeten Vorsatzlehren zum Ausdruck; vgl. zur Auseinandersetzung mit solchen Zweifeln die nach wie vor grundlegende Abhandlung E. A. Wolffs zur „Theorie der Ernstnahme“: Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung, in: Gallas-FS (1973), S. 197 ff.
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talitätslehre noch zu einer (reinen) Kausalitätslösung, sondern zu einer „deliktsgruppenspezifischen Zurechnungslösung“.62 Deren Erfordernis leitet auch sie vor allem aus jener „eklatanten Differenz“ ab, die zwischen der Bestrafung in Fällen des tateinheitlichen Zusammentreffens von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt (etwa von einfacher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung) und denjenigen Konstellationen besteht, die heute als erfolgsqualifizierte Delikte (etwa § 227 StGB) bezeichnet und beurteilt werden. Um diesen „Sanktionssprung“ zu rechtfertigen, der durch „das bloße Zusammentreffen von Vorsatz und Fahrlässigkeitsdelikt in einer Handlung“ nicht zu begründen sei, verbindet sie die von ihr vertretene, eingangs bereits erwähnte strafrechtliche Kausal- und objektive Zurechnungslehre63 so mit den strafgesetzlichen Besonderheiten der erfolgsqualifizierten Delikte, daß sie zu einem dreigliedrigen System jener Delikte kommt, die sie als „eine Form gesteigerter Zurechnung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitszurechnung“ versteht.64 Mit dem Erfordernis „gesteigerter Zurechnung“ ist dabei eine über die Bedingungen allgemeiner objektiver Zurechnung hinausgehende (deliktsgruppenspezifische) Anforderung an den objektiven Zusammenhang zwischen Grunddeliktsverwirklichung und qualifizierender Folge gemeint.65 1. Die todeserfolgsqualifizierten Körperverletzungsdelikte, insbesondere also das Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB), sollen dabei durch drei Erfordernisse gekennzeichnet sein: das Vollständigkeitserfordernis, das alle erfolgsqualifizierten Delikte mitkonstituiere, das Durchgangserfordernis und das Unmittelbarkeitserfordernis. Diese Erfordernisse werden wie folgt bestimmt: Unter dem Vollständigkeitserfordernis soll zu verstehen sein, „daß die objektiven Tatbestandsmerkmale des grunddeliktischen Versuchs vollständig . . . in der kausalen Erklärung der qualifizierenden Folge als notwendige Bestandteile der hinreichenden Erfolgsbedingung vorkommen müssen“; das Durchgangserfordernis besage, „daß der Kausalprozeß von der grunddeliktischen Handlung zur qualifizierenden Folge durch den Erfolg des Grunddelikts hindurchgehen muß“, so daß dieser (und nicht nur die grunddeliktische Handlung) eine Ursache für den Eintritt der schweren Folge gewesen ist; und das Unmittelbarkeitserfordernis wird 62 Insofern steht die von ihr vertretene Konzeption gleichsam zwischen den Handlungs- und Erfolgslösungen. 63 Vgl. zu dieser nur Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 11–183 und die dazugehörige „Zusammenfassung der allgemeinen Regeln der objektiven Zurechnung“ S. 185– 193; dies., AT (Fn. 2), S. 25–174 und S. 175–182. – Nur allzu gern erinnert sich der Verf. dieses Beitrages an einen „Briefwechsel auf Augenhöhe“, den die heutige Jubilarin 1990 mit ihm als „frisch Promoviertem“ zur kantischen Konzeption der Kausalität geführt hat. 64 So bereits in der Überschrift des Kapitels über die erfolgsqualifizierten Delikte in: dies., AT (Fn. 2), S. 183; zu dem genannten dreigliedrigen System etwa dies., Erfolgszurechnung (Fn. 2), Thesen 1 und 2, S. 275/276. 65 Vgl. nur Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 200 ff. i.V. m. S. 277 (These 3).
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dahin definiert, „daß zwischen die Verwirklichung des Grunddeliktstatbestandes . . . und den Eintritt der qualifizierenden Folge kein weiteres willkürliches menschliches Handeln treten darf.“66 Folglich führten die drei Erfordernisse für das objektive Unrecht der Körperverletzung mit Todesfolge zur Übernahme des „objektiven Letalitätskriteriums“. 67 2. Im Unterschied zu der gerade beschriebenen Deliktsgruppe soll für die Freiheitsdelikte mit schwerer Folge, zu denen Puppe auch die erfolgsqualifizierten Delikte mit „räuberischem Grunddelikt“ (§ 251 StGB) rechnet, allein das Vollständigkeitserfordernis gelten. Dies wird hinsichtlich des Verzichts auf das Durchgangserfordernis damit begründet, daß diese Delikte – im Unterschied zur Körperverletzung mit Todesfolge, deren Grundtatbestand eine große Bandbreite aufweise – „von vornherein auf höherem Deliktsniveau“ lägen (ausdrückliche Ausnahme: die einfache Freiheitsberaubung) und daß die für sie „charakteristische Bedrohungsgefahr bereits mit dem Versuch des Freiheitsdelikts“ eintrete. Und da diese (scil.: die Bedrohungsgefahr) „das Opfer in einen sog. internen Rechtsgüterkonflikt bringt,“ der entweder dieses selbst „oder die um sein Wohl Besorgten geradezu dazu nötigt, andere Gefahren für das Opfer einzugehen“, sei auch das Unmittelbarkeitserfordernis nicht angebracht.68 3. Die gemeingefährlichen (todes-)erfolgsqualifizierten Delikte seien demgegenüber nicht allein durch das Vollständigkeitserfordernis, sondern darüber hinaus auch durch das Erfolgsdurchgangserfordernis charakterisiert, und dies sogar in verschärfter Form, insofern „der Täter durch die Herbeiführung des Grunddeliktserfolges nicht nur eine Ursache für die qualifizierende Folge gesetzt . . ., sondern eine konkrete Gefahr dafür geschaffen haben muß, daß diese Folge eintritt.“ Und diese Gefahr müsse sich „in dem Sinne in der schweren Folge realisiert haben, daß ihre Elemente in deren kausaler Erklärung als notwendige Bestandteile vorkommen.“ Durch das Unmittelbarkeitserfordernis sei das objektive Unrecht dieser Deliktsgruppe dagegen nicht charakterisiert, weil die von deren Verwirklichung ausgehende Gefahr typischerweise „die von ihr Betroffenen sowie andere Beteiligte zu anderweitigen Selbstgefährdungen oder auch Fremdgefährdungen veranlaßt.“69
66
Näher dazu aaO., S. 277 (Erläuterung zu These 3). AaO., S. 223 ff. („Das Letalitätserfordernis als Präzisierung des Unmittelbarkeitserfordernisses“) i.V. m. S. 280/281 (These 9 mit Erläuterung); vgl. ferner Puppe, AT (Fn. 2), S. 205 ff. (zum „Erfolgsdurchgangserfordernis als Charakterisierung der Körperverletzungsgefahr“) und S. 208 ff. (zum „Letalitätskriterium als Präzisierung des Unmittelbarkeitserfordernisses“). 68 Dazu näher Puppe, Erfolgszurechnung (Fn. 2), S. 233 ff. i.V. m. S. 278/279 (These 5 mit Erläuterung). 69 AaO., S. 250 ff. i.V. m. S. 279, 280 (These 6–8 mit Erläuterungen). 67
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V. Mit diesem von Ingeborg Puppe entwickelten, durch die Abgrenzung von Deliktsgruppen bestimmten, „dreigliedrigen System“ ist ohne Zweifel eine neue Perspektive auf die (todes-)erfolgsqualifizierten Delikte eröffnet, welche die sonst vorherrschende, keineswegs nur seitens der Rechtsprechung vertretene Ansicht der jeweils tatbestandlichen Besonderheit dieser Deliktsform überwindet.70 Und es ist gerade eine solche Perspektive, die darauf hoffen läßt, aufgrund von weiteren Bemühungen dadurch zu weiterführenden Erkenntnissen zu gelangen, daß man das Dogma der Tatbestandsspezifität durch eine allgemeine Theorie der durch den Eintritt eines schweren (Todes-)Erfolges qualifizierten Delikte überwindet, die eben nicht nur den Kausal- oder auch einen „engeren Zusammenhang“ zwischen dem grunddeliktischen Geschehen und der qualifizierenden Folge71 umfaßt,72 sondern von der aus sich diese Deliktsform als ein Handlungsund Unrechtstypus erweisen läßt, der mehr und anderes enthält als bloße „Reste der Erfolgshaftung“.73 Zu einer solchen Theorie – die die erfolgsqualifizierten Delikte als eine neben die vorsätzlichen und fahrlässigen Rechts(guts)verletzungen tretende eigene Form strafwürdigen, (schwer oder schwerst) verbrecherischen Handelns zu begründen und zu entfalten hätte – gelangt man freilich nicht schon dadurch, daß man nur der lex lata folgt und deren mehr oder weniger sinnvolle Strafvorschriften nachzeichnet, systematisiert und möglichst widerspruchsfrei auszulegen versucht. Sie fordert vielmehr schon strafrechtsmethodisch einen anderen Ansatz, der, strikt dem Schuldgrundsatz verpflichtet, vom geltenden Gesetz zwar ausgeht, bei diesem aber nicht stehen bleibt, sondern vielmehr die diesem zugrunde liegenden Handlungs-, Unrechts- und Schuldbegriffe als Sinnstrukturen, also
70 Das gilt selbst dann, wenn man der Lehre Puppes nicht in jeder Hinsicht und schon gar nicht in allen Einzelheiten folgt. – So wird man etwa todeserfolgsqualifizierte Raubdelikte schon deshalb nicht ohne weiteres den erfolgsqualifizierten Freiheitsdelikten zuschlagen können, weil bei ihnen Freiheit als Strafrechtsgut eben in anderer Weise angegriffen wird als bei freiheitsberaubendem Handeln, und dies nicht nur in der Gewaltalternative. Nicht umsonst umfaßt § 35 StGB auch nur die äußere Fortbewegungsfreiheit als notstandsfähiges Strafrechtsgut, nicht aber auch die gegen (qualifizierte) Nötigungshandlungen geschützte Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit. – Vgl. zu einem weiteren Bedenken ferner in Fn. 87. 71 Heiße er „Unmittelbarkeitszusammenhang“ oder (wie dies der heute überwiegend gebrauchten Terminologie entspricht) „spezifischer Gefahrverwirklichungszusammenhang“. 72 Vgl. dazu statt anderer nur Kühl, Erfolgsqualifizierte Delikte (Fn. 31), S. 248– 252, der seine diesbezüglichen Ausführungen unter die ebenso zutreffende wie bezeichnende Überschrift „Allgemeines, soweit möglich“ stellt. 73 So die (durchaus ebenfalls in konstruktiv-kritischer Absicht verwendete) Formulierung etwa von Hirsch, Zur Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte, GA 1972, 65 (67).
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Vernunftprinzipien auch des Strafgesetzes freilegt und für die Frage nach der Rechtfertigung dieser Deliktsform fruchtbar zu machen sucht.74 Nun kann eine solche Theorie anläßlich eines Festschriftbeitrages schwerlich begründet, noch weniger in dessen Rahmen vorgetragen werden. Dies um so weniger, als sie sich offensichtlich nicht auf den hier ausschließlich thematischen Zusammenhang beschränken dürfte, sondern nicht weniger auch die Frage nach der Willensverfassung (Leichtfertigkeit?) einzubeziehen hätte, die das Unrecht der erfolgsqualifizierten Delikte mitkonstituiert. Immerhin lassen sich aber vielleicht zumindest erste Anhaltspunkte für ein solches Unternehmen finden, die jetzt abschließend – im Hinblick hauptsächlich auf das theoretisch wohl umstrittenste, praktisch jedoch wahrscheinlich wichtigste Delikt der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) – unter erneuter Aufnahme der eingangs ausführlich referierten BGH-Rechtsprechung herausgearbeitet und in Betracht gezogen werden sollen. Verfährt man so, dann ist hinsichtlich dieser Rechtsprechung zunächst noch einmal festzuhalten, daß sie – im Ausgang von der Annahme, der Unrechtscharakter der todeserfolgsqualifizierten Delikte sei entscheidend dadurch gekennzeichnet, daß die fahrlässige Todesfolge auf einer vorsätzlich begangenen, bereits für sich strafbaren Verletzungshandlung beruht – für das objektive Unrecht der Körperverletzung mit Todesfolge vor allem zwei Voraussetzungen aufgestellt hat: Erstens müsse die qualifizierende Todesfolge nicht notwendig auf einen lebensgefährlichen Erfolg der grunddeliktischen Handlung zurückgehen („Erfolgslösung“), sondern sie könne auch auf diese (scil.: die den äußeren Tatbestand des Grunddelikts erfüllende Handlung) zurückgeführt werden, sofern sie ihrerseits lebensgefährlich gewesen sei („Handlungslösung“); besonders in diesem letztgenannten Fall sei freilich, zweitens, zu fordern, daß die Lebensgefährlichkeit (der Handlung) sich in der qualifizierenden Todesfolge verwirklicht habe, und dies sei immer dann gegeben, wenn der – sei es auch erst infolge des Hinzutretens besonderer Umstände – eingetretene Tod des Tatopfers nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit liege.75 Diese Bestimmungen erscheinen freilich in mindestens zweierlei Hinsicht zweifelhaft. Zum einen ist nämlich schon im Ausgangspunkt kaum einzusehen, wie eine zwar an sich lebensgefährliche Handlung (wie sie etwa im „HochsitzFall“ den Gegenstand der Anklage bildete), die sich konkret jedoch gerade nicht lebensgefährlich ausgewirkt hat, aus einer Unrechtstat allenfalls mittlerer Schwere (Vergehen der einfachen Körperverletzung und der fahrlässigen Tötung) ein (schweres) Verbrechen machen soll, obwohl sie nicht den dafür sonst konsti74 Vgl. für einen solchen Ansatz einmal mehr Kant, Metaphysik der Sitten (1794), Einleitung in die Rechtslehre, § B. Was ist Recht?, AA VI, S. 229/230. 75 Vgl. dazu nochmals oben, unter Ziffer I., speziell unter 3.
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tutiven und deshalb auch zu Recht geforderten Erfolgsunwert aufweist.76 – Darüber hinaus ist aber auch das zweite Erfordernis ersichtlich unzutreffend, und zwar deshalb, weil die geforderte Verwirklichung der Lebensgefährlichkeit der Handlung nicht dadurch zu begründen ist, daß der am Ende eingetretene Erfolg vorsehbar gewesen ist: Verwirklichung ist eine Wirklichkeit, Vorhersehbarkeit dagegen eine Möglichkeit (der Voraussicht).77 Und: Wenn und insoweit man für die (schweren und Schwerst-)Verbrechen der erfolgsqualifizierten Delikte, namentlich der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB), eine Verwirklichung einer der grunddeliktischen Handlung anhaftenden Lebensgefährlichkeit ausreichen läßt, kann es sich dabei nicht um eine dem „Grundtatbestand des § 223 StGB eigentümliche Gefahr“,78 sondern es muß sich vielmehr um eine durch die konkrete körperverletzende Handlung real begründete und etablierte Lebensgefährlichkeit handeln.79 Nur eine solche kann sich nämlich so in der qualifizierenden Todesfolge verwirklichen, daß die Verwirklichung ein über den Zurechnungszusammenhang bei der fahrlässigen Tötung hinausgehendes Unrechtselement bildet und so die grunddeliktische todeserfolgsqualifizierte Handlung zu einer Unrechtshandlung anderer Qualität (Verbrechen) zu qualifizieren vermag. Nur so ist – um eine treffende Formulierung Wilfried Küpers zu variieren – zu gewährleisten, daß ein todeserfolgsqualifiziertes Delikt mit (schwerem) Verbrechenscharakter nicht unter der Hand nur auf ein „folgenschweres Grunddelikt“ reduziert wird.80 Daß eine solche Gefährlichkeit vor allem dann gegeben ist, wenn die grunddeliktische Handlung einen lebensgefährlichen Verletzungserfolg bewirkt hat, wird
76 Vgl. zu dem damit angesprochenen Gefährlichkeitsunwert besonders Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, in: Bockelmann-FS (1979), S. 158 ff. 77 Vgl. dazu auch schon die treffende Kritik von Maiwald, Zurechnungsprobleme, (Fn. 3), S. 443 f. – Im übrigen weist die Fahrlässigkeitsdogmatik der Rechtsprechung an dieser Stelle einen weiteren Mangel auf (auch wenn dieser für den hier gegenständlichen Zusammenhang nicht von entscheidender Bedeutung ist): Wenn nämlich die Vorhersehbarkeit allein auf den Erfolg, also auf das Ergebnis des deliktischen Geschehens bezogen sein soll, so wird dadurch zwar einerseits zu Recht der Unwert des rechtsgutsverletzenden Erfolgs betont, aber es wird dieser im Hinblick auf den Willensbezug des (potentiellen) Täters verfehltermaßen von der Art und Weise seines Zustandekommens abgetrennt und so die Parallelstruktur zum Vorsatzdelikt verkannt, bei dem (auch von der Rechtsprechung) für das vorsätzliche Unrechthandeln ein Bezug des Tatvorsatzes auf den „Kausalverlauf in seinen wesentlichen Umrissen“ (und damit auf das ganze objektive Unrecht) gefordert wird. 78 So aber ausdrücklich etwa BGH NStZ 1992, 335 f. 79 Zutreffend erkannt und dargelegt von Engländer, Gefahrenzusammenhang, aaO. Fn. 6, S. 674–679; sachlich übereinstimmend Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1 (Fn. 12), Rn. 299 ff. 80 Vgl. ders., „Erfolgsqualifizierter“ oder „folgenschwerer“ Versuch? Über die Grundlagen des sog. erfolgsqualifizierten Versuchs, in: Strafrecht zwischen System und Telos, Herzberg-FS (2008), S. 323 (mit eingehender Kritik der „Strafzumessungslösung“ von Herzberg und Hardtung).
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nun nicht etwa nur von den Vertretern der Letalitätslehre vorgetragen, zu denen, wie vorstehend erinnert wurde, für die todeserfolgsqualifizierten Körperverletzungsdelikte auch Ingeborg Puppe zählt,81 sondern bildet bei näherem Hinsehen auch den Sinn des von der Rechtsprechung aufgestellten Unmittelbarkeitserfordernisses, das insofern „quer“ zu der Handlungslösung steht, die gerade auch der BGH vertritt. Wenn nämlich die geforderte „Unmittelbarkeit“ darin bestehen soll, daß die die grunddeliktische Unrechtshandlung zu einem Verbrechen qualifizierende Todesfolge nicht erst durch das Eingreifen Dritter oder das Verhalten des Opfers selbst herbeigeführt wurde,82 so kann dies nur bedeuten, daß diese Handlung ihrerseits Lebensgefahr begründet hat.83 Wie anders sollte sonst der Tod als der rechtgutsverletzende Erfolg dieser Handlung eingetreten und zu erklären sein? Nun ist dem BGH seitens der Literatur und dabei nicht zuletzt auch von Ingeborg Puppe immer wieder entgegengehalten worden, daß er sich zwar verbaliter durchgehend auf das Unmittelbarkeitserfordernis berufen, dieses aber der Sache nach schrittweise aufgegeben habe.84 Daß dieser Einwand zutrifft,85 ist kaum zu widerlegen. Angesichts dessen kann man freilich ebenso gut die Frage aufwerfen, ob ein striktes Unmittelbarkeitserfordernis das objektive Unrecht der Körperverletzung mit Todesfolge angemessen erfaßt. Denn immerhin war auch das Opfer im „Rötzel-Fall“ durch die vorangegangenen Körperverletzungshandlungen in
81 Mit der Maßgabe, daß eine 100%-ige Letalität des Körperverletzungserfolges zu fordern sei; vgl. dies., Erfolgszurechnung, aaO. Fn. 2, S. 225, 227 und öfter. 82 Vgl. für dieses „Unmittelbarkeitsverständnis“ nicht nur die dafür zumeist angeführte „Rötzel-Entscheidung“ (BGH NJW 1971, 152), sondern auch BGH MDR 1954, 150; BGH MDR 1954, 150 f.; sowie BGH MDR 1982, 102 (103). 83 Nur am Rande sei daher darauf hingewiesen, daß die Bestimmung des Unmittelbarkeitsbegriffs in anderen strafrechtlichen Zusammenhängen für das Unmittelbarkeitserfordernis bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten nicht weiter hilft. So führt etwa die Ausfüllung dieses Begriffs im Kontext der Versuchslehre letztlich nur wieder auf die Ausgangsfrage zurück: Wenn und insoweit nämlich etwa das „unmittelbare Ansetzen“ einer Versuchshandlung bedeuten soll, daß diese „ohne wesentliche Zwischenschritte“ zur Tatbestandsverwirklichung führen soll, führt dies bei Übertragung der Bestimmung auf die todeserfolgsqualifizierten Delikte nur zu der weiteren Frage, was deren „Wesen“ und also ihren Unrechtsgehalt eigentlich ausmacht. – Ebensowenig läßt sich aus der Verwendung des Unmittelbarkeitsbegriffs im Kontext des Vermögensstrafrechts Gewinn für die Begriffsbestimmung bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten ziehen: Daß eine Vermögensverfügung ein selbstschädigendes Verhalten ist, das „ohne weitere deliktische Zwischenschritt“ einen Vermögensschaden bewirkt, ist auf das Unmittelbarkeitserfordernis bei § 227 StGB (oder anderen todeserfolgsqualifizierten Delikten) ersichtlich schwerlich übertragbar. 84 Anschaulich spricht etwa Paeffgen, NK-StGB, § 18 Rn 27a mit Bezug auf BGHSt 48, 34 („Gubener Verfolgungsjagd“) von einer „Absatzbewegung von den Rötzel-Maximen“, ohne daß das „Distinguishing gegenüber Rötzel . . . ernsthaft erklärt“ würde. 85 Vgl. außer der gerade zitierten Entscheidung BGHSt 48, 34 nur BGH NStZ 1992, 333 („Gummihammer-Fall“); BGH NStZ 1992, 335 (Fenstersturz-Fall“); und BGH NStZ 1994, 394 („Behandlungsverweigerungs-Fall“).
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eine Lage gebracht worden, in der der tödlich ausgegangene Fluchtversuch nicht nur nahe gelegen hat (also voraussehbar gewesen ist), sondern – von dem Problem der Freiverantwortlichkeit dieses Versuchs hier einmal abgesehen – sich auch ex ante selbst dann als eine durchaus sinnvolle Reaktion des Opfers darstellt, wenn er selbst lebensgefährlich war.86 Soll es angesichts dessen wirklich – anders als etwa bei den erfolgsqualifizierten Freiheitsdelikten, wo der Eintritt der Todesfolge aufgrund lebensgefährlicher Fluchthandlungen ganz überwiegend als Verwirklichung der tatbestandsspezifischen Gefahr beurteilt wird87 – am Eintritt einer durch die vorangegangene grunddeliktische Handlung begründeten Lebensgefahr und deren Verwirklichung aufgrund der tödlich ausgegangenen Opferreaktion fehlen? Dafür läßt sich immerhin zweierlei anführen: Zum einen läßt sich das Leben eben nur durch Körperverletzungshandlungen, nicht aber auch durch freiheitsberaubende Straftaten (oder andere Grunddelikte)88 angreifen, bei denen selbstschädigende Verhaltensweisen des Tatopfers, etwa durch Flucht, oder auch opferschädigendes Rettungshandeln Dritter (Befreiungsversuche) deswegen auch die wichtigsten Fälle des todeserfolgsqualifizierten Delikts bilden.89 Insofern läßt 86 Das gilt in stärkerem Maße noch für den am Ende tödlich ausgegangenen Fluchtversuch in BGHSt 48, 34, der nicht nur in der Opferperspektive (und also auch nicht etwa angstbedingt) kaum lebensgefährlich erschienen sein dürfte. Jedenfalls angesichts solcher Konstellationen scheint mir das Argument Puppes, es dürfe die Zurechnung des Todes zum Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge „insbesondere nicht von mehr oder weniger freiwillig zu treffenden Entscheidungen von Personen“ abhängen (so ausdrücklich dies., Erfolgszurechnung [Fn. 2], S. 227 unter Verweis auf NStZ 1993, 21 [24]), doch viel von seiner Überzeugungskraft einzubüßen. – Anders lagen die Dinge im „Fenstersturz-Fall“ (BGH NStZ 1992, 335): Sich aus dem 10. Stock eines Gebäudes 27 m in die Tiefe fallen zu lassen, läßt schon von vornherein keine Rettung erwarten. 87 Vgl. nur BGHSt 19, 382; 33, 322 (323/324). – Gerade diese, auch von der Lit. weitgehend geteilte Beurteilung führt freilich zu dem Bedenken, daß der thematische Zusammenhang jedenfalls bei den Freiheitsdelikten mit Todesfolge nicht ohne weiteres als ein zu den Erfordernissen von Kausalität und objektiver Zurechnung hinzutretendes Unrechtsmerkmal verstehbar ist: Denn die mit diesen Delikten verbundene (äußere) Freiheitsbeschränkung ändert in aller Regel nichts daran, daß Fluchtversuche des Opfers (oder auch Rettungsbemühungen Dritter), die tödlich enden, im strafrechtlichen Sinne freiverantwortlich unternommen werden, weshalb die Realisierung flucht- oder rettungsbedingter Gefahren die objektive Zurechnung an den Täter der Freiheitsberaubung nach den sonst (?) anerkannten Grundsätzen ausschließt – ein Umstand, den Ingeborg Puppes Rede, Freiheitsdelikte nötigen das Opfer oder die um sein Wohl Besorgten geradezu, andere Gefahren für den Verletzten einzugehen (vgl. oben, bei Fn. 68), eher verschleiert. 88 Etwas anderes gilt natürlich für diejenigen todeserfolgsqualifizierten Tatbestände, bei denen das Unrecht des Grunddelikts – wie etwa bei § 251 StGB – auch durch Gewalthandlungen verwirklicht werden kann; diese können, sofern sie auf den Körper des Opfers einwirken, ebenfalls Lebensgefahr begründen. Insofern stehen diese Tatbestände der Körperverletzung mit Todesfolge mindestens ebenso nahe wie den erfolgsqualifizierten Freiheitsberaubungsdelikten, und 89 Dies um so mehr als § 239 StGB die „langfristige“ und eben deshalb lebensgefährliche Freiheitsberaubung in Abs. 3 Nr. 1 gesondert erfaßt.
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sich die Körperverletzung mit Todesfolge gleichsam als Prototyp der erfolgsqualifizierten Verbrechen auffassen.90 Zum anderen ist zu bedenken, daß die tödliche Folge in solchen Fällen (auch) durch den Willenszwang vermittelt wird, unter den das Opfer gerät. Daraus jedoch (einschränkungslos) den Schluß zu ziehen, es handele sich deshalb um einen nötigungsspezifischen (also nicht mehr: körperverletzungsspezifischen) Tod, und einen Tatbestand der Nötigung mit Todesfolge gebe es nun einmal nicht,91 ist schon deswegen zweifelhaft, weil dieser Einwand überhaupt nur dort in Betracht kommt, wo die körperverletzende Gewalt (zumindest auch) zu Nötigungszwecken eingesetzt wird.92 Das aber ist mitnichten durchgängig der Fall.93 Damit sind nun am Ende zwar eher weitere Fragen aufgeworfen als bereits „Lösungen“ gefunden. Gerade deshalb steht aber sehr zu hoffen, daß Ingeborg Puppe noch lange an deren Beantwortung mitarbeiten wird. Ihre Untersuchungen zu den todeserfolgsqualifizierten Delikten haben deren Dogmatik, wie durch die vorstehenden Überlegungen deutlich geworden sein sollte, nicht nur beeinflußt, sondern konstruktiv vorangebracht. Sie werden deshalb auch in Zukunft stets einen wichtigen Bezugspunkt und Prüfstein für das hier vorgeschlagene Projekt bilden, zu einer allgemeinen Theorie der (todes-)erfolgsqualifizierten Delikte zu gelangen.
90 Aufgrund dessen ist es als Rückschritt der Gesetzgebung zu betrachten, wenn § 251 StGB gegenwärtiger Fassung für das grunddeliktische Geschehen nicht mehr auf die Gewalt, sondern auf den „Raub“ abstellt. 91 Vgl. in diesem Sinne schon BGH MDR 1954, 150 f.; sowie aus der Literatur etwa Laue, Erfolgsqualifizierter Versuch (Fn. 25); Paeffgen, Die erfolgsqualifizierten Delikte (Fn. 5), S. 227. 92 Daran läßt sich im Fall der „Gubener-Verfolgungsjagd“ (BGHSt 48, 34) durchaus denken (vgl. dazu Engländer, Der Gefahrenzusammenhang (Fn. 6), S. 682/683); unabhängig davon ist dieser Fall jedoch letztlich nicht zutreffend entschieden, weil es bezüglich des konkreten Tatgeschehens an einem grunddeliktischen Versuch mangelt: Die „bloße Demonstration von Gewaltbereitschaft“ (so die Formulierung von Puppe, JR 2003, 125), auch wenn sie noch so aggressiv-martialisch erfolgt, ist eben nicht schon Tat des grunddeliktischen Versuchs. 93 So ist etwa weder in der „Rötzel-Entscheidung“ (BGH NJW 1971, 152) noch im „Fenstersturz-Fall“ (BGH NStZ 1992, 335) eine über die Zufügung von körperverletzenden Schlägen hinausgehende Zwecksetzung ersichtlich, so daß derartige Konstellationen als todeserfolgsqualifiziertes Delikt gar nicht erfaßbar wären.
Die Grundformen beteiligungsdogmatischer Systembildung Ein Streifzug durch Europa in kritischer Absicht Von Diethelm Klesczewski Strafe zieht den Menschen höchstpersönlich zur Verantwortung. Dem muss eine Höchstpersönlichkeit der Tatbestandsvoraussetzungen entsprechen. Sie ist zunächst bei dem gegeben, dessen Handeln alle Tatbestandsmerkmale aus sich heraus erfüllt, der „die Straftat selbst . . . begeht“, wie es § 25 I 1. Alt. StGB formuliert. Nun stellt jede Tatbestandsverwirklichung immer auch einen Angriff (i. S. v. § 32 StGB) dar. Daraus lässt sich ein materielles Kriterium entwickeln, das auch die Tätereigenschaft der anderen Täterschaftsformen erklärt.1 Nachstehende Ausführungen wollen diese These indirekt beweisen, indem sie die Dilemmata aufzeigen, die entstehen, wenn man Täterschaft nicht über das Merkmal des Angriffs definiert. Die Rechtsvergleichung lehrt, dass drei und nur drei Grundtypen von Beteiligungssystemen zu unterscheiden sind.2 Man kann einmal alle Weisen der Beteiligung miteinander identifizieren (Einheitstätersystem). Man kann ferner zwei Beteiligungsformen unterscheiden und zugleich die eine auf die andere beziehen (akzessorisches Teilnahmesystem). Schließlich lassen sich verschiedene Beteiligungsfiguren voneinander abgrenzen, ohne eine an der anderen auszurichten (nicht-akzessorisches Teilnahmesystem). Für jedes dieser Grundmodelle findet sich in den Strafrechtsordnungen der europäischen Staaten ein Beispiel. Sie will ich im Folgenden auf die Kompatibilität mit den eigenen Grundprinzipien unter-
1 Klesczewski, Selbständigkeit und Akzessorietät der Beteiligung an einer Straftat, Habilitationsschrift Hamburg, 1998 (abrufbar unter: www.uni-leipzig.de/~rphil/www/ bibliothek.html), S. 241 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, 2008, Rn. 539 f. – Soweit nicht anders gekennzeichnet, sind Sigel entsprechend Kirchner/Fiala, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache6, 2008, verwendet. Weitere Kürzel: Mat., Bandzahl, S. = Materialien zur Strafrechtsreform, Band I–XV, 1954–1962; Ndschr., Bandzahl, S. = Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. I–XIV, 1956–1960; Prot. V, S. = Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform des Deutschen Bundestages – 5. Wahlperiode, 1966–1969. 2 Dietz, in: Mat. II, S. 329; etwas andere Akzentsetzung bei Birkmeyer, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, hrsg. v. demselben u. a., Bd. II, 1908, S. 3 f., 5 f.; zur Methode grundlegend: Jescheck, Entwicklungen, Aufgabe und Methoden der Strafrechtsvergleichung, 1955, S. 41 f.
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suchen. Das dem deutschen Recht zugrunde liegende Beteiligungssystem, dessen dogmatischer Durchdringung wir Bleibendes der Jubilarin verdanken, wird sich dabei als eines der ausgereiftesten Modelle erweisen, dem es bisher freilich an einer konsequenten Handhabung gebricht. I. Die zentralen Strukturelemente: Selbständigkeit oder Akzessorietät einer Beteiligungsfigur Das Gegensatzpaar, das die eben beschriebenen Grundtypen beherrscht, besteht in der Akzessorietät (der Teilnahme) und der Nicht-Akzessorietät, der Primärität oder auch Selbständigkeit (der Täterschaft). Dem Akzessorietätsprinzip werden gewöhnlich drei voneinander zu unterscheidende, aber auch aufeinander aufbauende Dimensionen gegeben.3 Dem müssen, was bisher weniger beachtet wurde, drei Sinnebenen der Selbständigkeit der Beteiligung (Täterschaft) entsprechen. 1. Unter Akzessorietät wird heute eine bestimmte Form der Abhängigkeit der einen Beteiligungsform (Teilnahme) von einer anderen (Täterschaft) verstanden. Für das geltende Recht heißt dies, dass die Teilnahme auf eine fremde vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat bezogen ist. Man unterscheidet hinsichtlich der Voraussetzungen der Strafbarkeit die „qualitative“, oder auch „innere“ Akzessorietät4 von der „quantitativen“, oder auch „äußeren“ Akzessorietät5, zu denen als Drittes hinsichtlich der Rechtsfolgen die Akzessorietät im Strafmaß hinzukommt6, auf die ich hier aber aus Platzgründen nicht näher eingehe. a) Bei der „qualitativen“ oder „inneren“ Akzessorietät geht es um die Frage, welche deliktische Beschaffenheit die Haupttat aufweisen muss, auf welche die Teilnahme bezogen ist: Im Ausgang von Max Ernst Mayer lassen sich hier verschiedene „Grade“ unterscheiden.7 Die Teilnahme ist danach minimal-akzessorisch, sofern es genügt, dass der Haupttäter sich objektiv tatbestandsmäßig verhält, sie heißt limitiert-akzessorisch, falls die Haupttat zudem noch rechtswidrig ist. Extrem akzessorisch nennt Mayer die Teilnahme, wenn der Täter zudem noch
Überblick bei Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I5, 2003, § 12 Rn. 123 ff., 181 ff. 4 Vgl. etwa die Überschrift zum 23. Abschnitt bei Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, S. 677. Ähnlich Maurach/Gössel, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 27, 1989, § 53 Rn. 1, 2 ff., 81 ff. („qualitative“ und „quantitative“ Akzessorietät). 5 Näher Jakobs (Fn. 4), Rn. 22/10 ff., 19 f. (mit Überschrift). 6 Die Akzessorietät im Strafmaß wird häufig nicht gesondert behandelt, so etwa Jakobs (Fn. 4), Rn. 23/1 ff.; Maurach/Gössel (Fn. 4), § 53 Rn. 2 ff. Wie hier dagegen Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 3), § 12 Rn. 182 ff. 7 Mayer, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts1, 1915, S. 390 f.; daran anknüpfend Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen, 1957, S. 31. 3
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schuldhaft (und vorsätzlich) gehandelt hat,8 schließlich hyperakzessorisch, soweit strafmodifizierende besondere persönliche Merkmale der Haupttat ohne weiteres auch den Teilnehmer be- oder entlasten9. b) Demgegenüber wird meist unter dem Titel der „quantitativen“ Akzessorietät das Problem behandelt, ob und wenn ja von welchem Verwirklichungsstadium der Haupttat die Strafbarkeit der Teilnahme abhängt. Der Sache nach geht es also um die Frage, ob es für die Strafwürdigkeit zureicht, dass der Teilnehmer lediglich seinen Beitrag erbringt mit der inneren Willensrichtung, es möge zur Haupttat kommen, oder aber ob der Täter diese darüber hinaus wenigstens versucht haben muss. Thematisch ist also, ob der („innere“, „gedankliche“) Bezug zu einer (in ihren qualitativen Merkmalen festgelegten) möglichen Haupttat genügt, oder ob darüber hinaus auch ein „äußerer“ Zusammenhang des Teilnehmerbeitrages zu einer wirklichen (versuchten oder vollendeten) Haupttat erforderlich ist. Im Folgenden spreche ich dies als äußere Akzessorietät an. 2. Diesen beiden Sinnbezügen der Akzessorietät lassen sich nun zwei Ebenen der Selbständigkeit der Täterschaft gegenüberstellen. a) Liegt die qualitative Akzessorietät der Teilnahme darin, in ihrer Strafbarkeit von einer bestimmt beschaffenen Tat eines anderen abzuhängen, macht es die (qualitative) Selbständigkeit der Täterschaft aus, dass deren Strafbarkeit überhaupt nicht auf das aus sich heraus vollständig tatbestandsmäßige Handeln eines anderen bezogen ist. Angesichts von § 25 I 1 Alt. StGB scheint dies eine bare Selbstverständlichkeit zu sein. Doch bezeugt die Existenz von Konvergenzdelikten10 (z. B. § 121 StGB), dass es auch Tatbestände gibt, die man nicht verwirklichen kann, wenn man nicht mit anderen zusammen handelt. b) Ist es für die äußere Akzessorietät der Teilnahme charakteristisch, dass der Haupttäter infolge des Beitrages des Teilnehmers wenigstens zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt hat, müsste sich die (äußere) Selbständigkeit der Täterschaft gerade darin manifestieren, dass allein das eigenhändige Tun des Täters den Versuchsbeginn markiert. Während sich dieses Kriterium beim Ansetzen des Alleintäters von selbst versteht, deckt es beim Versuchsbeginn der ande-
8 Mayer (Fn. 7), S. 391, genauso heute: Maurach/Gössel (Fn. 4), § 53 Rn. 92; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 26 Rn. 32; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 3), § 12 Rn. 125; Welzel, Das Deutsche Strafrecht11, 1969, S. 112. Häufig findet man leider eine terminologische Gleichsetzung von „extremer“ und „strenger“ Akzessorietät. 9 Eine solche kannte die Lex Pompeia de parricidiis, Dig. 48, 9, 6. Eingehend dazu Rein, Criminalrecht der Römer, 1844, S. 459 f.: Danach wird man, wenn man an dem Mord fremder Eltern bloß teilnimmt, härter bestraft, als wenn man diese Personen eigenhändig umbringt. Eine entsprechende Regelung kannte noch Art. 59, 299, 302 I Code Penál 1810; im Ergebnis ähnlich wie § 28 II StGB jetzt Art. 121-6 Nouveau Code Penál 1994, vgl. Stephanie Fournier, RSC 1995, S. 475 (480). 10 Hierzu Küper, GA 2003, S. 363 (377).
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ren Täterschaftsformen, wie noch näher zu zeigen ist, das Dilemma auf, entweder auf der Selbständigkeit zu beharren und dann die Grenze zur Vorbereitung zu überschreiten, oder aber diese Grenze einzuhalten mit der Konsequenz, die Mittäterschaft und die mittelbare Täterschaft wie eine Teilnahme akzessorisch zu konstruieren. 3. Nach diesen beiden Sinnelementen der Selbständigkeit der Täterschaft bzw. der Akzessorietät der Teilnahme sollen im Folgenden die verschiedenen Beteiligungsmodelle auf ihre innere Schlüssigkeit hin überprüft werden. II. Die Einheitstäterlösung Auf den ersten Blick scheint es allein die eben beschriebene Selbständigkeit der Täterschaft zu sein, die besonders gut mit der Höchstpersönlichkeit der strafrechtlichen Rechtsfolge harmoniert. Hieraus gewinnt die Einheitstäterlehre 11 ihren Impetus, jeden an einer tatbestandsmäßigen Verletzung Mitwirkenden unabhängig von den Tatbeiträgen anderer jeweils nur nach eigenem individuellen Unrecht und eigener Schuld betrachten zu wollen.12 Hierbei ist nach Kienapfel das formale vom funktionalen Einheitstätersystem zu unterscheiden.13 1. Das formale Einheitstätersystem Das formale Einheitstätersystem beansprucht, mit dem Begriff „Täterschaft“ jede denkbare Möglichkeit der Mitwirkung am tatbestandsmäßigen Erfolg unterschiedslos gleich zu erfassen. Zur Blütezeit der modernen Schule galt dies als eine zwingende Konsequenz der als Zurechnungslehre zugrunde gelegten Äquivalenztheorie: „Aus dem Begriff der Ursache folgt, dass jeder, der durch Setzen einer Bedingung zu dem eingetretenen Erfolg an dessen Herbeiführung sich beteiligt, den Erfolg verursacht hat; dass, da alle Bedingungen des Erfolges gleichwertig sind, zwischen den einzelnen an der Herbeiführung des Erfolges Beteiligten ein begrifflicher Unterschied nicht besteht; dass mithin ihre verschiedene Bestrafung innerhalb desselben Strafrahmens gerechtfertigt ist.“14 11 Von der modernen Schule: Heimberger, MittIKV 11, 1904, S. 538; aus rechtsphilosophischer Sicht: Makarewicz, Einführung in die Philosophie des Strafrechts, 1906, S. 340 f.; für das „Willensstrafrecht“: v. Dohnanyi, in: Das kommende deutsche Strafrecht, Allgemeiner Teil, hrsg. v. Gürtner, 1934, S. 75; von den Finalisten: Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975, S. 115 ff. 12 Agge, ZStW 71, 1959, S. 305 (308); Getz, MittIKV 5, 1896, 348 (351, 355); Hagerup, ZStW 29, 1909, S. 614 (622); Kienapfel, in: Strafrechtsdogmatik und Kriminalität, hrsg. v. Müller-Dietz, 1971, 21 (26); v. Liszt, MittIKV 5, 1896, S. 515 f.; Makarewicz (Fn. 11), S. 340 f., 436; Platzgummer, JBl. 1971, S. 236 (244 f.). 13 Kienapfel (Fn. 12), S. 21 ff., 26 ff., 34 ff. 14 So, in voller Klarheit: v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts21/22, 1919, S. 204.
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a) Dieses Programm hat am konsequentesten Art. 110 Codice Rocco, das italienische Strafgesetzbuch von 1930, umgesetzt.15 Gemäß dem formalen Einheitstäterbegriff geht der Vorwurf an den Einzelnen dahin, dass, hätte er anders gehandelt, eine Bedingung für den Erfolg, mithin dieser selbst entfallen wäre (s. Art. 41). Damit scheint ein Kriterium gefunden, mit dem das Tun jedes Einzelnen ohne Blick auf die anderen als Unrecht ausgewiesen werden kann. Doch trügt der Schein. Qualitative Akzessorietät liegt vor, wenn das Tun die Dimension der Strafwürdigkeit erst durch sein Bezogensein auf eine fremde Tat erhält. Nun gilt dem formalen Einheitstäterbegriff bereits jedes Setzen einer notwendigen Bedingung für die Rechtsgutsverletzung als eine Tat. Damit der Erfolg wirklich eintritt, bedarf es aber nicht nur des Setzens einer notwendigen Bedingung, sondern aller. Jeder Beteiligte ist daher darauf verwiesen, dass der andere seine Bedingung zum Erfolg beiträgt. Da aber dem Einheitstäterbegriff gerade dieses Setzen einer notwendigen Bedingung durch den anderen als tatbestandsmäßiges Verhalten gilt, ist jeder Beteiligte folglich auf die so charakterisierte fremde Tat des jeweils anderen bezogen. Hierin besteht nicht nur eine, oftmals „faktisch“ genannte Abhängigkeit des einen Beteiligten vom anderen,16 sondern eine rechtliche. Zwar trifft es zu, dass es für jeden Beteiligten irrelevant ist, ob der andere vorsätzlich oder fahrlässig oder überhaupt schuldhaft handelt. Insofern herrscht hier keine limitierte oder extreme Akzessorietät.17 Aber gerade dadurch, dass dem formalen Einheitstäterbegriff zufolge jedes Setzen einer Bedingung für den Erfolg als Tatbestandserfüllung zu werten ist, macht er das Unrecht des einen unweigerlich umfassend rechtlich abhängig von der Tatbestandsverwirklichung der anderen. Noch deutlicher kommt die qualitative Akzessorietät bei Sonderpflichtdelikten zum Vorschein:18 Nehmen wir die in Art. 314 geregelte Amtsunterschlagung. Hier reicht es ersichtlich nicht aus, dass die Mitwirkenden allein, wie in Art. 110 angesprochen, die Qualität aufweisen, Personen zu sein. Sollen alle Mitwirkenden nach Art. 314 bestraft werden können, wie es dem Zweck des Art. 110 entspricht, muss mindestens einer von ihnen als Beamter handeln. Derjenige Beteiligte aber, dem diese Sonderpflicht nicht obliegt (Extraneus), kann nur durch den akzessorischen Bezug auf die Tat eines Amtsträgers bestraft werden, so Art. 117 15 Zu Reformbestrebungen, die allerdings bisher am Grundkonzept eines Einheitstäters nichts geändert haben, s. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil5, 1996, S. 662; Mezetti, ZStW 105, 1993, S. 625 (631 f.); Militello, GA 2006, S. 328 (329 Fn. 3); vgl. w. D. Bock, Jura 2005, S. 673 ff. 16 Detzer, Das Problem der Einheitstäterlösung, Diss. Erlangen, 1972, S. 80; vgl. w. Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 25. 17 Darauf hebt ab: Hoegel, ZStW 37, 1916, S. 651 (667 ff.); kritisch zu dieser Engführung: Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 174 ff. 18 Gallas, Mat. I, S. 121 (143) (= Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 78 ff.); zust. Jakobs (Fn. 4), Rn. 21/6; vgl. w. Maiwald, in: Festschrift für Bockelmann, hrsg. v. Arthur Kaufmann u. a., 1979, S. 343 (351 ff.).
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selbst.19 Auch hier ist es unredlich, von einer bloß faktischen Abhängigkeit zu sprechen. Denn es ist gerade die juristische Wertung der besonderen Verwerflichkeit der Amtsunterschlagung, die zur Ausformulierung dieses Tatbestandes und zur Eingrenzung des Täterkreises geführt hat. Der formale Einheitstäterbegriff ist daher jedenfalls minimal akzessorisch.20 b) Auch die äußere Selbständigkeit der Täterschaft ist in einem formalen Einheitstätersystem fraglich. Soweit das Delikt nur als vollendetes strafbar ist, wie es etwa der Codice Rocco für die Übertretungen vorsieht (Art. 56, 39, 17, 650 ff.), bedarf es zur Strafbarkeit des Erfolgseintritts, so dass die Strafbarkeit des Ersthandelnden davon abhängt, dass auch der Letzthandelnde seine Bedingung setzt. Das Tun von jenem ist mithin äußerlich akzessorisch zu dem Handeln von diesem. Ist der Versuch strafbar, wie es beim Codice Rocco bei den Verbrechen stets der Fall ist (Art. 56, 39, 17), ließe sich zwar erwägen, den Anfang, den eigenen Beitrag zu erbringen, als Versuchsbeginn anzusehen. Doch würde man für diese Konstruktion an anderer Stelle einen hohen Preis zahlen: Noch das Ansetzen zur entferntesten Hilfeleistung erschiene dann als Anfang der Ausführung der Tat selbst. Wäre dem so, ließe sich die Unterscheidung zwischen Vorbereitung und Versuch, die auch dem Codice Rocco zugrunde liegt (Art. 56 I), nicht mehr aufrecht erhalten. Ferner entstünde die paradoxe Situation, dass das Opfer gegen den Hilfeleistenden Notwehr müsste üben können, weil dessen Handeln als Versuch der Tat, damit als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (Art. 52) anzusehen wäre, während gegen den die Hilfe empfangenden Täter noch keine Verteidigung statthaft wäre. Da die italienische Doktrin dies vermeiden will,21 lässt sie die Zone der Strafbarkeit erst mit dem Versuch des Letzthandelnden beginnen und muss folglich alle im Vorbereitungsstadium geleisteten Tatbeiträge akzessorisch auf die während der Ausführungsphase erbrachten Tatbeiträge ausrichten. Man hat damit den Boden der Einheitstäterlehre verlassen.22 Das formale Einheitstätersystem kommt daher auf beiden Sinnebenen nicht ohne akzessorische Bezüge aus. Es nimmt danach nicht wunder, dass die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Lehre gegen den eindeutigen Willen des Gesetzgebers den Art. 110 in Richtung auf ein akzessorisches Teilnahmesystem auslegt.23 19 Strittig ist, ob der Intraneus die Ausführungshandlung selbst vollziehen muss, dafür: Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte Generale5, 2007, S. 519; dagegen: Mantovani, Diritto penale, Parte Generale5, 2007, Rn. 163. 20 Nach überwiegender Ansicht haftet der Extraneus auch, wenn der Intraneus unvorsätzlich handelt, Mantovani (Fn. 19), Rn. 163. 21 Mantovani, Principi di diritto penale, 2002, Rn. 137; vgl. w. Paliero, ZStW 110, 1998, S. 417 (431). 22 Entschieden so die Kritik von Bloy (Fn. 17), S. 154. 23 Detzer (Fn. 16), S. 112 (120 f., 130). Diese Feststellung steht allerdings in merkwürdigem Kontrast zu dessen eigener Option für den Einheitstäter, s. ibid., S. 275 f.
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2. Funktionales Einheitstätersystem Die Schwierigkeiten, welche die italienische Doktrin mit dem formalen Einheitstätersystem hat, suchen die §§ 12–14 öStGB24 zu vermeiden, indem sie unter dem Dach eines einheitlichen Täterbegriffs die Begehungsweisen des Ausführens, Bestimmens und Beitragens unterscheiden.25 Dabei macht aber § 14 I nur die qualitative Akzessorietät des Handelns des Extraneus von demjenigen des Intraneus explizit,26 während dem § 15 II öStGB zu entnehmen ist, dass die Strafbarkeit der Beitragstäterschaft (§ 12 3. Var. StGB) äußerlich akzessorisch zum Ansetzen des unmittelbaren Täters ist.27 Koordiniertes Unrechttun ist danach augenscheinlich von einer inneren Gesetzmäßigkeit geprägt, deren sich ein Einheitstätersystem trotz entgegenstehender Intentionen und terminologischen Festlegungen nicht entziehen kann und die es unter der Hand in ein Teilnahmesystem verwandeln. III. Das Teilnahmesystem Zu unterscheiden sind akzessorische (2.) und nicht-akzessorische Teilnahmesysteme (1.). 1. Die Verselbständigung von Täterschaft und Teilnahme Die Konstruktion von Täterschaft und Teilnahme als selbständige Beteiligungsfiguren, meist verknüpft mit einer Theorie vom Teilnehmerdelikt, verfolgt ein ähnliches Ziel wie die Einheitstäterlehre: Auch der Teilnehmer soll ausschließlich für eigenes Unrecht und eigene Schuld haften. Soweit ersichtlich, ist eine Theorie vollständiger Verselbständigung der Teilnahme von der Täterschaft in keinem Land der Erde konsequent durchgeführt worden. Der Kodeks karny, das polnische Strafgesetzbuch vom 1.6.1997, weist freilich Züge der Verselbständigung der Teilnahme im Bereich der äußeren Akzessorietät auf. 24 Gesetz vom 23.1.1974 (BGBl. Nr. 60/1974) zuletzt geändert durch Strafrechtsänderungsgesetz vom 1.1.2008 (BGBl. I Nr. 109/2007). Eine ähnliche Regelung kannte schon das Borgerlig Straffelov, das Bürgerliche Strafgesetz Dänemarks von 1930, in Art. 23 I 1 (vgl. D. Bock, Jura 2005, S. 673 ff.), während das Almindelig Borgerlig Straffelov, das Allgemeine Bürgerliche Strafgesetz Norwegens von 1902, z. B. in § 228 I, den Weg geht, Tatbestände des Besonderen Teils durch Regelungen zu ergänzen, die auch jedwede andere Mitwirkung pönalisieren. Hierzu: Andanaes, in: Mezger/Schönke/ Jescheck, Das ausländische Strafrecht, Band IV, 1962, S. 263 (394). 25 OGH, JBl. 1994, S. 627 (629); Fabrizy, in: Wiener Kommentar, Band I2, hrsg. v. Höpfel u. a., 2006, § 12 Rn. 13 ff.; Kienapfel (Fn. 12), S. 21 (34) (vgl. D. Bock, Jura 2005, S. 673 ff.). 26 Schlagend die Kritik Roeders, JBl. 1975, S. 561 (572); zust. Bloy (Fn. 17), S. 170; für eine akzessorische Lösung daher: Burgstaller, ÖRZ 1975, S. 13 (16 f.); zust. Lewisch, JBl. 1989, S. 294 (300 f.); Versuch einer Verteidigung bei Schmoller, GA 2006, S. 365 (368 f.). 27 Fabrizy (Fn. 25), § 12 Rn. 85.
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a) Es ist das Verdienst Lüderssens, durch eine Interpretation der Tatbestände des Besonderen Teils die Konsequenzen einer reinen Verursachungstheorie der Teilnahme umfassend vor Augen gestellt zu haben.28 Ausgehend von der Prämisse, der Teilnehmer hafte nur für eigenes Unrecht und eigene Schuld, versucht er die Straftatbestände derart „extensiv“ auszulegen, dass auch das Handeln des Teilnehmers sie ohne Blick auf den Haupttäter erfüllt.29 Die in den einzelnen Tatbeständen geschilderten personalen Elemente seien keine nähere Charakterisierung des Pflichtsubjekts; sie präzisierten einzig die Rechtsgutsverletzung.30 Die Rechtsgüter seien danach nicht nur gegenüber dem Täter geschützt; sie seien für jedermann unantastbar, dem sie nicht zugehörten, also auch vom Teilnehmer zu achten.31 Dann aber könne jemand als Teilnehmer den Tatbestand verwirklichen, ohne dass zugleich eine Haupttat vorliege.32 Selbst dort, wo diese gegeben sei, bestehe nur faktische Abhängigkeit. Zwar verletze der Täter das Rechtsgut selbst, während der Teilnehmer hierzu eines anderen bedürfe.33 Doch drücke sich darin der eigene, freilich mittelbare, Rechtsgutangriff des Teilnehmers aus.34 Qualitative Akzessorietät der Teilnahme lässt sich damit nicht vermeiden. Dafür scheint zwar die Konstruktion einer Teilnahme ohne Haupttat zu sprechen. So will Lüderssen denjenigen lediglich wegen Beihilfe zur Brandstiftung bestrafen, der in das aufgrund einer Naturkatastrophe entfachte, ein Haus verzehrende Feuer nur etwas Öl kippt. Wenn ein Mensch den Brand gelegt hätte, wäre der andere ja auch nur wegen Beihilfe zu bestrafen.35 Das ist nicht schlüssig. Lüderssen erzeugt hier den Schein der Selbständigkeit der Teilnahme dadurch, dass er einen allein handeln lässt, während er die Bewertung dieses Tuns als Beihilfe aus der Geringfügigkeit des Beitrages herleitet, den sein Protagonist geleistet hat. Dessen Handeln ist aber nicht wegen des Fehlens einer Haupttat als selbständig anzusehen, sondern weil er mit ihm das betroffene Rechtsgut selbst angreift, folglich Lüderssens Täterbegriff unterfällt.36 Daran ändert auch die Geringfügigkeit des Beitrages nichts. Will Lüderssen diese in Anschlag bringen, muss er die Garantie für das Rechtsgut preisgegeben, etwa aus der Überlegung heraus, dass es ohnehin verloren sei.37 Dies ist jedoch eine Frage des Strafmaßes. 28 Zum methodischen Ansatz s. Lüderssen, Festschrift für Miyazawa, hrsg. v. Kühne, 1995, S. 449 ff.; ders. (Fn. 16), S. 39 ff. 29 Lüderssen (Fn. 16), S. 130 ff., 164 ff. 30 Ibid., S. 130, 131 ff., 135 ff. 31 Ibid., S. 132, 167 f. 32 Ibid., S. 190. 33 Ibid., S. 137 f. 34 Ibid., S. 137, 210. 35 Ibid., S. 189. Letzteres unter Berufung auf OLG Hamm, NJW 1960, S. 1874. 36 Lüderssen (Fn. 16), S. 137 f. 37 Grundlegend dazu: Arthur Kaufmann, in: Festschrift für Eb. Schmidt, hrsg. v. Bockelmann u. a., 1961, S. 200 (226 ff.); krit. Jakobs (Fn. 4), Rn. 7/90 ff. m.w. N.
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Auch bei der Grundsituation der Beteiligungslehre, der Mitwirkung mehrerer an der Verletzung fremder Rechtsgüter, sieht es kaum anders aus. Wandelt man den Brandstiftungsfall ab, geht es um die Konstellation, in der der eine den Brand gelegt und der andere (ohne Kenntnis davon) nur Öl hinein gegeben hat. Lüderssen müsste beide als Täter ansehen. Beide greifen das Rechtsgut selbständig an, der eine durch das Entfachen des Brandes, der andere durch dessen Intensivieren. Geht es hingegen um die Zurechnung des Erfolges in seiner konkreten Gestalt, namentlich seines ganzen Umfangs, wandelt sich das Bild: Diese Wirklichkeitsdimension der Rechtsgutsverletzung hat weder der eine noch der andere für sich allein herbeigeführt. Auch ist es nicht eine bloß faktische Abhängigkeit des einen von der Kausalität des anderen.38 Denn die Tätigkeit eines jeden ist nach Lüderssens eigenen Kriterien als selbständiger Rechtsgutsangriff zu werten. Erst deren Zusammenfassung erklärt aber den Erfolg in seinem ganzen Umfang. Dann lässt sich das Unrecht des einen nicht begreifen, ohne es auf das tatbestandsmäßige Verhalten des anderen zu beziehen. Lüderssens Teilnahme ist daher zumindest minimal-akzessorisch. Das Scheitern des Versuchs, die Teilnahme von qualitativer Akzessorietät freizustellen, offenbart letztlich die Behandlung der Sonderpflichtdelikte.39 Hier gilt das Gleiche wie bei den Einheitstätersystemen [s. o. II. 1. a)]. b) Hinsichtlich der äußeren Akzessorietät finden sich in Lüderssens Dissertation keine Ausführungen. Doch lohnt hier ein Blick auf das polnische Recht.40 Unter dem fortwirkenden Einfluss J. Makarewiczs werden Anstiftung und Beihilfe nicht als verschiedene Teilnahmetypen, sondern als selbständige Erscheinungsformen der Straftat behandelt. Weil sowohl der Anstifter als auch der Gehilfe eine eigene Straftat begingen, sei das Handeln jedes Mitwirkenden je für sich genommen zu beurteilen, ohne dass es darauf ankomme, ob die Haupttat (erfolgreich) ausgeführt werde. Dies hat sich im Kodeks karny in den Art. 18, 22 niedergeschlagen.41 Rechtsprechung und Literatur strafen übereinstimmend jedenfalls dann wegen vollendeter Anstiftung bzw. Beihilfe, wenn im Haupttäter der Tatentschluss geweckt wurde oder er die Hilfeleistung akzeptiert hat.42 Damit hat das polnische Recht in kaum überbietbarer Radikalität die äußere Akzessorietät der Teilnahme zugunsten ihrer vollständigen Verselbständigung aufgegeben. Dies führt zu dem
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Bloy (Fn. 17), S. 178 f. Ausführungen zu diesen bei Lüderssen (Fn. 16), S. 137 f., 206. 40 Dazu: Spotowski, Erscheinungsformen der Straftat im deutschen und im polnischen Recht, 1979, S. 85 ff.; Wasek, ZStW 90, 1978, S. 530 ff.; Schmitz, in: Kriminalität im Grenzgebiet 5/6: Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks karny), hrsg. v. Wolf, 2002, S. 153 (158). 41 Krit. Analyse bei: Schmitz (Fn. 40), S. 153 (insbes. S. 156). 42 Näher dazu Schmitz (Fn. 40), S. 153 (156); Spotowski (Fn. 40), S. 107 f. 39
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eigentümlichen Resultat, bei Anstiftung und Beihilfe den Vollendungszeitpunkt im Kontrast zur Täterschaft auffällig weit vorzuverlegen. Zwar enthält der Kodeks karny in Art. 16 § 1 auch eine allgemeine Bestimmung zur Vorbereitung. Doch ist diese nur ganz vereinzelt unter Strafe gestellt, vgl. Art. 16 § 2. Sowohl Anstifter als auch Gehilfen machen sich danach also bereits wegen Vollendung strafbar, wo der Täter, wenn er nicht ohnehin straflos ist, jedenfalls noch nicht einmal wegen Versuchs haftet. Die Notwehrprobe ergibt hier sogar, dass gegen den Anstifter und den Gehilfen die Verteidigung wegen Abgeschlossenheit der Einwirkung auf den Vordermann nicht mehr zulässig ist, während sie gegen den Täter noch nicht gestattet ist. Der Wertungswiderspruch liegt auf der Hand. c) Die Bilanz für ein an der Rechtsgutsverletzung orientiertes nicht-akzessorisches Teilnahmesystem fällt daher ebenfalls negativ aus. 2. Die Teilnahme als akzessorische Beteiligungsfigur Gemäß den verschiedenen Graden qualitativer Akzessorietät [s. o. I. 1. a)] lassen sich drei verschiedene akzessorische Teilnahmesysteme unterscheiden. a) Minimale Akzessorietät aa) Ein minimal akzessorisches Teilnahmesystem macht Anstiftung und Beihilfe lediglich von einer objektiv tatbestandsmäßigen Haupttat abhängig. In Geltung ist eine auf die minimale Akzessorietät fußende Teilnahmeregelung, soweit ersichtlich, bisher nicht. Allerdings kommen die im Alternativentwurf 1966 vorgeschlagenen Vorschriften (§§ 28 f.) dem sehr nahe. Diese Bestimmungen erklärten auch die Teilnahme an unvorsätzlicher Tat für strafbar.43 (1) Minimale Akzessorietät kommt freilich bei Deliktstypen in Schwierigkeiten, deren Tatbild erst durch ein strafbegründendes besonderes subjektives Unrechtsmerkmal seine spezifische Gestalt gewinnt. Dies lässt sich an der Teilnahme zum Diebstahl gut verdeutlichen: Dessen objektiven Tatbestand erfüllt bekanntlich schon, wer einem anderen eine fremde bewegliche Sache wegnimmt. Doch ist mit diesem Geschehen der besondere Deliktscharakter noch nicht festgelegt. Wer etwa einen fremden Mantel überzieht, nimmt ihn dem Eigentümer unabhängig davon weg, ob er ihn für sich behalten will oder nicht. Nach dem Prinzip minimaler Akzessorietät soll es nun für den Teilnehmer nicht darauf ankommen, mit welcher inneren Willensrichtung der Haupttäter den objektiven Tatbestand verwirklicht. Dies führt in eine Zwickmühle: Entweder muss man den Anstifter oder Gehilfen immer (auch) wegen Teilnahme am Diebstahl bestrafen, 43 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil2, hrsg. v. Baumann u. a., 1969, S. 67.
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selbst wenn weder dieser noch der Täter mit Zueignungsabsicht handelt. Der Sache nach läuft dies darauf hinaus, in der Person des Teilnehmers die Beteiligung an der ansonsten straflosen Sachentziehung zu ahnden. Oder aber man fordert um der Tatbestimmtheit willen, dass der Teilnehmer nur dann wegen Teilnahme am Diebstahl strafbar ist, wenn zumindest er mit Zueignungsabsicht handelt. Dann aber kann man dies nicht ohne Widerspruch zum Grundsatz der minimalen Akzessorietät auf die Fallgruppe der Mitwirkung an unvorsätzlicher Wegnahme beschränken. Folglich müsste man in einem System minimaler Akzessorietät jede ausschließlich fremdnützige Anstiftung oder Beihilfe zum Diebstahl für straflos erklären und damit Lücken aufreißen. (2) Zweite Eigentümlichkeit der minimalen Akzessorietät ist es, dass eine Teilnahme an einer gerechtfertigten Haupttat möglich ist. Die Entwurfsverfasser gehen zwar davon aus, dass im Regelfall kaum eine Differenz zur limitierten Akzessorietät besteht, folglich derjenige, der dem Angegriffenen beisteht, ebenfalls durch Notwehr gerechtfertigt ist.44 In der Tat zeigt eine genauere Analyse, dass Unterschiede zwischen minimaler und limitierter Akzessorietät hier kaum bestehen. Die Prüfung der Rechtwidrigkeit der Haupttat verschiebt sich nämlich in die der Teilnahme. Nur bei den Irrtumskonstellationen lassen sich gewisse Differenzen ausmachen. Sie sind freilich marginal: Weiß der Teilnehmer nicht, dass die Haupttat rechtswidrig ist, ist bei limitierter Akzessorietät schon der Tatbestandsvorsatz ausgeschlossen, bei minimaler Akzessorietät handelt der Teilnehmer dagegen im Erlaubnistatbestandsirrtum, bei dem nach weit überwiegender Ansicht45 eine Strafbarkeit aus dem Vorsatzdelikt ebenfalls ausscheidet46. Übersieht der Teilnehmer die gerechtfertigte Lage des Täters, kommt zum einen allenfalls versuchte Anstiftung in Betracht, während zum anderen der Teilnehmer in Unkenntnis rechtfertigender Umstände handelt, eine Situation bei dem überwiegend die analoge Anwendung der Versuchsvorschriften befürwortet wird47. Als besonderes Problem bleibt daher nur die Teilnahme an dem Handeln eines Amtsträgers, der unvermeidbar irrig die Voraussetzungen eines seiner Sonderrechte annimmt.48 Bekanntlich ist ja strittig, ob dessen tatbestandmäßiges Verhalten rechtswidrig ist oder nicht.49 Bejaht man dies, ergeben sich keine Beson44
Alternativ-Entwurf (Fn. 43), S. 67. BGHSt. 31, 264 (286 f.), BGH, NStZ 1983, S. 500; Überblick über den Meinungsstand bei Jescheck/Weigend (Fn. 15), S. 462 ff. Nur die strenge Schuldtheorie käme hier zu einem anderen Ergebnis, s. Welzel (Fn. 8), S. 168 ff. 46 Zur Begründung s. Alternativ-Entwurf (Fn. 40), S. 57, 59. 47 So wohl BGHSt. 38, 144 (155 f.); Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar27, 2006, Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 15 m.w. N. Für die Vollendungslösung Hirsch, in: Leipziger Kommentar11, hrsg. v. Jescheck u. a., 1994, Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 59, 61 m.w. N. 48 Siehe Alternativ-Entwurf (Fn. 43), S. 67. 49 Eingehend zu Problematik und Streitstand: Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 314 ff. 45
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derheiten. Doch selbst wenn man die Tat des Amtsträgers für rechtmäßig hält, stellt nur die Fallkonstellation eine Herausforderung dar, in welcher der Teilnehmer von dem Irrtum des als Haupttäter handelnden Amtsträgers weiß. Aber auch hier grenzt sich die Problematik ein: Hat nämlich der Hintermann den Irrtum hervorgerufen oder ausgenutzt, haftet er grundsätzlich als mittelbarer Täter.50 Zu diskutieren ist damit nur noch der nicht eben häufige Sachverhalt, in dem ein Außenstehender den Amtsträger in dem Wissen unterstützt, dass dessen unvermeidbarer Irrtum sein Handeln rechtmäßig werden lässt. Legt man aber der hier unterstellten Auffassung nach diesem Irrtum rechtfertigende Kraft bei, kann die Unterstützung dieser Amtshandlung als solche ebenso wenig rechtswidrig sein wie diese Amtshandlung selbst.51 Wäre es anders, hätte das Opfer zwar die Amtshandlung zu dulden, könnte aber gegen die Hilfeleistung Notwehr üben: ein offensichtlich widersprüchliches Ergebnis. bb) Auch hinsichtlich der äußeren Akzessorietät zeigt sich, dass sich das Prinzip der minimalen Akzessorietät nicht durchhalten lässt: Überträgt man es kompromisslos, darf es hinsichtlich des Versuchsbeginns nicht auf die innere Tatseite des Haupttäters ankommen. Insofern setzt minimale Akzessorietät ein Bekenntnis zu einer objektiven Versuchstheorie voraus.52 Gegenüber der Leistungskraft objektiver Versuchsbestimmungen zeigen sich die Entwurfsverfasser allerdings skeptisch: Sie definieren den Versuch einer Straftat im § 24 AE 1966 vielmehr nach dem Tatplan, d. h. vor allem nach der Willensrichtung des Täters.53 Diese Regelung erzwingt dann freilich jedenfalls bei der Teilnahme zu einer versuchten Haupttat die Abkehr von der minimalen Akzessorietät. cc) Festzuhalten ist, dass weder die Abstraktion von der inneren Tatseite noch das Absehen von der Rechtswidrigkeit der Haupttat durchzuhalten ist. b) Extreme Akzessorietät Das extrem akzessorische Teilnahmesystem setzt eine schuldhaft begangene Straftat als Haupttat voraus. Paradebeispiel hierfür sind die §§ 48–50, die 1871 im Reichsstrafgesetzbuch in Kraft getreten sind (RGBl. S. 127): Ausweislich der Entstehungsgeschichte54 und den Motiven des Gesetzgebers55 binden diese Vorschriften Anstiftung wie Beihilfe an eine vorsätzlich und schuldhaft begangene Zu dieser Figur s. Schünemann, in: Leipziger Kommentar12, hrsg. v. Laufhütte u. a., 2007, § 25 Rn. 85 ff. m.w. N. 51 Anders Roxin, Leipziger Kommentar11 (Fn. 47), Vor § 26 Rn. 30; aufgegeben durch Schünemann (Fn. 50), Vor § 26 Rn. 23. 52 Repräsentativ dafür: v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Zweiter Band, 1930, S. 398, 461. 53 Zur Begründung s. Alternativ-Entwurf (Fn. 43), S. 63. Zur Kritik vgl. Gallas, ZStW 80, 1968, S. 1 (32 ff.); Armin Kaufmann, ZStW 80, 1968, S. 34 ff.; Friedrichs, ZStW 80, 1968, S. 119 (123 ff.). 50
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Haupttat. Obwohl die Merkmale eines Strafandrohungstatbestandes erfüllt sind, ist danach, wie es das Gesetz ausdrückt, „eine strafbare Handlung nicht vorhanden“, falls ein Rechtfertigungsgrund wie etwa die Notwehr eingreift (§ 53), eine der in den §§ 52, 54 beschriebenen Notstandslagen besteht oder aber die freie Willensbestimmung des Täters ausgeschlossen ist (§ 51). Schließlich wollten die Gesetzesverfasser in § 59 I zum Ausdruck bringen, dass ein Verletzungsgeschehen dem Täter nur dann voll zugerechnet werden soll, „als der Wille und die Handlung einander entsprechen“56, er also vorsätzlich gehandelt hat. Fehlt es aber an einer strafbaren Handlung nicht nur, wenn mit ihrer Ausführung noch nicht begonnen worden ist, sondern auch, wenn dies gerechtfertigt oder entschuldigt geschehen ist, mangelt es der dazu in Abhängigkeit gesetzten Teilnahme in all diesen Fällen an einer Haupttat.57 Anstiftung und Beihilfe sind folglich zwingend extrem akzessorisch auszugestalten. aa) Der Teilnahme genügt daher ihrer qualitativen Akzessorietät nach als Haupttat ein Verhalten nicht, das schuldlos oder unvorsätzlich begangen worden ist. Die Mitwirkung daran galt freilich im Allgemeinen nicht als straflos. Das Ausnutzen derartigen Verhaltens wurde vielmehr dem Gebrauchen mechanischer Werkzeuge gleichgestellt und unterfiel danach ebenso wie dieses ohne weiteres dem Begriff der (unmittelbaren) Täterschaft.58 Allerdings lässt sich dieses Identitätspostulat nicht bei allen Delikten durchhalten.59 Schwierigkeiten bereiten vor allem die eigenhändigen Delikte. Wer etwa einen Unzurechnungsfähigen dazu bestimmt, wie es damals hieß, Unzucht mit einem ihm schutzbefohlenen Opfer zu treiben (§ 174), kann nicht wegen Anstiftung dazu bestraft werden, weil es an einer schuldhaften Haupttat fehlt. Gleichzeitig scheitert die Annahme der mittelbaren Täterschaft an dem Erfordernis der Eigenhändigkeit der Ausführungshandlung.60 54 Beginnend mit den Materialien zu den Vorarbeiten zum prStGB 1851 (G. v. 14.4. 1851, PrGS, S. 93), dem Vorläufer des RStGB, s. Schubert/Regge (Hrsg.), Gesetzesrevision, Bd. V, S. 233 (386 f.); instruktiv dazu: Lampe, ZStW 77, 1965, S. 262 (284 ff.). 55 Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, in: RT-Drucks. 1870, Bd. I, Nr. 5, S. 65. Zur Überleitung auf das Reich, s. RT-Drucks. 1870, Bd. 3, Nr. 132, S. 9 f.; Nr. 212, S. 8. 56 So die Motive zum (Ersten) Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1869, S. 105. 57 So schon Roeder, ZStW 62, 1944, S. 303 (309). 58 Vgl. Bolowich, Urheberschaft und reflexives Verständnis, 1995, S. 72. 59 Die folgende Problematik hat zuerst Binding mustergültig herausgearbeitet, in: GS 71, 1908, S. 1 (14 f., 16 f.). 60 Ähnlich die englische Rechtslage: Das common law folgt dem Grundsatz, nur an der Straftat eines voll verantwortlichen Haupttäters sei Teilnahme möglich, Smith/Hogan/Ormerod, Criminal Law11, 2005, S. 167. Fehlt dem principal die mens rea oder greift für ihn eine die (Rechtfertigung oder Schuld betreffende) Verteidigungseinrede ein, liegt dagegen grundsätzlich mittelbare Täterschaft vor, Keith John Michael Smith, A Modern Treatise on the Law of Criminal Complicity, 1991, S. 94 ff. Ist der Haupttäter eines eigenhändigen Delikts nicht strafbar, lässt die englische h. M. im Unterschied
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Zwar könnte man hier konsequent auf Straflosigkeit plädieren. Doch müsste dann auffallen, dass nach den eigenen Annahmen hier der Hintermann einerseits einen schuldlosen Vordermann gleich einem mechanischen Werkzeug einsetzt, er damit seinem Begriff der Täterschaft unterfällt, dass aber andererseits das eben genannte Delikt zeigt, dass sich darin das gesetzliche Bild der Täterschaft nicht erschöpft. Setzt aber der Begriff der Täterschaft mehr voraus, als durch Einsatz von menschlichen oder mechanischen „Werkzeugen“ einen anderen tatbestandsmäßig zu schädigen, wird die Gleichsetzung des eigenhändig Verletzenden mit demjenigen, der sich dazu eines Unfreien bedient, zweifelhaft. Es entsteht die Frage, ob letzteres nicht eine Form von Teilnahme ist.61 Ferner ist nicht zu verkennen, dass etwa der Wille eines Unzurechnungsfähigen, sexuelle Handlungen an Schutzbefohlenen vorzunehmen, obgleich nach dem im Gesetz vorausgesetzten Schuldbegriff kein dolus im Rechtssinne, diesem dennoch derart ähnelt, dass die Straflosigkeit der Mitwirkung daran überhaupt als eine Lücke wahrgenommen wird. Ist dem aber so, stellt sich die Frage, ob nicht der Begriff der Haupttat in den §§ 48 f. auch dann erfüllt ist, wenn die Tat nicht schuldhaft begangen worden ist. So ist es kein Zufall, dass der Gesetzgeber mit § 4 JGG 1923 (RGBl. I S. 135) in einem Teilbereich sich gezwungen sah, diese Lücke zu schließen. Fortan reichte es für Teilnahme an den Taten Strafunmündiger aus, dass diese ein „genügendes Verständnis“62, von ihrem Tun, einen „natürlichen Vorsatz“63 gehabt hatten. Damit war freilich die extreme Akzessorietät zugunsten einer limitierten durchbrochen. bb) Die äußere Akzessorietät der Teilnahme war anfangs im RStGB 1871 kompromisslos durchgeführt. Nicht nur die Beihilfe, auch die Anstiftung war erst dann strafbar, wenn der Haupttäter schuldhaft mit der Ausführung der strafbaren Handlung angefangen (§ 43) hatte. Die Strafbarkeit der Teilnahme hing also von dem strafbaren Versuch der Haupttat ab. Die Novelle 1876 (RGBl. S. 25)64 führte dann zwar zu einer teilweisen Durchbrechung dieses Konzepts, indem im § 49a das bloße Auffordern zu einem Verbrechen unter Strafe gestellt wurde.65 Doch zur damaligen Doktrin in Deutschland freilich systemwidrig eine Teilnahme zu, Smith, Treatise, aaO., S. 115 f. 61 Binding plädierte daher dafür, neben Täterschaft und Teilnahme für die geschilderten Fälle die Figur des Urhebers einzuführen, in: GS 71, 1908, S. 1 (13 f., 17 f.). Die maßgeblichen Reformbemühungen mündeten dagegen in der Einführung der auf den objektiven Tatbestand limitierten Akzessorietät [s. u. c) aa)]. 62 Instruktiv: RGSt. 61, 265 (267). 63 Zu diesem Begriff s. Gallas, Ndschr. II, S. 69; Schäfer, ibid., S. 75 (84 f.); vgl. w. BGHSt. 3, 287 (289); krit. dazu Bruns, JZ 1964, S. 473 (478 f.). 64 Eingehend dazu Geyer, in: Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. v. Franz v. Holtzendorff, Band 4: Ergänzungen zum deutschen Strafrecht, Berlin 1877, S. 144 ff. 65 Die Rechtsnatur von § 49a StGB war str.: Überblick bei Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich18, 1931, § 49a Anm. I, der darin die ausnahmsweise Strafbarkeit von Teilnahme ohne Haupttat erblickt. Eine andere Ansicht sieht dagegen in § 49a StGB ein delictum sui generis, repräsentativ dafür: Binding, Lehrbuch des
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will ich diese Inkonsequenz beiseite lassen. Denn dem zu Beginn strikten Festhalten an der extremen Akzessorietät auch bei der äußeren Abhängigkeit der Teilnahme von der Haupttat stand von Anfang an eine deutliche Unentschiedenheit gegenüber, wie der Versuchsbeginn bei der mittelbaren Täterschaft festzulegen sei. Macht man auch hier mit der Gleichsetzung des Gebrauchs mechanischer Werkzeuge mit dem Einsetzen unfreier Menschen ernst, folgt daraus, mit einem Teil der Lehre den Anfang der Ausführung im Einwirken auf den Tatmittler zu sehen.66 Dadurch muss man allerdings gegenüber dem eigenhändigen Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung zumeist eine deutliche Vorverlagerung hinnehmen, eine Vorverlagerung, die der Notwehrprobe nicht standhält. Um dem zu entgehen, ließ der andere Teil der Lehre den Versuch erst mit dem Anfang der Ausführung des Tatmittlers beginnen.67 Dann aber macht man die Strafbarkeit des mittelbaren Täters abhängig vom Bemühen des Tatmittlers, denkt sie also entgegen ihrer selbständigen Natur als äußerlich akzessorisch. c) Limitierte Akzessorietät Limitierte Akzessorietät lässt sich in zwei Varianten konzipieren, je nachdem, ob man als Haupttat ein objektiv tatbestandsmäßiges Unrecht ausreichen lässt, oder aber eine vorsätzliche rechtswidrige Tat fordert. aa) Im Jahre 1943 gab der deutsche Gesetzgeber das ursprüngliche extrem akzessorische Teilnahmesystem zugunsten einer auf die objektiv rechtswidrige Tat beschränkten Abhängigkeit der Teilnahme auf.68 Dieses System setzt sich jedoch weitgehend derselben Kritik aus wie dasjenige der minimalen Akzessorietät. Wie gezeigt, lässt sich das Absehen von der inneren Tatseite weder bei Delikten mit besonderen subjektiven Unrechtsmerkmalen noch bei der Teilnahme am Versuch durchhalten. bb) Es gehört zu den großen Leistungen Welzels, die Trennung des Verletzungsvorsatzes vom Unrechtsbewusstsein durchgesetzt zu haben.69 Das gestattet es, die Akzessorietät auf das personale Unrecht zu beziehen und die beschriebenen Dilemmata der anderen Modelle zu vermeiden. Prägt der finale Verwirklichungswille unabhängig davon, ob er frei gefasst wurde, die Tatbestandsverwirklichung, lässt sich auch die Haupttat durch diese innere Tatseite näher bestimGemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, Zweiter Band, Zweite Abteilung, 1905, S. 838 ff., 860 ff.; v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts25, 1927, S. 803 ff., 807 f. 66 So Lobe, in: Leipziger Kommentar4, hrsg. v. Ebermayer u. a., 1929, § 43 Anm. 5. 67 Hierfür Frank (Fn. 65), § 43 Anm. II 2 a) m.w. N. 68 Strafrechtsangleichverordnung mit Durchführungsverordnung vom 29.5.1943 (RGBl. I, S. 339, 341); einführend dazu: Mezger, DStR 1943, S. 116 ff. 69 Welzel, ZStW 58, 1939, S. 491 (546 f.); zur rechtsphilosophischen Ableitung: Klesczewski (Fn. 1), S. 204 f., 238 f.
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men, ohne dass sie zugleich auch als schuldhaft begangene vorausgesetzt werden muss. Welzel ließ in seinem die Arbeiten der Großen Strafrechtskommission vorbereitenden Gutachten dieses Konzept auch in einen Vorschlag für die Beteiligung einmünden.70 Ihm trat Gallas in weiten Teilen bei.71 Schließlich baute auch der Vorschlag der Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums auf dieser Tatherrschaftslehre auf.72 Das Konzept hat sich im Gesetzgebungsverfahren auch gegen grundlegende Einwände73 und Gegenentwürfe74 durchgesetzt. (1) (a) Es macht Anstiftung und Beihilfe von einer fremden vorsätzlichen rechtswidrigen Tat abhängig. Demgegenüber ist die Schuld des Teilnehmers unabhängig von der Schuld oder Unschuld des Täters zu beurteilen. Für die allgemeinen Schuldmerkmale folgt dies unstreitig aus den §§ 26 f., 29 StGB. Meinungsverschiedenheiten herrschen dagegen, wie die strafbegründenden besonderen Schuldmerkmale zu behandeln sind. Soweit man derartige Merkmale als Schuldmerkmale überhaupt anerkennt,75 lässt die limitierte Akzessorietät freilich nur eine konsistente Lösung zu: Es kann in keinem Fall darauf ankommen, ob der Täter dieses Merkmal erfüllt, etwa böswillig i. S. d. § 90a I Nr. 1 StGB handelt. Vielmehr ist es notwendig, aber auch hinreichend, wenn der Teilnehmer es (neben den allgemeinen Schuldvoraussetzungen) verwirklicht.76 Wer hingegen den Teilnehmer (nur) haften lässt, wenn (auch) der Täter dieses Merkmal selbst verwirklicht,77 definiert es entweder in ein Unrechtsmerkmal um, oder aber er kehrt zur extremen Akzessorietät zurück.78 70
Welzel, Mat. I, S. 45 (51 f.). Gallas, Mat. I, S. 152 f. 72 Ndschr. II, Anhang, S. 38 (41). 73 Kritik der Bindung an eine Vorsatztat bei: Schäfer, Ndschr. II, S. 75 (79 f., 86); zust. Skott, ibid., S. 99; Fränkel, ibid., S. 101; Lange, ibid., S. 119. Die Kritik ist auch heute noch nicht verhallt: Cramer/Heine (Fn. 47), Vorbem. §§ 25 ff. Rn. 29 ff.; Jakobs (Fn. 4), Rn. 22/12 ff.; Roxin, Täterschaft und Teilnahme8, 2006, S. 352 ff., 552 ff.; Schmidhäuser, Lehrbuch Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1975, Rn. 14/94. 74 Versuche, ein Einheitstätersystem einzuführen bei: Krille, Ndschr. II, S. 98 f., 125; Schwalm, ibid., S. 88 (90); v. Stackelberg, ibid., S. 100. 75 Grundlegend dafür: Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 217 f., zust. die h. M. etwa Jescheck/Weigend (Fn. 15), S. 472 f., 659 f. m.w. N. Sorgfältige restriktive Sichtung bei Hake, Beteiligtenstrafbarkeit und „besondere persönliche Merkmale“, 1994, S. 120 ff., 154 ff.; zu den Mordmerkmalen: Klesczewski, in: Festschrift der Juristenfakultät zum 600. Jubiläum der Gründung der Universität Leipzig, hrsg. v. Degenhart, S. 489 (498 ff.); verwerfend: Puppe, ZStW 120, 2008, S. 504 (521). 76 Konsequent so: Hake (Fn. 75), S. 161 f.; Schmidhäuser (Fn. 73), Rn. 14/89; nicht ganz klar: Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil39, 2009, Rn. 559. 77 Diese Auffassung wird in zwei Facetten vertreten: Einesteils hält man es für erforderlich, aber auch hinreichend, dass der Haupttäter das strafbegründende besondere Schuldmerkmal erfüllt, wendet also § 28 I StGB an, so Cramer/Heine (Fn. 47), § 28 Rn. 5 m.w. N. Anderenteils fordert man, nicht nur der Haupttäter, sondern auch der Teilnehmer müsse das Merkmal in eigener Person verwirklichen, um strafbar zu sein, so Roxin (Fn. 8), § 27 Rn. 53. 78 Eingehende Auseinandersetzung: Klesczewski (Fn. 1), Rn. 770 ff. 71
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(b) Im Vergleich zu den anderen Beteiligungsmodellen verteilen die §§ 26 f. StGB damit die Rollen zwischen dem selbständig seine Tat ausführenden Täter und dem darauf akzessorisch bezogenen Teilnehmer in bisher unübertroffener Präzision. Doch erfährt diese Zuordnung auch hier durch den Part, den die Gesetzesverfasser der mittelbaren Täterschaft zugedacht haben, eine kräftige Relativierung. Nicht jede Mitwirkung an fremdem Vorsatzunrecht ist automatisch Teilnahme. Vielmehr gingen die Gesetzesverfasser in jeder Phase ihrer Arbeit einmütig davon aus, dass derjenige, der einen schuldlos Handelnden zu einer vorsätzlich rechtswidrigen Tat veranlasst, mittelbarer Täter sei.79 An die Stelle der bisher qualitativ gedachten Differenz zwischen Täterschaft und Teilnahme tritt hier eine bloß graduelle Unterscheidung. Das Verhältnis der Täterschaft zur Teilnahme wird nun ähnlich konzipiert wie in einem nicht-akzessorischen Teilnahmesystem. Wir hatten gesehen (s. o. III. 1.), dass ein solches Teilnahmemodell nur scheinbar ohne akzessorische Bezüge auskommt. Genauso liegt es hier: Die „Willensherrschaft“ des Hintermanns über den vorsätzlich und rechtswidrig eine Tat ausführenden Vordermann erklärt nämlich für sich allein nicht das Strafunrecht des ersteren, sondern bezieht es immer (auch) aus der Haupttat. Zwar verwirklicht z. B. das Nötigen zu einer Tat für sich genommen schon den Tatbestand des § 240 I StGB. Geschützt ist hier aber die Freiheit des Tatmittlers, nicht auch das Opfer seiner Tat. Ferner ist das Nötigen nicht ohne Blick auf den Wert oder Unwert des Tuns, zu dem der Tatmittler bewegt werden soll, ein strafwürdiges Verhalten. Wer etwa seinen Untergebenen verbindlich befiehlt, dem Beschuss von Zivilisten mit der Waffe Einhalt zu gebieten, übt gewiss „Willensherrschaft“ dahingehend aus, die Angreifer zu töten. Gleichwohl ist er nicht wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft schuldig, weil er zu einem als Nothilfe gerechtfertigten Handeln angewiesen hat. Genauso wie sich hier die Verbindlichkeit des Befehls erst aus der Rechtmäßigkeit des darin vorgeschriebenen Tuns ergibt, genauso resultiert im entgegengesetzten Fall das Strafunrecht für den Vorgesetzten daraus, dass er seinen Untergebenen eine nicht gerechtfertigte Tat befohlen hat (vgl. §§ 22, 33 WStG). Die limitierte Akzessorietät liegt auf der Hand. (c) Ein strukturgleiches Problem entsteht im Verhältnis der Mittäterschaft zur Beihilfe. Allein der Umstand, dass der eine Beteiligte alle Merkmale der Tat selbst verwirklicht, der andere mehr oder weniger unerlässliche Zuarbeit dazu 79 Dies war während der Gesetzgebung unbestritten, s. Gallas, Mat. I, 1954, S. 121 (134 ff.); Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums, Ndschr. II, 1958, Anhang, S. 38 ff., 40; vgl. w. Tröndle, Ndschr. XII, 1958, S. 138 (140); Lange, ibid., S. 142; Bockelmann, ibid., S. 143 f.; Dreher, ibid., S. 144 für § 33 WStG. Im Sonderausschuss beschloss man schließlich eine dem heutigen § 25 I 2. Alt. StGB entsprechende Bestimmung, s. Prot. V, S. 1648, 1824; kritisch lediglich Schlee, ibid., S. 1824 (1825); die Tatherrschaftslehre ist ohnehin jüngst zunehmend in die Kritik geraten: Haas, ZStW 119 (2007), S. 519 ff., Lampe, ZStW 119 (2007), S. 471 ff., Rotsch, ZStW 112 (2000), S. 598 ff., Zaczyk, GA 2006, S. 411 (414 f.); vgl. w. Fn. 90 a. E.
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leistet, soll nicht darüber entscheiden, ob der erstere (Allein-)Täter, der letztere Gehilfe ist. Während der Gesetzgebungsarbeiten setzte sich vielmehr die Meinung durch,80 auch die Mitwirkung in der Vorbereitungsphase könne Mittäterschaft sein.81 Statt einer qualitativen Abgrenzung führt dies zu einer bloß graduellen Unterscheidung. Doch verdeckt dies nur das eigentlich bestehende Akzessorietätsverhältnis. Selbst wenn man unterstellt, ein derart früh geleisteter Beitrag könne die Teilhabe an der Tatherrschaft sichern, lässt sich seine Qualität, tatspezifisches Unrecht zu sein, nicht aus sich heraus beantworten. Zwar verbietet der Gesetzgeber etwa in §§ 34 I 1, 52 III Nr. 7 WaffG selbständig auch typische Unterstützungshandlungen. Doch schützt er damit ein anderes Rechtsgut als dasjenige, das durch die Haupttat betroffen ist. Deren spezifischer Unrechtsgehalt lässt sich den Vorbereitungshandlungen des einen Beteiligten nur dadurch vermitteln, dass man sie an der Ausführungshandlung des anderen ausrichtet. So liegt die limitierte Akzessorietät auch hier auf der Hand. (d) Die Abhängigkeit des Hintermannes bzw. Vorbereitenden von einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat wird schließlich offen eingeräumt, wenn es um die Beteiligung an einem Sonderdelikt bzw. an einem eigenhändigen Delikt geht.82 Dies führt zu einer Verdreifachung des Täter-, und damit auch des Teilnahmebegriffs, je nachdem, ob es sich um ein Herrschaftsdelikt (jeder ist Täter, der Tatherrschaft hat), ein Sonderpflichtdelikt (Täter ist nur der Intraneus, alle übrigen nur Teilnehmer) oder ein eigenhändiges Delikt (Täter ist nur der Ausführende, alle übrigen sind Teilnehmer) handelt. (2) Eine verwandte Problematik zeigt sich auch bei der äußeren Akzessorietät. (a) Lassen wir § 30 I StGB beiseite, hängt die Strafbarkeit der Teilnahme nach geltendem Recht davon ab, dass der Haupttäter seine Tat zumindest versucht hat. Insofern wird der ursprünglich im RStGB 1871 vorgesehenen äußeren Akzessorietät auch heute Geltung verschafft. (b) Diese recht klare Regelung wird nun durch den Umstand überformt, dass bei einem vorsätzlich und rechtswidrig handelnden Vordermann die mittelbare 80 Relativ restriktiv: Gallas (Fn. 18), S. 137; Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums, Ndschr. II, Anhang, S. 38 ff., 40; vgl. w. Schäfer, Ndschr. II, S. 75 ff.; zust. Koffka, ibid., S. 146; deutlich für die Ausdehnung auf Beiträge in der Vorbereitung dann: Tröndle, Ndschr. XII, S. 138 (141); zust. Welzel, ibid., S. 144; Simon, ibid., S. 146 (147); Schafheutle, ibid., S. 147; Rösch, ibid., S. 148; Wilkerding, ibid., S. 148; unmissverständlich auch der Entwurf 1962, BT-Drucks. IV/650, S. 149 f.; genauso schließlich: Sturm, in: Prot. V, S. 1821 (1824); restriktiv nur Schlee, ibid., S. 1824 (1825): Täter könne nur sein, wer die Umstände des Tatbestandes selbst erfülle. 81 So heute die h. M.: BGH, NStZ 2002, S. 200 (201) m.w. N.; zust. Cramer/Heine (Fn. 47), § 25 Rn. 66 m.w. N.; einen Tatbeitrag in der Ausführungsphase fordert hingegen: Schünemann (Fn. 50), § 25 Rn. 182 m.w. N. 82 Während der Gesetzgebung hat diese Frage keine nennenswerte Rolle gespielt, vgl. a. Gallas, Mat. I, S. 148; ders., Ndschr. II, S. 71. Überblick zu den hierfür erarbeiteten Lösungsvorschlägen bei Roxin (Fn. 8), § 25 Rn. 267 ff., 288 ff. m.w. N.
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Täterschaft mit der Anstiftung konkurriert. Hier tradiert sich daher das bereits beim Modell der extremen Akzessorietät beobachtete Dilemma [s. o. III. 2. b) bb)]: Betont man mit der Einzellösung83 die Selbständigkeit der mittelbaren Täterschaft, sprengt dies den Rahmen der Versuchsstrafbarkeit84 und man fällt bei der Notwehrprobe durch. Will man dies mit der Gesamtlösung85 verhindern, hat man sich unter der Hand bereits für eine akzessorische Lösung entschieden. Besonders deutlich kommt dies zum Ausdruck, wo zwischen gut- und bösgläubigem Tatmittler derart unterschieden wird, dass dieser Ansetzen müsse, jener hingegen nicht.86 (c) Genauso liegen die Dinge jedenfalls dann, lässt man das Leisten eines erheblichen Tatbeitrages während der Vorbereitungsphase für die Mittäterschaft genügen (s. o. bei Fn. 81). Die Einzellösung verlagert hier den Versuchsbeginn für den Ersthandelnden auf den Vorbereitungsakt,87 während die Gesamtlösung dessen äußere Akzessorietät einräumt.88 IV. Fazit und Konsequenzen 1. Wir haben gesehen: Die kritische Analyse der Einheitstätermodelle und der verselbständigten Teilnahme ergab, dass man zwingend von einem primären Be83 Konsequent so Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil11, 2003, § 29 Rn. 155; Bockelmann/Volk, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 1987, § 27 VII 2; Puppe, in: Festschrift für Dahs, hrsg. v. Widmaier u. a., 2005, S. 173 (185 f.); enger die von Roxin ([Fn. 8], § 29 Rn. 230 m.w. N.) begründete h. M.: hinzukommen müsse ein Entlassen des Tatmittlers aus dem eigenen Herrschaftsbereich, so jetzt auch BGHSt. 30, 363 (365 f.); schwankend: BGHSt. 43, 177 (180 f.); noch enger Schilling (Fn. 11), S. 112: das Ansetzen des Tatmittlers müsse auf die Einwirkung des Hintermannes unmittelbar folgen; diesem nahe stehend: Fischer, Strafgesetzbuch56, 2009, § 22 Rn. 26; Zieschang Strafrecht Allgemeiner Teil2, 2009, S. 131. 84 Dies konstatiert auch Bockelmann (Fn. 7), S. 135 (148), ohne es freilich als problematisch zu empfinden. 85 Generell so: Maurach/Gössel (Fn. 4), § 48 Rn. 112 ff. m.w. N.; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen26, 2007, § 22 Rn. 7; Krack, ZStW 110 (1998), S. 611 ff. 86 Welzel (Fn. 8), S. 191; Marxen, Kompaktkurs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2003, S. 185 f. 87 Folgerichtig: Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Band 2, 2005, S. 112 f.; Schilling (Fn. 11), S. 112; zur Einzellösung bei Beiträgen in der Ausführungsphase grundlegend: Rudolphi, in: Festschrift für Bockelmann (Fn. 18), S. 369 (383 ff.); zust. Roxin (Fn. 8), § 29 Rn. 297 m.w. N. Zu weiteren Spielarten der Einzellösung vgl. die krit. Analyse von Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978, S. 15 ff., 61 ff., 65 f. 88 BGHSt. 40, 299 (301); Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 29 Rn. 7 f.; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 40 Rn. 15; Krack, ZStW 110, 1998, S. 611 (617); Küper (Fn. 87), S. 11 ff., 17 ff., 23 ff., 69 f.; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2009, § 36 Rn. 22; Zaczyk, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch3, hrsg. v. Kindhäuser u. a., 2010, § 22 Rn. 67 m.w. N.
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griff der (unmittelbaren) Täterschaft auszugehen hat, auf den die Teilnahme akzessorisch zu beziehen ist. Zudem nötigt die für die untersuchten Kodifikationen typische Aufgliederung der Deliktstypen im Besonderen Teil dazu, die Teilnahme an eine vorsätzliche Haupttat anzubinden. Kennzeichen dieser durchaus sachgerechten Ausdifferenzierung89 ist es, neben reine Erfolgsdelikte, auch Verbrechen oder Vergehen mit besonderen Absichten, eigenhändige Delikte und Sonderpflichtverstöße zu stellen. Will man darauf nicht auf Kosten der Tatbestimmtheit Verzicht leisten, lässt sich eine Haupttat erst dadurch identifizieren, dass der Täter auch den entsprechenden subjektiven Tatbestand erfüllt. Darüber hinaus erwies es sich als angemessen, die innere Tatseite in Tatvorsatz und Unrechtsbewusstsein aufzugliedern, folglich auch eine Teilnahme an schuldloser Haupttat zu ermöglichen, um so namentlich bei Sonderverbrechen und eigenhändigen Delikten Lücken zu schließen. Schließlich ergab die Untersuchung, dass die Nichtbeachtung der äußeren Akzessorietät von Handlungen, die in der Vorbereitungsphase erbracht werden, in allen Beteilungssystemen dazu führt, die Grenzen der Versuchsstrafbarkeit zu sprengen und bei der Notwehrprobe durchzufallen. 2. a) Des Rätsels Lösung ist daher, als Täter nur anzusehen, wer das Opfer selbst vorsätzlich angreift.90 Für den unmittelbaren Täter liegt dies auf der Hand. Eine konsistente Doktrin hat dies aber auch auf die Mittäterschaft zu übertragen. Das bedeutet keine Rückkehr zur formal objektiven Theorie. Vielmehr reicht auch ein Beitrag des einen Tatgenossen aus, der es dem anderen hic et nunc ermöglicht, die tatbestandsmäßige Handlung auszuführen, solange jener nur zugleich auch den vom Tatbestand geschützten Rechtsgutsträger angreift. Dementsprechend ist daher Mittäter, wer das Opfer zum Tatort verschleppt, damit sein Komplize es dort ersticht, Gehilfe, wer dem Täter ein Messer übergibt, mit dem dieser dann tötet. Die Mittäterschaft vereint damit ein selbständiges Beteiligungs-
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Systematisierung bei: Klesczewski, ARSP BH 66, 1997, S. 77 (90 ff.). Nahe stehend der Nouveau Code Pénal 1994: Die Tat setzt sich zusammen aus élément materiél und élément moral (Robert, RSC 1977, S. 269 [281]). Sie ist strafbar, wenn zudem weder ein objektiver (der Rechtfertigung nahe stehender) noch ein subjektiver (dem Schuldausschluss ähnelnder) cause d’irresponsabilitè eingreift, Art. 122-1 bis 122-8. Täter ist prinzipiell nur, wer eigenhändig die Tat begeht, Art. 121-4. Alle übrigen Mitwirkenden sind grundsätzlich nur Teilnehmer, Art. 121-6 f. (Merle/Vitu, Traité de droit criminel, Tome I7, 1997, Rn. 535). Sie sind erst strafbar, wenn es zum Versuch der Haupttat kommt (Larguier, Droit pénal général19, 2003, S. 77.). Teilnahmefähig ist diese nur, wenn sie grundsätzlich beide Tatelemente aufweist und kein objektiver Ausschlussgrund vorliegt (Bouloc, RSC 2003, S. 553 f.). Greift ein subjektiver Ausschlussgrund ein, bleibt es bei der Teilnahme. Die französische h. M. (Merle/Vitu, a. a. O.) kennt keinen mittelbaren Täter, es sei denn, es gibt einen Spezialtatbestand (z. B. Art. 221-1); zum deutschen Recht: Murmann, GA 2008, S. 78 ff., sieht bei Verbotsirrtum des Vordermanns nur Teilnahme des Hintermanns als möglich an; Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft, 2003, S. 325, sieht nur Tatumstands- oder Erlaubnistatbestandsirrtum beim Vordermann als Fälle mittelbarer Täterschaft an. 90
Die Grundformen beteiligungsdogmatischer Systembildung
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element (eigener Angriff) mit einem akzessorischen (Ermöglichung der Tatbestandsverwirklichung durch den Angriff des anderen).91 Dementsprechend bestimmt sich der Versuchsbeginn: Dass alle Mittäter sich wegen Versuchs strafbar machen, erfordert, dass jeder von ihnen angefangen hat, zur Tat beizutragen. Das ist der richtige Aspekt an der Einzellösung. Von diesen ist ohne weiteres wegen Versuchs der Gesamttat strafbar, wessen Tatbeitrag zudem für sich betrachtet ein Ansetzen zur gemeinsam geplanten Tatbestandsverwirklichung (z. B. Ausholen mit dem Dolch) darstellt. Wessen Tatbeitrag dieser Eigenschaft entbehrt (z. B. Verschleppen des Opfers zum Tatort), ist des Versuchs an der Gesamttat erst schuldig, wenn der andere Tatgenosse seinen Tatbeitrag dazu nutzt, mit der Ausführungshandlung zu beginnen. Darin liegt der richtige Aspekt der Gesamtlösung. Trotz dieses akzessorischen Moments ist die Strafbarkeit wegen Versuchs der Mittäterschaft begründet, weil der Tatbeitrag nicht nur eine fremde Tat ermöglicht, sondern selbst bereits einen Angriff auf das Opfer darstellt. b) Nicht zuletzt enthält dieses Kriterium den Schlüssel für den mittelbaren Täter: Dieser kann ebenfalls nur sein, wer das Opfer selbst angreift. Das führt freilich dazu, mittelbare Täterschaft auf vier Konstellationen des Einsatzes eines tatbestandslos oder gerechtfertigt handelnden Tatmittlers zu beschränken. Erstens: Wer einen anderen in eine rechtfertigende Lage versetzt, wirkt nicht nur auf diesen ein. Vielmehr schafft er definitionsgemäß zugleich eine Gefahr für das Opfer, der es sich von Rechts wegen nicht erwehren kann, und greift es damit an. Zweitens: Wer als Sonderpflichtiger sich eines Extraneus zur Vornahme der Ausführungshandlung bedient, greift ebenfalls selbst an: Sonderpflichtige sind stets Obhutsgaranten für das tatbestandsmäßig geschützte Rechtsgut und deswegen verpflichtet, Gefahren von ihm abzuwenden. Wer von ihnen daher den qualifikationslos-dolosen Tatmittler nicht an der Ausführungshandlung hindert, begeht zugleich einen eigenen Angriff durch Unterlassen. Drittens: Wer einen anderen erfolgreich über die Gefährlichkeit seines Verhaltens in gutem Glauben wiegt, schafft gerade mit Erzeugen dieses Irrtums die Gefahr für das Rechtsgut, die sich dann im Verletzungsgeschehen niederschlägt, und greift damit das Opfer selbst an. Viertens: Soweit die Figur des absichtslos-dolosen Tatmittlers nach dem 6. StrRG (G. v. 26.1.1998, BGBl. I S. 164) noch Anwendung findet,92 liegt gewissermaßen eine hinkende Mittäterschaft vor. Während der Tatmittler wegnimmt, eignet sich der Hintermann die fremde Sache zu. Wie sich aber schon § 246 I StGB entnehmen lässt, sieht das Gesetz im Zueignen einen eigenen Angriff auf fremdes Eigentum, der hier nicht schon durch den Tatmittler, sondern erst durch den mittelbaren Täter vollzogen wird. Schließlich folgt daraus eine
91 Ähnlich Köstlin, System des deutschen Strafrecht, 1855, S. 334 f.; als wechselseitige Anstiftung konstruiert die Mittäterschaft: Puppe, in: Festschrift für Spinellis, Band II, hrsg. v. Courakis, 2001, S. 915 (917 ff.); vgl. w. dies., GA 1984, S. 101 (112). 92 Überblick bei Klesczewski (Fn. 1), Rn. 584 ff.
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einheitliche Lösung für den Versuch. Es kommt stets auf das Ansetzen des Hintermannes an: sei es, dass er anfängt zuzueignen, dass er die rechtfertigende Lage schafft, den fatalen Irrtum erzeugt oder aber obhutspflichtwidrig die rechtzeitige Rettung unterlässt.
„Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ Von Detlef Krauß y Vorab zugegeben: Wissenschaft und Praxis haben die Notwehr eigentlich recht gut im Griff. Das gilt für die Auflistung der Probleme ebenso wie für die Lösungsangebote. Vor allem die Grenzen der Notwehr, die bei jeder Problemschau im Vordergrund stehen, sind lernfähig aufbereitet, jeder Examenskandidat kann sie als allgemeine oder jedenfalls als „herrschende“ Meinung abrufen. Das gilt nicht in gleicher Weise für die Grundlagen des Notwehrrechts, für die Art und Weise also, wie die Ergebnisse hergeleitet werden. Hier stehen Sinn und Zweck des Rechtsinstituts und alle dogmatischen und rechtspolitischen Erklärungsversuche auf eine merkwürdige Art schräg zueinander. Von einem stimmigen Bild – das sich der Examenskandidat einprägen könnte, ohne alle Einzelheiten lernen zu müssen – kann keine Rede sein. Das verwundert bei einem Rechtsinstitut, das eine lange Geschichte hinter sich hat und das man gelegentlich schon in den Rang eines Naturrechts gehoben hat. Ich beginne meinen Irrweg durch die Dogmatik bei dem Grundsatz, dessen Bedeutung als Orientierungshilfe auf dem Pfad der Notwehr unangefochten ist: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.“ Den habe ich nie verstanden. Zu meiner Genugtuung kommt eine von Knut Amelung und dem Soziologen Michael Hädrich durchgeführte empirische Untersuchung zu „Vorstellungen über und potentielle Verhaltensdispositionen bei Notwehr in der Allgemeinbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland“1 schon im Pretest zu dem Ergebnis, dass der ganz überwiegende Teil der Befragten mit einigen juristischen Vorgaben nichts anzufangen wusste. „Deshalb musste zu unserem Erstaunen z. B. der für Juristen selbstverständliche Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ aus dem Fragebogen gestrichen werden.“ 2 Ich befinde mich also in bester Gesellschaft. Nimmt man den Grundsatz zum Ausgangspunkt, so weiß man schon am Start nicht so recht, in welche Richtung man laufen soll. Notwehr steht ja eigentlich für die Befugnis einer Person, des Angegriffenen nämlich, der sich verteidigt. 1 Vgl. Amelung/Kilian, FS Schreiber, 2003, S. 3 ff.; weitere Einzelheiten bei Häder/ Klein, ZUMA-Nachrichten, 50. Jg. (Mai 2002), S. 86–112; Nazaroviené, Rezeption der Rechtskultur und methodologisches Modell ihrer Sozialforschung, ISSN 1392-0758 SOZIALINIAIMOSKSLA/.2003.Nr.3(40). 2 Amelung/Kilian (Fn. 1), S. 4.
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Weshalb man stattdessen gleich mit dem ganzen Recht ins Haus fällt, ist nicht recht einsichtig. Immerhin passiert ja wohl nichts, wenn man den eindrucksvoll und allgemein formulierten Grundsatz auf die Begrifflichkeit des § 32 StGB zurück buchstabiert: „Der Angriff ist das ,Unrecht‘ und bildet die Notwehrlage, die Verteidigung ist das ,Recht‘ und bildet die Notwehr.“ Schmidhäuser sei Dank.3 Aber in dieser Klarstellung ist der Grundsatz entweder falsch oder trivial. Er ist falsch, sofern er davon ausgeht, dass der Verteidiger gegenüber einem Angreifer tatsächlich nicht zu weichen braucht. Das muss nicht näher ausgeführt werden. Das Gesetz gibt vor allem mit der Gegenwärtigkeit des Angriffs und der Erforderlichkeit der Verteidigung zwei Begriffe vor, die nichts anderes sind als die Einschränkung einer erfolgversprechenden Verteidigung: Warte, bis der Andere gezogen hat, dann darfst du ihm den Colt aus der Hand schießen. Und Rechtsprechung und Wissenschaft satteln noch drauf; sie richten ihre Bemühungen vor allem auf Fallkonstellationen, in denen die Verteidigung noch weiter weichen muss. Man muss eben richtig lesen: Das Recht braucht dem Unrecht in den Grenzen des § 32 StGB (!) nicht zu weichen. Aber dieser Satz ist trivial, weil er über den ausformulierten Inhalt des § 32 nicht hinausgeht.4 Den Einwand der petitio principii (Es fragt sich doch gerade, welche Art der Verteidigung Recht sein soll, wann also der Verteidiger nicht weichen muss) hat Seelmann5 bereits vor 40 Jahren erhoben, und Kioupis6 hat ihn später wiederholt. Von der Pforten7 ist beiden entgegengetreten mit dem Hinweis, es liege jedenfalls kein logischer Fehler vor. Das ist richtig (Mir klingt noch die Mahnung von Karl Engisch in den Ohren: Suchen Sie im Recht nie nach logischen Fehlern. Wenn Sie in einem Urteil, beim Gesetzgeber oder gar einem Ihrer Kollegen einen logischen Fehler finden, liegt das zumeist an Ihnen) und ändert doch nichts daran, dass der Satz nur auf sich selber verweist. Von der Pforten widerspricht: „Die Rede von der „Bewährung der Rechtsordnung“ . . . kann einfach eine Abkürzung für „Bewährung der Rechtsordnung außer § 32 StGB sein . . . Danach ist aber klar, dass sich nicht § 32 StGB bewähren muss, wenn jemand sich in Notwehr verteidigt, sondern eben andere Normen, die durch den Angriff missachtet werden“.8 Mir scheint das kein Ausweg, denn außerhalb von § 32 StGB stellt sich das Problem einer Bewährung der Rechtsordnung durch Notwehr doch gar nicht. Aber ich will an dieser Stelle nicht streiten.
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Schmidhäuser, FS Honig, 1970, S. 185, 186. Hassemer, FS Bockelmann, 1979, S. 225 ff., 240. 5 Seelmann, ZStW 89 (1972), S. 36 ff. 6 Kiopis, Notwehr und Einwilligung, Eine individualistische Begründung, 1992, S. 35. 7 von der Pfordten, FS Schreiber, 2003, S. 359 ff. 8 von der Pforten (Fn. 7), S. 364. 4
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Ausgangspunkt und Grundlage jeder Inhaltsbestimmung ist die Legaldefinition des § 32 Abs. 2 StGB. Ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff gibt danach dem Angegriffenen oder einem Nothelfer die Befugnis zu einer erforderlichen Verteidigung. Weitere Einschränkungen einer legitimen Abwehr sollen sich nach ganz herrschender Lehre9 jedenfalls aus der Bestimmung des Absatz 2 selbst nicht herleiten lassen. Vor allem über den Grundsatz der Güterabwägung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip soll sich das Notwehrrecht in seiner gewollten „Schneidigkeit“ hinwegsetzen dürfen – das Recht brauche dem Unrecht eben nicht zu weichen. Das ist für das Güterabwägungsprinzip – auch ohne Rückgriff auf die viel zitierte Leitformel – ganz unbestreitbar. Hier genügt ein Blick auf die dem Strafrecht exakt nachgezeichnete Notwehrbestimmung des § 227 BGB und die in §§ 904, 228, 227 BGB getroffenen Abstufungen, um zu erkennen, dass der Gesetzgeber einen Rückgriff auf das an der Schadensregulierung ausgerichtete Abwägungsprinzip für die Notwehr jedenfalls als Grenzelement ausdrücklich ausschließen wollte. Für das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt das nicht in gleicher Weise. Das wird übersehen, wenn beide Grundsätze vorschnell zusammen genommen werden.10 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip greift über eine Güterabwägung hinaus. Auch seine Anwendung steuert einen Abwägungsprozess. Doch bezieht sich dieser nicht (allein) auf die im Konflikt gegeneinander stehenden Rechtsgüter, sondern auf die Interessenlage aller Umstände des Einzelfalls. Zu ihnen gehören auch die hier und dort betroffenen (Rechts)Güter, aber eben nur als einzelne Umstände unter vielen Es liegt durchaus nahe, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als ungeschriebenes Rechtsprinzip auch im Kernbereich des Notwehrrechts, also in § 32 Abs. 2, aufzubieten. Denn das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein Verfassungsgrundsatz von hohem Rang, der auch bei der Abwehr gegenwärtig-rechtswidriger Angriffe eine besondere Rolle spielt, wenn es um die staatlich organisierte Nothilfe der Polizei geht. Aber auch wer das „Naturrecht“ der Selbstverteidigung und die private Nothilfe nicht in dieselben Schranken weisen will wie die staatliche Zugriffskompetenz, hat damit das Gebot der Verhältnismäßigkeit keineswegs schon aussortiert. Denn dieses Maßprinzip, das lehrt vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, erlangt im gesamten Rechtsgebiet in ganz unterschiedlichen Abstufungen Bedeutung. Und spätestens auf der unters9 Bei der Zahl der Abhandlungen zur Notwehr und der dort vertretenen Lehrmeinungen ist die Auswahl der Fundstellen nahezu beliebig. Zu den meisten Fragen könnte man die gängigen Lehrbücher und Kommentare pauschal zitieren. Eine gute Übersicht über Probleme und Lehrmeinungen enthalten (beispielsweise) Kühl, Strafrecht AT6, 2008, und – als weiterführende Einführung – Kühl, JuS 1993, S. 177 ff. Eine Fülle von Material aus Rechtsprechung und Literatur haben Rönnau/Hohn, Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar12 2006 in ihrer Kommentierung des § 32 ausgewertet. 10 Z. B. bei Kühl, Strafrecht (Fn. 9), § 7 Rn. 4 (S. 117).
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ten Stufe, als bloßes Willkürverbot, würde es sich auch in ein „scharfkantiges“ Notwehrrecht gut einfügen. Es wird denn auch als regulatives Rechtsprinzip außerhalb der Notwehrbestimmung durchaus akzeptiert, willkürliche Rechtsverfolgung will eigentlich auch dem Notwehrer niemand durchgehen lassen. Nur als eine dem Notwehrrecht bereits immanente Schranke wird es zumeist strikt abgelehnt. Warum eigentlich? An Begründung fehlt es nicht. Das Gesetz, so heißt es, regelt den Bereich der Notwehr in zwei Absätzen. Es will die sprachlich ausgereifte und inhaltlich geschlossene Legaldefinition des Absatz 2 offenbar für sich und außer Streit stellen – ohne wenn und aber. Wenn es ein Aber gibt, wird es in den Randbereich des Absatz 1 verwiesen. Auch der Grund für diese Lesart wird eindeutig benannt: Das Recht will in seiner Klarheit und Schärfe gegenüber jedem potentiellen Angreifer eine generalpräventive Wirkung entfalten (Das Recht fackelt nicht lange!), und es soll dem Verteidiger seine beträchtliche Abwehrbefugnis deutlich vor Augen führen. Ganz fair wäre ein solcher ausdrücklicher Hinweis freilich nicht. Denn wenn der Absatz 1 eben doch „von außen her“ bestimmte Einschränkungen nachreichen würde, könnte der Aufforderungscharakter der Legaldefinition leicht in eine Normenfalle führen. Und es gibt sie ja, diese Einschränkungen, und zwar in reichlichem Maße.11 Sie stehen im Ergebnis sogar weitgehend außer Streit, das ist angesichts der Brüchigkeit aller Ableitungszusammenhänge einigermaßen erstaunlich. Unfugabwehr, Verteidigung gegen Kinder, Betrunkene und Geisteskranke, Toleranzgebot in Lebensgemeinschaften und Zurückhaltung bei eigener Provokation, dazu noch das eine oder andere Randproblem (Chantage) – alle in diesen Bereichen entwickelten Sonderregelungen sollen auch hier vorläufig nicht angezweifelt werden. Hier interessiert die Frage nach dem heuristischen Prinzip der Notwehreinschränkungen, das zu so überraschender Einmütigkeit führt. Mir ist es bisher entgangen. In Absatz 1, der als Standort festzustehen scheint, kommt nur der Begriff des Gebotenseins als sedes principii in Betracht. Aber dieser Begriff wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Fest steht jedenfalls, dass er sich auf die Notwehrbestimmung des Absatz 2 insgesamt bezieht, er steht also für die Ausdehnung der Befugnis bis zur „Scharfkantigkeit“ ebenso wie für die Einschränkung durch Normen der Sozialethik. Beides aber reimt sich nicht zusammen. Denn die Erweiterung des Notwehrrechts bleibt immer im Rahmen einer bloßen Befugnis, während alle sozialethischen Einschränkungen verpflichtenden Charakter aufweisen. Dieses normlogische Unding des Absatz 1 ist auch inhaltlich nicht zu fassen. Denn wenn die Einschränkung durch den Begriff des Gebotenseins den Normen der Sozialethik folgen soll, ist eigentlich zu erwarten, dass auch die Erweiterung 11 Grundlegend Roxin, ZStW 93 (1981), S. 68 ff.; ders., Strafrecht AT, Band 14, 2006, § 15 Rn. 56.
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der Notwehrbefugnis bis hin zur „Scharfkantigkeit“ sozialethischen Grundsätzen entspricht – jetzt freilich von einem zwingenden Normbefehl heruntergestuft zu einem kategorischen Imperativ.12 Das Eine ist so wenig einleuchtend wie das Andere. Auch der Begriff der Sozialethik bleibt schleierhaft. Ein Bereich sozialer Werte, aus dem sich das Strafgesetz zur Verdeutlichung seiner Grenzbereiche bedienen kann, erregt zunächst einmal nur Verwunderung. Bei all diesen Skrupeln fragt sich andersherum, was § 32 mit dem wenig passenden Begriff des Gebotenseins denn eigentlich sagen will. Mir scheint: jedenfalls nichts, was den Absatz 2 präjudizieren könnte. Die Bedeutung des Absatz 1 erschöpft sich in der Feststellung: Eine Handlung in den Grenzen der Notwehr ist nicht widerrechtlich.13 Nur derart wertneutral ohne eigene Vorgaben kann Absatz 1 die volle Bedeutung des Absatz 2 unterstreichen. Auf die Idee, den Begriff des Gebotenseins in Absatz 1 inhaltlich hochzufahren, kam man ja auch erst, als die „Scharfkantigkeit“ des Notwehrrechts auf Ausnahmen drängte. Wer der Literatur in ihrem Bemühen um eine Inhaltsbestimmung des Gebotenseins folgt, trifft denn auch zu eigener Verblüffung früher oder später auf die Feststellung, dass die weiteren Einschränkungen des Notwehrrechts natürlich aus der gesetzlichen Umschreibung der Notwehr in Absatz 2 selbst herzuleiten seien.14 Das Gebotensein im Sinne des Absatz 1 konkretisiert sich demnach in der Auslegung des Absatz 2. Aber wenn das so ist, erscheint es endgültig als sinnlos, das Ergebnis dieser Auslegung in den Absatz 1 zu verlagern. Was aus Absatz 2 zu gewinnen ist, sollte auch dort veranschlagt werden. Über die Grundgedanken des Notwehrrechts herrscht bemerkenswerte Einigkeit. Im Vordergrund, so heißt es, steht das individualrechtliche (Rechtsgüter) Schutzprinzip, es wird durch das sozialrechtliche Rechtsbewährungsprinzip ergänzt.15 Der individualrechtliche Ansatz ergibt sich unmittelbar aus der Legaldefinition des § 32 Abs. 2 selbst. In ihr geht es allein um die Verteidigungshandlung einer bestimmten angegriffenen Person. Aber das daraus hergeleitete Schutzprinzip, jedenfalls wenn es sich auf die bedrohten Rechtsgüter bezieht, sieht sich zwei Einwänden ausgesetzt: Es greift zu kurz, weil es eine Verteidigung, die über den Erhalt des eigenen Rechtsguts hinaus den Angriff zurückschlagen will, ins Abseits laufen lässt, und es führt zu weit, weil die Fixierung auf den Erhalt des eigenen Rechtsguts selber über das Ziel hinausschießen könnte, etwa weil das Bedrohungsszenario nicht die soziale Wertwidrigkeit eines rechtswidrigen An12
Schmidhäuser (Fn. 3), S. 189. Nachweise zu dieser Auffassung bei Kühl, Strafrecht (Fn. 9), § 7 Rn. 163 Anm. 343. 14 Roxin, ZStW 93 (1981), S. 70; LK-Rönnau/Hohn (Fn. 9), § 32 Rn. 226 (S. 513); Kühl, Strafrecht (Fn. 9), § 7 Rn. 164. 15 Wiederum für viele andere Kühl, Strafrecht (Fn. 9), § 7 Rn. 21. 13
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griffs aufweist und daher die angemessene Konfliktlösung eher der des Defensivnotstands entsprechen würde. Der erste Einwand ist nur schwer zu entkräften. Ziel des individualrechtlichen Schutzprinzips ist allemal der Erhalt des eigenen bedrohten Rechtsguts. Das kann dadurch geschehen, dass der überlegene Verteidiger den Angriff zurückschlägt. Sollte der Ausgang der Güterverteidigung dagegen ungewiss sein, wäre es das Klügste, dem Angriff auszuweichen und das Rechtsgut in Sicherheit zu bringen. Ein solches Ausweichen wäre unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes auch dann geboten, wenn die aussichtsreiche Verteidigung eines nur geringwertigen Rechtsgutes beim Angreifer zu erheblichen Rechtsgutsverletzungen führen könnte und die Verteidigung angesichts dieses Missverhältnisses eigentlich nicht „dafürstehen“ würde. Wer mit anderen Worten die Verteidigung auf das Prinzip des Rechtsgüterschutzes zurückführt, kann den Verteidiger nicht gut von dem rechtlichen Grundprinzip aller güterbezogenen Konfliktlösungen freizeichnen – und das ist nun einmal das Prinzip der Güterabwägung. Auch der zweite Einwand ist nicht von der Hand zu weisen: Das Güterschutzprinzip kann die sozialethischen Einschränkungen der Notwehr nicht erklären. Warum sollte man bei Angriffen von Kindern, Betrunkenen oder Geisteskranken oder bei Auseinandersetzungen im eigenen Ehebereich die Verteidigung oftmals hintanstellen, wenn sie zum Schutz des eigenen Rechtsguts erforderlich wäre? Grenzkriterien müssten hier von außen kommen. Eben deshalb wird das zweite Notwehrprinzip „ergänzend“ aufgeboten. Es befreit das Notwehrrecht von allen Fesseln des am Prinzip der Güterabwägung orientierten Notstandsrechts und entbindet den Verteidiger von den Ansinnen eines defensiven Rechtsgüterschutzes – Ausweichen, Polizeinotruf, Verzicht auf Verteidigung. Er besagt, dass es in dem Konflikt zwischen Angreifer und Verteidiger nicht nur um Rechtsgüterschutz unter Einschluss der Rechtsgüter des Angreifers geht, sondern um die Geltung des Rechts selber. Der Bürger soll angesichts des im Angriff liegenden Rechtsbruchs nicht nur den Schutz seiner Rechtsgüter bedenken, sondern als „Statthalter des Rechts“ 16 die Bewahrung der Rechtsordnung als eigenes Anliegen und eigene Aufgabe begreifen. Ohne Widersprüche geht das freilich nicht ab. Denn auf der anderen Seite, dort, wo eine „scharfkantige“ Verteidigung letztlich nicht als angemessene Reaktion auf einen Angriff erscheint, legt der Grundsatz der Rechtsbewährung den Verteidiger darauf fest, dass die Ausübung seiner Verteidigungsbefugnis sich im Rahmen „sozialethischer“ Grundvorstellungen halten müsse. Also dann doch ein „Dreistufenplan“ 17, der über Trutzwehr und Schutzwehr sehr schnell bei dem zuvor gerade angezweifelten und für einen „Statthalter des Rechts“ inakzeptablen Gebot des geordneten Rückzugs angelangt ist. 16 17
Kühl, JuS 1993, S. 177 ff., 180. Zusammenfassend Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil39, 2009, Rn. 348.
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Tatsächlich ist das Rechtsbewährungsprinzip wohl nur deshalb so unangefochten, weil es als inhaltleere Floskel alles aufnimmt, was bei passender Gelegenheit als Begründung einer „Rechtsbewährung“ herhalten soll. Wäre es anders, müsste es aus sich heraus die materiellen Gesichtspunkte benennen, welche die Verteidigungsbefugnis über den Grundsatz der Güterabwägung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip hinaus bis an die Grenze der „Scharfkantigkeit“ erweitert. Es müsste Antwort geben auf die Frage: Wieso weicht denn das Recht, wenn in einem Güterkonflikt die Güterabwägung als regulatives Rechtsprinzip par excellence beachtet und der Konflikt entsprechend entschärft wird? Was gibt es preis, wenn es sich auf eine angemessene Abwehr „zurückzieht“? Oder anders gefragt: Was hat der Verteidiger über den Schutz seiner persönlichen Interessen hinaus zu bedenken, wenn er als „Statthalter des Rechts“ auftreten soll? Auch bei den „sozialethischen“ Einschränkungen bleibt das Rechtsbewährungsprinzip jede Begründung schuldig. Offensichtlich sind es ganz unterschiedliche Sollenssätze, die für die Begrenzung der Notwehr maßgeblich sein sollen.18 Der Fortfall des Notwehrrechts bei Absichtsprovokation und die Einschränkungen der Notwehrbefugnis im Ehebereich liegen (trotz des Kalauers von der Eheschließung als Vorverschulden) weit auseinander, und keiner dieser Gesichtspunkte hat irgendwelche Berührungspunkte mit angreifenden Kindern, Betrunkenen oder Irrenden. Schon gar nicht passt die sozialethische Bedachtsamkeit auf der einen Seite zu einer besonderen sozialethisch motivierten Schneidigkeit auf der anderen Seite der Notwehr. Wer hier einen gemeinsamen Nenner sucht, gerät unweigerlich in die Abstraktheit dogmatischer Sprachspiele. Bei diesem allgemeinen Begründungsdefizit beruft sich das Rechtsbewährungsprinzip wieder nur auf den Leitsatz dieser Arbeit: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.“ Inhaltliche Substanz ist dadurch nicht zu gewinnen, beide Grundsätze führen sich in einem „unaufhebbaren Zirkelschluss“ 19 wechselseitig ad absurdum. Und wer sich zuvor schon von dem ersten Wortspiel als für die Probleme der Notwehr völlig unergiebig verabschiedet hat, muss sich nun auch von dem Rechtsbewährungsprinzip trennen. Es verleitet nur zu ungesetzlichen Spekulationen – und das ausgerechnet im Bereich der Notwehr, deren Legaldefinition so über allen Zweifel erhaben scheint. Mit dem Rechtsbewährungsprinzip als einer Ratio der Notwehrbestimmung entfallen zugleich alle Erklärungsmuster, die mit diesem Prinzip verbunden sind. Das gilt vor allem für die generalpräventive Funktion, die der Notwehrbestimmung angedient wird. Wenn Generalprävention in diesem Zusammenhang nur sagen soll, dass jeder Angreifer bei seinem Verhalten einkalkuliert, der Angegriffene werde sich nach Kräften verteidigen, ist darüber kein Wort zu verlieren. 18 Zutreffend bemerkt Arzt, FS Schaffstein, 1975, S. 79, „dass man letztlich alles als Frage der Sozialethik bezeichnen kann“. 19 Pawlik, ZStW 114 (2002), S. 259 ff., 261.
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In der Dogmatik aber wird der Grundsatz herausgestellt, um die Notwehr als „verlängerten Arm“ staatlichen Strafrechts20 aufzuwerten. Diese zugeschriebene Funktion steht wieder für die „Scharfkantigkeit“ des Rechtfertigungsgrundes. (Anders als mit letzter Konsequenz scheint sich das Recht nicht behaupten zu können.) Aber sie ist schon in sich nicht schlüssig. Spätestens mit der Überwindung aller Zwangstheorien hat die Generalprävention selbst ihre Scharfkantigkeit verloren,21 in der Theorie von der Integrationsprävention findet sie sich nicht wieder. Und dass der Verteidiger als „Statthalter des Rechts“ auch noch den (staatlichen?) Strafanspruch mit verwalten soll, erscheint nun doch daneben. Wenn Analogien zu staatlichen Funktionen im Bereich privater Selbstverteidigung überhaupt einen Sinn machen sollten, kommt nur eine Analogie zum Polizeirecht in Frage. Notwehr ist Gefahrenabwehr, sonst nichts. Und dieses private Recht zur Gefahrenabwehr hat genug damit zu tun, sich vom Verhältnismäßigkeitsprinzip der staatlichen Nothilfe abzusetzen. Für kriminalpolitische Ziele gleich welcher Art ist es denkbar ungeeignet. Wer die Abkehr von dem Leitprinzip des Rechts, das dem Unrecht nicht zu weichen braucht, und vom Gedanken der Rechtsbewährung nicht eindeutig vollziehen will, dem bleibt es unbenommen, den liebgewordenen Grundsätzen einen individualrechtlichen Zuschnitt zu geben. Der Verteidiger braucht (in den Grenzen des § 32 Abs. 2) dem Angreifer nicht zu weichen – das ist immer noch zirkulär, klingt aber doch schon viel eher wie die Lösung eines interpersonalen Konflikts, um den es allein geht. Und natürlich soll sich das Recht hier wie überall bewähren, aber eben dadurch, dass der interpersonale Konflikt in den vorgezeichneten individualrechtlichen Bahnen ausgetragen wird. Gegen den individualrechtlichen Ansatz, der damit als einziger Begründungstopos bleibt22, steht freilich der bereits skizzierte Vorbehalt, dass er die besondere „Schneidigkeit“ einer erlaubten Notwehr nicht erklären könne. Das ist, wie gesagt, richtig, wenn man das Prinzip auf die Ratio des Rechtsgüterschutzes festlegt. Aber diese Beschränkung wird dem Rechtfertigungsgrund nicht gerecht. Natürlich spielt der Schutz individueller Rechtsgüter im Bereich der Notwehr eine zentrale Rolle. Aber abgesehen davon, dass zu Beginn eines Angriffs keineswegs schon feststehen muss, worauf es der Angreifer abgesehen hat, um welche Rechtsgüter es also geht, ergibt sich der Umfang der Verteidigungsbefugnis nicht aus einer Kosten-Nutzen-Analyse. Nicht Güter stehen sich gegenüber, sondern Personen.
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Hassemer (Fn. 4), S. 240. Kühl, JuS 1993, S. 182, weist zu Recht darauf hin, dass der Gedanke der Generalprävention keineswegs auf eine Güterproportionalität verzichtet. 22 Ebenso Pawlik (Fn. 19), S. 264 f. mit Hinweisen auf weitere Vertreter dieser Auffassung Anm. 29. 21
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Notwehr ist, wie gesagt, ein „interpersonaler Konflikt“, entsprechend verlangt Notwehr eine „interpersonale Legitimation“.23 Sie wird auf der Rechtsgüterebene verfehlt. „Der Angegriffene verteidigt nicht einen Güterbestand gegen eine diesem drohende Schmälerung, sondern er verteidigt seinen Rechtsraum gegen eine diesem drohende Schmälerung.“24 Nicht mögliche schädliche Auswirkungen des Angriffs sind der Maßstab einer erforderlichen Verteidigung, sondern die Intensität, mit der ein Angreifer den Rechtsraum einer anderen Person bedroht und damit Kompetenz und Rechtmacht dieser Person brüskiert und in Frage stellt. Die Reaktion des Betroffenen auf diese Brüskierung setzt einen Prozess in Gang, in dem Angriff und Verteidigung in ihrer wechselseitigen Bedingtheit den Verlauf bestimmen.25 Dieser Prozess kann den Konflikt hochschaukeln; er kann ihn ebenso gut abschwächen und am Ende beilegen. Die Frage nach der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit eines am Ende tatbestandsmäßigen „Erfolges“ der Verteidigung lässt sich zutreffend nur beantworten, wenn die gesamte Interaktion zwischen Angreifer und Verteidiger in die Beurteilung einbezogen wird. Dabei verspricht der Hinweis auf die besondere „Scharfkantigkeit“ der Notwehr eine eher einfache Lösung. Wer demgegenüber einer Vielzahl von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs entnimmt, mit welcher Sorgfalt das Urteil alle Umstände des Einzelfalls aufnimmt und zu einem Verlauf zusammenfügt,26 der sieht, dass das Gericht nicht von vornherein dem Postulat einer „Schneidigkeit“ der Verteidigung folgt, vielmehr aus einer Gesamtbewertung der personalen Interaktion zu einem bestimmten Ergebnis gelangt und dieses Ergebnis in die Theorie von der „Schneidigkeit“ einfügt – mit allen theoretischen Abschwächungen, die allein den Fortbestand der Theorie gewährleisten. Eine solche Gesamtschau lässt sich nicht auf allgemeine Grundsätze festlegen. Wichtiger ist eine Verständigung über die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte. Sie betreffen nach einer erforderlichen Einschätzung der Intensität des Angriffs (mutmaßliches Ziel, Stärke, Bewaffnung, Überlegenheit, aggressives Verhalten usw.) vor allem die situativen Bedingungen der Verteidigung (Chancen und Risiken, verfügbare Abwehrmittel, die Möglichkeit, in kritischen Situationen polizeiliche Hilfe anzufordern oder private Unterstützung zu erbitten) und die psychische Disposition des Angegriffenen (Mut oder Furcht, Selbstsicherheit oder Unschlüssigkeit, eigene Aggressivität – Dem werde ich es zeigen, usw.). Vor allem ist der Verlauf der streitigen Auseinandersetzung so weit wie möglich nachzuzeichnen. Alle vom Gesetz aufgeworfenen Zulässigkeitsfragen lassen sich nicht punktuell beantworten. Natürlich geht es vorrangig um die Auswahl des mildesten Mittels. 23 24 25 26
Pawlik (Fn. 19), S. 265. Pawlik, a. a. O. Zum Folgenden vgl. Hassemer (Fn. 4), S. 225 ff. Diese „fallnahe Argumentation“ hat Hassemer (Fn. 16), S. 231 f. herausgearbeitet.
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Aber die Frage, ob Stock, Messer oder Schusswaffe, ist immer relativ, bezogen auf die Kompetenz des Verteidigers – Finde ich den Stock? Kann ich mit dem Messer umgehen? Will ich denn überhaupt notfalls schießen? – und auf die Reaktion des Angreifers, die zu einer umgehenden Korrektur der Mittelauswahl nötigen kann. Mit dem Verlauf dieses Notwehrgeschehens stellt sich auch die Frage nach den einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen immer wieder neu und anders. Am Anfang steht nur fest, dass der Angegriffene den Angriff in einer erforderlichen Weise abwehren darf. Am Ende, anlässlich einer strafrechtlich relevanten Schädigung des Angreifers, steht die Frage, ob die Verteidigung von Anfang bis Ende insgesamt erforderlich war. Die dynamische Konzeption der Notwehr, die sich nur ganzheitlich als prozesshafte Interaktion verstehen lässt, wird in Rechtsprechung und Lehre zu wenig beachtet. Andernfalls würden sich beide mit den sozialethischen Einschränkungen nicht so schwer tun. Die Probleme, um die es geht, gewinnen erst in ihrer Interaktionsstruktur an Profil. Das gilt zunächst für den Sonderstatus der Ehegatten und anderer Lebenspartner. Hier wirkt jeder Rückgriff auf die „Ethik“ des Zusammenlebens und eine beiderseitige Verantwortung schal. Denn der Sonderstatus läuft auf eine Privilegierung des körperlich Stärkeren hinaus – er muss eine Waffe des Unterlegenen nicht länger fürchten. Dass eine auf Dauer angelegte Partnerschaft gleichwohl besondere Bewertungsmaßstäbe erfordert, liegt allein daran, dass die Intimität eines solchen Zusammenlebens eigene Interaktionsformen wählt. Jede Partnerschaft hat einen eigenen Code der sprachlichen und körperlichen Zuwendung. Sie definiert sich durch eigene Rituale, Aggressionspotentiale, Empfindsamkeiten und Toleranzen, die von außen kaum wahrgenommen werden, die in ihren Ursachen jedenfalls von dritter Seite nicht aufgeschlüsselt werden können und die daher kaum zutreffend zu bewerten sind. Jedenfalls entsprechen sie nicht notwendig dem gesetzten Recht, sodass es in einem Konflikt auch nicht um die Frage geht, ob und wann das Recht dem Unrecht weicht. Notwehr ist damit in diesem Intimbereich zwar nicht ausgeschlossen, aber doch wohl auf Fälle beschränkt, in denen ein Partner völlig aus der Rolle fällt und eine vom Anderen nicht vorhersehbare und unkalkulierbare Aggression entfaltet. Das eigentliche Problem wechselseitiger Provokation im Sozialbereich beginnt bei der Unfugabwehr. Das Prinzip wird zumeist bemüht, um Kleinfritzchen auf dem Kirschbaum vor der Schießkunst des gelähmten Eigentümers zu schützen. Dazu zwei Bemerkungen. Erstens: Wer zur Beurteilung solcher Kindereien ein ganzes Rechtsprinzip braucht, wird früher oder später auf das Erzieherprivileg der Eltern stoßen und dem Gelähmten anraten, zum Handy statt zum Gewehr zu greifen. Aber zweitens, und diesmal ganz ernst gemeint: Der Eigentümer des Kirschgartens hat natürlich gleich neben dem Rollstuhl sein Gewehr stehen. Das entspricht in diesem ziemlich albernen Schulbeispiel durchaus der Realität vieler Notwehrfälle. Sie eskalieren so lange, bis der Angegriffene schließlich seine
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Schusswaffe oder jedenfalls ein Springmesser zieht. Aber woher eigentlich diese Waffen? Welches Klientel bedient die Notwehrdogmatik? Zurück zur Unfugabwehr. Überlegungen dazu machen erst Sinn in der Welt der Erwachsenen. Sie besagen hier, dass kleine Schikanen nicht zu gewaltsamem Einschreiten berechtigten. Solches Einschreiten eskaliert allzu oft,27 bis am Ende der Unterlegene wieder seine Waffe zieht. Ein bezeichnendes Beispiel präsentierte einer meiner Ausbilder am OLG Celle – angeblich aus seiner Praxis: Ein paar Männer veranstalten eine Schneeballschlacht. Eine Partei geht hinter einem geparkten Auto in Deckung und verwendet Schnee vom Dach als Munition. Der Eigentümer aus Angst um seinen Wagen geht dazwischen, wird verlacht und prügelt wacker gegen die Übermacht, bis am Ende auch hier nur sein Messer hilft. Die Notwehrdiskussion führt immer an den Anfang. Wem also gehört der Schnee auf dem Autodach? Begründen Schneebälle gegen die Windschutzscheibe die Gefahr einer Sachbeschädigung? Und jedenfalls kann der Eigentümer gemäß § 903 BGB „andere von jeder Einwirkung (auf die Sache) ausschließen“ – aber gleich gewaltsam und gedeckt durch Notwehr? Das sind alles schöne Fragen neben der Sache, sofern man die Grenzen der Notwehr bei der Abwehr von Unfug beachtet. Wer sein Auto gegen Schneebälle schützen will, tut das auf eigene Rechnung. Er kann sich angesichts der vorhersehbaren Eskalation nicht auf Notwehr berufen. Es ist wie bei der Beteiligung an einer Schlägerei gemäß § 231 StGB: Nur wenn ihm sein Einschreiten nicht „vorzuwerfen“ ist, bleibt er im Bereich legitimer Verteidigung. Eine andere Beurteilung ist nur dann geboten, wenn der Verlauf der Eskalation in nicht vorhersehbarer Weise gesprengt wird, etwa dadurch, dass einer der Beteiligten zum Messer greift und dadurch der Auseinandersetzung ein neues Gepräge gibt. Nach dieser Unterbrechung des Kausalzusammenhanges wird der Messerstecher zum Angreifer unabhängig davon, ob er den ursprünglichen Unfug angefangen hat oder nicht. Die hier für die Unfugabwehr skizzierten Überlegungen gelten nicht anders für den Bereich der Notwehrprovokation; denn der Unfug am Beginn einer streitigen Auseinandersetzung ist selbst nur ein Fall der Provokation. Der Fehlansatz der Rechtsprechung und der ganz herrschenden Meinung liegt darin, dass er die Provokation eines Angriffs als einen Ausnahmefall der Notwehr begreift. Hassemer hat demgegenüber in mindestens fünf der von Roxin28 bearbeiteten 12 Fälle eine vorangehende Provokation der Provokation aufgedeckt.29 Jedenfalls in solchen Fällen, in denen sich Angreifer und Verteidiger schon vor der Tat in einem Interaktionsverhältnis befinden, ist Provokation nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall.30 Das bedeutet, „dass ein Interaktionsprozess, der sich zwischen den 27 28 29 30
Zu dieser Gefahr der Eskalation vgl. Arzt (Fn. 15), S. 82. Roxin, ZStW 75 (1963), S. 541–543. Hassemer (Fn. 4), S. 234 f. Hassemer, a. a. O.
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Teilnehmern bis zu ,gegenwärtigem Angriff‘ und ,Verteidigung‘ aufschaukelt, sich nicht in ,objektiv‘ vorhandene Sequenzen offensiven und defensiven Charakters zerlegen lässt: Angriff ist in diesem Prozess immer zugleich Verteidigung.“ 31 So gesehen betreibe die Figur der Notwehrprovokation „eine willkürliche Interpunktion“.32 Für Hassemer folgt daraus, „dass eine Notwehrdogmatik, welche das Notwehrrecht wegen einer Provokation des Angreifers durch den Verteidiger beschränkt, auch eine vorgängige Provokation des Verteidigers durch den Angreifer entsprechend berücksichtigen muss.“ 33 Danach gibt es für ihn nur zwei Möglichkeiten: entweder die gesamte Interaktion in die Bewertung von Angriff und Verteidigung einzubeziehen, oder den Gesichtspunkt der Provokation – einschließlich der Absichtsprovokation – als Unrechtsmerkmal überhaupt aufzugeben. Er selbst wählt für sich die zweite Möglichkeit. Die Entscheidung über die Notwehr müsse klar und eindeutig sein. Die Berücksichtigung des Interaktionszusammenhangs führe zwangsläufig zur Auflösung einer stabilen Notwehrdogmatik.34 Die Entscheidung Hassemers überrascht; eigentlich hatte er den Weg in die andere Richtung deutlich markiert. In der Sache überzeugt sie nicht. Der Einwand einer „willkürlichen Interpunktion“ trifft nicht nur denjenigen, der nur die letzte Provokation als wesentlich hervorhebt und alle vorangehenden ignoriert, sondern auch denjenigen, der die gesamte vorangehende Interaktion übergeht und nur den Angriff als Provokation zulässt. Abgesehen davon dürfte es oft nicht leicht fallen, in einem dichten Interaktionszusammenhang einen Angriff als die letzte und entscheidende Provokation überhaupt auszumachen. In dem oben bemühten Beispiel mit der Prügelei um den Schnee auf dem Autodach hatte auch dieser Eigentümer sich am Ende mit seinem Messer verteidigt, aber welche konkrete Aktion ihn letztlich dazu bewogen hat, die Waffe zu ziehen, musste offen bleiben. Auch wo es gelingt, den letzten Anstoß für den Gebrauch einer Waffe auszumachen, mutet die anschließende Rollenverteilung jeder Notwehrentscheidung einigermaßen willkürlich an. Wenn der Gebrauch einer Waffe die streitige Auseinandersetzung beendet hat, wird gleichsam von hinten her dem Schützen oder Messerstecher – jedenfalls versuchsweise – die Rolle des Verteidigers zugewiesen, entsprechend übernimmt der Gegner die Rolle des Angreifers. Ob diese Rollenzuweisung dem Gesamtgeschehen gerecht wird, lässt sich, wenn man das Gesamtgeschehen ausblendet, nicht mehr zuverlässig beurteilen. Auch das Argument, differenzierte Grenzziehungen, zu denen die Berücksichtigung des gesamten Interaktionszusammenhangs führen müsste, seien im Notwehrbereich „unerträglich“, da der unter Druck stehende Verteidiger mit der ge31 32 33 34
Hassemer, a. a. O., S. Hassemer, a. a. O., S. Hassemer, a. a. O., S. Hassemer, a. a. O., S.
225, 235. 236. 233. 233, 237 f.
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botenen Prüfung aller Umstände des Einzelfalls regelmäßig überfordert sei,35 leuchtet nicht ein. Das Notwehrrecht trägt der Drucksituation des Verteidigers durch zahlreiche Entscheidungsvorgaben Rechnung.36 So ist die Erforderlichkeit stets ex ante aus der Sicht des Angegriffenen zu bestimmen, nachvollziehbare Fehleinschätzungen der Angriffssituation gehen zu Lasten des Angreifers. Im Übrigen darf der Verteidiger solche Mittel wählen, die eine sofortige Beendigung des Angriffs und die endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleisten, er muss sich nicht auf das Risiko einer unzureichenden Abwehr einlassen. Insgesamt ist die fehlende Waffengleichheit zwischen (planendem) Angreifer und (überrumpeltem) Verteidiger einer der Gründe, weshalb die Individualverteidigung nicht auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip der polizeilichen Gefahrenabwehr festgelegt wird. Die Frage aber, die sich der Verteidiger in allen Provokationsfällen stellen muss, ist die nach seiner eigenen aggressiven Beteiligung. Und diese Einsicht: Gib zu, dass du selber auch Schuld hast – ist ihm durchaus abzuverlangen. So würde ich der von Hassemer gelegtem zweiten Spur folgen und den gesamten Interaktionszusammenhang in die Unrechtsprüfung der Notwehrsituation einbeziehen. Am Anfang werden alle Unfugfälle aussortiert, es sei denn, eine nachfolgende „Zwischenprovokation“ mit einer aggressiven Verhaltensänderung gibt dem Gesamtgeschehen eine neue Qualität. Wo die Interaktion mit einer spontanen, nicht hinnehmbaren Bedrohung oder Beeinträchtigung einer fremden Rechtssphäre beginnt, stehen Angreifer und Verteidiger fest. Bei dieser Rollenverteidigung bleibt es bei gleichbleibender Intensität des Angriffs und einer insgesamt erforderlichen Verteidigung. Nur wo ein Übermaß an Verteidigungsintensität den „Rechtmäßigkeitszusammenhang“ unterbricht, werden die Gewichtungen zwischen Angreifer und Verteidiger neu bestimmt. Insgesamt erscheinen mir die Probleme der deutschen Notwehrdogmatik ziemlich hausgemacht. Das liegt vor allem daran, dass sie sich konsequent am Ausnahmefall der „scharfkantigen“ Verteidigung orientiert und sich zu wenig um den im Gesetz vorausgesetzten Normalfall einer erforderlichen Verteidigung bemüht. Ich möchte das an einem Vergleich mit dem schweizerischen Notwehrrecht, das ich in meiner 13jährigen Lehrtätigkeit in Basel hinreichend studiert habe, kurz erläutern. Die Legaldefinition des Art. 15 Abs. 1 CH-StGB (von der die Schweizer ebenso überzeugt sind wie die Deutschen von ihrem § 32 Abs. 2 StGB) lautet: Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren. Überschreitet der Angreifer die Grenzen der Notwehr, so mildert der Richter die Strafe nach freiem Ermessen. (Art. 66)
35 36
Hassemer, a. a. O., S. 238. Zusammenstellung bei Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 335, S. 118.
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Ein dem deutschen § 33 entsprechender Entschuldigungsgrund (entschuldbare Aufregung oder Bestürzung) findet sich in Art. 15 Abs. 2. Die schweizerische Notwehrbestimmung stimmt, wie leicht zu erkennen ist, in ihren Ausgangspunkten mit dem deutschen Recht überein: Hier Angriff und Verteidigung, dort Angriff und Abwehr. Hier ein rechtswidriger Angriff, dort der Angriff ohne Recht. Hier ein gegenwärtiger Angriff, dort die unmittelbare Bedrohung oder der Angriff selber. Dann freilich stellt das deutsche Recht auf die Erforderlichkeit der Verteidigung ab, während die schweizerische Bestimmung eine den Umständen angemessene Abwehr voraussetzt. Aber auch diese unterschiedlichen Begriffe stimmen zunächst noch überein. Denn die Grundsätze, die die deutsche Dogmatik dem Begriff der Erforderlichkeit entnimmt – die Eignung des Verteidigungsmittels und das Gebot des mildesten Mittels – liegt natürlich auch dem schweizerischen Begriff der Angemessenheit zugrunde. Allerdings geht das Schweizer Recht über den Begriff der Erforderlichkeit hinaus, der Begriff der Angemessenheit schöpft die drei Stufen des Übermaßverbots (Eignung, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit i. e. S.) voll aus. Den Umständen angemessen ist schließlich nichts anderes als den Verhältnissen gemäß. Und dieses schweizerische Verhältnismäßigkeitsprinzip beschränkt sich nicht von vornherein auf den bloßen Willkürausschluss – der auch im deutschen Notwehrrecht mühelos seinen Platz finden könnte – es erfordert vielmehr vom Richter eine positive Bestimmung des unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls Angemessenen. Das scheint die Möglichkeiten des Angegriffenen gegenüber dem deutschen Recht doch deutlich zu beschränken und jedenfalls eine „scharfkantige“ Verteidigung von vornherein auszuschließen. Doch wäre dieser Schluss voreilig. Denn die Berücksichtigung aller (!) Umstände des Einzelfalls schließt eben auch die Berücksichtigung extremer Notwehrbedingungen ein und lässt im Hinblick auf sie auch „schneidige“ Abwehrmaßnahmen als angemessen erscheinen. Nur dass der Richter diese „Scharfkantigkeit“ nicht als das „normale“ Notwehrprinzip voraussetzen darf, sondern ihre Zulässigkeit aus der konkreten Situation heraus besonders begründen muss. Der Schulfall einer solchen Rechtsfindung vom normalen Verteidigungsrecht zur Ausnahmebefugnis lieferte – damals passgerecht zu einer meiner laufenden Vorlesungen – der Überfall auf eine Wechselstube in Basel. Der Täter flüchtete bei einbrechender Dunkelheit mit einem beträchtlichen Geldbetrag durch die Innenstadt. Der verantwortliche Angestellte schoss – das war die einzige Möglichkeit, noch an das Geld zu kommen – aus 10 bis 15 Metern hinter ihm her, traf ihn ins Bein und nahm ihm die Beute wieder ab. In dem gegen ihn angestrengten Verfahren wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung berief er sich auf das Recht zur Notwehr. Die Verteidigung schien von Anfang an eher aussichtslos. Denn ein gezielter Schuss auf einen Menschen enthält immer die Gefahr einer tödlichen Verletzung. Das rührt an die Schranke des Art. 5 EMRK, der in der Schweiz unmittelbar gel-
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tendes Recht ist. Im Übrigen stand der Zulässigkeit des Waffengebrauchs die massive Gefährdung möglicherweise anwesender Passanten entgegen – man schießt nicht in der Innenstadt. (Dass die strikte Begrenzung des Waffengebrauchsrechts in der Schweiz auch schon deshalb unerlässlich ist, weil jeder Schweizer nach einem kurzen Wehrdienst seine schussbereite Waffe mit nach Hause nimmt, versteht sich am Rande.) Tatsächlich aber hat die Entscheidung über die Rechtfertigung im „Basler Wechselstubenfall“ nicht den erwarteten Verlauf genommen. Der Angeklagte bestritt eine Lebensgefahr des Angreifers und irgendeine Gefährdung dritter Personen, er sei ein sehr guter Schütze und habe nur auf den Unterschenkel gezielt. Bei einem Ortstermin am Schießstand bestätigte sich die behauptete Treffsicherheit. Das Urteil – mit einem sympathischen Hang zur Folklore – führt aus: „S. ist ein geübter Schütze. Ein unter Mitwirkung der Polizei durchgeführtes Probeschießen unter analogen Bedingungen ergab, dass von ca. 15 bei Dunkelheit auf 15 bis 20 Meter abgegebenen Schüssen keiner auf Kniehöhe oder darüber einschlug.“
Im Hinblick auf diese besondere Fähigkeit und die Höhe des geraubten Betrages erachtete das Gericht die Verteidigung als den Umständen gerade noch angemessen. Im Ergebnis hat das schweizerische Gericht ganz im Sinne der deutschen Rechtsprechung geurteilt – wobei ein deutsches Gericht die Voraussetzungen der Notwehr wohl auch ohne den Nachweis einer besonderen Treffsicherheit angenommen hätte. Aber die – später vom Bundesgericht37 bestätigte – Entscheidung ist für mich noch in anderer Hinsicht zum Schulfall geworden. Sie zeigt einen unterschiedlichen Denkansatz zur Konkretisierung rechtlicher Grundprinzipien der Notwehr. Die schweizerische Dogmatik entwickelt ihren Notwehrbegriff am Normalfall einer angemessenen Verteidigung. Von diesem Normalfall her bestimmt sie im Ausnahmefall das äußerste Maß noch zulässiger Verteidigung. Man schießt nicht auf Menschen – vorbehaltlich ganz besonderer Umstände des Einzelfalles. Das Recht verlangt eben grundsätzlich auch bei der Verteidigung eigener Rechtsgüter Vernunft und Augenmaß. Das lässt „unter Umständen“ auch eine scharfkantige Verteidigung zu, aber eben nur im Ausnahmefall. Die deutsche Dogmatik entwickelt ihre Grundsätze des Notwehrrechts im Hinblick auf die im Grenzbereich gewährten Befugnisse. Die Verteidigung bis zum Äußersten wird zum Prototyp. Das Güterabwägungsprinzip wird aus der Notwehrbestimmung grundsätzlich ausgeklammert, auch im Normalfall ist es jeder rechtlichen Verbindlichkeit enthoben. Als Orientierungspunkte einer zulässigen Verteidigung erscheinen von Anfang an nur die Ausnahmebefugnisse der „Scharfkantigkeit“. Wo der Angegriffene Augenmaß walten lässt und dem Angriff ausweicht, besteht die Dogmatik darauf, dass er dazu keineswegs verpflich37
BG 107 IV 12.
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tet sei und gibt zu bedenken, dass ein Rückzug allemal auch als „schimpflich“ angesehen werden könnte. Erst auf verschlungenen dogmatischen Pfaden über die Markierungen der Sozialethik holt man die Zurückhaltung des Verteidigers als Rechtspflicht zurück. Diese Fokussierung auf den Grenzbereich macht nur dadurch Sinn, dass eine „schneidige“ Verteidigung zum postulierten Leitbild erhoben wird. Der Notwehrbestimmung wird unterstellt, das Recht, wenn es schon keine Verpflichtung zum Widerstand enthalte, „erwarte“ vom Angegriffenen jedenfalls, dass er zur Verteidigung seiner Rechtsgüter dem Angreifer bis zum Äußersten entschlossen entgegentrete – nicht nur berechtigt, sondern eben doch „dazu aufgerufen“, einen Angreifer abzuwehren.38 Der nebulöse Begriff des Gebotenseins in § 32 Abs. 1 tut hier als kategorischer Imperativ das Seine.39 Was heißt schon „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“? Es soll ihm nicht weichen. Dass der Normalbürger eine solche Erwartung von sich aus akzeptiert und ihr bereitwillig folgt, ist nicht sehr wahrscheinlich. Es ist nur schwer vorstellbar, dass er in einer kritischen Notwehrsituation das grundlegende Rechtsprinzip einer angemessenen Güterabwägung nicht länger in Betracht ziehen und sein Verhalten von vornherein an der äußersten Notwehrgrenze orientieren würde. Dass diese Skepsis angebracht ist, belegt die bereits zitierte Dresdener Studie.40 Die dort vorangestellte Hypothese, „dass die grundsätzliche Zurückweisung einer Güterabwägung durch Rechtsprechung und Wissenschaft in den Vorstellungen der Bevölkerung vom Notwehrrecht kaum Widerhall findet“, hat sich voll bestätigt. „Die deutsche Bevölkerung scheint davon auszugehen, dass Notwehr nur in den Grenzen einer Güterabwägung gerechtfertigt ist“.41 Auch zur Frage einer Ausweichpflicht in kritischer Notwehrlage nimmt die große Mehrzahl der Bevölkerung offenbar eine andere Auffassung ein als die herrschende Meinung der deutschen Strafrechtspraxis und Wissenschaft.42 Trotz aller kriminologischen Einwände gegen die Studie43 scheint sich also zu bestätigen, dass die rechtliche Einstellung der Befragten eher dem schweizerischen Recht als den Vorgaben der deutschen Dogmatik folgt. Das hätte allemal ausgereicht, um Zweifel an den Maximen der deutschen Dogmatik anzumelden. Die Studie geht einen anderen Weg. Statt das Notwehrecht kritisch zu überprüfen, erhebt sie zum Hauptproblem, dass 38
Häder/Klein (Fn. 1), S. 87. Noch einmal Schmidhäuser (Fn. 3), S. 189: „In der Diskussion der Gegenwart wird das Wort ,geboten‘ . . . ganz i. S. eines kategorischen Imperativs verstanden – so, als gäbe es eine Pflicht für irgend jemanden“. 40 Siehe oben S. 635 mit Fn. 1. 41 Amelung/Kilian (Fn. 1), S. 5. 42 Amelung/Kilian, a. a. O., S. 7, 8. 43 Vgl. Hartmann, Von der Schwierigkeit, Rechtsfragen sozialwissenschaftlich zu untersuchen. Replik zu Häder/Klein, ZUMA Nachrichten 51. Jg. (November 2002), S. 94 ff. 39
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das Recht in diesem Bereich offenbar nicht in der Lage sei, das Verhalten seiner Adressaten richtig zu steuern. „Wie wenig das Recht unser Verhalten regelt“,44 wird zur Schlagzeile. Das heißt zugleich – in der Lesart der Akzeptanzforschung, der die Untersuchung dient – das Notwehrrecht werde von der Bevölkerung nicht akzeptiert, es könne sich nicht durchsetzen.45 Aber diese Folgerung ist nicht haltbar, weil der gewählte Ausgangspunkt vom Recht nicht gedeckt wird. Die Notwehrbestimmung enthält keinen Hinweis auf eine vom Recht gewollte Lösung des Konflikts zwischen Angreifer und Verteidiger. Notwehr gewährt nicht mehr als eine Befugnis. Sie sagt nur, in welchen Grenzen Verteidigung ausgeübt werden darf, sie sagt nicht, wie sie ausgeübt werden soll. Dementsprechend kann die Notwehrbefugnis auch nicht „durchgesetzt“ werden, und ein Akzeptanzproblem stellt sich nur dort, wo der Verteidiger sich nicht an die vorgegebenen Grenzen halten will. Wenn er sich in den Grenzen hält, hat er das Recht in stets gleicher Weise auf seiner Seite. Es liegt für manche Bürger nahe, einer Bedrohung, der er nicht mit allen rechtlich zu Gebote stehenden Mitteln begegnen will, auszuweichen. Andere Bürger mögen ein solches Ausweichen als „schimpflich“ empfinden, sie werden versuchen, die Bedrohung mit aller rechtlich erlaubten Gewalt abzuwehren. Die Rechtsordnung rechtfertigt beide Verhaltensweisen, die erste, weil sie keine Widerstandpflicht gegen individuelle Bedrohungen kennt, die zweite, weil und soweit sie das Abwehrmittel (gerade noch) erlaubt. Zu der Frage, welches Vorgehen in der konkreten Situation „richtig“, wünschbar oder moralisch geboten ist, sagt das Notwehrrecht nichts. Es ist Sache des angegriffenen Bürgers zu entscheiden, wie er im weit gespannten Notwehrrahmen auf einen Angriff reagieren will. Dabei lässt das Recht den Bürger nicht orientierungslos. Das Güterabwägungsprinzip beispielsweise hört ja nicht auf, ein Rechtsprinzip zu sein, nur weil es zur Bestimmung der äußersten Grenze einer Verteidigungsbefugnis nicht für verbindlich erklärt wird. Und wer sich im Sinne des schweizerischen Rechts um eine den Umständen angemessene Verteidigung bemüht, folgt auch im deutschen Notwehrrecht der Richtschnur des Verhältnismäßigkeitsprinzips, mit dem er ein Optimum an Recht verwirklicht. Im Übrigen ist derjenige, der auf scharfkantige Trutzwehr verzichtet und sich mit zurückhaltender Schutzwehr begnügt oder dem Angriff gar ausweicht, angesichts der zahlreichen sozialethischen Einschränkungen einer scharfkantigen Verteidigung rechtlich ja jedenfalls auf der sicheren Seite. Am Ende steht ein Plädoyer für eine Vereinfachung der Dogmatik des § 32 StGB mit einer Entlastung vom Pingpong zwischen Absatz 2 und Absatz 1. 44
So der Titel der Studie von Häder/Klein (Fn. 1). Vgl. Amelung/Kilian (Fn. 1), „Zur Akzeptanz des deutschen Notwehrrechts in der Bevölkerung“. 45
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Grundlage und Grenzen der Notwehr sind allein aus Absatz 2 herzuleiten. Leitlinie ist das ausschließlich individualistisch zu verstehende Recht auf Selbstverteidigung. Dabei bezieht sich die Auslegung auf alle Umstände, aus denen sich die Intensität des Angriffs und die Möglichkeiten einer sinnvollen Verteidigung ergeben. Die Bewertung geht von den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnung aus, sie veranschlagt das Güterabwägungsprinzip ebenso wie das Postulat der Verhältnismäßigkeit. In dem Maße freilich, in dem die Intensität des Angriffs den Geltungsanspruch des Angegriffenen in besonderer Weise bedroht und in Frage stellt, geht das Verhältnismäßigkeitsprinzip über die objektiven Maßstäbe einer staatlichen Gefahrenabwehr hinaus und trägt bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs dem subjektiven Geltungsanspruch der angegriffenen Person Rechnung. Die in solchen Grenzfällen akzeptable „Scharfkantigkeit“ der Verteidigung ergibt sich unmittelbar aus dem Selbstverteidigungsrecht des Bürgers; ein Rückgriff auf ein „ergänzendes“ Rechtsprinzip erübrigt sich. Und wenn der Auslegungsvorgang endlich das Prozesshafte der Notwehrsituation mit veranschlagt und die sich wechselseitig aufladende Interaktion zwischen Angreifer und Verteidiger in die Beurteilung der Erforderlichkeit einbezieht, werden auch die Sonderregelungen der provozierten Notwehr hinfällig, weil sich ein Rückgriff auf Sondernormen einer Sozialethik erübrigt. Das Hin und Her zwischen Absatz 2 und Absatz 1 fände ein Ende. Dass eine solche Zentrierung der Problematik in Absatz 2 zu einer fortschreitenden Relativierung und damit dazu führen würde, dass sich die Dogmatik selber aufhebt,46 ist nicht zu befürchten. Wenn es der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter tatkräftiger Mithilfe der Wissenschaft bisher gelungen ist, die im nebulösen Bereich der Sozialethik verorteten Schranken auf konkrete Beispielgruppen zu beschränken, dann sollte das im Grenzbereich des Absatz 2 genauso möglich sein. Die Dogmatik des § 32 StGB ist zu korrigieren, nicht das richterliche Judiz im Bereich der Notwehr. Was die deutsche Notwehrdogmatik völlig unnötig belastet, ist die ideologische Überhöhung mit allgemeinen Grundsätzen und wertorientierten Bekenntnissen im gedanklichen Umfeld der Rechtsbewährung. Dieser aufgeladenen Rhetorik ist entgegen zu wirken. Wenn der Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ aus allen Lehrbüchern gestrichen würde, wäre das ein Anfang.
46 Hassemer (Fn. 4), S. 237; ähnlich LK-Rönnau/Hohn (Fn. 9), § 32 Rn. 228 a. E. unter Verweis auf die Entscheidung BGH NJW 2003, 1955, 1960, in der sich das Gericht gegen „eine Gesamtschau des Tatgeschehens“ wendet, innerhalb derer „die bereits anerkannten Fallgruppen jeweils nur indizielle Bedeutung für die Annahme einer Einschränkung der Notwehrbefugnisse im Einzelfall gehabt hätten.“
Strafrecht und Moral in Bewegung Von Kristian Kühl Das spezielle Verhältnis von Strafrecht und Moral ist ebenso wie das allgemeine Verhältnis von Recht und Moral komplex. Weder herrscht völlige Übereinstimmung noch gibt es nur Gegensätzliches. Vielmehr gibt es in diesem Verhältnis Trennendes und Verbindendes.1 Die Komplexität des Verhältnisses wird noch dadurch gesteigert, dass Vieles in Bewegung ist. Dabei scheint die Bewegung zurzeit in Richtung des Rechts zu gehen. Sittlich-moralische Wertungen gelten als zu unsicher, als dass sie die Entscheidung von Rechtsfragen tragen könnten. Nicht selten holt sogar der Gesetzgeber Bereiche, deren Regelungen er lange der Moral überlassen hatte, in den Rechtsbereich zurück. So etwa bei der Prostitution, die lange unter einem Sittenwidrigkeitsverdikt stand, jetzt aber durch ein Prostitutionsgesetz geregelt ist, das etwa der vorleistenden Prostituierten einen Zahlungsanspruch gegenüber dem Kunden einräumt, um den sie jetzt auch – und das ist für das Strafrecht relevant – betrogen werden kann.2 Trotz solcher Tendenzen zur Stärkung des Rechtsbereichs als eines Bereiches, der gegenüber der Moral autonom ist, sollte nicht übersehen werden, dass zwischen Recht und Moral viele Gemeinsamkeiten bestehen. Da sowohl das Recht als auch die Moral das Verhalten von Menschen steuern wollen, ist es nicht überraschend, dass sie etwa in der Bewertung von vorsätzlichen Tötungen und vielen anderen Straftaten übereinstimmen. Solche Taten sind rechtswidrig und moralbzw. sittenwidrig. Der tiefere Grund für diese Übereinstimmung liegt darin, dass sich sowohl das Recht als auch die Moral dem Prinzip der Verallgemeinbarkeit verpflichtet sehen. Deutlich herausgearbeitet wurde dies schon von Immanuel Kant, der dieses Prinzip sowohl in seinen für die Moral geltenden Kategorischen Imperativ als auch in sein für das Recht geltendes allgemeines Rechtsgesetz aufnahm.3 Auch sind bestimmte Gegenstände wie etwa Beweggründe der sittlichmoralischen Bewertung möglicherweise eher zugänglich als einer rein rechtli-
1
Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 270 ff. Lackner/Kühl, StGB-Kommentar26, 2007, § 263 Rn. 35. 3 Kant, Akademie-Ausgabe, „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ von 1797, AA VI 214, 225 (zum kategorischen Imperativ) und 230 (zum allgemeinen Rechtsgesetz); dazu auch schon Kühl (o. Fn. 1) S. 249. – Zur Universalisierung als „Erzeugen und Begründen von materialen Rechts- und Moralnormen“ Wimmer, in: Düwell u. a. (Hrsg.), Handbuch Ethik2, 2006, S. 538, 539. 2
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chen Bewertung. Begonnen werden soll trotzdem mit Trennendem, bevor dann auch noch Verbindendes angesprochen werden wird. I. Zur Reichweite des Theorems von Legalität und Moralität Die Unterscheidung von Legalität und Moralität ist auch mit dem Namen Kant eng verbunden. Er hat dieses Theorem zwar nicht erfunden, aber doch so formuliert,4 dass es bis heute fast allgemeine Zustimmung findet. Legalität kann das Recht beanspruchen, Moralität nur die Moral. Das Recht gibt sich damit zufrieden, dass sich die Bürger eines Rechtsstaats so verhalten, dass sie nicht gegen Gesetze verstoßen, die die äußere Handlungsfreiheit anderer schützen. Wer einen geplanten Diebstahl unterlässt, verhält sich dementsprechend legal. Mehr verlangt das Recht nicht und darf es legitimerweise auch nicht verlangen, denn die äußere Freiheit möglicher Diebstahlsopfer ist ausreichend geschützt, wenn das Verbot des Diebstahls beachtet wird. Die Moral hingegen verlangt mehr als legales Verhalten.5 Ihren Forderungen entspricht nicht schon der, der einen geplanten Diebstahl unterlässt. Wer das Prädikat „moralisch“ erhalten will, muss eine bestimmte „Triebfeder“ oder Gesinnung aufweisen. Er muss – wie es Kant sagen würde – „aus Pflicht“ handeln.6 Dies würde man demjenigen attestieren können, der den geplanten Diebstahl aus Respekt vor dem Eigentum des potentiellen Opfers unterlässt und sich damit aus autonomen Gründen gegen den Diebstahl entscheidet. Nicht auch noch moralisch würde man das Unterlassen des geplanten Diebstahls nennen, das aus Furcht vor Strafe, also einem heteronomen Grund, erfolgt. Mit der Unterscheidung von Legalität und Moralität ist nur eine erste wichtige Unterscheidung getroffen, welche die Trennung von Recht und Moral verlangt. Das Recht muss sich mit äußerem legalem Verhalten der Rechtsunterworfenen zufrieden geben, die Moral hingegen verlangt von jedermann mehr. Die Moral fordert zusätzlich zum moralischen Verhalten, das mit legalem Verhalten häufig identisch sein wird – z. B. Einhaltung des Tötungsverbots des Strafgesetzbuches und das der zehn Gebote als Katalog der christlichen Ethik – eine gute Gesinnung. Erst wenn eine gute Gesinnung die moralische Handlung begleitet, wird die Moralität erreicht, ohne sie bleibt es bei der Legalität. Mit dieser Legalität muss sich das Recht nicht schon deshalb zufrieden geben, weil Gesinnungen als innere Phänomene des im äußeren Rechtsbereich – etwa bei der Verhängung von Strafen – erforderlichen Beweises nicht zugänglich wären. Die Rechtsgeschichte 4
Kant, AA VI 219. Vgl. Höffe, Immanuel Kant, 1983, S. 181, der von einer „Verschärfung“ der subjektiven Anforderungen spricht. 6 Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788, AA V 81, 117, und in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“ von 1797, AA VI 392. 5
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ist voll von Versuchen des Staates, trotz aller Nachweisprobleme auf die Gesinnung seiner Bürger Zugriff zu nehmen. Das Recht darf jedenfalls eine gute Gesinnung zusätzlich zum legalen Verhalten deshalb nicht verlangen, weil (und wenn) es sich auf die Regelung äußeren Verhaltens beschränkt. Denn das Haben einer Gesinnung bedroht und verletzt die äußere Freiheit anderer noch nicht. Erst recht lässt ein Mangel an guter Gesinnung das Rechtsverhältnis unter Bürgern unberührt. Das gilt auch – und damit wird der Geltungsbereich des Theorems von Legalität und Moralität verlassen –, wenn eine schlechte Gesinnung das legale Verhalten begleitet. Auch das Haben schlechter Gesinnungen bedroht und verletzt die äußere Freiheit anderer noch nicht. Die schlechte Gesinnung muss erst in die Tat umgesetzt werden, damit der Zugriff des Rechts durch Verbot und Strafe legitim ist. Dabei geht unser Recht sehr weit ins Vorfeld von Taten, welche die äußere Freiheit anderer bedrohen oder verletzen. So etwa, wenn die Verabredung zu einem Verbrechen nach § 30 Abs. 2 StGB schon bei Strafe verboten wird. Dass die Begehung eines Verbrechens wie etwa eines Totschlags nach § 212 StGB nicht abgewartet wird, leuchtet ein, weil es dann für den Schutz der äußeren Freiheit des Opfers zu spät ist; – die allein noch mögliche Bestrafung bringt dem Opfer sein Leben nicht zurück. Deshalb findet es wohl allgemeine Zustimmung, wenn das Strafgesetzbuch schon den Versuch etwa des Totschlags unter Strafe stellt. Es verlangt dafür aber, dass der Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes des Totschlags unmittelbar angesetzt hat (§ 22 StGB). Es rückt damit den Beginn des Versuchs nahe an die Tötungshandlung heran.7 Der Versuchstäter muss in der Verwirklichung seines Tötungsentschlusses schon so weit vorangeschritten sein, dass er im nächsten Schritt der Umsetzung seines Planes die Tötungshandlung vornehmen könnte. Zu dieser Ausrichtung des Versuchs an der Tötungstat steht die Strafbarkeit der Verabredung einer solchen Tat in deutlichem Kontrast. Sie kann nur notdürftig damit gerechtfertigt werden, dass zwischen den sich Verabredenden gegenseitige Bindungen entstanden sind, welche die Begehung der Tat wahrscheinlicher machen, als wenn sie nur von einem Einzelnen geplant worden wäre.8 Außerhalb des Bereichs von Legalität und Moralität liegen auch alle Konstellationen, in denen schon das äußere Verhalten moralischen oder rechtlichen Anforderungen nicht genügt. Um beim Beispiel des Totschlags zu bleiben: Wer einen anderen Menschen vorsätzlich tötet, handelt moralwidrig und rechtswidrig. Hier interessiert nur Letzteres. Der Übergriff in die Freiheitssphäre eines anderen, zu der als Basis dessen Leben gehört, ruft das Recht auf den Plan. So klar das im Grundsatz auch ist, der Problematik der Berücksichtigung von Gesinnungen im Recht ist man dadurch noch nicht entronnen. Kühl, Strafrecht AT6, § 15 Rn. 1 und 44 ff. Kühl (o. Fn. 7) § 20 Rn. 245; kritischer Jakobs, Strafrecht AT1, 1983, S. 585, Stratenwerth, Strafrecht AT I3, 1981, S. 187, 354 und Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 547. 7 8
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Die Problematik hat zwei Erscheinungsformen. Zum einen fragt es sich, ob eine gute Gesinnung des Täters einer rechtswidrigen Tat ihn vor Strafe bewahren kann. Zum anderen ist es fraglich, ob eine schlechte Gesinnung aus einer rechtswidrigen Tat eine noch negativer zu bewertende Tat machen kann. Die erste Problematik stellt sich etwa in Fällen des Widerstandsrechts oder – in kleinerer Münze – in Fällen des zivilen Ungehorsams. Kann die gute Gesinnung, mit der Atomkraftgegner die Menschheit vor ihrer Selbstzerstörung schützen wollen, Straftaten wie Nötigung (§ 240 StGB) oder Sachbeschädigung (§ 303 StGB) rechtfertigen oder entschuldigen? Gegen Rechtfertigung spricht, dass Atomkraftwerke staatlich genehmigt sind und dagegen mit rechtlichen Mitteln vorgegangen werden kann. Entschuldigung ist eher diskutabel,9 weil dadurch – anders als bei der Rechtswidrigkeit – nicht die Rechtsverhältnisse unter Bürgern verschoben werden, sondern der Staat im Verhältnis zum Bürger nur Nachtsicht übt; – etwa weil die Gesinnung des Täters nicht nur eine (vermeintlich) gute, sondern auch eine nachvollziehbare Gesinnung ist. Die zweite Problematik betrifft die Gesinnungsmerkmale, die im deutschen Strafrecht vom Gesetzgeber zwar nach und nach gestrichen worden sind, aber immer noch vorkommen. Als Beispiel sei das beim Mord vorkommende Merkmal der „niedrigen Beweggründe“ genommen. Solche Beweggründe kann man als schlechte Gesinnungsmerkmale bezeichnen, die in dieser Konstellation zu einer illegalen oder rechtswidrigen Tat hinzukommen. Es geht also nicht mehr wie beim Theorem von Legalität und Moralität um das Fehlen einer guten Gesinnung bei einer legalen Handlung, sondern um das Hinzutreten einer schlechten Gesinnung zu einer illegalen Tat. Konkret macht das Vorliegen niedriger Beweggründe aus der rechtswidrigen (und auch schon strafbaren) Tat des Totschlags nach § 212 StGB einen Mord nach § 211 StGB. Das wirkt sich hinsichtlich der angedrohten Strafe negativ aus: für Totschlag ist nach § 212 Abs. 1 StGB eine Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren vorgesehen, Mord hingegen wird „mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ (§ 211 Abs. 1 StGB). Es fragt sich nun in dieser Konstellation, wie diese Erhöhung der Strafandrohung gerechtfertigt werden kann. Dass sie überhaupt nicht zu rechtfertigen ist, legt die Beschränkung des Rechtsbereichs auf die Regelung äußeren Verhaltens nahe. Die Freiheit des Opfers und deren Basis – das Leben – wird schon durch den Totschlag negiert. Dieser Übergriff in die Freiheit und das Leben des Opfers begründet die Rechtswidrigkeit der Tötungstat. Dass dabei auf Täterseite eine schlechte Gesinnung hinzukam, berührt die Freiheit und das Leben des Opfers zunächst einmal nicht weiter. Zur Begründung der „Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht“ – so der Titel einer Tübinger Habilitationsschrift aus dem Jahre 2005 – muss deshalb
9
Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 22 Rn. 130–133.
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bei der Schuld angesetzt werden.10 Ob dieser Ansatz erfolgversprechend erscheint, bleibt auch nach der Arbeit von Brigitte Kelker zweifelhaft. Die Wahl der „niedrigen Beweggründe“ als Beispiel für Gesinnungsmerkmale ermöglicht es, auf eine Verbindung von Recht und Moral hinzuweisen. Genauer geht es um eine Anbindung des Strafrechts an die Sittlichkeit oder die guten Sitten. Eine solche Anbindung findet sich schon im Wortlaut des Gesetzes, wenn es in § 228 StGB heißt, dass eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person „nur dann rechtswidrig“ ist, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.“ Die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit wird damit einer Instanz außerhalb des Rechts zugewiesen. Darauf, dass dies nicht nur der Strafrechtswissenschaft, sondern auch der Rechtssprechung der Strafgerichte immer mehr problematisch erscheint, wird unter II. noch zurückzukommen sein. Hier geht es zunächst um die Verbindung des Strafrechts mit der Sittlichkeit, die über das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe hergestellt wird. Das gesetzliche Mordmerkmal selbst stellt diese Verbindung – anders als § 228 StGB – noch nicht her. Dies schafft erst seine Auslegung durch den Bundesgerichtshof in Strafsachen. Danach umfasst dieser – so der BGH – „unbestimmte Begriff“ solche Beweggründe, „die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen“.11 Manchmal ersetzt der BGH den Begriff „sittlich“ durch den Begriff „moralisch“ und verlangt, dass „die Tat objektiv als auf niedrigster moralischer Stufe“ stehend bewertet werden muss.12 Was in § 228 StGB der Gesetzgeber bewirkt, schafft bei den niedrigen Beweggründen also der Bundesgerichtshof. Die Entscheidung über das Vorliegen eines gesetzlich vorgesehenen Mordmerkmals wird der Sittlichkeit oder der Moral zugewiesen, obwohl es um eine Rechtsfrage geht. Diese Rechtsfrage wird zwar insofern als Rechtsfrage behandelt, als ein Richter und keine sittliche oder moralische Instanz über sie entscheidet. Aber der Richter soll bei dieser Entscheidung sittlich-moralische Wertungen vornehmen. Damit könnte ein nur in der Rechtswissenschaft, aber nicht in der Ethik ausgebildeter Richter überfordert sein. Diese Befürchtung steht wohl hinter Formulierungen in der Lehrbuch- und Kommentar-Literatur, die rechtlich-sittliche oder rein rechtliche Wertungen zur Bestimmung der Niedrigkeit der Beweggründe verlangen.13 Mit diesem Verlangen wird zugleich die Mitbestimmung oder die Alleinbestimmung von Rechtsfragen durch das Recht verlangt. Sittlich-moralische Wertungen sollen jedenfalls nicht allein Rechtsfragen entscheiden. Ist dieses Misstrauen gegenüber sittlich-moralischen Wertungen aber wirklich berechtigt? Die zur Trennung von Recht und Moral führende Unterscheidung von Legalität und Moralität fordert einen Ausschluss negativer sittlich-moralischer Wertungen 10 11 12 13
Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 614. BGHSt 3, 132, 133. BGH NJW 2004, 1466, 1467. Fischer, StGB-Kurzkommentar57, 2010, § 211 Rn. 14.
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aus dem Rechtsbereich nicht. Auch geht es nicht darum, dass der Richter spezielle ethische Kenntnisse haben müsste, denn es geht nach der Standard-Definition der niedrigen Beweggründe durch den Bundesgerichtshof um „allgemeine“ sittliche Wertungen. Damit ist zum einen eine allgemeine Bekanntheit der heranzuziehenden sittlich-moralischen Wertungen gemeint. Diese allgemeinen Wertungen sollten auch einem Richter bekannt sein. Bei der von § 228 StGB verlangten Feststellung eines Verstoßes gegen die guten Sitten hat die Rechtsprechung des BGH schon früh auf das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ abgestellt.14 Das könnte auch hier – bei den niedrigen Beweggründen – geschehen und würde immerhin gruppenspezifische Wertungen, wie sie bei sog. Ehrenmorden geltend gemacht werden, ausschließen.15 Zum anderen zeigt das Erfordernis „allgemeiner“ sittlich-moralischer Wertungen auf eine fundamentale Gemeinsamkeit von Recht und Moral, die in der Verallgemeinbarkeit ihrer Forderungen besteht. Diese Verallgemeinbarkeit fordert – wie bereits einleitend gesagt – nicht nur, aber besonders deutlich Immanuel Kant. Damit ist die Befürchtung eines schädlichen, auf den Einzelfall bezogenen Einflusses der Moral auf das mit allgemeinen Gesetzen arbeitende Recht unbegründet. Schließlich geht es im vorliegenden Zusammenhang um die Bewertung von Beweggründen. Auf solche Bewertungen ist das tatbezogene (Straf-)Recht nicht gerade spezialisiert. Hat denn das Recht überhaupt Maßstäbe für die Bewertung von Beweggründen oder wenigstens solche Kriterien, die die sittlich-moralischen Wertungen ergänzen können? Das müssen sich gerade diejenigen fragen lassen, die sittlich-moralische Bewertungen von Beweggründen als „niedrig“ nicht für möglich halten. Sittlichkeit und Moral sind grundsätzlich besser gerüstet für die Bewertung speziell von Beweggründen. Dass sittlich-moralische Wertungen in der pluralistischen Gesellschaft überhaupt keine Allgemeinheit mehr beanspruchen können, ist noch nicht ausgemacht, obwohl Viele es so sehen. II. Bedeutungsverlust der guten Sitten für das Strafrecht Wenn ein Bedeutungsverlust der guten Sitten für das Strafrecht bevorsteht, muss noch eine Verbindung zwischen dem Strafrecht und den guten Sitten bestehen. Sie besteht – wie bereits bei Legalität und Moralität (unter I.) angesprochen – bei Körperverletzungen, die mit Einwilligung der verletzten Person begangen werden. Obwohl die Einwilligung des Trägers des durch die Körperverletzung verletzten Rechtsguts – der körperlichen Unversehrtheit – normalerweise 14 15
Seit den Entscheidungen BGHSt 4, 24, 32 und 88, 91 vom 29.1. und 22.1.1953. Vgl. Kühl, JA 2009, 833, 835 f.; Fischer (o. Fn. 13) § 211 Rn. 29.
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die tatbestandsmäßige Körperverletzung rechtfertigt,16 nach einer verbreiteten Ansicht sogar schon die Tatbestandsmäßigkeit der Körperverletzung ausschließt,17 soll diese Körperverletzung kraft der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung in § 228 StGB trotz der Einwilligung des Rechtsgutsträgers rechtswidrig bleiben, „wenn die Tat . . . gegen die guten Sitten verstößt.“ Eine solche gesetzliche Anbindung des Rechts an die Moral in Gestalt der guten Sitten gibt es nicht nur im Strafrecht. Schon in Art. 2 Abs. 1 GG – also in der Verfassung – wird als eine Grenze für das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit „das Sittengesetz“ genannt. Auch an mehreren Stellen des Bürgerlichen Gesetzbuches wird auf die guten Sitten verwiesen. So etwa, wenn § 138 BGB Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, für nichtig erklärt. Bis vor Kurzem befand sich auch im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb ein § 1 UWG, wonach derjenige, der „im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, . . . auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden“ konnte. So verbreitet die Anbindung des Rechts an die guten Sitten bzw. an den Verstoß gegen sie auch ist, für das Strafrecht wirft sie besondere Probleme auf. So etwa die grundsätzliche Frage, ob dem Rechtsgutsträger so ohne weiteres die Dispositionsbefugnis über das höchstpersönliche Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit genommen werden kann. Diese Frage bleibt auch dann berechtigt, wenn man sieht, dass dem Rechtsgutsträger hinsichtlich des Rechtsguts „Leben“ die Dispositionsbefugnis durch § 216 StGB – Tötung auf Verlangen – noch weitergehend genommen wird. In Körperverletzungen darf der Rechtsgutträger immerhin dann einwilligen, wenn die Körperverletzungstat nicht gegen die guten Sitten verstößt. Auch mit dieser weitgehenden Anerkennung der Dispositionsfreiheit über das Rechtsgut „körperliche Unversehrtheit“ entgeht § 228 StGB nicht – und erst recht nicht § 216 StGB – dem Vorwurf des Paternalismus, dem die Vorstellung zugrunde liegt, der Bürger wisse nicht, was ihm schadet.18 Solange es um die Strafbarkeit wegen Körperverletzung geht, sollte aber die freie Selbstbestimmung des Bürgers nicht derart übergangen werden. Dem Paternalismusvorwurf entkommt man nicht, wenn man die im Wortlaut des § 228 StGB genannte Grenze der guten Sitten „modernisierend“ auslegt. So etwa, wenn ein Verstoß gegen die guten Sitten – mit Duttge – nur angenommen werden soll, wenn durch die Körperverletzung die nach Art. 1 Satz 1 GG unantastbare Menschenwürde verletzt ist.19 Dagegen spricht zum einen, dass damit die Menschenwürde bevormundend gegen ihren Träger „ausgespielt“ würde. 16
Kühl (o. Fn. 7) § 9 Rn. 22. Roxin (o. Fn. 9) § 13 Rn. 12–18. 18 Vgl. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 122 und Kühl (o. Fn. 1) S. 255. 19 Duttge, Schlüchter-GS, 2002, S. 775, 786 ff. und in: NJW 2005, 260 f. 17
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Zum anderen läge in einer solchen Auslegung ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, der wegen seiner grundlegenden Bedeutung für das gesamte Strafrecht in § 1 StGB nicht ohne Grund wortgleich wiederholt wird. Nach diesem Bestimmtheitsgrundsatz bildet der Wortlaut eine Schranke, die durch Auslegung nicht überschritten werden darf. Das aber geschieht, wenn der Verstoß gegen die guten Sitten durch die Verletzung der Menschenwürde ersetzt würde. Ein solcher Verstoß liegt auch vor, wenn man – wie Jakobs vorschlägt – einen Verstoß gegen die guten Sitten dann annehmen will, wenn es sich um unverständige und deshalb unverhältnismäßige Taten handelt.20 Wie Jakobs selbst sieht, passt eine solche Deutung des § 228 StGB nicht zu einer Körperverletzung, die das Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit schützen will. Er versteht deshalb die nach § 228 StGB „rechtswidrige“ Tat als ein Delikt gegen die Interessen der Allgemeinheit. Das spaltet nicht nur die Körperverletzungsdelikte in zwei Deliktsgruppen auf, sondern widerspricht auch dem herkömmlichen Verständnis der Körperverletzungsdelikte. Schließlich – und das ist unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt des Bestimmtheitsgrundsatzes entscheidend – überschreitet die Ersetzung der Sittenwidrigkeit durch die Unverständigkeit und Unverhältnismäßigkeit den äußerst möglichen Wortsinn der Sittenwidrigkeit und damit die Grenzen zulässiger Auslegung.21 Aber auch die Sittenwidrigkeit als die vom Gesetz genannte Voraussetzung einer trotz Einwilligung rechtswidrigen Körperverletzung ist nicht immun gegen verfassungsrechtliche Einwände, die sich aus dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG ergeben. Zunächst muss man sich klar machen, was bei der Anbindung des Strafrechts an die guten Sitten geschieht. Mit dieser Entscheidung delegiert der Strafgesetzgeber die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit einer Körperverletzung auf die guten Sitten: sittenwidrige Körperverletzungen sind danach rechtswidrige Körperverletzungen! Angesichts der dominierenden Trennung von Strafrecht und Moral schon ein bemerkenswerter Befund, der auch eine verfassungsrechtliche Problematik birgt. Denn nach Art. 103 Abs. 2 GG sollte eigentlich der Gesetzgeber über die „Strafbarkeit“ eines Verhaltens selbst entscheiden. Deshalb erscheint es bedenklich, dass der Gesetzgeber diese Entscheidung delegiert. Allerdings ist diese Entscheidung für eine Delegierung auch eine Entscheidung des Gesetzgebers selbst. Das Besondere und möglicherweise Verfassungsrechtswidrige an dieser Delegierung ist, dass sie auf eine außerrechtliche Instanz – die „guten Sitten“ – erfolgt und noch dazu auf eine Instanz, die man als „Gegeninstanz“ zum Recht verstehen kann: die Moral in Gestalt der „guten Sitten“. Diese Instanz ist aber nicht nur eine außerrechtliche und vielleicht sogar eine „gegenrechtliche“, sondern sie gilt immer schon als eine unbestimmte Instanz, 20 21
Jakobs, Schroeder-FS, 2006, S. 507, 510 ff. Kühl, Jakobs-FS, 2008, S. 293, 305 ff.
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die schon deshalb gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG verstößt.22 Diese in der deutschen Strafrechtswissenschaft seit langem verbreitete Auffassung hat die Rechtsprechung der Strafgerichte und auch das Bundesverfassungsgericht bisher „kalt“ gelassen. In letzter Zeit aber lässt der Bundesgerichtshof in neueren Entscheidungen die Sittenwidrigkeitsklausel des § 228 StGB einfach „leerlaufen“. Hier sollen nur zwei neuere Entscheidungen zu § 228 StGB herausgegriffen werden, die zu dem auf unterschiedlichen Wegen gewonnenen gemeinsamen Ergebnis kommen, dass ein allgemeines Sittenwidrigkeitsurteil in den zu entscheidenden Fällen nicht gefällt werden kann. Im „Sadomaso-Fall“ ging es um folgenden Sachverhalt: „Nach den Feststellungen zeigte die Lebensgefährtin des Angeklagten, Irene R., großes Interesse an der Ausübung außergewöhnlicher sexueller Praktiken, vor allem so genannter ,Fesselspiele‘. Hierzu gehörte unter anderem, dass der Angeklagte, der an diesen ,Spielen‘ kein Interesse hatte und dabei selbst angekleidet blieb, mit einem Gegenstand Druck auf ihren Kehlkopf, ihr Zungenbein oder ihre Luftröhre ausüben musste, um auf diese Weise den von ihr erstrebten vorübergehenden Sauerstoffmangel hervorzurufen, der für sie eine erregende Wirkung hatte. In der Vergangenheit fanden dabei für diesen Würgevorgang Stricke und Seile Verwendung. Nachdem eine zeitlang derartige Fesselspiele nicht mehr stattgefunden hatten, weil der Angeklagte Sicherheitsbedenken geäußert hatte, verlangte Frau R. von ihm am 18. Mai 2002, dem Tattag, erneut die Durchführung eines Fesselspiels und bereitete die dazu erforderlichen Utensilien (Stricke, ein Holzstück sowie ein Metallrohr) selbst vor. Der Angeklagte sträubte sich zunächst und kam ihrem Wunsch dann doch nach. Wegen der Leibesfülle von Frau R., die in letzter Zeit deutlich an Körperumfang zugenommen hatte, äußerte er aber Bedenken, da er auf Grund der Fixierung der Beine über den Bauch hinweg zum Kopf befürchtete, diese könnte keine Luft mehr bekommen. Sie zerstreute seine Bedenken jedoch und verlangte, er solle dieses Mal statt des bisher verwendeten Stricks das Metallrohr benutzen. Der Angeklagte äußerte auch insoweit zunächst Vorbehalte, ließ sich dann aber umstimmen und fesselte seine Lebensgefährtin wie von ihr gewünscht. Zunächst benutzte er für den Würgevorgang das bereit gelegte Holzstück, ging dann auf Wunsch seiner Lebensgefährtin dazu über, das Metallrohr zum Würgen zu verwenden. Dabei erkannte er, dass die Verwendung eines sich nicht den Konturen des Halses anpassenden Gegenstandes gefährlich war und erklärte ihr dies auch, ließ sich dann aber von seiner Lebensgefährtin zur Verwendung überreden und verstärkte auf deren Wunsch hin sogar die Einwirkung noch. Den Eintritt eines tödlichen Verlaufs infolge seiner gewaltsamen Einwirkung auf den Hals des Opfers hielt er für möglich, vertraute jedoch darauf, dass dies nicht geschehen werde. Nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens war er imstande, die Gefährlichkeit seines Tuns zu erkennen und die sich daraus ergebenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen.
22 So etwa Sternberg-Lieben (o. Fn. 18) S. 136, 165 und Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 165.
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Im Verlauf der intervallartigen, gegen den Hals der Frau R. gerichteten mehrfachen und mindestens drei Minuten währenden Aktionen drückte er dann mit dem Metallrohr zu. Dadurch erzielte er die gewünschte Kompression der Halsgefäße und insbesondere der arteriellen und venösen Blutversorgung des Gehirns, allerdings auch eine von ihm nicht gewollte, massive, durch den Einsatz des Metallrohrs hervorgerufene knöcherne Verletzung des Kehlskeletts. Diese Verletzungen waren aber nicht tödlich, vielmehr verstarb Frau R. an den Folgen der massiven Kompression der Halsgefäße und der dadurch unterbundenen Sauerstoffzufuhr zum Gehirn mit nachfolgendem Herzstillstand. Als Frau R. sich nicht mehr vernehmlich artikulierte, löste der Angeklagte die Fesselungen in dem Glauben, sie sei – wie nach solchen Handlungen in der Vergangenheit üblich – eingeschlafen. Nachmittags kamen ihm wegen des Zeitablaufs Bedenken, er musste feststellen, dass Frau R. nicht mehr am Leben war. Von einem zunächst geplanten Selbstmord nahm er Abstand und meldete sich bei der Polizei, wo er einen von ihm verfassten Abschiedsbrief abgab und erklärte, Frau R. getötet zu haben“.23 Im „Heroin-Fall“ ging es um folgenden Sachverhalt: „Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte den Geschädigten M. im Jahre 1997 kennen gelernt. M. war alkoholabhängig und litt unter Krampfanfällen, zu deren Vermeidung er Medikamente einnahm. Sein körperlicher Zustand war schlecht. Seine Hände zitterten und die Funktion seiner Beine war gestört, so dass er ein behindertengerechtes dreirädriges Fahrrad benutzen musste. Nachdem der Angeklagte erfahren hatte, dass M. gelegentlich Heroin spritzte, konsumierte er zweimal mit ihm zusammen Heroin. Während der Angeklagte dabei das Rauschgift rauchte, injizierte sich M. das Heroin. Danach machte er auf den Angeklagten in beiden Fällen einen „weggetretenen“ Eindruck, reagierte jedoch auf Ansprache. Am Abend des 23.08.2001 traf der Angeklagte den M., der sich mit Zechkumpanen vor einem Supermarkt aufhielt und eine Dose Bier in der Hand hatte. M hatte zu diesem Zeitpunkt bereits erhebliche Mengen Bier getrunken, zeigte wegen seiner Alkoholgewöhnung jedoch keine Ausfallserscheinungen. Der Angeklagte und M. kamen überein, gemeinsam 1g Heroin zu konsumieren. Absprachegemäß besorgte der Angeklagte das Rauschgift und begab sich damit zur Wohnung des M. Nachdem beide dort zunächst weiteren Alkohol getrunken hatten, holte der Angeklagte aus seiner nah gelegenen Wohnung ein Spritzenbesteck. Er kochte die Hälfte des erworbenen Heroins mit Ascorbinsäure und etwas Wasser auf und injizierte sich das Rauschgift. Dessen Wirkung empfand er gemessen an seiner langjährigen Erfahrung als normal; es stellte sich bei ihm ein leichter Rauschzustand ein. Nachdem die Spritze in heißem Wasser desinfiziert worden war, kochte der Angeklagte die andere Hälfte des Heroins auf. M. band sich den Arm ab, konnte sich wegen des Zitterns seiner Hände die Spritze aber nicht mehr selber setzen. Er bat daher den Angeklagten, ihm das Heroin zu injizieren und hielt ihm hierzu seine linke Armbeuge entgegen. Der Angeklagte kam der Bitte nach. Alsbald nach der Injektion verstarb M. an einer Heroinintoxikation, die sein Atemzentrum lähmte. Der Todeseintritt wurde durch die erhebliche Alkoholisierung des M. (Blutalkoholkonzentration von 2,33 ‰) ,begünstigt‘“.24
23 24
BGHSt 49, 166 f. BGHSt 49, 34, 35 f.
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Im vorliegenden Zusammenhang von Strafrecht und Moral ist das Endergebnis – in beiden Fällen wurde eine rechtswidrige Körperverletzung wegen der vom Täter für das Opfer geschaffenen Lebensgefahr angenommen – weniger wichtig als das Zwischenergebnis: in keinem der beiden Fälle sah sich der Bundesgerichtshof in Strafsachen (genauer: sahen sich zwei verschiedene Senate des Bundesgerichtshofs) imstande, ein Sittenwidrigkeitsurteil zu fällen. Das soll hier so hingenommen werden, obwohl dies bei der nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbaren Heroinüberlassung schon schwer nachzuvollziehen ist; – eher schon bei den sadomasochistischen Praktiken, die wohl heute nach dem ohnehin schon altmodisch klingenden Sittenwidrigkeits-Kriterium des „Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden“ nicht mehr allgemein negativ bewertet werden. Hier soll nur festgestellt werden, dass anscheinend in unserer liberalen und pluralistischen Gesellschaft eindeutige allgemeine Sittenwidrigkeitsurteile nicht mehr möglich sind. Vielleicht ist das eine voreilige Schlussfolgerung aus zwei beispielhaft angeführten Urteilen des Bundesgerichtshofs. Wäre die Schlussfolgerung jedoch zutreffend, so hätte sich § 228 StGB durch Leerlaufen selbst „erledigt“. Es wäre dann für das deutsche Strafrecht an der Zeit, Abschied zu nehmen von den guten Sitten. Über die Rechtswidrigkeit von Körperverletzungen, die mit Einwilligung der verletzten Person vorgenommen wurden, könnte dann das Strafrecht autonom, d.h. ohne Anleihe bei der Moral in Gestalt der guten Sitten, entscheiden; – etwa nach dem Kriterium der Lebensgefährlichkeit oder schwerer Verletzungen, was hinsichtlich der Rechtsklarheit sicher ein Fortschritt wäre. Ob es aber für eine Gesellschaft ein Fortschritt ist, dass sie keine eindeutigen Sittenwidrigkeitsurteile über Körperverletzungen mehr fällen kann, erscheint nicht ganz so klar. Dass eine solche Gesetzesänderung auch im Strafgesetzbuch möglich wäre, zeigt ein Blick in das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb. Der oben kurz vorgestellte § 1 UWG a. F. ist vor Kurzem durch einen neuen § 1 UWG ersetzt worden. Diese neue Vorschrift spricht nicht mehr von „Handlungen . . ., die gegen die guten Sitten verstoßen“, sondern von „unlauteren geschäftlichen Handlungen“. Das klingt zwar nicht mehr moralisierend, es könnten aber sittliche Wertungen doch wieder Eingang in die Auslegung des Merkmals der Unlauterkeit finden. Dann hätte man auch beim Kriterium der Sittenwidrigkeit bleiben können, wie es das Bürgerliche Gesetzbuch tut. Auf den ersten Blick überraschend ist, dass es im Zivilrecht anscheinend genügend Verhaltensweisen gibt, die als eindeutig sittenwidrig eingestuft werden können. So ist etwa die Ehegattenbürgschaft als sittenwidrig eingestuft worden,25 nicht Internet-Spielverträge, die ohne vorheriges Setzen eines Limits abgeschlossen wurden,26 dagegen aber wieder Unterhaltsvereinbarungen in einem Ehevertrag, wenn sie es dem Verpflichteten nicht mehr ermögli25 26
BGH NJW 2002, 2228. BGH NJW 2008, 2026.
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chen, seine eigene Existenz zu sichern.27 Der Grund dafür, dass zivilrechtliche Vereinbarungen einer Beurteilung hinsichtlich ihrer Sittenwidrigkeit offensichtlich leichter zugänglich sind als Körperverletzungen, die mit Einwilligung der verletzten Person begangen wurden, müsste erst noch gefunden werden. III. Reste von Moralwidrigkeiten im Strafgesetzbuch? Ein Konzept des Strafrechts, das dieses Rechtsgebiet davor bewahren soll, zum Schutz von Moral eingesetzt und damit zweckentfremdet zu werden, ist das sog. Rechtsgutskonzept, das sich vor allem gegen die Strafbarkeit sog. „reiner Moralwidrigkeiten“ richtet.28 Es geht dabei vor allem darum, moralisch negativ bewertete Verhaltensweisen sexueller Art der sexualmoralischen Bewertung zu überlassen und nicht mit der Kriminalstrafe zu „bekämpfen“, wenn durch dieses Verhalten keine anerkannten Rechtsgüter wie die sexuelle Selbstbestimmung als Ausprägung des von Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder auch Ehe und Familie, die nach Art. 6 Abs. 1 GG „unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stehen, verletzt werden. Ganz allgemein – und noch nicht auf den Sexualbereich bezogen – verlangt das Rechtsgutskonzept, dass hinter jeder legitimen Strafvorschrift ein zu schützendes Rechtsgut stehen muss. Anerkannte und schützenswerte Rechtsgüter sind vor allem die Individualrechtsgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Fortbewegungsfreiheit, Eigentum und Vermögen. Dementsprechend handelt es sich bei den diese Rechtsgüter schützenden Strafvorschriften grundsätzlich um legitime Strafvorschriften: Totschlag, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl und Betrug. Abstrahierend kann man diese Individualrechtsgüter auf die äußere Freiheit reduzieren und die sie schützenden Strafvorschriften als Vorschriften zum Schutz der äußeren Freiheit bezeichnen. Dahinter steht ein Verständnis der Rechtsordnung als Freiheitsordnung. Eine solche Ordnung hat zwar vor langer Zeit Immanuel Kant mit seinem schon angesprochenen, sog. allgemeinem Rechtsgesetz entworfen: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.“29 Doch ist dieses allgemeine Rechtsgesetz keineswegs veraltet oder überholt. Es lässt sich vielmehr deutlich in der Rechtsordnung erkennen, die das Grundgesetz, indem es die Individualgrundrechte – beschränkt durch die Rechte anderer – nach vorne zieht, vorgibt. Vom Rechtsgutskonzept legitimiert sind auch Universalrechtsgüter bzw. Rechtsgüter der Allgemeinheit, wenn sie – wie die Geldfälschung gemäß § 146 27 28 29
BGH NJW 2009, 842. Kühl (o. Fn. 1), S. 258, 274. Kant, AA VI 219.
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StGB – die Voraussetzungen für die Ausübung der äußeren Freiheit schaffen.30 Das wird man grundsätzlich auch vom Wettbewerb als Rechtsgut sagen können,31 auch wenn sich diesbezüglich die Alternative des Schutzes durch das Ordnungswidrigkeitenrecht aufdrängt.32 An Grenzen stößt das Rechtsgutskonzept beim Natur- und Tierschutz,33 doch wird man zumindest den Schutz der Umwelt, verstanden als Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch künftiger Generationen, noch mit ihm legitimieren können.34 Seine praktische Bewährungsprobe hat das theoretische Rechtsgutskonzept bestanden, als die „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umgetauft wurden.35 Dabei verschwanden reine Moralwidrigkeiten wie homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen – der alte § 175 StGB – aus dem Strafgesetzbuch. Wer aber meinte – und das werden die meisten gewesen sein –, damit sei diese „Schlacht geschlagen“, musste sich vor kurzem durch eine Verfassungsbeschwerde, mit der eine Verurteilung wegen Geschwisterinzests nach § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB als verfassungswidrig „angegriffen“ wurde, eines Besseren belehren lassen. Die Verfassungsbeschwerde wurde vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts am 26.2.2008 zurückgewiesen: „Die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB, die den Beischlaf zwischen Geschwistern mit Strafe bedroht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar“.36 Der einzige Richter, der eine abweichende Meinung vertrat und auch äußerte, war der Vorsitzende des Senats. Nicht nur deshalb, sondern auch weil er als Strafrechtswissenschaftler an der Ausarbeitung des Rechtsgutskonzepts maßgeblich mitgewirkt hat,37 ist seine Sicht der angefochtenen Vorschrift bemerkenswert, und die lautet zusammengefasst: „Schutz einer gesellschaftlichen Moralvorstellung“. Die Berechtigung dieser Sicht von Winfried Hassemer kann hier genauso wenig wie die Richtigkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geprüft werden. Für die weitere Diskussion des Rechtsgutskonzepts soll aber zweierlei festgehalten werden. Zum einen, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung des Falles insofern an das Rechtsgutskonzept gehalten hat, als es nach einem legitimierenden Rechtsgut, das hinter § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB steht, gesucht hat. Unter dem Etikett „Strafgrund“ wird „an erster Stelle“ der 30
Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 113, 194. Tiedemann, Leipziger Kommentar zum StGB12, 2008, § 298 Rn. 6. 32 Lackner/Kühl (o. Fn. 2) Vor § 298 Rn. 1. 33 Kühl (o. Fn. 1) S. 266 f.; vgl. auch Heger, Die Europäisierung des Umweltrechts, 2009, S. 234 ff., der von rechtsgutslosen Delikten ausgeht. 34 Kühl (o. Fn. 1) S. 266 f. 35 Durch das 4. Strafrechtsreformgesetz vom 23.11.1974 (BGBl. I S. 469). 36 BVerfGE 120, 224 = NJW 2009, 1137. 37 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 19 ff.; Hassemer/ Neumann, Nomos Kommentar zum StGB2, 2005, Vor § 1 Rn. 108 ff. 31
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Schutz von Ehe und Familie, wie ihn auch die Verfassung mit Art. 6 GG vorgibt, genannt. Daneben soll es auch um den Schutz der in einer Inzestbeziehung „unterlegenen“ Partner und um die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen gehen. Die damit gefundene Basis für eine legitime Strafvorschrift scheint zunächst solide, kommt aber ins Wanken, wenn vom Gericht eingeräumt werden muss, dass familien- und sozialschädliche Wirkungen des Geschwisterinzests „mit sozialwissenschaftlichen Methoden schwer von den Wirkungen anderer Einflüsse isolierbar und daher nicht ohne weiteres greifbar“ sind. Dass sich das Gericht dann mit der „Plausibilität der Annahme derartiger Wirkungen“ zufrieden gibt, provoziert förmlich Kritik. Doch kann man den Rückzug auf die „Plausibilität“ auch positiv sehen, nämlich als realistische Einschätzung der fehlenden Eindeutigkeit empirisch-sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Da das aber nicht selten so ist, fragt es sich, ob man auf den Schutz von Ehe und Familie durch das Strafrecht deshalb verzichten soll, weil deren Schädigung nicht exakt bewiesen werden kann. Die Entscheidung liegt ohnehin beim Strafgesetzgeber, dem es auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts freisteht, die Inzeststrafbarkeit abzuschaffen oder einzuschränken, § 173 StGB zu streichen oder umzugestalten. Als Gericht, das „nur“ die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift zu prüfen hat, hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls gut daran getan, die Annahmen des Strafgesetzgebers über schädliche Wirkungen des Inzests auf Ehe und Familie nicht schon deshalb zu verwerfen, weil sie wissenschaftlich nicht über jeden Zweifel erhaben sind. – Nur noch nebenbei: auch die empirische Rechtsvergleichung, deren sich das Bundesverfassungsgericht bedient hat, kann dem nationalen Gesetzgeber die Entscheidung nicht abnehmen, denn die Regelungen reichen nach dem Gutachten des Freiburger Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht von Strafbarkeit bis zur Straflosigkeit nebst Zwischenlösungen und Verschieben ins Familienrecht. Zum anderen ist es bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht dem Rechtsgutskonzept den Status eines allgemeingültigen Prinzips abspricht. Dabei fällt zunächst die einseitige Begrifflichkeit negativ auf, mit der das Gericht aufwartet: „naturalistische“ Rechtsgutstheorie und „überpositiver“ Rechtsgutsbegriff drängen schon begrifflich das Rechtsgutskonzept aus dem Bereich der staatlichen Gesetzgebung. Als einzige Richtschnur für den Strafgesetzgeber wird die Verfassung anerkannt. Die verfassungsrechtlichen Grenzen für den Strafgesetzgeber respektieren aber auch Befürworter des Rechtsgutskonzepts. Sie sehen das Rechtsgutskonzept im Grundgesetz, insbes. in den freiheitlichen Grundrechten verankert. Durch das Rechtsgutskonzept werden nur die Grundfreiheiten auf das Strafrecht, insbes. auf die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen, zugespitzt. Dieser Hilfestellung sollte sich der Strafgesetzgeber bei kriminalpolitischen Entscheidungen bedienen. Das Angebot wird ihm in Gesetzgebungsverfahren, die zu neuen Strafvorschriften wie §§ 238, 303 Abs. 2 StGB führen, bei An-
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hörungen vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages regelmäßig gemacht, wenn die Sachverständigen bei der Frage der Strafwürdigkeit nach dem durch die neue Vorschrift zu schützenden Rechtsgut suchen und dabei – wie beim „Stalking“ (jetzt § 238 StGB) – auf Schwierigkeiten stoßen38 oder – wie beim „Graffiti“ (jetzt § 303 Abs. 2 StGB) – nicht.39 Versteht man das Rechtsgutskonzept als Hilfestellung der Strafrechtswissenschaft für den Strafgesetzgeber bei der Auswahl der durch Strafrecht zu schützenden Rechtsgüter, dann löst sich auch der vom Gericht angenommene „Widerspruch“ auf, der darin bestehen soll, dass das Rechtsgutskonzept dem Gesetzgeber die Kompetenz zur gesetzlichen Bestimmung der „Strafbarkeit“ i. S. des Art. 103 Abs. 2 GG bestreitet. Selbstverständlich ist es – so das Bundesverfassungsgericht in der neuen „Inzest“-Entscheidung – „nach der grundgesetzlichen Ordnung Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers . . ., ebenso wie die Strafzwecke . . . auch die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen und die Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen“.40 Dass sich der Strafgesetzgeber dabei an der Verfassung zu orientieren hat, schließt aber nicht aus, Erkenntnisse der wissenschaftlichen Diskussion über die durch Strafrecht zu schützenden Güter zu berücksichtigen. So eindeutig und klar sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben wie der vom Gericht besonders herausgehobene „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ nicht, als dass daraus eindeutige Entscheidungen zwangsläufig folgten.41 Wie anders wäre es sonst zu erklären, dass die Entscheidung über die Strafbarkeit des Inzests auch in Ländern mit gleichen verfassungsrechtlichen Vorgaben unterschiedlich ausfällt. Wenn das Gericht das Rechtsgutskonzept bereits durch die Feststellung erledigen zu können glaubt, dass „schon über den Begriff des Rechtsguts . . . keine Einigkeit“ bestehe, greift das jedenfalls zu kurz. Vielleicht gelingt es sogar der wissenschaftlichen Kritik an der Inzest-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, den für Strafbarkeitsentscheidungen allein zuständigen Gesetzgeber davon zu überzeugen, dass in § 173 StGB im Kern nur eine Moralwidrigkeit unter Strafe gestellt wird. Wenn dabei auch Rechtsguts-Argumente eine Rolle spielen sollten, hätte das Rechtsgutskonzept erneut seine kriminalpolitische Kraft bewiesen.
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Lackner/Kühl (o. Fn. 2) § 238 Rn. 1. Lackner/Kühl (o. Fn. 2) § 303 Rn. 1; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT232, 2009, Rn. 11a. 40 BVerfG NJW 2009, 1137, 1138. 41 Anders als das Bundesverfassungsgericht führt die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf § 173 StGB zu dessen Unverhältnismäßigkeit und damit Verfassungswidrigkeit bei Weigend, Leipziger Kommentar zum StGB12, 2007, Einleitung Rn. 5. 39
Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen Von Lothar Kuhlen Die Alltags- wie die Rechtssprache unterscheidet zwischen Tun und Unterlassen. Meist, und so auch hier, wird diese Unterscheidung auf bestimmte Verhaltensweisen bezogen. Tun bedeutet dann, etwas Bestimmtes zu tun, Unterlassen, etwas Bestimmtes nicht zu tun.1 So verstanden schließen sich Tun und Unterlassen in dem Sinne aus, daß eine Person nicht gleichzeitig etwas Bestimmtes tun und es unterlassen kann. Nicht ausgeschlossen ist dagegen, gleichzeitig etwas Bestimmtes zu tun und etwas anderes zu unterlassen. Man kann also nicht gleichzeitig lesen und es unterlassen zu lesen, aber man kann gleichzeitig lesen und es unterlassen, Tennis zu spielen. Letzteres zeigt, daß es mehrdeutige Verhaltensweisen gibt, die man als Tun und als Unterlassen beschreiben kann. I. Die strafrechtliche Unterscheidung von Tun und Unterlassen2 wirft bekanntlich eine Vielzahl umstrittener Fragen auf, die zwar unterscheidbar, aber doch vielfältig miteinander verwoben sind. Unterfallen Tun und Unterlassen einem gemeinsamen Oberbegriff des Verhaltens bzw. der Handlung und/oder der Tat, und wenn ja welchem?3 Wie sind sie voneinander abzugrenzen?4 Ist die Unterscheidung von Tun und Unterlassen normativ wichtig, gibt es insbesondere Gründe dafür, das „bloße“ Unterlassen strafrechtlich weniger streng zu beurteilen als das Tun?5 Ist 1 Vgl. Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. II, 2005, § 45 Rn. 1: „Als eine Unterlassung bezeichnen wir die Tatsache, daß eine Person etwas ganz Bestimmtes nicht tut“. Als Gegenbegriff zur Unterlassung verwende ich in der Folge den Begriff der Handlung, der somit bezeichnet, daß eine Person etwas Bestimmtes tut. Soweit es um strafbare Handlungen und Unterlassungen geht, spreche ich von Begehungs- und Unterlassungsdelikten. Eine Stellungnahme für die (m. E. unzutreffende) „Erwartungstheorie“ ist mit der erläuterten Begriffsverwendung nicht verbunden (anders Struensee, Stree- und Wessels-FS, 1993, S. 133 [145 f.]). 2 Auf die sich die folgenden Überlegungen beschränken. 3 Vgl. dazu sowie zu den Termini „Verhalten“, „Handlung“ und „Tat“ Eser/Burkhardt, Strafrecht I4, 1992, Fall 3 Rn. 38 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I5, 2004, § 6 Rn. 2 ff. 4 Dazu Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 14 ff., § 46 Rn. 1 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 31 Rn. 73 ff.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 3), § 13 Rn. 1 ff. 5 Vgl. dazu einstweilen nur Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 10; Roxin (Fn. 4), § 31 Rn. 69 ff.
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die Regelung von Tun und Unterlassen, die sich im geltenden Recht findet, sachgerecht, werden insbesondere die Voraussetzungen des „unechten“ Unterlassungsdelikts in § 13 Abs. 16 angemessen formuliert und lassen sich die fakultative Strafmilderung des § 13 Abs. 2 sowie das Fehlen einer Strafschärfungsmöglichkeit beim „echten“ Unterlassungsdelikt der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c) rechtfertigen?7 Und gibt es schließlich dogmatische Unterschiede zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt, namentlich beim Verständnis der Kausalität, des Vorsatzes sowie des Versuchsbeginns und bei den Möglichkeiten einer Rechtfertigung (etwa durch Pflichtenkollision) oder Entschuldigung (wegen Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens)?8 II. Auf jede der genannten Fragen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten. Gleichwohl existiert ein weitgehend konsentierter Bestand strafrechtlicher Auffassungen zu Tun und Unterlassen. Nach dieser Standardsicht handelt es sich dabei um zwei unterschiedliche, und damit auch: unterscheidbare, Verhaltensformen. Des näheren stellt man Tun und Unterlassen bzw. Begehungs- und Unterlassungsdelikt einander gegenüber und unterscheidet bei letzterem zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt.9 Die Unterscheidung von Tun und Unterlassen ist nicht nur möglich, sondern auch normativ, mit Blick auf die Strafrechtsfolgen von Tun und Unterlassen, wichtig. Das gilt de lege ferenda, da sich ein freiheitliches Strafrecht bei der Pönalisierung von Unterlassungen stärker zurückhalten sollte als bei der von Handlungen.10 Und es entspricht dem geltenden Recht. Denn § 13 Abs. 1 stellt an die Strafbarkeit „unechter“ Unterlassungen besondere Anforderungen (vor allem das Erfordernis einer Garantenstellung), die für das Begehungsdelikt nicht gelten, und nach § 13 Abs. 2 kann selbst dann, wenn diese erfüllt sind, die Deliktsbegehung durch ein Unterlassen milder bestraft werden als die durch ein Tun. Das Unterlassen eines Nicht-Garanten kann allenfalls als „echte“ Unterlassung strafbar sein, die nur von wenigen Vorschriften, wie §§ 138 und 323c, unter Strafe gestellt wird, die zudem vor allem bei der unterlassenen Hilfeleistung sehr gering ausfällt.11 6
§§ ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB. Näher dazu der folgende Text. 8 Roxin (Fn. 4), § 31 Rn. 1 ff. 9 Für eine Dreiteilung der Unterlassungsdelikte demgegenüber Silva Sanchez, RoxinFS, 2001, S. 641 ff. 10 So etwa Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 4), § 6 Rn. 18; Kühl, Herzberg-FS, 2008, S. 177 (180 ff.). 11 Nach § 323c wird die unterlassene Hilfeleistung mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. 7
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Unabhängig davon, ob Strafbarkeitsvoraussetzungen wie Kausalität und Vorsatz bei Tun und Unterlassen Unterschiedliches bedeuten, unterscheiden sich nach geltendem Recht der Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts und der des Begehungsdelikts jedenfalls durch die jeweilige Verhaltensform sowie durch das Erfordernis der Garantenstellung, das nur beim unechten Unterlassungsdelikt besteht. Schon das führt dort zu einem anderen Deliktsaufbau und Prüfungsschema als beim Begehungsdelikt. Dementsprechend werden beide Deliktsarten in den meisten Lehrbüchern des Allgemeinen Teils getrennt voneinander dargestellt. III. Die skizzierte Auffassung ist zwar weit verbreitet und mag manchem als trivial erscheinen. Sie ist dennoch nicht unbestritten. Mit einigen der gegen sie vorgetragenen Einwände, die bereits die Frage betreffen, ob es überhaupt auf die Unterscheidung von Tun und Unterlassen ankommt, will ich mich in der Folge auseinandersetzen. 1. Nach h. M. ist, da Begehungs- und Unterlassungsdelikt jedenfalls unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen haben, vor oder zu Beginn der Tatbestandsprüfung zunächst zu klären, ob es um ein Tun oder Unterlassen geht. In der Formulierung Engischs kann „die Würdigung (eines Verhaltens) unter den Gesichtspunkten der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld . . . erst sachgerecht erfolgen, wenn der Weg zu ihr geöffnet ist durch den Hinweis auf das richtige Tor: Tun oder Unterlassen?“.12 Volk bestreitet das. Er schreibt im Anschluß an die auch von ihm zitierte Aussage Engischs: „Dagegen wende ich mich. Ich glaube nicht, daß die sachgerechte Würdigung, daß die Lösung gerade der Fälle, in denen die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen diffizil ist, davon abhängt bzw. abhängen darf, durch welches ,Tor‘ man das Straftatsystem betritt“.13 Dieser Kritik, die zunächst einmal nur den „Aufbau“ und dann die Prüfung von Straftaten betrifft, liegt die Auffassung zugrunde, die Abgrenzung von Tun und Unterlassen sei „nicht . . . besonders wichtig“,14 von ihr dürfte „nichts abhängen“, da sie „entweder evident und unproblematisch oder sehr schwierig, dann aber nicht möglich oder nicht nötig“ sei.15 Seine „Zweifel an der dogmatischen Relevanz des Vorhabens, Tun und Unterlassen zu unterscheiden“,16 begründet Volk mit dem Hinweis auf mehrdeutige Verhaltensweisen, bei denen der Unter12 13 14 15 16
Engisch, Gallas-FS, 1973, S. 163 (168). Volk, Tröndle-FS, 1998, S. 219 (224). Volk (Fn. 13), S. 219. Volk (Fn. 13), S. 223. Volk (Fn. 13), S. 223.
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scheidung von Tun und Unterlassen vielfach eine Bedeutsamkeit beigemessen wird, die sie nach seiner Ansicht nicht hat.17 So komme es beispielsweise für die Strafbarkeit des Abbruchs lebensverlängernder Maßnahmen entgegen einer vielfach vertretenen Auffassung im Ergebnis nicht darauf an (und dürfe auch nicht darauf ankommen), ob man das Verhalten des Arztes als Tun oder Unterlassen einstuft.18 Ich teile die zuletzt genannte Auffassung. Sie spricht aber nicht gegen die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen.19 Daß diese Unterscheidung de lege lata bedeutsam ist, bestreitet auch Volk nicht, soweit es um Fälle geht, wo sie sich unproblematisch treffen läßt.20 Schon an diesen Fällen zeigt sich aber die Richtigkeit der von Engisch im Einklang mit der h. M. vertretenen Position: man muß hier zunächst feststellen, ob es um ein Tun oder ein Unterlassen geht, weil das zu unterschiedlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen (§ 13 Abs. 1) und dementsprechend zu einer unterschiedlichen Fallprüfung führt und des Weiteren über die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2 entscheidet.21 Die Unterscheidung verliert ihre Bedeutsamkeit auch nicht dadurch, daß es problematische Fälle gibt,22 in denen es auf sie im Ergebnis nicht ankommt. Solche Fälle begegnen ja auch sonst. Weiß man beispielsweise, daß die Tötung eines anderen jedenfalls gerechtfertigt oder entschuldigt ist, so kommt es im Ergebnis ebensowenig darauf an, ob sie durch Tun oder Unterlassen, wie darauf, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig erfolgte. Zu Recht hat daraus noch niemand den Schluß gezogen, die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit sei nicht wichtig. Volks These, in allen problematischen Fällen komme es auf die Abgrenzung von Tun und Unterlassen im Ergebnis nicht an (und das dürfe auch nicht sein), trifft m. E. ebenfalls nicht zu.23 Nehmen wir den jüngst von Merkel diskutierten Fall eines Geschäftsmannes, der in einer kalten Winternacht die Heizung seiner 17
Volk (Fn. 13), S. 222 f. Volk (Fn. 13), S. 223. 19 Ebenso in der Sache, soweit es um den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen geht, Puppe (Fn. 1), § 46 Rn. 10 ff. 20 De lege ferenda wendet er sich freilich gegen die Unterscheidung: Vgl. Volk (Fn. 13), S. 234 ff. 21 Das wendet auch Brammsen, Unterlassungshaftung in formalen Organisationen, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 105 (109 ff.), gegen Volk ein. 22 Also solche, in denen die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen schwierig und umstritten ist. 23 Das ist deshalb von Interesse, weil diese These zwar nicht gegen die Bedeutsamkeit der Unterscheidung von Tun und Unterlassen nach geltendem Recht, wohl aber gegen den Versuch spricht, sich um eine überzeugende Abgrenzung auch für Problemfälle zu bemühen. 18
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Geschäftsräume abstellt, was, wie er nicht erkennt, aber erkennen könnte, zum Tode eines betrunkenen Obdachlosen führt, der sich vor dem Heizungskeller (und zunächst durch dessen Abluft erwärmt) schlafen gelegt hat.24 Das ist, was die Abgrenzung von Tun und Unterlassen angeht, sicherlich ein problematischer Fall.25 Und doch fällt genau bei dieser Abgrenzung die auch im Ergebnis bedeutsame Entscheidung: Handelt es sich um ein bloßes Unterlassen, so ist der Geschäftsmann lediglich nach § 323c strafbar,26 andernfalls wegen fahrlässiger Tötung.27 2. Mehrfach hat sich Freund gegen die h. M. zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen gewendet.28 Er wirft ihr „vordergründigen Naturalismus“ vor29 und bestreitet, daß es einen normativ bedeutsamen Unterschied zwischen beiden Verhaltensformen gebe. Zudem seien „die normativen Kriterien der Tatbestandsverwirklichung . . . für Tun und Unterlassen vollkommen identisch“.30 Dementsprechend sei schon die Gliederung der meisten Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des Strafrechts irreführend, weil dort Begehungs- und Unterlassungsdelikt getrennt behandelt werden.31 Freund selbst geht davon aus, daß der „kleinste gemeinsame Nenner“ aller Straftaten ein Verhaltensnormverstoß sei.32 Die Verhaltensnorm müsse jedenfalls durch „berechtigte Belange des Rechtsgüterschutzes“ legitimiert sein.33 Das genüge allerdings nur bei den (herkömmlich so genannten) echten Unterlassungsdelikten wie §§ 323c und 138.34 Die meisten strafrechtlich relevanten Verhaltensnormen müßten demgegenüber zusätzlich auf eine Sonderverantwortlichkeit des Normadressaten gestützt werden.35 Eine solche Verantwortlichkeit habe, wer „die in Frage stehende Gefahrvermeidung speziell zu garantieren hat“.36 Das seien zum einen diejenigen, die wie der Ingerent oder die zum Schutz ihrer Kinder be24
Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 193 (193). Vgl. Merkel (Fn. 24), S. 223. 26 Denn eine Garantenstellung ist nicht ersichtlich. 27 Denn es ist (bei üblichem Tatbestandsverständnis) nicht erkennbar, welche Tatbestandsvoraussetzung des Begehungsdelikts man hier verneinen könnte, geschweige denn, wie man zu einer Rechtfertigung oder Entschuldigung gelangen könnte. 28 Vgl. vor allem Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992; Freund, Herzberg-FS, 2008, S. 225 ff. Ich beziehe mich in der Folge auf die zuletzt genannte Arbeit. 29 Freund (Fn. 28), S. 225. 30 Freund (Fn. 28), S. 228. 31 Freund (Fn. 28), S. 225 ff. Konsequenter Verzicht auf diese Trennung im Lehrbuch von Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2009. 32 So Freund (Fn. 28), S. 228, im Anschluß an Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 129 ff., 137 ff. 33 Freund (Fn. 28), S. 229. 34 Freund (Fn. 28), S. 230. 35 „Verhaltensnormmodell der zwei Säulen“ (Freund [Fn. 28], S. 230). 36 Freund (Fn. 28), S. 231. 25
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sonders verpflichteten Eltern37 üblicherweise als Garanten im Sinne des § 13 Abs. 1 angesehen werden. Zum anderen bestehe aber, bei Tun und Unterlassen gleichermaßen, „geradezu selbstverständlich“ auch eine „Sonderverantwortlichkeit für Gefahren, die von dem eigenen Körper ausgehen“.38 Wer einen anderen erschlägt oder erschießt, verstoße also ganz ebenso als Sonderverantwortlicher gegen eine durch zwei Säulen fundierte Verhaltensnorm39 wie derjenige, der als Garant seinen Schützling verhungern läßt. Schünemann wendet gegen Freunds Konzeption vor allem ein, das Kriterium der Sonderverantwortlichkeit sei inhaltsleer. Es liefere deshalb bei den unechten Unterlassungsdelikten „kein sachliches Kriterium, sondern nur eine Paraphrase ihres Sonderdeliktscharakters“, bei den Begehungsdelikten löse es „deren feste deskriptive Basis (der für den Erfolg kausalen Handlung) in reine und deshalb semantisch völlig inhaltslose Normativität“ auf.40 Daran ist m. E. richtig, daß das Erfordernis der Sonderverantwortlichkeit nur ein Argumentationsziel, nicht aber sachliche Gründe für dessen Erreichen formuliert. Indes gilt das Gleiche für die auf vergleichbarer Abstraktionshöhe angesiedelte gesetzliche Formulierung des § 13 Abs. 1 („wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt“) und deren dogmatisch übliche Charakterisierung als Erfordernis einer Garantenstellung. Was das Begehungsdelikt betrifft, läßt Freund dessen „deskriptive Basis“, soweit diese im Erfordernis eines erfolgskausalen Verhaltens besteht, unberührt. Allerdings öffnet er durch die Voraussetzung einer Sonderverantwortlichkeit den Tatbestand des Begehungsdelikts für Wertungen, die eine Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit trotz erfolgskausalen Handelns ermöglichen.41 Das unterscheidet sich zwar im Grundsatz nicht von der heute herrschenden Lehre, die die Schaffung eines rechtlich mißbilligten Risikos42 bzw. die Verletzung einer Sorgfaltspflicht43 als Tatbestandsvoraussetzung nicht nur beim Unterlassungs-, sondern auch beim (vorsätzlich oder fahrlässig begangenen) Begehungsdelikt betrachtet.44 Aber die von Freund befürwortete Normativierung des Tatbestandes geht 37
Freund (Fn. 28), S. 231. Freund (Fn. 28), S. 235. 39 Freund (Fn. 28), S. 234. 40 Schünemann, Zum gegenwärtigen Stand der Dogmatik der Unterlassungsdelikte in Deutschland, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 49 (52). 41 Es ist deshalb überraschend und unzutreffend, wenn Freund es als den „gewichtigsten Nutzen“ seiner Konzeption bezeichnet, daß nur sie dem Nullum-crimen-Satz gerecht werde (so Freund [Fn. 28], S. 240 f., 242). 42 So etwa Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 11 Rn. 53 ff. 43 So etwa Puppe, Otto-FS, 2007, S. 389 (397, 400). 44 Auch Schünemann räumt denn ein, daß selbst beim Begehungsdelikt die Tatbestandsmäßigkeit nur „vorbehaltlich normativer Restprobleme (wie etwa des erlaubten Risikos) bereits deskriptiv fixiert“ sei (Schünemann [Fn. 40], S. 53). 38
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doch weiter als diese Lehre (von der Rechtsprechung ganz zu schweigen), die weder beim fahrlässig noch beim vorsätzlich begangenen Begehungsdelikt eine Sonderverantwortlichkeit für den eigenen Körper voraussetzt und zudem beim vorsätzlich begangenen Begehungsdelikt das Erfordernis der Sorgfaltspflichtverletzung nur als Korrektiv für Ausnahmefälle betrachtet.45 Im bereits genannten Fall des Geschäftsmannes etwa geht es nicht um eine solche Ausnahme: denn die durch das Abschalten der Heizung geschaffene Gefahr, daß der Obdachlose sterben wird, ist rechtlich mißbilligt, an § 222 führt nach h. M., wenn man denn ein Tun annimmt, kein Weg vorbei, ebensowenig an § 212, wenn der Geschäftsmann die Gefahr eines tödlichen Ausgangs erkannte und in Kauf nahm. Freund könnte demgegenüber den Tatbestand eines Begehungsdelikts verneinen,46 nämlich wegen fehlender Sonderverantwortlichkeit des Geschäftsmannes, also aufgrund einer Wertung, die es erlaubt, die regelmäßig bestehende Sonderverantwortlichkeit für den eigenen Körper (mittels dessen der Geschäftsmann die Heizung abstellt) ausnahmsweise zu verneinen. Das zeigt, daß seine Konzeption tatsächlich die „deskriptive Basis“ des Begehungsdelikts gegenüber der h. M. schmälert. Freilich kann man Straftaten so systematisieren, wie Freund das tut,47 ohne daß dies sachlich unangemessene Konsequenzen haben müßte.48 Aber es fragt sich doch, weshalb man das tun und damit von der eingebürgerten Sichtweise erheblich abweichen sollte.49 Für die von Freund vorgeschlagene Systematisierung spricht,50 daß sie mit dem an die Systemspitze gestellten Verhaltensnormverstoß eine normativ wichtige gemeinsame Voraussetzung aller Straftaten betont.51 Allerdings trägt sie den Unterschieden zwischen Tun und Unterlassen nicht ausreichend Rechnung und entspricht deswegen auch nicht dem geltenden Recht.
45 Dieses Korrektiv erlaubt neben der Lösung von Lehrbuchfällen etwa die Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit beim ärztlichen Behandlungsabbruch auch dann, wenn man diesen als aktives Handeln einstuft: Vgl. dazu Freund (Fn. 28), S. 237 f. 46 Bzw. die Frage, ob es um Tun oder Unterlassen geht, konsequent ganz übergehen. 47 Also zwischen einfach und doppelt legitimierten Normen und deren Verletzung unterscheiden. 48 Denn Freunds Konzeption bietet aufgrund ihrer Wertungsoffenheit auch die Möglichkeit, beispielsweise die Sonderverantwortlichkeit des Geschäftsmannes für seinen Körper und dessen Einsatz zum Abstellen der Heizung zu bejahen. 49 Wofür man ja nicht nur „wissenssoziologisch“, sondern auch aus der internen Perspektive dessen, der sich nach der Angemessenheit einer bestimmten Straftatsystematik fragt, starke Gründe braucht. Vgl. dazu jüngst Hardtung, ZIS 2009, 795 ff. 50 Wenn man mit der heute h. L. davon ausgeht, daß die Verhaltensnormwidrigkeit gemeinsame Tatbestandsvoraussetzung aller Straftaten ist. 51 Letzteres kann man freilich auch im Rahmen der h. M. tun. Das Gleiche gilt für eine angemessene Interpretation von § 28, die nach Freund (Fn. 28), S. 238 ff., durch sein System erleichtert wird.
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Den Unterschied zwischen Begehungs- und unechtem Unterlassungsdelikt läßt Freund in der gemeinsamen Voraussetzung einer Sonderverantwortlichkeit aufgehen, die, als Sonderverantwortlichkeit eines jeden für den eigenen Körper, auch beim Begehungsdelikt verletzt werde. Auch wenn man eine Sonderverantwortung für den eigenen Körper dort anerkennt, wo dieser wie eine Sache andere zu verletzen droht,52 verzeichnet die Nivellierung von Tun und Unterlassen die hier bestehenden Unterschiede und gibt eine „ganz schiefe Sicht“ auf die Handlung und auf das Begehungsdelikt, bei dem, soweit es um Allgemeindelikte geht, anders als beim Unterlassungsdelikt, „eine von der Handlung gesonderte, unabhängig von der tatbestandsmäßigen Situation existierende und schon vor ihr etablierte spezielle Position des Täters gerade nicht gefordert wird“.53 Mit dem geltenden Recht ist eine Systematik, die der Unterscheidung von Tun und Unterlassen jede Bedeutung abspricht, jedenfalls nicht verträglich.54 Eine Garantenstellung fordert § 13 Abs. 1 eben nur für das (unechte) Unterlassungsdelikt. Auch die Strafmilderungsmöglichkeit gem. § 13 Abs. 2 besteht nur für dieses und nicht für das Begehungsdelikt.55 Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist deshalb de lege lata vielfach von entscheidender Bedeutung. Verlassen A und B einen See, ohne einen dort gegen das Ertrinken Kämpfenden zu retten,56 kommt es für ihre Strafbarkeit gemäß § 212 schon wegen § 13 Abs. 2 darauf an, ob man ihr Verhalten als Handlung oder als Unterlassung betrachtet. Knüpft man zutreffenderweise an ein bloßes Unterlassen an, so ist für die Strafbarkeit wegen Totschlags entscheidend, ob sie Garanten im herkömmlichen Sinne sind. Ungeachtet der Sonderverantwortlichkeit, die beide gleichermaßen für ihren Körper haben, ist daher nur der Vater des Ertrinkenden und nicht der zufällig anwesende Passant gem. §§ 212, 13 strafbar. Die Anerkennung einer Sonderverantwortlichkeit für den eigenen Körper trägt auch zur Lösung der, oft unbestreitbar schwierigen, Abgrenzungsprobleme nichts bei. Nehmen wir etwa das von Freund angeführte Beispiel dessen, der zunächst einen lebensrettenden Brief schreibt, diesen aber vernichtet, bevor ihn die Haushälterin zur Post bringt. Nach Freund greift hier nur § 138 ein, da es sich beim Vernichten des Briefs nur um ein „scheinbares ,Begehen‘ im Sinne eines Tötungsdelikts“ handele.57 Ich stimme dem im Ergebnis zu, frage mich aber doch, weshalb hier die ansonsten „selbstverständliche Sonderverantwortlichkeit für den 52
Vgl. dazu Freund (Fn. 28), S. 235 (Nasenbluten); Merkel (Fn. 24), S. 206 ff. Wie Schünemann (Fn. 40), S. 53, zutreffend gegen Freund einwendet. 54 Das wird vielleicht nicht bestritten, aber doch unangemessen bagatellisiert, wenn Pawlik, Jakobs-FS, 2007, S. 469 (493), schreibt, die Unterscheidung von Tun und Unterlassen möge sich, wegen ihrer Schlichtheit, „aus fallprüfungstechnischen Gründen empfehlen“. 55 Konsequenterweise gegen diese Regelung Freund (Fn. 28), S. 244 f. 56 Obwohl sie das könnten und dies auch erkennen. 57 Freund (Fn. 28), S. 233. 53
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eigenen Körper“ (der ja beim Vernichten des Briefes eingesetzt wird) offenbar nicht besteht.58 3. Der einflußreichste Kritiker der h. M. ist Jakobs.59 Er geht vom rechtsphilosophischen bzw. gesellschaftstheoretischen Hintergrund der Unterscheidung von Tun und Unterlassen in einer freiheitlichen Gesellschaft aus. „In einer Gesellschaft freier Eigentümer und Inhaber von Rechten“ haben Personen die alleinige Dispositionsbefugnis über ihren Körper und das ihnen rechtlich Zugewiesene, sie bilden damit „Organisationskreise, deren Verwaltung ihnen allein unter Ausschluß aller anderen zukommt“.60 Dieser Freiheit entspricht die „negative“ Pflicht, dafür zu sorgen, daß vom eigenen Organisationskreis keine Gefahren für andere ausgehen. Sie wurde und wird vielfach als Verletzungsverbot („neminem laede“) aufgefaßt, als „ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers“,61 der durch tätiges Eingreifen in die Rechtssphäre anderer zuwidergehandelt wird. Das Verbot und selbst die Pönalisierung derartiger Eingriffe, also eines Tuns, lasse sich auch (ja gerade) in einer liberalen Gesellschaft vergleichsweise leicht rechtfertigen. Als problematisch gilt demgegenüber die Legitimation „positiver“ Rechtspflichten zu tätiger Hilfe für andere und damit eines (zudem strafbewehrten) Verbots, solche Hilfe zu unterlassen. Denn begründen lassen sich solche Hilfspflichten nicht als Korrelat der Freiheit des Einzelnen, sondern nur aus dem Gedanken der Solidarität, der nach liberaler Tradition seinen Platz eher in der Moral als im Recht hat. Jakobs zentrale These ist nun, daß es zwar in der Tat eine normativ wichtige Differenz zwischen „negativen“ Verletzungsverboten bzw. Pflichten aus Organisationszuständigkeit und „positiven“ Hilfsgeboten gibt, daß diese aber nicht mit der Unterscheidung von Tun und Unterlassen übereinstimmt. Aus der „Zuständigkeit“ für den eigenen Körper etwa ergibt sich nicht nur das Verbot, andere durch dessen Einsatz zu verletzen, sondern auch das Gebot, Verletzungen anderer durch den eigenen Körper zu verhindern. Gegen das Verletzungsverbot (neminem laede) verstößt also nicht nur, wer ein Kind schlägt (Tun), sondern auch, wer sich nicht abstützt, wenn er auf es zu fallen droht (Unterlassen).62 Zu den 58 Ebenso Merkel (Fn. 24), S. 199 Fn. 13. Vgl. dazu auch Herzberg, Röhl-FS, 2003, S. 270 (274 f.). 59 In der Folge beziehe ich mich auf Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1996. Diese Arbeit greift Überlegungen auf, die sich bereits in Jakobs, Strafrecht AT2, 1991, 6/28 ff., 28/13 ff., finden, dort freilich im Rahmen der herkömmlichen Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikt. Hinweis auf Autoren, die sich der Lehre von Jakobs angeschlossen haben, bei Pawlik, Jakobs-FS, 2007, S. 469 (493 Fn. 130). 60 Jakobs (Fn. 59), S. 21. 61 So die Formulierung Feuerbachs. Vgl. dazu Jakobs (Fn. 59), S. 11 ff., sowie Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 51 ff. 62 Jakobs (Fn. 59), S. 20. Entsprechendes gilt, soweit der jeweilige Organisationskreis mehr umfaßt als den eigenen Körper.
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„Geboten kraft Organisationszuständigkeit“63 zählen etwa die Verkehrssicherungspflichten, die den treffen, der „ein gegenständliches Objekt beherrscht“.64 Auch sie fordern neben dem Unterlassen gefährlicher Handlungen die Beseitigung von Gefahren, können also ebenso durch ein Unterlassen wie durch ein Tun verletzt werden.65 Daß die Pflicht, andere nicht zu verletzen, begrenzt ist (insbesondere durch das erlaubte Risiko), gilt ebenfalls für Tun und Unterlassen gleichermaßen.66 Der „ursprünglichen Verbindlichkeit“ bzw. „Organisationszuständigkeit“ stehen „besondere Rechtsgründe“ gegenüber, die nach alledem nicht dadurch charakterisiert sein können, daß sie gerade ein Tun fordern. Vielmehr ergeben sie sich nach Jakobs aus Institutionen,67 soweit diese zu den „unverzichtbaren Elementen der gesellschaftlichen Gestalt“ gehören.68 Hierzu zählen staatliche Pflichten69 sowie solche, die sich aus besonderen Vertrauensbeziehungen ergeben.70 Wie immer man diesen Kreis der besonderen Rechtsgründe im Einzelnen zieht, verpflichten doch auch sie gleichermaßen zu Handlungen wie zu Unterlassungen. Die für Jakobs maßgebliche Differenzierung hat also mit der von Tun und Unterlassen „nichts . . . zu tun“, womit feststeht, daß „diese Scheidung überhaupt, bei den negativen wie bei den positiven Beziehungen, nur die Technik betrifft, mit der ein Verpflichteter seinen Pflichten nachzukommen hat, also Fragen von durchaus sekundärer Bedeutung“.71 An die Stelle der Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten tritt damit die zwischen Delikten kraft Organisationszuständigkeit und kraft institutioneller Zuständigkeit.72 Jakobs Kritik an der h. M. ist m. E. in einer wichtigen Hinsicht überzeugend. Die überkommene liberale Auffassung, es sei jedenfalls73 wesentlich problematischer, die „positive“ Rechtspflicht zur Hilfe für andere zu rechtfertigen als die „negative“ Rechtspflicht, andere nicht zu verletzen, ist mit einer naturalistisch 63
Jakobs (Fn. 59), S. 21. Jakobs (Fn. 59), S. 21. Des Weiteren rechnet Jakobs hierzu Pflichten aus Ingerenz und Übernahme einer Verrichtung (Jakobs [Fn. 59], S. 22 f.). 65 Jakobs (Fn. 59), S. 21. 66 Jakobs (Fn. 59), S. 25 ff., unter Hinweis darauf, daß dies heute auch für das Begehungsdelikt durch die Lehre von der objektiven Zurechnung anerkannt ist. 67 Die „stets auf eine positive Verbindung der Personen gerichtet sein müssen, also auf ein Stück gemeinsamer Welt“ (Jakobs [Fn. 59], S. 32). 68 Jakobs (Fn. 59), S. 32. 69 Jakobs (Fn. 59), S. 33 f. 70 Etwa für Eltern gegenüber ihren Kindern oder Ärzten gegenüber ihren Patienten, Jakobs (Fn. 59), S. 34 f. 71 Jakobs (Fn. 59), S. 35. 72 Zu dieser von Jakobs nicht ausdrücklich gezogenen Konsequenz Sánchez-Vera (Fn. 61), S. 29 ff. 73 D.h. unabhängig vom gerade geltenden Recht. 64
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verstandenen Unterscheidung von Unterlassen und Tun nicht angemessen zu rekonstruieren. Zwar läßt sich das Verbot, andere zu verletzen, in der Tat als Korrelat der persönlichen Freiheit stark begründen. Aber gemeint ist dabei ein „bestimmter Verbotsinhalt“, nämlich der, „dem anderen seine Freiheit zu lassen“74, und gegen dieses inhaltlich bestimmte Verbot kann man durch Tun wie durch Unterlassen verstoßen.75 Damit entfällt ein wichtiges Argument für die herrschende Meinung, die Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten sei unabhängig vom geltenden Recht normativ bedeutsam. Allerdings führt das nicht dazu, daß man diese Unterscheidung durch die zwischen Delikten kraft Organisationszuständigkeit und kraft institutioneller Zuständigkeit ersetzen könnte. Die besondere Verantwortung für den eigenen Organisationskreis leuchtet zwar ein, soweit es um die dem einzelnen zugewiesenen Gegenstände geht: Die Verkehrssicherungspflichten des Eigentümers etwa lassen sich als Kehrseite seines Eigentumsrechts verstehen und begründen. Die besondere Verantwortung aus Ingerenz und aus Übernahme von Verrichtungen beruht aber m. E. auf einem anderen Grund, nämlich auf einem Tätigwerden, das einmal wegen seiner Gefährlichkeit (Ingerenz), das andere Mal wegen des mit ihm verbundenen Verzichts anderer auf Schutzmaßnahmen (Übernahme) eine besondere Verantwortung des Handelnden zur Folge hat. Das mag man unter dem Begriff der Organisationszuständigkeit zusammenfassen, der dann aber bloß als normatives Etikett fungiert und, ebenso wie die Termini „Sonderverantwortlichkeit“ und „Garantenstellung“, in Wahrheit nur noch ein Argumentationsziel, nicht aber eine inhaltliche Begründung bezeichnet.76 Der Kreis der Delikte aus institutioneller Zuständigkeit ist ohnehin durch die Bestimmung, es müsse dabei um den Schutz gesellschaftlich unverzichtbarer Institutionen gehen, nur in äußerster Vagheit umschrieben.77 Zudem bleibt die normative Relevanz der liberalen Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten auch dann bescheiden, wenn man sie im Sinne von Jakobs auffaßt. Für die Freiheitlichkeit einer Rechtsordnung, einschließlich ihres Strafrechts, sind andere Fragen bedeutsamer.78 Man kann auch dann, wenn man das Strafrecht auf Delikte aus Organisationszuständigkeit beschränkt, den Bürger in höchst illiberaler Weise „gängeln“, etwa indem man die Grenze des verbotenen Risikos entsprechend zieht. Darüber hinaus ist es durchaus fraglich, wie weit die liberale Skepsis gegenüber (strafbewehrten) Rechtspflichten aus So74
Jakobs (Fn. 59), S. 25; Sánchez-Vera (Fn. 61), S. 89 ff. Gegen das so verstandene Verletzungsverbot verstößt also derjenige, der seinen Hund auf einen anderen hetzt, ebenso wie der, der das angreifende Tier nicht zurückpfeift. 76 Vgl. Schünemann (Fn. 40), S. 57 f.; Herzberg (Fn. 58), S. 276 ff. 77 Siehe dazu Jakobs (Fn. 59), S. 35, selbst sowie Schünemann (Fn. 40), S. 57 ff. 78 Ähnlich Volk (Fn. 13), S. 236. 75
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lidarität eigentlich berechtigt ist.79 So läßt sich beispielsweise an § 323c nicht nur, in liberaler Tradition, kritisieren, daß es eine solche Strafvorschrift überhaupt gibt.80 Man kann ganz im Gegenteil, und m. E. zu Recht, auch kritisieren, die Strafdrohung des § 323c sei angesichts mancher Fallkonstellationen, etwa dort, wo das Unterlassen zumutbarer Rettungsmaßnahmen durch einen Nicht-Garanten absehbar zum Tod anderer Personen führt, viel zu niedrig und müsse deshalb jedenfalls für besonders schwere Fälle der unterlassenen Hilfeleistung angehoben werden.81 Daß die Unterscheidung von Tun und Unterlassen ihre normative Bedeutsamkeit nicht aus der Differenzierung zwischen „negativen“ und „positiven“ Rechtspflichten gewinnt, impliziert schließlich auch keineswegs, daß es sich dabei wirklich nur um eine technische Unterscheidung handelt. Es gibt ja andere Ansätze, diese Bedeutsamkeit zu begründen, etwa die Auffassung, der Gesetzgeber greife mit Handlungsgeboten82 deshalb tiefer in die Freiheit des Bürgers ein als mit Handlungsverboten,83 weil man für ein Tun, nicht aber für ein Unterlassen Ressourcen einsetzen müsse,84 oder deshalb, weil Handlungsverbote dem Normadressaten einen größeren Handlungsspielraum lassen als Handlungsgebote.85 Diese und ähnliche Auffassungen86 sehen sich Einwänden ausgesetzt,87 die hier nicht diskutiert werden können. Auch wenn keine der zur Diskussion stehenden Begründungen ausnahmslos überzeugt, gilt m. E. aber doch für den typischen Fall, daß der tätige Eingriff, der zu einer Rechtsverletzung führt, die Überwindung einer höheren Hemmschwelle erfordert als das bloße Untätigbleiben, mit dem man den Dingen den Lauf läßt, den sie ohnehin nehmen.88 Wer einen anderen ertrinken läßt, handelt deshalb weniger verwerflich als derjenige, der ihn ertränkt.89 79 Und das in einer Gesellschaft, die vom liberalen Modell so weit entfernt ist wie die heutige deutsche. 80 Dazu Wohlers, in: Nomos Kommentar zum StGB3, 2010, § 323c Rn. 1. 81 So etwa Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 381; Merkel (Fn. 24), S. 216 Fn. 59. 82 Und entsprechend mit der Schaffung von Unterlassungsdelikten. 83 Und entsprechend mit der Schaffung von Begehungsdelikten. 84 So im Anschluß an Engisch, Gallas-FS, 1973, S. 163 (173), Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 10. 85 So etwa Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 86. 86 So weisen nach Bung, ZStW 120 (2008), 526 ff., Unterlassungen als „unsichtbare Handlungen“ ein rechtlich relevantes „Sichtbarkeitsminus“ auf. Aber daß jemand eine Handlung unterläßt, ist nicht weniger sichtbar, als daß er sie vollzieht. 87 Vgl. etwa die Kritik bei Volk (Fn. 13), S. 235 ff., sowie die zusammenfassende Darstellung bei Donner, Die Zumutbarkeitsgrenzen der vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikte, 2007, S. 105 ff., und, speziell gegen § 13 Abs. 2 gerichtet, Lerman, GA 2008, 78 ff., jeweils m. w. Hinw. 88 Und das auch dann, wenn der Unterlassende Garant ist und das Risiko des Erfolgseintritts beim Unterlassen nicht geringer ist als beim Tun. 89 So das Beispiel bei Naucke, Strafrecht10, 2002, § 7 Rn. 233.
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Wie immer man de lege ferenda die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen nun auch bewertet: de lege lata ist sie nicht zu umgehen.90 Wie bereits dargelegt, kommt es nach geltendem Recht vielfach auf die Unterscheidung von Tun und Unterlassen an. Freilich ist dieses Recht von einer „konsequent-liberalen“ Beschränkung auf Begehungsdelikte weit entfernt. Das Unterlassen wird ja dem Tun grundsätzlich91 gleichgestellt, sofern die Voraussetzungen von § 13 Abs. 1 erfüllt sind,92 und kann selbst dort, wo das nicht der Fall ist, nach Vorschriften wie §§ 138 und 323c bestraft werden. Das Gesetz trägt also, wenn man so will, der Kritik an einer auf die Spitze getriebenen Unterscheidung von Tun und Unterlassen im Strafrecht bereits weitgehend Rechnung. Die Unterschiede, die es gleichwohl macht, sind m. E. jedenfalls vertretbar. Das gilt nicht nur, soweit ein begehungsgleiches Unterlassen lediglich bei Garanten angenommen wird, während Nicht-Garanten nur aus echten Unterlassungsdelikten haften.93 Es trifft vielmehr auch für die durch § 13 Abs. 2 eröffnete Strafmilderungsmöglichkeit zu. Denn wenn auch nicht ausnahmslos, so wird es doch vielfach Grund zur Strafmilderung für denjenigen geben, der lediglich den Dingen ihren Lauf gelassen und nicht aktiv ins Geschehen eingegriffen hat. IV. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist also ungeachtet der an ihr geübten Kritik jedenfalls de lege lata unabdingbar. Zur Frage, wie sie zu treffen ist, sind an dieser Stelle nur noch einige kurze Bemerkungen möglich. 1. Die Unterscheidung zwischen Handlungen und Unterlassungen hat einen „naturalistischen Kern“,94 sie kann deshalb durch eine normative Differenzierung nicht ersetzt werden.95 Insbesondere läßt sich die Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikt nicht mit der von Verstößen gegen Pflichten aus Organisationszuständigkeit und solchen aus Institutionen gleichsetzen. 90 Das gleiche gilt, wie hier nicht näher ausgeführt werden kann, m. E. auch dogmatisch: der objektive Tatbestand (Verhalten, Kausalität, Garantenstellung), der Vorsatz, der Versuchsbeginn, der Rücktritt werfen beim Unterlassungsdelikt andere Fragen auf als beim Begehungsdelikt. 91 Also unbeschadet des § 13 Abs. 2. 92 Darüber hinaus durch viele besondere Straftatbestände. Vgl. Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 3), § 13 Rn. 10. 93 Wobei freilich der Unterschied durch die zu niedrige Strafdrohung des § 323c m. E. überzeichnet wird. 94 Ebenso Struensee (Fn. 1), S. 143: „Eine Unterscheidung gemäß dem ,naturalistischen‘ Kriterium der gewillkürten Körperbewegung ist nicht zu umgehen“. 95 Anders anscheinend Merkel (Fn. 24), S. 220: Es gehe „nicht einmal im Prinzip“ um die „Unterscheidung von körperlichem Tun und Unterlassen“, das Prinzip laute vielmehr: „Was ein Tun oder Nichtstun rechtlich bedeutsam macht, ist nicht seine physische Gestalt, sondern sein Übereinstimmen mit oder Abweichen von rechtlichen Pflichten“.
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Beschränken sich drei auf einer Bank am Seeufer Sitzende darauf, dem Ertrinken eines anderen zuzusehen, obwohl jeder einzelne ihn retten könnte, so unterlassen alle drei gleichermaßen die Rettung. Diese Verhaltensbeschreibung ist für den, der die dem geltenden Recht entsprechende Unterscheidung von Tun und Unterlassen ernst nimmt und nicht ad absurdum zu führen sucht, zwingend. Daß die drei während ihres Unterlassens für irgendetwas, z. B. das Zuschauen, Ressourcen wie Zeit und Aufmerksamkeit einsetzen,96 begründet keinen Fall mehrdeutigen Verhaltens.97 Die durch das Unterlassen der drei Personen verletzten Pflichten mögen sich erheblich voneinander unterscheiden. Der zufällig Anwesende verletzt lediglich eine allgemeine Handlungspflicht (§ 323c), der Ingerent und der Vater des Ertrinkenden dagegen eine Garantenpflicht (§§ 212, 13). Man mag zwischen Letzteren noch einmal differenzieren, indem man die Rettungspflicht des Ingerenten als Pflicht aus Organisationszuständigkeit und die des Vaters als Pflicht aus institutioneller Zuständigkeit einstuft. Aber man kann dennoch, ohne Verstoß gegen § 13, weder das Verhalten des Ingerenten noch das des Vaters als ein Tun betrachten (womit dann der zufällig Anwesende der einzige Unterlassungstäter wäre). 2. Neben den zahlreichen eindeutigen Fällen gibt es mehrdeutige Verhaltensweisen, bei denen die Abgrenzung von Tun und Unterlassen Probleme bereiten kann. Auch wer nicht daran glaubt, daß sich diese einer Lösung zuführen lassen, „die in allen Streitfragen eine sichere und praktikable Festsetzung gewährleistet“,98 muß doch einräumen, daß sie sich zu einem erheblichen Teil mit einfachen dogmatischen Regeln lösen lassen. So hat dort, wo die mit einem mehrdeutigen Verhalten verbundene Handlung und Unterlassung denselben Erfolg verursachen und gleichermaßen vorsätzlich oder fahrlässig begangen werden, das Tun den Vorrang.99 Das hat auch zur Folge, daß es auf das sorgfaltswidrige Tun, nicht aber darauf ankommt, daß der Handelnde es unterlassen hat, die durch seine Handlung verletzte Sorgfaltspflicht zu erfüllen.100 Die weitere Präzisierung der Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen kann in einem gewissen Umfang auch berechtigten Einwänden gegen normativ unplausible Differenzierungen Rechnung tragen. So wird gegen die Unterscheidung von Tun und Unterlassen vielfach mit Beispielen argumentiert, die sich aus der zunehmenden Technisierung ergeben. Und in der Tat leuchtet es nicht ein, den Autofahrer, der das Gaspedal drückt und die Verletzung eines Fußgängers herbei96 Was nach Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 10, „in der Regel“ für ein Tun charakteristisch sein soll. 97 Denn von einem solchen sollte man nur sprechen, wenn eine Deutung als Tun oder Unterlassen strafrechtlich ernsthaft in Betracht kommt. 98 So Brammsen, GA 2002, 193 (194). 99 Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 15. 100 Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 16, § 46 Rn. 5.
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führt, anders zu beurteilen als den, der den gleichen Erfolg verursacht, indem er das von einem Automaten gewählte Fahrtempo nicht verringert.101 Aber man muß hier auch nicht differenzieren, sondern kann beide Mal sagen, daß der Autofahrer „durch das Auto“ handelt.102 Und schließlich entspricht es einer schon jetzt vielfach vertretenen Lehrmeinung,103 für näher zu umschreibende Fallkonstellationen, wie den Abbruch eigener Rettungsbemühungen, aufgrund offen normativer Erwägungen ein Verhalten ausnahmsweise nicht als erfolgskausale Handlung, sondern als bloße Unterlassung aufzufassen.104 Der Kreis derart begründeter Ausnahmen ist offen und könnte aufgrund der normativ argumentierenden Kritik an einer rein naturalistischen Unterscheidung von Tun und Unterlassen zukünftig erweitert werden.105
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Jakobs (Fn. 59), S. 19. So Puppe (Fn. 1), § 45 Rn. 15. 103 Ganz zu schweigen von der Judikatur, die bekanntlich eine Abgrenzung nach dem „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ favorisiert. 104 Vgl. etwa Roxin (Fn. 4), § 31 Rn. 99 ff.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 3), § 13 Rn. 3 f. 105 Ansätze dazu bei Merkel (Fn. 24), S. 212 ff. 102
Zur Amtsträgereigenschaft der Aufsichtsräte von kommunalen Gasversorgungsbetrieben1 Von Heiko Lesch I. Das Problem Die Staatsanwaltschaft Köln hat seit 2005 zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Aufsichtsräte von privatrechtlich organisierten kommunalen Gasversorgungsbetrieben (z. B. Stadtwerken) in Nordrhein-Westfalen geführt. Anlaß für diese Ermittlungsverfahren war die Teilnahme der betroffenen Aufsichtsräte an Reisen mit gasfachlichem Hintergrund und mehr oder weniger umfangreichem geselligem Begleitprogramm, die zum großen Teil von den (früheren) Gas-Vorlieferanten Ruhrgas AG und Thyssengas GmbH finanziert, geplant und organisiert worden sind.2 Der Verdacht einer Vorteilsannahme läßt sich in diesen Fällen von vornherein nur begründen, wenn es sich bei den betroffenen Aufsichtsräten um Amtsträger im Sinne der §§ 331, 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB handelt. Das wirft je nach der konkreten Gestaltung des Sachverhalts teilweise recht schwierige Rechtsfragen auf. In diesem Beitrag geht es ausschließlich um die Frage, ob das von einer Gemeindevertretung in den Aufsichtsrat eines kommunalen Gasversorgungsbetriebes entsandte Ratsmitglied als Amtsträger qualifiziert werden kann. Seit der Entscheidung des BGH vom 09.05.2006 gilt es als ausgemacht, dass kommunale Mandatsträger als solche keine Amtsträger sind.3 Eine Strafbarkeit der Aufsichtsräte kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn sie zur Zeit der Teilnahme an den Reisen dazu bestellt waren, entweder im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c, 1. Alt. StGB bei einer sonstigen Stelle (dazu nachfolgend 2.) oder (aufgrund der Entsendung durch den Rat) im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c, 2. Alt. StGB im Auftrag einer Behörde (dazu nachfolgend 3.) Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen (dazu nachfolgend 4.). II. Handeln bei einer sonstigen Stelle? Zunächst stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein kommunaler Gasversorgungsbetrieb als „sonstige Stelle“ qualifiziert werden kann. 1 Frau Rechtsanwältin Dr. Anne Bussenius bin ich für wertvolle Anregungen und Hinweise dankbar. 2 Vgl. dazu auch Szesny/Brockhaus, NStZ 2007, 624. 3 BGH, NStZ 2006, 389; Szesny/Brockhaus (Fn. 2), 625.
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Unter einer sonstigen Stelle versteht man ohne Rücksicht auf ihre Organisationsform eine behördenähnliche Institution, die zwar keine Behörde, rechtlich aber gleichwohl befugt ist, bei der Ausführung von Gesetzen mitzuwirken.4 Auch ein als juristische Person des Privatrechts organisiertes Unternehmen der öffentlichen Hand kann eine „sonstige Stelle“ sein, wenn bei ihm Merkmale vorliegen, die seine Gleichstellung mit einer Behörde rechtfertigen.5 Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kommt es insoweit darauf an, ob das betreffende Unternehmen bei einer Gesamtbetrachtung als „verlängerter Arm des Staates“ erscheint.6 Dabei sind weder die alleinige Inhaberschaft der öffentlichen Hand an einer Gesellschaft noch die damit verbundenen Aufsichtsbefugnisse für sich dazu geeignet, eine für die Anwendung des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ausreichende staatliche oder kommunale Steuerung zu bejahen.7 Ist aber schon die Alleininhaberschaft der öffentlichen Hand bei einem Unternehmen auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge kein hinreichendes Kriterium zur Annahme einer behördenähnlichen staatlichen Steuerung, gilt dies nach der Rechtsprechung des BGH erst recht, wenn Private an einem Unternehmen beteiligt sind, das sich lediglich im Mehrheitsbesitz der öffentlichen Hand befindet. Unabhängig von der Frage, ob jede Beteiligung von Privaten an öffentlich beherrschten Unternehmen schon die Anwendung von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB hindert, liegt die Gleichstellung eines Unternehmens mit einer Behörde jedenfalls dann fern, wenn der Private durch seine Beteiligung über derart weitgehende Einflussmöglichkeiten verfügt, dass er wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen kann. Räumt der Gesellschaftsvertrag dem Privaten aufgrund der Höhe seiner Beteiligung eine Sperrminorität für wesentliche unternehmerische Entscheidungen ein, kann das Unternehmen nicht mehr als „verlängerter Arm“ des Staates und sein Handeln damit nicht mehr als unmittelbar staatliches Handeln verstanden werden.8 An zahlreichen kommunalen Gasversorgungsbetrieben in Nordrhein-Westfalen waren aber neben den Gebietskörperschaften auch die (früheren) Gas-Vorlieferanten Ruhrgas AG und Thyssengas GmbH unmittelbar oder mittelbar (über Zwischengesellschaften) beteiligt. Um sich ihren Einfluß zu sichern, haben die Gas-Vorlieferanten (bzw. die von ihnen beeinflußten Zwischengesellschaften) in diesen Fällen auch ihre eigenen Repräsentanten in die Organe der kommunalen Gasversorgungsbetriebe (Geschäftsführung, Aufsichtsrat, Gesellschafterversammlung) entsandt. Hier ist jeweils im konkreten Einzelfall anhand des Gesellschafts4
BGHSt 43, 370 (376); 49, 214. BGHSt 43, 370 (377); 45, 16 (19); 46, 310 (312 f.); 49, 214; 50, 299 (303). 6 BGHSt 43, 370 (377); 45, 16 (19); 46, 310 (312 f.); 49, 214 (219); 50, 299 (303). 7 Vgl. BGHSt 43, 370 (378); 45, 16 (28); BGH NJW 2001, 3062 (3064); 2004, 693 (694). 8 BGHSt 50, 299 (305 f.). 5
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vertrages zu prüfen, ob und inwieweit den beteiligten Privaten eine Sperrminorität für wesentliche unternehmerische Entscheidungen zukommt. III. Handeln im Auftrag einer Behörde? Wenn der betreffende kommunale Gasversorgungsbetrieb nicht als „verlängerter Arm des Staates“ qualifiziert werden kann, läßt sich eine Amtsträgereigenschaft des Aufsichtsrats aber möglicherweise dann begründen, wenn dieser aufgrund seiner Entsendung durch den Gemeinderat dazu bestellt war, „im Auftrag einer Behörde“ 9 Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 09.05.200610 ausdrücklich dargelegt, dass die betreffende Person nur dann „im Auftrag“ einer Behörde handelt, wenn sie durch organisatorische Eingliederung in die Behördenstruktur eine vergleichbare Stellung innehat wie die in § 11 Abs. 1 Nr. 2a und b StGB genannten Beamten, Richter oder Personen, die in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehen. Die Anwendung des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB setzt somit nach dem ausdrücklichen Verdikt des BGH eine Tätigkeit in „behördlich-hierarchischen Strukturen“ voraus. Dies ist aber nach den Darlegungen des BGH jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die betreffende Person aufgrund ihres freien Mandats handelt, keinen Dienstherrn hat und nicht an Weisungen gebunden ist. Grundsätzlich haben die Ratsmitglieder bei der Vertretung der Gemeinde in Unternehmen oder Einrichtungen gem. § 113 Abs. 1 GO NRW die Interessen der Gemeinde zu verfolgen. Auch sind sie nach dieser Vorschrift an die Beschlüsse des Rates und seiner Ausschüsse gebunden.11 Jedoch gilt dies gem. § 113 Abs. 1 S. 4 GO ausdrücklich nur, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Als gesetzliche Vorschriften, die etwas anderes bestimmen und daher der Bindungswirkung der Aufsichtsräte an die Beschlüsse des Rates entgegenstehen, kommen grundsätzlich die Vorschriften des AktG und des GmbHG in Betracht. Insoweit ist zwischen einerseits dem Aufsichtsrat einer AG und dem obligatorischen Aufsichtsrat einer GmbH sowie andererseits dem fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH zu differenzieren. Für die AG ist die Errichtung eines Aufsichtsrats als selbständiges Kontrollund Überwachungsorgan zwingend vorgeschrieben. Die Aufsichtsratsmitglieder einer AG können ihre Aufgaben gem. § 111 Abs. 5 AktG nicht durch andere wahrnehmen lassen. Der Umstand, dass sie ihr Amt höchstpersönlich wahrzunehmen haben, schließt zwar nicht ausdrücklich, aber doch sinngemäß die Unterwer9 Nach der Rechtsprechung sind die Organe der Gemeinden (d.h. namentlich auch der Gemeinderat) Behörden im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB, vgl. MüKo-Radtke, 2003, § 11 Rn. 97 m. N.; a. A. Szesny/Brockhaus (Fn. 2), 626. 10 BGH, NStZ 2006, 389 (391). 11 OVG Münster, Urt. vom 24.04.2009 – 15 A 2592/07.
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fung unter den Willen anderer aus. Dementsprechend können ihnen keine Weisungen erteilt werden.12 Zudem haben die „Vertreter“ der Kommune im Aufsichtsrat der AG nicht primär die Rechte der Kommune als Anteilseignerin wahrzunehmen, sondern – unter Berücksichtigung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (vgl. §§ 93, 116 AktG) – die Belange des Unternehmens. Mit dieser besonderen unternehmensrechtlichen Pflichtenstellung der Aufsichtsratsmitglieder sind aber Weisungsrechte der entsendenden Kommune grundsätzlich unvereinbar.13 Die Kollision zwischen der Stellung als Aufsichtsratsmitglied, also dem Gesellschaftsrecht einerseits, und der Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte der kommunalverfassungsrechtlich verbürgten Weisungsrechte der Vertretungskörperschaften andererseits (vgl. § 113 Abs. 1 GO NW), ist also dahingehend aufzulösen, dass auch insoweit das Gesellschaftsrecht das Kommunalverfassungsrecht überlagert.14 Sofern bei unterschiedlichen Interessen Konflikte auftreten, besteht im Ergebnis weder für die Kommune noch für die Kommunalaufsichts- und die Prüfungsbehörden eine rechtliche Möglichkeit, eine Korrektur derartiger Entscheidungen durchzusetzen. Der Gemeinde verbleibt regelmäßig lediglich nur das Recht, jederzeit die Abberufung ihrer Vertreter verlangen zu können, wenn sie ihren Weisungen zuwidergehandelt haben (vgl. z. B. § 113 Abs. 1 Satz 3 GO NW).15 An dieser, durch das AktG vorgegebenen Rechtslage vermag auch der öffentliche Zweck des privatrechtlich betriebenen Unternehmens nichts zu ändern. Jedes Aufsichtsratsmitglied ist zwar berechtigt und sogar verpflichtet, bei seinen Entscheidungen im Unternehmen die Interessen der öffentlichen Hand mit zu berücksichtigen. Wie es dies jedoch tut, bleibt allein seiner eigenverantwortlichen Entscheidung überlassen.16 Für entsandte Aufsichtsratsmitglieder gem. § 101 II AktG gilt insoweit nichts anderes, wie der BGH ausdrücklich festgestellt hat: „Entsandte Aufsichtsratsmitglieder haben dieselben Pflichten wie die gewählten Aufsichtsratsmitglieder. Als Angehörige eines Gesellschaftsorgans haben sie den Belangen der Gesellschaft den Vorzug vor denen des Entsendungsberechtigten zu geben und die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen, ohne an Weisungen des Entsendungsberechtigten gebunden zu sein.“17 Dabei bleibt es auch dann, wenn die Gemeinde die einzige Aktionärin ist, es sich mithin um eine sog. „Eigengesellschaft“ handelt.18 12 OVG Münster, Urt. vom 24.04.2009 – 15 A 2592/07; OVG Münster, NVwZ 2003; 494 f.; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats5, 2008, § 20 Rn. 1426; Meier, VR 1998, 217 f. 13 OVG Münster, NVwZ 2007, 609; Cronauge/Westermann, Kommunale Unternehmen4, 2003, S. 120. 14 Grünebaum, VR 2004, 55. 15 Cronauge/Westermann (Fn. 13), S. 120 f.; Meier (Fn. 12), 217. 16 Meier (Fn. 12), 218. 17 BGHZ 36, 296 (306 f.).
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Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für die von einer Kommune entsandten Mitglieder des obligatorischen Aufsichtsrats einer GmbH.19 Sie gelten aber auch für die von einer Kommune entsandten Mitglieder des fakultativen Aufsichtsrats einer GmbH, dies freilich nur, soweit im Gesellschaftsvertrag nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. Solange also im Gesellschaftsvertrag nichts anderes bestimmt ist, bleibt es bei § 52 Abs. 1 GmbHG und dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats. Dann ist auch das Weisungsrecht nach § 113 Abs. 1 S. 2 GO NW nicht bindend.20 Nach der Regelung des § 108 Abs. 5 Nr. 2 GO NW darf die Gemeinde ein Unternehmen in der Rechtsform der GmbH zwar nur gründen (bzw. sich nur daran beteiligen), wenn der Rat den von der Gemeinde bestellten oder auf Vorschlag der Gemeinde gewählten Mitgliedern des Aufsichtsrats Weisungen erteilen kann, soweit die Bestellung eines Aufsichtsrates gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Solange dies aber nicht im Gesellschaftsvertrag eigens angeordnet wird (etwa weil es sich um einen Gesellschaftsvertrag aus der Zeit vor der Einführung dieser Regelung handelt oder weil diese Regelung schlicht mißachtet oder übersehen worden ist), ist das in den Aufsichtsrat entsandte Mitglied der Gemeindevertretung nicht an Weisungen gebunden und infolgedessen auch nicht als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB zu qualifizieren. IV. Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung? Selbst wenn aber ein Aufsichtsrat je nach der Konstellation des konkreten Einzelfalls bei einer sonstigen Stelle oder im Auftrag einer Behörde tätig sein sollte, stellt sich die Frage, ob er insoweit überhaupt dazu bestellt ist, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen. Die Frage, welche Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zuzurechnen sind, wird gewöhnlich in Anlehnung an die in der Verwaltungsrechtslehre übliche Gliederung der Verwaltungstätigkeit in die Eingriffs-, Leistungs- und Lenkungsverwaltung21 vorgenommen. Während die Ordnungs- oder auch Eingriffsverwaltung unangefochten zu den Aufgaben der öffentlichen Verwaltung i. S. des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB gezählt wird22, ist noch nicht vollständig geklärt, inwieweit auch die Leistungsverwaltung als diejenige Verwaltungstätigkeit, die im Wesent18
Meier (Fn. 12), 218. Lutter/Krieger (Fn. 12), § 20 Rn. 1428; Meier (Fn. 12), 218; Grünebaum (Fn. 14), 55; Hoppe/Uechtritz/Oebbecke, Handbuch Kommunale Unternehmen, 2004, § 9 Rn 40. 20 Held/Becker/Decker/Kirchhof/Krämer/Wansleben/Winkel, Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, § 113 Kommentar – GO, Anm. 8.3, ebenso § 108 Kommentar – GO, Anm. 7; Lutter/Krieger (Fn. 12), § 20 Rn. 1428; Meier (Fn. 12), 218; Grünebaum (Fn. 14), 55 f.; Hoppe/Uechtritz/Oebbecke (Fn. 19), § 9 Rn. 40. 21 Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht16, 2006, § 6 Rn. 15 ff. 22 MüKo-Radtke (Fn. 9), § 11 Rn. 36; Fischer, StGB57, 2010, § 11 Rn. 22. 19
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lichen durch Gewährung von Zuwendungen unterschiedlichster Art den einzelnen Bürger begünstigende Entscheidungen trifft23, darunter zu subsumieren ist. Allerdings wird die Auffassung vertreten, dass die Daseinsvorsorge als Teilbereich der Leistungsverwaltung eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB sei.24 Dabei wird der mit vielen Unklarheiten behaftete Begriff der Daseinsvorsorge in der Verwaltungsrechtslehre definiert als die allgemeine Begünstigung der Bürger durch eine Verbesserung der Infrastruktur mittels der Schaffung und Erhaltung öffentlicher Einrichtungen (wie Straßen, öffentliche Verkehrsbetriebe, Schulen etc.).25 Daseinsvorsorge sind danach alle Leistungen, die im Bereich der Grundversorgung der Gesamtbevölkerung notwendig sind, um die jeweilige Existenz zu sichern und die Möglichkeit der Teilnahme der Gesamtbevölkerung am gesellschaftlichen Leben zu optimieren.26 Ob die Versorgung der Bevölkerung mit Gas eine in diesem Sinne „notwendige Grundversorgung“ darstellt, ist bereits zweifelhaft. Gas war und ist nur einer unter mehreren Energieträgern und daher ersetzbar; die Versorgung mit Gas war für die Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt im eigentlichen Sinne notwendig.27 Weitere Bedenken gegen die Einordnung der Gasversorgung als öffentliche Aufgabe im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ergeben sich außerdem aus einer weiteren spezifischen Eigenheit des Gasmarktes. Der Staat oder die Kommunen waren zu keinem Zeitpunkt in der Lage, die Gasversorgung aus eigener Kraft sicherzustellen, da das Gas stets von privaten Anbietern – namentlich etwa den (früheren) Ferngasunternehmen Ruhrgas AG und Thyssengas GmbH – bezogen werden musste. Der Gasmarkt war daher seit jeher maßgeblich durch Privatunternehmen beeinflusst. Letztlich ist aber nicht entscheidend, ob die Gasversorgung im Ausgangspunkt einmal eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung dargestellt haben mag. Denn jedenfalls infolge der Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für eine Liberalisierung des Gasmarktes im Jahre 1998 kann die Gasversorgung nicht mehr zu den „Aufgaben öffentlicher Verwaltung“ im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB gerechnet werden. Die Rechtsprechung hat sich bereits in anderen Zusammenhängen mit den Auswirkungen der zunehmenden Aufgabenprivatisierung auf die Auslegung und Anwendung des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB auseinandergesetzt. Namentlich der BGH hat in seiner Entscheidung zum Kölner Müllskandal hierzu Folgendes ausgeführt: „Angesichts der zunehmenden Schaffung wettbewerblicher Vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht11, Band 1, 1999, § 3 Rn. 6 m.w. N. Vgl. etwa Fischer (Fn. 22), § 11 Rn. 22; MüKo-Radtke (Fn. 9), § 11 Rn. 14; krit. Becker, StV 2006, 264 f. 25 Wolff/Bachof/Stober (Fn. 23), § 3 Rn. 6; vgl. auch Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht4, 1998, § 1 Rn. 14 f.; Becker, StV 2006, 264. 26 MüKo-Radtke (Fn. 9), § 11 Rn. 39. 27 Vgl. Franz, Gewinnerzielung durch kommunale Daseinsvorsorge, 2005, S. 39. 23 24
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Strukturen und Eröffnung auch zentraler Bereiche der Daseinsvorsorge für private Marktteilnehmer wie etwa beim Bahnverkehr [. . .], bei der Wärmeversorgung [. . .] oder bei der Energie- und Wasserversorgung, spricht [. . .] einiges dafür, dass privatrechtlich organisierte Gesellschaften der öffentlichen Hand, die auf solchen Märkten tätig werden, – wie andere (rein private) Marktteilnehmer auch – allein erwerbswirtschaftlich tätig sind. [. . .] Wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat, kann insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge von einer öffentlichen Aufgabe dann nicht (mehr) gesprochen werden, wenn der Hoheitsträger diesen Bereich aus der Hand gibt und ihre Erledigung einem privaten, marktwirtschaftlichen Unternehmen überlässt (Aufgabenprivatisierung im Gegensatz zur Organisationsprivatisierung), selbst wenn das private Unternehmen einer staatlichen Aufsicht unterstellt wird. In diesen Fällen fehlt der öffentlichrechtliche Bezug, der eine Gleichstellung mit behördlichem Handeln rechtfertigt.“28 Diese Entscheidung belegt, dass es letztlich in der Hand des Staates liegt, Aufgaben, die herkömmlich der Daseinsvorsorge zugerechnet werden, durch die Veränderung der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen einen vormals evtl. bestehenden spezifisch öffentlich-rechtlichen Charakter zu nehmen und durch diese „Aufgabenprivatisierung“ letztlich aus dem Bereich der öffentlichen Aufgaben i. S. des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB herauszunehmen. Eine solche Aufgabenprivatisierung hat sich auf dem Gasmarkt freilich längst vollzogen, und zwar spätestens mit der Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Liberalisierung des Gasmarkts im Jahre 1998 – unabhängig davon, dass sich ein echter Wettbewerb tatsächlich zunächst noch nicht gebildet hat. Spätestens mit der Reform des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahre 1998 hat sich der Staat bewusst und gewollt dafür entschieden, die Aufgabe der Gasversorgung aus der Hand zu geben und ihre Erledigung privaten, marktwirtschaftlich orientierten Unternehmen zu überlassen. Nach der gesetzlichen Fixierung der Aufgaben der Energieversorgungsunternehmen in § 2 EnWG ist die Gasversorgung keine staatliche Verpflichtung, sondern eine allen Energieversorgungsunternehmen gleichermaßen obliegende Aufgabe. Alle Energieversorger unterliegen identischen rechtlichen Regelungen – gleich ob sie sich in kommunaler, staatlicher oder privater Hand befinden. Damit fehlt es an der vom BGH angesprochenen Vergleichbarkeit der Gasversorgung mit behördlichem Handeln, ohne dass es darauf ankäme, ob die Liberalisierung tatsächlich bereits zu einem Wettbewerb zwischen privaten und kommunalen Anbietern geführt hat oder nicht. Schon die Tatsache, dass ein freier Wettbewerb und eine Gleichstellung privater und kommunaler Anbieter rechtlich möglich, ja erwünscht ist, schließt es aus, der Gasversorgung den vom BGH angesprochenen spezifischen „öffentlich-rechtlichen Bezug“ zuzusprechen. 28 BGH, Urteil vom 02.12.2005, 5 StR 119/05, insoweit in NStZ 2006, 210 nicht abgedruckt.
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Die vom Staat gewollte und mit der Reform des Energiewirtschaftsgesetzes rechtlich zementierte Aufgabenprivatisierung hat sich aber – wie gesagt – nur „spätestens“ 1998 vollzogen. Denn das Geschäft der Vorlieferanten haben vorher schon private Anbieter unter sich ausgemacht: Ruhrgas (resp. E.ON), Thyssengas (resp. RWE) und EnBW, um lediglich die drei größten zu nennen. Im Jahre 1993 wurde zum gemeinsamen Erdgashandel und -vertrieb die Wingas GmbH & Co. KG als Gemeinschaftsunternehmen der BASF-Tochter Wintershall und der OAO Gazprom GmbH gegründet. Als europäisches Energieunternehmen ist Wingas in Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Österreich, der Tschechischen Republik und Dänemark aktiv. Die Besitzanteile betragen 50% für Wintershall und 50% für Gazprom Germania mit einer Mehrheit von einer Aktie für Wintershall. Wingas betreibt ein mehr als 2.000 Kilometer langes Leitungsnetz für den Erdgashandel und -vertrieb an Stadtwerke, regionale Gasversorger, Industriebetriebe und Kraftwerke in Deutschland und im europäischen Ausland. Das Wingas-Leitungsnetz verbindet die großen Gasreserven Sibiriens und die Erdgasquellen in der Nordsee mit den wachsenden Absatzmärkten in Westeuropa. Auch zahlreiche andere private Unternehmen sind bzw. waren in verschiedener Form auf dem deutschen Gasmarkt tätig: Exxon Mobil, Rhenag AG, Trianel GmbH, Nuon Energie GmbH, Deutsche Essent GmbH, BEB Erdgas und Erdöl GmbH, Shell Energy Deutschland GmbH, Distrigas Brüssel, BP Gas GmbH und viele andere mehr. Zweifel sind vor diesem Hintergrund nicht möglich: Die Gasversorgung in Deutschland ist nach rein erwerbswirtschaftlichen Kriterien organisiert und liegt zum großen Teil in den Händen privater Unternehmen. Die Aufgabe ist durch und durch privatisiert – Gasversorgung ist ersichtlich keine Verwaltungsaufgabe. Es gibt auch keinen einzigen sachlichen Grund dafür, die Gasversorgung der staatlichen Sphäre zuzuordnen, sie könnte vielmehr – soweit das nicht bereits geschehen ist – ohne weiteres durch gleichwertige Leistungen rein privater Gasversorgungsunternehmen ersetzt werden. Das hier Ausgeführte wird im Ergebnis insbesondere auch durch das Urteil des BGH vom 18.04.2007 bestätigt. Danach ist ein Mitarbeiter einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft kein Amtsträger, wenn die Wohnungsbaugesellschaft nur einer von vielen Anbietern von Wohnraum ist, der mit städtischen Belegungsrechten belastet ist. In dem vom BGH entschiedenen Fall ging es um ein als GmbH organisiertes kommunales Wohnungsunternehmen, dessen Anteile zu 90 % von der Stadt Hannover und zu 10 % von der Stadtsparkasse gehalten wurden.29 Auch im Schrifttum wird zunehmend bezweifelt, ob die Energieversorgung der Bevölkerung durch privatrechtlich organisierte Unternehmen der öffentlichen Hand weiterhin als Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben qualifiziert wer-
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BGH, NStZ 2007, 461.
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den kann, zumal dann, wenn diese Unternehmen im Wettbewerb mit anderen Anbietern stehen.30 Es ist an der Zeit, diese alten Zöpfe endlich abzuschneiden. V. Fazit Ob das von einer Gemeindevertretung in den Aufsichtsrat eines kommunalen Gasversorgungsbetriebes entsandte Ratsmitglied bei einer sonstigen Stelle oder im Auftrag einer Behörde handelt, ist von den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere von der jeweiligen Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags abhängig. Die Amtsträgereigenschaft eines solchen Aufsichtsrats scheitert aber jedenfalls daran, dass dieser keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.
30 Siehe etwa Weber, ZögU, 2006, 85 ff.; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht, 2001, S. 452 ff. Vgl. auch Becker, StV 2006, 267 f.
Die Krise der Tatbestandslehre Von Manfred Maiwald I. Der „Tatbestand“ des Nachstellens (§ 238 StGB) als Ausgangspunkt Der Begriff des Tatbestands, den jeder deutsche Student der Rechtswissenschaft, wenn er sich dem Strafrecht zuwendet, als festgefügten Bestandteil der Trias „Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld“ kennenlernt, und den er dann in dem Bewusstsein zu handhaben pflegt, dass es sich um eine Selbstverständlichkeit handelt, ist in die Krise gekommen. Das wird zwar in dieser Allgemeinheit in der Regel nicht besonders thematisiert. Die Problematik kommt jedoch immer wieder in der Erörterung von Einzelfragen zum Vorschein, nicht selten dann, wenn der Gesetzgeber einen neuen „Tatbestand“ in das Strafgesetzbuch einfügt. So soll denn auch der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zur Krise der Tatbestandslehre ein Hinweis sein, den der Gesetzgeber bei der noch nicht lange zurückliegenden Einführung des Tatbestands des Nachstellens („Stalking“ – § 238 StGB) gegeben hat. Der Tatbestand beginnt mit der Formulierung: „Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich . . .“ und zählt dann im ersten Absatz mehrere konkrete Modalitäten auf, die als ein Nachstellen zu gelten haben – wobei hier auf die „Modalität“ des Vornehmens einer „vergleichbaren“ Handlung (§ 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB) nicht näher eingegangen werden soll. Zu den möglichen Modalitäten des Nachstellens gehört aber u. a. das Aufsuchen der räumlichen Nähe eines anderen Menschen und der Versuch, durch Mittel der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu einem Menschen herzustellen (§ 238 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB). Diese Handlungen sollen aber nach der – soeben wiedergegebenen – Formulierung des Gesetzes nur dann strafbar sein, wenn sie „unbefugt“ geschehen. Und wohl vor allem im Hinblick auf diese beiden Handlungsmodalitäten wird in der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung1 der erwähnte Hinweis gegeben: „Bei dem Merkmal ,unbefugt‘ handelt es sich um einen zum Tatbestand gehörenden Umstand, der dessen Anwendungsbereich auf die strafwürdigen Fälle beschränkt.“ An diesem Hinweis ist zweierlei bemerkenswert: Erstens der Umstand, dass der Gesetzgeber über die strafrechtsdogmatische Einordnung des Bestandteils einer einzuführenden Strafnorm überhaupt eine Aussage trifft. 1
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Der Gesetzgeber verwendet dabei den Begriff „Tatbestand“ offenbar im Sinne der oben erwähnten Dreiteilung „Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld“, und die Aussage des Gesetzesentwurfs soll offensichtlich bedeuten, dass die Befugnis, sich so, wie im Gesetz beschrieben, zu verhalten, nicht erst einen Rechtfertigungsgrund darstellen soll – wie es z. B. im Allgemeinen für die Notwehr oder den rechtfertigenden Notstand angenommen wird –, sondern dass die Unbefugtheit eben schon der Umschreibung des tatbestandlichen Unrechts dienen soll. Der zweite Umstand, der bemerkenswert ist, und der uns im Folgenden allein interessieren soll, ist der sachliche Gehalt der Aussage des Gesetzgebers. Wenn, wie dieser sagt, das Merkmal „unbefugt“ ein Tatbestandsmerkmal ist, ist es dann überhaupt noch denkbar, dass bei einer Handlung des Nachstellens die weitere Verbrechensstufe der Rechtswidrigkeit in der Weise gegeben sein könnte, dass ein Rechtfertigungsgrund eingreift? Oder ist mit der Feststellung in einem konkreten Fall, dass der Täter dem Opfer „unbefugt“ nachgestellt hat, ohne weiteres die Aussage verbunden, dass das Unrecht der Tat nicht nur indiziert, sondern vollständig vorhanden ist? Nähme man dies an, so würde die Erklärung des Gesetzgebers, „unbefugt“ sei bei § 238 StGB ein zum Tatbestand gehörender Umstand, gleichzeitig die weitere Erklärung enthalten, bei § 238 StGB könne die sonst übliche Prüfungsreihenfolge „Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld“ nicht angewandt werden. Dabei kann hier der Umstand außer Betracht bleiben, dass die „klassischen“ Rechtfertigungsgründe der Notwehr und des rechtfertigenden Notstands de facto ohnehin kaum jemals ein beharrliches Nachstellen rechtfertigen könnten: Hinsichtlich der Notwehr dürfte es in derartigen Fällen an der Erforderlichkeit eines beharrlichen Nachstellens zur Abwehr eines gegenwärtigen (!) Angriffs fehlen, hinsichtlich des Notstands daran, dass eine ebenfalls gegenwärtige Gefahr nicht anders abwendbar wäre als eben durch beharrliches Nachstellen. Denn selbst wenn einmal ein beharrliches Nachstellen wegen Eingreifens der Notwehr- oder Notstandsregelung rechtens wäre, würde dies bedeuten, dass das Nachstellen „befugt“ geschehen würde. Daher ist das Delikt der Nachstellung, wenn man das Merkmal „unbefugt“ nach dem Willen des Gesetzgebers dem Tatbestand zurechnet, und wenn man zugleich alle denkbaren Befugnisse, die das Nachstellen als rechtens erscheinen lassen können, damit als erfasst ansieht, in der Tat ein Delikt der Zweistufigkeit: Nach der Feststellung der unbefugten Nachstellungsakte und des dadurch bewirkten Erfolges bleibt als weitere Stufe des Verbrechensaufbaus nur noch die Schuld übrig. II. Der Tatbestand als Unrechts- und Schuldtypus Wenn demgemäß in der Strafvorschrift gegen das Stalking (§ 238 StGB) die Nachstellungshandlungen erst zusammen mit der Kennzeichnung als unbefugt
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das Unrecht der Tat kennzeichnen, und wenn des weiteren die Kennzeichnung als unbefugt die Aussage enthalten soll, die Handlungen könnten weder unter dem Gesichtspunkt der Einwilligung noch unter dem Gesichtspunkt irgendeiner sonstigen „Berechtigung“ als erlaubt angesehen werden2, so stellt sich die Frage, ob hier überhaupt noch der Begriff „Tatbestand“ legitimerweise verwendet werden kann, wie dies in der obigen Begründung des Gesetzesentwurfs geschieht. Denn bekanntlich wurde der Begriff des Tatbestands deshalb als Systembegriff in die Strafrechtsdogmatik eingeführt, weil man einen Begriff zur Verfügung haben wollte, der dem Umstand Rechnung trägt, dass – am Beispiel der vorsätzlichen Tötung gezeigt – die Feststellung der vorsätzlichen Tötung eines Menschen für den Täter gerade noch nicht die endgültige Aussage darüber enthält, er habe gegen das Recht gehandelt. Vielmehr seien – beispielsweise in Gestalt der Notwehr – Gesichtspunkte denkbar, die sein Handeln als erlaubt erscheinen lassen. Die Lehre vom Tatbestand, die auf die Darstellung Belings in seinem Buch „Die Lehre vom Verbrechen“ zurückgeht3, ist in der heutigen deutschen Strafrechtsdogmatik weitgehend anerkannt. Was ihren Inhalt betrifft, so lesen wir, dass die Bewertung eines Geschehens als Unrecht jeweils zwei Wertungsstufen zu durchlaufen habe: die „Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens (Wertung anhand des gesetzlichen Tatbestands) und die Feststellung des Nichteingreifens von Rechtfertigungsgründen (Wertung anhand der Gesamtrechtsordnung)“4. Oder: Es müsse zunächst das Unrecht begründet werden, bevor man sich der Frage zuwendet, ob das Unrecht nicht vielleicht doch wegen des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes zu verneinen ist: „Das Aufbauelement, das der Rechtfertigungsstufe innerhalb des Unrechts vorgeschaltet ist, heißt Tatbestand.“5 Grundlegend für diese heutige Auffassung war die Analyse von Gallas, der vom Tatbestand als dem „Träger des typischen Strafwürdigkeitsgehalts der jeweiligen Verbrechensart“ und von der „Verkörperung des Deliktstypus“ sprach.6 „Erst dann“ – erklärte Gallas – „würde ein Merkmal aufhören, Tatbestandsmerkmal zu sein, wenn damit – wie etwa in den Fällen des § 239 (,widerrechtlich‘) oder des § 303 (,rechtswidrig‘) – nicht mehr die betreffende Deliktsart gekennzeichnet, vielmehr lediglich auf die Möglichkeit einer Rechtfertigung, also auf das Rechtswidrigkeitserfordernis als allgemeiner Verbrechensvoraussetzung hingewiesen werden soll.“7 Ingeborg Puppe schließlich, der dieser Beitrag in freund2 Das Merkmal der Beharrlichkeit soll in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben. 3 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906; seine dort dargelegte Auffassung hat Beling freilich dann in der Schrift „Die Lehre vom Tatbestand“, 1930, modifiziert. 4 Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil39, 2009, Rn. 115. 5 Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil4, 2002, § 1 Rn. 23. 6 Gallas, ZStW 67, 1955, S. 17. 7 Gallas, ZStW 67, 1955, S. 25.
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schaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, unterscheidet ebenfalls in dieser Weise zwischen den beiden Stufen der Tatbestandsmäßigkeit und des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen.8 Es war im Vorangehenden vom „Unrechtstatbestand“ und vom „tatbestandlichen Unrecht“ die Rede. Und es wird, wie die Zitate zeigen, in der heutigen strafrechtlichen Literatur in der Regel der Begriff des Tatbestands allein als eine Umschreibung unrechtmäßigen Handelns dargestellt. Dies schon deshalb, weil die dem Tatbestand gegenübergestellten Rechtfertigungsgründe eben das Unrecht der Tat und nicht die Schuld des Täters betreffen. Aber es besteht, wie ebenfalls Gallas ausführlich dargestellt hat, darüber hinaus die Möglichkeit, auch schuldtypisierende Merkmale dem Bereich des Tatbestands zuzuweisen. Entsprechend der damaligen Gesetzeslage weist Gallas insofern auf die Tötung des unehelichen Kindes (ehemals § 217 StGB) und auf die Entwendung aus Not (§ 248a StGB a. F.) hin.9 Was die oben zum Ausgangspunkt genommene Strafvorschrift der Nachstellung (§ 238 StGB) betrifft, so ist daran zu denken, in ihr auch schuldtypisierende Elemente zu erkennen, die nicht dem Unrecht angehören, sondern der Schuld. Das gilt vor allem für das Merkmal der Beharrlichkeit. Denn nach der Begründung des Gesetzgebers ist zwar eine Voraussetzung der Beharrlichkeit, dass die Nachstellungshandlungen wiederholt vorgenommen werden. Zusätzlich sei aber zu fordern, dass aus Missachtung des entgegenstehenden Willens oder aus Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen des Opfers mit dem Willen gehandelt werde, sich auch in Zukunft immer wieder entsprechend zu verhalten.10 Und der Gesetzgeber spricht in der Tat hinsichtlich der Beharrlichkeit – ebenso wie hinsichtlich des Merkmals „unbefugt“ – von einem Tatbestandsmerkmal: Das Tatbestandsmerkmal der Beharrlichkeit diene dazu, die unter § 238 Abs. 1 und 2 StGB konkretisierten Nachstellungshandlungen auf die wirklich strafwürdigen Fälle zu beschränken, da die dortige Aufzählung auch grundsätzlich sozialadäquates Verhalten umfasse.11 Doch soll die Frage schuldtypisierender Merkmale hier außer Betracht bleiben. Vielmehr soll vor allem auf die grundsätzlichen Probleme der heutigen Tatbestandslehre hingewiesen werden. III. Der materielle Gehalt des Tatbestandsbegriffs Wird der Tatbestand als Träger des typischen Strafwürdigkeitsgehalts der jeweiligen Verbrechensart gesehen, so führt das zu der weiteren Frage, welchen 8
Puppe, Stree-Wessels-FS, 1993, S. 183 ff. Kritisch gegenüber der Auffassung von Gallas über schuldtypisierende Merkmale Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, 1957, S. 137 ff. 10 BT-Drucks 16/575, S. 7. 11 BT-Drucks 16/575, S. 7. 9
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materiellen Gehalt der Begriff des Tatbestands aufweist. Was ist so strafwürdig, dass der Gesetzgeber es in Form eines Tatbestands für grundsätzlich strafbar erklärt – vorbehaltlich des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen? Es ist klar, dass auf diese allgemeine Frage nur eine sehr abstrakte Antwort gegeben werden kann. Welzel hat sie bekanntlich dahingehend beantwortet, dass die Strafwürdigkeit jeweils mit dem Herausfallen der betreffenden Handlung aus den „geschichtlich gewordenen Ordnungen“ zusammenhänge: Die tatbestandsmäßigen Handlungen seien auf das Sozialleben bezogen, jedoch dem geordneten Sozialleben gerade unangepasst.12 Welzel entwickelt dann aus diesen Gedanken seine Lehre von der sozialen Adäquanz. Sozialadäquate Handlungen seien solche, die dem von den Tatbeständen stillschweigend vorausgesetzten „Normal“-Zustand sozialer Handlungsfreiheit entsprächen. Welzel geht sogar so weit, dass er sozialadäquate Handlungen als nicht von der Verbrechensbeschreibung im Tatbestand als erfasst ansieht: „Daher sind die oben erwähnten sozialadäquaten Handlungsweisen überhaupt keine Tötungshandlungen, Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen, missbräuchliche Vermögensbeschädigungen usf. . . . (nicht aber ,sozialadäquate‘ Tötungen, Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen usf.).“13 Auch wenn man Welzel in seiner Lehre von den sozialadäquaten Handlungen nicht in allen Punkten folgen mag, so hat sie doch den unbestreitbar richtigen Kern, dass sie in aller Deutlichkeit zeigt, dass – materiell gesehen – der Tatbestand nicht „wertfrei“ ist, wie dies Beling in seiner „Lehre vom Verbrechen“ für den Begriff des Tatbestands in Anspruch genommen hatte14. Vielmehr bedeutet die Bildung eines Tatbestands, dass der Gesetzgeber der Auffassung ist, dass die tatbestandliche Handlung und der tatbestandliche Erfolg grundsätzlich einen sozialethischen Unwert darstellen, der dann freilich ausnahmsweise bei Eingreifen eines Rechtfertigungsgrunds seinen Unwertcharakter verliert: „Töten hört, wenn in Notwehr begangen, zwar auf, verbotenes Töten, nicht aber auf, Töten zu sein.“15 Aus diesem Zusammenspiel zwischen Tatbestand und Rechtfertigungsgrund resultiert der viel zitierte Satz: „Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit“. IV. Der Streit um die sogenannten offenen Tatbestände Hinsichtlich der soeben skizzierten Tatbestandslehre bereiten seit langem einige Strafnormen Schwierigkeiten, die man meist offene Tatbestände nennt. Es geht dabei vor allem um die §§ 240, 253, 255 StGB (Nötigung, Erpressung, räuberische Erpressung). Unbestritten ist, dass in diesen Fällen bei der gerichtlichen Aburteilung – z. B. einer Nötigung – durch richterliche Wertung im Einzelfall 12 13 14 15
Welzel, Das Deutsche Strafrecht11, 1969, S. 55. Welzel, Strafrecht11 (Fn. 12), S. 57. Beling, Lehre (Fn. 3), S. 147. Gallas, ZStW 67, 1955, S. 28.
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festgestellt werden muss, ob die vom Täter geäußerten Drohungen mit einem empfindlichen Übel, die zur Handlung, Duldung oder Unterlassung geführt haben, als verwerflich anzusehen sind.16 Daran knüpft sich allerdings die Streitfrage, ob – bei Bejahung der Verwerflichkeit – danach noch sinnvoll die Frage gestellt werden könne, ob etwa ein Rechtfertigungsgrund wie beispielsweise Notwehr eingreifen könne. Hirsch bejaht das.17 Denn die generelle Verwerflichkeit könne durch den Rechtfertigungsgrund der Notwehr noch einmal konkretisiert werden. Dem ist jedoch zu widersprechen. Der Grund liegt darin, dass das Merkmal der Verwerflichkeit – wie auch Ingeborg Puppe hervorhebt18 – ein gesamttatbewertendes Merkmal ist, das nicht nochmals aufgespalten werden kann in die Bewertung als „generell verwerflich“ und „konkret verwerflich“.19 Im soeben genannten Beispiel der Rechtfertigung durch Notwehr schließt die durch die Notwehr gegebene Handlungsbefugnis die Einstufung der rechtmäßigen Abwehrhandlung als „verwerflich“ aus. Die weitere Frage, die sich aus dieser Weichenstellung ergibt, ist die, ob die sog. offenen Tatbestände bei dieser Sachlage überhaupt als Tatbestände zu bezeichnen sind. Wenn nämlich erst eine vollständige Wertung des Täterhandelns einschließlich der Berücksichtigung der „Rechtfertigungsgründe“ das Unrecht der Tat erschließt – gibt es in diesen Fällen dann eigentlich einen Unrechtstypus, der das Unrecht der betreffenden Deliktsart umschreibt? Was macht die „Deliktsart“ z. B. einer Nötigung aus? Für die Aufrechterhaltung des Begriffs eines Tatbestands und – insofern – für die Richtigkeit der oben abgelehnten Auffassung von Hirsch spricht der Umstand, dass in der Strafvorschrift gegen die Nötigung bestimmte Handlungen umschrieben werden. Auch eine Nötigung setzt ja, soll sie bestraft werden, zunächst einen im Gesetz abstrakt formulierten Lebensvorgang voraus, nämlich die Nötigung eines anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung. Diese Handlung unterscheidet sich beispielsweise von einer Diebstahls- oder Betrugshandlung oder von einer Tötung: Nicht jedes menschliche Verhalten, das verwerflich ist, ist eine Nötigung, sondern nur die nötigende Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit einem empfindlichen Übel, soweit sie erfolgreich eingesetzt wird zur Herbeiführung einer Handlung, Duldung oder Unterlassung. So gesehen, ist es formal möglich, von einem Tatbestand zu sprechen. Der Umstand, dass eine Drohung mit einem empfindlichen Übel für sich nicht unrechtsindizierend ist, weil im Sozialleben das Abnötigen eines bestimmten Verhaltens infolge der sozialen ÜbPuppe in: Nomos Kommentar zum StGB1 (NK), Vor § 13 Rn. 34. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, S. 289 ff.; ebenso Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil2, 6/62. 18 Puppe in: NK (Fn. 16), Vor § 13 Rn. 34. 19 Ebenso Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 13, 1997, § 10/45. 16 17
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lichkeit (ja Unentbehrlichkeit) sich in erheblichem Umfang innerhalb der Grenzen des Erlaubten und sogar Gebotenen bewegt, betrifft zwar die statistische Häufigkeit des erlaubten Nötigens, nicht aber den Typus des Nötigens an sich, der eben in der Veranlassung zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen durch Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel besteht. Man sieht also: Die Frage, ob man bei der Nötigung von einem Tatbestand sprechen kann, hängt davon ab, ob man dem Begriff des Tatbestands lediglich – und zwar in einem formalen und neutralen Sinne – den Inhalt eines Handlungstypus geben will, oder ob man, wie es Welzel vorschwebte, mit dem Begriff des Tatbestands zugleich in einem materiellen Sinne zum Ausdruck bringen will, dass die im Tatbestand vertypte Handlung in einem negativen Sinne sozial auffällig ist. Von diesem Zwischenergebnis aus lässt sich nun eine Brücke schlagen zu unserem Ausgangspunkt, dem „Tatbestand“ des Nachstellens. Für die Strafnorm des Nachstellens stützt der Gesetzgeber den erwähnten Hinweis in der Gesetzesbegründung, das Merkmal „unbefugt“ sei „ein zum Tatbestand gehörender Umstand“20, ausdrücklich darauf, dass die einzelnen Nummern des § 238 StGB für sich genommen nicht in einem negativen Sinne sozial auffällig seien. Er sagt: „Die unter den Nummern 1 und 2 konkretisierten Nachstellungshandlungen umfassen auch grundsätzlich sozialadäquates Verhalten.“21 Deshalb also müsse man das Merkmal „unbefugt“, damit man überhaupt von einem Unrechtsindiz sprechen könne, jeweils als weitere Beschreibung des Typus „Nachstellen“ zusätzlich prüfen. So gesehen, besteht also zwischen der Norm des Nachstellens (§ 238 StGB) und den traditionellen offenen Tatbeständen kein struktureller Unterschied. Zutreffend hebt Jakobs für die „offenen Tatbestände“ hervor, dass bei diesen „ein Verhalten nur in einem bestimmten Kontext nicht tolerierbar“ sei22, dass also beispielsweise die Androhung eines empfindlichen Übels im Sinne der Nötigung nur dann strafwürdig sei, wenn sie in einem Kontext erfolgt, der den Vorgang als „verwerflich“ erscheinen lässt. Der Kontext, der bei der Strafnorm des Nachstellens das Aufsuchen der räumlichen Nähe eines anderen usw. nicht mehr als tolerierbar erscheinen lässt, wird bei dieser Strafnorm durch das Wort „unbefugt“ gekennzeichnet. In beiden Fällen – bei den traditionellen offenen Tatbeständen und bei der Strafnorm des Nachstellens – wird aber die Tatbestandsmäßigkeit von der negativen sozialen Auffälligkeit abhängig gemacht, die nur bei Vorhandensein der „Verwerflichkeit“ bzw. der „Unbefugtheit“ anzunehmen sei.
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BT-Drucks 16/575, S. 7. BT-Drucks 16/575, S. 7. Jakobs, AT2 (Fn. 17), 6/62.
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V. Ein Lehrstück für die Problematik des Tatbestandsbegriffs: Bauen ohne die erforderliche Baugenehmigung Die Frage, ob dem Begriff des Tatbestands die negative soziale Auffälligkeit immanent ist, stellt sich nicht nur bei den soeben angesprochenen offenen Tatbeständen und bei der neuen Strafnorm des Nachstellens, sondern auch und vor allem bei solchen Tatbeständen, die das sog. verwaltungsakzessorische Unrecht betreffen. Ein Lehrstück für diese Art sanktionsbewehrten Unrechts ist die eigentlich recht unscheinbare Ordnungswidrigkeit des Bauens ohne die erforderliche Baugenehmigung. In den Bauordnungen der Länder ist das Bauen ohne Baugenehmigung, wie schon bemerkt, durchweg als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet.23 Doch ist auch die Verwirklichung einer Ordnungswidrigkeit eine rechtswidrige Handlung,24 und ganz selbstverständlich wird auch bei den Ordnungswidrigkeiten vom „Tatbestand“ gesprochen.25 Stellt man nun beim Bauen ohne die erforderliche Baugenehmigung die Frage, welche Momente hier eigentlich das tatbestandliche Unrecht darstellen26, so wird man vermutlich die Antwort erhalten, der Unrechtstypus werde durch die Errichtung des Bauwerks konstituiert und durch den negativen Umstand, dass – obwohl erforderlich – keine Baugenehmigung erteilt worden ist. Denn die Errichtung eines Bauwerks für sich genommen stelle eben noch kein typisches Unrecht dar. Aus der Sicht von Welzel ließe sich zur Begründung dieser Ansicht sagen, dass die Errichtung eines Bauwerks für sich genommen noch nicht aus der „geschichtlich gewachsenen Ordnung“ falle: Die Errichtung eines Hauses führe isoliert betrachtet bei wertender Beurteilung noch nicht zu dem Ergebnis, dass die Sozialordnung negativ betroffen sei. Das hat Konsequenzen sowohl für die Frage, unter welchen Umständen die Ordnungswidrigkeit des Bauens ohne die erforderliche Baugenehmigung vorsätzlich verwirklicht wird, als auch für die gleichsam umgekehrte Frage, welche Art von Irrtum – Tatbestandsirrtum oder Verbotsirrtum – anzunehmen ist, wenn der23
Vgl. etwa § 91 der niedersächsischen Bauordnung. § 1 OWiG: „Eine Ordnungswidrigkeit ist eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung . . .“. 25 Vgl. nur Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten2, 2005, S. 41 ff., wo der „Aufbau der Ordnungswidrigkeit“ dargestellt und betont wird, dieser Aufbau sei der gleiche wie der Aufbau der Straftat. Die erste Stufe bei diesem Aufbau sei der Tatbestand. 26 Vgl. im Sammelband Pradel/Cadoppi, Fälle und Lösungen zur Strafrechtsvergleichung (aus dem Italienischen übersetzt von Manfred Maiwald/Parastu Bahramsari), 2009, Fall Nr. 7, wo es um die Errichtung eines großen Gewächshauses geht, für das vorausgesetztermaßen eine Baugenehmigung erforderlich ist, und wo die neun zur Lösung herangezogenen europäischen Rechtsordnungen die Frage der Relevanz des Irrtums über die Erforderlichkeit einer solchen Baugenehmigung klären sollen. 24
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jenige, der einen bestimmten Bau errichtet, irrtümlich glaubt, für dieses konkrete Bauwerk sei – aus welchen Gründen auch immer – keine Baugenehmigung erforderlich. Nimmt man an, das vorsätzliche Bauen ohne die erforderliche Genehmigung setze die Kenntnis oder das Fürmöglichhalten der beiden Umstände voraus, dass eine Baugenehmigung erforderlich sei, aber nicht vorliege, so würde eine etwaige irrige Annahme eines Bauherren, er bedürfe für sein Vorhaben keiner Baugenehmigung, zum Tatbestandsirrtum und damit zum Ausschluss des Vorsatzes führen, wenn er – guten Gewissens – sein Vorhaben verwirklicht. Würde man hingegen erklären, schon das Bauen an sich bilde einen Unrechtstypus, und der Erhalt einer etwa erforderlichen Baugenehmigung bilde für die Vornahme der Handlung einen Rechtfertigungsgrund, so wäre die Unkenntnis des Erfordernisses einer Baugenehmigung für das konkrete Bauvorhaben ein Verbotsirrtum.27 Was also macht den Unrechtstypus des Bauens ohne Baugenehmigung aus? Praktisch werden würde diese Frage vor allem dann, wenn das fahrlässige Bauen ohne die erforderliche Baugenehmigung sanktionslos wäre. Denn dann würde die Annahme eines Tatbestandsirrtums im geschilderten Fall ohne weiteres für den Bauherrn bedeuten, dass er kein Bußgeld zu zahlen hätte, während die Annahme eines Verbotsirrtums zu dem weiteren Erfordernis führt, die Vermeidbarkeit des Irrtums für den Bauherrn zu prüfen; würde die Vermeidbarkeit bejaht, so wäre eine Sanktion möglich. Freilich ist das fahrlässige Bauen ohne die erforderliche Baugenehmigung nach der tatsächlichen Gesetzeslage nicht sanktionslos. Die Bauordnungen der Länder verwenden in den einschlägigen Ordnungswidrigkeitsnormen durchweg die schematische Formulierung: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig . . .“ 28 Demgemäß dürfte bei der irrtümlichen, aber hinsichtlich des Irrtums vermeidbaren Annahme eines Bauherren, er bedürfe für sein konkretes Bauvorhaben keiner Baugenehmigung, das Resultat nicht wesentlich verschieden ausfallen: Sowohl bei der Annahme eines Verbotsirrtums als auch bei Annahme eines Tatbestandsirrtums wäre sein Verhalten bei Vermeidbarkeit des Irrtums zu ahnden. Und ist sein Irrtum unvermeidbar, beispielsweise weil er von der zuständigen Behörde eine unrichtige Auskunft erhalten hat29, so wäre er sowohl bei Annahme eines Verbotsirrtums als auch bei Annahme eines Tatbestandsirrtums sanktionslos – jedenfalls dann, wenn man die Unvermeidbarkeit des Irrtums mit dem Ausschluss von Fahrlässigkeit gleichsetzt. 27 Im soeben in Fn. 26 genannten Fall war dem Bauherrn von der zuständigen Behörde die objektiv unrichtige Auskunft erteilt worden, er benötige keine Baugenehmigung für sein Gewächshaus. 28 Vgl. z. B. § 91 der niedersächsischen Bauordnung. 29 So war die vorausgesetzte tatsächliche Konstellation in dem in Fn. 26 dargestellten Fall.
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Aber es bleibt die Frage: Was macht den Unrechtstypus des Bauens ohne die erforderliche Baugenehmigung aus? Wenig überzeugend wäre die Antwort, der Typus würde durch den Umstand an sich gebildet, dass ein Bürger eine Handlung – welcher Art auch immer – vornimmt, für die durch die Gesetze eine Genehmigung als erforderlich statuiert ist, für die er aber diese Genehmigung nicht besitze. Denn bei dieser Antwort würde der Unrechtstypus in der gewissermaßen amorphen Situation der abstrakten Verwaltungswidrigkeit liegen – ohne Rücksicht darauf, welcher Lebenssachverhalt in concreto der betreffenden verwaltungsrechtlichen Regelung unterliegt. Überzeugend ist allein die oben erwähnte Ansicht, dass zwar nicht das Bauen für sich genommen, sondern das Bauen ohne Zustimmung der für das Bauen gesetzlich vorgesehenen Kontrollinstanz den Unrechtstypus des Tatbestands „Bauen ohne die erforderliche Baugenehmigung“ bildet. Rechtfertigungsgründe, die dieses typische Unrecht ausnahmsweise als erlaubtes Handeln erscheinen lassen könnten – man denke an Notwehr, Notstand – sind zwar theoretisch, aber selten praktisch vorstellbar. Die Analyse dieses für die Praxis gewiss nicht besonders fernliegenden „Tatbestands“ des Bauens ohne die erforderliche Baugenehmigung dürfte erneut gezeigt haben, wie schwankend die Verwendung des Begriffs des „Tatbestands“ in Normen geworden ist, die nicht zu den „klassischen“ Normen gehören, die Beling vorschwebten, als er diesen Begriff schuf. VI. Die verwaltungsakzessorischen Umweltstraftaten Die soeben für die Ordnungswidrigkeit des Bauens ohne die erforderliche Baugenehmigung angestellten Überlegungen zum Unrechtstypus haben ihre besondere Bedeutung auch für die Straftaten des Umweltstrafrechts. Diese Normen verwenden, um ihre Verwaltungsakzessorietät zum Ausdruck zu bringen, in vielfältiger Weise Formulierungen wie „unbefugt“, „unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Vorschriften“, „entgegen einer Rechtsvorschrift“, „ohne die erforderliche Genehmigung“ usw.30 Hinsichtlich solcher Merkmale besteht durchgehend die Unsicherheit, ob sie schon zur Charakterisierung des jeweiligen Unrechtstypus gehören, oder ob sie – nach der häufig verwendeten Formulierung – etwa nur die Funktion haben, auf das mögliche Eingreifen von Rechtfertigungsgründen besonders hinzuweisen. Bekanntlich wird bei den Umweltdelikten die Lage differenziert gesehen. Ein Teil dieser Formulierungen wird den Tatbestandsmerkmalen zugerechnet, einem anderen Teil wird die erwähnte bloße Hinweisfunktion zugeschrieben. Letzteres
30 Solche Formulierungen des Umweltstrafrechts sind zusammengestellt bei Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 29, 2005, § 58 Rn. 7.
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gilt beispielsweise nach h. L. für das Merkmal „unbefugt“ im Zusammenhang mit der Gewässerverunreinigung (§ 324 StGB): Diesem Merkmal sei bei der Gewässerverunreinigung die Funktion eines allgemeinen Verbrechensmerkmals der Rechtswidrigkeit zuzuerkennen.31 Hinsichtlich der Gewässerverunreinigung wird also der Unrechtstypus in der Verunreinigung des Gewässers an sich gesehen – eine etwaige verwaltungsrechtliche Gestattung kann dann nur einen Rechtfertigungsgrund darstellen. Andererseits soll bei dem Delikt der Bodenverunreinigung (§ 324a StGB) und bei anderen Umweltdelikten, die auf die „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ o. ä. abstellen, die Bodenverunreinigung oder die jeweils genannte Umweltbeeinträchtigung an sich gerade nicht als Unrechtsypus aufgefasst werden. Erst wenn zusätzlich zur Verunreinigung des Bodens oder zur jeweiligen sonstigen Umweltbeeinträchtigung die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten konstatiert werden könne, sei der jeweilige Unrechtstypus gegeben.32 Im Hinblick auf die Strafnorm der Bodenverunreinigung ist also danach noch kein Unrechtsindiz dadurch geschaffen, dass jemand Stoffe in den Boden einbringt und damit die Möglichkeit – nach dem Wortlaut der Strafnorm: Die „Eignung“ – schafft, dass die Gesundheit anderer geschädigt wird. Und weiterhin lässt der Wortlaut erkennen, dass es möglich ist, dass die Verwaltungsbehörde derartige Gesundheitsgefährdungen ausdrücklich rechtswirksam erlaubt – denn eine Bodenverunreinigung ohne Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten soll ja tatbestandslos sein, also nicht im negativen Sinne sozial auffällig. Dass dies nicht sehr überzeugend ist, liegt auf der Hand. Doch soll dies auf sich beruhen. Als Ergebnis des kurzen Blicks auf das Umweltstrafrecht soll im Hinblick auf die heutige Entwicklung der Tatbestandslehre vielmehr nur folgendes festgehalten werden: Die Anbindung solcher Gefährdungsdelikte an das Verwaltungsrecht schafft erhebliche Unsicherheiten darüber, ob eigentlich die Gefährdung selbst den Unrechtstypus bildet, oder ob der Typus in der Unerlaubtheit einer Gefährdung liegt, mag letztere konkret oder abstrakt sein. Die Unsicherheit resultiert letzten Endes aus dem Umstand, dass einerseits sich in der modernen Gesellschaft vor allem infolge des technischen Fortschritts die Möglichkeiten des schädlichen Einwirkens auf die natürlichen Ressourcen und letzten Endes auf die menschliche Gesundheit und das menschliche Leben in früher nicht gekanntem Ausmaß auch in ihrer Intensität erweitert haben, so dass es schwerfällt, solche schädlichen Einwirkungen als sozial unauffällig und damit tatbestandslos anzuse31 Cramer/Heine in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, Vor §§ 324 ff. Rn. 14; HKGS/Hartmann, 2008, § 324 Rn. 22; Heghmanns, Grundzüge einer Dogmatik der Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder Verwaltungshandeln, 2000, S. 177, sieht das Merkmal „unbefugt“ in § 324 StGB dagegen als Tatbestandsmerkmal an. 32 Cramer/Heine in: Schönke/Schröder27 (Fn. 31), Vor §§ 324 ff. Rn. 14; NK3 /Ransiek, 2010, Vor §§ 324 ff. Rn. 10.
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hen. Andererseits werden solche Gefährdungen in gewissem Umfang als natürliches Lebensrisiko und hinzunehmende Beeinträchtigung angesehen. Wieviel in dieser Hinsicht „hinzunehmen“ ist, wird, damit die Gefährdungen nicht außer Kontrolle geraten, für die Allgemeinheit unter Abwägung gegen die Vorteile auch wirtschaftlicher Art, die der technische Fortschritt auf der anderen Seite bietet, im Wege eines mehr oder minder vorhandenen gesellschaftlichen Konsenses, der sich in Rechtvorschriften und letzten Endes in behördlichen Anordnungen und Erlaubnissen und Verboten äußert, verbindlich festgelegt. Diese Festlegung stellt zugleich das dar, was man als erlaubtes Risiko zu bezeichnen pflegt, und sie führt stets zu der uns hier interessierenden Fragestellung, ob die jeweilige tatbestandliche Handlung in der Nichtbeachtung dieser Festlegung zu sehen ist oder aber in dem zugrunde liegenden Geschehen, nämlich der Güterverletzung oder -gefährdung an sich. VII. Der „Tatbestand“ bei Delikten des Individualgüterschutzes Die Problematik des Begriffs „unbefugt“, der bei einem Teil der Umweltstraftaten die Verwaltungsakzessorietät bezeichnet, ist aber nicht nur mit den Umweltdelikten verbunden, sondern auch mit Delikten, die Individualrechtsgüter schützen. Außer dem „Nachstellen“, das den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildete, sei insofern noch auf den fünfzehnten Abschnitt des StGB hingewiesen, der die Überschrift trägt „Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs“ und die Paragraphen 201 bis 206 enthält. Jeder dieser Paragraphen (bis auf § 205 StGB, der den Strafantrag regelt) enthält die Formulierung „Wer unbefugt . . .“. Hier besteht die Streitfrage darin, ob das Merkmal „unbefugt“ nur ein Hinweis auf das mögliche Eingreifen von Rechtfertigungsgründen ist, oder ob dieses Merkmal eine Doppelfunktion aufweist derart, dass diejenige Befugnis, die aus einer Einwilligung herrührt, den Tatbestand ausschließt, andere, aus anderen Wertgesichtspunkten resultierende Befugnisse aber einen Rechtfertigungsgrund darstellen.33 Am Beispiel des § 201 StGB (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes) gezeigt: Ist der Tatbestand dieses Vergehens erfüllt, wenn jemand nichtöffentliche Erklärungen eines anderen mit dessen Zustimmung auf einen Tonträger aufnimmt?34 Der Sache nach ist das Problem der Relevanz der Einwilligung bei Delikten gegen Individualrechtsgüter keineswegs so neu wie die Existenz des § 201 StGB. Seit der Schrift von Hermann Bruns „Kritik der Lehre vom Tatbestand“ aus dem Jahre 1932 wird diskutiert, ob nicht auch bei den „klassischen“ Delikten dieser 33 Vgl. Maiwald, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 110, 2009, § 29 Rn. 13; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB27 (Fn. 31), § 201 Rn. 13 f. 34 Verneint bei Maiwald, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-I10 (Fn. 33), § 29 Rn. 70.
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Art – beispielsweise Sachbeschädigung, Körperverletzung – die Einwilligung schon den Tatbestand ausschließt und nicht erst als Rechtfertigungsgrund fungiert.35 Der Streit dauert bis auf den heutigen Tag an. Sowohl bei der Analyse des Merkmals „unbefugt“ in den Delikten des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs als auch bei diesen „klassischen“ Delikten ist also der Umfang dessen, was man Tatbestand zu nennen pflegt, ungeklärt. VIII. Schlussbemerkung Man sieht: Will man gemäß der scheinbar so festgefügten Trias „Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld“ im Einzelfall prüfen, ob ein „Tatbestand erfüllt“ ist, so gerät man bei einer Vielzahl von Strafnormen (und, wie gezeigt, z. B. auch bei der Ordnungswidrigkeit des Bauens ohne die erforderliche Baugenehmigung) in erhebliche Schwierigkeiten. Dies ist bisher noch kaum als allgemeines Problem der Tatbestandslehre wahrgenommen worden. Wenn also in den meisten heutigen Lehrbüchern des Strafrechts dargelegt wird, die Bewertung eines Geschehens habe im Strafrecht zwei Stufen zu durchlaufen, nämlich die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens und die Feststellung des Nichteingreifens von Rechtfertigungsgründen, so ist dies bei näherem Hinsehen hinsichtlich der ersten Stufe ein Operieren mit einer Unbekannten. Will man den von Beling für die Strafrechtssystematik „entdeckten“ Begriff des Tatbestands als kategorialen Begriff beibehalten, so bedarf es angesichts der heute im Strafgesetzbuch und auch außerhalb davon vorhandenen Strafnormen einer Neubesinnung auf die Frage, was eigentlich genau gemeint ist, wenn man von einem Tatbestand spricht.
35 Dazu Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970, S. 102 ff., zum heutigen Streitstand Roxin, AT-I3 (Fn. 19), § 13 Rn. 1 ff.
Die Struktur der mittelbaren Täterschaft Von Juan Pablo Mañalich R. Der mittelbare Täter begeht keine Ausführungshandlung, wäre doch sonst jede begriffliche Scheidung ad absurdum geführt. Der mittelbare Täter ist aber gleichwohl Täter. Die Tätereigenschaft beruht [. . .] keineswegs auf einer descriptiven Erkenntnis, sonder auf einer Wertung. Es wird also der Verantwortliche festgestellt, er hat die Tat nicht ausgeführt, sie wird ihm aber zugerechnet. Wenn von seiner „Tat“ die Rede ist, so ist dies im normativen Sinn zu verstehen, die Tat, für die er verantwortlich ist.1
In dieser frühen Stellungnahme Andreas Weidenkopfs drückt sich eine bestimmte Konzeption der sog. mittelbaren Täterschaft aus, deren Grundzüge im Folgenden dargestellt seien, die grundsätzlich abweichend sind von den durch die gegenwärtig noch herrschende Tatherrschaftslehre postulierten Kriterien. Hierzu ist es aber zunächst erforderlich, die besondere Bedeutung der Täterschaft als Modalität deliktischer Beteiligung an der Straftat wie auch die genaue Stellung der mittelbaren Täterschaft als Täterschaftsform aufzuzeigen. I. Täterschaft und Teilnahme als Formen von strafrechtlicher Pflichtverletzung Die unterschiedlichen Formen von deliktischer Beteiligung an der Straftat stellen die Weisen dar, in denen eine bestimmte Tatbestandsverwirklichung zugerechnet werden kann, wenn sich mehrere Personen daran beteiligt haben. „Beteiligung“ macht deshalb eine Zurechnungskategorie aus, wonach sich die unterschiedlichen Beteiligungsformen als Zurechnungstypen konzipieren lassen.2 Die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme ergibt sich dann aus der Differenzierung von zwei Arten strafrechtlicher Pflichtverletzung, die ein ent1 Weidenkopf, Anstiftung oder Urheberschaft?, Diss. Freiburg 1930, S. 47, der freilich eine einheitliche Auffassung der Täterschaft de lege ferenda vorschlug, wonach Täter sei, „wem die Tat unmittelbar zuzurechnen ist“, was sowohl die unmittelbare wie auch die mittelbare Täterschaft umfasse (S. 57 ff., 66 ff.). Dies ändert jedoch nichts daran, dass Weidenkopf die Unterscheidung zwischen eigenhändiger Begehung und Begehung durch fremde Herbeiführung jedenfalls für unverzichtbar hielt (vgl. S. 60). 2 Grundlegend hierzu Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 293 ff.; Kindhäuser, NStZ 1997, S. 273 ff.; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 80 ff. Vgl. auch Maiwald, Aspekte der Einheitslösung, in: Kaufmann et al. (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 343 (353 ff.).
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sprechendes Handlungsunrecht begründen. „Täterschaft“ bezeichnet die Zurechnung eines normwidrigen Verhaltens (bzw. des unmittelbaren Ansetzens zu normwidrigem Verhalten) als eigene Tat wegen der Verletzung einer primären Pflicht, wonach dem Täter das Verhalten als Gegenstand primärer Verantwortung zugeschrieben wird; „Teilnahme“ bezeichnet demgegenüber die Zurechnung eines normwidrigen Verhaltens als fremde Tat wegen der Verletzung einer sekundären Pflicht, nämlich der Pflicht, die primäre Pflichtverletzung des Täters nicht zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Die Frage nach der dogmatischen Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme betrifft also die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Zuständigkeitsbereichen hinsichtlich der Vermeidung einer bestimmten Tatbestandsverwirklichung. Die Verwirklichung des Deliktstatbestands einer bestimmten Sanktionsnorm findet nun statt durch ein Verhalten, das der entsprechenden Verbotsbzw. Gebotsnorm widerspricht. Die normwidrige Tat lässt sich deshalb nur dem Täter als eigene Tat zurechnen. Die Merkmale der Normwidrigkeit der jeweils zuzurechnenden Tat bestimmen also nicht die entsprechende Form der Zurechnung, abgesehen von denjenigen Normen, die als Adressaten nur Personen haben, bei denen eine bestimmte Eigenschaft vorliegt – also Normen, deren zurechenbarer Bruch ein (echtes) Sonderdelikt darstellt –,3 wie auch von denjenigen Normen, bei denen die rechtliche Unzulässigkeit des zuzurechnenden Verhaltens dessen eigenhändige Ausführung voraussetzt – also Normen, deren zurechenbarer Bruch ein eigenhändiges Delikt konstituiert.4 In diesen zwei Bereichen geht es daher ausnahmsweise um Handlungsbeschreibungen, die nicht „subjektiv fungibel“ sind, womit die Möglichkeit einer „Selbstvertretung in der Handlung“ ausscheidet.5 Dass die Normwidrigkeit einer Tat prinzipiell eine zurechnungsneutrale Kategorie ist, heißt jedoch nicht, dass die Fragen der Zurechenbarkeit der Tat als eigene oder als fremde keine pragmatischen Folgerungen haben müssen für die Feststellung ihrer Normwidrigkeit. Denn pragmatisch betrachtet sind die strafrechtlichen Verhaltensnormen Verpflichtungsgründe für die Unterlassung (bei Verboten) oder Ausführung (bei Geboten) von Haupthandlungen.6 Daher hängt 3 Kindhäuser, NStZ 1997, S. 273 (274); ders., Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft, in: Bohnert et al. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 627 (650 f.). 4 Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 82 ff. Vgl. auch Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 33 f. Bereits Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. I, 1915, S. 265 ff. 5 Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 270. 6 Kindhäuser, NStZ 1997, S. 273 (274); auch ders., Hollerbach-FS (Fn. 3), S. 627 (638 ff.); Vogel, Unterlassungsdelikte (Fn. 2), S. 74. Zur analytischen Unterscheidung zwischen Haupt- und Hilfshandlungen von Wright, Handlung, Norm und Intention, 1977, S. 56 ff.
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die Relevanz der Frage nach der Normwidrigkeit eines Verhaltens davon ab, dass dieses jemandem als eigenes Handeln zugerechnet werden kann. Diese Aussage gilt nun als pragmatische Reformulierung des Satzes, wonach die sog. applicatio legis ad factum – also die Subsumierung einer Tat unter den Gehalt einer Verhaltensnorm – schon die imputatio facti voraussetzt.7 Als Täter kann nur derjenige in Betracht kommen, der situativ in der Lage war, die jeweilige Tatbestandsverwirklichung pflichtgemäß zu vermeiden, wofür jedoch eine faktische „Herrschaft“ des Geschehens ohne Belang bleiben muss: Es geht stets um eine irreduzible Frage der Verhaltenszurechnung.8 Demgegenüber lässt sich die Beteiligung eines Teilnehmers, wie sie das Akzessorietätsprinzip zur Sprache bringt, allein als eine durch die Ausführung bzw. Unterlassung einer Hilfshandlung konstituierte sekundäre Pflichtverletzung verstehen, welche die Verwirklichung des Deliktstatbestands durch die Ausführung bzw. Unterlassung einer Haupthandlung des Täters (bzw. der Mittäter) ermöglicht oder erleichtert. Deswegen stellt die Frage, ob jede Verhaltensweise, die als Beteiligungsform in Betracht kommen kann, unmittelbar unter den Gehalt der Norm eines sog. reinen Erfolgsdelikts deswegen zu subsumieren sei, weil sie kausale Relevanz für die Tatbestandsverwirklichung haben mag, einen Kategorienfehler dar.9 Denn bloße Ursächlichkeit bietet noch kein relevantes Kriterium für Handlungszuschreibungen.10 Im Bereich reiner Erfolgsdelikte bedeutet dies nur, dass die Bejahung von Täterschaft nicht davon abhängt, ob jemand irgendwelche ursächlich relevanten Bedingungen eines Erfolgs gesetzt hat, sondern vielmehr davon, wem die kausale Herbeiführung des Erfolgs, als Haupthandlung gedeutet, als eigene pflichtwidrige Tat zugerechnet werden kann. Und dies heißt: Verursachung kann auch kein Kriterium für strafrechtliche Täterschaft sein.11 II. Die konstitutive Funktion der mittelbaren Täterschaft Die sog. unmittelbare Täterschaft stellt die evidentere Form strafrechtlicher Täterschaft dar. Darin liegt eben der Grund für das „Erstgeburtsrecht“ der unmit7
Vgl. nur Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 30 ff. Treffend Haas, ZStW 119 (2007), S. 519 (523 ff.). 9 Vgl. bereits Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 74 ff. 10 Hierzu Kindhäuser, Intentionale Handlung, 1980, S. 93 ff. Siehe auch ders., Gefährdung als Straftat, 1989, S. 83 f. Aus einer unterschiedlichen handlungstheoretischen Perspektive ebenso Davidson, Handlung und Ereignis, 1985, S. 73 ff.: Kausale Beziehungen können ohnehin dazu führen, dass einer bestimmte Handlung mit Bezug auf ihre kausale Folgen eine neue Beschreibung – im Sinne eines sog. Akkordeoneffekts – zukommt; zu der Frage aber, ob jemandem ein bestimmtes atomisches Ereignis als „elementare“ Handlung zugeschrieben werden kann, trägt der Kausalitätsbegriff nichts bei. 11 Bereits Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 270 ff. 8
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telbaren eigenhändigen Tatbegehung.12 Denn die Bejahung einer unmittelbaren Täterschaft hängt allein davon ab, ob der Person, durch deren unmittelbares Verhalten der Deliktstatbestand verwirklicht wird, diese Tatbestandsverwirklichung (definitiv) zurechenbar ist. Dies besagt freilich nicht, dass die Begründung einer unmittelbaren Täterschaft keine Zurechnungsfrage sei. Vielmehr geht es darum, dass die unmittelbare Täterschaft keine weiteren Zurechnungskriterien erforderlich macht als die allgemeinen Kriterien, worauf die Bejahung eines von einem bestimmten Verhalten prädizierbaren schuldhaften Unrechts beruht. Der Aspekt der Begründung und Abgrenzung von Zuständigkeit für die Vermeidung ein und derselben Tatbestandsverwirklichung wird nun besonders erkennbar bei der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft. Denn beide Täterschaftsformen ermöglichen die Zurechnung eines prima facie fremden Verhaltens als eigenes pflichtwidriges Handeln,13 so dass den entsprechenden Kriterien eine echte konstitutive – und keine bloß deklaratorische – Funktion zukommt.14 Ohne solche (explizite oder implizite) Kriterien wäre die uni- (wie bei der mittelbaren Täterschaft) oder multidirektionale (wie bei der Mittäterschaft) Zuschreibung eines prima facie fremden Verhaltens als eigene Tat unmöglich.15 Hinsichtlich der mittelbaren Täterschaft ist diese These jedoch ganz umstritten. Denn es besteht auch die Meinung, dass der Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Täterschaft rein phänomenisch und deshalb normativ irrelevant sei.16 Beispielhaft: A täuscht den B, indem A sagt, B solle seine neue Jagdwaffe dadurch ausprobieren, dass B auf einen Vogelscheuche schießt, welche eigentlich C, ein lebender Mensch ist, der folglich stirbt. Nimmt man nun eine vermeintliche strukturelle Äquivalenz zwischen mittelbarer und unmittelbarer Täterschaft an, dann sollte die Zurechenbarkeit der Verursachung des Todes des C zu A keine andere Begründung haben, als wenn A selber geschossen hätte. Das Argument dafür könnte nur lauten, A habe ebenfalls den C getötet. Dies verkennt aber die begrifflichen Feinheiten der betreffenden dogmatischen Kategorien. Die Zurechnungsstruktur der mittelbaren Täterschaft lässt sich im Sinne der Widerlegung einer materialistischen bzw. „naturalistischen“ Hypothese erklären, nämlich dass ein Verhalten derjenigen Person als eigenes Handeln zuzuschreiben ist, deren Körperbewegung dem als Handeln interpretierbaren Verhalten ent12 So Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung des Anderen, 1986, S. 73. In diesem Sinne bereits Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 261 ff. 13 Bloy, GA 1996, S. 424 (437 f.). 14 Siehe aber NK2-Schild, 2005, § 25 Rn. 12, 63, 84. 15 Renzikowski, Täterbegriff (Fn. 4), S. 71 f., 101 f.; SK7-Hoyer, Vor § 25 Rn. 14 f. Vgl. auch Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil5, 2005, § 20/42, 100. 16 Vgl. nur Herzberg, Der Versuch, die Straftat durch einen anderen zu begehen, in: Schünemann et al. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 749 (751 f.).
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spricht.17 Denn die Selbstidentifizierung dessen, was durch den eigenen Körper geschieht, stellt den Standardfall von Handlungszuschreibung dar.18 Die vorläufige Annahme personaler Verantwortung wegen Eigenhändigkeit beruht somit auf der räumlichen Dimension personaler Verantwortung, wonach der Körper einer Person als ihr unmittelbarster Verantwortungsbereich überhaupt anzusehen ist.19 Für die mittelbare Täterschaft ist somit entscheidend, dass aus Sicht derjenigen Beschreibung, die sich auf dasVerhalten des Vordermanns als Gegenstand strafrechtlicher Zurechnung zum mittelbaren Täter bezieht, dieses Verhalten dem unmittelbar Handelnden als schuldhafte Pflichtverletzung nicht völlig zurechenbar sein darf, und zwar nach Maßgabe derselben Zurechnungskriterien, auf denen die Verantwortung des mittelbaren Täters beruht.20 Zugleich ist aber die Voraussetzung unverzichtbar, dass das „Werkzeug“ ebenfalls ein handelndes sein muss, um die Zurechnung seines Handelns zum Hintermann als mittelbare Täterschaft kennzeichnen zu können. Das wesentliche Merkmal der mittelbaren Täterschaft liegt also nicht einfach darin, dass die Tatbestandsverwirklichung durch ein menschliches Werkzeug stattfindet, sondern vielmehr darin, dass sie durch ein handelndes Werkzeug vermittelt ist,21 und zwar genau in dem Sinne, dass der Vordermann die Verantwortung für das Geschehen potenziell tragen könnte, hätte er ohne den jeweiligen Verantwortungsmangel gehandelt. Der Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Täterschaft lässt sich deswegen nicht bloß phänomenologisch konstruieren,22 sondern ihm liegt vielmehr die Logik der Handlungszuschreibungen zugrunde. Dies sollte nun Konsequenzen haben für die Bestimmung des Versuchsbeginns bei der mittelbaren 17 Die Erforderlichkeit einer möglichen Interpretation der Körperbewegung als Handlung unter irgendeiner Beschreibung folgt daraus, dass sonst ihre Zuschreibung zur betreffenden Person absolut ausgeschlossen wäre. 18 Vgl. nur Frankfurt, The Importance of What We Care About, 1988, S. 58 f.; ders., Taking Ourselves Seriously & Getting It Right, 2006, S. 8 f. Mit näherem Bezug auf strafrechtliche Zurechnung Hruschka, Strukturen (Fn. 7), S. 15 f. 19 Dan-Cohen, Harvard Law Rev. 105 (1992), S. 977 ff. 20 Hierzu Kindhäuser, Betrug als vertypte mittelbare Täterschaft, in: Schulz, Vormbaum (Hrsg.), Festschrift für Günter Bemmann, 1997, S. 339 (341 ff.). 21 Vgl. nur Bloy, GA 1996, S. 424 (437 f.); Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978, S. 54 f.; ders., JZ 1983, S. 361 (368 f.); Küpper, GA 1998, S. 515 (519 f.); Spendel, Der „Täter hinter dem Täter“ – eine notwendige Rechtsfigur?, in: Warda et al. (Hrsg.), Festschrift für Richard Lange, 1976, S. 147 (149 f.). Umfassend zu den Konstellationen von Identität von Opfer und Werkzeug Fuhrmann, Das Begehen der Straftat gem. § 25 Abs. 1 StGB, 2004, S. 50 ff. Vgl. hiergegen aber Wolf, Gestufte Täterschaft. Zur Lehre vom „Täter hinter dem Täter“, in: Hoyer et al. (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, 2006, S. 427 f.: „Handeln ,durch einen anderen‘ (,mittelbare Täterschaft‘) gibt es nicht“, der freilich die ganze Täterschaftslehre auf eine Kausalitätsfrage reduzieren will (S. 421 ff.). 22 So aber NK-Schild (Fn. 14), § 25 Rn. 30.
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Täterschaft. Hierbei konkurrieren zwei grundlegende Lösungsmodelle: die sog. Gesamtlösung und die sog. Einzellösung, welche allerdings eine „strenge“ und eine „modifizierte“ Version kennt. Nach der Gesamtlösung ist der Versuchsbeginn des mittelbaren Täters mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Tatausführung durch den Vordermann identisch.23 Demgegenüber besteht der Versuchsbeginn nach der „strengen“ Einzellösung im unmittelbaren Ansetzen des Hintermanns zur Einwirkung auf den Vordermann, wodurch der erste die Instrumentalisierung des zweiten begründet,24 während es nach der „modifizierten“ Einzellösung auf den Zeitpunkt ankommt, in dem der Hintermann durch seine Einwirkung auf den Vordermann das Geschehen aus der Hand gegeben hat.25 Die Einzellösung korrespondiert im Grunde mit dem Versuch, die mittelbare auf die unmittelbare Täterschaft zu reduzieren. Veranschaulicht an dem bereits gestellten Beispielsfall: Bereits durch die Täuschung des A, welche zu einer falschen Vorstellung des B über die faktische Lage führt, wäre der Beginn des Tötungsversuches gegeben, ganz unabhängig davon, ob B wirklich zur Tatausführung ansetzt. Favorisiert man hingegen die These einer differenzierten Handlungsstruktur der mittelbaren gegenüber der unmittelbaren Täterschaft, so ist die Richtigkeit der Gesamtlösung entsprechend festzuhalten. Denn wie Weidenkopf bemerkte, vollzieht der mittelbare Täter „keine Ausführungshandlung“. Deshalb lässt sich im Hinblick auf den Beispielsfall sagen, dass der Beginn eines Tötungsversuchs erst dann vorliegt, wenn B unmittelbar dazu angesetzt hat, mit der Waffe auf den (von ihm nicht erkannten) C zu schießen. Und dies gerade deswegen, weil der Zurechnungsstruktur der mittelbaren Täterschaft gemäß es der vom Vordermann vollzogene Schuss mit der Waffe ist, der dem Hintermann als eigenes Handeln zugerechnet wird. III. Die Relativität der Handlungszuschreibungen Aus der bisherigen Analyse ergibt sich nun eine mögliche Erklärung für Bindings Unzufriedenheit mit dem Begriff der „mittelbaren Täterschaft“, die allerdings seine Beibehaltung rechtfertigen kann. Wird die mittelbare Täterschaft unter einem strikten Selbstverantwortungsparadigma aufgefasst, so scheint die Rede über eine mittelbare Täterschaft widersprüchlich zu sein; in den Worten Bindings: „[. . .] die Ausdrucksweise ist schlecht, weil der mittelbare den unmittelbaren Täter logisch verlangt, das schuldlose menschliche Werkzeug aber zur kriminellen Täterschaft nicht taugt“.26 Der Schlüssel zur Überwindung des vermeint23 Vgl. nur Küper, JZ 1983, S. 361 ff.; bereits Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 275. 24 Vgl. nur Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. II, 2005, § 35/44 ff. 25 Vgl. nur Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II, 2003, § 29/244 ff.
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lich problematischen Charakters dieser Ausdrucksweise lässt sich aber gerade darin finden, dass die Zurechnung des Verhaltens des Vordermanns als eigene Handlung zum Hintermann auf der Relativität von Handlungszuschreibungen beruht.27 Die mittelbare Täterschaft des Hintermanns setzt die vorläufige Zuschreibung des jeweiligen Verhaltens zum unmittelbar handelnden Vordermann voraus. Dies gründet darauf, dass alle Konstellationen von mittelbarer Täterschaft präsupponieren, dass eine (wahre) Beschreibung des (definitiv) dem Hintermann zuzurechnenden Verhaltens besteht, wonach es noch als Handlung des Vordermanns interpretierbar sein muss. Die Beschreibung muss sich also auf ein intentional vermeidbares Verhalten des Vordermanns beziehen.28 Angewendet auf unseren Beispielsfall: Die Unfähigkeit des Vordermanns, die Verwirklichung des Tötungstatbestands intentional zu vermeiden, die auf seiner Verwechslung des getroffenen Menschen mit einem Vogelscheuche gründet, ist relativ zur (wahren) Beschreibung seines Verhaltens als Schießen mit einer Waffe, wodurch der Tod eines anderen Menschen verursacht wird. Damit besteht aber eine alternative und ebenso wahre Beschreibung, wonach sein Verhalten intentional vermeidbar war, nämlich als Schießen mit einer Waffe. Dennoch verlangt die Bejahung einer mittelbaren Täterschaft, dass trotz dieser vorläufigen Zuschreibung von Urheberschaft dem unmittelbar handelnden Vordermann sein Verhalten nicht als schuldhafte Pflichtverletzung (völlig) zurechenbar ist. Denn sonst wäre er als (voll verantwortlicher) unmittelbarer Täter beschreibbar, für dessen Tat keine weitere Person (primär) verantwortlich gemacht werden könnte. Also: Die mittelbare Täterschaft des Hintermanns hängt davon ab, ob dieser primär zuständig für ein als Handlung deutbares, jedoch (strafrechtlich) verantwortungsdefizitäres Verhalten des Vordermanns ist. Diese Betrachtung spricht nun dafür, dass keine mittelbare Täterschaft in Betracht kommt, wenn jede mögliche Zuschreibung des Geschehens als Handlung – also als intentional vermeidbares Verhalten – zum „Vordermann“ von Anfang an ausgeschlossen ist. Dies ist etwa der Fall, wenn A den B bewusstlos schlägt, so 26 Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 264. Auch ders., Grundriss des deutschen Strafrechts Allgemeiner Teil7 1913, S. 146. Ähnlich Weidenkopf (Fn. 1), S. 68: „Sprachlich ist die mittelbare Täterschaft verfehlt deshalb, weil die Wendung ,mittelbarer Täter sein‘ dem richtigen Gebrauch dieser Wörter nach gleichbedeutend sein müßte mit ,durch das Mittel fremder Tat Täter sein‘“. 27 Vgl. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 505: „Die mittelbare Täterschaft wird durch die Endlichkeit und Relativität der äußeren Tatmacht bzw. der Einsicht in ihre Bedingungen ermöglicht“, der freilich eine viel restriktivere Auffassung der mittelbaren Täterschaft vertritt. Hierzu ferner Lampe, ZStW 119 (2007), S. 471, der die Notwendigkeit des Bestehens der (relativen) Handlungsfähigkeit des Werkzeugs betont. 28 Vgl. nur Kindhäuser, Handlung (Fn. 10), S. 156 ff.; ders., Gefährdung (Fn. 10), S. 52.
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dass es diesem als Garant unmöglich ist, sein ertrinkendes Kind zu retten. Hier ist dem A die Verursachung des Todes des Kindes im Sinne einer unmittelbaren Täterschaft zurechenbar, da B aufgrund der vis absoluta „absolut“ – also: im Hinblick auf jede mögliche Beschreibung – unfähig war,29 sein Kind zu retten.30 Erst durch die definitive Zurückweisung der prima facie plausiblen Urheberschaftszuschreibung zum Vordermann, wodurch dieser überhaupt erst als unverantwortliches (doch handelndes) Werkzeug angesehen werden kann, lässt sich die entsprechende Zuschreibung zum Hintermann als Zurechnung qua mittelbare Täterschaft vornehmen. Mittelbare Täterschaft ist damit zwar Alleintäterschaft, aber eine solche, die zugleich auf der Zuständigkeit für eine fremde defizitäre Urheberschaft beruht.31 IV. Verantwortungsprinzip und Kontrafaktizität der Zurechnung Nach dem hier skizzierten Modell gründet die Zurechnung des Verhaltens des unmittelbar handelnden Vordermanns zum mittelbaren Täter stets auf der Zuständigkeit des zweiten für den Verantwortungsmangel des ersten. Diese Zuständigkeit muss sich aus einem (aktiven oder passiven) Verhalten des Hintermanns selbst ergeben, welches die Entstehung der Lage erklärt, in der der Vordermann die Tat unter dem entsprechenden Verantwortungsdefekt ausführt. Es handelt sich somit um die Übertragung des Verhaltens des Vordermanns auf den primären Verantwortungsbereich des Hintermanns, die sich eben als Frage „objektiver“ Zurechnung in dem bereits verdeutlichen Sinne stellen lässt: Erst nach der Begründung seiner Zuständigkeit für die Vermeidung des Verhaltens des Vordermanns ist die Frage zu stellen, ob dies für den Hintermann individuell vermeidbar war.32 Dieses objektive Moment der Zurechnung zum mittelbaren 29 Dies besagt freilich nicht, dass die jeweilige physische Handlungsunfähigkeit noch weitere Verhaltensweisen umfassen müsste, die mit dem zuzurechnenden Verhalten gleichzeitig stattfinden könnten. Entscheidend ist nur, dass nach der für dessen eventuelle Normwidrigkeit relevanten Deskription keine wahre Beschreibung des Verhaltens besteht, wonach es für den Vordermann intentional vermeidbar gewesen ist. 30 Damit ist jedoch nicht gemeint, dass für die mittelbare Täterschaft die relative Handlungsunfähigkeit des Vordermanns notwendige Bedingung sei. Sie stellt vielmehr eine (kontextuell) hinreichende Bedingung dar, die jedenfalls nicht ausschließt, dass in anderen Fällen das strafrechtlich relevante Verantwortlichkeitsmanko anderer Art sein mag. 31 Kindhäuser, Bemmann-FS (Fn. 20), S. 339 (341). Bereits Spendel, Lange-FS (Fn. 21), S. 147 (150). Vgl. aber Küper, JZ 1983, S. 361 (369), der die Tatbestandsverwirklichung in mittelbarer Täterschaft als „Gesamttat mehrerer Beteiligten, nicht nur eine faktische Variante der Alleintäterschaft“ bezeichnet, was irreführend sein kann. Denn mittelbare Täterschaft ist, im selben Maße wie die unmittelbare, Alleintäterschaft. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass die erste eine vermittelte Form der Alleintäterschaft ist. 32 Hierzu Kindhäuser, Bemmann-FS (Fn. 20), S. 339 (346 ff.).
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Täter muss nun entweder darauf gründen, dass er (a) eine Hilfshandlung ausgeführt hat, welche die Ausführung oder Unterlassung der Haupthandlung des Werkzeugs unter dem relevanten strafrechtlichen Verantwortungsdefizit ermöglichte bzw. erleichterte, oder darauf, dass er (b) eine situative Verbindung zwischen der durch das Handeln des Vordermanns vermittelten Tatbestandsverwirklichung und seinem bereits bestehenden Verantwortungsdefekt gestaltet hat, oder schließlich darauf, dass er (c) wider seiner Verpflichtung eine Hilfshandlung unterlassen hat, durch welche die Ausführung (bzw. Unterlassung) der Haupthandlung des Werkzeugs unter dem jeweiligen Verantwortungsdefizit verhindert werden sollte.33 Die Erforderlichkeit der fehlenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Vordermanns als Voraussetzung der mittelbaren Täterschaft des Hintermanns lässt sich nun unter Berücksichtigung der „Tiefengrammatik“ täterschaftlicher Verantwortlichkeit verdeutlichen. Denn strafrechtliche Täterschaft heißt immer primäre personale Verantwortlichkeit für (zumindest versuchtes) normwidriges Verhalten. Die primäre Zuständigkeit für die Vermeidung normwidrigen Verhaltens betrifft nun genau denjenigen, der als Normadressat situativ in der Lage ist, die Tatbestandsverwirklichung um der Normbefolgung willen intentional zu vermeiden. Es ist deswegen nicht die tatsächliche Motivation des Handelnden, welche die Antwort darauf liefert, ob ihm eine Tatbestandsverwirklichung als eigene Tat zurechenbar ist, sondern vielmehr die in den rechtstreuen Normadressaten gesetzte Erwartung von normkonformer Motivation. Wichtig ist nun zu bemerken, dass sich diese Erwartung nur auf diejenige(n) Person(en) unmittelbar bezieht, die aktuell in der Lage ist (sind), durch eigenes Handeln die Norm zu befolgen. Hieraus folgt nun, dass es angesichts eines vollkommen verantwortlichen Verhaltens eines unmittelbar handelnden Normadressaten – wenn er mit keinem anderen koordiniert (im Sinne wechselseitiger Repräsentanz) handelt – ausgeschlossen sein muss, noch eine weitere Person als primär zuständig für die Vermeidung der jeweiligen Tatbestandsverwirklichung anzusehen. Demzufolge ist es ausgeschlossen, eine mittelbare Täterschaft durch das unmittelbare Handeln einer völlig verantwortlichen Person anzuerkennen. Diese Möglichkeit wurde aber von Binding stark verteidigt.34 Nach Binding sollte es entscheidend sein, dass die Intention einer Person von einer anderen Person übernommen werden kann, um sie durch eigenes Handeln (der zweiten) zu realisieren. Es sei somit allein die Frage von Bedeutung, ob es dem Hintermann durch ein fremdes, auch völlig verantwortliches, Verhalten gelungen sei, den eigenen Willen zu verwirklichen.35 Mit anderen Worten: Nach Binding kommt es allein 33 34 35
Vgl. nur Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 21/68 ff. Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 270 ff., 281 ff. Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 283.
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darauf an, welcher der tatsächliche Wille des Hintermanns ist, so dass die erfolgreiche Realisierung dieses Willens durch das Handeln des Vordermanns die täterschaftliche Haftung des ersten begründen müsse. Daher sprach er in diesem Zusammenhang von einer echten „Doppeltäterschaft“.36 Eine entsprechende Betrachtungsweise findet sich nun bei Haas’ Versuch, im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der Tatherrschaftslehre das sog. „Mandat“ als Unterfall der mittelbaren Täterschaft wieder zu etablieren.37 Ausgangspunkt dafür sei die Charakterisierung der Mittäterschaft als wechselseitige mittelbare Täterschaft, also die These, dass Mittäter nichts anderes seien als wechselseitige mittelbare Täter in dem Sinne, dass jeder sowohl Täter wie auch Werkzeug jedes einzelnen Tatbeitrags sei.38 Trifft diese Charakterisierung der Mittäterschaft zu, so kann man nach Haas der Folgerung nicht ausweichen, dass ein einseitiges Mandat für die Zurechnung qua mittelbare Täterschaft ausreichend sein müsste.39 Das Problematische dieser Ansicht liegt keineswegs in der Klarstellung der Zurechnungsstruktur der Mittäterschaft anhand des Kriteriums der wechselseitigen Repräsentanz, sondern vielmehr in der Annahme, die Mittäterschaft sei eben nichts anderes als eine wechselseitige mittelbare Täterschaft. Denn damit ist schon die Prämisse für die Charakterisierung der mittelbaren Täterschaft als einseitige Repräsentanz eingeführt, was aber genau das ist, was das Argument beweisen soll. Also: Haas’ Kennzeichnung der Mittäterschaft als wechselseitige mittelbare Täterschaft setzt schon die Kennzeichnung der mittelbaren Täterschaft als einseitige Repräsentanz voraus, womit sein Argument zirkulär bleibt. Das Problem bedarf vielmehr einer nicht zirkulären Antwort darauf, ob sich das Verhältnis zwischen mittelbarem Täter und Tatmittler überhaupt im Sinne einer Repräsentanzrelation beschreiben lässt. Dass man die Mittäterschaft als wechselseitige Repräsentanz ansehen darf, beruht darauf, dass bei koordiniertem Handeln von mehreren Beteiligten das Verantwortungsprinzip keine Abgrenzung ihrer Verantwortungsbereiche begründet, sondern vielmehr eine autonome Verbindung derselben.40 Bei der mittelbaren Täterschaft besagt das Verantwortungsprinzip aber genau das Gegenteil, indem beim unmittelbar Handelnden ein strafrechtlich relevanter Verantwortungsmangel vorliegen muss, für den der Hintermann sich zuständig gemacht hat. Lässt sich eine solche Zuständigkeit des Hintermanns für einen strafrechtlichen Verantwortungsdefekt des Handelns des Vordermanns erkennen, so ist der Gedanke der Repräsentanz weder erforderlich 36 Ebenso Binding, Abhandlungen (Fn. 4), S. 281. Hierzu auch ders., Grundriss (Fn. 26), S. 154 f. 37 Haas, ZStW 119 (2007), S. 519 (536 ff.). 38 Haas, ZStW 119 (2007), S. 519 (534 f.). 39 Haas, ZStW 119 (2007), S. 519 (537). 40 Vgl. nur Kindhäuser, Hollerbach-FS (Fn. 3), S. 627 (644).
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noch geeignet, um die Zuschreibung jenes Handelns zum Hintermann zu begründen. Die Tatsache, dass der unmittelbar Handelnde dem Willen eines Hintermanns gemäß handeln mag, ist somit kein hinreichender Grund dafür, das Verhalten des ersten als Handeln des zweiten zu interpretieren, und zwar ganz unabhängig davon, ob der Hintermann den Tatentschluss des Vordermanns (irgendwie) bestimmt hat. Denn im Rahmen strafrechtlicher Zurechnung kommt es gerade nicht darauf an, was die handelnde Person tatsächlich wollte, sondern vielmehr darauf, was sie als rechtstreuer Normadressat wollen sollte, falls sie es konnte. Bei der Begründung strafrechtlicher Täterschaft kann daher allein von Belang sein, wer als Urheber einer Tat anzusehen ist, wodurch die mangelnde Anerkennung einer Verhaltensnorm als wirksamer Handlungsgrund ausgedrückt wird. Ist dem unmittelbar Handelnden die Tat vollkommen zurechenbar, ohne dass er in einem Verhältnis von wechselseitiger Repräsentanz zu anderen steht, dann muss er als einziger Täter betrachtet werden, unabhängig davon, ob sich hinter ihm noch eine weitere Person befindet, welche die Tatbestandsverwirklichung als eigene wollen könnte. So lässt sich der Bedeutungskern des Gedankens eines Regressverbots erfassen, der freilich höchstens als Konkretisierung des allgemeinen Verantwortungsprinzips zu deuten ist: Die Übertragung des Verhaltens des unmittelbar Handelnden auf einen fremden Verantwortungsbereich bleibt aufgrund der vollständigen Verantwortlichkeit des ersten ausgeschlossen.41 V. Verantwortungsmängel: Zurechnungsdefizite Bisher wurde noch nicht angesprochen, was eigentlich unter einem strafrechtlich relevanten Verantwortungsmangel des Vordermanns zu verstehen ist. Um eine genauere Begriffsbestimmung zu erreichen, kann man hier auf die kategoriale Unterscheidung zwischen „Delikt“ und „Straftat“, die im Grunde auf Binding zurückgeht,42 rekurrieren. Als Delikt ist zunächst jedes Verhalten anzusehen, welches einen zurechenbaren (strafrechtlich relevanten) Normbruch herbeiführt. Hiervon ist die Frage zu unterscheiden, ob dasselbe Verhalten auch nach denjenigen Regeln strafbar ist, die weitere (materiell- wie auch verfahrensrechtliche) Bedingungen festschreiben, von denen die eventuelle Verhängung einer rechtlichen Strafe abhängt – etwa die Regeln, die persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe formulieren.
41 Vgl. Renzikowski, Täterbegriff (Fn. 4), S. 72 f.; schon Spendel, Lange-FS (Fn. 21), S. 147 (166 ff.). 42 Hierzu Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. I4, 1922, S. 194 ff., der die Straftat als „Verbrechen“ bezeichnete.
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Die Voraussetzungen des Delikts, so abgegrenzt von den weiteren Voraussetzungen seiner Strafbarkeit im engeren Sinne, lassen sich nun als die notwendigen und ausreichenden Bedingungen eines schuldhaften Unrechts verstehen. Und es ist eine Voraussetzung des deliktischen Charakters des Verhaltens des Vordermanns in diesem Sinne, die fehlen muss, damit eine mittelbare Täterschaft überhaupt in Betracht kommen kann, wie es das Verantwortungsprinzip verlangt. Der Mangel an deliktischem Charakter des Handelns des Vordermanns kann sich aus bestimmten Gründen ergeben, die sich in zwei wichtige Klassen einordnen lassen.43 Die erste Klasse dieser Gründe betrifft Fälle, in denen beim Vordermann ein Defizit an einer der Voraussetzungen vorliegt, die seine Fähigkeit zur Normbefolgung begründen. Die zweite Klasse von Gründen betrifft demgegenüber Fälle, in denen die Norm, um deren Befolgung es geht, situativ keine Anwendung findet als Maßstab für das Handeln des Vordermanns. Unter den Gründen der ersten Klasse, also denjenigen, die ein Defizit an den Voraussetzungen der Fähigkeit zur Normbefolgung zum Gegenstand haben, finden sich all diejenigen Fälle, welche die Zurechenbarkeit der Tatbestandsverwirklichung als schuldhafte Pflichtverletzung zum Vordermann ausschließen. Auf der Ebene des Handlungsunrechts – also der Konstitution der Pflichtverletzung – geht es dabei um fehlenden Vorsatz. Ein Defizit an der physischen Handlungsfähigkeit des Vordermanns kommt hier deswegen nicht in Betracht, weil in einem solchen Fall die intentionale Vermeidungsfähigkeit absolut ausgeschlossen ist, so dass die eventuelle Verantwortung des Hintermanns allein die Form einer unmittelbaren Täterschaft aufweisen kann. Und auf der Schuldebene kommt jeder Grund in Betracht, der den entsprechenden Zurechnungsregeln zufolge entweder die Fähigkeit zur normgemäßen Motivation oder die Zumutbarkeit zur Ausübung derselben ausschließt. Ersteres ist sowohl der Fall bei fehlender Schuldfähigkeit wegen Kindheit oder psychischer Störung, wie auch beim Verbotsirrtum, letzteres bezeichnet Situationen, in denen ein Entschuldigungsgrund anzuerkennen ist. Demgegenüber ist es eine ganz andere Frage, ob gemäß dem Verantwortungsprinzip die mittelbare Täterschaft des Hintermanns in Fällen ausgeschlossen ist, in denen die Möglichkeit einer außerordentlichen Zurechnung zum Vordermann besteht. Im Anschluss an Hruschka wird hier der Begriff der „außerordentlichen Zurechnung“ als Bezeichnung jeder Zurechnung verstanden, die auf der Verantwortlichkeit einer Person für ihr eigenes Verantwortungsdefizit aufbaut.44 Diese Frage ist hinsichtlich der Konstellation des vermeidbaren Verbotsirrtums des Vordermanns besonders umstritten.45 Während die Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft bei vermeidbarem Tatbestandsirrtum, also bei Fahrlässigkeit des Vor43
Vgl. hierzu Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 283 ff. Hierzu Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode2, 1988, S. 274d ff., 311 ff., 326 ff., 337 ff., 686 ff. 44
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dermannes, allgemein bejaht wird,46 wird von einer Lehrmeinung die entsprechende Begründbarkeit mittelbarer Täterschaft bei vermeidbarem Verbotsirrtum des Vordermanns teilweise mit dem Argument verneint, dass bei § 17 StGB der Gesetzgeber keinen Unterschied zwischen vorliegender Normkenntnis und vermeidbarer Normunkenntnis anerkenne, was mit der gesetzlichen Trennung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitshaftung im radikalsten Kontrast stehe.47 Diese gesetzliche Differenzierung besagt jedoch nicht, dass zwischen Fahrlässigkeit und vermeidbarem Verbotsirrtum kein Parallelismus aus Sicht der zugrunde liegenden Zurechnungsstrukturen anzunehmen wäre. Denn in beiden Konstellationen geht es um ein und dieselbe Struktur außerordentlicher Zurechnung, die jeweils auf Unrechts- und Schuldebene in Betracht kommt. Die „Vermeidbarkeit“ des Irrtums besagt in beiden Konstellationen, dass derjenige, der sich im jeweiligen Irrtum befindet, für den eigenen Kenntnismangel wegen einer entsprechenden Obliegenheitsverletzung verantwortlich zu machen ist.48 Die Verschiedenheit der Stufen der Zurechnung, auf denen das jeweilige Kenntnisdefizit relevant wird, bedeutet allerdings nicht, dass die Verantwortlichkeit des Normadressaten für seinen Verbotsirrtum, der jedenfalls die ordentliche Zurechnung zur Schuld ausschließt, nicht dieselbe Struktur aufweist wie seine Verantwortlichkeit für das Manko an das für den Vorsatz erforderliche Tatwissen, um welches es bei der Fahrlässigkeitshaftung geht.49 Dass der Gesetzgeber zwischen den rechtlichen Folgen dieser außerordentlichen Zurechnungen unterscheidet, so dass beim vermeidbaren Verbotsirrtum weder eine Beschränkung der Strafbarkeit durch das Erfordernis spezieller gesetzlicher Bestimmung anerkannt, noch eine zwingende Strafmilderung geboten ist, wie es eben bei der Fahrlässigkeit der Fall ist, spielt keine Rolle.50 Denn in § 17 StGB findet sich nichts anderes als die 45 Zur Problematik s. nur Murmann, GA 1998, S. 78 ff.; Otto, Mittelbare Täterschaft und Verbotsirrtum, in: Schünemann et al. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 483 ff. Freilich gibt es auch Positionen, die sowohl beim vermeidbaren wie auch beim unvermeidbaren Verbotsirrtum des Vordermanns eine mittelbare Täterschaft des Hintermanns ablehnen, so dass dieser allein als Teilnehmer, nämlich als Anstifter, verantwortlich sein könnte. Vgl. hierzu Köhler, Strafrecht (Fn. 27), S. 506 f., 509; Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft, 2003, S. 297 ff. 46 Hierzu Renzikowski, Täterbegriff (Fn. 4), S. 266 ff. Für eine relativierte Stellungnahme s. aber Jakobs, ZStW 89 (1977), S. 1 (26 ff.). 47 Hierzu u. a. Bloy, Beteiligungsform (Fn. 2), S. 347 ff.; Jakobs, GA 1997, S. 553 (556 ff.). 48 Zu diesem Begriff einer strafrechtlich relevanten Obliegenheit s. nur Hruschka, Strafrecht (Fn. 44), S. 314 ff., 415 ff.; Kindhäuser, Gefährdung (Fn. 10), S. 65 ff., jeweils m.w. N. 49 Grundlegend hierzu Kindhäuser, Bemmann-FS (Fn. 20), S. 339 (343 ff.). Vgl. auch Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 22 f.; Küper, JZ 1989, S. 935 (942 ff.). In jüngerer Zeit Zieschang, Gibt es den Täter hinter dem Täter?, in: Dannecker et al. (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 505 (520 f.). 50 Treffend Puppe, Strafrecht (Fn. 24), § 40/30.
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Fixierung eines Kriteriums außerordentlicher Zurechnung als allgemeines Verantwortungskriterium – die freilich die Konstitution einer vorsätzlichen Pflichtverletzung unberührt lässt –, falls der jeweilige Verbotsirrtum vermeidbar ist.51 Zu beantworten ist also lediglich die Frage, ob eine außerordentliche Zurechnung zum Vordermann, sei es auf Unrechts-, sei es auf Schuldebene, für vereinbar zu halten ist mit einer primären Zurechnung qua mittelbarer Täterschaft zum Hintermann. Der Ausschluss einer ordentlichen Zurechnung zum Vordermann besagt in den hier betrachteten Fällen von vermeidbarem Tatbestands- und Verbotsirrtum, dass er nicht in der Lage gewesen ist, die Norm zu befolgen, sei es (beim Tatbestandsirrtum) wegen fehlender Kenntnis der faktischen Umstände, unter denen die Norm zu befolgen war, sei es (beim Verbotsirrtum) wegen fehlender (auf sein konkretes Handeln bezogener) Normkenntnis. Aufgrund seiner Zuständigkeit für das Handeln des Vordermanns unter dem jeweiligen Irrtum kann es dem Hintermann als eigenes Handeln zugerechnet werden, sofern bei ihm die übrigen Kriterien personaler Zurechnung erfüllt sind. Dass der Vordermann selbst für sein Verantwortungsdefizit Verantwortung tragen muss, falls er durch eine sorgfältige Vorhandlung die für die Normbefolgung erforderlichen Kenntnisse hätte erlangen können, impliziert somit nicht, dass diese außerordentliche Zurechnung zum Vordermann die konkurrierende Zuständigkeit des Hintermanns ausschließen müsste.52 Denn die Verantwortung für das betreffende Verantwortungsmanko des Vordermanns hat dann unterschiedliche Bedeutung. Vom Standpunkt der Zurechnung zum Hintermann aus verliert das Handeln des Vordermanns nicht deswegen seine Werkzeugqualität, weil der Vordermann selbst das eigene Defizit zu verantworten hat, da er aus Sicht des Hintermanns als nicht verantwortlich auftritt.53 Deswegen braucht man keineswegs, um das Bestehen der Werkzeugqualität des Vordermanns trotz seiner möglichen Fahrlässigkeitshaftung zu erklären, auf einen extensiven Täterbegriff zurückzugreifen.54 Es ist vielmehr die Verschiedenheit der entsprechenden Zurechnungsformen, die den Schlüssel dafür bietet.55 Vom Standpunkt der ordentlichen Zurechnung der Tatbestandsverwirklichung aus ist somit der mittelbare Täter kein Täter hinter dem Täter, auch wenn eine außerordentliche Zurechnung zum Vordermann, sei es auf Unrechts- oder Schuldebene, noch möglich sein mag.56 51
Vgl. nur Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 19/1, 35. Hierzu Renzikowski, Täterbegriff (Fn. 4), S. 268 ff. 53 Vgl. Herzberg, Täterschaft (Fn. 49), S. 20. Auf die Unrechtsebene begrenzt argumentiert dafür Diel, Das Regreßverbot als allgemeine Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1997, S. 334 f. 54 So aber Spendel, Lange-FS (Fn. 21), S. 147 (152). 55 Vgl. hierzu auch Puppe, Strafrecht (Fn. 24), § 40/9 ff., 30 ff., die zutreffend auf die Strukturgleichheit zwischen den Fällen von vermeidbarem Verbotsirrtum und den Fällen der sog. actio libera in causa aufmerksam macht. 52
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Insoweit sind die Zurechnungsstruktur der mittelbaren Täterschaft und die der actio libera in causa nicht gleichzustellen. 57 Denn bei der mittelbaren Täterschaft wird das Zurechnungsdefizit des Vordermanns auf den Hintermann gerade nicht übertragen.58 VI. Verantwortungsmängel: Normwidrigkeitsdefizite Die zweite Klasse von Gründen für einen Mangel an strafrechtlicher Verantwortung des Vordermanns bezieht sich auf diejenigen Fälle, in denen das Manko an deliktischem Charakter seines Verhaltens auf der Inexistenz eines objektiven Unrechts bzgl. derjenigen Norm basiert, deren zurechenbarer Bruch deliktisch ist.59 Es geht also um Fälle, in denen die Norm, welche anderenfalls die Pflicht begründete, für deren Verletzung der Vordermann verantwortlich gemacht werden könnte, ihm gegenüber keine Anwendung findet. Deshalb gründet hierbei die Zurechnung zum Hintermann auf der Inexistenz der objektiven Basis für eine Pflicht des Vordermanns.60 Demzufolge ist es notwendig, genauer darzustellen, weshalb dem Vordermann gegenüber die jeweilige Norm als verbindlicher Handlungsgrund keine Anwendung findet. Denn der Hintermann muss seinerseits gerade dafür zuständig sein, damit eine Zurechnung der Tat im Sinne einer mittelbaren Täterschaft in Betracht kommt. 1. Mittelbare Täterschaft bei gerechtfertigtem Handeln des Werkzeugs Ein erster Grund dafür, dass eine bestimmte Verhaltensnorm nicht anwendbar ist als Verpflichtungsgrund für den Vordermann, kann darin bestehen, dass jene 56 Dies wird von Jakobs selbst anerkannt, der davon ausgeht, dass bei vermeidbarem Tatbestandsirrtum des Vordermanns, also bei Fahrlässigkeit, die Zurechnung qua mittelbare Täterschaft zum Hintermann nicht ausscheidet. Siehe Jakobs, GA 1996, S. 253 (267 f.). Strukturell gesehen kann dann bei vermeidbarem Verbotsirrtum nichts anderes gelten. Ebenso Kindhäuser, Bemmann-FS (Fn. 20), S. 339 (343 f.). 57 Vgl. Hirsch, Zur actio libera in causa, in: Eser (Hrsg.), Festschrift für Haruo Nishihara, 1998, S. 88 (95 ff.); Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 17/64 ff.; ders., Die sogenannte actio libera in causa, in: Eser (Hrsg.), Festschrift für Haruo Nishihara, 1998, S. 105 ff. 58 So Hruschka, Strafrecht (Fn. 44), S. 42 f., Fn. 61a; ders., „Actio libera in causa“ und mittelbare Täterschaft, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel, 2003, S. 145 ff.; Joerden, Strukturen (Fn. 4), S. 65 ff.; Jerouschek, Tatschuld, Koinzidenzprinzip und mittelbar-unmittelbare Täterschaft, in: Weigend/Küpper (Hrsg.), Festschrift für Hans Joachim Hirsch, 1999, S. 241 (245 ff.). Vgl. auch Otto, Jura 1986, S. 426 (428 f.); Mitsch, Actio libera in causa und mittelbare Täterschaft, in: Hettinger et al. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 347 ff. 59 Grundlegend Herzberg, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßig oder unverboten handelndem Werkzeug, 1967, S. 30 ff., 46 ff. Zur älteren Lehre Kopf, Das Problem der mittelbaren Täterschaft durch ein rechtmäßig handelndes Werkzeug, Diss. Göttingen 1949, S. 25 ff. 60 So Stein, Beteiligungsformenlehre (Fn. 43), S. 283 ff.
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Norm durch eine vorrangige Erlaubnisnorm verdrängt wird, nämlich durch einen Rechtfertigungsgrund. Dies ist der Fall bei den Konstellationen des sog. gerechtfertigten Handelns des Werkzeugs.61 Beispielhaft: A droht dem B mit der Tötung seines Kindes, falls B den C nicht tötet, wobei sich C gegen den Angriff des B dergestalt wehrt, dass B körperlich schwer verletzt wird. Da trotz der Notsituation B gegenüber C nicht gerechtfertigt ist, stellt sein Handeln einen rechtswidrigen Angriff dar, so dass bei der entsprechenden Körperverletzung C seinerseits gerechtfertigt handelt. Jedoch ist A wegen der Drohung zuständig für den Umstand, dass C den angreifenden B gerechtfertigt verletzt, so dass dem A das Verhalten des C im Sinne einer mittelbaren Täterschaft zurechenbar ist. Indem aber die Körperverletzung durch die Zurechnung qua mittelbare Täterschaft als Handeln des A konstituiert wird, ist sie nicht mehr gerechtfertigt, denn der Rechtfertigungsgrund der Notwehr besteht nur relativ zugunsten des C. Als Handeln des A stellt sich die Körperverletzung des B hingegen als normwidrige und deshalb deliktische Tat dar. In einem solchen Fall ist der Hintermann zuständig für eine Situation, in der vom Standpunkt der betreffenden Vorschriften aus der Vordermann kein situativer Adressat der jeweiligen Verbotsnorm ist, weil diese durch eine Erlaubnisnorm ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten: Der Hintermann ist zuständig für die fehlende Anwendbarkeit der Verbotsnorm als verbindlichen Handlungsgrund für den Vordermann. 2. Mittelbare Täterschaft bei Selbstverletzung des Werkzeugs Eine weitere Konstellation, in der die Zuständigkeit des Hintermanns für die fehlende Anwendbarkeit der betreffenden Verhaltensnorm als Handlungsgrund für den Vordermann in Betracht kommt, sind die Fälle der sog. mittelbaren Täterschaft durch Selbstverletzung des Werkzeugs. Dass hier der Mangel an strafrechtlicher Verantwortung des Vordermanns in der Inexistenz eines objektiven Unrechts besteht, das von seinem Handeln prädizierbar wäre, folgt aus der (freilich kontingenten) Tatsache, dass die Beeinträchtigung eigener Rechtsgüter unter keine strafrechtliche Verbotsnorm fällt. Dies allein reicht allerdings nicht aus, um eine eventuelle Zurechnung der Selbstverletzung, die vom Rechtsgutsinhaber eigenhändig vollzogen wird, zu einer weiteren Person – also als Fremdverletzung in mittelbarer Täterschaft – zu 61 Vgl. nur Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 21/81 ff. Hiergegen aber Puppe, Strafrecht (Fn. 24), § 40/5, die für die Annahme einer unmittelbarer Täterschaft durch die Konstruktion einer sog. actio illicita in causa argumentiert. Ihrer Meinung nach findet in einem solchen Fall das sog. Verantwortungsprinzip keine Anwendung, was aber die These präsupponiert, dass dieses Prinzip nur bei fehlender Pflichterfüllungsfähigkeit des Vordermanns Anwendung finden könnte.
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bejahen. Denn es besteht noch eine alternative Interpretationsmöglichkeit des Geschehens, nämlich im Sinne einer Ausübung von rechtlich anerkannter Dispositionsfreiheit über das beeinträchtigte Rechtsgut, wonach die Verletzung dem Rechtsgutsinhaber als eigenverantwortliche Tat zurechenbar wäre. Für die Zurechenbarkeit des verletzenden Geschehens als Fremdverletzung in mittelbarer Täterschaft ist also entscheidend, dass die Zuständigkeit des Hintermanns für ein Defizit an der Eigenverantwortlichkeit des Vordermanns bei seiner Selbstverletzung bejaht werden kann, so dass die Tat nicht mehr als autonome Ausübung von Dispositionsfreiheit interpretierbar ist. Aus dieser Darstellung der Problematik ergibt sich nun die Frage, welches die Kriterien für die Eigenverantwortlichkeit der Selbstverletzung sein sollten. Hier stehen sich die sog. Exkulpationslösung62 und die sog. Einwilligungslösung gegenüber.63 Da es bei einer Selbstverletzung um die „eigenhändige“ Ausübung von Dispositionsfreiheit über eigene Rechtsgüter geht, lässt sich hier eine entsprechende Anwendung der Kriterien zur Wirksamkeit der Einwilligung postulieren. Der wichtige Unterschied zwischen Einwilligung und Selbstverletzung betrifft allein die jeweilige Handlungsstruktur. Bei der Einwilligung findet die Rechtsgutsverfügung deklarativ dadurch statt, dass die an einen Dritten gerichtete Norm, welche die Rechtsgutsverletzung untersagt, situativ aufgehoben wird; bei der Selbstverletzung dagegen findet die Rechtsgutsverletzung „eigenhändig“ statt. Dieser Unterschied ändert aber nichts daran, dass die Funktion beider Kategorien ein und dieselbe ist: Sie bezeichnen alternative Modalitäten der Ausübung von Dispositionsfreiheit über eigene Rechtsgüter. 3. Mittelbare Täterschaft beim Handeln eines qualifikationslosen dolosen Werkzeugs Eine dritte Konstellation, in der ein objektives Unrecht, das vom Handeln des Vordermanns prädizierbar wäre, fehlt, besteht in den Fällen des sog. Handelns eines „qualifikationslosen dolosen“ Werkzeugs. Zunächst ist hierbei eine terminologische Präzisierung notwendig: Wenn man vom „dolosen“ Charakter des Handelns des Werkzeugs spricht, wird der Begriff des Vorsatzes in dem Sinne verstanden, dass er die Gesamtheit der subjektiven Voraussetzungen einer even62 Vgl. nur Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft7, 2000, S. 161 ff., 225 ff., 240 ff., 688 ff.; ders., Strafrecht (Fn. 25), § 25/54 ff., 70 ff., 144 ff. Vgl. auch Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverletzung des Verletzten, 1993, S. 36 ff., 44 ff., der freilich die Gleichstellung der Verantwortlichkeit für Fremd- und Selbstverletzung relativiert. Teilweise entsprechend auch Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 21/98. 63 Grundlegend hierzu Herzberg, Täterschaft (Fn. 49), S. 35 ff.; ders., JA 1985, S. 336 ff. Vgl. auch NK-Neumann (Fn. 14), Vor § 211 Rn. 61; Otto, Kausalität und Zurechnung, in: Zaczyk/Köhler/Kahlo (Hrsg.), Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 395 (401 ff.), der freilich eine Differenzierung hinsichtlich der Irrtumskonstellationen postuliert.
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tuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit bezeichnet, also etwa im Sinne der Schuldkonzeption des Straftatmodells des Kausalismus. Daher liegt das Problematische dieser Fälle darin, dass eine Person, die im Hinblick auf den tatbestandlichen Kreis der möglichen Täter eines (echten) Sonderdelikts extraneus ist, ohne Zurechnungsdefekte eine Tat ausführt, welche die entsprechende Tatbestandsverwirklichung mit sich brächte, falls diese Tat einer qualifizierten Person – also einem intraneus – zurechenbar wäre. Um eine Lösung dieser Fälle dahingehend zu ermöglichen, dass die Täterschaft des qualifizierten Hintermanns bejaht werden kann, greift eine im Vordringen befindliche Meinung auf die Kategorie der sog. „Pflichtdelikte“ zurück.64 Demnach ergäbe sich die Täterschaft des qualifizierten Hintermanns aus der Verletzung einer bestimmten außerstrafrechtlichen Pflicht, die allerdings in jedem möglichen (aktiven bzw. passiven) Beitrag zur Tatausführung bestehen könnte, ganz unabhängig davon, wer die Person ist, durch deren unmittelbares Handeln der Deliktstatbestand verwirklicht wird. Deshalb wird von einigen Autoren behauptet, es sei hierbei eigentlich nicht mehr möglich, eine mittelbare von einer unmittelbaren Täterschaft des intraneus zu unterscheiden.65 Dies ist jedoch eine kaum akzeptable Lösung. Denn auf diese Weise verzichtet die Lehre der sog. Pflichtdelikte auf das Erfordernis der Tatbestandsmäßigkeit der das fragliche Sonderdelikt konstituierenden Tat: „In diesen Fällen ist die Beziehung des Beteiligten zum Gut immer unmittelbar [. . .], und zwar ohne Blick auf ein Tun überhaupt“.66 Dies gilt freilich auch bei Sonderdelikten, die so typisiert sind, dass bereits die Unterlassung des Verhinderns der Handlung eines Drittens deliktisch sein mag. Entscheidend ist jedenfalls, dass die Tat, für welche sich der intraneus zu verantworten hat, eine solche sein muss, die – beim vollendeten Delikt – als seine Tat die jeweilige tatbestandliche Beschreibung erfüllt. Wenn nur durch die von einem Qualifikationslosen ausgeführte Handlung ein nach der betreffenden tatbestandlichen Beschreibung relevantes Geschehen stattfindet, so muss maßgebend sein, ob dem Qualifizierten das Verhalten des Qualifikationslosen als eigenes Handeln zuzurechnen ist, so dass die Tat erst als Handeln des Hintermanns deliktisch ist. Das Delikt des intraneus lässt sich deswegen nicht einfach durch die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht konstituieren, indem das strafrechtlich relevante Unrecht stets in der Verletzung derjenigen Pflicht gesehen wird, die die strafrechtlich geschützte Verhaltensnorm begründet. Dies wird von Jakobs impli64 Grundlegend Roxin, Täterschaft (Fn. 62), S. 352 ff., 699 ff. Vgl. auch ders., Strafrecht (Fn. 25), § 25/267 ff., 275 ff.; Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 21/115 ff. 65 Dies wird von Jakobs zumindest implizit festgehalten, indem er die herkömmliche Unterteilung der Täterschaftsformen auf den Bereich der sog. „Herrschaftsdelikte“ beschränkt. Hierzu Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 21/3 ff., 16. 66 Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 21/116.
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zit zugegeben, wenn er im Hinblick auf den hier betrachteten Zusammenhang den folgenden Hinweis einführt: Wenn der Tatbestand eines Pflichtdelikts auf ein bestimmtes Verhalten abstellt, das der Pflichtige selbst vollziehen muß, so ist ohne dieses Verhalten (oder eine entsprechende Unterlassung, § 13 Abs. 1 StGB) Täterschaft ausgeschlossen.67
Dies besagt aber zunächst, dass bei den sog. Pflichtdelikten die Verletzung einer bestimmten institutionellen Pflicht keine hinreichende Bedingung für die Entstehung von täterschaftlicher Haftung ist. Insoweit liegt dem Begriff der sog. Pflichtdelikte eine Verwechslung zugrunde. Denn jede Deliktsverwirklichung stellt, trivialerweise, eine Pflichtverletzung dar, was auch von Roxin anerkannt wird: Es ist nicht die aus der Strafrechtsnorm entspringende Pflicht gemeint, deren Mißachtung die im Tatbestand vorgesehene Sanktion auslöst. Diese Pflicht besteht bei jedem Delikt. [. . .] Vielmehr handelt es sich bei dem für uns über die Täterschaft entscheidenden Element um die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht, die sich nicht notwendig auf jeden Deliktsbeteiligten erstreckt, die aber für die Tatbestandserfüllung erforderlich ist. Dabei geht es allemal um Pflichten, die der Strafrechtsnorm logisch vorgelagert sind und die im allgemeinen anderen Rechtsgebieten entspringen.68
Versteht man hierbei unter dem Ausdruck „die aus der Strafrechtsnorm entspringende Pflicht“ genauer diejenige Pflicht, die die strafrechtlich geschützte Verhaltensnorm begründet, so ist der Gedanke ganz klar: Bei den sog. Pflichtdelikten ist genau wie bei jedem anderen Delikt auch die Verletzung der strafrechtlich relevanten Pflicht das, worauf die strafrechtliche Verantwortlichkeit beruht. Nur: Bei den sog. Pflichtdelikten wird erst durch die entsprechende außerstrafrechtliche Stellung, die in der Regel institutioneller Art ist, das Subjekt als Normadressat qualifiziert, indem es hier um den Bruch einer Sondernorm geht, nämlich einer Norm, deren Adressaten zu einem qualifizierten Personenkreis gehören.69 Dies ist eben das Kennzeichnende jedes (echten) Sonderdelikts: Als Adressat der jeweiligen Norm kommt nur derjenige in Betracht, der eine bestimmte Qualifikation, etwa als Beamter, aufweist. Und es ist nur eine solche Person, die Träger einer bestimmten institutionellen Verpflichtung ist, die auch die strafrechtlich relevante Pflicht als Täter verletzten kann.
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Jakobs, Strafrecht (Fn. 33), 21/117. Roxin, Täterschaft (Fn. 62), S. 354. 69 Mit anderen Worten: Die außerstrafrechtliche Position bzw. „Pflicht“ liefert eine Antwort darauf, wer Adressat der strafrechtlich geschützten Verhaltensnorm ist, also wer potenzieller Träger einer strafrechtlich relevanten Pflicht ist. Entsprechend bestimmt die sog. Garantenstellung bei den unechten Unterlassungsdelikten, wer als Adressat des durch § 13 StGB zu bildenden Erfolgsabwendungsgebots in Betracht kommt. Hierzu Vogel, Unterlassungsdelikte (Fn. 2), S. 128 ff., 130 f., 133 f. 68
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Dies bedeutet aber keineswegs, dass eine Verletzung jener institutionellen Verpflichtung gleichzeitig die Verletzung der strafrechtlichen Pflicht mit sich bringen müsste. Dass allein der Träger einer institutionellen Verpflichtung als Täter in Betracht kommen kann, sagt nämlich noch nichts darüber aus, von welchen weiteren Bedingungen seine Täterschaft abhängig zu machen ist.70 Und wie bei jedem anderen Deliktstatbestand auch müssen sich diese Bedingungen auf die Frage beziehen, weshalb dem Hintermann, der hier als qualifizierter Pflichtiger auftritt, das Verhalten des Vordermanns als eigenes (strafrechtlich relevantes) pflichtwidriges Handeln zuzurechnen ist. Denn sonst stellte die Behauptung, der intraneus solle wegen der Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht für das jeweilige deliktische Geschehen strafrechtliche Verantwortung tragen die Validierung einer quasi-objektiven Haftungsstruktur dar, nämlich im Sinne eines versari in re illicita. Das zentrale Problem bei den Fällen des Handelns eines qualifikationslosen Werkzeugs besteht somit gerade darin, dass der Vordermann kein Adressat derjenigen Norm ist, deren Bruch das entsprechende Sonderdelikt ausmacht. Dies heißt wiederum, dass die Verantwortlichkeit des qualifikationslosen Vordermanns wegen einer primären Pflichtverletzung – nämlich als Täter – von vornherein ausgeschlossen ist, was jedenfalls seine eventuelle Verantwortlichkeit als (akzessorischer) Teilnehmer unberührt lässt. Die Frage besteht also darin, ob sich eine Zuständigkeit des qualifizierten Hintermanns für die fehlende Verantwortlichkeit des Vordermanns begründen lässt. Und die Antwort hierauf kann bejahend sein, ohne auf eine besondere Kategorie von „Pflichtdelikten“ zurückzugreifen, sofern der Hintermann durch ein Handeln oder Unterlassen die Situation gestaltet hat, in der der Vordermann die Tat ausführen konnte, ohne eben eine primäre (strafrechtliche) Pflicht zu verletzen. Erst im Rahmen dieser Betrachtung wird die institutionell qualifizierte Position des intraneus maßgeblich: Die Zuständigkeit für die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung durch das Handeln des extraneus muss darauf aufbauen, dass der intraneus den (dem qualifikationslosen Dritten gegenüber geschlossenen) Handlungsspielraum geöffnet hat, damit der extraneus über eine Handlungsmöglichkeit verfügt, die aber angesichts der rechtlichen Konstitution der betreffenden Institution auf an diese Institution gebundene Personen beschränkt ist. Die mittelbare Täterschaft des qualifizierten Hintermanns gründet also, genau wie bei jeder sonstigen Konstellation, auf der Zuständigkeit für ein strafrechtlich relevantes Verantwortungsdefizit des Vordermanns, das hierbei in der institutionell anomalen Normgemäßheit seines Handelns besteht.
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Vgl. Stein, Beteiligungsformenlehre (Fn. 43), S. 214 f.
Überindividuelle Rechtsgüter und aberratio ictus Von Wolfgang Mitsch I. Einleitung Der mit dem Vorsatz geschriebene Beitrag, das Interesse der verehrten Jubilarin zu wecken, wird sich hoffentlich nicht als aberratio erweisen. In Anbetracht des Themas ist diese Hoffnung vielleicht nicht ganz unbegründet. Denn niemand hat so engagiert, entschieden und pointiert zur aberratio ictus gegen die „herrschende Meinung“ angeschrieben, wie Ingeborg Puppe. Fragen der Erfolgszurechnung, des Vorsatzes und des Irrtums, der Kausalverlaufsabweichung und eben der aberratio ictus besitzen für sie offenkundig ganz besonderen Reiz und machen einen beachtlichen Anteil ihres umfangreichen und vielfältigen Œuvres aus. Auch viele andere Autoren – den Verfasser eingeschlossen – hat die aberratio ictus in ihren Bann gezogen. Deshalb ist es erstaunlich,1 dass die Resonanz auf die inzwischen schon über ein halbes Jahrhundert alte „Fangbrief-Entscheidung“ des BGH2 recht schwach geblieben ist.3 Neuere Kommentare erwähnen BGHSt 9, 240 zum Teil überhaupt nicht mehr im Zusammenhang mit der Thematik, die uns hier beschäftigen soll.4 Dabei handelt es sich um eine der wenigen5 Entscheidungen des BGH, in der es um eine der aberratio ictus zumindest stark ähnelnde Kausalverlaufsabweichung geht. Das Besondere an dem Fall ist die Qualität des von der Tat betroffenen Rechtsgutes. Betroffen war der Straftatbestand „Falsche Verdächtigung“ (§ 164 StGB) und damit – zumindest auch6 – das 1 Dies sah schon Hillenkamp in seiner 1971 veröffentlichten Göttinger Dissertation „Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierungen bei abweichendem Tatverlauf“ so (S. 28) und an der Richtigkeit dieser Feststellung hat sich bis heute nichts geändert. 2 BGHSt 9, 240, Urt. vom 3. Mai 1956 – 3 StR 77/56. 3 Nach Rath, Zur strafrechtlichen Behandlung der aberratio ictus und des error in objecto des Täters, 1993, S. 319 handelt es sich um einen der „bekanntesten Fälle zur aberratio ictus“. 4 So Jeßberger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (S/S/W), StGB, 2009, § 164 Rn. 18, 19; Pflieger, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 2008, § 164 Rn. 15–18. 5 Andere in BGHSt veröffentlichte Entscheidungen, in denen die aberratio ictus nur am Rande oder überhaupt nicht erwähnt wird, obwohl der Sachverhalt eine Abirrungskomponente hat, sind BGHSt 11, 268 ff. („Verfolger-Fall“), 21, 380 ff. (error in persona bei actio libera in causa); 34, 53 ff. (Rücktritt vom Versuch nach Verletzung des falschen Opfers, aberratio ictus erwähnt auf Seite 55); 37, 214 ff. („Rose Rosahl II“, zur aberratio ictus auf Seite 219); 38, 295 ff. („RAF-Zürich“). 6 Zum Streit um das/die von § 164 StGB geschützte/n Rechtsgut/Rechtsgüter vgl. z. B. Zopfs, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2/2, 2005, § 164 Rn. 2 ff.
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überindividuelle Rechtsgut „Rechtspflege“. Obwohl der ungerechtfertigte Straftatverdacht nicht auf die Person (Prokurist W) fiel, die sich die Täterin als Tatopfer vorgestellt hatte, sondern jemand anderes (Sekretärin D) – ebenso ungerechtfertigt – mit den verdachtserregenden Malen im wahrsten Sinne des Wortes befleckt wurde, nahm der BGH eine vorsätzliche vollendete – und nicht, wie es der h. M. zur aberratio ictus schon damals entsprach, eine vorsätzliche versuchte und fahrlässige vollendete – Tat an.7 In der Begründung der Entscheidung spielte das von § 164 StGB geschützte Rechtsgut „staatliche Rechtspflege“ die ausschlaggebende Rolle.8 Das Echo in der Literatur auf die Entscheidung fiel – wie gesagt – recht verhalten und inhaltlich uneinheitlich aus. Angesichts der Publikationsflut zur aberratio ictus in den letzten Jahrzehnten erscheint es mir ganz reizvoll, noch einmal auf diesen Fangbrief-Fall zurückzukommen und zu fragen, welche Erkenntnisse der spezielle Sachverhalt im Hinblick auf die allgemeine aberratio-ictus-Problematik zu generieren imstande ist. Dabei soll das Thema – wie aus der Überschrift ersichtlich – etwas weiter gefaßt und insbesondere gezeigt werden, dass über den Tatbestand des § 164 StGB hinaus eine Vielzahl von Verbindungen zwischen aberratio ictus und überindividuelle Rechtsgüter schützenden Straftatbeständen möglich ist. II. Die Fangbrief-Entscheidung und ihre Kommentierung in der Literatur 1. BGHSt 9, 240 a) Die Angeklagte hatte einen mit einem roten Farbmittel präparierten Briefumschlag in einem Büroraum des Unternehmens, in dem sie angestellt war, platziert. Unternehmensleitung und Polizei hatten die Fangbriefaktion initiiert, um auf diese Weise eine Serie von Diebstählen in dem Unternehmen aufklären zu können. Die Angeklagte wollte durch die Platzierung des Fangbriefes erreichen, dass der Prokurist W in den – ungerechtfertigten – Diebstahlsverdacht gerät. Dieser Plan schlug jedoch fehl, weil der Briefumschlag nicht von W, sondern von der Sekretärin D ergriffen, geöffnet und in den Papierkorb geworfen wurde. Da sich aber an den Händen der D von dem Briefumschlag herrührende rote Färbungen zeigten, fiel der Diebstahlsverdacht auf die D.9 b) Das Landgericht hatte die Angeklagte aus § 164 Abs. 1 StGB verurteilt. Dabei war die Strafkammer offenbar von einer aberratio ictus ausgegangen, hatte dieser aber – entgegen der schon damals h. M.10 – in Anlehnung an Frank11 we7
BGHSt 9, 240 (243). BGHSt 9, 240 (242). 9 BGHSt 9, 240 (241). 10 H. Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1953, S. 248; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch7, 1954, § 59 Fn. III 3 b; Schwarz, Strafgesetzbuch18, 1955, § 59 Fn. A 2. 8
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gen der Gleichwertigkeit der involvierten Tatobjekte vorsatzausschließende Wirkung abgesprochen.12 Die gegen diese Verurteilung eingelegte Revision der Angeklagten wies der 3. Strafsenat des BGH als unbegründet zurück. Dabei ließ er dahingestellt, ob der Sachverhalt die Kennzeichen einer aberratio ictus aufweist. Denn entscheidend sei, dass sich die Abweichung vom vorgestellten Verlauf des Geschehens im Hinblick auf den die Gefährdung der Rechtspflege umfassenden Vorsatz innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halte und den Unrechtsgehalt der Tat nicht ändere. Den gewollten Erfolg, die Gefährdung der Rechtspflege, habe die Angeklagte auch durch die als solche nicht gewollte Verdachtserregung gegen D erreicht.13 Die unübersehbare Skepsis gegenüber der Argumentation des Landgerichts, die Betonung des „nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren“14 sowie das Ergebnis der strafrechtlichen Würdigung geben der Vermutung Rückhalt, dass der BGH in dem Sachverhalt gar keinen – abweichend von der h. M. zu beurteilenden – Fall der aberratio ictus,15 sondern einen allgemeinen Fall der Kausalverlaufsabweichung gesehen hat.16 Deren Erkennungszeichen ist der Eintritt des Erfolges an dem vom Vorsatz umfassten Tatobjekt infolge eines Kausalverlaufes, der von dem Kausalverlauf, den der Täter sich vorstellte, abgewichen ist: ein Tatobjekt.17 Demgegenüber wird bei der aberratio ictus ein (zweites) Objekt getroffen, das von dem (ersten) Objekt, das der Täter treffen wollte, verschieden ist: zwei Tatobjekte.18 v. Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich18, 1931, § 59 Fn. III (S. 188). 12 So in BGHSt 9, 240 (242) referiert. 13 BGHSt 9, 240 (242). 14 Vgl. zur Verwendung dieser Formel im Kontext der Kausalverlaufsabweichung bei BGHSt 7, 325 (329). 15 Dazu bemerkt der BGH: „Es braucht nicht entschieden zu werden, ob dem unter Aufgabe der bisherigen entgegengesetzten Rechtsprechung . . . beizupflichten wäre.“, BGHSt 9, 240 (242). 16 Anders Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, 11/56 Fn. 65: „Bei der falschen Verdächtigung (§ 164 StGB) hat der Bundesgerichtshof mit dem Hinweis, das Delikt diene dem Schutz der Rechtspflege, die ’aberratio ictus’ für unbeachtlich angesehen (BGHSt 9, 240, 242)“; Hillenkamp (Fn. 1), S. 27: „einen Fall der aberratio ictus im Rahmen des § 164 StGB“; Krey/M. Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil Band 113, 2005, Rn. 593: „. . . insoweit liege ein Fall der aberratio ictus vor . . .“; Prittwitz GA 1983, 110 (131): „Der BGH hatte diesen Fall als aberratio ictus eingeordnet . . .“; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I4, 2006, § 12 Rn. 170: „Mit einem Sonderfall der aberratio ictus beschäftigt sich BGHSt 9, 240.“; ders., JZ 1991, 680 (681): „Daß hier in Beziehung auf die verdächtigte Person trotz ihrer „Unsichtbarkeit“ für die Täterin eine aberratio ictus vorlag, kann gar nicht zweifelhaft sein. Der BGH bestreitet das auch nicht.“ 17 Ebert, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2001, S. 149; Bernd Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil II2, 2010, Rn. 1088; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 1981, Rn. 284; vgl. die Beispiele bei Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil6, 2008, § 13 Rn. 41. 18 Bernd Heinrich (Fn. 17), Rn. 1105; Herzberg ZStW 85 (1973), 867 (873); Kühl (Fn. 17), § 13 Rn. 29; Puppe, in: Nomos Kommentar zum StGB2, 2005, § 16 Rn. 95; 11
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2. Literatur Die Stellungnahmen in der Literatur zu dem Fangbrief-Fall und seiner Beurteilung durch den BGH sind uneinheitlich. Systematisieren kann man sie nach folgenden Gesichtspunkten: Einige Autoren ordnen den Fall der Kategorie „aberratio ictus“ zu,19 andere erwähnen diesen Begriff nicht20 und bezeichnen die Situation als Abweichung des tatsächlichen Kausalverlaufs vom vorgestellten Kausalverlauf.21 Zahlreiche Autoren schließen sich dem Ergebnis des BGH an,22 meistens ohne eine über die pauschale Zustimmung zu BGHSt 9, 240 hinausgehende Begründung. Ebenfalls sehr viele Autoren halten hingegen die Verfehlung des anvisierten individuellen Opfers für einen Umstand, der einer Strafbarkeit wegen vollendeter falscher Verdächtigung entgegensteht.23 In beiden „Lagern“ – Anhängern wie Gegnern der vom BGH vertretenen Rechtsauffassung – befinden sich sowohl Autoren, die den Fall der aberratio ictus zuordnen, als auch Autoren, Roxin (Fn. 16), § 12 Rn. 160; SK-StGB-Rudolphi, 7. Aufl. (Stand: Oktober 2002), § 16 Rn. 33. 19 Beck-Online-Valerius, (Stand: Februar 2008), § 164 Rn. 22; Frister (Fn. 16), 11/ 56; Krey/M. Heinrich (Fn. 16), Rn. 594; Kühl (Fn. 17), § 13 Rn. 40; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch26, 2007, § 164 Rn. 8; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 18, 1992, § 23 Rn. 32; Niese JZ 1960, 356 (359); Roxin (Fn. 16), § 12 Rn. 170; Schreiber JuS 1985, 873 (875). 20 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf-Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil2, 2009, § 48 Rn. 15; Bockelmann, Strafrecht Besonderer Teil 3, 1980, S. 43; Fischer, Strafgesetzbuch56, 2009, § 164 Rn. 13; Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil, Teil 12, 2004, § 67 Rn. 11; Kindhäuser, Strafrecht Besonderer Teil I4, 2010, § 52 Rn. 30; LKRuß11, 2000, § 164 Rn. 30; LPK-StGB/Kindhäuser4, 2010, § 164 Rn. 22; Maurach/ Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 29, 2005, § 99 Rn. 22; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II10, 2009, § 50 Rn. 25; Schönke/Schröder/Lenckner, Strafgesetzbuch27, 2006, § 164 Rn. 41 21 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf-Hilgendorf (Fn. 20), § 48 Rn. 15; Bockelmann (Fn. 20), S. 43; Eisele, Strafrecht Besonderer Teil I, 2008, Rn. 1176; Gössel/Dölling (Fn. 20), Strafrecht Besonderer Teil, Teil 12, 2004, § 67 Rn. 11; Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil5, 1996, S. 314; Kindhäuser, Strafrecht Besonderer Teil I4, 2009, § 52 Rn. 30; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 20), § 99 Rn. 22; Schönke/ Schröder/Lenckner (Fn. 20), § 164 Rn. 31; SK7-StGB-Rudolphi/Rogall, (Stand: September 2003), § 164 Rn. 41. 22 Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil18, 1983; S. 122; Bockelmann (Fn. 20), S. 43; Eisele (Fn. 21), Rn. 1177; Fischer (Fn. 20), § 164 Rn. 13; Gössel/Dölling (Fn. 20), § 67 Rn. 11; Hillenkamp (Fn. 1), S. 123; Jescheck/Weigend (Fn. 21), S. 314; Kindhäuser (Fn. 20), § 52 Rn. 30; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 20), § 99 Rn. 22; Maurach/ Zipf (Fn. 19), § 23 Rn. 32; ; MK-StGB-Zopfs (Fn. 6), § 164 Rn. 41; Moojer, Die Diskrepanz zwischen Risikovorstellung und Risikoverwirklichung, Diss. Berlin 1986, S. 134; Prittwitz, GA 1983, 110 (131); Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 20), § 164 Rn. 31; Schreiber, JuS 1985, 873 (875); SK-StGB-Rudolphi/Rogall (Fn. 21), § 164 Rn. 41; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I5, 2004, § 8 Rn. 96 Fn. 125. 23 Beck-Online-Valerius (Fn. 19), § 164 Rn. 22 Herzberg ZStW 85 (1973), 867 (891); Krey/M. Heinrich (Fn. 16), Rn. 594; Kühl (Fn. 17), § 13 Rn. 40; Lackner/Kühl (Fn. 19), § 164 Rn. 8; LK-Ruß (Fn. 20), § 164 Rn. 30; Rengier (Fn. 20), § 50 Rn. 25; Roxin (Fn. 16) § 12 Rn. 170.
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die die aberratio ictus nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – erwähnen. In einigen Texten wird zu dem Thema ohne eigene Stellungnahme des Autors kurz referiert. Verhältnismäßig häufig wird als entscheidender Gesichtspunkt gegen Strafbarkeit aus § 164 Abs. 1 StGB die Nichterfüllung des Absichts-Merkmals benannt: Nach dem Gesetzeswortlaut muß der Täter in der Absicht handeln, „ein behördliches Verfahren . . . gegen ihn herbeizuführen“. Das Wort „ihn“24 verweise dabei auf den am Textanfang stehenden „anderen“ zurück, also die Person, die tatsächlich Opfer der falschen Verdächtigung geworden ist (im Fall BGHSt 9, 240 die Sekretärin D). Die mit „ihn“ bezeichnete Person müsse identisch sein mit der Person, die das Gesetz als „einen anderen“ bezeichnet.25 Daraus folge, dass der Täter die strafbarkeitsbegründende Absicht nur hat, wenn er den „anderen“, also den tatsächlich von der Verdächtigung betroffenen in falschen Verdacht bringen will.26 Da diese Voraussetzung im Abweichungs-Fall nicht erfüllt ist, habe der Täter nicht mit der vom Gesetz zur Strafbarkeitsvoraussetzung erklärten Absicht gehandelt.27 Um ein zusätzliches Argument, das über die allgemein zur aberratio ictus von der h. M. vorgetragenen Überlegungen hinausginge, handelt es sich dabei aber nicht. Denn auch das allgemeine Vorsatzmerkmal (§ 15 StGB) wird von den Vertretern der herrschenden Lehre so verstanden, dass nur ein Vorsatz, der sich auf die Person richtet, durch deren Verletzung der objektive Tatbestand erfüllt worden ist, ein subjektiv-tatbestandsmäßiger Tatvorsatz ist. Das gilt auch im Rahmen des § 164 StGB. Bei diesem Delikt muss demnach der Verdächtigungsvorsatz genau den „anderen“ erfassen, der wirklich Opfer des Verdächtigungsaktes geworden ist: „Wer einen anderen verdächtigt mit dem Vorsatz ihn zu verdächtigen . . .“. Ein Vorsatz bezüglich eines sonstigen „anderen“ ist somit im Zusammenhang der objektiv vollendeten Tat unbeachtlich. Als allgemein und übergreifend verwendbares Argument zur Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Relevanz einer Zielverfehlung im Rahmen von überindividuelle Rechtsgüter schützenden Straftatbeständen taugt die Bezugnahme auf das Absichtsmerkmal ohnehin nicht. Denn das Thema berührt zahlreiche Straftatbestände, die ein derartiges – und vor allem ein in dem entscheidenden Punkt sprachlich wie das des § 164 Abs. 1 StGB gestaltetes – Absichtsmerkmal gar nicht aufweisen (dazu unten III. 2.). Enthielte der subjektive Tatbestand der falschen Verdächtigung kein zusätzliches Absichtsmerkmal (wie das im österreichi24 Daraus die Konsequenz zu ziehen, dass der Straftatbestand nur männliche Verdächtigungsopfer schütze, fällt zu Recht niemandem ein. 25 Eisele (Fn. 21), Rn. 1177; Rath (Fn. 3), S. 320. 26 Beck-Online-Valerius (Fn. 19), § 164 Rn. 22; Herzberg ZStW 85 (1973), 867 (892); Krey/M. Heinrich (Fn. 16), Rn. 594; LK-Ruß (Fn. 20), § 164 Rn. 30; Rengier (Fn. 20), § 50 Rn. 25; Roxin (Fn. 16), § 12 Rn. 170. 27 Dagegen ausdrücklich Burchard, „Irren ist menschlich“, 2008, S. 477; SK-StGBRudolphi/Rogall (Fn. 21), § 164 Rn. 41.
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schen Strafrecht der Fall ist, vgl. § 297 ÖstStGB28), würden die Gegner der vom BGH vertretenen Meinung gleichwohl das Vorliegen einer vorsätzlichen Falschverdächtigung verneinen. Die Begründung muss daher an einem Punkt ansetzen, der eine Ausstrahlung auf möglichst alle berührten Straftatbestände – unter Umständen sogar solche, die Individualrechtgüter schützen – gewährleistet. Die Anhänger der in BGHSt 9, 240 vorgetragenen Rechtsansicht heben – wie der BGH – als entscheidend hervor, dass § 164 StGB die Rechtspflege schütze und dieses Rechtsgut durch die falsche Verdächtigung des tatsächlich bezichtigten Opfers in gleicher Weise beeinträchtigt sei wie durch die Bezichtigung der Person, auf die der Vorsatz des Täters sich richtete.29 Die Rechtspflege als eines der beiden von § 164 StGB geschützten Rechtsgüter sei in der Abweichungssituation „unverändert betroffen“.30 Dies trifft zwar in den meisten Fällen zu,31 erklärt aber nicht, warum die in Bezug auf das wirklich betroffene Opfer unvorsätzliche Verdächtigung denselben Strafwürdigkeitsgehalt hat wie die Verdächtigung des Opfers, das der Täter verdächtigen wollte. Denn im „klassischen“ Fall der aberratio ictus32 ist es in Hinblick auf das geschützte Rechtsgut auch gleichgültig, ob die abgefeuerte Kugel – wie vom Täter gewollt – das Opfer B trifft und tötet oder – vom Täter nicht gewollt – das daneben stehende Opfer C.33 Das Rechtsgut „Leben“ ist durch die Tötung des C ebenso verletzt wie es durch die Tötung des B verletzt wäre. Dies hält ja auch Ingeborg Puppe der h. M. entgegen, die bekanntlich den abstrakten Tötungsvorsatz – dem auch die Tötung des „falschen“ Opfers zugeordnet werden könnte – für die Begründung vorsätzlich vollendeter Tat gerade nicht ausreichen lassen will.34 Wer also im Fangbrief-Fall die Tatverlaufsabweichung für unerheblich erklärt, den „Standardfall“ der aberratio ictus hingegen im Einklang mit der h. M. beurteilt, müßte erklären, warum bei § 212 StGB nicht ebenso wie bei § 164 StGB die Kongruenz zwischen dem Vor28 § 297 Abs. 1 ÖstStGB (Verleumdung): „Wer einen anderen dadurch der Gefahr einer behördlichen Verfolgung aussetzt, dass er ihn einer von Amts wegen zu verfolgenden mit Strafe bedrohten Handlung oder der Verletzung einer Amts- oder Standespflicht falsch verdächtigt, ist, wenn er weiß (§ 5 Abs. 3), dass die Verdächtigung falsch ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr . . .“. 29 Eisele (Fn. 21), Rn. 1177; MK-Zopfs (Fn. 6), § 164 Rn. 41; SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 21), § 164 Rn. 41. 30 Eisele (Fn. 21), Rn. 1177. 31 Es trifft nicht zu, wenn die Verdächtigung in Bezug auf die tatsächlich in Verdacht geratene Person nicht „falsch“ ist und es trifft auch nicht zu, wenn die Bezichtigung der tatsächlich in Verdacht geratenen Person nur ein Verfahren einer ausländischen Behörde veranlassen könnte. 32 Fall 1 bei Grotendiek, Strafbarkeit des Täters in Fällen der aberratio ictus und des error in persona, 2000, S. 3. 33 In diesem Sinne kritisch gegenüber BGHSt 9, 240 (242) auch Hsu, „Doppelindividualisierung“ und Irrtum, 2007, S. 25. 34 Puppe GA 1981, 1 (11): „Vorsatz, ein Objekt der tatbestandsmäßigen Gattung zu verletzen“.
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satzinhalt (Tötung [also Verletzung des Rechtsguts „Leben“] des B) und der durch den tatsächlich eingetretenen Verletzungserfolg bewirkten Rechtsgutsbeeinträchtigung (Verletzung des Rechtsguts „Leben“ durch Tötung des C) ausreichen soll.35 Im übrigen trifft es schon tatsächlich nicht in jedem Fall zu, dass in § 164-Fällen „gerade die vom Täter gewollte Folge bei dem von ihm gewollten Schutzobjekt, nämlich der Rechtspflege“ eintrete.36 Gelangt der präparierte Fangbrief nicht – wie vom Täter gewollt – in die Hände des Polizeibeamten X, sondern – vom Täter nicht gewollt – in die Hände des Polizeibeamten Y, so tritt der Verdächtigungserfolg bei einem anderen zur Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Amtsträger ein. Dieser mag zwar wie sein Kollege dieselbe Einrichtung der staatlichen Rechtspflege repräsentieren, ist aber als physisches Individuum doch ein anderer als jener. Handelt es sich bei dem Polizeibeamten Y nun auch noch um jemanden, der die Täuschung durchschaut, während der Polizeibeamte X durch die Manipulation des Täters getäuscht worden wäre, ist auch der Irreführungseffekt in Bezug auf die Rechtspflege ein anderer. Erst recht verfehlt die Tat das anvisierte Ziel „Irreführung der Rechtspflege“, wenn die – gemessen am Vorsatz des Täters – „falsche“ Person, die den präparierten Fangbrief ahnungslos in die Hand nimmt, genau der Diebstahls-Täter ist, zu dessen Ermittlung und Überführung die Fangbrief-Falle gestellt worden ist. Ebenso ist die Lage schließlich, wenn der gegen einen Unbekannten gerichtete Tatverdacht inzwischen erloschen ist, entweder weil der Täter überführt ist und der Fangbrief damit seine Funktion verloren hat oder weil sich herausgestellt hat, dass es die mutmaßlichen Diebstahlstaten, zu deren Aufklärung der Fangbrief eingesetzt wurde, gar nicht gegeben hat.37 Während den Vertretern der Straflosigkeits-Lösung der Vorwurf zu machen ist, dass sie ein Argument vortragen, das nicht einmal im Bereich der AbirrungsFälle bei überindividuellen Rechtsgütern allgemein verwendbar ist, ist den Anhängern des BGH entgegenzuhalten, dass sie auf eine Begründung rekurrieren, welche bei den Individualrechtsgüter betreffenden Standard-Fällen der aberratio ictus auf die Strafbarkeit wegen vollendeter Vorsatztat hinauslaufen würde. Beide „Lager“ scheinen also keine völlig einwandfreie Begründung für die jeweils favorisierte Lösung zu liefern.
35 Nach Hillenkamp (Fn. 1), S. 28 liegt in der Argumentation mit dem in gleicher Weise beeinträchtigten Rechtsgut prinzipiell eine Zustimmung zur Gleichwertigkeitstheorie. 36 So SK-StGB-Rudolphi/Rogall (Fn. 21), § 164 Rn. 41. 37 Unzutreffend daher Janiszewski MDR 1985, 533 (538): „. . . dass der Erfolg seiner Handlung, an welchem Objekt er sich auch realisieren würde, immer einen Menschen belasten und den Polizeiapparat unnütz beanspruchen würde.“
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III. Weitere Fälle, weitere Tatbestände 1. Relevanz des überindividuellen Rechtsguts im Fangbrief-Fall Alles Nachdenken, Argumentieren und Schreiben über die aberratio ictus ist letztlich von dem Wunsch angetrieben, eine Lösung zu finden, die nicht nur für einen Standard-Fall argumentativ überzeugt und deshalb in Bezug auf diesen Fall als „richtig“ eingeschätzt wird, sondern die auch verallgemeinerbar ist und daher für alle möglichen Abirrungssachverhalte gleichermaßen die richtige strafrechtliche Behandlung vorzeichnet. Das bedeutet insbesondere, dass die Lösungskriterien auch eine sichere Orientierung in Fällen geben sollen, hinsichtlich derer schon fraglich ist, ob sie überhaupt die Merkmale einer „aberratio ictus“ aufweisen, wie beispielsweise in dem ebenfalls vom BGH entschiedenen „SprengfallenFall“.38 Nicht zuletzt soll die Lösung auch einsichtig machen, warum in dem einen Fall die Abirrung einer Strafbarkeit wegen vollendeten Vorsatzdelikts entgegensteht und in einem anderen Fall nicht.39 Der Fangbrief-Fall eignet sich zur Veranschaulichung derartiger Differenzen deswegen recht gut, weil die Tat der Angeklagten außer den Tatbestand der falschen Verdächtigung (§ 164 StGB) auch noch den Tatbestand der Verleumdung (§ 187 StGB) erfüllt haben könnte. Mit diesem Straftatbestand hat sich der BGH offenbar deswegen nicht befasst, weil nach h. M. die hier gegebene „Schaffung einer kompromittierenden Sachlage“ kein Behaupten oder Verbreiten i. S. d. §§ 186, 187 StGB sei.40 Nach der Gegenansicht wäre hingegen zu entscheiden gewesen, ob die Manipulation des Fangbriefes als Verleumdung zum Nachteil der Sekretärin strafbar gewesen wäre. Dabei wäre es entscheidend auf die Erheblichkeit der aberratio angekommen. Insoweit könnte der Aspekt „Gefährdung der Rechtspflege“, der für die Entscheidung des BGH zu § 164 StGB ersichtlich ausschlaggebendes Gewicht hat, nicht herangezogen werden. Vermutlich wäre der BGH der im Urteil angesprochenen herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum gefolgt und hätte Vorsatz in Bezug auf die objektiv gegebene Verleumdung der Sekretärin verneint. Denn am Ende seiner Entscheidungsbegründung bekräftigt der Senat das Vorliegen einer vollendeten vorsätzlichen falschen Verdächtigung, „obwohl in anderer Hinsicht das wirkliche Geschehen vom gewollten abweicht“.41 Soweit es um die strafrechtliche Beurteilung in einer „anderen Hinsicht“ ginge, hätte der BGH wohl auch anders entschieden. Demnach hat die davon abweichende Beurteilung der Abirrung im Kontext des § 164 StGB etwas damit zu tun, dass dieser 38 BGH NStZ 1998, 294; dazu Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 2002, § 20 Rn. 34 ff. 39 Im Sprengfallen-Fall hatte er BGH einen „error in persona“ angenommen und daher ein vorsätzlich vollendetes Tötungsdelikt bejaht, BGH NStZ 1998, 294 (295). 40 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 20), § 186 Rn. 7, 8; a. A. Gössel/Dölling (Fn. 20), § 31 Rn. 21 ff. 41 BGHSt 9, 240 (243).
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Tatbestand – auch – den „Schutz der Rechtspflege“ bezweckt. Da es sich um ein überindividuelles Rechtsgut handelt, liegt die Überlegung nahe, dass Abirrungsfälle generell bei Tatbeständen mit überindividueller Rechtsgutskomponente der vom BGH skizzierten Sonderbehandlung unterliegen könnten. Um dazu eine Erkenntnis zu gewinnen empfiehlt es sich, hier zunächst einige weitere Abirrungssituationen mit anderer tatbestandlicher Einbettung zu konstruieren und an diese jeweils die Frage heranzutragen, ob die strafrechtsdogmatischen Aussagen zur Tatverlaufsabweichung im Fangbrief-Fall auch auf sie zutreffen. 2. Weitere Fälle a) Durch eine leichte Abwandlung lässt sich dem Pistolenschlag-Fall, über den der 1. Strafsenat des BGH mit Urteil vom 2.2.1960 entschied,42 eine Struktur geben, die mit der des Fangbrief-Falles in den Punkten identisch ist, auf die es hier ankommt: Der Polizeibeamte P holt mit der rechten Hand aus, um dem A mit der Pistole auf den Kopf zu schlagen. Da A sich schnell wegduckt, trifft der Schlag den neben A stehenden B am Kopf. b) Auch der „Hafturlauber-Fall“ des 5. BGH-Strafsenates eignet sich gut für eine aberratio-relevante Variierung: Hätte der erste Schuss des Täters D den „vor dem Angeklagten stehenden Beamten“ 43 verfehlt und „den anderen herangetreten Polizeibeamten“44 tödlich getroffen, läge eine klassische aberratio-Situation vor. c) Ebenfalls leicht abgewandelt, passt der im Jahr 2009 vor dem Landgericht Oldenburg verhandelte „Holzklotz-Fall“ 45 in den Zusammenhang des vorliegenden Themas: T steht auf einer Autobahnbrücke und wirft einen schweren Holzklotz auf die Fahrbahn. Er will den Pkw X treffen. Da er aber die Geschwindigkeit der Fahrzeuge unterschätzt hat, trifft der Holzklotz den hinter X fahrenden Pkw Y. Für das Fahrzeug X hatte nicht einmal eine konkrete Gefahr bestanden. d) Ein Pkw-Fahrer fährt grob verkehrswidrig und rücksichtslos über einen Fußgängerüberweg und hält es dabei für möglich, von rechts den Fußgängerüberweg betretende Fußgänger zu gefährden. Da von rechts niemand den Fußgängerüberweg betritt, wird auf dieser Fahrbahnseite niemand gefährdet. Tatsächlich gefährdet der Fahrzeugführer aber Fußgänger, die von links kommend bereits den Fußgängerüberweg betreten haben.46
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BGHSt 14, 110. BGHSt 37, 289 (290) unten. 44 BGHSt 37, 289 (290) ganz unten. 45 Durch Beschluss vom 12.1.2010 hat der 4. Strafsenat des BGH die gegen das Urteil des LG Oldenburg gerichtete Revision des Angeklagten zurückgewiesen. Die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe ist damit rechtskräftig geworden. 46 Ein interessantes Sonderproblem „aberratio ictus beim Fahrlässigkeitsdelikt“ (§ 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB) ergibt sich, wenn man davon ausgeht, dass der Täter keinen Gefährdungsvorsatz hatte und sein Verhalten sorgfaltspflichtwidrig nur in Bezug auf die rechte Fahrbahnseite, nicht aber in Bezug auf die linke Fahrbahnseite ist; dazu Krümpelmann, FS Bockelmann, 1979, S. 443 (457). 43
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e) Auf einem Campingplatz wirft T mit Inbrandsetzungsvorsatz einen Molotowcocktail in Richtung des Wohnwagens des X. Der Brandsatz verfehlt den Wohnwagen des X, trifft aber den Wohnwagen des Y und setzt ihn in Brand.47 f) Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm wirft der Demonstrant T einen Farbbeutel in Richtung einer Gruppe miteinander diskutierender Staatsmänner. T will den italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi treffen. Der Beutel verfehlt sein Ziel und trifft den französischen Staatspräsidenten Sarkozy am Kopf.48
Mit etwas Phantasie ließe sich diese Aufzählung gewiss um zahlreiche weitere Sachverhalte und Straftatbestände erweitern. 3. Straftatbestände und Rechtsgüter a) In dem Pistolenschlag-Fall (a) wurde der Tatbestand der Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) verwirklicht. Die Tötung der Polizeibeamten im Hafturlauber-Fall (b) ist Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB). Der Holzklotz-Wurf (Fall c) ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB). Das gefährliche Fahren am Fußgängerüberweg (Fall d) ist Gefährdung des Straßenverkehrs gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2 c StGB. Der Wurf mit dem Molotow-Cocktail auf den Wohnwagen (Fall e) erfüllt den Tatbestand der schweren Brandstiftung (§ 306a StGB). In dem Farbbeutel-Fall (f) geht es um Angriffe gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten (§ 102 StGB) bzw. Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 StGB). b) Alle berührten Straftatbestände schützen überindividuelle Rechtsgüter: Das kann man vor allem daran deutlich erkennen, dass bei diesen Tatbeständen – wie ja auch bei § 164 StGB49 – umstritten ist, ob die Rechtswidrigkeit durch eine Einwilligung ausgeschlossen werden kann. Als zumindest sekundär50 geschütztes Rechtsgut wird im Zusammenhang mit dem Tatbestand „Körperverletzung im Amt“ (§ 340 StGB) das „Allgemeininteresse an korrekter Amtsführung“ genannt.51 Die Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung wird – vor allem wegen des Verweises auf § 228 StGB in § 340 Abs. 3 StGB – zwar überwiegend bejaht,52 zum Teil wird jedoch eine Einschränkung dieser Rechtfertigungsmöglichkeit postuliert, die eben auf der Amtsdeliktseigenschaft der Körperverletzung 47 Ähnliches Beispiel (bzgl. § 305a StGB) bei Warda, FS Stree/Wessels, 1993, S. 267 (272). 48 Ähnliches Beispiel bei Warda (Fn. 47), S. 267 (272). 49 BGHSt 5, 66 (68); Lackner/Kühl (Fn. 19), § 164 Rn. 11. 50 Primär geschützt sei der Einzelne vor Beeinträchtigungen seiner Körperintegrität, Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 20), § 340 Rn. 1. 51 Gössel/Dölling (Fn. 20), § 76 Rn. 1; Joecks, Strafgesetzbuch8, 2009, vor §§ 331 ff. Rn. 1; LK11-Hirsch (1999), § 340 Rn. 1; LK12-Lilie (2009), § 340 Rn. 1; MK-Voßen, 2006, § 340 Rn. 1; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 20), § 340 Rn. 1; a. A. NK2-Kuhlen, 2005, § 340 Rn. 4. 52 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 20), § 340 Rn. 5.
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im Amt beruhe.53 Ungeachtet der Kontroverse über den Schutzzweck des § 113 StGB besteht doch insoweit Konsens, dass die Norm die rechtmäßige Betätigung des Staatswillens und damit ein überindividuelles Rechtsgut schützt.54 Zur Frage der Rechtfertigung tatbestandsmäßigen Widerstands findet man in der Kommentarliteratur wenig,55 die Einwilligung wird überhaupt nicht thematisiert.56 Daraus kann man schließen, dass niemand die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Einwilligung in Erwägung zieht. In § 315b StGB ist neben den Individualgütern Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum die Sicherheit des Straßenverkehrs geschützt.57 Autoren, die diesem Schutzzweck Priorität zuschreiben, schließen daraus zwangsläufig auf den Ausschluss einer rechtfertigenden Einwilligung.58 Auch der Straftatbestand § 315c StGB schützt neben den konkret gefährdeten Individualrechtsgütern das „Universalinteresse an der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs“.59 Die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Einwilligung ist umstritten, vor allem die Rechtsprechung spricht sich dagegen aus.60 Als gemeingefährliches Delikt und abstraktes Lebensgefährdungsdelikt rückt auch die schwere Brandstiftung (§ 306a StGB) in die Nähe einer Straftat gegen überindividuelle Rechtsgüter.61 Rechtfertigende Einwilligung ist deshalb nicht möglich.62 Die Strafvorschriften zum Schutz ausländischer Staatsorgane und Staatsvertreter vor Angriffen und Beleidigungen (§§ 102, 103 StGB) dienen der Wahrung der guten Beziehungen Deutschlands zu den ausländischen Staaten.63 Zur Frage der rechtfertigenden Einwilligung findet man in den Kommentierungen dieser Vorschriften keine Stellungnahmen. Vor dem Hintergrund der Rechtsgutdefinitionen dürfte dieses Schweigen als Verneinung einer Rechtferti53
LK-Hirsch (Fn. 51), § 340 Rn. 15; ebenso LK-Lilie (Fn. 51), § 340 Rn. 15. Lackner/Kühl (Fn. 19), § 113 Rn. 1; MK-Bosch (Fn. 6), § 113 Rn. 1. 55 Eine der wenigen Kommentierungen, die sich mit der Rechtswidrigkeit des Widerstands befassen, findet sich bei SSW-Fahl (Fn. 4), § 113 Rn. 13, der die Möglichkeit einer Rechtfertigung nach §§ 32, 34 StGB, § 229 BGB verneint. 56 Siehe SSW-Fahl (Fn. 4), § 113 Rn. 13. 57 Gössel/Dölling (Fn. 20), § 42 Rn. 51; Lackner/Kühl (Fn. 19), § 315 Rn. 1 § 315b Rn. 1; LK12-König, 2008, § 315b Rn. 3; MK-Barnickel (Fn. 51), § 315b Rn. 1; NKHerzog (Fn. 51), § 315b Rn. 1; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 20), § 315b Rn. 1. 58 So LK-König (Fn. 57), § 315b Rn. 74a; a. A. MK-Barnickel (Fn. 51), § 315 Rn. 89. 59 BGHSt 6, 232 (234); 23, 261 (263); MK-Groeschke (Fn. 51), § 315c Rn. 1. 60 BGHSt 6, 232 (234); 23, 261 (264); LK-König (Fn. 57), § 315c Rn. 199; MKGroeschke (Fn. 51), § 315c Rn. 69. 61 Gegen eine „kollektivistische Schutzrichtung“ aber MK-Radtke (Fn. 51), § 306a Rn. 4. 62 LPK-StGB/Kindhäuser (Fn. 20), § 306a Rn. 13; LK-Wolff (Fn. 57), § 306a Rn. 34; MK-Radtke (Fn. 51), § 306a Rn. 55. 63 Schönke/Schröder/Eser (Fn. 20), vor § 102 Rn. 2; Lackner/Kühl (Fn. 19), vor § 102 Rn. 1; LK-Bauer/Gmel, 122007, vor § 102 Rn. 1; NK-Wohlers (Fn. 18), vor § 102 Rn. 2. 54
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gungsmöglichkeit zu verstehen sein. Fast alle berührten Straftatbestände schützen mehr oder weniger unstreitig auch individuelle Rechtsgüter. c) In sämtlichen Beispielen hat der Täter ein bestimmtes Tatobjekt anvisiert, aber ein anderes Tatobjekt getroffen. Ginge es allein um die Straftatbestände §§ 185, 211, 212, 223, 224 StGB, hätten die Sachverhalte in jeder tatsächlichen und rechtlichen Hinsicht die klassische aberratio-ictus-Struktur. Auch der rechtliche Gesichtspunkt, an dem sich der Streit um die strafrechtliche Behandlung der aberratio-ictus-Fälle entzündet, zeichnet sich in allen Beispielsfällen so ab wie in einem klassischen aberratio-ictus-Fall. Die getroffenen Objekte sind für die Erfüllung der Tatbestände §§ 340, 113, 315b, 315c, 306a und 102, 103 StGB ebenso geeignet wie die anvisierten verfehlten Objekte. Das jeweils geschützte überindividuelle Rechtsgut verletzte der Täter durch die Verletzung des getroffenen Objekts in gleicher Weise, wie er es durch Verletzung des anvisierten Objekts verletzt hätte. Die anvisierten und die getroffenen Objekte sind also tatbestandlich gleichwertig. Eine gewisse Sonderstellung nimmt im hiesigen Kontext der abgewandelte „Hafturlauber-Fall“ und der darin tangierte Straftatbestand § 113 StGB ein: Dieses Delikt hat die Struktur eines unechten Unternehmensdelikts,64 was man daran erkennt, dass die Tat des Täters – der Pistolenschuss – trotz Zielverfehlung zumindest eine vollendete Drohung mit Gewalt dem zunächst verfehlten Polizeibeamten gegenüber ist, zur Begründung der Vollendungsstrafbarkeit also gar nicht auf die Tötung des anderen Polizeibeamten abgestellt werden muss. Die aberratio-Thematik stellte sich also allenfalls, sofern zur Verwirklichung der Tatbestandsalternative „mit Gewalt“ bzw. „tätlich angreift“ eine physische Berührung des Opfers erforderlich wäre.65 Ähnlich verhält es sich mit dem Straftatbestand „Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten“ (§ 102 StGB): „Angriff“ ist bereits die final gegen den Körper des Opfers gerichtete Aggressions-Handlung. Auf den Eintritt des intendierten AggressionsErfolges kommt es nicht an.66 Der Täter, hat daher in dem obigen Beispiel einen vollendeten Angriff auf den Körper („Leib“) Berlusconis begangen, obwohl er den Körper Sarkozys getroffen hat.67 4. Das Argumentationsmuster der Fangbrief-Entscheidung in den anderen Fällen Allgemeingültigkeit der Argumentation des BGH im Fangbrief-Fall vorausgesetzt, führt deren Übertragung auf die anderen Fälle zu dem Ergebnis, dass die Täter wegen vorsätzlicher Körperverletzung im Amt, wegen vorsätzlichen68 geLK12-Rosenau, 2009, § 113 Rn. 6. Nach h. M. ist das bei beiden Alternativen nicht erforderlich, LK-Rosenau (Fn. 64), § 113 Rn. 23, 26. 66 NK-Wohlers (Fn. 18), § 102 Rn. 3. 67 Anders Warda zu dem von ihm gebildeten Fall, FS Stree/Wessels, S. 267 (272). 64 65
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fährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, wegen vorsätzlicher69 Gefährdung des Straßenverkehrs, und wegen vorsätzlicher schwerer Brandstiftung zu bestrafen sind.70 Aus Raumgründen soll hier nur anhand des Straftatbestandes „Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr“ (§ 315b StGB) in Anknüpfung an das „Holzklotz-Beispiel“ (oben 2 b) die Verallgemeinerbarkeit des Begründungsgangs und deren rechtliche Konsequenz gezeigt werden, indem in dem Text auf Seite 242 der im 9. BGHSt-Band abgedruckten BGH-Entscheidung die auf § 164 StGB bezogenen Vokabeln durch die auf § 315b bezogenen Vokabeln ersetzt werden: „Das Vergehen des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr richtet sich nicht nur gegen die Person des Gefährdeten, sondern auch gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs. Dabei kann es dahinstehen, ob der Schutz der Einzelperson oder – entsprechend der systematischen Stellung der Vorschrift – der Schutz der Verkehrssicherheit der überwiegende Zweck der Strafdrohung ist. Denn auch wenn sie in erster Linie dem Schutz des einzelnen dienen sollte, so würde doch der andere Zweck, der Schutz der Verkehrssicherheit, nicht von nebensächlicher Bedeutung sein. Soweit die Tat Angriff auf die Verkehrssicherheit ist, macht es, auch vom Standpunkt des Täters aus, keinen wesentlichen Unterschied, ob die Person, die er gefährden will, durch seine Handlung schließlich gefährdet wird oder eine andere Person, deren Gefährdung er nicht vorausgesehen hat. Diese Abweichung vom vorgestellten Verlauf des Geschehens hält sich, was die Verwirklichung des auf Gefährdung der Verkehrssicherheit gerichteten Vorsatzes anbetrifft, innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren und ändert den Unrechtsgehalt der Tat nicht. Der gewollte Erfolg, die Gefährdung der Verkehrssicherheit, ist erreicht.“ Die Verfehlung des Pkw X und das Treffen des Pkw Y haben in Bezug auf das geschützte Rechtsgut Straßenverkehrssicherheit nicht den Charakter einer Zielverfehlung, weil es für die tatbestandsmäßige Beeinträchtigung dieses Kollektivrechtsguts gleichgültig ist, an welchem individuellen Rechtsgutsträger sich die Gefährlichkeit des Eingriffs konkret manifestiert. Wie gesagt, ist diese schematische Übertragung der Fangbrief-Entscheidungs-Argumentation bei allen hier konstruierten Fällen und den von ihnen berührten Straftatbeständen möglich. Ob jedoch auch die schematische Ergebnisableitung71 – also Strafbarkeit wegen vorsätzlich vollendeter Tat68 „Vorsätzlich“ bedeutet hier, dass auch der konkrete Gefährdungserfolg vorsätzlich verursacht wurde und die Strafbarkeit sich deshalb auf § 315b Abs. 1 (i.V. m. § 15) StGB und nicht auf § 315b Abs. 4 StGB stützt. 69 „Vorsätzlich“ bedeutet hier, dass auch der konkrete Gefährdungserfolg vorsätzlich verursacht wurde und die Strafbarkeit sich deshalb auf § 315c Abs. 1 (i.V. m. § 15) StGB und nicht auf § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB stützt. 70 § 113 StGB und § 102 StGB sind in der Aufzählung nicht berücksichtigt, weil sich die Strafbarkeit trotz Zielverfehlung aus den oben (3 c) dargelegten Gründen unabhängig von der Argumentation der Fangbrief-Entscheidung ergibt. 71 Dafür Hillenkamp (Fn. 1), S. 117: „Für alle diese Fälle muß gelten, was der BGH für § 164 StGB ausgesprochen . . . hat.“
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begehung – in jedem dieser Fälle überzeugen würde, ist fraglich. Denn wie das gespaltene Echo in der Literatur zeigt (siehe oben II. 2.), ist bereits die Tragfähigkeit der Argumentation im Fangbrief-Fall selbst zweifelhaft. Die Skizzierung der eigenen Auffassung soll deshalb mit einer kritischen Würdigung von BGHSt 9, 240 ff. beginnen (unten IV. 1.). IV. Eigene Auffassung 1. Zum Fangbrief-Fall Wie gesehen, ist man sich in der Literatur nicht darüber einig, ob die BGHSt 9, 240 zugrunde liegende Sachverhaltsgestalt überhaupt eine Situation der aberratio ictus oder vielmehr nur ein Fall allgemeiner Kausalverlaufsabweichung ist. Auch die Bemerkungen des BGH sind insofern nicht eindeutig. Hervorzuheben ist jedenfalls, dass die auf das überindividuelle Rechtsgut „Rechtspflege“ bezogene Argumentation72 nicht als Beitrag zur aberratio-Diskussion verwertet werden kann, weil die Beziehung der Tat zum Rechtsgut „Rechtspflege“ gar keine aberratio-ictus-Struktur aufweist.73 Hinsichtlich des Rechtsgutes „Rechtspflege“ liegt eine aberratio ictus nicht vor, weil die Tat keinen anderen Inhaber dieses geschützten Rechtsgutes tangierte als die Täterin es wollte.74 Schon gedanklich ist es nicht ganz leicht, einen Tatverlauf zu konstruieren, der in Bezug auf dieses überindividuelle Rechtsgut eine Zielverfehlung mit den Kennzeichen der aberratio ictus abbildet. Dies ist deswegen schwierig, weil das „Rechtsgut“ – zumal ein „Zwischenrechtsgut“ wie das von § 164 StGB geschützte – ein „vergeistigter“ Gegenstand der Welt abstrahierenden strafrechtlichen Denkens ist, kein Objekt der „realen“ Welt.75 Der Vorsatz bezieht sich nicht auf Rechtsgüter76, sondern auf „Umstände“, vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.77 Daher ist die „Rechtsfigur“ der aberratio ictus ohne einen Bezug zu real existierenden Zielobjekten („Lebenskonkreta“) nicht denk- und beschreibbar.78 Um also das Bild einer aberratio ictus in Bezug auf das von § 164 StGB geschützte Rechtsgut „Rechtspflege“ zu zeich-
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BGHSt 9, 240 (242). Moojer (Fn. 22), S. 134 Fn. 18. 74 SK-StGB-Rudolphi/Rogall (Fn. 21), § 164 Rn. 41. 75 Deutscher, Grundfragen der falschen Straftatverdächtigung (§ 164 Abs. 1 StGB), 1995, S. 53; Janiszewski, MDR 1985, 533 (538). 76 Aus diesem Grund kann dem differenzierenden rechtsgutsbezogenen Ansatz von Hillenkamp (Fn. 1), S. 113 ff. nicht gefolgt werden. 77 Deswegen trifft m. E. die BGHSt 9, 240 beipflichtende Bemerkung von Hsu (Fn. 33), S. 24 nicht zu „dass das Rechtsgut auch zum Vorsatzinhalt gehört“. 78 SK-StGB-Rudolphi (Fn. 18), § 16 Rn. 33: „. . . dass der Vorsatz des Täters stets auf eine konkrete Wirklichkeit und nicht auf eine abstrakte Begrifflichkeit bezogen ist.“; ebenso Hettinger GA 1990, 531 (535); ders., JuS 1992, L 73 (76); Silva-Sanchez ZStW 101 (1989) 352 (360). 73
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nen, müsste sich dieses Rechtsgut als konkretes empirisches Rechtsgutsobjekt (Handlungsobjekt, Angriffsobjekt79) in Gestalt sächlicher (z. B. ein Polizeipräsidiumsgebäude oder der PC auf dem Schreibtisch eines Polizeibeamten) oder personeller (z. B. ein Polizeibeamter oder ein Staatsanwalt) Komponenten und diese als real existierende Adressaten der Verdachtsäußerung darstellen lassen. Auf einen solchen Adressaten müsste der konkretisierte Vorsatz des Täters gerichtet sein, tatsächlich müsste die Tat jedoch dieses Ziel verfehlen und stattdessen ein anderes gattungsgleiches Ziel treffen. Hätte es also im Fangbrief-Fall die Täterin darauf abgesehen gehabt, die Falschbezichtigung dem Kriminalkommissar X als Repräsentanten der durch § 164 StGB geschützten „Rechtspflege“ zur Kenntnis zu bringen – diesen also zu täuschen – und wäre die Verdächtigung tatsächlich aber von dem Kriminalkommissar Y aufgenommen worden, könnte man wohl von einer aberratio ictus hinsichtlich des überindividuellen Rechtsgutes sprechen. Weil die Dinge im Fangbrief-Fall so offenbar nicht lagen, hatte der BGH keinen Anlass, sich in Bezug auf das Rechtsgut „Rechtspflege“ explizit mit dem Streit um die aberratio ictus auseinanderzusetzen und sah sich vor allem nicht gezwungen, von dem auch in der Rechtsprechung zur aberratio ictus – damals wie heute – eingenommenen Standpunkt abzurücken. Es ist aber nicht zu leugnen – und das wird ja auch vom BGH eingeräumt80 –, dass in Bezug auf das verdächtigte Individuum (Sekretärin D statt Prokurist W) eine aberratio ictus vorliegt.81 Der BGH meint nun der Debatte um die aberratio ictus ausweichen zu können, weil es für die Strafbarkeit aus § 164 StGB ausreiche, dass das überindividuelle Rechtsgut „Rechtspflege“ als Angriffsziel nicht oder nicht wesentlich verfehlt worden sei82. Zwar ist letzteres richtig, begründet und legitimiert jedoch nicht die völlige Ausblendung der Zielverfehlung hinsichtlich der verdächtigten Person. Darüber hinwegzugehen kann allein den Anhängern der Mindermeinung gestattet werden, nach der § 164 StGB ausschließlich das überindividuelle Rechtsgut „Rechtspflege“ schütze.83 Dieser Fraktion möchte sich der BGH nicht definitiv zuordnen,84 sondern seine Ausführungen zum Rechtsgutstableau des § 164 StGB weisen Anklänge zu der h. M. auf, wonach § 164 StGB die Rechtspflege und den Verdächtigten alternativ schütze.85 Vor dem Hintergrund dieser alternativ-dualistischen Rechtsgutsbestimmung ist indessen zu fragen, welcher Unterschied zwischen einer hinsichtlich des IndividualLK-Walter12, 2007, vor § 13 Rn. 14. BGHSt 9, 240 (243). 81 Rath (Fn. 3), S. 321; Hsu (Fn. 33), S. 25. 82 Ebenso Hillenkamp (Fn. 1), S. 123. 83 Klesczewski, Strafrecht Besonderer Teil, 2002, S. 278; MK-Zopfs (Fn. 6), § 164 Rn. 4; a. A. NK-Vormbaum (Fn. 51), § 164 Rn. 10: ausschließlich Individualgüterschutz. 84 MK-Zopfs (Fn. 6), § 164 Rn. 2. 85 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 20), § 164 Rn. 1; SSW-Jeßberger (Fn. 4), § 164 Rn. 3. 79 80
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rechtsguts defizitären Falschverdächtigung und der nach § 145d StGB strafbaren Vortäuschung einer Straftat besteht. Mehr als eine vorsätzliche Irreführung der Rechtspflege plus fahrlässig oder nicht einmal fahrlässig verursachter Verdächtigung einer unschuldigen Person bleibt nicht übrig, wenn man die herrschende Lehre zur aberratio ictus überträgt auf die Verdächtigung des „falschen“ Opfers. Das darin enthaltene Unrecht geht über das des § 145d StGB nicht hinaus. Zudem setzt § 15 StGB eine vorsätzliche Verdächtigung des „anderen“ voraus. Ob dieser andere ein Rechtsgutsträger ist oder nicht, ist für das Vorsatzerfordernis ohne Belang.86 Auch wenn man die Rechtsgutsträgereigenschaft verneint, ist ein zielgerichteter Verdächtigungsvorsatz erforderlich. Diese gesetzlich verankerte Strafbarkeitsvoraussetzung kann nicht durch die Behauptung einer Rechtsgüteralternativität ausgelöscht werden.87 Der BGH hätte sich daher der Frage nicht verschließen dürfen, ob die Lenkung des Diebstahlsverdachts auf D – anstatt auf W – eine vorsätzliche Verdächtigung (der D) gewesen ist. Diese kurze Analyse des Begründungsganges der Fangbrief-Entscheidung gibt im übrigen Anlass, die oben (III. 4.) grob skizzierte Übertragung der Argumentation auf die anderen Beispielsfälle noch einmal kritisch zu hinterfragen. Mit der Akzentuierung des tangierten überindividuellen Rechtsgutes erklärt der BGH zugleich, dass eine aberratio ictus jedenfalls bezüglich dieser Unrechtskomponente nicht vorliege. Dies ist eine Aussage, die bei der Würdigung der anderen Fälle ebenfalls gemacht werden kann und die auch dort richtig ist. Im „Holzklotz-Fall“ beispielsweise wäre die Sicherheit des Straßenverkehrs auch beeinträchtigt gewesen, wenn der Holzklotz kein Fahrzeug getroffen und Träger individueller Rechtsgüter nicht einmal konkret gefährdet worden wären. Das Rechtsgut „Straßenverkehrssicherheit“, deren Beeinträchtigung der konkreten Gefährdung individueller Rechtsgüter vorgelagert ist,88 hätte die Tat also gar nicht wirklich verfehlt. Dagegen ist die Marginalisierung der Zielverfehlung im Individualgutsbereich allenfalls unter der Prämisse akzeptabel, dass der verwirklichte Straftatbestand das Individualgut lediglich alternativ neben dem überindividuellen Rechtsgut schützt. Wenngleich diese Prämisse – wie gesehen – in § 164 StGB keinen Halt findet, ist ja nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sie in einem der anderen Straftatbestände (§§ 340, 315b usw.) eine Verankerung hat. Allerdings müsste diese Alternativität auch in der gesetzlichen Tatbeschreibung zum Ausdruck gebracht werden, etwa indem der Gesetzestext zum Delikt „Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr“ (§ 315b StGB) verlautbart: „Wer im Stra86 Auch beim Diebstahl zweifelt niemand daran, dass der Täter den Vorsatz muss, die Sache „einem anderen“ wegzunehmen (Schönke/Schröder/Eser Rn. 45), obwohl nach Ansicht vieler der Gewahrsam kein Schutzgut des § 242 der „andere“ also kein Rechtsgutsinhaber ist, vgl. z. B. Schönke/Schröder/Eser Rn. 2. 87 Zutreffend Rath (Fn. 3), S. 321. 88 BGHSt 48, 119 (122).
haben § 242 StGB, § 242
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ßenverkehr Hindernisse bereitet und dadurch die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt oder Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet“. Der geltende Gesetzestext des § 315b StGB kumuliert jedoch mit den Worten „und dadurch“ die Gefährdungen der Verkehrssicherheit und der individuellen Rechtsgüterobjekte.89 Daher ist nicht aus § 315b StGB – auch nicht aus seinem Absatz 3 – strafbar, wer vorsätzlich die in Absatz 1 bis zu der Textstelle „und dadurch“ erwähnten Tatbestandsmerkmale verwirklicht, die konkrete Individualgutsgefährdung jedoch nicht in seinen Vorsatz aufgenommen hat und diesbezüglich auch nicht fahrlässig gehandelt hat.90 Mit dem Argument, bei § 315b StGB prävaliere der Schutz der Verkehrssicherheit und der Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit oder Eigentum sei demgegenüber nebensächlich, lässt sich das Vorsatzerfordernis in Bezug auf die konkrete Individualgutsgefährdung nicht eskamotieren. Tragfähig und zielführend ist die Argumentation der Fangbrief-Entscheidung daher nur in Bezug auf Straftatbestände, die ausschließlich überindividuelle Rechtsgüter schützen und bei deren Verwirklichung der Täter ein bestimmtes – nicht zum objektiven Tatbestand gehörendes und deshalb auch nicht vom Vorsatz zu umfassendes – individuelles Zielobjekt anvisiert, dieses jedoch verfehlt. Denkbar ist derartiges bei Umweltstraftaten, wie z. B. der Luftverunreinigung (§ 325 StGB): Verursacht der Täter eine Luftveränderung, die seiner Vorstellung nach geeignet ist, die Gesundheit der westlich der emittierenden Anlage lebenden Wohnbevölkerung zu gefährden, nähert sich die schadstoffbelastete Luft auf Grund der Windverhältnisse jedoch einem östlich der Anlage liegenden Wohngebiet, liegt eine vorsatzunerhebliche Abweichung des Geschehensverlaufs vor. Denn objektiv tatbestandsmäßig ist die Luftverunreinigung bereits, weil sie die Menschen im Osten und/oder im Westen zu gefährden geeignet ist. In welche Richtung sich die gefährliche Luftmasse tatsächlich bewegt, ist für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes irrelevant und kann folglich auch keinen Einfluss auf die Vorsätzlichkeit der Tat haben. Dafür ausreichend ist, dass der Täter die Schädigungseignung der Luftverunreinigung erkannt hat. Ob er diese Schlussfolgerung aus der möglichen Schädigung der Menschen in dem westlich gelegenen oder in dem östlich gelegenen Wohngebiet gewinnt, ist unerheblich. Dies gilt selbst dann, wenn der Täter überhaupt nicht erkannt hat, dass auch östlich der Anlage Menschen leben, deren Gesundheit geschädigt werden könnte.
89 Auch die der Strafvorschrift zugrundeliegende ratio kumuliert die Rechtsgüter, BGHSt 48, 119 (123). 90 Sofern nicht z. B. § 303 StGB oder § 305a Abs. 1 Nr. 2 StGB eingreift, hat der Täter nur eine Ordnungswidrigkeit begangen.
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2. Zur aberratio ictus allgemein Möglicherweise ist die Fangbrief-Entscheidung des BGH trotz kritikwürdiger Begründung im Ergebnis richtig. Die Art der Geschehensverlaufabweichung könnte die Beurteilung rechtfertigen, dass die Tat in puncto Vorsätzlichkeit die gleiche Bewertung verdient wie eine Tat, bei der das erreichte Ziel mit der Zielvorstellung des Täters übereinstimmt. Auszugehen ist zunächst einmal davon, dass die Tat nicht den Verlauf genommen hat, den der Täter sich vorstellte und der eine vorsätzliche vollendete Tat gewesen wäre. Die Tat hat das ihr zugedachte Ziel verfehlt, der Vorsatzgegenstand ist nicht vorhanden. Dieser Feststellung korrespondiert vorläufig das Urteil, dass die vorsätzliche vollendete Tat, die begangen worden wäre, hätte sie das ihr vorsatzmäßig zugedachte Ziel (Primärziel) erreicht, nicht begangen worden ist. Bei dieser Beurteilung bleibt es auch endgültig, wenn die Verfehlung des primären Ziels nicht durch eine sekundäre Zielerreichung kompensiert wird, deren Strafwürdigkeitsgehalt die Bestrafung als vorsätzliche vollendete Tat auf der Grundlage des Vorsatzes rechtfertigt, der auf das primäre – verfehlte – Ziel gerichtet war.91 Dieser Vorsatz müsste also der Verletzung des sekundären Objekts den gleichen Strafwürdigkeitsgehalt verleihen wie der Verletzung des primären Objekts. Dafür genügt es nicht, dass das sekundäre Ziel derselben straftatbestandlichen Gattung angehört wie das verfehlte Ziel. Wer allein auf die Gleichheit der Objekte abstellt, erfasst den vorsatzrelevanten Sachverhalt nur fragmentarisch.92 Denn nicht nur das wirkliche Ziel weicht von dem Ziel des Tätervorsatzes ab, sondern auch der Weg zu diesem sekundären Ziel ist ein anderer als der Weg, den der Täter sich mit Blick auf das primäre Ziel vorgestellt hat.93 Erforderlich und entscheidend ist daher, dass die zur Verfehlung des primären und Erreichung des sekundären Ziels führende Abweichung des Tatverlaufs eine Beschaffenheit hat, die es rechtfertigt, die sekundäre Zielerreichung noch als Gegenstand des auf das primäre Ziel gerichteten Vorsatzes zu bewerten. Da dieser Vorsatz das sekundäre Ziel (einschließlich des dahin führenden Weges) tatsächlich nicht erfasste, kann die Vorsatzkongruenz des sekundären Ziels nur über eine normative94 Ausdehnung des Vorsatzgegenstandes auf den gesamten „Streubereich“95 der Tat begründet werden. Es muss dargetan werden, dass der faktisch allein und punktuell auf das primäre Ziel ge91 Wenn der – bedingte – Vorsatz ohnehin auch auf das sekundäre Zielobjekt gerichtet war, mag zwar gleichwohl eine aberratio ictus vorliegen, weil es dem Täter auf das primäre Objekt ankam. Ein Vorsatzproblem stellt sich jedoch nicht; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 27 Rn. 59: „keine aberratio ictus“. 92 Das ist der Hauptgrund für die mangelnde Tragfähigkeit der Ausführungen bei Loewenheim, JuS 1966, 310 ff. 93 Backmann, JuS 1971, 113 (118); Wolter, in: Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 103 (123). 94 Dazu allgemein Roxin, FS Rudolphi, 2004, S. 243 ff. 95 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 8/80; AK-Zielinski, 1990, §§ 15, 16 Rn. 59.
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richtete Vorsatz in der rechtlichen Betrachtung und Bewertung auch das tatsächlich erreichte „Ersatz-Ziel“ erfasste, die tatsächliche Verengung des Vorsatzbereichs rechtlich nicht anerkennbar ist. Als das entscheidende Kriterium für eine plausible Begründung dieser normativen Anreicherung des Vorsatzinhalts erscheint mir die Zwangsläufigkeit, mit der ein Tatverlauf, bei dem das primäre Ziel verfehlt wird, ein sekundäres Ziel erreicht, das dieselbe straftatbestandliche Qualität hat wie das verfehlte primäre Ziel. Dies ist unter folgenden Voraussetzungen der Fall: Zunächst muss im Zeitpunkt des Tathandlungsvollzugs mindestens ein weiteres der tatbestandlichen Gattung angehörendes Tatobjekt vorhanden sein. Schon aus diesem Grund ist bei dem Straftatbestand „Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ (§ 90 StGB) eine zur Strafbarkeit wegen vorsätzlich vollendeter Tat führende aberratio ictus überhaupt nicht möglich. Des Weiteren muss sich das zweite potentielle Zielobjekt im Bereich des Risikos befinden, das der Täter durch seine mit Verletzungsvorsatz gegenüber dem primären Zielobjekt ausgeführte Handlung geschaffen hat. Das ist in der Standard-Situation der aberratio ictus „Danebenschießen“ mehr oder weniger der Fall. Das „mehr oder weniger“ korreliert vor allem mit der räumlichen Nähe oder Distanz des primären Zielobjekts zu dem infolge der Tatverlaufsabweichung getroffenen Sekundärobjekt.96 Schließlich muss der Täter von der Existenz eines Zweitobjekts im Risikobereich eine – zumindest anonymisierte („Es könnten noch andere Menschen in der Nähe sein“) – Vorstellung haben. Alle diese Voraussetzungen sind beim Schuss auf ein bestimmtes Individuum inmitten einer dicht stehenden Menschenmenge erfüllt, wenn statt des anvisierten Menschen der unmittelbare Nebenmann oder ein sonst nicht allzu weit entfernt stehender Mensch getroffen wird. Zwar mag auch unter diesen Umständen der Täter davon überzeugt sein, er werde das anvisierte Opfer und niemanden sonst treffen. Jedoch gibt es keinen Grund, ihn deswegen von einer strafrechtlichen Haftung wegen vorsätzlich vollendeter Tat freizustellen, wenn das Ziel verfehlt wird und ein anderer Mensch in seiner Nähe getroffen wird.97 Denn das Zweitobjekt befand sich im Risikobereich der gegen das Erstobjekt gerichteten Tat und dies war dem Täter bekannt. Eine Zielverfehlung musste ex ante gesehen nahezu zwangsläufig zur Folge haben, dass ein anderes Objekt derselben tatbestandsmäßigen Gattung getroffen wird. Dies ist anders bei einem Angriff auf eine am äußersten Rand der Menschenmenge stehende Zielperson98 und erst recht bei einer Tat in relativ menschenleerer Gegend, wo außer dem anvisierten Opfer nur noch ein zweiter Mensch 96 Ein weiteres Kriterium der Stärke des Risikos ist die Treffsicherheit des Schützen. Bei einem schlechten schützen ist das Verletzungsrisiko für das Zweitobjekt größer als bei einem guten Schützen. 97 Puppe, AT Bd. 1 (Fn. 38), § 20 Rn. 45. 98 Hettinger, GA 1990, 531 (553).
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vorhanden ist, der zudem in sicherer Entfernung zu dem Primärobjekt steht. Unter diesen Voraussetzungen beinhaltet der von einer Verfehlung des Primärobjekts abgedeckte Bereich nicht als einzige naheliegende Folge die Verletzung eines tatbestandlich gleichwertigen Sekundärobjekts, sondern ein breites Spektrum „zielloser“ Tatverläufe, die gewissermaßen am Primärobjekt vorbei „ins Leere“ gehen und kein strafrechtlich geschütztes Objekt treffen.99 Der Vorwurf einer vorsätzlichen Verletzung des getroffenen Zweitobjekts kann dem Täter jedoch auch unter diesen Umständen dann gemacht werden, wenn er mit einer Schusswaffe „wahllos“ in der Gegend herumschießt und es dabei für möglich hält, „irgendeinen“ Menschen zu treffen, d. h. zu verletzen bzw. zu töten.100 In einem solchen Fall ist das Risiko breiter gestreut und erfasst die potentiellen Opfer trotz der größeren räumlichen Distanz, die zwischen ihnen liegt. Die Kehrseite dieser breiteren Streuung ist, dass das Risiko für jedes einzelne im Risikobereich befindliche Opfer schwächer ist als das Risiko eines bestimmten Opfers, auf das der Täter gezielt schießt.101 Für eine Bestrafung wegen vorsätzlich vollendeter Tat mag dies aber im konkreten Fall gleichwohl noch ausreichen. Ist das Verletzungsrisiko ziellosen Herumschießens hingegen zu gering, um im Fall eines – nicht zufälligen102 – Treffers eine Strafbarkeit wegen vorsätzlich vollendeter Tat zu begründen, kommt allenfalls eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht. Die von der h. M. vertretene Beschränkung der Strafbarkeit auf Versuch bzgl. des verfehlten Primärobjekts und Fahrlässigkeit bzgl. des infolge der Abirrung getroffenen Sekundärobjekts ist somit dogmatisch fundiert, wenn die Verletzung des Sekundärobjekts nicht einmal den Charakter einer Folge bedingt vorsätzlichen – gemeint ist dolus eventualis bezüglich aller durch Herumschießen gefährdeten Objekte – „Herumschießens“ hat. Genau dies ist schon deswegen der Fall, weil ein Täter, der sich und sein Handeln auf ein bestimmtes Ziel konzentriert, gerade nicht wahl- und ziellos in der Gegend herumschießt. Er zielt an allen potentiellen Sekundärobjekten bewußt vorbei und verringert damit das Risiko dieser Objekte, durch die Tat verletzt zu werden erheblich.103 Kommt es dennoch infolge einer Tatverlaufsabweichung zur Verletzung eines tatbestandlich gleichwertigen Sekundärobjekts, dann nicht, weil der Täter mit Verletzungsvorsatz gehandelt hat,104 sondern obwohl er mit Verletzungsvorsatz gehandelt hat. 99
Gropp, FS Lenckner, 1998, S. 55 (63); Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 22), § 8 Rn. 95. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 617 Fn. 216. 101 Silva-Sanchez, ZStW 101 (1989) 352 (373). 102 Ein Zufallstreffer könnte nicht einmal Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründen. 103 Unzutreffend daher Loewenheim, JuS 1966, 310 (312). 104 Insoweit ebenso Herzberg, JA 1981, 470 (472): „. . . gleichgültig sein muss, ob die verirrte Kugel aus Übermut abgeschossen oder ob sie auf eine Dohle oder in Tötungsabsicht auf einen anderen Menschen gezielt war“; ähnlich Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 2009, § 7 Rn. 125; Puppe, AT 1 (Fn. 38), § 20 Rn. 44 a. E.; dies., Strafrechtsdogmatische Analysen, 2006, S. 380. 100
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Dieses „obwohl“ gehört zu der Erklärung des Zusammenhangs zwischen primärobjektsbezogenem Verletzungsvorsatz und tatsächlicher Verletzung des Sekundärobjekts jedoch nur, wenn das Sekundärobjekt nicht demselben Risikobereich wie das Primärobjekt angehörte. Anderenfalls steht in der Erklärung das „weil“. Letzteres ist typischerweise beim Schuss – zumal eines schlechten Schützen – auf einen bestimmten einzelnen in einer dicht stehenden Menschenmenge der Fall,105 während die Kommentierung mit „obwohl“ inspiriert wird durch die Verletzung eines Sekundärobjekts, das eigentlich nicht hätte verletzt werden dürfen, weil es von dem Primärobjekt so weit entfernt stand, dass es von dem Risiko eines vorsätzlichen106 Schusses in die Richtung des Primärobjekts nicht erfasst war.107 Der Vorsatz bezüglich des Primärobjekts verengt also den Risikobereich der Sekundärobjekte. Ingeborg Puppe drückt das so aus, dass hinsichtlich des Sekundärobjekts keine Vorsatzgefahr, sondern nur eine Fahrlässigkeitsgefahr bestehe. Ich halte das für treffend charakterisiert, weil der Vorsatz bezüglich des Primärobjekts für dieses die Verletzungsgefahr erhöht – deshalb Vorsatzgefahr – für die Sekundärobjekte hingegen die Verletzungsgefahr verringert – deshalb insoweit keine Vorsatzgefahr, allenfalls Fahrlässigkeitsgefahr. Der Vorsatz bezüglich des Primärobjekts ist insbesondere ein wesentlicher Bestandteil einer tauglichen Strategie zur Vermeidung108 einer Verletzung des Sekundärobjekts. Im gedanklichen und sprachlichen Fahrwasser Herzbergs könnte man die Behauptung wagen, mit dem vorsätzlichen Zielen auf das Primärobjekt schaffe der Täter eine „abgeschirmte“ Gefahr für das Sekundärobjekt, natürlich nur, wenn dieses weit genug vom Primärobjekt entfernt ist.109 Bewusstes Vorbeischießen ist für das Sekundärobjekt weniger gefährlich als wahl- und zielloses „Herumschießen“. Vor allem ist es weit weniger gefährlich als vorsätzlich-gezieltes Schießen auf das Sekundärobjekt! Dass der Täter genau dies getan habe – vorsätzlich-gezielt auf das Sekundärobjekt (!) zu schießen – bringt aber ein Schuldspruch wegen vorsätzlich vollendeter Tat zum Ausdruck. Es ist evident, dass dies nicht richtig ist.
105 Puppe, Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 17; dies., AT Bd. 1 (Fn. 38), § 20 Rn. 45; dies., Analysen, (Fn. 104), S. 380. 106 Wohl aber eines fahrlässigen Schusses in die Richtung des Primärobjekts; vgl. Puppe, Analysen, (Fn. 104), S. 380. 107 Puppe, Vorsatz, (Fn. 105), S. 31. 108 Dies ist ein „plus“ gegenüber der zutreffenden Feststellung, es sei „keine taugliche Methode, einen Menschen zu töten, dass man ungezielt in seiner Nähe herumschießt“, Puppe, Analysen, (Fn. 104), S. 380. Obiter: Wie verträgt sich damit eigentlich die Strafbarkeit des „grob-unverständig“ untauglichen Versuchs, § 23 Abs. 3 StGB?; Antwort: Gar nicht; näher dazu Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil11, 2003, § 26 Rn. 37, 61. 109 Herzberg, JuS 1986, 249 ff.
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V. Schluss Abschließend soll noch einmal der Fangbrief-Fall aufgerufen und zu ihm auf der Grundlage obiger Überlegungen zur aberratio ictus ein Ergebnis formuliert werden. Auszugehen ist davon, dass der Büroraum, in dem die Täterin den verräterischen Fangbrief platzierte, nicht nur dem W, sondern auch anderen Personen – zumindest der Sekretärin D – zugänglich war. Offenbar gehörte es auch zu den Aufgaben der D, diesen Raum oft zu betreten und dort Ordnung schaffend Hand an herumliegende Gegenstände zu legen. Die Täterin hat deshalb mit ihrer Tat die Gefahr geschaffen, dass anstelle des W jemand anderes durch den Fangbrief in unbegründeten Diebstahlsverdacht gebracht wird. D befand sich im „Streubereich“ der gegen W gerichteten Tat. Dass die Täterin die Falle mit einem ausschließlich auf W gerichteten Vorsatz gestellt hat, verringerte die Gefahr für D nicht. Verringert wurde die Gefahr für alle Personen, die sich normalerweise außerhalb des Büroraumes aufhalten und zu diesem keinen Zugang bzw. keine Zutrittsberechtigung haben. Hätte die D z. B. den präparierten Brief mit Handschuhen angefasst und in den Papierkorb geworfen, wäre dieser sodann von einer Reinigungskraft in einen großen Altpapiercontainer entleert worden und hätte dort jemand mit bloßen Händen diesen Brief herausgefischt, wäre der dadurch verursachte Verdächtigungserfolg dem Vorsatz der Täterin nicht zurechenbar. Denn indem sie den Brief gezielt im Büroraum des W hinlegte und nicht z. B. gedankenlos an einem allgemein zugänglichen Ort (z. B. Kantine oder Mensa) herumliegen ließ, verringerte sie die Gefahr für Außenstehende in ähnlicher Weise wie der präzise zielende Schütze, der nicht wild „in der Gegend herumschießt“. Gegen einen Sekundärerfolg, wie er an den Händen der D infolge der Tatverlaufsabweichung eingetreten ist, hat die Täterin jedoch mit ihrer auf W bezogenen Tat keine Vorkehrungen getroffen. Die Tat konnte durch den konkreten abweichenden Verlauf nicht „ins Leere“ gelenkt werden, sondern es war nahezu zwangsläufig, dass der gleiche tatbestandsmäßige Verdächtigungserfolg an einer anderen Person eintreten würde. Im Ergebnis hat der BGH den Fall daher richtig entschieden.
Der „Compliance-Officer“ als Unterlassensgarant Ein neues Zurechnungsmodell oder ein weiterer Schritt auf dem Weg der Evaporation von Zurechnungsparametern? Von Carsten Momsen I. Einführung Im vergangenen Jahr erging eine Entscheidung des 5. Strafsenats1, welche nach Ansicht vieler Beobachter2 geeignet sein könnte, neue Rahmenbedingungen für das strafrechtliche Haftungssystem in Großunternehmen zu schaffen. Glücklicherweise hat der Senat nicht, wie von einigen immer wieder gefordert3 und von anderen in der Rechtsprechung schon seit geraumer Zeit als angelegt angesehen4, erklärt, dass die juristische Person unmittelbarer Adressat schuldstrafrechtlicher Sanktionen sein könne. Weiterhin hat er keine Hinweise auf eine neue Spur strafrechtlicher Sanktionen gegeben5 – auch hierfür sollte man dankbar sein, soweit daran gelegen ist, das Prinzip des strafrechtlichen personalen Schuldvorwurfs zu bewahren. Der Senat hat jedoch Hinweise darauf gegeben, wie in einem Unternehmen künftig zugerechnet werden könnte. Zu den Konsequenzen dieser Erwägungen für den Aufbau einer unternehmensinternen „Compliance“-Struktur sind bereits eine Reihe von Meinungen geäußert worden6, sie werden im Folgenden eine eher begleitende Rolle spielen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die Implikationen der Überlegungen des Senats im Bereich der objektiven Zurechnung sich als Fortschreibung einer Entwicklung begreifen lassen, die sich unter dem Rubrum „Zurechnung in Großunternehmen“ seit prominenten Entscheidun1
BGH 5 StR 394/08 Urteil vom 17. Juli 2009 – NJW 2009, 3175. So bspw. Grützner, NJW 2009, Heft 43/Ed.; Stoffers, NJW 2009, 3176; Rotsch, ZIS 2009, 718; Berndt, StV 2009, 687; Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 ff. 3 Näheres bei Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, S. 129 ff.; Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 30 ff.; Dannecker, GA 2001, 102. 4 Näher Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, S. 1169. 5 Vgl. die Darstellung der Diskussion bei Seelmann, Kollektive Verantwortung im Strafrecht, S. 12 f.; vgl. aber auch den ablehnenden Abschlussbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems vom März 2000 (Hrsg. Bundesministerium der Justiz), S. 199 ff.; befürwortend bspw. Scholz, ZRP 2000, 435 ff. 6 Thomas, CCZ 2009, 240; Wybitul, BB 2009, 2264; vgl. bereits Kraft/Winkler, CCZ 2009, 32 (auf die sich der Senat erstaunlicherweise für seine eigene, sehr viel weiter gehende Auffassung bezieht). 2
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gen wie „Lederspray“7 einerseits, „Holzschutzmittel“ 8 andererseits, aber auch „Wuppertaler Schwebebahn“9 beobachten und in gröbster Zusammenfassung als eine schleichende Ablösung naturgesetzlicher Kausalitätskriterien als Ausgangsund Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Zurechnung durch eine bereits im Ursprung rein normative Zurechnung beschrieben werden kann. Oder laufen die Erwägungen zur Garantenstellung eines „Compliance-Officers“ eher auf die Implementierung eines als solchen zwar neuen Zurechnungsstrangs hinaus, der jedoch im herkömmlichen Sinne auf Kausalitätserwägungen aufbaut bzw. auf deren Äquivalent für den Bereich der Unterlassungsdelikte? II. Differenzierung zwischen Innenrevision und „Compliance“ Im eigentlichen Sinne hat der 5. Senat keine revolutionäre Entscheidung getroffen, wohl aber – und dies beileibe nicht versteckt – obiter dictu mögliche neue Anknüpfungspunkte für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in einem Großunternehmen aufgezeigt. Der entscheidungserhebliche Anlass war die Bewertung der Stellung des Leiters der Innenrevision in einem öffentlichen Unternehmen: „Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich aus dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche übernommen hat. Dabei ist auf die besonderen Verhältnisse des Unternehmens und den Zweck seiner Beauftragung abzustellen. Entscheidend kommt es auf die Zielrichtung der Beauftragung an, ob sich die Pflichtenstellung des Beauftragten allein darin erschöpft, die unternehmensinternen Prozesse zu optimieren und gegen das Unternehmen gerichtete Pflichtverstöße aufzudecken und zukünftig zu verhindern, oder ob der Beauftragte weitergehende Pflichten dergestalt hat, dass er auch vom Unternehmen ausgehende Rechtsverstöße zu beanstanden und zu unterbinden hat. Unter diesen Gesichtspunkten ist gegebenenfalls die Beschreibung des Dienstpostens zu bewerten“.
Durchaus bemerkenswert ist die daraus gefolgerte Auffassung, dass den Leiter der Innenrevision einer Anstalt des öffentlichen Rechts eine Garantenpflicht treffen könne, betrügerische Abrechnungen zu unterbinden, auch wenn sich ein aktives Handeln oder auch nur eine Anwesenheit des Angeklagten bei den Sitzungen, in denen die verfahrensgegenständlichen überhöhten Entgelte festgelegt wurden, nicht feststellen lasse. Die sich daraus ergebenden Fragen der subjektiven Zurechnung, die sich maßgeblich auf eine allgemeine Kenntnis bestimmter Vorgänge gründen soll, können hier nur angedeutet werden, da sie nicht unmittelbar zum Thema gehören10.
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BGHSt 37, 106 ff. BGHSt 41, 206, und OLG Frankfurt VuR 1992, 40 ff. 9 BGH NStZ 2002, 421. 10 Näher Stoffers, NJW 2009, 3176; Rotsch, ZIS 2009, 712 ff. 8
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In die Zukunft weisen allerdings die obiter dictu gemachten Ausführungen zur strafrechtlichen Haftung des sogenannten „Compliance-Officers“. Zunächst ist festzuhalten, dass die Entscheidungsgründe hier erkennen lassen, dass der Senat „Compliance“ nicht als ein – neuartiges – Phänomen sui generis begreift, sondern eher als eine Facette bereits herkömmlich im Unternehmen zu leistender Kontrollaufgaben. Diese werden in sinnvoller Weise nach ihrer Zielrichtung strukturiert. Als mehr oder weniger tradierte Aufgabe wird die Pflichtenstellung der im modernen Unternehmen über die bloß interne Buchungsüberprüfung hinausgehenden Rolle der Innenrevision beschrieben: Unternehmensinterne Prozesse zu optimieren und primär gegen das Unternehmen gerichtete Pflichtverstöße aufzudecken und zukünftig zu verhindern. Die Innenrevision richtet sich damit gegen Straftaten, die nur im weiteren Sinne als Wirtschaftskriminalität bezeichnet werden können, da hier die gemeinsame Klammer lediglich in der Betroffenheit eines Unternehmens als Opfer liegt. Die Besonderheit und die argumentative Nähe in Bezug auf die Pflichten von Innenrevision und „Compliance“-Organen besteht hingegen darin, dass die jeweils zu unterbindenden Taten durch Täter verübt werden, welche in der Regel Unternehmensangehörige bzw. dem Unternehmen nahestehende Personen sind. Die Innenrevision hat sich – unter dem Blickwinkel des Strafrechts – primär mit strafbaren Verhaltensweisen von Unternehmensangehörigen, welche sich gegen den Betrieb richten, zu befassen. „Compliance“ hingegen befasst sich aus der wohl richtigen Sicht des Senats primär mit Verhaltensweisen desselben Personenkreises, die sich jedoch nicht gegen den Betrieb richten, sondern aus diesem heraus gegen Dritte gerichtet sind. Häufig werden die Taten sogar – in gewisser Weise altruistisch – im mutmaßlichen Interesse des Unternehmens begangen, welches bei rein ökonomischer Betrachtungsweise von den Taten theoretisch profitieren kann. III. Die Aufgaben des „Compliance-Officers“ Der Senat umreißt die Stellung des „Compliance“-Verantwortlichen im Unternehmen damit dass der solcherart Beauftragte gegenüber der Innenrevision strukturell weitergehende Pflichten dergestalt haben müsse, auch vom Unternehmen ausgehende Rechtsverstöße zu beanstanden und zu unterbinden. Diese Aufspaltung der Pflichten ist vor dem in Aussicht genommenen Hintergrund einer klareren dogmatisch-systematischen Einordnung von Pflichten jedenfalls bei abstrakter Betrachtung durchaus sinnvoll. Sie trifft allerdings weder das angelsächsisch geprägte Begriffsverständnis11 von „Compliance“, noch findet sie sich in der Realität des Zuschnitts von Aufga11 Vgl. bspw. Steinmann/Kustermann, in: Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 4, 2009, Stichwort: Der „Compliance-Ansatz“, S. 212 ff. sowie den
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ben im Unternehmen wieder.12 Der Begriff „Compliance“ ist in einem allgemeinen Sinne als „Regelüberwachung“, aber auch als „Regeleinhaltung“ zu verstehen und bezeichnet damit die Gesamtheit aller zumutbaren Maßnahmen, die das regelkonforme Verhalten eines Unternehmens, seiner Organisationsmitglieder und seiner Mitarbeiter im Hinblick auf alle gesetzlichen Ge- und Verbote begründen. Darüber hinaus soll die Übereinstimmung des unternehmerischen Geschäftsgebarens auch mit allen gesellschaftlichen Richtlinien und Wertvorstellungen, mit Moral und Ethik gewährleistet werden. Damit stellt eine funktionierende „Compliancestruktur“ in einem Unternehmen nicht nur mittels Überwachung die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen sicher, sondern generiert diese Normen in praxi selbst mit. Sofern man also „Compliance“ in einem weiteren Sinne als vom Senat expliziert, begreift, könnten sich hieraus Konsequenzen im Bereich der Zurechnung fremder Straftaten ergeben: Bislang führen in der Hauptsache die §§ 30, 130 OWiG zu einer Haftung des Geschäftsherrn für Taten seiner Mitarbeiter, sofern diese zumindest durch ein Organisationsverschulden mitverursacht wurden. Als Sanktion kommt es regelmäßig zu einer Geldbuße gegen das Unternehmen selbst. Im Strafrecht wird diese, im Ordnungswidrigkeitenrecht sehr viel klarer zutage tretende, Haftungsstruktur als Geflecht von Garantenpflichten über § 13 StGB, ggf. in Verbindung mit § 14 StGB abgebildet. Die strafrechtliche Struktur ist dabei für Weiterungen augenscheinlich sehr viel offener als das Ordnungswidrigkeitenrecht, was zunächst erstaunt, da hier die aus Schuldprinzip und Bestimmtheitsgebot resultierenden Bindungen im Zweifel rigider sein müssten. Der Grund für diese Entwicklung ist in der an sich begrüßenswerten Tendenz der Rechtsprechung zu sehen, dem plakativ so bezeichneten Phänomen der „organisierten Unverantwortlichkeit“ als einem Kennzeichen moderner Großunternehmen zu begegnen.13 Gemeint ist hiermit der Umstand, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe und einem bestimmten Organisationsgrad nur im Wege der horizontalen, vor allem aber auch der vertikalen Verantwortungsteilung geleitet werden können. Will man hier nicht das strafrechtliche Zurechnungssystem ins Leere laufen lassen, so ist man gezwungen, einerseits bei Gremienentscheidungen sämtliche Gremienmitglieder für die Entscheidung und die hieraus erwachsenden Folgen haften zu lassen, und zwar unabhängig von ihrem Abstimmungsverhalten.14 Andererseits können auch vertikale Zuständigkeitsbeschränkungen innerhalb eines Gremiums eine Zurechnung der Entscheidung an die Lexikoneintrag bei Wikipedia „Compliance“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Compliance_ (BWL)). 12 Grützner, NJW 2009, Ed. Heft 43. 13 Dannecker, GA 2001, 102; vgl. auch Schünemann (Fn. 3), S. 30 ff. 14 Fall Mannesmann, BGH NJW 2006, 522.
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mangels organisatorischer Zuständigkeit nicht zur Entscheidung berufenen Mitglieder nicht grundsätzlich verhindern. Beide Zurechnungsstränge sind einzelnen, teilweise rein kasuistisch entwickelten, Beschränkungen unterworfen, in vertikaler Hinsicht beispielsweise dem Kriterium der Bedeutsamkeit oder Außerordentlichkeit der jeweiligen Entscheidung15, oder auch der verfahrensmäßigen Bedeutung der abgegebenen nicht zustimmenden Stimme bzw. der bloßen Anwesenheit16; ggf. wird auch zwischen Zustimmung und Enthaltung sowie Ablehnung differenziert. Die horizontale Zurechnung orientiert sich idealtypisch an den innerbetrieblichen Weisungsbefugnissen. Im Grundsatz haftet hier eine Ebene für die aus mangelnder Organisation und Überwachung resultierenden Straftaten unterer Ebenen. Dies kann ebenfalls zu einer mehrfachen Zurechnung einer konkreten Tat an verschiedene Organisations- oder Überwachergaranten führen.17 IV. Zurechnung der Straftaten von Mitarbeitern Dem hier nur grob skizzierten Haftungs- und Zurechnungssystem liegen wie aufgezeigt regelmäßig Organisationspflichten als Handlungspflichten zugrunde; die Folge ist, dass Leitungsorgane sich wegen unterlassener Handlungen strafbar machen können. Neben diesen „klassischen“ Zurechnungsstrang könnte nun ein weiterer treten, die aus dem Schattendasein der Revision heraustretende „Compliance“. Häufig verfügen Unternehmen mit eigenständigen „Compliance“-Abteilungen nicht mehr über eine Innenrevision des oben dargestellten erweiterten Zuschnitts, die Aufgaben werden teilweise durch den „Compliance-Officer“ mit abgedeckt. Häufig findet sich andererseits auch bei traditionell organisierten Unternehmen eine Innenrevision, welche de facto auch Aufgaben der „Compliance“ mit bewältigt, auch wenn diese häufig nicht im Vordergrund der übernommenen Pflichten stehen. Im Ergebnis kommt es aber, wie auch der Senat erkennen lässt, unabhängig von der Etikettierung auf die konkrete Aufgabengestaltung an: „Eine solche, neuerdings in Großunternehmen als „Compliance“ bezeichnete Ausrichtung, wird im Wirtschaftsleben mittlerweile dadurch umgesetzt, dass so genannte „Compliance-Officers“ geschaffen werden.18 Deren Aufgabengebiet ist die Verhinderung von Rechtsverstößen, insbesondere auch von Straftaten, die aus dem Unter-
15 So bspw. in den Entscheidungen OLG Düsseldorf NStZ 1981, 265; BGHSt 37, 106 ff., 124 ff. 16 So im Fall Mannesmann, BGH NJW 2006, 522. 17 Exemplarisch im Fall der Wuppertaler Schwebebahn, BGH NStZ 2002, 421. 18 Vgl. BGH 2 StR 587/07 Urteil vom 29.8.2008 = BGHSt 52, 323, 335; Hauschka, Corporate Compliance, 2007, S. 2 ff.
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nehmen heraus begangen werden und diesem erhebliche Nachteile durch Haftungsrisiken oder Ansehensverlust bringen können.19 Derartige Beauftragte wird regelmäßig strafrechtlich eine Garantenpflicht im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB treffen, solche im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Unternehmens stehende Straftaten von Unternehmensangehörigen zu verhindern. Dies ist die notwendige Kehrseite ihrer gegenüber der Unternehmensleitung übernommenen Pflicht, Rechtsverstöße und insbesondere Straftaten zu unterbinden“.20
Dies bedeutet nicht nur eine konsequente Fortführung der Rechtsprechung zum Fall Siemens/Schwarze Kassen aus dem 52. Band, sondern deren Weiterentwicklung hin zu einer spezifischen Garantenpflicht des „Compliance-Officers“ – ohne dass eine solche vom Senat expliziert würde. Im Unterschied zu den eigentlichen Leitungsorganen eines Unternehmens verfügt der „Compliance-Officer“ zunächst einmal jedoch nicht über vergleichbare operative Befugnisse, regelmäßig kann er keinen vergleichbaren Einfluss auf die Führung der Geschäfte oder die Personalpolitik und -führung nehmen wie die Vorstandsmitglieder. Daher ist es wohl zutreffend, für den „Compliance-Officer“ grundsätzlich nur von einer Unterlassensstrafbarkeit auszugehen, wie dies auch der Senat tut. Handelte der „Compliance-Officer“ bei der Begehung oder Förderung fremder Straftaten aus dem Unternehmen heraus aktiv, so könnte und müsste die Zurechnung nach den allgemeinen Regeln von Täterschaft und Teilnahme erfolgen. Wie aber hat man sich nun eine zurechnungsbegründende Verletzung, eine Handlungspflicht des „Compliance-Officers“, vorzustellen? Da er wie gezeigt regelmäßig keinen Einfluss auf das operative Geschäft und die Einstellungspraxis des Unternehmens hat21, beschränken sich die strafrechtlich relevanten Pflichten auf Überwachung, Anzeige abweichenden Verhaltens und ggf. die Einleitung oder Anregung von Gegenmaßnahmen.22 Nimmt man die Kernverpflichtung von Überwachung und Anzeige in den Fokus der Betrachtung, dann zeigt sich, dass eine Nähe zu § 138 StGB (Nichtanzeige) besteht. Ferner wird deutlich, dass hier der Sache nach eine eigenständige Pflichtverletzung bzw. die Verletzung einer spezifischen Pflicht zurechnungsbegründend wirkt. Dies würde allerdings grundsätzlich eher dafür sprechen, einen Tatbestand sui generis zu schaffen, als dass sich diese Pflichtverletzung als ein Anknüpfungspunkt für die Zurechnung fremder Taten aufdrängen würde, wie dies dem Senat vorschwebt. Problematisch ist nämlich bereits auf den ersten Blick, dass die zentralen „wirtschaftsstrafrecht19
Vgl. Bürkle, in: Hauschka, Corporate Compliance 2007, S. 128 ff. Vgl. Kraft/Winkler, CCZ 2009, 29, 32. 21 Übernimmt ein Vorstandsmitglied bspw. auch die Aufgaben eines Compliance-Officers, so wäre für die Haftung nach den konkret verletzten Pflichten zu differenzieren. 22 Im letzteren Fall dürften sich dieselben Fragen stellen, wie in Bezug auf die Pflichten des überstimmten Gremiumsmitglieds (vgl. nur BGH, Urteil v. 21.12.2005, NJW 2006, 522 – Mannesmann). 20
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lichen“ Normen des Kernstrafrechts, §§ 266 und 263 (Untreue und Betrug) nicht fahrlässig verwirklicht werden können, was bedeutet, dass eine Unterlassenstäterschaft nur vorsätzlich möglich wäre – insoweit gilt das oben für den Revisor Angedeutete – und eine Teilnahme durch Unterlassen, soweit man diese für möglich erachtet23, wäre ebenfalls erheblichen Beschränkungen unterworfen. Soweit wie bspw. bei § 264 StGB auch fahrlässige Begehungsweisen möglich sind, müsste das kognitive subjektive Element des teilnehmenden „Compliance-Officers“ dann sogar stärker ausgeprägt sein, da er selbst nicht nur fahrlässig handelnder Teilnehmer sein kann. Somit würde sich hier die Frage einer mittelbaren Täterschaft stellen. Diese Lösung erscheint jedoch angesichts der regelmäßig schwach ausgeprägten operativen Befugnisse der „Compliance-Officers“ nicht sachgerecht. Bereits diese wenigen Erwägungen zeigen, in welche schwer auszulotenden Untiefen das scheinbar so eingängig skizzierte Modell des Senats führen kann. Dass dieses Zurechnungsmodell in einer Vielzahl einfacher gelagerter Konstellationen durchaus zu zutreffenden Ergebnissen führen dürfte, wird nicht in Abrede gestellt, sagt aber nichts über seine dogmatische Kohärenz aus. V. Zurechnungsflexibilisierung oder Evaporation von Zurechnungsparametern Weitere Zweifel ergeben sich, sofern man versucht, die dargestellten Erwägungen mit anderen für das Wirtschaftsstrafrecht von der Rechtsprechung herausgebildeten Zurechnungsparametern zu verknüpfen: Ohne dass dies ausdrücklich so formuliert wird, erscheint es doch evident, dass der Senat auch durch seine Ausführungen zum „Compliance-Officer“ aufzeigen will, wie künftig aus strafrechtlicher Sicht gegen die oben erwähnte „organisierte Unverantwortlichkeit“ in großen Unternehmen vorgegangen werden soll. Auch wenn hier noch kein systematisch kohärentes Konzept vorgelegt wird, so lässt sich der Vorstoß des Senats doch als das Einschlagen eines weiteren „Pflocks“ interpretieren. Die grundsätzliche Zielrichtung dieser Bemühungen ist zu begrüßen, stoßen doch die strafrechtlichen Zurechnungslehren im Bereich moderner Begehungsformen von Wirtschaftskriminalität in einer besorgniserregenden Weise an ihre Grenzen. Um den einzelnen Fall noch zu erfassen und vermeintlich sachgerecht „lösen“ zu können, sah sich die Rechtsprechung in verschiedenen Fällen gezwungen, nach ausschließlich normativ bestimmten Kriterien zuzurechnen. Als Beispiele seien genannt, die Entwicklung des Kausalitätskriteriums 23 Vgl. zum konkreten Fall Rotsch, ZIS 2009, 714. Legt man bspw. die Auffassung von Puppe, GA 1984, 101 ff., und Strafrecht AT II (2005), § 41 Rn. 3 ff., zugrunde, so würden sich erhebliche Einschränkungen ergeben – für den hier angesprochenen Fall, wie noch zu zeigen ist, zurecht.
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zu einem Kriterium des „plausiblen Zusammenhangs“ im Fall „Degussa“24, die Ursächlichkeit des „konstruktiven Zusammenwirkens“ bei Gremienentscheidungen25 in den Fällen „Lederspray“26 und „Mannesmann“27, die Einführung einer „Opferwahlfeststellung“28 zur Ersetzung des (unmöglichen) Nachweises einer konkreten Tat bzw. eines konkreten Schadens im Fall „VW-Privatisierung“ 29 bis hin zur Annahme einer „statistischen Kausalität“.30 Neben einer Auflösung oder zumindest (und positiver gewendet) Flexibilisierung überkommener Zurechnungsgrenzen ist allen genannten Fällen eine weitere Tendenz gemeinsam, welche für eine am Schuldprinzip orientierte Zurechnungsdoktrin auf Dauer sehr problematisch werden muss: Die Tat bzw. die strafrechtlich relevante Verhaltensweise, welche zugerechnet werden soll, verliert aus der Perspektive der Person, der zugerechnet werden soll, immer stärker ihre Konturen.31 Man könnte es bildhaft so beschreiben, dass die Entfernung zwischen Zurechnungsobjekt und Zurechnungssubjekt stetig anwächst. Dieses Phänomen hat in Bezug auf die konkrete Entscheidung, welche als Transportmittel des obiter dictums dient, bereits Rotsch32 beschrieben. Der BGH drohe „den Tatbestandsbezug der Garantenpflicht aus den Augen zu verlieren“. Dies ist symptomatisch völlig richtig beschrieben, aber nicht umfassend diagnostiziert. Denn es schwindet nicht nur der Tatbestandsbezug, sondern es fehlt bereits ein homogener personaler Bezug der neu zu findenden Garantenpflichten, da es eben in der betrieblichen Realität nicht „den“ „Compliance-Officer“ gibt. Vielmehr handelt es sich derzeit eher um eine unternehmenspolitisch gewünschte Metapher, hinter welcher sich völlig unterschiedliche Pflichtenstrukturen verbergen.33 Dass es schon deshalb schwierig werden wird, vergleichbare Pflichten zu beschreiben, liegt auf der Hand, genauso wie es einstweilen nicht zu klären sein dürfte, ob es sich für den „Compliance-Officer“ primär um eine Überwachergarantenposition (Bezugspunkt: der Betrieb als Gefahrenquelle für die Begehung von Straftaten im betrieblichen Interesse durch Mitarbeiter zulasten Dritter) oder aber um eine Schutzgarantenstellung zugunsten des Betriebs (so wie für die klas24 So jedenfalls im Einstellungsbeschluss des LG Frankfurt a. M., zurückhaltender bekanntermaßen noch LG Aachen JZ 1971, 507 (Contergan). 25 OLG Stuttgart JZ 1980, 774 ff. 26 BGHSt 37, 106; kritische Anmerkungen zur strafrechtlichen Produkthaftung auch bei Bloy, in: Maiwald-FS, 2010, S. 35 ff. 27 BGHSt 50, 331. 28 Zunächst in medizinischen Zusammenhängen entwickelt (AIDS), BGHSt 36, 264, 269. 29 BGHSt 19, 37. 30 Lackner/Kühl, StGB26 (2007), Vor § 13 Rn. 11. 31 Kritisch zum Ganzen auch Puppe, in: NK-StGB3 (2010), Vor § 13 Rn. 83 ff. 32 Rotsch, ZIS 2009, 718. 33 Völlig zu Recht Grützner, NJW 2009, Ed. Heft 43.
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sische Innenrevision) handelt. Viel schwerer als diese Unzuträglichkeiten wiegen jedoch die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man die neuen Erwägungen dem vorher beschriebenen Bild der Zurechnungsflexibilisierung hinzufügt: Nimmt man die beispielsweise im Wuppertaler-Schwebebahn Fall34 dargelegten Grundsätze des gestuften, Garantenpflichten verletzenden, Auswahl- und Überwachungsverschuldens hinzu, so ergibt sich ein wesentlich erweitertes Haftungsbild gerade für Großunternehmen, deren auf Diversifizierung und Verantwortungsteilung gerichtete Strukturen bislang vielfach zu einer Vernebelung oder gar Atomisierung der schuldstrafrechtlichen Haftung führten. Betrachtet man den seinerzeit beurteilten Sachverhalt, so lassen sich ohne Schwierigkeiten Strukturen erkennen, welche sich auf das Verhältnis zwischen Vorstand (bspw.), „Compliance-Officer“ und einem sich unmittelbar tatbestandsverwirklichend verhaltenden Mitarbeiter in einem Unternehmen übertragen lassen: Bei der Erneuerung der Trägerkonstruktion an der Schwebebahn in Wu. wurde nach Abschluss der Arbeiten eine sog. „Stahlkralle“ vergessen, als die Strecke wieder für den Verkehr freigeben wurde. Da die „Kralle“ in den Schienenbereich hineinragt, entgleist der erste Schwebezug an dieser Stelle und stürzt in den Fluss. Bei dem Unfall werden 5 Fahrgäste getötet und 35 verletzt. Als Bauleiter verantwortlich für den Abbau aller Baugeräte war der Angestellte F der mit der Planung und Durchführung aller Arbeiten beauftragten Firma. Dem F wurde von dem Arbeiter W der vollständige Abbau aller Baugeräte gemeldet, bevor F die Strecke gegenüber dem Betreiber der Schwebebahn wieder freigab. F hatte zuvor dem bei seiner Firma beschäftigten W erklärt, wie der Abbau der Baugeräte, darunter auch der verbliebenen „Stahlkrallen“ zu erfolgen habe und betraute ihn mit der Durchführung sowie der Abschlusskontrolle. Da die Arbeiten unerwartet schwierig waren und zudem unter Zeitdruck standen, war W hocherfreut, als sich der auf dem Heimweg befindliche Kollege L freiwillig erbot, zu helfen. Obwohl er bemerkte, dass der L nach Alkohol roch, erklärte W dem L, wie er die „Stahlkrallen“ abzubauen habe und bat ihn, die auf seiner Seite des Gerüstes befindlichen „Stahlkrallen“ abzubauen. Dem F teilte W nichts darüber mit, dass auch L an den Arbeiten teilnahm. Nachdem W auf seiner Seite drei Stahlkrallen entfernt hatte, rief er dem L zu, dass er fertig sei und fragte, wie lange der L noch brauche. L antwortete, er sei gleich „soweit“ und kam kurze Zeit später zu W. Dieser nahm irrig an, L habe ebenfalls alle drei auf dessen Seite befindlichen „Stahlkrallen“ entfernt. Tatsächlich hatte er ihm jedoch die Anzahl zu keiner Zeit mitgeteilt, so dass L, der infolge seiner alkoholbedingt beschränkten Aufmerksamkeit nur zwei „Stahlkrallen“ gesehen hatte, nicht bemerkte, dass er eine Dritte noch nicht entfernt hatte. 34 Die Sorgfaltspflichtverletzung kann auch darin bestehen, dass der Täter Aufgaben übernimmt, denen er nicht gewachsen ist (so genanntes „Übernahmeverschulden“). Dies gilt insbesondere im Fall arbeitsteiligen Zusammenwirkens bzw. der Delegation von Verantwortung bspw. in einem Unternehmen – BGHSt 47, 224 = NStZ 2002, 421 – „Wuppertaler Schwebebahn“.
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Da F dem W vollständig vertraute, überprüfte er die Strecke nicht noch einmal, obwohl er hierzu durch die Geschäftsleitung verpflichtet worden war.
Seinerzeit hatte der zur Entscheidung berufene Senat angenommen, der L sei der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13) in fünf Fällen schuldig. Eine Erfolgsherbeiführung durch positives Tun schied offensichtlich aus, da L die Stahlkralle nicht selbst angebracht hatte. So habe L die ihm ungeachtet seiner durch Alkohol eingeschränkten Aufmerksamkeit physisch wie bei den vorherigen Krallen auch möglichen Erfolgsabwendung (Entfernen der Stahlkralle) unterlassen. Da der Zug allein aufgrund der vergessenen Kralle entgleiste, lag auch die sog. „Quasi-Kausalität“ des Unterlassens vor. Obwohl L selbst ungeachtet des Umstands, dass er bei der Firma des F arbeitete, keinen Auftrag durch F erhalten hatte, sich freiwillig erboten hatte, zu helfen, konnte eine Garantenstellung nicht aus Vertrag, wohl aber im Wege „tatsächlicher Übernahme“ zustande kommen.35 Denn die Pflichtenstellung, in welche der „Übernehmer“ L einrücken konnte, ließ sich klar umreißen. W hatte einen Auftrag erhalten (von dem dazu befugten und verantwortlichen Bauleiter F), der sich auf die gezielte Beseitigung einer hochbrisanten Gefahrenquelle für den Personenfahrbetrieb bezog. Die Gefährlichkeit der Gefahrenquelle wie auch die daraus resultierende Bedeutung dieses Auftrags war offenkundig. Durch die Übernahme dieses Auftrags trat der Übernehmer (L) in vollem Umfang in die Pflichten gegenüber dem Begünstigten (Benutzer der Schwebebahn) ein.36 Die vertragliche Garantenstellung von F und insbesondere auch W stand nach Auffassung des Senats einer Haftung des L nicht entgegen. Denn nach h. M. ist es bedeutungslos, ob der Übernehmer (der L) arbeitsvertraglich verpflichtet war und ob neben ihm noch andere Personen dieselbe Pflichtenstellung aufgrund anders begründeter Garanteneigenschaft innehatten (F und W aus Vertrag). L war also – wenn man es so ausdrücken will – „Nebengarant“.37 Diese Konstruktion mehrerer nebeneinander bestehender Garantenstellungen ist, wie sich zeigen wird, auch im Bereich der durch „Compliance“-Maßnahmen zu verhindernden Kriminalität in Großunternehmen von entscheidender Bedeutung. Insbesondere relevant ist der Umstand, dass der BGH in der Wuppertaler Entscheidung sehr deutlich gemacht hat, dass seiner Auffassung nach im Bereich des Unterlassens ein Zurechnungszusammenhang nicht durch das Hinzutreten verantwortlich „unterlassender“ Dritter unterbrochen werde.38 Bejaht man auf dieser Grundlage eine Garantenstellung des Übernehmers, so wäre der L konkret dazu verpflichtet gewesen, Gefahren (Schädigungen) von den 35 Vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, StGB27 (2006), § 13 Rn. 26; Jescheck, in: LKStGB12 (2007), § 13 Rn. 27; OLG Celle, NJW 1961, 1940. 36 Vgl. Lackner/Kühl (Fn. 30), § 13 Rn. 9. 37 Vgl. BGHSt 47, 224; Jescheck, in: LK-StGB, a. a. O. (Fn. 35); S/S-Stree a. a. O. (Fn. 35). 38 Puppe hat zu diesem Punkt freilich stets eine differenzierte Ansicht vertreten, NKStGB (Fn. 31), Vor § 13 Rn. 94 ff.
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Benutzern der Schwebebahn dadurch abzuwenden, dass er alle ihm zugewiesenen Stahlkrallen (d.h. auch die dritte) entfernt. Bei genauerer Betrachtung reicht die Pflichtenstellung des Übernehmers jedoch weiter, da sie letztlich aus einem umfassenderen Schädigungsverbot resultiert39: L wäre verpflichtet gewesen, sich nicht angetrunken auf der Baustelle aufzuhalten, jedenfalls aber nicht zu in diesem Zustand Arbeiten zu übernehmen. Dem steht nicht entgegen, dass L sich bereits auf dem Heimweg befand und nach Arbeitsende grundsätzlich keine entsprechenden Alkoholverbote bestehen. Denn für den Übernehmer besteht nach überwiegender Auffassung die Verpflichtung, verantwortungsvolle Tätigkeiten nicht in trunkenem Zustand zu übernehmen, vorwiegend abgeleitet aus einem allgemeinen strafrechtlichen Schädigungsverbot durch aktives Tun40 – welches allerdings seinerseits weder unumstritten noch unproblematisch ist.41 Der, wie sich zeigen wird, gerade im Bereich des „Compliance“-Beauftragten problematische Schritt lag auch im Wuppertaler Fall in der Annahme einer zurechenbaren Sorgfaltspflichtverletzung. Nach Auffassung des BGH hatte zwar L die Kralle nicht entfernt, jedoch hatte W seinerseits dem L die genaue Anzahl der zu entfernenden Krallen gar nicht mitgeteilt. Da L jedoch in vollem Umfang in die Garantenpflicht und -stellung des W eingetreten war, konnte er sich nach Meinung des Senats nicht darauf berufen, dass W seinerseits pflichtwidrig handelte. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die – auch konkludent mögliche – Mitübernahme gegenüber einer Person erfolge, die, wie der W, ihrerseits Garant ist.42 „Allerdings“, so der Senat, „reicht hierfür nicht jedes allgemein gehaltene, ersichtlich unverbindliche Hilfsangebot aus. Erforderlich ist vielmehr, dass durch die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben in zurechenbarer Weise das Vertrauen der übrigen Garanten in die verantwortliche Mitwirkung des Hilfswilligen bei der Gefahrenabwendung begründet wird“.43 Da L einwilligte, eigenverantwortlich die Krallen „auf seiner Seite“ abzubauen und W ihm zuvor erklärte, wie das zu geschehen habe, lag kein unverbindliches Hilfsangebot im o. g. Sinne vor und L rückte damit nach Ansicht des Senats in die Garantenstellung des W ein – gewissermaßen „neben den W“. Insoweit durften die übrigen Garanten (W und F) darauf vertrauen, dass L in seinem Arbeitsbereich die erforderlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwendung durchführen würde, also drei und nicht nur zwei Krallen abbauen würde. Zudem bedeutet die Übernahme zur „eigenverantwortlichen
39 Zum Rechtsgrund dieser Garantenstellung vgl. Wohlers, in: NK-StGB (Fn. 31), § 13 Rn. 43 ff.; grundsätzlich befürwortend Kudlich, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 13 Rn. 30. 40 Näher für den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts Momsen, in: Maiwald-FS, 2010, S. 561 ff. 41 Dies wird am Beispiel des Insiderstrafrechts gerade für den Bereich wirtschaftlicher Betätigung besonders deutlich; näher Momsen (Fn. 40), S. 561 ff. 42 BGHSt 47, 224; S/S/Stree a. a. O. (Fn. 35) Rn. 26, 30. 43 BGHSt 47, 224.
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Durchführung“ auch, dass der Übernehmer sich nicht „blind“ auf die Anweisungen des W verlassen durfte und selbst sicherstellen musste, dass in seinem Bereich alle Gefahrenquellen ausgeschaltet waren. Der Umstand, dass W ihn nicht auf die Anzahl der Krallen hingewiesen hatte, konnte daher den L nicht entlasten. Nach Auffassung des Gerichts verhielt sich L insoweit pflichtwidrig, als er es versäumte, sich zu vergewissern, dass keine weiteren Krallen vorhanden waren. Zudem existierte eine Dienstanweisung Nr. 33, welche jeden auf der Baustelle bei der Gefahrenbeseitigung Beschäftigen dazu verpflichtete, sich selbst davon zu überzeugen, dass die Strecke betriebssicher war.44 Ein wesentlicher Baustein einer wirksamen „Compliance“ war damit vorhanden. Dies kann aber den zur Einhaltung der innerbetrieblichen Norm berufenen Beauftragten nicht entlasten. Eine Konsequenz, die für ausführende Mitarbeiter im Baugewerbe oder operativ tätige Mitarbeiter im Dienstleistungs- oder Finanzbereich ohne weiteres nachvollziehbar erscheint. Aber wenn einen „Compliance-Officer“ die vom Senat nahegelegten Überwachungspflichten treffen würden, wäre es schwer, eine Grenze zu ziehen, welche diesen davor bewahrt, in Erfüllung seiner Pflicht alle anstehenden Arbeiten und Leistungserbringungen persönlich zu überwachen, bzw. ihn vor der Zurechnung unterlassener Überwachung der an sich dazu Berufenen zu bewahren. Für viele im engeren Sinne wirtschaftsstrafrechtliche Fallgestaltungen würde sich eine Haftungsmilderung durch die fehlende Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens ergeben. Jedoch könnten in der Unternehmensrealität mittlerweile durchaus auch Sorgfaltspflichten bei der Bauausführung, vor allem jedoch Unfallverhütungspflichten in den Pflichtenbereich eines „Compliance-Officers“ fallen. Unter diesen Vorzeichen wäre auch der Wuppertaler Fall ein „Compliance-Problem“. Die weiteren Voraussetzungen einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bereiteten keine besonderen Schwierigkeiten, insbesondere war der sog. „Pflichtwidrigkeitszusammenhang i. e. S.“ nicht durch eine Berufung auf den Vertrauengrundsatz auszuschließen.45 Auch in Bezug auf den W bejahte der Senat eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung. Die Pflichtwidrigkeit sei in der Übergabe der Arbeiten an den L begründet gewesen, der (1) erkennbar angetrunken war und (2) nicht ausreichend über die Anzahl der Krallen informiert wurde. Da der freiwillige Übernehmer nur neben den ursprünglich Verpflichteten tritt, konnte W sich nicht auf die eigene Fahrlässigkeit des L berufen. Denn dass ein angetrunkener Arbeiter eine der Krallen übersehen könnte, wenn er nicht über deren Anzahl genau informiert 44 Die Trunkenheit des L stellt eine Sorgfaltspflichtverletzung eigener Art dar, die den Verstoß gegen Normen der einschlägigen Berufsordnungen beinhaltet. Ist insoweit davon auszugehen, dass die Wahrnehmungsfähigkeit/Konzentration des L durch Alkoholgenuss beeinträchtigt war, liegt hierin eine eigene, wenngleich mit der vorgenannten zusammenwirkende, Pflichtwidrigkeit, welche sich unter dem Gesichtspunkt des sog. „Übernahmeverschuldens“ fassen lässt. 45 Dazu Momsen, in: SSW-StGB (Fn. 39), §§ 15, 16 Rn. 67 ff.
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wird, sei objektiv wie subjektiv vorhersehbar und vermeidbar. Für die Folgen der übersehenen Kralle gelte bei W Entsprechendes wie hinsichtlich des L.46 Da W weiterhin Mitgarant blieb, erlosch i. ü. seine Garantenpflicht, die Ausführung der Arbeiten (hier dann nicht der eigenen, sondern der des L) zu überwachen, nicht, der er nur teilweise dadurch nachkam, dass er den L fragte, ob er „fertig“ sei. Entscheidender Pflichtverstoß war daher nach Ansicht des Senats die Übergabe der Arbeiten an den L trotz Erkennens der Trunkenheit und ohne zureichende Information. Hingewiesen sei allerdings darauf, dass man durchaus hätte argumentieren können, dass die Informations- und Kontrollpflichten gerade infolge der erkennbaren Trunkenheit des L stärker ausgeprägt waren und die mangelnde Überwachung daher den Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Vorwurf begründen könnte. Im Ergebnis ist gleichwohl von entscheidender Bedeutung, dass nach dieser Argumentation parallele Garantenpflichten (Überwachung und keine Übernahme bei unzureichender persönlicher Disposition) auch dann bestehen können, wenn ein Übernehmer in die ursprüngliche Garantenstellung eintritt.47 Es entsteht im Unterlassensbereich dann lediglich ein zusätzlicher Zurechnungsstrang, der keine unterbrechende Wirkung im Hinblick auf die ursprüngliche objektive Zurechenbarkeit entfaltet. Dass dieses im Hinblick auf die strafrechtliche Auswirkung von Aufgabendelegation im Unternehmen von nicht unerheblicher Bedeutung ist, dürfte offensichtlich sein. Zutreffend erscheint, dass hier grundsätzlich dem Ziel des Rechtsgüterschutzes Vorrang vor einer differenzierten Benennung von Gefahrzuständigkeiten gegeben wird.48 Für die Ausbildung einer strafrechtlichen Zurechnungsstruktur bei Straftaten, die aus Unternehmen heraus begangen werden, wird man sich daher nicht um Zuständigkeitsdistinktionen drücken können, da dort die Grundlage der Garantenstellungen neben gesetzlichen Regelungen (s. u.) eben auch die vertraglichen Abreden und ggf. vorhandene satzungsmäßige Bestimmungen sein können. Hier wird es auch mit dem Argument des besseren Rechtsgüterschutzes nicht bei einer Allzuständigkeit der höchsten Ebene sein Bewenden haben können, da dies auf lange Sicht wirtschaftlich und organisatorisch paralysierende Wirkungen entfalten wird. Diese werden auch nicht durch eine Verlagerung des strafrechtlichen Haftungsrisikos auf den „Compliance-Officer“ umgangen werden können. Wegen des Fehlens der operativen Befugnisse stellt sich der „Compliance-Officer“ im Regelfall gerade nicht als ein sonstiger Beauftragter im Sinne des § 14 StGB Absatz 2 dar, welcher den in Absatz 1 Nr. 1 und 2 genannten Leitungsorganen wird gleichgestellt werden können.49 Eine strafrecht46
BGH NStZ 2002, 421. LG Saarbrücken NStZ-RR 2006, 75; Kudlich, in: SSW-StGB (Fn. 39), § 13 Rn. 30; differenzierend BGH NJW 2009, 240. 48 Dem zustimmend Kudlich, in: SSW-StGB (Fn. 39), § 13 Rn. 30; ders., JR 2002, 468. 49 Dazu näher Momsen, in: v. Heintschel-Heinegg, StGB (2010), § 14 Rn. 23, 35 ff. 47
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liche Verantwortungsaufspaltung wird, von Ausnahmen abgesehen, nur dann zu einer Effizienzsteigerung führen können, wenn damit auch eine Zuständigkeitsteilung und operative Entscheidungsverantwortung, zumindest im „normalen“ Geschäftsgang, einhergeht.50 Entsprechendes musste daher auch für F als verantwortlichen Bauleiter gelten. Auch dieser blieb Mit- bzw. Nebengarant mit fortbestehenden eigenen Überwachungspflichten, welche ihrerseits nicht durch die Übergabe der Tätigkeiten an den W erlöschen konnten. Auf dieser Argumentationsbasis ist es konsequent, dass auch der Umstand, dass F nichts von der Übernahme durch L wusste, die Zurechnung nicht unterbrechen konnte. Einerseits schon deshalb, weil dieser es seinerseits unterließ die Strecke zu überprüfen, obwohl er dazu verpflichtet war51, und andererseits, weil auch ihm ein Überwachungsverschulden (wenn nicht sogar ein Auswahlverschulden) im Hinblick auf den W zur Last fiel. Wendet man den Blick nun ab vom konkreten Fall der Schwebebahn und versucht, die dargelegten Zurechnungsgrundsätze nochmals auf die Unternehmensstruktur, insbesondere die vom 5. Senat skizzierte Pflichtenstellung eines „Compliance-Officers“ zu übertragen, so ergibt sich folgendes Bild: So wie im Fall des Schwebebahnabsturzes die Haftungskette von dem unmittelbar verantwortlichen Hilfsarbeiter, der die unfallverursachende Tätigkeit nicht hätte übernehmen dürfen, weil er zu einer ordnungsgemäßen Erledigung nicht in der Lage war, über den Chef des Bautrupps, der ihn damit betraute, obwohl er nicht zu seinem Trupp gehörte, von diesem zu seinem Schichtleiter und schließlich bis zum Prinzipal führte – weil jeder die Aufgabe an einen Untergebenen delegiert hatte, der seiner Verantwortung nicht gerecht wurde – so wäre hier eine Kette vorstellbar, die ihren Beginn bei demjenigen nehmen würde, der die Tat aus dem Betrieb heraus begeht, über Bereichsverantwortliche verläuft und weiter oder bereits parallel zum „Compliance-Officer“ hin zur Firmenleitung, die möglicherweise diesen nicht sorgfältig ausgewählt hat, reichen könnte. Sicher ist im Hinblick auf die Pönalisierung von „Compliance“-Verstößen über § 266 StGB Vorsicht geboten, wie Schünemann52 zu Recht betont, da der Schutz von § 266 StGB auf das „Vermögen“ bezogen ist und nicht zur Sanktionierung eines Systems der „Corporate Compliance“ geeignet ist. Jedoch steht nunmehr die Schaffung einer weiter reichenden Garantenstellung im Raume, die je nach
50 Vgl. zur rechtlichen Bewertung OLG Düsseldorf NStZ 1981, 265; BGHSt 37, 106 ff., 124 ff.; bei den Zivilsenaten findet sich allerdings eine zur Allzuständigkeit neigende Linie in Bezug auf die deliktische Haftung (BGHZ 133, 170 ff.). 51 BGH NStZ 2002, 421. 52 Schünemann, NStZ 2008, 433, allerdings im Zusammenhang mit der Diskussion um die Zweckberücksichtigung beim Schaden, worauf Knauer, NStZ 2009, 151, 153, zu Recht hinweist, jedoch dürften die Erwägungen des Senats über den Tatbestand des § 266 hinausgehender Natur sein.
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Maßgabe der in Betracht kommenden Tatbestände zu konkretisieren sein wird.53,54 Die Entscheidung des 5. Strafsenats, in welcher das Gericht obita dicta zur Garantenstellung des „Compliance-Officers“ ausführt, zeigt erstmals deutlich auf, dass es sich bei der Implementierung von institutionalisierten „Compliance“-Maßnahmen nicht nur um ein nobile officium handelt. „Compliance“ ist nicht nur ein unternehmenskosmetisches Mittel, welches bei mäßigem Aufwand dazu dienen kann, die Wahrnehmung des – in der Regel von Wirtschaftskriminalität im Interesse des Betriebes betroffenen – Unternehmens in der Medienöffentlichkeit und bei den politischen Entscheidungsträgern zu verbessern. „Compliance“ ist nicht nur als gleichsam kompensatorische Maßnahme dazu geeignet, den „good will“ der Unternehmensleitung zu dokumentieren und damit zugleich retrospektiv die von Verteidigungsseite geltend gemachten Zweifel an der subjektiven Zurechenbarkeit der begangenen Taten bis zur Unternehmensspitze zu verstärken. „Compliance“ führt auch zu strafrechtlichen Pflichten. Dies setzt aber voraus, dass erstens die Pflichten des „Compliance-Officers“ legislativ festgelegt werden und zweitens dürfte es wohl sachgerecht sein, einen eigenen Tatbestand der unterlassenen „Compliance“ zu schaffen, da nur so eine hinreichend konkrete Nähebeziehung von Zurechnungsobjekt und Zurechnungssubjekt gewährleistet werden kann. Zudem dürfte bereits der Versuch der Formulierung eines solchen Gesetzesvorschlags erweisen, ob sich entsprechende Garantenpflichten in einer dem Bestimmtheitsgrundsatz genügenden Weise erfassen lassen. VI. Ergebnis Der Senat hat durch seine Darlegungen aufgezeigt, dass eine zusätzliche strafrechtlich relevante Haftungsstruktur entstehen kann, welche eine funktionalpauschalisierte Zurechnung von Straftaten im „Betriebsinteresse“ ermöglichen könnte, sofern bestimmte weitere Schritte erfolgen. Konkret: Mit dem „Compliance-Officer“ steht augenscheinlich eine natürliche Person zur Verfügung, deren strafrechtlich abgesicherte Pflicht es ist, nach außen gerichtete Straftaten im Betriebsinteresse zu verhindern. Damit wird künftig in vielen, bisher kaum zu erfassenden Fällen ein Anknüpfungspunkt für eine schuldgebundene strafrechtliche Zurechnung bis in die Unternehmensspitze oder ihr unmittelbares Umfeld vorhanden sein, welcher es ermöglichen könnte, der Verschleierung von Verant-
53 Der von Knauer, NStZ 2009, 151, 152, angemahnten Gefahr einer Vermischung von Einwilligungsfragen mit der Bedeutung von „Compliance-Vorschriften“ für § 266 StGB scheint der 1. Senat nicht erlegen zu sein. 54 Soweit der 2. Senat diese für das ausdrückliche Verbot des Einrichtens schwarzer Kassen durch die Siemens-AG herangezogen hat.
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wortung durch funktionale Diversifizierung entgegenzuwirken, wie sie für die Wirtschaftskriminalität in großen Unternehmen typisch ist. Dies setzt allerdings voraus, dass es – möglicherweise abhängig von Umsatzoder Mitarbeitergröße – zu einer gesetzlichen Verpflichtung zur Benennung von „Compliance“-Beauftragten kommt. Zudem müssten verbindliche Regelungen getroffen werden, in welcher Weise diese Stellung in die Unternehmenshierarchie zu integrieren ist, wie ihre Position im Verhältnis zu Vorstand und Aufsichtsrat, zu Geschäftsführer und Gesellschafter ausgestaltet ist. Eine Regelung der Verantwortungsbereiche ist aus strafrechtlicher Sicht schon deshalb erforderlich, weil es sich anders als im Wuppertaler Fall in aller Regel nicht um eine tatsächliche sondern um vertragliche Übernahme von Pflichten handelt. Dementsprechend müssen die strafrechtlich relevanten Pflichten für „Compliance-Officers“ gesetzlich grundgelegt und vertraglich konkretisiert werden. Nur dann ist ein Zurechnungsmodell denkbar, mit dessen Hilfe spezifische Pflichtverletzungen des „Compliance-Officers“ zugerechnet werden könnten, nicht aber in einer die bisherigen und ohnehin schon stark verwischten Kriterien der Zurechnung endgültig evaporierenden Weise die Taten Dritter zugerechnet werden müssten, wie dies augenscheinlich dem Senat vorschwebte. Daher ist es für die strafrechtliche Aufarbeitung entsprechender Verstöße von entscheidender Bedeutung, dass Kompetenzen und Handlungspflichten des „Compliance-Officers“ in ein Verhältnis gesetzt werden, welches die Realität der Verantwortungsdifferenzierung in größeren Unternehmen einer dem Bestimmtheitsgebot genügenden Form abbildet. Dann aber wären die vorhandenen Strukturen des Schuldstrafrechts ein gutes Stück auf dem Weg vorangekommen, wirtschaftskriminelle Verhaltensweisen adäquat erfassen und sanktionieren zu können. Vor allem aber wäre ein Signal gesetzt gegen eine weitergehende schleichende Auflösung der bisherigen Zurechnungsmaßstäbe.
Zur Einwilligungslösung bei der einverständlichen Fremdgefährdung Von Uwe Murmann I. Die Diskussion um die einverständliche Fremdgefährdung – auch in ihrem Verhältnis zu einverständlicher Fremdschädigung sowie eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und eigenverantwortlicher Selbstschädigung – ist noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Bemerkenswert ist diese Diskussion insbesondere deshalb, weil sie nicht nur um unterschiedliche Wertungen bei konsentierten Prämissen kreist, sondern sich an ihr tiefgreifende Unterschiede über (straf-)rechtliche Grundlagen, etwa über das Tatbestandsverständnis, die Teilnahmelehre und die Bedeutung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit zeigen – letztlich erscheint es nicht übertrieben zu sagen, dass das Verständnis von Recht und Staat überhaupt in der Diskussion steht. Dies und die Verschiedenheit der Fallgruppen, die, ihrerseits in ihren Konturen umstritten, diskutiert werden, haben zu einer sonst kaum noch zu findenden Unübersichtlichkeit geführt. In dieser Landschaft konnte auch das jüngst ergangene Urteil des 4. Strafsenats1 nicht für Klärung und Beruhigung sorgen. In der regen wissenschaftlichen Diskussion, an der sich auch die Jubilarin beteiligt hat, sind vielmehr die erheblichen Meinungsunterschiede einmal mehr deutlich geworden.2 Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde: Die drei Angeklagten B., H. und S. gehörten ebenso wie der schließlich tödlich verunglückte J.-P. Sim. einer „Szene“ junger Männer an, die mit „hoch frisierten Autos“ auf öffentlichen Straßen Rennen veranstalteten. Die damit verbundenen Gefahren waren allen Beteiligten bewusst. B. und H. fungierten als Fahrer, S. und J.-P. Sim. als Beifahrer, denen es oblag, das Startzeichen zu geben und das Rennen zu filmen. Als während eines solchen Rennens der von B. gesteuerte VW Golf mit J.-P. Sim. als Beifahrer sowie der von H. gesteuerte Porsche Carrera mit S. als Beifahrer Geschwindigkeiten von über 200 km/h erreicht hatten, tauchte vor ihnen ein Opel Astra auf der zweispurigen Straße auf, der mit der an dieser Stelle zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h fuhr. Gleichwohl setzen die Fahrer das Rennen fort. Der 1
BGHSt 53, 55. Puppe, GA 2009, 486 ff.; Brüning, ZJS 2009, 194 ff.; Duttge, NStZ 2009, 690 ff.; Kühl, NJW 2009, 1158 f.; Lasson, ZJS 2009, 359 ff.; Renzikowski, HRRS 2009, 347 ff.; Roxin, JZ 2009, 399 ff.; Timpe, ZJS 2009, 170 ff. 2
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Fahrer des Opel Astra lenkte sein Fahrzeug nach rechts, während B. sich zur Mittelleitplanke hin orientierte und H. den Porsche auf die linke Spur zog, um den Opel Astra zu überholen. Beim Überholvorgang befanden sich alle drei Fahrzeuge auf gleicher Höhe; der Abstand zwischen dem Porsche und dem VW betrug etwa 30 cm. „Als sich die drei Fahrzeuge während des Überholvorgangs nebeneinander befanden, geriet das vom Angeklagten B. gesteuerte Fahrzeug mit den linken Reifen auf den Grünstreifen an der Mittelleitplanke. Bei dem Versuch, wieder auf die Fahrbahn zu gelangen, machte der Angeklagte B. eine zu starke Lenkbewegung, das von ihm gesteuerte Fahrzeug geriet ins Schleudern, kam rechts von der Fahrbahn ab, überschlug sich, prallte gegen ein Verkehrszeichen, schleuderte zurück gegen die Mittelleitplanke und kam schließlich nach etwa 300 Meter auf dem rechten Fahrstreifen zum Stehen, wo es in Brand geriet. Bereits vor dem Erreichen des Endstandes wurden die – nicht angeschnallten – Insassen aus dem Fahrzeug geschleudert.“ J.-P. Sim. verstarb noch am selben Tag.
Während das LG die Angeklagten B. und H. wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB) und S. wegen Beihilfe hierzu verurteilt hatte, änderte der BGH den Schuldspruch betreffend B. und H. dahingehend ab, dass diese auch der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB schuldig seien. Zu behandeln sind hier allein die Verurteilungen wegen des Tötungsdelikts, bei denen die rechtliche Relevanz des Verhaltens von J.-P. Sim. problematisch erscheint. Die Entscheidung wirft zum einen die Frage auf, ob ein Fall der Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, was nach überwiegend vertretener – aber nicht überzeugender – Auffassung zugleich über die Normebene, auf der das Problem angesiedelt ist, entscheiden soll (II.). Zu Unrecht orientiert sich die h. M. bei der Abgrenzung an den Regeln zur Beteiligung und bemüht sich um eine Übertragung des Tatherrschaftsgedankens, anstatt das Normprogramm abzuarbeiten, das auch sonst für die Behandlung von Fahrlässigkeitsfällen in den verschiedenen Stufen des Deliktsaufbaus zur Verfügung steht (III.). Liegt ein Fall der Fremdgefährdung vor, so ist schließlich die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung in eine Gefährdung zu begründen und es sind die Grenzen dieses Rechtfertigungsgrunds bei „unvernünftigen“ Entscheidungen auszuloten (IV.). II. Angesichts der zahlreichen Verstöße gegen die StVO im Rahmen des „Rennens“ steht für den BGH die objektive Pflichtverletzung als Voraussetzung einer Strafbarkeit nach § 222 StGB außer Zweifel. Daran ist sicher richtig, dass B. und H. sich bei dem Überholvorgang3 gemessen an den Anforderungen der StVO pflichtwidrig verhalten haben. Aber eine Pflichtwidrigkeit im Sinne von § 222 StGB ist damit noch nicht begründet:4 Ausschlaggebend hierfür ist vielmehr, 3
Zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts Duttge, NStZ 2009, 692.
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dass die Sorgfaltsnorm das Verhalten gerade mit Blick auf dessen Riskantheit in Richtung auf den eingetretenen Erfolg untersagt. Und damit stellt sich schon an dieser Stelle die Frage, ob es für die in Rede stehenden Sorgfaltsnormen eine Rolle spielt, dass es sich bei dem Unfallopfer um einen einvernehmlich an dem Rennen teilnehmenden Beifahrer handelte.5 Für den BGH hängt nun die Notwendigkeit, das Vorliegen eines Verhaltensnormverstoßes zu erörtern, von der einschlägigen Fallgruppe ab: Bei Einordnung des Falles in die Kategorien der eigenverantwortlichen Selbstschädigung oder -gefährdung wird diese Frage – und damit die Frage nach der Bedeutung der Eigenverantwortlichkeit auf der Ebene der Primärordnung – übersprungen. Stattdessen begibt sich der BGH direkt auf die Ebene der Sanktionsnormen und verengt damit seinen Blick auf die Behandlung der Strafbarkeit.6 Die stärker technisch-dogmatischen Überlegungen des BGH zur Strafbarkeit des Außenstehenden in Fällen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung sind bekannt:7 Da die vorsätzliche Teilnahme an Selbstverletzungen straflos ist, müsse es auch die fahrlässige Teilnahme sein. Dann könne es aber angesichts des Stufenverhältnisses von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten bei der fahrlässigen Teilnahme an der Selbstgefährdung nicht anders sein. Dieses sogenannte Teilnahmeargument greift freilich nur dort, wo das Bild von der Teilnahme des Außenstehenden überhaupt passt, also dort, wo der sich selbst Verletzende bzw. Gefährdende als (quasi) Täter angesehen werden kann. Die Abgrenzung zwischen (quasi täterschaftlicher) Selbstverletzung bzw. -gefährdung und sogenannten Fremdverletzungen bzw. -gefährdungen, bei denen das Teilnahmeargument nicht einschlägig ist, soll, immer noch ganz im Banne der Lehre von Täterschaft und Teilnahme, anhand des Kriteriums der Tatherrschaft erfolgen.8
4 Weshalb die „Sorgfaltswidrigkeitenlösung“ auch noch nicht daran scheitert, dass die Fahrer gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen haben; a. A. Roxin, JZ 2009, 399 f. 5 Auch wenn man, wie dies im Rahmen der objektiven Zurechnungslehre üblich ist, Sinn und Zweck der verletzten Verhaltensnorm (erst) bei der Realisierung des Verhaltens im Erfolg thematisiert (Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch26, 2007, § 15 Rn. 43; Timpe, ZJS 2009, 170 f.), ist damit letztlich doch die Frage aufgeworfen, ob das Verhalten in Richtung auf den tatsächlich eingetretenen Erfolg rechtlich missbilligt war oder nicht; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 65 f., 97 f.; ders., NStZ 1992, 5. Es ändert sich also nur der Standort der Prüfung, nicht ihr Inhalt. Die Verortung des Problems im tatbestandsmäßigen Verhalten oder in der objektiven Zurechnung soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden (eingehend zur Kritik der Schutzzwecklehre Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, 1988, S. 80 ff.). 6 Zur Kritik auch Duttge, in: FS für Otto, 2007, 240 f. 7 Zusammenfassend dazu Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 319 ff. 8 Was freilich vom Standpunkt der Rechtsprechung aus, die der Tatherrschaft bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe sonst lediglich untergeordnet indiziellen Charakter im Rahmen der Gesamtbetrachtungslehre zuweist (dazu Murmann, in: SSW-
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In diesen Bahnen bewegt sich der BGH auch im Ausgangsfall: „Liegt die Tatherrschaft über die Gefährdungs- bzw. Schädigungshandlung nicht allein beim Gefährdeten bzw. Geschädigten, sondern zumindest auch bei dem sich hieran Beteiligenden, begeht dieser eine eigene Tat und kann nicht aus Gründen der Akzessorietät wegen fehlender Haupttat des Geschädigten straffrei sein.“9 Auch bei der fahrlässigen Selbst- bzw. Fremdgefährdung bestimme sich die Abgrenzung nach „der Herrschaft über den Geschehensablauf, die weitgehend nach den für Vorsatzdelikte zur Tatherrschaft entwickelten objektiven Kriterien festgestellt werden“ könne.10 Vorliegend habe die Herrschaft über das unmittelbar gefahrträchtige Handeln, nämlich den Überholvorgang, bei den beiden Fahrern gelegen, während J.-P. Sim. als Beifahrer mit dem Geben des Startzeichens und dem Filmen des Rennens nur untergeordnete Beiträge geleistet habe.11 Damit liege ein Fall der Fremdgefährdung vor, der auch nicht der Selbstgefährdung gleichzustellen sei.12 Hinsichtlich S. hatte der BGH nicht zu entscheiden, nachdem das Landgericht alle Beteiligten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen und die Staatsanwaltschaft nur hinsichtlich der beiden Fahrer Revision eingelegt hatte. In der Konsequenz der Entscheidung hätte es gelegen, auch eine Fremdgefährdung durch S. anzunehmen. Zwar lässt sich nicht sagen, er als Beifahrer habe das Geschehen gesteuert. Andererseits liegt aber auch keine Mitwirkung an einer Selbstgefährdung vor, wenn man dem BGH in der Annahme einer Fremdgefährdung durch die beiden Fahrer folgt. Am treffendsten lässt sich dann wohl davon sprechen, dass S. durch Unterstützung der Fahrer an der Fremdgefährdung mitgewirkt hat, was nach traditioneller Fahrlässigkeitsdogmatik seine Täterschaft begründet.
Dass das Teilnahmeargument bei Selbstschädigungen und erst Recht bei Selbstgefährdungen nicht überzeugt, ist bereits vielfach ausgeführt worden.13 Seine grundlegende Schwäche liegt darin, dass die Prüfung der Tatbestandsverwirklichung durch den Außenstehenden anhand der hierfür erforderlichen StGB, 2009, Vor §§ 25 ff. Rn. 9 ff.), alles andere als selbstverständlich ist; zutreffend Puppe, GA 2009, 491 f.; Kühl, NJW 2009, 1158. 9 BGHSt 53, 55, 60 f. 10 BGHSt 53, 55, 61; Duttge, in: Otto-FS, 2007, S. 244; ders., NStZ 2009, 691. Zur Kritik vgl. Puppe, ZIS 2007, 249, die auf die Unvereinbarkeit dieses Konzepts mit dem (beim Fahrlässigkeitsdelikt von der h. M. anerkannten) Einheitstäterbegriff hinweist. 11 BGHSt 53, 55, 61; zustimmend Duttge, NStZ 2009, 691. Kritisch Kühl, NJW 2009, 1158, der den Vergleich mit einer Rallye im Motorsport zieht, wo „dem das Fahrtenbuch vorlesenden und die Lenkkommandos gebenden Beifahrer eine gleichrangige Herrschaft über das Fahrgeschehen wie dem die Kommandos ausführenden Fahrer“ zukomme – aber für den vorliegenden Fall sind solche Feststellungen nicht getroffen. 12 BGHSt 53, 55, 61 f. 13 Puppe, ZIS 2007, 249 f.; dies., GA 2009, 488 ff. Eingehend – auch zum Folgenden – Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 319 ff., 337 ff., 388 ff.; vgl. auch Duttge, in: MüKo, 2003, § 15 Rn. 150 f.; Freund, Strafrecht AT2, 2009, § 5 Rn. 71 ff.; ders., in: MüKo, 2003, Vor §§ 13 ff. Rn. 383; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Anm. 5), S. 3 ff.
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Voraussetzungen entfällt und durch die Prüfung einer Quasi-Täterschaft des Opfers14 in Verbindung mit dem – durch einen Erst-Recht-Schluss erweiterten – Teilnahmeargument ersetzt wird. So bleibt unklar, an welcher Voraussetzung einer Strafbarkeit es eigentlich fehlt. Auf die Unzulänglichkeit dieser Vorgehensweise hat Frisch zu Recht hingewiesen: „Es ist eine der wesentlichen Errungenschaften unseres Strafrechts, dass die Frage, ob sich eine Person strafbar gemacht hat, nicht einfach zum Gegenstand einer topisch offenen Plausibilitätsspekulation gemacht werden darf, sondern an die Erfüllung ganz bestimmter grundsätzlicher Straftatkategorien geknüpft ist.“15 Die Orientierung an dogmatischen Kategorien ist nicht etwa ein verzichtbarer Formalismus, sondern wesentliches Instrument zur Herstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Plausibilitätsargumentation der Rechtsprechung erweist sich dementsprechend auch schnell als fehleranfällig. Denn zum einen ist zweifelhaft, wann von einer quasi-täterschaftlichen Begehung durch das Opfer auszugehen ist. Und zum anderen ist zweifelhaft, ob und inwieweit eine Quasi-Täterschaft des Opfers den Außenstehenden von der Haftung ausschließt. Die erste Frage, die den Anwendungsbereich des Teilnahmearguments betrifft, wird von der h. M. unter Hinweis auf die Herrschaft über das Geschehen beantwortet. Die Übertragung des Herrschaftsgedankens von der Beteiligungslehre (§§ 25 ff. StGB) auf das Opferverhalten führt – weil das Opfer kein Rechtsverhältnis verletzt (also rechtlich überhaupt keine Verletzung vorliegt)16 und wegen des Einschlusses bloßer Gefährdungssachverhalte – notwendig zu einer Beschränkung auf die Herrschaft über Kausalverläufe.17 Dass aber die Herrschaft über äußere Abläufe die alleinige Verantwortlichkeit des Handelnden nach sich zieht, ist durch den Hinweis auf solche Herrschaft nicht begründet und in der Sache auch keinesfalls ausgemacht.18 So ist der Gedanke formuliert worden, dass die Tatbestandslosigkeit des Opferverhaltens dieses zum Werkzeug und den Außenstehenden damit zum mittelbaren Täter mache.19 Vor allem aber steht die 14 Die Begriffe „Opfer“ und „Täter“ können hier naturgemäß nur in einem gewissermaßen vorläufigen, ein äußeres Verhältnis von Verletztem und Verletzer umschreibenden Sinn verwendet werden, weil es ja gerade darum geht festzustellen, ob auch in einem rechtlichen Sinn ein Verhältnis von Opfer und Täter besteht. 15 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Anm. 5), S. 6. 16 Vom Boden der Teilnahmelehre gerät freilich die Frage überhaupt nicht in den Blick, ob in Fällen der Selbstschädigung und -gefährdung das Opfer rechtstreu handelt oder nur kein Strafunrecht verwirklicht. 17 Puppe, Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 3. 18 Eingehende Darstellung und Kritik bei Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 319 ff., 337 ff.; vgl. auch Puppe, GA 2009, 492 f. 19 So Schilling, JZ 1973, 163 ff.; früher schon Hegler, in: FS für Richard Schmidt, 1932, S. 71 ff. Vgl. ferner Binding, Handbuch des Strafrechts, 1. Band, 1885, S. 701; Eb. Schmidt, in: FG für Frank II, 1930, S. 124 f.; Kion, Die Beteiligung am Selbstmord, 1970, S. 73 ff. Eingehend dazu und zur Kritik Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 327 ff.
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Teilnahmelösung aufgrund der unaufgeklärten normativen Relevanz der Herrschaft über den äußeren Geschehensverlauf ungeschützt dem Einwand gegenüber, dass der nach h. M. beim Fahrlässigkeitsdelikt zu Grunde zu legende Einheitstäterbegriff20 die Geltungsgrenzen des Akzessorietätsprinzips – und damit auch die Geltungsgrenzen des Teilnahmearguments – markiert.21 Wie nachhaltig die Orientierung an Herrschaftsverhältnissen in die Irre führen kann, zeigen auch die Fälle einer beim Opfer liegenden Wissensherrschaft über den der Handlung des Außenstehenden anhaftenden Verletzungssinn. Beispielhaft hierfür ist der vom OLG Nürnberg entschiedene Fall, in dem ein Ehemann seine Frau dazu überredet hatte, mit einer angeblich ungeladenen Waffe auf ihn zu schießen.22 Die Annahme einer Wissensherrschaft, die eine mittelbare Täterschaft des Ehemannes und damit einen Verantwortungsausschluss der Ehefrau begründe,23 versperrt schon den Zugang zu der maßgeblichen Frage, welche Sorgfaltspflichten im Umgang mit fremdem Leben bestehen. Richtigerweise ist es mit Blick auf die – trotz angeblich fehlender Munition und diesbezüglicher laienhafter „Vergewisserung“ durch die Ehefrau fortbestehende – Gefährlichkeit verboten, eine Waffe auf einen Menschen zu richten und abzudrücken.24 Unter diesem Aspekt liegt dann selbstverständlich eine Fremdgefährdung vor.25 Die Wissensherrschaft des Opfers vermag den Handelnden nicht von seinen Sorgfaltspflichten im Umgang mit fremdem Leben zu entlasten.26
III. Es ist also wieder zurückzugehen auf die Frage, ob B. und H. in Richtung auf den tödlichen Ausgang des Rennens ihre Sorgfaltspflichten verletzt haben.27 Das ist hier eben (aber auch: nur) deshalb zweifelhaft, weil J.-P. Sim. als Beifahrer Puppe, in: NK3, 2010, Vor § 13 Rn. 178 ff. Puppe, ZIS 2007, 249; Renzikowski, HRRS 2009, 348. 22 OLG Nürnberg, NJW 2003, 454; gleiche Strukturen weist der „Zivildienstleistenden-Fall“ des BGH (NJW 2003, 2326) auf. 23 Duttge, NStZ 2009, 692; ders., in: FS für Otto, 2007, S. 245 f.; Engländer, JZ 2003, 748; M. Heinrich, in: HK-GS, 2008, Vorbem. § 13 Rn. 143; Kühl, Jura 2010, 82; Otto, JK 3/04, StGB § 216/7; Puppe, in: NK3, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 185; Roxin, in: FS für Otto, 2007, 441 ff.; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT I33, 2009, Rn. 65a. 24 Roxin, in: FS für Otto, 2007, S. 444, räumt ein fahrlässiges Verhalten der Ehefrau ein. Die Fahrlässigkeit sei aber aufgrund der „raffiniert inszenierten Täuschung“ durch das Opfer „geringer“ als in bestimmten Vergleichsfällen, die der Fremdschädigung oder -gefährdung zuzuordnen seien. Wenn aber ein – wenn auch (angeblich) geringer – Fahrlässigkeitsvorwurf erhoben werden kann, dann lässt sich die Erfüllung des Fahrlässigkeitstatbestands nicht verneinen – auch nicht unter Hinzuziehung gewisser „Vergleichsfälle“. 25 Und nicht etwa die Mitwirkung an einer Selbstschädigung, wie Roxin (Fn. 23), 443, meint; ebenso M. Heinrich, in: HK-GS, 2008, Vorbem. § 13 Rn. 143. 26 Herzberg, NStZ 2004, 3 ff.; Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 343; im Ergebnis auch Küpper, JuS 2004, 759 f. (gestützt auf Überlegungen zur Handlungsherrschaft). Eine andere Frage ist dann freilich die, ob das Verhalten des Außenstehenden von einer Einwilligung gedeckt ist, dafür Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 218; Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 684a. 20 21
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mit dem Rennen, und wohl auch mit dem gefährlichen Überholmanöver, einverstanden war.28 Ob aber die Zustimmung tatsächlich die rechtlich missbilligte Gefahrschaffung – und mithin die Tatbestandsverwirklichung – betrifft, bleibt vorab zu klären. Immerhin besteht noch insoweit Einigkeit, als jedenfalls die Rechtlichkeit des Verhaltens (nicht die Schuld)29 in Rede steht. Ob das zustimmende Opferverhalten nun aber auf der Prüfungsstufe des Tatbestandes oder der Rechtswidrigkeit zu verorten ist, kann sich – da in beiden Fällen die Ebene des Unrechts betroffen ist – nur nach dem Zweck dieser Stufen im Deliktsaufbau beurteilen.30 Es entspricht traditioneller und zutreffender31 Dogmatik, bei Tatbeständen, zu deren typisiertem Unrechtsgehalt – in normativer, nicht unbedingt in tatsächlicher Hinsicht32 – ein Handeln gegen den Willen des Opfers nicht gehört, dessen Zustimmung erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit – als rechtfertigende Einwilligung – zu berücksichtigen.33 So liegt es bei den Körperverletzungs- und den Vgl. in diesem Sinne auch Freund, Strafrecht AT2, 2009, § 5 Rn. 72; Puppe, ZIS 2007, 250; Schlehofer, in: FS für Herzberg, 2008, S. 357 f. 28 Eine Zustimmung des Beifahrers nicht nur zu dem Rennen, sondern auch zu dem gefährlichen Überholmanöver, liegt nahe, weil alle Beteiligten einer „Szene“ angehörten, in der solche Rennen auf öffentlichen Straßen, meist sogar unter Beteiligung von fünf bis sieben Fahrzeugen, häufiger veranstaltet wurden. Solchen Rennen sind gefährliche Situationen, die sich nicht allein im Fahren mit hohen Geschwindigkeiten erschöpfen, immanent. Es liegt fern, dass die Beifahrer, die mit den Fahrern gewissermaßen „eingespielte Teams“ bildeten, nun von der Risikobereitschaft der Fahrer überrascht wurden. Dagegen spricht auch, dass beide Fahrer das Rennen ohne Zögern einvernehmlich fortgesetzt haben. Zumindest ist vor diesem Hintergrund von der Zustimmung der Beifahrer in dubio pro reo auszugehen; a. A. Puppe, GA 2009, 495 f.; Rengier, Strafrecht BT II10, 2009, § 20 Rn. 14; Roxin, JZ 2009, 402; zutreffend dagegen Renzikowski, HRRS 2009, 352; Kühl, NJW 2009, 1158 neigt sogar einer gleichrangigen Geschehensherrschaft von Fahrer und Beifahrer zu. 29 So noch das RG (St 57, 172) im berühmten „Memel-Fall“ in Konsequenz der Auffassung, Vorsatz und Fahrlässigkeit seien Bestandteile der Schuld. 30 Eine generelle Gleichstellung von Selbst- und Fremdgefährdung auf der Ebene des tatbestandsmäßigen Verhaltens bzw. der objektiven Zurechnung rechtfertigt sich nicht aus dem Prinzip der Selbstverantwortung (a. A. Puppe, ZIS 2007, 250 ff.; dies., in: NK3, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 192; Timpe, ZJS 2009, 174 f.). Denn dieses Prinzip besagt überhaupt nichts darüber, ob die eigenverantwortliche Entscheidung bereits den Tatbestand oder erst die Rechtswidrigkeit betrifft. 31 Z. B. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT11, 2003, § 17 Rn. 93 ff. Zur Gegenauffassung jüngst erneut Roxin, in: FS für Amelung, 2009, S. 269 ff. 32 Es ist natürlich unbestreitbar, dass etwa das Gros der Körperverletzungen und Sachbeschädigungen bewilligt ist, so dass für eine statistische Betrachtung die Willenswidrigkeit gerade nicht typisch ist; insoweit zutreffend Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 89 f. Normativ bleibt es dennoch richtig, die Verletzung des Rechtsgutsobjekts als Vorgang, der grundsätzlich ein Unrecht darstellt, festzuhalten; Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 369 ff. 33 Die Berücksichtigung der Einwilligung erst auf Rechtfertigungsebene – und damit die Irrelevanz des Opferwillens für die Konturierung der in Rede stehenden Rechtsgüter (zu diesem Zusammenhang eingehend Rönnau, in: LK12, 2006, Vor § 32 Rn. 149 ff.) – 27
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Tötungsdelikten. Die vom Opferwillen unabhängige Unrechtstypizität gilt für die entsprechenden Fahrlässigkeitsdelikte gleichermaßen: Die Gefährdung von Leib und Leben anderer unter Außerachtlassung der grundsätzlich – d.h. unabhängig vom Opferwillen – gebotenen Sorgfalt stellt das typische Unrecht der fahrlässigen Körperverletzung bzw. der fahrlässigen Tötung dar.34 Aus diesen Überlegungen zur Begründung einer Fremdgefährdung folgt zugleich die Abgrenzung von den Sachverhalten der Selbstschädigung und -gefährdung, bei denen das Verhalten des Außenstehenden ohne Rücksicht auf die Zustimmung des Opfers erlaubt ist. Und zwar deshalb, weil die verantwortliche Entscheidungsmacht über die Gefährdung noch ganz beim Opfer liegt. Dieser Sachverhalt ist mit einer „Herrschaft“ des Opfers nicht treffend umschrieben, denn bezogen auf die Handlung des Außenstehenden fehlt es ersichtlich an einer Herrschaft des Opfers, und eine Handlung des Opfers, die dieses beherrschen könnte, gehört bei genauer Betrachtung überhaupt nicht zur normativen Struktur der Fälle. Das sei am „Heroinspritzen-Fall“35 verdeutlicht: Ob das Opfer mit der ihm angebotenen Spritze Heroin injiziert, ist für die Beurteilung des Verhaltens des Außenstehenden ohne jede Bedeutung; die spätere Selbstgefährdung hat auf die Erlaubtheit der Weitergabe der Spritze keinen Einfluss. Der Außenstehende bewegt sich deshalb im Rahmen des Erlaubten, weil der Umgang mit der von ihm eröffneten Möglichkeit im Verantwortungsbereich des Opfers liegt. Kurz: Die Bezeichnung als Selbstgefährdung trifft nicht den entscheidenden Punkt, weil es auf eine Selbstgefährdung (und deren Beherrschung) für die fehlende Sorgfaltspflichtverletzung des Außenstehenden nicht ankommt. Der Fokus auf die Selbstgefährdung des Opfers ist lediglich der Ausgestaltung der Fahrlässigkeitsdelikte als Erfolgsdelikte zu verdanken, so dass diese Fälle erst aufgrund einer selbstgefährdenden Handlung mit bösem Ausgang strafrechtliche Relevanz erlangen können. Dogmatisch wird die Vermengung der Handlung des Außenstehenden mit dem durch die Selbstgefährdung vermittelten Verletzungsverlauf durch die Lehre von der objektiven Zurechnung begünstigt, zu deren Programm die Orientierung am eingetretenen Erfolg gehört. Setzt die Prüfung am tatbestandsmäßigen Verhalten an, werden die Zusammenhänge klarer.
steht nicht im Widerspruch zu einem freiheitsgegründeten Recht, ist vielmehr eine Frage sinnvoller Begriffsbildung; eingehend dazu und zur Diskussion um die Verortung der Einwilligung insgesamt Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 368 ff. 34 Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 214; Hirsch, in: LK11, 1994, Vor § 32 Rn. 107, Fn. 185. A. A. Puppe, ZIS 2007, 251; dies., Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 6, die bei freiverantwortlichem Opferverhalten regelmäßig von einer Erfüllung der Sorgfaltspflichten ausgeht; ebenso P. Frisch, Das Fahrlässigkeitsdelikt und das Verhalten des Verletzten, 1973, S. 118 ff.; Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten, 1999, S. 122; im Ergebnis auch Timpe, ZJS 2009, 17, der die objektive Zurechnung ausschließen will. 35 BGHSt 32, 262.
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Die „Testfrage“ lautet also: Wäre das Verhalten (mit Blick auf den eingetretenen Erfolg) verboten, wenn der Täter es gegen den Willen des Opfers vorgenommen hätte? Ist diese Frage zu verneinen, so liegt eine Selbstschädigung/Selbstgefährdung vor; ist diese Frage zu bejahen, so handelt es sich um eine Fremdschädigung/Fremdgefährdung. Dass die normativen Zusammenhänge damit treffender umschrieben sind als mit dem naturalistisch geprägten Kriterium der Geschehensherrschaft, zeigt sich besonders an Fällen, in denen unter Tatherrschaftsgesichtspunkten zwischen den Beiträgen der Beteiligten nicht sinnvoll differenziert werden kann, weil bei äußerer Betrachtung ein gleichberechtigtes Zusammenwirken vorliegt:36 Beherrscht den einvernehmlich-ungeschützten Geschlechtsverkehr zwischen einem HIV-Positiven und einer Frau, die um die Infektion weiß, der Virusträger37 oder die Gefährdete?38 Den Geschlechtsakt – und damit das Risiko – beherrschen wohl beide gemeinsam. Die Entscheidung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung anhand des Kriteriums der Tatherrschaft gerät so zur Dezision.39 Fragt man hingegen, ob der HIV-Positive mit Blick auf die Rechtsgüter Leben und körperliche Integrität auch gegen den Willen der Frau mit ihr ungeschützt hätte verkehren dürfen, so ist deutlich, dass es sich um einen Fall der Fremdgefährdung handelt, weil das grundsätzlich bestehende Verbot allenfalls durch die Zustimmung des Opfers aufgehoben werden kann.
Bezogen auf den Ausgangsfall: Es ist ersichtlich verboten, gegen den Willen des Beifahrers grob verkehrswidrig zu fahren. Dieses Verbot besteht gerade deshalb, um Unfälle von der Art des eingetretenen und die damit verbundenen Leibes- und Lebensgefahren zu verhindern. Das Verbot kann allenfalls durch die Zustimmung des Beifahrers aufgehoben werden. Die Einordnung als Fall der Fremdgefährdung durch den BGH ist demzufolge zutreffend. Damit ist der Tatbestand des § 222 StGB im Ausgangsfall erfüllt. Die von Teilen der Literatur vertretene und auch vom LG als Vorinstanz vorgenommene Gleichstellung von Fremd- und Selbstgefährdung, mit der Folge eines Zurechnungsausschlusses, hat der BGH zu Recht zurückgewiesen.40 Diese Gleichstellung läuft auf das Eingeständnis einer normativen Belanglosigkeit der Abgren-
36 Eingehend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 337 ff. Kritisch zur Tragfähigkeit des Tatherrschaftskriteriums in diesen Fällen auch Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 211 f.; Puppe, Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 3. 37 So z. B. Helgerth, NStZ 1988, 262; Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 11 Rn. 133. 38 So z. B. Herzog/Nestler-Tremel, StV 1987, 366; Kunz, SchwZStrW 107, 1990, 53 f. Zusammenfassend zum Problem Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 408 ff., 416 f. 39 Vgl. BayObLG 1990, 131, 132: „Auch wenn neben dem Opfer noch ein weiterer am Geschehen notwendig beteiligter Mitträger der Tatherrschaft ist, ist die Gefährdung – als gewollte Selbstgefährdung – nur dem Verantwortungsbereich des Opfers zuzurechnen.“ Umgekehrt BGHSt 53, 55, 60 f. 40 BGHSt 53, 55, 61 f.; dagegen Lasson, ZJS 2009, 367; eingehend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 424 ff.
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zung von Selbst- und Fremdgefährdung hinaus, die in der Sache nicht berechtigt ist.41 IV. Liegt ein Fall der Fremdgefährdung vor, so könnte der Zustimmung des Opfers als Einwilligung eine rechtfertigende Wirkung zukommen. Eine Einwilligung käme allerdings nur in Betracht, wenn sich die Zustimmung des Opfers lediglich auf die Gefährdung beziehen müsste. Denn mit dem Eintritt des Erfolges ist der Gefährdete in diesen Konstellationen regelmäßig nicht einverstanden; es handelt sich insofern um Sachverhalte, die der bewussten Fahrlässigkeit entsprechen.42 Verschiedentlich wird nun behauptet, die Einwilligung müsse sich, wie dies bei der Bewilligung einer vorsätzlichen Beeinträchtigung der Fall sei, auch auf den Erfolg beziehen.43 Das ist indes nicht der Fall:44 Recht ist eine Verhaltensordnung, woraus folgt, dass der Einwilligende den Außenstehenden nicht von einem „Erfolgsherbeiführungsverbot“ freistellt, sondern – auch wenn er die Erfolgsherbeiführung explizit bewilligt45 – stets das zur Erfolgsvermeidung bestehende Verhaltensverbot aufheben muss.46 Die Einwilligung suspendiert also bezogen auf das konkrete Rechtsverhältnis eine zum Schutz des Opfers bestehende Verhaltensnorm, gestaltet das Rechtsverhältnis mithin dahingehend um, dass eine 41
Näher unten IV. Von einer „methodenunehrlichen Fiktion“ kann danach allenfalls dann die Rede sein, wenn man die Einwilligung als „bewusste Rechtsgutspreisgabe“ definiert (so Rönnau, in: LK12, 2006, Vor § 32 Rn. 148), nicht aber, wenn man sie als Umgestaltung des Rechtsverhältnisses begreift (dazu der folgende Text). Zum Verhältnis von Rechtsgutsverletzung und Rechtsverletzung näher Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 370 ff. 43 Z. B. Rönnau, in: LK12, 2006, Vor § 32 Rn. 164 f.; siehe noch die Nachweise in Anm. 49. 44 Eingehend zum Folgenden Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 428 ff. 45 Weshalb auch der Hinweis von Duttge, in: FS für Otto, 2007, S. 232, der Verzicht auf eine Bewilligung des Erfolgs müsse auch im Vorsatzbereich „entgegen ganz h. M.“ Geltung beanspruchen, zwar richtig, aber ohne Beweiskraft gegen die hier vertretene Auffassung ist. 46 Damit wird freilich nicht rückwirkend der im Tatbestand vorausgesetzte Verhaltensnormverstoß aufgehoben, sondern es ist der Einsicht Rechnung zu tragen, dass die Rechtsverletzung erst „komplett“ ist, wenn kein Rechtfertigungsgrund, auch keine Einwilligung, eingreift. Auf der Ebene des Tatbestandes ist die Rede von Handlungs- und Erfolgsunwert also nur eine vorläufige; sie ist den guten Diensten geschuldet, die der dreistufige Deliktsaufbau für die Strafrechtsdogmatik leistet. Ein vollständiges Unrechthandeln setzt das Fehlen von Rechtfertigungsgründen voraus; die wirksame Einwilligung korrigiert also das vorläufige Urteil über das Bestehen eines Handlungsunwertes am Maßstab der gesamten Primärordnung (zu der eben auch die Erlaubnissätze gehören). Deshalb trifft es auch nicht, wenn Roxin (JZ 2009, 400) im gleichen Zusammenhang ausführt: „Man kann auch nicht sagen, dass die Einwilligung das fahrlässige Handlungsunrecht und mit ihm . . . die Strafbarkeit entfallen lasse. Denn die Sorgfaltswidrigkeit hängt . . . nicht vom Verhalten des Geschädigten ab.“ 42
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sonst verbotene Risikoschaffung erlaubt ist.47 Die Gründe, aus denen das Opfer das zu seinem Schutz bestehende Verbot im konkreten Rechtsverhältnis aufhebt, ob es die Risikorealisierung oder sonstige Interessen verfolgt, liegen grundsätzlich48 in seiner Dispositionsmacht und berühren folglich nicht die rechtliche Beachtlichkeit der Entscheidung. Hellmann meint allerdings: „Um den Erfolgsunwert zu beseitigen, ist es erforderlich, dass der Rechtsgutsinhaber in die Verletzung einwilligt. Ist er lediglich mit der Risikoschaffung durch den Täter einverstanden, akzeptiert er also dessen sorgfaltswidriges Verhalten oder wünscht er es sogar, so könnte dieser Umstand allenfalls das in dem sorgfaltswidrigen Verhalten bestehende Handlungsunrecht ausschließen.“49 Damit wird offenbar behauptet, ein Erfolgsunwert sei auch ohne Handlungsunwert vorstellbar, was aber nicht richtig ist: Eine erlaubte Handlung kann zwar kausal für einen Erfolg werden, aber seinen Unwert bezieht ein Erfolg gerade daraus, dass er realisierter Handlungsunwert ist. Beseitigt die Einwilligung den Handlungsunwert, so bedeutet dies nichts anderes, als dass dem Erfolg im Falle seines Eintritts der Unwert genommen ist.50 Ist die einverständliche Fremdgefährdung strafrechtsdogmatisch nichts anderes als ein Fall möglicher Einwilligung, so ist spätestens hier die Frage nach der Rechtlichkeit (nicht erst nach der strafrechtlichen Beurteilung) des Verhaltens aufgeworfen. Denn die Einwilligung führt nicht nur zu einem Wegfall des Strafunrechts, sondern begründet die Rechtlichkeit des Verhaltens;51 die Einwilligung gestaltet ein konkretes Rechtsverhältnis um, so dass in diesem Verhältnis ein Ebenso Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2, 2009, § 6 Rn. 35; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT11, 2003, § 17 Rn. 101; Dölling, in: HK-GS, 2008, § 228 Rn. 7; Hirsch, JR 2004, 476; Paeffgen, in: NK3, 2010, § 228 Rn. 12; a. A. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 194; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 214. 48 Sonderfälle (§§ 216, 228 StGB) erfordern freilich zusätzliche Überlegungen; eingehend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 488 ff., 512 ff.; siehe auch noch weiter unten im Text. 49 Hellmann, in: FS für Roxin, 2001, S. 277; ähnlich Duttge, in: FS für Otto, 2007, S. 232 ff.; Geppert, ZStW 83, 1971, 974; Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919, S. 173; Lasson, ZJS 2009, 366; M.E. Mayer, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts2, 1923, S. 291 Fn. 15; Puppe, Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 4; Roxin, JZ 2009, 400; Schürer-Mohr, Erlaubte Risiken, 1998, S. 135; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken (Anm. 47), S. 217 f. 50 Vertiefend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 430 f.; ebenso Renzikowski, HRRS 2009, 353. Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 215, kommt zum gleichen Ergebnis mit dem Argument, dass der die Gefahr Bewilligende auch deren Realisierung bewillige, weil andernfalls dem Einwilligenden „eine Art venire contra factum proprium vorzuwerfen wäre“; ähnlich Puppe, ZIS 2007, 251. 51 Die Möglichkeit reiner Strafunrechtsausschließungsgründe (vgl. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983; ders., in: FS für Spendel, 1997, S. 189 ff.) bedarf hier nicht der Diskussion. Jedenfalls ist ein Verhalten erst Recht nach den Maßstäben des Strafrechts gerechtfertigt, wenn es schon nach der Primärordnung erlaubt ist (Rönnau, in: LK12, 2006, Vor § 32 Rn. 21). 47
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sonst verbotenes Verhalten erlaubt ist.52 Für die Rechtsprechung kennzeichnet die Grenzlinie zwischen Selbst- und Fremdgefährdung damit einen grundsätzlichen Wechsel der Perspektive: Während bei der Selbstgefährdung ein an technischen Akzessorietätsüberlegungen orientierter Tatbestands- und damit Strafbarkeitsausschluss propagiert wird, rückt auf der Ebene der Rechtfertigung die Frage nach der Rechtlichkeit des Verhaltens in den Blick. Die unzureichende Behandlung der Selbstgefährdung am Maßstab der Primärordnung erweist sich freilich auch bei Lösung der Fremdgefährdungsfälle als Manko. Denn die rechtliche Qualität selbstgefährdenden Verhaltens ist gewissermaßen die primäre Frage im Verhältnis zur rechtlichen Qualifizierung der Bewilligung einer Fremdgefährdung, da die Einwilligung ja auch als besondere Form der Selbstgefährdung interpretiert werden kann. Eine konsistente Dogmatik muss demnach in der Lage sein, (etwaige) Unterschiede in der Behandlung von eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung sachlich zu begründen. Es ist der Rechtsprechung vor der Erweiterung des Teilnahmearguments auf die Fahrlässigkeitsdelikte zu verdanken, dass sich der BGH auch zu der Frage geäußert hat, inwieweit eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung von Rechts wegen anzuerkennen ist. Hier tendiert der BGH bei Lebensgefährdungen dazu, einen Sorgfaltsverstoß des Außenstehenden von der Qualität der Gründe abhängig zu machen, die das Opfer zu dem selbstgefährdenden Verhalten veranlasst haben; die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung als solche steht dem Fahrlässigkeitsvorwurf also nicht entgegen.53 Zur rechtlichen Beurteilung der Selbstschädigung hat sich der BGH insbesondere in Unterlassungskonstellationen im Anschluss an einen Suizidversuch geäußert, weil hier die Handlungspflicht des Außenstehenden von der rechtlichen Beurteilung der Entscheidung des Suizidenten abhängt.54 Der BGH versagt dem Entschluss des Suizidenten die rechtliche Anerkennung, was letztlich seine Begründung im Rang des Lebens nach der Werteordnung des Grundgesetzes finden soll.55 Insgesamt zeigt sich damit eine 52 Zurückgewiesen ist damit die verbreitete Auffassung, wonach die Einwilligung als „Verzicht auf Rechtsschutz“ zu verstehen sei (Fischer, Strafgesetzbuch57, 2010, Vor § 32 Rn. 3b; Otto, in: FS für Geerds, 1995, S. 613; Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 370; BayObLG, NJW 1961, 2072, 2073). Diese Formulierung impliziert eine Privatisierung der Rechtsverletzung, während es in Wahrheit um den Ausschluss einer Rechtsverletzung geht; Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 311 ff. Auch aus der Möglichkeit zum Widerruf der Einwilligung, durch den das Rechtsverhältnis wieder in seine ursprüngliche Form gebracht wird, ergibt sich nichts anderes (a. A. Seifert, Jura 2007, 100). 53 Vgl. insb. BGHSt 7, 112; Einzelheiten bei Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 383 ff. 54 BGHSt 6, 147, 153; 32, 367, 373 ff. 55 So BGHSt 46, 279, 285 in anderem Zusammenhang; dazu kritisch Duttge, NStZ 2001, 547; Engländer, GA 2010, 26; Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 257 f.
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Linie, die insbesondere Entscheidungen für die Beendigung oder Gefährdung des Lebens nicht der rechtlichen Freiheit der Person zuschlägt. Die ausnahmslose Straflosigkeit der Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung folgt für den BGH demnach nur und erst aus der Sanktionenordnung – freilich ohne dass sich der BGH seit Inanspruchnahme des Teilnahmearguments noch mit der Frage auseinandersetzen müsste, ob die Opferentscheidung im Einzelfall nach der Primärordnung erlaubt oder verboten ist. Es ist hier nicht der Raum, im Einzelnen zu entwickeln, dass paternalistischer Schutz – also: wohlmeinende Freiheitsbeschränkung56 – des freiverantwortlich Handelnden nicht legitimierbar ist.57 Insbesondere kann nicht das verfassungsrechtlich geschützte Lebensrecht in eine Lebenspflicht uminterpretiert werden. Und auch die Menschenwürde, die gerade das Selbstbestimmungsrecht der Person zum Inhalt hat, lässt sich nicht gegen den Menschen ausspielen. Die Würde des Menschen erweist sich gerade darin, Entscheidungen über Individualrechtsgüter selbst treffen zu können und nicht nach den Würdevorstellungen anderer sein Leben einrichten zu müssen. Die Selbstverfügungsfreiheit findet freilich in zweierlei Hinsicht Grenzen, nämlich zum einen dort, wo eine eigenverantwortliche Entscheidung (möglicherweise) nicht vorliegt und zum anderen dort, wo Rechtsgüter Dritter betroffen sind, die Person also gerade nicht (nur) über ihre Individualrechtsgüter verfügt. Nimmt man aber allein die Rechtsgüter „Leben“ und „körperliche Integrität“ einer (zweifelsfrei) freiheitlich handelnden Person in den Blick, so sind der Suizid und die Selbstgefährdung rechtlich erlaubt. Damit gerät die Legitimation von Einschränkungen der rechtlichen Wirksamkeit von Einwilligungen in Gefährdungen (und Schädigungen) zum Problem. Jedenfalls unter dem Aspekt der Verfügungsfreiheit über eigene Rechtsgüter lassen sich solche Einschränkungen, wie sie insbesondere §§ 216, 228 StGB vorsehen, nicht begründen. Es kommt dem56 Die Einwilligung fällt (zumindest) unter den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), womit §§ 216, 228 StGB (auch) für den Einwilligenden freiheitseinschränkend wirken; eingehend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 226 ff. Dagegen meint Hirsch, in: FS für Amelung, 2009, S. 188, 190, es gehe bei diesen Vorschriften „nicht um die Freiheit des Einwilligenden“, dem ja nicht das Recht bestritten werde, „Hand an sich zu legen“. Damit wird zum einen nicht den Fällen physischer Unmöglichkeit auf Seiten des Einwilligenden Rechnung getragen. Vor allem aber gehört auch die Art und Weise der Umsetzung einer selbstverfügenden Entscheidung zur allgemeinen Handlungsfreiheit (vgl. BVerfGE 6, 32, 36 f.; 9, 83, 88; 80, 137, 152 f.). 57 Eingehend dazu aus rechtsphilosophischer und verfassungsrechtlicher Perspektive – auch in Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen – Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 167 ff.; 240 ff.; zustimmend Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 96 f. Es steht unter dem Grundgesetz demnach nicht im Belieben des Gesetzgebers, den einen Bürger zum Vormund des anderen zu machen; so aber wohl Puppe, ZIS 2007, 250 f., 252 (zutreffend gegen deren Beispiel des Handels mit Betäubungsmitteln Otto, in: FS für E. A. Wolff, 1998, S. 415).
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nach entscheidend darauf an, ob gerade die drittvermittelte Realisierung der Opferentscheidung Begründungsansätze in Richtung auf Beeinträchtigungen von Rechtsgütern Dritter oder im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit der Opferentscheidung bietet. Dieser Frage soll abschließend für § 228 StGB, der auch in der Entscheidung des BGH zum Ausgangsfall eine zentrale Rolle spielt, nachgegangen werden. Der BGH will seine neuere Rechtsprechung zu § 227 StGB,58 wie sie auch zu Konstellationen einer vom Opfer bewilligten Todesgefahr ergangen ist,59 auf § 222 StGB übertragen. Danach sei die Grenze zur Sittenwidrigkeit nach § 228 StGB überschritten, wenn das Opfer nach objektiver ex ante Betrachtung durch die Handlung in eine konkrete Todesgefahr gebracht werde. Diese Einschränkung der rechtfertigenden Kraft der Einwilligung begründe sich nach dem Normzweck des § 228 StGB und der aus § 216 StGB abzuleitenden gesetzgeberischen Wertung damit, dass „das Gesetz ein soziales bzw. Allgemeininteresse am Erhalt dieser Rechtsgüter auch gegen den aktuellen Willen des Betroffenen“ verfolge.60 Bezogen auf den Ausgangsfall hat der BGH eine konkrete Gefahr bejaht und damit der Einwilligung die Wirksamkeit versagt.61 Freilich ist schon die Anwendung von § 228 StGB auf Taten nach § 222 StGB keine Selbstverständlichkeit. Seinem Wortlaut nach ist § 228 StGB nur für Körperverletzungsdelikte, seiner systematischen Stellung nach sogar nur für vorsätzliche Körperverletzungen einschlägig.62 Die Anwendung der Vorschrift auf fahrlässige Körperverletzungen ist allerdings weithin konsentiert,63 was sachgerecht ist, wenn man als Gegenstand der Einwilligung die gefährliche Handlung ansieht (s. o.).64 Es ist dann weiter ein Erst-Recht-Schluss zumindest auf die Berücksichtigung des Rechtsgedankens von § 228 StGB bei der fahrlässigen Tötung angebracht.65 Auch die Anwendung auf § 227 StGB spricht für eine Erstreckung des 58
BGHSt 49, 34, 41 ff. BGHSt 49, 166, 169 ff. 60 BGHSt 53, 55, 62 f.; kritisch Renzikowski, HRRS 2009, 354. 61 BGHSt 53, 55, 63 f. 62 Puppe, in: NK3, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 194 (begründet aus dem Prinzip der Selbstverantwortung); Niedermair, Körperverletzung (Anm. 34), S. 121. 63 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch57, 2010, § 228 Rn. 4; Kindhäuser, Strafrecht BT I4, 2009, § 8 Rn. 3; Paeffgen, in: NK3, 2010, § 228 Rn. 9; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch27, 2006, § 228 Rn. 1; Momsen, in: SSW-StGB, 2009, § 228 Rn. 1; dagegen Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 216; Duttge, NStZ 2009, 691; ders., in: FS für Otto, 2007, S. 230 f.; Kühl, NJW 2009, 1159; Roxin, JZ 2009, 402. 64 Zutreffend Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2, 2009, § 6 Rn. 37: „Denn die Sittenwidrigkeit haftet nicht dem eingetretenen Erfolg an, sondern der gefahrschaffenden Handlung . . .“. 65 Brüning, ZJS 2009, 195; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch27, 2006, § 228 Rn. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 104; anders Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 216, der dementsprechend die Unterschiede bei der Behand59
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Rechtsgedankens von § 228 StGB auf § 222 StGB, denn offensichtlich ist die der Körperverletzung mit Todesfolge immanente Lebensgefährlichkeit für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit zentral.66 Eine Ausweitung des Regelungsgehalts von § 228 StGB über dessen vom Wortlaut gedeckten Anwendungsbereich hinaus provoziert freilich eine Verstärkung der ohnedies schon mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken67 in Richtung auf einen Verstoß gegen das Analogieverbot.68 Berechtigt sind solche Bedenken nicht. Denn das von Rechtsprechung und Literatur entwickelte Institut der Einwilligung bedarf selbstverständlich auch begrenzender Konturen, wie sie etwa in den Erfordernissen der Einwilligungsfähigkeit und dem Nichtvorliegen bestimmter Willensmängel entwickelt worden sind. So wenig über diese Einschränkungen, die überhaupt nicht gesetzlich geregelt sind, das Urteil der Verfassungswidrigkeit gefällt werden kann, folgt dieses Verdikt aus der Unschärfe der gesetzlichen Regelung. Das Problem des § 228 StGB ist nicht dessen Unbestimmtheit, sondern die Frage, ob zusätzliche Einwilligungsschranken bei Körperverletzungs- und fahrlässigen Tötungsdelikten überhaupt eine Berechtigung haben. Sind sie berechtigt, so müssten sie unabhängig von der gesetzlichen Regelung Beachtung finden.69 Wäre mit der „Sittenwidrigkeit“ hingegen eine Einwilligungsschranke normiert, die nach den Maßstäben des Grundgesetzes gegenüber der autonomen Person nicht legitimierbar ist, so ist die Vorschrift aus diesem Grund – nicht wegen ihrer Unbestimmtheit – verfassungswidrig – dann würde auch eine einschränkende Interpretation der Vorschrift auf ihren Kern nicht helfen.70 Es kommt also darauf an, ob dem Begriff der Sittenwidrigkeit eine Interpretation unterlegt werden kann, die eine legitime und sachgerechte Einschränkung der rechtfertigenden Einwilligung erlaubt. Entscheidend ist die Herausarbeitung der Sachgründe, die die Unwirksamkeit der Einwilligung zu tragen vermögen. Anzuknüpfen ist hier an die oben angesprochene Einsicht, dass der Schutz des freiverantwortlich Entscheidenden vor sich selbst Einschränkungen im Umgang mit Individualrechtsgütern nicht legitimieren kann. Die Art und Weise, wie ein Dritter in die selbstverfügende Entscheidung einbezogen wird, vermag deren Charakter als Ausprägung des selbstverantwortlichen Umgangs mit eigenen Gütern nicht zu verändern. Die Würde des frei Entscheidenden kann hier so wenig
lung von Selbst- und Fremdgefährdungen auf die deliktssystematische Verortung (Tatbestands- bzw. Rechtfertigungsebene) beschränkt (a. a. O., S. 217). 66 Vgl. Hirsch, in: FS für Amelung, 2009, S. 200 f. 67 Paeffgen, in: NK3, 2010, § 228 Rn. 44, 53, 55; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken (Anm. 47), S. 162; ders., in: GS für Keller, 2003, S.289 ff. 68 Duttge, NStZ 2009, 691. 69 Vgl. auch Frisch, in: FS für Hirsch, 1999, S. 505. 70 Wie sie fast allgemein propagiert wird, z. B. BGHSt 49, 34, 41.
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gegen ihn selbst in Stellung gebracht werden wie bei Selbstschädigungen bzw. -gefährdungen.71 Der BGH scheint nun allerdings eine grundsätzlich andere Linie zu verfolgen, wenn er behauptet, die §§ 216, 228 StGB schützten „ein soziales bzw. Allgemeininteresse“ am Erhalt von Leben und körperlicher Integrität:72 Nicht um seiner eigenen Belange willen wird der Einzelne demnach vor sich selbst geschützt, sondern weil die anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft ein – zum Recht erstarktes – Interesse am Erhalt dieser Güter haben. Als Kehrseite dieses Rechts trifft das Opfer eine Pflicht zur Vermeidung bestimmter Gefahren für diese Rechtsgüter, die im Falle von Selbstschädigungen bzw. -gefährdungen nicht strafbewehrt ist,73 wohingegen bei Fremdschädigungen bzw. -gefährdungen zwar nicht die rechtswidrige Bewilligung, wohl aber das an der Bewilligung orientierte Verhalten mit Strafe bedroht ist. Die Rechtsgüter „Leben“ und „körperliche Integrität“ sind damit einerseits Individualrechtsgüter und andererseits, soweit es das Interesse der Allgemeinheit an ihrem Schutz anbelangt, überindividuelle Rechtsgüter. Die genauere Begründung des behaupteten Allgemeininteresses – und damit auch die präzise Bezeichnung des in Rede stehenden Rechtsguts – bereitet allerdings nicht unerhebliche Schwierigkeiten.74 Jedenfalls kann die Selbstverfügungsfreiheit nicht schon unter Hinweis auf unaufgeklärte „legitime Gründe des Allgemeinwohls“ eingeschränkt werden.75 Es ist auch nicht möglich, den Schutz des Einzelnen vor sich selbst kurzerhand zur Sache der Gemeinschaft zu erklären, und damit zu legitimieren, was unter dem Aspekt des Individualschutzes nicht legitimierbar ist.76 Eine ausdifferenzierte Diskussion denkbarer überindi71 A. A. Duttge, in: GS für Schlüchter, 2002, S. 783 ff.; ders., NJW 2005, 261 ff.; dem folgend Heghmanns, Strafrecht für alle Semester, Besonderer Teil, 2009, Rn. 391. Dahinter steht das Bild einer Menschenwürde, die gleichermaßen die Selbstbestimmung des Einzelnen und einen dem Einzelnen vorgegebenen Gehalt aufweist, ohne dass deutlich würde, was diese Würde eint und das Verhältnis der Teile zueinander dirigiert. Gegen ein solches Verständnis eingehend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 249 ff.; zutreffend auch Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 115. 72 BGHSt 53, 55, 63. Vgl. auch BGH, NJW 2004, 2458, 2460; BVerfG, NJW 1999, 2299, 3401 (dazu Murmann, Die Selbstverantwortung [Anm. 7], S. 276 ff.); im gleichen Sinne etwa Hirsch, JR 2004, 476 (ausdrücklich gegen eine „individualistische Ausrichtung“ von § 228 StGB); ders., in: FS für Amelung, 2009, S. 189; Stratenwerth, in: FS für Amelung, 2009, S. 359; zutreffend kritisch gegen solche Ansätze Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 76 f., 83 ff. 73 Es erscheint in diesem Konzept als noble Zurückhaltung des Gesetzgebers, wenn er auf Sanktionen gegen den sich selbst Verletzenden bzw. Gefährdenden, der ja ein Rechtsgut der Gemeinschaft beeinträchtigt, verzichtet. 74 Eingehend hierzu auch Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 108 ff. 75 BVerfG, NJW 1999, 3399, 3402. 76 Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 276 f. Das ist freilich anders, wenn man aus der Menschenwürde ein Verfügungsverbot ableitet. Die Durchsetzung eines menschenwürdigen Lebens (und Sterbens) kann (und muss) sich dann die Ge-
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vidueller Belange, die gerade bei delegierten Rechtsgutsbeeinträchtigungen als Schutzgüter in Betracht kommen sollen, findet sich allerdings zu § 216 StGB, wo u. a. vielfach auf ein Interesse an der Tabuisierung von Fremdtötungen verwiesen wird.77 Auch wenn die Formulierung vergleichbarer überindividueller Belange als Grenze der Einwilligung in Körperverletzungen oder fahrlässige Tötungen diskutabel sein mag,78 entspricht dieser Ansatz hier nicht dem dogmatischen Konzept. Denn während § 216 StGB als selbständiger Tatbestand verstanden werden kann, der dann auch nicht die gleichen Rechtsgüter wie § 212 StGB zum Gegenstand haben muss, knüpft § 228 StGB an individualgüterschützende Tatbestände an und regelt lediglich eine Einwilligungsgrenze. Eine Legitimation dieser Einwilligungsgrenze aus dem Schutz überindividueller Rechtsgüter müsste dazu führen, dass §§ 223 ff. StGB (und § 222 StGB, wenn man auf ihn den Rechtsgedanken des § 228 StGB anwendet) eine doppelte Schutzrichtung aufweisen, nämlich in Richtung auf Individualrechtsgüter bei nicht bewilligten Eingriffen einerseits und in Richtung auf überindividuelle Rechtsgüter im Falle einer nach § 228 StGB unwirksamen Einwilligung andererseits. Da Eingriffe in die Individualrechtsgüter offensichtlich einen deutlich größeren Unwert aufweisen als die Beeinträchtigung des Allgemeininteresses am Unterbleiben äußerlich verletzender Handlungen, müsste eine solche Zweigleisigkeit innerhalb eines einheitlichen Strafrahmens zu inkonsistenten Ergebnissen führen, was sich besonders anhand der Untergrenzen von §§ 226, 227 StGB leicht verdeutlichen lässt.79 Kurzum: § 228 StGB kann seine Berechtigung nicht im Schutz eines Allgemeininteresses am Unterbleiben bewilligter Eingriffe in Leben und körperlicher Integrität finden. Die gegenteilige Auffassung des BGH führt in unlösbare dogmatische Friktionen, mit denen sich das Gericht nicht einmal im Ansatz auseinandersetzt.80
meinschaft zur Aufgabe machen; vgl. Otto, Recht auf den eigenen Tod. Gutachten D für den 56. Deutschen Juristentag, 1986, S. 53 f. 77 Eingehende Darstellung bei Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 277 ff., 517 ff. 78 So zu den Körperverletzungen z. B. Hardtung, in: MüKo, 2003, § 228 Rn. 23: „Tabuisierung schwerwiegender Eingriffe“; ders., Jura 2005, 405; Hirsch, in: FS für Amelung, 2009, S. 189 (auch bezogen auf Gefährdungsfälle). Die Übertragung des Tabuisierungsgedankens von der vorsätzlichen Fremdtötung auf die fahrlässige Lebensgefährdung ist allenfalls in modifizierter Form möglich; zutreffend Puppe, GA 2009, 489. Eine einheitliche Bestimmung von bewilligten Körperverletzungen und Tötungen als Delikte „gegen die objektive Verständigkeit“ vertritt Jakobs, in: FS für F.-C. Schroeder, 2006, S. 517. 79 Dazu Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 532 f. Die Strafrahmeninkonsistenz wird auch nicht in Frage gestellt, wenn Jakobs (in: FS für F.-C. Schroeder, 2006, S. 519 mit Fn. 50) gegen den Vorwurf der „Rechtsgutsvertauschung“ eine zu enge Bestimmung des „Rechtsguts“ („Stets ist ein allgemeines Interesse beteiligt“) behauptet. 80 Der BGH (St 53, 55, 63) betont vielmehr in direktem Anschluss an seine Überlegungen zu der aus überindividuellen Interessen begründeten Einschränkung der Wirksamkeit der Einwilligung den individualgüterschützenden Charakter der §§ 222, 229 StGB.
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Ist eine Legitimation von § 228 StGB weder zum Schutz der frei handelnden Person vor sich selbst, noch zum Schutz von überindividuellen Belangen möglich, so kann eine Begründung nur an der Freiheitlichkeit der Opferentscheidung ansetzen.81 Zweifel an der Freiheitlichkeit von Entscheidungen, bei denen eine Unwirksamkeit nach § 228 StGB diskutiert wird, liegen schon auf den ersten Blick nicht fern, geht es doch durchweg um solche Dispositionen über Rechtsgüter der Person, die fast allgemein als unvernünftig und irrational angesehen werden.82 Die damit in Rede stehenden Defizite entsprechen ersichtlich nicht solchen, wie sie etwa bei § 20 StGB vorausgesetzt sind. Und sie entsprechen auch nicht den Willensmängeln, wie sie der Wirksamkeit von Einwilligungen allgemein entgegen stehen. Es geht vielmehr um solche Defizite, wie sie insbesondere Entscheidungen anhaften können, die aus einer momentanen Stimmung heraus getroffen werden und die einem näheren Nachdenken durch den Entscheidenden selbst nicht standhalten würden. Solche Defizite kommen auch bei demjenigen vor, der über das gefährdete Gut, das diesem drohende Risiko und den erwarteten Nutzen des bewilligten Handelns voll orientiert ist, sich aber bei der Abwägung voreilig von bestimmten Stimmungen oder Motiven leiten lässt. Defizitär in diesem Sinne sind folglich Entscheidungen, die – nach den Maßstäben des Entscheidenden selbst – auf Wertungsfehlern beruhen.83 Freilich liegen Wertungsfehler grundsätzlich im Verantwortungsbereich des Entscheidenden. Wer etwa den Abriss eines alten Hauses bewilligt, ohne bei dieser Entscheidung die Vorzüge dieses Hauses im Verhältnis zu einem Neubau angemessen zu berücksichtigen, willigt trotz der nur begrenzt rationalen Entscheidungsfindung wirksam ein, und zwar auch dann, wenn eine nach den Maßstäben des Entscheidenden gelungene Abwägung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. In einem solchen Fall liegt sicherlich eine defizitäre Entscheidung vor, aber es ist eine normative – im Beispiel zu verneinende – Frage, ob dem Defizit rechtliche Relevanz 81 Siehe zum Folgenden Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 501 ff.; daran anschließend Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 126 ff. Vgl. bereits Frisch, in: FS für Hirsch, 1999, S. 495 ff.; andeutungsweise auch Hardtung, Jura 2005, 405: Schutz vor solchen Schädigungen, bei denen anzunehmen ist, dass der Einwilligende die Rechtsgutspreisgabe später selbst bereut bzw. „wenn nicht mehr nachvollziehbar ist, dass der Einwilligende die Vor- und Nachteile der Tat verständig gewürdigt haben könnte“; ders., JuS 2008, 961: Schutz des „voreilig Einwilligenden“; auch Duttge, NJW 2005, 261: „Voreiligkeitsschutz“, allerdings in einem Nebeneinander mit einem „Ordnungsschutz“ (wobei beide Aspekte offenbar durch den Schutz der Menschenwürde geeint vorgestellt werden); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2, 2009, § 6 Rn. 29: wenn „sich absehen lässt, dass der Einwilligende seinen Entschluss bereuen wird“. 82 Dass Entscheidungsdefizite aus äußeren Umständen erschlossen werden stellt keine Besonderheit dieser Fälle dar; vgl. Frisch, in: FS für Hirsch, 1999, S. 494 f., 499. 83 Enger, nämlich begrenzend auf solche Fälle, in denen „der Verfügende zur Verfolgung eines subjektiven Zieles ein objektiv ungeeignetes Mittel wählt“ („subjektive Irrationalität der Selbstverfügung“), Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 129 f.
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zukommen soll.84 Man kann § 228 StGB als gesetzliche Entscheidung für die Relevanz solcher Defizite deuten und dahinter eine allgemeine Wertentscheidung für deren Berücksichtigung bei gravierenden Gefahren für Leib und Leben erblicken. Damit ergibt sich freilich im Ergebnis eine Asymmetrie zwischen den Fällen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und denen der einverständlichen Fremdgefährdung. Es liegt nahe, diese Asymmetrie zu kritisieren mit der Überlegung, in den beiden Fallgruppen realisiere sich letztlich die Selbstverantwortlichkeit des Opfers nur in unterschiedlicher Weise.85 Wenn sich aber das Opfer bei der Fremdgefährdung des Außenstehenden gleichsam als eines „verlängerten Arms“ bedient,86 so sei es sachwidrig, hier zu weiter reichenden Einschränkungen zu kommen als bei der Selbstgefährdung. Dagegen ist einmal festzuhalten, dass dieser Unterschied jedenfalls bei Vorsatzdelikten im Anwendungsbereich von §§ 216, 228 StGB vom Gesetzgeber eindeutig gewollt ist (womit sich die Kritik insoweit gegen den Gesetzgeber richten müsste). Es erscheint auch nicht sachgerecht, unter diesem Aspekt zwischen Vorsatzund Fahrlässigkeitskonstellationen zu unterscheiden:87 Das ergibt sich aus der bereits betonten Einsicht, dass sich das Willensverhalten des Opfers auf die gefährliche Handlung, nicht auf die Einstellung des Außenstehenden zu deren Vornahme, bezieht. Gerade bei hochriskanten Verhaltensweisen, die vom Außenstehenden genauso gut vorsätzlich wie bewusst fahrlässig vorgenommen werden können, wäre nicht einzusehen, wenn der fehlende Vorsatz des Außenstehenden der Entscheidung des Opfers in weiterem Umfang zur Wirksamkeit verhelfen würde. Vor allem aber gibt es für die unterschiedliche Behandlung von Selbst- und Fremdgefährdung akzeptable Sachgründe:88 Zum einen wird die Delegation der gefährlichen bzw. verletzenden Handlung vielfach eine defizitäre Entscheidung eher nahe legen, als dies bei deren Selbstvornahme der Fall ist. Dieses Argument, das vor allem bei § 216 StGB geläufig ist, lässt sich allerdings auf Fälle der Gefährdung, bei denen das Opfer auf einen guten Ausgang vertraut, nur eingeschränkt übertragen. Denn die Delegation der Entscheidung indiziert einen Mangel vor allem dann, wenn bei deren Selbstvornahme besondere psychische Hürden zu überwinden wären, wie dies beim Suizid oder auch bei einer Selbstverstümmlung besonders plausibel erscheint. Für die Gefährdungsfälle hingegen ist zentral die Einsicht, dass die Kehrseite der Berücksichtigung eines (möglichen) Defizits beim Opfer eine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfrei84 Die Differenzierung zwischen Defizit und dessen normativer Relevanz ebnet Hirsch, in: FS für Amelung, 2009, S. 191, in seiner Kritik an Frisch ein. 85 Otto, in: FS für Tröndle, 1989, S. 170 ff.; ders., Grundkurs Strafrecht AT7, 2004, § 6 Rn. 61 f.; Puppe, ZIS 2007, 249 f.; dies., GA 2009, 494 f.; dies., Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 5 f.; Timpe, ZJS 2009, 173 ff.; auch Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 216 f. kommt zur Gleichbehandlung, indem er im Rahmen der Einwilligungslösung §§ 216, 228 StGB nicht anwendet. 86 Vgl. Rönnau, in: LK12, 2006, Vor § 32 Rn. 146. 87 Vgl. Beulke, in: FS für Otto, 2007, S. 214; a. A. – keine Übertragung der exzeptionellen Regelung des § 216 StGB auf andere Fallgruppen – Puppe, GA 2009, 489; Arzt, JZ 2005, 104. 88 Wenn auch unterschiedliche Gesichtspunkte angeführt werden, vgl. z. B. Dölling, GA 1984, 80; Trüg, JA 2004, 598; eingehend – auch zum Folgenden – Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 473 ff.
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heit (Art. 2 Abs. 1 GG) des Außenstehenden ist. Da die Berücksichtigung von Defiziten eine normative Entscheidung bezüglich der Konturierung von Verantwortungsbereichen darstellt, geht es darum, die Einschränkung der Handlungsfreiheit des Außenstehenden und die Interessen des Opfers zum Ausgleich zu bringen. Sofern es die Fälle der Fremdgefährdung anbelangt, steht nach den bisherigen Überlegungen das Interesse des Opfers am Schutz vor (möglicherweise) defizitären Entscheidungen im Vordergrund. Bereits dieses Interesse dürfte bei Selbstgefährdungen nicht in gleichem Maße bestehen, weil das Opferverhalten hier häufig dem Verhalten des Außenstehenden nachfolgt und das Opfer damit in weiterem Umfang Gelegenheit hat, seine Entscheidung zu überprüfen.89 Vor allem aber wird regelmäßig das Interesse des Außenstehenden an der Vornahme der eine Selbstgefährdung ermöglichenden Handlung in größerem Maße schutzwürdig sein. Während bei der Fremdgefährdung ein ohnedies bestehendes Verbot lediglich nicht aufgehoben wird, geht es bei der Ermöglichung einer Selbstgefährdung um die Untersagung eines für sich genommen ungefährlichen Verhaltens mit Blick auf das Risiko, dass sich ein potentielles Opfer (möglicherweise) defizitär selbst gefährdet. Die Handlungsfreiheit des Außenstehenden wird also nachhaltiger beeinträchtigt, insbesondere auch deshalb, weil sich der Außenstehende bei der einverständlichen Fremdgefährdung häufig den Interessen des Opfers unterordnen wird, während er in Fällen der Ermöglichung einer Selbstgefährdung vielfach auch eigene Interessen verfolgt. Insgesamt erscheint danach die Differenzierung sachgerecht.
89 Roxin (JZ 2009, 399) sieht den maßgeblichen Sachgrund für eine Differenzierung darin, dass der in eine Fremdgefährdung Einwilligende „dem Gefährdungsgeschehen mehr oder weniger ausgeliefert“ sei, wohingegen der vorsätzlich sich selbst Gefährdende das Geschehen in der Hand habe. Dieser Unterschied bleibt vordergründig, weil das Erfordernis der „Einverständlichkeit“ der Fremdgefährdung bedeutet, dass der Einwilligende seine Erklärung jederzeit widerrufen kann und der Täter diesen Widerruf akzeptieren würde (weshalb es fehlgeht, wenn Duttge, NStZ 2009, 691 auf die Abhängigkeit verbaler Einwirkungsversuche vom Willen des Fahrers zu deren Befolgung hinweist). Es ist also nicht einsichtig, weshalb der Einwilligende dem anderen „ausgeliefert“ sein soll (zutreffend Amelung, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 252 f.). Weil schon das Differenzierungskriterium nicht überzeugt, können auch die Gründe nicht überzeugen, aus denen Roxin im Einzelfall zu einer Gleichbehandlung von Selbst- und Fremdgefährdungsfällen kommen will (dazu Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 11 Rn. 123 ff.; ders., JZ 2009, 401 f.; zur Kritik Murmann, Die Selbstverantwortung [Anm. 7], S. 424 f.). Es fällt auf, dass Roxin (JZ 2009, 401) es – unter dem Aspekt der Gleichstellung – für besonders betonenswert hält, wenn der Gefährder auf „unausgesetztes Drängen“ oder „Initiative“ des Gefährdeten tätig geworden ist; im Ausgangsfall hätte nach Roxin (JZ 2009, 403) das Ergebnis anders ausgesehen, wenn die Beifahrer die Fahrer durch „anfeuernde Rufe“ zu dem gefährlichen Manöver „gedrängt“ hätten. Aber auf das – von Roxin ja grundsätzlich für maßgeblich gehaltende – Gefährdungsgeschehen als solches hat die gesteigerte Intensität der Opferzustimmung keinen Einfluss. Die Gleichstellungsfrage wird vielmehr im Vorfeld des tatbestandlich relevanten Geschehens – nämlich bei der „gleichrangigen Verantwortlichkeit“ für das (spätere) Gefährdungsgeschehen – entschieden. Wenn die Intensität einer vom Opfer geleisteten „Anstiftung“ den Ausschlag geben soll, wird die Haftung von äußerst unscharfen und zudem tatbestandsfernen Billigkeitserwägungen abhängig gemacht. Die Irrelevanz dieses Kriteriums ist nach alledem kein Manko (so aber Roxin, JZ 2009, 403), sondern eine Stärke der Einwilligungslösung.
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Maßstab für das Vorliegen eines Defizits ist die Vernunft des Entscheidenden selbst, da eine heteronome Kontrolle individueller Vernunft mit dem von der Verfassung geprägten Bild der eigenverantwortlich entscheidenden Person nicht in Einklang stünde.90 Vor diesem Hintergrund wäre es ersichtlich voreilig, jede Bewilligung von Verhaltensweisen, die die körperliche Integrität oder das Leben gravierenden Gefährdungen aussetzen, kurzerhand als defizitär anzusehen.91 Auch allgemein für unvernünftig gehaltene Entscheidungen können der Lebenseinstellung einer Person entsprechen und damit nach deren Maßstäben vernünftig sein. Es wird aber vielfach so liegen, dass gerade solche Entscheidungen, die nach herkömmlichen Maßstäben krass unvernünftig erscheinen, zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch nach den Maßstäben der entscheidenden Person dieses Urteil verdienen. Es besteht danach in solchen Fällen ein gesteigertes Risiko, dass die Einwilligung nicht dem „wahren“ Willen des Opfers entspricht. Freilich bleibt immer auch die Möglichkeit, dass die in den Augen der anderen unvernünftige Entscheidung frei von Defiziten getroffen wurde. Der rechtliche Umgang mit Entscheidungen zweifelhafter Qualität folgt allgemeinen Prinzipien: Das Risiko, dass einer frei von Defiziten getroffenen Entscheidung die Wirksamkeit versagt wird, muss gegen das Risiko abgewogen werden, dass eine defizitäre Entscheidung vorliegt, bei deren Vollzug die betreffenden Rechtsgüter verletzt oder zumindest gefährdet werden. Bei gravierenden Gefahren für die körperliche Integrität oder das Leben, für deren Eingehung es keinen (nach den erkennbaren Maßstäben des Entscheidenden) plausiblen Grund gibt, wird das Risiko schwerwiegender Rechtsgutsbeeinträchtigungen aufgrund einer defizitären Entscheidung regelmäßig schwerer wiegen als das Risiko, dass eine frei getroffene Entscheidung keine Wirksamkeit entfaltet. In diesem Konzept wird der frei Entscheidende nicht heteronom bevormundet. Denn die Unbeachtlichkeit seiner Entscheidung folgt nicht daraus, dass die Allgemeinheit ihr eigenes Urteil an die Stelle der Wertung des Entscheidenden setzt und damit eine bessere Einsicht in Anspruch nimmt. Das Recht ist vielmehr grundsätzlich am Respekt vor der freien Entscheidung der Person orientiert, stößt aber in Fällen der Unsicherheit über das Vorliegen von Freiheit an immanente Grenzen. Im Einklang mit der Rechtsprechung werden demnach gravierende Lebensgefahren häufig die Unwirksamkeit der Einwilligung nahelegen. Anders als nach der Rechtsprechung bildet die Berücksichtigung der Motive des Einwilligenden, denen der BGH insbesondere bei der Einwilligung in einen lebensgefährlichen Heileingriff Bedeutung beimessen will, hier aber keinen Fremdkörper.92 Vielmehr vermögen nachvollziehbare Gründe für die Bewilligung einer Lebensge90
Eingehend Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 501 ff. In diese Richtung weist aber die Argumentation von Frisch, in: FS für Hirsch, 1999, S. 495 ff.; dazu im Einzelnen Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 502 f. mit Fn. 689. 92 Insofern zu Recht kritisch Duttge, in: GS für Schlüchter, 2002, S. 779 f. 91
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fährdung die Zweifel am defizitären Charakter der Einwilligung zu zerstreuen oder jedenfalls in einem Maße zu verringern, dass deren Unwirksamkeit rechtlich unangemessen wäre. Der BGH billigt den Motiven für die Bewilligung eines riskanten Verhaltens insofern zu geringe Bedeutung zu, als er dazu neigt, lediglich allgemein anerkannte Gründe für die Risikoeingehung zu akzeptieren. Das verträgt sich, wie schon gezeigt, freilich nicht mit der Selbstbestimmungsfreiheit der Person. Entspricht es ersichtlich deren Wertewelt, bestimmten Zielen höheres Gewicht einzuräumen als dies sonst üblich ist, ist eine diesen Maßstäben entsprechende Entscheidung nicht defizitär. Bezogen auf den Ausgangsfall: Auch wenn die Veranstaltung lebensgefährlicher Straßenrennen um der Selbstbestätigung oder einfach nur um des „Kicks“ willen nach der wohlbegründeten Auffassung weiter Kreise der Gesellschaft in hohem Maße unvernünftig ist, wurde diese Haltung offenbar nicht von den Mitgliedern der Gruppe geteilt, zu der die am Rennen beteiligten Fahrer und Beifahrer gleichermaßen gehörten. J.-P. Sim traf hier keine Augenblicksentscheidung, sondern sein Vorgehen entsprach länger andauernder Übung, war also durchaus seiner Einstellung gemäß. Ihm waren nicht nur die Risiken bekannt, sondern es muss angenommen werden, dass er eine bewusste Wertentscheidung zugunsten der Eingehung dieser Risiken getroffen hatte. Die Einwilligung war danach wirksam. Abschließend ist dieses Lösungskonzept noch gegen zwei nahe liegende Einwände zu verteidigen: Es lässt sich nicht bestreiten, dass damit eine Interpretation von § 228 StGB vorgeschlagen wird, die das herkömmliche Verständnis des Wortlauts nicht gerade nahelegt.93 Die „Sittenwidrigkeit“ erscheint hier eher als ein Reflex denn als Ausgangspunkt der Interpretation. Aber es ist gut möglich, als sittenwidrig die Orientierung an einer (möglicherweise) defizitären Einwilligung zu verstehen.94 Ein solches Verständnis ist im Kontext von § 228 StGB allemal überzeugender als die herkömmliche Bezugnahme auf das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“.95 Nicht zu bestreiten ist weiter, dass die vorliegende Interpretation Rückwirkungen auf den Deliktscharakter der Tatbestände hat, auf die § 228 StGB (zumindest dem Rechtsgedanken nach) Anwendung findet. Folgt nämlich die Unwirksamkeit der Einwilligung bei § 228 StGB aus dem bloßen Risiko des Vorliegens einer 93 Vgl. Frisch, in: FS für Hirsch, 1999, S. 505 f.; Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 505. 94 Kritisch zu dem Versuch, die Vorschrift auf diese Weise zu „retten“, Paeffgen, in: NK3, 2010, § 228 Rn. 42a. 95 Von dem sich auch andere Interpretationen deutlich lösen, etwa die Rechtsgutslösung mit ihrem Abwägungserfordernis (vgl. dazu etwa Hardtung, Jura 2005, 405) oder das Konzept von Jakobs, in: FS für F.-C. Schroeder, 2006, S. 510.
Einwilligungslösung bei einverständlicher Fremdgefährdung
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defizitären Entscheidung, so erstreckt sich die Strafbarkeit nach §§ 222, 223 ff. StGB auch auf solche Fälle, in denen in Wahrheit eine freie Entscheidung der Person vorliegt, es also objektiv an einer Rechtsverletzung fehlt. Strafbarkeitsbegründend wirkt hier schon das Risiko, dass eine Gefahrschaffung nicht vom wirklichen Opferwillen gedeckt ist. Die Verletzungsdelikte der §§ 222, 223 ff. StGB nehmen also im Anwendungsbereich von § 228 StGB den Charakter von abstrakten Gefährdungsdelikten an.96 Damit bleibt zwar – anders als bei der Verlagerung auf den Schutz überindividueller Interessen – das geschützte Rechtsgut unverändert.97 Aber hinsichtlich der Deliktstypen kommt diesen Tatbeständen bei der hier vorgeschlagenen Interpretation ein Doppelcharakter zu. Allerdings dürften sich – anders als im Falle einer „Rechtsgutsvertauschung“98 – daraus keine größeren Friktionen aufgrund der einheitlichen Strafrahmen ergeben. Denn erfasst werden gerade Fälle, bei denen die betroffenen Rechtsgüter gravierenden Gefahren ausgesetzt sind und bei denen u. U. die Wahrscheinlichkeit einer defizitären Entscheidung sehr hoch ist, so dass die Gefährdung bis hart an die Verletzung heranreicht. Zusammenfassend: Die vorgeschlagene, begrifflich schärfere Erfassung der Fremdgefährdungsfälle anhand der Maßstäbe, die allgemein für die Fahrlässigkeitstatbestände gelten, und die Berücksichtigung des Opferwillens (erst) im Rahmen der Einwilligung dürften ein deutlich klareres Konzept ermöglichen, als es die Gemengelage aus Akzessorietäts- und Zurechnungserwägungen zu bieten vermag.
96 Richtig gesehen von Fateh-Moghadam, Die Einwilligung (Anm. 32), S. 127 f., wo auch zu Recht auf die Besonderheit hingewiesen wird, dass der Gefährdungscharakter hier nicht aus der Ungewissheit über künftige Ereignisse, sondern aus der Ungewissheit über einen aktuell gegebenen Umstand, nämlich über die Freiheit der Entscheidung von Defiziten, resultiert. Dazu auch – bezogen auf § 216 StGB – Murmann, Die Selbstverantwortung (Anm. 7), S. 497 f. 97 Anders das Konzept von Jakobs, in: FS für F.-C. Schroeder, 2006, S. 517 ff., der zwar auch von abstrakt freiheitsbedrohenden Handlungen spricht, damit aber eine Bedrohung der rechtlichen Anerkennung verständiger Verfügungen durch „extreme“ Entscheidungen meint: es gehe um die abstrakte „Gefahr, dass der nur-subjektive Verstand die an objektive Verständigkeit gebundene Freiheit in Misskredit bringt“ (S. 519). 98 Eingehend zur „Rechtsgutsvertauschung durch Aufstellung objektiver Einwilligungsschranken“ Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken (Anm. 47), S. 512 ff.
Rücktrittshorizont vs. fehlgeschlagener Versuch Von Hans-Ullrich Paeffgen Der kenntnisreiche und kluge Arno Schmidt legte einem seiner vielen Ich-Erzähler die Worte in den Mund: „Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“1 Ich stehe nicht an, diesen Satz auf die geschätzte Kollegin und Mitstreiterin in so vielen wissenschaftlichen und universitären Kämpfen umzumünzen, wodurch er seine, durch Selbstironie allenfalls milde gebrochene selbstüberhebliche Färbung vollends verliert und ausschließlich größte Hochachtung und Wertschätzung zum Ausdruck bringt. Im Nachfolgenden möchte ich freilich einen der wenigen Fälle ansprechen, in denen mich das konzeptionelle Lösungsangebot der Jubilarin nicht im üblichen Maße überzeugt. Ich nehme diese Diskussion in einer Festschrift zu ihren Ehren freilich nur deshalb auf, weil die Jubilarin, ausnahmsweise2, einen Bundesgenossen gefunden hat, der ihre Sichtweise ansonsten viel zu selten goutiert: den BGH. Dieser hat freilich die diskussionswürdige, aber auch -bedürftige Idee soweit weiterentwickelt, daß sie auch die Billigung der Befürworterin der Konzeption wohl nicht mehr zu finden vermag. Nun, zur Sache:
I. Problemaufriß und grundsätzlicher Lösungsvorschlag a) Der Gesetzgeber differenziert in dem von Aporien und Ungereimtheiten strotzenden3 § 24 StGB4 nach umstrittener, aber vorherrschender Sicht zwischen unbeendetem und beendetem Versuch.5 Dadurch entsteht bei dem Aufgeben nach einem erfolglosen ersten „Anlauf“ der Erfolgsherbeiführung das Problem, auf welche Perspektive das Recht sich stützen soll: auf die „Einzelaktstheorie“ oder den „Rücktrittshorizont“. Ich befürworte im Grundsatz die erste Konzeption,6 möchte mich aber hier vorrangig mit den Argumenten der h. M. auseinandersetzen. 1
Arno Schmidt, Umsiedler, in: Rosen und Porree (1955), S. 73 (90). Wie man in aller Regel bedauernd feststellen muß. 3 Anschaulich hierzu etwa: Herzberg, NJW 1991, 1633 ff. 4 §§ ohne Kennzeichen sind im folgenden solche des StGB. 5 Krit. zu der Unterscheidung „unbeendeter“/„beendeter Versuch“ u. a. aber Herzberg, NJW 1988, 1559 (1562); ders., NJW 1991, 1633 f. 6 Eine allenfalls altersbedingt, nicht aber wegen der Stichhaltigkeit der Argumentation gegen sie, im Aussterben begriffene Sichtweise: vgl. nur Bergmann, ZStW 100 (1988), 329 (351 f.); Burkhardt, Der „Rücktritt“ als Rechtsfolgenbestimmung, 1976, S. 90 ff.; Eser, StudK StrR II3, 1980, 33 A 27 ff.; Frister, AT4, 2010, Kap. 24 Rn. 17; Geilen, JZ 1972, 335 (338 f.); v. Heintschel-Heinegg, ZStW 109 (1997), 29 (50 f.); Jakobs, AT2, 1993, 26/15; ders., ZStW 104 (1992), 82 (89 ff.); Maiwald, Die natürliche Handlungseinheit (1964), S. 92 f.; Otto, GA 1967, 144 ff.; Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts . . ., 1976, S. 131 ff., 234 f., 240 f. Immerhin ist Baumann, AT8, 1977, 2
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Beispielsweise: Der Meisterschütze, der sich jedes Schusses sicher ist, hat sein Ziel verfehlt, weil es sich noch im letzten Augenblick gebückt hat. Voller Wut über den Kairos des Opfers schießt er ein zweites Mal. Diesmal trifft er, aber sein bebender Selbstzorn hat ihm den gewohnten „Blattschuß“ vereitelt. Der Schuß verletzt das Opfer nur schwer. Es wird aber dank der Kunst der Ärzte gerettet. In einem solchen Fall ruft der BGH, als fiktiver Beobachter gedacht, dem Täter T nach dem zweiten Nachladen zu: „. . . Aus Gründen des Opferschutzes honorieren wir, daß Du nicht noch ein drittes Mal geschossen hast! Denn weil Du dazu die Möglichkeit hattest, wandeln sich unversehens die beiden, an sich „fehlgeschlagenen“ 7 Versuche in einen unbeendeten um. Von dem kann man aber bekanntlich (§ 24 I 1, 1. Mod.) durch schlichtes Nicht-weiter-Handeln zurücktreten . . .!“8 Das überzeugt, scheint’s, den BGH unmittelbar9. Mich freilich nicht!10 § 33 II (S. 516) (= Baumann/Weber, AT9, 1985, § 33 II [S. 500]) darüber schon hinweggestorben (Baumann/Weber/Mitsch, AT11, 2003, § 27 Rn. 29 ff. folgt der h. M.). 7 Zu der terminologischen Frage, ob es diese Figur des „fehlgeschlagenen Versuchs“ gibt, hat die Jubilarin eigentlich das wesentliche gesagt. Vgl. aber die jüngste Kontroverse um deren Existenzberechtigung: verneinend: Schroeder, NStZ 2009, 9 ff.; ähnlich Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, 2006, S. 23 ff.; demgegenüber bejahend: Roxin, NStZ 2009, 319 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, AT5, 2004, 11/77 (a. A. noch Stratenwerth, AT4, 2000, 11/77). Gänzlich ablehnend: Bottke, JZ 1994, 71 (72 f.); Gössel, ZStW 87 (1975), 3 ff.; Herzberg, Blau-FS, 1985, S. 97 ff.; Schroeder, NStZ 2009, 9 ff., sowie jüngst, ausführlich, L. Wörner, Der fehlgeschlagene Versuch . . ., 2010, S. 276 ff. und passim. – Der BGH hat die Frage schon seit langem im bejahenden Sinne entschieden: BGHSt 34, 53 (56); 35, 90 (94); BGH NStZ 1990, 30 (31); BGHSt (GS) 39, 221 (228) (= NStZ 1993, 433 [433]). 8 BGH NStZ 1986, 264 (265): „Das rechtfertigt aber nicht, ein einheitliches Geschehen, bei dem zur Verwirklichung eines Tatbestandes mehrere Mittel eingesetzt werden, in Einzelakte zu zergliedern, so als lägen rechtlich mehrere Taten vor. Im Interesse des geschützten Rechtsgutes ist es eine ,honorierfähige Umkehrleistung‘ (Puppe, NStZ 1986, 14 [18]), wenn der Täter – nach für ihn unverdient – glücklicher Erfolglosigkeit des ersten Tatmittels von der Vollendung der Tat mit einem weiteren geeigneten Tatmittel Abstand nimmt.“ Bizarr: BGH NJW 1990, 263 (Mit Tötungs-Eventualdolus abgefeuerter Schuß aus 50 cm Entfernung aufs Gesicht entpuppt sich als Gaspistolen-Schuß, der das Opfer nur benommen machte: Stereotype Berufung auf BGHSt 35, 90 und Folgejudikatur: Versuch sei „unbeendet, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt glaubt, der Eintritt des Erfolges sei nicht möglich, und er von weiteren Handlungen absieht, die noch zum Erfolg führen könnten“. „Welchen weiteren Handlungen?“, darf man fragen. Nochmaliger Schuß mit der tötungsuntauglichen Waffe? Erdrosseln? Dazu muß man physisch und psychisch freilich erst einmal imstande sein!?). Oh, merkwürdige Psychologismen: Während der BGH sich sonst an seiner „Hemmschwellen“-Barriere nicht genug delektieren kann, entstammen die Akteure in den Rücktrittssituationen plötzlich einer besonders skrupellosen und hartgesottenen Gattung, die munter alles weg-erwürgen könnten, was sie zuvor nicht mit Beil, Messer oder Revolver hinzuschlachten vermochten. – Das zu tun unterlassen sie dann aber chevalereskerweise! 9 Ein kleines Innehalten in dem Furor, den Rücktritt – auf Teufel komm raus – zu bewilligen, könnte man vielleicht beim 2. Senat mit seiner Entscheidung NStZ 2009, 501 sehen, wo er nicht nur in einem Innehalten des Täters noch keine Tataufgabe erblikken möchte, sondern das Stichwort „unbeendeter Versuch“ nach dem Abfeuern von 5
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Allerdings wird die Motivationslage beim Täter selten so klar (beweisbar) sein wie in dem Beispielsfall. Wenn aber dolus und Handlungsantrieb nicht, gleichsam ex re, klar zutage treten, entfaltet die „Gesamtbetrachtungslehre“ mit ihrem „Rücktrittshorizont“11 ihre Sogwirkung, – freilich als schierer Ausfluß des Indubio-Satzes.12 Es ist aber etwas methodisch völlig anderes, ob ich den Schwierigkeiten in der Beweisaufnahme am Ende Tribut zollen muß, – oder ob ich, gleichsam diese antizipierend, deren Ergebnis sogleich in das Lösungsmodell einbaue. Wenn der Täter T, nachgerade angewidert von der Pechsträhne seiner erfolglosen Bemühungen, vom Opfer O abläßt, ruft ihm der BGH frohgemut zu: „Ich aber sage Dir: Du hast Dir – aus Gründen des Opferschutzes – Straffreiheit wirklich verdient! Denn Du hättest auch noch ein fünftes Mal Anlauf nehmen können, Dein Opfer zu töten. Das hast Du aber philantrophischerweise nicht gemacht!“13 Exemplarisch am Fall BGHSt 22, 330 veranschaulicht: Der Täter hatte Kugeln auf dessen Ex-Freundin und deren Begleiter gar nicht anspricht, obwohl jener (hier) den schwerverletzten (!) Begleiter mit bloßen Händen durchaus noch hätte erwürgen/gegen die Mauer schlagen o. ä. können. – Jüngste Verteidigung der h. M. aber bei L. Wörner, Versuch (Fn. 5), S. 99 ff. 10 Nur allzu treffend höhnte die Jubilarin gegen die verquere „Logik“ von BGH NStZ 1997, 573 (Taxiräuber-Fall): „Überläßt der Täter das offensichtlich lebensgefährlich verletzte Opfer an einem einsamen Ort seinem Schicksal, indem er es aller Mittel beraubt, sich Hilfe zu verschaffen, nämlich des Funktaxis, um sich mit der Beute in Sicherheit zu bringen, weil er gar keinen Grund mehr hat, ihm weiter nachzustellen, und ist seine Überzeugung von der durch ihn verursachten Lebensgefahr durch nachfolgende Ereignisse „erschüttert“, so soll er von der bereits verwirkten Versuchsstrafe nach § 24 I 1, 1. Alt. dadurch frei werden, daß er auf weitere, ihm noch mögliche Handlungen verzichtet, mit denen er den Erfolgseintritt noch sicherer machen könnte.“ Doch damit fand sie keinerlei Beachtung! Im Gegenteil: BGH NStZ-RR 2002, 73 (74) folgt dem angegeben Judikat nahtlos. Wie bemerkenswert kontrastierte dazu etwa noch BGH NStZ 1992, 125 (m. krit. Bespr. Puppe, NStZ 1992, 576 f.), – jedenfalls in der Tendenz!? 11 BGHSt 31, 170 (= BGH NStZ 1986, 360 f.); BGH MDR 1985, 1039; BGH NStZ 1986, 264 f.; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 6), § 27 Rn. 31; Fischer, StGB57, 2010, § 24 Rn. 14; Kindhäuser, AT4, 2010, § 32 Rn. 8, 13; Kühl, AT6, 2008, § 16 Rn. 27 ff. In der Sache ebenso: Puppe, NStZ 1986, 14 (18); dies., AT II, 2005, § 36 Rn. 44. 12 Ohne hinsichtlich des Normzwecks zu stolpern, räumt der BGH (BGH NStZ 1986, 264 [265]) in dem vorliegenden Fall (Fn. 8) eines vergeblichen Brandanschlags auf die Ehefrau unbekümmert ein, daß der Täter „unverdientes Glück“ gehabt habe. Das hindert ihn freilich nicht im nämlichen Satz zu sagen: „Sein Vorhaben war nämlich nach dem „unverdienten Glück“ des mißlungenen Brandanschlags noch nicht endgültig gescheitert. Vielmehr hat der Angeklagte in unmittelbar weiterer Verfolgung seines Ziels ohne tatbestandlich relevante Zäsur ein nächstes Tatmittel eingesetzt, indem er seine Ehefrau würgt.“ 13 Eine seltene Ausnahme findet sich in BGH NStZ 1986, 312. Dort hat der Senat bemerkenswerterweise einen Rücktritt verneint, als T das Vergewaltigungsopfer mit mehreren lebensgefährlichen Stichen als mögliche Angeberin zu beseitigen, danach mit einem Kissen zu ersticken – und, als dies an dessen Widerstand scheiterte, mit einer Strumpfhose, erneut vergeblich, zu erdrosseln versucht hatte. Diese erstaunliche Sequenz von Fehlschlägen läßt den BGH immerhin zu der Annahme eines beendeten Ver-
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seiner Geliebten in einem Wutanfall einige, z. T. lebensgefährliche Messerstiche versetzt, sie aber schließlich doch nicht erstochen. Der BGH meinte: Habe der Täter lediglich (!) geplant, dem Opfer eine unbestimmte Zahl von (erkannt tötungstauglichen) Messerstichen zuzufügen, und dann nach einigen von ihm abgelassen, so hänge die Frage unbeendeter/beendeter Versuch davon ab, wie er die Wirkungen des bisher „Geleisteten“ einschätze.14 Warum eigentlich? Der Täter hat getan, was er tun wollte, – und trotzdem prädikatisiert der BGH dies in vermeintlicher Bonnehommie im Sinne von: Unbeendeter Versuch! Glückwunsch! Strafbefreiender Rücktritt wegen Nicht-mehr-weiter-Handelns!15 Der BGH erstreckt hier im Grunde die Lehre von dem dolus indirectus, wie ihn Jakobs jetzt wieder reaktivieren will16, auf die Rücktrittsmöglichkeit. Während dort (bei Jakobs) der Täter sich gegen die Gefahren seines Tuns psychologisch verschlossen hat, aber normativ (gerade deshalb) so behandelt werden soll, als habe er sie bedacht, handelt der BGH, freilich ohne methodologische Basis, auf der Rücktrittsebene genau in der nämlichen Weise – nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Obwohl der Täter sich zunächst gegen Rücktrittserwägungen verschlossen hat und erst (nicht selten: sehr viel) später an Aufhören/Handlungsziel-Wechseln denkt, soll er so behandelt werden, als habe er diese Erwägung unterschwellig schon immer bedacht. b) Nun ließe sich folgender Billigkeits-Einwand denken: Nach der vorgestellten Modellierung habe der Sadist, der sein Opfer durch viele kleine Verletzungen töten will, einen längeren Zeitraum für eine Tataufgabe als derjenige, der biederaufrichtig die erste Attacke für möglicherweise tödlich hält. Aber diese Unterscheidung ist grundsätzlich auch sachlich berechtigt. Denn jener hatte das Rechtsgutsobjekt und das Rechtsgut – jedenfalls subjektiv – eben noch nicht in gleichem Maß in Gefahr gebracht wie dieser. c) Aber sonst gilt: Ich kann keine „weitere Tat“ „aufgeben“, die ich, was meinen Verhaltensbereich anlangt, vollständig ausgeführt habe,17 – die aber nicht such gelangen, ohne auch nur zu erwähnen, daß es sich nach seinen sonstigen Usancen um einen unbeendeten Versuch gehandelt haben könnte, weil T die O ja auch noch hätte erdrosseln, aus dem Fenster stürzen können o. ä. m. Das seelische Alibi für den Senat war wohl, daß T dem Opfer Hilfe zu holen versprach, aber auch dies nicht tat, so daß man, wenn die erste Hürde durch Nichterwähnung genommen war, schulgerecht von mangelnder Umkehrleistung ausgehen konnte. 14 BGHSt 22, 330 (333). 15 Auch Burkhard (Fn. 4), S. 32, echauffiert sich darüber zu Recht. – BGHSt 10, 129 (131) (freilich mit verfehltem Erfordernis der Vorsatzbeschränkung auf Solitärtat); 14, 75 (79); hatten das noch anders, nämlich tendenziell wie hier vertreten, gesehen; so auch RGSt 68, 82 (83 f.); 39, 220 (221); 43, 137 (138 f.). 16 Jakobs, ZStW 114 (2002), 584 ff. 17 So schon, u. a., Herzberg, NJW 1988, 1559 (1565). Dazu noch mal u., Fn. 112. – Wegen des Perspektivenwechsels (hin zum Rücktrittshorizont) meint Roxin, NStZ 2009, 319 (320), etwas anderes, wenn er sagt, von einem „Aufgeben einer Tatausführung“
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zum Ziel geführt hat. Ich kann zwar, unbestrittenermaßen, weiterhin töten, stehlen, vergewaltigen oder was auch immer wollen. Nur bedeutet dies, einen neuen Anlauf nehmen zu müssen.18 d) Dem könnte man freilich noch einen weiteren Billigkeits-Einwand entgegenhalten: Nach der hier vertretenen Sicht sei es für den Täter sub specie § 24 besser, das Opfer in der Versuchsausführung bereits zu schädigen, als es gar nicht zu treffen. Denn: Wenn T auf O schießt und es für möglich hält, daß er ihn töten wird, dann kann er, wenn er ihn (allerdings nicht tödlich) trifft, zurücktreten,19 indem er die Todesgefahr sich nicht verwirklichen läßt. Wenn er ihn jedoch verfehlt hat, könnte er nach dem hiesigen Modell nicht zurücktreten, ebensowenig beim – nachträglich erkannt – untauglichen Versuch. – An sich liegt hier stets das vor, was die h. M., jedenfalls isoliert betrachtet, einen fehlgeschlagenen Versuch nennt. Was spricht nun dagegen, hier die Segnungen des § 24 zu versagen, was andererseits für dessen Anwendung? aa) Für § 24 spricht das Billigkeitsargument, daß, wenn T das Opfer schwerer verletzt hätte, ein Rücktritt über § 24 I 1, 2. Mod. wenigstens noch offengestanden hätte. Bei einer leichten Verletzung, oder gar beim Fehlschuß, kann man aber „dem Todeseintritt nicht entgegenwirken“. Hier scheint das Schädigungs-Plus mit
i. S. d. § 24 I 1 sei nur dann auszugehen, „wenn eine ,weitere Ausführung‘ wenigstens nach Meinung des Täters im Rahmen des Möglichen liegt“ Wann aber, von bizarren Sonderkonstellationen (etwa: gelähmter, im Rollstuhl sitzender T, dem die Munition für weitere Schüsse fehlt) abgesehen, wäre das einmal nicht der Fall? Man könnte dem Verletzen, nach dem Fehl-Schlag, einen Armleuchter über den Kopf schlagen, ihn drosseln, ihm ein Kissen auf den Mund halten usw. Bezeichnenderweise verzichtet der BGH in manchen Fällen auf derartige Eventualüberlegungen (nach freilich wenig durchsichtigen Motiven). Zwar scheint mancher Akteur, namentlich bei Tötungs-Versuchs-Fällen, der Maxime: „Arbeit schändet nicht!“ zu folgen. Doch auch der BGH huldigt nicht selten, voller krimineller Phantasie und Energie, diesem Leitsatz, um auch noch die letzte denkbare Eventualität auszuschöpfen – und so dem T den Weg zum Rücktritt zu eröffnen. 18 Tendenziell (und partiell) wie hier Herzberg, NJW 1991, 1633 (1635). In der Sache wohl auch: Scheinfeld (Fn. 5), 2006, S. 110. – A. A. schon früh, wenn auch noch ohne Stetigkeit, der: BGH 22, 176 (177): T. „macht sich in der Regel keine bestimmten Gedanken über die Zahl der Schläge, die er seinem Opfer zu versetzen beabsichtigt, wird vielmehr bei seinem Tun durch den Willen beherrscht, auf das Opfer einzuschlagen, bis er das seinem Vorsatz entsprechende Ziel erreicht hat. Die Annahme, schon der erste Schlag werde das Opfer töten, schließt einen solchen den Tatablauf von Anfang an bestimmenden Willen nicht aus. . . . Der Angeklagte ist hiernach dadurch, daß er von einem weiteren Einschlagen auf seine Stieftochter absah, obwohl er sofort nach dem Schlag erkannt hatte, daß er sein Ziel mit diesem noch nicht erreicht hatte, von einem im Sinne des § 46 Nr. 1 StGB unbeendetem Versuch zurückgetreten.“ ); BGH 31, 295 (299); BGH NJW 1986, 1001 = NStZ 1986, 214; BGHR StGB § 24 Abs. 1 S. 1 Versuch, unbeendeter 2; BGH 35, 90. 19 A. A.: Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/19 (bleibt der erreichte Zwischenerfolg hinter dem intendierten zurück, liegt insoweit ein subjektiver, partieller Fehlschlag vor); ders., ZStW 104 (1992), 82 (89). Krit. hierzu: MüKo-Herzberg (Fn. 22), § 24 Rn. 72.
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der verbleibenden Rücktritts-Möglichkeit „belohnt“, das Minus hingegen mit dessen Versagung „bestraft“ zu werden. bb) Duplik: (1) Andererseits hatten ja T (und O) beträchtliches Glück, daß sich der Tatplan nicht verwirklichte (Ausbleiben des – tödlichen – Taterfolges). Dieses strafzumessungserhebliche Faktum wird jedoch schon zugunsten des T strafmindernd ins Gewicht fallen. Warum sollte man das Unterlassen eines weiteren Anlaufs so großzügig honorieren, daß das zuvor unbestreitbar zutage getretene Handlungs- und Erfolgsunrecht auch noch rückwirkend aus der kriminellen Bilanz gestrichen werden soll? – Wieder scheint der Verweis auf das unstreitig rücktrittsfähige, obschon schärfer rechtsgutsverletzende Verhalten diese Kritik zu überwinden. Aber warum eigentlich? Die massivere Verletzung eröffnet zwar die Chance auf einen Rücktritt, – aber es bleibt zunächst einmal nur eine Chance – mit, je nach Verletzungsintensität, erheblichem Risiko. Ob diese Chance, wegen des Versuchs straffrei gestellt zu werden, in einen Rücktrittserfolg i. S. d. h. M. münden wird, hängt von vielen Imponderabilien ab: Ob die Rettungs-Anstrengungen des T zureichend sind, ob insbesondere die Rechtsgutschädigung nicht doch so massiv ist, daß allenfalls ein „Wunder“ den endgültigen Erfolgseintritt noch verhindern kann usw. Diese Hypothek lastet auf der schwererwiegenden Variante. (2) Überdies bleibt ein weiteres Paradoxon für die h. M. aufzulösen: Wenn der T im §§ 212, 22-Fall das Opfer lebensgefährlich verletzt, nimmt auch der BGH – bisweilen – einen beendeten Versuch an, bei dem T schon aktiv und intensiv gegen den Erfolgseintritt arbeiten muß, um sich das Benefiz des § 24 zu erdienen.20 Wenn das gleiche Verhalten aber nicht im Tätersinne „von Erfolg gekrönt“ ist, er nur leicht verletzt oder gar vorbeigeschossen hat, dann soll der nämliche Akt auf einmal ein „unbeendeter Versuch“ sein?! Der Handlungsvollzug und das Vorstellungsbild des Täters in actu sind völlig identisch!? (3) Aber vor allem – und unabhängig von jenen, beliebig und in jede Richtung skalierbaren, Billigkeitserwägungen: Was sollte mir methodisch erlauben können, etwas subjektiv21 Abgeschlossenes – ex post – als unabgeschlossen zu bezeichnen?22 e) Es gilt also festzuhalten: Der Akteur, der sich anschickt, den Tatbestand zu verwirklichen, befindet sich noch in einem „tataufgabefähigen“ Zustand, solange
20 BGH NJW 1986, 1001 (1002) = NStZ 1986, 214; BGHSt 33, 295 (299 f.) = NStZ 1986, 25 („Dem Chef ist was passiert“); BGH NStZ 2005, 263. 21 Im Zeitpunkt des Handlungsabschlusses! Wie stets bei Versuchskonstellationen kommt es auf die Sicht des Akteurs an, vgl. u., Fn. 59. 22 Allenfalls der sichere Nachweis, daß mittels der h. M. wirklich Rechtsgüter, namentlich Menschenleben, gerettet wurden und werden, erlaubte, derartige Überlegungen als „Vernünfteleien“ abzutun. Doch fehlt es für die BGH-Sicht an jedwedem empirischen Beleg.
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er den – ihm zureichend erscheinenden – Kausalprozeß23 noch nicht vollauf aus der Hand gegeben hat.24 Hat er dies jedoch getan, so ist die Grenze zum beendeten Versuch überschritten.25 Hier kann nur die aktive Gegensteuerung, die Neutralisierung des bisher ins Werk Gesetzen,26 helfen.27 Aus der Hand gegeben hat 23 Die finale (Über-)Determination seines eigenen Verhaltens im Welzelschen Sprachgebrauch, Lb11, 1969, § 8 I, S. 33 ff. Dabei ist nicht etwa die vollständige Überantwortung des angestoßenen Geschehens an „des Schicksals Mächte“ vorauszusetzen, weil man sich dann bereits unweigerlich im Bereich des beendeten Versuchs befände. 24 Veranschaulicht an einer geplanten Tötung mit einer Schußwaffe: Solange T. den Abzug noch nicht betätigt respektive die Waffe nicht bewußt verrissen hat, steht diese Rücktrittsform noch offen. Setzt er die Waffe nunmehr wieder ab, um das Tötungsziel nicht mehr weiter zu verfolgen (und nicht, weil ihm ein anderer Hinterhalt besser geeignet erscheint), so „gibt er die Tatbegehung auf“. 25 Richtig: BGHSt 31, 170 (175) (m. zust. Anm. Kienapfel, JR 1984, 72 ff., und Rudolphi, NStZ 1983, 361 ff., und zust. Bespr. H.-W. Mayer, MDR 1984, 187 ff.); BGH NStZ 1986, 312; – Vgl. demgegenüber: BGH NJW 1985, 2428 (phänomenalerweise zweifelt der BGH nicht nur bei einem Stich mit einem Messer in „die linke Brustkorbhälfte“ – zur Erinnerung: dort findet sich bei einigen Leuten das Herz! – am Tötungsvorsatz [hier schwingt unausgesprochen die die kurz zuvor inaugurierte Hemmschwellendoktrin mit, obwohl sie bei einem solchen Stich geradezu himmelschreiend verfehlt ist], sondern gibt auch noch einen unbeendeten Versuch zu erwägen, weil T dem Opfer, es mit dem Messer wegscheuchend, zurief, er solle abhauen); (nahtlos fortgesetzt durch BGH NStZ 2003, 603; vgl. demgegenüber, seriös: BGH NStZ 2005, 263). BGHSt 33, 295 (299 f.) = NStZ 1986, 25 f.: S. 25 f. („Dem Chef ist was passiert“-Fall: Der Angekl. wollte nur einen [aufgesetzten] Schuß auf den Kopf des Zeugen abgeben, sah das Blut an dessen Kopf und stellte fest, daß er ihn erwartungswidrig nicht getötet hatte. Er hätte sein Opfer durch weitere Schüsse töten können. Das Vorhaben des Angekl. sei deshalb nach Abgabe des ersten Schusses nicht endgültig gescheitert, der Versuch deshalb nicht fehlgeschlagen, allerdings beendet; § 24: –) NStZ 1999, 300 f. (EhefrauenErstecher-Fall: –); NStZ 2005, 263 f. (Darmschlingen-Fall: +); NStZ-RR 2006, 6 (Brustkorbstich-Fall: ./.); NStZ-RR 2006, 370 (Denkzettel-Fall: +); NStZ 2007, 634 f. (Würger-Fall: +); NStZ 2009, 25: = StraFo 2008, 476 (Bauchstich-Fall: + [auch wenn das Opfer noch 20 m in die Gaststätte zurückkehrte, glaubt sich der BGH die Feststellung erlauben zu können: „Sichtbare Beeinträchtigungen oder Auffälligkeiten, aus welchen der Angekl. auf eine schwere, unter Umständen tödliche Verletzung hätte schließen können, sind nicht festgestellt“, – bei einem Stich mit einem Messer mit 15 cm langer Klinge in den Unterbauch, die er im Sachverhalt noch als „lebensgefährlich“ bezeichnet hatte!?); NStZ 2009, 86 = StV 2009, 467 (Vorzeitiger Samenerguß während Vergewaltigungs-Versuchs: +); NStZ-RR 2009, 42: (ohne SV); NStZ 2010, 146: (Korrektur des Rücktrittshorizonts [ohne SV]: +); Fischer, StGB57, 2010, § 24 Rn. 14; Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/15; Kindhäuser, AT4 (Fn. 11), § 32 Rn. 8; Lackner/Kühl 26, 2007, § 24 Rn. 4; Rengier, AT, 2009, § 37 Rn. 110; Schönke/Schröder27-Eser (2006), § 24 Rn. 14; SK-StGB6-Rudolphi, 1993, § 24 Rn. 15a; Wessels/Beulke, AT39, 2009, Rn. 638. 26 Respektive, wenn der Erfolgseintritt etwa schon durch Dritte verhindert wurde, durch den ernsthaften Versuch hierzu, § 24 I 2. 27 Für das vermeintliche „Sonderproblem“ des untauglichen Versuchs, den man mangels objektiv „aufgabetauglicher“ Verhaltensweise nur subjektiv „aufgeben“ kann, tauchen dann keine Schwierigkeiten auf: Wie bei dem Versuch wird das Tatunrecht, bis an die Grenzen des abenteuerlichen Versuchs, subjektiv bestimmt, was eine Parallelisierung auf der Rücktrittsebene gestattet: Wer ein Rechtsgut anzugreifen vermeint, was er tatsächlich in concreto gar nicht angreifen kann, kann den letzten, subjektiv kritischen Schritt unterlassen, oder, wenn er ihn getan hat, der vermeintlich sich verdichtenden
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der Täter aber auch schon ein (selbst nur mit dolus eventualis) für erfolgsmächtig gehaltenes Verhalten, das im Handlungsvollzug abgeschlossen ist: den Stich in den Hals, den Brust- oder Bauchraum28, den ersten Schuß o. ä. f) Was ist daran honorierungswürdig,29 etwas nicht noch einmal zu wiederholen, von dessen erstmaligen Versagen ich mich ggfls. überzeugen mußte – und was zu wiederholen mir bei Strafe untersagt ist? (Straf-)Juristen pflegen bisweilen eine wirklichkeitsfremde Laienpsychologie.30 aa) Beim Rücktritt muß man sich den fiktionalen Täter – in der BGH-Sicht – nach dem zweiten vergeblichen Anlauf, etwa die Ehefrau umzubringen o. ä., bildlich dahingehend vorstellen, wie er zum Gesetz31 greift, den § 24 I 1, 1. Mod. entdeckt, zweifelt, ob sein Zögern auch gemeint sein könnte, dann vom BGH mit dem Stichwort „Rücktrittshorizont“ beruhigt wird, – und nunmehr, ob der unerwartet sich bietenden Straffreistellung, von dem halb- oder dreiviertel toten Op-
Gefahr durch vermeintlich wirksame Gegensteuerungsmaßnahmen begegnen: Wer plötzlich den vom Gärtner des Freundes erbetenen Pelzmantel doch nicht abnimmt, ohne zu merken, daß es der eigene, ehedem vergessene ist, tritt vom Versuch des Diebstahls ebenso zurück, § 24 I, 1. Mod., wie derjenige, der den vom Gärtner in das Auto des Freundes (das T sich für den Coup eigens „ausgeliehen“ hatte) gelegten, vermeintlich fremden Mantel wieder dem Gärtner zurückreicht, § 24 I, 2. Mod. 28 Also Bereiche, in die zu stechen, in aller Regel eine Todesgefahr zeitigt. Bei dem in Curare getränkten Dolch genügt also eine bloße Schnittwunde. 29 Dieses Honorierungswürdige kann jedenfalls evidentermaßen nicht darin bestehen, daß der Erfolg nicht eingetreten ist, – denn das ist die systemische Voraussetzung für die Anwendung der Versuchsvorschriften. 30 Paeffgen StraFo 2007, 442 ff. – Eine wirkliche Sumpfblüte aus dem Morast einer bundesrichterlichen Introspektion, die mit Laienpsychologie zu umschreiben ein Euphemismus wäre, ist die Lehre von der hohen Hemmschwelle, die vor einem Tötungsdelikt stehe (BGH StV 1982, 509; NStZ 1983, 407; 1984, 19; StV 1984, 187; 1986, 421; NStZ 1988, 175; NZV 2000, 88; StV 2001, 572). Hier befinde ich mich, wie ich nicht nur aus unseren mündlichen Diskussionen weiß, in völliger Übereinstimmung mit der Jubilarin, vgl. nur: Puppe, NStZ 1992, 576 (577); vgl. ferner deren Hinweis auf die (gelegentlichen) diesbezüglichen Inkonsequenzen des BGH in: Puppe, Aberratio ictus und dolus alternativus, HRRS 2009, 91 (92) (zu BGH NStZ 2009, 210). – Krit. u. a. auch: Geppert, Jura 2001, 55 (59: Hemmschwellentheorie sei konturlos), vgl. auch Brammsen, JZ 1989, 71 (77 f.). Eine die Bedeutung der Doktrin verharmlosende Deutung i. S. v. einer Verschärfung der Beweisanforderungen an die Feststellung des Tötungsvorsatzes meint Mühlbauer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tötungshemmschwelle (1999), passim, der Judikatur entnehmen zu sollen. – Vorsichtig reserviert immerhin Altvater, NStZ 2003, 21 Fn. 8; ders., NStZ 2004, 23 (24); deutlich gegen jene „Theorie“ ohne jegliche theoretische Fundierung: Trück, NStZ 2005, 233 (234 ff.); Verrel, NStZ 2004, 309, (310). – Wie weit es tatsächlich mit der Hemmschwelle gegenüber tötungstauglichem Verhalten her ist, belegen die wiederholten empirischen Belege für das sog. Milgram-Experiment; jüngst erst wieder im französichen Fernsehsender France 2; dazu: Altweg, Die manipulierbare Meute, FAZ 18.3.2010, http://www.faz.net/s/Rub510A2EDA82CA4A8482E6C38BC79C4911/Doc~E42E94F11 CA814849925FE13F78740692~ATpl~Ecommon~Scon tent.html. 31 . . . oder sogar zum Nomos Kommentar . . .
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fer abläßt. – Man wende nicht ein, anderenfalls hinge der Rücktritt von Zufälligkeiten ab. Natürlich ist die Erfolgsabwendung – wie die -herbeiführung – zufallsabhängig32: So, wie die Tatvollendung davon abhängt, ob das Opfer einem Feldscher oder einem Chirurgenkünstler in die Hände fällt, so kann gleichermaßen die Rücktrittchance von dem nämlichen zufälligen, jedenfalls vom Akteur nicht in concreto beherrschbaren Umstand abhängen, oder ob, anderes Beispiel, nach dem Fehlschlagen des ersten Mediums zu Erfolgsherbeiführung weitere Mittel zur Hand sind. Gesetzt den Fall, der Täter würgt sein Opfer 5 Minuten lang; – länger als geplant, aber das Opfer erweist sich als zäher als gedacht. Wenn dies hernach immer noch röchelt, der Tötungswillige aber nicht mehr weiter würgt: Was macht es für den BGH plausibel, dies als i. E. ,verdienstlich‘ einzustufen? Einen Menschen zu erdrosseln, setzt beträchtliche Kraft in den Händen voraus. Wenn jemand, der nicht mit schwerer Handarbeit sein Brot verdient oder sonst über Bärenkräfte verfügt, nach gewisser Zeit nicht mehr genügend Kraft aufbieten kann, um den nötigen Druck auf den Hals auszuüben, so wird man schwerlich sagen können, er habe seine(n) Tat(plan), zu töten, „aufgegeben“. Er ist schlicht ermattet!33 Gestände er das vor Gericht ein, so stünde der BGH wohl nicht an, jenes Verhalten unter „fehlgeschlagenem Versuch“ zu subsumieren. – Das wäre zumindest konsequent zu einigen nachfolgend aufgeführten Entscheidungen, – selbst wenn der Täter nach einer Viertelstunde Erholungspause sich erneut hätte anschicken können, das Opfer zu würgen, und diesmal vielleicht mit ,zureichender‘ Dauer.34 Der zweite Anlauf, den er unterläßt, entfaltet für den BGH die Sogwirkung, zu sagen: Da dieses Nicht-mehr-weiter-Handeln – isoliert – keine Berücksichtigung findet, müssen wir das bereits ermittelte Ergebnis „fehlgeschlagenen Versuch“ nachträglich über den Haufen werfen und es ex post mit dem – u. U. nicht unternommenen (!) – „zweiten“ oder weiteren „Versuch“ zu einem neuen Ganzen zusammenkleben und – durch Umetikettierung – daraus einen ein-
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Das betont auch Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 24. Lediglich, sofern der Akteur in der Gerichtsverhandlung diese unzulänglichen körperlichen Fähigkeiten nicht zugibt, wird man äußerlich von einem „Aufgeben des Tatentschlusses“ ausgehen müssen. Aber das ist dann, wie gesagt, eine Folge der In-dubioRegel. 34 Vgl. o., Fn. 13, schon angezogen, BGH NStZ 1986, 312; BGH NStZ 1994, 76. Aber „natürlich“ zeigt der BGH auch hier keine wirklich nachvollziehbare Kontinuität: BGH NStZ 1989, 18 (Der T würgte seine Ehefrau am Nachmittag [1. Tat] vergeblich, am Abend versuchte er es erneut: zuerst erfolglos mit den Händen, sodann, viel intensiver, mit einer im Nacken zusammengedrehten Socke [2. Tat]. Der Erfolg der 2. Tat konnte durch eine dazwischengehende Person verhindert werden, bei deren Einschreiten T widerstandslos von der Frau abließ. Es sei nicht auszuschließen, daß T die hinzutretende Frau hätte eliminieren und die schon sehr geschwächte Gattin weiter würgen können. Besonders „schlüssig“ (!): Ob sich der T hierzu physisch noch in der Lage gesehen habe, sei unerheblich: Wenn objektiv noch Möglichkeiten zur Tatverwirklichung bestünden, müsse ihm auch zugutegehalten werden, daß er sich dieser Möglichkeit bewußt gewesen sei. Der Rücktritt sei auch freiwillig erfolgt.) 33
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zigen „unbeendeten Versuch machen“! – In der Logik hätte man früher einmal gesagt: Ex absurdis seqitur quodlibet (Aus Fiktivem folgt Beliebiges).35 bb) Aber: Wäre es nicht doch anders, wenn der zweite Anlauf seinerseits in das Versuchsstadium getreten wäre? Im Beispiel: T würgt erneut, bekommt aber dann unversehens Mitleid mit seinem blau anlaufenden Opfer und läßt von ihm ab. Hier hat die Sogwirkung der Gesamtbetrachtungslehre mit ihrem Rücktrittshorizont wenigstens eine gewisse psychologische Basis: Von dem zweiten Versuch ist T (freiwillig und wirksam) zurückgetreten. Nun wäre es für ihn fraglos schöner, wenn sich das Resultat aus § 24 StGB gleich doppelt für ihn auszahlte, indem man dessen Wirkung auch noch auf den ersten Handlungsteil rückerstreckte. Aber wäre es methodologisch auch plausibel zu machen? cc) Hierzu findet sich in der Judikatur des BGH ein systematisches und ein psychologisches Argument: (1) Wenn beide Akte in zeitlich-räumlicher Nähe gegenüber dem nämlichen Opfer verwirklicht werden, besinnt sich die h. M. auf die Idealkonkurrenzregel des § 52 StGB: Dieser erlaubt nach ganz h. M. nämlich, mehrere, naturalistisch betrachtet, einzelne Handlungen36 desselben Akteurs gegen dasselbe Opfer in engem raumzeitlichen Kontext als normativ eine zu bezeichnen. Puppe bietet als Erklärung den Modus der Erfolgsidentität37.38 (2) Das psychologisierende Argument besagt, man wolle über die mit der Doktrin vom Rücktrittshorizont verbundene Großzügigkeit Verdeckungsmorde verhindern helfen. Eine schöne Idee!39 Man sieht den BGH-Richter förmlich, wie er, gramgebeugt ob der Schlechtigkeit der Welt, sich die Situation ausmalt, in der er an der Stelle des Täters stünde, – und wie er reagieren würde. Das Dumme an der Introspektion ist freilich, daß er sich nicht als Quivis ex populo in dessen Wut und Enttäuschung über eine eben erlittene Kränkung/Entdeckung eines Seiten35 Z. B.: Wenn Bizet und Verdi Landsleute wären, wären sie beide Franzosen (oder Italiener). 36 Verwirklichungen desselben Tatbestandes. 37 Puppe, AT II (Fn. 11), § 52 Rn. 11 ff.; NK3-Puppe (Fn. 17), § 52 Rn. 18 ff.; dies., JR 1996, 513 (514); dies., Mangakis-FS (1999), S. 225 ff.; dies., JR 2003, 31 (32 f.); in der Sache ebenso LK12-Rissing-van Saan, 2006, Vor § 52 Rn. 33, 58 und passim. 38 Allerdings verlangt Puppe für das Wirksamwerden des Topos „Erfolgseinheit“ als einheitsstiftendes Kriterium im Konkurrenzbereich den Eintritt eben jenes Erfolges. Mehrere Versuche, ein und denselben Erfolg herbeizuführen, stehen nach ihr untereinander in Realkonkurrenz (NK3-Puppe [Fn. 17], § 52 Rn. 21 unter Berufung auf BGHSt 41, 368 [376]). Ob ein oder mehrere Versuche vorliegen, richtet sich nach dem Tatbestand des Versuchs (LK12-Rissing-van Saan [Fn. 40], Vor § 52 Rn. 37) und damit im Wesentlichen danach, wann ein Versuch nach der Lehre von der natürlichen Versuchseinheit i. S. v. § 24 Abs. 1 beendet ist (BGHSt 41, 368 [369]; dazu Puppe, JR 1996, 513 ff.]). 39 Vgl. u., in und bei Fn. 42. – Das Argument paßt freilich nur „begrenzt“ auf Fälle etwa des Betruges etc.
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sprungs o. ä., auf Rache sinnend, vorzustellen vermag,40 sondern just so, wie er selbst dasitzt, über seine Akten und seinen Fischer gebeugt. Fiktional blendet er sodann zwar seine Rechtskenntnisse aus, und überlegt, was „so einer“ nun wohl überlegt haben könnte. Fiktional blendet er bei jenem Homunculus normalis dann aber eine juristische Kenntnisinsel wieder ein, nämlich das Wissen darum, daß der Rücktritt zur Strafbefreiung führt.41 Denn das Faktum, daß – z. B. –, das Opfer nicht zu Tode gebracht zu haben, strafzumessungstechnisch immer besser „ankommt“ als dessen Liquidation, scheint ja in dem fiktiven Raisonnement nicht zuzureichen. Und dann kommt es in dem Kopf des BGH-Richter-Homunculus zu der staunenswerten Conclusio/Synthese aus Vermeintem und Nicht-Gewußtem: Wenn ich jetzt weiter auf den Erfolg hinarbeite, rücke ich wegen Verdeckungsmordes lebenslang ein; wenn ich von meinem bisherigen Tun abstehe, gehe ich straffrei aus! Nicht genug damit! Nun setzt der psychologisierende BGH(-Richter) noch eins drauf, indem er behauptet, wenn man von der Tatplanperspektive ausginge, dann wäre dem Täter schon alles egal; dann gäbe dieser dem Gefühl nach, jetzt könne er ruhig auch noch einen Verdeckungsmord begehen. Von solch sinistren Kalkülen42 werde aber der nächste Versuchstäter eines Eifersuchtstotschlags o. ä. abgestiftet, wenn und soweit der Senat in dem jeweils jetzt entscheidungserheblichen Fall auf den Rücktrittshorizont abhebe und der Kollage aus mehreren Teilakten nachträglich das Etikett rücktrittstauglicher „unbeendeter Versuch“ umhänge.43 – Man muß, glaube ich, die erstaunlichen Parallelbeurteilungen im Richterbewußtsein einmal derart persiflierend aussprechen, 40 Also fern von dem, was Goethe einmal über sich selbst gesagt haben soll: „Ich habe niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte selbst begehen können“ (ohne daß sich das Zitat in seinen schriftlichen Äußerungen nachweisen ließe). 41 Eine, sicher nicht repräsentative, Umfrage bei verschiedenen Personen verschiedenen Bildungsstandes, die aber durch juristische Kenntnisse nicht vorbelastet waren, wie auf die umschriebene Rücktrittssituation billigerweise der Staat reagieren sollte, ergab eindeutig eine bloße Strafmilderung. Das ist aber etwas, was sich fraglos jeder Täter denken könnte, der in einer vergleichbaren Situation über seine Bestrafungs-Aussichten nachdächte, – wenn er denn überhaupt über derartiges nachdächte. 42 . . ., die, in ihrer Pseudorationalität, zu hegen sich namentlich bei in Partnerschaftskonflikten mit ihren sich aufschaukelnden Affekten geradezu „aufdrängt“. – Dazu, wie sich Denken und Handeln in solchen Konfliktsituationen tatsächlich zu entwickeln pflegt, vgl. etwa zwei Stimmen vom Fach: Rasch, Tötung des Intimpartners, 1964/1995, S. 12 ff., 30 ff., 54 ff., oder: Marneros, Intimizid, 2008 S. 263 ff. 43 Ich hätte sehr viel Verständnis dafür, wenn Opfer, wie etwa das aus BGH HRRS 2007, Nr. 373 (Balkonsturz-Fall), sich wünschten, daß die BGH-Richter in vergleichbare Situationen gerieten wie sie selbst: Etwa: Vom gut 4 m hohen Balkon mit Tötungsvorsatz herabgestürzt zu werden (erkenntnisfördernder wäre freilich, wenn der Balkon noch etwas höher läge!)/als es sich am Geländer festhalten kann, mit voller Wucht auf die Hände geschlagen zu werden/abzustürzen (aber, durch glückliche Umstände, ohne stärkere Verletzungen zu überleben)/um sodann vom herabgekletterten T mit dem Kopf (erneut mit Tötungsvorsatz) auf die Trottoirplatten geschlagen zu werden (wogegen es sich freilich erbittert wehrt)/anschließend mit Tritten und Schlägen (in Tötungsabsicht) traktiert zu werden, a. a. O., Rn. 3 f., wonach T freilich von ihm abläßt. – Man darf vermuten, das bizarre Gerede vom (konkreten) „Opferschutz“ fände nach einem solchen
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um ihre völlige Wirklichkeitsfremdheit aufzudecken! Oder, um Thoas abzuwandeln: „Man spricht vergebens viel, um (die Gesetzesanwendung) zu versagen; der andre hört von allem nur das Wort ,Rücktritt‘!“44 dd) Puppe hat hingegen eine gestufte methodische Ableitung vorgetragen: (1) Sie weist zunächst die Einzelaktstheorie wegen ihrer Unbilligkeit zurück:45 Der Akteur, dem der Mitteleinsatz derart mißrät, daß er das Opfer überhaupt nicht in Gefahr bringe, stehe schlechter da, weil er nach jener Doktrin gar nicht mehr zurücktreten könne, als derjenige, der es wenigstens objektiv gefährdet habe; denn letzterem stehe § 24 noch offen.46 Doch vermag mich die Kritik nicht zu überzeugen: Der Einfaltspinsel, der aus Versehen statt der scharfen Kugelbombe das Zirkusmodell ergreift, aus der sich, nach dem Aufprall, ein nasendrehender Kaspar entfaltet, kann nicht zurücktreten, – denn es gibt nichts „aufzugeben“, geschweige denn eine „Vollendung zu verhindern“. Soweit man hier nicht über § 23 III „helfen“ will, liegt ein schnöder fehlgeschlagener Versuch vor. (2) Mit diesem Einwand glaubt Puppe, sich gleichwohl in das Lager der „Theorie von der natürlichen Versuchseinheit“47 schlagen zu müssen. Als Zusatzargument führt sie ein weiteres Rechtsprechungs-Argument an: das einer ,honorierungswürdigen Umkehrleistung‘.48 g) Darin scheint mir in der Tat das Essentiale dafür zu liegen, wie man den hochgradig merkwürdigen völligen Strafverzicht in § 24 überhaupt nur legitimieren kann.49
Falle ein blitzartiges Ende! – Dem BGH aber, krit., sekundierend: Wörner, Versuch (Fn. 9), S. 273 f. 44 Frei nach Goethe, Iphigenie auf Tauris, 1. Aufzug, 3. Auftritt. 45 Nachdem sie zunächst deren Stärken aufgezeigt und den verfehlten (weil ubiqitären) Einwand von der Zufalls-Abhängigkeit zurückgewiesen hat, Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 23 f. 46 Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 25; Roxin, AT II, 2003, § 30 Rn. 205. Vgl. dazu oben bei Fn. 19. 47 Das Etikett (synonym: Gesamtbetrachtungslehre/Rücktrittshorizont) hängt sie der Argumentationsstruktur von BGH NStZ 1986, 264 (Gattenmordversuch) an (T überschütte Ehefrau mit Benzin. Der Versuch, sie anzuzünden, mißlingt, woraufhin er sie bis zur Bewußtlosigkeit zu würgen beginnt, schließlich aber doch von ihr abläßt, ohne daß der Grund dafür aufgeklärt wurde. Der BGH bejaht einen rücktrittsfähigen unbeendeten Versuch, – wegen der ,honorierfähigen Umkehrleistung‘ und weil man „ein einheitliches Geschehen, bei dem zur Verwirklichung eines Tatbestandes mehrere Mittel eingesetzt werden, (nicht) in Einzelakte zergliedern“ dürfe. Die letztgenannte Petitio principii weist Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 26 a. E. immerhin schon selbst zurück. 48 Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 26. Sie beruft sich dabei u. a. auf BGH NStZ 1986, 264 (265), der sich wiederum auf Puppe, NStZ 1986, 14 (18) beruft. 49 Darauf wird zurückzukommen sein.
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Doch ist es begrifflich wirklich die gleiche normative Konstellation, wenn der Akteur schon mehrfache vergebliche, also isoliert betrachtet: fehlgeschlagene, Versuche durchlaufen hat, wie wenn es mehrere, isoliert selbstständige Taten sub specie §§ 52 ff. zusammenzuschauen gilt? Die h. M. gelangt hier zu dem Ergebnis eines unbeendeten Versuchs doch nur, weil sie sich darüber hinwegsetzt, daß der Täter die einzelnen fehlgeschlagenen Anläufe als ex ante für zureichend erachtet hatte. Vielmehr deckt man den Mantel der Nächstenliebe über das Gesamtgeschehen und wertet es im Sinne der Konkurrenzlehre als einen einzigen Versuch, der mangels Eintritts des Erfolges nicht nur kein beendeter, sondern sogar nur ein unbeendeter Versuch sei. Die Tatsache, daß der Meisterschütze sich (bis dato) jedes seiner Schüsse sicher war, der Hufschmied sich sicher wähnte, genügend Kraft zu haben, um den schlanken Damenhals tödlich zuzupressen, spielt erstaunlicherweise plötzlich keine Rolle (mehr).50 Gerade wenn man mit der sog. Gesamtbetrachtungstheorie Versuch und Rücktritt zusammenschaut,51 müßte man doch eigentlich verlangen, daß der „Täter als die Versuch und Rücktritt verbindende Einheit durch eigene Leistung wieder in die Legalität zurückkehrt“ (Zaczyk). Wie das bei hinreichend überdeterminierter, umgesetzter Zielverfolgung möglich sein soll, bleibt die kruziale Frage.52 h) Soweit man hier auf den Tatplanhorizont abhob, drängte sich als Replik natürlich der Einwand auf, daß derjenige, der bei einem für erfolgstauglich gehaltenen, aber nicht erfolgreichen Anlauf zur Deliktsverwirklichung besonders gerissenen möglichst vieles vorherbedacht hat, besser dastehe als der schnelle Versuch eines tumben Schlagtots, der nichts antizipiert habe. Warum brutale Dummheit allerdings prämierungsbedürftig sein soll (wohlgemerkt: bei einer Straftatbegehung), hat sich mir auch heute noch nicht recht erschlossen.53 – Doch geht es nicht um eine Reaktivierung der Tatplantheorie,54 sondern nur um 50 Erstaunlicherweise anders als bei der Versuchsbegründung: Dort entscheiden dessen Überlegungen unstreitig über den Strafbarkeitstypus (z. B.: Körperverletzungs- oder gar Tötungsversuch)!? 51 So etwa NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 5; ähnl.: v. Hippel, Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch (1966), S. 58 ff. (bes. S. 65 f.); Köhler, Strafrecht AT, 1996, S. 468 ff. 52 NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 17 sekundiert freilich dem Kriterium des BGH von der „Einheitlichkeit des betreffenden Lebensvorganges“ (etwa: BGHSt 34, 53 [57]; 40, 75 [77]; 41, 368 [369]; BGHR Versuch, beendeter Nr. 5. So leider auch: Fischer57 (Fn. 11), § 24 Rn. 17; Jescheck/Weigend, AT5, 1996, § 51 II 4 [S. 542]; LK12-Lilie/Albrecht, 2007, § 24 Rn. 116. 53 Ebenso auch Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/16 Fn. 30. 54 Insoweit erscheint die herrschende Kritik durchaus – im Grundsatz – berechtigt, als „Tatpläne“ mit dem nachfolgend Durchgeführten i. d. R. allenfalls die allgemeine Zielrichtung und – u. U. – den groben tendenziellen Handlungsrahmen gemeinsam haben. Deswegen bieten sie zur Tatzurechnung nur beschränkt Selektionstaugliches. Andererseits bleibt die Einzelaktslehre insoweit der Tatplandoktrin verhaftet, als der Tatplan im Augenblick des Handlungsvollzuges darüber entscheidet, ob T: a) ins Versuchssta-
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die formale und inhaltliche Sachgerechtigkeit von Einzelakts- versus Gesamtbetrachtungslehre.55 Hinwiederum Konkurrenzüberlegungen und den Tatbegriff der §§ 52 ff. auf den Tatbegriff des § 24 zu übertragen, erscheint schon methodologisch fragwürdig: Der Strafaufhebungsgrund des Rücktritts ist unrechts- und schuldbezogenen; die Strafe, die über die Konkurrenzerwägungen angezielt wird, ist es zwar auch –, aber eben nicht nur. In sie gehen alle diejenigen Überlegungen mit ein, die § 46 eröffnet. Deswegen erzwingen die Überlegungen zu den Konkurrenzen und die dortigen Strukturmerkmale nichts,56 was Entscheidungen in der Frage der Strafaufhebung präjudizierte. i) aa) Der Tatbegriff des § 24 ist nicht der der §§ 52 ff.! Deswegen müssen Definitionen, die für die Konkurrenzen und deren Begrifflichkeiten gelten, nicht notwendig auch für andere „Tat-“Begriffe gelten. Im Gegenteil ist eine Nämlichkeit sogar funktional unwahrscheinlich. Man sollte den unterschiedlichen systemischen Ausgangspunkt nicht vernachlässigen: Die Konkurrenzlehre ist eine Gesamtbetrachtung aus der Perspektive des Richters über das Verhalten des Täters und damit vorrangig retrospektiv – mit prospektiven Einsprengseln, vgl. § 46.57 bb) Im Unterschied dazu ist die Frage, ob sich ein Fortsetzungsakt i. S. e. „einzigen Tat“ an einen fehlgeschlagenen Versuch anknüpfen läßt, ein Fall einer sogenannten nachträglichen Prognose ex ante. Zwar entscheidet auch hier der Richter, und insoweit rückschauend. Aber er geht von dem Entscheidungsgefüge im Täterbewußtsein aus, wie es sich ihm als seinerzeit in der Tatsituation gegeben darstellt.58 Deswegen spielt hier m. E. die Tätersicht59 – wie insgesamt beim
dium überhaupt schon eingetreten ist (versehentliches Überfahren des Zu-Ermordenden im Straßenverkehr) – und ob b) noch eine aufgabetaugliche Situation vorliegt. (Wenn T, in Abwandlung eines eingangs aufgeführten Falles, erst einen Warnschuß abgeben will, der aber schon trifft, kann, mangels Körperverletzungs-Vorsatzes der eingetretene Erfolg nicht nach § 224 zugerechnet, aber auch kein allfälliger Rücktritt von §§ 212, 22 ventiliert werden, weil es [neben dem Tötungsvorsatz] am unmittelbaren Ansetzen fehlte.) Daß man den Tatplan aus der Betrachtung des „fehlgeschlagenen“ Versuchs auf der Basis der heute h. M. nicht ausblenden kann, arbeitet L. Wörner, Versuch (Fn. 5), S. 269 ff. und passim, mit Recht heraus. (Lediglich die Konsequenzen, die sie daraus zieht, verdienen aus hiesiger Sicht keine Billigung.) 55 Zur Perseveranz des Tatplans selbst in der BGH-Rspr. vgl. allerdings treffend: Wörner, Versuch (Fn. 5), S. 208 ff. und passim. 56 Jedenfalls nichts methodologisch Zwangsläufiges, 57 Jedenfalls auf der Basis der Tatvergeltung, wie sie § 46 I vorsieht. Erst über General- und Spezialpräventions-Aspekte, die die Norm einzubeziehen gestattet, kommen prospektive Komponenten hinzu. 58 Dieses prospektive Moment betont auch Burkhardt (Fn. 6), S. 65 ff. 59 . . . (soweit sie aufklärbar ist) . . . – Auf die Tätersicht heben, jedenfalls für die Frage des Fehlschlags wie für die Art des erreichten Versuchsstadiums, zentral ab:
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Versuch – eine nicht nur viel bedeutsamere, sondern ausschlaggebende Rolle, – eben anders als bei der Frage der Beurteilung einer normativen Tateinheit im Zuge der Konkurrenzüberlegung. Das vom Täter – unwiderruflich – ins Werk gesetzte Geschehen60 sollte dem Richter hinsichtlich dessen eine Grenze ziehen, was er als eine noch aufgabefähige „Tat“ feststellen kann. Ab hier stellt sich nachtatliches Nicht-mehr-weiterhandeln-Wollen oder gar ein Bemühen, die Schadensintensivierung zu verhindern, lediglich als ein unter § 46 fallender, mildernder Strafzumessungsaspekt dar. j) Nun mag man dieser Sicht entgegenhalten wollen, sie beschränke sich unnötig in ihren Möglichkeiten, dem Täter ein gesetzlich eröffnetes Benefiz zugute kommen zu lassen. Doch wäre dies ein sich ausschließlich auf den Täter focussierender Einwand. Er ließe den systemischen Zusammenhang, in dem der Rücktritt thematisch werden soll, außer Acht. Er blendete überdies anderslautende strafrechtliche Reaktionsweisen in vergleichbaren Lagen aus.61 Einzuräumen bleibt freilich, daß diese geäußerten Reserven gegen eine ausdehnende Anwendung des § 24 i. S. d. heute h. M. auch aus einer tiefen Mißbilligung der in der deutschen Rechtstradition seit langem verwurzelten62 Alles-oder-nichts-Attitüde beim Rücktritt gespeist werden. Sachgerecht erschiene mir eher, eine Strafmilderungsmöglichkeit63 zu eröffnen, wie sie das Schweizer Recht seit jeher vorsieht. Damit wäre die Grundaporie des Rücktritts zwar nicht aufgelöst, nämlich wieso das plötzliche Beachten des Gesollten die bereits verwirkte Sanktion aus dem Wege räumt, obwohl und nachdem man bereits genau gegen dieses Gesollte geBGHSt (GS) 39, 221 (227, 231); BGH NStZ 2004, 324 (325); Kindhäuser, AT4 (Fn. 11), § 32 Rn. 7; Kühl, AT6 (Fn. 11), § 16 Rn. 11; NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 20. 60 Also sicherlich nicht bloß der Tatplan, aber eben doch ein Gesamt aus Finalität und verobjektiviertem Verhalten, das unwiderruflich verwirklicht wurde. 61 So ermöglichte, jenseits der hier in den Vordergrund gestellten Tötungsdelikte, selbst eine nachtatliche vollständige Reparatio damni (Rückgabe des Gestohlenen/Erstattung des Ertrogenen etc.) auch nicht, das zuvor kriminell Verwirklichte als nicht geschehen zu betrachten. Äußerstenfalls käme ein Absehen von Strafe oder eine Einstellung über die prozessualen Ausfluchtnormen der §§ 153 ff. StPO in Betracht. 62 Vgl. die ausführlichen, am Schluß auch noch einmal tabellarisch aufgelisteten Nachweise von L. Wörner; Versuch (Fn. 7), S. 137 ff., 339 (340 ff.), – wenn man von den habsburgischen Kodifikationen Theresiana, Josephina, dem Gesetzbuch über Verbrechen . . . (1803) und dem österr. StGB von 1852, aber auch von den pr-StGB von 1851, dem bayStGB von 1861 und dem Entwurf zum StGB Ndt.Bund einmal absieht, die keine spezielle Rücktrittsregelung kannten. Vgl. demgegenüber Art. 23 I SchweizerStGB vom 21.12.1937 (Stand am 1.1.2010). In England gibt es für diesen Aspekt überhaupt keine ausdrückliche Rechtsregel, so daß das Phänomen nur in der allgemeinen Strafzumessung Berücksichtigung findet, Smith & Hogan, Criminal Law11, 2005, S. 419; in Italien ist für den Rücktritt vom beendeten Versuch nur eine Strafmilderung möglich, siehe Maiwald, Zipf-GS, 1999, S. 257 (Fn. 6). – Demgegenüber entspricht § 16 ÖsterrStGB der deutschen Rechtslage. 63 Eventuell mit der Zusatzoption eines Absehens von Strafe in extremen Fällen.
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fehlt hat.64 Sie wäre aber immerhin abgeschwächt, weil sie verwoben würde in das ohnehin komplexe Geflecht der „Verrechnung“ strafzumessungserheblicher Faktoren. Aber das – gerade in der Handhabung des BGH – bisweilen GroteskBizarre (die Ersetzung des „Alles“ [volle Versuchsstrafbarkeit] durch das platte „Nichts“ [Straflosigkeit in bezug auf das gesamte Versuchsunrecht]) wäre immerhin abgemildert.65 k) Doch bis zu den griechischen Kalenden, an denen eine solche Gesetzesrevision erfolgte, bliebe die Lösung, wieder zur Einzelaktslehre zurückzukehren, die nächstbeste. Dies hätte neben einer m. E. größeren Sachgerechtigkeit auch den Vorteil, sich auf den (subjektiven) „Willen des Gesetzgebers“ 66 zu den neuen Vorschriften des Allgemeinen Teils berufen zu können: Er sah den erfolglosen Anlauf zu einer Deliktsverwirklichung als einen – eigenständigen – nicht mehr
64 Hier ist bei Köhler, AT (Fn. 54), S. 471, und Zaczyk (NK3-Zaczyk [Fn. 17], § 24 Rn. 5 f.: [Zwar könne keine objektive Rückgängigmachung erfolgen, aber die Schuld entfallen]) eine Pseudomathematisierung durch Abstraktion zu beobachten: Die beiden gegenläufigen Willens-,Vektoren‘ heben sich ex re eben nicht auf. Vielmehr käme es auf den zweiten ,Vektor‘ gar nicht mehr an, wenn sich, etwa infolge Verrats, nach dem Beginn des unmittelbaren Ansetzens die Hand der Polizei auf die Schulter des Versuchstäters legte. Das gölte selbst dann, wenn dieser just im nämlichen Moment den Entschluß zum Nicht-mehr-weiter-Handeln (etwa durch Weggehen) in die Tat umsetzen wollte. 65 Klar im hiesigen Sinne: Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/2: „Wenn der Täter für das sofortige Aufhören des Versuchs sorgt, so ist das kein besonderes Verdienst, sondern nicht mehr als Pflichterfüllung. Die völlige Straffreiheit nach geltendem Recht ist bei dieser Lage nur durch das Bestreben des Gesetzgebers zu erklären, nicht durch eine Strafdrohung den Weg zurück zu verbauen.“ Vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, AA, S. 227 f. „Was jemand pflichtgemäß mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzeren angemessen tut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger tut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum). Der rechtliche Effekt einer Verschuldung ist die Strafe (poena); der einer verdienstlichen Tat Belohung (praemium) (vorausgesetzt, daß sie, im Gesetz verheißen, die Bewegursache war); die Angemessenheit des Verfahrens zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effekt.“ 66 Wenn man von einer solchen autoritativen Quelle jenseits dessen, was im Gesetz und, allenfalls, in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommt, überhaupt sprechen will, so hat er sich – jedenfalls in Gestalt des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform als „Mund des Gesetzgebers“ – dezidiert für die hier vertretene Sicht ausgesprochen: In der Sitzung des Ausschusses vom 29.11.1967 sprach sich MinDirig. Dreher seitens des BMJ dafür aus, mit dem BGH (GA 1966, 208, – der damals noch herrschenden Tatplantheorie folgend) einem Täter, der mehrere Schüsse für einen Mord in Betracht gezogen hatte, nach dem Fehlgehen des ersten Schusses einen Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch bloßes Nicht-mehr-weiter-Schießen zu eröffnen. Dem widersprach ausdrücklich MdB A. Arndt namens des gesamten (!) Sonderausschusses: Der „erste Schuß sei ein Mordversuch, von dem der Täter nicht mehr zurücktreten könne“! Dem schloß sich der Ausschußvorsitzende Müller-Emmert an und niemand widersprach dem hernach bis zu der nachfolgenden Abstimmung (SA-Prot., V. WP, 88. Sitzung v. 29.11.1967, S. 1757 (1758 f.). – So generell verfehlt kann die Sicht i. ü. nicht sein, vgl. immerhin noch, gleichsinnig: BGHSt 14, 75 (79).
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überwindbaren, also rücktrittsuntauglichen (heute würden die meisten sagen: „fehlgeschlagenen“) Versuch an.67 Mit Recht weist Eser i. ü. darauf hin, daß gerade unter Billigkeitsaspekten die Einzelaktstheorie Wertungswidersprüche sehr viel adäquater zu vermeiden vermöge als die h. M.68 Beim Griff in die leere Tasche zweifelt kaum jemand am fehlgeschlagenen Diebstahlsversuch.69 Dem stehen aber Fälle, in denen der sicher geglaubte Erfolgseintritt nur durch Zufall ausbleibt, in der Wertigkeit gleich, – wie etwa die Verabreichung einer zu geringen Menge Gift. Auch wenn der Täter den Erfolg noch auf anderem Wege herbeiführen könnte,70 – er hat bereits so viel kriminelle Energie an den Tag gelegt, daß ein – strafbefreiender – Rücktritt nicht gerechtfertigt erscheint. Weiterhin: Gehen wir die Sache einmal von einer anderen Seite an: nämlich von dem vom BGH anerkannten Modell des fehlgeschlagenen Versuches.71 Noch vor dem Wechsel von dem Tatplanhorizont zum Rücktrittshorizont meinte der BGH in einem Fall, in dem der Täter „300 DM brauchte“, aber bei dem Überfall eines Gastwirtes nur 30 DM vorfand, die er enttäuscht zurückließ und floh, der Rücktritt sei unfreiwillig.72 Dabei hätte der Täter, nach dem Eichhörnchenprinzip, durchaus die 30 DM mitnehmen können. Wenn man auf die heutige Ausdeutung des Rücktritts aus der Perspektive des Rücktrittshorizonts abhöbe, müßte man eigentlich sagen: Der Täter sei von dem Raubversuch zurückgetreten, – und dies sogar freiwillig. Der BGH lehnte dies seinerzeit, m. E. i. E. zu Recht, noch
So auch Baumann, AT8 (Fn. 6), § 33 II, S. 516 f.; Baumann/Weber, AT9 (Fn. 6), § 33 II, S. 488 f.; Gutmann, Die Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch und bei der tätigen Reue, 1963, S. 80 ff. 68 Schönke/Schröder27-Eser (Fn. 28), § 24 Rn. 21. 69 Und zwar auch dann, wenn der Trickdieb nunmehr in eine andere Tasche greifen könnte. Das wird schlicht nicht thematisiert. 70 Etwa das, namentlich von der Rspr. gern bemühte, eigenhändige Erdrosseln. 71 Zu der Kritik an dieser sogenannten Rechtsfigur vgl. Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 20 ff.; Vergleiche aber auch die jüngste Kontroverse zwischen Schroeder, Rücktrittsunfähig und fehlerträchtig: der fehlgeschlagene Versuch, NStZ 2009, 9 ff., und Roxin, Der fehlgeschlagene Versuch – eine Kapazität vergeudende, überflüssige Rechtsfigur?, NStZ 2009, 319 ff. 72 BGHSt 4, 56. Zur damaligen Zeit war die Figur des fehlgeschlagenen Versuchs in der Rechtsprechung noch nicht vollständig anerkannt. Ähnliche Konstellation in RGSt 39, 37 (Gummiball-Fall) (der Täter wollte aus einem fremden Garten einen „Ball“ entwenden. Dieser stellte sich als Holzkugel heraus, die jener enttäuscht wegwarf, weil er sie für seine Zwecke nicht gebrauchen konnte.) Hier entschied das RG freilich noch, der Täter sei freiwillig zurückgetreten. Das hält u. a. Roxin, AT II (Fn. 49), § 30 Rn. 95; ders., NStZ 2009, 319 (320), für falsch, „weil eine ,Tatplan entsprechende Tatbestandverwirklichung‘, nämlich der Diebstahls eines Gummiballs unmöglich und daher gescheitert gewesen sei“. Ebenso: Eser, Studienkurs StrR II2 (1976); Fall 35 Rn. A7 f.; Herzberg, Blau-FS (1985), S. 97 (100 f.); NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 25; Schönke/ Schröder27-Eser (Fn. 28), § 24 Rn. 11; SK-StGB6-Rudolphi § 24 Rn. 9. 67
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ab, weil „von dem weitergehenden ursprünglichen Plan des Täters ausgegangen werden“ müsse.73 Ähnlich argumentiert der BGH immer mal wieder, wenn er, aufgrund nicht selten schwer durchschaubarer, gern im Halbdunkel gelassener Evidenzen, zur Bejahung eines „fehlgeschlagenen Versuchs“ gelangt – oder auch nicht.74 Bisweilen sind die Argumentationswege noch verschlungener: So lehnte der BGH (nach der Einführung des Perspektivenwechsels – hin zum Rücktrittshorizont) im Fall des Sexualtäters, der eine Frau zu Boden warf, um sich an ihr zu vergehen, einen Rücktritt ab, weil das Opfer auf die Attacke mit dem Ruf reagierte, er komme „ihr wie gerufen“, nachdem sie „schon lange keine sexuelle Begegnung mit einem Mann mehr gehabt habe“. Denn „es (habe) bereits an einer Aufgabe der geplanten Tatausführung“ gefehlt.75 Die Begründung hierfür ist sicherlich falsch, soweit der BGH darauf abhebt, der T habe den Vergewaltigungsversuch deswegen nicht aufgegeben, weil er den Beischlaf ausgeführt habe. So bejahen zahlreiche Autoren76 hier einen fehlgeschlagenen Versuch, was auf der Basis der h. M. auch folgerichtig erscheint.77 aa) Man könnte schließlich bezüglich des untauglichen Versuchs die These aufstellen: Der Versuch des „Aufgebens“ sei kein „Aufgeben“. Im Sinne eines zweibasig zu verstehenden Unrechts (Handlungs- und Erfolgsunrecht) wäre das 73 BGHSt 4, 56 (59). – Zustimmend auch heute noch der ausdrückliche Befürworter der Gesamtbetrachtungslehre, Roxin, AT II (Fn. 49), § 30 Rn. 101 f. 74 Fehlgeschlagenen Versuch bejahend: BGH NStZ 1986, 312; NStZ 1994, 76; NStZ 2007, 399 f. – Verneinend: BGH NStZ 1989, 18 (19); NStZ 1990, 30 (31 f.); NStZ 2006, 685. 75 BGHSt 39, 244 (247); dort mit dem pikanten Argument, daß es befremdlich wäre, wenn der T das Opfer (trotz der Scheineinwilligung) vergewaltige, von einem „fehlgeschlagenen“ Versuch zu sprechen; eine solche Argumentation dürfte wohl niemand ernsthaft vertreten. Im, hier vorliegenden, Fall der vermeintlichen Annahme einer Einwilligung wäre ein „fehlgeschlagener“ Versuch sehr wohl zu bejahen. – Lediglich, wenn der Täter um das Einverständnis/die Einwilligung nicht weiß, kann er den Versuch noch „aufgeben“ oder, ggfls., den (vermeinten) Erfolgseintritt noch verhindern. (Etwa der Stadtstreicher, der die Lambrusco-Flasche in seinem Mantel versenken will, sie aber dann doch [freiwillig] zurückstellt, obwohl der Ladeneigner, der ihn über einen Überwachungsmonitor beobachtet hatte, ihm die Flasche schon geistig „geschenkt“ hatte.) 76 Kühl, AT6 (Fn. 11), § 16 Rn. 14; Roxin, AT II (Fn. 49), § 30 Rn. 91; ders., NStZ 2009, 319 (320). Zu der Entscheidung vgl. auch die in diesem Punkt gleichermaßen abl. Anmerkungen und Besprechungen von Bottke, JZ 1994, 71 (75); LK12-Lilie/Albrecht (Fn.), § 24 Rn. 136 f.; NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 24; Scheinfeld, Versuch (Fn.), S. 45 f., 131 (differenzierend); Schönke/Schröder27-Eser, 2006, § 24 Rn. 9; Ulsenheimer, Grundfragen (Fn. 6), S. 328 f.; Vitt, JR 1994, 199 (200); – zust. aber: Kudlich, JuS 1999, 244; Streng, NStZ 1993, 582; Bauer, MDR 1994, 132. – A. A. jüngst Amelung, ZStW 120 (2008), 205 (224) mit dem Vorwurf der Kategorienverwischung (T gebe einer erlaubten Form der Triebbefriedigung den Vorzug vor einer unerlaubten Form), – allein zu Unrecht, weil Amelung die Rahmensituation bei seiner Modellierung (künstlich) ausblendet. 77 Erst recht vom hiesigen Standpunkt.
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auch zweifelsfrei richtig. Doch zeigt sich hier eines der zahlreichen Dilemmata des § 24: Es geht gerade nicht um eine Gesamt-Unrechts-/-Schuld-Bilanz, eine annähernd gleichwertige Kompensation für verwirklichtes Gesamt-Unrecht/Schuld. Anders gewendet: Es muß für eine vollendete „Tataufgabe“ keine objektiv aufgabefähige Tat vorliegen.78 Wegen der starken Subjektivierung des Versuchs („nach seiner Vorstellung“) wie auch des Rücktritts, § 24 I 2, II 2, ist objektives Gefährdungsunrecht und dementsprechend objektive Gefährdungskompensation nicht vorauszusetzen.79 Das Problem ist lediglich ex post unter ausschließlicher Berücksichtigung der Täterperspektive beim Handlungsvollzug zu beurteilen.80 Im Falle eines (objektiv) untauglichen Versuches wird das (Fehl-) Vorstellungsbild des Versuchstäters von der Wirklichkeit zum alles majorisierenden Moment. „Wo aber ein Erfolg nicht eintreten kann, ist auch kein Raum für seine Abwendung gegeben“, meinte früher Otto81. Diese Argumentation ließ sich zu dem alten § 46 Ziff. 2 a. F. noch vertreten. Sie paßt jedoch nicht mehr zu dem neuen § 24 I: „Aufgeben“ kann ich eine Tat, die ich subjektiv noch für vollendungsfähig halte, selbst dann noch, wenn sie objektiv niemals – oder unter diesen Umständen nicht – verwirklichbar war, – freilich nur und solange, wie ich dieses Defizit nicht bemerkt habe.82 Es scheint dann aber umgekehrt sachgerecht, ein einzelnes Verhalten, das insoweit einen Rechtsgutsangriff enthält, als es aus Tätersicht geeignet ist, den tatbestandsmäßigen (i. d. R.: Verletzungs-)Erfolg zu erzielen, und vom Akteur im Augenblick des Handlungsabschlusses nicht mehr revozierbar ist, als „abgeschlossenen“ Versuch zu bezeichnen. Erreicht jener sein Ziel nicht, aus welchen Gründen auch immer, so liegt das vor, was die h. M. als „fehlgeschlagenen Versuch“ bezeichnet: Insoweit ist, anders gewendet, ein „Aufgeben“ unmöglich. II. Hilfsweise Überlegungen auf der Basis der herrschenden Sicht zur Nämlichkeit der Tatbegriffe in § 24 und §§ 52 ff. a) Verlassen wir aber einmal für einen Augenblick den Boden der hier favorisierten Lehre und lassen uns auf ein Axiom der h. M. ein, nämlich daß die beiden Tatbegriffe in § 24 und den §§ 52 ff. doch als gleichartig zu verstehen seien, um 78 Soweit ich sehe: heute ganz h. M., vgl. etwa BGHSt 11, 324 ff.; MüKo-Herzberg (Fn. 22), § 24 Rn. 171; NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 36 (45). 79 Beide objektivierenden Momente bleiben nach h. M. im Hochabstrakten „hängen“: Der geistige Angriff auf das (geistige) Rechtsgut reichen aus, um das hinreichende Maß an tatbestandlich vorauszusetzender Gefährdung zu erreichen. Paralleles gilt beim Rücktritt vom untauglichen Versuch – allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. 80 Der Täter dürfte in aller Regel, zumindest eventualdolos, eine erfolgstaugliche Handlung zugrunde gelegt haben. 81 Otto, GA 1967, 154. 82 Vgl. o., Beispiel in Fn. 75. I. E. ebenso, u. a., Roxin, NStZ 2009, 319 (320) – und schon RGSt 68, 82 (83).
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das Verhalten während der verschiedenen „Anläufe“ zur endgültigen Erfolgsherbeiführung mittels Konkurrenzüberlegungen verknüpfen zu können.83 Dann sollte man allerdings auch die Konsequenz aufbringen, die Kriterien für den Tatbegriff zu parallelisieren. Diesbezüglich stellt nun Puppe mit Recht zwei zentrale Anforderungen auf, nämlich das Doppelverwertungsverbot und das Ausschöpfungsgebot.84 Der erste Aspekt verbietet es, m. E., die Tatsache des ausgebliebenen Erfolges zugunsten des Täters mehrfach in Anschlag zu bringen. Daß der Erfolg schließlich ausgeblieben ist, mag für den letzten Handlungsteil dazu führen, daß der Täter von diesem Versuch(steil) zurückgetreten ist. Den Umstand darf ich dann aber nicht noch einmal in Anschlag bringen für ein Geschehen, das (subjektiv) abgeschlossen davor liegt.85 – In die gleiche Richtung zielt die Beachtung des Ausschöpfungsgebotes: Das Unrecht, das verwirklicht wurde, darf nicht über den Täter begünstigende Analogien weggedrückt werden. Es mag schon angehen, daß man über den Begriff der „natürlichen Handlungseinheit“86 Handlungselemente, die, vom selben Täter gegen das selber Opfer und das nämliche Rechtsgut gerichtet, in kurzer zeitlicher Folge verwirklicht wurden, konkurrenztechnisch als eine einzige Handlung bezeichnet.87 Daß aber dem, isoliert betrachteten, jeweili83
Wie es der BGH, verbal, immer wieder zu tun pflegt. Puppe, AT II (Fn. 11), § 52 Rn. 3; § 54 Rn. 1; ferner NK3-Puppe (Fn. 17), Vor § 52 Rn. 2. Für ein „Ausschöpfungsgebot“ vgl. ferner auch: Duttge/Sotelsek, NJW 2002, 3756; Rudolphi, JZ 1998, 471. 85 Exemplarisch der Fall BGH NStZ 2008, 393 f. (m. i. Erg. zust. Anm. Schroeder, JR 2008, 252 f.): Der Täter hatte dem Opfer das Messer mit Tötungsabsicht in die Brust gestoßen. „Die Geschädigte schrie auf, zog sich das Messer selbst aus der Brust und legte es auf einem Tisch ab.“ Daraufhin ergriff der Täter erneut das Messer und stieß 7-mal zu, später rief er anonym den Notarzt, was zur Rettung des Opfers führte. Wieso dieser erste, noch nicht erfolgreiche Tötungsakt nicht als fehlgeschlagener Versuch gelten soll, wieso, selbst unter Zugrundelegung von Konkurrenzüberlegungen, das „Dazwischentreten“ des Opfers nicht eine hinreichende Zäsur zu einem neuen Tatentschluß und einem erneuten „Anlauf“ des Täters darstellen, bleibt schwer nachvollziehbar. – Roxin etwa postuliert (für einen Fall, in dem der Täter nach dem ersten [Fehl-] Schuß noch mehrfach hätte schießen können): „Dieser (Blickwinkel) aber kann bei Rücktrittsfragen nur darauf gerichtet werden, ob der Täter seinen Tötungsplan in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem ersten Schuß noch vollenden konnte. Denn in diesem Fall ist der Tötungsversuch noch nicht fehlgeschlagen“, NStZ 2009, 319 (321). Gerade, wenn man diese Anforderungen zugrundelegt, müßte man hier von einem beendeten, fehlgeschlagenen Versuch sprechen. Denn nicht die Zeitspanne von Sekunden oder Minuten zwischen den verschiedenen Akten ist das normativ Belangreiche, sondern die vom Opfer induzierte neue Handlungssituation. 86 Obwohl man gegen die Kontur eines Rechtsbegriffs, der sich auf die „Natur“ ruft, mit Recht starke Einwände erheben darf. Die Tatsache, daß zwischen den einzelnen Handlungsteilen jeweils neue Handlungsentschlüsse gefaßt werden, wird bei dieser Konkurrenzmodellierung schlicht ausgeblendet. 87 Daraus leitet Dreher, JR 1969, 105 (106), ein argumentum ad hominem ab, das m. E. für die zu beantwortende Frage nichts hergibt, sondern seinerseits das vermeintliche argumentum ad absurdum ad absurdum führt: Der Täter, der mit seinem Schnellfeuergewehr erst nach 10 erfolglosen Schüssen abbreche, müsse, die Tatplanperspektive zugrundegelegt, wegen zehnfacher versuchter Tötung bestraft werden. – Wenn man die 84
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gen ersten Handlungsteile Handlungs- und Erfolgsunrecht innewohnen, die nicht kompensiert worden sind, müßte nach einem folgerichtig angewendeten Ausschöpfungsgebot auch eine gesonderte Berücksichtigung verlangen. Für die Konkurrenzlehre definiert Puppe nämlich das Ausschöpfungsgebot als Gebot, eine unrechts- oder schuldrelevante Tatsache nicht deswegen unberücksichtigt zu lassen, weil der Täter noch anderes, insoweit schwereres Unrecht verwirklicht hat.88 Entsprechend dürften einmal verwirklichtes Unrecht und entsprechende Schuld nicht deshalb vernachlässigt werden, weil ein – i. S. d. Normzweck wünschenswertes – Verhalten nachträglich verwirklichtes schwächeres Unrecht und (demzufolge) geringere Schuld89 ex lege neutralisiert.90 Schon gar nicht kann schieres Nichtstun materiell das Geschehene aus der Welt schaffen. b) Wollte man aber, gleichsam mit aller Gewalt, zu den Ergebnissen der h. M. durchstoßen, so bliebe dafür m. E. nur ein Ausweg: Man müßte § 24 als eine – exzeptionelle – Strafzumessungsvorschrift verstehen.91 So, wie § 211 eine Punktstrafe vorsieht, könnte man der Norm eine punktuelle Straflosigkeit vindizieren. Wegen eben dieser Außergewöhnlichkeit der Rechtsfolgen-Anordnung böte sich dann freilich an, die Zurechnungsregeln, die eine erste Stufe zur Unrechts- und Rechtsfigur der „natürlichen Handlungseinheit“ anerkennen möchte, so hindert einen nichts daran, die 10 Versuche zu einem einzigen zusammenzufassen – mit der Folge, daß T auch nur wegen eines einzigen (mißlungenen) Versuchs verurteilt wird. Das besagt freilich nicht, daß man sich darüber hinwegsetzen können sollte, daß der T bei jedem neuen Ansetzen denkt: Jetzt erwisch’ ich ihn! – weswegen jeder einzelne Neuversuch sich als erneuter Fehlschlag erweist. Es liegt zwar in der Konsequenz der Doktrin vom Rücktrittshorizont, selbst bei 100 vergeblichen Anläufen (etwa: mittels Maschinengewehrs) noch auf den 101 zu setzen. Daß einem aber selbst ein so gewiegter Strafrechtler wie Dreher nach 10 erfolglosen Tötungsversuchen das Nicht-Abfeuern des 11. Schusses noch als einen Fall eines ,Rücktritts vom unbeendeten Versuch‘ „verkaufen“ möchte, möchte ich dann doch eher unter der Rubrik (juristen-) humoristischer Minderleistung abbuchen. 88 NK3-Puppe (Fn. 17), Vor § 52 Rn. 2. 89 In der Form des unbeendeten Versuchs in einem allfälligen weiteren Anlauf. 90 Dabei wird noch nicht einmal i. S. d. interessanten, aber mit der lex lata nicht recht zu vereinbarenden Sicht von MüKo-Herzberg (Fn. 22), § 24 Rn. 9 ff., § 24 als reine Strafzumessungsregel verstanden. Doch wird auf den Gedanken noch zurückzukommen sein. Dafür, welche Abgründe sich hinter § 24 verbergen, ist der scharfsinnige Kollege Herzberg gleichsam ein lebender Beleg. Er hat der Norm nämlich mindestens vier verschiedene Lesarten vindiziert: Nach der Befürwortung einer modifizierten Einzelaktslehre (NJW 1986, 2466 [2469 f.]; Blau-FS [Fn. 7], S. 97 [117]) sprach er sich für die Absichtstilgungsdoktrin aus (Herzberg, NJW 1988, 1559 [1563 ff.]); danach für die Schulderfüllungsdoktrin (NStZ 1989, 49 ff.) und ders., Lackner-FS, 1987, S. 325 (345 ff.); der letzte Stand ist eine Modifikation, mögliche Handlungskontinua i. S. d. „Tat-“Begriffs mittels des Kriteriums der zweckdienlichen Tatbestandsverwirklichung festzulegen, MüKo-Herzberg (Fn. 22), § 24 Rn. 73 ff. 91 Strikt dagegen Jäger, Rücktritt, 1996, S. 3 ff., 62 f. Demgegenüber schon früh: Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik . . ., 1979, S. 603 ff. (strafzumessungsnaher Verantwortungsausschluß).
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Schuldzurechnung eröffnen, in gewissem Umfang bei der Frage nach den Kriterien des Strafbarkeitsausschlusses zu parallelisieren. Erwägen ließe sich, einer sachgerechten Lösung in einem argumentativen Zweischritt näher zu kommen: aa) Auf einer ersten Metaebene wäre festzulegen, was die – modellhafte – Sicht des Gesetzes sein könnte/modellhaft: ist.92 Dabei wären die Thesen von den „goldenen Brücken“ ebenso zu verwerfen wie die strafzweckorientierten Lehren.93 Erstere ermangelte einer empirischen Basis,94 da die Norm des § 24 weitgehend unbekannt ist; überdies ist ihre Begrenzung auf die Versuchsfälle wenig plausibel.95 Gegen die Präventions-Thesen spräche in ihrer spezialpräventiven Variante die unzureichende Prognosetauglichkeit96 bzw. ihre Unschlüssigkeit (petitio principii).97 In ihrer generalpräventiven Spielart wäre sie gleichfalls ohne irgendeinen empirischen Beleg98 und ebenso eine petitio principii. Wenn man irgendein, annähernd rational klingendes Telos in den § 24 (die Norm in der „Dauerkrise“99) hineinlesen wollte, dann bliebe wohl nur der Opferschutzgedanke,100 allerdings nicht aus der Sicht des Täters, der um die Norm, wie gesagt, i. d. R. gar nicht weiß, sondern aus der – gleichsam „überhöhten“, vielleicht sogar abgehobenen – Sicht des Gesetzgebers.101 92 Die diesbezügliche „Sicht“ des Gesetzgebers war leider ziemlich „wolkig“, um es euphemistisch zu umschreiben. 93 Treffend zum ganzen: Weinhold, Rettungsverhalten und Rettungsvorsatz beim Rücktritt vom Versuch, 1989, S. 17 ff. – In der Argumentation gegen die herkömmlichen Sichtweisen ähnl.: Köhler, AT (Fn. 54), S. 470 f. Gegen dessen These vom Schuldaufhebungsgrund (S. 470 und passim), o. Fn. 64. 94 Wie selbst der BGH eingeräumt hat, BGHSt 9, 48 (52); Bockelmann, NJW 1955, 1417 (1419 f.); Geilen, JZ 1972, 335 (338); Roxin, Heinitz-FS, 1972, S. 251 (272); Schönke/Schröder27-Eser (Fn. 28), § 24 Rn. 2 f. 95 Jakobs ZStW 104 (1992), 82 (84 f.); Ulsenheimer, Grundfragen (Fn. 6), S. 67. 96 Herzberg, Lackner-FS (Fn. 94), 1979, S. 325 (329 ff.; siehe insb. 334 f.). 97 Weinhold, Rettungsverhalten (Fn. 48), S. 20. 98 Herzberg, Lackner-FS (Fn. 94), S. 325 (334). – Gegen dessen Schulderfüllungstheorie, ebenda, S. 345 ff.: Bergmann, ZStW 100 (1988), 329 (337), und Rudolphi, NStZ 1989, 508 (511); SK6-StGB-Rudolphi, 1993, § 24 Rn. 3a („Paraphrasierung des Gesetzestextes“). Vgl. jüngst aber Amelung, ZStW 120 (2008), 205 (219): Belohnung des freiwilligen Rücktritts mit Straffreiheit: ein funktionales Äquivalent zur Strafe. 99 Burkhardt, „Rücktritt“ (Fn. 6), S. 49. 100 Daneben bestehen noch Sichtweisen des Unrechts- oder des Schuldausschlusses. Für Rücktritt als Unrechtskompensat etwa: Bloy, Dogmatische Bedeutung, S. 173; Streng, ZStW 101 (1989), 273 ff.; jüngst: Amelung, ZStW 120 (2008), 205 (237 ff., 245); in der Sache auch Jäger, Der Rücktritt als zurechenbare Gefährdungsumkehr, 1996, S. 62 ff.; so jetzt auch Roxin, NStZ 2009, 319. – für Rücktritt als Schuldkompensat etwa: Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik . . . (Fn. 95), S. 603 ff. (strafzumessungsnaher Verantwortungsausschluß); Jescheck/Weigend, AT5 (Fn. 55), § 51, S. 540 (differenzierend); Köhler, AT (Fn. 54), S. 470; NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 5 f.; Roxin, Heinitz-FS, 1972, S. 251 (273 ff.); Ulsenheimer, Grundfragen (Fn. 6), S. 90, 94 ff., 130. Gegen beide Positionen spricht das nachfolgend herausgearbeitete Argument, daß Schadenskompensation eben keinen -ausschluß bedeuten kann, vgl. u., bei und in Fn. 105 ff.
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Wie in der 2. Modalität des § 24 I 1 besonders klar zum Ausdruck kommt, müßte der Täter dann aber auch etwas Verdienstliches i. S. dieses Opferschutzes geleistet haben: Entweder müßte er den Versuch abgebrochen haben, nachdem er in eingeleitet hatte, aber eben noch vor der (subjektiven) Gefahrverdichtung – oder er müßte, nach dieser, helfen, deren bereits bewirkten Folgen daran zu hindern, in einen endgültigen Schaden umzuschlagen. Nur wenn eine dieser beiden Aktformen an den Tag gelegt wurden, die überhaupt nur das Prädikat „belohnungswürdig“ verdienten, ließe sich m. E. Straflosigkeit für – unstreitig – verwirklichte(s) Unrecht/Schuld plausibisieren. Insoweit ist der oft zu lesende Satz, es bedürfe keiner positiv zu bewertenden Motive für den Rücktritt,102 eine Überpointierung. Die früher herrschende, aber auch jetzt noch prominent vertretene Meinung nahm und nimmt z. T. diese Aussage denn auch nicht sonderlich ernst. Schließlich soll(te) nach ihr ein Abstand-Nehmen zwecks besserer (alsbaldiger) anderweitiger Tatbestandsverwirklichung kein Fall von „Tataufgabe“ sein.103 – Puppe spricht sehr zu Recht von einer „honorierungswürdigen Umkehrleistung“, die der Zurücktretenden erbracht haben müsse.104 Hiergegen haben – in bemerkenswert übereinstimmender Berufung auf kantische Gedanken – sowohl die E. A. Wolff-Schule105 als auch Jakobs106 Einwände erhoben: Die Qualität der 101 Als, durchaus contrafaktischer, jedenfalls empirisch nicht abgesicherter Leitgedanke, was mit der Rechtsfolgenanordnung idealiter erreicht werden könnte. 102 BGHSt 7, 296 (299); 35, 184 (186); 39, 221 (230); Fischer57 (2010), § 24 Rn. 19a; Lackner/Kühl26 (Fn. 28), § 24 Rn. 18; Jescheck/Weigend, AT5 (Fn. 55), § 51 III 2. – Geradezu ein Verbot, auf die Motive zu blicken, statuiert Amelung, ZStW 120 (2008), 205 (237 ff. und passim) für die Frage der Freiwilligkeit, muß aber das Fehlen bestimmter Motive als Negativtestat beibehalten, S. 238. 103 BGHSt 7, 296 (297); 21, 319 (321) = NJW 1968, 57 f.; BGH GA 1968, 279; Baumann/Weber, AT9 (Fn. 6) § 34 II 1 a) (a. A.: ab der 10. Aufl.: Baumann/Weber/Mitsch, AT10, 1995, § 27 Rn. 29; ausführlicher: Baumann/Weber/Mitsch, AT11 (Fn. 6), § 27 Rn. 29 f.); Bockelmann, NJW 1955. 1417 (1421) (der allerdings die Problematik innerhalb der Freiwilligkeit diskutiert); SK6-Rudolphi, (1993), § 24 Rn. 18 f.; Welzel, Lb11 (1969), § 25 I 2b, S. 198: Aufgabe des Planungszusammenhangs. Allerdings ist diese frühere Rspr. des BGH durch BGHSt 33, 142 (145); 35, 184 (186 f.); (GS) 39, 221 (230 ff.) überholt; – für die letztgenannte Ansicht des BGH ausdrücklich: Fischer57 (Fn.), § 24 Rn. 26; Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/10; Kindhäuser, AT4 (Fn. 11), § 32 Rn. 19. 104 Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 49. 105 Köhler AT (Fn. 54), S. 479: „Genügen muß im Tatstrafrecht vielmehr die äußere Entschließungsfreiheit analog dem sonstigen Rechthandeln“, ferner S. 468 f.; NK3Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 68. – Das sah das BayStGB von 1813 des Kantianers Feuerbach noch ganz anders: Art. 1 „Wer eine unerlaubte Handlung oder Unterlassung verschuldet, für welche ein Gesetz ein gewisses Uebel gedrohet hat, ist diesem gesetzlichen Uebel als seiner Strafe unterworfen. Und so wenig erlittene Strafe die Entschädigung aufhebt oder schmälert, so wenig tilgt oder mindert geleisteter Ersatz die verdiente Strafe.“ 106 Jakobs, JZ 1988, 519 (520): „Die Theorie, die auf die Qualität des Rücktrittsgrundes abstellt, bringt eine Usurpation von Innerlichkeit, die zu einem freiheitlichen Staat schlecht paßt.“ – Ähnlich auch, freilich dann in Roxin’scher Schulentradition, Amelung, ZStW 120 (2008), 205 (227, 238).
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Motive unterliege einer rechtlichen Beurteilung nicht, weil das Verhalten des Täters im Rahmen des § 24 legales Verhalten sei. Doch dem ist, mit Puppe, zu entgegnen: Es geht beim Rücktritt nicht darum, dem Täter zu attestieren, daß er rechtmäßig gehandelt hat, als er den Versuch abbrach, – sondern darum, ob er sich trotz rechtswidrigen-schuldhaften (vorherigen) Verhaltens Straffreiheit verdient hat.107 Die Unterscheidung von Legalität und Moralität wird dadurch nicht eingeebnet, ebensowenig wie dann, wenn in der Strafzumessung nach den Beweggründen und Zielen des Täters sowie – als freilich umstrittener Strafzumessungsaspekt108 – nach der Gesinnung gefragt wird, die aus der Tat spricht (vgl. den Wortlaut des § 46): Wer jedenfalls die Schwelle zum rechtswidrigen Verhalten überschritten hat, der hat keinen Anspruch mehr, davor bewahrt zu werden, daß der Staat nach dem „Warum“ der Unrechtstat und ebensowenig nach dem für den Abbruch derselben fragt.109 bb) Eine derartige „honorierungswürdige Umkehrleistung“ festzustellen,110 eröffnete dann auf einer zweiten Metaebene gleichsam einen Verantwortungsdialog111 in bezug auf konkretisierende Zurechnungs-Schritte im Einzelfall. Hier 107
Puppe AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 49. Vgl. etwa die Kritik von Hörnle JZ 1999, 1080 (1085 f.). 109 An anderer Stelle hat Puppe, AT I (2002), § 26 Rn. 4, freilich mir (siehe: NK3Paeffgen [Fn. 17], Vor § 32 Rn. 100 ff.) und der (noch) h. L. (BGH) vorgehalten, durch das Erfordernis einer Rechtsbewährungsabsicht als subjektives Rechtfertigungselement die alte kantische Unterscheidung von Recht und Moral (u. a.: Metaphysik der Sitten, S. 324) mißachtet zu haben. Dieser Einwand erscheint mir fehlschlüssig (in der gleichen, von ihr im obigen Zusammenhang gerügten Weise). Denn bei dem Postulat nach einer entsprechend ausgeweiteten subjektiven Rechtfertigungsseite geht es gerade darum, ob der Täter rechtswidrig oder rechtmäßig gehandelt hat (sprich, ob es sich bei der subjektiven Rechtfertigungsseite um ein Essentiale der Rechtfertigungsgründe handelt)! – Abgesehen davon bleibt zu bedenken, daß die Kantische Scheidung zwischen Recht und Moral (etwa: Kant, Metaphysik der Sitten AA, S. 219: „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.“) historisch zwar epochal, aber zur Fein-Differenzierung von Recht und Moral heute nur noch heuristischen Wert hat (etwa: „Herumstehen“ oder Flanieren auf einer Straße ist äußerlich legales Verhalten par excellence, kann aber, wenn man auf die subjektiven Motive/Wissens- und Wollensinhalte blickt, „Schmierestehen“ und damit Beihilfe/Mittäterschaft sein). 110 Beachte allerdings den starken Einwand, den Herzberg gegen eine solche Lesart erhebt (MüKo-Herzberg [Fn. 22], § 24 Rn. 14): Der Gesetzgeber habe durch das Abstrahieren von den Tätermotiven (jenseits der Freiwilligkeitsgrenze) eine für den Gesetzesanwender unübersteigbare Grenze für teleologische Restriktionen gezogen. – Doch scheint mir die (jedenfalls früher herrschende) anderslautende Sicht zur (relativen) Endgültigkeit der Tataufgabe zu belegen, daß derartige Auslegungsfreiräume sehr wohl noch bestehen. Der Gesetzeswortlaut hatte für Herzberg i. ü. denn auch nicht immer diese bindende Maßgeblichkeit; expressiv ders., NJW 1988, 1559 (1566: „kleinlich und vordergründig“); ders., NJW 1991, 1633 (1640: „kein schlagendes Argument“). 111 Vgl. dazu Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 276 ff. Den Zurechnungsgedanken hat namentlich Bloy, JuS 1987, 528 (533 f.) und ders., Die dogmati108
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ließen sich dann die speziellen Umstände des Einzelfalles, gewichtet, unterbringen. Es müßte darüber gleichsam „verhandelt“ werden, ob der Versuchstäter tatsächlich einen vollen Strafverzicht verdient hat. Die Forderung, diesen zweiten Schritt zu tun, diese Gewichtung vorzunehmen, müßte unabhängig davon gelten, ob er das Unterfangen abbricht (§ 24 I 1, 1. Mod.) oder, wenn er schon Zwischenerfolge ins Werk gesetzt hat, in Richtung Verhinderung der Gefahrverwirklichung gegensteuert (§ 24 I 1, 2. Mod.). Dabei darf m. E. aber andererseits nicht, wie Puppe es verlangt, jedweder Form von vorwerfbarem Verkennen einer sich weiterentwickelnden Gefahr bereits das Prädikat tauglichen „Aufgebens“112 abschneiden.113 Vielmehr gilt hier, angesichts der gesetzlichen Wortwahl, wie auch bei dem Versuch selbst, daß die empirisch feststellbare subjektive Sicht des Akteurs maßgeblich ist. Puppe ist zwar beizupflichten, daß der Stich mit einem (längeren) Messer in den Brustbereich des Opfers114 in aller Regel von einer solchen Qualität ist, daß auch ein erregter, aber durchschnittlich intelligenter Täter die Tötungstauglichkeit der Verletzung
sche Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 153 ff., in den Vordergrund seiner Rücktritts-Argumentation gestellt. So später auch, u. a., Jäger, Rücktritt (Fn. 95), S. 64, 93 ff. 112 L. Wörner, Versuch (Fn. 5), S. 117 f., behauptet zwar, „aufgeben“ enthalte nicht mehr als das Wort „abbrechen“ – unter Berufung auf mehrere Duden-Nachschlagewerke und Bottke, Methodik (Fn. 95), S. 359, sowie Borchert/Hellmann, Jura 1982, 658 (661). Doch daß ein angeknockter Boxer oder ein Schachspieler in aussichtsloser Position umgangssprachlich „aufgeben“, besagt für das vorliegende Problem wenig. Ein k.o.-geschlagener Boxer oder ein schach-matt-gesetzter Spieler „gibt“ jedenfalls nicht „auf“, sondern muß (regelkonform) aufhören. Ähnlich wie „verzichten“, das Wörner immerhin als z. T. synonym anerkennt, kann man auch nicht „aufhören“, wenn es nichts „aufzuhören“ gibt, – sondern es allenfalls wieder etwas, u. U. Gleichsinniges, „neu zu beginnen“ gölte. Zumindest subjektiv muß der Entscheider der Auffassung sein, etwas zu entscheiden zu haben, also etwas anderes tun zu können vermeinen, – mag es auch, wie in den eingangs genannten Beispielen, nicht sonderlich – oder überhaupt nicht aussichtsreich sein. 113 Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 43. In eine ähnliche Kerbe schlägt nunmehr Jakobs Argumentation bei der Vorsatz-Definition qua dolus indirectus, vgl. ZStW 114 (2002), 584 ff. Folgerichtig müßte er seine Position aus seinem Lehrbuch nunmehr aufgeben; dort hieß es nämlich noch (wenn auch mit krit. Konnotation): Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/10a: „Wer leichtfertig, aber im Ergebnis zutreffend den Versuch für unbeendet hält, kann durch bloßes Nicht-Weiterhandeln zurücktreten (wie derjenige, der leichtfertig die Erfolgseignung seines Verhaltens überhaupt nicht bemerkt, nicht erst einen Versuch begeht).“ Vgl. denn auch Jakobs, ZStW 104 (1992), 83 (87): Die Entscheidungen zu dem Problemkreis der unsorgfältigen Annahme eines unbeendeten/beendeten Versuchs hänge nicht von Besonderheiten des Rücktritts ab, sondern sie folgten „aus der durch § 16 Abs.1 StGB („kennt“) erzwungenen, unglücklich psychologisierenden Fassung des Vorsatzbereichs und aus einem dem gleichen Übel verhafteten Verständnis der Lagebeurteilung zum Rücktrittszeitpunkt.“ 114 . . ., der zu einer lebensbedrohlichen Verletzung führte, (BGH NStZ 1997, 593).
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erkennt.115 Also ist die Tatsacheninstanz insoweit durch nichts gehindert, der Schutzbehauptung des Täters, er habe die Gefährlichkeit nicht erkannt, keinen Glauben zu schenken. Aber wenn besondere Umstände einmal ausnahmsweise diese Behauptung nicht ganz unglaubwürdig erscheinen lassen, – dann kann der Täter tatsächlich116 subjektiv die Tatvollendung „aufgegeben haben“,117 – obwohl ein Homunculus normalis die Gefahrverdichtung und damit die Notwendigkeit zur aktiven Gegensteuerung erkannt hätte. Lediglich ein solches Verständnis des § 24 als (letztlicher) Strafzumessungsvorschrift erlaubte dann auch, Ergebnisse der Einzelaktslehre, die der h. M., scheint’s, extrem unbillig erscheinen, im Wege einer Analogie zu § 24 zu „entschärfen“. So ließen sich etwa zwei Fälle, die Herzberg diskutiert und mit der Einzelaktslehre als unbillig gelöst empfindet,118 im Sinne eines solchen rationalen Diskurses über Ausweitungen oder Stare-Decisis bewältigen: a) A will einen falschen 500-Euroschein in Verkehr bringen und fragt einen Tabakhändler, ob er ihm auf den Betrag herausgeben könne. Als dieser ablehnt, will A es zunächst anderswo versuchen, gibt seine Absicht aber dann freiwillig und endgültig auf. b) Zwei Mittäter, X und Y, schlagen O blutig zusammen, wobei der erste die Tötung beabsichtigt, während der zweite sie mit Sorge ernstlich befürchtet und auf einen glimpflichen Ausgang hofft. Tatsächlich überlebt O, weil nach schwerer Verletzung sich auch der erste besinnt und die leicht mögliche Tötung – genau wie der zweite – freiwillig unterläßt. Wie soll es haltbar sein, daß er vom Tötungsversuch freigesprochen, der andere aber deswegen bestraft wird? Beide haben gleich viel getan und gleich viel gelassen.
Herzberg, nunmehr schon halb in der Spur der Gesamtbetrachtungslehre,119 hält dafür, daß, wenn A weitermachte, dies noch eine „weitere Ausführung der begonnenen Tat“ wäre, weswegen das gänzliche Aufhören auch den ersten Fehlschlag überwinden helfen müsse. – Im zweiten Fall sieht er die Diskrepanz, daß der Dolus-eventualis-Täter Y am Fehlschlag festgehalten würde, während der 115 . . . und zwar unabhängig davon, ob es dunkel oder bestens ausgeleuchtet ist; a. A.: BGH NStZ 1997, 593 = BGHR StGB § 24 Abs 1 S 1 Versuch, unbeendeter 33 (,möglicherweise nicht sichtbar‘). 116 Bis an die Grenze der Tatvollendung. Ab der liegt kein Versuch mehr vor, selbst wenn der Täter jene noch nicht bemerkt haben sollte; str., so aber die – zutr. – h. M.: BGH NJW 2000, 1730 (1732); Köhler, AT (Fn. 54), S. 477; Kühl, AT6 (Fn. 11), § 16 Rn. 79 ff.; LK12-Lilie/Albrecht, (Fn. 49), § 24 Rn. 79; NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 78; SK6-Rudolphi, 1993, § 24 Rn. 16; a. A.: Frister, AT4 (Fn. 6), 24/37; Gropp, AT3 (2007), § 9 Rn. 64, 66; Jakobs, AT2 (Fn. 6), 26/13; Schönke/Schröder27-Eser (Fn. 28), § 24 Rn. 24. 117 So wohl auch NK3-Zaczyk (Fn. 17), § 24 Rn. 18; 43; Weidemann, GA 1986, 409 (415). Das gilt jedenfalls so lange, wie sich der verbotene Erfolg (z. B. der Tod) nicht doch noch einstellt. Insofern ist der Rücktritt evident zufallsabhängig! 118 Herzberg, NJW 1988, 1559 (1562 bzw. 1561). 119 . . . wenn auch aufgrund des Tatplan-Kriteriums . . .
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Absichtstäter X die intendierte Möglichkeit weiterer Versuche auch noch mit der Erweiterung seiner Rücktrittsmöglichkeit belohnt erhielte. Ein über Zurechnungsaspekte konstruierbarer Ausweg120 wäre der von Herzberg befürwortete über die „Tilgung“ der Rücktrittserweiterung kraft Absichtsmerkmal, also das Gleichbehandeln beider Akteure als Täter eines Versuchsdelikts. Dieses Methode des Vorgehens hülfe überdies immerhin auch, manche schwer erträgliche Resultate der h. M.121 im Bereich des Unterlassungsversuchs zu vermeiden, wenn vom Täter lediglich ziemlich unzulängliche Abwehrmaßnahmen getroffen wurden. Hier mittels Zurechenbarkeits-Postulaten zu verlangen, eine, wenn schon nicht optimale, so doch plausibel (subjektiv) effiziente Abwehrmaßnahme getroffen zu haben, um allein das Benefiz des § 24 auslösen,122 ließe sich jedenfalls stringenter nachvollziehen als das pythia-artige Wertfühlen des BGH. III. Schlußbetrachtung Die unter II. angestellten Hilfserwägungen, mit denen eine Annäherung an die h. M. erreicht werden könnte, erscheinen freilich „suboptimal“,123 jedenfalls alles andere als wirklich geboten. Der Einzelaktslehre zu folgen, hieße, eine klare Linie durchzuhalten und nicht noch mehr in das – wenn auch zu motivierende – Ermessen des Strafrichters zu stellen. Es erlaubte auch, in den Fällen, in denen ein außerstrafrechtlicher Zweck erreicht wurde, ein konsequentes Ergebnis zu erzielen: keine Rücktrittsmöglichkeit.124 120
Gleichsam als „Gewinnabwehr“ wegen stärker rechtsgutsfeindlichen Verhaltens. BGH JR 1986, 423; NStZ 1997, 593 (m. abl. Bespr. Puppe, AT II [Fn. 11], § 36 Rn. 37 ff.); NStZ-RR 2006, 101 (abl. insoweit auch NK3-Zaczyk [Fn. 17], § 24 Rn. 41). 122 Tendenziell ähnlich, freilich ein Optimum verlangend, u. a.: Geilen, JZ 1972, 335 (339); Herzberg, NJW 1991, 1633 (1636 f.) und MüKo-Herzberg (Fn. 22), § 24 Rn. 151–165 (sorgfaltswahrend); Puppe, AT II (Fn. 11), § 36 Rn. 77 ff.; Weinhold (Fn. 97), S. 77. Differenzierend: Roxin, Hirsch-FS (1990), 327 (342). Sachgerecht BGH HRR 2008 Nr. 299: Hohe Anforderungen sind an erfolgsverhindernde Maßnahmen mittels Dritter zu stellen. Von den zahlreichen, schwerlich anders als grotesk zu bezeichnenden, gegenteilig entschiedenen Judikaten vgl. nur (tendenziell, wegen unzureichender Sachverhaltsaufklärung): BGH NJW 1988, 1602. 123 Wenn der Neologismus im Zusammenhang mit § 24, dieser permanenten Quelle von Wirrnis, einmal gestattet sei. 124 Baumann/Weber/Mitsch, AT11 (Fn. 6), § 27 Rn. 25; Freund, NStZ 2004, 326 (327); Herzberg, Blau-FS, 1985, S. 97 ff. (114 f.); Kühl, AT6 (Fn. 11), § 16 Rn. 41; Otto, Jura 1992, 423 (430); Puppe, JZ 1993, 361; Roxin, JZ 1993, 896 ff.; Schönke/ Schröder27-Eser (Fn. 28), § 24 Rn. 17b; SK7-Rudolphi (Fn.), § 24 Rn. 14b. – Die wohl h. M. sieht das, im Gefolge der Rücktrittshorizont-Doktrin, anders: BGH StV 2009, 467 f.; BGHSt (GS) 39, 221 (230 ff.); Fischer57 (Fn. 23), § 24 Rn. 9; Kindhäuser, AT4 (Fn. 11), § 32 Rn. 18; Krey, AT-II2, 2005, Rn. 486; LK12-Lilie/Albrecht (Fn.), § 24 Rn. 190 ff. – Das gilt gleichermaßen für den umgekehrten Fall, bei der erkennbaren Verfehlung des Zwecks: In der Sache verfehlt – und ein weiterer Beleg für die Sachwidrigkeit des sog. Rücktritthorizontes: BGH NStZ 2008, 275 (276) = StV 2008, 245, wo der BGH ernsthaft noch einen Rücktritt vom Versuch eines Mitnahmeselbstmordes 121
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Allerdings ist damit bei weitem kein Remedium gegen zahlreiche andere Spannungen im § 24 und dessen Anwendung gefunden. Und schon gar nicht hülfe es gegen Manipulationen, mittels derer der BGH – revisionskompetenzwidrig – sich den Sachverhalt so zurechtbastelt, daß er seinen – problematischen – „Rücktrittshorizont“ überhaupt erst einmal in Stellung bringen kann.125
durch Brandlegung erwägt, als die Feuerwehr schon die Haustür einschlägt – und die Mutter erst jetzt mit ihrem mittels Schlafmittel sedierten Sohn „aufgibt“. 125 So kritisiert etwa Dreher, JR 1969, 105 (106) an der Entscheidung BGHSt 22, 176 f., daß der Senat die Beweiswürdigung des Schwurgerichts korrigiert habe: Während das Schwurgericht festgestellt hatte, daß der Täter mit einem einzigen geplanten Schlag seine Stieftochter habe töten wollen, unterstellt der Senat, er habe sich keine Gedanken über die Zahl der weiteren Schläge gemacht, sondern sei „durch den Willen beherrscht (gewesen), auf das Opfer einzuschlagen, bis er das seinem Vorsatz entsprechende Ziele erreicht“ habe. Mit Recht wirft Dreher dem Senat vor, damit aus einem – nach damals noch herrschender Meinung (Einzelakts-Perspektive) – beendeten Versuch einen unbeendeten gemacht zu haben. – Man muß erschüttert feststellen, daß sich dieses sachverhalt-manipulierende Judizieren ultra vires, nach Berichten nicht nur von Anwälten, am BGH in jüngerer Zeit breitzumachen beginnt, vgl. mit Recht krit. Geipel, StraFo 2010, August-Heft zu BGH Urt. v. 4.2.2010, 1 StR 95/09; zuvor schon: Eschelbach, Widmaier-FS (2008), S. 127 ff. m.w. N.
Risikovorsatz und Vorsatzgefahr Zum Verständnis und zur strafrechtlichen Relevanz des Verdrängens Von Cornelius Prittwitz I. Ist „die psychische Erleichterung“, die sich ein Mensch durch die „Verdrängung des Wissens um die involvierten Fremdinteressen bei der Durchsetzung seiner eigenen Wünsche verschafft, unter allen Umständen zu honorieren“ und ist sie ihm durch „den Wertungssprung vom Vorsatzvorwurf zu dem erheblich niedrigeren Fahrlässigkeitsvorwurf zu honorieren“?1 Ingeborg Puppe, der meine nachfolgenden Überlegungen in persönlicher Dankbarkeit2 und kollegialer Hochachtung für ihre Beiträge zur Strafrechtswissenschaft gewidmet sind, hält es für denkbar, dass ein „Täter“3 sich die „Entscheidung für die Durchsetzung seiner Wünsche gegen die Integrität und die Rechte des Opfers leichter macht“, indem er sich „mit der Lebensgefahr des Opfers nicht ernsthaft befaßt oder auch sich mit irrealen Hoffnungen selbst beschwichtigt.“4 Ihre Frage, ob denn „ein solches Verdrängen und Sich-Abwenden von der Gefährdung des anderen“ Nachsicht verdient,5 ist freilich rhetorischer Natur. Denn eine solche Haltung bei „derart großer, unmittelbarer und anschaulicher Gefahr“6 sei „nichts anderes als Aus-
1 Ingeborg Puppe, Der Vorstellungsinhalt des dolus eventualis, in: ZStW 103 (1991), 1 ff. (12). Puppe stellt diese Frage nicht, sondern hält diese „Honorierung“ unter Verweis auf Herzberg, Schroeder, Haft, Cramer, Wessels und Küpper (Nachweise bei Puppe, a. a. O. in Fn. 36) für „fraglich“. 2 Konkret: Frau Puppes ebenso ausführliche wie gleichzeitig kritische und freundliche Reaktion auf eine meiner ersten Publikationen (GA 1983, 110 ff.) hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich den Weg in die Strafrechtswissenschaft eingeschlagen habe. 3 Die Verwendung des Täterbegriffs in diesem Zusammenhang ist fragwürdig, denn „Täter“ einer Straftat ist in einem Strafrecht, das sich als Tatstrafrecht versteht, nur derjenige, der einen Tatbestand rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht hat. 4 Puppe (Anm. 1), S. 12 f. 5 Puppe (Anm. 1), S. 13. 6 Diese Einordnungen beziehen sich – gut nachvollziehbar – auf zwei vom Bundesgerichtshof entschiedene Fälle (BGHSt 19, 101 und BGH NStZ 1982, 506). In BGHSt 19, 101 ging es um die Strangulation eines Vergewaltigungsopfers mit einem Taschentuch zum Zweck ungestörter Durchführung des Koitus; hier hat der BGH Vorsatz angenommen. Im zweiten Fall, in dem der BGH bewusste Fahrlässigkeit nicht ausschloss, hatten sich die Täter einer Körperverletzung angesichts der Tatsache, dass das von ih-
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druck tiefster Gleichgültigkeit gegenüber fremder Integrität“.7 Die Rechtsordnung sei keineswegs gehalten, „auf solche Selbstbeschwichtigungen in der Weise einzugehen, daß sie sie zum Maßstab ihrer eigenen Beurteilung“ mache.8 Vielmehr müsse das Täterverhalten normativ interpretiert werden:9 Vorsätzlich handle, wer eine Gefahr eingehe, die „ein rational Handelnder nur dann eingeht, wenn er mit ihrer Realisierung einverstanden ist.“10 Damit wird der Vorsatzbegriff objektiviert, die – damit nicht aus der Welt geschaffte – Problematik wird nämlich aus dem subjektiven in den objektiven Tatbestand verschoben, und gefragt wird nach dem objektiven Grad der Gefahr; gleichzeitig wird der Vorsatzbegriff normativiert: gefragt wird nicht danach, ob der konkret Handelnde mit der – unwillkommenen – Risikorealisierung notfalls einverstanden ist, sondern danach, ob ein rational Handelnder damit einverstanden wäre. Ich habe diese Problemlösungsversuche durch Verschiebungen in das Normative und Objektive im Rahmen meines Versuchs, auch in der Vorsatzdogmatik „risikodogmatische“11 Elemente aufzuspüren, vor vielen Jahren als „zutiefst ungerecht“ und dem „Prinzip der individueller Vorwerfbarkeit“ widersprechend kritisiert,12, 13 und diese Kritik hat, zumal sie im Schrifttum aufgenommen wurde,14 Ingeborg Puppe , wie (nicht nur) ihre wissenschaftliche Reaktion zeigt,15 getroffen. Es liegt daher nahe, das Thema in der ihr gewidmeten Festschrift noch einmal aufzugreifen, um klarzustellen, dass die – vielleicht tatsächlich etwas übertriebene16 – Wertung stets nur als wissenschaftliche Kritik an einer im Übermaß nen bewusstlos geschlagene Opfer in einen Fluss gestürzt war, mit dem Gedanken getröstet, es werde schon schwimmen können. 7 Puppe (Anm. 1), S. 13 unter Hinweis auf Herzberg, JuS 1986, 253. 8 Puppe (Anm. 1), S. 13. 9 Puppe (Anm. 1), S. 17. 10 Puppe (Anm. 1), S. 18. 11 Zur „Risikodogmatik“ als Strukturelement des als „Risikostrafrecht“ rekonstruierten (damit, was vielfach übersehen wird, nicht schon automatisch kritisierten) Strafrechts, Prittwitz, Strafrecht und Risiko, Frankfurt/M. 1993, S. 320 ff.; speziell zum Risikovorsatz: S. 352 ff. 12 Prittwitz (Anm. 11), S. 357. 13 Der Vorschlag Puppes folgt einer (gewohnt) scharfsinnig begründeten (und sich weitgehend durchgesetzt habenden) These, der Streit um die Existenzberechtigung des eigenständigen voluntativen Vorsatzelements spiegele eine Gegensätzlichkeit vor, die „weniger tief ist, als es auf den ersten Blick scheint“. Auch ihrer Kritik an dem von der Rechtsprechung lange mitgeschleppten „Leerbegriff“ der „billigenden Inkaufnahme“, der jedem berechtigten oder unberechtigten rechtspolitischen Anliegen zur Geltung verhelfe, folge ich im Grundsatz (damals wie heute) ebenso wie ihrer Wertung, ein solcher Begriff sei in einem rechtsstaatlichen Strafrecht inakzeptabel. 14 Vgl. etwa Roxin, AT I2, 1994, § 12, Rn. 46, Kühl, AT6, 2008, § 5, Rn. 68. 15 NK-Puppe, § 15 Rn 85. 16 Vgl. Roxin, der seine sachliche Zustimmung zu meiner Kritik bezüglich der Wertung „zutiefst ungerecht“ zwischenzeitlich (AT I3, 1997, § 12 Rn 46) als „etwas über-
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normativierenden Strafrechtsdogmatik gemeint war. Dazu kommt jedoch der Wunsch und die Notwendigkeit, ergebnisoffen zu überprüfen, ob und mit welcher (gegebenenfalls zusätzlichen) Begründung an der Kritik festzuhalten ist. II. 1. Koinzidenz von theoretischem Disput und praktischer Relevanz Kaum ein strafrechtsdogmatisches Thema dürfte theoretisch umstrittener und praktisch relevanter sein als die Frage nach dem Begriff und den Nachweismöglichkeiten des Tatvorsatzes. Das bedeutet keineswegs, dass der theoretische Scharfsinn immer den praktisch relevanten Fällen gewidmet wird. Vielmehr drängt sich, je länger man „im Geschäft“ (der Strafrechtswissenschaft und -lehre) ist, der Verdacht immer stärker auf, dass das, was sich lange Zeit sich als eine der „Lieblingsspielwiesen“ der wissenschaftlich betriebenen Strafrechtsdogmatik empfinden durfte, heute vor allem der pseudo-wissenschaftlichen Garnierung von Strafrechtsklausuren dient. Die Rechtswirklichkeit lebte lange mit der – theoretisch zweifellos kritikwürdigen – (Leer-)Formel vom „billigenden Inkaufnehmen“. Und trotz der Vielzahl von Fällen, in denen, erstens, eine Vorsatztat angeklagt17 und, zweitens, ein geständiger Angeklagter nicht vorhanden war,18 gab es – wohlgemerkt: unter unbestrittener Geltung des In-dubio-pro-reo-Satzes – keineswegs die theoretisch zu befürchtende Serie von Freisprüchen, welche die Gesellschaft in Aufruhr über den im Übermaß nachsichtigen Rechtsstaat zu versetzen drohten. Und auch nachdem die Praxis sich dem Diktum der Sprachlogik gebeugt und nicht mehr trotzig auf der Idiosynkrasie der Rechtssprache bestanden hat, auch „Nicht-Billigen“ könne „Billigen im Rechtssinn“ sein, und statt dessen vernünftigerweise vom „Billigen oder Sich-Abfinden“ spricht,19 hat sich an dieser Praxis nichts geändert. Ausgegangen wird – ganz im Sinne der vernünftigen20 Unterstellung von freiem Willen – davon, dass bestimmte Indizien,21 namentlich die äußerste Getreibend“ charakterisiert hat. Inzwischen (vgl. AT I4, 2006, § 12 Rn. 47–52) ist das Zitat durch eine ausführlichere eigene (kritische) Befassung mit Puppes Vorschlag ersetzt worden. 17 In der Regel wird dies auf Grund der äußeren Tatumstände geschehen sein, die so sehr auf eine Vorsatztat hingewiesen haben, dass die Behauptungen des Beschuldigten als Schutzbehauptung galten. 18 In all diesen Fällen ist der Tatvorsatz wie alle rein subjektiven Merkmale streng genommen nicht beweisbar. Noch strenger genommen sind subjektive Merkmale auch in Fällen geständiger Angeklagter nicht beweisbar, denn auch das Geständnis kann falsch sein, hat also letztlich nur (in der Regel überzeugenden) indiziellen Charakter. 19 Vgl. in jüngerer Zeit z. B. BGH NStZ 2009, 91 und NStZ 2009, 629, 630. 20 Die Wertung, das sei eine „vernünftige“ Unterstellung schließt nicht aus, dass sie in einem bestimmten (z. B. neurowissenschaftlichen) Sinn kontrafaktisch ist.
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fährlichkeit bestimmter Gewalthandlungen, stark für den so bestimmten Tatvorsatz sprächen, dass aber jede Beweisregel dieser Art dem Schuldgrundsatz widerspräche. Denkbar sei, dass Menschen „insbesondere bei spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen (. . .) aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt“ eben nicht den – bei Unterstellung von normaler Rationalität – nahe liegenden Schluss ziehen, sich mit diesem Erfolg abzufinden.22 Die Lehre dagegen hat sich mit – nicht abnehmender und von mir auch zeitweise geteilter – Begeisterung auf die Suche nach immer wieder neuen Grundlegungen und Abgrenzungsversuchen gemacht. Was zunächst die Grundlegungen angeht, muss man fragen dürfen,23 ob es den rechtsanwendenden Strafrechtspraktiker wie den rechtsunterworfenen Bürger nicht doch irritieren muss, wenn abwechselnd die Absicht (im engeren Sinn des dolus directus 1. Grades), das sichere Wissen um die Tatbestandsverwirklichung i. S. von dolus directus 2. Grades oder auch der dolus eventualis als „Grundform“ des Vorsatzes bezeichnet wird. Was die bunte Vielfalt der angebotenen Abgrenzungsformeln zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit angeht,24 der zufolge es gerade auf das ErnstNehmen oder Nicht-Ernstnehmen des Erfolges ankomme, oder auf die Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfolgseintritt, oder vielleicht doch seine Billigung in diesem oder jenem Sinn, drängt sich schnell der Verdacht auf, dass jede dieser Formeln auf genau die Fallgruppe(n) passt, für die sie entwickelt wurde, auf andere aber gerade nicht, bei denen sich Abgrenzungsfragte gleichwohl stellt. Dasselbe Verdikt gilt auch für Herzbergs Vorschlag,25 je nach (vorhandenen oder nicht vorhandener) Abschirmung der Gefahr26 über das Vorliegen von dolus eventualis zu entscheiden. Diskutiert werden all diese Themen, einer Rechtspraxis folgend, der sich genau dort die Problematik stellt, zumeist in den Fällen, in denen es um die Unterscheidung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und dolus eventualis geht, also um die Vorsatzform, die den Abgrenzungsschwierigkeiten weder durch den Verweis auf das sichere Wissen um die Tatbestandsverwirklichung noch durch den Verweis auf das absichtliche Verwirklichen eines Straftatbestandes entgehen kann. 21 Vgl. dazu meinen – überwiegend als materiell-rechtliche „Indizientheorie“ missverstanden – Vorschlag, Indizien für und gegen das Sich-Abfinden zu systematisieren in: JA 1988, 486 ff. 22 BGH NStZ 2009, 90 f. (91). 23 Ausdrücklich sei angemerkt: Ohne diese wissenschaftlich ernsthafte Suche zu ridikülisieren. 24 Vgl. für eine – auch dogmengeschichtlich rekonstruierende – Übersicht: Roxin, AT-I4 (Anm. 16), § 12 Rn 21 ff. 25 Herzberg, zuerst in JuS 1986, 249 ff. und in einer Reihe weiterer Publikationen (Nachweise bei Roxin, AT-14 (Anm. 16), S. 465, Fn. 123. 26 Die Herzbergs Theorie anregenden Fälle betrafen die „Abschirmung“ vor drohender HIV-Ansteckung durch Benutzung eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr.
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Aber die Einengung auf diese Fallgruppe täuscht. Gerade wenn man mit Puppe die Debatte um Existenzberechtigung und Beschreibung des voluntativen Vorsatzelements kritisiert und einer – rechtverstandenen27 – Möglichkeitstheorie, wie sie etwa Helmut Frister sehr überzeugend vertritt,28 folgt, wird deutlich, dass es um Anderes und Wichtigeres geht:29 Ist Vorsatz, begriffen als verhaltensrelevantes Wissen um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung als erfahrungswissenschaftlicher30 oder normativer Begriff zu verstehen, suchen die Gerichte nach „tatsächlichen“ Vorstellungen über die Risiken von Tatbestandsverwirklichung oder urteilen sie über vom „Täter“ nicht beachtete Risikomaximen des normativ geprägten rational handelnden Dritten? 2. Puppes Befreiungsschlag aus diesem Dilemma Man muss sich die Situation, wie ich sie eben unter Inkaufnahme von groben Vereinfachungen nachzuzeichnen versucht habe, in Erinnerung rufen, um den Versuch Puppes angemessen zu würdigen, sich, die Strafrechtswissenschaft und auch die Praxis aus dem Dilemma zu befreien. Denn es ist ja nicht zu bestreiten, dass man den Eindruck gewinnen kann, dass die biegsamen Formeln der Rechtsprechung in Wirklichkeit „Leerformeln“ sind. Von dieser Analyse zum Verdacht, dass die Praxis damit jedem berechtigten31 oder unberechtigtem32 rechtspolitischen Anliegen zur Geltung verhelfe, ist es nicht weit,33 und darin, dass eine solche Praxis in einem rechtsstaatlichen Strafrecht inakzeptabel wäre,34 ist Puppe gewiss nicht zu widersprechen. Auch die Einsicht, dass man die Debatte um die zutreffende materiell-rechtliche Abgrenzungsformel zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit – jedenfalls ex post – als „much Ado about Nothing“ ansehen kann, weil und soweit im Ergebnis die Ge-
27 In der Regel – und zumal in der Ausbildungsliteratur – wird die Möglichkeitstheorie missverstanden oder missverständlich repräsentiert. 28 Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil4, 2009, S. 129 (11. Kap., Rn. 25). 29 Genau das will, wenn ich ihn richtig verstanden habe, Karsten Gaede durch den Titel („Auf dem Weg zum potentiellen Vorsatz?“) seines bemerkenswerten Beitrags in der ZStW (Band 121 [2009], S. 239 ff.) ausdrücken. 30 Der Begriff „erfahrungswissenschaftlich“ scheint mir gegenüber dem traditionell verwendeten Begriff des „psychologischen“ vorzugswürdig, weil inzwischen unklar ist, ob gerade die Psychologie die Antworten parat hat, die das an Empirie interessierte Strafrecht benötigt. 31 Puppe (Anm.1), S. 7 nennt als Beispiel dafür die restriktive Vorsatzzuschreibung bei Affekttätern. 32 Puppe (Anm. 1), S. 8 nennt als Beispiel dafür die restriktive Vorsatzzuschreibung bei HI-Virus-Ansteckungsfällen. 33 So ausdrücklich schon: Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 356. 34 Puppe (Anm. 1), S. 9.
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gensätze weniger tief sind, als es auf den ersten Blick erscheint,35 hat sich weitgehend durchgesetzt.36 Muss man ihr daher nicht doch folgen und einen entschlossenen – und angesichts der Beweisschwierigkeiten objektivierenden und normativierenden – Schlussstrich ziehen unter die Unberechenbarkeit der Praxis und die verwirrende und dabei wenig entscheidungsrelevante Vielfalt der Lehre? Und muss man das nicht erst Recht, wenn man zu alledem auch noch die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat, weil man den seiner Umwelt gegenüber mit tiefster Gleichgültigkeit begegnender Fremdgefahrverdränger nicht mehr mit Straflosigkeit oder milder Strafe honorieren muss? a) Fragen der Gerechtigkeit Puppe wendet gegen meinen Vorwurf der „Ungerechtigkeit“ ein, mit ihrem Vorschlag werde37 niemandem ein „handlungsrelevantes Risikowissen“, das er nicht habe, unterstellt. Verweigert werde ihm nur die Kompetenz, „über die Handlungsrelevanz des Risikowissens, das er hatte, selbst rechtsverbindlich zu entscheiden.“38 Und der Vorwurf der Ungerechtigkeit dürfte sie vor allem deswegen treffen, weil sie selber ja umgekehrt es für ungerecht hält, dass das Recht nach der ihr nicht folgenden h. M. und h. L. gerade denjenigen „honoriert“, dessen Bedürfnisse sich so egoistisch vordrängen, dass die Risiken für andere verdrängt werden. Einzuräumen ist zunächst, dass meine Wertung „die offene Zuschreibung subjektiver Verantwortlichkeit je nach dem „objektiven“ Grad der Gefahr (sei) zutiefst ungerecht“,39 vielleicht nicht hinreichend deutlich klarstellt, dass Puppe für den als Vorsatztäter Bestraften sehr wohl auf einem festzustellenden subjektiven Vorsatzelement besteht. Die Gefahr muss auch nach Puppes Ansicht vom Handelnden erkannt werden,40 wie die Formulierung in der Zusammenfassung ihres Beitrags klarstellt: „Das Verhalten des Täters ist dann Ausdruck seiner Entscheidung für den Erfolg, wenn die Gefahr, wissentlich (oder vermeintlich) für das Rechtsgut schafft, von solcher Quantität und Qualität ist, daß ein Vernünftiger sie 35
Puppe (Anm. 1), S. 1. Vgl. nur Roxin, AT-14 (Anm. 16), § 12, Rn. 73 und Frister, AT4 (Anm. 28), 11. Kap., Rn. 25. 37 Entgegen, so muss man Puppe wohl verstehen, der missverstandenen Rezeption ihrer Lehre. 38 Puppe, NK § 15 Rn. 85. 39 Prittwitz (Anm. 11), S. 357, Hervorhebungen im Zitat: C. P., 2010. 40 Puppe will sich dadurch auch vom noch stärker normativierenden Jakobs absetzen, der Tatsachenblindheit aus Gleichgültigkeit als Tatbestandsverwirklichungsvorsatz behandelt, Wissen also de lege lata durch Wissenmüssen meint ersetzen zu können, was Puppe (NK § 15, Rn. 76) für unvereinbar mit § 16 hält. 36
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nur unter der Maxime eingehen würde, daß der Verletzungserfolg sein soll oder doch mindestens sein darf.“41 Trotz dieser Klarstellung will es mir unverändert „ungerecht“ erscheinen, materiell-rechtlich festzuschreiben,42 dass derjenige, der eine Gefahr zwar erkannt, aber nicht als „Vorsatzgefahr“ (in der Begrifflichkeit Puppes)43 erkannt hat, als Vorsatztäter bestraft werden soll, weil ein Vernünftiger es getan hätte. Der Schlüssel für das Verständnis liegt, wie ich meine, im Begriff Risikowissens oder Risikovorstellung. Puppe fordert, will sich aber auch damit begnügen, dass der Täter die Umstände kennt, welche die Gefahr konstituieren. Er muss, schreibt sie zunächst, „so viele Faktoren kennen, wie notwendig sind, um sie als Vorsatzgefahr zu qualifizieren,“ um dann im selben Abschnitt zu formulieren, es müsse „ihm allerdings bewusst sein, dass überhaupt eine Gefahr der Tatbestandsverwirklichung besteht.“44 Diese beiden Formulierungen sagen (mir) aber nicht das Gleiche: Die zuletzt genannte Formulierung kann von vornherein (und m. E. auch nach Puppes eigener Ansicht) nie ausreichen, Vorsatz zu begründen. Denn der Täter, dem die Fahrlässigkeitsgefahr (in Puppes Begrifflichkeit) der Tatbestandsverwirklichung bewusst ist, ist sich logischerweise der Gefahr der Tatbestandsverwirklichung bewusst, wird aber auch nach Puppe als Fahrlässigkeitstäter behandelt. Aber auch die zuerst genannte Formulierung lässt viele Fragen offen. Was soll es denn heißen, man müsse „so viele Faktoren kennen, wie notwendig sei, um sie als Vorsatzgefahr zu qualifizieren“? Diese Formulierungen gehen an der Realität von Risikowissen und Risikoverhalten vorbei. Das bloße Wissen darum, dass die Gefahr der Tatbestandsverwirklichung besteht, kann, wie eben schon erwähnt, nie ausreichen, den Vorsatz zu bejahen. Denn wir leben ständig – und nicht nur, aber z. B. auch im Straßenverkehr – mit dem Wissen um mögliche Tatbestandsverwirklichungen. Puppe sieht das auch, will das aber gerade durch den normativ geprägten rationalen Dritten korrigieren. Der gehe eben die Risiken des Straßenverkehrs ein, daher handle er wie auch seine empirisch-lebendigen Artgenossen nicht vorsätzlich. Was aber, wenn der gesellschaftliche Konsens über Risiken bröckelt? Raucht der normativ geprägte rationale Dritte, ist er übergewichtig, ist er für oder gegen Atomkraft? Und wie ist damit umzugehen, wenn die perfekt rationalen Risikoforscher herausfinden, dass wir alle, d.h. nicht die vernünftig Gedachten, sondern wir, die wir uns als Vernünftige verstehen und auf dieser Basis miteinander umgehen, uns 41
Puppe (Anm. 1), S. 41. Hervorhebung im Zitat: C. P. Eine andere Frage ist, ob solche Gefahren nicht so sehr nahelegen, dass ein Mensch sich mit dem Erfolg abgefunden hat, dass sein diesbezügliches Leugnen als Schutzbehauptung und er als Vorsatztäter behandelt wird. 43 Also als Gefahr, die man nur eingeht, wenn man sich mit dem möglichen Erfolg mindestens abfindet. 44 Beide Zitate: Puppe, NK-StGB § 15, Rn. 76. 42
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bei Risikoeinschätzungen ganz irrational verhalten: Wir schätzen sie unterschiedlich ein, je nachdem ob wir ex ante (als Handelnder) oder ex post (z. B. als Richter) urteilen, je nachdem, ob wir unser eigenes riskantes oder fremdes Verhalten beurteilen, je nachdem, ob es vertraute oder neue Gefahren sind, je nachdem, ob es um Nichtigkeiten oder um Schrecklichkeiten geht.45 Soll jede dieser nachweisbaren Irrationalitäten bloß wegen der kollektiven Verbreitung des Irrationalen zum Rationalen geadelt werden? Oder sollen wir das intellektuelle Wagnis eingehen, uns zuzutrauen, die Einschätzungen des „normativ geprägten rationalen Dritten“, also des als „vernünftig Gedachten“ ganz und gar unabhängig von dem vorhandenen, aber nicht zugelassenen oder verdrängten Wissen über unseren eigenen irrationalen Umgang mit Risiken abzuleiten? Und, glauben wir wirklich, wir seien dazu gerade im Kontext strafjustiziell festzustellender Verantwortung für riskantes Verhalten in der Lage: Dort, wo es immer um eine Feststellung ex post geht, mag sie auch noch so euphemistisch als „nachträgliche ex ante Vorstellung“ bezeichnet werden, dort, wo es immer um fremdes Risikoverhalten geht, dort, wo es – in einem sich selbst ernst nehmenden Strafrecht – fast immer um Schrecklichkeiten geht, dort, wo es oft um neue Gefahren geht, oder dort, wo (den handelnden Akteuren) vertraute Risiken ausgerechnet den Juristen, den Verkündern des normativ geprägten rationalen Dritten, unvertraut und deswegen prohibitiv hoch erscheinen? Mir scheint, die Vielzahl der aufgeworfenen Fragen verdeutlicht, dass der Rückgriff auf den normativ geprägten Dritten nicht wirklich weiterhilft bei dem Versuch, Risikowissen rationaler und gerechter zuzuschreiben. Gegen den Versuch Puppes, den Problemen schwieriger – theoretisch vielleicht sogar unlösbarer, praktisch aber gelöster – Vorsatzfeststellung und Vorsatzzurechnung durch Objektivierung und Normativierung aus dem Weg zu gehen, spricht aber ein weiteres: Ein Großteil der – jedenfalls prima facie nicht zu leugnenden – Überzeugungskraft des Vorschlags von Puppe entsteht, wie ich meine, durch eine durchaus phantasievolle Empathie der wissenschaftlichen Autorin Puppe für die Vorsatzstraftäter. Da ist die Rede von Menschen, die sich, indem sie sich mit den möglichen Gefahren für andere „nicht ernsthaft befassen“ und sich umgekehrt mit „irrealen Hoffnungen beschwichtigen,“ „psychische Erleichterung“ verschaffen, die sich die Dinge so hinbiegen, dass die „Entscheidung für die Durchsetzung (eigener) Wünsche“ leichter fällt. Wer diesen Menschen vor Augen hat, der wird nicht für eine Rechtsordnung und Rechtsanwendung plädieren, die ihn und seinen verantwortungslosen Umgang mit fremden Rechtsgütern „honoriert“. Wir wollen ihn – auch ohne Zuhilfenahme des normativ geprägten Dritten – nicht honorieren, wir, die wir eigentlich auch unsere Wünsche durchsetzen wollen, daran aber 45
Vgl. Prittwitz (Anm. 11), S. 103 ff. m.w. N.
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gehindert werden durch die von uns wahrgenommenen, ernst genommenen (vielleicht weit überschätzten) Risiken für andere. Er soll nicht von seiner Leichtfertigkeit auch noch profitieren, und er soll lernen, sich verantwortungsvoll zu verhalten, in dem wir ihn bestrafen. Wer es nicht schafft, so könnte man es vielleicht übersetzen, sich in andere hineinzuversetzen und dadurch von egoistischem, aber fremdschädigendem oder fremdschädigenden Verhalten abgehalten zu werden, dem verdeutlichen wir den Unrechtsgehalt seines Tuns, indem wir sein Verhalten zum bestraften, also zeitversetzt selbstschädigenden Verhalten machen. Wie viel aber hat unser so skizzierter Täter mit dem real existierenden Straftäter zu tun? Wir wissen es nicht! Wir verfügen über Modelle, mehr oder weniger konsentierte, mehr oder weniger informierte Modelle, wir integrieren neue Modelle wie z. B. das psychoanalytisch angeregte oder das neurowissenschaftlich fundierte, wir verfügen über die Möglichkeit der Introspektion und der Empathie. Welches Modell behandeln wir als verbindlich? Oder müssen wir, unseren beschränkten Zugang zum Innenleben einsehend, den Versuch, menschliches Verhalten zu verstehen, aufgeben, müssen wir sein äußerlich beobachtbares Verhalten nur noch vergleichen mit realitätsangereicherten (und ebenfalls fehlerbehafteten) Idealen risikovermeidenden Verhaltens, denen wir die magische Eigenschaft zubilligen, das Verhalten des normativ geprägten Dritten zu beschreiben? Puppe entscheidet sich ausweislich ihres Vorschlags für die letzte Variante. Aber ihre einleitenden Worte zeigen, dass sie Akteure sehr wohl verstehen will und verstehen zu können meint. Aber ihr Verstehen des „normativ unterbelichteten Dritten“ ist bei Licht besehen mehr ein Bewerten als ein Verstehen. Es handelt sich, wie ich meine, nicht zum kleinsten Teil um die Phantasien des normtreuen Beobachters über den normbrechenden Akteur. Das Fundament dieses Verstehens ist unklar, es speist sich aus den verschiedenen oben angedeuteten Quellen. Und es erscheint mir mehr als plausibel, dass der introspektive Anteil des Verstehensversuchs massiv und verfremdend ist. Insbesondere die für die Wertung entscheidende Zuschreibung der vorwerfbaren Selbstbeschwichtigung, des vorwerfbaren Unterlassens, auf die Rechtsgüter der Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, beruht auf dem Menschenbild derjenigen, die dem normativ geprägten Dritten sehr viel ähnlicher sind als derjenige, der die Tatsachen, die aus der Gefahr eine Vorsatzgefahr machen, kennt, sie aber nicht als solche erkennt. Der an ihn gerichtete Vorwurf ist der Vorwurf der Fahrlässigkeit, ist ein Vorwurf, der in die Nähe einer fahrlässig-vorsätzliche Lebensführungsschuld geht. Ihn gleichzusetzen mit dem Tatvorwurf vorsätzlicher Deliktsverwirklichung, wird der psychischen Realität des Handelnden und seiner gerechten Bewertung nicht gerecht.46
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Ähnlich: Frister, AT4 (Anm. 28), 11. Kap., Rn. 25.
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b) Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstaten Die These, dass unser traditionelles Strafrecht vor allem den Vorsatztäter im Auge hat, bedarf keiner großen Nachforschungen und Belege. Normativ stellt das Gesetz in § 15 StGB47 unmissverständlich klar: „Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.“ Und anders als beim ganz ähnlich formulierten und ebenfalls nach Regel-Ausnahme-Verhältnis klingenden § 23 Abs. 148 repräsentiert § 15 das Profil des deutschen StGB: Vor dem 28. Abschnitt, der die gemeingefährlichen Straftaten zusammenfasst, bei denen die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eher die Regel ist, finden sich im BT des StGB mit § 222, 229 und 283 Abs. 3 gerade einmal drei Straftaten, bei denen der Gesetzgeber ausdrücklich die fahrlässige Begehung unter Strafe gestellt hat. Unbestreitbar hat der deutsche Strafgesetzgeber, erstens, die Kriminalstrafe im Kern als Antwort auf Vorsatztaten vorgesehen und, zweitens, Unrecht und „Schuld“ der Vorsatztat höher veranschlagt als das der Fahrlässigkeitstat. Daran hat auch die erkennbare Tendenz zur vermehrten Einfügung von Gefährdungs- und Fahrlässigkeitsdelikte in das StGB nichts geändert, die wenig überraschend vor allem die gemeingefährlichen – den technischen Fortschritt begleitenden – Straftaten betreffen. Diese Wertungen haben keinen Ewigkeitsanspruch. Gerechtigkeitserwägungen wandeln sich, neue gesellschaftliche Entwicklungen können kriminalpolitische Reaktionen mit sich bringen. Viel spricht zum Beispiel dafür, dass in der Risikogesellschaft fehlendes Wissen oder Unterschätzung von Risiken „gefährlicher“ und damit „präventionsbedürftiger“ ist als die vorsätzliche Verletzung von Risikomaximen (und Rechtsgütern).49 Dass der Gesetzgeber trotz deutlich vernehmbarer und auch gut begründeter Forderungen nach Ablösung des heimlichen durch ein konsequentes Risikostrafrecht, das die Gegenstandsbereiche Umwelt und Wirtschaft50 und die Zurechnungsform der Fahrlässigkeit in den Vordergrund stellt, nicht nachgekommen ist, zeigt aber, dass die Prinzipien, die strafrechtsprofilbildend waren, unverändert zu den normativen Grundlagen des Strafrechts zählen, die auch und gerade die subjektive Zurechnung prägen. 47
Im Folgenden beziehen sich §§ ohne Verweis auf ein Gesetz auf das StGB. Bei so gut wie allen „prominenten“ Straftaten, die kein Verbrechen gem. § 12 I StGB sind, hat der Gesetzgeber inzwischen ausdrücklich die Versuchsstrafbarkeit angeordnet. Die „bedeutendste“ Lücke, die bisherige Straflosigkeit der versuchten Körperverletzung, wurde mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz 1998 geschlossen. 49 Vgl. Prittwitz (Anm. 11), S. 374 ff. 50 Vgl. die Appelle Stratenwerths (in: ZStW (105) 1993, 679 ff.) und Schünemanns (GA 1995, 201 ff.) an den Gesetzgeber, in Sachen Umweltschutz kriminalrechtlich aktiv zu werden. Schünemann bezeichnet Umweltkriminalität inzwischen als Archetyp des Verbrechens (so in einem Vortrag Granada Anfang März 2010) und ist auch überzeugt davon, dass auf die Wirtschafts- und Finanzkrise strafrechtlich reagiert werden muss. 48
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Daraus folgt, dass sich die wissenschaftliche und praktische Strafrechtsanwendung von diesen Grundsätzen nicht beliebig entfernen kann. Funktionalistisch und präventiv begründete Normativierungen des Vorsatzbegriffes51 stellen eine sich von diesen Grundsätzen entfernende klammheimliche Absage vom Schuldstrafrecht und Tatstrafrecht dar, das (auch) auf einem Vorsatzbegriff aufbaut, der sich an alltagssprachliche Konzepte von Vorsatz orientiert und daher ein im Kern erfahrungswissenschaftlicher und nicht ein normwissenschaftlicher Begriff ist. Bei aller Zustimmung zur Kritik an den Leerformeln der Praxis und an den letztlich begrenzt hilfreichen Modellen der Lehre, kann ich Puppe nicht folgen, wenn sie meint, der Richter sei mit der Aufgabe der Vorsatzfeststellung vor „prinzipiell unlösbare Probleme“ gestellt.52 Ihre Verknüpfung dieses Befundes mit dem In-dubio-pro-reo-Prinzip dergestalt, dass ein ernstgenommenes voluntatives Vorsatzelement zu einer „massenhaften Ablehnung“ des Vorsatzes führen müsse, hat mit der Praxis nichts zu tun. Wenn Puppe, die natürlich sieht, dass nicht reihenweise in dubio pro reo freigesprochen wird, daraus schließt, die Praxis verhülfe damit jedem berechtigten53 oder unberechtigtem54 rechtspolitischen Anliegen zur Geltung, dann sind das Unterstellungen, deren Plausibilität intersubjektiv nicht überprüfbar ist. Viel einleuchtender erscheint mir, dass der schwierige Versuch des Verstehens, des nachträglichen Sich-Einfühlens nur so ansatzweise – und mit sofort zuzugebender Fehleranfälligkeit – gelingen kann. All das, was Puppe zur mit dem Schuldstrafrecht nicht vereinbaren Beweisregel erklären will, also vor allem der Schluss von der „sich unmittelbarer dem Täter aufdrängenden Schadensmöglichkeit“55 wird von der Praxis regelmäßig als Indiz für das Vorliegen von Vorsatz gewertet. Dass Richter gerichtlich „feststellen“, dass trotz objektiv bestehender und im Tatsachenkern vom Handelnden auch erfasster Vorsatzgefahr im Einzelfall nicht vorsätzlich gehandelt wurde, weil der konkret zu beurteilende Mensch in der konkreten Situation die Situation eben nicht als entscheidungsrelevante Gefahr erkannt hat, hat nach meiner Einschätzung nichts mit der von Puppe vermuteten (von mir im übrigen nicht beobachteten) „Nachsicht“ zu tun, die angeblich „die höchsten Richter mit Gewalttätern aller Art in letzter Zeit zeigen“.56 Es hat umgekehrt viel zu tun mit einer Justiz, die den Schuldgrundsatz ernst nimmt und damit zu einem menschengerechten
51 Vgl. die umfassende und treffende Kritik Gaedes an diesen Tendenzen in ZStW 121 (2009), S. 239 ff. 52 Puppe (Anm. 1), S. 11. 53 Puppe (Anm. 1), S. 7 nennt als Beispiel dafür die restriktive Vorsatzzuschreibung bei Affekttätern. 54 Puppe (Anm. 1), S. 8 nennt als Beispiel dafür die restriktive Vorsatzzuschreibung bei HI-Virus-Ansteckungsfällen. 55 Puppe (Anm. 1), S. 42. 56 Puppe (Anm. 1), S. 7.
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Strafrecht beiträgt, dem bewusst ist, dass die subjektive Zurechnung von Verantwortung keineswegs immer das Rechtsgefühl befriedigt. III. Wer Gefahren so verdrängt, dass sie für ihn nicht handlungsrelevant sind, der nimmt sie nicht vorsätzlich in Kauf. Ihn als fahrlässig Handelnden anzusehen und gegebenenfalls zu bestrafen, stellt weder Nachsicht noch Honorierung dar. Es nimmt ihn vielmehr ernst und trägt so zu einem menschengerechten Strafrecht bei. Uns – und erst recht dem normativ geprägten Dritten – unverständliche Empathiedefizite von Straftätern können und dürfen nicht mit Empathiedefiziten der Strafrechtsdogmatik, die sich für das Risikobewusstsein der handelnden Akteure gar nicht mehr interessiert, beantwortet werden. Solche Antworten entsprechen nicht dem Schuldstrafrecht, sie sind, ich muss dabei bleiben, ungerecht. Die scharfsinnige Kritik Puppes an Rechtsprechung und Lehre führt zu einem zwar logisch stimmigen Zurechnungsmodell; aber logische Stimmigkeit wird menschlichem Handeln – um es vorsichtig zu sagen – nicht immer gerecht. Auch darum aber geht es im Strafrecht.
Objektive Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht bei Mitwirkung des Verletzten und Dritter an der Herbeiführung des Erfolges Von Henning Radtke I. Einführung Über die objektive Zurechnung wird in der Strafrechtswissenschaft seit rund 80 Jahren1 nachgedacht. Die Erträge des Forschens über die objektive Zurechnung von straftatbestandsmäßigen Erfolgen zum Verhalten einer Person im Strafrecht haben sich zu einer „Lehre von der objektiven Zurechnung“ entwickelt. Die Angemessenheit des Begriffs ist jedoch zweifelhaft. Von einer geschlossenen Lehrmeinung, vergleichbar etwa der personalen Unrechtslehre, kann kaum die Rede sein. Eher handelt es sich bei dem Topos „objektive Zurechnung“ um ein gemeinsames begriffliches Dach, unter dem zahlreiche Einzelkriterien – regelmäßig kontrovers – diskutiert werden. Die Bedeutung der Lehre von der objektiven Zurechnung wird von der Mehrheit innerhalb der deutschen Strafrechtswissenschaft dementsprechend darin gesehen, Kriterien zu entwickeln, die in der einen oder anderen Konstellation herangezogen werden müssen oder dürfen, um über die Ursächlichkeit – woran auch immer „gemessen“ – eines Verhaltens für einen straftatbestandlich eingetretenen Erfolg hinaus dem Verursacher den eingetretenen Erfolg in seinen Verantwortungsbereich zuordnen zu können.2 Welche Einzelkriterien für die objektive Zurechnung maßgebend sind und mit welchem Inhalt das einzelne Kriterium verbunden ist, sowie zu welchen rechtlichen Folgen seine Anwendung führt, ist durch die Lehre von der objektiven Zurechnung keineswegs im Sinne allseitiger oder zumindest weitgehender Akzeptanz geklärt.3 Wer sich ein Bild von der Vielschichtigkeit der der objektiven Zurechnung zugeschlagenen Phänomene sowie den häufig kontrovers diskutierten, rechtlich maßgeblichen Kriterien der objektiven Zurechenbarkeit verschaffen will, sei auf einen in vier Teilen erschienenen Beitrag der Jubilarin in der JURA verwiesen, der
1 Vgl. Honig, Festgabe für Frank, 1930, S. 174 f.; in diesem Beitrag ist soweit ersichtlich erstmals unter dem Topos „objektive Zurechnung“ über einen Teil der damit verbundenen Rechtsprobleme geschrieben worden. 2 Roxin, Strafrecht AT, Band 14, 2006, § 11 Rn. 46. 3 Überblicksartig Schumann, Jura 2008, 408; Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 46; Kudlich, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, Vor §§ 13 Rn. 48–64.
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anhand von Fällen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Vielgestaltigkeit der objektiven Zurechnung zum Ausdruck bringt.4 Die bekannte Grundformel der objektiven Zurechnung, ein durch menschliches Verhalten verursachter tatbestandlicher Erfolg sei dem Verursacher nur dann zuzurechnen, wenn dieses Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen und sich gerade diese Gefahr in dem tatbestandlichen Erfolg niedergeschlagen hat,5 suggeriert jedenfalls ein Maß an Geschlossenheit der „Lehre“ von der objektiven Zurechnung, das mit der Vielfalt der herangezogenen, in ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung nicht geklärter Einzelkriterien schwer in Einklang zu bringen ist. Umso notwendiger ist das stete Bemühen der Strafrechtswissenschaft, sich der objektiven Zurechnung anzunehmen und Rechtsregeln zu entwickeln, die eine (sach)gerechte Zuordnung von straftatbestandmäßigen Erfolgen zu den jeweiligen Verantwortungsbereichen derjenigen, die Ursachenbeiträge dazu erbracht haben, ermöglichen.6 Die höchstrichterliche Strafrechtsprechung hat ihrer Aufgabe entsprechend7 sich nicht generell zu einer „Übernahme“ der Lehre von der objektiven Zurechnung verhalten.8 Soweit sie mit einzelnen Rechtsfragen aus dem Strauß der zahlreichen Topoi der Zurechnungslehre vor allem bei der Strafbarkeit nach Fahrlässigkeitsdelikten befasst war, hat sie häufig auf solche Wertungsgesichtspunkte zurückgegriffen, die in der Strafrechtswissenschaft unter objektiver Zurechnung verhandelt werden.9 Gerade die jüngere Rechtsprechung hat dabei nicht nur Wertungsgesichtspunkte aus der Lehre von der objektiven Zurechnung herangezogen, sondern die einschlägigen Sachfragen ausdrücklich als solche der (objektiven) Zurechnung eines tatbestandsmäßigen Erfolges bezeichnet.10 Dies ist nur deshalb möglich gewor4
Puppe, Jura 1997, 408, 513, 624 und Jura 1998, 21. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT5, § 28 IV S. 287; Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 47. 6 Eine radikale Abwendung von der Lehre von der objektiven Zurechnung wie sie jüngst von Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht – Zur Theorie und Dogmatik des subjektiven Tatbestandes, 2009, S. 1 gefordert worden ist, scheint mir angesichts der Erträge der objektiven Zurechnung nicht angezeigt; zur Kritik der Arbeit Bungs siehe Greco, ZIS 2009, 813, 818; ansonsten äußern sich selbst langjährige Kritiker der objektiven Zurechnung in jüngerer Zeit etwas weniger kritisch dieser gegenüber, siehe vor allem Hirsch, Festschrift für Lampe, 2003, S. 515, 523. 7 Zu den unterschiedlichen Aufgaben von (höchstrichterlicher) Strafrechtsprechung und Strafrechtswissenschaft sowie den daraus resultierenden Konsequenzen für oder eher gegen die Übernahme vollständiger rechtswissenschaftlicher Lehrmeinungen ausführlich Erb, ZStW 113 (2001), S. 1, 4; Radtke, ZStW 119 (2007), S. 70, 82. 8 Vgl. Burkhardt, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 111, 124; Erb (Fn. 7), S. 1, 8 mit Anm. 24; Naucke, GA 1998, 263, 264; Radtke, ZStW 119 (2007), S. 70, 83. 9 Exemplarisch BGHSt 39, 322, 324–326; siehe auch die Nachw. bei Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 112, 2007, Vor § 13 Rn. 89. 10 Wiederum als Beispiel BGHSt 39, 322, 324 („Zu Recht hat das Landgericht angenommen, die Zurechnung des Todes entfalle nicht unter dem Gesichtspunkt der in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur sogenannten bewussten Selbstgefährdung.“); BGH NJW 2006, 522, 528 („. . . herkömmlichen und allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung . . .“); BGHSt 53, 55, 60 Rn. 20 5
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den, weil in der Strafrechtswissenschaft in die Rechtspraxis transformierbare Wertungsgesichtspunkte der Zurechnung von Erfolgen zum Verhalten einzelner Akteure entwickelt worden sind, mag sich auch die Lehre von der objektiven Zurechnung wegen des Grades ihrer Komplexität und des Grades ihrer Ausdifferenzierung einer Übernahme durch die Rechtsprechung in Gänze sperren.11 Eine derjenigen, die sich um die Erforschung der Lehre von der objektiven Zurechnung in ihrer Vielschichtigkeit in besonderem Maße verdient gemacht hat, ist die Jubilarin, die sich seit gut drei Jahrzehnten in zahlreichen Beiträgen unterschiedlichster Genres über die Thematik zu Wort gemeldet12 und die Dogmatik der objektiven Zurechnung entscheidend weiterentwickelt hat. Ein von ihr in jüngerer Zeit mehrfach behandelter Aspekt objektiver Zurechnung betrifft dabei die Erfolgszurechnung in unterschiedlichen Konstellationen der Mitwirkung eines (möglichen) Fahrlässigkeitstäters an der Selbstgefährdung des Verletzten.13 In Würdigung ihrer wissenschaftlichen Leistungen soll in den nachfolgenden Erwägungen den maßgeblichen Regeln und Kriterien objektiver Zurechnung vor allem für solche Konstellationen nachgegangen werden, in denen außer dem fahrlässig ein Risiko Schaffenden und dem später Verletzten noch weitere Akteure sorgfaltswidrig Ursachenbeiträge für den eingetretenen Verletzungserfolg beigesteuert haben. Eine solche Fallgestaltung lag etwa dem Beschluss des OLG Stuttgart vom 20. Februar 200814 zugrunde. Der Beschuldigte hatte fahrlässig ein Gebäude in Brand gesetzt. Im Zuge der Brandbekämpfung kamen zwei Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr, die mit Atemschutzausrüstung im Inneren des gewerblich genutzten Gebäudes zur Brandbekämpfung eingesetzt waren, aufgrund einer Kohlenmonoxidvergiftung ums Leben. Bei ihrem Einsatz war in erheblichem Umfang gegen für den Einsatz eines Atemschutztrupps einschlägige Vorschriften der Feuerwehrdienstvorschrift verstoßen worden. Unter anderem erfolgte die vorgeschriebene Zeiterfassung des Einsatzes nicht; zudem hatte es der für die Überwachung des Einsatzes des Atemschutztrupps eingesetzte Feuerwehrmann versäumt, sich ausreichend über den jeweiligen Standort des Trupps zu vergewissern.15 Auch die dem Urteil des 4. Strafsenats des BGH vom („Die insbesondere von Teilen des Schrifttums . . . geforderte objektive Zurechnung des Todes ist ebenfalls zu bejahen.“). 11 Nachw. wie Fn. 8. 12 Ohne auch nur den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben Puppe, ZStW 95 (1983), S. 287; dies., ZStW 99 (1987), S. 595; dies., Die Lehre von der objektiven Zurechnung; dies., Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000; dies., Festschrift für Androulakis, 2003, S. 555 (unveränderter Abdruck in: ZIS 2007, 247); dies., GA 2009, 486; NK3-StGB/Puppe, 2009, Vor § 13 Rn. 182; dies., NStZ 2009, 333. 13 Puppe, ZIS 2007, 247; dies., GA 2009, 486; dies., NStZ 2009, 333. 14 NJW 2008, 1971–1974; dazu Puppe, NStZ 2009, 333 einerseits und Radtke/Hoffmann, NStZ-RR 2009, 52 andererseits; siehe auch Lampe, jurisPR-StrafR 12/2008 Anm. 3. 15 Siehe OLG Stuttgart NJW 2008, 1971, 1972.
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20. November 200816 zugrunde liegende Fallgestaltung gehört in den Kreis der hier zu betrachtenden Konstellationen. Zu dem letztlich zum Tode des Beifahrers einer der an einem illegalen Straßenrennen beteiligten Fahrzeuge führenden Renngeschehen haben außer dem später getöteten Beifahrer, der sich in Kenntnis des Rennens und seiner Gefährlichkeit in diese Position begeben hatte, eben auch die beiden Fahrer der „Rennwagen“ Beiträge erbracht, indem sie das Rennen durchführten und unmittelbar dem tödlichen Unfall des Beifahrers vorausgehend, ein höchst riskantes, die Regeln der StVO grob missachtendes Überholmanöver vollführten. Ob die jeweils eingetretenen Todeserfolge einem oder mehreren überlebenden Beteiligten zu ihrem Verhalten (fahrlässiges Verursachen des Brandes, unzureichende Überwachung des Einsatzes des Atemschutztrupps, Beteiligung an einem verbotenen Straßenrennen mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit und höchst riskanten Überholvorgängen) zugerechnet werden können oder diese letztlich allein in die Verantwortung der später Getöteten gehören, ist im Ergebnis nach der objektiven Zurechnung zugehörigen Kriterien zu lösen. Dass die beiden grob referierten Konstellationen anhand derselben Kriterien objektiver Zurechnung zu beurteilen sind, ist damit nicht gesagt. II. Selbstgefährdung des Verletzten, einverständliche Fremdgefährdung und die Zurechnung zum Verantwortungsbereich des (möglichen) Fahrlässigkeitstäters 1. Autonomieprinzip und Disponibilität individueller Rechtsgüter Die vorstehend angesprochenen tatsächlichen Konstellationen weisen etwas für die objektive Zurechnung und ihre Einzelkriterien Charakteristisches auf: für den tatbestandsmäßigen Erfolg haben mehrere Akteure durch fahrlässiges (gelegentlich im straftatbestandsmäßigen Sinne vorsätzliches) Verhalten zeitlich gestaffelte Ursachenbeiträge erbracht. Die „Funktion“ der objektiven Zurechnung besteht in der Bereitstellung der Kriterien, die die wertungsmäßige Zuweisung des Erfolges zum Verhalten eines Verursachers oder mehrerer Verursacher gestatten. Da das Strafrecht auf der Ebene der Strafbarkeitsvoraussetzungen eine bloße Teilverantwortlichkeit nicht kennt, sondern das Mitverursachen oder gar das Mitverschulden anderer lediglich auf der Rechtsfolgenseite relevant wird, entscheidet vor allem bei Fahrlässigkeitsdelikten im Wesentlichen die objektive Zurechnung darüber, ob ein sorgfaltswidriger Ursachenbeitrag eines Mitverursachers des straftatbestandsmäßigen Erfolges die Strafbarkeit des Akteurs begründet. Die Ergebnisse der Zurechnung können vielfältig sein. Derselbe Erfolg könnte mehreren Verursachern zu ihrem jeweils eigenen Verhalten zuzurechnen sein. Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte läge dann bei gegebenen weiteren Strafbarkeits16 BGHSt 53, 55 mit Anmerkung Duttge, NStZ 2009, 690; Roxin, JZ 2009, 399; Renzikowski, HRRS 2009, 347 sowie Besprechungsaufsatz von Puppe, GA 2009, 486.
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voraussetzungen nach überkommenem Verständnis Nebentäterschaft vor. Denkbar ist aber immerhin bei mehreren Verursachern auch, die jeweiligen Verursachungsbeiträge etwa anhand ihres jeweiligen Unrechts- und Schuldgehalts zu gewichten und den eingetretenen Erfolg ausschließlich dem Verursacher mit dem gewichtigsten Beitrag zuzuordnen. Diskutiert wird über einen solchen Ausschluss der Zurechnung des Erfolges zu den weniger gewichtigen Ursachenbeiträgen vor allem im Kontext ärztlicher Behandlungsfehler bei solchen Behandlungen, deren Notwendigkeit durch straftatbestandsmäßiges Verhalten eines Erstschädigers ausgelöst worden ist17 sowie bei fehlender Bereitschaft des durch den Erstverursacher bereits geschädigten Opfers, an der zur Abwendung weiterer Schäden erforderlichen Handlung mitzuwirken.18 Einen weiteren Bereich im Komplex der Zuordnung eingetretener straftatbestandsmäßiger Erfolge zu dem jeweiligen Verhalten verschiedener Verursacher bilden solche Konstellationen, in denen das (später) geschädigte Opfer erst aufgrund des Verhaltens des Erstverursachers herausgefordert oder schwächer formuliert motiviert worden ist, einen Ursachenbeitrag zu der Beeinträchtigung eigener Rechtsgüter zu erbringen. Regelmäßig handelt es sich um Fallgestaltungen sogenannter Retterschäden.19 Auch hier geht es um die normative Zuweisung des (regelmäßig) eingetretenen Verletzungserfolges zum Verantwortungsbereich des das Handeln des Retters auslösenden Erstverursachers oder zu dem des Retters selbst. Gerade darüber, welche Kriterien für die normative Zuordnung des Erfolges zum jeweiligen Verantwortungsbereich maßgeblich sind, wird für die dargestellten Konstellationen, und nicht nur für diese, gestritten. Mancher diskutierte rechtliche Gesichtspunkt scheint in seiner Bedeutung ambivalent, wird er doch von beiden Seiten der Diskutanten jeweils für sich in Anspruch genommen.20 Sollen jedoch die Ergebnisse normativer Zurechnung in Konstellationen mehrerer Verursacher eines straftatbestandsmäßigen Erfolges über eine einzelfallbezogene, nach je unterschiedlichen Kriterien gefundene Lösung hinausgehen, bedarf es eines übergeordneten Grundprinzips, aus dem heraus sich in gleichmäßiger Weise die einzelnen bei der normativen Zuordnung zum Verantwortungsbereich maßge17 Dazu etwa Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 117; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986, S. 164 und S. 166; Roxin, Strafrecht AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 141–143 einerseits sowie Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 437; NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 151; Puppe NStZ 2009, 333, 335 andererseits. 18 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt (Fn. 17), S. 122; Frisch, Verhalten (Fn. 17), S. 448; Schmoller, Festschrift für Triffterer, 1996, S. 223, 249; Jescheck/Weigend, AT (Fn. 5), § 28 IV 4, S. 288; Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 144; Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 120 m.w. N. 19 Näher dazu und mit einer präziseren Definition der Retterschäden Radtke/Hoffmann GA 2007, 201 m.w. N. dort in Fn. 3. 20 Etwa die Frage der Existenz einer Rettungspflicht als in beide Richtungen – gegen und für eine Zurechnung von Retterschäden zum Erstverursacher – angeführtes Kriterium, siehe Radtke/Hoffmann GA 2007, 201, 208.
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benden Gesichtspunkte ableiten lassen. Ein solches Grundprinzip dürfte mit dem Autonomieprinzip, verstanden als grundsätzlich gewährleistete Freiheit des Inhabers eines individuellen Rechtsguts, über dieses eigenverantwortlich bis hin zur Aufgabe des Rechtsguts zu disponieren, auch gefunden und als Fundamentalprinzip objektiver Zurechnung jedenfalls weitgehend auf Zustimmung gestoßen sein.21 Die Geltung des Autonomieprinzips ergibt sich verfassungsrechtlich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Auf der Ebene des einfachen Rechts zeigt der Umkehrschluss aus § 216 StGB und § 228 StGB die grundsätzlich bestehende freie Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers über seine Individualrechtsgüter. 2. Autonomieprinzip und eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder Selbstschädigung des Verletzten In Umsetzung des Autonomieprinzips besteht auf der Grundlage des geltenden einfachen Rechts Einigkeit darüber, dass die freiverantwortlich vorgenommene Beeinträchtigung, sei es in Form der Gefährdung oder der Verletzung, eigener individueller Rechtsgüter durch den Inhaber dieses Rechtsguts selbst tatbestandslos und damit straflos ist.22 Eine Mitwirkung Dritter an der eigenverantwortlichen vorsätzlichen Verletzung eigener Rechtsgüter ist dann ebenfalls straflos, weil die §§ 26, 27 StGB mit dem Prinzip der limitierten Akzessorietät eine vorsätzlich, rechtswidrige Tat eines anderen voraussetzen.23 Daran fehlt es bei vorsätzlich selbstschädigendem Verhalten. Auch die Mitwirkung Dritter an einer (in Bezug auf den eingetretenen Erfolg fahrlässigen) eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des betroffenen Rechtsgutsinhabers ist im Ergebnis nach allgemeiner Auffassung straflos.24 Letzteres Ergebnis auf ein argumentum a maiore ad minus im Hinblick auf die Straflosigkeit der Teilnahme an vorsätzlicher Selbstverletzung zu stützen,25 überzeugt allerdings nicht.26 Jedenfalls solange für den Bereich der 21 Etwa Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 56 und S. 63 sowie passim; Meliá, ZStW 111 (1999), S. 357, 373; Frisch, NStZ 1992, 1, 5; Otto, NStZ 2001, 207, 207; Puppe, ZIS 2007, 247, 251; dies., GA 2009, 486, 490; NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 192; siehe auch Duttge, in: Münchener Kommentar zum StGB, § 15 Rn. 151 und Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 112. 22 Siehe nur Renzikowski, HRRS 2009, 347; Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 106 und 110. 23 Im Ergebnis allgemeine Meinung BGHSt 24, 342; BGHSt 32, 262, 263; BGH NStZ 2001, 205 mit Anm. Hardtung, NStZ 2001, 206 und Renzikowski, JR 2001, 248; BGHSt 49, 34; dazu Duttge, NJW 2005, 260; Moosbacher, JR 2004, 390; Trüg, JA 2004, 597; siehe auch Schünemann, NStZ 1982, 60, 62; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB26, 2007, § 15 Rn. 165 m.w. N. 24 Ständige Rspr. seit BGHSt 32, 262, 264; BGHSt 39, 322, 324; weit. Nachw. bei Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, § 15 Rn. 165 und Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 112 Fn. 157.
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Fahrlässigkeitsdelikte im Grundsatz jeder im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut sorgfaltswidrige Ursachenbeitrag für die Täterschaft begründend gehalten wird,27 kann die Beteiligung Dritter an der fahrlässigen Selbstgefährdung angesichts höchst unterschiedlicher Rechtsregeln über die strafbare Beteiligung (restriktiver Täterbegriff versus Einheitstäterbegriff) schwerlich als Minus der Beteiligung an der vorsätzlichen Selbstverletzung gelten. Das Ergebnis, Straflosigkeit der Beteiligung an fremder eigenverantwortlicher Selbstgefährdung, trifft dennoch zu und ergibt sich aus dem Autonomieprinzip selbst. Soweit die Rechtsordnung dem einzelnen Rechtsgutsinhaber die Preisgabe des Rechtsguts und darin eingeschlossen das Eingehen von Risiken für das Rechtsgut gestattet, darf der aufgrund des selbstgefährdenden Verhaltens (unvorsätzlich) eingetretene tatbestandsmäßige Erfolg, nicht dem mitverursachenden Dritten normativ in seinen Verantwortungsbereich zugeordnet werden. Denn mit der grundsätzlich bestehenden Autonomie des Rechtsgutsinhabers im Umgang mit seinen individuellen Rechtsgütern korrespondiert die Obliegenheit für den Schutz der eigenen Rechtsgüter.28 Nimmt der Rechtsgutsinhaber aufgrund einer eigenverantwortlichen, die Folgen abschätzenden Entscheidung diese Obliegenheit nicht war, bewegt sich der an der Selbstgefährdung des Rechtsgutsinhabers mitwirkende Dritte grundsätzlich im Bereich des erlaubten Risikos. Voraussetzung für die Zuordnung eines eingetretenen straftatbestandsmäßigen (Verletzungs- oder Gefährdungs)Erfolges ausschließlich zu dem Verantwortungsbereich des Rechtsgutsinhabers ist die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung für die Gefährdung und Verletzung des eigenen Rechtsgutes.29 Positive Voraussetzungen der Eigenverantwortlichkeit werden selten umfassend formuliert. Üblicher ist die Angabe von Gründen, die zum Ausschluss der Eigenverantwortlichkeit führen. Welche dies sind, wird allerdings nicht einheitlich beantwortet.30 Un25 So etwa Roxin, Festschrift für Gallas, 1973, S. 241, 246; Hellmann, Festschrift für Roxin, 2001, S. 271 (283). 26 Zu Recht ablehnend daher Puppe, ZIS 2007, 247, 249; dies., GA 2009, 486, 490; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 192; ders., HRRS 2009, 347, 348; Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 13 Rn. 112. 27 Siehe zum Streitstand um die Geltung des Einheitstäterbegriffs bei den Fahrlässigkeitsdelikten Gropp, GA 2009, 265, 274; ausführlich Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 197 einerseits und Renzikowski (Fn. 16), S. 67 und passim sowie NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 178. 28 Insoweit ebenso Puppe, ZIS 2007, 247 (251). 29 BGHSt 32, 262, 264; BGHSt 36, 1, 17; BGHSt 37, 179, 181; BGHSt 39, 322, 324; BGHSt 53, 55, 60 Rn. 21; Frisch, Verhalten (Fn. 17), S. 166; Cramer/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder, § 15 Rn. 165; Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 112; Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 186 jeweils m.w. N. 30 Dazu Frisch, Verhalten (Fn. 17), S. 166; Zaczyk, Selbstverantwortung (Fn. 21), S. 36; Krack, „List“ als Tatbestandsmerkmal, 1994, S. 108; Freund, in: Münchener Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 385; Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 113.
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geachtet dessen dürfte Konsens bestehen, Eigenverantwortlichkeit auszuschließen, wenn der sich selbst Gefährdende das Ausmaß des Risikos nicht oder nicht vollständig überblickt.31 Jedenfalls rechtsgutsbezogene Willensmängel und Irrtümer heben die Eigenverantwortlichkeit auf. Zweifelhaft ist dagegen, ob es auf eine bei dem sich selbst gefährdenden Opfer vorliegende defizitäre Risikoeinschätzung im Verhältnis zu dem an der Selbstgefährdung mitwirkenden Dritten ankommt.32 Dabei würde vernachlässigt, dass bei mangelndem Risikoüberblick des später Geschädigten die noch weiter defizitäre Risikoeinschätzung des an der Selbstgefährdung mitwirkenden Dritten gerade eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründen könnte.33 Von einer fehlenden Risikoeinschätzung des aufgrund selbstgefährdenden Verhaltens Geschädigten ist jenseits dessen stets auszugehen, wenn der sich selbst Gefährdende sich in einem der von §§ 20, 35 StGB und § 3 JGG beschriebenen Zustände bzw. Situationen befindet (Exkulpationslösung).34 Liegt bei diesem dagegen lediglich ein von § 21 StGB erfasster Zustand vor, ist nur bei eingeschränkter Einsichtsfähigkeit die Eigenverantwortlichkeit ausgeschlossen.35 Betroffen ist dann gerade die Fähigkeit, das Risiko zutreffend einzuschätzen. Fehlen solche die Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung ausschließenden Umstände, gilt der bereits formulierte Grundsatz, dass die Beteiligung Dritter an der Selbstgefährdung des Rechtsgutsinhabers straflos ist. Der (auch) aus dem selbstgefährdenden Verhalten resultierende Erfolg fällt ausschließlich in den Verantwortungsbereich des geschädigten Rechtsgutsinhabers. 3. Autonomieprinzip und einverständliche Fremdgefährdung Die Zuordnung aufgrund eigenverantwortlicher Selbstgefährdung bewirkter straftatbestandsmäßiger Erfolge selbst bei Mitwirkung Dritter daran ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Opfers hängt nach vielfach vertretener Auffassung von dem Vorliegen einer Selbstgefährdung ab.36 Lässt sich dagegen Vgl. BGHSt 32, 262, 265; BGHSt 36, 1, 17; LPK-StGB/Kindhäuser4, 2009, Vor § 13 Rn. 125. 32 So etwa BGHSt 32, 261, 265; BGHSt 36, 1, 17; BGH NJW 2000, 2286; BGH NStZ 2001, 205, 206 mit Anm. Hardtung, NStZ 2001, 206 und Renzikowski, JR 2001, 248; Frisch, Verhalten (Fn. 2), S. 168; Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 97 und 113; Wessels/Beulke, AT (Fn. 29), Rn. 187. 33 LPK-StGB/Kindhäuser4, 2009, Vor § 13 Rn. 126; siehe auch NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 198. 34 Weitgehend wie hier Zaczyk, Verhalten (Fn. 21), S. 36; abweichend von diesem kann es aber nicht darauf ankommen, ob der sich Gefährdende trotz des Zustandes im Einzelfall das Risiko dennoch überblickt. Das Gesetz nimmt eine Wertung vor, die auch in der entsprechenden Heranziehung auf die Konstellation der Selbstgefährdung nicht durch eine widerlegliche Vermutung relativiert werden sollte; zur Exkulpationslösung auch Dölling, GA 1984,71, 78; Roxin, NStZ 1984, 71. 35 Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 114. 36 Exemplarisch BGHSt 40, 341, 346; BGHSt 53, 55, 60 Rn. 22. 31
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das Opfer in Kenntnis des einzugehenden Risikos durch einen Dritten gefährden, handelt es sich phänomenologisch um die Konstellation der einverständlichen Fremdgefährdung.37 Ob und was für Konsequenzen für die Strafbarkeitsvoraussetzungen des nicht geschädigten Mitverursachers eines straftatbestandsmäßigen Erfolges mit der Einordnung eines konkreten tatsächlichen Geschehens entweder als eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder als einverständliche Fremdgefährdung verbunden sind, ist bislang nicht wirklich geklärt,38 gilt doch vor allem die Konstellation der einverständlichen Fremdgefährdung als „wenig erschlossene Fallgruppe“.39 Mit der Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung sind wenigstens drei kontrovers diskutierte Rechtsfragen verknüpft: (1.) die Notwendigkeit und Möglichkeit beide Konstellationen voneinander abzugrenzen, (2.) unter der Voraussetzung der Unterscheidbarkeit und der Notwendigkeit zu unterscheiden die deliktssystematische Zuordnung der jeweiligen Konstellation und (3.) damit verbunden die Bestimmung der rechtlichen Maßstäbe, nach denen sich die Strafbarkeit oder Straflosigkeit des an der Selbstgefährdung des später Verletzten beteiligten bzw. diesen verletzenden (im Sinne der Fremdgefährdung) Akteurs richtet. Wer wie die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Abgrenzung der beiden Gefährdungskonstellationen für möglich und nötig hält,40 ordnet die einverständliche Fremdgefährdung regelmäßig41 deliktssystematisch der Ebene der Rechtswidrigkeit zu42 und begrenzt die rechtliche Wirkung des dann als Einwilligung zu verstehenden, der Gefährdung zustimmenden Verhaltens des Gefährdeten auch bei Fahrlässigkeit des gefährdenden bzw. verletzenden Täters bei konkreter Lebensgefahr entweder über § 216 StGB43 oder über den Normzweck der §§ 216, 228 StGB44 und spricht einer Einwilligung die rechtfertigende Kraft ab, wenn der Einwilligende in konkrete Todesgefahr gerät.45 Unabhängig von einer tatsächlich eingetretenen Rechtsgutsverletzung sei die Sittenwidrigkeit der Tat trotz Einwilligung gegeben, wenn für das eingegangene Maß der Lebensge37 Ausführlich zur Unterscheidung von eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung Beulke, Festschrift für Otto, 2007, S. 207; Duttge, Festschrift für Otto, 2007, S. 227; Hellmann, FS Roxin, (Fn. 25), S. 701; siehe auch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 427; Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 122. 38 Nachw. wie Fn. zuvor. 39 Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 121, HK-GS/M. Heinrich, 2008, Vor § 13 Rn. 140. 40 BGHSt 53, 55, 60 Rn. 21; zuvor bereits etwa BGHSt 19, 135, 139; BGHSt 49, 34, 39; BGHSt 49, 166, 169; BGH NJW 2003, 2326, 2327. 41 Immerhin deutet BGHSt 53, 55, 61 Rn. 25 wie bereits zuvor BGHSt 39, 322, 324 an, einzelne Fremdgefährdungskonstellationen ausnahmsweise einer Selbstgefährdung gleichzustellen. 42 BGHSt 49, 34, 42; BGHSt 49, 166, 173; BGHSt 53, 55, 61 Rn. 26 und 62 Rn. 26. 43 Z. B. BGHSt 7, 112, 114; BGH VRS 17, 277, 279; siehe auch BGH v. 20.6.2000 – 4 StR 162/00. 44 BGHSt 49, 34, 42; BGHSt 49, 166, 173; BGHSt 53, 55, 62 Rn. 28. 45 Nachw. wie Fn. zuvor.
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fahr kein vernünftiger Grund ersichtlich sei. Diese Grundsätze für die Abgrenzung zwischen Selbstgefährdung und Fremdgefährdung sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Strafbarkeit der Beteiligten überzeugen für den Bereich durch fahrlässiges Verhalten herbeigeführter straftatbestandsmäßiger Erfolge nicht. Zwar erzwingt im Bereich der vorsätzlichen Tötungsdelikte § 216 StGB die Abgrenzung zwischen der strafbaren (vorsätzlichen) Tötung des Opfers durch einen Dritten und der straflosen bloßen Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbsttötung des Suizidenten. Die höchstrichterliche Rechtsprechung46 stellt hier unter Zustimmung weiter Teile der Strafrechtswissenschaft47 im Grundsatz ganz zu Recht auf Tatherrschaftskriterien ab und hält für maßgeblich, ob der Suizident bis zuletzt frei über seinen eigenen Tod habe verfügen können. Die aus der Existenz von § 216 StGB resultierende Notwendigkeit der Abgrenzung bei vorsätzlichem Verhalten lässt jedoch nicht den Rückschluss auf eine entsprechende Notwendigkeit der Abgrenzung von eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung bei lediglich fahrlässigem Verhalten des daran Beteiligten – selbst bei Lebensgefährlichkeit der Situation nicht – zu. § 216 StGB bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Autonomie des Rechtsgutsinhabers, dem zwar die eigenverantwortliche Selbsttötung nicht verwehrt ist, der aber nicht mit strafbarkeitsaufhebender Wirkung den von fremder Hand bewirkten eigenen Tod konsentieren kann. Hinter § 216 StGB steht der Rechtsgedanke, das Verbot der vorsätzlichen Vernichtung fremden Lebens außerhalb einer Notwehrsituation einschränkungslos zu statuieren und zudem dem Täter die prozessual bei einem Unrechtsausschluss (Einwilligung) schwer widerlegbare Einlassung, mit ausdrücklichem Willen des Getöteten getötet zu haben, abzuschneiden.48 Beide Aspekte treffen selbst auf die Situation der (fahrlässigen) Gefährdung des Lebens eines anderen nicht, zumindest nicht in vollem Umfang zu. Der Aspekt des Tabubruchs passt nicht, weil typischerweise weder der Gefährdende noch der Gefährdete den Eintritt der Rechtsgutsverletzung in ihre Vorstellung von dem Verlauf der konsentierten gefährlichen Situation aufgenommen haben.49 Und das Vorliegen einer Zustimmung des fahrlässig Getöteten zu dem Geschehen, aus 46 Grundlegend BGHSt 19, 135, 139; siehe dazu auch Schneider, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2, 2003, § 216 Rn. 33. 47 Etwa Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes in ihrer Bedeutung für die Probleme von Suizid und Euthanasie, 2001, S. 272; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft8, 2006, S. 566; Hohmann/König, NStZ 1989, 304, 307; Schroth, GA 2006, 549, 567; Eser, in: Schönke/Schröder, § 216 Rn. 11; im Grundsatz auch Schneider, in: Münchener Kommentar zum StGB, § 216 Rn. 42. 48 Vgl. nochmals Murmann, Selbstverantwortung (Fn. 37), S. 517 und S. 523; im Grundsatz zustimmend Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 124. 49 In Bezug auf Letzteres ebenso Puppe, GA 2009, 486 (490); Renzikowski, HRRS 2009, 347, 353; Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 121; NK-StGB/Paeffgen, Vor § 228 Rn. 112; wohl auch Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 126.
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dem letztlich der Tod resultiert, und die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung, sich in die gefährliche Situation zu begeben, sind nicht schwerer prozessual zu rekonstruieren als in Konstellation der eindeutigen Selbstgefährdung auch. Damit bleibt die Frage nach der Notwendigkeit einer Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte50 im Hinblick auf die in der jüngeren Rechtsprechung angenommene Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung in die gefährliche Handlung (nicht den Erfolg) bei der konkreten Todesgefahr, wenn es an einem vernünftigen Grund für das Eingehen einer solchen Gefahr mangele.51 Auch eine so begründete Einwilligungssperre stößt jedoch auf Bedenken. Soweit die Erwägung auf den Normzweck von § 216 StGB gestützt wird, bleiben die bereits angeführten Einwände bestehen. § 216 StGB verbietet aus guten Gründen die vorsätzliche Tötung trotz Zustimmung des Getöteten. Die guten Gründe greifen bei Zustimmung zu einem gefährlichen Verhalten, in Bezug auf das weder der Gefährdete noch der Gefährdende die Möglichkeit der Herbeiführung des Todes erkennen, nicht ein. Dass der von § 228 StGB verfolgte Normzweck überhaupt Ableitungen auf vom Rechtsgutsinhaber konsentierte, für ihn gefährliche Verhaltensweisen zulässt, ist angesichts des Wortlauts der Vorschrift und seiner systematischen Stellung im Gesetz begründungsbedürftig. Eine solche Begründung vermag ich bisher ebenso wenig zu erkennen, wie einen tragenden Grund für Herkunft und Geltung der Teilaspekte „konkrete Todesgefahr“ und „vernünftiger Grund“.52 Im Anwendungsbereich von § 222 StGB wird aus dem Eintritt des Todeserfolges regelmäßig der Rückschluss auf die vorausgegangene konkrete Gefahr gezogen werden.53 Allein das Vorliegen oder Fehlen eines „vernünftigen Grund(es)“, sich dieser Gefahr auszusetzen, entscheidet dann über die rechtfertigende Wirkung der ansonsten wirksam erteilten, als Einwilligung gedeuteten Zustimmung des Gefährdeten bzw. Verletzten. Abgesehen von der Vagheit des Kriteriums und der Unklarheit über sein Verhältnis zum Autonomieprinzip stellt der Zugriff auf den „vernünftigen Grund“ als Grenze der Einwilligung die Notwendigkeit der Abgrenzung zwischen Selbstund Fremdgefährdung selbst in Frage. Im Bereich der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung schließt der BGH die Eigenverantwortlichkeit aus, wenn der Rechtsgutsinhaber durch ein Verhalten eines Anderen (des Erstverursachers) zu der Selbstgefährdung herausgefordert worden ist; es sei denn, die herausgeforderte Selbstgefährdung ist offensichtlich unvernünftig.54 Ganz zutreffend hat In50
Sowie der Erfolgsqualifikationen. Nachw. wie Fn. 44. 52 Siehe auch Duttge, NStZ 2009, 690, 691; Kühl, NJW 2009, 1159; Renzikowski, HRRS 2009, 347, 354. 53 Zutreffend Duttge, NStZ 2009, 690, 691. 54 BGHSt 39, 322, 326; dazu Alwart, NStZ 1994, 38; Amelung, NStZ 1994, 84; Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 775, Derksen, NJW 1995, 240; Meindl, JA 1994, 100; Günther, StV 1995, 338; Sowada, JZ 1994, 663; siehe auch Radtke, ZStW 110 (1998), S. 848, 878; Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 100. 51
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geborg Puppe daraus den Schluss gezogen, für die höchstrichterliche Rechtsprechung kommt der Unterscheidung von Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung lediglich dann Bedeutung zu, wenn der sich selbst Gefährdende sich aus unvernünftigen Gründen der gefährlichen Situation aussetzt.55 Eine Notwendigkeit oder Berechtigung im Bereich der fahrlässigen Erfolgsherbeiführung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung zu differenzieren, resultiert daraus nicht. Denn das Kriterium des vernünftigen Grundes, sich in eine als gefährlich erkannte Situation zu begeben, trägt weder in Konstellationen der Selbstgefährdung im Falle seines Vorliegens die Zurechnung des eingetretenen Erfolges zum Verhalten eines daran beteiligten Dritten (etwa des Erstverursachers) noch sein Fehlen in solchen der Fremdgefährdung einen Ausschluss der rechtfertigenden Einwilligung des später Getöteten. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Im Ergebnis ist im Hinblick auf das bisher Ausgeführte und die zutreffend erhobenen Bedenken gegen eine Übertragung der für die Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung bei Vorsatzdelikten entwickelten Gesichtspunkte auf Fahrlässigkeitskonstellationen56 für diese eine Abgrenzung rechtlich nicht geboten. Hält man für die Fahrlässigkeitsdelikte daran fest, dass grundsätzlich jede sorgfaltswidrige, für den tatbestandsmäßigen Erfolg ursächliche Handlung täterschaftsbegründend sein kann, kommt es mangels Relevanz der Teilnahmevorschriften nicht darauf an, ob der Akteur sich an der Selbstgefährdung des Rechtsgutsinhabers beteiligt oder die gefährdende Handlung gegenüber diesem vornimmt.57 Maßgeblich für die Strafbarkeit des fahrlässig an der Herbeiführung eines Rechtsgutverletzungserfolges Beteiligten ist ausschließlich die eigenverantwortliche Entscheidung des Rechtsgutsinhabers, sich bei umfassender Risikoeinschätzung in die gefährliche, zur Verletzung führende Situation zu begeben.58 Die Konsequenzen des Ausgeführten sollen knapp anhand der eingangs genannten Konstellationen der Entscheidungen des BGH und des OLG Stuttgart verdeutlicht werden. III. Autonomieprinzip und Zuordnung von Erfolgen zu dem Verantwortungsbereich des verletzten Rechtsgutsinhabers und beteiligter Dritter Die für die Bewertung der objektiven Zurechnung der eingetretenen Todeserfolge zum Verhalten der durch das Erbringen von Ursachenbeiträgen zu diesen 55
Puppe, GA 2009, 486, 487. Puppe, GA 2009, 486, 490–492 m.w. N. 57 Puppe, ZIS 2007, 247, 249; Renzikowski, Täterbegriff (Fn. 26), S. 197; ders., HRRS 2007, 347, 348. 58 Das Vorgeschlagene ähnelt dem Vorschlag von Melià, ZStW 111 (1999), S. 357, 366, 375, der die Differenzierung ablehnt und die Zuordnung zum Verantwortungsbereich von (möglichem) Täter und verletztem Rechtsgutsinhaber anhand des Selbstverantwortungsprinzips vornimmt. 56
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Erfolgen Beteiligten (nicht im strafrechtlich technischen Sinne) relevanten tatsächlichen Umstände in den beiden herangezogenen Entscheidungen unterschieden sich erheblich: hier das Mitmachen des später getöteten Beifahrers an einem höchst riskanten, rechtlich verbotenen Straßenrennen; dort die Vornahme einer erwünschten, zum Zwecke weiterer Gefahrenabwehr vielleicht sogar rechtlich gebotenen, gleichwohl aber gefährlichen Brandbekämpfungsmaßnahme durch zwei Angehörige einer Freiwilligen Feuerwehr. Die Zurechnung der jeweiligen Todeserfolge zu dem Verhalten der übrigen Verursacher, außer den jeweils Getöteten selbst, sollte eigentlich eindeutig sein. Begibt sich das spätere Opfer, wie der Beifahrer bei dem illegalen Straßenrennen, sehenden Auges, in Kenntnis des Risikos in eine solch gefährliche Situation, um des bloßen Nervenkitzels wegen, das allein aus der Gefährlichkeit der Situation resultiert, scheint er allein für den eintretenden Erfolg verantwortlich zu sein. Die freie Entscheidung, sich in Gefahr zu begeben, sollte die das Rennen durchführenden Fahrer entlasten. Kommen dagegen Feuerwehrleute im Rahmen von Löscharbeiten um, scheint der Eintritt dieser Todeserfolge eindeutig in den Verantwortungsbereich des straftatbestandsmäßig handelnden Brandverursachers zu fallen. Denn der Schutzzweck der Brandstiftungsdelikte besteht, wenn auch mit Unterschieden in den Details,59 darin, Leben und Gesundheit von Menschen vor dem generell von einem Brand ausgehenden Gefährlichkeitspotential zu schützen.60 Realisiert sich dieses Gefährlichkeitspotential in dem brandbedingten Tod von Brandbekämpfern, drängt sich eine Zuordnung der Todeserfolge zum Verantwortungsbereich des Brandverursachers geradezu auf.61 Die mit den beiden dargestellten Fallgestaltungen befassten Obergerichte sind allerdings zu umgekehrten Ergebnissen gelangt. Der BGH hat ungeachtet des bewusst durch den Beifahrer eingegangenen Risikos dessen Tod den beiden beteiligten Fahrern im Rahmen von § 222 StGB zu deren jeweiligen Verhaltensweisen zugerechnet.62 Das Ergebnis wird getragen von der Zuweisung der tatsächlichen Konstellation zu der einverständlichen Fremdgefährdung sowie der Verneinung einer rechtfertigenden Wirkung der konkludent durch das Mitfahren erklärten Einwilligung (in das gefährliche Verhalten), weil die Tat – trotz der Einwilligung bei einer am Maß der Rechtsgutsgefährlichkeit (konkrete Todesgefahr) gemesse-
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Näher Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, 1998, S. 162, 362 und pas-
sim. 60 Das gilt nicht allein im Anwendungsbereich von § 306a StGB sondern nach der von mir vertretenen Auffassung auch im Bereich des § 306 StGB, dessen Deliktscharakter sich nicht in dem einer qualifizierten Sachbeschädigung erschöpft; siehe BGH NJW 2001, 765; Radtke, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 4, 2006, § 306 Rn. 8–10; Kreß, JR 2001, 315 einerseits sowie Sinn, Jura 2001, 803, 804; Wolff, JR 2002, 94, 95 andererseits. 61 Insoweit bereits Radtke/Hoffmann, NStZ-RR 2009, 52. 62 BGHSt 53, 55, 60 Rn. 20.
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nen Sittenwidrigkeit (§ 228 StGB)63 – als sittenwidrig zu werten sei.64 Das OLG Stuttgart löst die Zurechnung des Todes der beiden Feuerwehrleute zum straftatbestandmäßigen Verhalten (§ 306d Abs. 1 i.V. m. § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB) des Brandverursachers von der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung her.65 Das Gericht nimmt im Ergebnis eine solche an und stützt sich argumentativ auf die in BGHSt 39, 322 entwickelte Rechtsprechung zur Zurechenbarkeit von sogenannten Retterschäden. Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des „Retters“ liegt nicht vor, wenn der weitere Verursacher oder die weiteren Verursacher ein „einsichtiges“, „vernünftiges“ Motiv für den sich eigenverantwortlich (fahrlässig) Selbstgefährdenden oder (vorsätzlich) Selbstverletzenden begründet haben, sich in die gefährliche Situation zu begeben. Im Sinne einer Gegenausnahme erfolgt eine Zurechnung zum Verhalten des Verursachers der den sich Selbstgefährdenden herausfordernden Situation jedoch nicht, wenn dessen herausgefordertes Eingreifen sich als von „vornherein sinnlos“ oder „offensichtlich unvernünftig“ erweist.66 Das Vorliegen offensichtlicher Unvernunft in Bezug auf den konkreten Löscheinsatz leitet das OLG aus den konkreten Umständen, dem von vornherein sehr hohen Risiko der Brandbekämpfung im brennenden Gebäude, dem Fehlen der Gefährdung von Menschen (außer den Feuerwehrleuten) sowie insbesondere aus der gegen die Feuerwehrdienstvorschriften verstoßenden Durchführung des Einsatzes der später getöteten Einsatzkräfte der Feuerwehr her. Das Novum der Ausführungen des Gerichts liegt darin, diese von der Einsatzleitung bzw. den von ihr mit der Überwachung des Einsatzes des getöteten Atemschutztrupps beauftragten Feuerwehrleuten zu verantwortenden Fehler für die Bewertung der offensichtlichen Unvernunft des als selbstgefährdend eingeschätzten Verhaltens der getöteten Feuerwehrangehörigen heranzuziehen.67 Die Jubilarin hat die Entscheidung des OLG Stuttgart scharf kritisiert.68 Nach ihrer Auffassung kann die Zurechnung des Todes der beiden Feuerwehrleute zum Verhalten des fahrlässigen Brandstifters nicht auf eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung gestützt werden. Zum einen mangele es wegen der erheblichen Fehler des mit der Überwachung des Einsatzes des Atemschutztrupps beauftragten Feuerwehrmannes an einer vollständigen Risikokenntnis bei den beiden getöteten Feuerwehrleuten.69 Zum anderen lasse sich der hinter der Einschränkung 63 Diesen Maßstab hatte der BGH auch bereits in anderen Entscheidungen angelegt, etwa in BGHSt 49, 166, 169; dazu ausführlich Kühl, Festschrift für Schroeder, 2007, S. 521. 64 BGHSt 53, 55, 63 Rn. 29. 65 OLG Stuttgart NJW 2008, 1971. 66 OLG Stuttgart NJW 2008, 1971, 1972 insoweit unter Bezugnahme auf BGHSt 39, 322, 324. 67 Ablehnend Puppe, NStZ 2009, 333. 68 Puppe, NStZ 2009, 333. 69 Puppe, NStZ 2009, 333.
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des Schutzes von Rettern über das Abstellen auf ein „vernünftiges“ Rettungsmotiv stehende Gedanke nicht auf die vorliegende Konstellation übertragen, weil die Ursache für die sich realisierende Lebensgefahr des Atemschutztrupps sich aus der unzureichenden Pflichterfüllung des Überwachungsbeauftragten ergebe.70 Auch andere innerhalb der Lehre von der objektiven Zurechnung diskutierte Aspekte wie die Zurechnung zum fremden Organisationskreis,71 nämlich dem der eingesetzten Feuerwehr insgesamt, oder ein deutlich überwiegendes Mitverschulden des mit der Überwachung des Einsatzes beauftragten Feuerwehrmannes könnten hier den Zurechnungszusammenhang zum Verhalten des Brandstifters nicht aufheben.72 Ungeachtet der beachtlichen Kritik der Jubilarin scheint mir das vom OLG Stuttgart erzielte Ergebnis zutreffend, auch wenn die dafür angeführte Begründung nicht in jeder Hinsicht überzeugen kann.73 Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt des Gerichts, die Zurechenbarkeit des eingetretenen Todeserfolges anhand des Kriteriums der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung in der besonderen Konstellation sog. Retterschäden zu lösen. Denn die beiden getöteten Feuerwehrleute haben sich aus Anlass des von dem fahrlässigen Brandstifter verursachten Brandes in Kenntnis dieses Ereignisses dem daraus resultierenden Gefährlichkeitspotential ausgesetzt. Das entspricht den begrifflichen Anforderungen der Konstellation des Retterschadens.74 Wendet man das allein maßgebliche Kriterium der Eigenverantwortlichkeit des „Retters“ auf die Zurechenbarkeit des Schadens zum Verhalten des den Rettungseinsatz auslösenden Verursachers an, gelangt man dazu, die Zurechnung im Sinne einer konstellationsspezifischen Konkretisierung der Eigenverantwortlichkeit von dem Aspekt einer Rettungspflicht abhängig zu machen.75 Existiert eine Pflicht für den später geschädigten Retter, die letztlich zum Schaden führende Rettungshandlung vorzunehmen, schließt die Pflicht notwendig die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung, sich in Gefahr zu begeben, aus. Fehlt die Pflicht zum Handeln, ist grundsätzlich von Eigenverantwortlichkeit auszugehen. Etwas anderes gilt nur, wenn der nicht pflichtige Retter zu der schädigenden Selbstverletzung motiviert wird, um zugunsten der in § 35 StGB genannten Rechtsgüter tätig zu werden. Dann kann kein an der Pflicht und ihren Grenzen ausgerichtetes Verhalten erwartet werden.76 Anders als vielfach angenommen, kann allerdings – wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt worden ist77 – das Bestehen oder Nichtbestehen einer 70
Puppe, NStZ 2009, 333, 334. Vgl. Roxin, AT 1 (Fn. 2), § 11 Rn. 137. 72 Puppe, NStZ 2009, 333, 334. 73 Siehe bereits Radtke/Hoffmann, NStZ-RR 2009, 52–54. 74 Siehe Radtke/Hoffmann, GA 2007, 201. 75 Näher bereits Radtke/Hoffmann, GA 2007, 201, 208 sowie Radtke, Brandstiftungsdelikte (Fn. 59), S. 300–305. 76 Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 775, 779; Radtke, Brandstiftungsdelikte (Fn. 59), S. 296; Radtke/Hoffmann, GA 2007, 201, 217. 77 Radtke/Hoffmann, GA 2007, 201, 213–215. 71
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Rettungspflicht nicht statusbezogen, sondern nur handlungsbezogen, also abstellend auf die konkrete (später zum Schaden führende) „Rettungshandlung“ beurteilt werden. Selbst einem Angehörigen einer Feuerwehr verlangt das Recht nicht die Aufopferung eigener Rechtgüter zum Zwecke der Erhaltung fremder Rechtsgüter ab.78 Die (handlungsbezogene) Rettungspflicht endet bereits, wenn der Retter zur Rettung fremder Rechtsgüter Eigeninteressen in einem Umfang einsetzen müsste, die dem Wert der bedrohten fremden Güter bei gleicher Schadenswahrscheinlichkeit entsprechen.79 Daran gemessen bestand in der konkreten Brandsituation, soweit den Entscheidungsgründen zu entnehmen, unabhängig von den späteren Überwachungsfehlern keine Pflicht, einen derart gefährlichen Einsatz im Inneren des nicht Wohnzwecken dienenden Gebäudes vorzunehmen. Da sich die beiden getöteten Feuerwehrleute diesem Einsatz in Kenntnis des insoweit bestehenden Risikos unterworfen haben, ist im Ergebnis von einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung auszugehen. Der Umstand, dass sich das Ausmaß des eingegangenen Risikos durch die Mängel in der Überwachung des Einsatztrupps noch weiter erhöht hat, hebt die Eigenverantwortlichkeit nicht auf. Denn bereits die Entscheidung für den Einsatz des Atemschutztrupps auf der Grundlage der tatsächlichen Umstände als solche80 war nach dem Vorgenannten nicht durch eine Rettungspflicht veranlasst. Angesichts dessen war der eingetretene Todeserfolg nicht dem Verantwortungsbereich des fahrlässigen Brandstifters zuzurechnen. Anders stellt sich dagegen die Zuordnung des Todes des Beifahrers einer der beiden an dem Rennen beteiligten Fahrzeuge zum Verantwortungsbereich der beiden Fahrzeugführer dar. Nach dem hier allein für maßgeblich gehaltenen Kriterium der Eigenverantwortlichkeit kann eine eigenverantwortliche Entscheidung des Beifahrers, sich dem Risikopotential der zum Tode führenden Situation, dem Überholvorgang bei einer Geschwindigkeit, die die zulässige um beinahe das Doppelte überschritt, und extrem geringem Seitenabstand der am Vorgang beteiligten Fahrzeuge, auszusetzen, jedenfalls auf der Grundlage der in der Tatsacheninstanz getroffenen Feststellungen nicht angenommen werden. Die im zeitlichen Vorfeld der zum Tode führenden Überholsituation vorgenommenen Verhaltensweisen, an denen sich der später Getötete beteiligt hatte, beschränkten sich auf von den Beteiligten offenbar sog. Beschleunigungstests,81 die zwar wegen der 78 Vgl. Bernsmann, Festschrift für Blau, 1985, S. 23, 38; Radtke/Hoffmann, GA 2007, 201, 214. 79 BGH NStZ 1994, 29; vgl. auch NK-StGB/Wohlers, § 13 Rn. 17; Stree, in: Schönke/Schröder, Vor § 13 Rn. 156. 80 Selbst wenn die Durchführung des konkreten Einsatzes des Atemschutztrupps auf einer entsprechenden Anordnung des Einsatzleiters beruht haben sollte, bestand keine Gehorsamspflicht der beiden eingesetzten Feuerwehrleute, so dass auf diesen Aspekt ein Ausschluss der Eigenverantwortlichkeit nicht gestützt werden konnte; näher Radtke/ Hoffmann, NStZ-RR 2009, 52, 54. 81 Siehe BGHSt 53, 55, 56 Rn. 7–9.
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gefahrenen Geschwindigkeiten gefährlich für das Leben aller Fahrzeuginsassen gewesen sein mögen, aus denen sich aber nicht ergibt, dass die Durchführung der Beschleunigungstests auch Überholmanöver der später von den Fahrern vorgenommenen Art umfassten.82 Die Entscheidung des Rechtsgutsinhabers, seine individuellen Rechtsgüter einem erkannten Risiko auszusetzen, schließt die Zurechnung eines aus dem Risiko resultierenden straftatbestandsmäßigen Erfolges zum dem ebenfalls erfolgsursächlichen Verhalten eines Beteiligten (nicht im technischen Sinne) eben nur dann aus, wenn der Rechtsgutsinhaber das eingegangene Risiko vollständig überblickt.83 Ob sich die Situation phänomenologisch als Selbst- oder Fremdgefährdung darstellt, ist nach dem hier Ausgeführten nicht relevant, weil die rechtliche Beurteilung einheitlich anhand des Kriteriums der Eigenverantwortlichkeit vorzunehmen ist. Fehlt es an einer eigenverantwortlichen Entscheidung des Rechtsgutsinhabers, fällt der eingetretene tatbestandsmäßige Erfolg in die Verantwortung des oder der Beteiligten, die fahrlässig Verursachungsbeiträge geleistet haben. Seine/ihre Strafbarkeit hängt dann von dem Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des jeweiligen Fahrlässigkeitsdelikts ab.84
82 Im Ergebnis ebenso Duttge, NStZ 2009, 690, 692; Puppe, GA 2009, 486, 496; Roxin, JZ 2009, 399, 402. 83 Siehe bereits die Nachw. in Fn. 31. 84 Vgl. zu Sondersituationen des Fehlens von Fahrlässigkeitselementen Radtke, Brandstiftungsdelikte (Fn. 59), S. 299.
Die Zurechnung von einzelnen objektiven Tatbeiträgen gemäß § 25 Abs. 2 StGB Von Rudolf Rengier I. Einführung An Ausführungen zu Problemen der Mittäterschaft herrscht gewiss kein Mangel. Doch stößt man selbst dort auf Lücken. Die Aufmerksamkeit wird hier auf einen Punkt gelenkt, der bisher anscheinend noch gar nicht in einem etwas größeren Zusammenhang dargestellt worden ist. Die klassischen Mittäterschaftsfälle mit Arbeitsteilung und die verbreitete Redeweise von der „tatbestandsbezogenen“ Mittäterschaft haben wohl eine Sichtweise begünstigt, nach der mittäterschaftliches Handeln im Wesentlichen mit der – in die Tat umgesetzten – Verabredung zu einer für jeden Beteiligten strafbaren Begehung desselben Straftatbestandes gleichgesetzt wird. Im Folgenden soll die These beleuchtet und näher begründet werden, dass § 25 Abs. 2 StGB es auch erlaubt, einem Beteiligten die Verwirklichung von solchen objektiven Tatbeiträgen durch einen zweiten Tatgenossen zuzurechnen, die nur für einzelne objektive Tatbestandsmerkmale relevant sind, und zwar unabhängig davon, ob der Genosse denselben Straftatbestand oder einen in ihm enthaltenen erfüllt.1 Dies hat bisher deutlich wohl nur Frister – ohne detaillierte Stellungnahme – bejaht, der diesbezüglich von einer „isolierten“ Mittäterschaft spricht.2 Ob diese Begriffsbildung treffend ist und sich durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Mögen die anschließenden Ausführungen auch vor dem Scharfsinn der Jubilarin Bestand haben, der ich ganz herzlich zu ihrem runden Geburtstag gratuliere und viele weitere Jahre spannender wissenschaftlicher Auseinandersetzungen wünsche. II. Ausgangsfall zu § 252 StGB Fall 1:3 In einem Lokal bringt die F als Alleintäterin die Geldtasche der Bedienung O mit Selbstzueignungsabsicht in ihren Gewahrsam (§ 242 StGB). Als O dies bemerkt, 1 Meinen Mitarbeitern Martin Lotz und Dennis Reschke danke ich für wertvolle Anregungen. 2 Frister, Strafrecht AT4 2009, 25. Kap. Rn. 23. 3 BGH StV 1991, 349. Erörterungen zu diesem oder einem parallelen Fall bei Rengier, Strafrecht BT I12, 2010, § 10 Rn. 19 f.; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT 232, 2009, Rn. 374; Eisele, Strafrecht BT II, 2009, Rn. 396; Dehne-Niemann, JuS 2008,
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bedroht M, der Freund der F, aufgrund einer spontan getroffenen Absprache mit einer ungeladenen Schusswaffe O, um F ihren Besitz zu erhalten.
Festzuhalten ist zunächst, dass F § 242 StGB erfüllt und M und F eine mittäterschaftliche Nötigung begehen. Als Täter des § 252 StGB scheidet M auf jeden Fall deshalb aus, weil er nicht im Besitz des Diebesgutes ist und keinen eigenen Besitz erhalten will. Im Übrigen ist M an der Vortat allenfalls als Gehilfe und nicht als (Mit-)Täter beteiligt; auch von daher kommt M nach der zutreffenden h. M. nicht als Täter des § 252 StGB in Betracht.4 Ob F § 252 StGB erfüllt, ist umstritten. Eigenhändig hat sie nicht gedroht. Wohl aber hat sie mit Hilfe des M als Mittäter mit gegenwärtiger Gefahr für Leben gedroht, um ihren Beutebesitz zu erhalten. Es liegt daher nahe und verdient Zustimmung, das mittäterschaftlich verwirklichte Nötigungselement auch als täterschaftlich zu verantwortende qualifizierte Drohung im Sinne des § 252 StGB zu begreifen und folglich F gemäß § 252 StGB zu bestrafen.5 Kritikern zufolge soll diese Lösung zwar „phantasievoll“6, aber im Lichte des § 25 Abs. 2 StGB unzulässig sein. § 25 Abs. 2 StGB komme als Zurechnungsnorm nicht in Betracht, weil es um § 252 StGB und nicht um § 240 StGB gehe. Die Mittäterschaftsfrage sei für jeden Tatbestand und in Bezug auf jeden Tatbestand gesondert zu beantworten. Da bei M die für seine Täterschaft erforderliche Besitzerhaltungsabsicht fehle, scheide für ihn bezüglich § 252 StGB Mittäterschaft aus; dann könne seine qualifizierte Nötigung auch nicht bei F Teil des § 252 StGB sein.7 Ein gemeinsamer Tatplan dürfe nur angenommen werden, wenn sämtliche Mittäter die deliktsspezifische Absicht verfolgten.8 Diese Einwände überzeugen nicht. Es ist unbestritten und auch von den Kritikern anerkannt,9 dass besondere subjektive Tatbestandsmerkmale wie die Zueignungsabsicht der §§ 242, 249 StGB und die Besitzerhaltungsabsicht des § 252 StGB gegenseitig nicht zugerechnet werden können. Die Aufgabe des Tatplans 589 ff.; Witzigmann, Das „absichtslos-dolose Werkzeug“, 2009, S. 330 ff.; Falllösungen bei Hillenkamp, JuS 2003, 157, 160 f.; Dehne-Niemann/Weber, JA 2009, 868, 869 f. 4 Rengier, BT I (Anm. 3), § 10 Rn. 24 f.; Wessels/Hillenkamp, BT 2 (Anm. 3), Rn. 373a; Eisele, BT II (Anm. 3), Rn. 397; Weigend, GA 2007, 274, 277 f. 5 So auch zumindest im Ergebnis BGH StV 1991, 349; ferner dafür Rengier, BT I (Anm. 3), § 10 Rn. 19 f.; Kindhäuser, NK-StGB3, 2010, § 252 Rn. 25; ders., LPKStGB4, 2010, § 252 Rn. 17; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 252 Rn. 11; Herdegen, LK-StGB11, 2005, § 252 Rn. 18; Kudlich, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 252 Rn. 19. 6 Dehne-Niemann, JuS 2008, 589, 591. 7 Auf dieser Linie Wessels/Hillenkamp, BT 2 (Anm. 3), Rn. 374; Hillenkamp, JuS 2003, 357, 360; Dehne-Niemann, JuS 2008, 589, 591; Dehne-Niemann/Weber, JA 2009, 868, 870. 8 Witzigmann, Werkzeug (Anm. 3), S. 331. 9 Vgl. Wessels/Hillenkamp, BT 2 (Anm. 3), Rn. 328; Dehne-Niemann, JuS 2008, 589.
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liegt darin, den Bereich abzustecken, der durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken gemeinsam verwirklicht und wechselseitig zugerechnet werden kann. Kommt dies wie bei besonderen Täterqualitäten und eben auch Absichtsmerkmalen nicht in Betracht, so ergibt es keinen Sinn, in solchen Merkmalen einen Gegenstand des Tatplans zu erblicken.10 Stimmt man dem zu, so kann im Fall 1 in der bei M fehlenden Absicht nicht ein konstitutives Element und der maßgebliche Grund für die Unanwendbarkeit des § 25 Abs. 2 StGB liegen. In dieser Vorschrift geht es um die gegenseitige Zurechnung von objektiven Tatbeiträgen und insoweit um objektive Tatbestandsmerkmale. Ebenso wenig überzeugt es, einerseits die Argumentation der Kritiker zu billigen und andererseits auszuführen, man müsse sehen, „dass Beiträge anderer Beteiligter dem Haupttäter jedenfalls dann zuzurechnen sind, wenn diese von ihm in die Tatausführung integriert werden“.11 Dem Satz ist zuzustimmen. Nur: Diese „Integration“ kann doch nicht anders als mit Hilfe des § 25 Abs. 2 StGB vonstatten gehen. Im Ergebnis muss also, um F gemäß § 252 StGB zu bestrafen, gar nicht die umstrittene Konstruktion der mittelbaren Täterschaft mit M als absichtslosem dolosem Werkzeug bemüht werden.12 Dieser Weg wäre nur zu diskutieren, wenn F für die Nötigung des M nicht als Mittäterin haften würde. Da aber M und F planmäßig die §§ 240, 25 Abs. 2 StGB erfüllt haben, existiert auch aus der Perspektive des § 252 StGB ein (Teil-)Tatplan, dessen Integration in das Tatgeschehen durch F mit Hilfe des § 25 Abs. 2 StGB möglich ist sowie geschieht und insoweit ihre „volle“ Tatherrschaft über alle objektiven Tatbestandsmerkmale des § 252 StGB begründet. Die Vorzüge der hier vorgeschlagenen Lösung lassen sich anhand der folgenden Abwandlung des klassischen Gänsebucht-Falles13 verdeutlichen: Bauer B und der bösgläubige, indes ohne Selbst- oder Drittzueignungsabsicht handelnde Knecht K tragen die Gänse des Bauern E einzeln in den Stall des B. Wer welche Gans getragen hat, ist nicht feststellbar. – Die Mittäterschaftslösung gelangt zu einer klar begründbaren Strafbarkeit des B gemäß § 242 StGB bezüglich aller Gänse. Wer diese Lösung ablehnt, wird wohl, sofern er die Rechtsfigur des absichtslosen dolosen Werkzeugs befürwortet, zu einer Wahlfeststellung zwischen täterschaftlichem Handeln und Handeln in mittelbarer Täterschaft kommen. Lehnt man jene Rechtsfigur ab oder bildet den Fall weiter so um, dass B irrtümlich von einer Drittzueignungsabsicht des K ausgeht, wird es noch komplizierter. 10 Daher werden diese Merkmale etwa in den Arbeiten von Angerer, Rücktritt im Vorbereitungsstadium, 2004, S. 139 ff. und Fad, Die Abstandnahme des Beteiligten von der Tat im Vorbereitungsstadium, 2005, S. 107 ff. im Rahmen der Ausführungen zum gemeinsamen Tatentschluss nicht erwähnt. 11 Eisele, BT II (Anm. 3), Rn. 396. 12 Wie von Hillenkamp, JuS 2003, 357, 360 f.; Jäger, Strafrecht BT3, 2009, Rn. 309 (bei dem die Möglichkeit mittäterschaftlicher Zurechnung gar nicht ins Blickfeld gerät); ablehnend Dehne-Niemann, JuS 2008, 589, 591 f. 13 Vgl. Rengier, BT I (Anm. 3), § 2 Rn. 77, 82.
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Im Ergebnis ist also festzuhalten: Wenn sich an einem Tatgeschehen ein bösgläubiger A beteiligt, der ein erforderliches Absichtsmerkmal (z. B. der §§ 242, 252 StGB) nicht erfüllt, kann der objektive Tatbeitrag des A (z. B. eine Nötigung) einem anderen Beteiligten B zugerechnet werden, sofern B entsprechend den Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 StGB die (Mit-)Tatherrschaft über diesen Beitrag erlangt und ihn in die Tatausführung (z. B. der §§ 249, 252 StGB) integriert. In solchen Fällen hat die Rechtsfigur des absichtslos handelnden dolosen Werkzeugs keine Bedeutung. Entsprechendes gilt für die Fälle des qualifikationslos handelnden dolosen Werkzeugs, die in vergleichbarer Weise umstritten sind.14 Soweit hier die tätertaugliche Person den Tatbeitrag eines solchen Werkzeugs nach den Grundsätzen des § 25 Abs. 2 StGB mit beherrscht, braucht man die besondere Rechtsfigur ebenfalls nicht. III. Ebene des § 249 StGB Fall 2: Bevor F im Fall 1 Gewahrsam erlangt hat, wird sie von O ertappt. Nun kommt es zu der beschriebenen Absprache. Die Drohung durch M veranlasst O, ihren Widerstand aufzugeben. M gelingt es so, F die Geldtasche zu verschaffen.
Im Fall 2 hat man es im Prinzip mit der klassischen arbeitsteiligen Mittäterschaft im Rahmen des § 249 StGB zu tun. Ohne § 25 Abs. 2 StGB könnte F nur gemäß § 242 StGB und M nach § 240 StGB bestraft werden. Die mittäterschaftliche Abrede vor dem Gewahrsamsbruch ermöglicht es, die Tatbeiträge gegenseitig zuzurechnen, so dass F und M gemeinsam den objektiven Tatbestand des § 249 StGB erfüllen. Da F mit Selbst-, M mit Drittzueignungsabsicht handelt, liegt bei jedem auch die erforderliche Absicht vor. Für das Zurechnungsband sind aber nicht die inneren Absichten konstitutiv; maßgebend ist vielmehr die verabredete gemeinsame Tatausführung. Daher ändert sich an der Strafbarkeit der F überhaupt nichts, wenn M ohne jede Absicht handelt, etwa weil es ihm nur darauf ankommt, O zu ärgern. Würde man demgegenüber im Sinne der obigen kritischen Stimmen,15 sobald die Absicht des M wegfiele und er damit als nach § 249 StGB strafbarer Mittäter nicht mehr in Betracht käme, auch bei F § 249 StGB verneinen, so gelangte man zu sachwidrigen Ergebnissen. Das wird besonders deutlich, wenn man sich einen Anstifter A hinzu denkt, der F und M zu der Tat bestimmt hat, sowie einen Gehilfen G, der M die Pistole besorgt hat. Nach der hier abgelehnten Ansicht könnten A und G, obwohl sie sich an einem Raubgeschehen beteiligt haben, nicht wegen Mitwirkung am Raub bestraft werden.
14 15
Rengier, Strafrecht AT, 2009, § 43 Rn. 14 ff. Oben bei Anm. 7.
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Dencker16 hat das in seiner Kritik klar erkannt und weist die „Schuld“ § 25 Abs. 2 StGB zu. Er spricht von „ganz unsinnigen Ergebnissen“, zu denen man komme, wenn man sich an das Gesetz, d.h. § 25 Abs. 2 StGB halte, und sieht in dieser Vorschrift eine fehlerhafte Regelung. Ob er auch meint, dass die hier vorgeschlagene Interpretation mit dem Wortlaut unvereinbar ist, wird allerdings nicht deutlich. Jedenfalls müsste dem widersprochen werden. § 25 Abs. 2 StGB sagt nicht aus, dass die Vorschrift nur eingreifen kann, wenn zwei Personen tatsächlich als Mittäter strafbar sind. Die Vorschrift steht selbstverständlich unter dem Vorbehalt, dass auch bei jedem (Mit-)Täter die sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt sein müssen. Die (Mit-)Täterschaft entfällt daher insbesondere, wenn ein Beteiligter nicht die erforderliche Täterqualität aufweist oder ohne die zur Tatbestandsverwirklichung notwendige Absicht handelt. Entsprechendes gilt, wenn sich ein unerkannt schuldunfähiger Tatgenosse mittäterschaftlich beteiligt. Der „Strafbarkeitsausfall“ des potentiellen Mittäters ändert nichts an der gemeinschaftlichen Begehungsweise und der Möglichkeit, objektive Tatbeiträge gegenseitig gemäß § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnen und den „übrig bleibenden“ (Mit-)Täter zu bestrafen, wenn bei ihm die weiteren Strafbarkeitsvoraussetzungen vorliegen. Auch wer die Straftat teilweise gemeinschaftlich begeht, begeht sie gemeinschaftlich „mit“ einem anderen und kann als Täter bestraft werden. Ein ergänzendes Beispiel:17 Der Sammler S hat dem Briefmarkenhändler B zwei große Alben mit seltenen Briefmarken geliehen. Nachdem B die Alben absprachewidrig an den gutgläubigen Händler H verkauft hat und dieser die Herausgabe an S verweigert, will sich S die Alben eigenmächtig wiederbeschaffen. Als Komplizen gewinnt er K, dem er vorgaukelt, ihm seien die Alben von H gestohlen worden. S und K dringen in die Wohnung des H ein und finden schnell die Alben, die S trägt, als unerwartet H zurückkehrt. Sie verstecken sich hinter der Haustür. Nach einer kurzen Verständigung mit S versetzt K dem seine Wohnung betretenden H einen heftigen Faustschlag, so dass S und K unerkannt entkommen können. – Da am Hauseingang die Wegnahme noch nicht vollendet war, kommt § 249 StGB in Betracht. Insoweit gibt es aber keinen gemeinsamen Tatentschluss, da K gutgläubig ist und ihm jedenfalls der Vorsatz bezüglich der Rechtswidrigkeit der Zueignung fehlt. S selbst hat nicht Gewalt angewendet, um die Wegnahme zu ermöglichen. Doch hat er den Faustschlag mit K verabredet, so dass ihm dieser gemäß § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet und so in den objektiven Tatbestand des § 249 StGB integriert werden kann. Eine andere Zurechnungsgrundlage kommt nicht in Betracht. Denkt man insoweit an die mittelbare Täterschaft, so ist festzustellen, dass der vorsatzlos handelnde K nicht als Werkzeug der Wegnahme eingesetzt wird; hinsichtlich des Faustschlages handelt er eigenverantwortlich und kann dafür gemäß den §§ 223, 240 StGB bestraft werden.
16
Dencker, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 525, 533. Teil einer Konstanzer Hausarbeit in der Übung für Fortgeschrittene von Eisele/ Brandt im Wintersemester 2004/2005. 17
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IV. Bedeutung der teilweisen Mittäterschaft Die anerkannten Konstellationen der teilweisen Mittäterschaft18 sind dadurch gekennzeichnet, dass die (Mit-)Täter zwar nach verschiedenen Straftatbeständen bestraft werden, diese Tatbestände aber eine Deckung aufweisen, die nach außen aus konkurrenzrechtlichen Gründen nicht in Erscheinung tritt. Typisch ist die Verurteilung des einen Mittäters aus einem Grunddelikt (z. B. § 223, § 212, § 240 oder § 242 StGB) und des anderen aus einer Qualifikation (z. B. § 212, § 211, § 249, § 252, § 255 oder § 340 StGB). Entsprechendes gilt in der privilegierenden Richtung, also Verurteilung des einen gemäß § 216 StGB und des anderen nach § 212 StGB. Die Fälle der teilweisen Mittäterschaft unterscheiden sich keineswegs durchgängig von den hier erörterten Konstellationen. Wenn R einen Raub begeht und bei der Nötigung N und bei dem Diebstahl D jeweils mittäterschaftlich mit R zusammenwirken, werden R gemäß § 249 StGB und N und D als Mittäter des § 240 bzw. § 242 StGB bestraft. Begeht R einen räuberischen Diebstahl und hilft ihm bei der Nötigung N als Mittäter, ist R nach § 252 StGB und N wieder gemäß den §§ 240, 25 Abs. 2 StGB zu bestrafen. Davon unterscheiden sich weder Fall 119 noch Fall 220 in einer grundlegenden Weise. Auch bei der Zurechnung von einzelnen objektiven Tatbeiträgen geht es um „teilweises“ gemeinschaftliches Handeln. So bestätigt der Blick auf akzeptierte Konstellationen der teilweisen Mittäterschaft die Tragfähigkeit unserer Konzeption. V. Weitere Beispiele 1. Zu § 239b StGB Fall 3:21 A forderte unter Beschimpfungen und Drohungen B und C auf, ihm noch am Abend desselben Tages die 16-jährige O gefesselt und geknebelt in seine an einem Ufer gelegene Hütte zu bringen. A regte weiter an, die O unter einem Vorwand zur Mitfahrt zu bewegen und später auf einem Parkplatz mit Klebeband zu fesseln und zu knebeln. Nachdem B und C von A Geld zum Tanken erhalten hatten, führten B und C die Tat plangemäß aus und brachten O in das Innere der Hütte. Danach verließen sie O und riefen A an, der kurz danach bei O eintraf und sie unter konkludenten Todesdrohungen vergewaltigte. A hatte von Anfang an vor, die O sexuell zu missbrauchen und dann freizulassen, während er B und C vorspiegelte, das Opfer Dazu Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 235 f.; Schünemann, LK-StGB12, 2007, § 25 Rn. 169; Joecks, MünchKomm-StGB, 2003, § 25 Rn. 164; Kühl, Strafrecht AT6, 2008, § 20 Rn. 102; Rengier, AT (Anm. 14), § 44 Rn. 28 f. 19 Oben II. 20 Oben III. 21 Der Fall entspricht im Wesentlichen BGH NStZ 2001, 247; stärker gewichtet sind lediglich die Tatbeiträge des A, um die hier interessierenden Fragen rund um § 25 Abs. 2 StGB deutlicher hervorheben zu können (zum originalen Sachverhalt und zu dessen Mittäterschaftsfrage Rengier, JuS 2010, 281, 283 f.). 18
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solle verschleppt und im Ausland an einen Harem verkauft werden, wofür man 250.000 A erhalte.
Im Fall 3 scheitern bei B und C die §§ 234, 25 Abs. 2 StGB an der Aussetzungsabsicht, und bezüglich der §§ 239b Abs. 1 1. Var., 25 Abs. 2 StGB fehlt die qualifizierte Nötigungsabsicht. Doch erfüllen sie § 239 Abs. 1 in Tateinheit mit den §§ 239 Abs. 3 Nr. 1, 22 StGB. Was A betrifft, so kann man ihn nicht nur auf dem Boden der subjektiven Teilnahmelehre des BGH, sondern angesichts seiner dominanten Planungsrolle auch nach der im Schrifttum herrschenden gemäßigten Tatherrschaftslehre als Mittäter des § 239 Abs. 1 StGB – mangels Vorsatzes nicht der §§ 239 Abs. 3 Nr. 1, 22 StGB – ansehen.22 Der BGH bestraft A aber nicht nur gemäß den §§ 239 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB, sondern hält ihn des weiteren der Geiselnahme nach § 239b Abs. 1 2. Var. StGB für schuldig, da er „die durch die ihm mittäterschaftlich zuzurechnende Entführung geschaffene Lage des Opfers . . . zu einer mittels konkludenter Todesdrohung begangenen Nötigung zu sexuellen Handlungen ausnutzte“.23 Das stimmt mit dem hier vertretenen Ansatz überein. Der Täter nutzt eine „von ihm“ geschaffene Lage auch dann aus, wenn ihm die durch einen anderen geschaffene Lage nach den Regeln der Mittäterschaft zuzurechnen ist.24 Im Übrigen: Sollte A schon von Anfang an vorgehabt haben, O mittels konkludenter Todesdrohung zu nötigen, so hätte er den Tatbestand der Geiselnahme – und zwar § 239b Abs. 1 1. Var. StGB – bereits mit dem ihm zurechenbaren Verbringen der O in die Hütte erfüllt, da es diesbezüglich nicht darauf ankommt, ob B und C die qualifizierte Nötigungsabsicht aufweisen. 2. Zu den §§ 253, 255 StGB Fall 4:25 A hat zusammen mit B eine Techno-Party veranstaltet und den nicht nachweisbaren Verdacht, dass B 20.000 A gemeinsame Einnahmen unterschlagen hat. A entwirft einen Plan und beauftragt C und D, bei B eine Forderung entsprechend seinen Vorgaben gewaltsam einzutreiben. Dabei erklärt A den beiden, er sei „beschissen“ worden. Es kann erstens nicht mehr geklärt werden, ob C und D dies geglaubt haben, und zweitens, ob A angenommen hat, er werde durchschaut. C und D gelingt es, B mit Gewalt zur Übergabe von 10.000 A zu zwingen.
Es soll angenommen werden, dass A gegen B keinen Zahlungsanspruch hat und A, C und D als Mittäter des § 255 StGB zu bestrafen wären, wenn alle den 22 Zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme siehe, der gemäßigten Tatherrschaftslehre folgend, Rengier, AT (Anm. 14), § 41 Rn. 3 ff., 18 ff. Für Autoren, die wie Puppe (Strafrecht AT im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 2, 2005, S. 98, 107 ff.; dies., NStZ 1991, 571, 572) bei Handlungen im Vorbereitungsstadium eine mittäterschaftliche Zurechnung ausschließen, stellen sich die folgenden Fragen zu § 239b StGB nicht. 23 BGH NStZ 2001, 247, 248. 24 Eser (Anm. 5), § 239a Rn. 21; Renzikowski, MünchKomm-StGB, 2003, § 239a Rn. 65; Träger/Schluckebier, LK-StGB11, 2001, § 239a Rn. 19. 25 Nach BGH JR 1999, 336 mit Anm. Graul.
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Vorsatz gehabt hätten, A „zu Unrecht“ zu bereichern. Nach dem Sachverhalt hat nur A diesen Vorsatz, während C und D möglicherweise an die Existenz eines Anspruchs geglaubt haben und von daher ihr Vorsatz bezüglich der Rechtswidrigkeit der Bereicherung nicht festgestellt werden kann. Deshalb sind bei C und D die §§ 255, 25 Abs. 2 StGB zu verneinen. Bei A steht dagegen fest, dass er B schädigen und sich zu Unrecht bereichern will. Doch hat er selbst nicht die Gewalt angewendet, die zur Übergabe der 10.000 A geführt hat. Nach der hier vertretenen Ansicht kann ihm allerdings die Gewaltanwendung durch C und D (§§ 240, 25 Abs. 2 StGB) nach den Mittäterschaftsregeln des § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden, so dass er gemäß § 255 StGB strafbar ist.26 Lehnt man diese Lösung ab, so bleibt, um A gemäß § 255 StGB bestrafen zu können, allein der Weg über die mittelbare Täterschaft. Der wäre unproblematisch, wenn C und D als vorsatzlos handelnde Werkzeuge benutzt würden. Genau dies steht aber nicht fest. 3. Zurechnung von Gehilfenbeiträgen im Rahmen der §§ 242, 243, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB Fall 5:27 Die folgende Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein oder mehrere (Mit-)Täter einen Diebstahl planen und im Rahmen der Tatausführung einen Gehilfen einsetzen, dessen einzige Aufgabe etwa darin liegt, eine Tür aufzubrechen bzw. mit einem Nachschlüssel zu öffnen oder eine Alarmanlage auszuschalten.
Es wäre ein merkwürdiges Ergebnis, hier die den Diebstahl durchführenden Täter nur gemäß § 242 StGB mit der Begründung zu bestrafen, die Verwirklichung des Regelbeispiels bzw. im Falle des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB der Qualifikation könne ihnen nicht zugerechnet werden, da mit dem Gehilfen keine Vereinbarung getroffen worden sei, einen mittäterschaftlichen Diebstahl zu begehen. Entscheidend kann nur sein, dass die geleisteten Tatbeiträge den Diebstahlstätern entsprechend dem vereinbarten (Teil-)Tatplan nach den Grundsätzen des § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden können.28 Der Fall zeigt, dass es für die Zurechnung von Tatbeiträgen eines Gehilfen noch nicht einmal darauf ankommt, ob der Tatbeitrag als solches (z. B. Verwendung eines Nachschlüssels) strafrechtliche Relevanz hat. VI. Mittäterschaft mit einem schuldlos Handelnden Mittäterschaft wird auch bei Schuldlosigkeit eines Beteiligten für möglich gehalten, z. B. wenn ein Komplize unter 14 Jahre alt ist (§ 19 StGB), im Zustand 26 27 28
So auch Graul, JR 1999, 338 f. Im Ansatz bei Weber, Festschrift für Lenckner, 1998, S. 435, 453. In diesem Sinne auch Weber (Anm. 27), S. 435, 453.
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der Schuldunfähigkeit handelt (§ 20 StGB) oder einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterliegt (§ 17 StGB). Zur Begründung wird § 29 StGB herangezogen: Da Täterschaft und Teilnahme Erscheinungsformen des Unrechts seien, stehe die Schuldlosigkeit eines Beteiligten der Möglichkeit von Mittäterschaft nicht im Wege.29 Der Ansatz verdient fraglos Zustimmung. Auch wenn bei der Mitwirkung eines Schuldlosen vielfach eine Anstiftung oder mittelbare Täterschaft in Betracht kommt, hat der Weg über § 25 Abs. 2 StGB eine eigenständige Bedeutung, wenn die Initiative von dem ohne Schuld handelnden Täter ausgeht oder sein Komplize von dem Zustand nichts weiß. Zwei Fragen stellen sich. Die erste betrifft § 29 StGB. Zweifel bestehen, ob wirklich diese Norm und nicht § 25 Abs. 2 StGB die zentrale Vorschrift für die Mittäterschaftsfälle mit Schuldlosen darstellt. § 29 StGB bestätigt den Grundsatz der limitierten Akzessorietät, der für die §§ 26, 27 StGB von zentraler Bedeutung ist, bei der Mittäterschaft aber keine Rolle spielt. Bei dieser geht es um die gegenseitige Zurechnung von arbeitsteilig verwirklichten objektiven Tatbeiträgen und Tatbestandsmerkmalen. Deshalb ist im vorliegenden Zusammenhang die Heranziehung des § 29 StGB zwar unschädlich, aber ungenau, weil § 25 Abs. 2 StGB das maßgebliche Zurechnungsprinzip normiert. Das wird deutlicher, wenn man an die Stelle des schuldlos Handelnden einen gerechtfertigten (Mit-)Täter setzt. Entsprechende Fälle lassen sich konstruieren. Beispiel: A hat die Tochter T des R entführt, um ein Lösegeld zu erpressen, und bewacht sie scharf. R gelingt es mit Hilfe des S, das Versteck ausfindig zu machen. S entwirft einen Befreiungsplan, der vorsieht, dass R auf A schießt, während S am Tatort ein Ablenkungsmanöver startet. Das Vorhaben gelingt. Dem S war die Rettung der T völlig gleichgültig; ihm kam es nur darauf an, den A zu schädigen.
Es soll angenommen werden, dass bei R alle Voraussetzungen für eine Rechtfertigung der Tat (z. B. § 212 StGB) gemäß § 32 StGB vorliegen. Dem S sind die Tatbeiträge des R nach § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnen. Da er ohne Verteidigungswillen handelt, kann er als (Mit-)Täter des § 212 StGB bestraft werden. Darüber hinaus lässt sich auch eine mittelbare Täterschaft des S mit R als gerechtfertigt handelndem Werkzeug konstruieren. Der letzte Aspekt führt zu der zweiten Frage, nämlich zum Verhältnis von Mittäterschaft und mittelbarer Täterschaft. Im Schrifttum gehen die meisten Formulierungen in die Richtung, der mittelbaren Täterschaft und ihrer Prüfung den Vorrang einzuräumen.30 Neuerdings wird aber auch die Auffangfunktion der mittelbaren Täterschaft hervorgehoben und von daher die Mittäterschaft für vorran29 Roxin, AT II (Anm. 18), § 25 Rn. 237; Schünemann (Anm. 18), § 25 Rn. 171; Joecks (Anm. 18), § 25 Rn. 165; Krey, Strafrecht AT 23, 2008, Rn. 202; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 29 Rn. 1. 30 Vgl. Roxin, Schünemann, Joecks, Lackner/Kühl (alle wie Anm. 29).
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gig gehalten.31 Die Erörterungen zu den obigen Fällen32 haben deutlich gemacht, dass dort die Frage der mittäterschaftlichen Zurechnung an erster Stelle steht. Jedenfalls insoweit wird der Auffangcharakter des § 25 Abs. 1 2. Var. StGB bestätigt. Im Übrigen braucht dieser Punkt hier nicht weiter verfolgt zu werden. VII. Fazit Die vorliegenden Ausführungen haben gezeigt, dass einem Beteiligten Tatbeiträge eines Komplizen auch bei einem auf den Tatbeitrag beschränkten mittäterschaftlichen Zusammenwirken gemäß § 25 Abs. 2 StGB unabhängig davon zugerechnet werden können, ob der Komplize im Übrigen denselben Straftatbestand, einen in diesem enthaltenen Tatbestand oder einen sonstigen Tatbestand erfüllt. So kann die Zurechnungsregel des § 25 Abs. 2 StGB auch in Fällen eingreifen, in denen der Komplize vorsatzlos33, absichtslos, schuldlos oder gerechtfertigt handelt. Unsere Erkenntnisse bestätigen also die Gedanken Fristers zur von ihm so genannten „isolierten“ Mittäterschaft. Er schreibt:34 „Wer mit einem anderen zusammen handelt, muss sich dessen Tatbeiträge auch dann zurechnen lassen, wenn in der Person des anderen bestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen nicht verwirklicht sind und dieser deshalb im Ergebnis keine oder eine andere Straftat begangen hat. . . . Der Sache nach besagt die Regelung des § 25 Abs. 2 StGB, dass derjenige, der einen Straftatbestand durch eine zusammen mit einem anderen begangene Handlung verwirklicht, wie ein Täter zu bestrafen ist.“
Auch die Rechtsprechung liegt auf dieser Linie, wie vor allem die zu Fall 135 und Fall 336 ergangenen Urteile sowie eine Zusammenfassung zeigen, in welcher der Große Senat des BGH den Inhalt des § 25 Abs. 2 StGB so umschreibt:37 „Nach dem in § 25 Abs. 2 StGB verankerten Grundgedanken der mittäterschaftlichen Verantwortung ist jeder als Täter zu bestrafen, der aufgrund eines gemeinschaftlichen Tatentschlusses einen Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und denjenigen des anderen als Ergänzung seines Tatanteils will . . . Daher wird jeder vom gemeinsamen Tatplan umfasste Tatbeitrag eines Mittäters den übrigen als eigener zugerechnet . . . Dies gilt allgemein, aber auch für qualifikationsbegründende tatbezogene Merkmale . . .“.
31 Krey/Nuys, Festschrift für Amelung, 2009, S. 203, 206 ff.; Krey, AT 2 (Anm. 29), Rn. 202. 32 Oben II., III., V. 33 Siehe insoweit auch die von Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder (Anm. 5), § 25 Rn. 89 gebildeten Beispiele mit einem Tatbestandsirrtum bei einem Beteiligten. 34 Frister, AT (Anm. 2), 25. Kap. Rn. 23. 35 Oben II. 36 Oben V. 1. 37 BGHSt 48, 189, 192.
Bemerkungen zum Versuch der Beteiligung Von Klaus Rogall I. § 30 StGB, der den „Versuch der Beteiligung“1 unter Strafe stellt, gehört zu den sog. „neuralgischen Punkten“, die v. Weber2 und Dreher3 vor nun schon geraumer Zeit im Strafgesetzbuch ausgemacht haben.4 Dreher ist es auch gewesen, der § 30 StGB als „enfant terrible“ unter den Vorschriften des Allgemeinen Teils bezeichnet und festgestellt hat, der Paragraph werde nicht nur wegen seiner dogmatischen Schwierigkeiten, sondern vor allem auch schon in seiner Grundkonzeption „nicht allseitig geliebt“.5 Tatsächlich liegt § 30 StGB an einer Nahtstelle zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Teil unseres StGB, was ihm – ähnlich wie im Falle des § 111 StGB – auch die Bezeichnung als „Paragraph mit dem Januskopf“ einbringen könnte.6 Auch die Rechtsprechung klagt darüber, dass sich die Norm „in den überkommenen Bestand des deutschen Strafrechts nicht zwanglos und reibungslos einfügt, sondern daß Unstimmigkeiten entstehen, die oft nur der Tatrichter durch eine verständnisvolle Handhabung ausgleichen kann.“7 Die Verfassungsmäßigkeit des § 30 StGB als Regelung von „Vorstufen der Beteiligung“8 ist immer wieder in Zweifel gezogen worden.9 Jakobs10 hat sie be1 Die Bezeichnung als „Beteiligungsversuch“ ist in der Sache nicht korrekt, denn der Versuch kann nach § 22 StGB nur auf die zu begehende Tat selbst und nicht auf die Beteiligung an ihr bezogen werden, vgl. dazu Bloy, JR 1992, 493 f.; ders., JZ 1999, 156 (157), jeweils m.w. N.; anders SK-Hoyer, 35. Lfg. (2001), § 30 Rn. 2. 2 JZ 1955, 588. 3 GA 1954, 11. 4 Mit seinen Äußerungen bezog sich Dreher auf die seinerzeit geltende Fassung des § 49a StGB (a. F.), doch gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Dreher seine Meinung mit Rücksicht auf die heutige Fassung des § 30 StGB ändern würde. 5 NdSchr. Bd. 2 (1958), S. 209 ff., 210. 6 In Beziehung auf § 111 StGB verwenden diese Bezeichnung Dreher, FS Gallas, 1973, S. 307 ff. und (zweifelnd) Paeffgen, FS Hanack, 1999, S. 591 ff. 7 BGHSt 1, 131 (135). 8 Vgl. dazu Letzgus, Die Vorstufen der Beteiligung, 1972. 9 Vgl. Kohlrausch/Lange, StGB43, 1961, § 49a Anm. III; Fieber, Die Verbrechensverabredung, 2001, S. 185 ff. (187) – zur Verbrechensverabredung; NK3-Zaczyk, 2010, § 30 Rn. 34 – zum initiativen Sich-Bereiterklären; gegen diese Bedenken etwa LK12Schünemann, 2007, § 30 Rn. 4, 61; Roxin, AT/2, 2003, 28/45; Lagodny, Strafrecht vor
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kanntlich an den Anfang seiner Überlegungen zum „Feindstrafrecht“ gestellt.11 Seitdem gibt es kaum eine Veröffentlichung zum Terrorismusstrafrecht, in der nicht auch auf § 30 StGB als Ausdrucksform des Präventionsstrafrechts verwiesen würde.12 Soweit das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nicht ganz klar ausgesprochen wird, betrachtet man die Norm doch als „polizeirechtlichen Fremdkörper“13 im Strafgesetzbuch, der kriminalpolitisch bedenklich sei.14 Es entspricht gängiger Auffassung, dass § 30 StGB aus diesem Grunde einschränkender Auslegung bedarf.15 Die praktische Bedeutung des § 30 StGB wird allgemein als eher gering eingeschätzt.16 Dass aber alte Streitfragen, die man für erledigt hielt,17 unerwartet an die Oberfläche treten und ihre Aktualität unter Beweis stellen können, zeigt ein neueres Urteil des 2. Strafsenats des BGH vom 4. Februar 2009 (BGHSt 53, 174 ff.).18 Der BGH hat hier im Anschluss an seine frühere Rechtsprechung19 bestätigt, dass es für die Einordnung der gemäß § 30 StGB beabsichtigten Tat als Verbrechen20 auch bei Vorliegen besonderer persönlicher Merkmale (i. S. d. § 28 Abs. 2 StGB) nicht auf die Person des Anstifters, sondern auf die des Anzustifden Schranken der Grundrechte, 1996, S. 231 ff.; Thalheimer, Die Vorfeldstrafbarkeit nach §§ 30, 31 StGB, 2008, S. 237. 10 ZStW 97 (1985), 751 (756 f.). 11 Weiterführend Jakobs, in: Eser/Hassemer/Burkhardt, Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47 ff. (51); ders., ZStW 117 (2005), 839 (840); ders., HRRS 2004, 88 (94); ders., HRRS 2006, 289 (295). 12 Vgl. dazu statt aller Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (96 f., 117, 119 f.); Gierhake, ZIS 2008, 397; Deckers/Heusel, ZRP 2008, 169 (170); Bader, NJW 2009, 2853; ausführlich zur Legitimität von Vorfelddelikten Sieber, NStZ 2009, 353 (357 ff.); s. auch Barisch, Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch § 129b StGB, 2009, S. 72, 94, 142. Im „Handbuch“ von Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, findet § 30 StGB jedoch, soweit ersichtlich, keine Erwähnung. Zur Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen in Spanien näher Cano Paños, Die strafrechtliche Behandlung des Terrorismus im spanischen Strafgesetzbuch von 1995, 2007, S. 63 ff. 13 NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 1, 4 f.; Kohlrausch/Lange (Fn. 9), § 49a Anm. II, III. Gegen die strafrechtliche Erfassung von Vorbereitungshandlungen wurde auch schon früher der Vorwurf polizeirechtlichen Denkens erhoben, so z. B. von Berner, Zur Lehre von der Teilnahme am Verbrechen, 1847, S. 275; v. Stemann, GS 28 (1876), 267 (277). 14 Vgl. Lange, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 212 f.; Welzel, Deutsches Strafrecht11, 1969, S. 125; Köhler, AT, 1997, S. 545; Kühl, AT6, 2008, 20/243. 15 Siehe dazu Schönke/Schröder-Cramer/Heine, StGB27, 2006, § 30 Rn. 1; SSWStGB/Murmann, 2009, § 30 Rn. 1; MüKo-Joecks, Band I, 2003, § 30 Rn. 3; Fischer, StGB56, 2009, § 30 Rn. 2a; Schröder, JuS 1967, 289 (290). 16 Dessecker, JA 2005, 549 (550). 17 Und zwar wegen der nicht mehr nennenswerten Zahl von Tatbeständen, bei denen besondere persönliche Merkmale über die Einordnung als Vergehen oder Verbrechen entscheiden, vgl. dazu nur Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 11; LKSchünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 37; Geppert, Jura 1997, 546 (549). 18 Kritisch dazu Dehne-Niemann, Jura 2009, 695 ff.; v. Heintschel-Heinegg, JA 2009, 547 ff. 19 BGHSt 6, 308 ff.
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tenden ankomme. Der Täter des § 30 StGB kann demnach auch dann bestraft werden, wenn die geplante Tat für ihn, falls er selbst handelte, nur Vergehenscharakter hätte. Dieser Umstand soll ihm aber bei der Strafzumessung zugute kommen.21 Der BGH hat damit eine Frage entschieden, die zu den umstrittensten und meistdiskutierten Problemen innerhalb des § 30 StGB gehört,22 aber – wie man jetzt sieht – von einer Klärung immer noch weit entfernt ist. Seine Ursache findet dies darin, dass über Strafgrund, Zweck und Systematik der Vorschrift bisher noch kein Einvernehmen hergestellt werden konnte. Das alles mag Anlass genug sein, einige der Grundsatzfragen, die § 30 StGB aufwirft und die durch BGHSt 53, 174 wieder in den Vordergrund getreten sind, aufzugreifen. Dies geschieht in einem Beitrag, der Ingeborg Puppe verehrungsvoll und mit den herzlichsten Glückwünschen gewidmet ist. II. § 30 StGB ist bekanntlich eine über mehrere Stufen zustande gebrachte Weiterentwicklung des sog. Duchesne-Paragraphen (§ 49a StGB a. F.). Der Gesetzgeber des RStGB, der diese Vorschrift mit Gesetz vom 26. Februar 187623 eingeführt hat, nahm damit Abstand von der schon im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund getroffenen Entscheidung, strafwürdig erscheinende Betätigungen im Vorfeld des Versuchs grundsätzlich24 straffrei zu lassen. Anlass hierfür war ihm die Affäre Duchesne. Der belgische Kesselschmied Duchesne-Poncelet aus Seraing bei Lüttich hatte sich im Jahre 1873 während des sog. Kulturkampfes gegenüber dem Erzbischof von Paris, Joseph Hippolyte Guibert25 in drei Briefen erboten,26 den deutschen Reichskanzler Bismarck für ein Entgelt von 20 Die Entscheidung des BGH betrifft konkret einen Fall der Bereiterklärung zur Anstiftung zu einem Verbrechen. 21 BGHSt 53, 178. 22 Vgl. dazu schon Maurach, JZ 1961, 137 (140); LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 34 ff., 36; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 25 ff.; LPK4-Kindhäuser, 2010, § 30 Rn. 6 ff. 23 Gesetz, betreffend die Abänderung von Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 und die Ergänzungen desselben, RGBl. I S. 25. 24 Im Besonderen Teil des StGB, insbesondere im Staatsschutzstrafrecht, sowie im Nebenstrafrecht waren allerdings einzelne Vorbereitungshandlungen zu bestimmten Straftaten unter Strafe gestellt. 25 Nicht: Gegenüber dem Jesuitenprovinzial von Belgien und schon gar nicht gegenüber dem Pariser Erzbischof Denis Auguste Affre. Dieser war nämlich bereits 1848 verstorben. 26 Einer dieser Briefe hatte in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut: „Wir haben einen Elenden in Preußen, der, nachdem er unser schönes Frankreich in den Abgrund gestürzt, sich jetzt nicht scheut, die Verfassung der christlichen Familie vernichten zu wollen. Sein Toben gegen die katholische Kirche kennt keine Grenzen mehr, und ich glaube, es ist Zeit, dieser Wut einen Zügel anzulegen. Ich bin bereit, der Arm zu sein, der dieses Ungeheuer erschlägt, wenn Sie glauben, daß Gott mir verzeihen wird,
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60.000 Franken zu ermorden.27 Nach Bekanntwerden dieser zunächst geheim gehaltenen Briefe kam es zu einem Notenwechsel zwischen der belgischen und der deutschen Regierung, wobei von Seiten Belgiens darauf hingewiesen wurde, dass ein strafrechtliches Einschreiten gegen Duchesne auf Grund der aktuellen Gesetzeslage nicht möglich sei. Die deutsche Regierung gab Belgien daraufhin eine Ergänzung der dortigen Strafgesetzgebung anheim. Belgien kam diesem Verlangen mit Gesetz vom 7. Juli 187528 nach. Da aber auch in Deutschland strafrechtliche Bestimmungen gegen kriminelle Bereitschaftserklärungen fehlten und die deutsche Regierung aus Gründen diplomatischer Parität ebenfalls eine Ergänzung des Gesetzes hatte zusagen müssen, kam es am 23. November 1875 zur Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens,29 an dessen Ende die Einfügung des § 49a in das RStGB stand.30 Es lohnt sich, vor der Skizzierung der weiteren Entwicklung auf die Rechtslage einzugehen, die in Deutschland vor dem Inkrafttreten des RStGB bestand. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannten sich Rechtslehre und Gesetzgebung zur Strafbarkeit ergebnisloser Teilnahmehandlungen.31 Ideologische Grundlage war dabei Feuerbachs Lehre von der intellektuellen Urheberschaft und vom Versuch.32 In diesem Verständnis erschien die Einwirkung auf einen anderen zur Verbrechensbegehung bereits als (entfernter) Versuch der Tat selbst (conatus remotus).33 Konsequenterweise war dafür die Versuchsstrafe verwirkt. Dieses die Tage dieses Elenden abgekürzt zu haben. Merken Sie wohl, daß, wenn Sie einwilligen, mir diese Summe (60.000 Franken) zu zahlen, dieses Ungeheuer noch vor Ablauf des Jahres 1873 seine fluchwürdige Laufbahn beschlossen haben wird“ (vgl. Klein, Der Kanzler. Briefe, Berichte, Anekdoten um Bismarck, 1915, S. 293, zitiert nach Busch, Die Strafbarkeit der erfolglosen Teilnahme und die Geschichte des § 49a StGB, 1964, S. 48 Fn. 2). 27 Zur Entstehungsgeschichte des § 49a StGB näher Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 47 ff.; Witte, Erörterungen über den § 49a des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich, 1886, S. 9 ff.; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 – Entstehungsgeschichte. 28 „Loi contenant des dispositions pénales contre les offres ou propositions de commettre d’actions de crimes“. Der Wortlaut des Gesetzes findet sich in den Sten. Berichten über die Verh. des Deutschen Reichstages, 2. Leg.-Periode, III. Session 1875/76, Bd. III Nr. 54, S. 187 f. sowie bei Witte, Erörterungen (Fn. 27), S. 11. 29 Die als delictum sui generis bezeichnete Entwurfsvorschrift hatte in ihren ersten beiden Absätzen folgenden Wortlaut: „Wer es unternimmt, einen anderen zur Begehung eines Verbrechens oder zur Teilnahme an einem Verbrechen zu verleiten, wird, soweit nicht das Gesetz eine andere Strafe androht, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten oder mit Geldstrafe von einhundert bis eintausend Mark bestraft.“ (Absatz 1). „Gleiche Strafe trifft Denjenigen, welcher einem anderen gegenüber zur Begehung eines Verbrechens oder zur Teilnahme an einem Verbrechen sich erbietet, sowie Denjenigen, welcher ein solches Erbieten annimmt.“ (Absatz 2). Vgl. dazu näher die Sten. Berichte (Fn. 28), S. 160, 181 ff. 30 Ausführlich dazu Witte, Erörterungen (Fn. 27), S. 9 ff. 31 Näher dazu Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 2 ff. 32 Feuerbach, Lehrbuch des Gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts14 1847 (hg. v. Mittermaier), §§ 43 ff.
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Konzept machte sich die Partikulargesetzgebung durch Aufstellung von Vorschriften im Allgemeinen Teil bei Versuch und Teilnahme zu eigen.34 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich aber die Beurteilung, und zwar vornehmlich aus zwei Gründen:35 Zum einen führte die Definition des Versuchsbeginns im französischen Recht („Anfang der Ausführung“; Art. 2 C.P.) zu der Erkenntnis, dass Akte der Verbrechensvorbereitung noch keinen Versuch darstellen. Zum anderen setzte sich die Überzeugung durch, dass die Strafbarkeit der Teilnahme von der Strafbarkeit der Haupttat abhängig ist (Akzessorietät der Teilnahme).36 In Übereinstimmung damit sahen die meisten Partikularrechte auch keine Strafbarkeit ergebnisloser Teilnahmebemühungen mehr vor. Eine Ausnahme bildete freilich Art. 56 BayStGB von 1861,37 bei dem es sich offenbar um die Blaupause für den § 49a StGB von 1876 handelt. Die Motive zu § 49a StGB38 weisen darauf hin, dass eine Anzahl von Rechtslehrern und Partikulargesetzgebungen erfolglose Teilnahmebemühungen für strafbar erklärten. Sie konnten ferner feststellen, dass auch im Bundesrecht vereinzelte Bestimmungen dieser Art zum Schutz gewisser staatlicher und militärischer Interessen existierten. Die Interessen der Gesamtheit und das Interesse der Rechtssicherheit des Einzelnen seien dagegen nicht hinreichend geschützt.39 Es liege auf der Hand, dass die Ausführung von Verbrechen erschwert und in Folge 33 Die abgeschlossene Einwirkung auf den präsumtiven Täter war folglich conatus proximus, die noch nicht abgeschlossene war conatus remotus, vgl. Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 4 m.w. N. 34 Beispielhaft Art. 64 Abs. 2 SächsStGB von 1855: „Hat die Anstiftung keinen Erfolg gehabt, so trifft den Anstifter die Strafe des nicht beendigten Versuchs desjenigen Verbrechens, zu dem er anstiften wollte.“ Zur Regelung der Verbrechensverabredung im SächsStGB näher Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 28. 35 Vgl. dazu Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 29 ff. 36 Witte, Erörterungen (Fn. 27), S. 4 f. erblickt den Hauptgrund für den Paradigmenwechsel in der Übernahme der französischen Auffassung vom Versuchsbeginn, während Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 30 den Akzent auf die Erkenntnis der Akzessorietät der Teilnahme legt. 37 „Wer einen anderen durch Versprechen oder Geben eines Lohnes oder Geschenkes zur Verübung eines Verbrechens oder Vergehens gedungen hat, soll selbst dann, wenn der Gedungene sich keines strafbaren Versuchs schuldig gemacht hat, mit Gefängnis nicht unter 6 Monaten, falls die That, zu welcher er den anderen gedungen hat, ein Verbrechen ist und mit Gefängnis bis zu einem Jahre, falls dieselbe ein Vergehen ist, bestraft werden, es sei denn, daß er die Ausführung selbst verhindert oder die Nichtausführung gebilligt hat . . . Das Gleiche gilt von demjenigen, der, um einen Anderen zur Verübung eines Verbrechens oder Vergehens zu bestimmen, Gewalt angewendet oder mit einem Angriffe auf Leib oder Leben oder mit Brandstiftung gedroht hat.“ 38 Verh. des Reichstages (Fn. 28), S. 179 ff. 39 Der wahre Grund für die Novelle wird deutlich, wenn man folgenden Text aus den Motiven (Fn. 28) reflektiert: „Und nicht minder gross ist der weitere Missstand, dass es nach dem Strafgesetzbuche erlaubt ist, sich als Meuchelmörder für Geld successive mehreren Unternehmern anzubieten, bis man Denjenigen findet, welcher auf das Anerbieten eingeht.“ Vgl. Verh. des Reichstages (Fn. 28), S. 180 f.
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dessen wahrscheinlich minder häufig werde, wenn schon das Unternehmen, Beteiligte für die Ausführung eines Verbrechen zu gewinnen, vom Gesetz für strafbar erklärt werde. „Wenn es“ – so die Motive weiter40 – „zu den Aufgaben der Strafgesetzgebung gehört, die Sicherheit der Staatsangehörigen, soweit es durch Strafen thunlich ist, zu verbürgen, so erscheint es geboten, den Gefahren entgegenzutreten, welche dem Einzelnen für seine Person und sein Eigenthum die Straflosigkeit der misslungenen Anstiftung und des Erbietens zur Begehung von Verbrechen bereitet.“ Im Reichstag war die als „Gelegenheitsgesetz“ kritisierte Novelle41 naturgemäß äußerst umstritten und erfuhr bei den Beratungen mehrfache Änderungen.42 So wurde u. a. die Bezeichnung des Bestimmungsmittels der versuchten Anstiftung modifiziert.43 Am Ende stand eine Vorschrift mit eigener Strafdrohung, die in ihrem Absatz 1 als Aufforderungstatbestand ausgestaltet war, das mündliche Auffordern oder Erbieten etc. aber nur unter der zusätzlichen Voraussetzung der Vorteilsgewährung unter Strafe stellte (Absatz 3). Insgesamt war das ein Abschied vom Dogma der Akzessorietät, dessen konsequente Durchführung aber wohl eine Positionierung der neuen Vorschrift im Besonderen Teil erfordert hätte.44 Es überrascht deshalb auch nicht, dass die Meinungen über das Gesetz geteilt blieben.45 Streitig blieb vor allem, ob § 49a StGB ein eigenständiges Rechtsgut schützte46 oder ob als Schutzobjekt die Rechtsgüter anzusehen seien, gegen die sich die geplante Handlung richten sollte.47 In systematischer Beziehung stellte sich die Frage, ob es sich bei § 49a StGB um eine spezielle Teilnahmeform48 oder um ein delictum sui generis handelte, in dem Elemente von Vor-
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Verh. des Reichstages (Fn. 28), S. 180 f. So etwa der Abg. Reichensperger, Verh. des Reichstages (Fn. 28), Bd. II, S. 1354. Sauer (Allgemeine Strafrechtslehre, 1949, S. 192), hat den § 49a StGB später als „eine echte Gelegenheitsgesetzgebung ohne den Mut, die Akzessorietät ganz abzuschütteln“, bezeichnet. Diesen Mut könnte man heute gut brauchen. 42 Ausführlich dazu Witte, Erörterungen (Fn. 27), S. 15 ff.; Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 47 ff. 43 Witte, Erörterungen (Fn. 27), S. 18 ff. Die Arbeit von Witte enthält eine hilfreiche Synopse der verschiedenen Fassungen des § 49a StGB, die bei den Beratungen erwogen worden sind. 44 Witte, Erörterungen (Fn. 27), S. 20 f. 45 Ausführliche Nachweise dazu bei Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 55 ff. 46 So etwa Binding (Lehrbuch BT, Bd. 2, 2. Abt., 1905, S. 838 ff.), der von einem delictum sui generis ausgeht, das den Angriff auf die gesetzestreue Gesinnung unter Strafe stellt. Dagegen halten v. Liszt/Schmidt (Lehrbuch25, 1927, § 175, S. 803 ff.) und Wachenfeld (Lehrbuch, 1914, § 139, S. 552), einen Angriff auf die Staatsgewalt für gegeben. RGSt 37, 45 (46) nennt als Rechtsgut in Übereinstimmung mit den Motiven die Sicherheit einer Person. 47 Vgl. dazu Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 61. 48 v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. II, 1907, S. 841; Kern, Die Äußerungsdelikte, 1919, S. 26, 54; Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht2, 1932, S. 204. 41
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bereitung, Versuch und Teilnahme zusammentreffen.49 Durchgesetzt hat sich am Ende die Auffassung, dass § 49a StGB auf Täterschaft oder Teilnahme gerichtete Vorbereitungshandlungen unter Strafe stellt, um Lücken zu füllen, die durch die Akzessorietät der Teilnahme gerissen werden.50 Die Entwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik51 kehrten seit dem Entwurf Radbruch (E 1922) zur Konstruktion eines Verleitungstatbestandes zurück, der im Besonderen Teil angesiedelt war und naturgemäß eine eigenständige, sogar verschärfte Strafdrohung enthielt.52 Hierin wird ein Ausdruck des Bestrebens gesehen, zu einem Gefährdungsstrafrecht zu gelangen, das die verbrecherische Gesinnung des Täters in den Blick nimmt.53 Dies wurde mit Ausnahme von Coenders54 in der Literatur aber keineswegs kritisiert.55 Nicht zuletzt war es ja auch Radbruch, mit dessen Namen die Kriminalisierung als Verleitungstatbestand in Verbindung gebracht wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus kehrte man – unter Erweiterung der Strafbarkeit56 – zu einer Teilnahme-Lösung im Allgemeinen Teil zurück.57 Mit der Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943 (RGBl. I S. 339) erhielt § 49a StGB eine neue Fassung. Sie zeichnete sich dadurch aus,58 dass auch die Verabredung eines Verbrechens und das Eintreten in ernsthafte Verhandlungen darüber unter Strafe gestellt wurden. Die Strafe entsprach dem der Teilnahme, konnte aber gemildert werden.59 Der Strafgrund wurde in dem verbrecherischen 49 In diesem Sinne Nagler, ZAkDR 1940, 365; ferner RG SeuffBl. 69 (1904), 572: „Das Vergehen aus § 49a ist keine Art der Teilnahme, sondern ein eigenartiges Delikt.“ Ebenso schon die Motive, vgl. Verh. des Reichstages (Fn. 28), S. 181. 50 Vgl. Frank, StGB18, 1931, § 49a Anm. I; LK9 1974; Busch, § 49a Rn. 8. 51 Zu den Entwürfen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg näher Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 81 ff.; Sturm, Prot. SA V/1830; Schäfer, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 205. 52 Es wurde jetzt eine Gefängnisstrafe angedroht, die in allen Verbrechensfällen bis zum gesetzliche Höchstmaß (5 Jahre) reichen konnte. 53 Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 84 ff. 54 Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. V (1929), S. 266 ff. (277 f.). Coenders attestiert den Verleitungstatbeständen eine „geradezu unheimliche Unsicherheit, die an die Grundsätze des bolschewistischen Strafrechts erinnert.“ Ihm scheint, „als ob das Verständnis für den Wert der in langen Kämpfen errungenen Freiheitsrechte entschwunden wäre, und man dem mittelalterlichen Polizeistaat wieder entgegensteuerte!“ Dagegen habe, so Coenders, das geltende Recht in § 49a (a. F.) StGB „nur viel behutsamer unter Aufrichtung fester äußerer Kennzeichen in dieses vage und zweifelhafte, schwer faßbare Gebiet des Anstiftungsversuchs eingreifen wollen.“ Nur um eine Fortbildung dieser Vorschrift könne es sich in Zukunft handeln. Die Kritik von Coenders richtete sich genau genommen – wie man jetzt sieht – gegen E 1925 § 182, E 1927 § 196 und nicht so sehr gegen § 49a a. F. StGB. 55 Vgl. Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 90 f. 56 Erfasst wird nunmehr vor allem auch die erfolglose Beihilfe. 57 Vgl. etwa §§ 9, 11 E 1936. 58 Die Strafbarkeit der versuchten Beihilfe wurde natürlich beibehalten. 59 Bei erfolgloser Beihilfe konnte auch von Strafe abgesehen werden.
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Willen erblickt, der zu bestrafen sei, sobald er manifest geworden sei.60 Für die erfolglose Teilnahme an Vergehen sah man hingegen kein praktisches Bedürfnis.61 § 49a StGB in der Fassung von 1943 blieb nach Ende des Krieges zunächst in Kraft, weil die Vorschrift nicht als „typisch nationalsozialistisch“ betrachtet wurde.62 Erst das 3. StrÄndG vom 4. August 1953 (BGBl. I S. 735) führte zur Beseitigung der „hypertrophen Auswüchse“63 der Strafbarkeit, indem die Strafbarkeit der erfolglosen Beihilfe und des Eintretens in ernsthafte Verhandlungen wieder abgeschafft wurde.64 Im Zuge der Strafrechtsreform hatte der Gesetzgeber über das weitere Schicksal des § 49a StGB zu entscheiden. Ihm lagen die Vorschläge vor, die dem E 1962 (§ 35) und dem AE (§ 32) zugrunde lagen. Er entschied sich im 2. StrRG vom 4. Juli 1969 (BGBl. I S. 717) gegen den AE für die Beibehaltung der Strafbarkeit der heute in § 30 Abs. 2 StGB enthaltenen Handlungsformen.65 Als besonders schwierig erwies sich die Lösung des Problems der Behandlung besonderer persönlicher Merkmale. Bei den Beratungen zum E 1962 bestand innerhalb der Großen Strafrechtskommission Einvernehmen darüber, dass es bei Festlegung der Verbrechenseigenschaft der vorzubereitenden Tat auf denjenigen ankommt, der die Tat begehen soll. Dafür hatte sich besonders Gallas66 eingesetzt. Im Zuge der Beratungen hielt Gallas – wahrscheinlich unter dem Eindruck der Ausführungen von Dreher67 – seine Meinung aber nicht mehr für die Fälle aufrecht, bei denen die Verbrechensqualität der Haupttat auf einem Rückfall des Haupttäters beruhte.68 Diese durchaus nicht unbestrittenen Erwägungen69 blieben aber zunächst ohne 60 Rietzsch, DJ 1943, 309 (313); s. dazu auch BGHSt 1, 59 (60): „Hinneigung zum Willensstrafrecht.“ 61 Rietzsch, DJ 1943, 313. 62 BGHSt 1, 59. 63 Sturm, Prot. SA V/1830. 64 Vgl. dazu die Begründung des RegE, BT-Drucks. I/3713, S. 31 ff. 65 Siehe dazu den Zweiten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. V/4095, S. 13. 66 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 213: „Ich möchte mich der Meinung anschließen, daß es auf die persönliche Qualifikation des Teilnehmers (z. B. des Rückfalldiebes, wenn er zur Begehung eines einfachen Diebstahls auffordert) gar nicht ankommen kann, denn es sind für die Regelung des § 49a ganz eigene Gesichtspunkte maßgebend, nämlich das Interesse, das die Öffentlichkeit am Unterbleiben bestimmter Taten hat.“ 67 GA 1954, 16 f. 68 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 262: „Der Sinn des § 49a liegt doch darin, gewisse objektiv gefährliche Taten durch Vorverlegung der Strafbarkeitsgrenze zu bekämpfen. Bei objektiv leichten Taten ist dieser Gesichtspunkt nicht gegeben. Ich kann aber nicht einsehen, daß das Interesse am Unterbleiben eines relativ harmlosen Diebstahls dann größer ist, wenn der Diebstahl durch einen Rückfalltäter begangen werden soll. Es wäre also zu erwägen, ob man diese Art von persönlichen Merkmalen nicht ausschalten sollte.“
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Konsequenzen, denn man hielt eine gesetzliche Regelung des Problems der Handhabung persönlichkeitsnaher Merkmale nicht für sachgerecht.70 Die Große Strafrechtskommission beschloss jedoch die Aufnahme einer solchen Regelung.71 Sie wurde in der Form umgesetzt, dass es für die Verbrechensqualität der in Aussicht genommenen Tat zwar auf den präsumtiven Täter ankommt, aber für den nichtqualifizierten Veranlasser auf Strafzumessungsebene eine Anwendung der §§ 33, 34 E 1962 (= §§ 28, 29 StGB) Platz greifen sollte.72 Das entsprach der seinerzeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertretenen Ansicht.73 Dagegen hatte der AE für die von ihm allein geregelte versuchte Anstiftung vorgesehen, dass die besonderen persönlichen Merkmale bei allen Beteiligten – also beiderseits – vorliegen müssen.74 Ihm erschien die Regelung des E 1962 in diesem Punkt dann für nicht sachgerecht, wenn die Verbrechensqualität nur auf schulderhöhenden Umständen beim präsumtiven Täter beruhte.75 Der Sonderausschuss des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform hielt diese Argumentation unter dem Eindruck der von Gallas auf der Strafrechtslehrertagung in Münster 1967 gemachten Ausführungen76 für überzeugend.77 Der Ausschuss wollte indessen auch dem AE nicht folgen, weil nach dessen Kon69 Dagegen bereits Meyer/Allfeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts7, 1912, § 40, S. 251 Fn. 4; Fränkel, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), Anhang S. 119. 70 Fränkel, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), Anhang S. 119; Vorschläge und Bemerkungen der Sachbearbeiter des BMJ, NdSchr. Bd. 2, Anhang S. 120 (122). 71 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 123. 72 Vgl. § 35 Abs. 3 E 1962: „Machen besondere persönliche Merkmale (§ 14 Abs. 1) eine Tat zum Verbrechen, so gelten die Absätze 1 und 2 nur dann, wenn die Merkmale bei dem vorliegen, der die Tat begehen soll. Im übrigen gelten die §§ 33 und 34 entsprechend.“ Vgl. dazu die Begr. S. 154 f. 73 BGHSt 6, 308 ff. m.w. N. 74 Vgl. § 32 Abs. 2 AE: „Machen besondere persönliche Merkmale eine Tat zum Verbrechen, so gilt Absatz 1 nur dann, wenn diese Merkmale sowohl bei dem vorliegen, der die Tat begehen soll, wie bei dem, der ihn dazu anzustiften versucht.“ 75 Begr. S. 71. 76 ZStW 80 (1968), 1 (33): „Der E 1962 hat an sich recht damit, daß die Qualifikation bei dem Anzustiftenden vorliegen muß. Der Grund für die auftauchenden Schwierigkeiten liegt erst darin, daß entgegen der ratio legis alle persönlichen Merkmale in die Regelung einbezogen werden. Die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen ist rechtspolitisch nur insoweit gerechtfertigt, als damit einem erhöhten Schutzbedürfnis der Allgemeinheit gegenüber den als Verbrechen qualifizierten Taten Rechnung getragen werden soll, das heißt aber: nur insoweit, wie die Verbrechensqualität auf einem gesteigerten Unrechtsgehalt der Tat beruht. Daraus folgt, daß eine Strafbarkeit wegen versuchter Anstiftung nur solche beim Anzustiftenden vorliegenden persönlichen Merkmale zu begründen vermögen, die den Unrechtsgehalt der Tat berühren, nicht aber solche, die wie die Rückfälligkeit nur die Schuld des Täters erhöhen. Jedenfalls würde die Bestrafung der versuchten Anstiftung zu einer Tat, die erst durch Rückfälligkeit zum Verbrechen wird, nicht dadurch sinnvoller, daß, wie es der AE will, auch der Anstifter rückfällig wäre.“ 77 Sturm, Prot. SA V/1831, 1832; Müller-Emmert, Prot. SA V/1835; Dreher, Prot. SA V/1836.
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zeption in den Fällen der versuchten Anstiftung zu Delikten mit strafbegründenden besonderen persönlichen Merkmalen – wie z. B. bei einer versuchten Anstiftung zur Rechtsbeugung (§ 339 StGB) – dem Strafbedürfnis nicht Rechnung getragen werden könne.78 Nachdem auch der Versuch einer enumerativen Aufzählung einzelner Straftaten als „Verbrechen“ für gescheitert gehalten wurde,79 entschloss sich der Ausschuss einstimmig dazu, § 35 Abs. 3 E 1962 nicht in das neue StGB aufzunehmen80 und die Frage weiterhin der Rechtsprechung zu überlassen.81 III. Ingeborg Puppe vertritt bei der Anstiftung bekanntlich die Lehre vom Unrechtspakt.82 Das „Bestimmen“ i. S. d. § 26 StGB geschieht dadurch, dass der Anstifter mit dem Haupttäter einen gemeinsamen Tatplan – den sog. Unrechtspakt – verabredet und dadurch bestimmenden Einfluss auf die Entscheidung des Täters ausübt, die dieser im Ausführungsstadium der Tat trifft.83 Dieser Unrechtspakt entspricht dem gemeinsamen Tatplan der Mittäter, der durch gegenseitige Anstiftung zustande gekommen ist.84 Mittäter sind also nach Puppe im Verhältnis zueinander Anstifter und zusätzlich gleichberechtigte Teilhaber an der Tatausführung.85 Es wirkt wie eine Bestätigung dieser Lehre, wenn Maurach86 von der Verbrechensverabredung sagt, sie sei „nichts anderes als ein beider- oder mehrseitiges mit seiner Annahme verbundenes Erbieten, ein gegenseitiger oder genauer ein Gesellschaftsvertrag, der durch Offerte und Annahme zustande kommt und auf die Förderung gemeinsamer Pläne gerichtet ist.“ Insoweit verschlägt es nichts, dass an diesen „Vertrag“ keine zivilrechtlichen Maßstäbe angelegt werden können.87 Tatsächlich lässt sich auch § 30 StGB für Ingeborg Puppes Lehre vom Unrechtspakt in Anspruch nehmen. Für die Verbrechensverabredung i. S. d. § 30 Abs. 2 StGB wird ja die von einem ernstlichen Willen getragene Einigung meh78
Sturm, Prot. SA V/1832; Zweiter Schriftlicher Bericht (Fn. 65), S. 13. Vgl. dazu Dreher, Prot. SA V/1836. 80 Prot. SA V/1836. 81 Krit. zur gesetzgeberischen Abstinenz Roxin, JuS 1973, 329 (334). 82 Puppe, GA 1984, 101 ff. (112); dies., Strafrecht AT/2, 2005, 38/7 f.; 44/9; dies., NStZ 2006, 424 ff. 83 Puppe, NStZ 1984, 424. Konsequenz dessen ist es, dass es keinen omnimodo facturus gibt, vgl. Puppe, AT/2 (Fn. 82), 38/6 u. 44/10; dies., GA 1984, 117; dies., FS Spinellis, 2001, S. 911 (918 ff.). 84 Puppe, NStZ 1984, 425. 85 Puppe, FS Spinellis (Fn. 83), S. 917 ff. = ZIS 2007, 234 (235 ff.); dies., AT/2 (Fn. 82), 38/3 ff., 6. 86 JZ 1961, 137. 87 Siehe dazu Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/46. 79
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rerer Personen vorausgesetzt, an der Verwirklichung eines Verbrechens mittäterschaftlich mitzuwirken.88 Das ist der gemeinsame Tatplan – d.h. der Unrechtspakt – der Mittäter. Die Annahme eines Erbietens (§ 30 Abs. 1 Var. 2 StGB), die der Sache nach versuchte Anstiftung89 darstellt,90 führt ebenfalls zum Abschluss eines Unrechtspaktes, allerdings mit dem Unterschied, dass die Ausführung des Verbrechens dem Sich-Erbietenden überlassen wird.91 Auch die Bereitschaftserklärung nach § 30 Abs. 2 Var. 1 StGB92 ist in dem vorbezeichneten Sinne zu verstehen: Die „initiative“ Bereitschaftserklärung (das „echte“ Sich-Erbieten) enthält ein Angebot auf Abschluss eines Unrechtspaktes93 – der Täter sucht eine Person, die ihm den letzten Grund für die Tatausführung liefern soll –,94 während die „reaktive“ Bereitschaftserklärung den Abschluss des Unrechtspaktes perfekt macht. Der Anstiftungsversuch (§ 30 Abs. 1 S. 1 StGB) zielt auf die reaktive Bereitschaftserklärung ab, ist also ebenfalls auf den Abschluss eines Unrechtspaktes gerichtet. Es trifft daher zu, dass die in § 30 StGB unter Strafe gestellten Handlungen eng mit einander verknüpft sind und sich stufenweise ergänzen.95 Entwe88 BGHSt 53, 176; BGH NStZ 1988, 406; NStZ 1993, 137 (138); BGH NStZ-RR 2002, 74 (75); LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 72; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 25; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 55, SK-Hoyer, § 30 Rn. 50; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 12; Lackner/Kühl, § 30 Rn. 6; Maurach/Gössel, Strafrecht AT/27, 1989, 53/42; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT11, 2003, 32/52; Schröder, JuS 1967, 291 f.; Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 110; Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 93; Fieber, Verbrechensverabredung (Fn. 9), S. 59. 89 Näher dazu Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/82; Rengier, Strafrecht AT, 2009, 47/34. 90 Siehe dazu Roxin, JA 1979, 169 (170); ders., AT/2 (Fn. 9), 28/82; Jakobs, StrafR AT2, 1991, 27/9; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 94 f.; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 46; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 21; Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 96 ff. Für eine zusätzliche Erfassung der psychischen Beihilfe Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 11; für eine Erfassung nur der psychischen Beihilfe Blei, NJW 1958, 30; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT5, 1996, S. 705; Köhler, AT (Fn. 14), S. 546; zum Problem auch – mit anderer Konzeption – SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 43 f. Gegen die abweichenden Ansichten zutr. Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 85 ff. m.w. N. 91 HK-GS/Letzgus, 2008, § 30 Rn. 61. 92 Sie kommt in der Form des Sich-Erbietens (initiative Bereitschaftserklärung) oder der Annahme einer Anstiftung (reaktive Bereitschaftserklärung) vor, vgl. dazu nur Roxin, JA 1979, 169 f.; Schröder, JuS 1967, 291; Dessecker, JA 2005, 552; SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 30; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 86 ff.; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 19; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 23; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 34. 93 Der Sache nach liegt ein (Spezial-)Fall der Kettenanstiftung vor (Dreher, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 211; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 89; Schröder, JuS 1967, 290; Roxin, JA 1979, 170), der aufgrund der Besonderheit der Konstellation (nur zwei Beteiligte; der erste Anstifter ist zugleich der Täter) von Letzgus, (HK-GS [Fn. 91], § 30 Fn. 52) als „verkürzte Kettenanstiftung“ bezeichnet wird. 94 Das sog. „unechte“ Sich-Erbieten ist danach de lege lata straflos, vgl. Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 187 f.; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/79; Schönke/Schröder-Cramer/ Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 23; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 90 f.; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 33; HK-GS-Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 51; abw. Jakobs, AT (Fn. 90), 27/10; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 41.
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der sucht ein Anstifter einen Tatausführungsbereiten oder ein Tatausführungsbereiter sucht einen Anstifter oder es haben sich ein Tatausführungsbereiter und ein Anstifter bzw. (bei der Verbrechensverabredung) weitere Tatausführungsbereite zusammen getan und einen Unrechtspakt geschlossen. Diese Feststellungen ebnen den Weg zur Bestimmung des Strafgrundes der in § 30 StGB aufgeführten Vorstufen der Beteiligung. Dieser Strafgrund hängt offensichtlich damit zusammen, dass zwischen mindestens zwei Beteiligten Einvernehmen über die spätere Begehung eines Verbrechens hergestellt oder die Herstellung dieses Einvernehmens jedenfalls versucht wird. Dem Täter nach § 30 StGB geht es darum, die Mitwirkung oder Einbindung anderer bei der geplanten Durchführung eines Verbrechens zu erlangen. Man kann dies unschwer als „Personalrekrutierung“ im Vorfeld der Deliktsbegehung auffassen. Der nach § 30 StGB Handelnde will oder kann die Tat nicht ohne die Beteiligung eines anderen ausführen. Deshalb muss er sich mit diesem über die geplante Tatausführung verständigen. Das Zusammenwirken mehrerer Täter i. S. e. Kooperation bei der Vorbereitung und Durchführung des Verbrechens führt regelmäßig zu einer Gefahrsteigerung, die zur Notwendigkeit eines frühen strafrechtlichen Eingreifens führt. Das liegt nicht allein an der Bindung, die zwischen den Beteiligten ggf. zustande kommen mag, sondern in erster Linie an der Möglichkeit der arbeitsteiligen Kräftebündelung, des Austausches kriminellen Wissens und des Ausräumens von Hindernissen, die der Tatbegehung im Weg stehen. Ein Erfolg bei der Ausführung des Verbrechens wird auf diese Weise wahrscheinlicher, die Tatbegehung gefährlicher.96 Es ist aus diesem Grunde nur zu verständlich, dass das Gesetz bereits im Vorfeld der Deliktsbegehung den Abschluss von Unrechtspakten verbietet. Das Gesetz geht aber weiter, denn es verbietet in Gestalt der versuchten Anstiftung und des Sich-Erbietens auch solche Handlungen, die auf den Abschluss eines Unrechtspaktes lediglich abzielen. Sie brauchen diesen Abschluss nicht herbeizuführen. Das wird zwar von Zaczyk97 und Letzgus98 bestritten, die verlangen, dass der nach § 30 StGB Handelnde zumindest einen Teilerfolg i. S. e. Hervorrufens des Entschlusses zur Begehung der Haupttat hervorgerufen hat. Obwohl die dafür geltend gemachten Gründe verständlich sind, ist dem jedoch zu widersprechen. Der von beiden Autoren vertretenen Rechtsauffassung steht der im Wortlaut der Norm hinreichend konkretisierte Wille des Gesetzgebers entgegen, der über die Jahre hinweg kon95
So die Begr. zu § 35 E 1962, S. 154. Vgl. RGSt 58, 392 (393): „Die Gefahr (i. S. e. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit) steigert sich in erheblichem Maße, wenn es (einer einzelnen Person) gelingt, gleichgesinnte Genossen zu werben.“ 97 NK (Fn. 9), § 30 Rn. 12 (versuchte Anstiftung). Das Sich-Erbieten hält Zaczyk sogar für verfassungswidrig (Rn. 34). 98 HK-GS (Fn. 91), § 30 Rn. 19 (versuchte Anstiftung), Rn. 53 (Sich-Erbieten); Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 123 ff., 135 f., 141 ff. 96
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stant geblieben ist. Die Einwände sind also rein rechtspolitischer Natur und nur im Rahmen einer weiteren Reform des Strafrechts beachtlich.99 De lege lata sind sie jedenfalls bedeutungslos.100 Das gilt um so mehr, als die Bestrafung einer bloßen konspirativen Kontaktaufnahme tatsächlich sinnvoll erscheint. Denn derjenige, der sich delikts- und kooperationsbereit gezeigt hat, wird es voraussichtlich nicht bei einem einmaligen Versuch der Beteiligtenrekrutierung belassen. Auch im Falle Duchesne war es ja gut möglich, dass Duchesne nach der Weigerung des Erzbischofs doch noch jemanden fand, der bereit war, der Tat seinen Segen zu geben und dem Ausführenden 60.000 Franken zu zahlen. Und wer wirklich darauf aus ist, einen anderen zur Begehung eines Verbrechens zu bewegen, der wird sich nicht schon dann entmutigen lassen, wenn er sich eine Absage eingehandelt hat.101 Vor diesem Hintergrund ist die 1943 eingeführte und 1953 wieder abgeschaffte102 Bestrafung des Eintritts in ernsthafte Verhandlungen über eine Verbrechensverabredung durchaus konsequent zu nennen.103 Selbstverständlich muss es Grenzen für die „Vorverlegung der kriminellen Verteidigungslinie“104 geben, doch wird man die Entscheidung des Gesetzgebers, bei Hochgefährdungssachverhalten konspiratives Verhalten schon bei einer versuchten Anbahnung zu bestrafen, nicht als erkennbar fehlsam bezeichnen dürfen.105 Damit wird erkennbar, dass sich das Gesetz gegen die Gefahren konspirativer Willensbeeinflussungen und Willensbildungen richtet. Zutreffend bezeichnet Schünemann106 die zwischen den Beteiligten ablaufenden Prozesse als „hochge99 In die rechtspolitische Verfügungsmasse gehört auch der (m. E. nicht empfehlenswerte) Vorschlag Roxins (AT/2 [Fn. 9], 28/8; ebenso LK-Schünemann [Fn. 9], § 30 Rn. 12; Dessecker, JA 2005, 549), das Merkmal des Sich-Bereit-Erklärens durch das Kriterium der „Übernahme einer Verpflichtung zur Verbrechensbegehung“ zu ersetzen. Erwägenswerter erscheint da schon der Vorschlag Zaczyks (NK [Fn. 9], § 30 Rn. 17), für den Anstiftungsversuch wenigstens Wissentlichkeit zu verlangen. 100 Vgl. LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 17 ff. 101 Das ist schon ganz richtig in den Motiven zum Gesetz von 1876 hervorgehoben worden, wo es als unerträglich bezeichnet wird, wenn es nach dem Strafgesetzbuch erlaubt wäre, sich als Meuchelmörder für Geld solange anzubieten, bis man denjenigen gefunden hat, der bereit ist, auf das Angebot einzugehen, vgl. o. Fn. 39. 102 Im Entwurf eines 3. StrÄndG wird der Eintritt in ernsthafte Verhandlungen zur Begehung eines Verbrechens als zu beseitigende „Überspannung“ bezeichnet, vgl. RegE, BT-Drucks. I/3713, S. 31; s. auch Sturm, Prot. SA V/1830. In Wahrheit trifft dieser Einwand schon die versuchte Anstiftung und selbstverständlich auch das SichErbieten. Dass dies nicht gesehen wird, liegt an der Überschätzung des „Kontrollverlust-Dogmas.“ 103 Freilich wird die Strafbarkeit hier schon daraus folgen, dass wechselseitige Anstiftungsversuche vorliegen. 104 Dreher, GA 1954, 12. 105 Sachlich übereinstimmend LK-Busch (Fn. 50), § 49a Rn. 8; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 2; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 1. 106 LK, § 30 Rn. 10.
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fährliche Kommunikation“. Die zu besorgenden Gefahren liegen – wie bereits deutlich geworden ist – in der aufgrund der angestrebten Arbeitsteiligkeit anzunehmenden Effizienzsteigerung bei der Ausführung der geplanten Straftat und damit in der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Tatbegehung.107 Das Gesetz will verhindern, dass Kooperationsbereite zueinander finden und gefährliche Unrechtspakte zur Entstehung gelangen. Rechtsprechung und Literatur gehen demgegenüber davon aus, dass es bei § 30 StGB einen einheitlichen Strafgrund nicht gebe. Mehrheitlich werden der Kontrollverlust über den angestoßenen Kausalverlauf108 oder die Bindungswirkung der hergestellten Einvernahme109 angegeben oder noch weitere, davon abweichende Gründe namhaft gemacht.110 Überwiegend hält man eine Kombination der rationes „Kontrollverlust“ und „Bindungswirkung“ für angezeigt,111 muss aber gleichzeitig eingestehen, dass auch damit kein bruchloses Erklärungsmodell entsteht.112 In Wahrheit bedarf es dieses Räsonnements nicht, zumal nicht ersichtlich ist, wie es zugehen soll, dass aus zwei nicht in jedem Fall passenden Strafgründen bruchlos ein passender gebildet werden kann. Immerhin weist aber der Gedanke konspirativer Bindung in die richtige Richtung.113 § 30 StGB erweist sich damit als abstraktes Gefährdungsdelikt, dem eindeutig Präventionscharakter zukommt.114 Der Zugriff soll möglichst frühzeitig erfolgen, um der Tatbegehung wirksam entgegenzutreten.115 Dadurch mutiert das Straf107 Vgl. dazu auch Schlehofer, FS Herzberg, 2008, S. 355 (367) – zur Verbrechensverabredung. 108 BGHSt 1, 305 (309); 44, 99 (102 f.); 50, 142 (146); SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 11; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 3; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 2; SSWStGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 1; Schäfer, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 205 (206); Schröder, JuS 1967, 289; Bloy, JR 1992, 495; Geppert, Jura 1997, 547. 109 BGHSt 10, 388 (389 f.); 44, 91 (95); Schäfer, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 206; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 1; Lackner/Kühl (Fn. 88), § 30 Rn. 1; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 2, 29; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/5; Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 701. 110 „Normdesavouierung durch Kommunikation“, so Jakobs, AT (Fn. 90), 27/2 (krit. dazu LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 91; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/79; Köhler, AT (Fn. 14), S. 545; Fieber, Verbrechensverabredung (Fn. 9), S. 167 ff.); „psychische Stärkung und Suggestion“, so Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 126 ff. sowie HK-GS/Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 7 (krit. dazu Roxin, a. a. O., 28/7; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 6 ff.). 111 Roxin, JA 1979, 170 f.; ders., AT/2 (Fn. 9), 28/5; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 10 f.; Kühl, AT (Fn. 14), 20/244. 112 Kühl, AT (Fn. 14), 20/244. 113 Dafür schon Dreher, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 210; Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 701; krit. zum Ganzen Stratenwerth/Kuhlen, StrafR AT5 2004, 12/170. 114 Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 11; Rengier, AT (Fn. 89), 47/15; Sieber, NStZ 2009, 357 ff., 360, 361; Bloy, JR 1992, 495; vgl. auch BGHSt 4, 17 (18 f.); s. auch schon Schäfer, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 207. 115 Siehe dazu auch Meister, MDR 1956, 16.
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recht aber noch nicht zum Polizeirecht. Denn, „erweist sich jemand dadurch kriminell, daß er den Entschluß, ein Rechtsgut anzugreifen, in gefährlicher Weise manifestiert, so werden seine Persönlichkeit nicht besser und seine Schuld kaum kleiner, wenn es ohne sein Zutun nicht zu einem Versuch der Tat kommt“.116 Außerdem hat das Strafrecht durchaus die Aufgabe, durch Pönalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung einen sicherheitsbehördlichen Zugriff zu ermöglichen und potenzielle „Gefährder“ einstweilen aus dem Verkehr zu ziehen.117 In diesem Sinne gehört § 30 StGB zu einer Gruppe von Normen des Vorfeldschutzes, deren Legitimität jedenfalls im Grundsätzlichen nicht in Frage gestellt werden kann.118 Dazu gehören Normen, die – wie z. B. § 149 StGB – den Erwerb, die Anfertigung oder Bereitstellung von sachlichen Tat- und Hilfsmitteln mit Strafe bedrohen. Die Strafdrohung kann auch – wie etwa im Falle der §§ 130a, 89a, 89b, 91 StGB – dem Verbot eines Erwerbs oder der Vermittlung von deliktsspezifischen Fähigkeiten etc. dienen. Sogar die Andienung oder das Versprechen des Nachweises eines Tatopfers (vgl. § 176 Abs. 5 StGB) wird strafrechtlich geahndet, um möglichst früh dem sexuellen Missbrauch von Kindern begegnen zu können.119 In einem derartigen Szenario ist auch § 30 StGB unter Verwertung des Gedankens einer konspirativen Willensbildung angemessen unterzubringen, mag bei den Beteiligten eine Fortentwicklung zu verfestigten verbrecherischen Strukturen wie bei einer Bande oder einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung auch nicht vorliegen. Der Deliktsvorsatz kommt in den Rekrutierungsbemühungen hinreichend deutlich zum Ausdruck,120 so dass nicht etwa eine Bestrafung des bloßen verbrecherischen Willens erfolgt.121 Die Beschränkung auf intendierte Verbrechen liefert dann das erforderliche – allerdings pauschalierte – Strafwürdigkeitskriterium:122 Ein Eingreifen ist nur bei zu besorgenden gravierenden Schadensverläufen angezeigt. Ein Täter, der derartiges plant oder initiiert, ist auch hinreichend gefährlich, um ein strafrechtliches Einschreiten gegen ihn zu rechtfertigen. Problematisch bleibt bei alledem freilich die von der h. L.123 auch im Rahmen des § 30 StGB vertretene Strafbarkeit des untauglichen Versuchs. Mit Rücksicht darauf ist gegen § 30 StGB der Vorwurf erhoben worden, es finde hier eine Wiederbelebung der subjektiven Versuchslehren und der aus dem Gemeinen Recht 116
Dreher, GA 1954, 12. Vgl. Stienen, JW 1924, 1708. 118 Zur Legitimität von Vorfeldnormen Sieber, NStZ 2009, 357 ff. 119 Ausführlich dazu Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 217 ff., 223 ff., 230 ff. 120 Vgl. Fränkel, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), Umdruck R 36, Anhang Nr. 41, S. 115 (116). 121 Problematisch bleibt natürlich immer die Bestimmung des Maßes, in dem sich der deliktische Wille geäußert haben muss, vgl. Dreher, GA 1954, 12 f. 122 Durchaus kritisch insoweit Dreher, GA 1954, 13. 123 Vgl. dazu statt aller LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 31 f., 69; SSW-StGB/ Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 1; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/23, 28/58. 117
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stammenden Lehre vom Komplott statt.124 Vielfach wird ja auch betont, dass nicht die objektive Gefährlichkeit, sondern die Kundgabe der Absicht, etwas Verbotenes tun zu wollen, die Strafbarkeit begründe.125 Mithin soll sich der Unwert der Tat auf „ein im geistigen Bereich verbleibendes Handlungsunrecht“ beschränken.126 Rechtspolitisch erscheint die Strafbarkeit des untauglichen Anstiftungsversuchs daher vielen nicht sinnvoll.127 Tatsächlich bestimmt § 30 Abs. 1 S. 3 StGB, dass § 23 Abs. 3 StGB – also die Vorschrift über die Bestrafung des grob unverständigen Versuchs – „entsprechend gilt.“ Diese Anordnung gilt auch für § 30 Abs. 2 StGB, was aus den Worten „Ebenso wird bestraft“ deutlich hervorgeht. Hieraus und aus der in § 30 Abs. 1 StGB verwendeten Begrifflichkeit („Wer . . . zu bestimmen versucht“), wird die uneingeschränkte Anwendbarkeit der Grundsätze über den untauglichen Versuch gefolgert.128 Dabei bezieht man die Anwendbarkeit dieser Grundsätze überwiegend sowohl auf die Tathandlungen des § 30 StGB als auch auf die auszuführende Tat.129 Danach soll also z. B. der Versuch der Anstiftung eines omnimodo facturus130 oder eines verdeckt ermittelnden Polizeibeamten131 sowie die versuchte Bestimmung eines anderen zur Tötung einer nicht existenten oder im Tatzeitpunkt bereits verstorbenen Person nach § 30 Abs. 1 S. 1 StGB strafbar sein.132 Bei der Verbrechensverabredung gilt das allerdings nur für die Unausführbarkeit der in Aussicht genommenen Tat; der Versuch der in § 30 Abs. 2 StGB bezeichneten Handlungen gehört nicht hierher.133 Dagegen regt sich seit einiger Zeit Widerstand, der sich dahingehend zusammenfassen lässt, dass die Grundsätze über den untauglichen Versuch zur Vermei124 Dessecker (JA 2005, 550) bezeichnet das als „Kritik der liberalen Strafrechtswissenschaft“. 125 Schröder, JuS 1967, 289. 126 Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 701. 127 Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/23; krit. auch LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 32. 128 LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 31 f., 69; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/23, 28/58; Geppert, Jura 1997, 551. Zu der auch mit § 23 Abs. 3 StGB zu begründenden Strafbarkeit des untauglichen Versuchs Puppe, AT/2 (Fn. 82), 35/3. 129 Vgl. etwa SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 32; s. hierzu auch HK-GS/ Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 84. 130 RGSt 37, 171 (172); 72, 373 (375); Otto, Grundkurs Strafrecht, AT7, 2004, 22/84; Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 563; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/ 14; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/22 f.; Kühl, AT (Fn. 14), 20/248; Lackner/Kühl (Fn. 88), § 30 Rn. 4; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 6; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 21; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 31; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 31; SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 31. 131 Vgl. BGHSt 50, 142; BGH bei Altvater, NStZ 2006, 92; BGHR StGB § 30 – Beteiligung 2. 132 Vgl. dazu BGHSt 4, 254; 10, 388; BGH MDR 1960, 595; BGH GA 1963, 127. 133 RGSt 58, 392 (394); SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 26; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 78; Lackner/Kühl (Fn. 88), § 30 Rn. 7; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 13; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/68; Maurach, JZ 1961, 142.
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dung eines reinen Gesinnungsstrafrechts entweder überhaupt nicht oder doch nur eingeschränkt anwendbar sein sollen. So fordert Letzgus134 als Äquivalent für die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit, dass die Handlung im konkreten Fall wenigstens generell geeignet war, den beabsichtigten Erfolg herbeizuführen. Und Zaczyk135 postuliert, dass der untaugliche Versuch straflos ist, soweit er sich auf die Anstiftungshandlung selbst bezieht. Dabei geht er davon aus, dass die entsprechende Anwendung des § 23 Abs. 3 StGB allein die präsumtive Haupttat betreffen kann.136 Weitergehend erwägt er unter Bezugnahme auf die Materialien,137 in § 30 Abs. 1 S. 3 StGB lediglich eine Rechtsfolgenverweisung zu sehen, so dass es also in jedem Fall des § 30 StGB zulässig wäre, sowohl von Strafe abzusehen als auch eine Strafmilderung gemäß § 49 Abs. 2 StGB vorzunehmen.138 In der Tat ergibt sich aus den Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform mit aller Deutlichkeit, dass – jedenfalls nach den unwidersprochen gebliebenen Vorstellungen des zuständigen Referatsleiters Dr. Sturm im BMJ – die Verweisung auf § 23 Abs. 3 StGB tatsächlich als reine Rechtsfolgenverweisung gemeint war. Er hat nämlich ausgeführt, dass es bei der in § 30 Abs. 1 S. 3 StGB aufgestellten Verweisung nicht darum gehe, die Vorschriften über den Versuch einschließlich derjenigen über die Voraussetzungen des Versuchs anzuwenden, sondern es gehe nur um die Anwendung der Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs.139 Im Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform,140 auf den Zaczyk141 sich bezieht, ist das zwar nicht so deutlich ausgesprochen, aber es wird nun klar, dass Zaczyks Auffassung wohlbegründet ist. Selbst wenn man dieser Auslegung nicht folgen wollte, kann aber kein Zweifel darüber bestehen, dass sich die Anwendbarkeit des § 23 Abs. 3 StGB immer nur auf die geplante Tat und nicht auf die Tathandlungen des § 30 StGB beziehen kann. Dem Gesetzgeber haben stets nur Defizite bei der Ausführung des geplanten Verbrechens, nicht aber Defizite bei der Gewinnung von Tatbeteiligten vorgeschwebt.142 Die in der Vergangenheit geführte Debatte um die Bedeutung der Ernstlichkeit von Willensbetätigungen belegt das hinlänglich. Im Übrigen ist ein untauglicher Versuch bei der Gewinnung von Beteiligten für die Verbrechensaus134 Vorstufen (Fn. 8), S. 185 ff.; HK-GS/Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 84 ff.; s. auch Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 163 ff. 135 NK (Fn. 9), § 30 Rn. 30, 58. 136 NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 30, 60, 61; ebenso HK-GS/Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 87; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 18. 137 Zweiter Schriftlicher Bericht (Fn. 65), S. 13, wo dargelegt wird, dass auch ein Absehen von Strafe und die Anwendung des § 49 Abs. 2 StGB ermöglicht werden soll. 138 NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 61. 139 Sturm, Prot. SA V/1835. 140 Zweiter Schriftlicher Bericht (Fn. 65), S. 13. 141 NK § 30 Rn. 61. 142 Die Regelung des § 23 Abs. 3 StGB ist ja auch selbst auf die Bewirkbarkeit des Erfolges bezogen. Das kann auch bei § 30 StGB nicht anders sein.
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führung ex ante betrachtet kaum denkbar,143 ganz abgesehen davon, dass die Pönalisierung einer a priori untauglichen Vorbereitungshandlung, wenn es sie gäbe, die Strafwürdigkeitsgrenze doch wohl überschreiten würde.144 Die Struktur des § 30 als legitimes abstraktes Gefährdungsdelikt kann damit ihre Bestätigung finden. Eine Umwandlung in ein auf die präsumtive Haupttat gerichtetes Eignungsdelikt bzw. abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt145 ist weder angezeigt noch zulässig. Auch eine Beschränkung der Tathandlungen des § 30 StGB auf „empfindliche Mittel“146 ist de lege lata nicht möglich.147 Die Tathandlungen müssen aber, wenn sie strafbar sein sollen, das Prädikat der abstrakten Gefährlichkeit auch verdienen. Das ist durch Auslegung – unabhängig von § 30 Abs. 1 S. 3 StGB – sicherzustellen. Zu fordern ist daher eine Willensbetätigung, die deshalb gefährlich ist, weil sie zum Abschluss eines Unrechtspaktes auch wirklich führen kann. Am Beispiel eines von Zaczyk gebildeten instruktiven Falles148 lässt sich das anschaulich demonstrieren: Eine strafbare versuchte Anstiftung liegt immer dann vor, wenn das Tatopfer (in Zaczyks Beispiel der Abteilungsleiter) im Handlungszeitpunkt bereits tot ist. Nicht strafbar ist jedoch, wer sich mit seinem Tötungsanliegen an eine Schaufensterpuppe wendet. Strafbar ist es aber, sich gegenüber dem Dalai Lama oder dem Papst ernstlich zur Tötung des Opfers zu erbieten, auch wenn die Tötung mit einem Kännchen Kamillentee149 ausgeführt werden soll. Letzterenfalls wird allerdings von Strafe abzusehen sein (§ 30 Abs. 2 Var. 1 i.V. m. §§ 30 Abs. 1 S. 2, 3, 23 Abs. 3 StGB). Wendet man die von Zaczyk nicht zu Unrecht postulierte „Rechtsfolgenlösung“ auf jeden Fall des § 30 StGB an, so erledigen sich auch die Einwände, die man gegen die Rechtsfolgenanordnung (§ 30 Abs. 1 S. 2 StGB) erheben könnte.150 De lege fe143 Einflussnahmen zwischen Personen gehören als psychische Prozesse dem nicht determinierten Bereich an. Darauf weist Ingeborg Puppe gerade im Zusammenhang mit der versuchten Anstiftung zutreffend hin, vgl. AT/2 (Fn. 82), 35/2. Der Versuch Duchesnes, den Erzbischof zu gewinnen, war ja nicht schon deshalb untauglich, weil jener ein heiliger Mann war. 144 Zutr. NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 30. 145 Wie Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 185 ff. das vorschlägt. 146 Köhler, AT (Fn. 14), S. 545. 147 Im Zuge der Strafrechtsreform wurde lediglich erwogen, im Falle einer Regelung im BT bei der Anwendung solcher Mittel „besonders schwere Fälle“ einzuführen, vgl. NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), Anhang Nr. 43, Umdruck J 14, S. 124 f.; Anhang Nr. 45, Umdruck U 21, S. 128 f.; Anhang Nr. 46, Umdruck K 21, S. 130 f. 148 NK (Fn. 9), § 30 Rn. 30: A raunt durch die dicke Schaufensterscheibe eines Modegeschäfts einer Schaufensterpuppe, die er für eine Verkäuferin hält, zu, sie möge den Abteilungsleiter erschießen, der aber am Tag zuvor schon verstorben ist. 149 Beispiel bei LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 32. 150 Vgl. Lange, NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 212: „Die obligatorische Milderung, die in dem Entwurf des Bundesjustizministeriums vorgesehen ist, genügt mir in keiner Weise; ich halte eine drastische Herabsetzung der angedrohten Strafe, besser aber die besondere Ausbildung eines gemäßigten Strafrahmens für wünschenswert und rechtlich notwendig.“
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renda wird man allerdings einen Nachbesserungsbedarf anerkennen müssen, denn es lässt sich sicher nicht sagen, dass dem Gesetzgeber die Formulierung des Textes gelungen ist.151 IV. Der bisherigen Darstellung lässt sich entnehmen, dass § 30 StGB einzelne Vorbereitungshandlungen wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit mit Strafe bedroht.152 Die Vorschrift ist kein selbstständiger Tatbestand i. S. d. Vorschriften des Besonderen Teils,153 könnte aber durch Umformulierung mühelos in einen solchen verwandelt werden. Dazu benötigt man keineswegs eine eigene Strafdrohung, denn der Gesetzgeber ist bei der Suche nach einer passgenauen Rechtsfolgenanordnung nicht gehindert, sich anderweitig zu bedienen, wie das ja etwa bei § 111 StGB tatsächlich auch geschehen ist.154 § 30 StGB ist jedenfalls ein Straftatbestand, aus dem heraus die Bestrafung erfolgt,155 wenn auch mit der Maßgabe, dass sich die Sanktion an dem Verbrechenstatbestand orientiert, dessen Erfüllung in Aussicht genommen war.156 Dieser Konstruktion wird entnommen, dass § 30 StGB dem Schutz derjenigen Rechtsgüter dient, die den einzelnen Verbrechenstatbeständen zugrunde liegen.157 Gallas hat das in die Worte gekleidet, es gehe um das Interesse der Öffentlichkeit am Unterbleiben bestimmter Taten.158 Insgesamt handelt es sich daher um eine vor die Klammer gezogene Regelung, die bestimmte Formen der Verbrechensvorbereitung pönalisiert. Sie ist richtiger Ansicht nach159 als Strafausdehnungsgrund zu betrachten.160 Sie bildet eine „selbstständig strafbare Vorbereitungshandlung“.161 151 Das zeigt die Diskussion im Sonderausschuss über „papierene Formulierungen“ und Ähnliches mit aller Deutlichkeit, vgl. Prot. SA V/1834 f. 152 Vgl. BGH BGHR StGB § 30 Abs. 1 S. 1 – Konkurrenzen 2. 153 BGHSt 32, 133 (135 f.); Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/1; s. auch BGHSt 14, 156 (157). Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch unter den Autoren unklar ist, was jeweils mit „selbständig“ oder „unselbständig“ gemeint ist. 154 Deshalb können aus der Inbezugnahme des Versuchs keine systematischen Folgerungen gezogen werden. 155 Vgl. dazu auch Sax, ZStW 90 (1978), 927 (957). 156 In den Tenor des Strafurteils ist daher das vom Verurteilten in Aussicht genommene Verbrechen aufzunehmen, vgl. BGH bei Dallinger, MDR 1969, 722; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 1; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 34; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 3; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/12; Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 117. 157 LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 1; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 2; SSW-StGB/ Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 2; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 2a; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 1; Lackner/Kühl (Fn. 88), § 30 Rn. 1. 158 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 213. 159 Abw. die Konzeption von SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 2 ff.; dagegen aber zutr. Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 9 und die h. M. 160 LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 1; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 1; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 3; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/2; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 2 weist darauf hin, dass sich eine strafeinschränkende Wirkung da-
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Die systematische Stellung des § 30 StGB innerhalb des Allgemeinen Teils wird ungeachtet dieser Erkenntnisse, die der h. M. entsprechen (Vorbereitungstheorie),162 derzeit immer noch nicht einheitlich bewertet.163 Dass es sich – trotz entsprechender Bezugnahmen in §§ 30, 31 StGB – nicht um eine Versuchsregelung handelt (Versuchstheorie), ist freilich auch als Frucht der hier schon skizzierten dogmengeschichtlichen Entwicklung allgemein anerkannt.164 Das tatbestandsmäßige Verhalten des § 30 StGB erreicht die Versuchsgrenze gerade nicht, sondern verbleibt im Vorbereitungsstadium des auszuführenden Verbrechens. Demgegenüber hält sich hartnäckig die These, dass es sich bei § 30 StGB um eine besondere Form der Teilnahme bzw. ein „Teilnahmefragment“ 165 handele (Teilnahmetheorie). 166 Diese Einordnung ist auf Beling167 zurückzuführen, der der Meinung war, dass die gedankliche Bindung an eine ins Auge gefasste Haupttat für eine Behandlung als echte Teilnahme ausreichend sei. Dieser – nicht überzeugende – Gedankengang ist später von Maurach168 mit einer Formulierung aufgegriffen worden, die viel Anklang gefunden hat,169 aber tatsächlich nicht mehr als eine zirkelschlüssige Behauptung darstellt:170 Warum nun gerade die durch ergebe, dass Vergehen nicht erfasst seien und die versuchte Beihilfe straflos sei. Das bezeichnet aber nur den fragmentarischen Charakter des Strafrechts. Jakobs (AT [Fn. 90], 27/1 Fn. 2) betont, dass § 30 StGB auch eine Erweiterung gegenüber der Teilnahme sei; ebenso BGHSt 14, 156 (157): „Teilnahme ohne Haupttat“. Insoweit geht es aber nicht um eine Erweiterung, sondern um ein aliud. Teilnahme ohne Haupttat ist keine Teilnahme. 161 BGHSt 9, 131 (134); 14, 378 (379); s. auch BGHSt 10, 388 (389). 162 Vgl. Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/3; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 2a; MüKoJoecks (Fn. 15), § 30 Rn. 10; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 2; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 3; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 2; HK-GS/Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 10. 163 Vgl. dazu statt aller Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 215 ff.; Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 8 ff. 164 Vgl. nur Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/2. 165 Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 117; vgl. ferner Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/29: „verkümmerte Form der Teilnahme“. 166 Vgl. Maurach, JZ 1961, 138; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/1, 53/3 f.; Baumann/Weber/Mitsch, AT (Fn. 88), 32/40; Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 701; Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 117 ff. 167 Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 466 ff. 168 StrafR AT2, 1958, S. 549; ders., JZ 1961, 148. 169 So etwa bei LK9-Busch, § 49a Rn. 8; ders., FS Maurach (1972), S. 248; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/1, 53/3 f.; Baumann/Weber/Mitsch, AT (Fn. 88), 32/40; Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 701; Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 117 ff. 170 „Wenn die Grundgedanken der Vorbereitung und der Teilnahme zusammentreffen und Gegenstand der auf die geplante Tat abzielenden Einwirkung oder Fühlungnahme ein Verbrechen ist, so ist damit die ausnahmsweise Strafwürdigkeit der erfolglos gebliebenen Teilnahme, des Teilnahmeversuchs, gegeben. Die dogmatische Führung bei diesem Zusammentreffen übernehmen die für die Teilnahme geltenden Grundregeln, wobei die reale Akzessorietät der §§ 48, 49 durch eine hypothetische Akzessorietät ersetzt wird.“
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für die Teilnahme geltenden Grundregeln im Verhältnis zum Grundgedanken der Vorbereitung die „dogmatische Führung“ (?) übernehmen sollen und wie es zugehen soll, dass eine reale Akzessorietät durch eine „hypothetische Akzessorietät ersetzt wird,“ bleibt im Dunkeln. In Wahrheit wird die Akzessorietät bei § 30 StGB wegen des Fehlens einer realen Haupttat gerade durchbrochen.171 Aus einem Nichts lassen sich aber keine Schlussfolgerungen ziehen.172 Nun wird vielfach vertreten, dass die Zugehörigkeit des § 30 StGB zur Teilnahme oder zur Vorbereitung als Vorstufe des Versuchs keine praktisch bedeutsamen Auswirkungen habe.173 Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn diejenigen, die sich mit der Einordnung des § 30 StGB ins System befassen, fahren nach einer Parteinahme für die Vorbereitungstheorie unbekümmert oder zumindest beschwichtigend fort, es könnten doch wesentliche Rechtsgedanken der Versuchsund Teilnahmelehre wenigstens sinngemäß auf § 30 StGB angewendet werden.174 Dass hiergegen Bedenken anzumelden sind, hat Bloy175 in Bezug auf die Versuchslehre näher dargelegt und ist dafür eingetreten, bei der Auslegung eigene, von den Versuchsgrundsätzen unabhängige Wege zu beschreiten. Hieran anknüpfend ist nachfolgend der Fokus auf das Problem der „Akzessorietät“ bei § 30 StGB zu legen, wie es uns in BGHSt 53, 174 bereits nachhaltig vor Augen getreten ist.176 V. Strafgrund des § 30 StGB ist, wie die bisherigen Überlegungen ergeben haben, die besonders gefährliche Vorbereitung einer schweren Rechtsgutsverletzung. Die Schwere der Rechtsgutsverletzung fungiert dabei als Gradmesser für die abstrakte Gefährlichkeit der Vorbereitungshandlung. Handelt es sich bei der intendierten Straftat um ein Verbrechen, so erscheint das Verhalten des nach § 30 StGB Handelnden strafwürdig; er selbst konstituiert sich dadurch zugleich als „Gefährder“. Liegt der Zweck des Gesetzes darin, der Begehung schwerer Straftaten schon im Vorfeld der Tatausführung entgegenzuwirken, so ist es zutreffend, mit BGHSt 53, 178 zu betonen, dass es bei § 30 StGB um die Verhinderung gefährlicher Taten geht. Im Gesetz wird das durch das nach alledem „zentrale“ Tat171
Richtig schon BGHSt 1, 131 (133 f.). Besonders deutlich NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 22; s. ferner MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 10; Stratenwerth/Kuhlen, AT (Fn. 113), 12/169; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 7 Fieber, Verbrechensverabredung (Fn. 9), S. 57 f.; Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 10. 173 Vgl. Jakobs, AT (Fn. 90), 27/1 Fn. 2; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 3. 174 Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/3; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 2a; Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 10. 175 JR 1992, 492 ff. (494). 176 Die Verbrechensverabredung (§ 30 Abs. 2 Var. 3 StGB) bietet Sonderprobleme, die hier am Ende nur kurz gestreift werden können. 172
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bestandsmerkmal „Verbrechen“177 zum Ausdruck gebracht. Dieses Merkmal bezieht sich nach Maßgabe seines Wortlauts und nach dem Kontext, in dem es steht,178 ersichtlich auf denjenigen, der die spätere Tat ausführen soll. Das Gesetz bestimmt nicht, dass die Merkmale, die den Verbrechenscharakter einer Straftat ausmachen, allein dem Unrecht der Tat zuzuordnen sein dürfen. Auch andere, insbesondere schuldrelevante höchstpersönliche Merkmale (§ 28 Abs. 2 StGB) wie z. B. die Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit einer Tatbegehung oder wie früher die Rückfälligkeit,179 die eine Tat zum Verbrechen machen, können nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die von Dreher180 begründete und von Gallas181 und anderen182 fortgeführte Ansicht, dass die Verbrechensqualität der (präsumtiven) Haupttat nur auf einem gesteigerten Unrechtsgehalt der Tat und nicht nur auf schulderhöhenden Umständen beruhen dürfe, ist verfehlt. Es trifft nämlich nicht zu, dass ein erhöhtes Schutzbedürfnis der Allgemeinheit nur bei den zuerst genannten Taten besteht. Das beruht darauf, dass Taten, die etwa durch gewerbsmäßig handelnde Personen („Profis“) begangen werden, auch objektiv als gefährlicher einzustufen sind. Ihre Verhinderung ist gerade auch ein Anliegen der Strafbarkeitserklärung nach den §§ 49a a. F., 30 n. F. StGB gewesen.183 Mit völligem Recht hat schon Fränkel184 darauf hingewiesen, dass eine erhebliche Interessenverletzung nicht nur gegeben ist, wenn die Tat wegen des Wertes des verletzten Rechtsguts oder wegen der erschwerten Art der Begehung, sondern auch wegen der Begehung gerade durch einen bestimmten Täter, z. B. im Hinblick auf seine persönlichen Eigenschaften etwa als gewerbs177 Ob ein Verbrechen vorliegt, bestimmt sich nach der sog. „abstrakten Methode“ (LK-Schünemann [Fn. 9], § 30 Rn. 34; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 8; Geppert, Jura 1997, 548). Der nach § 30 StGB Handelnde muss die Tatsachen kennen, welche die Verbrechensqualität begründen. Es genügt, wenn er sich solche – wenn auch irrig – vorstellt (BGHSt 3, 308; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 3; SSWStGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 4; Lackner/Kühl (Fn. 88), § 30 Rn. 2; Fischer (Fn. 15), § 30 Rn. 4; Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/22 f., 28/58. 178 Das Wortlautargument wird vielfach gering geschätzt, vgl. etwa Greissinger, Der Einfluß der persönlichen Merkmale i. S. des § 50 Abs. 2 StGB auf die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen gem. § 49a Abs. 1 StGB, 1960, S. 110 ff.; Brose, Die versuchte Verbrechensbeteiligung (§ 49a StGB), 1970, S. 148 ff.; Kühl, JuS 1979, 876; Dessecker, JA 2005, 553; zustimmend Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 50; richtig dagegen Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 149. 179 Zur Gewerbsmäßigkeit s. NK-Puppe (Fn. 9), §§ 28, 29 Rn. 76; LK-Schünemann (Fn. 9), § 28 Rn. 66. Zum Rückfall (§ 17 a. F. StGB), vgl. RGSt 32, 267 (268); LK9Busch, § 50 Rn. 19 m.w. N. 180 GA 1954, 16 f.; ders., MDR 1954, 121; ders., Prot. SA V/1836. 181 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), S. 213; ders., ZStW 80 (1968), 33. 182 Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 702; Stratenwerth/Kuhlen, AT (Fn. 113), 12/ 173 f.; Letzgus, Vorstufen (Fn. 8), S. 205 f.; s. auch SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 19 ff. 183 Vgl. dazu auch Meyer/Allfeld, Lehrbuch (Fn. 69), § 40, S. 251 Fn. 4 (mit Erwähnung des Rückfalls); Stienen, JW 1924, 1708. 184 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), Anhang Nr. 41, Umdruck R 36, S. 119.
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mäßig Handelnder, besonders schwerwiegend erscheint. Gerade in Bezug auf § 263 Abs. 5 StGB, um den es in BGHSt 53, 174 ging, hat der Gesetzgeber die Einstufung als Verbrechen damit begründet, dass die Anwendung des § 30 StGB ermöglicht werde und damit zu einer Strafbarkeit bereits im Vorfeld der Tatbegehung führe.185 Es ist also de lege lata nicht möglich, den Verbrechensbegriff auf unrechtskonstituierende Momente zu beschränken. Der Verbrechensbegriff in § 30 StGB ist einheitlich und keiner Differenzierung zugänglich. Für jeden nach § 30 StGB Handelnden ist das Tatbestandsmerkmal „Verbrechen“ strafbegründend.186 Nicht entschieden ist damit allerdings, welchen Einfluss das Vorhandensein oder das Fehlen von besonderen persönlichen Merkmalen i. S. d. § 28 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB, die den Verbrechenscharakter der präsumtiven Haupttat konstituieren, auf das „Ob“ und „Wie“ der Strafbarkeit desjenigen hat, der nach § 30 StGB handelt. Diese Frage ist äußerst umstritten,187 wobei die h. M. bekanntlich behauptet,188 dass die Vorschriften über die Akzessorietät der Teilnahme (§§ 28, 29 StGB) „zumindest sinngemäß“ auf die versuchte Beteiligung anzuwenden seien.189 Die Anwendbarkeit dieser Normen ist aber grundsätzlich zu bestreiten. Der von der h. M. vertretene Erst-recht-Schluss (wenn bei versuchter oder vollendeter Haupttat die Akzessorietät gelockert oder durchbrochen wird, müsse das bei den Vorstufen der Beteiligung auch und erst recht gelten)190 ist anfechtbar, weil die Frage gerade die ist, ob bei § 30 StGB Akzessorietätsgrundsätze überhaupt gelten.191 Zaczyk192 hat in dieser Beziehung sehr treffend bemerkt, es könne bei § 30 StGB von Akzessorietät keine Rede sein; eine virtuelle Akzessorietät sei aber rechtlich bedeutungslos oder zumindest unergiebig. Andere Autoren äußern 185
Entwurf eines 6. StrRG, BT-Drucks. 13/8587, S. 43. Zu Unrecht krit. Dehne-Niemann, Jura 2009, 697, 698. 187 Vgl. dazu die Nachweise bei LPK-Kindhäuser (Fn. 22), § 30 Rn. 6 ff.; HK-GS/ Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 39 ff.; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 34 ff.; Dehne-Niemann, Jura 2009, 697 ff. 188 Siehe dazu schon die Nachweise in Fn. 174. 189 Vgl. etwa BGHSt 6, 311; LK-Schünemann (Fn. 9), § 28 Rn. 79, § 30 Rn. 40; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 11; SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 20; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 13; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/12; Baumann/ Weber/Mitsch, AT (Fn. 88), 32/47; Rengier, AT (Fn. 89), 47/13; Greissinger, Einfluß (Fn. 178), S. 50 ff.; Dreher, MDR 1955, 119 (120). 190 Vgl. Marxen, Kompaktkurs StrafR AT, 2003, S. 182; Kudlich, StrafR AT (PdW), Nr. 310, S. 267 f.; Wessels/Beulke, AT (Fn. 130), Rn. 562; Kühl, AT (Fn. 14), 20/247; ders., JuS 1979, 876; Maurach/Gössel, StrafR AT/2, 53/29; Otto, Grundkurs (Fn. 130), 22/80; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 14; Lackner/Kühl (Fn. 88), § 30 Rn. 2; BeckOK-StGB/Beckemper (Ed. 10, 2009), § 30 Rn. 4; Geppert, Jura 1997, 549. 191 Dagegen auch Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 48. 192 NK (Fn. 9), § 30 Rn. 8. 186
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sich ganz ähnlich.193 Jedenfalls geht es nicht an, der Vorbereitungstheorie zuzustimmen und gleichzeitig Behauptungen aufzustellen, die nur mit der Teilnahmetheorie einigermaßen sinnvoll erscheinen. Es spricht eigentlich alles dafür, eine gesetzliche Regelung zu verlangen, die sich zur Anwendbarkeit des § 28 StGB verhält. Der Gesetzgeber hat hier leider in nicht nachvollziehbarer Ängstlichkeit einiges versäumt. Von dieser Grundsatzfrage abgesehen hätte die Anwendung des § 28 StGB auf Vorstufen der Beteiligung Konsequenzen, die kaum billigenswert erscheinen.194 Liegen bei einem präsumtiven Haupttäter besondere persönliche Merkmale i. S. d. § 28 Abs. 1 StGB vor, so gelangt die h. M.195 zur Strafbarkeit des Täters nach § 30 StGB, wobei es für ihn zu einer doppelten Strafmilderung kommt.196 Für die Verbrechensqualität wird insoweit auf den präsumtiven Haupttäter abgestellt. Bei strafmodifizierenden Merkmalen i. S. d. § 28 Abs. 2 StGB käme es dagegen auf die Verbrechenseigenschaft in der Person des nach § 30 StGB Handelnden an. Dabei müsste die auch von Ingeborg Puppe197 vertretene tatbestandsverschiebende Wirkung dieser Norm bedacht werden. Die Folgen einer solchen Konstruktion sind wenig überzeugend: Wäre die Tat für einen präsumtiven Haupttäter z. B. mangels Gewerbsmäßigkeit kein Verbrechen, wohl aber für den selbst gewerbsmäßig handelnden (etwa den eine Anstiftung versuchenden) Täter des § 30 StGB, so würde man – wie ein Teil der Lehre das auch will198 – einen verbrecherischen Anstiftungsversuch zu einem Vergehen bestrafen.199 Das ist offenbar gesetzwidrig, da nicht daran vor193 Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 702; Stratenwerth/Kuhlen, AT (Fn. 113), 12/ 169 f.; Bloy, JR 1992, 494. Bei Schünemann (LK [Fn. 9], § 30 Rn. 2), heißt es: „Wenn aber das Unrecht der Teilnahme sich wesentlich aus dem Unrecht der Haupttat ableitet, kann essentiell kein Teilnahmeunrecht vorliegen, wenn es an einer realen Tat mangelt.“ Nur werden daraus nicht die Konsequenzen gezogen. 194 Krit. auch SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 7; Frister, AT4, 2010, 29/33; Rengier, AT (Fn. 89), 47/15. 195 Vgl. Wessels/Beulke, AT (Fn. 130), Rn. 562; Gropp, StrafR AT, 1997, 9/99 Fn. 61; Baumann/Weber/Mitsch, AT (Fn. 88), 32/48; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 44; SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 17, 21; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 13; SSW-StGB/Murmann (Fn. 15), § 30 Rn. 6; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 24. 196 Nämlich einmal nach § 28 Abs. 1 StGB und zum anderen nach § 30 Abs. 1 S. 2 StGB. 197 ZStW 120 (2008), 504 (507); NK-Puppe (Fn. 9), §§ 28, 29 Rn. 37, 38. 198 Vgl. etwa Jakobs, AT (Fn. 90), 27/6; Wessels/Beulke, AT (Fn. 130), Rn. 562; Joecks, StGB6 2005, § 30 Rn. 8; Schönke/Schröder-Cramer/Heine (Fn. 15), § 30 Rn. 14; Kühl, AT (Fn. 14), 20/247; ders., JuS 1979, 876; Maurach/Gössel, AT/2 (Fn. 88), 53/27, 53/29; Brose, Verbrechensbeteiligung (Fn. 178), S. 142 ff.; Greissinger, Einfluß (Fn. 178), S. 110 ff.; Schröder, JuS 1967, 292 f.; Geppert, Jura 1997, 549; für strafmodifizierende Schuldmerkmale auch Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/28; ders., JA 1979, 174. 199 Zutr. Sax, ZStW 90 (1978), 927 (959 f.).
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beizukommen ist, dass die präsumtive Haupttat jedenfalls ein Verbrechen sein muss. Im umgekehrten Fall bliebe eine wegen der auf eine gewerbsmäßige Tatbegehung gerichtete und gerade deshalb gefährliche Vorbereitungshandlung straflos:200 Der Amateur, der mehrfach versucht, einen Profi zu einer erfolgversprechenden Unternehmung zu veranlassen, hätte keinerlei Strafe zu befürchten. Das widerspricht dem Strafgrund des § 30 StGB und ist im Übrigen auch mit der Vorbereitungstheorie nicht zu vereinbaren. Die Rechtsprechung201 und ein Teil der Literatur202 entgehen diesen Konsequenzen dadurch, dass sie die Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB auf die Strafzumessung beschränken. Die Lösung macht keine Abstriche vom dem Erfordernis, dass die Haupttat Verbrechen sein muss und wahrt den Lösungsgleichklang mit den § 28 Abs. 1 StGB-Fällen. Aber sie postuliert eine Rechtsfolge, die in § 28 Abs. 2 StGB so nicht vorgesehen ist und nur von einigen Autoren203 unter Beschränkung auf Pflichtdelikte vertreten wird. Es handelt sich daher im Grunde um eine reine Rechtsschöpfung, die sich nicht auf das Gesetz stützen lässt. Eine „sinngemäße Anwendung“ der §§ 28, 29 StGB liegt nicht vor. Keinen Ausweg bietet die von der sog. „kumulativen Theorie“ aufgestellte Forderung, dass schuldrelevante Merkmale sowohl beim präsumtiven Haupttäter als auch beim nach § 30 StGB Handelnden vorliegen müssen.204 Für diese Auffassung gibt es im Gesetz nicht den geringsten Anhaltspunkt. Mehr noch, eine solche Annahme ist schlicht gesetzwidrig. Ihre Vertretbarkeit würde die Einführung einer Norm nach Art des § 32 Abs. 2 AE voraussetzen.205 Das hat der Gesetzgeber aber gerade abgelehnt,206 weil er vermeiden wollte, dass bei strafbegründenden besonderen persönlichen Merkmalen i. S. d. § 28 Abs. 1 StGB in der Person
200 Vgl. die Nachweise in Fn. 198 sowie (zu BGHSt 53, 174) v. Heintschel-Heinegg, JA 2009, 548; Dehne-Niemann, Jura 2009, 698. 201 BGHSt 6, 310 f.; 53, 177; BGH StV 1987, 386. 202 HK-GS/Letzgus (Fn. 91), § 30 Rn. 45; Rengier, AT (Fn. 89), 47/15; LK9-Busch, § 49a Rn. 21; J.-D. Busch, Strafbarkeit (Fn. 26), S. 149 ff.; Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 46 ff., 54 f.; Meister, MDR 1956, 16; Börker, JR 1956, 286; E 1962, Begr. S. 154 f. 203 Vgl. etwa Cortes Rosa, ZStW 90 (1987), 413 (420 ff.); Roxin, AT/2 (Fn. 9), 27/ 19 f.; krit. dazu NK-Puppe (Fn. 9), §§ 28, 29 Rn. 38. 204 NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 27, 29; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 34 ff., 43; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 18; Baumann/Weber/Mitsch, AT (Fn. 88), 32/49 f.; s. auch SK-Hoyer (Fn. 1), § 30 Rn. 21 ff. Dass eine kumulative Theorie existiert, bestreitet v. Heintschel-Heinegg (JA 2009, 547 Fn. 3), in nicht nachvollziehbarer Weise. Nach Jakobs (AT (Fn. 90), 27/6), ist die kumulative Theorie „Ausdruck der Ratlosigkeit, was besondere persönliche Merkmale bedeuten.“ 205 Soweit Schünemann (LK [Fn. 9], § 30 Rn. 43), den Regelungsgehalt des § 32 Abs. 2 AE schon de lege lata umsetzen will, muss er das schon dem Gesetzgeber überlassen. 206 Zweiter Schriftlicher Bericht (Fn. 65), S. 13.
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des präsumtiven Haupttäters für den nach § 30 StGB Handelnden, der ja selbst nicht qualifiziert ist, Straffreiheit eintritt.207 Nun zeigen sich beide der zuletzt erwähnten Auffassungen verständlicherweise darum besorgt, mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens nicht in Konflikt zu geraten. Das darf aber nicht zur „Verbiegung“ der Rechtslage führen. Dafür besteht auch keine Notwendigkeit, wenn die Rechtsauffassung zutrifft, dass bei § 30 StGB die gesamte Rechtsfolgenpalette des Versuchs zur Verfügung steht, die Bestimmung des § 30 Abs. 1 S. 3 StGB also im Sinne einer Rechtsfolgenverweisung interpretiert wird. Aber auch sonst sollte die Verhängung einer schuldangemessenen Strafe möglich sein.208 Jedenfalls bedeutet die Nichtanwendung des § 28 StGB auf den Versuch der Beteiligung nicht, dass dem nach § 30 StGB Handelnden eine Bestrafung „nach seiner Schuld“ (vgl. § 29 StGB) verweigert würde. Das Maß seiner Schuld ist nur seiner eigenen Handlung zu entnehmen. Und diese ist gefährlich und strafwürdig, wenn es zur Begehung eines Verbrechens durch einen anderen oder den Täter selbst kommen kann.209 Im Ergebnis muss daher eine wie auch immer beschaffene Anwendung des § 28 StGB auf die Verbrechensvorbereitung ausscheiden. Es kommt nur darauf an, ob der präsumtive Haupttäter nach der Vorstellung des nach § 30 StGB Handelnden ein Verbrechen begehen würde. Die Qualifikation des Letzteren spielt keine Rolle. Bei der Verbrechensverabredung (§ 30 Abs. 2 Var. 3 StGB) sollte eine zutreffende Auslegung – ohne dass dies hier näher ausgeführt werden kann210 – dazu gelangen, dass die verabredete Tat für beide Beteiligten ein Verbrechen darstellt.211 Falls einer der Beteiligten nicht qualifiziert ist, kann eine Strafbarkeit nach anderen Begehungsformen des § 30 StGB, insbesondere auch nach § 30 Abs. 1 StGB in Betracht kommen.212 Diese Lösung lässt sich durchaus in die Thesen einpassen, die zuvor aufgestellt worden sind.213 207 Vgl. dazu auch Sturm, Prot. SA V/1832; s. auch Thalheimer, Vorfeldstrafbarkeit (Fn. 9), S. 53. 208 Siehe dazu auch BGHSt 1, 308 f. Das Problem des Strafrahmens hat schon Dreher (GA 1954, 21) erkannt, jedoch daraus keine Folgerungen gezogen. 209 Sind z. B. an einer Kettenanstiftung zu einem Verbrechen auf Anstiftungsseite Qualifizierte und Nichtqualifizierte gleichermaßen beteiligt, so drängt sich eine strafrechtliche Gleichbehandlung der Beteiligten geradezu auf. Der E 1962 stellt auch hier zu Recht auf das Vorliegen der Verbrechensqualifikation in der Person des Haupttäters ab, s. E 1962, Begr. S. 154. 210 Zum Streitstand vgl. Roxin, AT/2 (Fn. 9), 28/62 ff.; MüKo-Joecks (Fn. 15), § 30 Rn. 19 ff. 211 Vgl. dazu Welzel, Strafrecht (Fn. 14), S. 125; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 54; Frister, AT (Fn. 194), 29/37; LK-Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 75 f.; bei unrechtssteigernden Merkmalen auch Fieber, Verbrechensverabredung (Fn. 9), S. 76; offen gelassen von BGHSt 12, 306 (307). 212 BGHSt 12, 307; NK-Zaczyk (Fn. 9), § 30 Rn. 54. 213 Die von Jescheck/Weigend, AT (Fn. 90), S. 702 f. vorgeschlagenen Korrekturen brauchen deshalb nicht weiterverfolgt zu werden. Frister (AT [Fn. 194], 29/37) weist
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VI. § 30 StGB ist nach Dreher214 ein „ebenso wichtiges wie interessantes Stück unseres Strafrechtssystems“, das „voller Probleme und Zweifel steckt.“ Die Vorschrift ist sicher ein Kandidat für weitere Reformen, bei denen der Gesetzgeber freilich entschlossener vorgehen sollte, als er dies bisher getan hat.215 Er wird dabei die Vorschläge in Erwägung ziehen können, die der 18. Weltkongress der AIDP in Istanbul im Jahre 2009 gemacht hat. Dazu gehört insbesondere die Frage nach dem Standort der Bestimmung im AT oder BT, eine Beschränkung auf bestimmte Verbrechen und die Begrenzung der inneren Tatseite auf mindestens wissentliches Verhalten.216 An der grundsätzlichen Berechtigung einer Bestimmung nach dem Muster des § 30 StGB sollten nach so langer Zeit keine ernsthaften Zweifel mehr bestehen. Die Notwendigkeit einer Vorverlagerung der „kriminellen Verteidigungslinie“ lässt sich – worauf Fränkel217 hingewiesen hat – womöglich nicht dogmatisch rechtfertigen, sondern beruht „auf vorgegebenen Wertvorstellungen, letzten Endes auf dem allgemeinen Rechtsempfinden. Eine solche Notwendigkeit kann allerdings – so hat er weiter ausgeführt – „naturgemäß nur derjenige anerkennen, der die erwähnten Wertvorstellungen besitzt und bejaht.“ Dabei wird es wohl noch lange bleiben.
richtig darauf hin, dass die Problematik hier eine ganz andere als bei der versuchten Anstiftung ist. Die Verabredung erfordere schon nach ihrem Wortsinn, dass beide Beteiligte ein Verbrechen begehen wollen. 214 GA 1954, 22. 215 Vor allem müsste entschieden werden, wie in Fällen personalbestimmten Unrechts vorzugehen ist. 216 Abrufbar ist die Resolution über die Webseite der AIDP, www.penal.org. 217 NdSchr. Bd. 2 (Fn. 5), Anhang Nr. 41, Umdruck R 36, S. 115.
„Gemeinsames Versagen“ Zu Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft Von Thomas Rotsch I. Einleitung In ihrem fulminanten Beitrag „Wider die fahrlässige Mittäterschaft“ findet sich bei Ingeborg Puppe der schöne Satz: „Jeder versagt für sich allein.“1 Puppe hält dies für einen „der ganz wenigen Sätze, über die in der Strafrechtsdogmatik bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts Einigkeit herrschte.“2 Wo es um bloßes Nichtbeachten von Sorgfaltsanforderungen gehe, so die Behauptung, könne dem Täter zwar ein von ihm verursachter Erfolg, nicht aber das Versagen anderer zugerechnet werden.3 Damit ist die in den letzten zehn Jahren von anderer Seite zunehmend für notwendig und zulässig erachtete Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft mit deutlichen Worten abgelehnt. Konjunktur hat die Ansicht Puppes freilich nicht. Schon 1930 hatte Exner formuliert: „Es ist kein triftiger Grund einzusehen, weshalb die herrschende Meinung und das Reichsgericht die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft nicht anerkennt.“4 Und neuerdings findet sich selbst bei Roxin der bemerkenswerte Satz: „[. . .] die grundsätzliche Berechtigung einer Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft sollte nicht mehr bestritten werden.“5 Während eine schon unüberschaubare höchstrichterliche Rechtsprechung etwa zu Fragen der Beteiligungsdogmatik im Betäubungsmittelstrafrecht erstaunlicherweise kaum jemanden zu grundsätzlichen Überlegungen zu Voraussetzungen und Grenzen des in §§ 25 ff. StGB normierten Beteiligungsformensystems inspiriert, sind es gerade einmal zwei vereinzelt gebliebene höchstrichterliche Entscheidungen gewesen, die eine wahre Veröffentlichungsflut zur fahrlässigen Mittäterschaft 1
Puppe, GA 2004, 129. Puppe, a. a. O. 3 Puppe, a. a. O. 4 Exner, Frank-FG, Bd. I, 1930, S. 569 (572). 5 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 25 Rn. 242. Anders noch ders., LK11 (1992), § 25 Rn. 221, wo er die Konstruktion einer fahrlässigen Mittäterschaft noch für überflüssig hielt. Vgl. auch ders., Täterschaft und Tatherrschaft8, 2006, S. 737, mit Nachweisen zur älteren Literatur in Fn. 743. 2
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nach sich gezogen haben.6 Dabei stammt eine der Entscheidungen nicht einmal aus Deutschland und tatsächlich ist in beiden Entscheidungen von fahrlässiger Mittäterschaft ausdrücklich gar nicht die Rede.7 Die spezifische Schwierigkeit bei der Beantwortung der Frage nach der Berechtigung der fahrlässigen Mittäterschaft liegt in dem Umstand begründet, dass eine Untersuchung dieser zunehmend prominenten Rechtsfigur naturgemäß nicht allein originär beteiligungsdogmatische Fragen aufwirft, deren Beantwortung für sich gesehen schon schwierig genug wäre. Darüber hinaus stellen sich vielmehr grundlegende Probleme wie das Verhältnis von Kausalität und Beteiligung einerseits und von Vorsatz und Fahrlässigkeit andererseits. Bei der Untersuchung der Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft sind zwei Fragen voneinander zu trennen. Zunächst ist zu klären, ob es fahrlässige Mittäterschaft dogmatisch-konstruktiv überhaupt geben kann, bejahendenfalls ist anschließend danach zu fragen, ob die Rechtsfigur dogmatisch notwendig ist. Lässt sich diese zweite Frage verneinen, ist die fahrlässige Mittäterschaft auch kriminalpolitisch nicht erforderlich. Dabei liegt der Schluss nicht fern, dass Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft als Beteiligungsform sich nur auf der Grundlage der Voraussetzungen traditioneller Mittäterschaft – also beim Vorsatzdelikt – bestimmen lassen, auch wenn diese Voraussetzungen im Hinblick auf die spezifische Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte möglicherweise zu modifizieren sind. Der vorliegende Beitrag versucht daher in einem ersten Schritt (unter II.) zu klären, welches die Voraussetzungen der Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB bei den Vorsatzdelikten sind. Dabei ist zunächst (unter 1.) die vermeintlich subjektive Voraussetzung des „gemeinsamen Tatentschlusses“ genauer zu untersuchen, bevor die Anforderungen an die „gemeinsame Tatausführung“ näher konkretisiert werden können (unter 2.). In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage nach Notwendigkeit, Bedeutung und Inhalt des täterschaftlichen Verursachungsbeitrages. Erst auf dieser Grundlage kann dann in einem zweiten Schritt (unter III.) die Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft kritisch hinterfragt werden. In diesem
6 Vgl. allein aus der monographischen Literatur insbesondere Weißer, Kausalitätsund Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, 1996; Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft, 1998; Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, 2000; Kim Sung-Ryong, Die Analyse des „gemeinschaftlichen Begehens“ im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB und die Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt, 2001; Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen, 2001; Häring, Die Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt, 2005; Kraatz, Die fahrlässige Mittäterschaft, 2006; van Weezel, Beteiligung bei Fahrlässigkeit, 2006; Becker, Das gemeinschaftliche Begehen und die sogenannte additive Mittäterschaft, 2009. 7 Es geht um den sog. „Rolling Stones“-Fall des schweizerischen Bundesgerichts (BGE 113 IV, 58) und das „Lederspray“-Urteil des BGH (BGHSt 37, 106). Vgl. unten III. 1.
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Kontext sind denn auch Grund und Grenzen der Fahrlässigkeitshaftung zu problematisieren. Die verehrte Jubilarin hat sich mit vielen dieser Fragen in zahlreichen heute fast schon legendär zu nennenden Beiträgen in stets sehr deutlich und pointiert Stellung beziehender Art und Weise auseinandergesetzt. Das gilt auch für die von ihr vehement bekämpfte fahrlässige Mittäterschaft, der sie plakativ den eingangs zitierten Satz entgegengehalten hat. Eine in jüngster Zeit durchaus zunehmende Zahl von Autoren folgt ihr in diesem Urteil und ist der Auffassung, die fahrlässige Mittäterschaft sei überflüssig. Ist es also tatsächlich so, dass jeder für sich allein versagt, oder lässt es sich doch dogmatisch überzeugend begründen, ein „Gemeinsames Versagen“?8 II. Die Voraussetzungen der Mittäterschaft beim Vorsatzdelikt Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird gem. § 25 Abs. 2 StGB jeder als Täter bestraft. Diese sogenannte Mittäterschaft setzt nach überwiegender Ansicht bekanntlich zweierlei voraus: den „gemeinsamen Tatplan“ und die „gemeinsame Tatausführung“. Auch wenn die Terminologie variiert,9 ist man sich doch weithin über den Begriffsinhalt und darin einig, dass es sich bei der ersten Voraussetzung um das subjektive, bei der zweiten Voraussetzung um das objektive Element der Mittäterschaft handelt.10 Schon das verdient Kritik. 1. Der gemeinsame Tatentschluss Natürlich geht es im Rahmen der „vorsätzlichen Mittäterschaft“11 bei dem gemeinsamen Tatentschluss zunächst einmal zumindest auch um ein subjektives 8 Ich habe an anderer Stelle versucht, in Abkehr von einem differenzierenden Beteiligungsformensystem die Grundzüge einer normativ-funktionalen Straftatlehre zu skizzieren, vgl. Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009. Für den vorliegenden Beitrag, der die Tragfähigkeit der fahrlässigen Mittäterschaft auf dem Boden der Tatherrschaftslehre untersucht, bleiben diese Erwägungen unberücksichtigt. 9 Vgl. etwa Wessels/Beulke, AT39, Rn. 526: „gemeinsamer Tatentschluss und gemeinschaftliche Tatbestandsverwirklichung“; Murmann, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 25 Rn. 31: „bewusstes und gewolltes Zusammenwirken mehrerer [. . .], die als gleichberechtigte Partner auf Grundlage eines gemeinschaftlichen Tatentschlusses einander wechselseitig ergänzende Tatbeiträge erbringen [. . .].“ 10 Ausdrücklich in diesem Sinne etwa Roxin, in: LK11 (Fn. 5), § 25 Rn. 173; Schünemann, in: LK12, 2007, § 25 Rn. 173; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil6, 2008, § 20 Rn. 103. Vgl. auch Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 25 Rn. 63 ff. Zusammenfassend Hoyer, in: SK-StGB7, 2000, § 25 Rn. 121 ff. 11 Genaugenommen geht es um mittäterschaftliche Begehung eines vorsätzlichen Delikts. Im Rahmen eines solchen vorsätzlichen Delikts sind die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 StGB also – entsprechend der jeweils vertretenen Beteiligungslehre – in dessen Struktur einzupassen. Damit ist dann freilich noch nicht gesagt, dass diese Vorausset-
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Merkmal.12 Denn ebenso wie jeder Alleintäter eines Vorsatzdeliktes naturgemäß hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale, also auch im Hinblick auf seine Beteiligungsform, vorsätzlich handeln muss, so hat der Mittäter bei der Begehung einer vorsätzlichen Straftat sämtliche Voraussetzungen dieses Straftatbestandes als (subjektive) Vorstellung von der Tatbestandsverwirklichung in seinen Vorsatz aufzunehmen. Hierzu gehört auch – in „laienhafter Parallelwertung“13 – seine Beteiligungsrolle.14 Wer den Tatentschluss des Mittäters als (rein) objektives Merkmal bezeichnet, müsste dies konsequenterweise auch für den Vorsatz des Alleintäters vertreten – was natürlich nicht geschieht. Der Vorsatz des Mittäters unterscheidet sich vom Vorsatz des Alleintäters aber in zweierlei Hinsicht: a) Der Tatentschluss zur gemeinschaftlichen Tatbegehung Der Vorsatz als „Spiegelbild“ des objektiven Tatbestandes15 bezieht sich (fast) immer auf sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale. 16 Das ist beim Alleintäter nicht anders als beim Mittäter; dort ist es nur deshalb nicht besonderer Betonung wert, weil der Alleintäter im Regelfall weiß, dass er die Straftat allein und als unmittelbarer Täter begeht und sich über das Nichtvorhandensein eines Tatkumpanen naturgemäß keine Gedanken machen muss. Hat der Vorsatz des Mittäters hingegen sich aber notwendig auch auf die besonderen objektiven Merkmale mittäterschaftlicher Tatbegehung zu erstrecken, so muss er sich insoweit – nämlich im Hinblick auf die Voraussetzungen der Beteiligungsform – vom Vorsatz des Alleintäters unterscheiden. Ohne die „Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung“ schon hier ihrerseits genauer zu untersuchen,17 lässt sich bereits an dieser Stelle zungen sich auch ohne weiteres in die Struktur des Fahrlässigkeitsdelikts einpassen lassen. Im Folgenden wird dem allgemeinen Sprachgebrauch im Strafrecht entsprechend verkürzt von „vorsätzlicher Mittäterschaft“ und von „fahrlässiger Mittäterschaft“ gesprochen. 12 A.A. Hoyer, in: SK-StGB7 (Fn. 10), § 25 Rn. 130, der von einem „gemeinsamen Tatbeschluss“ spricht und ihn als „das einzige zu fordernde objektive Mittäterschaftsmerkmal“ bezeichnet (a. a. O., § 25 Rn. 131). Gegen dieses streng objektive Verständnis – freilich seinerseits im Sinne (der h. M.) einer rein subjektivierenden Auffassung – Becker (Fn. 6), S. 55 f. 13 Wessels/Beulke, AT39 (Fn. 9), Rn. 243, 132; Momsen, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, (Fn. 9), §§ 15, 16 Rn. 12; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB27 (Fn. 10), § 15 Rn. 43a. 14 Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB27 (Fn. 10), § 25 Rn. 94 ff.; Momsen, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB (Fn. 9), §§ 15, 16 Rn. 9 ff. 15 Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB27, (Fn. 10), § 15 Rn. 38. 16 Eine Ausnahme bilden etwa die „überschießenden Innentendenzen“ i. S. d. §§ 242, 263, 267 StGB oder auch § 6 VStGB. Diese sind dann aber als besondere subjektive Merkmale ausgestaltet, vgl. etwa Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB27 (Fn. 10), Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 63. Siehe aber auch noch Wessels/Beulke, AT39, (Fn. 9), Rn. 208 f.
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zumindest feststellen, dass der Vorsatz des Mittäters sich gerade auf eine – wie auch immer im Einzelnen näher zu bestimmende – (objektive) Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung beziehen muss. Damit ist dann in einem ersten Schritt jedenfalls der grundsätzliche Inhalt des Mittätervorsatzes umschrieben. Das ändert freilich nichts daran, dass ein solcherart konkretisierter Vorsatz insoweit tatsächlich subjektives Tatbestandsmerkmal ist.18 Der „gemeinsame Tatentschluss“ setzt aber noch mehr voraus: b) Die Gemeinsamkeit des Tatentschlusses Wollen mehrere eine vorsätzliche Straftat gemeinschaftlich begehen, genügt es nicht, wenn alle präsumtiven Beteiligten sich die gemeinschaftliche Straftatverwirklichung lediglich für sich selbst vorstellen. Vielmehr ist es erforderlich, dass jeder von dem Willen des jeweils anderen zur gemeinschaftlichen Tatbegehung weiß und diese auch will.19 Das setzt aber voraus, dass dieser Wille dem jeweils anderen (wechselseitig) mitgeteilt wird: Wer sich einseitig entschließt, einem anderen bei der Ausführung einer Straftat beizuspringen, ohne dass dieser andere von diesem – wenn auch möglicherweise entscheidenden – Tatbeitrag etwas weiß, kann nicht Mittäter sein.20 Der häufig sogenannte „einseitige Einpassungsentschluss“21 genügt den Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 StGB daher richtigerweise nicht.22 Freilich muss die damit für erforderlich gehaltene Einigung nicht notwendig durch ausdrückliche und verbale Kommunikation erfolgen; auch die sogenannte konkludente Einigung genügt.23 Puppe hat allerdings stets zu Recht darauf hingewiesen, dass auch die konkludente Tatverabredung dennoch „ein Kommunikationsvorgang sein [muss], nur dass sich die Beteiligten dabei nicht der Worte der Umgangsprache bedienen, sondern anderer Zeichen, um ihre Übereinstimmung herzustellen und zum Ausdruck zu bringen.“24 Hält man dies für richtig, lässt sich aber nicht leugnen, dass das Merkmal des „gemeinsamen 17
Ausführlich unten 2. Die Redeweise vom (rein objektiven) Tatbeschluss (vgl. Fn. 12) ist daher nicht nur missverständlich, sondern unzutreffend. 19 Roxin, Täterschaft8 (Fn. 5), S. 723. Vgl. auch Puppe, ZIS 2007, 234 (236). 20 Roxin, AT II (Fn. 5), § 25 Rn. 191; Puppe, ZIS 2007, 234 (236). 21 Renzikowski, Otto-FS, 2007, S. 430; Jakobs, Strafrecht AT2, 1993, 21/43 (21/45); Lesch, ZStW 105 (1993), 271; Derksen, GA 1993, 163; Utsumi, ZStW 119 (2007), 768 (773). 22 H. M. ebenso schon immer Roxin, Täterschaft8 (Fn. 5), S. 285 f., 723 ff. Siehe auch Kindhäuser, Hollerbach-FS, 2001, S. 650. Aus der Rechtsprechung BGHR, StGB § 25, Abs. 2, Mittäter 29. Anders Jakobs, AT2, (Fn. 21), 21/43; Lesch, ZStW 105 (1993), 271 (277 ff.); Derksen, GA 1993, 163 (169 ff.). Hiergegen insbes. Küpper, ZStW 105 (1993), 295 ff.; ders., GA 1998, 526; Ingelfinger, JZ 1995, 708. 23 Roxin, AT II, (Fn. 5), § 25 Rn. 192. 24 Puppe, ZIS 2007, 234 (238). 18
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Tatentschlusses“ auch eine objektive Komponente hat: die Gemeinsamkeit des Tatentschlusses, die als objektives Faktum in der Welt sein muss.25 Tatsächlich handelt es sich bei dem „gemeinsamen Tatentschluss“ also um ein gemischt subjektiv-objektives Kriterium.26 Inhaltlich geht es etwas präziser formuliert um den gemeinsamen Entschluss zur gemeinsamen Begehung einer vorsätzlichen Straftat. 2. Die gemeinsame Tatausführung Neben den gemeinsamen Tatentschluss tritt nach dem herrschenden Verständnis der Mittäterschaft als objektives Kriterium die gemeinsame Tatausführung.27 Über deren einzelne Voraussetzungen herrscht freilich höchste Uneinigkeit. Die Erörterung dieser Frage ist zweckmäßigerweise ebenfalls in zwei Schritten vorzunehmen. Zunächst ist zu klären, welche Anforderungen an den Tatbeitrag des Alleintäters zu stellen sind (unter a), sodann ist zu untersuchen, welchen Erfordernissen die Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB unterliegt (b). a) Der Tatbeitrag des Alleintäters aa) Die Kausalität des Einzelbeitrages Die Auseinandersetzung um die fahrlässige Mittäterschaft entzündet sich insbesondere an dem Streit über die Frage, ob der Tatbeitrag des Mittäters kausal gewesen sein muss. Diese Frage lässt sich im Rahmen der Mittäterschaft freilich 25 Das verkennt Becker (Fn. 6), S. 55, der eine künstliche Aufspaltung zwischen dem Vorgang der Kommunikation (der objektives Merkmal sei, aber nicht zum Tatentschluss gehöre) und dessen Ergebnis (der den Tatentschluss darstelle, aber rein subjektives Merkmal sei) vornimmt. 26 Vgl. bereits Rotsch (Fn. 8), S. 358 in Fn. 869. Auch auf der Grundlage der herrschenden Meinung, die den gemeinsamen Tatplan als subjektives Element der vorsätzlichen Mittäterschaft bezeichnet (vgl. Fn. 10), erstaunt freilich die häufig anzutreffende Reihenfolge der Erörterung bzw. Prüfung der beiden Voraussetzungen „Tatplan“ und „Tatausführung“. Anders als sonst üblich, erfolgt nämlich regelmäßig zunächst eine Auseinandersetzung mit dem (vermeintlich) subjektiven Merkmal; erst anschließend wird mit der gemeinsamen Tatausführung die objektive Voraussetzung der Mittäterschaft behandelt (vgl. z. B. Wessels/Beulke, AT39, [Fn. 9], Rn. 526 ff.; Kühl, AT6, [Fn. 10], § 20 Rn. 103 ff.; Gropp, AT3, 2005, § 10 B. III. Rn. 82 ff.; anders aber etwa Schild, in: Nomos Kommentar zum StGB3, 2010, § 25 Rn. 125). Eine Erklärung hierfür findet sich nicht. Begründen ließe sich dies – wohlgemerkt: auf dem Boden der herrschenden Ansicht – mit der Erwägung, dass ähnlich wie beim Versuch bei der vorsätzlichen Mittäterschaft der (gemeinsame) Tatplan über das jeweils objektiv Verwirklichte hinausreicht. Gänzlich überzeugend erscheint das aber nicht, denn tatsächlich bezieht der Vorsatz des Mittäters sich ja auf eine gemeinschaftliche Straftatbegehung, die bei der vollendeten Tat auch gegeben ist. Mittätervorsatz und gemeinschaftliche Tatbegehung entsprechen sich also (siehe auch bereits oben im Text unter a). Im Ergebnis wie hier Marlie, Unrecht und Beteiligung, 2009, S. 152 ff. (154). 27 Vgl. z. B. Schünemann, in: LK12, (Fn. 10), § 25 Rn. 156 ff.; Roxin, AT II (Fn. 5), § 25 Rn. 198 ff.; Kühl, AT6, (Fn. 10), § 20 Rn. 107 ff.
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unabhängig von der Unterscheidung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten stellen und sie wird dementsprechend ja auch im Rahmen beider Deliktstypen diskutiert.28 Trotz Erschütterung des Kausaldogmas durch die modernen Naturwissenschaften29 besteht in der Strafrechtswissenschaft heute zumindest weithin Einigkeit darüber, dass zur Begründung strafrechtlicher Haftung Kausalität grundsätzlich überhaupt erforderlich ist.30 Die Frage scheint nur zu sein, ob bei der Mittäterschaft hiervon eine Ausnahme zu machen ist. Dabei ist bereits von Herzberg bei der Erörterung seines berühmten Beispiels zur additiven Mittäterschaft die – nicht begründete – Behauptung vorgebracht worden, es sei gerade die Funktion der Mittäterschaft, mangelnde bzw. nicht sicher feststellbare Kausalität des Einzelbeitrages im Wege der Zurechnung über § 25 Abs. 2 StGB überbrücken zu können.31 Auf diese Behauptung wird immer wieder rekurriert,32 eine Begründung für diese Ansicht findet sich freilich bis heute nicht. Nun lässt sich zwar durchaus darüber streiten, wie weit der Anwendungsbereich der Erfolgsdelikte geht,33 innerhalb der Erfolgsdelikte besteht jenseits des § 25 Abs. 2 StGB aber im Hinblick auf das Erfordernis der Kausalität als Mindestvoraussetzung strafrechtlicher Haftung völlige Einigkeit. So schreibt etwa Roxin ausdrücklich: „Bei den Erfolgsdelikten [. . .] ist nach allgemeinen Regeln zu entscheiden, ob die Verletzung des Handlungsobjektes [. . .] dem Beschuldigten als sein Werk zugerechnet werden kann; ist das nicht der Fall, so hat er nicht im Sinne des Gesetzes getötet, verletzt, beschädigt usw. Eine solche objektive Zurechnung nun ist bei Begehungsdelikten von vornherein unmöglich, wenn der Täter den Erfolg nicht verursacht hat. Wenn sich z. B. nicht nachweisen lässt, dass ein bestimmtes Medikament für die bei den damit behandelten Patienten aufgetretenen Körperschäden ursächlich geworden ist, kann auch nicht angenommen werden, dass der Hersteller des Medikamentes einen Patienten verletzt habe. Infolgedessen ist die Lehre vom Kausalzusammenhang [. . .] das Fundament für jede Zurechnung zum objektiven Tatbestand. Erste Voraussetzung der Tatbestandserfüllung ist immer, dass der Täter den Erfolg verursacht hat.“34 Und, im Hinblick auf die Geltung der Äquivalenztheorie: „Die Äquivalenztheorie behan28 So z. B. Gropp, AT3, (Fn. 26), § 10 B. Rn. 97b; Roxin, AT II (Fn. 5), § 25 Rn. 239 ff.; Kühl, AT6, (Fn. 10), § 20 Rn. 116a. 29 Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB27, (Fn. 10), Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 72. 30 Rudolphi, in: SK-StGB6, 1997, Vor § 1 Rn. 38; Baumann/Weber/Mitsch, AT11, 2003, § 14 Rn. 1; Kühl, AT6, (Fn. 10), § 4 Rn. 6 ff.; Fischer, StGB57, 2010, Vor § 13 Rn. 20 ff.; Kudlich, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, (Fn. 9), Vor §§ 13 ff. Rn. 32 ff.; a. A. bereits Otto, NJW 1980, 417. 31 Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 57. 32 Siehe etwa Renzikowski, Otto-FS, (Fn. 21), S. 428; Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 375. 33 Vgl. Rotsch (Fn. 8), S. 432 ff. 34 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil4, Band I, 2006, § 11 Rn. 1. Vgl. noch Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 77 ff.
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delt also jede Teilursache als selbständige Ursache; sie tut dies, weil es in der Jurisprudenz nicht auf die Gesamtheit aller Bedingungen, sondern immer nur darauf ankommt, den Zusammenhang eines bestimmten menschlichen Handlungsaktes mit dem Erfolg festzustellen.“35 Insbesondere das im „Lederspray“-Fall36 virulent gewordene Problem der Kausalität der Einzelstimme bei Gremienentscheidungen sowie der „Rolling Stones“Fall des schweizerischen Bundesgerichts37 haben diese Erkenntnisse ins Schwanken gebracht.38 Plötzlich wird unter Bezugnahme auf das Zurechnungsinstrument des § 25 Abs. 2 StGB das Erfordernis der Kausalität des einzelnen Tatbeitrages für obsolet erklärt. Da die dogmatische Begründung dieser Ansicht offensichtlich schwer fällt, werden stattdessen Fallkonstellationen anerkannter (vorsätzlicher) Mittäterschaft herangezogen, bei denen es angeblich ebenfalls nicht auf eine Ursächlichkeit des Einzelbeitrages ankommen soll. Dass schon bislang die Kausalität des Einzelbeitrages eines Mittäters nicht vorausgesetzt worden sei, impliziert etwa ein Beispiel39 von Renzikowski. Er formuliert: „Wenn etwa A und B arbeitsteilig einen Bankraub in der Weise begehen, dass A den Wachmann und die Kunden mit einer Waffe in Schach hält, während B ungestört das Geld aus der Kasse nehmen kann, dann ist zwar die Gewaltanwendung des A kausal für die Wegnahme des B, aber lässt sich das auch umgekehrt sagen?“40 Das Beispiel ist vermeintlich gut gewählt, schildert es doch einen Paradefall der Mittäterschaft und überkommen uns doch sogleich tatsächlich heftige Zweifel an der Ursächlichkeit des Verhaltens des B für dasjenige des A. Der Argumentation liegt freilich ein Irrtum zugrunde.41 Denn auf eine Kausalität der durch B begangenen Wegnahme für die Gewaltanwendung des A kommt es überhaupt nicht an. In dem Beispielsfall geht es nicht etwa um eine isolierte Strafbarkeit gem. § 240 bzw. § 242 StGB, sondern für beide präsumtiven Mittäter – das ist ja der Clou der mittäterschaftlichen Zurechnungsnorm des § 25 Abs. 2 StGB – um eine solche wegen gemeinschaftlichen Raubes gem. §§ 249, 25 Abs. 2 StGB. Dann muss aber – beharrt man auf der Notwendigkeit der Kausalität des Einzelbeitrages – das jeweilige Verhalten der präsumtiven Mit35 Roxin, AT4 I, (Fn. 34), § 11 Rn. 7, unter Hinweis auf Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, 1902, S. 1 ff. 36 BGHSt 37, 106. Zum Sachverhalt vgl. ausführlich Rotsch, Individuelle Haftung in Großunternehmen, 1998, S. 85 ff. (88). 37 BGE 113 IV, 58. 38 Ausführlicher zu diesen Entscheidungen und weiteren Schulfällen fahrlässiger Mittäterschaft unten III. 1. 39 Es handelt sich nachgerade um einen klassischen Schulfall der Mittäterschaft, der sich z. B. auch bei Schünemann, in: LK12, (Fn. 10), § 25 Rn. 156, zitiert findet. 40 Renzikowski, Otto-FS, (Fn. 21), S. 427. Dabei wird unterstellt, dass eine Verabredung zur gemeinsamen Tatbegehung vorliegt, siehe noch Fn. 42. 41 Ihm unterliegt auch Hoyer, in: SK-StGB7, (Fn. 10), § 25 Rn. 115.
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täter selbstverständlich nicht kausal für den von dem jeweils anderen begangenen Teilakt sein. Vielmehr kommt es darauf an, dass sowohl A wie auch B kausal für die Deliktsverwirklichung des Raubes geworden sind. Daran besteht aber überhaupt kein Zweifel. Nicht nur ist A durch die Gewaltanwendung ursächlich für die Verwirklichung des § 249 StGB geworden, im Hinblick auf den Raubtatbestand hat auch B mit der Wegnahme des Geldes einen kausalen Verursachungsbeitrag geleistet.42 Wer behauptet, die Notwendigkeit eines Tatbeitrages müsse immer in Richtung auf den anderen Tatbeitrag festgestellt werden, da dessen Zurechnung legitimiert werden müsse,43 verkennt, dass die Grundlage gegenseitiger Zurechnung im Rahmen der Mittäterschaft nicht die kausale Verursachung eines Tatbeitrages des jeweils anderen ist – dann kommt auch Anstiftung in Frage –, sondern der gemeinsame Tatentschluss. Versteht man diesen zudem nicht als ausschließlich subjektives, sondern wie hier als gemischt subjektiv-objektives Kriterium,44 setzt man sich auch schon deshalb nicht dem ansonsten naheliegenden 42 Wer an diesem Ergebnis zweifelt, möge die Strafbarkeit des B schulmäßig prüfen. In Frage steht eine Strafbarkeit gem. §§ 249, 25 Abs. 2 StGB. Die h. M. würde nun im objektiven Tatbestand zunächst die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache prüfen. Diese ist unproblematisch gegeben, weil nach dem Sachverhalt B das Geld aus der Kasse nimmt. Im Rahmen des dann zu erörternden Merkmals der Gewalt würde sie sodann feststellen müssen, dass diese zwar nicht durch B, sehr wohl aber durch A angewandt wurde. In diesem Rahmen stellt sich ihr dann die Frage, ob diese durch A erfolgte Gewaltanwendung B zugerechnet werden kann. Als Zurechnungsfigur kommt § 25 Abs. 2 StGB in Frage, so dass man sich über dessen Voraussetzungen Klarheit verschaffen muss. Der „gemeinsame Tatentschluss“ sei unterstellt (siehe Fn. 40). Im Rahmen der von der h. M. erst im Anschluss zu prüfenden gemeinsamen Tatausführung wird nun nach der restriktivsten Auffassung zunächst kausales Handeln des B vorausgesetzt. B ist nun aber gerade kein Anstifter, der kausal eine Haupttat des A verursachen muss – insoweit käme dann auch nur (Anstiftung zu) § 240 StGB in Frage –, sondern präsumtiver Mittäter der Gesamttat. Dementsprechend muss B kausal für den in Frage stehenden, gegebenenfalls gemeinschaftlich begangenen Deliktstatbestand geworden sein. Das ist nun freilich der Raub i. S. d. § 249 StGB, der sich aus den Tatbeständen der §§ 240, 242 StGB zusammensetzt. Ebenso wenig wie ohne die Gewaltanwendung i. S. d. § 240 StGB ein Raub überhaupt in Betracht kommt, kann ohne die Wegnahme i. S. d. § 242 StGB der Tatbestand des § 249 StGB verwirklicht sein. Damit kommt man dann aber zu dem Ergebnis, dass B sehr wohl den notwendigen Verursachungsbeitrag geleistet hat. Da die kausale Wegnahmehandlung – die Verwirklichung des § 242 StGB – auch einen wesentlichen Tatbeitrag darstellt, kann B die Gewaltanwendung durch A über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden, ohne dass dessen traditionelle Voraussetzungen modifiziert werden müssen. Die Notwendigkeit der Anknüpfung an die Kausalität der Wegnahmehandlung lässt sich auch nicht über eine Anknüpfung an die Ursächlichkeit der Tatverabredung für die gemeinsame Tatbegehung umgehen. Denn dann verzichtete man gerade auf die Kausalität des Tatbeitrages, der der Verabredung zur Tat erst nachfolgt und gelangt so im Ergebnis regelmäßig zur Kausalität. Denn diese ist insoweit (lediglich) notwendiges Bindeglied zwischen dem gemeinsamen Tatentschluss und der gemeinsamen Tatausführung. Das mag bei der fahrlässigen Mittäterschaft anders sein, vgl. dazu unten im Text III. 2. 43 Hoyer, in: SK-StGB7, (Fn. 10), § 25 Rn. 115, unter unzutreffender Bezugnahme auf Roxin, Täterschaft8 (Fn. 5), S. 278. 44 Oben 1.
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Vorwurf aus, mit der Bezugnahme auf ein rein subjektives Element sich der subjektiven Theorie der Rechtsprechung mit all ihren bekannten Schwächen anzunähern.45 Der von Renzikowski mit seinem Beispiel offensichtlich intendierte Nachweis, typische Mittäterschaftskonstellationen würden bereits seit jeher die Kausalität jedes einzelnen Tatbeitrages nicht voraussetzen, gelingt damit nicht.46 Das zeigt im Übrigen auch, dass es sich – entgegen Puppe47 – bei der Mittäterschaft nicht um gegenseitige Anstiftung handeln kann: Denn der Anstifter muss nach jeder Ansicht zumindest kausal für die Tat des Angestifteten sein,48 Mittäterschaft setzte nach einem solchen Verständnis mithin Kausalität des Einzelbeitrages des jeweils einen für den Tatbeitrag des jeweils anderen voraus – worauf es aber, siehe soeben, nicht ankommt. Tatsächlich entscheidend ist also – wie Roxin49 insoweit richtig sieht – die Kausalität des Einzelbeitrages für die Tatbestandsverwirklichung insgesamt.50 Der hiergegen von Hoyer51 erhobene Einwand, eine Zurechnung setze in diesen Fällen die vollständige Tatbestandsverwirklichung durch mindestens einen Beteiligten bereits voraus, „d.h. ihr muß (bei Mittäterschaft) eine Handlungszurechnung gemäß § 25 II vorausgegangen sein“, ist unzutreffend. Letztlich wirft Hoyer damit Roxin einen Zirkelschluss vor: „Indem Roxin auf die Notwendigkeit eines Beitrags für die Tatbestandsverwirklichung abstellt, rechnet er also ein Ereignis zu (Tatbestandsverwirklichung), das selbst erst mittels einer Handlungszurechnung zu begründen wäre.“52 Diese Argumentation gerät selbst in die Nähe eines Zirkelschlusses, denn was wem auf welche Weise zugerechnet werden kann, ist gerade die Frage. Und es leuchtet auch nicht ein, weshalb es richtig sein soll, dass die Zurechnung eines Erfolges (in unserem Beispiel die Verwirklichung des § 249 StGB) bei mehreren Beteiligten von der vorherigen gegenseitigen Handlungszurechnung abhängen soll. Bei der Mittäterschaft in unserem Beispiel stellt 45 Ein solcher Vorwurf träfe dann insbesondere diejenigen Vertreter, die auf einen Tatbeitrag im Ausführungsstadium verzichten. Ihm ließe sich also darüber hinaus dadurch begegnen, dass man außerdem einen arbeitsteilig erbrachten Tatbeitrag im Ausführungsstadium der Tat verlangt, dazu noch unten bb). 46 Vgl. auch Roxin, Täterschaft8 (Fn. 5), S. 278, 280; Hoyer, in: SK-StGB7, (Fn. 10), § 25 Rn. 116 ff. 47 Puppe, ZIS 2007, 234 (235 f.). 48 Ganz h. M., vgl. Fischer, StGB57, (Fn. 30), § 26 Rn. 3; Kühl, AT6, (Fn. 10), § 20 Rn. 170 ff.; Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB27, (Fn. 10), § 26 Rn. 5 ff.; Wessels/Beulke, AT39, (Fn. 9), Rn. 567 ff. 49 Roxin, Täterschaft 8 (Fn. 5), S. 278; ders., in: LK11, (Fn. 5), § 25 Rn. 154. Siehe aber auch ders., AT II (Fn. 5), § 25 Rn. 213, wo nur mehr lediglich Kausalität der mittäterschaftlichen Beiträge in ihrer Gesamtheit vorausgesetzt wird. 50 Vgl. auch Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 129 f. 51 In: SK-StGB, (Fn. 10), § 25 Rn. 116. 52 Hoyer, in: SK-StGB7, (Fn. 10), § 25 Rn. 116.
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der Raub i. S. d. § 249 StGB den tatbestandsmäßigen Erfolg dar, dieser ist jedem der präsumtiven Mittäter zuzurechnen und diese Zurechnung ist von einer gegenseitigen Handlungszurechnung in einem solchen Sinne vollständig unabhängig. Dem widerspricht es nicht, wenn § 25 Abs. 2 StGB gleichwohl ganz überwiegend als Instrument gegenseitiger Handlungszurechnung bezeichnet wird.53 Denn ihre Grundlage hat diese Handlungszurechnung nicht darin, dass die Beteiligten gegenseitig für den (Teil-)Tatbetrag des jeweils anderen kausal werden, sondern vielmehr in der gemeinschaftlichen Zuständigkeit für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs. Die Kausalität des Einzelverhaltens für den Gesamttaterfolg stellt daher – auf der Grundlage des Tatplans – den Grund für die Zurechnung der Handlung des jeweils anderen dar.54 Was lässt sich nun aber zur Notwendigkeit kausaler Verursachung sagen? Redlicherweise nur soviel: Ob strafrechtliche Verantwortlichkeit Kausalität voraussetzt oder nicht, ist keine Frage, die sich mit zwingenden Gründen nur in die eine oder in die andere Richtung entscheiden ließe. Daher erstaunt es auch nicht, wenn die an der Diskussion beteiligten Protagonisten sich gegenseitig Zirkelschlüssigkeit vorwerfen,55 ohne diesen Vorwurf sachlich-inhaltlich untermauern zu können. Begründen lässt sich ihr Erfordernis nur mit dem – allerdings gewichtigen – Hinweis, dass es sich bei der Erkenntnis, dass jegliche Strafbarkeit als Mindestvoraussetzung jedenfalls Kausalität voraussetzt, um ein in über 2000 Jahren mühsamen und intensiven Nachdenkens gewonnenes haftungsrestringierendes Erfordernis fortschrittlichen und aufgeklärten Strafrechts handelt.56 Diesen Erkenntnisgewinn sollte man nicht leichtfertig über Bord werfen.57 Damit deutet sich aber auch an, dass die Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft sich jedenfalls nicht ohne weiteres mit dem Hinweis auf die sachlich-logische Unzulässigkeit der über § 25 Abs. 2 StGB bewirkten Kausalitätsüberbrückung zurückweisen lässt. Wir müssen uns also auf die Suche nach besseren Gründen für die Ablehnung der Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt machen. Kindhäuser, Hollerbach-FS, (Fn. 22), S. 627; Gropp, AT3, (Fn. 26), § 10 Rn. 87. Nebenbei: Dass in unserem Raubbeispiel die Nötigung für die Wegnahme, nicht hingegen notwendigerweise die Wegnahme für die Nötigung kausal ist, ergibt sich aus der Struktur des Raubtatbestandes. Dieser setzt nämlich bekanntlich voraus, dass die Gewalt bzw. Drohung Mittel der Wegnahme sein muss; das gilt aber nicht vice versa, vgl. Fischer, StGB57, (Fn. 30), § 249 Rn. 6 m.w. N. 55 Vgl. Bloy, Zurechnungstypus (Fn. 32), S. 375 einerseits; Puppe, JR 1992, 32; Hoyer, GA 1996, 161 (166 ff., 172 ff.), andererseits. Siehe auch Gropp, GA 2009, 265, der das Problem als „Randfrage“ bezeichnet (a. a. O., S. 267). 56 Vgl. Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 1 ff. Aus jüngerer Zeit z. B. Rehaag, Prinzipien von Täterschaft und Teilnahme in europäischer Rechtstradition, 2009, S. 17 ff., 43 ff., 50 f., 74 ff., 94 ff. Siehe auch Dencker (Fn. 50), S. 24 ff. 57 I. d. S. auch Puppe, JR 1992, 32; dies., in: Nomos Kommentar zum StGB3, (Fn. 26), Vor § 13 Rn. 109; Hoyer, GA 1996, 173; Samson, in: SK-StGB (Voraufl.), § 25 Rn. 188 f. 53 54
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bb) Die Wesentlichkeit des kausalen Einzelbeitrages Insbesondere nach Roxin ist für die Strafbarkeit als Mittäter außerdem erforderlich, dass ein „wesentlicher Tatbeitrag“58 erbracht worden ist. In welchem Verhältnis diese Voraussetzung zu dem Erfordernis der Kausalität steht, ist schon bislang bei Roxin stets im Dunkeln geblieben59 und wird durch sein Bekenntnis zur fahrlässigen Mittäterschaft60 weiter verunklart. Denn bei unbefangener Betrachtung drängt der Gedanke sich nachgerade auf, dass ein Tatbeitrag nur wesentlich sein kann, wenn er zumindest kausal ist. Verzichtet Roxin aber im Rahmen der fahrlässigen Mittäterschaft auf das Merkmal der Einzelkausalität, dann verzichtet er entweder insoweit auf einen wesentlichen Tatbeitrag oder er impliziert, dass der Beitrag eines Mittäters wesentlich sein kann, ohne kausal geworden zu sein. Das kann so oder so nicht richtig sein. Hinzu kommt, dass es nach weithin vertretener Auffassung für die Feststellung der Erheblichkeit bzw. Wesentlichkeit des Tatbeitrages61 nicht auf eine Betrachtung ex post ankommen soll. Vielmehr wird für ausreichend erachtet, dass der Tatbeitrag nach dem Tatplan, und mithin ex ante, für das Gelingen der Tat von Belang war, so dass es auf ihn „hätte ankommen können“.62 Auch das überzeugt nicht. Kausalität und Wesentlichkeit sind zwei voneinander zu unterscheidende Merkmale. Die Ursächlichkeit einer Tathandlung stellt die Mindestvoraussetzung jeglicher strafrechtlichen Haftung dar, das Merkmal der Wesentlichkeit hingegen begründet im Rahmen eines differenzierenden Beteiligungsformensystems die Haftung gerade als Mittäter. Hält man, wie dies hier vertreten wird, an dem Erfordernis der Ursächlichkeit des Einzelbeitrages fest, so ist mithin zunächst richtigerweise darüber hinaus zu verlangen, dass der (kausale) Tatbeitrag wesentlich für die Tatbestandsverwirklichung ist. Über dieses Merkmal findet letztlich die Abgrenzung der Beteiligungsformen zueinander statt und daher lässt die Begründung von Mittäterschaft sich – insbesondere in Abgrenzung zur Beihilfe gem. § 27 StGB – auch nur über dieses Merkmal bewerkstelligen. Während es für die Kausalität nun aber an sich zwingend ist, dass sie ex post feststehen muss,63 lässt sich für die Wesentlichkeit außer über die Notwendigkeit ihres Vorliegens auch Roxin, AT II (Fn. 5), § 25 Rn. 189; ders., Täterschaft8 (Fn. 5), S. 733. Vgl. Marlie (Fn. 27), S. 156 ff. Siehe aber etwa Roxin, Täterschaft8 (Fn. 5), S. 283. Unklar auch etwa Häring (Fn. 6), S. 135 ff., der das Problem zwar erkennt, letztlich die Frage der Kausalität aber doch wieder mit derjenigen der Wesentlichkeit vermengt, a. a. O., S. 137. Vgl. auch die Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts BGE 130 IV 58 (66); 126 IV 84 (88); 125 IV 134 ff.; 120 IV 265 (272). 60 Vgl. oben im Text vor Fn. 5. 61 Vgl. Kamm (Fn. 6), S. 53 f. m.w. N. 62 Roxin, in: LK11, (Fn. 5), § 25 Rn. 154. 63 Vgl. aber auch Häring (Fn. 6), S. 137, der letztlich auch die Kausalität ex ante feststellt. Anders und zutreffend dann aber wieder ders., a. a. O., S. 139. 58 59
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über ihren Beurteilungsmaßstab streiten. Auch hier verlangt eine streng tatbestandsbezogene Begründung mittäterschaftlicher Haftung freilich eine tatsächliche Arbeitsteilung im Ausführungsstadium der Tatbestandsverwirklichung. Damit ist auch insoweit richtigerweise eine ex post-Betrachtung maßgebend.64 Wenn ein großer Teil der Literatur hiergegen einwendet, eine solche Ansicht verkenne das Wesen der Mittäterschaft,65 so vermengt umgekehrt die überwiegende Auffassung Voraussetzungen allgemeiner strafrechtlicher Haftung mit lediglich beteiligungsrelevanten Kategorien normativer Verantwortungszuschreibung und macht eine Abgrenzung der verschiedenen Beteiligungsformen insgesamt unmöglich, da sie die Grenzen der Mittäterschaft verwischt.66 b) Die Zurechnung von Tatbeiträgen bei § 25 Abs. 2 StGB Auf dieser Grundlage kann sich nunmehr der Frage zugewandt werden, was die Redeweise von § 25 Abs. 2 StGB als Zurechnungsinstrument nun eigentlich bedeutet, was also überhaupt Gegenstand der Zurechnung sein kann. Die Beantwortung dieser Frage im Rahmen der vorsätzlichen Mittäterschaft legt auch insoweit den Grundstein für die Behandlung der Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt. Einigkeit besteht noch darin, dass subjektive Merkmale, wie etwa Absichten im Sinne sogenannter überschießender Innentendenzen, nicht zugerechnet werden können.67 Ansonsten wird meist davon gesprochen, dass es um Handlungszurechnung gehe, weitere Differenzierungen finden sich hingegen kaum. Legt man die Erkenntnis zugrunde, dass das Erfolgsdelikt die Vornahme einer Handlung, den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolges und die Verknüpfung dieses Erfolges mit der Handlung im Wege der objektiven Zurechnung68 voraussetzt, so 64 Das kann im Einzelnen hier nicht weiter ausgeführt werden. Hinzuweisen ist an dieser Stelle nur darauf, dass es nach diesem Verständnis weder Mittäterschaft aufgrund Mitwirkung im Vorbereitungsstadium noch sukzessive Mittäterschaft geben kann. Auch scheidet eine Zurechnung über § 25 Abs. 2 StGB in all denjenigen Fällen aus, in denen bereits ein anderer als Täter sämtliche Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt hat. Hier bleibt allenfalls die Begründung einer eigenständigen Strafbarkeit als „Nebentäter“ bzw. die Teilnahmestrafbarkeit. Im Übrigen lässt sich nicht einsehen, weshalb es „verfehlt“ sein soll, „ex post festzustellen, ob der Einzelne bei der Ausführung der Tat eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat“ (so ausdrücklich Häring [Fn. 6], S. 137). Bei der Wesentlichkeit des Tatbeitrages handelt es sich um ein normatives Merkmal: Wer einer extensiveren Ansicht im Hinblick auf die Reichweite mittäterschaftlicher Haftung zuneigt, wird dieses Merkmal ex ante bestimmen (womit es dann auf die ex post – also wider Erwarten – festgestellte Unwesentlichkeit nicht ankommt), wer – wie hier – ein restriktiveres Verständnis vertritt, wird hingegen auf der Notwendigkeit einer ex post-Feststellung beharren. 65 Roxin, Täterschaft 8 (Fn. 5), S. 283. In diesem Sinne auch Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 89; Hilgendorf, NStZ 1994, 563; Kamm (Fn. 6), S. 63. 66 Dazu eingehend Rotsch (Fn. 8), S. 353 ff. 67 BGH NStZ 1998, 158; Fischer, StGB57, (Fn. 30), § 25 Rn. 19.
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kommen allerdings jedenfalls grundsätzlich drei unterschiedliche Zurechnungsgegenstände – Handlung, Erfolg, Kausalität – in Betracht. Gemeinhin wird davon gesprochen, Mittäterschaft setze die Zurechnung der Handlung des jeweils anderen voraus.69 Auf dem Boden des hier vertretenen Verständnisses ist das ohne weiteres nicht richtig. Zurechnungsgegenstand können immer nur strafrechtsrelevante Erfolge sein.70 Das ist bei der Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolges zur Handlung des Alleintäters nicht anders als bei der Zurechnung der von einem anderen begangenen Haupttat zur Bestimmungshandlung des Anstifters, denn auch diese Haupttat stellt für den Teilnehmer einen strafrechtsrelevanten Erfolg dar. Es ist nicht ersichtlich, weshalb bei der Mittäterschaft etwas anderes gelten soll. Zwar lässt sich auch hier argumentieren, dass die Handlung des einen für den anderen ebenfalls einen solchen strafrechtsrelevanten Erfolg darstellt und diese als solcher daher durchaus Zurechnungsgegenstand sein kann. Damit ist aber noch nichts gewonnen. Denn der Umstand, dass die Handlung des einen dem anderen zugerechnet werden kann, mag seine strafrechtliche Zuständigkeit für diese Tatbestandsverwirklichung als strafrechtsrelevanten Erfolg begründen – das ist etwa bei der Anstiftung so –, nicht aber vermag sie ohne weiteres die Zuständigkeit für den im Rahmen der Mittäterschaft relevanten Gesamttaterfolg begründen, auf den allein es ankommt und der gerade von dem vom Einzelnen erbrachten Teiltatbetrag zu unterscheiden ist.71 Tatsächlich geht es im Rahmen des § 25 Abs. 2 StGB vielmehr darum, dass auch hier jedem der präsumtiven Mittäter der Gesamttaterfolg – z. B. § 249 StGB, s. o. – zugerechnet wird. Diese Zurechnung hat ihren Grund in zwei Umständen: Zum einen hat jeder Beteiligte seinerseits einen kausalen und zurechenbaren Beitrag zu der gemeinsamen Tat erbracht, zum anderen – und das ist im Rahmen des § 25 Abs. 2 StGB entscheidend – erfolgt diese kausale und objektiv zurechenbare Verursachung der in Rede stehenden Gesamttat auf der Grundlage des gemeinsamen Tatentschlusses im oben72 beschriebenen Sinne zur Begehung dieser konkreten Gesamttat. Fehlt es an dieser Grundlage der Zurechnung kommt nicht Mittäterschaft, sondern allenfalls „Nebentäterschaft“73 oder gar nur Teilnahme in Frage. Die Zurechnung des von dem jeweils anderen erbrachten Tatbei68 Objektive Zurechnung wird hier verstanden im Sinne einer die Kausalität und die normative objektive Zurechnung im engeren Sinne umfassenden Erfolgszurechnung. 69 Exemplarisch Hoyer, in: SK-StGB7, (Fn. 10), § 25 Rn. 115: „Die Notwendigkeit eines Tatbeitrags muss dabei immer in Richtung auf den anderen Tatbeitrag festgestellt werden, denn dessen Zurechnung gilt es zu legitimieren (Hervorhebung nur hier). Ausdrücklich von Handlungszurechnung spricht z. B. auch Gropp, AT3, (Fn. 26) § 10 Rn. 87. 70 Siehe bereits bei und in Fn. 35. 71 Vgl. insoweit bereits oben a) aa). 72 Siehe unter 1. 73 Siehe bereits Fn. 64.
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trages ist damit nur ein Vehikel für die Zurechnung der Gesamttat. Dies setzt aber nicht zwingend die kausale Verursachung des jeweils anderen Teiltatbeitrages voraus. Damit kann es auch eine „Zurechnung von Kausalität“ nicht geben. In Rudolphis bekanntem Wegelagerer-Fall74 zur alternativen Mittäterschaft75 ist das Verhalten des B schlicht nicht kausal, wenn nur A die Tat ausführt.76 Hält man die Kausalität aber richtigerweise für die Grundvoraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit, scheidet Mittäterschaft so sehr aus wie jede andere Beteiligung.77 III. Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft 1. Bezugsfälle im Rahmen der Diskussion um die fahrlässige Mittäterschaft Neben dem Lederspray-Fall78, der einige Besonderheiten aufweist,79 sind es vor allem der klassische Balkenwurf-Fall80, der Zündhölzer-Fall81, der KerzenFall82 und insbesondere der Rolling Stones-Fall83 des schweizerischen Bundesgerichts gewesen, die die Diskussion um die fahrlässige Mittäterschaft angefacht haben.84 Sie zeichnen sich fast sämtlich85 dadurch aus, dass zwar sicher ist, dass das gemeinsame Verhalten der Beteiligten den in Frage stehenden tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht hat; freilich ließ sich in keinem der Fälle aufklären,
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Rudolphi, Bockelmann-FS, 1978, S. 369 ff. Vgl. dazu auch Rotsch (Fn. 8), S. 357 ff. 76 Gegen Mittäterschaft denn auch konsequent und richtig Rudolphi, BockelmannFS, (Fn. 74), S. 380. 77 In den Fällen der Gremienentscheidung lässt sich das deshalb anders sehen, weil sich hier die Kausalität des Einzelverhaltens tatsächlich begründen lässt, vgl. Puppe, GA 2004, 137 ff. Darauf kann hier nicht vertieft eingegangen werden. 78 BGHSt 37, 106. Von fahrlässiger Mittäterschaft spricht der BGH freilich an keiner Stelle. 79 Siehe bereits Fn. 77. 80 Die Bezeichnung als „Schulfall“ findet sich bereits bei Exner, Frank-FG, Bd. I, 1930, S. 569 (572). 81 OLG Schleswig NStZ 1982, 116. 82 BayObLG NJW 1990, 3032, wo freilich von einem Unterlassen ausgegangen wird. 83 BGE 113 IV, 58. Auch das schweizerische Bundesgericht vermeidet die ausdrückliche Bezeichnung der Konstellation als fahrlässige Mittäterschaft. Zu den WettfahrtFällen (BGE 130 IV, 58) vgl. auch Häring (Fn. 6), S. 373 f. 84 Vgl. aber insbesondere noch die instruktive Darstellung der Diskussion im japanischen Strafrecht bei Utsumi, ZStW 119 (2007), 768, der eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle aus der japanischen Rechtspraxis schildert, a. a. O., S. 779 ff. 85 Eine Ausnahme bildet der Balkenwurf-Fall, vgl. zu dieser Sonderkonstellation noch unten bei Fn. 103. 75
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welcher Beteiligte letztlich die unmittelbar erfolgsursächliche Handlung vorgenommen hatte. Beschränken wir uns beispielhaft auf den Rolling Stones-Fall: Die beiden Angeklagten hatten aufgrund eines gemeinsamen Entschlusses jeweils einen Felsbrocken einen Abhang hinuntergerollt. Ein sich unter dem Abhang aufhaltender Fischer wurde von einem der beiden Felsbrocken tödlich getroffen, ohne dass geklärt werden konnte, wer den tatsächlich todbringenden Stein hinabgerollt hatte. Das schweizerische Bundesgericht begründete die Verurteilung beider Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung mit der „Kausalität zwischen der gemeinsam vorgenommenen Gesamthandlung und dem eingetretenen Erfolg“.86 Das Urteil ist weithin als die Bestätigung einer fahrlässigen Mittäterschaft unter Verzicht auf die Kausalität des Einzelverhaltens aufgefasst worden,87 da die Verurteilung beider Angeklagten als Täter sich vermeintlich nicht anders erklären lässt. Wer an der Kausalität des Einzelverhaltens festhält, muss, so meint man, in dubio pro reo freisprechen. Auf der Grundlage der hier vertretenen Auffassung lassen diese Fälle sich aber viel einfacher lösen: 2. Zur Übertragbarkeit der Grundsätze der vorsätzlichen auf die fahrlässige Mittäterschaft a) Der gemeinsame Tatentschluss Der grundlegende Einwand gegen die fahrlässige Mittäterschaft war seit jeher die Behauptung, bei ihr könne es keinen gemeinsamen Tatentschluss geben, da dieser notwendig Vorsatz voraussetze.88 Die Befürworter der fahrlässigen Mittäterschaft haben dem freilich schon bald entgegengehalten, es handele sich um eine Selbstverständlichkeit, dass die Voraussetzungen des Vorsatzdelikts nicht auf das Fahrlässigkeitsdelikt übertragen werden könnten.89 Vielmehr müsse die fahrlässige Mittäterschaft auch den Voraussetzungen des Fahrlässigkeitsdelikts entsprechend konstruiert werden.90 Nachdem im Rahmen der Erörterungen zur vorsätzlichen Mittäterschaft deren Voraussetzungen näher konkretisiert worden sind, lässt sich nun auch ein differenzierterer Blick auf diese Auseinandersetzung werfen.
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BGE 113 IV, 58 (60). Vgl. nur Otto, Jura 1990, 47 ff.; Renzikowski, Otto-FS, (Fn. 21), S. 425. Vgl. Weißer, JZ 1998, 231; Renzikowski, Otto-FS, (Fn. 21), S. 424; jeweils m.w. N. Otto, Spendel-FS, 1992, S. 281. Knauer (Fn. 6), S. 183 f.; Renzikowski, Otto-FS, (Fn. 21), S. 434; Weißer, JZ 1998,
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aa) Der Tatentschluss zur gemeinschaftlichen Tatbegehung Es lässt sich nicht bestreiten, dass es einen Tatentschluss im Sinne der vorsätzlichen Mittäterschaft als subjektives Merkmal – mit der gemeinsamen Straftatbegehung als Bezugsgegenstand – bei der fahrlässigen Mittäterschaft nicht geben kann. Ebenso wenig lässt sich freilich bestreiten, dass es konstruktiv die Verabredung zu einem objektiv sorgfaltswidrigen Verhalten gibt. Es ist daher durchaus konsequent, wenn die Vertreter einer fahrlässigen Mittäterschaft ein häufig sogenanntes gemeinsames Handlungsprojekt in dem Sinne genügen lassen, dass die Mittäter sich gleichberechtigt und wechselseitig zu aufeinander abgestimmten Handlungen zur Erreichung eines bestimmten – per se nicht unmittelbar deliktischen – Zieles verabredet haben.91 Aus dieser Vorgehensweise ergibt sich nun aber auch ein grundlegender Einwand gegen die Konstruktion der fahrlässigen Mittäterschaft. Denn wer nicht die Strukturen der Fahrlässigkeitstat dem Beteiligungsformensystem anpasst, sondern – umgekehrt und zumindest methodisch korrekt92 – versucht, das differenzierende Beteiligungssystem den Besonderheiten des Fahrlässigkeitsdelikts zu unterwerfen, der muss auf der Grundlage der ganz überwiegend vertretenen Tatherrschaftslehre notwendig scheitern. Denn Tatherrschaft ist finale Herrschaft über die Tat,93 die sich beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht denken lässt.94 Damit ist fahrlässige Mittäterschaft zwar konstruktiv möglich, vertreten lässt sie sich auf dem Boden der herrschenden Täterlehre aber nicht. bb) Die Gemeinsamkeit des Tatentschlusses Die Gemeinsamkeit des Tatentschlusses ist objektives Merkmal der vorsätzlichen Mittäterschaft.95 Wer eine fahrlässige Mittäterschaft für möglich und notwendig hält und diese von der fahrlässigen Alleintäterschaft trennen will, der kommt nicht umhin, auch hier eine Verabredung zu verlangen, die – nicht anders als bei der vorsätzlichen Mittäterschaft – in der nach außen erkennbar werdenden Vereinbarung zum gemeinsamen Handeln ihr objektives Element hat. Der Unter91 Exemplarisch etwa Renzikowski, Otto-FS, (Fn. 21), S. 431. Dass fahrlässige Mittäterschaft sich konstruieren lässt anerkennt auch Puppe, ZIS 2007, 236 f. Anders aber Gropp, GA 2009, 265 (272 f.), nach dem der Wortlaut des § 25 Abs. 2 StGB die Konstruktion einer fahrlässigen Mittäterschaft verbietet. 92 Es ist richtig, dass die Unterscheidung zwischen dem Vorsatz- und dem Fahrlässigkeitsdelikt derjenigen zwischen Täterschaft und Teilnahme vorgeht, vgl. bereits Fn. 11. 93 Roxin, AT II (Fn. 5), § 25 Rn. 13 ff.; ders., Täterschaft 8 (Fn. 5), S. 336 f. 94 Nicht umsonst hat Roxin den Anwendungsbereich der Tatherrschaftslehre seit jeher auf die sogenannten „Herrschaftsdelikte“ beschränkt. Insbesondere unter diesem Gesichtspunkt ist die kritiklose Anerkennung der fahrlässigen Mittäterschaft durch Roxin (siehe oben bei Fn. 5 im Text) unverständlich. 95 Siehe oben II. 1. b).
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schied zur vorsätzlichen Mittäterschaft besteht freilich darin, dass die Beteiligten sich nicht zur Begehung einer Straftat, sondern zu einem gemeinsamen sorgfaltswidrigen Verhalten verabreden. Das ändert aber nichts daran, dass es sich bei der „Gemeinsamkeit des Tatentschlusses“ – lässt man die Konstruktion der fahrlässigen Mittäterschaft im Sinne eines gemeinsamen Handlungsprojekts zu – um ein objektives Tatbestandsmerkmal handelt. b) Die gemeinsame Tatausführung Entsprechend der vorsätzlichen Mittäterschaft ist die gemeinsame Tatausführung zunächst Bezugsgegenstand des (gemeinsamen) Tatentschlusses und als solche schließlich das zweite, nun rein objektive Merkmal der fahrlässigen Mittäterschaft. Überträgt man das oben im Rahmen der Ausführungen zur vorsätzlichen Mittäterschaft Gesagte, so ergibt sich: aa) Der Tatbeitrag des Alleintäters Die Frage, ob der Tatbeitrag des Mittäters kausal sein muss, stellt sich bei der fahrlässigen Mittäterschaft ebenso wie bei der vorsätzlichen.96 Relevant wird die Frage der kausalen Verursachung nur, aber immer beim Erfolgsdelikt; ob dieses vorsätzlich oder fahrlässig verwirklicht wird, spielt insoweit keine Rolle. Sie muss daher bei der fahrlässigen Mittäterschaft zwingend ebenso beantwortet werden wie bei der vorsätzlichen. Hält man die Kausalität als Grundvoraussetzung jeglicher strafrechtlichen Haftung für unverzichtbar, muss mithin auch der Einzelbeitrag des fahrlässig handelnden Mittäters ursächlich für den Gesamttaterfolg sein. Nichts anderes gilt dann aber für das Merkmal der Wesentlichkeit des Tatbeitrages. Auch insoweit kann für das Fahrlässigkeitsdelikt nichts anderes gelten als für das Vorsatzdelikt: Vorauszusetzen ist daher nach hier vertretener Auffassung ein ex post wesentlicher Tatbeitrag. bb) Die Zurechnung von Tatbeiträgen bei der Anwendung des § 25 Abs. 2 StGB auf Fahrlässigkeitsdelikte Auch bei der fahrlässigen Mittäterschaft geht es um die Zurechnung des tatbestandsmäßigen Gesamttaterfolges zur Handlung des Einzelnen. Bei der vorsätzlichen Mittäterschaft lässt diese Zurechnung sich begründen über den auf der Grundlage des gemeinsamen Tatplans zur Verwirklichung eines Gesamttaterfolges kausal und objektiv zurechenbar verursachten wesentlichen Teiltatbeitrag, 96
Siehe bereits oben II. 2. a).
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der seinerseits kausal für die Gesamttat sein muss. Einer Kausalität des einzelnen Tatbeitrages für den jeweils anderen bedarf es nicht.97 Überträgt man die Überlegungen der Befürworter der fahrlässigen Mittäterschaft zum gemeinsamen Handlungsprojekt auf diese Erkenntnisse, so muss man einräumen, dass die Besonderheit, dass es beim Fahrlässigkeitsdelikt um sorgfaltswidriges Verhalten und nicht um finale Straftatbestandsverwirklichung geht, an der Möglichkeit einer Erfolgszurechnung im beschriebenen Sinne nichts ändert. Auch unter diesem Gesichtspunkt spricht konstruktiv nichts gegen die fahrlässige Mittäterschaft. 3. Notwendigkeit der fahrlässigen Mittäterschaft? Auf der Grundlage des hier vertretenen Verständnisses von der gemeinsamen Tatverabredung als gemischt subjektiv-objektives Kriterium jeglicher Mittäterschaft ergibt ein genauerer Blick nun aber, dass die ganze Konstruktion der fahrlässigen Mittäterschaft überflüssig ist. Versteht man nämlich die gemeinsame Tatverabredung zumindest auch als objektives Tatbestandsmerkmal, dann lässt der Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit sich beim Fahrlässigkeitsdelikt auch hieran anknüpfen. Der kausale und sorgfaltswidrige Tatbeitrag des Fahrlässigkeitstäters liegt dann nämlich in der Verabredung mit einem anderen zu einem sorgfaltswidrigen Verhalten.98 Während uns die Anknüpfung an das objektive Merkmal des gemeinsamen Tatentschlusses im Rahmen der vorsätzlichen Mittäterschaft versagt bleiben muss, da insoweit Tatverabredung und Tatausführung zu trennen sind, besteht im Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts immer die Möglichkeit, an ein sorgfaltswidriges Vorverhalten anzuknüpfen, sofern es nur die übrigen Voraussetzungen der Fahrlässigkeit erfüllt.99 Wenn aber für die Begründung täterschaftlicher Strafbarkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt an das objektiv sorgfaltswidrige Verhalten angeknüpft werden kann, bedarf es des Zurechnungsinstruments des § 25 Abs. 2 StGB nicht mehr. Jeder einzelne Beteiligte verhält sich sorgfaltswidrig im Hinblick auf die Herbeiführung des Gesamttaterfolges. Wo aber der Einzelne bereits sämtliche Voraussetzungen eines Tatbestandes erfüllt hat, bleibt für eine Mittäterschaft kein Raum. Das gilt für die fahrlässige Mittäterschaft genauso wie für die vorsätzliche. Der Beteiligte ist stets Alleintäter.
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Vgl. oben unter II. 2. a). Der Vorwurf der Subjektivierung (vgl. bei und in Fn. 45) trifft diese Ansicht daher schon per se nicht. 99 Diese Möglichkeit führt etwa im Rahmen der Diskussion um die Rechtmäßigkeit der actio libera in causa dazu, dass ein Großteil der Literatur der Ansicht des BGH (BGHSt 42, 235) zur mangelnden Notwendigkeit der Rechtsfigur bei den Fahrlässigkeitsdelikten gefolgt ist, vgl. etwa Roxin, Lackner-FS, 1987, S. 312 (314); Streng, JZ 2000, 20 (25); Sternberg-Lieben, Schlüchter-GS, 2002. S. 217 (234 f.). 98
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4. Die Anwendung der hier vorgeschlagenen Lösung auf die typischen Fallkonstellationen vermeintlich fahrlässiger Mittäterschaft Werfen wir zum Abschluss in Anlehnung an den Rolling Stones-Fall einen kurzen Blick auf die nach dem hier vorgestellten Konzept zutreffende Behandlung der typischen Fallkonstellationen, die im Rahmen der Auseinandersetzung um die fahrlässige Mittäterschaft diskutiert werden. Lässt sich, wie dies in der Originalkonstellation der Fall war,100 nicht nachweisen, wessen Felsbrocken das Opfer getötet hat, fehlt es zwar in dubio pro reo an der Kausalität des Steinerollens durch A bzw. B für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges. Da es jedoch bereits objektiv sorgfaltswidrig ist, sich zu einem sorgfaltswidrigen Verhalten zu verabreden, kann im Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts an diese (gesamttaterfolgskausale) Verabredung angeknüpft werden. A und B sind damit jeweils bereits unmittelbare Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts.101 Der Konstruktion einer wie auch immer gearteten „fahrlässigen Mittäterschaft“ bedarf es nicht. Wandelt man den Fall dahingehend ab, dass sich nachweisen lässt, wessen Stein den Tod des Opfers herbeigeführt hat, so ändert sich nichts: A ist Täter einer fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB, sofern er den Stein gerollt hat, B kann dennoch ebenfalls Täter einer fahrlässigen Tötung sein, weil er sich mit A zu dem gefährlichen Tun verabredet hat.102 Das muss selbst dann gelten, wenn B seinen Stein nicht mehr den Abhang hinabrollt, etwa weil A und B entsetzt erkennen, dass der Stein des A das Opfer getötet hat. Der Balkenwurf-Fall103 liegt insoweit anders, als hier beide Täter nicht getrennt jeweils einen Balken, sondern gemeinsam einen Balken aus dem Fenster 100
Vgl. oben 1. Zu den denkbaren Abwandlungen sogleich im Text. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Gropp, GA 2009, 265 (274 ff.), der sich zwar gegen die Annahme einer fahrlässigen Mittäterschaft wendet, letztlich aber über das Erfordernis einer „gemeinschaftliche[n] Erhöhung einer Gefahr, die sich im Erfolg [. . .] realisiert“, an der Voraussetzung gemeinschaftlicher Begehung bei Fahrlässigkeitstaten festhält (vgl. ausdrücklich ders., a. a. O., S. 275 unter Bezugnahme auf Roxin, Täterschaft8 [Fn. 5], S. 738). Damit muss dann doch wieder in Anlehnung an § 25 Abs. 2 StGB das objektive Merkmal der Gemeinschaftlichkeit sorgfaltswidrigen Handelns bestimmt werden. Nach der hier vertretenen Lösung ist das überflüssig. 102 Auch die Ansicht von der fahrlässigen Mittäterschaft würde in diesem Fall wohl beide Beteiligte wegen fahrlässiger Tötung (dann aber eben in Mittäterschaft) bestrafen müssen. Auf dem Boden dieser Ansicht lässt dieses Ergebnis sich aber wie gesehen nur unter Verzicht auf das Erfordernis der Kausalität des Einzeltatbeitrages und die Anknüpfung an das – nach dieser Ansicht ja subjektive – Erfordernis des gemeinsamen Tatentschlusses begründen. In dieser Abwandlung mag das Unbehagen an dieser Auffassung noch deutlicher zutage treten, als in den Fällen, in denen Kausalität sich nur nicht nachweisen lässt. 103 Siehe Fn. 85. 101
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warfen, der ein unter dem Fenster auf der Straße stehendes Opfer traf. Hier ist aber schon die Kausalität des unmittelbaren Tatverhaltens für den Eintritt des Erfolges nicht zweifelhaft, so dass auch hier die Konstruktion der fahrlässigen Mittäterschaft überflüssig ist. Da beim Vorsatzdelikt, anders als beim Fahrlässigkeitsdelikt, der Strafbarkeitsvorwurf nicht nach vorn verlagert werden kann, ist der beim Fahrlässigkeitsdelikt beschrittene Lösungsweg hier versperrt. In diesen Fällen muss es bei der Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes bleiben. Beide Beteiligte sind freizusprechen.104 Auch die Fälle der fahrlässigen Beteiligung an vorsätzlicher Straftatbegehung lassen sich dann befriedigend lösen. Erkennt etwa A in einer weiteren Abwandlung des Rolling Stones-Falles die Gefahr und nimmt er den Tod eines sich unter dem Abhang aufhaltenden Opfers in Kauf, während B lediglich fahrlässig handelt, so ist A Täter eines vorsätzlichen Totschlags gem. § 212 StGB; B kann als Fahrlässigkeitstäter gem. § 222 StGB bestraft werden, wenn feststeht, dass der Stein des A tödlich gewesen ist. Anders ist zu entscheiden, wenn die Ursächlichkeit für den Tod des Opfers nicht aufzuklären ist. An der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des B ändert sich nichts. A freilich kann nicht gem. § 212 StGB bestraft werden.105 IV. Ergebnis Fahrlässige Mittäterschaft ist konstruierbar. Eine solche Rechtsfigur leidet jedoch an gravierenden Mängeln. Nicht nur gerät sie in Schwierigkeiten mit dem Grundsatz in dubio pro reo und dem Kausaldogma. Auch gibt sie einerseits das weithin für richtig gehaltene Einheitstäterprinzip bei den Fahrlässigkeitsdelikten auf, ist aber andererseits auch mit der Tatherrschaftslehre nicht zu vereinbaren. Entscheidend gegen die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft spricht jedoch, dass sie überflüssig ist. Erkennt man an, dass es sich bei dem von fast allen vorausgesetzten gemeinsamen Tatentschluss nicht – wie die ganz herrschende Meinung glaubt – um ein rein subjektives, sondern vielmehr um ein subjektiv-objektives Tatbestandsmerkmal handelt, so kann ein so verstandener gemeinsamer 104 Aus der unterschiedlichen Behandlung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt ergibt sich kein zwingendes Argument gegen die hier vertretene Ansicht. Zum einen nämlich geht es beim Vorsatzdelikt um einen anderen strafrechtlichen Anknüpfungspunkt, zum anderen verbleibt regelmäßig eine Strafbarkeit wegen Versuchs. Schließlich ließe sich auch in den Fällen (strafloser bzw. versuchter) vorsätzlicher Tatbegehung ein Fahrlässigkeitsvorwurf aufgrund der Verabredung zur Tat begründen, was freilich von dem Verständnis des höchst umstrittenen Verhältnisses von Vorsatz und Fahrlässigkeit abhängt. 105 Das gilt auch, wenn sich feststellen lässt, dass der Stein des B tödlich gewesen ist. Vgl. die vorstehende Fn.
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Tatentschluss selbst bereits Anknüpfungspunkt für den Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit sein. Verlagert man den Fahrlässigkeitsvorwurf aber nach vorn, ist der den tatbestandsmäßigen Erfolg sorgfaltswidrig herbeiführende, unabhängig von einer wie auch immer gearteten mittäterschaftlichen Zurechnung, selbst und unmittelbar bereits (Allein-)Täter des in Frage stehenden Fahrlässigkeitsdelikts. So bleibt denn die zu Beginn zitierte Aussage Ingeborg Puppes doch richtig: Jeder versagt für sich allein!
Der Verunglückte und Unglück bewirkende Retter im Strafrecht Von Claus Roxin I. Einführung Wenn ich recht sehe, sind mein Schüler Rudolphi und ich die ersten gewesen, die bei Ausarbeitung der Lehre von der objektiven Zurechnung sich näher mit der Frage befasst haben, ob der Verursacher einer Gefahrenlage wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung zur Verantwortung zu ziehen ist, wenn ein Retter bei seinen Hilfsbemühungen zu Schaden gekommen ist. Rudolphi und ich sind damals bei der Lösung des Problems verschiedene Wege gegangen. Rudolphi1 hat im Anschluss an die zivilrechtliche Rechtsprechung die Meinung vertreten, „dass der durch die Rettungshandlung Sich-selbstGefährdende dann in den Schutzbereich der strafrechtlichen Normen einzubeziehen ist, wenn eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Rechtsgüter einschließlich des Grades ihrer Gefährdung ergibt, dass der verfolgte Rettungszweck höher zu bewerten ist als die Selbstgefährdung“. Ich hatte demgegenüber für einen Ausschluss der strafrechtlichen Zurechnung unter dem Gesichtspunkt der „Risikoabnahme“ plädiert.2 Dabei hatte ich mich darauf berufen, dass die Tätigkeit des Retters entweder auf einer staatlichen Hilfsanordnung (§ 330c, Garantenpflicht, Berufspflicht) oder auf einem eigenverantwortlichen Entschluss dessen beruhe, der sich über die Anforderungen der Rechtsordnung hinaus in Gefahr begebe; in beiden Fällen sei es nicht angemessen, diese fremdbedingten Schädigungen dem Erstverursacher zuzurechnen. Auch könne der Retter durch den Gedanken, bei einer eigenen Schädigung andere in Strafe zu stürzen, eher von einem riskanten Einsatz abgeschreckt werden, so wie auch der Erstverursacher sich am Herbeiholen von Hilfe durch den Gedanken gehindert sehen könnte, bei einer Schädigung des Retters eine weitere Strafe auf sich zu ziehen. Meine Überlegungen haben verschiedentlich Zustimmung gefunden.3 Aber die deutlich überwiegende Ansicht ist Rudolphi gefolgt.4 Besonders hervorzuheben 1
Rudolphi, JuS 1969, 557; später SK-Rudolphi, Rn. 80 ff. vor 81. Roxin, Honig-FS, 1970, S. 142 f. = Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 134 ff. 3 Vgl. die Nachweise bei Roxin, Strafrecht AT4, 2006, § 11 Rn. 115, Fn. 250. Das gilt vor allem auch für die Anhänger der Regressverbotslehre; dazu ausführlich m.w. N. 2
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sind dabei die gründlichen Ausführungen bei Wolter,5 Frisch6 und besonders auch bei Ingeborg Puppe,7 der verehrten Jubilarin, die die schädlichen Folgen „vernünftiger“ Rettungshandlungen allemal dem Erstverursacher zurechnen wollen. Der für Puppe entscheidende Gesichtspunkt ist:8 „Niemand soll einen anderen in eine Situation bringen, in der es für ihn vernünftig, also angezeigt ist, sich selbst zu gefährden.“ Der Bundesgerichtshof 9 hat dann erstmals im Jahre 1993 einen solchen „Retterfall“ entschieden und ist ebenfalls für eine Bestrafung des Erstverursachers wegen fahrlässiger Tötung eingetreten.10 Im Rahmen einer Feier mit 30 Gästen hatte ein Gast um 1.30 Uhr nachts ein Schlafzimmer im Obergeschoss angezündet. Ein Sohn des Eigentümers versuchte, noch vor dem Eintreffen der Feuerwehr in das Obergeschoss zu gelangen, kam aber nur bis in den Flur, wo er bewusstlos zusammenbrach. Er starb wenig später an den Folgen einer Kohlenmonoxydvergiftung. Das Motiv seiner Handlung blieb ungeklärt. Er wollte nach den Feststellungen der Tatsacheninstanz entweder „noch irgendwelche Sachen vor dem Feuer in Sicherheit bringen“ oder „die Bergung von Menschen, etwa seines 12-jährigen Bruders oder anderer Personen“ versuchen. Der Bruder hatte sich freilich schon in Sicherheit gebracht. Der BGH11 meint, es bedürfe „einer Einschränkung des Grundsatzes der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung des Opfers . . ., wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schafft, dass er . . . eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründet und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schafft“. Es sei „sachgerecht, diese sich in solchen Situationen selbst gefährdenden Personen in den Schutzbereich strafrechtlicher Vorschriften einzubeziehen“. Etwas anderes möge gelten,12 „wenn es sich um einen von vornherein sinnlosen oder mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbundenen Rettungsversuch handelt“. Ein Katja Diel, Das Regressverbot als allgemeinen Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1996, S. 162 ff. 4 Vgl. Roxin (Fn. 3), § 11 Rn. 115, Fn. 251. 5 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 344 ff. 6 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 472 ff.; ders., Nishihara-FS, 1998, S. 66 ff. 7 Puppe, Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 34 ff.; § 13 Rn. 22 ff.; dies., NK I3, 2010, vor § 13 Rn. 186, 186a. 8 Puppe, AT I (Fn. 7), § 6 Rn. 36. 9 BGHSt 39, 322 ff. 10 Das erfolgsqualifizierte Delikt des § 306c StGB existierte in der heutigen Form damals noch nicht. 11 BGHSt 39, 325. 12 BGHSt 39, 326.
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solcher liege hier „ersichtlich nicht vor“. „Die Rettungshandlung war nicht offenkundig unvernünftig.“ Ein näheres Hinsehen scheint mir zu zeigen, dass die beiden skizzierten Extremlösungen – jeglicher Haftungsausschluss des Erstverursachers bei vorsätzlicher Selbstgefährdung des Retters oder Erstreckung der Fahrlässigkeitshaftung des Verursachers der Gefahrenquelle bis zur Grenze sinnloser Unvernunft auf Seiten des Retters – weder aus der Lehre von der objektiven Zurechnung stringent abzuleiten sind noch in den Ergebnissen und in der Begründung überzeugen. Ich will deshalb das Gespräch über die Lösung solcher Fälle noch einmal aufnehmen. Dabei will ich einen zweiten „Rettungsfall“ einbeziehen, den das OLG Stuttgart im Jahre 2008 entschieden13 und den Ingeborg Puppe14 ebenfalls ausführlich kommentiert hat. Hier hatte ein Künstler „vermeintlich vollständig abgekühlte Asche“ seines Holzofens in einer Papiertüte auf den Holzdielenboden seines Zimmers gestellt. Daraus entwickelte sich ein Schwelbrand, der nach anderthalb Tagen das ganze Gebäude in Brand setzte. Bei den Löscharbeiten kamen zwei Feuerwehrleute im Dachgeschoss durch eine Kohlenmonoxydvergiftung zu Tode, weil der mit der Überwachung des Atemschutzeinsatzes betraute Feuerwehrmann in mehrfacher Hinsicht gröblich versagt hatte. „Der verunglückte Trupp war faktisch auf sich selbst und damit weitgehend schutzlos gestellt.“15 Bei Anwendung der in BGHSt 39, 322 ff. aufgestellten Regeln kommt das OLG Stuttgart zu dem Ergebnis, dass ein derartiger Feuerwehreinsatz offensichtlich unvernünftig sei, so dass der Tod der beiden Feuerwehrmänner dem Erstverursacher nicht als fahrlässige Tötung zugerechnet werden könne. Auch dieser Fall bedarf näherer Erörterung. Denn während drei Kommentatoren16 dem OLG Stuttgart im Ergebnis zustimmen, tritt Puppe für eine Bestrafung des Erstverursachers wegen fahrlässiger Tötung ein. Außerdem birgt der Fall im Verhältnis zu dem vom BGH entschiedenen Sachverhalt zwei zusätzliche Probleme. Erstens trifft der Vorwurf grober Unvernunft nur einen von mehreren arbeitsteilig in Erscheinung tretenden Rettern, während die beiden Getöteten nur die Opfer dieser Unvernunft wurden. Und zweitens tritt hier das Sonderproblem auf, das weder vom OLG Stuttgart noch von den Rezensenten ausdrücklich thematisiert worden ist: dass nämlich Retter nicht nur als Geschädigte, sondern in Gestalt der versagenden Überwachungsperson auch als Schädiger in Erscheinung treten. Die Konstellation wird zwar seit langem anhand des Falles erörtert, dass ein von einem Ersttäter Verletzter durch eine ärztliche Falschbehandlung zu Tode 13
NStZ 2009, 331 ff. Puppe, NStZ 2009, 333 ff. 15 Puppe (Fn. 14), 333. 16 Geppert, JK 12/08, StGB § 222/7; Kudlich, JA 2008, 740 ff.; Radtke/Hoffmann, NStZ-RR 2008, 52 ff. 14
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kommt. Ihre Behandlung ist aber nach wie vor so umstritten, dass auch die Wirkung eines groben „Kunstfehlers“ der Feuerwehr auf die Zurechnung noch einmal überdacht werden sollte. Ich gehe im Folgenden so vor, dass ich die Zurechnungsprobleme bei verunglückten und bei Unglück bewirkenden Rettern je für sich nacheinander diskutiere. II. Der verunglückte Retter 1. Die eigenverantwortliche Selbstgefährdung als zurechnungsausschließender Umstand Die Lehre von der objektiven Zurechnung verlangt, dass niemand für Schäden strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden darf, die zwar von ihm verursacht, aber durch eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Geschädigten vermittelt sind. Das folgt aus der Aufgabe des Strafrechts: Es soll eine Verletzung der Rechtsgüter anderer verhindern, den Rechtsgutsträger aber nicht im autonomen Umgang mit seinen eigenen Rechtsgütern beeinträchtigen. Auch in der Rechtsprechung ist das seit BGHSt 32, 262 ff. prinzipiell anerkannt. Für die Retterfälle folgt daraus, dass dem Erstverursacher ein Schaden, der dem Retter zustößt, nur dann zugerechnet werden kann, wenn dieser die Gefährdung nicht eigenverantwortlich auf sich genommen hat. Das bedeutet aber, dass die anfangs referierten Positionen den entscheidenden Gesichtspunkt beide verfehlen, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Wer sich bewusst selbst gefährdet, handelt gleichwohl noch nicht eigenverantwortlich, wenn er zu seinem Handeln gesetzlich verpflichtet ist (nach § 323c StGB, als Garant oder als Berufsträger). Er wird dann in die Pflicht genommen, so dass die aus dem Rettungseinsatz für ihn entstehenden Schäden nicht in seiner Verantwortung liegen. Wer andererseits über das ihm gesetzlich zugemutete Maß an Selbstgefährdung hinausgeht, handelt eigenverantwortlich mit dem Ergebnis, dass die dabei erlittenen Schäden dem Erstverursacher nicht mehr zugerechnet werden können. Die zitierte Leitentscheidung des BGH (BGHSt 39, 322 ff.) ist also schon aus dieser prinzipiellen Erwägung im Ergebnis wie in der Begründung abzulehnen. Die dargelegten Gesichtspunkte führen zu der Lösung, dass die dem Retter zustoßenden Schäden dem Erstverursacher immer, aber auch nur dann zuzurechnen sind, wenn der Retter aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung handelte. Diese Auffassung ist in den letzten Jahren ausführlich von Radtke/Hoffmann17 und von Strasser18 begründet worden. Sie wird aber auch sonst nicht selten ver17
Radtke/Hoffmann, GA 2007, 201 ff. Strasser, Die Zurechnung von Retter-, Flucht- und Verfolgerverhalten im Strafrecht, 2008, bes. S. 158 ff., 228–245. Die Monographie von Strasser wertet die Literatur umfassend aus und ist die bisher gründlichste Behandlung des Themas. 18
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treten19 und soll im Folgenden in Auseinandersetzung mit der engeren und der vorherrschenden weitergehenden Zurechnungslehre verteidigt werden. 2. Die bewusste Selbstgefährdung des Retters ist noch kein Grund, eine Zurechnung des Retterschadens zum Erstverursacher auszuschließen Ein auf den ersten Blick naheliegender Grund, außenstehende Verursacher bei Retterunfällen prinzipiell nicht zur Verantwortung zu ziehen, liegt darin, dass der Retter aufgrund eines freien Entschlusses auch dann handelt, wenn er durch gesetzliche Vorschriften zu seinem Tun verpflichtet ist. Das widerspricht zwar einer weitverbreiteten Meinung. So sagt etwa das OLG Stuttgart in der anfangs referierten Entscheidung (NStZ 2009, 322): „Soweit die . . . Rettungskräfte ihrer Handlungspflicht folgen, liegt ein vollständig freiwilliger Handlungsentschluss . . . nicht vor. Damit fehlt es an einem die Zurechnung der Tatfolgen unterbrechenden Element.“ Nach Ansicht des Gerichts ist dies der ausschlaggebende Punkt, in den sich die Retterfälle vom Heroin-Abgabe-Fall (BGHSt 32, 262) unterscheiden, in dem eine Zurechnung zum Erstverursacher ausgeschlossen wurde. Das klingt ganz plausibel, ist aber trotzdem falsch. Denn wenn wir dem Rechtsbrecher, der ein Gebot verletzt, beim Fehlen spezieller Schuldausschließungsgründe die volle Handlungsfreiheit zubilligen, muss das natürlich für denjenigen, der sich gesetzestreu verhält, ebenso gelten. Er kann sich für oder gegen das Recht entscheiden20 und tut dies in jedem Fall aufgrund eines freien Entschlusses.21 Wenn dieser Befund gleichwohl die Zurechnung des Retterschadens zum Erstverursacher (in unserem Fall: den Brandstifter) nicht notwendig ausschließt, so beruht das darauf, dass das für die Zurechnung entscheidende Kriterium nicht die Freiheit, sondern die Eigenverantwortlichkeit des Retterhandelns ist.22 Der zur Rettungshandlung Verpflichtete handelt zwar frei, aber nicht in eigener Verantwortung, sondern in Erfüllung eines gesetzlichen Gebotes. Er hat seine etwaige Schädigung nicht zu verantworten und kann deshalb dem Erstverursacher seine Verantwortung nicht abnehmen.
19 Unter den Kommentatoren der BGH-Entscheidung Günther, StV 1995, 78 (81); Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 775 (779); ferner SK2 Neumann, 2005, § 222 Rn. 10; Hohmann/Sander, BT II, 2000, S. 36 Rn. 8. Bedenken auch bei Schönke/Schröder/ 27 Lenckner/Eisele, 2006, vor § 13 Rn. 100c; Otto, JK 94, StGB vor § 13/3. 20 Auf das Problem der Willensfreiheit kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden; vgl. dazu mein Lehrbuch (Fn. 3), § 19 Rn. 36 ff. 21 Ebenso Strasser (Fn. 18), S. 213. 22 Dazu auch Strasser (Fn. 18), S. 213: „Die Lösung der Problematik muss in einer über den Freiheitsgedanken hinausgehenden Betrachtung gefunden werden.“ Auf die Eigenverantwortlichkeit stellt in prägnanter Weise auch Murmann, Jura 2001, 258 (260) ab.
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Ich hatte das bei meiner früheren, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Erstverursachers ablehnenden Auffassung zwar nicht verkannt, die Verantwortung für Retterunfälle gerade wegen des rechtlichen Gebotes aber beim Gesetzgeber gesehen, der den Retter zum Einsatz verpflichtet und das Ausmaß zumutbarer Gefahrenbekämpfung im Einzelnen regelt. Die Einsatzverpflichtung liege im Verantwortungsbereich des Gesetzgebers, und das rechtfertige eine strafrechtliche Entlastung des Gefahrverursachers von der Verantwortung für etwaige Retterschäden.23 Diese Konzeption hat gründliche Auseinandersetzungen erfahren,24 und ich muss meinen Kritikern darin recht geben, dass sie den entscheidenden Gesichtspunkt nicht trifft. Denn auch der Staat (hier in Gestalt des Gesetzgebers) handelt ja nicht nach seinem rechtlich ungebundenen Belieben, sondern aufgrund der ihm vom Souverän (dem Volk) übertragenen Pflicht, das Leben seiner Bürger im Rahmen vertretbarer Risiken zu schützen. Die Verantwortung für Retterunfälle sollte deshalb auch nicht ihm, sondern dem aufgebürdet werden, der an der gefahrträchtigen Situation als einziger die Schuld trägt: dem Brandstifter oder sonstigen Gefahrverursacher. Zwar kann dem Retter, wenn ihm bei einer gebotenen Maßnahme etwas zustößt, auch durch die Bestrafung des Gefahrverursachers nicht mehr geholfen werden. Aber generalpräventiv ist es sinnvoll, die Fahrlässigkeitshaftung von Brandstiftern auf hilfspflichtige Retter zu erstrecken. Denn die Pflicht zum Tätigwerden bringt sie ebenso in die Gefahrenzone wie die von vornherein am Brandort Anwesenden. Auch wer ein menschenleeres Haus anzündet, sollte bei Gefahr der Fahrlässigkeitsbestrafung verpflichtet sein zu bedenken, dass bei den Lösch- oder Rettungsbemühungen Menschen zu Schaden kommen können. Die von mir ehedem vorgebrachten kriminalpolitischen Argumente haben wenigstens dann keine Überzeugungskraft, wenn man den Erstverursacher nur für die Schädigung hilfspflichtiger Retter verantwortlich macht. Denn da die Hilfspflicht nie bis zur konkreten Lebensgefährdung geht (darüber noch später), erwächst dem Brandstifter aus dem Verhalten des Retters kein großes Bestrafungsrisiko, wohl aber die Chance, durch eine gelungene Rettung von der Verantwortung für schwere Schäden entlastet zu werden. Daher wird auch kein Brandstifter das Herbeiholen von Hilfe unterlassen, um nicht wegen eventueller Schädigung des Retters bestraft zu werden. Denn die Vorteile gesetzlich gebotener Rettungsaktivitäten überwiegen für den Erstverursacher bei weitem. Man kann daher als gesichertes Ergebnis festhalten, dass Schäden, die einem hilfspflichtigen Retter im Rahmen gesetzlich gebotenen Handelns zustoßen, dem 23
So noch die letzte Auflage meines Lehrbuches (Fn. 3), § 11 Rn. 138 ff. Etwa bei Wolter (Fn. 5), S. 344 ff.; Frisch (Fn. 6), 1988, S. 472 ff.; Sowada, JZ 1994, 665; Puppe (Fn. 7), AT I, § 13 Rn. 22 ff. (S. 242 ff.); Radtke/Hoffmann (Fn. 17), 211 f.; Strasser (Fn. 18), S. 189 f. 24
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Brandstifter oder sonstigen Gefährder grundsätzlich als fahrlässige Taten zuzurechnen sind. 3. Schäden, die auf überobligationsmäßigem Einsatz des Retters beruhen, sind dem Erstverursacher nicht zuzurechnen Eine weitergehende Zurechnung aber, wie sie BGHSt 39, 322, die herrschende Meinung und mit großem Nachdruck auch Puppe25 vornehmen, ist abzulehnen. Das beruht auf drei Gründen. a) Eine Erstreckung der strafrechtlichen Haftung des Erstverursachers auf die Folgen aller nicht „von vornherein sinnlosen oder mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbundenen“ Rettungsversuche widerspricht den aus den Aufgaben des Strafrechts abgeleiteten Grundgedanken der Lehre von der objektiven Zurechnung. Denn das Strafrecht soll Fremdschädigungen verhindern, nicht aber die Folgen eigenverantwortlich eingegangener Risiken. Auch soll durch die Zurechnungsbegrenzung auf Schäden, die handlungspflichtigen Rettern entstehen, die Bestrafung von Fahrlässigkeit auf ein rechtlich sinnvolles Maß eingegrenzt werden. Dieses Ziel verfolgt bekanntlich auch die immer noch vertretene Lehre vom Regressverbot, deren durchaus gewichtige Argumente die Monographie der Naucke-Schülerin Diel26 noch einmal zusammengefasst hat. Ich habe im Vorstehenden dargelegt, dass es entgegen dieser ursprünglich auch von mir befürworteten Auffassung zu weit geht, bei jedem vorsätzlichen und freien Retterhandeln eine Fahrlässigkeitshaftung außenstehender Verursacher abzulehnen. Der richtige Kern der Regressverbotslehre liegt aber in dem Gedanken, dass eine strafrechtliche Folgenzurechnung zur Tätigkeit des Erstverursachers dort enden muss, wo der Retter über das Gebotene hinaus in eigener Verantwortung handelt. Es ist trivial, aber dennoch nicht überflüssig festzustellen: Was einer selbst verantwortet, ist sinnvollerweise nicht von anderen zu verantworten. Otto27 sagt daher mit einigem Recht über ein auf eigene Faust erfolgendes hoch riskantes Handeln des Retters: „Seine existentielle Entscheidung, das eigene Leben helfend einzusetzen, wird geradezu herabgewürdigt, wenn man ihn nur als Opfer des Fahrlässigkeitstäters . . . sieht.“ b) Eine Erstreckung der Fahrlässigkeitshaftung auf Retterunfälle, die aus rechtlich nicht gebotenem Handeln resultieren, lässt sich auch juristisch nicht stringent begründen. Ich will das an drei besonders herausgehobenen Argumentationen verdeutlichen.
25 26 27
Vgl. einstweilen nur das Zitat oben bei Fn. 8. Diel (Fn. 3). Otto, JK 94, StGB vor § 13/3; ähnlich auch Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 770.
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aa) Der BGH28 stützt seine Ansicht, dass es sachgerecht sei, die sich überobligationsmäßig selbst gefährdenden Personen in den „Schutzbereich strafrechtlicher Vorschriften einzubeziehen“, auf einen einzigen Satz: „Ebenso wie dem Täter bei Gelingen der Rettungshandlung die Erfolgsabwendung zugute kommt, hat er im Fall des Misserfolges dafür einzustehen.“ Das ist aus doppeltem Grund unschlüssig. Zunächst einmal folgt aus dem Umstand, dass bei gelungener Rettung selbstverständlich keine Bestrafung wegen einer – nicht erfolgten – Schädigung des Geretteten erfolgen kann, in keiner Weise, dass bei misslungener Rettung eine Bestrafung erfolgen muss. Eine solche Strafbarkeit müsste vielmehr selbständig begründet werden. Eine derartige Begründung liefert der BGH aber nicht. Die These des BGH ist auch deswegen ungereimt, weil sie den Haftungsausschluss bei „unvernünftigem“ Retterhandeln nicht erklären kann. Denn wenn ein „offensichtlich unverhältnismäßiges Wagnis“ allen Risiken zum Trotz gelingt, kommt dem Erstverursacher die Erfolgsabwendung natürlich ebenfalls zugute, während er im Misslingensfall nach der herrschenden Meinung, der in diesem Punkte auch der BGH zuneigt, gleichwohl nicht wegen Schädigung des Retters verantwortlich gemacht werden soll. Der BGH sieht durchaus, dass er mit der Bejahung der Fahrlässigkeitshaftung für Retterschäden, die auf überobligationsmäßigen Handlungen beruhen, die sonst gültigen Prinzipien der Rechtsprechung preisgibt, denn er spricht selbst29 von „einer Einschränkung des Grundsatzes der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung des Opfers“. Aber eine plausible Begründung dieser Inkonsequenz ist ihm nicht gelungen. bb) Demgegenüber versucht Puppe ihre These, dass der Erstverursacher strafrechtlich für die Schäden verantwortlich ist, die rechtlich verpflichteten und auch ohne rechtliches Gebot auf eigene Verantwortung handelnden Rettern zustoßen, mit der Lehre von der objektiven Zurechnung dadurch in Einklang zu bringen, dass sie die Handlungsfreiheit der Retter bestreitet. Ihr Ausgangspunkt stimmt vollkommen mit der hier vertretenen Auffassung überein:30 „Eine freie und vollverantwortliche Selbstgefährdung unterbricht . . . die Zurechnung zum anderen Beteiligten. Dies ist der einzige Fall einer vollständigen Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch eine Zweithandlung.“ Dann aber erklärt sie jegliches Retterhandeln für unfrei und kommt auf diese Weise zwanglos zu einer Zurechnung von Retterschäden zum Erstverursacher:31 „Beide Retter (scil. der verpflichtete und der nicht verpflichtete) mögen in einem äußerlichen Sinne freiwillig handeln, in Wahrheit sind sie genötigt. Denn sie entscheiden sich in einem Konflikt zwischen ihrer eigenen Sicherheit und dem Le28 29 30 31
BGHSt 39, 325/326. BGHSt 39, 325. Puppe, AT I (Fn. 7), § 6 Rn. 35, S. 166. Puppe, AT I (Fn. 7), § 6 Rn. 36, S. 166 f.
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ben oder der Gesundheit anderer. Ist ihre Entscheidung vernünftig, überwiegt also die gewahrte Chance, ex ante gesehen, ihr Eigenrisiko auch nur um ein geringes, so mögen sie heldenhaft handeln, sie handeln aber nicht in dem Sinne frei, dass sie die Verantwortung für die Verwirklichung der Gefahr treffen sollte, in die sie sich begeben.“ Es ist jedoch beim besten Willen nicht plausibel zu machen, dass jemand in irgendeinem Sinne des Wortes unfrei handelt, wenn er vor einer Alternative steht und sich dabei für die vernünftige Lösung entscheidet. Aus dem Schlusssatz des Zitats ergibt sich denn auch, dass es Puppe in Wirklichkeit darum geht, die Verantwortung für Retterschäden, die aus überobligationsmäßigem Handeln erwachsen, dem Brandstifter zuzuschieben. Das aber steht im Widerspruch zum Ausgangspunkt ihrer Zurechnungslehre. Auch die konkrete Fallvariante, die Puppe zur Stützung ihrer Meinung vorträgt, beweist eher das Gegenteil des zu Beweisenden: „Es wäre zynisch, von dem Verunglückten in unserem Falle, der vor der Entscheidung stand, entweder sich selbst in Lebensgefahr zu begeben oder seinen Bruder verbrennen zu lassen, zu behaupten, die Selbstgefährdung habe in seinem Belieben gestanden.“ Denn diese Sachgestaltung würde nach dem Rechtsgedanken des § 35 StGB zu einem Verantwortungsausschluss beim Retter führen und den Brandstifter wegen fehlender Eigenverantwortlichkeit des Opfers zum Täter einer fahrlässige Tötung machen [darüber noch unten 4. c)]. Aber eine solche Fallvariante beruht auf rein hypothetischer Grundlage, darf daher nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht unterstellt werden und ist auch vom BGH nicht unterstellt worden, zumal da der Bruder schon gerettet war. Das Tatgericht hat daher die Bergung „irgendwelcher Sachen“ oder anderer Personen als Ziel des Opfers für mindestens ebenso möglich gehalten. Dass es aber im „Belieben“ des Opfers stand, die Bergung irgendwelcher Sachen zu unterlassen, anstatt sein Leben aufs Spiel zu setzen, lässt sich nicht leugnen. Auch Amelung32 bestreitet die Freiwilligkeit und damit die Eigenverantwortlichkeit des Retterhandelns, selbst wenn jemand um bloßer Sachwerte willen größte Gefahren auf sich nimmt. „,Unfreiwillig‘ gefährdet sich grundsätzlich jeder, der sein Gut nur durch die Gefährdung eines anderen retten kann, obgleich ihm die Rechtsordnung die ungefährdete Existenz beider Güter garantiert.“ Aber nirgends steht geschrieben, dass die Rechtsordnung einen Schutz vor Gefahr garantiert, die jemand ohne jede rechtliche Verpflichtung auf sich nimmt. Im Gegenteil steht ein solches Verhalten in der Alleinverantwortung des sich Gefährdenden. Ich kann Amelung deshalb nicht zustimmen, wenn er zu BGHSt 39, 322 ff. sagt: „Die vorliegende Entscheidung ,relativiert‘ die Grundsätze über die fehlende Zurechenbarkeit einer bewussten Selbstgefährdung nicht, sondern lässt sich mit dem anerkannten Erfordernis der Freiverantwortlichkeit einer solchen
32
Amelung, NStZ 1994, 338.
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Selbstschädigung erklären.“ Selbst der BGH hat eine „Einschränkung des Grundsatzes“ in der einschlägigen Entscheidung ohne weiteres eingeräumt.33 Es ist daher Bernsmann/Zieschang34 zuzustimmen, wenn sie sagen: „Wer . . . so gut wie jeden, der anderen in Gefahren ohne Rücksicht auf die eigene Person beisteht, als ,nicht frei‘ betrachtet, macht aus ,Helden‘ bloße ,Opfer‘ ihrer (angeblichen) Pflichterfüllung und – noch schlimmer – des Gefahrverursachers.“ Auch der Versuch, die Haftung des Erstverursachers aus der Unfreiwilligkeit überobligationsmäßiger Rettungshandlungen zu begründen, liefert also kein taugliches Argument für eine Fahrlässigkeitsbestrafung des Erstverursachers. cc) Eine weitere Begründung stützt die Bestrafung des Erstverursachers für Retterschäden, die aus nicht gebotenen, überobligationsmäßigen Aktionen entstehen, auf die soziale Erwünschtheit eines derart riskanten Verhaltens. Frisch,35 ein repräsentativer Vertreter dieser Begründung, sagt: „Hier ist die Gemeinschaft in hohem Maße an der Vornahme der vernünftigen, wenn auch riskanten Rettungshandlung interessiert; sie bewertet ein solches Verhalten als sozialethisch wertvoll – man ist froh darüber, dass sich engagierte Retter finden . . . Mit dieser positiven Bewertung und der Erwünschtheit entsprechender Rettungshandlungen verträgt sich nur eines: der Schutz dessen, der das Erwünschte, aber nicht Gebotene tut.“ Thier36 treibt diesen Gedanken so weit, dass er sogar noch die Folgen sinnloser und völlig unverhältnismäßiger Rettungsaktionen dem Erstverursacher aufbürden will: „Bei privaten Rettern ist die Unvernünftigkeit der Rettung nur bei einer vorsätzlichen Selbstverletzung anzunehmen.“ Alles andere hält er für „rechtspolitisch unvertretbar“37. Das alles überzeugt aber nicht, auch wenn es im Brustton der Überzeugung vorgetragen wird.38 Die Strafrechtsprechung hat es bei „Retterfällen“ vorwiegend mit Sachverhalten zu tun, bei denen Rettungsaktionen von unzumutbarer Gewagtheit mit dem Tode oder schweren Verletzungen des „Retters“ geendet haben. So etwas als allemal „sozial erwünscht“ anzusehen (weil es ja, was niemand wissen kann, vielleicht hätte gelingen können), ist eine sehr einseitige Beurteilung ohne rechtliche Verbindlichkeit. Bei nüchterner Betrachtung wird sich keineswegs sagen lassen, dass etwa in dem der Entscheidung BGHSt 39, 322 zugrunde liegenden Sachverhalt das unmittelbar tödliche Eindringen des Opfers in den Oberstock des brennenden und raucherfüllten Hauses „sozial erwünscht“ war – 33
BGHSt 39, 325. Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 779; ähnlich schon Otto (Fn. 27). 35 Frisch (Fn. 6), 1988, S. 484; 485 Fn. 452 auch Hinweise auf andere Vertreter dieser Ansicht. 36 Thier, Zurechenbarkeit von Retterschäden bei Brandstiftungsdelikten nach dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts, 2009, S. 85. 37 Thier (Fn. 36), S. 82. 38 Abl. auch Radtke/Hoffmann (Fn. 17), 216 f.; Strasser (Fn. 18), S. 216 ff. 34
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und doch nehmen die meisten Beurteiler das ohne Bedenken an, und auch der BGH sieht hier „ein einsichtiges Motiv“39. Jedenfalls fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber gewillt und befugt sein könnte, an ein eigenverantwortliches Verhalten, das er nicht gebietet und für unzumutbar hält, strafrechtliche Folgen für Dritte zu knüpfen. Der vor allem von Frisch vorgetragene Gedanke, dass der Schutz des Retters das erfordere, leuchtet nicht ein. Denn abgesehen von dem Grundsatz der objektiven Zurechnung, dass es nicht die Aufgabe des Staates ist, Menschen vor einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung zu schützen, wird ja auch der verunglückte Retter nicht im geringsten dadurch geschützt, dass der Auslöser der Gefahr nach dem Eintritt schwerer Folgen für den Retter bestraft wird. Dass aber künftige Brandstifter sich von ihrer Tat durch den Gedanken abhalten lassen würden, für Schäden, die aus rechtlich nicht gebotenen Hilfsmaßnahmen entstehen, strafrechtlich verantwortlich gemacht zu werden, ist eine reine Fiktion. Kein Delinquent bedenkt solche Konstellationen; und falls er sie bedächte, würde er sich davon nicht abschrecken lassen, wenn ihn schon der Gedanke an andere mögliche Brandopfer von seinem Tun nicht zurückhält. c) Schließlich scheitert die vom BGH und der überwiegenden Meinung vertretene Auffassung auch daran, dass sich jenseits des rechtlich Gebotenen eine verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen genügende Abgrenzung zwischen noch vernünftigen und „sinnlosen oder mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbundenen“ Rettungsversuchen40 nicht treffen lässt.41 Die Beurteilungen gehen dann auch weit auseinander und halten rationaler Überprüfung vielfach nicht stand. Das lässt sich gerade an der Entscheidung BGHSt 39, 322 gut demonstrieren. Der BGH42 findet es vernünftig, dass das Opfer sich „in das brennende Obergeschoss des Hauses begab . . .; denn es befanden sich neben sämtlichen Sachwerten der Familie noch der schlafende K. im Obergeschoss des Hauses“. Wen oder was das Opfer retten wollte, hat nicht geklärt werden können; schon der Wille zur Bergung „irgendwelcher Sachen“ soll ausreichen, um seinem Handeln das Prädikat „nicht offensichtlich unvernünftig“43 zuzusprechen. Dem folgt die überwiegende Meinung, und auch Puppe sieht das so.44 Dabei war in Wirklichkeit das Verhalten des Opfers eine von vornherein aussichtslose, geradezu selbstmörderische Handlung. Aus der anfangs referierten 39 40 41 42 43 44
BGHSt 39, 325. BGHSt 39, 326. Auch Diel (Fn. 3), S. 242 ff. bemängelt das. BGHSt 39, 326. BGHSt 39, 326. Puppe, AT I (Fn. 7), § 13 Rn. 35, S. 248.
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Entscheidung des OLG Stuttgart lässt sich mit aller Deutlichkeit entnehmen, dass man ohne professionellen Atemschutz und eine funktionierende Überwachung dieser Schutzmaßnahme in einem brennenden und rauchvergifteten Haus nicht überleben kann. Der Retter war denn auch sofort und schon im Flur vor dem Erreichen eines Zimmers bewusstlos und tödlich verletzt zusammengebrochen. Es ist kaum verständlich, wie man ein solches Verhalten vernünftig oder auch nur nicht von vornherein sinnlos finden kann. Aber nur wenige Beurteiler haben das erkannt. Immerhin sagen Bernsmann/ Zieschang:45 „Woraus der BGH die Gewissheit zieht, dass das Unternehmen . . . eine auch nur halbwegs realistische Erfolgschance gehabt hat, bleibt rätselhaft.“ Und bei Strasser46 lesen wir: „. . . wenn der BGH das Verhalten des Bruders nicht als offenkundig unvernünftig klassifiziert, fragt man sich, welche Steigerung der Unvernünftigkeit das Verhalten noch hätte erfahren können.“ Dass der Maßstab der offensichtlichen Unvernunft zu willkürlichen Gefühlsurteilen verleitet, ist auch kein Zufall. Eine Überprüfung der verschiedenen gesetzlichen Regelungen zur Gefahrtragungspflicht47 zeigt, dass vernünftiges Rettungsverhalten normalerweise schon im Rahmen des Zumutbaren liegt und dass für Aktionen, die nach rechtlichen Maßstäben unzumutbar, aber dennoch „vernünftig“ sind, kaum Raum bleibt. Es ist denn auch den Vertretern der Meinung, die die Folgen verunglückter überobligationsmäßiger Rettungshandlungen dem Erstverursacher zurechnen wollen, nicht gelungen, handhabbare Maßstäbe für die Abgrenzung von Vernunft und Unvernunft aufzustellen. Zwar hat Sowada48 eine an § 34 StGB orientierte Interessenabwägung vorgeschlagen, derzufolge alle Fälle zurechenbar sind, „in denen sich Rettungschancen und Retterrisiko die Waage halten“, und Puppe49 findet eine überobligationsmäßige Rettungsaktion vernünftig, wenn „die gewahrte Chance, ex ante gesehen“ das „Eigenrisiko auch nur um ein geringes“ überwiegt. Aber solche Abwägungen sind praktisch nicht möglich, weil die Notsituation für sie keine Zeit lässt und weil Risiken und Chancen nicht klar übersehbar sind. Auch müssten doch wohl nicht nur die Risiken, sondern auch der Wert der gefährdeten und zu rettenden Güter in eine Abwägung einbezogen werden, was zwar Sowada tut,50 wenn er die Eingehung von Lebensrisiken zur Bergung von Sachwerten „regelmäßig nicht mehr erwünscht“ nennt, nicht aber der BGH in 45 46 47 48 49 50
Bernsmann/Zieschang, JuS 1975, 775. Strasser (Fn. 18), S. 163. Bernsmann, Blau-FS, 1985, S. 23 ff.; Strasser (Fn. 18), S. 216 ff. Sowada, JZ 1994, 663 (665). Puppe (Fn. 7), § 6 Rn. 36, S. 167. Sowada (Fn. 48), 666.
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seiner Brandstiftungs-Entscheidung, und auch nicht Puppe,51 die es für vernünftig hält, dass jemand „in das schon einsturzgefährdete oder rauchvergiftete Haus stürzt, um kostbare oder ihm persönlich teure Sachen zu retten“. Stattdessen will Puppe für das Urteil über Vernunft und Unvernunft der Motivation des Rettungswilligen entscheidende Bedeutung beimessen. So soll eine Zurechnung von Unfallfolgen zum Erstverursacher ausscheiden, „wenn der ,Retter‘ geringwertige Sachen aus dem Hause holt, um seinen Mut zu beweisen, eine Wette zu gewinnen, in der Öffentlichkeit als Held dazustehen oder auch, wie das Käthchen von Heilbronn, seine Verliebtheit zu demonstrieren.“ Bei hochwertigen Sachen sollen diese Motivationen dann aber anscheinend wieder keine Rolle spielen. Alle solche Distinktionen führen aber ins Willkürliche. Denn ob edler Altruismus, der Wille zur Demonstration von Mut, Geltungsbedürfnis, Ruhmsucht, eine aus Lebensenttäuschungen genährte Todesverachtung oder eine Mischung verschiedener Motivationen den „Retter“ geleitet haben, entzieht sich jeder gerichtlichen Feststellung. Es führt ins Irrationale, wenn man die Strafbarkeit des Erstverursachers an derartig kontroverse und unüberprüfbare Kriterien knüpft. Eine sinnvolle Aufgabe für den so vielfältig propagierten Schutz von Menschen, die über das Maß des Zumutbaren hinaus riskante Rettungshandlungen wagen, liegt im Zivilrecht, an dem sich die strafrechtliche Rechtsprechung von vornherein – zu sehr! – orientiert hat.52 Zivilrechtlich trägt der Verursacher einer Gefahr „das Haftungsrisiko für riskante Rettungsmaßnahmen nur dann, wenn das Risiko des helfend intervenierenden Dritten in einem angemessenen Verhältnis zu dem drohenden Schaden des Opfers steht“53. Dabei kann ein etwaiger Schadensersatzanspruch auch noch nach § 254 BGB gemildert werden. Dem Verursacher darüber hinaus auch noch ein keiner Milderung zugängliches Strafbarkeitsrisiko für überobligationsmäßige Rettungshandlungen aufzuerlegen, besteht nach allem, was vorstehend dargelegt wurde, keinerlei Anlass. 4. Konkretisierungen, Einschränkungen, Erweiterungen Der Grundsatz, dass Retterschäden dem Erstverursacher immer, aber auch nur im Rahmen des rechtlich Gebotenen zuzurechnen sind, bedarf der Konkretisierung, aber auch gewisser Einschränkungen und Erweiterungen. a) Konkretisierungen Bei berufsmäßigen Rettern und Garanten gilt der Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, eine konkrete Lebensgefahr oder die konkrete Gefahr einer 51 52 53
Puppe, AT I (Fn. 7), § 13 Rn. 35, S. 248. Näher dazu Klaus Günther, StV 1995, 81. Günther (Fn. 52).
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schweren Leibesgefährdung auf sich zu nehmen; beides lässt sich meist nicht trennen. Dabei ist auf das abzustellen, was der Rettungspflichtige unter den gegebenen Umständen ex ante erkennen konnte.54 Im Rahmen des § 323c wird man auch die Gefahr mittlerer Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit, wenn sie hinreichend wahrscheinlich ist, nicht mehr als zumutbar ansehen können. Wenn Strasser bei Garantenstellungen und im Rahmen des § 323c gleichermaßen schon „mit Auftreten einer nennenswerten konkreten Gefahr für die leibliche Unversehrtheit die Grenze der Zumutbarkeit der Hilfeleistung überschritten“ sieht,55 so scheint mir damit etwas zu wenig verlangt. Denn schon leichte Hautabschürfungen oder Schnittwunden beeinträchtigen die körperliche Unversehrtheit; sie sollten aber hingenommen werden müssen, wo Hilfe dringend geboten ist. b) Einschränkungen Unglücksfälle, die bei rechtlich gebotenen Hilfsaktionen auftreten, sollten dem Erstverursacher dann nicht zugerechnet werden, wenn sie durch das allgemeine Berufsrisiko und nicht durch die Gefahren des konkreten Unfalls herbeigeführt worden sind. Frisch56 verlangt in diesem Zusammenhang ein einigermaßen erhebliches konkretes Risiko: „Verhaltensweisen, die nichts weiter als eine eilige Einsatzfahrt des Krankenwagens (Martinshorn, Blaulicht usw.) oder eine Routineaktion der Bergwacht auslösen . . ., schaffen noch kein strafrechtlich missbilligtes Risiko . . .“. Strasser57 beruft sich nicht auf Frisch, sondern auf Wolter58 und mich, wenn er eine „räumliche und zeitliche Konnexität mit dem Gefahrenfeld“59 verlangt: „Der Aufmarsch zum Berg oder insbesondere die Rettungsfahrt zum Unfallgeschehen“ wird als berufsspezifische Gefahr angesehen. „Eine Relation mit dem geschaffenen Gefahrenfeld kann wegen fehlender Konnexität nicht begründet werden. Eine solche liegt nur dann vor, wenn der Retter Opfer der geschaffenen Gefahrenquelle wird. Die Anfahrt liegt noch außerhalb dieses Feldes.“ Dasselbe gilt für Schäden, die dem Retter nach Beseitigung der Gefahr zustoßen. Eine derartige Haftungseinschränkung ist sinnvoll, um das Strafbarkeitsrisiko des Erstverursachers nicht ins Uferlose auszudehnen. Unstrittig ist aber auch sie nicht.60
54
Nähere Nachweise bei Strasser (Fn. 18), S. 216 ff. Strasser (Fn. 18), S. 220. 56 Frisch (Fn. 6), 1988, S. 488. 57 Strasser (Fn. 18) S. 225. 58 Wolter (Fn. 5), S. 342 f. 59 Strasser (Fn. 18), S. 224. 60 So will Frister, AT, 4. Aufl., 2009, Kap. 10, Rn. 23 einen Messerstecher wegen fahrlässiger Tötung verurteilen, wenn der Krankenwagen auf einer Blaulichtfahrt einen tödlichen Unfall verursacht. 55
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c) Erweiterungen Andererseits muss eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Erstverursachers auch bei nicht gebotenen Rettungshandlungen angenommen werden, wenn der Retter nach den Maßstäben der Rechtsordnung nicht die Verantwortlichkeit für sein Handeln trägt. Das ist der Fall, wenn er – etwa im Zustand völliger Trunkenheit – nicht zurechnungsfähig ist oder wenn er in einer Situation handelt, die bei der Schädigung eines anderen zu einer Entschuldigung nach § 35 StGB geführt hätte. Puppe61 ist also völlig im Recht, wenn sie sagt: „Wenn eine Mutter in Rauch und Flammen erstickt, weil sie versucht hat, ihr Kind aus der brennenden Wohnung zu holen, . . . so ist der Brandstifter, der sie in diese Situation gebracht hat, in vollem Umfang für ihren Tod verantwortlich.“ Auch andere Autoren62 haben darauf hingewiesen, dass der Rechtsgedanke des § 35 nicht nur auf Fremd-, sondern auch auf Selbstschädigungen anzuwenden sei. Es handelt sich hier nicht um eine Ausnahme von der aus den Grundsätzen der objektiven Zurechnung sich ergebenden Lösung, sondern um deren konsequente Anwendung. Es fehlt an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Retters, wenn dessen Verantwortlichkeit nach Maßgabe der §§ 20, 35 StGB ausgeschlossen ist. Auch das wird freilich bestritten. Nach Strasser63 kann auch dann keine Zurechnung zum Erstverursacher begründet werden, wenn sich „der Retter in einer . . . § 35 StGB entsprechenden Situation befindet“, weil die „Integrität des Retters . . . dem Wert des bedrohten Rechtsguts gegenübergestellt werden“ müsse. Auch bei hochgradiger Alkoholisierung soll der Brandstifter für dessen Schädigung nicht haften, „denn die Alkoholisierung fällt nicht in die Zuständigkeit des Verursachers“64. Aber der Brandstifter ist für alle Schäden verantwortlich, für die sich keine Selbstverantwortlichkeit des Retters begründen lässt. Und daran fehlt es in den genannten Fällen. Im Sachverhalt der Entscheidung BGHSt 39, 322 ff. hätte ein Verantwortungsausschluss des Retters sowohl . . . unter dem Gesichtspunkt seiner Alkoholisierung (2,38 ‰!) als auch eines Putativnotstandes (§ 35 Abs. 2 StGB) diskutiert werden können (letzterer, sofern das Motiv des Verunglückten die Rettung des Bruders war). Der BGH ist darauf nicht eingegangen; wahrscheinlich deshalb, weil es angesichts der von ihm bejahten sinnvollen Rettungsaktion von seinem Standpunkt aus darauf nicht ankam. Im Übrigen hätte wohl auch der Annahme eines Verantwortlichkeitsausschlusses der Grundsatz „in dubio pro reo“ entgegengestanden. Denn wenn dem Handeln des Opfers ein einsichtiges und vernünftiges Motiv zugesprochen wird, muss man zugunsten des Angeklagten von seiner 61
Puppe, AT I (Fn. 7), § 13, Rn. 34, S. 248. Etwa Radtke/Hoffmann (Fn. 17), 217 f.; Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 778 f.; Amelung, NStZ 1994, 338. 63 Strasser (Fn. 18), S. 238 f. 64 Strasser (Fn. 28), S. 242. 62
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Zurechnungsfähigkeit ausgehen. Und auch die Annahme, dass der Verunglückte seinen Bruder retten wollte und infolge eines unvermeidbaren Irrtums diesen noch im Hause glaubte, ist eine Hypothese ohne Anhalt im realen Geschehen. Sowada65 meint zwar, die Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ ausschließen zu können, weil dieser sich nicht auf fernliegende, nur theoretisch denkbare Möglichkeiten beziehe. Doch spricht das nicht gegen seine Heranziehung, wenn die Rettungsaktion als sinnvoll angesehen und die Bruderrettung nur als ein denkbares Motiv neben gleichrangigen anderen angesehen wird. Vom hier vertretenen Standpunkt aus, nach dem die Rettungsaktion sinnlos war, hätte die Zurechnungsfähigkeit des Opfers näherer Prüfung bedurft. Beim Fehlen einer solchen Prüfung lässt sich auch insoweit die Möglichkeit ihrer Bejahung, also des Bestehens hinreichender Einsichtsfähigkeit, nicht ausschließen. 5. § 306c StGB Der 1998 eingeführte § 306c StGB ordnet bei leichtfertiger Todesverursachung durch die Brandstiftung eine gegenüber § 222 StGB drastisch verschärfte Strafe an. Im Falle der Entscheidung BGHSt 39, 322 ff. scheidet vom hier vertretenen Standpunkt eine derartige Erfolgsqualifizierung schon deshalb aus, weil nicht einmal eine einfache Fahrlässigkeitszurechnung erfolgen kann. Doch wird bei Retterunfällen § 306c StGB auch dann abzulehnen sein, wenn man eine schlichte Fahrlässigkeit des Erstverursachers bis zur Grenze sinnloser Unvernunft auf Seiten des Retters oder eine Zurechnung nach § 222 StGB zum Erstverursacher wegen einer Handlungsverpflichtung des Retters annimmt. Das lässt sich schon mit dem Unmittelbarkeitserfordernis der überlieferten Rechtsprechung zu den erfolgsqualifizierten Delikten begründen. Der Brand führt nicht unmittelbar den Tod des Retters herbei, sondern hat diese Folge nur deshalb, weil der Retter sich durch das Eindringen in das brennende Haus selbst der Gefahr aussetzt. Die literarischen Bemühungen um die neue Vorschrift bewegen sich, sofern sie nicht direkt auf das Unmittelbarkeitserfordernis zurückgreifen, immerhin in der Nähe dieses Gedankens. Das gilt für die Forderung Radtkes,66 dass sich das Opfer der Erfolgsqualifikation „im Einwirkungsbereich“ des Brandes befunden haben muss. Dasselbe gilt für das Verlangen Strassers67 nach einem „Konfrontationszusammenhang“, der im Falle der Erfolgsqualifikation das Opfer mit dem Brand verbinden muss: „Der Retter tritt freiwillig zum Gefahrenherd hinzu und bleibt auch nach dem Hinzutritt in seiner Entscheidungsherrschaft autonom.“ Und auch Puppe68 kommt zu demselben Ergebnis, wenn sie annimmt, 65
Sowada, JZ 1994, 668. Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte – zugleich ein Beitrag zur Lehre von den gemeingefährlichen Delikten, 1998, S. 285. 67 Strasser (Fn. 18), S. 411. 68 Puppe, AT I (Fn. 7), § 13 Rn. 48, S. 254. 66
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dass der Brand „nicht nur eine Ursache der qualifizierenden Tatfolge sein muss, sondern auch schon eine konkrete Gefahr des Eintritts der qualifizierten Folge begründet haben muss“. 6. Retterschäden, die aus einer Selbstgefährdung entstehen Einen Sonderfall der Retterschäden bietet die Situation, dass der Retter nicht eine vom Erstverursacher für die Rechtsgüter Dritter geschaffene Gefahr, sondern die Verwirklichung von Risiken verhindern will, die aus einer Selbstgefährdung erwachsen. Solche Fälle sind nicht selten. So kommt es vor, dass jemand zwar einen Suizidenten vor dem Tode bewahren kann, dabei aber selbst schwere Schäden erleidet. Oder Retter kommen bei der Bergung von Menschen, die in den Bergen, in Schnee und Eis oder im Wasser verunglückt sind, zu Schaden. Ist der Selbstgefährder, der zu dem Unglück Anlass gegeben hat, wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung zur Verantwortung zu ziehen? Im Zivilrecht wird das weitgehend angenommen,69 und auch im Strafrecht wird diese Ansicht vertreten.70 Frisch71 und Strasser72, die das Problem am ausführlichsten behandelt haben, kommen dagegen mit Recht zu einer Ablehnung strafrechtlicher Konsequenzen. Frisch begründet das so, dass er zwar eine missbilligte Risikoschaffung „in Richtung auf die Rechtsgüter potenzieller Retter“ bejaht, aber eine Bestrafung wegen fehlender Präventionswirkung ablehnt. Wer mit seinem Leben Schluss machen wolle, werde sich davon auch durch eine Strafdrohung wegen potenzieller Schädigung von Rettern nicht abhalten lassen. Und wer bei riskanten Sportarten die Eigengefährdung bagatellisiere, werde sich auch durch den Gedanken an die Gefährdung etwaiger Retter von seinem Tun nicht abhalten lassen.73 Strasser hingegen bestreitet schon eine strafrechtlich missbilligte Gefahrschaffung. Mir erscheint die Begründung Strassers vorzugswürdig. Denn sowohl der Suizid wie auch die Ausübung gefährlicher Sportarten sind unverboten. Strasser74 beruft sich auf Bernsmann/Zieschang,75 die zutreffend sagen: „Wie sollte die erlaubte gefahrstiftende Handlung nachträglich dadurch zu einer objektiv und subjektiv zurechenbaren werden, dass ein anderer bei einem . . . Rettungsunternehmen einen Schaden erleidet?“ Dass dagegen ein Verbot gefährlicher Sportarten präventiv sinnlos sei, wird man nicht ohne weiteres sagen können. Ein Verbot 69
Strasser (Fn. 18), S. 222 m.w. N. Etwa bei Biewald, Regelgemäßes Verhalten und Verantwortlichkeit – eine Untersuchung der Retterfälle und verwandter Konstellationen, 2003, S. 206, Fn. 74. 71 Frisch (Fn. 6), 1988, S. 471 ff. 72 Strasser (Fn. 18), S. 221 ff. 73 Frisch (Fn. 6), 1988, S. 491 f. 74 Strasser (Fn. 18), S. 223. 75 Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 777. 70
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ihrer Ausübung – dessen Verfassungsmäßigkeit freilich zweifelhaft wäre – könnte manchen Retterschaden verhindern. Die zivilrechtliche Behandlung der Problematik steht auch hier auf einem anderen Blatt. Es ist durchaus angemessen, dass der verunglückte Selbstgefährder seinem verletzten Retter einen Ausgleich in Geld gewährt. Aber es ist sicher kein Zufall, dass strafrechtliche Entscheidungen aus diesem Bereich noch nicht bekannt geworden sind. 7. Verfolgerschäden Eine Abart des „Retters“ ist auch der Verfolger von Delinquenten, der bei der Verfolgung zu Schaden kommt, indem er etwa stürzt oder mit dem Auto verunglückt. Es gibt darüber eine umfangreiche zivilrechtliche Rechtsprechung, die einen Schadensersatzanspruch des verunglückten Verfolgers grundsätzlich bejaht.76 Eine Strafbarkeit des fliehenden Delinquenten wird dagegen nur selten und für Sonderfälle bejaht.77 Die verhältnismäßig wenigen Autoren, die sich im Übrigen mit der Frage befassen, lehnen durchweg eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Fliehenden unter Hinweis auf das Selbstbegünstigungsprivileg ab.78 Das ist zutreffend. Die ausführliche Untersuchung der Vorschriften, deren Deutung als Fluchtverbot in Erwägung gezogen werden kann, durch Strasser79 hat ergeben, dass ein strafrechtlich relevantes Fluchtverbot nicht existiert. Etwas anders sieht das freilich Puppe.80 Auch sie erkennt natürlich an, dass niemand verpflichtet ist, an seiner eigenen Bestrafung mitzuwirken. Hält sich also der Fliehende an die Verkehrsregeln und verunglückt der Verfolger, so hat sich ein erlaubtes Risiko straffrei verwirklicht. Wenn der Fliehende dagegen verkehrswidrig Verfolger gefährdet, so „ist diese Gefährdung eine unerlaubte und begründet die Zurechnung eines Verletzungserfolges auch dann, wenn sie für den Täter das einzige erfolgversprechende Mittel war, sich der Festnahme zu entziehen“81. Das ist richtig, begründet aber keine Ausnahme von der Straflosigkeit des Fluchtverhaltens. Denn wenn, um das Beispiel Puppes aufzunehmen, der Ver76 Sie kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden, wird aber bei Strasser (Fn. 18), S. 256 ff., dargestellt. 77 Nachweise bei Strasser (Fn. 18), S. 266 ff., 271 ff. zur differenzierenden Ansicht von Mark Otto, Strafrechtliche Zurechnungsprobleme bei den sogenannten Verfolgerfällen, 2007. 78 Darunter auch ich selbst (Fn. 3), § 11 Rn. 140. Ferner etwa Krey, AT I, 3. Aufl. 2008, Rn. 327; Köhler, AT, 1997, S. 197. 79 Strasser (Fn. 18), S. 279 ff. 80 Puppe, AT I (Fn. 7), § 6 Rn. 40–44. 81 Puppe, AT I (Fn. 7), § 6 Rn. 42.
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folgte den verfolgenden Polizeiwagen in den Straßengraben abdrängt und dadurch einen Unfall verursacht, ist es nicht die Flucht, sondern das Abdrängen, das die Bestrafung auslöst. Puppe will freilich außerdem auch den Fliehenden bestrafen, der eine Verfolgung „mit Blaulicht und Martinshorn“ bewirkt82 und dadurch einen Unfall verursacht. Aber dabei wird verkannt, dass dies zum allgemeinen Berufsrisiko der Polizei gehört und deshalb Außenstehenden nicht zugerechnet werden kann.83 III. Der Unglück bewirkende Retter Auch dies ist ein weites Feld, dem ich freilich wegen des einem Festschriftbeitrag gesetzten Umfanges nur noch knappere, im Wesentlichen auf die anfangs referierte „Feuerwehr-Entscheidung“ des OLG Stuttgart beschränkte Ausführungen widmen kann. Dabei will ich drei Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken: die Übertragbarkeit der für Retterunfälle geltenden Grundsätze auf den vorliegenden Fall (1), die spezielle Problematik des nicht verunglückenden, sondern selbst Schaden anrichtenden Retters (2) und den Anforderungen an die Qualität zurechnungsauslösenden Verhaltens bei Retterunfällen (3). 1. Lässt sich der Stuttgarter Feuerwehr-Fall nach den allgemeinen Regeln für Retterunfälle lösen? Das OLG Stuttgart stützt die Ablehnung einer fahrlässigen Tötung von Seiten des Brandverursachers allein auf die Grundsätze der Entscheidung BGHSt 39, 322 ff. Da der mit der Atemschutzüberwachung betraute Feuerwehrmann völlig versagt habe und sich zudem keine Personen im Gebäude befunden hätten, sei „der Grad zu einem offensichtlich unvernünftigen Rettungshandeln erreicht“ und „der Zurechnungszusammenhang zur pflichtwidrigen Brandverursachung durch den Angekl. unterbrochen“84. Vom hier vertretenen Standpunkt aus wird man zu demselben Ergebnis kommen, weil eine derart aussichtslose Form des Löscheinsatzes nicht geboten war. Puppe bestreitet eine solche Übertragung der allgemeinen Regeln auf den vorliegenden Fall, weil die beiden tödlich verunglückten Feuerwehrleute sich auf den Überwachungsbeauftragten hätten verlassen dürfen, so dass „eine freiverantwortliche Selbstgefährdung der Verunglückten“ ausscheide. Das OLG Stuttgart hatte diesem Gedanken dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass „bei arbeitsteiligem Handeln berufsmäßiger Retter auf das gesamte Handeln der am Einsatz beteiligten Feuerwehrangehörigen“ abzustellen sei und dass „im Einsatz befindliche 82 83 84
Puppe, AT I (Fn. 7), § 6 Rn. 43. Darüber schon oben II. 4. b). NStZ 2009, 333.
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Feuerwehrleute“ sich „offensichtlich unvernünftige Entscheidungen der den Einsatz überwachenden Feuerwehrmänner zurechnen lassen“ müssten.85 Die Begründung des Gerichts scheint mir in diesem letzten Punkt problematisch, das Ergebnis aber entgegen Puppe doch richtig. Ich denke nicht, dass die verstorbenen Feuerwehrleute sich die gravierenden Fehler der Einsatzleitung zurechnen lassen müssen. Im Gegenteil wäre es angemessen, den Überwachungsbeauftragten wegen fahrlässiger Tötung der seiner Obhut anvertrauten Einsatzpersonen zu bestrafen.86 Aber für den Ausschluss einer Erfolgszurechnung zum Erstverursacher muss es ausreichen, dass schon das Fehlverhalten eines der am Löscheinsatz beteiligten Personen einen solchen Einsatz als „nicht geboten“ oder – mit dem BGH – als „offensichtlich unvernünftig“ erscheinen lässt. Denn für eine Ablehnung seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit muss es genügen, dass der Einsatz als „Gesamtaktion“ von ihm nicht zu verantworten ist. Die interne Schuldzuweisung unter den in der Feuerwehr Beteiligten kann sinnvollerweise nicht über seine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung entscheiden. 2. Die Problematik des Unglück bewirkenden Retters In dem Stuttgarter Fall steckt aber noch das zusätzliche, über die Sachverhaltsstruktur von BGHSt 39, 322 hinausreichende Problem, dass einer der Retter selbst – der Überwachungsbeauftragte – durch sein Fehlverhalten den Tod seiner beiden Kollegen herbeigeführt hat.87 Der Fall des schädigenden Retters ist bisher vor allem am Beispiel des ärztlichen Kunstfehlers erörtert worden. Zur Frage, inwieweit ein Verletzter für die Folgen ärztlicher Fehler verantwortlich gemacht werden kann, gibt es sorgfältig ausgearbeitete, differenzierende und im Einzelnen auch differierende Lösungen.88 Weitverbreitet und immer noch durchaus diskutabel ist auch der Vorschlag, den Verletzer nur für die Folgen leichter, nicht aber grober ärztlicher Kunstfehler noch verantwortlich zu machen:89 „Die Möglichkeit fahrlässigen Verhaltens . . . ist in jeder Rettungshandlung mit angelegt. Erst grob fahrlässiges Verhalten sprengt diesen Rahmen.“ Bei einer Übertragung auf den FeuerwehrFall würde das bedeuten, dass das grobe Versagen des Überwachungsbeauftrag-
85
Leitsatz 4, NStZ 2009, 331 sowie NStZ 2009, 333. Auch Kudlich, JA 2008, 742 stellt die Frage nach einer solchen Strafbarkeit. 87 Das OLG Stuttgart meint, auf die Frage der Kausalität komme es für seine Entscheidung nicht an (NStZ 2009, 333). Das mag von seinem Standpunkt aus richtig sein; doch lässt sich nach der Sachverhaltsschilderung die Kausalität nicht bezweifeln. 88 Etwa bei Frisch (Fn. 6), 1988, S. 425 ff.; Puppe, AT I (Fn. 7), § 5 Rn. 17 ff., S. 135 ff.; Strasser (Fn. 18), S. 123 ff. mit umfassender Darstellung des Diskussionsstandes in Rechtsprechung und Literatur, S. 76 ff. 89 Otto, E. A. Wolff-FS, 1989, S. 395 (409). 86
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ten es ausschließt, den Tod der beiden Feuerwehrleute dem Brandverursacher zur Last zu legen. Doch soll der ärztlichen Kunstfehlerproblematik nicht weiter nachgegangen werden, weil sich der vom OLG Stuttgart entschiedene Fall eines „Kunstfehlers“ der Feuerwehr von den typischen Fällen ärztlichen Fehlverhaltens noch in charakteristischer Weise unterscheidet. Während nämlich in den Fällen des ärztlichen Versagens die dem Opfer zugefügte Verletzung – wenigstens in den Fällen, in denen eine Zurechnung zum Erstschädiger vertreten wird – immer noch weiterwirkt, sind die beiden Feuerwehrleute unseres Stuttgarter Falles erst durch die zahlreichen Versäumnisse des Überwachungsbeauftragten in eine tödliche Gefahr geraten und geschädigt worden. Und während die ärztlichen Kunstfehler sich bei Personen auswirken, die nicht zur ärztlichen Institution gehören, beschränken sich in unserem Fall die Folgen des Versagens auf Angehörige der Rettungseinrichtung (der Feuerwehr). Wenigstens diese Umstände sollten ausreichen, um derartige Schäden dem Verantwortungsbereich der Feuerwehr zuzuweisen und nicht mehr dem Erstverursacher zuzurechnen. Professionelle Rettungsinstitutionen müssen ihre Organisation selbst verantworten, so dass Schäden, die aus Organisationsmängeln entstehen, nicht Außenstehenden zugerechnet werden dürfen, die auf die Institution keinerlei Einfluss nehmen können. Puppe90 bestreitet das alles mit der Begründung: „Jeder Täter gibt den Kausalverlauf irgendwann aus der Hand und kann ihn dann nicht mehr beeinflussen. Wenn er dies nicht nur aus tatsächlichen, sondern auch aus rechtlichen Gründen nicht mehr kann, so ist das kein Grund, ihn aus der Verantwortung für den weiteren Kausalverlauf zu entlassen.“ Aber dem möchte ich widersprechen. Ob jemand in einen Geschehensablauf eingreifen kann, ist eine tatsächliche, ob er es darf, eine normative Frage. Das ist ein großer Unterschied, weil ein Zurechungsausschluss sich zwar aus dem Einmischungsverbot, nicht aber aus dem faktischen Entgleiten eines Kausalverlaufs herleiten lässt. Weiter meint Puppe, die Verantwortung der Feuerwehr für das Unglück sei kein Grund, den Brandverursacher „aus der Verantwortung für den weiteren Kausalverlauf zu entlassen, denn er allein ist es gewesen, der die Notwendigkeit für die Organisation des Rettungseinsatzes geschaffen hat.“ Aber die Veranlassung einer Organisation zu bestimmungsgemäßem Einsatz birgt noch kein zurechenbares Verletzungsrisiko. Die „Notwendigkeit für die Organisation des Rettungseinsatzes“ begründet keineswegs die Notwendigkeit eines total verfehlten Rettungseinsatzes.
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Puppe (Fn. 14), 334.
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So spricht also auch die hier gegebene Konstellation des Unglück bewirkenden Retters dagegen, dem Brandverursacher den Tod der beiden Feuerwehrleute zur Last zu legen. 3. Die Anforderungen an die Qualität zurechnungsauslösenden Verhaltens Der Stuttgarter Fall stellt ein weiteres Problem, das bei der Diskussion der Entscheidung bisher keine Rolle gespielt, das aber unabhängig davon schon vor mehr als zehn Jahren Frisch91 in das Blickfeld gerückt hat. Er wirft die Frage auf, ob die Fahrlässigkeitshaftung nicht vielleicht überdehnt werde, wenn man demjenigen, der sich nicht bewusst ist, eine Gefahrenquelle zu schaffen, den Tod potenzieller Retter zur Last lege. Diese Frage würde sich auch im Stuttgarter Fall stellen, wenn die Fahrlässigkeitszurechnung nicht schon aus anderen Gründen ausschiede. Der Erstverursacher hatte nur seine ausgeglühte Asche entsorgen wollen und an die Folgen, die daraus entstanden sind, nicht im Entferntesten gedacht. In der Tat besteht eine beträchtliche Schulddifferenz zwischen einem vorsätzlichen Brandstifter, dem sich die Gefahren – auch für eventuelle Retter – von vornherein aufdrängen, und einem Menschen, der aus Unvorsichtigkeit Wirkungen auslöst, die sein Vorstellungsvermögen weit übersteigen. Frisch meint, es scheine „durchaus nicht ausgeschlossen, dass bei entsprechenden Anforderungen an die Untergrenze des spezifisch strafrechtlichen Unrechts der fahrlässigen Tötung Fälle der letztgenannten Art für eine strafrechtliche Reaktion nicht mehr taugen“. Er lässt die Frage letztlich offen. Sie sollte aber weiter überdacht werden, obwohl Frischs Anregung, soweit ich sehe, bisher nirgends aufgenommen worden ist. Zwar lässt sich, wenn man einmal von den Besonderheiten des Stuttgarter Falles absieht (dazu III. 1., 2.) die Möglichkeit einer objektiven Zurechnung der Retterschäden bei sachgerechtem Einsatz der Feuerwehr schwer bestreiten. Denn auch bei unbewusst fahrlässiger Auslösung des Geschehens hat sich ein rechtlich missbilligtes Risiko in tatbestandlichen Folgen realisiert. Aber die subjektive Vorhersehbarkeit und damit die Schuld des Erstverursachers lässt sich bezweifeln. Man darf annehmen, dass der Angeklagte auch sonst seine ausgeglühte Asche in der geschehenen Weise zu entsorgen pflegte, ohne dass je etwas passiert war. Auch weist Kudlich92 darauf hin, dass die fortdauernde Brandgefährlichkeit der Asche nicht ohne weiteres zu erkennen gewesen sein dürfte, wenn sich ein Brand erst nach zwei Tagen entwickelt habe. Der Fall liege daher „an der Grenze zur leichtesten Fahrlässigkeit“. Zwar stellt Puppe,93 91 92 93
Frisch (Fn. 6), 1998, S. 86 f. Kudlich, JA 2008, 742. Puppe (Fn. 14), 335.
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um die von ihr befürwortete Fahrlässigkeitsbestrafung plausibler zu machen, die Frage, ob die auch von ihr anerkannte grobe Fahrlässigkeit des mit der Überwachung des Löscheinsatzes betrauten Feuerwehrmannes „gröber war als die Fahrlässigkeit des Brandstifters“. Aber diese Frage lässt sich nach dem Dargelegten unbedenklich bejahen. Ob es angemessen ist, eine Unachtsamkeit der vorliegenden Art als kriminelle Handlung zu ahnden, braucht hier nicht entschieden zu werden, weil eine Fahrlässigkeitsbestrafung schon aus anderen Gründen abzulehnen ist. Doch sollte erkannt werden, dass neben der Unrechtszurechnung bei unbewusst-fahrlässiger Schaffung von Gefahrenquellen für potenzielle Retter auch die Schuld des Erstverursachers gesonderter Prüfung bedarf, weil derart verwickelte Kausalverläufe schwer vorhersehbar sind, wenn schon die Gefahrschaffung nicht erkannt wird und auch nicht leicht erkennbar ist. IV. Schluss Damit bin ich am Ende der Abhandlung, die ich Ingeborg Puppe mit den herzlichsten Glückwünschen zum Geburtstag widme. Die Jubilarin gehört unbestrittenermaßen zu den scharfsinnigsten, präzisesten und produktivsten Strafrechtsgelehrten unserer Tage. Es ist daher kein Zufall, dass wir beide seit Jahrzehnten in einer ständigen und recht intensiven Diskussion über zentrale Fragen der Strafrechtsdogmatik stehen. Dabei ergeben sich ebenso viele Übereinstimmungen wie Kontroversen – zum Wohl der Wissenschaft, wie ich hoffe. Auch der vorliegende Beitrag will als Fortsetzung eines Gesprächs verstanden werden, das weiterer Überlegungen bedarf. Ich wünsche Ingeborg Puppe Gesundheit und Schaffenskraft für viele Jahre!
Public Private Partnership und Amtsträgerstrafbarkeit* Von Frank Saliger I. Die Aktualität von „PPP“ Public Private Partnership, kurz „PPP“ oder auch „ÖPP“ (öffentlich-private Partnerschaft) genannt, bezeichnet das partnerschaftliche Zusammenwirken von öffentlicher Hand (Bund, Land, Kommunen) und Privatwirtschaft mit dem Ziel, öffentliche Aufgaben kostengünstiger und effizienter zu erfüllen.1 Mit dieser Stoßrichtung ist PPP eine angesichts knapper Haushaltskassen gerade auf kommunaler Ebene beliebte (und schillernde) Form der Privatisierung. Ob Wärme-, Energie- oder Wasserversorgung, Müllentsorgung, Abwasserbeseitigung, Stadtsanierung, Krankenhaus, Schwimmbad, Informationstechnologie oder Verkehrswesen: Kein Bereich der Daseinsvorsorge scheint der Privatisierung und damit auch einer PPP verschlossen.2 PPP markiert dabei ein für die Strafrechtswissenschaft relativ junges Thema. Während PPP der wirtschaftswissenschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Diskussion seit Jahrzehnten vertraut ist,3 steht die Diskussion im Strafrecht erst am Anfang. Bernsmann gebührt, soweit ersichtlich, das Verdienst, das Thema 2005 als Erster strafrechtswissenschaftlich behandelt zu haben.4 Zeitgleich ist die strafrechtliche Debatte vor allem durch das Urteil des BGH im Kölner Müll-Fall aus dem Jahre 2005 angestoßen worden.5 Dieses Urteil stellt die bislang einzige höchstrichterliche Entscheidung eines Strafsenats zu einem gemischt-wirtschaft* Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf der 1. Jahrestagung des WiSteV am 23. Januar 2010 in Frankfurt am Main gehalten hat. 1 Ähnlich Noltensmeier, Public Private Partnership und Korruption, 2009, S. 22. Zum Begriff näher unten II. 2 Vgl. Dreher, NZBau 2002, 246 ff.; Tettinger, NWVBl. 2005, 1 ff. 3 Siehe neben den in Anm. 2 Genannten Kämmerer/Starski, in: ZG 2008, 27; Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben usw., Gutachten zum 67. DJT 2008; Budäus, FSCox, 2003, S. 23; Eifert, VerwArch 93 (2002), 561; Mehde, VerwArch 91 (2000), 540; Tettinger, DÖV 1996, 764; Habersack, ZGR 1996, 544. Zur Vielgestaltigkeit der Privatisierung auch Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 16 ff. 4 Bernsmann, StV 2005, 685. Bernsmann erwähnt dort, dass das Thema auf eine Anregung von Nelles zurückgeht. 5 BGHSt 50, 299 m. Anm. Noltensmeier, StV 2006, 132; Saliger, NJW 2006, 3377; Radtke, NStZ 2007, 57. Vgl. ferner Zwiehoff, FS-Herzberg, 2008, S. 155.
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lichen Unternehmen dar. Unlängst hat Noltensmeier eine umfangreiche Dissertation zu PPP und Korruption vorgelegt.6 Ihre Titelwahl ist nicht zufällig, scheinen die einschlägigen Sachverhalte doch auf eine tendenziell höhere Korruptionsanfälligkeit von Privatisierung hinzuweisen, deren Hauptursachen u. a. im Abbau öffentlicher Kontrolle und in der primär ökonomischen Handlungslogik privater Managements zu suchen sein dürften. Dass mit diesen Äußerungen die Thematik bereits erschöpft ist, kann (wohl) nicht gesagt werden.7 Vor diesem Hintergrund will der Beitrag, den ich Ingeborg Puppe in Hochschätzung und Verehrung widme, die Klärung einiger offener Fragen zur Amtsträgerstrafbarkeit bei PPP vorantreiben. Für das Korruptionsstrafrecht ist das Thema von erheblicher Praxisrelevanz. Denn insoweit geht es wie allgemein bei Mitarbeitern in privatisierten Staatsunternehmen auch bei der Frage, ob und inwieweit PPP-Mitarbeiter als Amtsträger in Betracht kommen, angesichts der beträchtlichen Unterschiede zwischen den §§ 331 ff. StGB und dem restriktiveren § 299 StGB8 nicht allein um die Anwendbarkeit von §§ 331 ff. StGB oder § 299 StGB, sondern nicht selten um die Alternative §§ 331 ff. StGB oder Straflosigkeit (mangels Nichtanwendbarkeit von § 299 StGB). II. Begriff der PPP Der Begriff der PPP ist schillernd9, in Teilen streitig und wird jedenfalls von der Strafrechtsprechung bislang nicht verwendet. Im Begriffskern erfasst PPP Sachverhalte, bei denen erstens private und öffentlich-rechtliche Akteure beteiligt sind, die sich zweitens in kooperativer Partnerschaft (und nicht Unterwerfung) gegenüberstehen.10 In dieser Fassung ist PPP abzugrenzen von materieller und formeller Privatisierung. Materielle Privatisierung (oder Aufgabenprivatisierung) meint eine Gestaltungsform, bei welcher der Hoheitsträger die öffentliche Aufgabe gänzlich aus der Hand gibt und ihre Erledigung einem privaten, marktwirtschaftlichen Unter6
Noltensmeier, PPP (Anm. 1); dazu Besprechung von Saliger, StV 4/2010, 219. Vgl. aber Bernsmann, StV 2009, 308, der seinen Beitrag zu dem Thema „Beteiligung des Staates am Wirtschaftsverkehr durch privat organisierte Gesellschaften und Amtsträger“ mit den Worten einleitet: „Zu meinem Thema ist viel, wenn nicht fast alles gesagt“. 8 Z. B. muss der Täter bei § 299 StGB Angestellter oder Beauftragter eines geschäftlichen Betriebes sein; darüber hinaus kennt § 299 StGB keine gelockerte Unrechtsvereinbarung, erfasst nur die künftige unlautere Bevorzugung, enthält keine §§ 331 Abs. 3, 333 Abs. 3 StGB vergleichbare Regelung, besitzt mildere Strafrahmen und ist schließlich nur relatives Antragsdelikt. Eingehend zu den Unterschieden Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 39 ff. 9 Tettinger, NWVBl. 2005, 1 f.; Dreher, NZBau 2002, 246 f. 10 Dreher, NZBau 2002, 246; Tettinger, NWVBl. 2005, 2; vgl. auch Bernsmann, StV 2005, 686. 7
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nehmen ohne Rücksicht auf die Anordnung einer staatlichen Aufsicht überlässt. Bei materieller Privatisierung scheitert eine Amtsträgerstrafbarkeit nach einhelliger Auffassung bereits daran, dass das materiell privatisierte Unternehmen keine öffentliche Aufgabe mehr wahrnimmt.11 Beispiele bilden die Telekom-AG oder der (zeitweise) Verkauf der Bundesdruckerei. Bei der (rein) formellen Privatisierung (oder Organisationsprivatisierung) bleibt die öffentliche Hand hingegen Träger der öffentlichen Aufgabe und bedient sich für ihre Erledigung lediglich einer privatrechtlichen Organisationsform, z. B. GmbH oder AG.12 Kennzeichnend für die formelle Privatisierung ist, dass die öffentliche Hand sämtliche Anteile an der privatrechtlichen Organisation hält.13 Beispiele sind die GTZ14, die Rhein-Sieg-Abfallwirtschaftsgesellschaft15 oder eine kommunale Energieversorgungs-GmbH.16 In Verwaltungs- und Strafrechtswissenschaft besteht Einigkeit dahingehend, dass PPP mit materieller Privatisierung nichts zu tun hat.17 Streitig ist in der Strafrechtslehre allerdings, wie sich PPP und rein formelle Privatisierung zueinander verhalten. Nach einem weiten Begriffsverständnis sollen unter PPP „alle sonstigen Formen der Überführung ehemals in öffentlich-rechtlich geregelter Alleinzuständigkeit durchgeführter Tätigkeiten in Unternehmen, an denen ein Privatrechtssubjekt beteiligt ist“, fallen.18 Danach umfasst PPP sowohl die formelle Privatisierung als auch die sog. funktionale Privatisierung, für die charakteristisch ist, dass in die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe ein Privatrechtssubjekt eingeschaltet ist, an dem ausschließlich oder zumindest teilweise ein von der öffentlichen Hand unabhängiger Privater beteiligt ist.19 Nach dem engen Begriffsverständnis ist PPP dagegen streng abzugrenzen von der formellen Privatisierung und erfasst mit dem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen20 als Prototyp allein die sog. funktionale Privatisierung.21 11 BGHSt 49, 214 (221) – unter Bezugnahme auf Ossenbühl, JR 1992, 473 (475) – m. Anm. Vahle, DVP 2004, 525; ferner Dreher, NZBau 2002, 246; Tettinger, NWVBl. 2005, 2; Radtke, NStZ 2007, 60. 12 BGHSt 43, 370 (374 f.) m. Anm. Ransiek NStZ 1998, 564; ferner Dreher, NZBau 2002, 246; Tettinger, NWVBl. 2005, 2. 13 Dreher, NZBau 2002, 246; Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 24. 14 BGHSt 43, 370 (375). 15 BGH NStZ 2007, 211 (212). 16 BGH NJW 2004, 693 (694). 17 Vgl. Dreher, NZBau 2002, 246 f.; Bernsmann, StV 2005, 686. 18 Bernsmann, StV 2005, 686. 19 Bernsmann, StV 2005, 686; i. E. auch Radtke, NStZ 2007, 60 m. Fn. 49; vgl. auch Dreher, NZBau 2002, 247. 20 Von den gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen sind die gemischt-öffentlichen Unternehmen zu unterscheiden, bei denen Partnerschaften zwischen verschiedenen Verwaltungsträgern vorliegen; vgl. Pünder, NJW 2010, 264. 21 Saliger, StV 4/2010, 219; Dreher, NZBau 2002, 247 mit Hinweis auf vier Grundtypen von PPP: neben dem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen das Konzessions-
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Begründet wird die weite Ansicht damit, dass „zumindest aus strafrechtlicher Perspektive“ auch bei der formellen Privatisierung der Staat mit einem Privaten kooperiert. Denn auch bei der formellen Privatisierung steht dem Staat mit einer GmbH oder AG eine rechtlich selbständige juristische Person des Privatrechts gegenüber, mit der der Träger der öffentlichen Gewalt nicht nur gemäß seinen öffentlich-rechtlichen Vorgaben, sondern auch nach den einschlägigen Regeln des Gesellschaftsrechts zusammenarbeiten muss.22 Das überzeugt nicht. Zwar erscheint das weite Begriffsverständnis bei einem entsprechenden weiten Kooperationsbegriff konstruktiv möglich. Doch bleibt die Polarität des privaten Akteurs gegenüber der öffentlichen Hand blass, wenn bei der formellen Privatisierung die öffentliche Hand sämtliche Anteile an der privaten Gesellschaft hält. Von einer gemeinsamen Zweckverfolgung von Privaten und öffentlicher Hand sollte daher erst bei Kooperationsformen gesprochen werden, bei denen vom Staat gänzlich unabhängige Privatrechtssubjekte beteiligt sind. Denn erst hier tritt die Spannungslage zwischen öffentlich-rechtlichen Vorgaben und gesellschaftsrechtlichen Regelungen mit voller Schärfe zu Tage.23 Gegen den weiten Begriff von PPP spricht im Übrigen der strategische Nachteil, dass er den Blick auf die Spezifika von PPP trübt und die PPP unnötigerweise mit der Hypothek der amtsträgerfreundlichen Rechtsprechung des BGH zur formellen Privatisierung belastet. III. Analyse der Rechtsprechung zu § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB Da PPP-Mitarbeiter in der Regel weder Beamte sind (§ 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB) noch in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehen (§ 11 Abs. 1 Nr. 2b StGB), verengt sich die Prüfung der Frage, ob PPP-Mitarbeiter Amtsträger sein können, auf § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB. Danach ist ein PPP-Mitarbeiter Amtsträger, wenn er sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform wahrzunehmen. Anders als die formell-institutionellen Amtsträgerdefinitionen in § 11 Abs. 1 Nrn. 2a und b StGB beinhaltet § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB eine materiellfunktionelle Bestimmung, weil zentrales Definitionselement die funktionelle Wahrnehmung öffentlicher Verwaltungsaufgaben ist.24 Um Strafbarkeitslücken aus BGHSt 38, 199 (203) zu schließen, hat der Gesetzgeber die Nr. 2c 1997 modell, das Betreibermodell und die Beleihung Privater mit Hoheitsrechten in Fällen, in denen Private in Kooperation mit einem Träger öffentlicher Gewalt Aufgaben für diesen erledigen; enger, da auf gemischt-wirtschaftliche Unternehmen als „echte“ PPP beschränkt, Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 21 ff. (37 f.); vgl. auch Tettinger, NWVBl. 2005, 2, der auf Basis der funktionalen Privatisierung genau genommen das gemischtwirtschaftliche Unternehmen als Prototyp von PPP nicht erfasst sieht; ferner Bauer, DÖV 1998, 89 (91). 22 Bernsmann, StV 2005, 686. 23 Vgl. Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 37.
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durch das KorrBekG um den Zusatz „unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform“ erweitert. Mit diesem Zusatz hat er zwecks umfassender Bekämpfung der Korruption gesetzlich klargestellt, dass die formelle Privatisierung (Organisationsprivatisierung) öffentlicher Aufgabenerfüllung für die Frage der Amtsträgereigenschaft unerheblich ist.25 Dem Gesetzeswortlaut können danach drei Voraussetzungen des Amtsträgerbegriffs nach Nr. 2c entnommen werden26: Erstens müssen die fraglichen Personen „sonst bestellt“ sein, woraus sich die Notwendigkeit eines Bestellungsaktes ergibt. Zweitens ist erforderlich, dass sie Aufgaben öffentlicher Verwaltung selbst wahrnehmen; ansonsten ist § 11 Abs. 1 Nr. 4 StGB einschlägig. Drittens müssen sie diese Tätigkeit entweder bei einer Behörde bzw. in deren Auftrag oder bei einer sonstigen Stelle bzw. in deren Auftrag ausüben. Bei PPP-Mitarbeitern kommt regelmäßig nur eine Tätigkeit bei einer sonstigen Stelle bzw. in deren Auftrag in Betracht. 1. Bestellungsakt § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB setzt einen öffentlich-rechtlichen Bestellungsakt durch die zuständige Stelle voraus.27 Da Nr. 2c im Unterschied zu Nr. 4 grundsätzlich keinen förmlichen Bestellungsakt verlangt,28 lässt die Rechtsprechung auch eine konkludente Bestellung genügen. Bei konkludentem Handeln muss die öffentlich-rechtliche Bestellung aber von der privatrechtlichen Anstellung oder Beauftragung zu unterscheiden sein.29 Das soll der Fall sein bei einer über den einzelnen Auftrag hinausgehenden längerfristigen Tätigkeit oder einer organisa24 MüKo/Radtke, § 11 Rn. 17; Walther, Jura 2009, 421; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht, 2001, S. 313 ff. 25 BT-Drucks. 13/5584, S. 12; BGHSt 43, 370 (374, 377 f.); 46, 310 (312). Krit. zur Klarstellung Bernsmann, StV 2009, 309. Was das Argument mit den Strafbarkeitslücken aus BGHSt 38, 199 anbelangt, so ist dazu seinerseits „klarzustellen“, dass der 5. Strafsenat damals bei der Organisationsprivatisierung eine Amtsträgereigenschaft nur in der Regel verneint hat. Er hat Ausnahmen dann erwogen, wenn die privatrechtlich organisierte Gesellschaft mit öffentlicher Mehrheitsbeteiligung „durch die Art, in der sie aufgrund rechtlicher Regelung dem einzelnen Bürger gegenübertritt, bei funktioneller Betrachtungsweise im Ganzen, nicht nur in einzelnen Beziehungen, einer Verwaltungsbehörde so nahe steht, dass sie als eine ,sonstige Stelle‘ im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB aufgefasst werden kann“ (BGHSt 38, 199 [203 f.]). Der 5. Senat nannte damals als Beispiele den rechtlich geordneten Benutzungszwang (Anschlusszwang) und Fälle eines Monopols, in denen der Bürger zur Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse ohne Ausweichmöglichkeiten auf die Leistungen des Unternehmens angewiesen ist (BGHSt 38, 199 [204]). 26 Vgl. zum Folgenden auch NK/Saliger, § 11 Rn. 27 ff. 27 H.M.: BGHSt 42, 230 (232); 43, 96 (105 f.); 52, 290 (299 f.); Lackner/Kühl, § 11 Rn. 6; Fischer, § 11 Rn. 20; LK/Hilgendorf, § 11 Rn. 34 ff.; SK/Rudolphi/Stein, § 11 Rn. 31 ff. 28 BT-Drucks. 7/550, S. 209.
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torischen Eingliederung des Betreffenden in die Behördenstruktur. Denn nur unter diesen Voraussetzungen erreiche den Normadressaten die Warnfunktion, dass mit dem Auftrag besondere strafbewehrte Verhaltenspflichten verbunden sind.30 Diese Rechtsprechung ist grundsätzlich billigenswert. Zwar wird teilweise und mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) hörenswert einschränkend gefordert, dass die Bestellung nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB einen eindeutigen Hinweis an den Betroffenen auf die konstitutiven Merkmale der Vorschrift voraussetzt, weshalb eine konkludente Bestellung nicht ausreiche.31 Diese Auffassung geht aber in Anbetracht des Wortlauts und der Teilfunktion der Vorschrift, bloße Funktionsanmaßungen auszuscheiden, de lege lata zu weit.32 Bereits die organisatorisch eingeschränkte funktionale Betrachtungsweise der Rechtsprechung33 besitzt signifikantes Abgrenzungspotenzial.34 So ist sie in der Lage, eine Bestellung nicht nur bei einer Kette von Unterbeauftragungen an eine behördenexterne Person zu verneinen.35 Sie hat eine Bestellung auch bei der schieren vertraglichen Einschaltung eines freiberuflichen Prüf- und Planungsingenieurs abgelehnt.36 Darüber hinaus verlangt eine Bestellung nach zutreffender Auffassung stets eine bewusste und einverständliche Betrauung mit generellen amtlichen Funktionen.37 Daran fehlt es z. B., wenn die Behörde oder Stelle einen Dolmetscher bei der theoretischen Prüfung von fremdsprachigen Fahrerlaubnisbewerbern lediglich zulässt oder auf Kosten des Bewerbers hinzuzieht.38 Im Übrigen erscheint die organisatorisch eingeschränkte funktionale Betrachtungsweise der Rechtsprechung noch stärker akzentuierbar. So ließe sich bei der Frage der Bestellung in Fällen des Einzelauftrags anstelle des nicht willkürfreien zeitlichen Kriteriums (längerfristige Tätigkeit) ergänzend auf Bedeutung und Tragweite der öffentlichen 29 BGHSt 43, 96 (105); 52, 290 (299); BayObLG NJW 1996, 268 (270); MüKo/ Radtke, § 11 Rn. 61 ff. 30 BGHSt 43, 96 (105); zust. Fischer, § 11 Rn. 20; Greeve, Korruptionsdelikte in der Praxis, 2005, Rn. 172 ff. Abl. S/S/Eser, § 11 Rn. 21, 27, SK/Rudolphi/Stein, § 11 Rn. 31. 31 So Dingeldey, NStZ 1984, 504 ff.; Rausch, Die Bestellung zum Amtsträger, 2007, S. 144 f.; auch Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 107 ff. (110): ausdrücklicher Bestellungsakt. 32 In die gleiche Richtung Leimbrock, Strafrechtliche Amtsträger, 2009, S. 352 ff. (357 f.). 33 Vgl. zu dieser Klassifizierung der Judikatur LK/Hilgendorf, § 11 Rn. 34; NK/Saliger, § 11 Rn. 26. 34 Ablehnend aber Leimbrock, Amtsträger (Anm. 32), S. 382 ff. 35 OLG Stuttgart StV 2009, 77 (79) für den Subunternehmer eines lizenzierten Postdienstleisters. 36 BGHSt 43, 96 (103 ff.). 37 Geppert, Jura 1981, 44; Haft, NJW 1995, 1115 f. A. A. Leimbrock, Amtsträger (Anm. 32), S. 384 ff. 38 BGHSt 42, 230 (232 f.).
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Aufgabenerfüllung abstellen. Damit könnte einer weiteren Ausdünnung des Merkmals der Bestellung insbesondere durch eine zu großzügige Annahme konkludenter Bestellungen entgegengewirkt werden. 2. Wahrnehmung von Aufgaben öffentlicher Verwaltung Soweit der Amtsträger bei § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB Aufgaben öffentlicher Verwaltung selbst wahrnehmen muss, ist der Begriff weit auszulegen. Er umfasst alle Tätigkeiten, die aus der Staatsgewalt abgeleitet sind, nicht Rechtsprechung oder Gesetzgebung darstellen und staatlichen Zwecken dienen.39 Der Begriff „Aufgaben öffentlicher Verwaltung“ ist dabei für alle Varianten der Nr. 2c einheitlich40 und im Ausgangspunkt in Anlehnung an – nicht einheitliche – verwaltungsrechtliche Begriffsverständnisse und Wertungen auszulegen, im Übrigen aber wegen der Funktionsunterschiede zwischen Verwaltungsrecht und Strafrecht strafrechtsautonom, insbesondere rechtsgutsbezogen zu konkretisieren.41 Erfasst sind danach vor allem Eingriffs-42 und Leistungsverwaltung, vor allem aber auch die Daseinsvorsorge als Inbegriff der Tätigkeiten, die unmittelbar für die Daseinsvoraussetzungen der Allgemeinheit oder ihrer Glieder sorgen sollen.43 Für PPP wird namentlich der Bereich der Daseinsvorsorge praxisrelevant.44 Seit 1997 ist „klargestellt“, dass für die Einstufung als Aufgabe öffentlicher Verwaltung jedenfalls die Organisationsprivatisierung unerheblich ist.45 Gleichfalls unerheblich sind nach der Rechtsprechung die private Inhaberschaft an der Gesellschaft46 und eine Gewinnerzielungsabsicht.47 So weit der Begriff „Aufgabe öffentlicher Verwaltung“ auch geraten ist, so lässt die Judikatur gleichwohl drei Grenzen im Bereich der Daseinsvorsorge er-
39 BT-Drucks. 7/550, S. 209 unter Bezug auf BGHSt 12, 89 (90); BGH wistra 2009, 229 (230) unter Bezug auf BGHSt 38, 199 (201); LK/Hilgendorf, § 11 Rn. 42; auch SK/Rudolphi/Stein, § 11 Rn. 22 f. 40 Str., wie hier: MüKo/Radtke, § 11 Rn. 36; Heinrich, Amtsträgerbegriff (Anm. 24), S. 423 ff. A. A. Lenckner, ZStW 1994, 530 ff.; Schramm, JuS 1999, 336. 41 Str., wie hier: MüKo/Radtke, § 11 Rn. 34; S/S/Eser, § 11 Rn. 21; Walther, Jura 2009, 425; Dahs/Müssig, NStZ 2006, 192; Heinrich, Amtsträgerbegriff (Anm. 24), S. 193 ff., 392 f., 419 ff. A. A. BGHSt 43, 370 (374); Welp, FS-Lackner, 1987, S. 771 (773 ff.). 42 BT-Drucks. 7/550, S. 209; BGHSt 38, 199 (201 f.); Lackner/Kühl, § 11 Rn. 8. 43 Ständige Rechtsprechung: BGHSt 12, 89 (90) unter Bezugnahme auf Forsthoff; 31, 264 (268); 38, 199 (202); 46, 310 (313); 49, 214 (220 f.); 50, 299 (303 f.); 52, 290 (292); S/S/Eser, § 11 Rn. 22; LK/Hilgendorf, § 11 Rn. 44, 55. 44 Vgl. auch oben I. 45 Vgl. oben III. 46 BGHSt 45, 16 (19): FAG. 47 BGHSt 49, 214 (221): Deutsche Bahn AG; BGH NJW 2004, 693 (694); BGH NJW 2007, 2932 (2934).
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kennen.48 Die erste, bereits angesprochene Grenze ergibt sich aus der materiellen Privatisierung: Bei der Aufgabenprivatisierung liegt keine öffentliche Aufgabe mehr vor.49 In anderen Formulierungen der Rechtsprechung wird gleichlautend darauf abgehoben, ob die der öffentlichen Hand gehörende privatrechtliche Gesellschaft sich ausschließlich gewinnbringend betätigt50 bzw. nur einen weiteren erwerbswirtschaftlich orientierten Bewerber auf einem Markt darstellt, der vom Staat eröffnet worden ist und sich um die Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildet hat.51 Auf dieser Basis sollen die Deutsche Bahn-AG52 und ein kommunales Energieversorgungsunternehmen öffentliche Aufgaben wahrnehmen53, während Gleiches für eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft verneint wurde.54 Eine zweite Grenze hat der BGH für den Bereich der Gesundheitsfürsorge gezogen: Dort müsse nicht jeder Rechtsakt als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge bewertet werden. Das gelte etwa für den Handel mit Spenderblut, der bei entsprechender behördlicher Kontrolle ohne weiteres auch durch Private erbracht werden könne. Deshalb sei nicht jedes zivilrechtliche Geschäft in diesem Bereich als eine dem Staat zugeordnete Tätigkeit zu behandeln.55 Eine dritte Grenze schließlich deutet sich in dem Urteil des BGH im Kölner Müll-Fall für die rein erwerbswirtschaftliche Betätigung eines gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens an. Darauf wird zurückzukommen sein.56 3. Tätigkeit bei sonstiger Stelle PPP-Unternehmungen wie die Privatisierung allgemein erfolgen typischerweise nicht in Behördenform. Deshalb ist zentrales Merkmal der diesbezüglichen Amtsträgerprüfung bislang die „Tätigkeit bei einer sonstigen Stelle“ bzw. „in deren Auftrag“. Der Gesetzgeber hat dieses Merkmal aufgenommen, um zu verdeutlichen, dass mit ihm jenseits der Behörde im organisatorischen Sinne alle Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts, ferner Teile einer Behörde im organisatorischen Sinne sowie alle sonstigen Stellen erfasst sind, die zu öffentlichen Aufgaben berufen sind wie Vereinigungen, Ausschüsse oder Beiräte, die bei der Ausführung von Gesetzen mitwirken.57 Die Rechtsprechung versteht 48
Siehe zum Folgenden bereits NK/Saliger, § 11 Rn. 33. Vgl. oben II. m. Anm. 11. 50 BGH NJW 2004, 693 m. Anm. Krehl, StV 2005, 325 und Dölling, JR 2005, 30. 51 BGH NJW 2007, 2932 (2934) m. krit. Anm. Dölling, JR 2008, 171 und Sinner, HRRS 2008, 327. 52 BGHSt 49, 214 (223). 53 BGH NJW 2004, 693 f. 54 BGH NJW 2007, 2932 (2934). 55 BGHSt 46, 310 (313) – Rotes Kreuz – m. Anm. Knauth, StV 2003, 418. 56 Unten V. 1. 57 BT-Drucks. 7/550, S. 209; auch BGHSt 43, 370 (375 f.). 49
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unter „sonstige Stelle“ jede behördenähnliche Institution ohne Rücksicht auf ihre Organisationsform, die zwar keine Behörde im organisatorischen Sinne ist, aber rechtlich befugt ist, bei der Ausführung von Gesetzen und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken58, z. B. ein als Körperschaft des öffentlichen Rechts ausgestaltetes Anwaltsversorgungswerk.59 Bei juristischen Personen des Privatrechts (nicht Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts60) nimmt die ständige Rechtsprechung diese Voraussetzungen nur an, wenn bei ihnen Merkmale vorliegen, die eine Gleichstellung mit einer Behörde rechtfertigen. Das soll der Fall sein, wenn die als juristische Person des Privatrechts organisierte Einrichtung bei der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe derart staatlicher oder kommunaler Steuerung unterliegt, dass sie bei einer Gesamtbewertung (Gesamtbetrachtung) der sie kennzeichnenden Merkmale als verlängerter Arm des Staates erscheint.61 Die Gesamtbewertung erfordert die Einbeziehung aller wesentlichen, für sich allein regelmäßig nicht hinreichenden Merkmale der Gesellschaft. Im Einzelnen gilt als ein Amtsträger verneinendes Indiz die gewerbliche Tätigkeit der Gesellschaft und der Wettbewerb mit anderen.62 Amtsträger befürwortende Indizien sind dagegen die öffentliche Zwecksetzung im Gesellschaftsvertrag63, das Eigentum der öffentlichen Hand und die Finanzierung der Tätigkeit aus öffentlichen Mitteln.64 Von besonderer Bedeutung ist die Existenz staatlicher Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten, von deren Umfang und Intensität es mit abhängt, ob eine Amtsträgereigenschaft zu bejahen oder zu verneinen ist.65 Die schiere Tätigkeit in der Daseinsvorsorge, die alleinige Inhaberschaft des Staates und die damit verbundenen Aufsichtsbefugnisse sollen für sich jedoch noch keine behördenähnliche Stellung begründen.66 Die Judikatur sichert das Ergebnis ihrer Gesamtbewertung häufig durch den Blick auf das Rechtsgut der §§ 331 ff. StGB ab, also das Vertrauen der Allgemeinheit in die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes und die Sachlichkeit staatlicher Entscheidungen.67 Berücksichtigt wird auch das Erscheinungsbild der 58 Ständige Rechtsprechung: BGHSt 49, 214 (219); 52, 290 (293); BGH NJW 2007, 2932 (2933); BGH wistra 2009, 229 (230). 59 BGH NJW 2009, 3248 (3249). 60 Vgl. BGH NJW 2010, 784 (787): Fall Emig. 61 Ständige Rechtsprechung seit BGHSt 43, 370 (377): GTZ; siehe nur BGHSt 45, 16 (19), 46, 310 (312 f.); 49, 214 (219); 50, 299 (303); 52, 290 (293); BGH wistra 2009, 229 (230). 62 BGHSt 38, 199 (204). 63 BGHSt 43, 370 (372 f.). 64 BGHSt 45, 16 (20). 65 Vgl. BGHSt 43, 370 (378 f.). 66 Vgl. BGHSt 43, 370 (377 f.); 50, 299 (305). 67 Z. B. BGHSt 49, 214 (227); BGH NJW 2004, 693 (695).
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Institution in der Öffentlichkeit, insbesondere der Anspruch des Unternehmens und die öffentliche Wahrnehmung.68 Alle Merkmale der Amtsträgereigenschaft nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c müssen vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Dazu gehört zunächst, dass er die Tatsachen kennt, auf denen die Amtsträgereigenschaft beruht, also vor allem Kenntnis davon hat, dass der Betrieb eine Betätigung der Staatsgewalt ist, und dass die öffentliche Aufgabe selbst wahrgenommen wird.69 Darüber hinaus handelt der Täter nur vorsätzlich, wenn er auch Bedeutungskenntnis von seiner Funktion als Amtsträger hat.70 Dabei genügt sachgedankliches Mitbewusstsein.71 Die Gesamtbewertungslehre des BGH wird als widersprüchlich und mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr vorhersehbar kritisiert.72 Daran ist richtig, dass einzelne Judikate kaum miteinander vereinbar erscheinen, so wenn der BGH für die Deutsche Bahn AG eine sonstige Stelle ablehnt73, für eine 100%-Tochter der Deutsche Bahn AG im Konzernbereich Fahrweg (nunmehr: DB Netz AG) dagegen bejaht.74 Zuzubilligen ist der Kritik auch, dass nicht jedes Kriterium innerhalb der Gesamtbetrachtungslehre überzeugt. Das gilt namentlich für das Kriterium des Erscheinungsbildes des Unternehmens in der Öffentlichkeit, das kaum willkürfrei handhabbar erscheint, wenn nicht empirische Erhebungen, sondern Plausibilitätserwägungen des Richters seine Anwendung steuern.75 Gleichwohl verdient die Gesamtbewertungslehre der Rechtsprechung im Rahmen ihrer organisatorisch eingeschränkten funktionalen Betrachtungsweise76 grundsätzlich Zustimmung.77 Für sie spricht zum einen, dass sie trotz ihrer Problematik für Rechtssicherheit und Bestimmtheit um Restriktion zumindest bemüht ist. Zum anderen erscheinen die Alternativansätze entweder kaum weniger komplex78 oder tendieren zur Pauschalität. So gerät die Forderung, in allen Unternehmen, in denen staatliche Aufgaben in der Organisa68
So in BGHSt 49, 214 (227) und BGH NJW 2007, 2932 (2934). Vgl. BGHSt 8, 321 (323); ferner MüKo/Radtke, § 11 Rn. 78; LK/Hilgendorf, § 11 Rn. 60. 70 BGH NJW 2009, 3248 (3250). 71 BGH NJW 2010, 784 (787). 72 Vgl. Bernsmann, StV 2005, 687; Zwiehoff (Anm. 5), S. 157 ff.; Zieschang, StV 2009, 76; Leimbrock, Amtsträger (Anm. 32), S. 119 ff. (125 f.). 73 BGHSt 49, 214 (219 ff.). 74 BGHSt 52, 290 (293 ff.); vgl. dazu Zieschang, StV 2009, 75; Bernsmann, StV 2009, 309 f. 75 Krit. auch Sinner, HRRS 2008, 330; Dölling, JR 2008, 173. 76 Vgl. dazu auch oben III. 1. 77 Zum Folgenden bereits NK/Saliger, § 11 Rn. 41. 78 Vgl. z. B. Heinrich, Amtsträgerbegriff (Anm. 24), S. 391 ff., 452 ff., 695 ff.: Beschränkung des Amtsträgerbegriffs bei der Daseinsvorsorge auf Unternehmen mit rechtlicher oder faktischer Monopolstellung mit zahlreichen Ausnahmen; MüKo/Radtke, § 11 Rn. 17, 31, 35, 40: fünffache Konkretisierung der These einer durchgängigen Zuordnung der Leistungsverwaltung zu den Aufgaben öffentlicher Verwaltung. 69
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tionsform einer Kapitalgesellschaft erbracht werden, eine Amtsträgereigenschaft der Mitarbeiter zu verneinen79, in Spannung zum Willen des Gesetzgebers, der die Frage der Amtsträgereigenschaft gerade von der Organisationsprivatisierung abgekoppelt hat.80 Unterkomplex erscheint auch ein ausnahmsloser Ausschluss von gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen aus § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB.81 De lege lata vorzugswürdiger ist es deshalb, die Gesamtbewertungslehre der Judikatur unter Beachtung insbesondere der einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Regelungen82 eingrenzend weiterzuentwickeln.83 Das sei im Folgenden am Beispiel des Kölner Müll-Falls für das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen als Prototyp von PPP gezeigt. IV. Der Fall „Kölner-Müll“ Das Urteil des BGH im Kölner Müll-Fall stellt die erste84 und bislang einzige höchstrichterliche Entscheidung eines Strafsenats zu einem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen dar. Der 5. Strafsenat bestätigt das Urteil des LG Köln, das den Geschäftsführer der Abfallentsorgungs- und Verwertungsgesellschaft Köln mbH (=AVG) nicht wegen Bestechlichkeit gem. § 332 StGB, sondern nur wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr in einem besonders schweren Fall gem. §§ 299 Abs. 1, 300 StGB verurteilt hatte.85 Die AVG ist ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen, an dem bei der Gründung im Jahre 1992 die öffentliche Hand (Stadt Köln, Stadtwerke Köln GmbH) mit 74,9% und eine private GmbH mit 25,1% beteiligt waren. Die Stadt Köln hatte im Rahmen eines langfristigen Entsorgungsvertrages die AVG als sog. „Dritte“ mit der Wahrnehmung diverser Abfallentsorgungsaufgaben beauftragt. Auch wenn die Stadt Köln die Müllentsorgung weiterhin durch Abfallsatzungen regelte, sah der Gesellschafts79 So Zwiehoff (Anm. 5), S. 165; auch für Bernsmann, StV 2009, 310, arbeiten in Unternehmen, die privatrechtsförmig (AG oder GmbH) betrieben werden, grundsätzlich keine „Amtsträger“. Dagegen will Leimbrock, Amtsträger (Anm. 32), S. 153, privatrechtlich organisierte Rechtssubjekte stets dann als „sonstige Stellen“ i. S. v. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB begreifen, wenn sie von einem Träger öffentlicher Verwaltung gegründet wurden, regelmäßig Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen und an ihnen keine genuin privaten Rechtssubjekte beteiligt sind. 80 Vgl. oben III. m. Anm. 25. 81 So Leimbrock, Amtsträger (Anm. 32), S. 154. Auch nach Bernsmann, StV 2005, 690, bietet § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB wenig bzw. gar keine Möglichkeit, Mitarbeiter von gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen als „Amtsträger“ zu betrachten. 82 A. A. insoweit BGHSt 52, 290 (299); Radtke, NStZ 2007, 61. Krit. dazu Rübenstahl NJW 2008, 3727. 83 So etwa auch Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 167 ff., 325 ff.; dies., StV 2006, 134; vgl. auch Krehl, StV 2005, 326. 84 So auch BGHSt 50, 299 (305). 85 BGHSt 50, 299 (303) m. zust. Anm. Noltensmeier, StV 2006, 132 und Saliger, NJW 2006, 3377 sowie abl. Anm. Radtke, NStZ 2007, 57.
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vertrag der AVG bei Entscheidungen über wesentliche Angelegenheiten der Gesellschaft die Notwendigkeit einer Dreiviertelmehrheit vor. Das betraf u. a. die Veräußerung eines Gesellschaftsanteils, die Änderung des Gesellschaftsvertrages, die Abberufung des Geschäftsführers, die Investitions- und Darlehensaufnahme, den Abschluss und die Kündigung von Unternehmensverträgen sowie die Feststellung des Wirtschaftsplans.86 Der 5. Senat verneint eine Amtsträgerstellung des Geschäftsführers der AVG mangels Vorliegens einer „sonstigen Stelle“ i. S. d. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB.87 Dazu erklärt der Senat zunächst mit Recht, dass für die Behördenäquivalenz des Unternehmens („Gleichstellung“) auf die „Ähnlichkeit mit dem Begriff des ,herrschenden Unternehmens‘ i. S. von § 17 AktG allein nicht maßgeblich abzustellen ist.“88 Denn wie etwa die (widerlegbare) Abhängigkeitsvermutung in § 17 Abs. 2 AktG zeigt, wonach von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen vermutet wird, dass es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist, dient das Konzernrecht ausschließlich dem Schutz des beherrschten Unternehmens und seiner Gläubiger, verfolgt also andere Zwecke als das Strafrecht mit § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB.89 Dahinstehen lässt der BGH auch, ob schon jede Beteiligung von Privaten an öffentlich beherrschten Unternehmen die Anwendung von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ausschließt.90 Entscheidend gegen die Qualifizierung der AVG als „sonstige Stelle“ spricht nach Ansicht des 5. Strafsenats, dass die private GmbH durch ihre Beteiligung über derart weitgehende Einflussmöglichkeiten verfügte, dass sie wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen konnte. „Räumt der Gesellschaftsvertrag dem Privaten aufgrund der Höhe seiner Beteiligung eine Sperrminorität für wesentliche Entscheidungen ein, kann das Unternehmen nicht mehr als ,verlängerter Arm‘ des Staates und sein Handeln damit nicht mehr als unmittelbar staatliches Handeln verstanden werden.“91 Dabei nimmt der BGH Bezug auf die vergaberechtliche Entscheidung des EuGH im Fall der Stadt Halle.92 Nicht frei von Zweifeln bleibt letztlich die Stellungnahme des 5. Senats zu der Frage, ob die AVG eine öffentliche Aufgabe wahrgenommen hat. Einerseits bejaht er zunächst eindeutig eine öffentliche Aufgabe der AVG. Denn er ordnet die Müllentsorgung dem Bereich der Daseinsvorsorge zu, der seit jeher als öffentliche Aufgabe angesehen wird.93 Andererseits scheint der Senat diese Subsumtion für 86 87 88 89 90 91 92 93
BGHSt 50, 299 (301, 306). BGHSt 50, 299 (303 ff.). BGHSt 50, 299 (305). Saliger, NJW 2006, 3380; näher Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 191 ff. (195, 198). BGHSt 50, 299 (305). BGHSt 50, 299 (305 f.) – Hervorhebungen von mir. BGHSt 50, 299 (305) unter Hinweis auf EuGH NVwZ 2005, 187 (190). BGHSt 50, 299 (303).
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gemischt-wirtschaftliche Unternehmen später in einem obiter dictum zu relativieren, wobei nicht restlos klar wird, ob der Senat bei der Behördenäquivalenz oder der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung ansetzt.94 So soll es zwar „keiner weiteren Vertiefung“ bedürfen, ob die AVG bereits deshalb keine „sonstige Stelle“ sein kann, weil sie für ein Tätigkeitsfeld (Abfallentsorgung) gegründet wurde, auf dem auch Private als Marktteilnehmer unternehmerisch tätig sind. Angesichts der zunehmenden Schaffung wettbewerblicher Strukturen und der Öffnung zentraler Bereiche der Daseinsvorsorge für private Marktteilnehmer wie im Bahnverkehr und der Wärme-, Energie- oder Wasserversorgung spreche allerdings Einiges dafür, dass privatrechtlich organisierte Gesellschaften der öffentlichen Hand auf solchen Märkten allein erwerbswirtschaftlich tätig seien. Wie der BGH bereits entschieden habe, könne insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge dann nicht mehr von einer öffentlichen Aufgabe gesprochen werden, wenn der Hoheitsträger diesen Bereich aus der Hand gebe (Aufgabenprivatisierung), selbst wenn das private Unternehmen einer staatlichen Aufsicht unterstellt werde. In diesen Fällen fehle der für eine Gleichstellung spezifisch öffentlich-rechtliche Bezug. „Auch eine Gesellschaft in alleiniger staatlicher Inhaberschaft würde letztlich nur einen weiteren Bewerber auf einem Markt darstellen, der vom Staat eröffnet wurde und sich um die Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildet hat.“95 V. Offene Probleme Das Urteil des 5. Strafsenats im Kölner Müll-Fall lässt drei Probleme für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen offen: 1. Zur öffentlichen Aufgabenwahrnehmung Das erste offene Problem betrifft die Frage, wie das obiter dictum des 5. Strafsenats zur möglicherweise fehlenden öffentlichen Aufgabenwahrnehmung bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen, die erwerbswirtschaftlich in Bereichen der auch für private Marktteilnehmer geöffneten Daseinsvorsorge tätig sind, einzuschätzen ist. Gegen eine weiterreichende Bedeutung für das Merkmal der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung könnten die Ausführungen desselben Senats in seinem Beschluss aus 2006 zur Rhein-Sieg-Abfallwirtschaftsgesellschaft mbH (RSAG) sprechen.96 Dort bejaht der 5. Senat unter Hinweis auf die traditionelle Zugehörigkeit der Müllentsorgung zum Bereich der Daseinsvorsorge und unter Berufung auf das Urteil im Kölner Müll-Fall ohne Weiteres eine öffentliche Auf-
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Vgl. zur Analyse auch Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 126 (128). BGHSt 50, 299 (307). Vgl. auch Zwiehoff (Anm. 5), S. 158.
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gabe der RSAG.97 Auf das obiter dictum im Kölner Müll-Fall geht der Senat an dieser Stelle nicht ein. Lediglich später führt er aus, dass der Einordnung der RSAG als „sonstige Stelle“ nicht seine Ausführungen im Kölner Müll-Fall „zum Problem erwerbswirtschaftlicher Teilnahme der öffentlichen Hand auf privatisierten Feldern der Daseinsvorsorge“ entgegenstünden. Denn die RSAG habe hier nicht einen Bereich der Daseinsvorsorge aus der Hand gegeben und sei deshalb weder rein erwerbswirtschaftlich noch ein weiterer privater Wettbewerber unter anderen gewesen.98 Allerdings sind die Ausführungen des 5. Senats im RSAG-Fall hinsichtlich unserer Fragestellung nicht überzubewerten.99 Zum einen bildet die RSAG, die sich im kommunalen Alleinbesitz befindet, gerade kein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen. Zum anderen hat der 5. Senat seine im Kölner Müll-Urteil im Zusammenhang mit der Aufgabenprivatisierung angesprochene These, dass auch eine Gesellschaft in alleiniger staatlicher Inhaberschaft (also Organisationsprivatisierung) insoweit nur einen weiteren Wettbewerber darstellen würde100, für das Merkmal der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung in einem Urteil aus 2007 zu einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft mbH (H-GmbH) in alleiniger städtischer Inhaberschaft konkretisiert.101 Dort verneint der 5. Senat die Amtsträgerstellung eines bei der H-GmbH beschäftigten technischen Bestandsbetreuers, weil das Unternehmen keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung erledigt hat. Der BGH begründet das in drei Schritten: Zunächst arbeitet er heraus, dass, obwohl die Wohnungsfürsorge eine öffentliche Aufgabe sei, die H-GmbH in die diesbezüglichen öffentlichen Verwaltungsvorgänge der Vergabe von Berechtigungsscheinen an sozial schwache Bürger und der Belastung einzelner Wohnungen mit Belegungsrechten nicht eingebunden sei. Soweit die H-GmbH Teile ihres Wohnungsbestands lediglich zur Verfügung stelle, unterscheide sich ihr Handeln nicht von demjenigen anderer privater Wohnungseigentümer.102 Im zweiten Schritt stellt der 5. Senat fest, dass für die Beschaffung von Wohnraum ein Markt eröffnet sei, auf dem neben der H-GmbH auch andere Wohnungseigentümer Wohnraum für soziale Zwecke bereitstellten. An dieser Stelle nimmt er Bezug auf die entsprechende Passage aus seinem Kölner Müll-Urteil: Die H-GmbH stelle letztlich nur einen weiteren Bewerber auf einem vom Staat eröffneten und um eine öffentliche Aufgabenerfüllung gebildeten Markt dar, weshalb der „spezifische öffentlich-rechtliche Bezug“ für eine Behördenäquivalenz fehle.“103 97
BGH NStZ 2007, 211 (212) unter Bezug auf BGHSt 50, 299 (303). BGH NStZ 2007, 211 (212) unter Bezug auf BGHSt 50, 299 (307). 99 A. A. wohl Zwiehoff (Anm. 5), S. 158. 100 Vgl. oben IV. am Ende. 101 BGH NJW 2007, 2932 (2933 f.) m. krit. Anm. Dölling, JR 2008, 171 und Sinner, HRRS 2008, 327. 102 BGH NJW 2007, 2932 (2933). 103 BGH NJW 2007, 2932 (2934) unter Rekurs auf BGHSt 50, 299 (307). 98
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Schließlich stehe drittens die soziale Zielsetzung der H-GmbH der Verneinung der öffentlichen Aufgabenerfüllung nicht entgegen. Grund sei die erwerbswirtschaftliche Ausrichtung der H-GmbH. Zwar anerkennt der 5. Strafsenat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Strafsenate, dass Gewinnerzielungsabsicht wie tatsächlich erzielte Gewinne die Einstufung als öffentliche Aufgabe nicht hindern.104 Doch relativiere ihr Vorhandensein die in der Satzung festgelegte soziale Zweckbindung der H-GmbH signifikant, zumal deren Gewinne tatsächlich beträchtlich seien.105 Aus dieser Entscheidung kann man in Verbindung mit dem Kölner Müll-Urteil das Signal entnehmen, dass jedenfalls der 5. Strafsenat des BGH willens ist, der erwerbswirtschaftlichen Betätigung künftig bereits bei der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung sowohl für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen als auch der Organisationsprivatisierung eine stärkere Rolle beizumessen.106 Anstatt bislang die öffentliche Aufgabenerfüllung häufig vorschnell unter Berufung auf die Daseinsvorsorge zu bejahen, erscheint eine genauere Untersuchung der Frage sachgerecht, ob die juristische Person des Privatrechts den jeweiligen öffentlichen Zweck tatsächlich selbst unmittelbar verwirklicht.107 2. Zur Rolle des Vergaberechts Der 5. Strafsenat hat bei seiner Ablehnung der Behördenäquivalenz der AVG wegen der beteiligungsbedingten Sperrminorität für wesentliche unternehmerische Entscheidungen auf das Stadt Halle-Urteil des EuGH zum Vergaberecht Bezug in Gestalt eines „vgl. auch“ genommen.108 Mit diesem Urteil entschied der EuGH die bis dahin strittige Frage, ob ausschreibungsfreie „In-house-Geschäfte“ auf Unternehmen der Organisationsprivatisierung (Eigengesellschaften der öffentlichen Hand) beschränkt seien oder auch auf gemischt-wirtschaftliche Unternehmen übertragen werden könnten.109 Der EuGH lehnt eine Übertragung generell, also ohne Rücksicht auf Art und Umfang der öffentlichen Beteiligung, 104 BGH NJW 2007, 2932 (2934) unter Bezug auf BGHSt 49, 214 (221) – 2. Senat – und BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger Nr. 7 – 2. Senat. 105 BGH NJW 2007, 2932 (2934). 106 So bereits NK/Saliger, § 11 Rn. 34; ders., NJW 2006, 3379. Skeptisch Zwiehoff (Anm. 5), S. 158. Eingehend zum Problem Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 126 ff. (166), die u. a. vorschlägt, zukünftig zu untersuchen, ob es sich um ein Unternehmen handelt, welches ausschließlich der Gewinnerzielung dient (und damit nicht mehr unter § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB fällt), oder ob das Unternehmen vorrangig einen öffentlichen Zweck der Daseinsvorsorge verfolgen soll (und damit auch eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung). 107 Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 167. 108 Vgl. oben IV. m. Anm. 92. 109 Vgl. Pape/Holz, NJW 2005, 2264 ff.; Bernsmann, StV 2005, 691; Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 199 ff.
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ab: Beabsichtigt ein öffentlicher Auftraggeber, mit einer Gesellschaft, die sich rechtlich von ihm unterscheidet und an deren Kapital er mit einem oder mehreren privaten Unternehmen beteiligt ist, bestimmte entgeltliche Dienstleistungsverträge zu schließen, so sind die in den einschlägigen europarechtlichen Richtlinien110 vorgesehenen öffentlichen Ausschreibungsverfahren stets (also keine Inhouse-Vergabe) anzuwenden.111 Die 1. Kammer des EuGH ist der Ansicht, dass auch eine nur minderheitliche Beteiligung des privaten Unternehmens am Kapital einer Gesellschaft, an welcher der öffentliche Auftraggeber beteiligt ist, eine ähnliche Kontrolle des öffentlichen Auftragsgebers über diese Gesellschaft wie über seine eigenen Dienststellen ausschließt. Denn private Unternehmen verfolgten grundsätzlich andere Ziele als eine öffentliche Stelle. Zudem beeinträchtige die ausschreibungsfreie Vergabe eines öffentlichen Auftrages an ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen das Ziel eines freien und unverfälschten Wettbewerbs, weil ein solches Verfahren dem beteiligten privaten Unternehmen einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschaffen würde.112 Fraglich ist, was aus dem Urteil des EuGH für unsere Problematik folgt, bzw. wie insbesondere die Bezugnahme der 5. Strafsenats auf dieses Urteil zu deuten ist. Zwei Auffassungen erweisen sich hier als zu einseitig. Teilweise wird gefolgert, dass das Stadt-Halle-Urteil die Annahme einer Amtsträgereigenschaft von Bediensteten gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen nicht ausschließe. Denn das Vergaberecht verfolge mit der grundsätzlichen Ausschreibungspflicht allein einen wettbewerbsrechtlichen Zweck. Demgegenüber entspreche es dem mit den Korruptionsdelikten verbundenen Schutzzweck eher, die Bediensteten gemischtwirtschaftlicher Unternehmen als Amtsträger jedenfalls dann anzusehen, wenn das Unternehmen nicht rein erwerbswirtschaftlich tätig ist, sondern Daseinsvorsorge betreibt.113 Dieser Auffassung ist zuzugeben, dass das Vergaberecht und die Korruptionsdelikte i.V. m. dem Amtsträgerbegriff in der Tat unterschiedliche Schutzzwecke verfolgen. Doch übersieht die Ansicht die Strukturparallele, dass es sowohl bei der In-house-Vergabe als auch der Frage der staatlichen Steuerung gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB um die Behördenähnlichkeit des betroffenen Unternehmens geht und dass bei der vergaberechtlichen Frage deshalb ähnliche In110 Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge i. d. F. der Richtlinie 92/50/ EWG des Rates vom 18.06.1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, diese i. d. F. der Richtlinie 97/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.1997. 111 EuGH NVwZ 2005, 187 (190) m. Anm. Pape/Holz, NJW 2005, 2264; Krohn, NZBau 2005, 92; Zeiss, DÖV 2005, 819. Dort ging es um den Auftrag der Stadt Halle an ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen (RPL Lochau), an dem die öffentliche Hand zu 75,1% und eine private GmbH zu 24,9% beteiligt war. 112 EuGH NVwZ 2005, 187 (190). 113 So Radtke, NStZ 2007, 62.
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dizien herangezogen werden wie bei der Gesamtbewertungslehre des 5. Strafsenats. Entsprechend hat der 5. Strafsenat seine stützende Bezugnahme auch mit „vgl. auch“ formuliert.114 Die Strukturparallele wird wiederum einseitig verabsolutiert von einer Auffassung, die das EuGH-Urteil vollständig auf das Strafrecht überträgt und schlussfolgert, dass gemischt-wirtschaftliche Unternehmen prinzipiell ohne Amtsträger auskommen müssen.115 Diese Ansicht vernachlässigt die Schutzzweckunterschiede zwischen Vergaberecht und Korruptionsdelikten. So mag das Vergaberecht bereits bei jeglicher Zulassung einer In-house-Vergabe an gemischt-wirtschaftliche Unternehmen eine Wettbewerbsverzerrung befürchten. Unter der Perspektive des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB i.V. m. dem Korruptionsstrafrecht erscheint eine Ungleichbehandlung von Organisationsprivatisierung und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen hinsichtlich der Annahme einer staatlichen Steuerung jedenfalls dann unbillig, wenn das private Unternehmen nur als passiver Partner an Gewinn und Verlust des Unternehmens beteiligt ist und über keinerlei Mitwirkungsbefugnisse verfügt.116 Entsprechend hat auch der 5. Strafsenat dahinstehen lassen, ob schon jede Beteiligung von Privaten an öffentlich-beherrschten Unternehmen die Anwendung von § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ausschließt.117 Richtigerweise wird man die Bezugnahme des 5. Strafsenats auf das StadtHalle-Urteil des EuGH daher differenziert würdigen müssen: Die Bezugnahme „vgl. auch“ ist lediglich unterstützend gemeint für die These des BGH, dass die Annahme einer staatlichen Steuerung bei einem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen, an dem eine private Gesellschaft mit Sperrminorität beteiligt ist, ausscheidet. Weitere Schlussfolgerungen aus der Bezugnahme im Kölner Müll-Urteil wie dem Vergaberecht allgemein sind nicht nahegelegt.118 3. Fallgruppen bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen Der 5. Strafsenat hat im Kölner Müll-Urteil die Amtsträgereigenschaft nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB allein für Mitarbeiter in gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen verneint, in denen private Unternehmen mit einer Sperrminorität beteiligt sind. Offen ist, was für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen in anderen Konstellationen zu gelten hat. Diese Frage ist auch mit Blick auf das Kölner Müll-Urteil strittig: Das Meinungsspektrum reicht von Ansichten, die Amtsträger 114
BGHSt 50, 299 (305). So Bernsmann, StV 2005, 691. 116 Noltensmeier, StV 2006, 134. 117 BGHSt 50, 299 (305). 118 Vgl. auch Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 198 ff. (203), die zu dem Ergebnis gelangt, dass aus wettbewerbsrechtlicher Hinsicht jedenfalls keine Sonderregelungen für die staatliche Teilnahme am Wettbewerb existieren, von denen eine Indizwirkung für eine Behördenäquivalenz ausgehen würde. 115
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in gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen ausnahmslos bzw. prinzipiell ablehnen119, über differenzierende Auffassungen120 bis hin zu Positionen, die die Amtsträgereigenschaft von Mitarbeitern in gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen, sofern sie Daseinsvorsorge betreiben, generell bejahen.121 Zu folgen ist aus den oben angeführten Gründen122 den differenzierenden Ansichten. Danach ist Ausgangspunkt die Gesamtbewertungslehre des BGH, die für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen unter Beachtung insbesondere der gesellschaftsrechtlichen Regelungen zu konkretisieren ist. Angeknüpft werden kann dabei an einen Aspekt, den bereits das LG Köln in seinem Beschluss zum Kölner Müll-Fall angesprochen hat.123 Nach Auffassung der Strafkammer sind gemischtwirtschaftliche Gesellschaften grundsätzlich nicht behördenähnlich und damit keine sonstige Stelle i. S. d. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB. Eine Ausnahme erwägt die Kammer aber dann, wenn der private Beteiligte in seinen Gesellschafterrechten vertraglich derart beschränkt worden ist, dass er nur am Gewinn und Verlust beteiligt ist.124 Dieser Aspekt lässt sich dahin generalisieren, dass zwischen aktiver und passiver Beteiligung des Privaten zu differenzieren ist.125 Beteiligt sich der Private aktiv, dann ist die Amtsträgereigenschaft ausgeschlossen. Bleibt er passiv wie im Fall einer stillen Gesellschaft, so kann eine Amtsträgereigenschaft nach § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB unter grundsätzlicher Anwendung der Gesamtbewertungslehre in Betracht kommen.126 Diese Differenzierung entspricht der Gleichstellungsthese des BGH. Denn von der behördenäquivalenten Steuerung eines gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens durch die öffentliche Hand kann jedenfalls dann keine Rede mehr sein, wenn der private Partner – grundsätzlich unabhängig von der Beteiligungsquote – sich aktiv gestaltend beteiligt. Diesen Gedanken hat im Grunde genommen auch der 5. Strafsenat zum Ausdruck gebracht, indem er im Kölner Müll-Fall eine Amtsträgereigenschaft wegen der Sperrminorität der privaten GmbH zu 119 Zwiehoff (Anm. 5), S. 165; Leimbrock, Amtsträger (Anm. 32), S. 154; Bernsmann, StV 2005, 691; ders., StV 2009, 310. 120 LG Köln NJW 2004, 2173; Noltensmeier, StV 2006, 134 f.; dies., PPP (Anm. 1), S. 204 ff.; Saliger, NJW 2006, 3380. 121 Radtke, NStZ 2007, 62. 122 Oben III. 3. 123 So Noltensmeier, StV 2006, 134 f.; dies., PPP (Anm. 1), S. 207 ff. 124 LG Köln NJW 2004, 2173. 125 Noltensmeier, StV 2006, 134 f.; dies., PPP (Anm. 1), S. 207 ff. 126 Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 213 ff., 327 f. konkretisiert die Gesamtbetrachtungslehre weitergehend dahin, dass sie die Bejahung der Amtsträgereigenschaft abhängig macht von der Rechtsform der GmbH, bestimmten Vorgaben in der Satzung (u. a. Statuierung der öffentlichen Aufgabe als Satzungszweck; Zustimmungserfordernisse des öffentlichen Trägers für alle wesentlichen Geschäfte; Einfluss des öffentlichen Trägers auf laufende Geschäftsführung) und der Bestellung (ausdrückliche Bestellung bei privatem Arbeitsvertrag mit der GmbH).
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Recht verneint hat. Aus der Differenzierung folgt, dass die schiere Beteiligung des Staates an Privatunternehmen, die im Zuge der Finanzkrise eine bemerkenswerte Renaissance erlebt, die Angestellten dieser Privatunternehmen – unabhängig von der Frage der öffentlichen Aufgabe – noch nicht zu Amtsträgern „befördert“. Insbesondere dürfte eine hinreichende Steuerung regelmäßig dann ausscheiden, wenn der Staat bloßer Minderheitsgesellschafter ist, auch wenn ihm eine Sperrminorität eingeräumt ist.127 Ob eine AG wegen ihrer Eigenständigkeit niemals eine „sonstige Stelle“ gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB sein kann128, erscheint zu pauschal und daher zweifelhaft. VI. Zusammenfassung PPP ist eng zu verstehen, von der materiellen und formellen Privatisierung abzugrenzen und umfasst als funktionale Privatisierung Unternehmungen, bei denen in Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe eine juristische Person des Privatrechts eingeschaltet ist, bei der ausschließlich oder zumindest teilweise ein von der öffentlichen Hand unabhängiger Privater beteiligt ist. Prototyp ist das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen. Die Rechtsprechung des BGH zur Amtsträgereigenschaft bei Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben im Zusammenhang mit einer „sonstigen Stelle“ i. S. d. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB ist grundsätzlich billigenswert, bedarf aber der eingrenzenden Weiterentwicklung. Das gilt insbesondere für den Bestellungsakt und die Konkretisierung der Behördenäquivalenz nach der Gesamtbewertungslehre am Bild des „verlängerten Arm“ des Staates. Mitarbeiter in gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen unterfallen bei aktiver Beteiligung des Privaten grundsätzlich nicht § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB. Sie kommen jedoch unter weiteren Voraussetzungen (Gesamtbewertungslehre) als Amtsträger in Betracht, wenn der Private nur passiv beteiligt ist.
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Saliger, NJW 2006, 3380. So Noltensmeier, PPP (Anm. 1), S. 216 f. (229).
„Pflichtwidrigkeit“ und „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ als Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen? Insbesondere zur Frage des Unrechtsausschlusses bei hypothetischer Einwilligung Von Horst Schlehofer I. „Pflichtwidrigkeit“ und „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ als allgemeine Tatbestandsvoraussetzungen Das StGB setzt in manchen Vorschriften ausdrücklich, in anderen der Sache nach ein Verhalten voraus, das pflichtwidrig ist. Ausdrücklich geschieht das etwa in den §§ 324a, 325, 325a StGB, wo von der „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“, in § 356 StGB, wo vom pflichtwidrigen Dienen, und in § 13 StGB, wo vom Unterlassen der Erfolgsabwendung trotz rechtlicher Erfolgsabwendungspflicht die Rede ist. Der Sache nach wird eine Pflichtwidrigkeit von den Fahrlässigkeitstatbeständen und von § 18 StGB für die Erfolgsqualifikationen vorausgesetzt; denn mit dem Fahrlässigkeitsmerkmal hat der Gesetzgeber die Verletzung einer Sorgfaltspflicht erfassen wollen.1 In einigen dieser Vorschriften stellt das Gesetz seinem Wortlaut nach zudem ausdrücklich einen Bezug zwischen der Pflichtwidrigkeit und der tatbestandlichen Folge her, einen „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“. So ist es bei Fahrlässigkeitstatbeständen wie den §§ 222, 229 StGB, wo die Verursachung der tatbestandlichen Folge – bei § 222 StGB des Todes eines Menschen, bei § 229 StGB der Körperverletzung einer anderen Person – „durch“ Fahrlässigkeit vorausgesetzt wird. Eine entsprechende Beziehung zwischen dem tatbestandsmäßigen Verhalten und der tatbestandsmäßigen Folge formuliert § 13 StGB. Er bezieht die Verletzung der rechtlichen Einstandspflicht – der sog. Garantenpflicht – auf den tatbestandsmäßigen Erfolg, der eingetreten ist. Das ergibt sich aus der Formulierung „wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt“. Der bestimmte Artikel nimmt Bezug auf einen bestimmten Erfolg. Und das kann nach dem Sinnzusammenhang nur der in § 13 Abs. 1 StGB zuvor erwähnte sein – der durch das Unterlassen nicht abgewendete, d.h. der eingetretene Erfolg. Der Unterlassende muss nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 StGB also rechtlich gerade dafür einzustehen haben, dass der Erfolg nicht eintritt, der sich später ver1
Vgl. Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962, Begründung, S. 131.
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wirklicht. Schließlich macht § 18 StGB die Bestrafung wegen eines erfolgsqualifizierten Delikts davon abhängig, dass dem Täter oder Teilnehmer gerade „hinsichtlich“ der besonderen „Folge wenigstens Fahrlässigkeit“ zur Last fällt. Die so beschriebenen Pflichtwidrigkeitsvoraussetzungen sind keine Spezifika der jeweiligen Tatbestände, sondern Umschreibungen einer allgemeinen Voraussetzung. Ihren Inhalt drückt am deutlichsten § 18 StGB aus, indem er die Fahrlässigkeit auf die tatbestandsmäßige Folge bezieht, die später tatsächlich eingetreten ist. Dass es sich um eine allgemeine Voraussetzung dieses Inhalts handelt, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 18 StGB. Er sollte die Funktion des weitgehend wortgleichen § 56 StGB a. F. übernehmen, dessen erklärtes Ziel es war, die letzten Reste einer Erfolgshaftung nach dem versari-in-re-illicita-Gedanken zu beseitigen.2 Nach diesem war es erlaubt, dem unrechtmäßig Handelnden alles zuzurechnen, was aus seinem Verhalten erwächst.3 Reste einer solchen Erfolgshaftung blieben aber nicht nur bei den erfolgsqualifizierten Delikten, wenn für sie keine Pflichtwidrigkeit hinsichtlich der tatbestandlichen Folge vorausgesetzt wäre, sondern auch bei den „reinen“ Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelikten. Ein Beispiel: Der Heilpraktiker H führt bei seinem Patienten P eine nach medizinischem Standard nicht indizierte medikamentöse Behandlung durch, ohne ihn vollständig über die Risiken aufgeklärt zu haben. Hingewiesen hat er P vor der Behandlung allerdings darauf, dass er während dieser nicht rauchen dürfe, weil sonst die Gefahr eines tödlichen Herzinfarkts bestehe. P entscheidet sich aber freiverantwortlich, das Risiko einzugehen, und raucht weiter. Im Zusammenwirken mit dem Medikament kommt es dadurch zu einem tödlichen Infarkt. – Hier würde § 18 StGB eine Strafbarkeit des H wegen der Erfolgsqualifikation des § 227 StGB verhindern. Die medizinisch nicht indizierte Medikamentengabe ist zwar pflichtwidrig4 und damit fahrlässig. Die Fahrlässigkeit ist aber nicht hinsichtlich des Verlaufs gegeben, der sich realisiert hat: der eigenverantwortlichen Entscheidung des P, das sich aus dem Zusammenwirken von Medikament und Rauchen ergebende Risiko eines tödlichen Herzinfarkts einzugehen, und die tödliche Konsequenz dieser Entscheidung. Soweit wie P sein Leben eigenverantwortlich aufs Spiel setzt, entfällt der Grund, es durch ein strafrechtliches Verbot 2 Siehe zu § 56 StGB a. F. Begründung zum Entwurf eines Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes, BT-Drucks. 1/3713, S. 18; zu § 18 StGB Deutscher Bundestag, Sonderausschuss für die Strafrechtsreform, 5. Wahlperiode, S. 1633, 1736 ff., 1775 ff., 3159, Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. V/4095, S. 10; vgl. außerdem den Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962, Begründung, S. 136, und den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allg. Teil, S. 55, zu § 16 Abs. 3. 3 Siehe etwa Küpper, Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982, S. 14 ff. 4 Sieht man in der Einwilligung einen Rechtfertigungsgrund, darf man die tatbestandliche Pflichtwidrigkeit nicht damit begründen, dass H wegen der unvollständigen Aufklärung des P ohne wirksame Einwilligung gehandelt hat. Denn das Fehlen einer wirksamen Einwilligung ist dann erst eine Voraussetzung der Rechtswidrigkeit.
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zu schützen.5 Denn P gibt selbst seiner Handlungsfreiheit den Vorzug vor dem Lebensschutz. Und diese Entscheidung ist auch strafrechtlich beachtlich. Das belegen die §§ 224 Abs. 1 Nr. 5, 228 StGB. Denn danach kann die eigenverantwortliche Entscheidung des Opfers sogar das Unrecht einer Lebensgefährdung durch einen anderen ausschließen. Erst wenn sie sich nicht auf die bloße Lebensgefährdung, sondern auf die vorsätzliche Tötung durch einen anderen bezieht, wird ihr durch § 216 Abs. 1 StGB die unrechtsausschließende Wirkung versagt. Das Vorsatzdelikt des § 212 StGB hingegen wäre gegeben, wenn man es nicht durch die Voraussetzung eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs einschränken würde und H hinsichtlich der dann vom „gesetzlichen Tatbestand“ des § 212 StGB nur beschriebenen Umstände – Handlung, Todeserfolg, Kausalität und (irgendeine) Pflichtwidrigkeit, wenn man immerhin sie voraussetzen würde – Vorsatz gehabt hätte. Ebenso hätte er das Fahrlässigkeitsdelikt des § 222 StGB begangen. H würde damit im Rahmen der §§ 212, 222 StGB für die Realisierung eines „erlaubten“ Risikos haften. Das wäre eben eine Erfolgshaftung, wie sie der Gesetzgeber nicht mehr wollte. Sie wäre überdies auch systemwidrig, weil sie zu Wertungswidersprüchen führen würde. So wäre das schwerer wiegende Tötungsdelikt des § 212 StGB verwirklicht, das weniger schwere des § 227 StGB aber nicht. Die h. M. schränkt die Tatbestände der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte auch entsprechend ein. Nur die Terminologie ist unterschiedlich. Beim Fahrlässigkeitsdelikt spricht man vom Pflichtwidrigkeits- und Schutzzweckzusammenhang6, bei § 13 StGB von der Garantenpflichtverletzung und vom „spezifischen Schutzzweck der Garantenpflicht“, die ergeben könne, „dass der Unterlassende nur in bestimmter Richtung strafrechtlich verantwortlich ist“7, bei § 18 StGB vom „spezifischen Gefahrzusammenhang“8 und bei den „reinen“ Vorsatzdelikten von der „objektiven Zurechnung“, der Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos und dessen Realisierung im Erfolg9. In der Sache meinen all diese Merkmale das Gleiche, dass das Verhalten gerade wegen der Gefahr des Erfolges strafrechtlich missbilligt ist, der später eingetreten ist. Beim „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ geht es damit genau genommen nicht erst um den Zusammenhang zwischen tatbestandsmäßigem Verhalten und tatbestandsmäßigen Folgen, sondern auch schon um die Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens, darum, ob das Verhalten ex ante gerade wegen der Gefahr des tatbestandsmäßigen Verlaufs Vgl. Puppe, in: Nomos Kommentar, StGB2, 2005, Vor § 13 Rn. 195. So etwa Fischer, StGB57, 2010, § 15 Rn. 16c; Rengier, Strafrecht AT, 2009, S. 528 ff. 7 Stree, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 13 Rn. 14; ähnlich Maurach/Gössel, Strafrecht AT Teilband 27, 1989, S. 198. 8 BGH, NStZ 1992, 333 ff.; Duttge, in: Handkommentar Gesamtes Strafrecht, 2008, § 18 Rn. 8 ff. 9 Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 11 Rn. 44 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT39, 2009, Rn. 176 ff. 5 6
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strafrechtlich missbilligt ist, der später eingetreten ist. Steht das fest, bleibt für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Übrigen nur noch festzustellen, dass es zu eben dem Verlauf gekommen ist.10 II. „Pflichtwidrigkeit“ und „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ als Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen? 1. Lücken im tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang Wo das Gesetz den Pflichtwidrigkeitszusammenhang ausdrücklich erwähnt, lässt sich ihm eindeutig nur entnehmen, dass die Pflichtwidrigkeit sich auf die tatbestandlichen Folgen im Sinne des dreistufigen Deliktsaufbaus bezieht, wie in § 222 StGB auf den „Tod eines Menschen“ oder in § 229 StGB auf die „Körperverletzung einer anderen Person“. Versteht man den Pflichtwidrigkeitszusammenhang auch nur in diesem Sinne, bleiben aus ihm unrechtsrelevante Umstände ausgespart – all die, auf die es erst für die Rechtswidrigkeit ankommt. Das sind Umstände, die alle drei Komponenten des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs betreffen: die Pflichtwidrigkeit als solche, den Erfolg als Bezugspunkt der Pflichtwidrigkeit und den erforderlichen Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg, die Pflichtwidrigkeit gerade hinsichtlich des eingetretenen Erfolges. Beispiele: (1) Der Kriminologe K will mit seinen Mitarbeitern M und N untersuchen, wie es um die Zivilcourage der Bürger bestellt ist. Zu diesem Zweck inszenieren sie in der Fußgängerzone der Innenstadt einen Scheinangriff: M stürzt auf N los und ruft „Ich mach’ dich fertig“. Der Passant P reagiert blitzschnell und überwältigt M. (2) E sieht, wie D seinen Wagen aufgebrochen hat und mit dem Navigationsgerät fliehen will. Er fordert D auf, stehen zu bleiben; sonst werde er schießen. Als D darauf nicht reagiert, schießt er ihm ohne vorherigen Warnschuss ins Bein, um ihn an der Flucht zu hindern. Es stellt sich jedoch heraus, dass D sich durch einen Warnschuss nicht hätte beeindrucken lassen und dass nur ein sofortiger Schuss ins Bein geeignet war, den Angriff zu beenden.11 (3) Die geschiedene F möchte bei ihrem 4-jährigen Sohn S aus ästhetischen Gründen eine Fehlstellung seiner Ohren beseitigen lassen. Sie hat allerdings 10 Grundlegend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 50 ff., 524 ff.; siehe auch Freund, Strafrecht AT2, 2009, § 2 Rn. 46 ff., § 5 Rn. 67 f., anders etwa Jakobs, Strafrecht AT2, 1991, 7/78; Puppe, in: Nomos Kommentar (Anm. 5), Vor § 13 Rn. 200 ff.; dies., Strafrecht AT, Band 1, 2002, S. 80 ff.; dies., ZStW 99 (1987), 610 ff., die den Bezug zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg erst beim Zurechnungszusammenhang herstellen. 11 Vgl. dazu LG München, JZ 1988, 565 ff., mit Anm. Schroeder, 567 ff., und Besprechung von Puppe, JZ 1989, 728 ff.
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nicht mehr das Personensorgerecht. Es war ihr zunächst zuerkannt, dann aber ihrem geschiedenen Mann V übertragen worden. Er ist nicht mit dem Eingriff einverstanden. F täuscht den Arzt A jedoch, indem sie ihm die überholte gerichtliche Entscheidung vorlegt, die ihr allein das Sorgerecht zugesprochen hat. A vertraut darauf. Er operiert S allerdings, ohne F zuvor hinreichend über den Eingriff und seine Risiken aufgeklärt zu haben. Bei der tatbestandlichen Frage des § 223 StGB, ob das Verhalten pflichtwidrig hinsichtlich des eingetretenen Körperverletzungserfolges ist, bliebe im Beispiel (1) außer Betracht, dass P einen ihn zur Nothilfe gem. § 32 StGB berechtigenden Sachverhalt angenommen hat und auch annehmen durfte, im Beispiel (2), dass der Schuss aus ex-post-Sicht i. S. d. § 32 StGB erforderlich war, und im Beispiel (3), dass A allein F für personensorgeberechtigt und damit einwilligungsberechtigt gehalten hat und auch halten durfte – vorausgesetzt, man sieht in der Einwilligung einen Rechtfertigungsgrund. Bezieht man diese Umstände in die Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ein, ist im Beispiel (1) die Pflichtwidrigkeit schlechthin ausgeschlossen. Denn für sie ist allein die sorgfaltsgemäße ex-ante-Sicht maßgeblich. Das ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot. Danach müssen Verhaltensnormen für ihren Zweck, das Verhalten zu bewerten und dem Bürger dadurch eine Verhaltensrichtlinie zu geben, geeignet sein. Das sind sie aber nur, wenn er ihnen vor seinem Verhalten entnehmen kann, wie es bewertet wird. Dazu müssen sie auf die Erkenntnismöglichkeiten vor dem ins Auge gefassten Verhalten Rücksicht nehmen. Denn was für den Bürger nicht erkennbar ist, kann auch nicht sein Verhalten beeinflussen. Danach hat P sich pflichtgemäß verhalten; nach den Umständen ex ante durfte er von einem ihn zur Nothilfe gem. § 32 StGB berechtigenden Sachverhalt ausgehen. Im Beispiel (2) ist das Verhalten zwar rechtswidrig, wenn man den sofort auf den Körper gezielten Schuss aus der ex-ante-Sicht nicht für erforderlich hält. Der Erfolg ist aber nicht rechtlich missbilligt, weil die objektiven Voraussetzungen des § 32 StGB aus ex-post-Sicht gegeben sind und das die rechtliche Missbilligung des tatbestandlichen Erfolges ausschließt.12 Wenn im Beispiel (3) alle unrechtsrelevanten Umstände berücksichtigt werden, ist isoliert gesehen sowohl ein Verhaltens- wie auch ein Erfolgsunrecht gegeben. Das Verhaltensunrecht liegt darin, dass A den Eingriff ohne willensmangelfreie Einwilligung der F durchgeführt hat. Nach der ihm vorgelegten Gerichtsentscheidung durfte er zwar davon ausgehen, dass das Personensorgerecht allein der F zustand und es deshalb nur ihrer wirksamen Zustimmung bedurfte. Aber diese lag aus ex-ante-Sicht nicht vor, weil F nicht hinreichend aufgeklärt war und damit einem rechtsgutsbezogenen Irrtum erlag. Gegeben ist auch ein Erfolgsun12
In diese Richtung wohl auch Schroeder, JZ 1988, 567 (568).
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recht, die Verletzung des S ohne wirksame Einwilligung des tatsächlich personensorgeberechtigten V. Denn die strafrechtliche Missbilligung des Erfolges ergibt sich aus dem Fehlen seiner Einwilligung und nicht aus dem Fehlen einer wirksamen Einwilligung der gar nicht vertretungsberechtigten F. Was aber nicht vorliegt, ist der erforderliche Zusammenhang zwischen Verhaltens- und Erfolgsunrecht; der Eingriff ist nicht gerade wegen des eingetretenen Erfolgsunrechts strafrechtlich missbilligt. Zur Verhinderung dieses Erfolgsunrechts ist die Pflicht, den Eingriff nur mit aus sorgfaltsgemäßer ex-ante-Sicht wirksamer Einwilligung der F durchzuführen, gar nicht geeignet gewesen. Denn im Falle einer solchen Zustimmung hätte A den strafrechtlich missbilligten Erfolg der Körperverletzung ohne Einwilligung des personensorgeberechtigten V ja herbeiführen dürfen. Die tatbestandliche Pflichtwidrigkeit hinsichtlich des eingetretenen Erfolges kann mithin gegeben sein und das Strafunrecht bei Berücksichtigung aller unrechtsrelevanten Umstände dennoch ganz oder teilweise ausgeschlossen sein. Mit der Annahme des tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ist also nicht, wie man nach der den Worten nach apodiktischen Feststellung meinen könnte, ein endgültiges Urteil gefällt. Die Annahme steht vielmehr unter dem unausgesprochenen Vorbehalt, dass sich beim Rechtswidrigkeitsmerkmal nicht eine andere Bewertung ergibt. 2. Die Erstreckung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auf die Rechtswidrigkeitsebene: Systematische Konsequenz oder „Irrweg“? Dieser Befund könnte es erforderlich machen, den „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ bei der „Rechtswidrigkeit“ noch einmal zu prüfen und diesmal unter Berücksichtigung aller unrechtsrelevanten Umstände. Denn es könnte sonst auf der Rechtswidrigkeitsebene ein Rest von Erfolgshaftung nach dem versari-in-reillicita-Prinzip bleiben. Und er könnte dem Willen des Gesetzgebers und der gesetzlichen Systematik ebenso widersprechen wie eine Erfolgshaftung auf der Tatbestandsebene. a) Das Problem in Rechtsprechung und Literatur Puppe hat auf diese Möglichkeit einer Erfolgshaftung schon vor mehr als zwanzig Jahren aufmerksam gemacht und daraus den Schluss gezogen, dass es „Zeit“ werde, „daß der Weiterentwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung auch in der Rechtfertigungsdogmatik und in der Vorsatzdogmatik Rechnung getragen wird, die immer noch auf dem alten Dogma basieren, daß für die Zurechnung des Erfolges Kausalität und Rechtswidrigkeit der Handlung genügen“13. Die h. M. hat das so grundsätzlich bislang nicht getan. Es gibt aber immerhin einzelne Ansätze. 13
Puppe, JZ 1989, 728 (729).
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aa) Beim unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtum Beim unvermeidbaren, d.h. auf sorgfaltsgemäßer Annahme beruhenden Erlaubnistatbestandsirrtum bezieht die h. M. beim Fahrlässigkeitsdelikt auch rechtswidrigkeitsrelevante Umstände in die Pflichtwidrigkeitsprüfung ein. Allerdings geschieht das nicht – wie es dem dreistufigen Deliktsaufbau der h. M. entspräche – auf der Rechtswidrigkeitsebene, sondern schon im Tatbestand, bei der „Fahrlässigkeit“. Sie wird beim unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtum verneint.14 Beim Vorsatzdelikt hingegen lässt die h. M. den Irrtum sowohl bei der Prüfung der tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit im Rahmen der „objektiven Zurechnung“ als auch bei der Prüfung der objektiven Rechtswidrigkeit unberücksichtigt. Verneint wird entweder gemäß oder analog § 16 Abs. 1 StGB nur der Vorsatz – so die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, die eingeschränkte Schuldtheorie und die Vorsatztheorie – oder analog § 16 Abs. 1 StGB die „Vorsatzschuld“ – so die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie –, oder gem. § 17 S. 1 StGB gar nur die Schuld allgemein – so die strenge Schuldtheorie.15 Damit wird dasselbe Verhalten sowohl als rechtswidrig und damit pflichtwidrig als auch als nicht fahrlässig und damit auch nicht pflichtwidrig bewertet. Weil das inkonsistent ist, wird daraus in der Literatur z. T. der Schluss gezogen, dass die Rechtswidrigkeit um eine allgemeine Voraussetzung der „Pflichtwidrigkeit“ zu ergänzen sei.16 bb) Bei der hypothetischen Einwilligung in einen ärztlichen Heileingriff Einen Schritt zur Übertragung auch des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auf die Rechtswidrigkeitsebene hat der BGH in seiner Rechtsprechung zur hypothetischen Einwilligung des Patienten in einen ärztlichen Heileingriff getan. Der BGH verneint in diesen Fällen zwar dem Worte nach nur allgemein die „Rechtswidrigkeit“. Er greift dafür aber auf die Formel zurück, die er beim Fahrlässigkeitsdelikt für den Ausschluss des tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei rechtmäßigem Alternativverhalten maßgebend sein lässt und überträgt sie auf den Fall der hypothetischen Einwilligung. So wie der Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt ausgeschlossen sein soll, wenn der tatbestandsmäßige Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten sicher oder möglicherweise eingetreten wäre, soll die „Rechtswidrigkeit“ bei hypothetischer Einwilligung des Patienten ausgeschlossen sein, wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung sicher oder möglicherweise in den ärztlichen Heileingriff eingewilligt
14
Siehe etwa Graul, JuS 1992, L 49 (L 52); Scheffler, Jura 1993, 617 (625). Siehe zum Streitstand Kindhäuser, Lehr- und Praxiskommentar StGB4, 2010, Vor §§ 32–35 Rn. 25 ff. 16 Herzberg, JA 1989, 243 (248). 15
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hätte.17 In der Literatur wird der Pflichtwidrigkeitszusammenhang z. T. sogar ausdrücklich als die Rechtswidrigkeitsvoraussetzung benannt, die im Falle hypothetischer Einwilligung nicht erfüllt sein soll.18 Allerdings hat gerade diese Verortung des Problems auch Widerspruch hervorgerufen: Die Übertragung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auf die Rechtswidrigkeitsebene sei ein „Irrweg“.19 b) Gesetzessystematische Vorgaben und ihre Konsequenzen Ob die Erstreckung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auf die Rechtswidrigkeitsebene der richtige oder der falsche Weg ist, könnte sich aus gesetzlichen Vorgaben ergeben. aa) Die deliktssystematische Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit als Legitimation für die Lücken im tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang? Die Begrenzung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auf die – i. S. d. dreistufigen Deliktaufbaus – tatbestandlich relevanten Umstände könnte einen deliktssystematischen Grund haben. Tatbestand und Rechtswidrigkeit könnten sachlich verschiedene und deshalb strikt voneinander zu trennende Deliktskategorien sein. Der Tatbestand könnte als Verbotsnorm oder jedenfalls als Zusammenfassung nur der unrechtsbegründenden Straftatvoraussetzungen zu verstehen sein und die Rechtswidrigkeit nur als Abwesenheit von Unrechtsausschließungsgründen. Daraus könnte folgen, dass nur im Tatbestand ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang vorauszusetzen ist und dass dieser sich nur auf die pflichtbegründenden Umstände bezieht. Für einen zusätzlichen „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ auf der Rechtswidrigkeitsebene wäre dann systematisch kein Platz.20 Eine eigenständige Verbotsnorm ist der Tatbestand ohne das Rechtswidrigkeitsmerkmal jedoch nicht. Kategorisch kann der Tatbestand ein Verhalten gar nicht verbieten, weil es sonst bei Verwirklichung eines Erlaubnissatzes zu einem Normwiderspruch käme: Der Tatbestand würde das Verhalten verbieten, der Er17
BGH, JZ 2004, 800 mit Anm. Rönnau, 801 f.; BGH, NStZ 1996, 34 f. Dezidiert und ausführlich Kuhlen, JZ 2005, 713 ff.; ders., JR 2004, 227 ff.; ders., in: Festschrift für Roxin, 2001, S. 331 ff.; ders., in: Festschrift für Müller-Dietz, 2001, S. 431 ff.; in der Sache zustimmend Kühl, Strafrecht AT6, 2008, § 9 Rn. 47a; Rönnau, JZ 2004, 801 ff.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis4, 2008, Rn. 132 f.; im Grundsatz auch Roxin, Strafrecht AT I (Anm. 9), § 13 Rn. 119 ff., der allerdings abweichend zur Bestimmung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs die Risikoerhöhungstheorie heranzieht; mit Einschränkungen auch Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts3, 2007, S. 195 ff. 19 Duttge, in: Festschrift für Schroeder, 2006, S. 179 ff. 20 Siehe Duttge, in: Festschrift für Schroeder (Anm. 19), S. 185 ff. 18
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laubnissatz würde es erlauben. Aber auch ein abgeschwächtes Verbot lässt sich dem Tatbestand nicht entnehmen, etwa das, dass das Verhalten grundsätzlich oder typischerweise verboten sei – wie es der These von der Indizwirkung der Tatbestandserfüllung zugrunde liegt.21 Dieses Postulat eines sog. Häufigkeitstypus ist so allgemein schon empirisch gesehen nicht berechtigt. So dürfte sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei Strafvorschriften wie den §§ 223, 239, 303 StGB sogar umkehren. Man denke nur an die Körperverletzungen durch das Haareschneiden beim Frisör, an die prozessordnungsgemäßen Verurteilungen von Straftätern zu Freiheitsstrafe mit anschließendem Vollzug und an die Tötung fremder Tiere in Schlachthöfen. Aber selbst wo es einen empirischen Häufigkeitstypus gibt, legitimiert er allein noch keine rechtliche Bewertung der Tat. Die Häufigkeit ist ja nur ein Faktum, das sich zudem wandeln kann. Es müsste schon einen Grund geben, die Typisierung als rechtliche Bewertung in den Tatbestand hineinzulesen. Er könnte darin zu sehen sein, dass vom Tatbestand nur so Warn- und Hemmungsimpulse ausgehen. Diese sog. Appellfunktion können aber nur Tatbestände haben, die voraussetzen, dass der Bürger sich die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes vorstellt. Hat er diese Vorstellung nicht, können im Bürger auch keine Hemmungen entstehen. Für Fahrlässigkeitsdelikte, die auch unbewusste Pflichtwidrigkeiten erfassen, taugt diese Begründung daher schon deswegen nicht. Aber auch bei Vorsatzdelikten ist es nicht sinnvoll, die Tat als „typischerweise rechtswidrig“ zu bewerten. Ist sie rechtmäßig, besteht kein Anlass für diese Bewertung. In dem Fall darf der Bürger handeln und weiß das auch. Warum sollte er dann vor der Tatbestandsverwirklichung gewarnt und zu besonders sorgfältiger Prüfung der Situation aufgerufen werden? Ist die Tatbestandsverwirklichung umgekehrt rechtswidrig, würde der vom Tatbestand ausgehende Appell überlagert von dem stärkeren, der im Rechtswidrigkeitsurteil liegt. Danach ist der Bürger nicht nur aufgerufen zu besonders sorgfältiger Prüfung, sondern zum Unterlassen der Tatbestandsverwirklichung. Dass macht den schwächeren Impuls überflüssig. Erst zusammen mit dem Rechtswidrigkeitsmerkmal ergibt der Tatbestand eine Norm, die die Tat bewertet: Bei Verwirklichung des sog. Gesamtunrechtstatbestandes ist sie strafrechtlich missbilligt. Tatbestand und Rechtswidrigkeit sind aber auch nicht einmal eigene Deliktskategorien derart, dass der Tatbestand nur die unrechtsbegründenden und die Rechtswidrigkeit nur die Abwesenheit unrechtsausschließender Umstände erfasst. Diese Trennung ist schon begrifflich nicht schlüssig. Einerseits kann man das Fehlen unrechtsausschließender Umstände ebenso gut als unrechtsbegründende Voraussetzung bezeichnen. Dieser negative Umstand ist ja genauso notwendige Voraussetzung für das Unrecht wie das Vorliegen positiver Umstände. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT11, 2003, § 12 Rn. 11; Duttge, in: Festschrift für Schroeder (Anm. 19), S. 185 ff.; Fischer, StGB (Anm. 6), Vor § 13 Rn. 13; Lackner/ Kühl, StGB26, 2007, Vor § 13 Rn. 17; Wessels/Beulke, Strafrecht AT (Anm. 9), Rn. 121. 21
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Und diese Sprachweise entspricht auch dem Gesetz. Denn es kennt auch negative Tatbestandsmerkmale, so das Fehlen eines wirksamen Einverständnisses – beispielsweise in den §§ 123 Abs. 1, 240 Abs. 1, 242 Abs. 1, 248b Abs. 1 StGB. Das Fehlen dieses unrechtsausschließenden Umstandes ist eindeutig eine Voraussetzung des Tatbestandes und damit unrechtsbegründend. Andererseits begnügt sich das Gesetz für die Rechtswidrigkeit nicht durchweg mit der Abwesenheit unrechtsausschließender Umstände. Bei den sog. offenen Tatbeständen wie den §§ 240, 253 StGB verlangt es für die Rechtswidrigkeit ausdrücklich mehr. Denn bei ihnen folgt die für die Rechtswidrigkeit notwendige „Verwerflichkeit“ nicht schon aus dem Fehlen von Rechtfertigungsgründen. Das lässt sich nicht als Besonderheit damit erklären, dass diese Tatbestände die Rechtswidrigkeit ausnahmsweise nicht indizieren. Denn das ist nichts Besonderes; wie sich gezeigt hat, sind auch alle anderen Tatbestände keine Verbotsnormen, die die Rechtswidrigkeit indizieren. Die Tatbestandsmerkmale im Sinne des dreistufigen Deliktsaufbaus und das Rechtswidrigkeitsmerkmal sind damit gleichrangige Merkmale derselben Norm. Man darf daher allenfalls rein formal zwischen dem die Spezifika der jeweiligen Straftat – den sog. Gestalttypus – beschreibenden Tatbestand und der Rechtswidrigkeit unterscheiden. Da diese Trennung nur eine rein formale ist, kann sie allein die Lücken im tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht legitimieren. Denn sonst könnte die Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit entgegen ihrer rein formalen Natur doch sachlich-rechtliche Konsequenzen haben, eben die Nichtberücksichtigung der unrechtsrelevanten Umstände, die bei der Prüfung des tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ausgespart werden. bb) Die Rechtswidrigkeitsvoraussetzung der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen als Korrektiv? Die Lücken im tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang könnten sich systematisch jedoch durch die Rechtswidrigkeitsvoraussetzung der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen erklären. Durch sie werden die Lücken möglicherweise geschlossen. In den Beispielen (1) und (2) wäre das so, wenn man den Rechtfertigungsgründen auch einen partiellen Ausschluss des Strafunrechts entnähme: einen Ausschluss des Verhaltensunrechts, wenn die rechtfertigenden Umstände aus sorgfaltsgemäßer ex-ante-Sicht des Handelnden gegeben sind, einen Ausschluss des Erfolgsunrechts, wenn die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes aus ex-post-Sicht gegeben sind.22 Dann wäre im Beispiel (1) das Verhaltensunrecht und im Beispiel (2) das Erfolgsunrecht durch § 32 StGB 22 Eingehend zum partiellen Ausschluss des Strafunrechts Schlehofer, in: Münchener Kommentar, StGB, 2003, Vor §§ 32 ff. Rn. 82 ff.
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ausgeschlossen. Im Beispiel (3) könnte der Ausschluss des Strafunrechts allerdings auch damit nicht erreicht werden. Die Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung liegen weder aus sorgfaltsgemäßer ex-ante-Sicht noch aus ex-postSicht vor. Um die Lücken des tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auch in diesem Fall auf der Rechtswidrigkeitsebene zu schließen, müsste dort ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang vorausgesetzt werden, der alle unrechtsrelevanten Umstände einbezieht. cc) § 18 StGB und die Rechtswidrigkeitsklauseln der „offenen“ Tatbestände: Systematische Gründe für die Schließung der Lücken im tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang Systematische Gründe, die Lücken im tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang zu schließen, könnten sich aus § 18 StGB und den Rechtswidrigkeitsklauseln der „offenen“ Tatbestände ergeben. § 18 StGB kann man seinem Wortlaut nach zwar so verstehen, dass er die „Fahrlässigkeit“ nur insoweit auf die „besondere Folge“ bezieht, wie sie tatbestandlich beschrieben ist, und daraus folgern, dass für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang auch nur tatbestands- und nicht erst rechtswidrigkeitsrelevante Umstände zu berücksichtigen sind. Schon der Kontext, in dem § 18 StGB von der Fahrlässigkeit hinsichtlich der besonderen Folge spricht, erlaubt aber auch eine andere Lesart. § 18 StGB bezieht die „Fahrlässigkeit“ auf eine „besondere Folge“, an die „das Gesetz . . . eine schwerere Strafe“ „knüpft“. Das ist genau genommen nicht die bloß tatbestandlich beschriebene Folge, sondern die strafrechtlich missbilligte tatbestandliche Folge. Denn Voraussetzung für eine Bestrafung ist ja eine strafrechtswidrige Tat und damit auch eine tatbestandsmäßige Folge, die strafrechtlich missbilligt ist. Der Gesetzgeber dürfte bei der Formulierung des § 18 StGB zwar nur den tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Auge gehabt haben. Aber das bedeutet nicht, dass er (erst) rechtswidrigkeitsrelevante Umstände aus dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang ausgespart wissen wollte. Denn diesen Willen hätte er nur bilden können, wenn er sich des Problems des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auf der Rechtswidrigkeitsebene bewusst gewesen wäre. Davon kann man aber nicht ausgehen; denn das Problem war damals noch gar nicht bekannt. Zu berücksichtigen ist bei der historischen Auslegung aber auch der mutmaßliche Wille des Gesetzgebers. Denn sie zielt ja darauf ab, das zur Geltung zu bringen, was dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Der historische Gesetzgebers hätte mutmaßlich aber auch erst rechtwidrigkeitsrelevante Umstände in den Pflichtwidrigkeitszusammenhang einbezogen. Denn § 18 StGB sollte ja die Funktion seines Vorläufers – § 56 StGB a. F. – übernehmen, die letzten Reste einer Erfolgshaftung aus dem Strafrecht zu verbannen. Ein Rest von Erfolgshaftung bliebe aber auch, wenn man in den Pflichtwidrigkeitszusammen-
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hang nicht auch rechtswidrigkeitsrelevante Umstände einbezöge. Das zeigt sich im Beispiel (3), wenn man die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund einstuft. Dort würde A für einen Erfolg haften – die Körperverletzung ohne Einwilligung des personensorgeberechtigten V –, hinsichtlich dessen Herbeiführung er gar nicht pflichtwidrig gehandelt hat. Die Entstehungsgeschichte des § 18 StGB spricht damit dafür, ihm die allgemeine Wertung zu entnehmen, eine Erfolgshaftung nach dem versari-in-re-illicita-Gedanken auch auf der Rechtswidrigkeitsebene auszuschließen, einen Pflichtwidrigkeitszusammenhang also nicht nur hinsichtlich des tatbestandlichen Erfolges, sondern auch hinsichtlich des Erfolgsunrechts zu verlangen. In den Rechtswidrigkeitsregeln „offener“ Tatbestände wie der §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB fordert das Gesetz für die Rechtswidrigkeit sogar selbst ausdrücklich eine Pflichtwidrigkeit hinsichtlich des eingetretenen Erfolges. Denn rechtswidrig ist die Tat danach nur, wenn das Nötigungsmittel gerade zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Der mit der „Tat“ „angestrebte“ Zweck ist aber jedenfalls auch der angestrebte Nötigungserfolg i. S. d. § 240 Abs. 1 StGB, also der, der tatsächlich eingetreten ist.23 Denn nur wenn die Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen auch ihn einbeziehen, können sie zur Rechtswidrigkeit der „Tat“ insgesamt, d.h. zur strafrechtlichen Missbilligung nicht nur des tatbestandsmäßigen Verhaltens, sondern auch zur strafrechtlichen Missbilligung des tatbestandsmäßigen Erfolges führen. Bei den „offenen“ Tatbeständen wird damit auf der Rechtswidrigkeitsebene ebenfalls eine Erfolgshaftung nach dem versari-in-re-illicita-Prinzip vermieden. Dieser bei den „offenen“ Tatbeständen für die Rechtswidrigkeit vorausgesetzte Pflichtwidrigkeitszusammenhang lässt sich – wie schon gesagt – nicht als Spezifikum erklären, das sich aus dem Fehlen einer Indizwirkung des Tatbestandes ergibt – weil auch sog. „geschlossene“ Tatbestände sie nicht haben. Dann gibt es aber keinen Grund, bei diesen für die Rechtswidrigkeit auf den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zu verzichten und eine Erfolgshaftung nach dem versari-inre-illicita-Prinzip zuzulassen. Die Konsequenz aus diesen gesetzlichen Vorgaben ist, dass die Rechtswidrigkeit auch bei den nicht als „offen“ bezeichneten Tatbeständen einen Pflichtwidrigkeitszusammenhang voraussetzen muss. dd) Fazit Puppe hat damit seinerzeit zu Recht angemahnt, die „objektive Zurechnung“, sprich: Pflichtwidrigkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang, auf die Rechts23 BGH, JZ 1988, 772 (773) mit insoweit zustimmender Anm. Arzt, 775 (776); Horn/Wolters, in: SK, StGB7, 2003, § 240 Rn. 37a; Träger/Altvater, in: LK, StGB11, 2005, § 240 Rn. 78.
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widrigkeitsebene zu übertragen. Nur mit diesen Voraussetzungen lässt sich auf der Rechtswidrigkeitsebene eine der Entstehungsgeschichte und der Systematik des Gesetzes widersprechende Erfolgshaftung vermeiden. III. Ausschluss des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs in Fällen hypothetischer Einwilligung? Gerade in den Fällen der hypothetischen Einwilligung, die der Rechtsprechung Anlass zur Einführung dieser Voraussetzung gegeben haben, ist allerdings zweifelhaft, ob sie zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit führt. Viele – darunter auch Puppe – bestreiten das.24 Die spezifische Frage des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs stellt sich allerdings nur, wenn die Rechtswidrigkeit nicht schon wegen Fehlens eines Verhaltensunrechts oder eines Erfolgsunrechts ausgeschlossen ist. Denn beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang geht es ja eben um den Zusammenhang zwischen Verhaltens- und Erfolgsunrecht. 1. Ausschluss des Verhaltensunrechts? Ein Ausschluss des Verhaltensunrechts könnte sich aus einer Analogie zum Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung ergeben. Denn er erlaubt ein Verhalten ebenfalls aufgrund einer hypothetischen Zustimmung des Rechtsgutsinhabers: aufgrund seiner ex-ante zu mutmaßenden Einwilligung.25 Allerdings reicht die Mutmaßung allein nicht hin für die Rechtfertigung. Das ergibt sich aus dem Rechtfertigungsprinzip des überwiegenden Interesses, wie es in § 34 StGB zum Ausdruck kommt. Die mutmaßliche Einwilligung begründet nicht notwendig ein überwiegendes Interesse daran, die Tat zu erlauben. Denn dem hypothetischen Willen kann auch hier der tatsächliche gegenüberstehen, selbst die Entscheidung zu treffen, das Rechtsgut preiszugeben oder nicht preiszugeben. Nur wenn dieses Interesse nicht besteht oder wenn es weniger Gewicht hat als das mutmaßliche, überwiegt aufgrund der mutmaßlichen Einwilligung das Interesse, die Tatbegehung zu erlauben. Dann ist die hypothetische Einwilligung allein aber ebenso wenig ein hinreichender Grund, die Tatbegehung zu erlauben. In Entsprechung zur mutmaßlichen 24 Duttge, in: Festschrift für Schroeder (Anm. 19), S. 179 ff.; Frister, Strafrecht AT4, 2009, 15/33; Gropp, in: Festschrift für Schroeder (Anm. 19), S. 197 ff.; Jäger, in: Festschrift für Jung, 2007, S. 345 ff.; Otto, Jura 2004, 679 (682 f.); Paeffgen, in: Nomos Kommentar (Anm. 5), Vor §§ 32 bis 35 Rn. 162; Puppe, JR 2004, 470 ff.; dies., GA 2003, 764 ff.; Sternberg-Lieben, StV 2008, 190 ff.; kritisch auch Böcker, JZ 2005, 925 ff. 25 Siehe dazu im Einzelnen Schlehofer, in: Münchener Kommentar (Anm. 22), Vor §§ 32 ff. Rn. 136 ff.
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Einwilligung könnte sie das Verhaltensunrecht ohnehin nur ausschließen, wenn schon ex ante und nicht erst ex post von einer hypothetischen Einwilligung auszugehen wäre. In dem Fall wäre die hypothetische Einwilligung aber nichts anderes als eine mutmaßliche Einwilligung. Folglich müsste sie auch genauso behandelt werden. Sie dürfte das Verhaltensunrecht nur ausschließen, wenn sie ex ante ein überwiegendes Interesse an der Tatbegehung begründen würde. Das ist bei einem ärztlichen Eingriff aber eben nicht der Fall, wenn der Patient selbst entscheiden will und kann, ob der Eingriff durchgeführt wird. Das Verhaltensunrecht allein kraft einer hypothetischen Einwilligung auszuschließen würde dem Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung mithin nicht entsprechen, sondern widersprechen. 2. Ausschluss des Erfolgsunrechts? Bei einer hypothetischen Einwilligung könnte es jedoch wie bei einer tatsächlichen Einwilligung an einem Grund fehlen, den tatbestandlichen Erfolg strafrechtlich zu missbilligen26. Bei einer tatsächlichen Einwilligung besteht kein Grund, den Erfolg strafrechtlich zu missbilligen, weil mit der Einwilligung ein rechtlich schützenswertes Interesse des Rechtsgutsinhabers an der Unversehrtheit seines Rechtsgutes gegenüber dem Täter entfällt. Im Fall der hypothetischen Einwilligung fällt das Interesse des Rechtsgutsinhabers an der Erhaltung des Rechtsguts zwar nicht wie im typischen Fall der Einwilligung ex ante weg. Bei der bloß hypothetischen Einwilligung hat er sich vor der Tat ja nicht für den Eingriff entschieden, der durchgeführt wird. Indes kann auch bei der tatsächlichen Einwilligung ein solches Erhaltungsinteresse bestehen bleiben und es trotzdem an einem strafrechtlich missbilligten Erfolg fehlen. So ist es etwa bei einem geheimen Vorbehalt, d.h. wenn der Rechtsgutsinhaber die Rechtsgutsverletzung zwar nicht will, aber trotzdem seine Zustimmung erklärt. Dann hat er zwar noch ein Interesse an der Erhaltung seines Rechtsguts, doch büßt dieses durch die Erklärung seine Schutzwürdigkeit ein. Dementsprechend könnte auch im Fall der hypothetischen Einwilligung trotz des ex ante tatsächlich bestehenden Erhaltungsinteresses des Dispositionsberechtigten eine strafrechtliche Missbilligung des Erfolges auszuschließen sein. Dann dürfte das ex ante bestehende Erhaltungsinteresse nicht schutzwürdig sein. Voraussetzung dafür ist, dass das hypothetische Interesse überwiegt. Auch dies ergibt sich aus dem Rechtfertigungsprinzip des überwiegenden Interesses. Das hypothetische Interesse überwiegt aber nicht. Denn ihm steht nicht nur das ex ante tatsächliche Interesse an der Erhaltung des Rechtsguts gegenüber, sondern auch das Interesse des Dispositionsberechtigten, selbst die Entscheidung zu treffen, ob und inwieweit das Rechtsgut beeinträchtigt wird. Allein das hypotheti26
Für einen solchen Ausschluss des Erfolgsunrechts Mitsch, JZ 2005, 279 ff.
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sche Interesse am Erfolg kann diese Interessen nach der Wertung des Gesetzes nicht überwiegen. Das erschließt sich aus der gesetzlichen Bewertung eines mit der hypothetischen Einwilligung vergleichbaren Sachverhalts, dem der nachträglichen Genehmigung der Tat. Er gleicht dem der hypothetischen Einwilligung einerseits darin, dass auch die nachträglich genehmigte Tat bei ihrer Begehung sowohl das dann noch vorhandene Erhaltungsinteresse des Dispositionsberechtigten verletzt wie auch sein Interesse, selbst über sein Rechtsgut zu disponieren; andererseits darin, dass die Tat im Nachhinein nicht mehr dem Interesse des Dispositionsberechtigten widerstreitet. Denn auch für die hypothetische Einwilligung soll ausreichen, dass sich nach der Tat herausstellt, dass der Rechtsgutsinhaber mit ihr einverstanden gewesen wäre, wenn er von ihr gewusst hätte27. Unterschiedlich kann allerdings die Tatsachengrundlage sein, auf der die hypothetische Einwilligung und die nachträgliche Genehmigung beruhen. Für die hypothetische Einwilligung sind nur die Tatsachen zu berücksichtigen, die ex ante gegeben waren, für die nachträgliche Genehmigung hingegen auch die, die erst ex post – nach der Tatbegehung – eingetreten sind. Indes muss die Tatsachengrundlage nicht differieren; ex post können die entscheidungsrelevanten Tatsachen die gleichen sein wie ex ante. So ist es etwa, wenn nach einer oralen Impfung für den über die Risiken nicht aufgeklärten Patienten noch keine Wirkungen spürbar sind und sich auch sonst keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen ergeben haben. Genehmigt der Patient die Impfung dann nach Aufklärung über die Risiken, ist seine Entscheidungsgrundlage die gleiche wie die, die einer hypothetischen Einwilligung ex ante zugrunde zu legen wäre. In solchen Fällen könnte man bei einer nachträglichen Genehmigung folglich auch eine hypothetische Einwilligung annehmen. Unter dem Aspekt der nachträglichen Genehmigung gibt das Gesetz dem nachträglich offenbar gewordenen Interesse des Dispositionsberechtigten an der Tatbegehung aber auch in solchen Fällen kein rechtfertigendes Gewicht. Es versagt der nachträglichen Genehmigung unterschiedslos jede rechtfertigende Kraft, auch dann, wenn die Entscheidungsgrundlage ex post für die Genehmigung die gleiche ist wie ex ante für die hypothetische Einwilligung. Darauf deutet schon § 228 StGB hin, der nur die (vorherige) Einwilligung als Rechtfertigungsgrund anerkennt. Denn er setzt eine „Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person“ voraus. Dass allein erlaubt zwar noch nicht den Schluss, dass der Gesetzgeber in der nachträglichen Zustimmung keinen Grund gesehen hat, die strafrechtliche Missbilligung des Erfolges auszuschließen. Denn es könnte ja auch so sein, dass die Regelung insofern lückenhaft ist, als dass der Gesetzgeber damit nichts zur nachträglichen Genehmigung sagen wollte. Hinzu kommt indes, dass das Gesetz die nachträgliche Genehmigung auch dort, wo es sie regelt, nicht als Rechtfertigungsgrund anerkennt. So ist es bei der nachträglichen Genehmigung 27
BGH, JZ 2004, 800; Kuhlen, JR 2004, 227 (227).
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der Vorteilsannahme in § 331 Abs. 3 StGB. Hier führt die nachträgliche Genehmigung nach dem Gesetzeswortlaut nur dazu, dass die Tat „nicht strafbar“ ist. Und im Hinblick auf die nachträgliche Genehmigung besteht auch Einigkeit, dass dies nicht im Sinne einer Rechtfertigung zu verstehen ist. Man sieht darin eine bloße Aufhebung der Strafbarkeit; die durch die Tat zunächst begründete Strafbedürftigkeit werde durch die nachträgliche Genehmigung aufgehoben28. Dann kann das nach der Tatbegehung dokumentierte Interesse des Dispositionsberechtigten an der Tatbegehung aber auch als hypothetische Einwilligung nicht das Gewicht haben, die strafrechtliche Missbilligung des tatbestandlichen Erfolges auszuschließen – weil das hypothetische Interesse ex ante bei gleicher Entscheidungsgrundlage ja dem Interesse ex post entspricht und damit rechtlich kein anderes Gewicht haben kann als dieses. Damit ist auch bei hypothetischer Einwilligung das Erfolgsunrecht gegeben. 3. Ausschluss des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs? Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang auf der Rechtswidrigkeitsebene könnte – wie die Rechtsprechung und Teile der Literatur meinen – in Entsprechung zum tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt ausgeschlossen sein. Dieser soll nach der Rechtsprechung sowohl fehlen, wenn feststeht, dass der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, als auch, wenn dies nur möglich ist. In dem Fall sei in dubio pro reo von der dem Angeklagten günstigsten Möglichkeit auszugehen, also der, dass es auch bei pflichtgemäßem Verhalten zum Erfolg gekommen wäre.29 Allerdings ist schon diese Prämisse umstritten. Die Risikoerhöhungslehre sieht den Pflichtwidrigkeitszusammenhang durch die Möglichkeit eines rechtmäßigen Alternativverhaltens nur ausgeschlossen, wenn die Pflichtwidrigkeit kein höheres Erfolgsrisiko geschaffen hat als es ein pflichtgemäßes Verhalten geschaffen hätte.30 Im älteren Schrifttum hält man es gar grundsätzlich für unzulässig, die Möglichkeit eines rechtmäßigen Alternativverhaltens zu berücksichtigen. Dieses sei als hypothetischer Kausalverlauf irrelevant, der tatbestandlich vorausgesetzte Zusammenhang also selbst dann gegeben, wenn der Erfolg sicher auch bei pflichtgemäßem Ver-
28 Korte, in: Münchener Kommentar, StGB, 2006, § 331 Rn. 171. Eine andere Frage ist, ob eine mutmaßliche Genehmigung rechtfertigt; siehe dazu Kuhlen, in: Nomos Kommentar (Anm. 5), § 331 Rn. 110 ff. 29 BGHSt 49, 1 (4); 33, 61 (63); ebenso Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB (Anm. 7), § 15 Rn. 173 ff.; Gropp, Strafrecht AT3, 2005, 12/48 ff.; Heinrich, Strafrecht AT II2, 2010, Rn. 1045; Kindhäuser, Strafrecht AT4, 2009, § 33 Rn. 34 ff.; Vogel, in: LK, StGB12, 2007, § 15 Rn. 198. 30 Roxin, Strafrecht AT I (Anm. 9), § 11 Rn. 88 ff.; Rudolphi, in: SK, StGB6, 1997, Vor § 1 Rn. 65 f.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I5, 2004, § 8 Rn. 36; für nicht determinierte Verläufe auch Puppe, in: Festschrift für Roxin (Anm. 18), S. 287 (301 ff.).
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halten eingetreten wäre.31 Welche Sicht beim Fahrlässigkeitsdelikt richtig ist, kann indes hier dahinstehen, wenn es darauf für die Fälle der hypothetischen Einwilligung nicht ankommt. Es könnte sein, dass man eine hypothetische Einwilligung bei der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs gar nicht berücksichtigen darf. Puppe meint nämlich, dass die Frage nach einer hypothetischen Einwilligung „im strengsten Sinne des Wortes unsinnig“ sei. Eine Antwort auf die Frage, „wie sich ein Prozess entwickelt hätte, wenn die Ausgangsbedingungen andere gewesen wären als in Wirklichkeit“, lasse sich „nur in Bereichen“ geben, „die durch strikt allgemeine Gesetze vollständig bestimmt sind“. „Für existentielle menschliche Entscheidungen, wie es die Entscheidungen von Patienten über die bei ihnen anzuwendenden Heilverfahren in aller Regel sind“, stünden „solche strikt allgemeinen Gesetze nicht zur Verfügung“. Deshalb sei „hier auch kein Raum für die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes“.32 Gerade in Fällen der hypothetischen Einwilligung kommt man für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang aber vielleicht ohne „strikte allgemeine Gesetze“ aus. Denn jedenfalls für indeterminierte Verläufe könnten Wahrscheinlichkeitssätze genügen – Puppe selbst nimmt das ja auch an.33 Um einen solchen indeterminierten Verlauf geht es aber, wenn man danach fragt, ob der Patient in den Eingriff eingewilligt hätte, wenn ihn der Arzt pflichtgemäß aufgeklärt hätte. Die Entscheidung des Patienten gilt ja nach rechtlichem Maßstab als „frei“ und damit als nicht determiniert. Aber selbst wenn die Frage nach einer hypothetischen Einwilligung entgegen Puppe nicht „unsinnig“ und die hypothetische Einwilligung damit bei der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zu berücksichtigen wäre, schließt sie diesen nicht aus. Denn die von der Rechtsprechung unterstellte systematische Entsprechung zum tatbestandlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt besteht nicht. Er meint den Zusammenhang zwischen der tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit und dem tatbestandlichen Erfolg. Auf der Rechtswidrigkeitsebene ist die Entsprechung zur tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit die rechtswidrige tatbestandliche Pflichtwidrigkeit. Das ist in den Fällen der hypothetischen Einwilligung der ärztliche Eingriff ohne (aus sorgfaltsgemäßer exante-Sicht) wirksame Einwilligung des Patienten. Der BGH prüft den Pflichtwidrigkeitszusammenhang hier aber nicht in Bezug auf die tatbestandliche Handlungspflichtwidrigkeit, sondern in Bezug auf das ihr vorausgehende Unterlassen der gebotenen Aufklärung. Nicht systematisch korrekt bestimmt der BGH auch den Erfolg, auf den sich die Pflichtwidrigkeit auf der Rechtswidrigkeitsebene be31 32 33
Spendel, JuS 1964, 14 ff. Puppe, GA 2003, 764 (769). Puppe, in: Festschrift für Roxin (Anm. 18), S. 287 (301 ff.).
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zieht. Das ist nicht nur der tatbestandliche Erfolg. Dies folgt daraus, dass das Rechtswidrigkeitsmerkmal die „Tat“ – und d.h. das tatbestandsmäßige Verhalten und den tatbestandsmäßigen Erfolg – bewertet, nämlich als strafrechtlich missbilligt. Voraussetzung für die strafrechtliche Missbilligung des Erfolges ist aber das Fehlen von Umständen, die die strafrechtliche Missbilligung des Erfolges ausschließen. Dazu gehört auch das Fehlen einer wirksamen Einwilligung; sie hindert ja die strafrechtliche Missbilligung des tatbestandsmäßigen Erfolges. Auf der Rechtswidrigkeitsebene bezieht sich die Pflichtwidrigkeit damit auf den tatbestandsmäßigen Erfolg und die Abwesenheit von Umständen, die seine strafrechtliche Missbilligung ausschließen, kurz: auf das Erfolgsunrecht. Der BGH hätte daher bei systematisch stringenter Übertragung seiner Formel auf die Rechtswidrigkeitsebene fragen müssen, ob das Erfolgsunrecht – also der Körperverletzungserfolg ohne wirksame Einwilligung – bei pflichtgemäßem Verhalten mit Sicherheit oder möglicherweise eingetreten wäre. Das ist aber eindeutig nicht der Fall, gleich, welchen pflichtwidrigkeitsbegründenden Umstand man wegdenkt, den Eingriff als solchen oder das Fehlen einer wirksamen Einwilligung. Zu einer Körperverletzung ohne wirksame Einwilligung wäre es in keinem Fall gekommen. Denkt man den Eingriff hinweg, fehlt es schon am tatbestandlichen Erfolg der Körperverletzung, denkt man das Fehlen einer wirksamen Einwilligung hinweg, sprich: eine wirksame Einwilligung hinzu, tritt der tatbestandliche Erfolg zwar ein, aber nicht der strafrechtlich missbilligte – die Körperverletzung ohne wirksame Einwilligung. Er bleibt selbst dann aus, wenn man wie der BGH für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang an das Vorverhalten, das Unterlassen der pflichtgemäßen Aufklärung, anknüpft. Denn auch wenn sich feststellen ließe, dass der Patient bei pflichtgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte, wäre es nicht zum Erfolgsunrecht gekommen – auch dann wäre eine Körperverletzung mit wirksamer Einwilligung gegeben. Im Ergebnis – kein Ausschluss des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei hypothetischer Einwilligung – ist Puppe daher auch insoweit beizupflichten.
Der Täter und sein Opferwerkzeug Von Kay H. Schumann Mit ihren zahlreichen Beiträgen zur Strafrechtsdogmatik hat die Jubilarin selbstverständlich auch in der Beteiligungslehre Akzente gesetzt. Unter dem Stichwort „Unrechtspakt“ ist hier natürlich ihre Lehre zur Anstiftung ganz besonders hervorzuheben.1 Für einen ihrer Schüler liegt es daher sicher nahe, will er sich denn zu Fragen strafrechtlicher Beteiligung äußern, auch hier anzusetzen. Allerdings wird die Sache für eine Lehrerin, die den wissenschaftlichen (!) Streit mit ihren Schülern schon immer um Größenordnungen mehr schätzte als deren blinde Gefolgschaft, schnell langweilig, wenn ihr lediglich seitenweise Zustimmung für ihre Anstiftungslehre angeboten wird.2 Schon ein flüchtiger Blick in Puppes Schriftenverzeichnis verrät aber auch ihr großes Interesse an Streitfragen der Täterschaft, insbesondere der mittelbaren Täterschaft. Daher verbinde ich mit meinem Beitrag zur (irrtümlichen oder abgenötigten) Selbstverletzung des Opfers unter dem Gesichtspunkt eben jener Täterschaftsform die Hoffnung, meiner verehrten Lehrerin willkommenen Anlass zur Auseinandersetzung zu geben. I. Die mittelbare Täterschaft beschäftigt Lehre und Rechtsprechung nicht erst seit ihrer Einführung in das StGB 1975, fand sie doch vor allem in der Strafrechtsdogmatik schon lange zuvor als besondere Art der Täterschaft Anerkennung.3 Die Auseinandersetzung mit ihr hat sich mit der Übernahme in das positive Recht auch keineswegs erledigt, hat der Gesetzgeber doch, entgegen anderweitiger Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren,4 angesichts der (vermeint1
V. a. Puppe, GA 1984, 101; dies., NStZ 2006, 424. Und zum Widerspruch fehlen die – guten – Argumente. Mit der oft gehörten Entgegnung, die Lehre vom Unrechtspakt schränke den Anwendungsbereich der Anstiftung zu sehr ein, mag man sich gegenüber der Jubilarin nicht so recht zufrieden geben. 3 Beispielsweise v. Liszt, Deutsches Strafrecht11, 1902, 200 f.; Eb. Schmidt, Frank-FG II, 1930, S. 106 ff.; P. Wolf, Betrachtungen über die mittelbare Täterschaft (Betrachtungen), 1927, passim; historischer Überblick bei Hruschka, ZStW 110, 1998, 581 (595 ff.). 4 Nachweise bei Schünemann, in: StGB, Leipziger Kommentar12 (LK), 2007, Vor § 25 Rn. 3; s. a. Schild, in: Nomos Kommentar zum StGB1 (NK), 1995, Vor § 25 Rn. 34 ff. 2
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lich?)5 vielen Erscheinungsformen mittelbarer Täterschaft davon Abstand genommen, ihre Voraussetzungen exakter als mit der schneidigen Formulierung, dass der mittelbare Täter die Tat „durch einen anderen begeht“, darzulegen. So ist es sicher nicht erst dem damit gleichzeitig verbundenen ausdrücklichen Aufruf,6 diese Täterschaftsform weiter auszuarbeiten, geschuldet, dass die Probleme eben jener Art der Deliktsbeteiligung in der Wissenschaft entsprechend intensiv diskutiert werden. Neben den allgemein-dogmatischen Grundlagen der mittelbaren Täterschaft wird hierbei im Speziellen dem Aspekt des sog. „absichtslosdolosen“ Werkzeuges und dem des „Täters hinter dem Täter“ besondere Aufmerksamkeit zuteil.7 Auch die Fälle der Selbstschädigung des Opfers sind von großem Interesse, dies vor allem in der uns auch hier interessierenden Frage der abgenötigten Selbstschädigung. Schon hinsichtlich des (für die mittelbare Täterschaft regulären) Falles der Nötigungsherrschaft des Hintermannes über das Werkzeug bei Schädigung eines Dritten hat sich eine fruchtbare Diskussion entwickelt.8 Diese Sachverhaltskonstellation ist deshalb unter Beteiligungsgesichtspunkten besonders problematisch, da der unmittelbar Handelnde den jeweils in Rede stehenden Tatbestand selbst objektiv wie subjektiv verwirklicht und die Nötigungssituation alleine für sich genommen grundsätzlich keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund darstellen kann. Nach mittlerweile ganz herrschender Meinung soll die Verantwortung des Vordermannes in diesen Fällen erst im sog. Nötigungsnotstand nach Maßgabe des § 35 StGB entfallen und er damit dann als Werkzeug des Hintermannes in Betracht kommen.9
5 Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 2 (AT-II), 2005, 40/5 sieht keinen sehr großen Anwendungsbereich, wenn sie beispielsweise das gerechtfertigt handelnde Werkzeug hier herausnimmt; s. auch dies., Küper-FS, 2007, S. 443 ff.; auch nach der hier vertretenen Ansicht dürften sich ebenfalls erhebliche Einschränkungen ergeben. 6 BT-Drucks 4/650, S. 149: „Angesichts dieser Vielgestaltigkeit der Formen mittelbarer Täterschaft ist der Entwurf davon abgekommen, sie in Einzelheiten zu umschreiben. Hiergegen spricht auch, dass in diesem Bereich verschiedene Fragen, namentlich die rechtliche Beurteilung des vollverantwortlichen Tatmittlers, noch der Klärung durch die Wissenschaft bedürfen und der Rechtsentwicklung insoweit nicht vorgegriffen werden sollte.“ 7 Vgl. zum ersten Problem kurz und knapp Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil4 (AT), 2009, 39/15 ff.; zum Täter hinter dem Täter eingehend Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2 (AT-II), 2003, 25/94 ff., beide m.w. N. 8 Umfassender Überblick bei Roxin, AT-II (Fn. 7), 25/47; auch Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 25 Rn. 69 ff. 9 Siehe nur Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft8 (TuT), 2006, S. 143 ff.; ders., AT-II (Fn. 7), 25/48 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; weiter dagegen F.-C. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, 1965, S. 120 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilbd. 27 (AT-II), 1989, 48/86; ganz anders (Anstiftung) aber z. B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft, 2003, S. 307 ff. (316).
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Bei der abgenötigten Selbstschädigung verschärft sich dann das Problem ganz erheblich dadurch, dass mangels Rechtsverletzung eines anderen durch den unmittelbar Handelnden nicht direkt auf § 35 StGB abgestellt werden kann. Dabei konzentriert sich die Diskussion über den Umgang mit diesen Schwierigkeiten auf die Exkulpations-10 und die Einwilligungslösung.11 Während die Exkulpationslösung – nach den Grundsätzen des Nötigungsnotstandes – auch bei der Selbstschädigung die Kriterien des § 35 StGB in entsprechender Anwendung zum Zuge kommen lässt, soll nach der Gegenansicht mittelbare Täterschaft bereits angenommen werden, wenn unter den Voraussetzungen regelmäßiger Fremdschädigung die Einwilligung des Opfers unwirksam wäre.12
10 Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 51 f.; ders., GA 1983, 22 (30 ff.); Charambalakis, GA 1986, 489 (498 ff.); Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB27 (Sch/Sch), 2006, § 25 Rn. 10; Dölling, Maiwald-FS, 2010, S. 119 (123 ff.); Gallas, JZ 1960, 686 (692); Hirsch, JR 1979, 432; Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum StGB7 (SK), 2000, § 25 Rn. 52 ff.; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil2 (AT), 1993, 21/56, 97 f.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung (Restriktiver Täterbegriff), 1997, S. 94 ff.; Roxin, TuT8 (Fn. 9), S. 158 ff. (161); ders., Dreher-FS, 1977, S. 331 ff.; ders., AT-II (Fn. 7), 25/54 ff.; Schneider, in: Münchener Kommentar zum StGB (MüKo), 2003, Vor §§ 211 ff. Rn. 54 ff.; Schmidhäuser, Studienbuch, Allgemeiner Teil2 (StuB AT), 1982, 10/91 ff.; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 25 Rn. 72; eingehend Sutschet, Die Erfolgszurechnung im Falle mittelbarer Rechtsgutsverletzung, 2010, S. 270 ff.; unterhalb dieser Schwelle soll es nach Roxin, AT-II (Fn. 7), 25/54 (dort Fn. 58) bei einer Strafbarkeit wegen Nötigung zu belassen sein; dagegen Puppe, AT-II (Fn. 5), 40/19 mit dem Argument, dass die Strafbarkeit wegen Nötigung nicht zum Ausdruck bringe, dass der Nötigende den anderen nicht zu einer beliebigen Handlung, sondern zur Preisgabe eines rechtlich geschützten Gutes nötigt. 11 Wohl zuerst Geilen, JZ 1974, 145 (151 f.); Herzberg, JuS 1974, 374 (378 f.); ders., Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 35 ff.; ders., JA 1985, 336 ff.; sodann Amelung, Coimbra-Symposium, 1995, S. 247 ff.; Brandts, Jura 1986, 495 (496 ff.); Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil2 (AT), 2009, 10/97; Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil4 (AT), 2009, 27/33; Horn, in: SK6, 2000, § 212 Rn. 11 ff.; Hoyer, in: SK7 (Fn. 10), § 25 Rn. 59; Krey, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 23, 2008, Rn. 137 ff.; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil6 (AT), 2008, 20/51; ders., in: Lackner/Kühl, Kommentar zum StGB25, 2007, Vor § 211 Rn. 13a; Maurach/Gössel/Zipf, AT-II7 (Fn. 9), 48/93; Mitsch, JuS 1995, 888 (891 f.); Neumann, JuS 1985, 677 (680); Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre7 (AT), 2004, 21/103; ders., Jura 1987, 246 (256 f.); Wessels/ Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil39 (AT), 2009, Rn. 539; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil 133 (BT-I), 2009, Rn. 48. 12 Ganz ähnlich schlägt Puppe vor, das Verantwortungsprinzip in Fällen der Nötigung zur Selbstverletzung direkt zur Anwendung kommen zu lassen. Im Anschluss an ihre Ergebnisse zur Lehre von der freiverantwortlichen Selbstgefährdung bei der objektiven Zurechnung sieht sie für Umwege über § 35 StGB oder die Figur der Einwilligung keinen Anlass, sondern wendet das Verantwortungsprinzip direkt auf diese Fälle an. So handele der sich selbst Verletzende dann freiverantwortlich, wenn seine Entscheidung Ausdruck seiner Willkür sei, nicht jedoch, wenn er im Sinne „seiner eigenen Rechtsgüterverwaltung vernünftig [handelt], indem er dem Druck des Nötigenden nachgibt.“ in Puppe, AT-II (Fn. 5), 40/18 f. mit Bezug auf Schroeder, in: LK11, 2003, § 16 Rn. 182; Rudolphi, JuS 1969, 549 (557); dass diese Lösung im Ergebnis der Einwilligungslösung sehr nahe kommt, stellt Puppe natürlich selbst fest, AT-II (Fn. 5), 40/19.
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Etwas verhaltener fällt da schon die Behandlung von Fällen der Irrtumsherrschaft des Hintermannes aus, bei denen sich auf der Ebene des subjektiven Tatbestandes ein Verantwortungsdefizit in der Regel schon aufgrund des fehlenden Vorsatzes des Vordermannes ergibt, weshalb auch hier die Frage, welche Täterschaftsform vorliegt, augenscheinlich nicht wirklich pressiert,13 sondern primär um Fragen der richtigen Abgrenzung der Fremdtötung (in mittelbarer Täterschaft) und der (straflosen) Suizidteilnahme gestritten wird, wobei wiederum Fälle des Motivirrtums des Opfers von besonderem Interesse sind.14 Letztlich kann es daher mit der Erwähnung dieser Auseinandersetzungen erst einmal sein Bewenden haben, da es ihren Beteiligten bei beiden Konstellationen der Selbstschädigung nicht um die Frage geht, ob unmittelbare oder mittelbare Täterschaft gegeben ist, sondern – in Abgrenzung zur freiverantwortlichen (und damit straflosen) Selbstschädigung – ob überhaupt dem Hintermann das Verhalten des Geschädigten als Fremdschädigung zugerechnet werden kann. Für die dann herausgearbeiteten Fälle der Täterschaft nimmt die überwältigende Mehrheit der Autoren (soweit überhaupt ausdrücklich erwähnt) vielmehr mittelbare Täterschaft an.15 Es scheint also das Dogma vorzuherrschen: „wenn Täterschaft, 13 Vielmehr wird – zumeist stillschweigend – von mittelbarer Täterschaft ausgegangen. Vgl. besonders zur sog. „Giftfalle“ Baier, JA 1999, 771 (772 f.); Gössel, JR 1998, 291 (295); Heckler, NStZ 1999, 71 (79); Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil I4 (BTI), 2009, 4/18; Krack, ZStW 110, 1998, 611 (628); Kudlich, JuS 1998, 596 (597); Küpper, GA 1998, 519 (529); Hillenkamp, in: LK12 (Fn. 4), § 22 Rn. 159; Zaczyk, in: NK3, 2010, § 22 Rn. 30; M.-K. Meyer, Ausschluss der Autonomie durch Irrtum, Ein Beitrag zu mittelbarer Täterschaft und Einwilligung (Ausschluss), 1984, S. 3 ff.; Streng, ZipfGS, S. 336 (dort Fn. 52); Weddig, Mittelbare Täterschaft und Versuchsbeginn bei der Giftfalle, 2007, S. 58 f.; wohl auch Wolters, NJW 1998, 578 (579) (der jedoch diese Konstellation extrem in die Nähe der unmittelbaren Täterschaft rückt); diff. Fuhrmann, Das Begehen der Straftat gem. § 25 Abs. 1 StGB, 2004, S. 56 f.; unklar insoweit die Rspr., die von „für Fälle der mittelbaren Täterschaft entwickelten Grundsätzen“, „der mittelbaren Täterschaft verwandte Struktur“ spricht, BGHSt 43, 177 (180) und für die Begründung des Versuchsbeginns die „bei mittelbarer Täterschaft entwickelten Grundsätze analog“ ebd. (182) anwenden will; vgl. auch die Entscheidung des BGH im sog. Sirius-Fall BGHSt 32, 38 ff.; ferner (allg. zu Irrtumskonstellationen) Cramer/Heine, in: Sch/Sch27 (Fn. 10), § 25 Rn. 11; Frister, AT4 (Fn. 11), 27/19; Joecks, in: MüKo (Fn. 10), § 25 Rn. 107 ff.; Schmidhäuser, StuB AT2 (Fn. 10), 10/86; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 25 Rn. 106. 14 Siehe hierzu Kindhäuser, AT4 (Fn. 7), 39/12 ff.; Roxin, AT-II (Fn. 7), 25/71 ff.; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 25 Rn. 107; zum Streit m.w. N. auch Kühl, AT6 (Fn. 11), 20/49. 15 Neben der in Fn. 9, 10 und 13 angeführten Literatur (mit Ausnahme Ottos, s. u. Fn. 16) z. B. auch Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 247 ff.; Dölling, GA 1984, 76; ders., attestiert in Maiwald-FS (Fn. 10), S. 119 (122, 131) dem Schrifttum sogar Einigkeit; Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil3 (AT), 2005, 10/56; Jakobs, AT2 (Fn. 10), 21/ 77; Kindhäuser, in: Lehr- und Praxiskommentar zum Strafgesetzbuch4 (LPK), 2010, § 25 Rn. 9; Koch, JuS 2008, 399 (400, 496); Kühl, Jura 2010, 81 (82); ders., in: Lackner/Kühl25 (Fn. 11), § 25 Rn. 4, Vor § 211 Rn. 13 ff.; Küper, JZ 1986, 219 (220); Maurach/Gössel/Zipf, AT-II7 (Fn. 9), 48/91, 102; ausf. M.-K. Meyer, Ausschluss (Fn. 13), S. 8 ff. (dort Fn. 23); Murmann, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Strafgesetzbuch, Kom-
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dann mittelbare“. Nur vereinzelt haben sich in der Vergangenheit Autoren in diesen Fällen für die Annahme unmittelbarer Täterschaft ausgesprochen.16 Im Folgenden soll eine umfassende Begründung des Ergebnisses eben dieser letztgenannten Ansicht versucht und so dargelegt werden, dass in der Tat die Annahme unmittelbarer Täterschaft sowohl bei abgenötigter wie auch irrtümlicher Selbstschädigung angezeigt ist.17 Dazu werden zunächst die notwendigen Vorüberlegungen zu den Grundlagen der strafrechtlichen Haftung des mittelbaren Täters skizziert18 (II./III.), um sodann (IV.) sowohl die besonderen Probleme der Verhaltenszuschreibung als auch der Zurechnung im Falle der Selbstschädigung zu behandeln.
mentar, 2009, § 25 Rn. 8 f. (s. a. weiter unten); Roxin, AT-II (Fn. 7), 25/70, 144; ders., TuT8 (Fn. 9), S. 173, der dort jedoch bei „finaler Überdetermination des Kausalverlaufs“, also regelmäßig in Irrtumsfällen, eine Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Täterschaft für rein terminologisch hält (diese Frage offen lassend noch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 462 [dort Fn. 572]; vgl. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs [Tatbestandsmäßiges Verhalten], 1988, S. 155); nun auch Schild, in: NK3 (Fn. 13), § 25 Rn. 9, 75, 85; (anders noch in NK2, 2005, § 25, Rn. 26, 47); sehr weit Eb. Schmidt, Frank-FG II (Fn. 3), S. 106 (124 f.); Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil2 (AT), 1975, 14/41; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil I5 (AT), 2004, 12/68. 16 Freilich mit je unterschiedlicher Begründung Ingelfinger, in: Gesamtes Strafrecht, Handkommentar (HK-GS), 2008, § 25 Rn. 11, 32 f.; Johannes, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßigem Handeln des Werkzeuges, Ein Scheinproblem (Mittelbare Täterschaft), 1963, S. 16 ff.; Otto, AT7 (Fn. 11), 21/101 ff.; Schild, in: NK2, (Fn. 15), § 25 Rn. 26, 47 (ausdrücklich aufgegeben in: NK3 [Fn. 13], § 25 Rn. 9, 75, 85); für den irrtümlich handelnden Vordermann Herzberg, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßig oder unverboten handelndem Werkzeug (Mittelbare Täterschaft), 1967, S. 46 (51 f.) („blind handelndes Werkzeug“; auch sehr krit. zu Johannes, Mittelbare Täterschaft [Fn. 16], S. 47 f.); ganz ähnlich H. Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung des Anderen (Selbstverantwortung), 1986, S. 89 ff.; bei Irrtum und Schuldlosigkeit des Vordermannes stets Spendel, JuS 1974, 749 (751 f.); ders., JR 1987, 133 (134, dort Fn. 9); ders., Hirsch-FS, 1999, S. 379 (384, Fn. 17); ders., Lüderssen-FS, 2002, S. 605 (607 f.) (soweit Spendel als weiteren Gewährsmann aber Beling, Die Lehre vom Verbrechen [Lehre], 1906, S. 418, für sich anführt, so ist anzumerken, dass Beling dort lediglich „Täterschaft“ ohne weitere Differenzierung annahm); s. a. Eichhorn, Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord, 1935, S. 28. 17 Für die Praxis ist damit mehr gewonnen, als es zunächst den Anschein haben mag: Die Begründung unmittelbarer Täterschaft für die Fälle der Selbstschädigung enthebt uns schon einmal des Problems der Festlegung des Versuchsbeginns und des Rücktritts. Daher ist Roxin (vgl. Fn. 15) entgegenzutreten, wenn er das Problem für eines rein terminologischer Art hält; dagegen auch schon Küper, JZ 1986, 219 (220). Zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis Puppe, ZIS 2008, 1. 18 Dass es im Rahmen dieses Beitrages bei einer Skizze bleiben muss, versteht sich schon angesichts des immensen Umfanges der zur Beteiligung vertretenen Ansätze und der mit dieser Problematik verbundenen Fragen für die Gesamtsystematik; die knappe Darstellung dürfte für die hier primär behandelte Fragestellung aber nicht von Schaden sein.
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II. Es wäre müßig, im Rahmen dieser Betrachtung, welche die Anwendung positiven Rechts auf konkrete Sachverhaltskonstellationen zum Gegenstand hat, vertieft auf die Frage einzugehen, ob dem extensiven19 oder restriktiven20 Täterbegriff aus dogmatischer Sicht der Vorzug gegeben werden sollte. Die diesbezügliche Auseinandersetzung ist alt,21 von anderen an anderer Stelle ausführlich behandelt22 und mittlerweile zugunsten des restriktiven Täterbegriffs wohl auch entschieden.23 Dies allerdings nur mit Einschränkungen, da der restriktive Täterbegriff quasi in seiner „Reinform“ nur denjenigen als Täter einstuft, der eigenhändig den Tatbestand des jeweiligen Deliktes erfüllt,24 während das Gesetz durch die Einbeziehung von Mittäter- und v. a. mittelbarer Täterschaft auch andere Formen der kausalen Erfolgsherbeiführung als täterschaftliche Begehung anerkennt,25 manche (mit-)kausale26 Erfolgsherbeiführungen weiterhin „nur“ als 19 RGSt 74, 21 (23); BGHSt 3, 4 (5); Kohlrausch, ZStW 55, 1936, 385 (392 ff.); Mezger, Strafrecht, 1931, S. 415 f.; ders., ZStW 52, 1933, 529 (537); Roeder, ZStW 69, 1957, 223 (238): „exklusiver Täterbegriff“; Eb. Schmidt, Frank-FG II (Fn. 3), S. 106 ff.; auch Spendel, JuS 1974, 749 (754 ff.), der dort den extensiven Täterbegriff sogar für den einzigen hält, der die Figur der mittelbaren Täterschaft erklären könne, ders., Lange-FS, 1976, S. 147 (152); zu Schilds dem extensiven, sogar dem Einheitstäter, sehr nahen „materiellen Täterbegriff“ Schild, in: NK3 (Fn. 13), § 25 Rn. 3 ff., 8. 20 Heute h. M., vgl. aber schon Beling, Lehre (Fn. 16), S. 249 f.; Binding, GS 78, 1911, 7; sodann Gropp, AT3 (Fn. 15), 10/18; Hoyer, in: SK7 (Fn. 10), Vor § 25 Rn. 9 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts5 (AT), 1996, S. 649; Joecks, in: MüKo (Fn. 10), Vor § 25 Rn. 9, 11; Kindhäuser, AT4 (Fn. 7), 38/8 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, AT-II7 (Fn. 9), 47/44 ff.; H. Mayer, Rittler-FS, 1957, S. 243 (244 ff.); Kühl, AT6 (Fn. 11), 20/5 ff.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff (Fn. 10), S. 67 ff.; Roxin, in: LK11 (Fn. 12), § 25 Rn. 12; ders., AT II (Fn. 7), 25/5; Samson, in: SK6 (Fn. 11), § 25 Rn. 3; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 11 ff.; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil11 (AT), 2003, 28/32. 21 Der Streit dürfte in den 1930er Jahren einen Höhepunkt erreicht haben, v. a. nach Zimmerl, ZStW 49, 1929, 39 ff. und dessen Scheidung der Positionen in der Beteiligungslehre (wohl erstmals) in „extensive“ und „restriktive“ Interpretation. 22 Vgl. nur Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 11 ff.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff (Fn. 10), S. 13 ff. jeweils m.w. N.; s. auch Bloy, Die Beteiligungsformen als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 115 ff.; Bunn, Extensiver und restriktiver Täterbegriff, 1970, S. 13 ff. 23 Was natürlich für sich allein genommen nicht „Richtigkeit“ bedeutet; krit. zum restriktiven Täterbegriff aus neuerer Zeit beispielsweise Lesch, Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 186 (284 ff.); vgl. auch Jakobs, AT2 (Fn. 10), 22/6; zu den Vorschlägen eines „doppelten“ Täterbegriffs, mit dem bei Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten differenziert wird, die Nachweise bei Cramer/Heine, in: Sch/Sch27 (Fn. 10), § 25 Rn. 10. 24 Roxin, TuT8 (Fn. 9), S. 34 ff. mit zahlreichen Nachweisen zu dieser sog. formalobjektiven Theorie; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 11 ff. 25 Roxin, TuT8 (Fn. 9), ebd. 26 Auf den Streit, ob die Beihilfehandlung auch kausal im technischen Sinne sein muss, kommt es hier freilich nicht an; vgl. dazu aber Puppe, AT-II (Fn. 5), 42/1 ff.; Osnabrügge, Die Beihilfe und ihr Erfolg, 2002, passim.
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die Teilnahmeformen der Anstiftung und Beihilfe unter Strafe stellt. Die Beantwortung der sich damit zwangsläufig ergebenden Abgrenzungsfragen von Täterschaft und Teilnahme sind in unserem Zusammenhang nur peripher von Interesse, da die hier zur Untersuchung anstehenden Fälle der Selbstschädigung unter Irrtums- oder Nötigungsherrschaft27 mangels Tatbestandsmäßigkeit der Selbstverletzung nach keiner Ansicht, die auch nur am Rande noch mit dem Wortlaut der Regeln der §§ 25 ff. StGB vereinbar ist, zur (strafbaren) Teilnahme gerechnet werden können.28 Dennoch lässt sich aus den Beteiligungs- und Verhaltensregeln des StGB zumindest ein wichtiger Schluss ziehen, nämlich, dass der restriktive Täterbegriff insofern seinen Niederschlag gefunden hat, als allein die (ggf. mit-) kausale Erfolgsherbeiführung durch den Hintermann eben nicht ausreicht, um dessen Täterschaft zu begründen; vielmehr wird deutlich, dass grundsätzlich von einer Abgrenzung von Verantwortungsbereichen ausgegangen werden kann,29 nach der primär der unmittelbar die tatbestandliche Handlung ausführende Letztverursacher in den strafrechtlichen Fokus zu nehmen ist.30 Eine täterschaftliche 27 Die Verwendung des Herrschaftsbegriffs soll hier der darstellerischen Einfachheit wegen erfolgen und nicht gleichzeitig eine positive Stellungnahme zur Tatherrschaftslehre bedeuten; die hier präsentierten Gedanken dürften von der Tatherrschaftslehre eher abweichen. 28 Die Absage an eine extrem subjektive Theorie ist mit dieser Behauptung wiederum impliziert; zu den hinreichend in der Literatur gegen diese Theorie vorgebrachten Argumenten Cramer/Heine, in: Sch/Sch27 (Fn. 10), Vor § 25 Rn. 56 ff. 29 Man kann diese Scheidung von Verantwortungsbereichen, wie beispielsweise Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff (Fn. 10), S. 67 f., in einem dem restriktiven Täterbegriff vorgehenden „Prinzip der Selbstverantwortung“ fundiert sehen; Terminologie und Ausgestaltung sind im Einzelnen jedoch ganz bemerkenswert uneinheitlich: so wird mit z. T. stark differierenden Auffassungen z. B. auch vom „Eigenverantwortlichkeitsprinzip“, „Selbstverantwortungsprinzip“ oder einfach „Verantwortungsprinzip“ gesprochen (m.w. N. und krit. insb. zur letztgenannten Bezeichnung Schmoller, Triffterer-FS, 1996, S. 223 [244, dort Fn. 87; 249]; vgl. z. B. H. Schumann, Selbstverantwortung (Fn. 16), passim („Prinzip der Selbstverantwortung“); vgl. auch Jakobs, AT (Fn. 10), 1/7 (Zuständigkeit für den eigenen Organisationskreis); zusammenfassende Kritik bei Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 25 Rn. 62 ff.; in seinem Kern dürfte der Gedanke des Verantwortungsprinzips auf Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 99, zurückgehen, jedoch beschränkt auf die prinzipielle Ausscheidung „der Benutzung eines anderen als Werkzeug dort [. . .], wo das Recht das Tun des unmittelbar Handelnden als freies und damit persönliche Verantwortung begründendes wertet“; weitere Präzisierung und Begriffsbildung als „Verantwortungsprinzip“ dann bei Roxin, TuT8 (Fn. 9), S. 143 ff.; vgl. umfassend zu den verschiedenen Lesarten bis Ende der 1980er Jahre Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 40 ff.; s. weiter auch unten Fn. 30. 30 Ob sich damit auch eine – über eine grobe Scheidung von Verantwortungsbereichen zur Bestimmung von Beteiligungsrollen hinausgehende – stringente Regressverbotslehre begründen lässt, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Auch Cramer/ Heine, in: Sch/Sch27 (Fn. 10), § 25 Rn. 6 sehen hierin aber zumindest eine „fundamentale rechtliche Ordnungsmaxime“; ähnlich Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Fn. 15), S. 241 f. (bedeutsamer, aber nicht exklusiver Leittopos); zur Scheidung von Verantwortungsbereichen auch Otto, Spendel-FS, 1992, S. 271 (276 ff.); krit. Freund, AT2 (Fn. 11), 10/86 ff.; Kühl, in: Lackner/Kühl25 (Fn. 11), § 25 Rn. 2; Schmoller, Triff-
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Begehung wird danach prinzipiell (nur) demjenigen zugeschrieben, der das tatbestandsmäßige Verhalten vollverantwortlich als eigenen unmittelbaren Normwiderspruch an den Tag legt. Für andere kausale Beiträge zur Erfolgsherbeiführung erfolgt dann vielmehr eine Zurechnung als Teilnehmer, wenn der je Handelnde nicht selbst durch sein Verhalten den tatbestandlich vertypten Normwiderspruch begeht, also keine originär eigene Pflicht gegen das Rechtsgut selbst in der jeweils tatbestandlich relevanten Form verletzt, sondern sich sein „Beitrag“ auf fremdes Verhalten bezieht. Dies geschieht entweder indem er einem anderen Anlass gibt, sich gegen seine soziale Verantwortung zu organisieren (Anstiftung) oder indem er dessen normwidrige Organisation31 erleichtert (Beihilfe), ohne selbst das Verhalten zusammen mit demjenigen eines anderen zu einem tatbestandlich beschriebenen zu ergänzen (dann nämlich wiederum Mittäterschaft). III. Die Figur der mittelbaren Täterschaft, in der Form des § 25 I 2. Alt. StGB, bietet uns nun eine ausdrückliche Einschränkung dieser Regel: Das tatbestandlich beschriebene Verhalten des Vordermannes muss nicht mehr diesem, sondern kann dem Hintermann als dessen eigener Normwiderspruch zugeschrieben werden. Dies kann mit Blick auf das Verantwortungsprinzip32 freilich nur für diejenigen Fälle gelten, in denen die Ausführungshandlung des Tatbestandes durch einen nicht verantwortlich handelnden Vordermann erfolgt. 1. Die notwendige Aufgabe der Regelung liegt also gerade in der Zurechnung fremdhändiger Tatausführung, welche zwar prinzipiell für den Vordermann normwidrig ist, es aus Gründen, die der Hintermann zu vertreten hat, aber im speziellen Fall nicht ist (so wäre es in der Tat verfehlt, § 25 I 2. Alt. StGB nur deklaratorische Funktion33 zuzuerkennen oder ihn gar als überflüssig aufzufassen34). Dies geschieht sinnvoll in Form der Verhaltenszurechnung.35 Denn nur über das Verhalten als einziges personales Element der objektiven Ebene der Unterer-FS (Fn. 29), S. 223 (244, 249); Schild, in: NK1 (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 312, 330; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 25 Rn. 62 ff.; krit. zu einem so verstandenen Selbstverantwortungsprinzip mit Blick auf die Fahrlässigkeitshaftung ausführlich Puppe, in: NK3 (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 178 ff., alle m.w. N. 31 Bezogen auf eine Tatbestandsverwirklichung. 32 Zurückgeführt auf die Kernthese Gallas’ (s. o. Fn. 29). 33 So für einige Fälle beispielsweise Freund, AT2 (Fn. 11), 10/52 f. 34 Z. B. Wolf, Schroeder-FS, 2006, S. 415 (427 f.); für die reinen Erfolgsdelikte Samson, in: SK5, 1993, § 25 Rn. 61 ff.; vgl. auch schon Eb. Schmidt, Frank-FG II (Fn. 3), S. 106 (111 f.). 35 Unstreitig, vgl. statt vieler Hoyer, in: SK7 (Fn. 10), § 25 Rn. 40; Schild, in: NK3 (Fn. 13), § 25 Rn. 14 m.w. N.
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rechtszurechnung ist es möglich, einen Dritten in das Zurechnungsprogramm einzufügen. Klärungsbedürftig erscheint dabei zunächst, ob es sich bei dem Verhalten, das dem Hintermann zugeschrieben werden soll, um eine Handlung im naturalistischen (also einfach: um eine Körperbewegung) oder um eine Handlung im strafrechtlichen Sinne (also als eines normativen Zurechnungsgegenstandes) handeln muss.36 Richtigerweise wird man fordern müssen, dass das Verhalten, welches dem Hintermann zugeschrieben werden soll, eine „Handlung“ im strafrechtlichen Sinne sein muss,37 denn ansonsten ist die Zurechnung nämlichen Verhaltens als täterschaftlicher Normwiderspruch schon beim Vordermann nicht möglich, da für die strafrechtliche Zurechnung die „zugerechnete Handlung“ und nicht allein die einfache Körperbewegung konstitutiv ist.38 Ist maßgeblicher Orientierungspunkt strafrechtlicher Bewertung einer Erfolgsherbeiführung das Verhalten des Letztverursachers und handelt dieser überhaupt nicht im Rechtssinne (beispielsweise beeinflusst durch absolute Gewalt), so ist er lediglich als Naturphänomen und nicht als Imputationssubjekt aufzufassen. 2. Die Handlungszuschreibung stellt also die Übertragung strafrechtlicher Verantwortung dar: Der unmittelbar Handelnde ist nicht (mehr) verantwortlich für seinen Organisationskreis, wenn er sich entsprechend manipuliert verhält, der mittelbare Täter hingegen erweitert seinen Organisationskreis um denjenigen des unmittelbar Handelnden.39 Um diese Erweiterung der Haftung des Hintermannes über den Vordermann begründen zu können, benötigen wir (um Puppes Diktion hier ein wenig aufzugreifen) ein Durchgangserfordernis.40 Kann der eigentlich als Letztverursacher strafrechtlich Verantwortliche aufgrund eines Zurechnungs- oder (besser) Verantwortungsdefizits nicht strafrechtlich in die Haftung genommen werden, versteht es sich von selbst, dass, soll eine täterschaftliche Verhaltenszuschreibung trenn36 Ausführliche Auseinandersetzung mit der notwendigen Unterscheidung der „Handlung“ als nur äußere Tätigkeit und der Handlung als „zugerechnete Handlung“ für die Beteiligung Schild, in: NK1 (Fn. 4), Vor § 25 ff. Rn. 286 ff. 37 Wobei hier dahinstehen kann, für welchen der heute noch diskutierten Handlungsbegriffe man steht. 38 So auch die ganz h. M., ausdrücklich dabei Bloy, GA 1996, 437 f.; Hoyer, in: SK7 (Fn. 10), § 25 Rn. 36 f.; Jakobs, AT2 (Fn. 10), 21/62; Jescheck/Weigend, AT5 (Fn. 20), 666 (dort Fn. 11 a. E.); Küper, JZ 1983, 360 (369); Küpper, GA 1998, 519; M.-K. Meyer, Ausschluss (Fn. 13), S. 20, 25; Spendel, Lange-FS (Fn. 19), S. 147 (149 f.); Stratenwerth/Kuhlen, AT5 (Fn. 15), 12/32; P. Wolf, Betrachtungen (Fn. 3), S. 67 f.; unklar Frisch, Bockelmann-FS, 1979, S. 652 („Realverhalten“); a.A. noch Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich18, 1931, Vor § 47 III 1; wohl ebenso Maurach/Gössel/ Zipf, AT-II7 (Fn. 9), 48/49; ganz ablehnend bspw. Wolf, Schroeder-FS (Fn. 34), S. 415 (427 f.). 39 Vgl. Jakobs, GA 1997, 553 (563). 40 Wenn ich Puppe, Dahs-FS, 2005, S. 173 (179 f.) nicht missverstehe, argumentiert sie in ihrer Kritik der Gesamtlösung zum Versuch des mittelbaren Täters auch schon ganz ähnlich.
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scharf und nicht willkürlich sein, der Hintermann dann aber gerade für dieses Defizit verantwortlich sein muss.41 Es besteht dabei kein Grund, zur Feststellung der Verantwortlichkeit des Hintermannes für das jeweilige Defizit anders als bei anderen Erfolgsherbeiführungen, nämlich nach den allgemeinen Zurechnungsregeln, zu verfahren.42 Hat er unter Zurechnungsgesichtspunkten durch seine Einwirkung auf den Vordermann dessen mangelnde Verantwortlichkeit zu vertreten, so „beherrscht“ er den Vordermann ausreichend.43 3. Bei aller Konzentration auf die Gründe und die Voraussetzungen der Handlungszuschreibung bei der mittelbaren Täterschaft ist die Versuchung groß, sich zur Begründung der Haftung des mittelbaren Täters auf knappe Formeln wie „die Handlung ist das Unrecht“ zu beschränken. Dadurch gerieten allerdings die Selbstverständlichkeiten strafrechtlicher Zurechnung aus dem Blick, nämlich etwa, dass zur Unrechtszurechnung doch mehr gehört, als „nur“ 44 die Handlung. So reicht die Handlungszuschreibung allein zwar zur Einfügung des Hintermannes in das Zurechnungsprogramm des Vordermannes aus, da die tatbestandliche Handlung gerade das für die Zurechnung wesentliche objektiv-personale Element ist, über das sich der Täter als aktives Imputationssubjekt qualifiziert. Nichtpersonal feststehen müssen jedoch – wollen wir an der Funktion der mittelbaren Täterschaft als Zurechnungsregel für fremdhändige (n. b.) Tatausführung festhalten45 – zusätzlich die weiteren objektiven (nichtpersonalen) Elemente des Normwiderspruchs: allen voran der Tatbestandserfolg und selbstredend auch die Kausalität sowie die weiteren Kriterien objektiver Zurechnung. Damit steht aber zugleich fest, dass der objektive Tatbestand des jeweils in Rede stehenden Deliktes schon durch die Handlung des Vordermannes vollständig erfüllt sein muss, denn eine Handlungszuschreibung auf einen anderen als den Letztverursacher ist nach Maßgabe des Verantwortungsprinzips nur sinnvoll, wenn der Letztverursa41 Auf die Zuständigkeit des Hintermannes für den Defekt des Letztverursachers abstellend schon Kindhäuser, Bemmann-FS, 1997, S. 339 (346) und Jakobs, GA 1997, 553 ff. 42 Vgl. Kindhäuser, ebd., S. 347 f.: „Der Hintermann füllt nach den Regeln der mittelbaren Täterschaft ein Deliktsdefizit des Vordermannes eigenverantwortlich aus, wenn sich in dem Handeln mit diesem Defizit eine vom Täter gesetzte unerlaubte Gefahr (adäquat) realisiert“; zur Begründung dieser „primären Verhaltens- und Irrtumszuständigkeit“ auch Jakobs, GA 1997, 553 (562 ff.). 43 Damit ergeben sich natürlich weitergehende Fragen zum Anwendungsbereich der mittelbaren Täterschaft sowohl beim gerechtfertigten Werkzeug (vgl. dazu dann auch schon Puppe, AT-II [Fn. 5], 40/5) als auch beim a priori schuldlos handelnden Vordermann; die Beantwortung eben dieser Fragen darf jedoch einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. 44 Treffend knapp Haas, ZStW 110, 2007, 519 (537): „Verhaltenszurechnung ist keine Unrechtszurechnung.“ 45 Denn ansonsten ergibt sich § 25 I 2. Alt. StGB als überflüssig, da dann nur noch auf die originäre Zurechnung zum Hintermann, also die Voraussetzungen der unmittelbaren Täterschaft abgestellt wird; vgl. Bloy, GA 1996, 424 (438).
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cher auch etwas – nämlich objektives Unrecht – strafrechtlich relevant (oder besser: zurechenbar) verursacht hat.46 Kurz: Der Hintermann haftet also immer (erst) dann als mittelbarer Täter für die Bewirkung eines tatbestandlich umschriebenen Erfolges, der eigentlich dem Vordermann zugerechnet werden müsste, wenn dieser unter einem subjektiven Verantwortungsdefizit leidet und dem Hintermann die Herbeiführung gerade dieses Defizits zuzurechnen ist. IV. Nach alledem verdienen in allen Konstellationen der Selbstschädigung des Opfers zwei Fragen besondere Aufmerksamkeit, die nun einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen: Erstens: Liefert uns eine triviale Handlungszuschreibung, verstehen wir sie richtigerweise eben nicht als simple Erfolgs- oder gar Unrechtszurechnung,47 und führen wir sie ohne Modifikation in der Handlungsbeschreibung durch, nicht eher abstruse Ergebnisse? Zweitens: Muss bei Selbstschädigung des Vordermannes überhaupt die mittelbare Täterschaft zur Begründung der Täterschaft des Hintermannes bemüht werden, wenn doch das „Opferwerkzeug“ bereits strafrechtlich nicht auffällig handelt? 1. Nehmen wir uns zunächst des Problems der Handlungszuschreibung an: Schnell wird deutlich, dass die Selbstschädigung des Werkzeugs in besonderer Weise dazu zwingt, uns genauer mit dem eigentlichen Vorgehen bei der Handlungszuschreibung auseinanderzusetzen. Entscheiden wir uns nämlich dafür, dem Hintermann bei der mittelbaren Täterschaft lediglich die Handlung des Vordermannes so zuzurechnen, „als“ habe er sie selbst vorgenommen,48 weisen nur die „Normalfälle“ der Dreiecksverhältnisse keine besonderen Probleme auf. Exemplarisch: Vordermann A schießt (selbstverständlich vorsatzlos)49 auf das Opfer O, 46 Zu Recht weist daher beispielsweise auch Puppe darauf hin, dass als Werkzeug „nur in Betracht [kommt], wer objektiv tatbestandsmäßiges Unrecht verwirklicht“, Puppe, AT-II (Fn. 5), 40/5; s. auch Bloy, GA 1996, 424 (437): „vollständig fremdhändige Tatausführung“. 47 Auch Bloy unterstreicht die notwendige Distinktion zwischen Handlungs- und Erfolgszurechnung ausdrücklich, GA 1996, 424 (438). 48 Worauf die übliche Formulierung der Verhaltenszurechnung z. B. bei Cramer/ Heine, in: Sch/Sch27 (Fn. 10), § 25 Rn. 6a; Hoyer, in: SK7 (Fn. 10), § 25 Rn. 40; Joecks, in: MüKo (Fn. 10), § 25 Rn. 48; Kindhäuser, AT4 (Fn. 7), 39/5; schließen lassen könnte (!). Zu der (nur auf den ersten Blick haarspalterischen) sprachlichen Unterscheidung der Zurechnung des Werkzeughandelns „als“ oder „wie“ eigenes Verhalten auch schon Schild, in: NK1 (Fn. 4), Vor § 25 ff. Rn. 290 ff. 49 Und aus Gründen, die der Hintermann B zu vertreten hat.
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das tödlich verletzt wird. Der Fall ist ebenso einfach, wie wir damit umgehen könnten: Die tatbestandliche Ausführungshandlung des Vordermannes wird problemlos zu einer solchen des Hintermannes transformiert. Wir setzen an die Stelle des Vordermannes einfach den Hintermann und erhalten ein klares Ergebnis für unser Beispiel: B schießt auf das Opfer O, das tödlich verletzt wird. Ein Austausch der maßgeblichen Akteure kann durchgeführt werden, ohne dass die Handlungsbeschreibung oder deren Bewertung verändert werden muss. So kommen wir auf dem Weg zur Begründung der mittelbaren Täterschaft in den uns interessierenden Fällen der Selbstschädigung allerdings keinen Schritt weiter. Es ergibt sich bei der Handlungszuschreibung im Zuge einer so durchgeführten einfachen Neuverortung des Verhaltens ein Beschreibungsproblem, das in den üblichen Konstellationen der Dreiecksbeziehung überhaupt nicht auftritt, im Falle der Selbstverletzung des Opfers jedoch ohne zusätzliche Korrektur zu gänzlich anderen Ergebnissen führt. Wandeln wir zur Verdeutlichung unser Beispiel ab: A richtet die Waffe, die er irrtümlich (aufgrund einer entsprechenden Desorientierung durch B) für ungeladen hält, gegen sich selbst und drückt ab. Tauschen wir auch hier wieder die Akteure einfach nur aus, so gibt es bei diesem Wechselspiel nur zwei Alternativen: Entweder wir denken die Handlung als solche exakt in die Hände des Hintermannes, dann nimmt er selbst an sich die schädigende Handlung vor (B richtet die Waffe gegen sich), oder wir legen die Ausführungshandlung als Fremdschädigung in seine Hände (B erschießt A). Bei Wahl der ersten Option handelte er von vornherein strafrechtlich nicht relevant, da – im Gegensatz zum Standardfall des Dreiecksverhältnisses – zugleich auch das Opfer ausgetauscht werden würde; bei der alternativen Umdeutung des Verhaltens wiederum wäre dann zwar eine echte Fremdschädigung (und Tatbestandsverwirklichung) gegeben, jedoch wäre das Verhalten, das wir dann dem Täter zuschreiben würden, ein völlig anderes als dasjenige, das tatsächlich zum Erfolg geführt hat. Noch deutlicher wird es bei komplexen Handlungen, wie der folgende Fall illustriert: Der Hintermann manipuliert die Bremsen des PKWs des Opfers so, dass es bei nächster Gelegenheit gegen eine Mauer fährt und durch den Aufschlag auf dem Lenkrad schwere Gesichts- und Schädelverletzungen davonträgt. Auch wenn wir es für zulässig hielten, im Austausch für eine selbstschädigende eine fremdschädigende Handlung des Täters zu setzen, scheint hier schon konstruktiv eine entsprechende Umdeutung abenteuerlich: Selbst wenn der Hintermann als Führer des Fahrzeuges gedacht würde, würde eine Schädigung des Opfers ausbleiben. Der Täter kann das Opfer zwar samt Fahrzeug gegen die Wand fahren, der in concreto schädigende Ablauf wird so allerdings nicht erreicht werden können. Dies dürfte für die meisten „Fallen“-Fälle gelten, in denen das zum Schaden führende Verhalten sich nicht auf einfachste Handlungen oder Handlungsbeschreibungen (Schuss in den Kopf, Trinken einer tödlichen Dosis Gift etc.) beschränkt. Will man also die betreffende Handlung als Element des Er-
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folgsherbeiführungsprogramms des Hintermannes übertragen, scheint der einzige Ausweg „zur Rettung“ der Handlungszurechnung im Rahmen mittelbarer Täterschaft zu sein, flexibel mit der Handlungsbeschreibung zu reagieren, was letztendlich allerdings nicht nur eine Umdeutung des tatsächlich an den Tag gelegten Verhaltens des Opfers wäre, denn so könnte man dann auch auf die ganze Mühe „Handlungszurechnung“ tatsächlich verzichten: Auf diesem Wege kommt man nur dann zu einem nachvollziehbaren Ergebnis, wenn man dem Hintermann gleich die gesamte tatbestandlich beschriebene Erfolgsherbeiführung („Tötung“ statt „Schuss“, „Schlag“ etc.) insgesamt zurechnet, womit allerdings § 25 I 2. Alt. StGB auf eine Regelung mit rein deklaratorischem Charakter reduziert werden würde. Man käme so durch die Hintertür wieder zur Anwendung des extensiven Täterbegriffs, wenn nicht gar – in letzter Konsequenz – zum Einheitstäter. Dass eine solche Art und Weise der Verhaltenszurechnung sich dem Vorwurf eines naiven, naturalistisch geprägten Bildes von einer Handlungszurechnung ausgesetzt sehen würde (obwohl so im Falle der Drittschädigung ja durchaus intuitiv sachgerechte und nachvollziehbare Ergebnisse erreicht würden), liegt nahe und kann durch eine funktionale Sichtweise der Handlungszuschreibung, die kohärente Ergebnisse für die Dritt- und Selbstschädigung bietet, schnell und angemessen ersetzt werden: Indem nämlich die in Rede stehende Ausführungshandlung komplett in den Händen des Werkzeugs belassen wird, dem Hintermann also nicht die Handlung des Werkzeugs quasi als eigene „in die Hände gelegt“ wird, ergeben sich keinerlei der oben beschriebenen Probleme. Schreiben wir so lediglich normativ das Verhalten des Letztverursachers dem Hintermann zu, wird dieser als mittelbarer Täter schlicht für fremdes Handeln zur Verantwortung gezogen, da er sich selbst durch die Manipulation des Werkzeugs gegenüber dem jeweiligen Opfer vermeidepflichtig gemacht hat. Kurzum: Es geht bei der mittelbaren Täterschaft nur oberflächlich gesehen um eine Verhaltenszurechnung in dem Sinne, dass das personale Element der Erfolgsherbeiführung gleichsam auf den Hintermann übertragen wird, vielmehr geht es um die Frage der Trägerschaft der Vermeidepflicht hinsichtlich des erfolgsbedingenden Verhaltens.50 Kommen wir aber soweit, die „Handlungszuschreibung“ lediglich als ungenaues Schlagwort für die eigentlich durchzuführende Verantwortungsübertragung hinsichtlich des personalen Deliktselementes „Handlung“ zu erkennen, ergibt 50 Damit ist der Hintermann verpflichtet, die Handlung des Letztverursachers zu vermeiden; die mittelbare Täterschaft ist mithin eigentlich ein Fall der Unterlassungstäterschaft (der Hintermann ist Garant aus Ingerenz); auf die Grundsätze der Ingerenzhaftung des Garanten zur Begründung mittelbarer Täterschaft weist auch schon Kindhäuser, Bemmann-FS (Fn. 41), S. 339 (348, dort Fn. 25) hin; vgl. aber auch Jakobs, GA, 1997, 564 ff. Mit einer einfachen Unterlassensstrafbarkeit im Falle der mittelbaren Täterschaft würde jedoch die Personalität des Tatmittlers gänzlich außer Acht gelassen.
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sich jedoch für unseren Fall der Selbstschädigung eine weitere – erheblich höhere – Hürde: 2. Hinzu kommt nämlich, dass zur Annahme einer mittelbaren Täterschaft im Falle der Selbstschädigung auch wesentliche Zugeständnisse an die zuvor beschriebenen Grundsätze der Zurechnung bei mittelbarer Täterschaft gemacht werden müssten. Denn in der Tat handelt es sich bei der Zurechnung der Selbstschädigung auf den Hintermann über die Grundsätze der mittelbaren Täterschaft um einen Zirkel, der bei einer strafbegründenden Unrechtszurechnung nicht einfach nur bedenklich ist. Gegenstand der Zurechnung ist grundsätzlich zunächst eine bestimmte Gegebenheit, eine bestimmte Veränderung der Außenwelt, die im Strafrecht der „tatbestandsmäßige Erfolg“ genannt wird. Es gehört zu den zahlreichen Verdiensten der Jubilarin, hier ganz wesentlich zur Begriffsklärung beigetragen zu haben.51 Um den eigentlichen Zurechnungsgegenstand präziser für das Strafrecht bestimmen zu können, stellt sie fest, dass es stets nur um die tatbestandlich beschriebene Rechtsgutsverletzung geht.52 So möge zwar ein vom Gesetz gelöster Blick auf das, was der Fall ist, als Naturgeschehen erfasst und mit umgangssprachlichen Mitteln weiter beschrieben werden, die Begriffshoheit darüber, was als strafrechtlich relevantes Geschehen zugerechnet werden soll, habe allein der Gesetzgeber inne; danach ergibt sich der konkrete Zurechnungsgegenstand also aus dem Gesetz selbst.53 Gemeinsames Merkmal aller so beschriebenen Erfolge54 ist die nachteilige Veränderung des Rechtsgutsobjektes eines anderen, woran es im Falle der Selbstschädigung selbstverständlich immer fehlt. Allein deshalb schon ist das Verhalten des Vordermannes tatbestandslos und nicht strafbar. Dies ist – so trivial diese Erkenntnis zweifellos auch ist – für die hier behandelte Frage von außerordentlicher Wichtigkeit. Denn gerade an dieser Stelle wird der schwerste Fehler, der der Annahme mittelbarer Täterschaft im Falle der Selbstverletzung zugrunde liegt, besonders deutlich. Will man die Selbstverletzung des Werkzeugs ohne weitere Konkretisierung nur als „tatbestandslos“ bezeichnen, so ist dies nämlich so richtig wie ungenau: Erfüllt die Selbstverletzung doch nicht in der gleichen Weise keinen Straftatbestand, wie die „nur“ vorsatzlose Erfolgsherbeiführung. So ist es 51 Am griffigsten wohl in Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 1 (AT-I), 2002, 1/1 ff.; s. aber auch ihre umfassende Ausarbeitung Puppe, in: NK3 (Fn. 4),Vor §§ 13 ff. Rn. 62 ff. 52 Puppe, AT-I (Fn. 51), 1/12: „Ein Erfolg ist die i. S. des jeweils geschützten Rechtsguts (Interesses) nachteilige Veränderung an einem Rechtsgutsobjekt.“; s. a. dies., in: NK3 (Fn. 4), Vor. §§ 13 ff. Rn. 72; dies., ZStW 92, 1980, 863 (880); auch Kindhäuser, AT4 (Fn. 7), 10/3; ders., ZStW 120, 2008, 481 (483); vgl. auch Frister, AT4 (Fn. 11), 9/23. 53 Puppe AT-I (Fn. 51), 1/12 f. 54 Verstanden in einem umfassenden Sinne, also z. B. auch Gefahrerfolge erfassend.
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zwar zutreffend, dass im Falle der Irrtumsherrschaft der Vordermann aufgrund des Irrtums keinerlei Schädigungsvorsatz hat, jedoch bezöge sich dieser Vorsatz, wäre er denn vorhanden, nicht einmal auf einen vorgegebenen objektiven Tatbestand.55 Ist aber bereits im objektiven Tatbestand ein Defizit gegeben (und man mag ja sogar darüber streiten, ob hier bereits von einem defizitären objektiven Tatbestand gesprochen werden kann, wenn es schon überhaupt an einem Normwiderspruch fehlt)56, so besteht schon kein Anknüpfungspunkt für die weitere Zuschreibung des Verhaltens auf den Hintermann.57 Das Gleiche gilt freilich auch in den Fällen der abgenötigten Selbstverletzung; die Fehlerhaftigkeit der Gleichsetzung mit der Fremdschädigung tritt hier sogar noch deutlicher zutage, da verschiedene Deliktskategorien betroffen sind. Keine Form der Handlungszurechnung kann diesen Makel ausgleichen; beschreitet die Logik der Zurechnung im „klassischen“ Zwei-Personen-Verhältnis (Täter-Opfer) den Weg „Erfolg – Handlung – Kausalität – usw.“, gestaltet sich 55
Es handelt sich also nicht einmal um einen „Vorsatz“ im strengen technischen Sinne, sondern lediglich um einen Gedanken, darauf gerichtet, „Etwas“ zu tun. Vorsatz ablehnend beispielsweise schon v. Liszt/Eb. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts26, 1932, S. 332 f. H. Schumann, Selbstverantwortung (Fn. 16), S. 89 ff. hält es entgegen der hier vertretenen Ansicht für entscheidend, dass der Irrtum des Opfers nicht die Herrschaft des Hintermannes über das Geschehen begründe, wie es für die mittelbare Täterschaft (auf dem Boden der Tatherrschaftslehre) notwendig sei. Der Irrtum über die Ungefährlichkeit der Handlung liefere dem Vordermann lediglich ein „für seinen Handlungsentschluß mitwirksames Motiv“, jedoch sei dies eine von dem Hintermann nicht hervorgerufene, sondern eine von dem unmittelbar Handelnden selbstständig gebildete Vorstellung, der Hintermann bewirke „lediglich ihre Unrichtigkeit“. Dem ist, bei aller Zustimmung im Ergebnis, entgegenzutreten: Verneint man die Bedeutung des Irrtums für den Handlungsentschluss, werden Vorsatz- und Handlungsbegriff verwirrt, die Handlung ist der Teil der objektiven Zurechnungsbasis, die unabhängig vom Vorsatz ist. Die Bewertung eines Willküraktes als gefährlich oder nicht ist stets eine Frage der Vorsatzzurechnung, der Handlungsentschluss als reiner Willkürakt ist stets bewertungsunabhängig. An H. Schumanns Argumentation zeigt sich recht deutlich das terminologische Problem der Tatherrschaftslehre, soweit sie von „Herrschaft“ des Hintermannes über die Tat spricht. Die tatsächliche Macht über die Handlung hat grundsätzlich immer der unmittelbar Handelnde inne, lediglich die Vorstellung über die Bedeutung der Handlung kann der Hintermann lenken. Ganz ähnlich wie H. Schumann argumentiert auch schon Herzberg, Mittelbare Täterschaft (Fn. 16), S. 51, der im Falle der irrtümlichen Selbstschädigung von „blind-kausalen“ Handlungen des Getäuschten ausgeht, wenn er zwar finales Handeln des Werkzeugs für gegeben hält, welches jedoch „in die irrelevante Richtung“ ginge. Der Hintermann bediene sich auf dem Weg zum Deliktserfolg „nicht der Fähigkeiten des Werkzeugs, die es gerade als Menschen auszeichnen“. 56 Denn die Selbstverletzung ist strafrechtlich deshalb neutral, da ihr die für strafrechtliches Unrecht notwendige Interpersonalität fehlt; das dürfte außer Frage stehen, vgl. daher nur Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 25 ff. 57 Dies hält auch Ingelfinger, in: HK-GS (Fn. 16), § 25 Rn. 33 für maßgeblich; in diese Richtung stößt auch Otto, AT7 (Fn. 11), 21/102.
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die Zurechnung im Standardfall der mittelbaren Täterschaft (Dreieckskonstellation) komplizierter. Wir kommen zur mittelbaren Täterschaft nur durch die Prüfung einer doppelten Zurechnung:58 Dabei geht es letztlich zwar darum, dem Hintermann den tatbestandlichen Erfolg, vermittelt durch die Handlungszuschreibung, zuzurechnen. Auf dem Wege dahin müssen wir dem Hintermann aber, um ihn in die Zurechnungskette „einbauen“ zu können, gleichzeitig nach den oben beschriebenen Grundsätzen die Begründung des Verantwortungsdefizits – als Durchgangserfordernis – beim Vordermann zurechnen. Will man nun aber die Selbstschädigung als Fall der mittelbaren Täterschaft ansehen, kann so nicht vorgegangen werden. Vielmehr müssten wir erst die Handlung des Vordermannes dem Hintermann zurechnen, um überhaupt zum tatbestandsmäßigen Erfolg (nämlich einer Fremdschädigung) als primärem Zurechnungsgegenstand zu kommen, den wir dem Hintermann aber eigentlich erst mittels der Handlungszuschreibung zurechnen können.59 Und dies, obwohl dazu nach dem regelmäßigen Programm strafrechtlicher Erfolgszurechnung hier – bis auf die starke Intuition, dass der Hintermann schon für das Ganze verantwortlich ist – mangels eines tatbestandlichen Erfolges keine Veranlassung besteht! 3. Hinzu kommt weiterhin, dass das jeweils die Zurechnung der Handlung auf den Hintermann begründende Verantwortungsdefizit des Vordermannes im Falle der Selbstschädigung weniger als von nur sekundärer Bedeutung ist. Leidet das Opfer nämlich nicht (allein!) unter dem vom Hintermann zu vertretenden Defizit, sind die Voraussetzungen für die Zurechnung im Rahmen der mittelbaren Täterschaft, die Zuständigkeit für den jeweils das Verantwortungsdefizit des Vordermannes begründenden Defekt als Durchgangskriterium zur Erfolgsherbeiführung, nicht mehr gegeben. Denn der konkret in Rede stehende Verantwortungsmangel (Vorsatz- oder Schuldausschluss) muss der Grund dafür sein, dass der Vordermann für sein Verhalten nicht haftbar gemacht werden kann. So wird dem Hintermann das Verhalten des Vordermannes doch (und nur) deshalb zugerechnet, weil gerade die Beeinflussung des Vordermannes die Zuständigkeit des Hintermannes für das Verhalten des Vordermannes (und damit schließlich auch für den Erfolg) begründet. In den Fällen der Selbstverletzung ist es jedoch bereits der fehlende tatbestandliche Erfolg, der jede Haftung des Vordermannes ausschließt. Dies ist aber ein Umstand, den der Hintermann so gar nicht zu vertreten hat. Handelte der Letztverursacher vollverantwortlich, würde sich an dessen strafrechtlicher Position nichts ändern: Die Selbstschädigung bliebe ein nullum, da ihn hinsichtlich der Schadensherbeiführung keinerlei Vermeidepflicht trifft. 58 Ähnlich M.-K. Meyer, Ausschluss (Fn. 13), S. 25 (jedoch terminologisch unglücklich, wenn sie die mittelbare Täterschaft als „in zweifacher Hinsicht akzessorisch“ erachtet). 59 Zu Recht daher – wenn auch zum Streit um den Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft – Puppe, Dahs-FS (Fn. 40), S. 173 (179) in ihrer Kritik der Lehre von der Gesamttat.
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Trifft ihn aber ohnehin keine solche, kann diese auch nicht auf den Hintermann übertragen werden. 4. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Hintermann von jeder Haftung freigestellt wäre. Zweifellos besteht ein Zurechnungszusammenhang zwischen der Selbstschädigung und der – das Zurechnungsdefizit begründenden – Manipulation des Hintermannes. Es kann zwar die gesamte Beeinflussung durch den Hintermann aus dem Handlungsprogramm des Letztverursachers weggedacht werden, ohne dass sich am Ergebnis der strafrechtlichen Haftung für den Vordermann irgendetwas änderte. Bei Anwendung der einfachen Wegdenkmethode tritt allerdings eine viel fundamentalere Änderung ein, nämlich die, dass der Letztverursacher überhaupt nicht zum selbstschädigenden Verhalten schreitet. Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Haftung des Hintermannes kann also richtigerweise nicht das Verhalten des Vordermannes sein, welches dem Hintermann erst noch wie eigenes zugeschrieben werden muss, sondern allein die Beeinflussung des Vordermannes zu dessen selbstschädigenden Verhalten. Damit ist der Hintermann aber alleiniges Imputationssubjekt, die Rolle des Vordermannes ist nicht die des Werkzeugs im Sinne eines notwendigen personalen Vermittlers bei mittelbarer Täterschaft, sondern beschränkt sich in der Tat auf diejenige eines einfachen Kausalfaktors.60 Es handelt sich also um eine echte Fremdschädigung in unmittelbarer Täterschaft. V. 1. Fassen wir zum Abschluss die obigen Gedanken kurz zusammen: Die mittelbare Täterschaft erlaubt uns die Zurechnung fremdhändiger Tatausführung. Erste Voraussetzung dafür ist, dass die Erfolgsherbeiführung dem Vordermann zwar grundsätzlich zugerechnet werden kann, im konkreten Fall jedoch – aufgrund eines subjektiven Verantwortungsdefizits – nicht zuzurechnen ist. Dabei kann einem Hintermann der Erfolg immer dann zugerechnet werden, wenn er für die Defektherbeiführung verantwortlich ist. Dies geschieht durch die Zuschreibung des personalen objektiven Unrechtselementes der Handlung. Unter dieser „Handlungszurechnung“ ist die normative Verantwortungsübertragung für das Verhalten des Vordermannes auf den Hintermann zu verstehen. Selbst dann jedoch ist eine Zurechnung nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft in Fällen der Selbstschädigung nicht möglich: Der Strafbarkeitsausschluss ist für den Vordermann überbedingt. Der Ausfall der Strafbarkeit des Vordermannes ist nämlich nicht in dem vom Hintermann zu vertretenen Verantwortungsdefizit fundiert, sondern ergibt sich mangels eines tatbestandlichen Er60 Damit nähert sich hiesige Argumentation auch wieder der Herzbergs (vgl. o. Fn. 55) an.
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folges schon auf grundsätzlicher Ebene. Es fehlt dabei nicht nur schon an einem primären Zurechnungsgegenstand (dem Erfolg), sondern zusätzlich an der Verantwortlichkeit des Hintermannes für dessen Fehlen. Richtigerweise wird man also annehmen müssen, dass der Hintermann verantwortlich für die gesamte Erfolgsherbeiführung schon allein deshalb ist, da er zurechenbar die Schädigung des Opfers gerade durch dessen Beeinflussung verursacht hat. Im Gegensatz zur mittelbaren Täterschaft vermittelt der Vordermann in diesen Fällen der Selbstschädigung nicht als Werkzeug des Hintermannes strafrechtliche Verantwortung, sondern stellt lediglich einen Kausalfaktor im Erfolgsverwirklichungsprogramm des Hintermannes dar. 2. Auch wenn sich so letztlich im Ergebnis (täterschaftliche Haftung des Hintermannes) nichts ändert, hat der hier vorgeschlagene Weg wichtige Konsequenzen: Eine Einordnung der hier behandelten Selbstschädigungsfälle als unmittelbare Täterschaft des Hintermannes enthebt uns hinsichtlich des Versuchs einer Entscheidung des Streites zwischen Einzel- oder Gesamtlösung sowie den damit verbundenen Problemen des Rücktritts.61 Zugleich dürften sich die oben präsentierten Gedanken allgemein weiter auf Fragen der mittelbaren Täterschaft bei gerechtfertigten und a priori schuldunfähigen „Werkzeugen“ auswirken, wobei sich zumindest schon einmal bei ersteren eine große Nähe zu Puppes Lehre (keine mittelbare Täterschaft)62 zwangsläufig ergeben sollte. Und mit diesem Gedanken mag ich meinen Beitrag doch gerne schließen.
61 Wenn auch die hier knapp erörterten Grundsätze der Zurechnung bei mittelbarer Täterschaft für die Einzellösung sprechen; in ganz ähnlicher Weise, wie sie auch die Jubilarin präferiert; dazu s. nur Puppe, Dahs-FS (Fn. 40), S. 173 ff. 62 Puppe, AT-II (Fn. 5), 40/5; dies., Küper-FS (Fn. 5), S. 443 ff.
Identität und strafrechtliche Verantwortlichkeit Von Jesús-María Silva Sánchez I. Einführung 1. In strafrechtlichen Urteilen finden sich keinesfalls ausschließlich „historische“ Aussagen. Die Entscheidungsgründe beschränken sich nicht allein darauf, dass ein bestimmter Tatbestand – in der Vergangenheit – verwirklicht wurde, wofür ein bestimmter Täter – ebenfalls in der Vergangenheit – verantwortlich war. Strafrechtliche Urteile unterscheiden sich in dieser Hinsicht grundlegend von jenen der Geschichtsbücher. Sie behandeln vielmehr die vergangene Tat als etwas immer noch gegenwärtiges in Hinblick auf deren Zurechnung zu einem gegenwärtigen Subjekt. Für das gegenwärtige Subjekt bedeutet die Erklärung seiner Schuld im Strafverfahren, dass es mit dem in der Vergangenheit handelnden Täter identisch ist (bzw. identifiziert wird).1 2. Im gegenwärtigen Strafrecht scheint der Grundsatz der Höchtspersönlichkeit der Strafe nicht strittig zu sein; diesem Grundsatz gemäß darf die Strafe nur das Subjekt treffen, dessen Verantworlichkeit für eine Straftat festgestellt worden ist.2 Ebensowenig wird diskutiert, dass dieses Prinzip den Grundsatz der Verantwortlichkeit für die eigene Tat gerade ergänzt, dem zufolge nur derjenige als verantwortlich gelten darf, der die strafrechtswidrige Tat begangen hat. Beide Grundsätze lassen sich gemeinsam unter den Oberbegriff des Schuldprinzips im weiteren Sinne fassen. Der Grundsatz der Persönlichkeit der Strafen wird zunächst verletzt, wenn die Strafe einem Subjekt auferlegt wird, das nicht dem entspricht, welches man für die Tat als verantwortlich begreift. Gegen den Grundsatz der Verantwortlichkeit für die eigene Tat wird wiederum verstoßen, wenn ein Subjekt für verantwortlich gehalten wird, das nicht dem Täter entspricht, welches die rechtswidrige Tat verwirklicht hat. Werden beide Grundsätze jedoch respektiert, dann wird jenes Erfordernis berücksichtigt, das wir als Identität des Täters bezeichnen wollen und welches die Übereinstimmung zwischen dem handelnden Täter zum Zeitpunkt der Straftat und jenem Subjekt meint, das im Strafprozess das Urteil über seine strafrechtliche Verantwortung und die entsprechende Strafe entgegennimmt. Es handelt sich hierbei um ein Erfordernis, das insbesondere 1 K. Günther, in: Smith/Margalit (Hrsg.), Amnestie oder Die Politik der Erinnerung in der Demokratie, 1997, S. 48 ff., 81–82. 2 Vgl. bspw. Hillenkamp, FS-Lackner, 1987, S. 455 ff., m.w. N.
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auch der Formulierung der strafrechtlichen Sanktionsnormen zugrundeliegt: „Wer einen Menschen tötet [. . .], wird (selbst) als Totschläger [. . .] bestraft . . .“ (§ 212 I StGB). 3. Nun handelt es sich darum, zu bestimmen, wann das Subjekt, das strafrechtliche Zurechnung und Strafe vor Gericht entgegennimmt, tatsächlich dasselbe ist, wie jener Täter, der die Straftat beging. Die herrschende Lehre beschränkt sich auf folgende Feststellung: Unterschiedliche Individuen sind auch unterschiedliche Subjekte strafrechtlicher Beurteilung. Wenn strafrechtliche Zurechnung und Strafe ein Individuum treffen, das nicht dem entspricht, welches die Strafat beging, wird das Erfordernis der Identität des Subjekts strafrechtlicher Beurteilung als verletzt angesehen. Das aber, was in diesem Zusammenhang als Merkmal der individuellen Identität aufgefasst wird, meint nichts anderes als eine reine körperliche Identität. Die Tragweite der Grundsätze der Verantwortlichkeit für die eigene Tat und der Persönlichkeit der Strafen beschränken sich schlussendlich allein auf den Anspruch, dass Zurechnung und Strafe genau jenen Körper treffen, der die Straftat produziert hat. 4. Dies geht zwar weit über das hinaus, was in anderen Bereichen der Rechtsordnung als Zurechnungsgrundlage verlangt wird.3 Mehr noch: eine rechtsvergleichende, historische und ethnokulturelle Herangehensweise4 zeigt, dass Kriterien unter Umständen herangezogen werden, um Sanktionen einem Individuum aufzuerlegen, das sich von jenem unterscheidet, welches die Straftat letztlich tatsächlich verwirklichte. Aber das Erfordernis der individuellen Identität gilt als kleinster gemeinsamer Nenner der Strafwürdigkeit – der gerechten Zurechnung –, welche in unserem System als Grundsatz der Legitimation strafrechtlicher Verantwortungszuschreibung anzusehen ist. 5. Die individuelle Identität, verstanden als körperliche Identität zwischen dem Straftäter und dem Empfänger des strafrechtlichen Zurechnungsurteils und der Strafe, stellt eine wesentliche Komponente der Identität des Subjekts dar.5 Sie ist 3 Vgl. Jakobs, FS-Lüderssen, 2002, S. 559 ff., 562. Aber (S. 566) „übertragbare Strafrechtsschuld gibt es nicht“. 4 Vgl. dazu das Werk von Fauconnet, La résponsabilité. Étude de sociologie2 1928. Zusammenfassend dazu, Fauconnet, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten II. Bd. 1 1975, S. 293 ff. 5 Aus diesem Grund kann die Identität eines Menschen auch nicht lediglich auf der Grundlage einer psychischen Identität (eines Selbstbewusstseins) definiert werden, wie dies etwa John Locke andenkt. Im Gegenteil stellt vielmehr auch die körperliche Identität ein ontologisch konstitutives Element der Identität eines Menschen dar und nicht etwa nur ein epistemologisches Annäherungskriterium. Die Darstellung von Locke gipfelt in seinem berühmten Satz: „For should the Soul of a Prince, carrying with it the consciousness of the Prince’s past Life, enter and inform the Body of a Cobbler as soon as deserted by his own Soul, every one sees, he would be the same Person with the Prince, accountable only for the Prince’s Actions: But who would say it was the same Man (Body)?“. Zu den Gedanken von Locke, vgl. L. A. Locke, Law and Philosophy 9 (1990), S. 39 ff., 44 ff.; Cuypers, Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998),
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daher auch eine notwendige Bedingung der strafrechtlichen Verantwortungszuschreibung.6 Zugleich scheint es aber keinesfalls so zu sein, das die rein körperliche Identität auch eine hinreichende Bedingung jener Zuschreibung darstellt. Es entsteht in diesem Zusammenhang der Eindruck, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit neben einer reinen (körperlichen) individuellen Identität erfordert, dass zwischen dem Straftäter und dem Subjekt, das Richterspruch und Strafe empfängt, ein zusätzliches gemeinsames Element besteht.7 6. Notwendig scheint anzuerkennen, dass die menschliche Existenz einem permanenten Wandel, einer andauernden Veränderung unterworfen ist, die manchmal auch in ganz besonders tiefgreifenden Umwälzungen zum Ausdruck kommen kann. Die Frage ist, ob es nicht inkonsequent wäre, dass einem Subjekt Verantwortung zugeschrieben und die entsprechende Strafe für eine Tat im Urteil auferlegt wird, die von „ihm“ vor einem radikalen existentiellen Bruch begangen wurde. Genereller formuliert: Unter welchen Bedingungen kann die Verantwortlichkeit eines Individuums in der Gegenwart für etwas begründet oder auch (und gerade) ausgeschlossen werden, das dieses Individuum in der Vergangenheit getan hat? 7. Die Beantwortung einer solchen Frage muss wiederum berücksichtigen, wie die Verantwortungszuschreibung begründet wird. Eine ausschließlich generalpräventive8 oder integrationspräventive9 Perspektive dürfte wenige Schwierigkeiten bereiten, Verantwortung zu bestimmen und einem Individuum eine Strafe aufzuerlegen, obwohl die rechtswidrige Tat von einem ganz anderen Individuum begangen wurde. Viel weniger kompliziert scheint es zu sein, Zurechnung und Strafe ein und demselben Individuum zuzuschreiben, das in der Vergangenheit selbst eine rechtswidrige Tat begangen hat, auch wenn zwischen dem Individuum S in der Vergangenheit (nennen wir es S-1, also S zum Zeitpunkt t-110) und dem Individuum S in der Gegenwart (S-2, also S in t-2) existentielle Brüche, radikale Veränderungen stattgefunden haben. Wird dagegen der Strafwürdigkeit, der Vorstellung von einer gerechten Zurechnung tatsächlich eine tragende Rolle zugeschrieben, dann kann alles anders werden.11 Die Vorstellung, dass S-1 und S-2 als unterschiedliche Personen wahrzunehmen sein könnten, obwohl es sich um dasselbe Individuum handelt, könnte entscheidend werden. Denn wie soll denn nun eine Person zur Rechenschaft für etwas gezogen werden, was eine andere Person getan hat, selbst wenn beide aus demselben Individuum hervorgehen, S. 568 ff., 570 Fn. 4, 572 ff.; Jakobs (Anm. 3) S. 569. Vgl. in diesem Zusammenhang zudem Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 1997, S. 29 ff. 6 Vgl. dazu Herrmann, Identität und Moral, 1995, S. 106 ff. 7 Cuypers (Anm. 5) S. 569. 8 Vgl. dazu Herrmann (Anm. 6) S. 86, 88. 9 Vgl. Bosch/Sayer, Philosophisches Jahrbuch 110 (2003), S. 112 (119). 10 t-1 = tempus 1. 11 Vgl. Bosch/Sayer (Anm. 9), S. 115.
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wenn man an dieser Stelle einmal von instrumentellen (und instrumentalisierenden) Begründungen absieht? 8. Deswegen ist es zunächst notwendig, zu klären, was der Begriff der personalen Identität eigentlich genau meint, ehe zu untersuchen ist, ob und wie der Bruch in der personalen Identität eines Individuums tatsächlich von Bedeutung sein kann, dies insbesondere für Maß und Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. II. Die philosophischen Prämissen 1. Einführung 1. Es ist hier unmöglich, die philosophische Diskussion über die Voraussetzungen und Bedingungen der Behauptung, dass ein Indiviuum im Lauf der Zeit seine personale Identität bewahrt, auch nur grob zu umreißen.12 Vereinfacht kann an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass in diesem Zusammenhang zwischen zwei grundlegenden Ansichten differenziert werden kann. Einerseits sind die Empiristen (in diesem Kontext auch als Reduktionisten zu bezeichnen13) zu beachten. Ausgehend von der Erkenntnis der physischen und mentalen Veränderungen, die Individuen im Verlaufe ihrer Existenz erleben,14 lehnen die Reduktionisten die Möglichkeit ab, von einer dauerhaften personalen Identität im engeren Sinne zu sprechen. Wenn nun aber keine personale Identität existiert, wäre das, was festgehalten werden kann, damit letztlich nicht mehr als eine gewisse Konnexität, gegebenenfalls auch eine reine Kontinuität15 aufeinanderfolgender mentaler Zustände, Phasen oder personaler Entwicklungsetappen.16 Allerdings zeigen im Rahmen dieser Kontinuität die Verbindungen zwischen den aufeinander folgenden Phasen Unbestimmtheiten und Abstufungen.17 2. Vor diesem Hintergrund erscheint es unerlässlich, im Zusammenhang mit der Zuordnung von Verantwortlichkeit zu einem Individuum für Vergangenes, wenigstens zwei Fragen zu stellen: 12 Merkel JZ 1999, S. 502 (505) verweist in Fn. 17 auf die nahezu unübersehbare Bibliographie der analytischen Philosophie zu dieser Thematik. Vgl. dazu auch Kawaguchi, FS-Eser, 2005, S. 139 ff. 13 Parfit, Reasons and Persons, 1984, passim, dabei insbesondere S. 199 ff. Auf weitere zeitgenössische Autoren wird verwiesen bei Dresser, B. U. L. Rev., No. 70 (1990), S. 395 ff., 408 Fn. 62; sowie auch bei Cruz, Las malas pasadas del pasado, 2005, S. 31 ff. Eine globale Kritik gegenüber den genannten Standpunkten wird herausgearbeitet durch Kobusch, Die Entdeckung der Person2 1997, S. 268 ff. 14 Vgl. Herrmann (Anm. 6), S. 14. 15 Zur Unterscheidung zwischen Verbindung und Kontinuität vgl. L. A. Locke (Anm. 4), S. 54 ff. 16 Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit den genannten Standpunkten bei Cuypers (Anm. 5), S. 571 ff.; auch die Bearbeitung durch Dresser (Anm. 13), S. 406 ff. 17 Vgl. Dresser (Anm. 13), S. 398 ff., 409.
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a) Ob es überhaupt legitim sein kann, einem Individuum S-2 Verantwortung zuzurechnen und Strafe aus dem Grund aufzuerlegen, das dieses (die „personale Phase“ S-2), der personalen Phase S-1 lediglich „nachfolgt“,18 von welcher die Straftat begangen wurde; und b) Falls dem so sein sollte, ab welchem Grad der Veränderung zwischen S-1 und S-2 davon gesprochen werden kann, dass – obgleich zwischen beiden eine gewisse Kontinuität besteht – ein Strafmilderungs- oder gar Strafausschließungsgrund anwendbar sein sollte. 3. Geht man von einem radikalen Standpunkt aus, könnte aus einer solchen Prämisse das Ergebnis folgen, dass die Möglichkeit der Verantwortlichkeit eines Subjekts für vergangene Taten sogar vollständig abzulehnen ist.19 Nichtsdestotrotz ist es allgemein eher dabei geblieben, eine solche Sichtweise auf ein Verständnis als reines Prinzip zu beschränken und sich doch zugleich auch pragmatischen Lösungen aufgeschlossen zu zeigen.20 Die Entscheidung, ob und inwiefern eine Verantwortlichkeit von S-2 für eine Tat von S-1 legitimiert werden kann,21 ist schlussendlich damit doch auf eine konventionelle (konstruktivistische) Zuschreibung zurückgeführt worden.22 4. Gegenüber dem empirischen Sektor nimmt der metaphysisch orientierte Standpunkt die These von der Existenz einer substantiellen personalen Identität auf, welche in der Dauerhaftigkeit der körperlichen und geistigen Komponente des Subjekts begründet sein soll.23 Dies meint wiederum weit mehr als nur eine zeitlich-räumliche oder auch lediglich mentale Kontinuität, sondern greift vielmehr auf eine essentielle Dauerhaftigkeit zurück. Nach diesem Verständnis ist die substantielle Identität niemals unbestimmt oder abstufbar, noch verschwindet sie bei psychologischen Brüchen oder Interessenveränderungen. Auch mögliche Modifikationen durch äußere Einflüsse beeinträchtigen die substantielle Identität hiernach nicht, da jedenfalls die Dauerhaftigkeit des Essentiellen fortbesteht.24 18
Vgl. dazu Herrmann (Anm. 6), S. 75 ff. Vgl. die Darstellung und Kritik bei dieses Standpunktes bei Parfit (Anm. 13), S. 324 f., der sich selbst einer „kompatibilistischen“ Position zuordnet. 20 Cruz, ¿A quién pertenece lo ocurrido?, 1995, S. 198 (201 ff.); ders., Hacerse cargo, 1999, S. 38. 21 Vgl. Inciarte, in: Anuario Filosófico de la Universidad de Navarra, 1993 (26), S. 289 (296). 22 Dies gilt z. B. für Cruz (Anm. 20), S. 201; in diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Herrmann (Anm. 6), S. 3; Bosch/Sayer (Anm. 9), S. 115, 119. Kritisch dazu Cuypers (Anm. 5), S. 579, 581 ff. 23 Cuypers (Anm. 5) S. 583, fasst den Inhalt dieser Position mit folgenden Worten zusammen: „Die Selbstidentität durch die Zeit hindurch ist [. . .] nichts anderes als der fortwährende Bestand der einfachen und unwandelbaren, seelischen Substanz. Diese Person heute ist genau dann dieselbe wie jene Person in der Vergangenheit oder in der Zukunft, wenn zwischen ihnen substantielle Identität besteht.“. 24 Vgl. Inciarte (Anm. 21), S. 293. 19
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Für diesen Standpunkt kann damit festgehalten werden, dass die Identität nicht näher durch pragmatische Konventionen geregelt werden muss, jedenfalls dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass sie Teil einer realistischen Ontologie bleibt.25 Es besteht damit keine Schwierigkeit, eine Verantwortlichkeit von S-2 für das von S-1 Begangene zu begründen. Das Problem dieser Sichtweise offenbart sich allerdings im Rahmen einer umgekehrten Herangehensweise: Davon ausgehend, dass die substantielle Identität unerlässliche Bedingung der Zurechnung ist, gilt dann tatsächlich auch, dass sie als hinreichende Bedingung dafür angesehen werden kann? Oder, um es allgemeiner zu fassen: Vorausgesetzt, Zurechnung erfordert tatsächlich Identität; kann man dann daraus schließen, dass Identität Zurechnung impliziert (nach dem Motto: Wenn es Identität gibt, muss es auch Zurechnung geben)?26 2. Elemente der Debatte 1. Den beiden dargestellten Standpunkten ist eigen, dass sie einen engen Parallelismus zu traditionellen – und durchaus auch aktuellen –Standpunkten zeigen, die einen wesentlichen Bestandteil der Diskussion über den Sinn von Freiheit im strafrechtlichen System darstellen. Dieser Parallelismus ist alles andere als zufällig, da Freiheit und personale Identität im Rahmen des strafrechtlichen Zurechnungsurteils streng verbunden sind. Die Feststellung von Freiheit (wobei noch offen bleiben kann, welche Bedeutung dieser konkret zukommt) im Straftäter (S-1) ist Voraussetzung des „historisch“ (oder vergangenheitsbezogen) begründeten Urteils über die Verantwortlichkeitszurechnung zu einem bestimmten Subjekt. Ganz konkret gefasst lässt sich dies dann zusammenfassen auf die Erkenntnis: „S-1 handelte schuldhaft“. 2. Die Feststellung der personalen Identität (wobei ebenfalls noch offen bleiben kann, welche Bedeutung dieser tatsächlich zukommt) zwischen dem Straftäter (S-1) und dem Subjekt, das dem Richterspruch unterliegt (S-2), ist zusätzliches Erfordernis des „gerichtlichen“ (oder gegenwärtigen) Urteils über die Zurechnung der Verantwortlichkeit und das Auferlegen einer Strafe für S-2.27 Mit anderen Worten gilt damit die Erkenntnis: „S-2 muss sich für das verantworten, was zu seiner Zeit durch S-1 getan wurde.“ Das gerichtliche Urteil, welches sich 25
Kritisch hierzu Cuypers (Anm. 5), S. 585. Als Ausgangspunkt ist selbstverständlich immer vorauszusetzen, dass in der Vergangenheit tatsächlich eine rechtswidrige, schuldhafte Tat durch den Täter verwirklicht wurde. 27 Die Struktur eines solchen Urteils ist die folgende: a) Das historische Subjekt X verwirklichte den Tatbestand in rechtswidrig schuldhafter Weise. b) Das heute angeklagte Subjekt ist identisch mit dem Subjekt X. c) Aus diesem Grund wird dem heute angeklagten Subjekt die rechtswidrig schuldhafte Tatbestandsverwirklichung zugerechnet und eine Strafe auferlegt. 26
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mit der Verantwortungszuschreibung und der Auferlegung einer Strafe befasst, erfordert, dass grundlegende Freiheit des historischen Subjekts und personale Identität zwischen diesem und dem Subjekt des Strafprozesses besteht.28 3. In diesem Zusammenhang scheint es vernünftig, dass sowohl bei der Frage nach der Freiheit als auch bei jener nach der personalen Identität diskutiert wird, ob wir es mit sozialen Konstruktionen zu tun haben, deren Inhalt und Reichweite im Hinblick darauf, variieren kann, welche Funktion sie im jeweiligen System einnehmen (für das Strafrecht bedeutet das: Normativierung beider Begriffe) oder aber um substantielle Realitäten, die auf einer ontologischen Ebene fortbestehen. 4. Wie bereits dargestellt wurde, könnte die reduktionistische Perspektive zu dem Schluss kommen, dass S-2 nicht in der Lage dazu ist, moralisch – und damit auch strafrechtlich – für das einzustehen, was durch S-1 getan wurde. Nichtsdestotrotz entspricht es der allgemeinen Ansicht, dass davon ausgegangen werden kann, dass eine relative Verbindung mentaler und körperlicher Art zwischen den „personalen Etappen“ der individuellen Entwicklung die Möglichkeit eröffnet, dass spätere „personale Phasen“ für Handlungen einer vorausgehenden personalen Etappe verantwortlich gemacht werden.29 Ein normativer Begriff der personalen Identität wird gebildet,30 welcher daraus hervorgeht, dass die Vorstellung von einer „Einheit des Lebens“ bestehend aus einem Aufeinanderfolgen personaler Phasen ebenfalls ein normatives (funktionales) Erfordernis menschlichen Zusammenlebens darstellt.31 Mit anderen Worten: Zugerechnet wird die personale Identität, auch wenn dies wiederum nicht ausschließt, dass dann, wenn sich die Verbindung von S-2 zu S-1 gelockert hat, eine Strafmilderung möglich ist, oder dann, wenn die Verbindung nur noch sehr schwach ist, gegebenenfalls sogar völlig auf eine Strafe verzichtet werden kann.32 28 Die Vorstellung, dass das Zurechnungsurteil auch ein „Identitätsurteil“ zwischen Straftäter und Strafverfahrenssubjekt beinhaltet, ist schon bei Adolf Merkel, Über „das gemeine deutsche Strafrecht“ von Hälschner und den Idealismus in der Strafrechtswissenschaft, in: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, 2. Hälfte, 1899, S. 429, 442 zu finden: „Das bist du“, „Erkenne dich wieder im Spiegel deiner Tat“. 29 Vgl. Herrmann (Anm. 6), S.110. 30 Herrmann (Anm. 6), S. 112. 31 Herrmann (Anm. 6), S. 154; Schulz, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, ARSP Beiheft 75, 2000, S. 175 ff., 191. Siehe auch Joel Feinberg, Harm to Self (The Moral Limits of The Criminal Law, vol. III), 1986, S. 83 f. 32 Vgl. Fields, The Philosophical Quarterly, Vol. 37, No. 149, Oct. 1987, S. 432 ff., 436. Hier kommentiert der Verfasser das Beispiel von Parfit (Anm. 13), S. 326: Ein Gewinner des Nobelpreises gesteht im Alter von 90 Jahren, dass er es war, der im Alter von 20 Jahren bei einer Alkoholkontrolle einen Polizisten verletzte. Gestanden wird dies von ihm nur, da er davon ausgeht, für seine Tat keine Strafe mehr verdient zu haben.
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5. Die Frage ist nun, ob dieser normative Begriff der personalen Identität, das wie gesehen absolut parallel zu dem normativen bzw. funktionalen Verständnis der Freiheit (und damit der Schuldfrage) verläuft, externen Einschränkungen unterliegt. Tatsächlich ist es nicht einsichtig, dass ein rein normativer Begriff personaler Identität, das durch Orientierungs- und Stabilisierungserfordernisse geprägt wird, sich hinsichtlich der Konstruktion einer personalen Identität auf einen bestimmten psychologisch-körperlichen Kontext beschränken sollte. Orientierungsund Stabilisierungserfordernisse könnten auch dazu führen, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines S-2, der Sohn des S-1 ist, dahingehend durchgesetzt werden sollte, diesen für die Straftaten des S-1 zur Rechenschaft zu ziehen. Argumentiert werden könnte in diesem Zusammenhang schließlich damit, dass wohl außer Frage stehen dürfte, dass zwischen Eltern und Kindern durchaus eine gewisse körperliche, mentale und soziale Kontinuität besteht.33 Der instinktive Widerspruch, der sich gegen einen solchen Ansatzpunkt im vernünftigen Leser regt, weist uns bereits darauf hin, dass auch hinsichtlich einer normativen Konstruktion personaler Identität einige externe Grenzen zu berücksichtigen sind. Es ist damit also so, dass hier, wie auch im Rahmen des Schuldbegriffs34 der normativierende Ansatz (dessen Existenz und Notwendigkeit gleichwohl unbestreitbar bleibt) Grenzen unterliegen soll. III. Personale Identität und strafrechtliche Verantwortlichkeit 1. Einführung 1. Zusammenfassend: Die herrschende Lehre fordert für die Formulierung eines Verantwortlichkeitsurteils eine individuelle (körperliche) Identität zwischen dem Täter der (Straftat-)Handlung und dem Subjekt der (Zurechnung der) Veranwortlichkeit. Eine solche Verantwortlichkeit, die sich auf die Strafwürdigkeit gründet, kann jedoch ohne die Feststellung der echten personalen Identität zwischen beiden Subjekten nicht überzeugend begründet werden. 2. Das Vorstehende ist an sich nicht weiter problematisch für jene, welche eine metaphysisch geprägte These von der personalen Identität als essentieller Identität akzeptieren. Wer einen solchen Ansatz jedoch ablehnt und darauf abstellt, dass es sich im Leben eines Menschen nur um eine Abfolge von physischen und mentalen Phasen handelt, wird das anders sehen. Zunächst ergibt sich daraus der Schluss auf eine Unverantwortlichkeit für das in der Vergangenheit Geschehene. Deswegen sehen sich die Vertreter der These der reinen Kontinuität dazu genö-
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Vgl. zu weiteren Beispielen Fields (Anm. 32), S. 438 f. Der Standpunkt von Jakobs (Anm. 3), S. 571, stellt deutlich heraus, dass die Vorstellung von Schuld einen Menschen voraussetzt, der sich als freies Wesen versteht und kein reines Zurechnungszentrum ist. 34
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tigt, durch die Konstruktion eines normativen Begriffs personaler Identität die Grundlage für das richterliche Zurechnungsurteil zu legen. 3. Dabei ergibt sich allerdings das Problem, dass es – wie generell bei den normativierenden Ansätzen – an der Möglichkeit fehlt, den funktionalen Erfordernissen wirksame Grenzen zu setzen. Dennoch werden von jenen, durch welche die normativistischen Ansätze gerade erst vorgetragen werden, gewisse externe Grenzen vorgeschlagen (der 2 ist für die Taten des 1 verantwortlich nur weil es jedenfalls um S geht!). Die Einführung eines essentialistischen Kriteriums der personalen Identität stellt uns grundsätzlich nicht vor derartige Schwierigkeiten. Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob eine Verantwortlichkeitszurechnung zu S-2 für das, was durch S-1 getan wurde, immerzu unerlässlich, ob sie auch wirklich immer gerecht und notwendig ist. 2. Wesentliche personale Identität schließt eine gewisse „Inidentität“ nicht aus 1. Die Vorstellung von personaler Identität schließt die Existenz einer gewissen ständigen Unstimmigkeit eines Menschen mit sich selbst nicht aus. Eine solche Missstimmigkeit mag indessen in manchen Momenten eher zu Tage treten als in anderen,35 was sich auch in Elementen der Alltagssprache wiederspiegelt. So benutzen wir die Redewendungen „ich bin nicht mehr derselbe wie früher“36 oder „ich habe mich geändert“ und sprechen zuweilen auch von einer „Identitätskrise“. Aber es gehört geradezu typisch zu einem Persönlichkeitsbegriff, dass die Person als offener Prozess und nicht etwa pauschal als abgeschlossener Zirkel verstanden wird. Ein Mensch verleiht seiner Persönlichkeit damit dadurch Ausdruck, dass er sich entwickelt und im Lauf der Zeit entfaltet. Aus diesem Grund ist „die Identität nicht perfekt und der Mensch muss lernen, mit dieser Beschränkung auf eine immerzu unzureichende Identität zu leben“.37 Die Historizität, die jedem Menschen eigen ist,38 macht die Existenz grundlegender Veränderungen 35 Vgl. Innerarity, Anuario Filosófico de la Universidad de Navarra 1993 -26-, S. 361 ff. Der Rückgriff auf den Begriff der „Inidentität“ als wesentliches Element einer endlichen Identität erscheint mir in diesem Zusammenhang vorzugswürdig gegenüber der Wortwahl von Bosch/Sayer (Anm. 9), S. 112 ff., 114, die von einem gewissen Gefühl der „Entfremdung“ in unseren alltäglichen Kontexten ausgehen, wenn wir einen Blick auf die Vergangenheit werden und uns unsere Fehler, unsere Meinungs- und Standpunktänderungen etc. vor Augen führen. 36 Für Feinberg (Anm. 31), S. 84, kann sich daraus eine ernsthafte Beschreibung der Situation und nicht nur eine reine Form des Ausdrucks ergeben. Nichtsdestotrotz soll weiterhin von einem Begriff der Identität gesprochen werden (S. 85). 37 Innerarity (Anm. 35), S. 362. Auch Cuypers (Anm. 5), 579 f. 38 Diese Elemente der Inidentität, die wiederum einer gewissen Konstanz unterliegen und die erkennen lassen, dass dem Menschen nicht eine einzige perfekte Identität zugrunde liegt, stimmen dabei mit den Elementen der Un-Freiheit überein, die wiederum zeigen, dass dem Menschen keine perfekte personale Freiheit zu eigen ist. Dies hängt
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feststellbar, und zwar zwischen dem Moment, in dem eine Straftat verwirklicht wurde und jenem, in dem ein Urteil gefällt und eine Strafe auferlegt wird. Es ist möglich, dass ein Straftäter vor dem Urteil verschiedenartige Bewusstseinsstörungen erleidet; oder er kann mittlerweile eine Bekehrung erleben; ebenso denkbar ist auch eine gewachsene Distanzierung von dem damals Geschehenen aufgrund der Zeitlauf usw. 2. All dies hat keinen Einfluss auf die personale Identität des Subjekts. Da sowohl Historizität (nicht zuletzt Sterblichkeit) und Sozialgebundenheit grundlegende Merkmale des Menschseins sind, stellen solcherlei Elemente der „Inidentität“ nicht tatsächliche „Brüche“ dar, sondern müssen sie schlichtweg einfach als Ausdruck menschlichen Seins anerkannt werden, als Bestandteile der personalen Verwirklichung. Die Analyse verläuft parallel zu jener, die mit der Idee der Freiheit zu tun hat. Die wesentlichen (äußeren und inneren) Bedingungen, die den personalen Freiheitsraum begrenzen, stehen nicht etwa im Widerspruch zu der Existenz der Freiheit, sondern bilden gerade erst den möglichen Rahmen für die (imperfekte) Freiheit eines sterblichen, historischen und sozialen Menschen. 3. Die normative Wertung der Dimension der Inidentität 1. Die Straftat kann als Gesamtheit der Elemente einer Verhaltensnormverletzung oder auch, vollständiger, als Gesamtheit der Voraussetzungen für die Anwendung der Sanktionsnorm aufgefasst werden.39 Vom ersten Standpunkt aus stellt sich die Straftat als schuldhaftes Unrecht eines historischen Täters dar, der Adressat der Verhaltensnorm ist. Vom zweiten Standpunkt aus enthält der Straftatbegriff noch darüber hinausgehende Elemente, zu welchen etwa die „Erklärung“ der Verhaltensnormverletzung zu zählen ist, sowie insbesondere auch Elemente, anhand welcher die Zurechnung der begangenen Tat zu dem gegenwärtigen Subjekt stattfinden kann. 2. Der Begriff der Straftat als schuldhaftes Unrecht ist streng materiell. Der Begriff der Straftat als Gesamtheit von Voraussetzungen für die Anwendung einer Sanktionsnorm hat dagegen eine juris-diktionelle Eigenart. Es handelt sich somit gewissermaßen um einen materiell-prozessrechtlichen Begriff.40 Dieses freilich gewiss mit dem Umstand zusammen, dass sowohl Identität als auch Freiheit sich in Gesellschaft und Geschichte (mitsamt Sterblichkeit und Kontingenz) gerade erst „zu verwirklichen pflegen“. 39 Dazu Silva Sánchez, in: ders., Normas y acciones en Derecho penal, 2003, S. 15 ff., 33 ff. 40 Pastor, in: Nuevas formulaciones en las ciencias penales, 2002, S. 793 ff., 798, 801, wobei die Untrennbarkeit des materiellen und des prozessualen Strafrechts hervorgehoben und auf die nicht geringe Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Bedingungen der Strafbarkeit und prozessualen Voraussetzungen verwiesen wird.
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Verständnis legt wiederum nahe, dass eine zeitliche Unterscheidung von wesentlicher Bedeutung ist. Die Straftat als Verletzung einer Verhaltensnorm findet zur Zeit der historischen Tat (t-1) statt. Die Straftat als Gesamtheit der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Sanktionsnorm findet dagegen erst im Augenblick der Urteilsverkündung statt (t-2). Deswegen setzt sie eine Kongruenz zwischen dem, was zum Zeitpunkt t-1 getan wurde und dem, was im Zeitpunkt t-2 abgeurteilt wird, voraus;41 genauso wie sie eine Kongruenz zwischen dem Täter, der die Tat zum Zeitpunkt t-1 beging und dem Subjekt, das bei t-2 beurteilt wird, voraussetzt. 3. Ein gewisser Grad an Inidentität – wie auch eine bedingte Freiheit – gehört zu dem Wesen menschlichen Lebens. Aber es kann Konstellationen geben, in welchen die Umstände, die das Verhalten des historischen Täters bei der Begehung der rechtswidrigen Tat bedingen, besonders schwerwiegend sind. Wie es auch Konstellationen geben kann, in welchen eine intensive und schwerwiegende Inidentität zwischen dem Straftäter und dem Subjekt des Strafverfahrens zu beobachten ist. Die normative Analyse der Bedingungen der Freiheit findet nun im Rahmen des Urteils über die Schuld des historischen Täters statt. Eine normative Analyse im Hinblick auf die personale Inidentität kann erst im Rahmen des Urteils über die Verantwortlichkeit des gegenwertigen Subjekts stattfinden. 4. Das Grundkriterium der normativen Analyse konkreter Freiheit, die dem historischen Urteil über die Schuld zugrunde liegt, ist die Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit des historischen Täters. Das Grundkriterium der normativen Analyse der konkreten Identität, die dem gegenwärtigen Urteil über die strafrechtliche Verantwortlichkeit zugrunde liegt, muss es nun sein, ob auch das gegenwärtige Subjekt ebenso wie auch der historische Täter strafwürdig und -bedürftig hinsichtlich der historischen Tat ist. Dabei gilt es folgende Fragen zu beantworten: Wie kann entschieden werden, ob der Grad der Inidentität von S in t-2 im Hinblick auf S in t-1 ausreichend ist, die Strafwürdigkeit des S in t-2 auszuschließen? Wie, vorausgesetzt es besteht eine solche Strafwürdigkeit, kann in diesem Zusammenhang der Strafbedürftigkeitsauschluß begründet werden? Und, sollten beide Merkmale gegeben sein, wie kann bestimmt werden, welche Abstufungen bezüglich des einen oder anderen Kriteriums vorgenommen werden sollen? Wichtig ist, dass derjenige, dem eine Strafe auferlegt wird, Subjekt bleibt, das auch tatsächlich versteht, was und wie ihm geschieht, insbesondere, dass sich die strafrechtliche Verantwortlichkeitszuschreibung als eine gegenwärtige sinnvolle Reaktion auf ein sinnvolles eigenes vergangenes Tun darstellt.42
41 Eingehend Silva Sánchez, in: Wolter/Freund (eds.), El sistema integral del Derecho penal, 2004, S. 15 ff., 20 f. 42 Jakobs (Anm. 3) S. 569: „Es genügt die Feststellung, dass ein Strafrecht, welches Schuld auf die kommunikative Seite des Verhaltens gründet, ebenso wie ein Strafrecht, das von einem normativen Schuldbegriff ausgeht, Straftaten als Äußerungen von Perso-
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5. Das Erfordernis, dass das Subjekt die Verantwortungszuschreibung als sinnhafte Reaktion auf eigenes Handeln begreift,43 kann durch kognitive Defizite beeinträchtigt werden, die im Strafverfahren auftreten können. Dies kann der Fall sein, wenn zwischen dem Moment der historischen Tat (in t-1) und dem Moment des Prozesses (in t-2) gravierende Krankheiten oder seelische Störungen aufgetreten sind. Exemplarisch zu nennen sind etwa Amnesie,44 die Alzheimerkrankheit etc. Diesem Phänomen wendet sich Lampe unter dem Begriff der Unzurechnungsfähigkeit zu, deren Vorliegen die Strafbarkeit des Subjekts ausschließen soll. Für Lampe entspricht dieser Begriff nicht dem Begriff der Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der Tatbegehung, sondern meint etwas anderes: „Unter Unzurechnungsfähigkeit verstehe ich nicht (i. S. des früheren Strafrechts) die mangelnde Schuldfähigkeit des Täters im Zeitpunkt der Tat, sondern seine Unfähigkeit, im Zeitpunkt der Zurechnung, d.i. während des Strafverfahrens, den Unrechtsgehalt seiner Tat einzusehen oder sich gegenüber seiner Beschuldigung sachgerecht zu verteidigen (,Verantwortungsfähigkeit‘). Der Begriff umfasst daher den materiellrechtlichen Aspekt dessen, was die h. L. heute fälschlich nur prozessual als ,Verhandlungsfähigkeit‘ versteht, nämlich dass dem Beschuldigen die Fähigkeit abgeht, seine Interessen vernünftig zu vertreten, seine Rechte zu wahren und seine Verteidigung in verständlicher und verständiger Weise zu führen“.45
Weiter führt er dazu aus: „Fehlt dem Urheber des Unrechts die erforderliche Einsichtsfähigkeit, um die Strafe als gerechte Sanktion zu erkennen, dann kann ihn die Strafe nicht erreichen, er ist passiv straf- bzw. verantwortungsunfähig.“
6. Entscheidend ist damit also nicht die Prozessfähigkeit. Jene kann vielmehr sicherlich als Folge desselben psychischen Phänomens fehlen, dies beispielsweise bei degenerativen Defekten, wie etwa der Alzheimerkrankheit oder auch anderen vergleichbaren neurologischen Pathologien. Es kann sich aber auch ganz anders verhalten: Ein schwerer Unfall, der eine akute Amnesie bezüglich des zum Zeitpunkt t-1 rechtswidrig und schuldhaft Verwirklichten zur Folge hat, muss keinesfalls zwingend gewährleisten, dass sich der Gedächtnisschwund auch tatsächlich so auswirkt, zum Zeitpunkt t-2 nicht sämtliche für die Prozessfähigkeit grundlegenden Erfordernisse wahrnehmen und die eigenen Interessen wirkungsvoll vertreten zu können. Nichtsdestotrotz stellt sich natürlich in diesen Konstellationen zugleich auch massiv die Frage, ob wirklich noch davon ausgegangen werden kann, dass eine Zurechnung von Verantwortlichkeit und damit letztlich auch Strafe tatsächlich noch als „verdient“ einzustufen ist. nen verstehen muss, denen ein Bewusstsein zugeschrieben wird, und zwar nicht nur zum Tatzeitpunkt, sondern auch zum Urteilszeitpunkt und in der Zeit der Strafvollstreckung.“. 43 Binding, Handbuch des Strafrechts I, 1885 (Neudruck 1991), S. 811: Das Subjekt „muss die Strafe als solche empfinden“. 44 Vgl. z. B. Candeub, 54 Ala. L. Rev. (2002–2003), S. 113 ff., 126–127. 45 Lampe, Strafphilosophie. Studien zur Strafgerechtigkeit, 1999, S. 221.
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7. Sogar als noch problematischer erweisen sich jene Fälle, bei welchen das Subjekt zwischen t-1 und t-2 absolut grundlegende Lebensveränderungen erfahren und durchgemacht hat. Die Umgangssprache nimmt auf derlei Konstellationen Bezug, indem Ausdrücke gebraucht werden, wie jener, dass „er nicht mehr derselbe“ ist.46 Eine solche fundamentale Veränderung in Lebenseinstellung kann verschiedenartigste Gründe haben, beispielsweise eine medizinisch-therapeutische Intervention,47 eine „Umprogrammierung“,48 oder aber auch eine religiöse oder ideologische Konversion,49 darüber hinaus gegebenenfalls auch den (externen) Wandel der Umstände, oder schlicht den (großen) Zeitverlauf. Angesichts solcher Umstände gibt es keinen Zweifel, dass die Strafbedürftigkeit unter spezialpräventiven Gesichtspunkten verringert wird oder sogar ganz verschwinden kann, da von dem zu beurteilenden Subjekt keinerlei Gefahr für die Zukunft ausgeht. Anders kann dies allerdings unter einem generalpräventiv ausgerichteten Blickwinkel aussehen. Die entscheidende Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob die Inidentität von S, die im Zeitpunkt t-2 im Verhältnis zu t-1 festgestellt wird,50 auch entscheidende Auswirkungen auf die Strafwürdigkeit haben kann.51 8. Wichtig ist in jedem Fall, dass diese Elemente der Inidentität, sofern sie die Frage der historischen Schuld unberührt lassen, die Grundlage eines normativen Urteils über Verantwortungsausschluss oder -milderung für S in t-2 bilden kön46
Vgl. Delgado, S. Cal. L. Rev. 50 (1977–1978), S. 215 ff. Delgado (Anm. 46), S. 216 berichtet den von einem chirurgischen Eingriff im Schädelbereich, durch den es möglich sein soll, ein Knochenstück zu entfernen, welches durch seinen Druck auf bestimmte Gehirnregionen dafür sorgt, die Gewaltneigung eines Menschen zu eliminieren. Zugleich hebt er allerdings auch die Möglichkeiten chemischer oder elektronischer Vorgehensweisen hervor (S. 217 f.). Bezeichnet werden diese Fälle von ihm als „organic rehabilitation“. 48 Es handelt sich dabei um Sachverhalte, in welchen S im Zeitpunkt t-1 im Zustand völliger Schuldfähigkeit eine Straftat beging, was auf eine „Gehirnwäsche“ durchgeführt beispielsweise von einer Sekte oder einer Terrororganisation zurückzuführen ist. Vgl. dazu Delgado, Minn. L. Rev. 63 (1978–1979), S. 1 ff., 9 f., 11 ff. Eine spätere „Deprogrammierung“ sorgt dafür, dass S sich zum Zeitpunkt t-2 von den damit zusammenhängenden Denk- und Handlungsweisen distanziert und wieder zu seinem vorhergehenden „normalen“ Zustand zurückgefunden hat. Eine erste Annäherung wird hierzu im Zusammenhang mit dem berühmten Fall der Patricia Hearst vorgeschlagen durch Lunde/Wilson, Criminal Law Bulletin Vol. 13, No. 5, September–October 1977, S. 341 ff. 49 Parfit (Anm. 13), S. 325; Cruz (Anm. 13), S. 50 ff. 50 Über die erfolgreich durchgeführte Resozialisierung als Element des Distanzierens vom „personalen Zustand“, welcher im Zeitpunkt der Straftatbegehung vorherrschte Delgado (Anm. 46), S. 257 ff., 259. Zur Folge haben kann dies, dass die eigentliche, intuitive Wirkung des Strafappells ebenfalls abhanden kommt, vgl. etwa Herrmann (Anm. 6), S. 99, 101. 51 Parfit (Anm. 13), S. 326, wagt sich jedenfalls lediglich insoweit voran anzuführen, dass „when some convict is now less closely connected to himself at the time of crime, he deserves less punishment. If the connections are very weak, he may deserve none“. 47
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nen. Der Ausdruck „Verantwortlichkeitsausschließungsgründe“ trifft diesen Gedanken recht passend. Aber es ist vielleicht sinnvoller, präziser von „Gründen des Auschlusses der Verantwortlichkeitszuschreibung im gerichtlichen Urteil“ zu sprechen. Die noch offene Frage ist, differenzieren zu können, in welchen der angespochenen Fälle es keine Strafwürdigkeit gibt, sowie auch, in welchen Konstellationen es an der spezial- bzw. generalpräventive Strafbedürftigkeit fehlt, sowie darüber hinaus auch, ob in einigen von denen besondere Formen der (einzelfallbezogenen) Nachsicht, eventuell sogar der Gnade angebracht sind.52 9. Festzustehen scheint in diesem Zusammenhang jedenfalls, dass die Verantwortlichkeit des prozessualen Subjekts für die historische Tat nichts ist, das einfach gerade so in seiner Gesamtheit leichthin „bestätigt“ oder „verneint“ werden kann, sondern sich durchaus auch verschiedenen graduellen Abstufungen zugänglich zeigt. Dies wiederum bedeutet, dass die Funktion des normativen Urteils, welches auf Grundlage der herausgearbeiteten Elemente der Inidentität ergeht, auch dazu zu führen kann, dass eine gemilderte Verantwortlichkeit des prozessualen Subjekts festzustellen ist.53 IV. Die systematische Verortung der Verantwortungsausschluss bzw. -milderung von S zum Zeitpunkt t-2 1. Einleitung 1. Wie bereits wiederholt herausgestellt wurde, ist das Auftreten von Merkmalen der Inidentität zwischen historischem Täter und prozessualem Subjekt ohne Einfluss auf die – tatsächlich vorhandene – historische schuldhafte Unrechtsverwirklichung. Im Gegenteil wird dadurch ausschließlich die Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung des prozessualen Subjekts für jenes historische schuldhafte Unrecht berührt. In kriminalpolitischer Hinsicht ist eine solche Betrachtungsweise im Rahmen des Schuldprinzips im weiteren Sinne zu verorten, jedenfalls insofern auf dieser Grundlage die strafrechtliche Instrumentalisierung des Subjekts verboten wird. Die offen bleibende Frage ist allerdings noch jene nach der richtigen Verortung dieses Problems im systematischen Verbrechensaufbau. Ein angemessener Bereich scheint der obskur-dunkle Strafbarkeitsbegriff anzubieten, in welchem all jene nach der historischen Tat eingetretenen Umstände seinen Ort finden können, die das Ob und das Wieviel der strafrechtlichen Verantwortlichkeitszurechnung beeinflussen.
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Vgl. zu dieser Debatte Dresser (Anm. 13), S. 422 f., 432 m.w. N. Über die Möglichkeit eingehender Strafabstufungen Herrmann (Anm. 6), S. 79 ff.; dazu auch L. A. Locke (Anm. 4), S. 58 ff., der auf Ausdrücke entschuldigenden Hintergrundes hinweist, wie etwa den, dass „jemand doch gerade erst 16 war, als er das getan hat“, oder auch „dass doch schon so viel Zeit vergangen ist, seit das passiert ist“. 53
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2. Der klassische Schuldbegriff, der sich allein auf die Analyse der historischen Tat beschränkt, stellt keinen angemessenen Platz für jene Diskussion. Ein eher dem funktionalen Schuldbegriff verpflichteter Ansatz scheint der Integration dieser Gedanken dagegen weit mehr zugänglich zu sein. Ein Modell wie das von Roxin vertretene, das zwischen Schuld und Verantwortlichkeit grundsätzlich unterscheidet, kann die hier vorgebrachten Gedanken wiederum im Rahmen des letzteren Merkmals verarbeiten. Es gilt allerdings auch generell zu bemerken, dass diese Lösungsansätze letztlich nicht in befriedigender Weise darzustellen vermögen, wie mit jenen Konstellationen umzugehen sein soll, in welchen es tatsächlich schlichtweg und ausschließlich an der Strafwürdigkeit fehlt. Ausserdem hat sich keine der genannten Lehren mit der hier vorgebrachten Problematik spezifisch auseinandergesetzt. 2. Eine prozessuale Lösung? 1. Manche der Fälle, in welchen sich das Problem der Inidentität von S in t-1 und S in t-2 stellt, erledigen sich traditionellerweise im Rahmen des Strafverfahrensrechts, dies namentlich dann, wenn es aufgrund der tatsächlichen Umstände bereits an der Prozessfähigkeit von S in t-2 fehlt. Die Prozesssfähigkeit, die gerade ein grundlegendes Erfordernis der strafrechtlichen Verfolgbarkeit des Geschehenen darstellt, setzt voraus, dass der zur Verantwortung Gezogene in der Lage dazu ist, seine Interessen vernünftig und sinnvoll wahrzunehmen, seine Verteidigung zu koordinieren, prozessuale Erklärungen abzugeben und aufzunehmen.54 Mit anderen Worten geht es schlichtweg darum, ob ein Mensch wirklich noch als „Subjekt“ eines Prozesses wahrgenommen wird und wahrgenommen werden kann, oder ob er etwa nur noch ein reines „Objekt“ des Geschehens im Gerichtssaal darstellt. Grundlegende Voraussetzung einer solchen Einstufung muss dabei zunächst sein, ob ein Mensch sich überhaupt an das erinnern kann, was geschehen ist und weswegen er zur Rechenschaft gezogen werden soll.55 Fehlen könnte es an diesem Merkmal namentlich in Fällen der Amnesie, sei sie nun einem Unfall oder einer Krankheit geschuldet, darüber hinaus aber auch angesichts all jener krankhaften Erscheinungsbilder, die auf die eine oder andere Weise besondere Auswirkung auf das Erinnerungsvermögen und die Bezugnahme des Individuums auf das in der Vergangenheit Geschehene und Verwirklichte haben.56 Des Weiteren ist von einem Fehlen der Prozessfähigkeit auszugehen, wenn das Subjekt nicht in der Lage dazu ist, die verschiedenen Vorwürfe, 54
Rath, GA 1997, S. 214 ff., 215. Rath (Anm. 54), S. 221, 227. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Merkel (Anm. 12) S. 509 ff. 56 Tatsächlich hat bereits Locke darauf hingewiesen, dass jene, die sich an ihrer Straftatbegehung nicht mehr erinnern, keine Strafe mehr verdienen, wenngleich dieser Standpunkt nicht gerade wenig Kritik hervorgerufen hat, vgl. Parfit (Anm. 13), S. 325 f. 55
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die ihm auf normativer Grundlage entgegengebracht werden, zu verstehen und nachzuvollziehen.57 2. Von unserem Standpunkt aus ist es sehr wichtig die Konstellationen, in welchen ohnehin die Prozessfähigkeit von S in t-2 abzulehnen wäre, von denen zu unterscheiden, in welchen solche Prozessfähigkeit behauptet werden könnte, aber die Fähigkeit von S in t-2, Anknüpfungspunkt von Zurechnung und Strafe zu sein, dagegen zu verneinen sein muss. Darüber hinaus ist insbesondere zu berücksichtigen, dass normative Urteile über die Inidentität eines Menschen, die sich auf kognitive Defizite gründet, wie gezeigt nicht lediglich pauschal mit einem „Ja“ oder „Nein“ hinsichtlich strafrechtlicher Verantwortlichkeit beantwortet werden müssen, sondern vielmehr graduellen Abstufungen zugänglich sind. Diesen Abstufungen aber kann man sich nicht von einer prozessualen Perspektive sondern nur von einem materiellen Standpunkt annähern, wozu Prozess und Urteil eher die notwendige Grundlage als die tatsächliche Grenze darstellen. 3. Daraus folgt: Ohne Strafprozess und entsprechendes Strafurteil dürfte es praktisch unmöglich sein, tatsächlich beurteilen zu können, ob und wie eine Inidentität des Subjekts in t-2 mit dem historischen Täter in solchem Ausmaß vorhanden ist, dass ein totaler Verantwortlichkeitsausschluss hinsichtlich des Prozesssubjekts angebracht ist, oder aber auch nur ein teilweiser Ausschluss im Raum stehen kann, oder aber wiederum doch die volle Verantwortlichkeit gegeben ist. Ausserdem: Ein Prozess ist unerlässlich dafür, erklären zu können, in welchem Maße die Schuld des historischen Täters vorliegt. Eine kommunikative Funktion, die auf keinen Fall unterschätzt werden sollte. 3. Noch einmal: Die Frage nach der Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit von S in t-2 1. Das Erfordernis der Identität zwischen dem Täter, welcher die Straftat begeht und dem Subjekt, das Richterspruch und Strafe entgegennimmt, findet seinen Grund darin, dass die Strafe etwas „kommuniziert“, dass sie also Sinn ausdrückt. Wenn der Strafe eine kontrafaktische, expressive oder auch symbolische Dimension inne wohnt, scheint es angemessen, dass sowohl der Bestrafte als auch die Gesellschaft diese nicht nur in ihrer Faktizität (als Schaden), sondern auch in ihrerm Geltungsanspruch (als verdientes Übel) auffassen können sollten. Die Zurechnung von Verantwortlichkeit und das Auferlegen von Strafe erfordern daher eine doppelte Sinnverbindung: Die (rechtswidrige und schuldhafte) historische Tat muss im gegenwärtigen Strafprozess noch immer als rechtswidrige und schuldhafte Tat wahrgenommen werden können. Auch der Täter, der rechtswidrig und schuldhaft handelte, muss sich daneben im gegenwärtigen Prozess noch
57
Rath (Anm. 54), S. 221, 227.
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immer als tatsächlich für das Geschehene gegenwärtig verantwortliches Subjekt wahrgenommen werden. 2. Das Problem der Verantwortlichkeit des gegenwärtigen Subjekts für das schuldhafte historische Unrecht lässt sich relativ leicht lösen, wenn man es allein unter dem Blickwinkel der positiven Generalprävention oder der Spezialprävention in Augenschein nimmt. So kann etwa davon ausgegangen werden, dass ein Zusammenkommen der Umstände dergestalt, dass zwischen dem gegenwärtigen Subjekt und dem historischen Täter eine grundlegende Verbindungskappung besteht, den Schluss zulässt, auch keine Notwendigkeit mehr dafür zu sehen, (positiv) generalpräventiv zu strafen. Ein solcher Strafausschluss unter Rückgriff auf generalpräventive Erwägungen lässt sich auch absolut damit vereinbaren, davon auszugehen, dass die Strafwürdigkeit vollständig im (historischen) schuldhaften Unrecht zu sehen ist, so dass die weiteren Faktoren mit Einfluss auf die Zurechnung von Strafe allein noch auf Erwägungen der fehlenden Strafbedürftigkeit antworten müssen. Diese Sichtweise unterliegt schließlich wenigen Veränderungen, wenn die Umstände, welche die Trennung des gegenwärtigen Subjekts im Hinblick auf den historischen Täter begründen, den Schluss zulassen, dass gar keine Gefahr mehr besteht und daher auch eine spezialpräventive Strafbedürftigkeit entfällt. Gegebenenfalls mag das noch nicht zu einem völligen Strafausschluss führen, zumindest aber zu einer Strafmilderung, eventuell sogar zur Angemessenheit von Gnadeinstrumenten. All das bedeutet aber, eine Diskussion zu führen, die jenseits der Frage stattfindet, ob tatsächlich S in t-2 eine Strafe konkret verdient. 3. Es scheint aber, dass das Problem der Verantwortlichkeit des gegenwärtigen Subjekts für das historisch schuldhafte Unrecht in manchen Fällen den Rahmen der reinen Strafbedürftigkeitserwägungen sprengt. In diesen Konstellationen, deren Existenz jedenfalls nicht pauschal von vornherein ausgeschlossen werden kann, erschiene eine Strafe ungerecht, dies selbst dann, wenn sie unter rein sozialen Gesichtspunkten vielleicht sinnvoll begründet werden könnte. Der Grund für die Ungerechtigkeit läge darin, dem Subjekt keine Strafe aufzubürden, die es als Subjekt tatsächlich verdient hat, sondern vielmehr ihm als Objekt einer Zurechnung in gewissermaßen manipulierender Weise eine Strafe auferlegen.58 4. Wäre das Vorstehende richtig, könnte daran festgehalten werden, dass die Strafwürdigkeit in manchen Fällen Elemente erfordert, die über die historische schuldhafte Unrechtsverwirklichung hinausgehen. Konkret ging es dabei darum, dass zwischen dem Täter des historischen schuldhaften Unrechts und dem Subjekt des Prozesses keine gravierenden Inidentitätsmerkmale bestehen dürfen. Die personale Identität würde nämlich, ebenso wie auch die menschliche Freiheit, ein unverzichtbares Merkmal der Strafwürdigkeit darstellen. 58
Etwas, was nah an den Bereich der Rache heranrückt.
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5. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es nicht einfach sein dürfte, richtig zwischen den Fällen des Fehlens der Strafwürdigkeit und jenen zu unterscheiden, in welchen es einfach nur keine Strafbedürftigkeit oder aber nur die eine oder die andere in abgeschwächter Form gibt. Einerseits liegt dies daran, dass die Merkmale des Fehlens der Strafwürdigkeit und der Strafbedürftigkeit regelmäßig Hand in Hand gehen. Darüber hinaus gilt aber auch, dass die Abstufungsgrade, wann aufgrund einer Inidentität gänzlich von einer Strafe abgesehen oder eine solche nur dem Maß nach gemildert werden sollte, sicherlich diskutabel sind. Die Notwendigkeit einer sinnvollen Systematisierung, parallel etwa zu der hinsichtlich der Frage der Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld stattgefundenen, ist in dieser Hinsicht freilich offensichtlich. Festgehalten werden kann schlussendlich bereits an dieser Stelle jedenfalls, dass eine Verantwortungszuschreibung trotz (massiven) Vorliegens von Merkmalen der Inidentität eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (im weiteren Sinne) darstellt. Indem dergestalt die menschliche Freiheit übermäßig beschnitten würde, wäre ein gravierender Verstoß gegen das Grundrecht auf Freiheit zu beklagen59. Damit komme ich zum Ende. Ich glaube, ich habe nicht nach den Sternen greifen, sondern einen bescheidenen Beitrag zur Erklärung einer Einzelfrage leisten wollen60. Damit möchte ich jedenfalls der lieben Kollegin Ingeborg Puppe, ihre Verehrung bezeugen. Ad multos annos!
59 Für die geleistete Hilfe bei der Übersetzung der spanischen Fassung dieses Texts bedanke ich mich sehr herzlich bei Herrn Ingo Bott. 60 Ingeborg Puppe GA 1999, S. 409 ff., 414.
Systematisierung der Strafzumessung Von Bernd-Rüdeger Sonnen Ingeborg Puppe, der dieser Beitrag gewidmet ist, hat sich wissenschaftlich vertiefend mit der Konkurrenzlehre1 und mit den verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsfaktoren2, also mit grundlegenden Fragen des Rechts der Straftatfolgen beschäftigt. Abgesehen von den Formen des Sanktionsverzichts bzw. der prozessualen Sanktionierung in den §§ 153, 153a StPO bilden die Konkurrenzen in ihrer neben der Klarstellungs- hier bedeutsamen Strafzumessungsfunktion die Verbindungslinie („Nahtstelle“) bzw. die „Drehscheibe“ von den Straftatvoraussetzungen zu den Straftatfolgen. Probleme können sich dabei für die Strafzumessung bei mehreren Gesetzesverletzungen durch denselben Täter ergeben. Zu klären ist die Frage, ob eine unechte (Gesetzes-) oder eine echte Konkurrenz in Form der Ideal- (Tateinheit) bzw. der Realkonkurrenz (Tatmehrheit) vorliegt. Es geht um die Bestimmung des konkret anzuwendenden Strafrahmens (bei Gesetzes- oder Idealkonkurrenz) bzw. im Fall der Realkonkurrenz um den Gesamtstrafrahmen, der nach Festsetzung der Einzelstrafen in einem weiteren selbständigen Schritt gemäß § 54 StGB zu bilden ist. Für die Systematisierung des Strafzumessungsvorgangs ergibt sich daraus, dass die Bestimmung des anwendbaren Strafrahmens an die erste Stelle gehört. I. Strafrahmen Zu klären ist die Frage, ob der Normalstrafrahmen oder ein Sonderstrafrahmen in Betracht kommt. Ausgangspunkt ist der Strafrahmen des verletzten Gesetzes oder bei mehreren tateinheitlich begangenen Gesetzesverletzungen das Gesetz mit der angedroht schwersten Strafe. Bei Tatmehrheit muss zunächst ebenfalls für jede Straftat eine Einzelstrafe festgesetzt werden, ehe über die Einsatzstrafe (höchste Einzelstrafe) gemäß § 54 ein Sonderstrafrahmen zu bilden ist, aus dem dann durch die zusammenfassende Würdigung der Person des Täters und der einzelnen Straftaten eine Gesamtstrafe verhängt wird. Empirisch belegt ist, dass die 1 Zuletzt Puppe, NK-StGB, Vor § 52 (2010) unter Hinweis auf dies., Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen, 1979; dies., Funktion und Konstitution der ungleichen Idealkonkurrenz, GA 1982, 143; dies., Die Erfolgseinheit als Idealkonkurrenz, in: FS-Mangakis (1999), S. 255. 2 Puppe, Die verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsgründe, in: FS-Spendel (1992), S. 451.
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Erhöhung der Einsatzstrafe bis etwa zur Hälfte der Summen der Einzelstrafen erfolgt und sich damit offensichtlich an informellen rechnerischen und damit unzulässigen Formeln orientiert.3 Beschränkt man sich (deswegen) auf die Bildung einer Einzelstrafe, so können sich Strafrahmenänderungen aus den fakultativen Möglichkeiten der Strafschärfung oder Strafmilderung aus dem Allgemeinen und Besonderen Teil des StGB ergeben oder aus Bestimmungen eines besonders schweren oder minder schweren Falles. Ein anschauliches Beispiel dafür bieten die Strafzumessungsnormen im Fall des Totschlags. Der Normalstrafrahmen reicht von fünf bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe (§ 212 Abs. 1). Im (unbenannten) besonders schweren Fall ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen (§ 212 Abs. 2). Im minder schweren Fall des Totschlags beträgt die Freiheitsstrafe ein Jahr bis zu zehn Jahren (§ 213). Dabei ist zwischen dem benannten („zum Zorn gereizt und . . . zur Tat hingerissen“) und dem unbenannten minder schweren Fall zu unterscheiden („sonst“). Hinzu kommen die (deliktsunabhängigen) gesetzlich vertypten Strafmilderungsgründe, die auf § 49 Abs. 1 verweisen und entweder obligatorisch wie z. B. im Fall der Beihilfe (§ 27 Abs. 2) oder fakultativ wie z. B. im Fall der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) oder des Versuchs (§ 23 Abs. 2) sind. Zur notwendigen Systematisierung der Strafrahmenänderungsgründe kann auf eine neuere Entscheidung des BGH Bezug genommen werden. Die Schwurgerichtskammer des LG Chemnitz hatte die Tötung des Ehemannes durch die Angeklagte als „sonst“ minder schweren Fall des Totschlags gewürdigt und dabei zahlreiche Milderungsgründe berücksichtigt (erheblich verminderte Schuldfähigkeit, nicht vorbestraft, nur bedingter Vorsatz, vorausgegangene verbale und körperliche Auseinandersetzung im beiderseits stark alkoholisierten Zustand der Eheleute). Der BGH hat im Beschluss vom 7.1.20084 die Strafrahmenwahl beanstandet und das Urteil aufgehoben: Eine vorrangige Prüfung des benannten minder schweren Falles des § 213 (1. Modalität) sei unerlässlich, eine weitere Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 wäre dann nicht verwehrt. Aber auch im Fall der 2. Modalität hätten im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung zunächst allgemeine Milderungsgründe unter Ausklammerung der vertypten Strafmilderungsregeln erörtert werden sollen. Führe diese Prüfung bereits zur Annahme eines minder schweren Falles, dann könne (§§ 21, 23 Abs. 2) oder müsse (§ 27 Abs 2) der so gefundene Strafrahmen nochmals über § 49 Abs. 1 gemildert werden, ohne dass das Doppelverwertungsverbot des § 50 entgegenstehe.
3 Schott, Gesetzliche Strafrahmen und ihre tatrichterliche Handhabung (2004), S. 292. 4 BGH StraFo 2008, 173.
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Aus dieser folgerichtigen Argumentation ergibt sich für die vom Normalstrafrahmen abweichende Strafrahmenbestimmung als systematische Prüfungsreihenfolge: – benannte obligatorische Strafänderungsgründe (wie §§ 27 Abs. 2, 28 Abs. 1, 30 Abs. 1), – (unbenannte) besonders schwere oder minder schwere Fälle (wie §§ 212 Abs. 2, 243 – Regelbeispiele – einerseits und 213 („sonst“), 249 Abs. 2 andererseits), – benannte fakultative Strafänderungsgründe (wie §§ 13 Abs. 2, 17, 21, 23 Abs. 2, 46a). II. Strafzumessung im engeren Sinn Nach der Bestimmung des anwendbaren Strafrahmens folgen im Strafbemessungsvorgang nach allgemeiner Auffassung noch zwei weitere Schritte, nämlich die Festsetzung der konkreten Höhe der Strafe (Strafzumessung im engeren Sinn) und anschließend die Entscheidung über Strafart und Folgefragen wie z. B. über die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung oder die Höhe des Tagessatzes im Fall der Verurteilung zu Geldstrafe (Strafzumessung im weiteren Sinn). Die insgesamt drei Schritte der Strafbemessung skizzieren freilich nur die formale Vorgehensweise, materiell richten sich die Entscheidungskriterien nach dem Normprogramm des § 46 Abs. 1. Danach ist die Schuld des Täters die Grundlage für die Strafzumessung. Zu berücksichtigen sind aber auch die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind. Schuld und Prävention sowie ihr Verhältnis zueinander sind also ebenso bei der Straffrage (nach den Straftatfolgen) wie bei der Schuldfrage (nach den Straftatvoraussetzungen) von entscheidender Bedeutung. Versteht man „Schuld“ im Sinne von § 46 Abs. 1 als Strafzumessungsschuld im Gegensatz zur Strafbegründungsschuld, ist hinsichtlich der Zielsetzung (mit der Frage nach Sinn und Zweck) auf das Verhältnis zwischen Straftheorien und Strafbemessungstheorien einzugehen. Sieht man mit der absoluten Theorie den Sinn der Strafe im Schuldausgleich im Sinne der Vergeltung, orientiert sich eine gerechte Strafzumessung ausschließlich an den aus dem Schuldprinzip abgeleiteten Zumessungsfaktoren. Es geht um eine Wertangleichung der Strafe an die Straftat, präventive Gesichtspunkte sind nicht zu berücksichtigen,5 um den Täter nicht als Mittel zum Zweck zu instrumentalisieren. Verfolgt man dagegen mit den relativen Straftheorien den Strafzweck der (Individual- oder General-)Prävention, erlangt dieser eine Vorrangstellung und die Tatschuld bildet nur das Höchstmaß der Strafe. Im Alternativent5
Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil (1997), S. 578.
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wurf (AE-StGB, Allgemeiner Teil) hieß es in § 2 Abs. 2, dass die Strafe das Maß der Tatschuld nicht überschreiten dürfe, und in § 59 Abs. 2, dass das durch die Tatschuld bestimmte Maß nur insoweit auszuschöpfen sei, wie es die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft oder der Schutz der Rechtsgüter erfordere. Trennt man ausgehend vom funktionalen Schuldbegriff dagegen nicht zwischen Prävention und Schuld und setzt Schuld mit dem generalpräventiven Bedarf gleich, folgt daraus als Strafzumessungstheorie, dass die Strafe schuldangemessen und gerecht ist, die den Strafbedürfnissen der Allgemeinheit entspricht, also aus positiv-generalpräventiven Gründen erforderlich ist.6 Die genannten Strafzumessungstheorien des Schuldausgleichs, des Schuldüberschreitungsverbots und der generalpräventiven Erforderlichkeit entsprechen dem Normprogramm zur Strafzumessung in § 46 Abs. 1 jeweils nur zum Teil. Rechtsprechung und große Teile der Literatur orientieren sich deshalb straftheoretisch an der Vereinigungstheorie und leiten von ihr für die Strafzumessung die Schuldrahmen- bzw. die Spielraumtheorie ab. Vorrang hat die Schuld, für die im weiten Strafrahmen ein engerer Schuldrahmen zu finden ist, der durch die schon und die noch schuldangemessene Strafe abgesteckt wird. Innerhalb des so entstandenen Spielraums werden dann die konkrete Strafhöhe und eventuelle Folgeentscheidungen unter präventiven Aspekten bestimmt. Alle Entscheidungen, die sich in dem Schuldrahmen bewegen, gelten als schuldangemessen und sind revisionsrechtlich nicht überprüfbar, weil und solange sich der Tatrichter nicht „in der Oktave“ vergriffen hat.7 Kritiker sehen deswegen in der Spielraumtheorie keine Strafzumessungstheorie, sondern nur eine Theorie zur Begrenzung der Revisibilität tatrichterlicher Strafzumessung.8 Wenn Hörnle sich gegen die Berücksichtigung präventiver Strafzumessungserwägungen innerhalb der Schuldrahmentheorie mit dem Argument wendet, die Richterinnen und Richter seien tief verwurzelt distanziert gegenüber sozialwissenschaftlichen Unterwanderungsbefunden speziell gegenüber empirisch gesicherten Erkenntnissen der kriminologischen Sanktionsforschung, ist ihr in der Analyse sicher Recht zu geben, in den Konsequenzen freilich nicht, liegen doch in der Herausforderung für eine veränderte kriminologische Aus-, Fort- und interdisziplinäre Weiterbildung zugleich Chancen für eine rationalere, gleichmäßigere und damit gerechtere Strafzumessungspraxis. Strafe soll gerechter Schuldausgleich sein, hat aber nach Ansicht des BGH „nicht die Aufgabe, Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben, sondern (ist) nur gerechtfertigt, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung
6
Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 14. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung4 (2008), Rn. 464. 8 Albrecht, Hans-Jörg, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität (1994), S. 41; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 35. 7
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der präventiven Schutzaufgabe erweist“.9 Aus dieser Entscheidung folgt ebenso wie aus den Möglichkeiten eines Sanktionenverzichts bzw. einer prozessualen Sanktionierung nach den §§ 153, 153a StPO, dass eine Unterschreitung des Schuldrahmens zulässig ist. Nach Klärung der Bedeutung von Schuld und Prävention für Straftheorie und Strafzumessungstheorie und der hier vertretenen modifizierten Schuldrahmentheorie (mit der Möglichkeit einer Schuldunterschreitung aus präventiven Gründen) ist für die Systematisierung des Strafzumessungsvorganges der Begriff der Strafzumessungsschuld zu präzisieren. In Kurzform bezieht sich die Grundlagenformel in § 46 Abs. 1 S. 1 auf die Schwere der Tat, die persönliche Schuld des Täters und die Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung.10 Die Bedeutung der Tat im Tatstrafrecht, die Vorwerfbarkeit der Tat und der Schweregrad signalisieren eine notwendige Orientierung der Strafbemessung am System der Straftat. Es geht um die Quantifizierung sowohl des Unrechtszusammenhangs als auch des Schuldgehalts der Tat und ihre abschließende zusammenfassende Bewertung. Dafür sind die in § 46 Abs. 2 aufgezählten Strafzumessungsfaktoren wenig hilfreich. Sie entbehren einer Systematik und legen einen Bemessungsvorgang nach dem Schema „für den Angeklagten sprechen . . ., dagegen waren straferschwerend zu berücksichtigen . . . Die Strafe ist erforderlich, aber auch ausreichend“ nahe. Unklar bleibt auch, welche Faktoren zur Schuld und welche zur Prävention zählen. Überzeugender ist es deswegen, ein Strafzumessungssystem zu entwickeln, das sich an die Wertungsstufen der Straftat (objektive und subjektive Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld) anlehnt, nicht mit der Frage nach dem „ob“, sondern nach dem „wie schwer“. Eine an der Praxis, freilich nicht so klar an den Wertungsstufen der Straftat, orientierte Gliederung des Strafzumessungsvorgangs findet sich bei Schäfer11: I. Eigentliche Tatbestandsverwirklichung 1. Erfolgsunrecht – tatbestandsmäßige Rechtsgutsverletzung a) Art und Ausmaß b) Modifikationen – Mitverursachung – Wiedergutmachung 2. Handlungsunrecht – Tatbegehung a) Subjektive Seite – „Psychische Faktoren“ – Beweggründe und Ziele – Gesinnung, die aus der Tat spricht 9
BGHSt 24, 40, 42. Kindhäuser, LPK-StGB4 (2010), § 46 Rn. 1; ausführlich Streng, NK-StGB (2010), § 46 Rn. 22. 11 Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 7), Rn. 634. 10
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– Aufgewendeter Wille („Kriminelle Energie“; Gruppendynamik), Schuldfähigkeit b) objektive Seite – Maß der Pflichtwidrigkeit – Art der Tatausführung II. Geschehen vor und nach der Tat 1. Erfolgsunrecht – außertatbestandsmäßige Folgen der Tat a) Normerfasst („verschuldete“ Tatfolgen) b) Nicht normerfasst 2. Handlungsunrecht – Vor- und Nachtatverhalten – Indizkonstruktion a) Vortatverhalten – Sozial nützliche Lebensführung – Vortaten – einschlägige? – Warneffekte – Vorstrafen, frühere Verfahren b) Nachtatverhalten – Soziale Stabilisierung – Prozessverhalten •
Reue, Einsicht, Geständnis
•
Aufklärungshilfe
•
fehlende Einsicht
– Bemühen um Opferausgleich – Schadensvertiefung – Neue Straftaten Schäfer empfiehlt, bei jeder Prüfung der Strafzumessungsschuld das Gliederungsschema im konkreten Fall zugrunde zu legen. Angesprochen werden alle maßgeblichen Strafzumessungsfaktoren, doch vermag die Zweiteilung in Erfolgs- und Handlungsunwert systematisch nicht recht zu überzeugen, weil zwar Schuldaspekte genannt, in ihrer Bedeutung aber nicht schwerpunktmäßig hervorgehoben werden. Auch bekommen Vor- und Nachtatverhalten ein zu starkes Gewicht. Überzeugender ist es deswegen, die Systematik der Strafzumessung wie folgt stärker am Straftatsystem zu orientieren:
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Anwendbarer Strafrahmen
Strafzumessung i. e. S.
SCHULDFRAGE („ob“?)
STRAFFRAGE („wie schwer“?)
Straftatvoraussetzungen
Straftatfolgen
I. TATBESTANDSMÄSSIGKEIT
UNRECHTSGEHALT
– objektiv
– Erfolgsunrecht – Handlungsunrecht – tatbezogen
– subjektiv
– täterbezogen
II. RECHTSWIDRIGKEIT
– Nähe zur Rechtfertigung
III. SCHULD
SCHULDGEHALT (bezogen auf das verwirklichte Unrecht) – Tatsituation – Ausmaß der Vorwerfbarkeit
KONKURRENZEN SANKTIONSVERZICHT proz. SANKTIONIERUNG
Strafzumessung i. w. S. PRÄVENTION und FOLGEENTSCHEIDUNGEN
Während Schäfer die in § 46 Abs. 2 genannten beispielhaften („namentlich“) Strafzumessungsfaktoren in sein Gliederungsschema ausdrücklich einordnet, müssen sie in dem hier vertretenen System noch zugeordnet werden. Die „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ gehören wie ein mögliches Mitverschulden des Verletzten sowie die Nähe zu Rechtfertigungsgründen zum Erfolgsunrecht. Die „Art der Ausführung“ betrifft das tatbezogene Handlungsunrecht, während die „Ziele des Täters“ und „der bei der Tat aufgewendete Wille“ sowie – bei Fahrlässigkeitstaten – „das Maß der Pflichtwidrigkeit“ zum personalen Handlungsunrecht gehören. Die „Beweggründe“ und die „Gesinnung, die aus der Tat
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spricht“ sind Kriterien für die Bewertung der Tatmotivation. Vor- und Nachtatverhalten („das Vorleben des Täters“, sein Verhalten nach der Tat) sind nicht nur als Präventionsaspekte von Bedeutung, sondern schuldrelevant, wenn sie einen Rückschluss im Sinne einer Indizwirkung auf den Unrechts- oder Schuldgehalt erlauben.12 Weil die Aufzählung in § 46 Abs. 2 nicht abschließend ist, muss zunächst nach weiteren ungenannten Zumessungsgründen gefragt werden, ehe Bewertungsrichtung und Schweregrad festzustellen sind, um in einem dritten Schritt nach abschließender Bewertung den Schuldrahmen zu bestimmen. Das Gewicht der einzelnen Strafzumessungstatsachen und ihr Verhältnis zueinander sind aber zu unbestimmt, um Ungleichmäßigkeiten in der Strafzumessung zu vermeiden. Da nach der BGH-Rechtsprechung auch die Grenzen des Schuldrahmens im Urteil nicht genannt werden müssen, bleibt als grundsätzliches Problem, einen Einstieg als Bezugspunkt einer Bewertung der Strafzumessungsschuld innerhalb des Strafrahmens zu finden. Hilfreich ist es, sich die Strafrahmen als kontinuierliche Schwereskala mit den Eckpunkten des denkbar schwersten und des denkbar leichtesten Falles vorzustellen. Das Problem liegt dann in der Einordnung der „mittleren“ Schwere. Beispielsweise heißt es in einem vom BGH aufgehobenen Urteil: „Die im Rahmen der Gesamtabwägung nach § 213 bedeutsamen Umstände sind nochmals im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinn abzuwägen. In Anbetracht der Vielzahl der für den Angeklagten sprechenden Umstände hielt die Kammer eine Strafe unterhalb der Mitte des zur Verfügung stehenden Strafrahmens von fünf Jahren für tat- und schuldangemessen, aber auch im Hinblick auf die Folgen für erforderlich“. Der BGH hat dieses Urteil mit der Begründung aufgehoben, dass der Tatrichter die im Einzelfall zu beurteilende Tat in Ansehung aller strafzumessungsrelevanten Umstände „ohne Bindung an weitere Fixpunkte als die Ober- und Untergrenze des Strafrahmens“ einordnen müsse.13 Er wendet sich damit in ständiger Rechtsprechung gegen jedes mathematisierte Verfahren der Strafzumessung.14 Stattdessen orientiert sich der BGH am statistischen Regelfall statt am rechnerischen Durchschnittsfall.15 Damit fließen empirische Erkenntnisse in die Strafzumessungsentscheidung ein, z. B. dass die „Einstiegsstelle“ des statistischen Regelfalles im unteren Drittel des Strafrahmens liegt.16 Da die Strafzumessungsschuld nur Grundlage ist und die Wirkungen zu berücksichtigen sind, wird das hier vorgestellte System der Strafzumessung § 46 Abs. 1 am besten gerecht. 12 13 14 15 16
Streng, ZStW 101 (1989), 273, 326 f. BGH NStZ-RR 2010, 75. BGH StV 2008, 175 f.; NStZ-RR 2009, 200; NStZ-RR 2003, 295. BGHSt 34, 355, 359 f.; 27, 2. Meier, Strafrechtliche Sanktionen2 (2006), S. 200.
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III. Strafzumessung im weiteren Sinn Über die sowohl auf die Täterpersönlichkeit als auch auf die Allgemeinheit bezogene Wirkungsprognose fließen empirisch gesicherte Erkenntnisse der kriminologischen Sanktionsforschung in die konkrete Strafzumessungsentscheidung ein. Die Wirkungen unterschiedlicher Strafhöhen sind miteinander zu vergleichen und auf die Zielerreichung hin zu überprüfen. Dabei hat Giehring17 die Voraussetzungen herausgearbeitet, unter denen wegen positiver Wirkung auf die Allgemeinheit die Verhängung einer im Vergleich mit anderen schwereren Strafen zulässig sein kann: „Es müssen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, die nicht von bedeutenden Fachkreisen der Kriminologie bestritten werden, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zusätzliche positive sozialpsychologische Wirkungen zu erwarten sein. Fehlen also aufgrund wissenschaftlicher Kontroversen verwertbare Erfahrungssätze oder ist es aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes deutlich überwiegend wahrscheinlich (das Gegenteil also nicht im oben bezeichneten Sinne hinreichend wahrscheinlich), dass mit der mildesten Sanktionierung die angestrebten Ziele im gleichen Maße erreicht werden, so muss die weniger eingriffsintensive Sanktion gewählt werden, wenn sie gesetzlich zulässig ist.“ Eine so konsequente Folgenorientierung sollte dann zu einer rational begründeten, berechenbaren und damit gerechteren Strafzumessung führen. Insoweit ist die Systematisierung der Strafzumessung ein anschauliches Beispiel für eine (von mir sog.) Doppelintegration sowohl von Theorie und Praxis als auch von Strafrecht und Kriminologie. Auch für die Strafzumessung gilt, was das Bundesverfassungsgericht18 zum (Jugend-)Strafvollzug ausgeführt hat, wenn es verlangt, „das in der . . . Praxis verfügbare Erfahrungswissen auszuschöpfen und sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu orientieren“.19 Dazu gehöre die Bewertung der Erfolge und Misserfolge, insbesondere der Rückfallwahrscheinlichkeiten sowie die Erforschung der hierfür verantwortlichen Faktoren. „Solche Daten dienen wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisgewinnung sowie einer öffentlichen Diskussion, die die Suche nach besten Lösungen anspornt und demokratische Verantwortung geltend zu machen erlaubt.“20
17 Giehring, Ungleichheiten in der Strafzumessungspraxis und die Strafzumessungslehre (1989), in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.): Strafzumessung. Empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog, S. 77, 110. 18 BVerfGE 116, 69 ff. = NJW 2006, 2093 ff. = ZJJ 2006, 193 ff. 19 BVerfG NJW 2006, 2093, 2097. 20 BVerfG a. a. O.
Einverständliche Fremdgefährdung bei fahrlässigem Verhalten Von Günter Stratenwerth Eines der Themen, die Ingeborg Puppe in ihren souveränen Beiträgen zum Nomos-Kommentar mit der ihr eigenen Entschiedenheit behandelt hat, ist „die Freiheit zur Selbstgefährdung als Ausschlussgrund für Mitverantwortung“, mit dem Kernsatz, dass „weder die Beteiligung an der Selbstgefährdung noch die einverständliche Fremdgefährdung sorgfaltswidrig“ sei1. Inzwischen hat sich der BGH in einem neueren Urteil gegenteilig zu dieser Frage geäußert2, und Roxin hat ihm in einer längeren Besprechung im Wesentlichen zugestimmt3. Das mag genügend Anlass für den Versuch sein, in der verworrenen, kaum noch überschaubaren Diskussion, die jenes Thema inzwischen ausgelöst hat, gewissermaßen mit der Machete wieder ein wenig Ordnung zu schaffen. Der begrenzte Raum verbietet, auf jeden Beitrag zu ihr näher einzugehen.4 I. Die BGH-Entscheidung betraf, kurz zusammengefasst, ein von vier jungen Männern mit zwei frisierten Autos auf einer zweispurigen Autobahn (ohne Seitenstreifen) unternommenes Rennen, mit Geschwindigkeiten von mehr als 240 km/h, bei dem die beiden Fahrer ein unbeteiligtes drittes Auto gleichzeitig zu überholen versuchten; dabei führte die zu brüske Lenkbewegung eines der Fahrer zu einem Schleuderunfall und zum Tod seines Beifahrers. In Frage stand die Verurteilung der beiden Fahrer, nicht jedoch des anderen Beifahrers, wegen fahrlässiger Tötung. Der BGH hat sie bejaht: „Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen strafloser Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -schädigung und der – grundsätzlich tatbestandsmäßigen – FremdNomos-Kommentar zum StGB2, 2005, Rn. 192 vor §§ 13 ff. BGHSt 53, 55. Die Entscheidung wird im folgenden Text nach Randnummern zitiert. 3 Zur einverständlichen Fremdgefährdung, JZ 2009, 399 ff. 4 Siehe etwa die Übersichten, außer in den größeren StGB-Kommentaren, bei Fiedler, Einverständliche Fremdgefährdung, 1989, S. 14 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 148 ff.; Hellmann, in: FS Roxin, 2001, S. 271 ff.; Susanne Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 20 ff. 1 2
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schädigung eines anderen“ sei „die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme“ (Rn. 22)5. „Die Herrschaft über das Geschehen“ aber habe „unmittelbar vor sowie ab dem Beginn des Überholvorgangs allein bei den Fahrzeugführern gelegen“ (Rn. 24). Die Entscheidung folgt damit der Auffassung Roxins, es komme darauf an, ob „derjenige, der sich gefährden lässt, dem Geschehen mehr ausgeliefert ist als ein sich selbst Gefährdender“6. Das wiederum soll dann der Fall sein, wenn er „nicht selbst gefährdende Handlungen vornimmt oder sich in eine schon bestehende Gefahr hineinbegibt, sondern sich der von einem anderen erst drohenden Gefährdung im vollen Bewußtsein des Risikos aussetzt“ 7. Freilich zeigt bereits das einfache Beispiel desjenigen, der in das Auto eines angetrunkenen Fahrers steigt, wie unsicher eine solche Abgrenzung ist: Besteht die Gefahr schon, wenn er sich in das Auto setzt, oder droht sie erst, wenn der Fahrer den Zündschlüssel dreht, wenn er einen Gang einlegt, wenn er losfährt oder wenn er alkoholbedingte Fehler macht? Auch der BGH sieht sich mit dieser Schwierigkeit konfrontiert. Er versucht sie dadurch zu lösen, dass er bei den mit dem Rennen verbundene Risiken differenziert: zwischen denen, die allgemein bei einem derart unsinnigen Unternehmen bestehen (und in die sich, wenn man der Unterscheidung folgen will, alle Beteiligten „hineinbegeben“) haben, und denen, die erst mit dem Überholmanöver verbunden waren (und die vorher allenfalls „drohten“). Bei den erstgenannten Risiken lässt der Sachverhalt keinen Zweifel daran, dass die vier an dem Autorennen teilnehmenden Männer sich ihrer bewusst waren und den Kitzel der Lebensgefahr wohl sogar gesucht haben dürften: Beide Beifahrer, die, auch als Fahrer, schon an mehreren solchen Rennen teilgenommen hatten (Rn. 5), haben das Unternehmen gefilmt (Rn. 7), sicherlich um der wenigstens medialen Wiederholung willen. Hier kann an der Selbstgefährdung aller Beteiligten wohl nicht ernsthaft gezweifelt werden, ganz gleich, wer von ihnen jeweils am Steuer saß oder auch nur mitfuhr8. Bei dem besonders riskanten Überholmanöver hingegen sollen die Beifahrer „lediglich den Wirkungen des Fahrverhaltens“ der beiden anderen „ausgesetzt“ gewesen sein (Rn. 24), ohne dass die Frage, ob das mit ihrem „vollen Bewusstsein“ geschehen sei, zunächst Erwähnung findet. Insoweit wäre es jedenfalls um eine Fremdgefährdung gegangen. Die eigentliche Pointe alles dessen ist freilich die, dass die besondere Gefahr, die zum Tod eines der Beifahrer geführt hat, nicht durch den Überholvorgang als solchen, sondern erst durch die zum Schleudern und zum Unfall führende brüske 5 Diese Formel findet sich schon in BGHSt 49, 34 (39), dort aber bei vorsätzlichem Verhalten. 6 Roxin, Strafrecht, Allg. Teil, Bd. I4, 2006, § 11 Rn. 123. 7 Roxin, in: FS Gallas, 1973, S. 241, 250. 8 Roxin (JZ 2009, 402 l. Sp.) hat insoweit zwar von einverständlicher Fremdgefährdung gesprochen, den Zurechnungsausschluss aber ebenfalls gebilligt.
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Lenkbewegung des verunglückten Fahrers ausgelöst worden ist (und das kann, wie bemerkt, jede falsche Lenkbewegung bei solcher Geschwindigkeit tun). Von ihr schweigt der BGH, und sie hat allerdings niemand „beherrscht“. Nur liegt es so bei Fahrlässigkeit immer: Dass es sich um einen nicht beherrschten Vorgang handelt, gehört zu ihrer Definition. Ihn zu beherrschen, bedeutet bekanntermaßen Vorsatz. Wenn eine „Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme“ bei Fahrlässigkeitsdelikten aber nicht gezogen werden kann, dann kann sie hier auch nicht über die Abgrenzung zwischen Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung entscheiden, gleichgültig, als was eine Beteiligung an dem Gefährdungsvorgang – um es wieder mit Ingeborg Puppe zu sagen – „nach irgendeiner Beschreibung des äußeren Handlungsablaufs“ erscheint9. Das ist nicht mehr als selbstverständlich, wenn man beim Fahrlässigkeitsdelikt ohnehin einen Einheitstäterbegriff für richtig hält10. Übrigens: Wer anders als der Fährmann hätte im berühmten Memel-Fall, bei dem das Reichsgericht 1924 zu einem Freispruch gekommen ist11, die „eigentliche“ Herrschaft über den unfallträchtigen Geschehensablauf gehabt? Schon dass diese Entscheidung trotzdem fast allgemein gebilligt wird, spricht gegen den Versuch, die Eigenverantwortung am Kriterium der Geschehensherrschaft festzumachen12. II. Kann man bei Fahrlässigkeitsdelikten zwischen Eigen- und Fremdverantwortung nicht in solcher Weise unterscheiden, so liegt natürlich die Frage nahe, ob und inwieweit die Abrenzung hier überhaupt als geboten oder immerhin sinnvoll erscheint. Geht man wieder auf den Ansatz Roxins zurück, so hat er den „Sinn“ der Unterscheidung dahin formuliert, dass „es jederzeit der eigenen Herrschaft untersteht, wie weit man sich der Gefährdung durch eigene Handlungen aussetzen will, daß aber die bloße Tolerierung der von einem anderen ausgehenden Gefährdung das Opfer einer unübersehbaren Entwicklung ausliefert, in die steuernd einzugreifen oder die abzubrechen oft auch dort keine Möglichkeit mehr besteht, wo der sich selbst Gefährdende dies noch könnte“13. Das ist gewiss eine anschauliche Beschreibung. Sie sagt indessen nicht das Geringste darüber, inwiefern sich 9
Nomos-Kommentar (Anm. 1), a. a. O. Vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allg. Teil I5, 2004, § 15 Rn. 75 ff. 11 RGSt 57, 172. 12 Insoweit übereinstimmend Hellmann (Anm. 4), S. 284, wenn er feststellt, dass der Fährmann die „von den Naturgewalten ausgehenden Gefahren“ nicht bewältigt und deshalb auf seiner Seite „kein Übergewicht in der Beherrschung des Geschehens“ bestanden habe. 13 FS Gallas (Anm. 7), S. 250; ähnlich JZ 2009, 399 l. Sp. 10
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rechtfertigt, die beiden Konstellationen strafrechtlich gegensätzlich zu bewerten. Hier folgt vielmehr das in diesem Zusammenhang vielfach anzutreffende Standardargument, „schon das geschriebene Recht“ zeige in den §§ 216, 228 StGB, „daß der Gesetzgeber zwischen der straflosen Selbstschädigung (bzw. Selbstgefährdung) und der Fremdschädigung mit Einwilligung des Verletzten einen Unterschied macht“14. Aber demgegenüber muss man wohl nicht mehr darauf hinweisen, dass er ihn allein bei vorsätzlicher Tötung oder (schwerer) Körperverletzung macht. Und dort hat dieser Unterschied auch seinen guten (oder doch nachvollziehbaren) Sinn: Er entspricht der Unverbrüchlichkeit des Verbots, einen anderen Menschen zu töten oder grundlos körperlich schwer zu verletzen15, einem Tabu, das durch die „bloße“ Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit nicht in gleicher Weise in Frage gestellt wird16. Und das heißt: dass von hier aus nichts dafür spricht, auch die mit Einverständnis des Betroffenen erfolgende Gefährdung seines Lebens oder seiner Gesundheit mit Strafe zu bedrohen. Demgegenüber will Roxin die Fahrlässigkeitshaftung nur dort ausschließen, „wo die einverständliche Fremdgefährdung unter allen relevanten Aspekten einer Selbstgefährdung gleichsteht“17. Ob das gesagt werden kann, hängt natürlich, wie er selbst betont, davon ab, welchen Aspekten Relevanz beigemessen wird. Und hier steht für ihn an erster Stelle offenbar die Frage, ob „der Gefährdete das Risiko im selben Maße übersieht wie der Gefährdende“18. Nur ist das keine andere Frage als die, ob er mit dieser Gefährdung einverstanden war. Sie zu beantworten, kann überaus schwierig sein. So ist Roxin in seiner Besprechung der hier in Rede stehenden Entscheidung davon ausgegangen, dass „die potenzierte Gefährdung durch das Überholmanöver vom Risikobewusstsein des Opfers nicht umfasst“ gewesen sei19, während der BGH an späterer Stelle seiner Begründung immerhin nicht ausgeschlossen hat, dass die Beifahrer mit der Durchführung des Rennens „um jeden Preis“ einverstanden gewesen sein könnten (Rn. 30); das spätere Opfer hat denn auch allem Anschein nach während des Überholvorgangs weitergefilmt20. Dann aber wären alle Gefahren, die bei derart exzessiven Ge14 Roxin, FS Gallas (Anm. 7), S. 250; ebenso Strafrecht, Allg. Teil (Anm. 6), Rn. 123, mit der Berufung auf die „Wertungen, die dem Gesetz zugrunde liegen“. 15 Näher Stratenwerth, in: FS Amelung, 2009, S. 355 (358 ff.). 16 Dazu schon, mit aller hier nur wünschenswerten Klarheit, Schaffstein, in: FS Welzel, 1974, S. 557, 568 ff. 17 FS Gallas (Anm. 7), S. 252; so wörtlich noch in seinem Strafrecht, Allg. Teil (Anm. 6), a. a. O.; JZ 2009, 400 r. Sp. 18 FS Gallas, a. a. O.; ähnlich Strafrecht (Anm. 6), § 11 Rn. 124. 19 JZ 2009, 402 l. Sp. Er beruft sich dabei auf die übereinstimmende Auffassung Rengiers (Strafrecht, BT II10, 2009, § 20 Rn. 14). Nur geht es hier nicht um Lehrmeinungen, sondern um eine quaestio facti. 20 Offenbar ist schon die Vorinstanz mit der Verurteilung des überlebenden Beifahrers wegen Beihilfe zur Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB von dessen Einverständnis mit diesem Vorgang ausgegangen: Nicht das Rennen als solches, sondern nur das „falsche Überholen“ kann einen dieser Tatbestände erfüllt haben (Nr. 2 b).
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schwindigkeiten mit nicht speziell dafür gebauten Autos bestehen, „im Preis inbegriffen“ gewesen. Auch ist ungeklärt, ob sich die Beteiligten überhaupt differenzierte Vorstellungen von den Gefahren des Rennens gemacht haben; immerhin kann bei den hier gefahrenen Geschwindigkeiten jede Fehlreaktion zu einem Schleuderunfall führen. Und schließlich ist die Frage, was sich der später getötete Beifahrer bei Antritt oder während des Rennens wohl gedacht haben mag, ohnehin nicht mehr zu beantworten21. (Die Risikobereitschaft der beiden Beifahrer könnte auch noch unterschiedlich groß gewesen sein.) Aber wie dem auch sei: Nicht vom Einverständnis der Betroffenen gedeckte Risiken stehen hier ohnehin nicht zur Diskussion. Anders liegt es bei einem weiteren Umstand, auf den Roxin vielfach hinweist. Schon im Blick auf den Fährmann an der Memel heißt es, er habe den beiden Reisenden „erst auf ihr unausgesetztes Drängen und, als sie seinen persönlichen Mut in Zweifel zogen, widerwillig nachgegeben“. Deshalb sei der Freispruch zu Recht erfolgt22. Ganz ebenso soll bei einer Aids-Infektion von Bedeutung sein, dass der ungeschützte Geschlechtsverkehr „auf die Initiative“ der Betroffenen stattfand, bei der Mitfahrt im Wagen eines alkoholisierten Autofahrers, ob das spätere Opfer in Kenntnis dieses Umstandes darauf „gedrängt“ hat (oder aber vom Schädiger „gegen seinen eigentlichen Willen . . . zum Mitmachen gedrängt“ worden ist)23, und in unserem BGH-Fall, dass der später getötete Beifahrer nicht „durch anfeuernde Rufe . . . zu dem Dreierüberholungsmanöver gedrängt“ hat, darauf also, wer die „treibende Kraft“ war24. Nirgendwo aber findet sich eine Begründung dafür, weshalb es auf diesen Umstand ankommen soll. Es geht schließlich um das Verhalten urteilsfähiger, erwachsener Menschen zueinander, die sich ganz einfach aus freien Stücken zu einem gefährlichen Unternehmen zusammenfinden können. Auch bleibt ungeklärt, wie sich jene Frage zum Kriterium der Beherrschung des Geschehens verhalten soll. Beim Urteil über die Wirksamkeit einer Einwilligung in die Verletzung spielt sie bekanntlich keine Rolle. Unter diesen Umständen aber kann eine Entscheidung danach, wer wen wie intensiv beeinflusst hat, nur eine des tatrichterlichen Ermessens sein – und damit eines Maßes an Unsicherheit, das nach Roxins eigenen Worten „mit dem Bestimmtheitsgrundsatz kaum zu vereinbaren ist“25.
21 In jedem Falle hätte – in dubio pro reo – den Fahrern die Annahme zugutegehalten werden müssen, das Einverständnis ihrer Mitfahrer decke auch den Überholvorgang. 22 JZ 2009, 399 r. Sp., 401 r. Sp., 403 l. Sp. 23 JZ 2009, 401 r. Sp. 24 JZ 2009, 403. 25 FS Gallas (Anm. 7), S. 251; Strafrecht, Allg. Teil (Anm. 6), § 11 Rn. 123; JZ 2009, 400 l. Sp.
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III. Von hier aus stellt sich am Ende erneut die Frage, ob eine Gefährdung im Einverständnis aller Beteiligten nicht eben doch (nur) nach den Regeln der tatbestands- oder unrechtsausschließenden Einwilligung beurteilt werden sollte. Roxin hat dem BGH zwar vorgehalten, in Fällen „wie dem vorliegenden“ seien „Einwilligung und einverständliche Fremdgefährdung strikt zu trennen“, wobei die Einwilligung von vornherein ausscheide26 – dies, obwohl sie für das RG im mehrfach erwähnten Memel-Fall den Ausschlag gegeben hat. Er stützt sich dabei auf drei Argumente: dass sie sich auf den Erfolg beziehen müsse, bei einer konkreten Lebensgefährdung unwirksam und für sie eine Abwägung der Verantwortlichkeiten für das Gefährdungsgeschehen (ohnehin) irrelevant sei27. Aber keines dieser Argumente leuchtet ein. Dass sich die Einwilligung in eine fahrlässige Tötung (auch) auf den Eintritt des Todes beziehen müsse, was beim Einverständnis mit einer bloßen Gefährdung nicht der Fall sei, ist eine längst überzeugend zurückgewiesene Auffassung28. Es wird dabei von den Anhängern dieser Lehre auch durchaus nicht geleugnet, dass derjenige, der sich bewusst lebensgefährlich verhält, in der Regel – außer vielleicht bei russischem Roulette oder in besonderen Notlagen – darauf vertraut, dass jener Erfolg nicht eintritt. Müsste er stattdessen „wirklich mit dolus eventualis in seinen Tod eingewilligt“ haben29, gäbe es eine wirksame Einwilligung in mit Lebensgefahr verbundenes Verhalten praktisch nicht. Ich sehe demgegenüber keinen stichhaltigen Grund, weshalb der Einzelne, neben der Freiheit zu reiner Selbstgefährdung, nicht auch die Freiheit haben sollte, sich Gefahren auszusetzen, die von einem anderen ausgehen und in die er dann nicht mehr „steuernd eingreifen“ kann, wenn er dies im vollen Bewusstsein dieser ihrer „Unübersehbarkeit“, oder genauer: ihrer nur begrenzten Kontrollierbarkeit, tut. Solches Verhalten wird man nicht besonders vernünftig finden. Aber sollte hier etwa stets derjenige, demgegenüber sie erteilt wird, für den Erfolg verantwortlich sein, wenn die Gefahr in den Erfolg umschlägt?30 Es geht schließlich um eine Alltagserscheinung – man denke nur an den Lenker eines Viererbobs im Eiskanal oder den Bergführer bei einer riskanten Tour im Hochgebirge. Dass § 216 dem nicht entgegensteht, ist hier bereits gesagt worden. Ingeborg Puppe hat auch dies auf den Punkt gebracht: „Die Rechtsordnung gibt dem Einzelnen [zwar] nicht die 26
JZ 2009, 402 r. Sp. A. a. O., 403. 28 Siehe nur Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, Rn. 104 vor §§ 32 ff., mit weiteren Nachweisen. 29 Roxin, JZ 2009, 400 r. Sp. 30 Ausgenommen allein, und das ist unbestritten, den Fall, dass ein Garant den Betroffenen vor ihr hätte schützen sollen: Das gilt etwa für den von Roxin (Strafrecht, Allg. Teil [Anm. 6], § 11 Rn. 124) in diesem Zusammenhang als Beispiel genannten Arbeitgeber, der mit Wissen des Arbeitnehmers Unfallverhütungsvorschriften missachtet. 27
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Freiheit, sich vorsätzlich von einem Anderen töten zu lassen, aber sie gibt ihm die Freiheit, sich in Gefahr zu begeben, auch in eine Lebensgefahr.“31 Um nichts plausibler ist es, der Einwilligung in eine konkrete Lebensgefahr die Wirkung zu versagen. Der BGH hat dies zunächst bei Körperverletzungen getan, die mit solcher Gefahr verbunden waren, bei einer auf Wunsch eines bereits erheblich alkoholisierten Betroffenen vorgenommenen Heroininjektion und bei einem sadomasochistischen Würgevorgang, auf den die Betroffene sogar gedrängt hatte. Als Begründung hat er sich auf § 228 berufen: Eine solche Gefährdung sei sitten- und damit rechtswidrig32. In seiner hier in Rede stehenden Entscheidung bezieht er sich nur ganz allgemein sowohl auf den „Normzweck des § 228 StGB als auch die aus der Vorschrift des § 216 StGB abzuleitende gesetzgeberische Wertung“ (Rn. 28). Aber der Rückgriff auf § 216 trägt jene Beschränkung nach dem bereits Gesagten nicht, und bei § 228 sollte es doch wohl um Gefahren gehen, die mit einer (vorsätzlichen!) Körperverletzung verbunden sind, und dies war hier gerade nicht der Fall33. Außerdem ist völlig offen, von welchem Grade an eine Lebensgefahr „konkret“ genannt werden kann: Sollte das hier, im HeroinFall, von dem Maß der Alkoholisierung des Betroffenen abhängen und im Fall der Strangulierung davon, dass das dabei zunächst benutzte Holzstück durch ein Metallrohr ersetzt wurde? Das wäre offenkundig wieder eine Frage des Ermessens, das bei der Entscheidung über Recht und Unrecht gerade nicht den Ausschlag geben sollte. Im Übrigen sei nur am Rande vermerkt: Konkreter als im Memel-Fall wird eine Lebensgefahr kaum sein können. Es bleibt das dritte Argument, das für die Trennung von Einwilligung und einverständlicher Fremdgefährdung sprechen soll: dass es bei der Einwilligung auf eine Abwägung der Verantwortlichkeiten nicht ankomme. Aber das ist eine reine petitio principii. Zur Diskussion steht ja gerade, ob und inwieweit eine solche Abwägung hier überhaupt eine Rolle spielen soll und darf. Grundvoraussetzungen der Verantwortlichkeit des Betroffenen – seine Urteilsfähigkeit, seine Kenntnis der Tragweite des in Frage stehenden Vorgangs und damit des nötigen „Sachwissens“ ebenso wie seine Entscheidungsfreiheit – müssen ja in jedem Falle erfüllt sein. Demgegenüber wäre allererst noch zu begründen, dass und weshalb jene soeben genannten Einschränkungen seiner Selbstverantwortung bei der Einwilligung in eine (konkrete) Lebensgefahr, wenn man sie denn anerkennen will, nicht auch für den Zurechnungsausschluss durch das Risikoeinverständnis gelten sollten. Und ebenso fehlt, wie schon bemerkt, jede zureichende Erklärung dafür, dass es, anders als bei der Einwilligung in eine Verletzung von Lebensgütern, bei ihrer bloßen Gefährdung darauf ankommen sollte, ob und inwieweit der Betroffene bei seinem Einverständnis von anderen motiviert worden 31 32 33
Nomos Kommentar (Anm. 1), Rn. 194. BGHSt 49, 34 (44); ebenso 49, 166 (175), ohne weitere Begründung. Darauf weist denn auch Roxin (JZ 2009, 400 r. Sp.) hin.
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ist. Das alles läuft vielmehr nur auf die eine Schlussfolgerung zu: dass die „einverständliche Fremdgefährdung“ bei fahrlässigem Verhalten aus dem Katalog besonderer Fallgruppen gestrichen werden sollte. Das von Ingeborg Puppe formulierte Fazit solcher Überlegungen steht schon im ersten Satz dieses Textes. Ich sehe nicht, was für die überzüchtete Strafrechtsdogmatik unserer Tage hilfreicher sein könnte als die Klarheit und Unbestechlichkeit ihrer Analysen.
Der Eintritt der Regelwirkung in Versuchskonstellationen Ein Beitrag zum Umgang mit den „besonders schweren Fällen“ Von Franz Streng I. Einleitung Die Institution der „minder schweren Fälle“ und der „besonders schweren Fälle“ hat in der deutschen Gesetzgebung Konjunktur. Die besondere Flexibilität der unbenannten oder durch Regelbeispiele verdeutlichten Sonderstrafdrohungen erleichtert die gesetzgeberische Aufgabe. Auf der anderen Seite provoziert diese Gesetzgebungstechnik Folgeprobleme. Etwa ist für die Regelbeispiele unklar, wie mit der Situation der nur „versuchten“ Verwirklichung eines Regelbeispiels umzugehen ist. Führt eine solche Konstellation (zumindest) beim Versuch des Grundtatbestands zu einer Regelwirkung im Sinne der Anwendung des Sonderstrafrahmens? Wenn dieser Frage im folgenden Beitrag nachgegangen werden soll, bedarf es vorgreiflich einer Klärung, welche Rechtsnatur den Regelbeispielsnormen zu eigen ist. Sollte es sich nämlich ergeben, dass diese den Charakter von Straftatbeständen tragen, wäre auch der Streit um den Umgang mit unvollständig verwirklichten Regelbeispielen im Sinne einer unmittelbaren Anwendung der Versuchsregeln geklärt. II. Die Rechtsnatur der „minder schweren“ und „besonders schweren Fälle“ 1. Strafzumessungsregelungen oder Tatbestandsmerkmale Die gängige Einstufung der „besonders schweren“ oder „minder schweren Fälle“ als bloße Strafzumessungsregelungen1 ist neuerdings ganz grundsätzlich 1 Vgl. BGHSt 23, 254, 256 f.; Wessels, Maurach-FS, 1972, S. 295, 297 ff.; Kastenbauer, Die Regelbeispiele im Strafzumessungsvorgang, 1986, S. 175 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht. Allgemeiner Teil (AT)5, 1996, § 26 V; Gössel, Hirsch-FS, 1999, S. 183, 196 ff.; Mitsch, Strafrecht. Besonderer Teil (BT) 2/12, 2003, § 1 Rn. 181; MüKo-StGB/ Schmitz, 2003, § 243 Rn. 2 f.; LK12 /Theune, 2006, Vor § 46 Rn. 18; Schönke/Schröder/ Eser, StGB27, 2006, § 243 Rn. 1 f.; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 46 Rn. 7, 11; Arzt/ Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2, 2009, § 14 Rn. 16; Maurach/Schroeder/Maiwald,
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auf Widerspruch gestoßen. In der Konsequenz werden diese Vorschriften von einigen Autoren als unselbstständige Qualifikations- bzw. Privilegierungstatbestände eingestuft2. Hierfür spricht etwa, dass die spezifisches Unrecht und entsprechende Schuld beschreibenden Regelbeispiele von Tatbestandsmerkmalen in einiger Hinsicht nicht unterscheidbar sind3. Der unverkennbare Unterschied liegt freilich darin, dass Tatbestandsmerkmalen abschließender und bindender Charakter zu eigen ist, während Regelbeispielen eine bloße Indizwirkung für Strafrahmenänderung zukommt. Die fragliche Mindermeinung kann darauf verweisen, dass ihre Einstufung der Regelbeispiele als Tatbestandsmerkmale nicht nur die aus dem Analogieverbot herrührenden Bedenken gegen diese Gesetzgebungstechnik4 sondern auch die vielfältigen, bislang ungeklärten dogmatischen Friktionen, die mit der Regelbeispielstechnik verbunden sind, auflösen könnte5. Freilich sind auch die Nachteile einer solchen Lösung nicht zu übersehen: Würde man die Regelbeispiele als Tatbestandsmerkmale einstufen, dann müssten die entsprechenden Normen entgegen ihrem Wortlaut („in der Regel“) ihre relative Unverbindlichkeit verlieren. Eine Strafrahmenverschiebung nach oben hin in Fällen fehlender Verwirklichung eines Regelbeispiels (sog. „atypischer besonders schwerer Fall“) wäre unzulässig, da dem Erfordernis der lex scripta aus Art. 103 II GG widersprechend. Einem derart aus der Tatbestandslösung folgenden Verzicht auf den „atypischen“ besonders schweren Fall steht freilich das Gesetz entgegen: § 267 III S. 3, 2. Hs. StPO regelt besondere Begründungspflichten eben für die Situation der Bejahung eines besonders schweren Falles trotz Fehlens eines – in der fraglichen Norm grundsätzlich vorausgesetzten – einschlägigen Regelbeispiels. Eine Interpretation des „in der Regel“ allein als Ermächtigung zur Ablehnung einer indizierten Regelwirkung, also zu Gunsten des Angeklagten, scheidet damit aus. Besonders dramatisch wären die Konsequenzen der Tatbestandslösung hinsichtlich der „unbenannten besonders schweren Fälle“, wie in § 212 II StGB vorBT 110, 2009, § 33 Rn. 69; Satzger/Schmitt/Widmaier-StGB/Kudlich, 2009, § 243 Rn. 1; Fischer, StGB57, 2010, § 243 Rn. 2; NK-StGB3 /Streng, 2010, § 46 Rn. 14 ff. 2 So Calliess, JZ 1975, 112, 117 f.; ders., NJW 1998, 929, 933 ff.; Kindhäuser, Triffterer-FS, 1996, S. 123, 124 ff.; Gropp, JuS 1999, 1041, 1049; Krahl, Tatbestand und Rechtsfolge, 1999, S. 125 f.; Hirsch, Gössel-FS, 2002, S. 287, 291 f.; Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht, 2004, S. 172 ff.; ders., JA 2006, 309, 311 f.; Gropp, AT3, 2005, § 3 Rn. 45t; wohl auch Heinrich, BT II, 2009, Rn. 93. 3 Dazu auch BGHSt 33, 370, 374; Schäfer, JR 1986, 522, 523; Gropp, JuS 1999, 1041, 1047 f.; vgl. aber Gössel, Hirsch-FS, 1999, S. 183, 188 ff., 197 ff. 4 Vgl. etwa Calliess, JZ 1975, 112, 117; ders., NJW 1998, 929, 935; Kindhäuser, Triffterer-FS, 1996, S. 123, 125; Jescheck/Weigend, AT5, 1996, § 82 II 3; Krahl (Fn. 2), S. 159 ff., 324; Gropp, JuS 1999, 1041, 1049; Zieschang, Jura 1999, 561, 563; Hirsch, Gössel-FS, 2002, S. 287, 292 f., 296 f.; anders wohl NK-StGB3 /Hassemer/Kargl, 2010, § 1 Rn. 73. 5 Vgl. Kindhäuser, Triffterer-FS, 1996, S. 123, 128 ff.; Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 2), S. 283 ff.
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gesehen. Denn derartige Regelungen – als qualifizierende Tatbestände interpretiert – würden mangels irgendeiner Beschreibung der vom Gesetz gemeinten „besonderen Schwere“ als strafschärfende Regelungen insgesamt gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG verstoßen und wären daher als rundum verfassungswidrig einzustufen6. Der Ansatz, den besonders schweren Fällen Tatbestandscharakter zuzuweisen, verschärft demnach grundsätzliche Probleme dieser Gesetzgebungstechnik, statt sie zu lösen. Gegen diesen Ansatz spricht auch, dass solche weit gehenden interpretativen Eingriffe in die legislativen Befugnisse sich nur dann legitimieren ließen, wenn die gesetzlich ausformulierte Regelung überhaupt nicht haltbar wäre – eben dies erscheint aber zumindest zweifelhaft7. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtsfigur der „besonders schweren Fälle“ unter der Bedingung als unbedenklich eingestuft, dass der Gesetzgeber die besondere Strafwürdigkeit der gemeinten Fälle durch Beispiele verdeutlicht8. 2. Strafänderungsregelungen innerhalb des Gesamtstrafrahmens Die gesetzlichen Regelungen der benannten oder unbenannten Strafänderungen weisen demnach keinen Tatbestandscharakter auf. Als Strafzumessungsregelungen lassen sie sich bei realistischer Betrachtung als Instrumente zur Schaffung eines Gesamtstrafrahmens verstehen, der aus der Strafdrohung des Grundtatbestandes plus der daran anschließenden Strafdrohung aus „besonders schwerem“ oder „minder schwerem“ Fall besteht9. Dagegen lässt sich auch nicht anführen, dass die Strafrahmen für minder oder besonders schwere Fälle sich teils mit dem Kernstrafrahmen überschneiden10. Denn das Anschließen an oder das Überschneiden mit dem Strafrahmen des Grundtatbestands ist weithin durch die früher unterschiedlich schweren Formen von Freiheitsentziehung (z. B. Festungshaft, Gefängnis, Zuchthaus) bedingt11 und 6 Vgl. Calliess, NJW 1998, 929, 934; Krahl (Fn. 2), S. 123 ff., 131, 318; vgl. auch Hirsch, Gössel-FS, 2002, S. 287, 300 f.; Meier, Strafrechtliche Sanktionen3, 2009, S. 154 f. 7 Vgl. zum Ganzen Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 2), S. 227 ff. 8 Vgl. BVerfGE 45, 363, 372 f.; zust. LK12 /Dannecker, 2007, § 1 Rn. 233 f. 9 Vgl. Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 21; Maurach/Gössel/Zipf, AT9, 1989, § 62 Rn. 38 ff.; Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen, 2004, S.160 f.; Maurer, Komparative Strafzumessung, 2005, S. 99; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung4, 2008, Rn. 573; ferner Maatz, Salger-FS, 1995, S. 91, 97 f.; kritisch Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 2), S. 184 ff. 10 So aber Montenbruck, NStZ 1987, 311, 313; ferner SK-StGB7 /Horn, 2001, § 46 Rn. 57 f. 11 Ausf. Hettinger, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 77 ff.; ders., GA 1995, 399, 417 f.; dazu Montenbruck, Triffterer-FS, 1996, S. 649, 650 ff.; ferner Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 2), S. 100.
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besitzt insoweit, als lediglich historische Reminiszenz, keine Aussagekraft gegen die Lehre vom Gesamtstrafrahmen. Aber auch die in neuerer Zeit geschaffenen Überschneidungen (vgl. § 212 I und § 213 StGB) sprechen schwerlich gegen die These vom Gesamtstrafrahmen, sondern eher für sie. Nachdem nämlich Strafrahmengrenzen von der Praxis wegen der damit verbundenen hohen Begründungsanforderungen12 nach Kräften gemieden werden, schafft der Gesetzgeber mit derartigen Überlappungen überhaupt erst einen in voller Breite ungehindert nutzbaren Gesamtstrafrahmen; es wird ein schwellenfreier, ohne Scheu zu nutzender Übergang zwischen dem Kernstrafrahmen und dem jeweiligen Strafrahmenannex gewährleistet13. Da es keine dogmatisch stringente Abgrenzung z. B. zwischen einem leichten Fall des „normalen“ Totschlags gem. § 212 und einer eher schweren Ausprägung des „minder schweren Falls des Totschlags“ gibt, sondern Wertungen entscheiden, spricht in pragmatischer Betrachtung nichts dagegen, die beiden genannten Extremgruppen der gleichen Strafdrohung im Überlappungsbereich z. B. von § 212 und § 213 zu unterwerfen. Die auf die weitausgreifende Strafdrohung des „Gesamtstrafrahmens“ bezogene Verhaltensnorm bzw. Unrechtsbeschreibung wird vom jeweiligen Grundtatbestand geliefert. Dies sei anhand des Diebstahls-Tatbestands des § 242 verdeutlicht: Der Regelbeispielskatalog des § 243 beinhaltet keine tatbestandlich unbestimmte Strafschärfungsregelung, sondern als reine Sanktionsnorm eine Anleitung zur Nutzung des an das Stehl-Verbot des § 242 angeknüpften Gesamtstrafrahmens von fünf Tagessätzen Geldstrafe bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Der darin enthaltene Bereich über fünf Jahre Freiheitsstrafe bleibt gem. § 243 von der Erfüllung bestimmter typischer oder auch atypischer (unbenannter) unrechtssteigernder Merkmale abhängig. Angesichts des Beispielscharakters der beschriebenen Unrechtsmerkmale besteht für den Richter eine spezifische Begründungspflicht, wenn er ein atypisches strafänderndes Merkmal bejaht oder entgegen einem vorliegenden Regelbeispiel die Regelwirkung verneint (§ 267 III S. 2– 3 StPO)14. Und eine entsprechende – wenngleich weniger strenge – besondere Begründungspflicht gilt für die Gesetzestechnik der unbenannten Strafänderungen. Da den nur beispielhaft benannten wie den ganz unbenannten Strafänderungen also lediglich strafrahmeninterner Regelungscharakter zukommt, geht jedenfalls der Vorwurf rechtsstaatswidrigen Verstoßes gegen das für strafbegründende Merkmale geltende lex scripta-Gebot des Art. 103 II GG ins Leere. Bestehen bleibt – und das sei nachdrücklich hervorgehoben – der Vorwurf an den deut12 Vgl. etwa BGH, NJW 1995, 2234 f., 2235; BGHR, StGB § 46 Abs. 1, Strafhöhe 8; BGH, NJW 2001, 83 f., 84; ferner BGHSt 24, 268, 271. 13 Vgl. auch BGH, NJW 2003, 1679 f. 14 Vgl. Maiwald, NStZ 1984, 433, 436; Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 2), S. 198 ff.; ferner Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen – §§ 46 Abs. 3, 50 StGB, 1982, 206 f.
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schen Gesetzgeber, dass er einer höchst problematischen Strafrahmenpolitik mit nach oben hin viel zu weit ausgreifenden Strafdrohungen folgt15. So weit zu gehen, den Gesetzgeber deshalb schon eines eindeutigen Verfassungsverstoßes im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG zu zeihen, erscheint freilich kaum möglich16. III. Zur Versuchsrelevanz von Regelbeispielen 1. Versuchsbeginn und Regelbeispiel-Realisierung Nachdem der Rechtscharakter der Regelbeispiele als bloße Strafzumessungsnormen gesichert erscheint, bleibt zu klären, wie mit der Situation der nur „versuchten“ Verwirklichung eines Regelbeispiels umzugehen ist. Da es sich bei Regelbeispielen nicht um Tatbestandsmerkmale und bei „besonders schweren Fällen“ nicht um Straftatbestände handelt, ist der Versuch etwa des § 243 begrifflich nicht denkbar17. Des Weiteren mutet es unzweifelhaft an, dass ein Ansetzen zur Verwirklichung von Regelmerkmalen noch keine Ausführungshandlung bezüglich des Grunddelikts beinhalten muss. Diese Leitlinie gilt ganz entsprechend auch bzw. sogar für qualifizierende Tatbestandsmerkmale, wenn sie nicht zugleich einen unmittelbaren Angriff auf das tatbestandlich geschützte Rechtsgut beinhalten. Da Regelbeispiele nie strafbegründenden Charakter aufweisen, lediglich Anlass zu einer Straferhöhung geben (können), erscheint es noch eindeutiger als bei echten Qualifikationsmerkmalen, dass die (versuchte) Realisierung von Regelbeispielen per se noch nicht das unmittelbare Ansetzen zur Verwirklichung des entsprechenden Straftatbestandes darstellt. Dies schließt es für den Einzelfall freilich nicht aus, dass die Verwirklichung (bzw. der Versuch zur Realisierung) eines Regelbeispiels zugleich ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Bezugs-Tatbestands darstellt18. Dies wird nicht selten der 15 Vgl. etwa Streng (Fn. 9), S. 293 ff.; Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751, 799; Giehring, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, 1989, S. 77, 117; Maurach/Gössel/ Zipf, AT7, 1989, § 62 Rn. 13; Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung, 1992, S. 143 ff.; H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994, S. 500; Jescheck/Weigend, AT5, 1996, § 82 II.1; Gössel, Hirsch-FS, 1999, S. 183, 201; Streng, ZStW 111 (1999), 827, 836 f.; Zieschang, Jura 1999, 561, 564, 568. 16 Vgl. auch LK12 /Dannecker, 2007, § 1 Rn. 232 ff.; anders Krahl, Tatbestand (Fn. 2), S. 164 f.; Esko Horn, Die besonders schweren Fälle und Regelbeispiele im Strafgesetzbuch, Jur. Diss. Köln 2001, S. 139 f.; ferner Schwarzenegger, SchwZStr 118 (2000), 349, 367 f. 17 Vgl. etwa Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2, 2009, § 14 Rn. 36; S/S/WStGB/Kudlich/Schuhr, 2009, § 22 Rn. 76; Wessels/Hillenkamp, BT 232, 2009, Rn. 202; Fischer, StGB57, 2010, § 46 Rn. 97. 18 Vgl. Fabry, NJW 1986, 15, 18; Laubenthal, JZ 1987, 1065, 1069; SK-StGB6 /Rudolphi, 1993, § 22 Rn. 18; Baumann/Weber/Mitsch, AT11, 2003, § 26 Rn. 52; Roxin, AT II, 2003, § 29 Rn. 170; Stratenwerth/Kuhlen, AT5, 2004, § 11 Rn. 43; Schönke/
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Fall sein. Man denke nur an den erfolgten Einbruch in ein Geschäft, zum Zweck der Wegnahme von dort greifbaren Gegenständen, ohne dann aber etwas mitnehmen zu können (§§ 242, 243 I Nr. 1, 22 StGB). 2. Das „versuchte Regelbeispiel“ beim Versuch des Grunddelikts Zunächst ganz in Übereinstimmung mit den Grundsätzen für qualifizierte Tatbestände zu behandeln sind die Fälle der vollständigen Verwirklichung eines Regelbeispiels im Versuch des Grunddelikts. Es erscheint unproblematisch, hier den erhöhten Strafrahmen der besonders schweren Fälle im Rahmen der Versuchsstrafbarkeit zu nutzen19. Besondere Zweifelsfragen bezüglich der straferhöhenden Wirkung von Regelbeispielen treten freilich dann auf, wenn die Verwirklichung eines Regelbeispiels im Ansatz stecken geblieben ist. Es stellt sich hier die Frage nach dem Eintritt der Regelwirkung schon bei bloßem Ansetzen zur Erfüllung des Regelbeispiels. In der Konstellation eines versuchten Diebstahls plus versuchter Verwirklichung eines Regelbeispiels anerkennt die wohl herrschende Lehre mangels vollständiger Verwirklichung des Regelbeispiels keine Regelwirkung20. Für diese restriktive Linie wird angeführt, dass eine Analogie zu echten Tatbestandsmerkmalen als täterbelastende Analogie i. S. v. Art. 103 II GG verstanden werden müsste21. Auch verweist man auf einen für Regelbeispiele (etwa in § 243) fehlenden Hinweis i. S. v. §§ 22, 23 I auf eine Versuchsstrafbarkeit22. Demgemäß Schröder/Eser, StGB27, 2006, § 22 Rn. 58, § 243 Rn. 45; Kühl, AT6, 2008, § 15 Rn. 53 f.; Frister, AT4, 2009, Kap. 23 Rn. 41; Rengier, BT I11, 2009, § 3 Rn. 57; S/S/ W-StGB/Kudlich, 2009, § 243 Rn. 39; Wessels/Beulke, AT39, 2009, Rn. 607; Wessels/ Hillenkamp, BT 232, 2009, Rn. 209; Fischer, StGB57, 2010, § 46 Rn. 100 f. 19 Vgl. Laubenthal, JZ 1987, 1065, 1069; Zieschang, Jura 1999, 561, 566; Gropp, AT3, 2005, § 9 Rn. 49i; Schönke/Schröder/Eser, StGB27, 2006, § 243 Rn. 44; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2, 2009, § 14 Rn. 38; HK-GS/Duttge, 2009, § 243 Rn. 62; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 110, 2009, § 33 Rn. 105; Rengier, BT I11, 2009, § 3 Rn. 51; Wessels/Hillenkamp, BT 232, 2009, Rn. 204; Fischer, StGB57, 2010, § 46 Rn. 103, § 243 Rn. 28; LPK-StGB4 /Kindhäuser, 2010, § 243 Rn. 48; anders Arzt, JuS 1972, 515, 517 f.; Degener, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 305, 327 ff. 20 Vgl. BayObLG, JR 1981, 118 f.; Gössel, BT 2, 1996, § 8 Rn. 68 ff.; Graul, JuS 1999, 852, 855; Zieschang, Jura 1999, 561, 566; Marxen, AT, 2003, S. 193 f.; MüKoStGB/Schmitz, 2003, § 243 Rn. 86; Otto, BT7, 2005, § 41 Rn. 33; Schönke/Schröder/ Eser, StGB27, 2006, § 243 Rn. 44; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 46 Rn. 15; Zopfs, Jura 2007, 421, 422 f.; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2, 2009, § 14 Rn. 38; HKGS/Duttge, 2009, § 243 Rn. 60; Rengier, BT I11, 2009, § 3 Rn. 52; Wessels/Hillenkamp, BT 232, 2009, Rn. 206 ff.; NK-StGB3 /Zaczyk, 2010, § 22 Rn. 55; ferner Arzt, JuS 1972, 515, 517 f. 21 Vgl. Küper, JZ 1986, 518, 524, 525 f.; Graul, JuS 1999, 854 f.; Zieschang, Jura 1999, 561, 566; Marxen, AT, 2003, S. 193 f.; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2, 2009, § 14 Rn. 39. 22 Vgl. Küper, JZ 1986, 518, 523; MüKo-StGB/Schmitz, 2003, § 243 Rn. 85; Zopfs, Jura 2007, 421, 422 f.
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hält man in Versuchskonstellationen eine Regelwirkung bei nur „versuchtem“ Regelbeispiel allein dann für gegeben, wenn unabhängig von einem Regelbeispiel, also mittels einer Gesamtwürdigung begründbar, ein atypischer besonders schwerer Fall vorliegt23. Meines Erachtens überzeugt hingegen die Meinung des Bundesgerichtshofes und eines Teiles der Lehre24, wonach für einen versuchten besonders schweren Diebstahl das bloße Ansetzen zu einem Regelbeispiel bei zugleich versuchtem Grunddelikt für den Eintritt der Regelwirkung grundsätzlich ausreicht. Dafür spricht Folgendes: Man geht in der Rechtsprechung mit guten Gründen davon aus, dass es bei der Entscheidung des Gesetzgebers zwischen Qualifikationstatbestand und Regelbeispielstechnik „mehr um eine formale Frage der Gesetzestechnik“ geht25, weshalb die Strafzumessungsregelungen per Regelbeispielen sich in ihrem Wesen nicht tiefgreifend von den Qualifikationstatbeständen unterscheiden. Wenn man auf dieser Grundlage die Regelbeispiele im Normalfall wie Tatbestandsmerkmale behandelt, bleibt ein besonderer Grund unerfindlich, dies nur für die Versuchsfrage nicht tun zu wollen. Gegen das Analogieverbotsargument spricht, dass die Strafdrohungen des Besonderen Teils ihrem Wortlaut zufolge durchwegs auf vollendete Taten zugeschnitten sind26. Der Einwand des im Gesetz fehlenden Hinweises auf Versuchsstrafbarkeit in den Regelbeispielstatbeständen vermag auch deshalb nicht zu überzeugen, weil bei bloßen Strafzumessungsregeln eine Strafbarkeitsnorm in Form der §§ 22, 23 I StGB als wahrhaft deplaziert gelten müsste. § 22 StGB verlangt für die Versuchsstrafbarkeit das Ansetzen „zur Verwirklichung des Tatbestands“, auch wenn die täterseitige „Vorstellung von der Tat“ sich auch auf weitere Tatdimensionen, die dann strafzumessungsrelevant werden, erstreckt. Da die tatbestandliche Unrechtsbeschreibung allein vom Grundtatbestand geliefert wird (vgl. oben II.2.), muss für Versuchsstrafbarkeit auch allein zu dessen Verwirklichung angesetzt werden27. Dass zur Verwirklichung der strafzumessungsrelevant sich auswirkenden Umstände i. S. v. § 46 II nicht eigens angesetzt werden muss, 23 Zu dieser Option etwa Schönke/Schröder/Eser, StGB27, 2006, § 243 Rn. 44; Wessels/Hillenkamp, BT 232, 2009, Rn. 205; Fischer, StGB57, 2010, § 46 Rn. 102; ablehnend aber Zieschang, Jura 1999, 561, 566. 24 Vgl. BGHSt 33, 370 ff.; BayObLG, NStZ 1997, 442 f. (mit krit. Anm. von Wolters, JR 1999, 37 ff.); Fabry, NJW 1986, 15, 18 ff.; Schäfer, JR 1986, 522, 523; Laubenthal, JZ 1987, 1065, 1069; Jakobs, AT2, 1991, 6 Rn. 100; Gropp, AT3, 2005, § 9 Rn. 49i; Frister, AT4, 2009, Kap. 23 Rn. 7; Heinrich, BT II, 2009, Rn. 141; Jäger, BT3, 2009, Rn. 261; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 12, 2009, § 33 Rn. 107; Fischer, StGB57, 2010, § 243 Rn. 28; LPK-StGB4 /Kindhäuser, 2010, § 243 Rn. 51; wohl auch S/S/W-StGB/Kudlich, 2009, § 243 Rn. 41. 25 BGHSt 26, 167, 173; ferner BGHSt 29, 359, 368; BGHSt 33, 370, 374. 26 Vgl. BGHSt 33, 370, 376. 27 Vgl. auch BGHSt 33, 370, 376.
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dürfte unumstritten sein, soweit es zunächst die „Beweggründe und die Ziele des Täters“ als rein subjektive Dimensionen betrifft. Trotz der für die Berücksichtigung von Strafzumessungsumständen in Versuchskonstellationen somit grundsätzlich niedrigen Anforderungen bleibt zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die Regelbeispiele immerhin tatbestandsähnlich gestaltet hat. Unverkennbar soll eine spezifische schuldsteigernde Realisierung von Erfolgsunrecht und Handlungsunrecht sich strafmaßbestimmend auswirken. Von daher bedürfen die objektiven wie subjektiven Elemente analog zu regelrechter Tatbestandserfüllung der Berücksichtigung. Im Versuchsfalle bedeutet dies, dass für die Annahme eines besonders schweren Falles der Entschluss zur Verwirklichung des strafschärfenden Merkmals auch in einem unmittelbaren Ansetzen realisiert sein muss. Dies ergibt sich freilich nicht aus § 22 StGB, sondern aus den Anforderungen der Strafzumessungslehre28. Eine Bezugnahme auf Art. 103 II GG, mit der Konsequenz eines Monierens fehlender Versuchsregelungen für Regelbeispiele, ist nach alledem schon im Ansatz verfehlt. – Wenn in der Lehre sogar höhere Anforderungen als an eigentliche (Qualifikations-)Tatbestände gestellt werden, nämlich stets die „Vollendung“ des Regelbeispiels verlangt wird, lässt sich das aus der vom Gesetzgeber gewählten Formalisierung von Strafzumessungsumständen jedenfalls nicht ableiten. Auch die Tatsache, dass die Gesetzgebungstechnik der Regelbeispiele eine weniger rigide ist als die Tatbestandstechnik, spricht für die Annahme der Regelwirkung in Versuchsfällen. Es müsste rätselhaft bleiben, weshalb das Ansetzen analog § 22 StGB gerade hier nicht für den Eintritt der Versuchs-Regelwirkung ausreichen soll. Denn eben diese Flexibilität der Regelbeispielstechnik eröffnet bei Zweifeln an einer hinreichenden Unrechtstypisierung für den Einzelfall die Möglichkeit, in der Strafdrohung des Grundtatbestands zu verbleiben. Ein tragfähiger Ansatz für das Erfordernis einer vollständigen Erfüllung des Regelbeispiels ergibt sich immerhin dann, wenn das fragliche Regelbeispiel durch ein spezifisches, für eigentliche Straftatbestände untypisches Erfolgsmoment geprägt ist. Davon ist im Regelfall freilich nicht auszugehen. Jedenfalls sind Parallelen zu objektiven Bedingungen der Strafbarkeit nicht ersichtlich. Gleichwohl sind nicht alle Regelbeispiele hinsichtlich des Zusammenspiels von Handlungs- und Erfolgsunrecht gleich strukturiert29. So kommt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes als Kandidat für eine wesentlich objektivierende Interpretation eines Regelbeispiels § 263 III S. 2 Nr. 2, 1. Alt. StGB in Betracht30. Tatsächlich spricht hierfür schon der Wortlaut des Gesetzes, der das tat28 Vgl. auch BGHSt 33, 370, 374 f.; andere Folgerungen ziehen hier Küper, JZ 1986, 518, 524 f.; Wessels/Hillenkamp, BT 232, 2009, Rn. 207. 29 Vgl. Küper, JZ 1986, 518, 522 f. 30 Vgl. BGHSt 48, 354, 356 ff.; BGHSt 48, 360, 362; zust. etwa Heinrich, BT II, 2009, Rn. 612; Fischer, StGB57, 2010, § 263 Rn. 217.
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sächliche „Herbeiführen“ eines Vermögensverlusts großen Ausmaßes voraussetzt, während Nr. 2, 2. Alt. auf das bloße Herbeiführen einer Vermögensgefährdung abstellt. Ganz konsequent hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes daraufhin entschieden, dass im Falle eines Betrugsversuchs beim (noch) nicht Vorliegen eines derartig großen Vermögensverlusts eine Regelwirkung nicht eintritt; nur aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung kann hier ein atypischer besonders schwerer Fall angenommen werden31. – Es zeigt sich somit, dass der Eintritt der Regelwirkung beim Deliktsversuch zwar grundsätzlich nicht mehr verlangt, als das Ansetzen zur Verwirklichung des Regelbeispiels, dass aber Sonderfälle einer betont objektivierenden Ausformulierung des Regelbeispiels eine andere Behandlung erfordern. 3. Das „versuchte Regelbeispiel“ bei Vollendung des Grunddelikts Besondere Komplikationen ergeben sich bei der Konstellation vollendeter Diebstahl plus versuchte Verwirklichung eines Regelbeispiels. Man denke etwa an den Fall, dass die Türe, die der letztlich erfolgreiche Dieb zunächst aufbrechen wollte, gar nicht verschlossen war. Keine Besonderheiten ergibt die wohl herrschende Lehre, die dem bloßen Ansetzen zur Regelbeispielsverwirklichung nie eine Regelwirkung zuspricht32. Auch in der hier zu behandelnden Mischkonstellation aus Vollendung und Versuch wäre demnach der Eintritt der Regelwirkung zu verneinen. Geht man mit der Rechtsprechung und auch der hier vertretenen Ansicht davon aus, dass die versuchte Regelbeispielsverwirklichung eine Regelwirkung speziell für die versuchte Tat nach sich ziehen kann, dann scheint sich eine irritierende Besserstellung desjenigen zu ergeben, der die Wegnahme vollendet hat und daher beim vollendeten Delikt die lediglich „versuchten“ Regelbeispiele nicht mehr angelastet erhält. Die Indizwirkung beim späteren Fortschreiten der Tat ins Vollendungsstadium wieder entfallen zu lassen, hält man nachvollziehbarer Weise für wertungsmäßig hoch problematisch. Denn derart würde die Vollendung als schwerere Tat nach einem niedrigeren Strafrahmen bestraft werden als der – wenngleich gem. §§ 23 II, 49 I StGB strafrahmengemilderte – Versuch derselben Tat33. Daraus den Schluss zu ziehen, es reiche für das Herstellen der Regelwirkung beim vollendeten Delikt auch das nur „versuchte“ Regelbeispiel34, kann angesichts des insoweit geringeren Handlungs- und ganz fehlenden Erfolgsunrechts Vgl. BGH, StV 2007, 132; zust. Rengier, BT I11, 2009, § 3 Rn. 53. Vgl. oben Fn. 20. 33 Vgl. etwa BayObLG, JR 1981, 118 f., 119; Zipf, JR 1981, 119, 121; Graul, JuS 1999, 852, 856 f.; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2, 2009, § 14 Rn. 39; S/S/WStGB/Kudlich, 2009, § 243 Rn. 41; dazu auch Küper, JZ 1986, 518, 521. 34 So etwa Fabry, NJW 1986, 15, 20. 31 32
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nicht überzeugen35. Zipf hat daher die Kompromissbildung des „versuchsähnlichen Falles“ vorgeschlagen, für den der Strafrahmen aus §§ 242, 243, 23 zu entnehmen wäre36. Eine nur begrenzte Entschärfung des Problems lässt sich über die Option herstellen, bei nur versuchtem Regelbeispiel im Vollendungsfalle immerhin einen unbenannten besonders schweren Fall annehmen zu können, wenn das gezeigte Handlungsunrecht hinlänglich schwer wiegt37. Eine letztlich überzeugende Lösung könnte sich freilich aus den Konkurrenzregeln ergeben. Widerspricht man mit der hier vertretenen Ansicht der Lehrmeinung vom Ausbleiben der Regelwirkung in Fällen des „versuchten“ Regelbeispiels, liegt die Annahme von Idealkonkurrenz des versuchten Delikts in einem besonders schweren Falle mit dem vollendeten Grunddelikt nahe. Insoweit steht freilich der Einwand im Raum, es könne wegen des fehlenden Tatbestandscharakters des „versuchten besonders schweren Falles“ dieser auch nicht als idealkonkurrierender Versuch zur Vollendung des Grunddelikts hinzutreten38. Eine solche Sicht der Dinge dürfte auf der Prämisse beruhen, dass die – hier durch die Regelwirkung geprägte – versuchte Tat durch die Weiterentwicklung des Geschehens zu einer Tatvollendung (hinsichtlich des Grunddelikts) ihre Existenz bzw. rechtliche Eigenständigkeit verliert. Der Versuch stellt aber kein bloßes minus gegenüber dem vollendeten Delikt dar. Das zeigt sich schon daran, dass durch die Regelung des § 22 StGB die Strafbarkeit gegenüber dem im Besonderen Teil pönalisierten Verletzungs- oder Gefährdungshandeln vorverlagert und damit erweitert wird. Denn der Versuchstatbestand kann ganz unabhängig von der Verwirklichung irgend eines objektiven Deliktsmerkmals aus dem Besonderen Teil, d.h. schon vor dieser vollendungsrelevanten Phase, einsetzen39 und wird – wie aus § 23 III StGB zu schließen ist – grundsätzlich auch in der Ausprägung als (absolut) „untauglicher Versuch“ erfüllt. Wenn also für Versuchsstrafbarkeit nicht einmal eine (auch nur teilweise) objektive Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen einer Strafnorm des Besonderen Teils vorauszusetzen ist, wird darin die tatbestandliche Selbständigkeit des 35
Vgl. auch S/S/W-StGB/Kudlich, 2009, § 243 Rn. 40. Zipf, JR 1981, 119, 121; ebenso Reichenbach, Jura 2004, 260, 266 f.; Heinrich, BT II, 2009, Rn. 143; ferner LPK-StGB4 /Kindhäuser, 2010, § 243 Rn. 49. 37 Vgl. oben Fn. 23. 38 So etwa Küper, JZ 1986, 518, 525; Degener, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 305, 335 f.; Zieschang, Jura 1999, 561, 566 f.; Schönke/Schröder/Eser, StGB27, 2006, § 243 Rn. 59; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 243 Rn. 24; Rengier, BT I11, 2009, § 3 Rn. 55; NK-StGB3 /Kindhäuser, 2010, § 243 Rn. 61; vgl. auch S/S/W-StGB/Kudlich, 2009, § 243 Rn. 40. 39 Vgl. nur etwa RGSt 59, 386; RGSt 68, 336 f.; RGSt 77, 1 ff.; BGHSt 2, 380 f.; BGHSt 26, 201 ff.; aus der Lit. vgl. statt Vieler SK-StGB6 /Rudolphi, 1993, § 22 Rn. 10 ff.; Schönke/Schröder/Eser, StGB27, 2006, § 22 Rn. 39 ff.; LK12 /Hillenkamp, 2007, § 22 Rn. 77, 99 ff. 36
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Versuchs gegenüber der Vollendung deutlich. Da der Versuchstatbestand folglich nicht einfach unvollständige Vorform des Vollendungstatbestands ist40, stellt sich die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis von Versuch und Vollendung. Insoweit gilt, dass Strafänderungen wie die besonders schweren Fälle in Verbindung mit dem jeweiligen Grundtatbestand konkurrenzrelevant sind41, nicht etwa nur die von Strafzumessungselementen gereinigten Grundtatbestände42. Denn Konkurrenzentscheidungen finden ihre Bedeutung gerade im Strafzumessungsbereich und können von daher die besonders schweren Fälle nicht ausser Acht lassen, ohne den Regelungszweck der Konkurrenzen überhaupt in Frage zu stellen. Sehr deutlich wird das daran, dass bei Idealkonkurrenz die Entscheidung über die schwerste angedrohte Strafe i. S. v. § 52 II StGB unstrittig in konkreter Betrachtung zu erfolgen hat und daher der erhöhte Strafrahmen ggf. aus einem besonders schweren Fall zugrunde zu legen ist43. Und Entsprechendes gilt im Rahmen der Gesamtstrafenbildung für die Bestimmung der Einsatzstrafe i. S. v. § 54 I S. 2 StGB. In Konkurrenz treten also z. B. der versuchte Diebstahl in einem besonders schweren Falle und der – im weiteren Gang der Dinge – vollendete einfache Diebstahl. Gemeinhin geht man in der Konstellation des Zusammentreffens von Versuch und Vollendung derselben Tat von Subsidiarität des versuchten Delikts aus44. Da hier aber allein der Versuch diejenigen Momente enthält, die Handlungsunrecht und Schuld steigern und damit den höheren Strafrahmen rechtfertigen, andererseits aber das besondere Erfolgsunrecht der Tatvollendung eigene Beachtung verdient, wäre ein Zurücktreten der einen Strafdrohung hinter der anderen – etwa der §§ 242, 243 I, 22, 23 StGB hinter dem vollendeten § 242 (oder umgekehrt) – sachwidrig. Mit Puppe ist Idealkonkurrenz zu bejahen, wenn „der Täter mehr Unrecht zu begehen versuchte als er erreicht hat“ 45. 40 Vgl. Schmidhäuser, AT2, 1984, 11 Rn. 3; Alwart, GA 1986, 245 ff.; Hardtung, Jura 1996, 293 ff.; Herzberg, JuS 1996, 377, 378 f.; Streng, ZStW 109 (1997), 862, 867; ders., Otto-FS, 2007, S. 469, 474; anders aber Gössel, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft (Swarc-FS), 2009, S. 193, 203 f. 41 Vgl. Eisele, Regelbeispielsmethode (Fn. 2), S. 355. 42 So aber R. Schmitt, Tröndle-FS, 1989, S. 313, 316; Zieschang, Jura 1999, 561, 566 f. 43 Vgl. etwa SK-StGB6 /Samson/Günther, 1995, § 52 Rn. 32; MüKo-StGB/v. Heintschel-Heinegg, 2005, § 52 Rn.114 f.; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben, StGB27, 2006, § 52 Rn. 37; Fischer, StGB57, 2010, § 52 Rn. 3. 44 Vgl. BGH, NStZ-RR 2005, 201 f., 202; Hardtung, Jura 1996, 293, 295; MüKoStGB/v. Heintschel-Heinegg, 2005, Vor § 52 Rn. 47; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben, StGB27, 2006, Vor § 52 Rn. 110; LK12 /Rissing-van Saan, 2006, Vor § 52 Rn. 131 f.; Kühl, AT6, 2008, § 21 Rn. 54; hingegen für Spezialität Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen, 1979, S. 331; NK-StGB3 /Puppe, 2010, Vor § 52 Rn. 10. 45 Puppe, Idealkonkurrenz (Fn. 44), S. 337; vgl. auch Eisele, JA 2006, 309, 315; NK-StGB3 /Puppe, 2010, Vor § 52 Rn. 14; ferner BGHSt 9, 131, 135; LK12 /Rissing-van Saan, 2006, Vor § 52 Rn. 132; Kühl, AT6, 2008, § 21 Rn. 56.
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Auf dieser Grundlage, nämlich Idealkonkurrenz eines Versuchs in einem besonders schweren Falle mit dem entsprechenden vollendeten Grunddelikt, ist weiterhin zu entscheiden, ob hinsichtlich des strafrahmengeschärften Versuchs von der in § 23 II StGB eröffneten Strafmilderung46 Gebrauch gemacht werden soll. Man wird das im Regelfall für die angemessene Vorgehensweise bei fehlender Tatvollendung halten dürfen. Maßgeblich ist sinnvoller Weise, ob der abstrakte Milderungsgrund des Gesetzes – hier die Nichtvollendung – für eine Strafrahmenmilderung spricht47. Unter dieser Prämisse scheint in der fraglichen Situation zunächst gegen eine Strafrahmenmilderung zu sprechen, dass die Vollendung immerhin des Grunddelikts eingetreten ist. Freilich führt diese Tatvollendung ohnehin zur (idealkonkurrierenden) Vollendungsstrafe. Zudem darf das den Strafrahmen des Grunddelikts verdrängende, straferhöhende Regelbeispiel nicht undifferenziert behandelt werden. Hier kommt es darauf an, inwieweit das fragliche Regelbeispiel durch Erfolgsunrecht mit geprägt ist. Wenn ein wesentliches erfolgsunrechts- und schuldkonstitutives Element infolge des nur „versuchten“ Regelbeispiels nicht zum Tragen gekommen ist, erscheint im Grundsatz eine Strafrahmenmilderung angebracht. Angesichts der auch im Ergebnis durchaus sachgerechten Konkurrenzlösung besteht für das von Zipf favorisierte – wohl kaum begründbare – Konstrukt eines „versuchsähnlichen“ Falles, für den der Strafrahmen aus §§ 242, 243, 23 zu entnehmen wäre48, kein Bedarf. Gleichzeitig fehlt es angesichts der Konkurrenzlösung am gelegentlich reklamierten Wertungswiderspruch zwischen Regelwirkung durch „versuchtes“ Regelbeispiel bei versuchtem Grunddelikt und fehlender Regelwirkung bei vollendetem Grunddelikt49. Von daher lassen sich aus der Versuchs-Vollendungs-Kombination auch keine Argumente gegen die oben (in III.2.) für eine Versuchs-Versuchs-Kombination bejahte Regelwirkung ableiten. IV. Schluss Im Rückblick drängt sich die Frage auf, weshalb die prima vista unkompliziert anmutende Frage nach dem Eintritt der Regelwirkung im Falle des bloß „versuchten“ Regelbeispiels so viel Meinungsstreit hervorgebracht hat. Angesichts 46 Ausgangspunkt für die Rahmenmilderung gem. § 49 I StGB ist ggf. die durch Strafrahmenschärfung konkretisierte Strafdrohung; vgl. LK12 /Theune, 2006, § 49 Rn. 11; Fischer, StGB57, § 49 Rn. 4; NK-StGB3 /Kett-Straub, 2010, § 49 Rn. 8. 47 Vgl. etwa Frisch/Bergmann, JZ 1990, 944, 949 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen2, 2002, Rn. 537; MüKo-StGB/Herzberg, 2003, § 23 Rn. 21 ff.; Schönke/Schröder/Eser, StGB27, 2006, § 23 Rn. 7; Meier (Fn. 6), S. 158; NK-StGB3 /Kett-Straub, 2010, § 49 Rn. 6 f. – Zur dem widersprechenden Gesamtbetrachtungslehre der Rspr. vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 9), Rn. 542 ff.; Fischer, StGB57, 2010, § 23 Rn. 3. 48 Zipf, JR 1981, 119, 121; ebenso Reichenbach, Jura 2004, 260, 266 f. 49 Vgl. dazu oben Fn. 33.
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der weitestgehenden Vergleichbarkeit der Regelbeispielstechnik mit der üblichen Tatbestandstechnik liegt eine Analogie eigentlich sehr nahe. Als Erklärungsansatz für die gleichwohl bestehenden Meinungsunterschiede dürfte besonders plausibel sein, dass jedenfalls in der Lehre ein erhebliches Grundmisstrauen gegen diese Form der Gesetzgebungstechnik existiert. Tatsächlich hat der Gesetzgeber mit der Regelbeispielstechnik und noch mehr mit den unbenannten Strafänderungen ein bedenkliches Maß an Unbestimmtheit in die Strafdrohungen hineingetragen. Auch wenn man – wie oben in II. – einen Verstoß gegen Art. 103 II GG nicht behaupten will, bleibt doch die Mahnung an den Gesetzgeber aktuell, die „sinnentleerte Systematik“ (Hettinger)50 der benannten wie unbenannten Strafänderungen zu verabschieden und zu tatbestandlich weniger weit ausgreifenden und entsprechend auch in der Strafdrohung engeren Straftatbeständen überzugehen. Die an sich berechtigte Kritik an der Regelbeispielstechnik nun aber gerade und nur für den Fall nicht vollständig realisierter Regelbeispiele in eine restriktive Anwendung derart gestalteter Strafnormen umzusetzen, kann jedoch nicht überzeugen. Denn angesichts deren tatbestandsartiger Beschreibung von Handlungs- und Erfolgsunrecht ergibt sich – jedenfalls grundsätzlich – keine unter Bestimmtheitsgrundsätzen zu kritisierende Sondersituation beim „versuchten“ Regelbeispiel in Relation zum versuchten Tatbestandsmerkmal. Noch weniger als bei eigentlichen Qualifikationstatbeständen droht hier die Gefahr einer überzogenen Versuchspönalisierung. Positiv zu vermerken ist insoweit die Offenheit der Regelbeispiele für einen Ausstieg aus der Versuchsstrafrahmenerhöhung in Fällen atypisch geringen Handlungs- und/oder Erfolgsunrechts bei nicht (vollständiger) Erfüllung der im Tatentschluss enthaltenen Regelmerkmale.
50 Hettinger, GA 1995, 399, 419; vgl. für Kritik etwa auch Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 14), S. 217 ff.; Maiwald, NStZ 1984, 433, 439 f.; Goydke, OderskyFS, 1996, S. 371, 373 f., 382 f.; Scheffler, ZStW 117 (2005), 766, 775 ff.
Zur Erfolgszurechnung in den „Verfolgerfällen“ Von Carl-Friedrich Stuckenberg Die Klasse der sogenannten Verfolgerfälle wirft die Frage auf, ob derjenige, der vor einer Person, die ihn berechtigterweise festnehmen oder festhalten will, flieht, für die Schäden verantwortlich ist, die sich der Verfolger durch sein Verfolgungsverhalten selbst zuzieht. Herausgebildet wurde diese Fallgruppe durch die zivilrechtliche Rechtsprechung zur deliktischen Schadensersatzhaftung, während es im Strafrecht, soweit ersichtlich, bislang keine veröffentlichten Judikate gibt, die diese Zurechnungsfrage erörtern.1 Im strafrechtlichen Schrifttum waren bis zum Erscheinen zweier neuerer Monographien2 nur knappe Stellungnahmen als Annex zur Behandlung der viel diskutierten „Retterfälle“ zu finden. Angesichts ihrer umfassenden Arbeiten zur Rationalisierung der Zurechnungslehre gehört Ingeborg Puppe erwartungsgemäß zu den wenigen, die für die Fallgruppe der Verfolgerfälle einen differenzierten Lösungsvorschlag entwickelt haben.3 Daran versuchen die folgenden Überlegungen anzuknüpfen. Bei den Verfolgerfällen geht es wie bei den Retterfällen darum, ob die Verursachung fremder Selbstgefährdung in dieser Fallklasse unerlaubt sein kann und, falls ja, in welchem Umfang für die Folgen strafrechtlich gehaftet wird. Anders als bei den Retterfällen jedoch spielen hier weder notstandsähnliche Güterabwägungen zwischen dem Wert des zu rettenden Gutes und dem Maß der Selbstgefährdung noch der Gedanke, daß der Retter an sich die aus Ingerenz resultierende Rettungspflicht des Täters erfülle, eine Rolle. Statt dessen tritt der Aspekt der Selbstbegünstigung in oft wenig geklärter Weise hinzu. Beiden Fallgruppen gemein ist der kaum je vertieft diskutierte Vorschlag Roxins4 einer grundsätzlichen normativen Scheidung von Risikobereichen, mit anderen Worten, ungeachtet der
1 BGHSt 22, 362, 364 bejaht ohne nähere Begründung § 222 StGB für den Fall, daß das Opfer eines Raubes bei der Verfolgung der Räuber im Dunkeln zu Fall kam und daran starb. BGH JZ 1967, 639 erwähnt im Tatbestand lediglich, daß der fliehende Beklagte zu Strafe verurteilt worden sei ohne Angabe der Tatbestände (im Fall war zudem § 21 Abs. 1 StVG erfüllt). 2 Mark Otto, Strafrechtliche Zurechnungsprobleme bei den sogenannten Verfolgerfällen, 2007; Strasser, Die Zurechnung von Retter-, Flucht- und Verfolgerverhalten im Strafrecht, 2008. 3 Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Band 1, 2002, § 6 Rn. 40 ff. = dies., Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 175 ff.; knapper zuvor NK-StGB1/2 /Puppe [Loseblatt] 1998, Vor § 13 Rn. 171 a. E.
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Mitursächlichkeit ganze Risikogruppen ausschließlich einem fremden Verantwortungsbereich wie staatlich organisierten Rettungsmaßnahmen oder eben der Strafverfolgung zuzuweisen. Als Ausgangspunkt soll die zivilrechtliche Rechtslage in Erinnerung gerufen werden, da trotz unterschiedlicher Zwecke der Zurechnung sich manche Fragen in Zivil- und Strafrecht in gleicher Weise ergeben. I. Die Verfolgerfälle im Zivilrecht Zunächst hatte der Bundesgerichtshof in einer 1964 ergangenen Entscheidung5 die Haftung des Fliehenden für Schäden des Verfolgers in Parallele zu den Retterfällen des Reichsgerichts6 als adäquat kausal bejaht, sofern die vom Schädiger herbeigeführte Lage generell geeignet ist, das Eingreifen des Verletzten auszulösen, wenn nicht gar nahezu zwangsläufig herauszufordern. Im Fall wurde dem Kläger, der als Zeuge einer Unfallflucht den Unfallflüchtigen zwecks Festnahme nach § 127 StPO mit hoher Geschwindigkeit, nämlich auch in einer vereisten Baustelle mit 100 km/h statt der vorgeschriebenen 20 km/h, verfolgte und dabei aus der Kurve getragen wurde, ein Anspruch auf Ersatz von drei Vierteln seines Sachschadens aus § 823 Abs. 1 BGB zugesprochen. 1967 erkannte der BGH dem aus übergegangenem Recht klagenden Land Schadensersatz zu, nachdem ein Autofahrer, dessen hintere Kennzeichenbeleuchtung defekt war, weshalb ihm ein Funkstreifenwagen zu halten gebot, floh und der ihn mit hoher Geschwindigkeit verfolgende Polizeiwagen aus der Kurve geschleudert wurde.7 Das OLG Düsseldorf hatte hingegen 1969 eine Haftung des Flüchtenden für den Unfall des verfolgenden Streifenwagens verneint, weil die Flucht allein nicht rechtswidrig sei.8 In der grundlegenden Entscheidung9 vom 13.7.1971 fragt der 6. Zivilsenat nicht mehr nach der adäquaten Verursachung des Schadens, sondern nach dessen objektiver Zurechenbarkeit und formuliert das auf Larenz10 zurückgehende Kriterium der „Herausforderung“ des selbständigen Dazwischentretens des Verletzten, das die sonst gebotene Unterbrechung der Zurechnung ausschließe. Denn im 4 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4, 2006, § 11 Rn. 137 f.; in der Sache bereits ders., in: Festschrift Honig, 1970, S. 132, 142 f.; ders., in: Festschrift Gallas, 1973, S. 241, 246 ff. 5 BGH NJW 1964, 1363 = VersR 1964, 684. 6 RGZ 29, 120; 50, 219, 223; 164, 125. 7 BGH VersR 1967, 580 = JZ 1967, 639 m. abl. Anm. Deutsch. 8 OLG Düsseldorf VersR 1970, 713, 714. 9 BGHZ 57, 25 = NJW 1971, 1980 = JZ 1971, 964 = VersR 1971, 964 = LM § 823 BGB (C) Nr. 38 m. Anm. Nüßgens. 10 Larenz, Karlsruher Forum 1959, 12; ders., Schuldrecht I6, 1960, § 14 III b, S. 129 Fn. 3, später ders., Schuldrecht I14, 1987, § 27 III b 5, S. 454; ders., in: Festschrift Honig, 1970, S. 79, 87.
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Grundsatz gebe es weder ein allgemeines Gebot, andere vor Selbstgefährdung zu bewahren, noch auch nur ein Verbot, sie zur Selbstgefährdung psychisch zu veranlassen.11 Voraussetzung für die Schadensersatzpflicht ist neben der psychisch vermittelten Kausalität demnach, daß der Verfolger sich zur Verfolgung „herausgefordert“ fühlen durfte, „und zwar überhaupt und ggf. in der gewählten Art und Weise.“12 Es handelt sich um ein wertendes Kriterium, bei dem das Verhältnis des vom Flüchtenden angerichteten oder noch drohenden Schadens zu den Wagnissen der Verfolgung zu berücksichtigen ist. Sodann muß sich der erlittene Schaden als Realisierung eines über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehenden, gesteigerten Verfolgungsrisikos darstellen, und schließlich muß der Flüchtende mit der Schädigung gerechnet haben oder hätte mit ihr rechnen müssen (Verschulden). Ferner ist ein Mitverschulden des Verfolgers gemäß § 254 BGB zu prüfen, das sich sowohl auf die Nachvollziehbarkeit der Verfolgung überhaupt als auch auf deren Ausführung beziehen kann; das „Sich-herausgefordert-fühlenDürfen“ ist also kein Alles-oder-nichts-Kriterium13. Im Fall hatte ein Kontrolleur der Bundesbahn einen Schwarzfahrer eine Treppe hinab verfolgt, um die Personalien festzustellen, und sich bei einem Sturz das Bein gebrochen. Der Kontrolleur durfte sich herausgefordert fühlen, so daß der Fliehende zwei Drittel des Schadens zu ersetzen hatte. Am selben Tage versagte der BGH die Schadensersatzpflicht eines 16jährigen Mädchens, das zum Zweck einer Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten in ein Krankenhaus eingewiesen werden sollte und bei einer günstigen Gelegenheit floh, für den Muskelriß des verfolgenden Polizeibeamten, der auf feuchtem frisch geschnittenen Rasen ausgerutscht und gestürzt war, denn in dem Sturz habe sich nicht das gesteigerte Verfolgungsrisiko realisiert.14 Seitdem hat sich eine gefestigte Judikatur entwickelt.15 Bejaht wurde beispielsweise der Schadensersatzanspruch – eines Polizeibeamten, der bei der Verfolgung eines Jugendlichen, der einen Jugendarrest verbüßen sollte, aus einem Toilettenfenster im Erdgeschoß in eine 2 m tiefe Ausschachtung springt und sich dabei einen Fersenbruch zuzieht, freilich mit Hinweis auf § 254 BGB;16
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BGH NJW 1978, 421, 422 = VersR 1978, 183. BGHZ 57, 25, 31. 13 Dazu Teichmann, in: JZ 1996, 1181, 1882 f. 14 BGH NJW 1971, 1982 f. = VersR 1971, 962 = LM § 823 BGB (C) Nr. 39. 15 Überblicke bei M. Otto, Zurechnungsprobleme (Anm. 2), S. 6 ff.; RGRK12 /Steffen, 1989, § 823 Rn. 93 ff.; Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 256 ff.; Weber, in: Festschrift Steffen, 1995, S. 507 ff.; s. a. BGHZ 172, 263, 267 = NJW 2007, 2764 m. Anm. Elsner = JZ 2007, 1154 m. Anm. Teichmann; dazu auch Stoll, in: Festschrift Deutsch II, 2009, S. 943 ff. 16 BGHZ 63, 189 = JZ 1975, 374 m. abl. Anm. Deutsch = VersR 1975, 154; zur Vorinstanz OLG Düsseldorf NJW 1973, 1929 siehe Hübner, in: JuS 1974, 496 ff. 12
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– für die schweren Verletzungen – Bruch beider Beine mit anderthalbjähriger Dienstunfähigkeit – eines Polizeibeamten, der aus einem Fenster im ersten Stock springt, um fliehende Tatverdächtige zu verfolgen, die gerade dem Haftrichter vorgeführt werden sollten; zur Eingehung des Risikos habe sich der Beamte angesichts der erheblichen Tatvorwürfe herausgefordert fühlen dürfen, wobei ein Mitverschulden dadurch begründet sei, daß einiges dafür sprach, das Risiko nicht einzugehen,17 sowie – eines Privatmanns, der als Zeuge einer Unfallflucht den Täter verfolgte und auf eisglatter Fahrbahn verunglückte18.
In der oberlandesgerichtlichen Judikatur ist allerdings nicht stets nachvollziehbar, worin das oft nur lapidar behauptete gesteigerte Verfolgungsrisiko liegen soll, wenn Schadensersatz zugesprochen wird – für den Bruch des Handgelenks eines Polizisten, der über eine verschlossene Toilettentür klettert, um den vor einer Blutentnahme nach § 81a StPO durch das Toilettenfenster Fliehenden zu verfolgen;19 – für den Sturz eines Polizeibeamten mit Bruch des Handgelenks nach der Überwältigung des Beklagten, der sich einer Bestimmung seiner Blutalkoholkonzentration entziehen wollte;20 – für den Sachschaden am Funkstreifenwagen nach Kollision mit dem vor einer Kontrolle Fliehenden und für die durch den eigenen Warnschuß ausgelöste Tinnituserkrankung eines Beamten,21 oder – für den Körperschaden eines Polizisten, den dieser dadurch erleidet, daß er gegen ein plötzlich erscheinendes Einsatzfahrzeug läuft, das dem flüchtenden Dieb den Weg versperren will, aber wegen Blütenblättern auf der Fahrbahn zu weit rutscht22.
Abgelehnt wurde ein Schadensersatzspruch – für den Fersenbeinbruch eines Polizeibeamten, der aus einem Toilettenfenster im ersten Stock aus 4 m Höhe springt, um den fliehenden Jugendlichen dem Jugendarrest zuzuführen, da sich der Beamte angesichts des erheblichen Verletzungsrisikos nicht zur Verfolgung herausgefordert fühlen durfte, zumal es nur um einen Wochenendarrest ging und Name und Aufenthalt des Jugendlichen bekannt waren;23 – der Polizeibeamten, die mit einem Zivilfahrzeug ohne Signalhorn oder Blaulicht einem unzureichend beleuchteten Pkw auf einem unbefestigten und schneeglatten Waldweg folgen und dort verunglücken, da der nach Hause fahrende Beklagte gar nicht erkennen konnte, daß die Polizei ihm folgt, so daß es jedenfalls am Verschulden fehlte;24
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BGHZ 132, 164 = NJW 1996, 1533 = JZ 1996, 1178 m. Anm. Teichmann. BGH NJW 1981, 750 = VersR 1981, 161. OLG Düsseldorf NJW 1974, 1093, dazu Hübner, in: JuS 1974, 496, 501 f. OLG Saarbrücken NJW-RR 1992, 472. OLG Hamm NJW-RR 1998, 815 f. OLG Köln OLGR Köln 2001, 77 f. = VerkMitt 2001 Nr. 48. BGH NJW 1976, 568 = VersR 1976, 540 = LM § 823 BGB (C) Nr. 47. BGH NJW 1990, 2885 = NZV 1990, 425 m. Anm. H. Lange = VersR 1991, 111.
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– für den Verkehrsunfall von Polizeibeamten, die das verfolgte Fahrzeug aus den Augen verloren haben, wenn der Fliehende im Unfallzeitpunkt nicht mehr mit einer Verfolgung rechnen mußte, so daß kein unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Zusammenhang von Flucht und Verfolgung mehr bestehe25 und – für die Handverletzung infolge eines unzulässigen Faustschlags gegen einen in polizeilichen Gewahrsam genommenen Betrunkenen26.
Insgesamt besteht also eine Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 1 BGB in Fällen berechtigter Verfolgung weder für die zum allgemeinen Lebensrisiko gehörenden „normalen Risiken der Nacheile“, die nach Ansicht des BGH bei Polizisten zum beruflichen Einsatzrisiko zählen und nicht auf den Fliehenden verlagert werden dürfen27 – das allgemeine Berufsrisiko bildet insoweit einen Unterfall des „allgemeinen Lebensrisikos“28. Ebenso wird nicht gehaftet für Risiken, die im Verhältnis zur Dringlichkeit der Verfolgung übermäßig sind und zu denen man sich folglich nicht mehr herausgefordert fühlen darf, wobei Hoheitsträger höhere Risiken eingehen dürfen als Privatpersonen.29 Ersatzpflichtig sind demnach nur Schäden, die über dem normalen Nacheilerisiko liegen, ohne unverhältnismäßig zu sein, unter der Voraussetzung, daß der Fliehende die Verfolgung bemerken konnte und mußte, wobei oft noch ein Mitverschulden des Verletzten berücksichtigt wird. Diese Judikatur findet im zivilrechtlichen Schrifttum überwiegend Zustimmung30 und wird meistens unter dem Topos des „Schutzzwecks der Norm“ rubriziert. Kritiker meinen, daß schon angesichts dieses „kümmerlichen Haftungssubstrats“31 die Haftung besser ganz auszuschließen wäre32. Kaum jemand will alle
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OLG Nürnberg NZV 1996, 411 m. Anm. Kunschert 485. OLG Bremen NJW-RR 2000, 171. 27 BGHZ 57, 25, 32; 132, 164, 167; BGH NJW 1971, 1982, 1983. 28 BGHZ 172, 263, 265. 29 BGHZ 132, 164, 167 f.; BGH NJW 1981, 750 f. 30 Statt aller Armbrüster, in: JuS 2007, 605, 607 f.; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht2, 2006, S. 104 ff.; Erman12 /Ebert, 2008, Vor § 249 Rn. 57; Gehrlein, in: VersR 1998, 1330, 1331 f.; Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 434 f.; MüKo-BGB5 /Oetker, 2007, § 249 Rn. 164 f. m. zahlr. Nachw. in Fn. 650 ff.; Palandt68 /Heinrichs, 2009, Vor § 249 Rn. 77 ff., 78; Soergel12 /Mertens, 1990, Vor § 249 Rn. 138; Staudinger/Schiemann, §§ 249–254 (2005), § 249 Rn. 48 ff.; Strauch, in: VersR 1992, 932 ff.; s. a. M. Otto, Zurechnungsprobleme (Anm. 2), S. 18 ff.; Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 263 ff., jew. m. w. Nachw. 31 Kötz/Wagner, Deliktsrecht10, 2006, Rn. 202. 32 Kötz/Wagner, Deliktsrecht (Anm. 31), Rn. 202; MüKo-BGB5 /Wagner, 2009, § 823 Rn. 289; ähnl. Esser/Schmidt, Schuldrecht Band I, Allgemeiner Teil8, 2000, § 33 II 2a), S. 235; Lange/Schiemann, Schadensersatz3, 2003, § 3 X 2b), S. 134 f.; Hans Stoll, Neuere Entwicklungen auf dem Gebiete des deutschen Schadensrechtes, in: Skrifter utgivna av Juridiska föreningen i Lund, Nr. 12 (1976), S. 12 ff.; ders., in: Festschrift Deutsch II, S. 943, 947 ff. 26
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Schäden zurechnen,33 sondern umgekehrt wird für gut vertretbar oder gar geboten gehalten, daß grundsätzlich alle Schäden der Strafverfolgung, die nicht unmittelbaren Angriffen des Flüchtenden auf die Beamten entspringen, ebenso wie Schäden speziell zur Rettung eingerichteter Institutionen (wie der Feuerwehr) vom Staat, der dafür Steuermittel erhalte, zu tragen seien,34 während die Rechtsprechung dies nur für „normale“ Nacheileschäden annimmt. Risiken der Verwaltungsfunktionen dürften nicht auf den Bürger, genauer die Strafverfolgungskosten nicht unbegrenzt auf den Straftäter abgewälzt werden.35 Als argumentum ad absurdum wird vorgebracht, wenn der Fliehende regelmäßig für den Verfolgerschaden einstehen müßte, müßte er auch wegen fahrlässiger Körperverletzung zu bestrafen sein.36 Bemängelt wird ferner, daß vor allem in der frühen Rechtsprechung selten präzise festgestellt werde, worin eigentlich der haftungsbegründende Unrechtstatbestand liege.37 Die Judikatur laufe auf die Statuierung von Sorgfaltsstandards für den „ordentlichen Flüchtigen“ hinaus,38 obschon die Flucht im Grundsatz nicht verboten sei, und wenn doch, wie durch polizeiliche Verfügung oder nach § 142 StGB, so bezwecke die Verbotsnorm nicht den Schutz der körperlichen Integrität des Verfolgers39. Jede Verfolgung sei mit besonderen „tätigkeitsspezifischen“ Gefahren verbunden, folglich die Unterscheidung zwischen gesteigerten und normalen Verfolgungsrisiken nicht praktikabel.40 Schwer erträglich sei, die Flucht einerseits als grundsätzlich erlaubt, andererseits aber als Herbeiführung einer sozial inadäquaten Gefahrenlage anzusehen, was auf ein „zivilrechtliches Fluchtverbot“ hinauslaufe.41 Zum Teil wird eine Haftungsbeschränkung auf Fälle, in denen der Fliehende gleichsam „Herr des Geschehens“ ist und dem Verfolger ein gesteigertes Risiko – etwa kraft überlegener Ortskenntnis, somit einem mittelbaren Täter gleich – aufzwingen kann, befürwortet.42
33 So aber Strauch, in: VersR 1992, 932, 935 f.; dagegen Teichmann, in: JZ 1996, 1181, 1182. 34 Martens, in: NJW 1972, 740, 746; Teichmann, in: JZ 1996, 1181, 1182 m. Fn. 13; ähnl. RGRK12 /Steffen, § 823 Rn. 94; Stürner, in: VersR 1984, 297, 301; Weber, in: Festschrift Steffen, S. 507, 513; dagegen Hübner, in: JuS 1974, 496, 499 f. 35 RGRK12 /Steffen, § 823 Rn. 94; Stürner, in: VersR 1984, 297, 301; Stoll, in: Festschrift Deutsch II, S. 943, 948 m. Fn. 17, S. 952 Fn. 33. 36 Deutsch, in: JZ 1975, 375, 377. 37 Esser/Schmidt (Anm. 32), S. 235; Martens, in: NJW 1972, 740, 741, 742. 38 Kötz/Wagner (Anm. 31), Rn. 202. 39 Esser/Schmidt (Anm. 32), S. 235; Lange/Schiemann (Anm. 32), S. 135; Lange, NZV 1990, 426; RGRK12 /Steffen, § 823 Rn. 94. BGH NJW 1981, 750, 751, ließ offen, ob § 142 StGB Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB für den Verfolger ist. 40 Stoll, Neuere Entwicklungen (Anm. 32), S. 13; ders., in: Festschrift Deutsch II, S. 943, 948. 41 Lange/Schiemann (Anm. 32), S. 135. 42 RGRK12 /Steffen, § 823 Rn. 96.
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II. Die Verfolgerfälle im Strafrecht 1. Überblick über den Meinungsstand Auch im strafrechtlichen Schrifttum ist die Behandlung der Verfolgerfälle umstritten.43 Teils werden die Kriterien der strafrechtlichen Rechtsprechung in den sog. „Retterfällen“ mehr oder weniger unbesehen übertragen, wonach dem Verursacher einer Gefahr die Körperverletzung oder der Tod desjenigen, der bei einer Rettungsaktion, etwa beim Löschen eines Brandes, sich selbst verletzt oder gar zu Tode kommt, zugerechnet werden soll, wenn es sich nicht um einen von vornherein sinnlosen oder offensichtlich übermäßig gewagten Rettungsversuch handelt.44 Ein einsichtiges Rettungsmotiv schließe die Freiverantwortlichkeit der Selbstgefährdung des Retters aus, sofern das eingegangene Risiko nicht unverhältnismäßig groß45 bzw. das Rettungsverhalten nicht mutwillig46 sei. Vereinzelt werden höhere Ansprüche an die als zurechnungsbegründend angesehene Zwangswirkung des Auslöseverhaltens gestellt. So verlangt Degener, der sowohl die Retter- als auch die Verfolgerfälle als Erscheinungsformen fahrlässiger mittelbarer Täterschaft ansieht, einen inneren Handlungszwang, der sich zwar oft, aber nicht notwendigerweise aus Rechtspflicht oder Güterabwägung allein ergebe.47 Bei erlaubtem Ausgangsverhalten wie Flucht tendiert er zur Tatbestandslosigkeit.48 Mark Otto hingegen fordert in der ersten Monographie zu den Verfolgerfällen neben der subjektiven emotionalen Zwangslage des Verfolgers noch die objektive Allgemeinverständlichkeit und soziale Anerkennung der Ver-
43 Zusammenstellung bei M. Otto, Zurechnungsprobleme (Anm. 2), S. 134 ff.; Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 265 ff. 44 Vgl. nur BGHSt 39, 322, 325 f. m. Anm. Sowada, JZ 1994, 663; NK-StGB3 / Puppe, 2010, Vor § 13 Rn. 186 ff.; Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil I (Anm. 3), § 6 Rn. 34 ff. = dies., Erfolgszurechnung (Anm. 3), S. 171 ff.; Bernsmann/Zieschang, in: JuS 1995, 775; Günther, in: StV 1995, 78, 80; s. a. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 472 ff.; Jakobs, in: ZStW 89 (1977), 1, 31 ff.; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 11 Rn. 55 ff.; LK11 /Schroeder, 1994/ 2003, § 16 Rn. 182; MüKo-StGB/Freund, 2003, Vor § 13 Rn. 386 ff.; MüKo-StGB/ Duttge, § 15 Rn. 153 ff.; Roxin, in: Festschrift Gallas, S. 241, 246 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (Anm. 4), § 11 Rn. 138 ff.; Rudolphi, in: JuS 1969, 549, 557; SKStGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 80 f.; jüngst OLG Stuttgart NStZ 2009, 331, 332 f. m. Anm. Puppe. 45 Vgl. nur Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 344 ff.; ders., Objektive Zurechnung und modernes Strafrechtssystem, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 3, 6. 46 Jakobs, in: ZStW 89 (1977), 1, 34. 47 Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte, 2001, S. 362 ff. 48 Degener, Schutzzweck der Norm (Anm. 47), S. 374 f.
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folgung.49 Andere differenzieren in der Weise, ob der Handelnde rechtlich zur selbstgefährdenden Handlung verpflichtet war, etwa als Polizist zur Verfolgung eines Straftäters, während Schäden des privaten Verfolgers nicht zurechenbar seien.50 Nur wenige Stimmen nehmen bei freiverantwortlichem Handeln grundsätzlich eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs an, teils wegen „Kausalität aus Freiheit“51, teils weil der Ersthandelnde das Tun des zweiten nicht beherrsche52. Hingegen nimmt Roxin53 wie bei den Retterfällen grundsätzlich eine frei verantwortliche Selbstverletzung an, wenn der Verfolger nicht zu seiner Handlung verpflichtet war, sondern „aus freiem Belieben“ handelte; bestand hingegen eine Rechtspflicht zur Verfolgung wie bei Berufsträgern, so trage der Gesetzgeber das Berufsrisiko. Eine Ausnahme wird erwogen, aber nicht ausgeführt, wenn der Verfolger in Notwehr handelt, weil das Opfer eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs gewiß in den Schutzbereich der Norm fiele.54 Ablehnende Ansichten führen vielfach an, daß die Zurechnung der Verfolgerschäden zum Flüchtenden darauf hinauslaufe, von dem Flüchtenden zu verlangen, nicht zu fliehen,55 also sich zu stellen, was gegen die grundsätzliche Selbstbegünstigungsfreiheit bzw. den verfassungskräftigen Grundsatz nemo tenetur seipsum prodere verstoße.56 Wegen dieser Freiheiten dürfe die Flucht selbst nicht als pflichtwidrig gelten. Zu diesem Ergebnis kommt auch die zweite einschlägige 49
M. Otto, Zurechnungsprobleme (Anm. 2), S. 139 ff. Zur Strafbarkeit der einverständlichen Fremdgefährdung, 1990, S. 187 f.; LK /Walter, 2007, Vor § 13 Rn. 119 a. E.; Schönke/Schröder27 /Cramer/Sternberg-Lieben, 2006, § 15 Rn. 168; ähnl. Biewald, Regelgemäßes Verhalten und Verantwortlichkeit, 2003, S. 210 f. 51 Diel, Das Regreßverbot als allgemeine Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1996, S. 279 ff. 52 Otto, in: Festschrift Maurach, 1972, S. 91, 97 ff.; ders., in: JuS 1974, 702, 704; ders., in: NJW 1980, 417, 422. 53 Roxin, in: Festschrift Honig, S. 132, 142 f.; ders., in: Festschrift Gallas, S. 241, 249; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (Anm. 4), § 11 Rn. 139 f.; ähnl. Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 1974, S. 115; ders., in: Festschrift Jescheck, 1985, S. 357, 370; Lewisch, in: ZVR 1989, 161, 166; H. Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 70 f. Fn. 2; ebenso Schünemann, in: JA 1975, 715, 722; knapp zust. Wehrle, Fahrlässige Beteiligung am Vorsatzdelikt – Regreßverbot?, 1986, S. 92 Fn. 28. 54 Roxin, in: Festschrift Gallas, S. 241, 249 Fn. 26. 55 So aber ausdrücklich Biewald, Regelgemäßes Verhalten (Anm. 50), S. 211; ablehnend (im Zivilrecht) Lange, in: NZV 1990, 426, 427; w. Nachw. bei M. Otto, Zurechnungsprobleme (Anm. 2), S. 28 f. 56 In diesem Sinne Frisch, in: NStZ 1992, 62, 65 (anders wohl noch ders., Tatbestandsmäßiges Verhalten [Anm. 44], S. 216 Fn. 243); Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 197; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 225 f.; Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil I3, 2008, § 9 Rn. 327; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (Anm. 4), § 11 Rn. 140; so schon OLG Düsseldorf VersR 1970, 713, 714. 50 Fiedler, 12
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Monographie.57 Dagegen wird wiederum eingewandt,58 daß Selbstbegünstigung dann nicht erlaubt und straffrei sei, wenn der Täter andere Rechtsgüter als die staatliche Strafrechtspflege verletze oder gefährde. Puppe unterscheidet deshalb danach, ob der Fliehende sich an die Verkehrsregeln gehalten habe (dann keine Zurechnung) oder nicht bzw. danach, ob der Verfolger Sonderrechte in Anspruch nahm (dann Zurechnung).59 2. Flucht als unerlaubtes Risiko? Zuerst ist die zu untersuchende Sachverhaltskonstellation genauer zu beschreiben. Es soll vornehmlich um den Grundfall der bloßen Flucht vor berechtigter Festnahme oder berechtigtem Festhalten kraft hoheitlicher Eingriffsbefugnis oder § 127 StPO gehen, d.h. um das schiere Sich-Entfernen durch Weglaufen, Wegfahren usw., die „schlichte“ 60 Flucht. Gesondert zu betrachten sind Varianten, in denen der Verfolgende weitere Notrechte genießt, z. B. bei der Verfolgung des mit der Beute fliehenden Diebes, oder in denen präventiv-polizeiliche Befugnisse ausgeübt werden, weil es zugleich um die Abwehr einer Gefahr geht, z. B. bei Verfolgung eines volltrunkenen Autofahrers. Wenig problematisch dürfte die Strafbarkeit des Fliehenden dann sein, wenn er gleichsam zum Gegenangriff übergeht, etwa in mittelbarer Täterschaft den Verfolger schädigt,61 indem er seinen Wissensvorsprung über gefährliche Örtlichkeiten wie eine Fallgrube ausnutzt oder einen Hinterhalt arrangiert. Dies gilt schließlich erst recht, wenn er den Verfolger unmittelbar angreift, sei es durch Schußwaffengebrauch, sei es, indem er mit seinem Kfz auf Polizeibeamte zufährt. Als möglicherweise verwirklichte Straftaten kommen bei einer „schlichten“ Flucht regelmäßig Körperverletzungs- und seltener Tötungsdelikte in Frage. Ob sie – wohl meistens – fahrlässig oder – selten – vorsätzlich verwirklicht werden, kann hier außer acht gelassen werden, da für die objektive Zurechnung des Erfolges bei Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten dieselben Kriterien gelten.62 An der
57
Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 277 ff., 291 f. Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil I (Anm. 3), § 6 Rn. 41 ff.; Derksen, Handeln auf eigene Gefahr, 1992, S. 204 Fn. 128; LK12 /Walter, Vor § 13 Rn. 119; Schönke/ Schröder27 /Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 168. 59 Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil I (Anm. 3), § 6 Rn. 41–44; undifferenziert hingegen LK12 /Walter, Vor § 13 Rn. 119. 60 In Anlehnung an den Terminus der „schlichten“ Selbstbegünstigung bei Ulsenheimer, GA 1972, 1. 61 Vgl. Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 168; LK12 /Walter, Vor § 13 Rn. 119; ähnl. Schünemann, JA 1975, 715, 722; auch RGRK12 /Steffen, § 823 Rn. 96; Stoll, Festschrift Deutsch II, S. 943, 949; Teichmann, JZ 1996, 1181, 1182. 62 Vgl. nur Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil I (Anm. 3), § 15 Rn. 1 ff. 58
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„psychisch vermittelten“ Kausalität der Flucht für die Verfolgung und eine dabei erlittene Verletzung wie einen Sturz etc. des Verfolgers besteht kein Zweifel, auch wenn sich das Fluchtverhalten mangels allgemeingültiger Gesetze über psychische Vorgänge nicht als gesetzmäßige Bedingung ausweisen läßt, sondern es genügen muß, daß der Verfolger das Verhalten des Fliehenden tatsächlich zum Grund seines Entschlusses, die Verfolgung aufzunehmen, genommen hat.63 Die maßgebliche Zurechnungsfrage ist dann, ob die Flucht ein unerlaubtes64 Risiko schafft, also rechtlich unerlaubt ist (auch) wegen der Gefahren, die dem Verfolger allein schon durch seine Nacheile erwachsen können. Die Antwort auf diese Frage ist nur zu finden durch den Zuschnitt von Verantwortungsbereichen nach dem Sinn strafrechtlicher Haftung, also weder durch bloßen Verweis auf die Kausalität des fraglichen Verhaltens für unerwünschte Erfolge, denn blinde Maximierung des Güterschutzes führt zu einem hypertrophen Strafrecht, noch durch Adäquanzerwägungen noch durch vordergründige Unterscheidungen nach dem Maß des Motivationsanreizes unterhalb der mittelbaren Täterschaft oder der Mittelbarkeit der Verursachung.65 Daß es sich um „Selbstschädigungen“ handelt, weil zeitlich letztes Glied in der Ursachenreihe der Geschädigte selbst ist, besagt für sich genommen normativ gar nichts, sondern zu klären bleibt, ob das Recht es hier erlaubt, Dritte in die Lage zu bringen, sich auf diese Weise selbst zu schädigen.66 Anders als bei den Retterfällen liegt bei den Verfolgerfällen nicht ein ohnehin verbotenes Verhalten vor, bei dem nur noch zu prüfen ist, ob über den Primärschaden hinaus noch weitere Schäden vom Verbotszweck erfaßt sind, worauf bei erfolgsqualifizierten Delikten der Normgeber sogar Bedacht genommen haben mag. Denn wenn der Täter nach Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit flieht, färbt die Rechtswidrigkeit solcher Tat nicht etwa auf die Flucht ab, was auf ein versari in re illicita hinausliefe.67 Im Gegenteil, es fehlt nicht nur an expliziten Verboten der Flucht nach rechtswidriger Tat, sondern im materiellen Strafrecht ist sogar ein Prinzip erkennbar, auf die Poenalisierung gewisser gewaltfreier selbstbegünstigender Handlungen zu verzichten, wie §§ 113, 120, 121, 257, 258 StGB zeigen. Einen allgemeinen Grundsatz der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung kennt das Strafrecht freilich nicht.68 Es wird vielmehr nur auf die Sanktionierung der Beeinträchtigung der staatlichen Repression verzich63
Vgl. allg. NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 125 ff., 131. Unscharf hingegen die Einstufung als „sozial inadäquates“ Risiko bei Maurach/ Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil I8, 1992, § 18 Rn. 67, die zudem nicht begründet wird. 65 Vgl. nur Jakobs, ZStW 89 (1977), 1, 2 ff., 6 f., 15 ff. 66 Vgl. nur Puppe, ZIS 2007, 247, 250 = Festschrift Androulakis, 2003, S. 555. 67 Zutr. (im Zivilrecht) Lange, NZV 1990, 426, 427; so schon Deutsch, JZ 1967, 641, 642; ders., JZ 1975, 375, 376. 68 Vgl. schon Ulsenheimer, GA 1972, 1 ff.; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 87 m. w. Nachw. 64
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tet, denn unbestritten gibt das Selbstbegünstigungsziel weder einen Rechtfertigungsgrund – schließlich ist die Freiheit etwa von Strafverfolgung gerade kein dem Fliehenden rechtlich garantiertes Gut – noch einen Entschuldigungsgrund – etwa nach § 35 StGB69, da die Strafverfolgung eben zu dulden ist – für aggressive Gegenwehr,70 bisweilen im Gegenteil sogar einen Strafschärfungsgrund in Gestalt der Verdeckungsabsicht71 wie z. B. in §§ 211, 306b Abs. 2 Nr. 2, 315 Abs. 3 Nr. 1b StGB. Damit ist indes noch keine Antwort gefunden, denn aus dem Verbot unmittelbarer Schädigung allein folgt noch nichts für den rechtlichen Status der Mitursächlichkeit an fremder Selbstschädigung, sonst müßte ein jeder Bürger, der andere ja grundsätzlich nicht direkt verletzen darf, auch stets darauf achten, nicht zu fremder Selbstverletzung beizutragen,72 womit soziales Leben zum Erliegen käme. Die zivilrechtliche Rechtsprechung hat schon zu Beginn dem Einwand der erlaubten Selbstbegünstigung begegnen müssen. Im ersten Fall einer Unfallflucht reichte dem Bundesgerichtshof, daß die Flucht nach § 142 StGB verboten war,73 bei Mißachtung eines polizeilichen Haltezeichens folgerte er die Pflicht anzuhalten aus § 2a a. F. StVO (§ 35 Abs. 1 n. F. StVO). Daß jeder sich durch Flucht dem Strafanspruch des Staates entziehen dürfe, bedeute nur, daß er nicht schon wegen der Flucht rechtswidrig handele, aber nicht, daß er nicht gegen andere Ge- oder Verbote der Rechtsordnung verstoßen und dafür verantwortlich gemacht werden könne.74 Mithin könnte zumindest in den Fällen, in denen eine entsprechende polizeiliche Weisung ergangen ist – oft dürfte wenigstens „Halt, stehenbleiben!“ gerufen worden sein –, der Betroffene verpflichtet sein anzuhalten und die Rechtswidrigkeit der Flucht sich folglich aus diesem Pflichtverstoß ergeben. Sofern es sich um präventivpolizeiliche Weisungen zur Regelung oder Kontrolle des Straßenverkehrs nach § 36 Abs. 1 und 5 StVO handelt, ist der Ungehorsam sogar bußgeldbewehrt (§ 49 Abs. 3 Nr. 1 StVO, § 24 StVG). Anhalteweisungen allein zur Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten sind nach Ansicht des Bundesgerichtshofs genauso verbindlich und begründen die Pflicht, sie zu befolgen, freilich nach §§ 53, 46 OWiG i.V. m. § 163b StPO.75 Für die Verfolgung von Vgl. nur LK11 /Hirsch, 1993/2003, § 35 Rn. 60; MüKo-StGB/Müssig, § 35 Rn. 66; NK-StGB/Neumann, § 35 Rn. 52. 70 Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil I (Anm. 3), § 6 Rn. 41. 71 Vgl. nur BVerfGE 45, 187, 259 ff., 266; w. Nachw. bei Fischer57, 2010, § 211 Rn. 75. 72 Vgl. Puppe, in: ZIS 2007, 247, 250 f. 73 BGH NJW 1964, 1363, 1364. 74 BGH JZ 1967, 639, 640. 75 BGHSt 32, 248, 250 m. Anm. Hentschel, in: NStZ 1984, 271; s. a. Geppert, in: Festschrift Spendel, 1992, S. 655, 662 f.; verkannt von Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 282, der annimmt, es gebe kein Weisungsrecht bei repressivem Handeln. 69
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Straftaten gilt dies also ohnehin. Allerdings ist die Nichtbefolgung rein repressivpolizeilicher Weisungen nicht bußgeldbedroht, weil, so der Bundesgerichtshof, es wie im Strafverfahren auch keine Pflicht zur aktiven Mitwirkung bei der Erforschung und Ahnung einer Ordnungswidrigkeit gebe und dieser Grundsatz durchbrochen würde, „. . . wenn man einen Verkehrsteilnehmer durch Androhung einer Geldbuße zwingen wollte, allein wegen der Verfolgung einer bereits beendeten Verkehrsordnungswidrigkeit auf eine polizeiliche Weisung hin anzuhalten.“76
Unklar erscheint daran, einerseits eine Anhaltepflicht ausdrücklich festzustellen, und andererseits festzustellen, daß ein Anhalten nicht erzwungen werde, weil keine Pflicht zur aktiven Mitwirkung an der Repression bestehe. Sieht man im Anhalten ein „aktives Mitwirken“,77 so kann nicht gleichzeitig eine Pflicht dazu bestehen und eine zwangsweise Durchsetzung durch Sanktionierung des Ungehorsams deshalb unterbleiben, weil keine Pflicht besteht. Widerspruchsfrei möglich wäre hingegen die Statuierung einer Pflicht, die aber sanktionslose lex imperfecta bleibt, so es daß letztlich, wie bei dem sterilen Streit, ob der Angeklagte vor Gericht lügen darf,78 keinen Unterschied macht, ob überhaupt ein Verbot der Handlung besteht, weil Rechtsfolgen in jedem Fall ausgeschlossen sind. Für Belange der Repression genügt ohnedies die notfalls gewaltsam erzwingbare Pflicht zur passiven Mitwirkung, d. h. Duldung von Festhalten oder Festnahme, §§ 163b, 127 StPO. Ob schon eine sanktionslose Anhaltepflicht gegen den nemo teneturGrundsatz verstoßen würde, ist so unklar wie dessen Konturen.79 Ob eine solche Pflicht besteht – wofür einiges spricht –, kann hier freilich dahinstehen, denn wie das Ordnungswidrigkeitenrecht gründet das Strafrecht jedenfalls auf diese Widersetzlichkeit als solche keinen Unrechtstatbestand. Als Haftungsgrundlage sind polizeiliche Weisungen auch in der jüngeren zivilgerichtlichen Judikatur nicht mehr herangezogen worden. Die Grundlagenentscheidung BGHZ 57, 25 sah in der Flucht des Schwarzfahrers einfach „keinen schutzwürdigen Belang“, da er zum Stehenbleiben schon schuldrechtlich der Bahn gegenüber verpflichtet sei.80 Erst die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofs bemüht sich um genauere Begründung: 76 BGHSt 32, 248, 254. In der straßenverkehrsrechtlich typischen repressiv-präventiven Gemengelage dürfte dieser Sanktionsverzicht allerdings selten praktisch werden, dazu Hentschel, in: NStZ 1984, 271 f. 77 Was dem Zufall unterliegt (ob ein Fahrzeug fährt, noch rollt oder gerade verkehrsbedingt hält), von dem normativ nichts abhängen darf; vgl. Verrel, Selbstbelastungsfreiheit (Anm. 68), S. 283 ff.; s. a. unten bei Fn. 95. 78 Vgl. nur LR26 /Gleß, 2007, § 136 Rn. 63 ff. m. w. Nachw. 79 So gilt die in §§ 133, 163a Abs. 3 StPO ausdrücklich statuierte Pflicht des Beschuldigten, vor dem Richter und Staatsanwalt zu erscheinen, manchen als Ausnahme, manchen als Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz, den andere hier gar nicht für berührt halten, vgl. nur SK-StPO/Rogall, § 133 Rn. 9 m. w. Nachw. 80 BGHZ 57, 25, 28; ähnl. BGHZ 63, 189, 195.
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„Freilich trifft auch einen Straftäter keine Rechtspflicht, sich der Strafverfolgung zu stellen. In der Flucht als solcher liegt aber . . . nicht der Grund für die zivilrechtliche Haftung. Diese gründet sich vielmehr darauf, daß der Fliehende durch die Art seiner Flucht in vorwerfbarer Weise den Verfolger zu der selbstgefährdenden Reaktion herausgefordert hat; in dieser psychischen Beeinflussung mit dem dadurch ausgelösten Entschluß zu pflichtgemäßer oder jedenfalls von der Rechtsordnung gewünschter Verfolgung mit ihrem besonderen Gefahrenpotential liegt das pflichtwidrige Verhalten des Fliehenden (. . .).“81
Nicht in der Flucht selbst, sondern in deren „Art“, die beim Verfolger den Entschluß zur besonderen Selbstgefährdung auslöst, erblickt der Senat somit den zivilrechtlichen Unrechtstatbestand. In ähnlicher Weise gründet Puppe die strafrechtliche Zurechnung darauf, daß der Fliehende weder seine Verfolger noch andere über das generell erlaubte Maß gefährden dürfe. Gegen beide Differenzierungen bestehen zunächst intrasystematische Einwände: So bleibt das Kriterium des „gesteigerten Verfolgungsrisikos“, das verhindern soll, jedweden verursachten Schaden zuzurechnen, in der Rechtsprechung nicht nur konturen-, sondern auch wirkungslos, da es überhaupt nur ein einziges Mal zum Haftungsausschluß (Ausrutschen auf nassem Gras) geführt hat. Eine Verfolgung bringt typischerweise im Vergleich zu normaler Fortbewegung gesteigerte Risiken mit sich, womit praktisch jede Verletzung infolge eines Sturzes usw. zurechenbar wird und von der Haftungsfreistellung der „Flucht als solcher“ kaum etwas übrigbleibt.82 Puppes Unterscheidung erscheint dagegen klarer, indem sie an vorhandene Risikobeurteilungen wie Verkehrsregeln anknüpft, wird aber von dem alten Einwand aus der Zivilrechtslehre getroffen, daß solche Regeln für die Beurteilung der hier auftretenden Risiken weder bestimmt noch geeignet sind.83 Die StVO kennt keine Regeln für Verfolgungsjagden außer der einen, daß der hoheitliche Verfolger notfalls von allen Regeln entbunden ist (§ 35 StVO). So kann der mit einem Pkw Fliehende auch durch Einhaltung der allgemeinen Verkehrsregeln keine kalkulierbare Risikobegrenzung für den Verfolger herbeiführen, beispielhaft: Wer innerorts mit den erlaubten 50 km/h davonfährt, mag den Funkstreifenwagen veranlassen, selbst mit 70 km/h zu fahren in Anwendung von § 35 Abs. 1 StVO. Wer selbst bei „Grün“ eine Ampel passiert, mag den Verfolger, dem sie inzwischen „Rot“ zeigt, zur Inanspruchnahme von Sonderrechten (§ 35 Abs. 1 StVO) und Wegerecht (§ 38 Abs. 1 Satz 2 StVO) beim Passieren der Kreuzung – einem trotz Einhaltung der nach § 35 Abs. 8 StVO gebotenen Sorgfalt erfahrungsgemäß erhöht unfallträchtigen Verhalten84 – bewegen. Sind herkömmliche Sorgfaltsregeln
81 BGHZ 132, 164, 168; ähnl. OLG Saarbrücken NJW-RR 1992, 472, 473; w. Nachw. bei Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 279 Fn. 117. 82 Siehe Nachw. in Anm. 41. 83 Oben Anm. 39. 84 Zum Ganzen s. nur Pießkalla, in: NZV 2007, 438 ff.
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untauglich, müßten neue Regeln für den „ordentlichen Flüchtenden“85 gefunden werden, zumal die meisten erfolgversprechenden Fluchtmöglichkeiten zugleich nicht unbedeutende Risiken für den Verfolger provozieren dürften oder nur deshalb erfolgversprechend sind. Ob aber schon der Einsatz von Sonderrechten und Wegerecht mit Blaulicht und Einsatzhorn stets das „allgemeine Lebensrisiko“ nennenswert überschreitet, ist nicht ausgemacht.86 Noch schwieriger wird es außerhalb des Straßenverkehrs: Darf man aus einem Fenster im Erdgeschoß springen? Aus dem ersten Stock? Wenigstens wenn der Polizeibeamte jung und sportlich aussieht? Darf man die Toilettentür hinter sich verschließen, wenn man aus dem Toilettenfenster springen will? Die in Frage stehenden Risiken der Verfolgungsjagden für die Verfolger überschneiden sich ersichtlich kaum87 mit „allgemeinen Lebensrisiken“, sondern allenfalls mit denen präventiver Rettungseinsätze und -fahrten, bilden also eine Klasse spezieller Berufsrisiken. Ein Abstellen auf „generell erlaubte Risiken“ erreicht somit die Fallgruppe nicht, da es sich um Ausnahmesituationen handelt, was die Binnendifferenzierung, welche Risiken herbeizuführen noch als erlaubt gelten soll, erheblich erschwert.88 Zu befürchten steht daher, daß – wie in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung, obwohl sie das erklärtermaßen vermeiden will – diese Sonderrisiken insgesamt für unerlaubt erklärt würden und regelmäßig Haftung auslösten. Dem Betroffenen würde vielfach gar nichts übrigbleiben, als nicht zu fliehen, um weitere Strafe zu vermeiden, oder einen Fluchtweg zu wählen, der offenkundig gänzlich unverhältnismäßige Risiken für den Verfolger birgt, so daß die Verfolgung gar nicht aufgenommen werden dürfte. Straffrei ist insoweit freilich auch immer der Flüchtende, dem keiner folgt. Wenn vielfach moniert wird,89 die Poenalisierung der Verursachung der Selbstgefährdung der Verfolger unterlaufe die grundsätzliche Straffreiheit der schlichten Flucht oder reduziere diese zu einer „Scheinfreiheit“90, so trifft dies nach 85
Oben Anm. 38. Bejahend Puppe (Anm. 59); verneinend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Anm. 44), S. 479 f. (zweifelnd), 488 (ablehnend, da nur leichte Steigerung des allgemeinen Lebensrisikos). 87 Diese werden natürlich auch ausgelöst: Im Beispiel von Deutsch, in: JZ 1967, 641, 642; aufgenommen in BGHZ 63, 189, 194 f., platzt dem Streifenwagen ein Reifen. Jede bekanntgewordene Straftat erneuert die alltäglichen Risiken der Strafverfolgungsbehörden und Justiz: Ein Polizist stolpert auf dem Weg zum Dienstwagen, einem Staatsanwalt fällt ein schwerer Aktenordner auf den Fuß, ein Jugendrichter erleidet angesichts der neuerlichen Straffälligkeit eines Dauerkunden einen Nervenzusammenbruch, ein Strafvollzugsbeamter eilt nach Auslösen des Entweichungsalarms auf seinen Posten und verstaucht sich den Fuß usw. Solche Berufsrisiken zuzurechnen wäre ersichtlich unmäßig; die Zivilrechtsprechung weist sie zu Recht dem Organisationsbereich des Staates zu. 88 Vgl. die Zweifel an der Bestimmtheit etwa des „vernünftigen“ Retterrisikos bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (Anm. 4), § 11 Rn. 115. 89 Oben Anm. 56 f.; für die zivilrechtliche Haftung Anm. 39 f. 86
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dem Gesagten zu. Ein Einwand liegt darin aber nur, wenn die Selbstbegünstigungsmöglichkeit der Flucht entweder aus (verfassungs-)rechtlichen Gründen sanktionsfrei bleiben müßte oder dies aus kriminalpolitischen oder Strafzweckerwägungen ratsam wäre. Dazu müssen die „allgemeinen Rechtsgrundsätze, wonach niemand an seiner Bestrafung mitzuwirken braucht“91, genauer betrachtet werden. 3. Präzisierung der „Selbstbegünstigungsfreiheit“ Ausgangspunkt ist das Menschenrecht (Art. 14 Abs. 3 lit. g IPBPR) des Verbots des Selbstbezichtigungszwangs (nemo tenetur seipsum accusare vel prodere), das im deutschen Verfassungsrecht ungeschrieben anerkannt ist und – in im einzelnen umstrittener Weise – im Rechtsstaatsprinzip, im allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder in der Menschenwürdegarantie verankert wird.92 Der Kerngehalt dieser Gewährleistung, gegen sich selbst nicht aussagen oder sonst aktiv an der Sachverhaltsaufklärung zu eigenen Lasten mitwirken zu müssen – im Gegensatz zur Pflicht, die Strafverfolgung mit ihren Eingriffen zu dulden, die sonst unmöglich wäre –, scheint eine Ausnahme von dem in Recht und Ethik grundlegenden Prinzip zu statuieren,93 daß dem Genuß der Freiheit die Übernahme von Verantwortung für die Folgen entspricht. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine Ausnahme vom Verantwortungsprinzip, sondern um die Verdeutlichung des Umstands, daß vor endgültigem Abschluß eines Strafverfahrens eine Verantwortlichkeit, die einzufordern wäre, noch nicht feststeht,94 sondern nur ein 90
Strasser, Zurechnung (Anm. 2), S. 288. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (Anm. 4), § 11 Rn. 140. 92 Siehe nur BVerfGE 38, 105, 113; 55, 144, 150; 56, 37 ff., 49; 95, 220, 241; BGHSt 36, 328, 336; 42, 139, 151 ff.; Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 273 ff.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selbstbelastungszwang, 1989, S. 10 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 68 ff.; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 67 ff.; SK-StPO/ Rogall, Vor § 133 Rn. 130 ff.; Hartmut Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, 1990, S. 27 ff.; Torka, Nachtatverhalten und Nemo tenetur, 2000, S. 51 ff. Heikel ist die Zuordnung zu Art. 1 Abs. 1 GG schon deshalb, weil der Beschuldigte zum einen auf sein Schweigerecht verzichten kann und zum anderen das BVerfG durchaus einen Zwang zu selbstbelastenden Aussagen erlaubt, wenn dies zum Schutz der Rechte Dritter nötig ist wie beim Gemeinschuldner, sofern nur die strafprozessuale Verwertung unterbleibt. 93 Um deren Berechtigung heftig gestritten wird, vgl. nur die zahlr. Nachw. bei Alschuler, A Peculiar Privilege in Historical Perspective, in: Helmholz et al. (Hrsg.), The Privilege Against Self-Incrimination, 1997, S. 181, 182 f. 94 Andernfalls würde der Staat sein eigenes Verfahren als Entscheidungsfindungsvorgang nicht ernstnehmen, sondern es zum bloßen Schuldzuweisungsritual degradieren, vgl. Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1997, S. 530 ff. Verkannt hingegen bei von Mangoldt/Klein/Starck5, 2005, Art. 1 GG Rn. 56; Pawlik, in: GA 1998, 378, 381 ff.; problematisch auch BVerfGE 16, 191, 194; dagegen KMR/Lesch, 91
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dahingehender Verdacht existiert. Den Verdächtigen nicht zeugengleich in die Pflicht zu nehmen beugt vielmehr Mißbräuchen vor und dient damit der Garantie der Achtung seiner Stellung als Prozeßsubjekt. Dieser Kerngehalt ist aber in den Verfolgerfällen ersichtlich nicht berührt, denn die in Frage stehende Pflicht, bei Androhung von Strafe eine mögliche Flucht zu unterlassen, verlangt keine aktive Mitwirkung oder Selbstauslieferung, sondern die Duldung des Festhaltens oder der Festnahme. Vereinzelt wird nemo tenetur zwar auch auf aktive Selbstbegünstigungshandlungen wie Flucht und Spurenbeseitigung erstreckt, weil andernfalls ein mittelbarer Zwang zur Selbstbelastung entstehe,95 bei dem es sich indes nur um das allgemeine Lebensrisiko handelt, als Rechtsbrecher gefaßt zu werden96. Denn verfassungsrechtlich verboten kann ein sanktionsbewehrtes Verbot der Flucht nicht sein,97 sonst dürfte auch der schwerere Eingriff nicht erlaubt sein, das Unterlassen der Flucht durch Inhaftierung nach § 112 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO zu erzwingen.98 Deshalb kann es auch kein gar in der Menschenwürde wurzelndes99 „natürliches Recht auf Selbstschutz bei Gefahr der Bestrafung“100 geben, das zur Flucht berechtigt, denn würde man dieses als berechtigtes Interesse ernstnehmen, müßte auf Strafverfolgung generell verzichtet werden. Der Gesetzgeber ist folglich nicht gehindert, Selbstbegünstigungshandlungen wie die schlichte Flucht bei Strafe zu verbieten.101
Vor § 133 Rn. 13; ders., Strafprozeßrecht, 1999, Rn. 2-190; Müssig, in: GA 1999, 119, 126 f.; Stuckenberg, in: GA 2001, 583, 588 m. Fn. 41; w. Nachw. bei Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten (Anm. 92), S. 284 Fn. 302 f. 95 Hartman-Hilter, Warten am Unfallort – eine unabwendbare Pflicht?, 1996, S. 17; Hoffmann, Die Selbstbegünstigung, 1965, S. 60; Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 I GG, 1970, S. 54 f.; Torka, Nachtatverhalten (Anm. 92), S. 56, 140 f.; dagegen H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 30 ff., 33 f.; Verrel, Selbstbelastungsfreiheit (Anm. 68), S. 87 f. m. w. Nachw. in Anm. 543, S. 95. 96 Zutr. H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 36, 140; Verrel, Selbstbelastungsfreiheit (Anm. 68), S. 88 f. 97 So aber Torka, Nachtatverhalten (Anm. 92), S. 140 f.: Die Flucht als Teil der Selbstbezichtigungsfreiheit dürfe nicht verboten werden, da es aber kein Recht auf Flucht gebe, sei Untersuchungshaft zulässig; zur Kritik vgl. Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten (Anm. 92), S. 286. 98 Es sei denn, man beschränkt wie Grünwald, in: JZ 1981, 423, 428, das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung auf die Willensbeugung durch vis compulsiva, und erlaubt vis absoluta; dagegen zutr. Paeffgen, Vorüberlegungen (Anm. 92), S. 69 f. 99 So aber Erdmann, Der Selbstbegünstigungsgedanke im Strafrecht, Diss. iur. Göttingen 1969, S. 24 f., dagegen zutr. H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 359, 370. Undeutlich Ostendorf, in: NStZ 2007, 313, 316; auch den Strafverzicht als „Respektierung des personalen Selbstbestimmungsrechts“, ebenda, zu deuten, beweist nichts oder zuviel. 100 Welzel, in: JZ 1958, 494, 496; ähnl. Geilen, in: FamRZ 1964, 385, 388. 101 Geppert, in: Festschrift Spendel, S. 655, 668 f. m. w. Nachw.; Rogall, Der Beschuldigte (Anm. 92), S. 158; H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 30 f.; vgl. Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten (Anm. 92), S. 273 ff., 304 f., 340 ff.
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Gleichwohl gibt es eine Reihe von Situationen, in denen das Gesetz auf Sanktionierung der Selbstbegünstigung verzichtet, während es Fremdbegünstigung mit demselben Ziel bestraft, wie bei der Straflosigkeit der eigennützigen Verfolgungs- und Vollstreckungsvereitelung nach § 258 Abs. 1 und 5 StGB oder der gewaltlosen Selbstbefreiung des Strafgefangenen nach § 120 StGB, die überdies mit dem prozessualen Kerngehalt von nemo tenetur offensichtlich in keinem direkten Ableitungszusammenhang stehen. Als Grund für diese eng begrenzten Privilegierungen102 wird vielfach die besondere Motivationslage genannt, wonach der natürliche menschliche Freiheitsdrang103 zu einer notstandsähnlichen Zwangslage104 und damit zu einer Schuldminderung qua Unzumutbarkeit führe, die auch in den Verfolgerfällen zur Straflosigkeit führen könnte105. Teils wird die Rücksichtnahme nur mit „humanen Beweggründen“ des Gesetzgebers erklärt.106 Die psychologische Zwangslage allein kann jedoch die Privilegierung nicht erklären, denn sobald sich der Täter zur Verletzung weiterer, namentlich individueller Rechtsgüter entscheidet, steht ihm nicht einmal § 35 StGB107 zur Seite. Der – bei Strafgefangenen im übrigen keineswegs selbstverständliche108 – Verzicht auf Poenalisierung109 der schlichten Flucht erscheint besser damit erklärt, 102 Übersicht bei H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 346 ff.; Ulsenheimer, in: GA 1972, 1 ff. 103 Für § 120 StGB: LK11 /von Bubnoff, 1993, § 120 Rn. 2a; LK12 /Rosenau, 2009, § 120 Rn. 2; NK-StGB/Ostendorf, § 120 Rn. 2; ders., in: NStZ 2007, 313, 315 f.; a. A. (nur kriminalpolitische Entscheidung) Lackner26 /Kühl, 2007, § 120 Rn. 2; s. a. unten Anm. 106. 104 Für § 258 StGB: RGSt 60, 101, 103; 63, 370, 375; BGHSt 9, 71, 73; 17, 236 f.; 43, 356, 358 (dazu Seebode, in: JZ 1999, 781 f.); Lackner26 /Kühl, § 258 Rn. 16; NKStGB/Altenhain, § 258 Rn. 15; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (Anm. 4), § 22 Rn. 138, § 23 Rn. 16; Schönke/Schröder27 /Stree, § 258 Rn. 35; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I5, 2004, § 12 Rn. 210; eingehend Seel, Begünstigung und Strafvereitelung durch Vortäter und Vortatteilnehmer, 1999, S. 27 ff.; zum Ganzen H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 360 ff., 365 ff. m. w. Nachw.; Ulsenheimer, in: GA 1972, 1, 8 ff., 22 ff. 105 So vor allem Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil (Anm. 56), S. 197; erwägend NK-StGB1/2 /Puppe, (Loseblatt) 1998, Vor § 13 Rn. 171 a. E. 106 So RGSt 3, 140, 141; BGHSt 17, 369, 374 zu § 120 StGB. 107 Oben Anm. 69; ebenso H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 366 ff. 108 Die Strafvorschriften in Bayern (Gesetz Nr. 55 zur Bestrafung der Entweichung von Gefangenen v. 28.10.1946, GVBl. 1947, 11) und Württemberg-Baden (Gesetz Nr. 21 zur Ergänzung der bestehenden Strafgesetze v. 20.11.1945, Reg.Bl. 1946, 2) wurden durch das 3. StÄG aufgehoben, vgl. dazu BGHSt 4, 396 ff. Frankreich bestraft die Selbstbefreiung in Art. 434-27 Code pénal, Italien in Art. 385 Codice penale, Spanien in Art. 468 f. Código penal, früher auch § 237 StGB-DDR. Flucht aus jeglicher Haft (escape) ist ein traditioneller Straftatbestand des Common Law, vgl. Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 1769, Band 4, S. 130; im US-amerikanischen Bundesstrafrecht heute in 18 U.S.C. § 751, ebenso in den meisten Bundesstaaten, vgl. Mo-
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daß die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs einer normativen Garantie durch ein strafbewehrtes Verbot weder bedarf noch zugänglich ist. Die gegenüber dem einzelnen erdrückende strukturelle Überlegenheit der Institution Strafverfolgung genügt als faktische Garantie der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, mag auch im Einzelfall mancher Täter ihrem Zugriff entkommen110 – anders ist es, wenn selbstbegünstigende Flucht den Bestand der Institution gefährdet, wie die Bestrafung der Fahnenflucht in § 16 WStG zeigt. Ein strafbewehrtes Verbot dürfte zudem hier mehr schaden als nutzen, denn es würde vermutlich – und dies ist die Relevanz des „natürlichen Fluchtreflexes“ – regelmäßig gebrochen, so daß eine präventive Wirkung nebst Steigerung der Effizienz der Strafverfolgung kaum zu erzielen wäre.111 Daß ein Verbot der Flucht nicht durchzusetzen wäre, gilt ungeachtet der Größe der Risiken für etwaige Verfolger. Daher müßten auch diejenigen, die ein Verbot riskanter Flucht mit dem Schutz der Rechtsgüter der Verfolger begründen wollten,112 zweifeln, ob Strafe überhaupt ein geeignetes Mittel dazu ist. Offenkundig unnütze Poenalisierungen müssen unterbleiben,113 schon weil ein ungeeigneter Eingriff in Grundrechte des Bürgers unzulässig ist. Der Erlaß absehbar wirkungsloser Strafvorschriften schwächt ferner die Normbefolgungsbereitschaft generell114 und wäre verhaßt als schikanöse Bedrückung. del Penal Code sec. 242.6 mit Comment. Die Rechtslage in Österreich (§ 300 öStGB) und der Schweiz (Art. 310 schwStGB) entspricht hingegen den deutschen §§ 120, 121 StGB. 109 Zur disziplinarrechtlichen Ahndung bei Strafgefangenen s. Ostendorf, NStZ 2007, 313, 314 ff. m. w. Nachw., auch zur Unklarheit, ob auch die Flucht überhaupt rechtlich verboten sei, bejahend OLG Hamburg NJW 1965, 1544; verneinend AG Krefeld MDR 1965, 506. 110 Ebenso H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 382 ff., 386; zust. Rogall, in: StV 1996, 63, 68. 111 Zutr. H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 387. So auch die Begründung zu § 425 E 1960/1962, BR-Drs. 270/60 = BT-Drs. III/2150, S. 569: „Die Straflosigkeit der Selbstbefreiung entspricht dem in der allgemeinen Rechtsüberzeugung verwurzelten Grundsatz, daß ein dem natürlichen Freiheitsdrang des Menschen entspringendes Verhalten nicht unter Strafdrohung gestellt werden sollte. Gegen Gefahren, die dadurch entstehen, daß moderne Strafvollzugsformen das Entweichen von Gefangenen erleichtern, ist mit den Mitteln des Strafrechts wenig auszurichten. Ihnen ist durch geeignetere Maßnahmen im Strafvollzug zu begegnen.“ 112 So bei der Zurechnung der Retterschäden Puppe, in: ZIS 2007, 247, 251, 253: Es sei „sinnvoll und vernünftig, dem Bürger zu verbieten, die Gefahr herbeizuführen, daß Retter ihr Leben . . . aufs Spiel setzen“ – entsprechendes müßte sich in den Verfolgerfällen auch sagen lassen. Ähnlich der Ansatz Frischs, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Anm. 44), S. 472 ff., 474. 113 Vgl. – im Kontext der Auslösung riskanter Rettungshandlungen durch Selbstgefährdung, insbesondere Selbstmordversuche – Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Anm. 44), S. 492: „Der Verzicht auf die Einstellung in den Tatbestand trägt nur dem Umstand Rechnung, daß Verhaltensweisen, denen strafrechtlich von vornherein nicht aussichtsreich entgegengewirkt werden kann, in den strafrechtlichen Tatbeständen jedenfalls dann nichts zu suchen haben, wenn die Feststellung solcher Ungeeignetheit des Strafmittels für die ganze Klasse dieser Verhaltensweisen gilt.“ (Hervorh. im Original). Für die Klasse des schlichten Fluchtverhaltens dürfte dies gleichermaßen zutreffen.
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Dies wiederum verträgt sich nicht mit dem Selbstverständnis eines gefestigten liberalen Rechtsstaats, der mit selbstgewisser Nachsicht auf die kleinliche Bestrafung jeglicher Widersetzlichkeit verzichtet, vielmehr nur auf deren schwere Formen mit der Schärfe des Strafrechts reagiert.115 Daher sollten alle mit einer „schlichten Flucht“ verbundenen Risiken für die Strafverfolgung und ihre Organe strafrechtlich auch in der Risikozuständigkeit des Staates116 verbleiben, damit der Verzicht auf die direkte Poenalisierung der Flucht nicht durch Erfolgszurechnung nach §§ 222, 229 StGB unterlaufen wird. Den Strafverfolgungsorganen müßte insofern der pro officio nach § 127 Abs. 1 StPO handelnde Bürger gleichstehen. Daran dürfte die gleichzeitige Ausübung sonstiger privater Notrechte etwa zur Rückgewinnung der Beute vom fliehenden Dieb nichts ändern.117 Zu erwägen ist weiter, ob die Zwecklosigkeit der Strafzurechnung nicht ebenso für denjenigen gilt, der nicht wegen begangener Tat, sondern aus sonstiger diffuser Angst oder Kopflosigkeit vor der Staatsmacht flieht. An der Strafbarkeit der Schädigung der Verfolger oder Dritter durch direkten Angriff 118 ist freilich nach wie vor nicht zu zweifeln. 114
Wie hier H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Anm. 92), S. 387. So wurde z. B. bei Neufassung des § 121 StGB nicht die Tatvariante der Sachbeschädigung aus § 432 II E 1962 aufgenommen, um dem Anstaltsleiter die Möglichkeit zu erhalten, keinen Strafantrag nach § 303c zu stellen, BT-Drs. 7/550, S. 220. 116 Zum Schutz der Rechtsgüter der Beamten sind womöglich interne Weisungen und Schulungen ohnehin wirksamer als jeder Versuch der Einwirkung auf den Flüchtigen, denn bei Betrachtung der zivilrechtlichen Fälle erstaunt, daß es sich kein einziges Mal um die Verfolgung von Schwerkriminalität handelte, sondern zum Teil schiere Bagatellen wie defekte Kennzeichenbeleuchtungen zu lebensgefährlichen Verfolgungsjagden eskalierten. Dermaßen unvernünftiger Einsatz von Gesundheit und öffentlichem Eigentum sollte nicht einmal zivilrechtlichen Schutz verdienen, so schon Deutsch, in: JZ 1967, 461, 463. Ansonsten handelte es sich zumeist um „normale Nacheilerisiken“, die auch nach dem BGH vom Staat zu tragen wären. 117 Anders Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil I (Anm. 3), § 6 Rn. 38 f., die die Zurechnung der Verfolgerschäden des Notwehrberechtigten bejaht, weil die Rechtsordnung denjenigen, dem sie ein Notrecht gebe, auch vor allen Gefahren schütze, die aus dessen Ausübung erwachsen, s. a. NK-StGB/Puppe, Vor § 13 Rn. 187; verneinend, weil der Pflichtverstoß, der den rechtswidrigen Angriff begründet, nicht im Zusammenhang mit der weiteren Verletzung stehe, Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil28, 1998, Rn. 181 (in späteren Aufl. nicht mehr enthalten); offen gelassen von Roxin, in: Festschrift Gallas, S. 241, 249 Fn. 28. Ob sich aus der Zuweisung eines Notrechts zwangsläufig der strafrechtliche – zivilrechtlich mag eine Kostentragung schon aufgrund Fremdgeschäftsführung billig sein – Schutz vor allen aus dessen Ausübung entstehenden Gefahren ableiten läßt, erscheint zweifelhaft und für die Gefahren der reinen Nacheile, solange ohnehin die Befugnis aus § 127 Abs. 1 StPO gegeben ist, aus den oben genannten Gründen nicht überzeugend. Angebracht erscheint eine Zurechnung hingegen bei Selbstgefährdungen im Zuge der gebotenen Abwehr eines Angriffs oder einer Gefahr, auch beim nur nach § 32 StGB erlaubten Entreißen der Diebesbeute. Zur Selbsthilfe nach § 229 BGB bei privaten Verfolgern s. BGHZ 57, 25, 28; Stoll, in: Festschrift Deutsch II, S. 943, 950 f. m. w. Nachw., dort auch zu §§ 670 ff. BGB. 118 Natürlich auch im Wege mittelbarer Täterschaft, etwa durch überlegenes Wissen, s. o. bei Anm. 61. 115
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Die Lösung von Fällen der Verursachung fremder Selbstschädigung wie den Verfolgerfällen ist somit nicht im Rahmen herkömmlicher Zurechnungsarithmetik zu finden, sondern bedarf einer zweckorientierten Entscheidung über den Einsatz des Strafrechts.119 Eine solche hat der Gesetzgeber seit langem für die einfache Selbstbegünstigung wie die schlichte Flucht getroffen, und es gibt gute Gründe, sie auf die Verfolgerfälle insgesamt zu erstrecken.
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So schon Hübner, in: JuS 1974, 496, 501.
Zu den Grenzen des strafrechtlichen Denkens in Rechtsmäßigkeitsalternativen Von Ulrich Weber I. Einleitung Was Gebauer1 für die zivilrechtliche Verpflichtung zum Schadensersatz sagt (und dann in seiner Monographie im Einzelnen entfaltet), dass nämlich menschliches Denken hypothetische Kausalverläufe immer mit einbezieht, gilt auch für das Strafrecht. Neben der – weitgehend abgelehnten – Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe im allgemeinen2 geht es speziell um die Behandlung hypothetischer Geschehensabläufe in Form rechtmäßigen Alternativverhaltens. Dass dieses zur Ablehnung der Verantwortlichkeit wegen eines Erfolgsdelikts führen kann, ist für eine ganze Reihe von Fahrlässigkeitskonstellationen nahezu einhellig anerkannt; dazu nachstehend II. Kein Konsens herrscht jedoch in der Frage der täterentlastenden Bildung von Rechtmäßigkeitsalternativen auf der Ebene der Rechtswidrigkeit der Straftat bei vorsätzlichem Handeln; dazu unten III. Aus Raumgründen kann dabei nicht auf alle Rechtfertigungsgründe eingegangen werden, muss vielmehr im Wesentlichen eine Beschränkung auf die sog. hypothetische Einwilligung (bei ärztlichen Heileingriffen) erfolgen. II. Klassische Fälle der zurechnungsausschließenden Bildung von Alternativen Hat pflichtwidriges Verhalten einen tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt, so ist dieser dem Täter nicht zuzurechnen, wenn er auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Im Falle der Tötung eines Menschen (§ 222 StGB) bleibt es dann bei der Verantwortlichkeit des Täters für sein pflichtwidriges Verhalten als solches, soweit dafür eine Sanktion in Gestalt eines abstrakten Gefährdungstatbestandes vorgesehen ist, sei dieser straf- oder bußgeldrechtlicher Natur; s. auf dem Gebiet des Straßenverkehrs z. B. § 316 StGB (Trunkenheit im Ver1 Martin Gebauer, Hypothetische Kausalität und Haftungsgrund, 2007 (JuS Privatum 127), S. 1. 2 Siehe dazu z. B. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT11 (2003), §§ 14 Rn. 17 f., sowie Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 80 f.
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kehr) oder § 24a OWiG (Überschreitung der 0,5 Promille-Grenze). Derselbe Zurechnungsausschluss wie bei Verletzungsdelikten tritt bei konkreten Gefährdungsdelikten, z. B. nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB, ein, wenn der Erfolg (konkrete Gefährdung) auch bei normgerechtem Verhalten eingetreten wäre. Prozessual gilt hinsichtlich des Erfolgseintritts auch bei rechtmäßigem Verhalten der Grundsatz in dubio pro reo. D. h., bei insoweit bestehendem Zweifel ist zugunsten des Angeklagten von dem ihn entlastenden Erfolgseintritt auch in der Rechtmäßigkeitsalternative auszugehen. Die verschiedenen dogmatischen Begründungen für den vorstehend skizzierten Zurechnungsausschluss können hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Insoweit sei auf die eingehende Darstellung von Ingeborg Puppe verwiesen.3 Puppe selbst bringt auch auf den Zusammenhang zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und eingetretenem Erfolg ihr Kausalitätsmodell zur Anwendung.4 Zu anderen Ergebnissen in den nachstehend wiedergegebenen Fällen als die z. B. von mir für richtig gehaltene Vermeidbarkeitstheorie5, die bei Unvermeidbarkeit der Erfolgsherbeiführung auch bei rechtmäßigem Verhalten Rechtfertigung des Täters annimmt, führt dies nicht. Aus der Rechtsprechung genannt sei zunächst der bekannte Radfahrerfall BGHSt 11, 1, wo der Erfolg – Tötung des Radfahrers – auch bei vorschriftsmäßigem Verhalten des LKW-Fahrers eingetreten wäre.6 Auch im Zahnarztfall (BGHSt 21, 59) war es so, dass der Tod der Patientin auch bei richtigem Verhalten des Angeklagten – Zuziehung eines Internisten – eingetreten wäre. Ein wegen der Bildung der Vermeidbarkeitsalternative problematischer Fall ist in BGHSt 24, 31 entschieden: Ob die Tötung eines Radfahrers durch einen schwer betrunkenen PKW-Fahrer (1,9 Promille), der auf einer autobahnartig ausgebauten Bundesstraße mit 100–120 km/h fuhr, vermeidbar war, wird danach beurteilt, was geschehen wäre, wenn der Fahrer mit einer seiner Trunkenheit angemessenen Geschwindigkeit gefahren wäre. – Für mich hat immer die Bildung
In: NK-StGB3, 2010, Vor § 13 ff. Rn. 200 ff. m.w. N. Siehe weiter die Zusammenstellung verschiedener Konstruktionen des Zurechnungsausschlusses, wenn auch rechtmäßiges Verhalten den Erfolg herbeigeführt hätte, bei Mathis Dreher, Objektive Erfolgszurechnung bei Rechtfertigungsgründen, 2003, S. 22 ff. 4 In: NK (Fn. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 206 ff. – Auch die Rechtsprechung spricht seit BGHSt 11, 1 konstant von der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung für den eingetretenen Erfolg. 5 Siehe Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 2), § 22 Rn. 49 ff. Dazu (kritisch) auch Puppe in: NK (Fn. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 201, 202 m.w. N. 6 Spendel, in: Eberhard-Schmid-FS 1961, S. 183, 196 bestreitet – m. E. nicht überzeugend – die Unvermeidbarkeit der Tötung des Radfahrers; siehe dazu Baumann/ Weber/Mitsch (Fn. 2), § 22 Rn. 51. 3
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der Alternative (korrektes Fahren in nüchternem Zustand) gefühlsmäßig näher gelegen. Für die Richtigkeit der Entscheidung lässt sich allerdings ins Feld führen, dass der BGH – m. E. zu Recht und unter Zustimmung der h. M. in der Literatur7 – den pflichtwidrig Handelnden auch ansonsten auf sein tatsächliches Verhalten „festnagelt“, weil von der Situation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden darf. Dass diese strikte Grenze der Bildung von hypothetischen Alternativen nicht überschritten werden darf, soll es nicht zu wirklichkeitsfremden Entscheidungen kommen, leuchtet ohne weiteres ein. Wer ohne den geringsten Anhalt für eine Notwehrlage einen Menschen tötet und dann vorbringt, er hätte ihn doch auch töten dürfen, wenn er in Notwehr gehandelt hätte, verdient kein Gehör. Im Sinne einer strengen Bindung an das tatsächliche Geschehen bereits BGHSt 10, 369: Ein Fußgänger ging in Begleitung eines jungen Mädchens außerhalb einer geschlossenen Ortschaft auf einer Bundesstraße verkehrswidrig rechts (zum Gebot, links zu gehen, s. § 25 Abs. 1 S. 3 StVO). Ein mit einer Geschwindigkeit von 60–70 km/h von hinten kommender Motorradfahrer fuhr zwischen die beiden Fußgänger hinein, kam zu Fall und erlitt so schwere Verletzungen, dass er nach wenigen Stunden starb.
Der BGH schnitt dem Fußgänger die Berufung darauf ab, der Unfall hätte sich ebenso ereignen können, wenn er, der Fußgänger, verkehrsgemäß in entgegengesetzter Richtung auf derselben Straßenseite gegangen wäre oder an der Unfallstelle gestanden hätte. Mit diesen Erwägungen werde – unzulässigerweise – von einem anderen als dem wirklichen Geschehen ausgegangen. Ein völlig anderes Geschehen als das pflichtwidrige Verhalten des Angeklagten wurde im Fall BGHSt 49, 1 vom Landgericht zu dessen Entlastung herangezogen: Der Angeklagte, verantwortlicher Arzt eines Psychiatrischen Krankenhauses, gewährte dem gefährlichen Patienten S pflichtwidrig unbeaufsichtigten Ausgang. S verletzte acht Frauen körperlich und tötete zwei. Der Arzt wurde vom LG mit der Begründung freigesprochen, es fehle an der Kausalität zwischen der Pflichtwidrigkeit des Angeklagten und der Verletzung und Tötung der Frauen. Denn S hätte auch durch die ungenügend gesicherten Fenster der Klinik gewaltsam nach draußen gelangen und Opfer verletzen und töten können.
Mit Recht hat der BGH8 den möglichen gewaltsamen Ausbruch des S als zurechnungsausschließende Alternative zurückgewiesen. Denn „dieser hätte einer völlig außerhalb des Tatgeschehens liegenden autonomen Willensbildung des S bedurft . . ., für dessen Umsetzung nach den vom LG getroffenen Feststellungen
7 8
Siehe z. B. Lenckner/Eisele (Fn. 2), Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 99 m.w. N. BGHSt 49, 1 (4 f.).
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auch nach den zwei länger zurückliegenden Ausbrüchen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte bestanden“. III. Die hypothetische Einwilligung Das Bestreben, strafrechtliche Sanktionen tunlichst auf strafwürdige und -bedürftige Eingriffe in fremde Rechtsgüter zu beschränken und damit dem Ultimaratio-Gedanken Rechnung zu tragen9 sowie den Gleichheitssatz zur Geltung zu bringen10, weckt Sympathie für die Bildung strafbefreiender Alternativen über die anerkannten vorstehend II. geschilderten klassischen Fallgestaltungen hinaus, vor allem auf der Straftatebene der Rechtswidrigkeit. Dies gilt gerade auch dann, wenn man sich das enge Verhältnis von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit vor Augen hält.11 Allerdings ist auch zu fragen, ob die Bildung von Rechtmäßigkeitsalternativen hier der richtige Weg ist, strafrechtliche Sanktionen zu vermeiden. Es wäre verlockend, dieser Frage wenigstens für die wichtigsten Rechtfertigungsgründe nachzugehen. Wie bereits angedeutet, ist dies aber an dieser Stelle nicht möglich.12 Für die meisten Befürworter einer strafbefreienden Wirkung der hypothetischen Einwilligung handelt es sich bei ihr um einen – auf der Ebene der Rechtfertigung angesiedelten – Unterfall der oben II. behandelten Konstellationen: Zwar hat ein pflichtwidriges Verhalten einen strafrechtlich erfassten Erfolg, z. B. eine Körperverletzung, herbeigeführt. Dieser Erfolg kann jedoch dem Handelnden dann nicht zugerechnet werden, wenn er auch bei Rechtfertigung des fraglichen Verhaltens eingetreten wäre13. Beispielhaft genannt sei der BandscheibenFall BGH JZ 2004, 80014: Die Patientin hatte einen Bandscheiben-Vorfall erlitten. Bei der Operation verwechselte die Ärztin das Bandscheibenfach und operierte versehentlich in der darunter 9 Zum Ultima-ratio-Gedanken als Triebfeder für die Suche nach strafbefreienden Alternativen siehe Rönnau, JZ 2004, 801 (802). 10 Siehe dazu bereits Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff. und daran neuerdings anknüpfend Dreher (Fn. 3), S. 51 f. 11 Siehe dazu z. B. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 2), § 16 Rn. 13 ff. (26 ff.); Mitsch, JZ 2005, 279 (285). 12 Auch Dreher (Fn. 3) behandelt in seiner Dissertation, wohl wegen der ansonsten drohenden Gefahr einer umfangmäßigen Ausuferung seiner Arbeit, unter dem Aspekt des rechtmäßigen Alternativverhaltens nur zwei Rechtfertigungsgründe näher: die Einwilligung und die rechtfertigende behördliche Genehmigung. 13 Siehe insbesondere Kuhlen, in: Roxin-FS 2001, S. 331; ders., in: Müller-Dietz-FS 2001, S. 431. – Weitere Nachw. dieser Konstruktion bei Fischer, StGB57, 2010, § 223 Rn. 16a. 14 Mit Anm. von Rönnau. Dazu z. B. auch Mitsch, JZ 2005, 279; Gropp, SchroederFS, 2006, S. 197. Weitere BGH-Entscheidungen i. S. der Lösung des BandscheibenFalles sind enthalten in NStZ 1996, 34 (Surgibone-Fall) sowie in JR 2004, 469 (mit Anm. von Puppe, Bohrspitzenfall).
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liegenden Etage. Nach dieser unnötigen Operation wurde der Patientin der Fehler verschwiegen und ihr unter Vortäuschung eines Rückfalls (Frührezidiv) die Notwendigkeit einer nochmaligen Operation vorgetäuscht, die dann lege artis und mit Erfolg durchgeführt wurde.
Die Einwilligung der Patientin in die als vorsätzliche Körperverletzung zu bewertende zweite Operation war wegen unzulänglicher Aufklärung unwirksam. Damit sollen aber nach Ansicht des BGH und seiner Anhänger im Schrifttum15 die Würfel über die Strafbarkeit noch nicht endgültig zum Nachteil des operierenden Arztes gefallen sein. Vielmehr sei zu prüfen, ob der Patient bei vollständiger Aufklärung dem Eingriff zugestimmt hätte. Falls ja: keine Zurechnung des Erfolgseintritts wegen fehlender Kausalität (so der BGH)16 bzw. fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs17 zwischen der rechtswidrigen Handlung und dem Erfolg. Denn der Erfolg wäre auch bei durch Einwilligung gerechtfertigtem Verhalten des Arztes eingetreten. Ebenso wie bei den oben II. behandelten Fällen bleibt nach dieser AlternativKonstruktion die verletzende Handlung als solche rechtswidrig und als versuchte Körperverletzung strafbar. Gegen sie ist also Notwehr zulässig, etwa in Gestalt der Nothilfe eines Angehörigen des Patienten, der die Situation durchschaut hat. Auch Teilnahme ist an dieser versuchten Körperverletzung möglich. Als Konstellation der Befreiung von der Verantwortlichkeit wegen Erfolgseintritts auch bei gerechtfertigtem Verhalten wird die hypothetische Einwilligung auch in der zivilgerichtlichen Judikatur gesehen18, aus der das Institut Eingang ins Strafrecht gefunden hat. Dabei muss – wie gerade auch von Puppe zu Recht hervorgehoben – gesehen werden, dass ein Ausschluss der zivilrechtlichen Haftung des ohne hinreichende Aufklärung operierenden Arztes mit dem Hinweis auf den hypothetischen Patientenwillen wegen der ihm ungünstigen Gestaltung der Beweislast kaum einmal möglich ist.19 Hinzu kommt, dass (auch) im Zivilrecht auf den Willen des konkreten Patienten abgehoben und immer wieder betont wird, es komme nicht darauf an, ob ein vernünftiger (Durchschnitts-)Patient eingewilligt hätte.20 Wegen des im Strafprozess (auch für die Fälle der hypothetischen Einwilligung) geltenden In-dubio-Grundsatzes liegen die Dinge im Strafrecht wesentlich anders.21 15
Siehe oben Fn. 13. Siehe oben Fn. 4. 17 So die überwiegende Terminologie in der Wissenschaft. 18 Siehe z. B. BGHZ 90, 103 (111); BGH JZ 1991, 673 sowie 675; BGH NJW 1998, 2734. s. zur dogmatischen Konstruktion der Befreiung von der Schadensersatzpflicht z. B. Gebauer (Fn. 1), S. 341 ff.; Erman/Schiemann, in: Staudinger, BGB12, 2008, § 249 Rn. 140 m.w. N. 19 Siehe Puppe, GA 2003, 764 (772 f.). 20 Siehe z. B. BGH NJW 1998, 2734. 21 Siehe z. B. BGH JZ 2004, 800. 16
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Bei der Ermittlung des (hypothetischen) Patientenwillens für den Fall hinreichender Aufklärung setzt die Kritik Puppes an der hypothetischen Einwilligung u. a. an: Die Frage, ob ein bestimmter Patient auch bei vollständiger Aufklärung in die vom Arzt gewählte Heilmethode eingewilligt hätte, sei nicht zweifelhaft, sondern sinnlos, weil es keine Methode gebe, um über ihre Richtigkeit oder Falschheit zu entscheiden.22 Ich kann zwar dieser Kritik Puppes in ihrer ganzen Schärfe nicht zustimmen. Denn es ist auch ansonsten immer wieder unvermeidbar, dem Zeugen, namentlich auch dem Opfer, Fragen über Hypothesen zu stellen, die letztlich nicht verifiziert oder falsifiziert werden können. Beispiel: Frage an den Geschädigten in einem Betrugsverfahren, ob er den Vertrag auch dann geschlossen hätte, wenn ihn der Angeklagte in einem bestimmten Punkt voll aufgeklärt hätte.
Verneint der Zeuge die Frage, so ist es nach einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle durchaus möglich, dass das Gericht den Angeklagten wegen Betrugs verurteilt, auch wenn es keine streng objektive Verifizierung der Aussage gibt. Im Ergebnis bleibt es jedoch bei meiner mit Ingeborg Puppe übereinstimmenden Ablehnung der hypothetischen Einwilligung. Denn wie ich an anderer Stelle dargelegt habe23, halte ich die bewusste Missachtung des Patientenwillens durch eine ärztliche Operation für derart gravierend, dass für ein strafbefreiendes Denken in Rechtsmäßigkeitsalternativen kein Raum bleibt. Auch konstruktiv weist die hypothetische Einwilligung einen gewichtigen Unterschied zu den oben II. behandelten, anerkannten Fällen der Bildung von Rechtmäßigkeitsalternativen auf: Entgegen dem von der Judikatur mit Recht immer wieder hervorgehobenen ehernen Gesetz, es müsse von der Wirklichkeit ausgegangen werden und dürfe nichts weggelassen, hinzugedacht oder verändert werden, erfolgt durch die (nachträgliche) Willensäußerung des Patienten, er hätte der Operation auch bei vollständiger Aufklärung zugestimmt, eine wesentliche Änderung der (ursprünglich) gegebenen Sachlage. Zwar kommen auch ansonsten für die Entscheidung des Falles wichtige Umstände erst nach Abschluss des Geschehens, etwa im Prozess, ans Tageslicht, wie etwa die hochgradige Trunkenheit des Opfers im Radfahrerfall BGHSt 11, 1 durch eine Blutuntersuchung. Aber dieser den LKW-Fahrer entlastende Umstand lag von vornherein vor und wurde nur erst später festgestellt und bewiesen. Dagegen ist die Einwilligungserklärung des Patienten nicht nur feststellender Natur, sondern hat konstitutive Bedeutung für die Strafbefreiung des Arztes hinsichtlich des herbeigeführten Erfolges. Der Sache nach handelt es sich um eine (nachträgliche) Genehmigung des eigenmächtigen Vorgehens des Arztes24, welche die zur Zeit der Operation gegebene 22 23 24
Puppe, GA 2003, 764 (768 ff.). Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2 (2009), § 6 Rn. 106 f, g m.w. N. So zutreffend Gropp, in: Schroeder-FS, 2006, S. 197 (insbesondere 206 f.).
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Situation völlig verändert und damit nicht in das hergebrachte haftungsausschließende Alternativ-Modell passt. Auch Mitsch25 sieht in der hypothetischen Einwilligung keinen Fall der Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs wegen Erfolgseintritts auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten. Auf seine eigene Lösung – Ablehnung einer Rechtsgutsverletzung i. S. des § 223 StGB, wenn der Patient den Erfolg ex post befürwortet26 – kann im Rahmen dieses Ingeborg Puppe in alter Verbundenheit zugedachten Beitrags nicht mehr eingegangen werden.
25 26
Mitsch, JZ 2005, 279 (283 ff.). Mitsch, JZ 2005, 279 (284 f.).
Kriminelles Versehen? Verbrecherische Unaufmerksamkeit? Die bloß objektive Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist de lege lata nicht strafbar! Von Gerhard Wolf Rein individuell ist die Schuld. . . . Eine objektive Schuld, die absähe von der Persönlichkeit des Schuldigen, wäre ein Widerspruch in sich selbst, eine allem Ausmaße spottende Fiktion. (Binding, Normen, IV/513 f.)
Die Freude von Ingeborg Puppe an einer angeregten und pointierten Diskussion und ihr wissenschaftliches Vergnügen daran, abweichende Auffassungen von deren jeweiligem Ansatz aus Schritt für Schritt kritisch zu analysieren, geben mir die Gewissheit, dass sie es als freundliche Herausforderung auffassen wird, wenn ich ein Thema aufgreife, bei dem ich ihr teilweise widerspreche, und „eine ungeheuerliche Konsequenz“1 ziehe: Ein erheblicher Teil der heutigen Verurteilungen wegen sog. unbewusster Fahrlässigkeit lässt sich nicht halten. Bei ausschließlich objektiver Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist freizusprechen! I. Ein alltäglicher Fall 1. Der zugrundegelegte Sachverhalt – aus meiner eigenen, bisher glücklicherweise erfolglosen kriminellen Karriere An einem regnerisch trüben, dunklen Winterabend wollte ich mit meinem PKW in Frankfurt (Oder) nach links in eine Nebenstraße abbiegen. Plötzlich tauchte im Scheinwerferkegel auf der von mir gekreuzten Gegenfahrbahn eine entgegenkommende Radfahrerin auf. Das Wichtigste vorweg: Ich konnte gerade noch bremsen, die Radfahrerin auch, sie hat also unverletzt überlebt. Aber nehmen wir einmal zu Beispielszwecken eine „nicht völlig unerhebliche“ Körperverletzung oder gar Schlimmeres an. – Wie ist der Fall strafrechtlich zu beurteilen?
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Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1967, S. 213.
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2. Die Rechtslage nach dem Strafgesetzbuch Nach § 15 StGB ist in den gesetzlich ausdrücklich bestimmten Fällen auch „fahrlässiges“ Handeln strafbar, wobei abgesehen von den hier auszuklammernden Fällen der Leichtfertigkeit weder zwischen „Graden“ noch „Arten“ der Fahrlässigkeit unterschieden wird – auch nicht zwischen „bewusster“ und „unbewusster“ Fahrlässigkeit. Dies lässt nur den Schluss zu, dass damit in den §§ 222, 229 StGB jede Fahrlässigkeit erfasst und folglich strafbar ist.2 3. Die Beurteilung des Falles in der gerichtlichen Praxis und im Schrifttum Vor dem Amtsgericht Frankfurt (Oder) wäre mir dementsprechend eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung bzw. Tötung sicher, ein Rechtsmittel aussichtslos gewesen: • Meine (wahrheitsgemäße) Einlassung, dass ich die Radfahrerin schlicht „nicht gesehen“ habe, sondern „aus allen Wolken gefallen“ bin, als sie plötzlich „aus dem Nichts“ auftauchte, so dass ich sie an Ort und Stelle als erstes empört fragte: „Wie können Sie bei solchen Bedingungen ohne Licht fahren?“ – alles das hätte mir zunächst deshalb nichts genützt, weil die Radfahrerin glaubhaft versicherte, mit vorschriftsmäßiger Beleuchtung und auch sonst in jeder Beziehung korrekt gefahren zu sein. Die Beweisaufnahme hätte offenbar ergeben, dass die „Schuld“ allein bei mir lag. • Mein Fehlverhalten lässt sich scheinbar einfach bestimmen: „Du hättest sorgfältiger hinschauen müssen! Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich ständig so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt oder gefährdet wird. Abbiegen erfordert erhöhte Aufmerksamkeit, widrige Witterungs- und Sichtverhältnisse geben Veranlassung zu noch genauerem Hinsehen“ usw. • Der Richter hätte vielleicht sein Verständnis für die unglückliche Konstellation ausgedrückt, mein bisher straffreies Vorleben hervorgehoben und lobend auf mein blütenweißes Punktekonto in Flensburg verwiesen – mich dann aber nach dem insoweit üblichen Tarif verurteilt, jedenfalls nach § 153a StPO zur Kasse gebeten.
Ich hätte die Strafe für meine „kriminelle Sorgfaltswidrigkeit“ also entrichten und darauf hoffen müssen, dass mir ein solches Missgeschick nicht noch einmal unterläuft. 4. Pro und contra: Einwände, Repliken und Dupliken Meine Fragen lauten: Worin besteht meine Schuld? In krimineller Sorgfaltswidrigkeit? In verbrecherischer Unaufmerksamkeit? Sind diese Wortkombinatio2 Im Schrifttum wird dementsprechend hervorgehoben, dass „das geltende Recht bei der Verantwortlichkeit keine Verengung auf bewusste Willensakte“ kenne. Vgl. z. B. Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder27, 2006, § 15 Rn. 203.
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nen nicht jeweils eine contradictio in adiecto? Und: Was soll diese Bestrafung? Im Nachhinein bin ich auch ohne „Denkzettel“ so schlau wie der Richter. Ingeborg Puppe würde meine Einwände in Übereinstimmung mit Rechtsprechung und Schrifttum nicht gelten lassen und mich wie folgt belehren: Du weißt doch, dass du Auto fährst. Du bist daher „verpflichtet, zunächst zu erkennen“, dass dein Abbiegen eine unerlaubte Gefahr für den Gegenverkehr schaffen kann – dann hättest du eine „Gegenstrategie“ entwickeln müssen: Stehenbleiben, gucken, und erst bei freier Gegenfahrbahn abbiegen! Von deinem Wissen, mit einem 1,345 t schweren Volvo unterwegs zu sein, geht eine „starke Appellfunktion“ aus, stets das Wohl anderer Verkehrsteilnehmer zu wahren! Indem du dennoch abgebogen bist, hast du eine „unrechtliche Einstellung“ praktiziert.3
Bei Zugrundelegung des „normativen Schuldbegriffs“ erscheint dieser Gedankengang auf den ersten Blick überzeugend: Am Vorliegen einer Vorfahrtsverletzung beißt die Maus keinen Faden ab; ich kenne auch die Vorfahrtsregeln und nehme schließlich für mich in Anspruch, auch oder gerade bei widrigen Verkehrsverhältnissen sorgfältig prüfen und erkennen zu können, ob mir auf der Gegenfahrbahn jemand entgegenkommt und mein Fahrzeug unter Kontrolle zu halten – nur in diesem Fall habe ich die junge Dame schlicht nicht gesehen. Aber selbstverständlich war sie da und folglich „hätte“ ich sie „sehen müssen“. Also habe ich „fahrlässig“ gehandelt – und bei Körperverletzung bzw. Tötung ist Fahrlässigkeit nun einmal strafbar? Meine Gegenfragen lauten: • Wie soll von der Situation ein „Appell“ an mich ausgehen, wenn die Gegenfahrbahn nach meiner Einschätzung frei ist? Kurz vor dem Unfall lautet der „Appell“ allenfalls: „Fahr zu, bevor jemand kommt, und behindere nicht unnötig den Verkehr hinter dir!“ • Was nützt der allgemeine „Appell“ bei Fahrtantritt, auf den Ingeborg Puppe demgegenüber offenbar zurückgreifen will? „Sei vorsichtig, Autofahren ist gefährlich!“ ist schlicht nichtssagend. Nähme man diesen „Appell“ wirklich ernst, ergäbe sich die Konsequenz: „Es kann was passieren! Bleib zu Haus!“ • Was hätte ich denn, wenn ich dennoch fahre, konkret machen sollen? Jedes Vorfahrtsschild als Stopp-Schild interpretieren, stehen bleiben, gucken, vielleicht sogar vorsorglich aussteigen und in die Dunkelheit rufen: „Kommt da jemand?“
Wenn wirklich etwas „passiert“, trifft mich eine Strafe in einem solchen Fall daher für ein Unglück, für Pech, es handelt sich folglich um eine willkürliche Strafe, nämlich um eine solche für Zufall, verbunden mit einer Behauptung, die ich auf der Grundlage eines halbwegs vernünftigen Verbrechensbegriffs schlicht für abwegig halte: Du hast nicht etwa nur objektiv einen Fehler gemacht, sondern ein kriminelles Delikt begangen, also bist Du ein Krimineller (während der Rich3 Vgl. Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch2 (genannt: Nomos-Kommentar, NK), 2005, § 15 Rn. 13.
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ter sich implizit als idealer Übermensch geriert, der immer alles richtig macht und dem „so was!“ folglich nie passieren könnte). Als Strafrechtsprofessor mit stabilem Nervenkostüm würde ich solchen Unsinn mit heiterer Gelassenheit ertragen. Aber wie reagiert ein normaler Bürger, der mit diesem Resultat vor Gericht gestellt wird? Radbruch hat die Strafbarkeit wegen „unbewusster Fahrlässigkeit“ eine „verschämte Zufallshaftung“ genannt4 – ich würde sie im Ergebnis als „unverschämte Kriminalisierung“ bezeichnen, d.h. eine unbegründete, unverständliche und letztlich überhebliche strafrechtliche Verurteilung eines Pechvogels durch einen „Halbgott in Schwarz“ (der allerdings zugegebenermaßen nach einem Griff zu den gängigen Kommentaren guten Glaubens sein darf, nur das Gesetz anzuwenden!). Eines jedenfalls ist gesichert: Ich werde unabhängig von einer Bestrafung auch künftig jeden Radfahrer umfahren, der meinen Fahrweg kreuzt – wenn ich ihn nicht sehe! Und jeder Kollege wird dies ebenfalls tun – was auch immer er zuvor zur unbewussten Fahrlässigkeit geschrieben oder geurteilt haben mag. II. Die seit 200 Jahren andauernde Diskussion über das Problem Koch5 hat in seinem soeben erschienenen „Streifzug durch zwei Jahrhunderte deutscher Strafrechtsdogmatik“ die bisherigen Diskussionsstränge und Lösungsansätze „Zur Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit“ ausführlich dargestellt – ich kann mich daher auf eine kurze Zusammenfassung beschränken. 1. Das juristische Problem Die Kernfrage, um die es geht, hat Exner vor dem Hintergrund des zuvor erschienenen Schrifttums in seiner exakt vor 100 Jahren entstandenen Schrift „Das Wesen der Fahrlässigkeit“ wie folgt formuliert: „Was geschah“, war bei fahrlässigem Handeln des Täters von diesem „nicht gewollt“. „Wie läßt es sich begründen, daß er nach Tatsachen beurteilt wird, die seinem Willen ferne lagen, nach einer Handlung, die er bei richtigem Einblick in die Sachlage nicht begangen hätte, deren Folgen er als unangenehme Überraschung nachträglich selbst verwünscht? – Am heftigsten drängen sich diese Fragen bei Betrachtung der sog. unbewußten Kulpa auf“.6
4 Radbruch, Erfolgshaftung, in: Birkmeyer u. a. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. V, 1905, 185, 201. 5 Arnd Koch, ZIS 2010, 175 ff. 6 Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit, 1910, S. 10.
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2. Die möglichen Lösungen Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilweise befürwortete „Leugnung der unbewußten Fahrlässigkeit“7 erschien den meisten Autoren „eine unhaltbare Konsequenz, sie wollen die Fahrlässigkeit strafen“8. Dies sei „Bedürfniß der Rechtssicherheit“ und eine „Forderung des gemeinen Menschenverstandes“9. Ergänzend stützte man sich z. B. auf folgende Erwägung: „Will . . . der Gesetzgeber unvorsichtigen Rechtsverletzungen vorbeugen, so muß er den Täter für die Zukunft zu größerer Vorsicht veranlassen. Sein Grundsatz muß sein, die ,Verirrungen des Verstandes‘, wenn sie schädliche Folgen haben, zu einem Gegenstand der Erfahrung zu machen. Üble Erfahrung zwingt für die Zukunft zum Nachdenken. Als ,warnende Ideenassoziation‘ wird ein Übel mit einem bestimmten Tatbestand für alle Zukunft verknüpft, ,durch Erinnerung soll irgendein Reiz zum Nachdenken bei künftigen gleichen Fällen erregt, es soll dadurch eine neue Illegalität verhindert werden‘“.10
3. Die Gefahr eines Paradigmenwechsels Es liegt auf der Hand, dass mit dem zitierten Begründungsversuch ein grundlegender Umschwung in der Fahrlässigkeitsdogmatik verbunden war. Exner11 hob hervor, „daß dieses ,Erfahrungsübel‘, mit der kriminellen Strafe nur den Namen gemein hat . . . Diese Erfahrungen sollen ,bessernd, aber nicht ohne Not schmerzlich sein‘. Der Täter wird erzogen, als ,freundlicher wohlwollender Erzieher‘ tritt hier der Staat seinem ,Zögling‘ gegenüber“.
4. Beibehaltung der Kriminalstrafe – Umschwung in den Begründungsversuchen Die Fahrlässigkeitsdogmatik ist bekanntlich nicht so freundlich wohlwollend, unbewusste Fahrlässigkeit „wurde und wird trotz aller Einwände auch heute noch ganz allgemein als kriminell-schuldhaftes Verhalten angesehen und bestraft“12. Der Kunstgriff, mit dem man das Ergebnis scheinbar eleganter begründen konnte als zuvor, bestand darin, dass an die Stelle des individuellen Täters, der den tatbestandsmäßigen Erfolg weder kannte noch wollte, der „abstrakte Muster7
Exner (Fn. 6), S. 21. Exner (Fn. 6), S. 21. 9 v. Almendingen, Untersuchungen über das kulpose Verbrechen, Giessen 1804, S. 85. 10 Zusammenfassung der Argumentation v. Almendingens (Fn. 9, S. 51 ff., 75, 85, 109, 115, 119 f.) bei Exner (Fn. 6), S. 21. 11 Exner (Fn. 6), S. 21 f. m.w. Nachw. 12 Arthur Kaufmann, Jura 1986, 255, 232. 8
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mann“13 trat, der sich unter den gegebenen Umständen selbstverständlich anders verhalten hätte. Für die strafrechtliche Verantwortlichkeit gilt danach bei unbewusster Fahrlässigkeit dasselbe wie für die schuldrechtliche Vertragshaftung im BGB: Der Täter hat auch für bloße „Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ einzustehen, wobei seine individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse allenfalls mittelbar – bei der Festlegung des „Sorgfaltsmaßstabs“ – eine Rolle spielen. 5. Vom „psychologischen“ zum „normativen Schuldbegriff“ Diese jedenfalls weitreichende Abkehr vom individuellen Täter hat nach wie vor Bestand, auch wenn sie in ihrer methodischen Handhabung in neuerer Zeit wieder heftig umstritten ist.14 Den früheren „zu psychologistischen“15 Ansätzen wird übereinstimmend eine klare Absage erteilt. Ingeborg Puppe schreibt: „Die psychologische Situation des Täters ist nicht der geeignete Anknüpfungspunkt“16, jedes „letztendlich doch psychologische Verständnis . . . ist heute mit noch größerem Recht zurückzuweisen als am Anfang des Jahrhunderts. Denn inzwischen hat sich ein normativer Schuldbegriff durchgesetzt“.17
Dieser „normative Schuldbegriff“ ergänzte die Schuld um wertende Elemente bzw. beschränkte sie darauf.18 Insbesondere die finale Handlungslehre entzog der Schuld durch die Zuordnung des Vorsatzes und der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung bei den Fahrlässigkeitsdelikten zum Tatbestand „gerade die Elemente, die für den psychologischen Schuldbegriff ihren alleinigen Inhalt ausgemacht hatten“.19 Was der „normative Schuldbegriff“ exakt besagt, wie er materiell auszufüllen und ob er als „komplexer Schuldbegriff“ oder „reines Werturteil“ aufzufassen ist, wird zwar völlig „unterschiedlich beantwortet“20 – aber der „normative Schuldbegriff“ kann gewissermaßen als Fahne dienen, hinter der sich die unterschiedlichsten Truppen im Kampf gegen jede „psychologistische“ Deutung versammelt haben.
13
v. Buri, Kausalität und deren Verantwortung, 1873, S. 11. Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Puppe (Fn. 3), Vor § 13 Rn. 147. 15 Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 25. 16 Puppe, ZStW 103 (1991), S. 16. 17 Puppe (Fn. 3), § 15 Rn. 71. 18 Zu den zahlreichen Entwicklungsschritten vgl. im Einzelnen Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I4, 2006, § 19 B, S. 855 ff. Rn. 10 ff. 19 Roxin (Fn. 18), § 19 B, S. 857 Rn. 14. – Auf die bekanntlich weitreichenden Konsequenzen für die Verbrechenslehre kommt es für den vorliegenden Zusammenhang nicht an. 20 Vgl. im Einzelnen Roxin (Fn. 18), § 19 D, S. 859 Rn. 19. 14
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6. Die Auswirkungen auf die Fahrlässigkeitsdogmatik Die für die unbewusste Fahrlässigkeit interessierenden Aspekte der „normativen Schuldlehre“ hat Jakobs21 treffend wie folgt zusammengefasst: „Es geht – zunächst negativ – nicht darum, daß ein falscher Wille vorhanden ist, der sich seines Fehlers bewußt ist. Wer auf ein Bewußtsein von Fehlerhaftigkeit abstellt, kann weder im Fall der Verbotsunkenntnis noch bei – unbewußter – Fahrlässigkeit von Schuld reden, und zwar auch dann nicht, wenn der Kenntnismangel auf nichts als auf Gleichgültigkeit beruht. . . . Es kommt nicht darauf an, daß der Mangel in der Täterpsyche reflektiert wird, sondern daß er dort zu lozieren ist, und letzteres ist immer dann der Fall, wenn der Täter mit dem dominanten Motiv, Rechts-Verletzungen zu vermeiden, die Tat vermieden hätte. ,Willensfehler‘ ist also als ,Willensdefizit‘ zu verstehen, und zwar als Defizit an rechtstreuer Motivation. . . . Der Täter motiviert sich nicht dominant rechtstreu, und dieses Defizit ist Grund der Tat“.
Dem Fahrlässigkeitstäter wird demnach vorgeworfen, dass er „bei gehöriger Anspannung des Gewissens . . . das Unrechtmäßige seines Tuns hätte erkennen können“22 – also nicht, dass er real etwas falsch gemacht hat, sondern dass er fälschlicherweise etwas nicht getan hat, was er hätte tun können, sollen oder gar müssen. 7. Die bisher vergeblichen Bemühungen um eine Einschränkung der Fahrlässigkeitshaftung Aufgrund der durch die Objektivierung erheblich erweiterten Sorgfaltsanforderungen und „angesichts des Umstandes, dass auch dem gewissenhaftesten Bürger auf die längere Sicht betrachtet geradezu unvermeidlich entsprechende Fehler unterlaufen“, hat es der Einzelne – zumal in einer „Risikogesellschaft“ – bei Zugrundelegung der heutigen Fahrlässigkeitsrechtsprechung „letztlich nicht mehr in der Hand, durch eigenes Verhalten – vom völligen Unterlassen . . . risikoträchtiger Tätigkeiten abgesehen – Strafe zu vermeiden“.23 Bemühungen, „Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit“24 zu formulieren, können daher nicht überraschen, gegenwärtig haben sie Hochkonjunktur25: • Der dabei geäußerte „Wunsch an den Gesetzgeber“26, die „unfaire Kriminalisierung von Unglück“27 zu beseitigen (Fehler, „die jedem unterlaufen können, dürfen 21
Jakobs (Fn. 15), S. 25 f. BGHSt 2, 194. 23 Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203a m.w. Nachw. 24 Schlüchter, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit. Aspekte zu einem Strafrecht in Europa, 1996. 25 Vgl. die Nachweise bei Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203a und bei Koch (Fn. 5), S. 182 Fn. 109. 26 Schlüchter (Fn. 24), S. 93. 27 Schlüchter (Fn. 24), S. 6. 22
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Gerhard Wolf nicht mehr Gegenstand des Strafrechts sein“28), wird zwar allseits mit Sympathie begleitet29, ist einstweilen aber ungehört verhallt – man muss offenbar bereits froh sein, wenn nicht sogar „umgekehrt die Stigmatisierung an sich rechtstreuer Bürger wegen bloßer Versehen und Unaufmerksamkeiten verstärkt“30 wird.
• Auch „Überlegungen, bereits de lege lata leicht fahrlässiges Verhalten allgemein oder zumindest in bestimmten Bereichen . . . aus dem Bereich des Strafbaren auszugrenzen . . ., haben sich bislang nicht durchsetzen können“.31
Fasst man diesen Stand zusammen, ist im Moment nur eines sicher: Die Erwartung, der Gesetzgeber werde für eine Lösung sorgen, erscheint ebenso illusorisch wie die Hoffnung, dass sich in dem Gestrüpp der wissenschaftlichen Diskussion oder der Rechtsprechung zur Fahrlässigkeit allmählich eine klarere dogmatische Linie herausbilden könnte. III. Die zentralen Einwände gegen den erreichten Meinungsstand 1. Methodischer Ansatz Da man mit dem bloßen Etikett „Normativer Schuldbegriff!“ noch über keine Grundlagen verfügt, aus denen man „top – down“ etwas ableiten könnte, bleibt nur, aus der Analyse von Fallgruppen „bottom – up“ Entscheidungskriterien zu entwickeln. Ingeborg Puppe32 schreibt zutreffend: „Systematisches Denken zeichnet sich dadurch aus, dass man die Erkenntnisse, die man auf einer niedrigeren Stufe des Systems gewonnen hat, auf der höheren verwertet“.
Die von ihr befürworteten normativen Erwägungen dürfen nach ihren eigenen Worten nicht dazu führen, „daß sich die Rechtswissenschaft von den Tatsachen und ihren z. T. komplizierten Zusammenhängen abwenden dürfte, um ausschließlich Wertaussagen zu treffen und sog. Wertungsformeln zu prägen“.33 „Es ist . . . ein methodischer Fehler der heute herrschenden normativistischen Strafrechtsdogmatik, die deskriptiven Unterscheidungen . . . zu verwerfen oder zu vernachlässigen und sich auf einen Diskurs über normative Wertungsformeln zu beschränken.“34
Roxin35 fordert dementsprechend eine Differenzierung „zwischen Verantwortlichkeitssachverhalt und Verantwortlichkeitsurteil“. 28
Schlüchter (Fn. 24), Vorwort. Vgl. z. B. Roxin (Fn. 18), § 24 A V., S. 1080 Rn. 48: „Das . . . Bestreben, die Fahrlässigkeitshaftung einzuschränken, verdient alle Anerkennung“. 30 Schlüchter (Fn. 24), S. 93. 31 Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203a. Zu den einzelnen Begründungsansätzen vgl. Schlüchter (Fn. 24) m.w. Nachw. 32 Puppe, Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 6 (Hervorhebungen von mir). 33 Puppe (Fn. 32), S. 5. 34 Puppe, GA 1994, 297. 29
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Die deskriptiven Unterscheidungen bzw. die Analyse des Verantwortlichkeitssachverhalts ergeben allerdings, dass in der Fahrlässigkeitsdiskussion grundverschiedene Sachverhalte vorschnell in einen Topf geworfen worden sind – und zwar nicht erst durch die normativistische Wendung der Diskussion, sondern von deren Anbeginn an. 2. Die zu unterscheidenden Sachverhalte Führt eine sog. objektive Sorgfaltspflichtverletzung eines Menschen zur Verletzung oder zum Tod eines anderen, gibt es im Hinblick auf den Willen des Täters nur zwei Möglichkeiten: „Der Handelnde hat den verbrecherischen Erfolg • gewollt oder . . . • nicht gewollt“.36 Hat er ihn, wie in den hier behandelten Fällen, nicht gewollt, ist nur noch das Wissen des Täters zu prüfen, und dabei ergeben sich drei Möglichkeiten: 1. Der Täter hat vorausgesehen oder jedenfalls die Gefahr erkannt, dass der (nicht gewollte) tatbestandsmäßige Erfolg eintritt. 2. Die Gefahr des Erfolgseintritts kannte der Täter zwar nicht, er kannte aber Umstände, die letztlich den Grund für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs bildeten (er hat z. B. im Straßenverkehr vorsätzlich die zulässige Geschwindigkeit überschritten, wissentlich eine rote Ampel überfahren oder er wusste, dass er betrunken war).37 3. Es verbleiben die Fälle, in denen der Täter (wie in meinem eingangs zugrundegelegten Fall) nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, dass sein Verhalten im Hinblick auf einen tatbestandsmäßigen Erfolg von Bedeutung ist. 3. Klärung der Terminologie In Rechtsprechung und Schrifttum besteht Einvernehmen darüber, dass in der unter Ziff. 1. genannten Fallgruppe „Vorsatz“ (welche Art von dolus auch immer) oder „bewusste Fahrlässigkeit“ vorliegt (wobei es auf Abgrenzung zwischen beiden hier nicht ankommt).
35
Roxin (Fn. 18), § 19 C, S. 858 Rn. 16. So zutreffend bereits Temme, Lehrbuch des Preußischen Strafrechts, 1853 (Neudruck 1997), S. 252 f. 37 Welches Wissen insoweit tatbestandsrelevant ist, muss hier offen bleiben. Vgl. dazu Struensee, JZ 1987, 53 ff. einerseits, Roxin (Fn. 18), § 24 A VIII., S. 1090 Rn. 75 andererseits. 36
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In der 2. Fallgruppe ist der Sprachgebrauch nicht völlig einheitlich und auch missverständlich: Folgt man der ganz überwiegend befürworteten Terminologie38, liegt bewusste Fahrlässigkeit nur vor, wenn der Täter das Risiko des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs kennt. Arthur Kaufmann spricht demgegenüber auch dann von bewusster Fahrlässigkeit, wenn der Täter sich lediglich eines für den Erfolgseintritt relevanten Umstands bewusst ist.39 Dafür gibt es im Hinblick auf den Schuldbegriff sachlich gute Gründe. Dennoch empfiehlt es sich nicht, gegen eingefahrene terminologische Gepflogenheiten anzugehen. Im Folgenden wird daher die übliche Abgrenzung zugrunde gelegt: Der Täter handelt nur dann „bewusst fahrlässig“, wenn er sich in den hier herangezogenen Fällen der §§ 222, 229 StGB des Eintritts oder der Gefahr des Todes bzw. einer Verletzung des Opfers bewusst ist. Der gesamte „Rest“, also alle Fälle, in denen der Täter das nicht weiß, werden der sog. unbewussten Fahrlässigkeit zugeordnet, auch wenn er andere tatbestandsrelevante Umstände durchaus kennt. Die Bezeichnung der unter Ziff. 3 genannten Fallgruppe als (bloß objektive) Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist deshalb problematisch, weil die „Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ meist mit „Fahrlässigkeit“ gleichgesetzt wird, die genannten Fälle aber nur einen Ausschnitt bilden. Der übliche Sprachgebrauch beruht bekanntlich auf § 276 Abs. 2 BGB („Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“); die „Sorgfalts(pflicht)widrigkeit“ wird dementsprechend auch in der strafrechtlichen Diskussion als das gemeinsame Merkmal aller Fahrlässigkeitsfälle aufgefasst. Ob dies zutrifft40, ob die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nur ein Teilbereich der Fahrlässigkeit ist41 oder ob man – wie ich meine – besser die Unterscheidung von bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit aufgibt42 und zwischen • (tatbestandsmäßigem) Verschulden (Vorsatz und Fahrlässigkeit43), • (tatbestandsrelevantem) Vorverschulden und schließlich • (bloß objektiver) Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt 38
Vgl. z. B. Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203 m.w. Nachw. Arthur Kaufmann, Jura 1986, 225, 231. Er führt folgendes Beispiel an: „Der Autofahrer, der sich im Bewußtsein seiner Trunkenheit ans Steuer setzt und dann ,ohne an etwas Schlimmes zu denken‘ einen Menschen überfährt, handelt bewußt fahrlässig“. 40 Vor allem bei der „bewussten Fahrlässigkeit“ ergeben sich gravierende Einwände: Der Täter im Fall des Lacmann’schen Schießbudenfräuleins hat sehr sorgfältig gehandelt, um seine Wette zu gewinnen. Dass er rechtswidrig gehandelt hat, steht auf einem anderen Blatt. Er hätte daher schlicht die Finger davon lassen müssen, in Richtung eines Menschen zu schießen. Mit „Sorgfalt“ hat die „bewusste Fahrlässigkeit“ nur bei reichlich sorglosem Umgang mit der deutschen Sprache zu tun. Vgl. dazu F. C. Schroeder JZ 1989, 776 ff. 41 Dann hätte § 276 Abs. 2 BGB die Bedeutung: „Fahrlässig handelt auch, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“. 42 Dazu zwingt m. E. vor allem der Umstand, dass Wissen und Bewusstheit nicht dasselbe sind! 39
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unterscheidet, ist letztlich ein terminologisches Problem; es wird allerdings zum Sachproblem, wenn man – wie dies bisher geschehen ist – die unterschiedlichen Fallkonstellationen nicht hinreichend unterscheidet. 4. Klarstellung des Untersuchungsgegenstands Es geht im Folgenden danach nicht um eine feinere Ziselierung der Unterscheidung zwischen „bewusster“ und „unbewusster“ Fahrlässigkeit – sondern innerhalb der sog. unbewussten Fahrlässigkeit um die Differenzierung zwischen individuell schuldhafter Sorglosigkeit und bloß objektiver Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, und das ist zunächst tatsächlich etwas grundlegend anderes. Die „unbewusste Fahrlässigkeit“ ist zwar einheitlich dadurch gekennzeichnet, dass der Täter sich über die Gefahr, durch sein Verhalten den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen, nicht im Klaren ist, im Übrigen ist sie aber hinsichtlich des Täterwissens durchaus heterogen. Im Folgenden sollen nur die Fälle untersucht werden, in denen der Täter überhaupt nichts Relevantes weiß oder will. Es geht also um folgende Konstellation: • (Objektive) Nichtanwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (+), • Tatbestandsmäßiges oder auch nur tatbestandsrelevantes Wissen (–), • Tatbestandsmäßiges oder auch nur tatbestandsrelevantes Wollen (–).
5. Keine reale individuelle Schuld! In den Fällen der (bloß objektiven) Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist subjektiv in der Person des Täters real schon definitionsgemäß nichts vorhanden, woran man strafrechtlich anknüpfen könnte. Er hat nichts Tatbestandsrelevantes gewusst und er hat nichts Tatbestandsrelevantes gewollt – er hatte keine Ahnung, sondern das beste Gewissen der Welt! Die „Unschuld in Person“ war unterwegs! – wenn auch motorisiert. Aber diese Motorisierung kann ihm nicht einmal der glühendste Verfechter des normativen Schuldbegriffs „vorwerfen“ – das bloße Autofahren ist nicht etwa ein Vorverschulden, sondern ein sog. erlaubtes Risiko! Dass die heutigen Auffassungen zur sog. unbewussten Fahrlässigkeit insoweit an schieres Nichts anknüpfen, wird teilweise mit kunstvollen Erwägungen zu kaschieren versucht. Beispielsweise Jakobs führt in dem bereits wiedergegebenen Zitat44 aus, es komme „nicht darauf an, daß der Mangel in der Täterpsyche reflektiert wird, sondern daß er dort zu lozieren“ sei. Jakobs „loziert“ etwas, was tatsächlich nicht existiert, an eine Stelle, wo nichts ist – das ist das „Bibliotheks43 Dass Fahrlässigkeit dann notwendig bewusst ist, ist eine wünschenswerte Konsequenz. Vgl. dazu unten, IV. 4. 44 Vgl. oben, bei Fn. 21.
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argument“: „Band 13 müßte doch hier, zwischen Band 12 und Band 14 stehen“ – er steht aber nicht da! Und folglich kann man nichts mit ihm anfangen. 6. Hypothetisch konstruierte objektive Schuld? Da ein realer Anknüpfungspunkt, wie man es dreht und wendet, fehlt, bleibt nur die hypothetische Erwägung: Es wäre ja nichts passiert, wenn der Täter besser aufgepasst hätte. a) Die Weltfremdheit bzw. Unredlichkeit der heutigen Konstruktionen Die Forderungen nach „größerer Sorgfalt“ hier und nach „Vorkehrungen“ (ja nach einer „Gegenstrategie“) gegen Missgeschicke und Versehen da, ausgetüftelte DIN-Normen und subtile Erwägungen vor allem in der Rechtsprechung zu Straßenverkehrsdelikten sind bei näherem Hinsehen Nebelkerzen, die das eigentliche Problem verdecken – das ganze Leben ist eine Gratwanderung zwischen Glück und Unglück, Pech und Pannen. „Der Mensch ist ein fahrlässiges Wesen“!45 Wenn er irgendetwas anrichtet, ist es zwar angebracht, darüber nachzudenken, ob und ggf. wie man dies künftig verhindern kann; aber die Überlegung, was er in der Tatsituation hätte machen sollen, ist nicht mehr als „wäri-hättitäti“46. Die vom Richter unter Heranziehung der Kommentare nachträglich formulierte Feststellung: „Das hättest Du so machen müssen“ ist wohlfeil – das weiß der Täter im Zweifel inzwischen selbst. Und sie ist – in Ermangelung eines realen Verlaufs und eines realen „Mustermanns“ – hypothetisch konstruiert: Dass ein „vernünftiger“, „besonnener“, „gewissenhafter“, „sorgfältiger“, „umsichtiger“ „Idealo“ den Unfall vermieden hätte, hat mit dem wirklichen Leben, in dem auch Richter am Frühstückstisch gelegentlich eine Kaffeetasse umstoßen und selbst Staatsanwälte auf dem Weg zum Sitzungssaal manchmal stolpern oder den Schönfelder fallen lassen, wenig zu tun. b) „Wissenkönnen“? „Erkennbarkeit“? Der zentrale Baustein bei der üblichen Konstruktion der Fahrlässigkeitsschuld ist das „Wissenkönnen“: „Es genügt schon die bloße Erkennbarkeit der gefahrbegründenden Umstände“.47
45
Karl-Alfred Hall, Fahrlässigkeit im Vorsatz, 1959, S. 20. So der österreichische Skitrainer Toni Giger kürzlich in einem Interview über Glück und Pech im Skisport und die Frage, was seine Schützlinge bei den Olympischen Winterspielen in Vancouver hätten besser machen können (www.google.de – Suche mit „Geiger wäri hätti täti“ (Stand 14.3.2010). 47 Roxin (Fn. 18), § 24 A VII., S. 1088 Rn. 69. 46
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Die Einwände liegen auf der Hand48: Es gibt auch im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte schlicht nichts, was nicht „erkennbar“ wäre: Beispielsweise die Mutter, die ihr Kind durch die Verabreichung eines versalzenen Puddings tötete49, hätte mit einem Griff zur einschlägigen Fachliteratur feststellen können, dass mehr als 1g Kochsalz pro kg Körpergewicht tödlich ist; im Fall der Tötung eines Menschen, der seinen Kopf zum Schlafen vor einen Reifen auf der Beifahrerseite eines LKW gelegt hat, hätte der LKW-Fahrer dessen Überrollen vermeiden können, wenn er vor dem Losfahren erst einmal um das Fahrzeug herumgegangen wäre usw. Derartige Erwägungen führen konsequenterweise zu Absurditäten wie z. B. der in Juristenkreisen kolportierten, nicht gefundenen, vielleicht (gut) erfundenen Entscheidung, an einem unübersichtlichen unbeschrankten Bahnübergang müsse ein Autofahrer ein Ohr auf die Schienen legen, um zu hören, ob ein Zug kommt . . . Selbst wenn man die Auffassung vertritt, „dass bei der unbewussten Fahrlässigkeit die individuellen Fähigkeiten (Intelligenz, körperliche Leistungsfähigkeit, Vorbildung, Erfahrungswissen usw. . . .) den alleinigen Maßstab dafür abgeben müssen, ob der Täter den Erfolg vorhersehen konnte“, ändert dies nichts daran, dass bei der Konstruktion der Fahrlässigkeitsschuld jedenfalls von der konkreten Tatsituation abstrahiert wird: Schuld setzt nicht nur voraus, „dass der Täter nach seinen Fähigkeiten eine Einsicht in die Gefährlichkeit des Vorgangs gewinnen konnte“50, sondern vor allem, ob er aufgrund der konkreten Umstände der Tat irgendeinen Anhaltspunkt dafür kannte, dass sein Verhalten gefährlich war. Soweit nur verlangt wird, „dass der Täter nach seiner bisherigen Erfahrung den Impuls zur Überprüfung der Gefährlichkeit seines Verhaltens spürt oder sich diese ihm nach seinem bisherigen Erfahrungswissen aufdrängen musste“51, ist dies halbherzig bzw. inkonsequent: Für die Gefahrkenntnis reicht kein vom Täter gefühlter „Impuls“ (den er ohnehin nicht verrät, wenn er klug ist), sondern es ist ein gerichtlicher Nachweis eines vorhandenen Wissens erforderlich! Und was sich ihm aufdrängen musste, ist unerheblich, wenn dieses Wissen fehlte. Dass „jenseits des motivatorisch Erreichbaren der Normbefehl machtlos ist“52, bedeutet, dass der Täter nachweislich über die für die Motivation erforderliche Situationskenntnis verfügen muss!
48
Auf der gegenteiligen Konzeption baut z. B. F. C. Schroeder (Fn. 40 m.w. Nachw.)
auf. 49 BGH NJW 2006, 1822 ff. – Der BGH hat Fahrlässigkeit hinsichtlich des Tötungserfolgs zutreffend verneint! 50 Hervorgehoben z. B. von Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203. 51 Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203. 52 So die etwas kryptische Formulierung von Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203 m.w. Nachw.
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c) „Pflicht, zu erkennen“? Ingeborg Puppe spricht sogar davon, dass der Täter „verpflichtet“ sei, zu erkennen, ob bei seinem Handlungsprojekt etwas schiefgehen könne.53 Gegen diese Feststellung ist (abgesehen davon, dass es sich nur um eine Bemühenspflicht handeln könnte!), im Fall (bewusster) Fahrlässigkeit oder von Vorverschulden wenig einzuwenden. Bei Ahnungslosigkeit gilt dagegen der Satz impossibilium nulla est obligatio – ich kann mich doch nicht nach etwas erkundigen usw., wenn ich aufgrund meines Kenntnisstandes nicht die geringste Veranlassung dazu habe! Wonach denn? 7. Strafen? Wofür? Und wozu? Eine Strafe ist ihrem Begriff nach „Vergeltung für schuldhaft begangenes Unrecht“.54 Mit der Fahrlässigkeitsschuld entfällt daher in Fällen der bloß objektiven Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zwangsläufig die Möglichkeit einer Bestrafung: Schuld und damit Strafe sind auf das in der Vergangenheit liegende Verhalten bezogen und setzen voraus, dass der zu Bestrafende dieses zurückliegende Fehlverhalten tatsächlich vermeiden konnte. Und das konnte er in den hier untersuchten Fällen nicht, weil er „keine blasse Ahnung“ hatte. Für ein bloß objektives Fehlverhalten, wie es alltäglich ist und „auf die längere Sicht betrachtet“55 unvermeidlich jedem passiert, eine Kriminalstrafe zu verhängen, widerspricht allen Verbrechenslehren. Auch die Frage, wozu man den Täter denn eigentlich noch bestrafen soll, nachdem das Kind unglücklicherweise in den Brunnen gefallen ist, kann nicht überzeugend beantwortet werden: Der Täter wird wie jeder Andere auch künftig bisweilen Fehler machen, so sehr er sich auch bemühen mag – und unabhängig davon, ob man ihn jetzt für sein früheres Verhalten bestraft oder nicht. Die heute übliche Floskel von der Bestrafung als „Denkzettel“ klingt nur auf Anhieb gut, weil mit ihr überspielt wird, dass der „Denkzettel“ auch bei einer Fahrlässigkeitstat in einer Kriminalstrafe besteht. Über andersartige Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, den Täter künftig zu sorgfältigem Verhalten zu veranlassen, mag man nicht nur, sondern muss man reden.56 Aber eine (Kriminal-) Strafe verhängen? Wie will man das mit den Begriffen Strafe und Schuld in Ein53
Puppe (Fn. 3). Der Sprachbrockhaus9, 1984, Stichwort: Strafe, S. 668; vgl. im Einzelnen meine Ausführungen in „Strafe und Erziehung nach dem Jugendgerichtsgesetz“, 1984, insbes. S. 149 ff. 55 Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 15 Rn. 203a. 56 Vgl. unten, VI. 4. 54
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klang bringen, von dem vielbeschworenen „Ultima-ratio-Prinzip“ einmal ganz abgesehen? IV. Strafe, Schuld und Menschenwürde 1. Belieben des Gesetzgebers? Alle vorgebrachten Einwände ändern nichts daran, dass im Strafgesetzbuch auch für bloß objektive Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt eine Kriminalstrafe vorgesehen ist57 – ob einem dies gefällt oder nicht. Roßhirt58, der 1826 bei seinen Einwänden gegen die Annahme „culposer Verbrechen“ vor demselben Befund stand, meinte resignierend: „Das positive Recht kann Alles. Also auch einen Thäter ohne dolus zum Verbrecher machen“.
Diese Feststellung ist jedenfalls so heute offensichtlich nicht mehr haltbar. Dem „positiven Recht“ sind Grenzen gesetzt, u. a. in der Verfassung. Damit sind wir bei dem „in der Verfassung verbürgten Schuldgrundsatz“59 angelangt. 2. Die Rechtsprechung zum Schuldgrundsatz Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof sind sich über Inhalt und Bedeutung des Schuldgrundsatzes einig. Das BVerfG fasst dies wie folgt zusammen: „Strafe setzt . . . Schuld voraus. Dieser Grundsatz ist im modernen Strafrecht so selbstverständlich, daß der Bundesgerichtshof . . . von ihm als von einem ,unantastbaren Grundsatz allen Strafens‘ spricht“.60
a) Die zentralen Feststellungen des BVerfG Die Rechtsprechung des BVerfG zum Inhalt des Schuldgrundsatzes kann hier nur in ihren für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Ergebnissen zusammengefasst werden. Dabei ergibt sich ein weitgehend klares Bild: „Dem Grundsatz, daß jede Strafe . . . Schuld voraussetze, kommt verfassungsrechtlicher Rang zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip begründet. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes . . . Die Strafe . . . ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, daß sie – wenn nicht ausschließlich, so doch auch – auf Repression und 57
Vgl. oben, I. 2. Roßhirt, Entwickelung der Grundsätze des Strafrechts, 1828 (Neudruck 1997), S. 165. 59 Vgl. zuletzt z. B. Koch (Fn. 5), S. 175. 60 BVerfGE 20, 323, 332 f. unter Berufung auf BGHSt 2, 194, 202 f. 58
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Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe . . . wird dem Täter ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vorwurf gemacht. Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche . . . Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.“61
Letztlich stützt das BVerfG den Schuldgrundsatz auf die Menschenwürde: „Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, auf dem höchste Anforderungen an die Gerechtigkeit gestellt werden, bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. . . . Jede Strafe muß in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat und zum Verschulden des Täters stehen . . . Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden . . . Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen erhalten bleiben“.62
Zu betonen ist dabei nochmals, dass die Strafe Vergeltung für ein in der Vergangenheit liegendes schuldhaftes Verhalten ist: „Die Strafe ist eine repressive Übelzufügung als Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, die dem Schuldausgleich dient“.63 „Das dem Täter auferlegte Strafübel soll den schuldhaften Normverstoß ausgleichen; es ist Ausdruck vergeltender Gerechtigkeit“.64
Der Verneinung eines Verschuldens im Falle bloß objektiver Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt steht nicht entgegen, dass das BVerfG in seiner zentralen Entscheidung zum Verbotsirrtum65 die Bestrafung eines Täters gebilligt hat, der ohne Unrechtsbewusstsein gehandelt hat, dem aber das Fehlen des Unrechtsbewusstseins vorzuwerfen sei. Denn dieser Vorwurf ist in der Tat dann – aber auch nur dann – begründet möglich, wenn der Täter Anlass hatte, sich um die Klärung der Rechtslage zu bemühen, ihn also ein Vorverschulden trifft. Voraussetzung für eine Kriminalstrafe ist jedenfalls, dass man dem Täter vor dem Hintergrund seines realen Kenntnisstandes einen Vorwurf machen kann! Präventionsmaßnahmen sind demgegenüber, wie das BVerfG ausdrücklich betont66, auch schuldunabhängig möglich – für sie gelten andere Maßstäbe, dagegen „Strafe setzt Schuld voraus“.
61 62 63 64 65 66
BVerfGE 20, 323, 331. BVerfGE 45, 187, 228. BVerfGE 109, 133, 173. BVerfGE 110, 1, 13. BVerfGE 41, 121, 125 f. Vgl. insbesondere BVerfGE 109, 133 ff.
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b) . . . so auch BGHSt 2, 194 In der damit völlig übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommen diese Grundsätze noch klarer zum Ausdruck: „Strafe setzt Schuld voraus“. Die Schuld des Täters besteht darin, „daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“. Der Mensch ist „auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt . . ., sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden . . . Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht. Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut“.67
Sonst nicht! Die sich anschließende – vom BVerfG68 bestätigte – Feststellung des BGH, dass auch dann ein Schuldvorwurf gegen den Täter erhoben werden könne, wenn dieser „bei gehöriger Anspannung des Gewissens . . . das Unrechtmäßige seines Tuns hätte erkennen können“, ist damit wie gesagt durchaus vereinbar, wenn der Täter Tatsachenkenntnis hat, die ihn „zum Nachdenken“ hätte bringen können bzw. müssen. Aber noch einmal: „Voraussetzung . . . ist die Kenntnis von Recht und Unrecht“ – und die wiederum setzt Kenntnis der Tatsachen voraus, von denen die Beurteilung der Rechtslage abhängt! 3. Konsequenzen für die bloß objektive Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt Nach der eingangs zusammengefassten Gesetzeslage im StGB ist auch dann eine Kriminalstrafe zu verhängen, wenn ein Mensch lediglich objektiv die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht einhält. Da niemand 24 Stunden am Tag aufmerksam sein kann und dagegen gefeit ist, dass ein eigener unbewusster Fehler fatale Folgen hat, lässt sich eine solche Strafe allenfalls vermeiden, wenn man sich aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen zurückzieht und in völliger Abgeschiedenheit lebt. Genau dies kann dem Täter nach Art. 1 Abs. 1 GG jedoch nicht angesonnen werden. Hinsichtlich der Bestrafung der in der Vergangenheit liegenden Tat sei noch einmal an die über 200 Jahre alte Überlegung erinnert69, mit „einem bestimmten Tatbestand für alle Zukunft“ „ein Übel“ zu verknüpfen, damit beim Täter „durch Erinnerung . . . irgend ein Reiz zum Nachdenken bei künftigen gleichen Fällen 67 68 69
BGHSt 2, 194, 200 f. BVerfGE 41, 121 ff. Vgl. oben, zu Fn. 10.
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erregt“ wird. Man stößt also den unbewusst handelnden (Fahrlässigkeits-)Täter wie einen Hund mit der Nase in den an der falschen Stelle hinterlassenen Urin: „Das machst Du nicht mehr“! Das kann man durchaus erfolgreich so machen; und derartige Präventionsmaßnahmen sind keine Vergeltung! Für sie gelten wie festgestellt andere Maßstäbe. Aber mit der Kriminalstrafe wird zusätzlich das „sozialethische Unwerturteil“ verbunden: Das war kriminell, Du bist ein Krimineller – obwohl der ahnungslose Täter für sein Verhalten in der Tatsituation ebenso wenig kann wie etwa der Hund mit Blasenschwäche. Eine für den einzelnen Menschen letztlich unvermeidliche Kriminalstrafe ist daher verfassungswidrig: „Das Grundgesetz will . . . sicherstellen, dass jedermann sein Verhalten auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich einrichten kann“.70
Geht man nicht wie hier vom individuellen Menschen, seinen Fähigkeiten und Kenntnissen aus, sondern stellt auf die objektiven Erfordernisse des Verkehrs ab, sieht zugegebenermaßen alles ganz anders aus. Aber dann wird jede Bezugnahme auf die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Menschen und seine Würde zur Satire. Die Würde des Menschen nicht auf die einzelne Person, sondern die Gesamtbefindlichkeit der Menschheit zu beziehen, wäre schlicht grotesk. Bei diesem Ansatz würde der Täter bestraft, weil dies für das Leben in einer „Risikogesellschaft“ „erforderlich“ ist, er würde also zum Objekt wie zum Instrument der Strafrechtspolitik. Träte man demgegenüber für eine Preisgabe der individuellen strafrechtlichen Schuld ein71, ginge dies nur unter Preisgabe des Schuldstrafrechts und auf dem Weg über eine völlig andere („objektive“) Interpretation auch des verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes. Der mit der sog. Ewigkeitsgarantie versehene Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) schließt solche Überlegungen m. E. aus. 4. Ergebnis Die im StGB getroffenen Bestimmungen über die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sind verfassungswidrig, soweit sie die bloß objektive Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erfassen.72 70
BVerfGE 105, 135, 153; ähnlich bereits BVerfG 95, 96, 131. Auf die umfangreiche kontroverse Diskussion über die Grundprobleme des Schuldbegriffs, insbesondere die sog. Willensfreiheit und die Frage, ob Schuld überhaupt möglich ist, kann hier nicht eingegangen werden. 72 Ob die Strafgerichte die Bestimmungen im Wege sog. verfassungskonformer Auslegung in ihrem Anwendungsbereich einschränken können oder sogar müssen (so z. B. Schlüchter [Fn. 24], S. 89 f.) oder ob sie stattdessen die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen selbst festzustellen haben oder im Wege eines Vorlagebeschlusses vom BVerfG klären lassen müssen, muss hier offen bleiben. 71
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V. Die zögerlichen Ansätze im Schrifttum – mehr Mut! Die hier vertretene Auffassung fügt sich nur scheinbar in die bisherige Diskussion über die „Grenzen der Fahrlässigkeit“ ein – sie erteilt dem Versuch, die Lösung des Problems dem Gesetzgeber zuzuschieben, eine klare Absage. Im Schrifttum scheut man offenbar den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit – auch Autoren, die alle angeführten Argumente klar sehen und überzeugend selbst vortragen, ziehen daraus nicht die erforderlichen Konsequenzen. Zwei Beispiele: • Bockelmann73 stellt – ausführlich begründet – fest: „Alles nötigt zu der Folgerung, daß der unbewußt fahrlässigen Handlung die Eigenschaft einer schuldhaften Handlung mangelt“. Seine „Konsequenz“ muss danach überraschen: „Die Folgerungen aus diesen bedenklichen Ergebnissen unserer Überlegungen . . . bestehen in nichts weniger als in der Forderung an den Gesetzgeber, die strafrechtliche Haftung für Fahrlässigkeit soweit wie möglich einzuschränken“.74
Soll bis dahin etwa gelten: Der Täter wird bestraft, obwohl er „zwar rechtswidrig, aber schuldlos gehandelt hat“?75 • Auch Köhler legt detailliert dar, warum „die bloß unbewußte Fahrlässigkeit . . . strafrechtsbegrifflich ebensowenig tatbestandsmäßig sein (kann) wie der Naturzufall“.76 „Methodologisch wäre es“ auch nach ihm „daher begründet, schon im geltenden Recht aufgrund des verfassungskräftigen Schuldprinzips die Erfordernisse . . . subjektiv bewußter Fahrlässigkeit einschränkend zur Geltung zu bringen. Dem steht die offene Form des Gesetzes an sich nicht im Wege“.77 Dennoch schreckt er dann plötzlich ohne Begründung vor diesem Ergebnis zurück: „Gegen die bisherige Tradition ist wohl ein klärender Gesetzgebungsakt nötig“.78 Warum? Soweit ersichtlich ist im neueren Schrifttum allein Arthur Kaufmann79 bereit, de lege lata „Farbe zu bekennen“: „Wo man keinen Schuldvorwurf erheben kann, darf man auch nicht strafen“. „Was aber die armen Teufel betrifft, denen aus unbewußter Fahrlässigkeit nur passiert ist, was jedem von uns tagtäglich passieren kann (und nur deshalb nicht passiert, weil wir ,Glück haben‘), so bin ich schon immer der Meinung gewesen, dass sie 73 74 75 76 77 78 79
Bockelmann (Fn. 1), S. 210 ff. Bockelmann (Fn. 1), S. 216. Bockelmann (Fn. 1), S. 215. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1996, S. 177. Köhler (Fn. 76), S. 182. Köhler (Fn. 76), S. 182. Artur Kaufmann, Jura 1986, 225, 231.
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kein kriminelles Unrecht begangen haben, weshalb man gegen sie auch nicht den Vorwurf krimineller Schuld erheben darf . . . Es gibt . . . keine unbewußte Schuld“.
Hieraus gilt es, die Konsequenzen zu ziehen. VI. Was passiert eigentlich, wenn . . . . . . sich die Gerichte an den verfassungsrechtlich verbürgten Schuldgrundsatz halten und bei bloß objektiver Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt keine Kriminalstrafen mehr verhängen? 1. Droht das Chaos? Die Antwort lautet: Nein! Nur Taten bei Fehlen jedes tatbestandsrelevanten Wissens sind straflos. Ergibt sich ein Vorverschulden, ist die Strafbarkeit unproblematisch. Nur wenn jedes Wissen fehlt, kann nicht bestraft werden! 2. Beweisrechtliche Probleme Es liegt die Befürchtung nahe, bei Beachtung des Schuldgrundsatzes könne jeder sagen: „Das habe ich nicht gesehen!“ „Das habe ich nicht gewusst!“ „Das habe ich vergessen!“ usw. Alle vom Verbotsirrtum her bekannten Probleme entstehen nach der hier vertretenen Auffassung auch bei den Fahrlässigkeitstaten: Dem Täter muss ein tatbestandsrelevantes Wissen nachgewiesen werden – und der Nachweis subjektiver Merkmale ist immer schwierig. Die Probleme entschärfen sich zwar deutlich, wenn man beachtet, dass Wissen etwas anderes als Bewusstheit ist. Dennoch: Einige schuldige Täter kommen bei Zugrundelegung der hier vertretenen Auffassung in dubio pro reo ohne Kriminalstrafe davon – und das zu Recht: Beweisprobleme dürfen nicht dazu führen, auch Schuldlosigkeit unter Strafe zu stellen! 3. Positive Konsequenzen Pechvögel bleiben strafrechtlich künftig ungeschoren! Es ist Schluss mit übersteigerten „Sorgfaltsanforderungen“ – sie sind durch das begrenzt, was der Täter weiß! Und es kommt zu einer erheblichen Entlastung der Strafjustiz. Polizei und Verwaltung werden dadurch nicht etwa zusätzlich belastet; sie müssen sich ja schon jetzt um jeden dieser Fälle kümmern. Schließlich ist Schluss mit der „verschämten“ Unredlichkeit: Wir wissen, dass wir nicht bestrafen dürfen, aber tun es aufgrund vermeintlicher praktischer Zwänge trotzdem? Wozu betreiben wir eigentlich Strafrechtswissenschaft, wenn wir uns letztlich den Konsequenzen unserer Erkenntnisse verschließen? Die wis-
Kriminelles Versehen? Verbrecherische Unaufmerksamkeit?
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senschaftliche Aufrichtigkeit gebietet es, unabhängig von den „drohenden“ Folgen den „verfassungsrechtlich verbürgten Schuldgrundsatz“ nicht nur auf Festversammlungen oder in Leitsätzen zu betonen, sondern ihn praktisch umzusetzen – oder aber aufzugeben. 4. Anmerkungen zu erforderlichen gesetzgeberischen Initiativen Über die sich daraus ergebenden rechtspolitischen Konsequenzen kann man trefflich streiten, sie zu entscheiden ist Sache des Gesetzgebers. Mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit lassen sie sich nicht beantworten: „Die Politik ist keine Wissenschaft, wie einige Herren Professoren sich einbilden!“ (Bismarck). Ich mache aus meiner Meinung aber keinen Hehl – zumal die Furcht vor den drohenden Folgen der Grund zu sein scheint, weshalb man den Schuldgrundsatz im vorliegenden Zusammenhang geflissentlich ignoriert und dem vermeintlich rebellierenden Rechtsgefühl80 letztlich den Vorrang einräumt: Da alle getroffenen Feststellungen angesichts der strukturellen Gleichartigkeit81 auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht gelten, ist die Grundentscheidung des Gesetzgebers erforderlich, das aus historischen Gründen tatschuldorientierte Ordnungswidrigkeitenrecht in einen Katalog schuldunabhängiger, ausschließlich präventiv ausgerichteter Maßnahmen umzuwandeln.82 Eine begangene als schuldlos zu behandelnde Tat ist in einer solchen Konzeption nicht mehr der Grund und schon gar nicht das Kriterium für Art und Höhe der zu verhängenden Maßnahme, sondern nur noch deren Anlass. Die zu verhängenden Ordnungsmaßnahmen sind dann mit den Erziehungsmaßregeln im Jugendstrafrecht vergleichbar (vgl. § 5 Abs. 1 JGG).83 Im vorliegenden Zusammenhang würde der erwachsene Verantwortliche mit mehr oder weniger sanfter Nachhilfe dazu gebracht, dafür zu sorgen, dass künftig keine Schäden eintreten und niemand gefährdet wird. Wie er dies tut, ist seine Sache. Ihm wird keine Lebensführungsschuld „vorgeworfen“, sondern insoweit eine andere Lebensorganisation nahegebracht, als diese sich auf andere auswirkt. Dass die Präventionsmaßnahmen sich dabei möglicherweise von den Strafen im Einzelfall kaum oder gar nicht unterscheiden, ändert nichts an der Erforderlichkeit einer entsprechenden dogmatischen Differenzierung.
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Vgl. Bockelmann (Fn. 1). Vgl. z. B. Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten2, 2005, S. 4 Rn. 2 f. m.w. Nachw. 82 Ansätze dazu bereits bei James Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, 1902. Jeder Strafcharakter der Maßnahmen müsste entfallen (vgl. BVerfGE 20, 323 ff.). 83 Dass bei einer solchen Gesetzesstruktur alle Probleme der Unternehmensstrafbarkeit und der Halterhaftung sowie möglicherweise weitere Streitpunkte entfallen und das Verfahren erheblich entlastet werden könnte, spricht ebenfalls für einen Paradigmenwechsel. 81
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Die Konsequenz aus der Beachtung des Schuldgrundsatzes ist jedenfalls, dass neben die Kriminalstrafen und die Maßregeln der Besserung und Sicherung eine weitere Gruppe von Maßnahmen treten muss, die auf das künftige Verhalten eines schuldfähigen Täters ausgerichtet sind – wenn man nicht den Schuldgrundsatz preisgeben oder aber auf ordnungsrechtliche Rechtsfolgen für Versehen bzw. Unaufmerksamkeit völlig verzichten will. 5. Dogmatische Konsequenzen Die dogmatischen Konsequenzen der hier vertretenen Auffassung liegen vor allem beim „normativen Schuldbegriff“ (Rückkehr zur strikten Beachtung der Person des individuellen Täters!), bei der Bestimmung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums (Beschränkung auf die individuelle Vermeidbarkeit durch den jeweiligen Täter!), bei der Neujustierung der gesamten Fahrlässigkeitsdogmatik (u. a. Klärung der Tatrelevanz des Täterwissens) sowie bei den Lehren zum Verbrechensaufbau (Prüfung der Möglichkeit einer Rückkehr zur Einheitlichkeit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt). Jedenfalls ist absehbar, dass aufgrund der erforderlichen grundlegend anderen Weichenstellung viele Regal-Kilometer ins Magazin verlagert bzw. neu geschrieben werden müssen. VII. Fazit Der verfassungsrechtliche Schuldgrundsatz zwingt de lege lata in Fällen bloß objektiver Nichteinhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt strafrechtlich zum Freispruch!
V. Strafrecht – Besonderer Teil
Fälschung beweiserheblicher Daten bei Anmeldung eines eBay-Accounts unter falschem Namen Von Jörg Eisele Die Jubilarin begann ihre wissenschaftliche Karriere mit einer Promotion zum Thema „Die Fälschung technischer Aufzeichnungen“1 an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, die von Wilhelm Gallas betreut wurde. Sie widmete sich damit einem modernen Thema, dessen Aktualität durch die Reformgesetzgebung, aber auch durch die technische Entwicklung bedingt war. Die Urkundendelikte waren auch später stets ein Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Forschung; neben ihren vielzähligen Veröffentlichungen zu diesem Thema soll an dieser Stelle nur ihre Kommentierung der §§ 267 ff. StGB im Nomos Kommentar hervorgehoben werden. Die im Folgenden zu untersuchende Problematik, die Gegenstand zweier aktueller Entscheidungen war und die moderne Entwicklung im Computer- und Internetbereich widerspiegelt, wird von der Jubilarin im Nomos Kommentar zwar nicht explizit aufgegriffen. Jedoch lässt sich anhand der vielfältigen Publikationen der Jubilarin zeigen, dass sich mithilfe der von ihr herausgearbeiteten Leitlinien alte Probleme in neuem Gewand leicht entlarven und so einer Lösung zuführen lassen. I. Ausgangsfälle Die beiden eben angesprochenen Entscheidungen hatten sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Nutzer, der sich beim Internet-Auktionshaus eBay (deutsche eBay GmbH) unter falschem Namen online anmeldet, den Tatbestand des § 269 StGB verwirklicht. Angesichts einer geschätzten Zahl von ca. 15 Millionen eBay-Nutzern allein in Deutschland und unzähliger weiterer Internetplattformen mit entsprechenden Anmeldeverfahren kommt dieser Problematik grundsätzliche Bedeutung zu. Bevor jeweils der den beiden Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalt kurz geschildert werden soll, ist hinsichtlich des Anmeldeverfahrens bei eBay anzumerken, dass entsprechend § 2 Nr. 3 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Rahmen der Online-Anmeldung der Vorund Nachname, die aktuelle Adresse, die Telefonnummer sowie eine gültige EMail-Adresse vollständig und korrekt anzugeben sind. Ferner wählt der Nutzer bei der Anmeldung ein Passwort, mit dem er sich dann auf der Homepage von 1
Puppe, Die Fälschung technischer Aufzeichnungen, 1972.
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eBay einloggen kann, sowie ein Pseudonym als Mitgliedsnamen, unter dem er sich später an Auktionen als Verkäufer oder Käufer beteiligen kann. Durch die Online-Anmeldung wird mit eBay ein Nutzungsvertrag geschlossen (§ 2 Nr. 1 AGB). Seitens eBay erfolgt zudem ein Abgleich mit den Daten der „Schufa“2, wobei in diesem Verfahren nur die Identität des Nutzers, nicht aber dessen Kreditwürdigkeit geprüft wird. Während der Auktionen wird jedenfalls bei Privatpersonen nur der von dem Nutzer gewählte Mitgliedsname sichtbar, während die weiteren Daten verborgen bleiben. Diese werden erst zur Abwicklung eines Rechtsgeschäfts, z. B. nach Erwerb eines Gegenstandes im Rahmen einer Auktion, dem Vertragspartner seitens eBay automatisiert übermittelt. 1. Verkäuferfall: Im Fall des OLG Hamm3 schaltete der Angeklagte auf der Internetplattform eBay mehrere Accounts, bei denen er sich erfundener Namen und Anschriften bediente, da seine Personalien auf Grund von Unregelmäßigkeiten bereits gesperrt worden waren. Anschließend versteigerte er Waren, die er jedoch nach Bezahlung durch die Kunden – wie von vornherein geplant – nicht lieferte. 2. Käuferfall: Im Fall des KG Berlin4 hatte der Angeklagte, der bei den Rechtsgeschäften nicht unter seinem eigenen Namen auftreten wollte, die Personalien einer unlängst verstorbenen Person, die er nicht näher kannte, zur Anmeldung bei eBay verwendet. Zudem anonymisierte er die IP(Internet Protokoll)Adresse seines Rechners. Für die Lieferung gab er als abweichende Lieferadresse seine eigene Anschrift an. Unter Nutzung des Accounts ersteigerte er bei mehreren Verkäufern Waren, die er stets ordnungsgemäß bezahlte. Als Verwandte des Verstorbenen von dem Vorgehen erfuhren, stellten sie Strafanzeige. Im Verkäuferfall des OLG Hamm liegt zunächst eine Betrugsstrafbarkeit vor, da der Angeklagte über seine Zahlungswilligkeit als innere Tatsache5 täuschte und in Folge des Irrtums und der Vermögensverfügung die Käufer schädigte. Das OLG Hamm lehnte jedoch – anders als die Vorinstanz – eine Strafbarkeit wegen Fälschung beweiserheblicher Daten nach § 269 StGB ab. Hingegen vertrat das KG Berlin die Auffassung, dass die Einrichtung eines Mitgliedskontos unter falschen Personalien den Tatbestand des § 269 Abs. 1 (Var. 1) StGB erfüllen kann. II. Grundkonzeption des § 269 StGB Bevor auf spezielle Fragestellungen in Zusammenhang mit den beiden Ausgangsfällen eingegangen werden soll, ist noch einmal die Grundkonzeption des 2 Schufa Holding AG, hervorgegangen aus SCHUFA e. V. (Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung). 3 OLG Hamm StV 2009, 475 f. 4 KG Berlin K&R 2009, 807. 5 Vgl. nur Eisele, Strafrecht Besonderer Teil 2, 2009, Rn. 496; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar4, 2010, § 263 Rn. 55.
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Tatbestandes – gerade auch vom Standpunkt der Jubilarin aus – in Erinnerung zu rufen. 1. Geschütztes Rechtsgut Geschütztes Rechtsgut des § 269 StGB ist nach h. M. in Anlehnung an das Schutzgut des § 267 StGB die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweisverkehrs mit Daten und damit ein Allgemeinrechtsgut.6 Abweichend von dieser Konzeption vertritt die Jubilarin mit guten Gründen, dass das Individualinteresse des einzelnen Teilnehmers am Rechtsverkehr geschützt ist, da es bei den Urkundendelikten um die Vorbereitung oder Ausführung einer Täuschung gehe und insoweit nur der Einzelne, nicht aber die Allgemeinheit oder gar der „Rechtsverkehr“ getäuscht werden könne.7 Das besondere Interesse des Einzelnen bestehe darin, den anderen an seiner Erklärung festhalten zu können. Dieses Interesse sei daher mit der Garantiefunktion der Urkunde verbunden.8 Unter einer unechten Urkunde versteht sie damit „eine Scheinerklärung, die die Rechtswirkungen, die aus ihr hervorzugehen scheinen, in Wirklichkeit gar nicht hat, weil derjenige, der als Erklärender angegeben ist, eine Erklärung dieses Inhalts nicht abgegeben hat“9. Dementsprechend lässt sich das Schutzgut als Interesse des Einzelnen präzisieren, „nicht durch solche Scheinerklärungen mit nur scheinbaren Rechtswirkungen in seinen rechtlich erheblichen Entscheidungen beeinflusst zu werden“10. Einvernehmen besteht dann aber wieder insoweit, als Schutzgut jedenfalls nicht das fremde Namensrecht ist, so dass es im Fall des KG Berlin nicht auf die unbefugte Verwendung des Namens und damit eine Beeinträchtigung des Namensrechts des Verstorbenen bzw. dessen Angehöriger ankommen kann.11
Siehe Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch26, 2007, § 269 Rn. 1; Möhrenschlager, wistra 1986, 128 (134); Schönke/Schröder/Cramer/Heine, Strafgesetzbuch27, 2006, § 269 Rn. 4. 7 Vgl. z. B. Puppe, in: Nomos Kommentar zum StGB (NK3), 2010, § 267 Rn. 6, § 269 Rn. 7 f.; dies., in: BGH-Festgabe, Bd. 4, hrsg. v. Roxin/Widmaier, 2000, S. 569 (571); vgl. ferner Erb, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2006, § 267 Rn. 2; Hoyer, in: Systematischer Kommentar zu StGB (SK), Stand: 45. Lfg. (Juli 1998), § 267 Rn. 9, § 269 Rn. 1; Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (52). 8 NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 6, § 269 Rn. 7 f.; dies., BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (571); dies. (Anm. 1), S. 175. 9 Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (572). Unter Zugrundelegung der h. M. ist eine Urkunde unecht, wenn sie nicht von demjenigen stammt, der aus ihr als Aussteller hervorgeht, wenn also über die Identität des Ausstellers getäuscht wird; vgl. nur BGHSt 1, 117 (121); BGHSt 33, 159 (160); BGHSt 40, 203 (204); Schönke/Schröder/Cramer/ Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 48. 10 NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 6; dies., BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (571); dies., Jura 1979, 630 (632). 11 Vgl. RGSt 8, 187 (190); RGSt 48, 238 (240); Seier, JA 1979, 133 (134); vgl. aber noch Schönke/Schröder/Cramer, Strafgesetzbuch19, 1978, § 267 Rn. 1. 6
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2. Tatbestandliche Struktur Der Gesetzgeber bezweckte mit § 269 StGB, der durch das 2. WiKG eingeführt wurde und am 1. August 1986 in Kraft getreten ist, Lücken im Urkundenstrafrecht zu schließen.12 Diese Lücken sind dadurch bedingt, dass § 267 StGB die visuelle Wahrnehmbarkeit der Gedankenerklärung voraussetzt, während Daten gerade nicht unmittelbar sichtbar sind. Daher setzt der objektive Tatbestand des § 269 Abs. 1 StGB mit seiner an § 267 Abs. 1 StGB angelehnten Struktur voraus, dass der Täter beweiserhebliche Daten so speichert, dass bei ihrer Wahrnehmung eine unechte Urkunde vorliegen würde. Es ist also hypothetisch zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 267 StGB verwirklicht wären, wenn die Urkunde visuell wahrnehmbar wäre. Damit müssen Beweis- und Garantiefunktion der Urkunde gewahrt sein.13 Das in § 269 StGB gesondert genannte Erfordernis der Beweiserheblichkeit der Daten hat hierbei keine über die Beweisfunktion des § 267 StGB hinausgehende Bedeutung.14 In subjektiver Hinsicht bedarf es zumindest des Eventualvorsatzes hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale. Ferner muss der Täter zur Täuschung im Rechtsverkehr handeln, wofür nach h. M. dolus directus 2. Grades genügt.15 Insoweit ist dann auch im Zusammenhang mit unseren Fällen die Vorschrift des § 270 zu beachten, die die fälschliche Beeinflussung einer Datenverarbeitung der Täuschung im Rechtsverkehr gleichstellt und damit verdeutlicht, dass nicht zwingend eine Person Täuschungsadressat sein muss. III. Beweisfunktion Nach Ansicht des OLG Hamm soll eine Strafbarkeit des Nutzers aufgrund der Anforderungen, die an die Beweisfunktion und die Garantiefunktion der Urkunde zu stellen sind, zu verneinen sein. Blickt man zunächst auf die Beweisfunktion, so verlangt die h. M. in Anlehnung an die Begriffsbestimmung bei § 267 StGB, dass die Daten beweiserheblich, d.h. dazu geeignet und bestimmt sind, im Rechtsverkehr als Beweisdaten für rechtserhebliche Tatsachen benutzt zu werden.16
12 BT-Drs. 10/318, S. 31 und BT-Drs. 10/5058, S. 33. Die Vorschrift hat mit der zunehmenden Verbreitung des Internets inzwischen erhebliche praktische Bedeutung erlangt, vgl. NK-Puppe (Anm. 7), § 269 Rn. 6. 13 Vgl. nur Lackner/Kühl (Anm. 6), § 269 Rn. 2; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 269 Rn. 2. 14 Vgl. Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (53); Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 269 Rn. 9. 15 BGH NStZ 1999, 619; KG Berlin K&R 2009, 807 (812); Fischer, Strafgesetzbuch57, 2010, § 267 Rn. 29; a. A. NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 103, die dolus eventualis für ausreichend hält; vgl. ferner SK-Hoyer (Anm. 7), § 267 Rn. 91 f., wonach dolus directus 1. Grades erforderlich sein soll.
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1. Die Anmeldung zu elektronischen Diensten als beweiserhebliches Verhalten Das OLG Hamm verneint die Beweisfunktion, weil der Name des Nutzers keine rechtserhebliche Gedankenerklärung enthalte und auch nicht hinreichend geeignet sei, für ein Rechtsverhältnis Beweis zu erbringen. Die Einrichtung eines Accounts sei ein Vorgang „ohne jeden nach außen hin wirkenden Erklärungscharakter“, bei dem der Nutzer lediglich eine Zugangsberechtigung und ein Pseudonym erhalte, die es ihm ermöglichten, Waren auf der Auktionsplattform anzubieten.17 Dem entspricht es, wenn in der Literatur die Verschaffung eines Accounts als bloße Vorbereitungshandlung mit Entwurfscharakter eingestuft wird.18 Schon angesichts der eingangs (I.) genannten Informationen zur Online-Anmeldung ist diese Sichtweise jedoch wenig überzeugend. Anstatt bereits die Anmeldung selbst als rechtlich relevanten Akt als Anknüpfungspunkt zu wählen, wird diese ausgeklammert und der Blick nur auf die späteren Rechtsgeschäfte der Nutzer im Rahmen der Auktionen gelenkt. Letztlich kann an der Beweiserheblichkeit kaum gezweifelt werden, da mit der Anmeldung des Accounts trotz deren Unentgeltlichkeit mit eBay ein Nutzungsvertrag geschlossen wird.19 Auch muss man sehen, dass im Falle des Anbietens von Artikeln durch eBay vom Verkäufer eine sog. Angebotsgebühr (§ 5 Nr. 2 AGB) erhoben wird und daher schon die Anmeldung gegenüber eBay rechtlich bedeutsam ist. Zudem treffen eBay – wie vom KG Berlin zutreffend dargelegt wird20 – bei Falschanmeldungen Identitätsprüfungspflichten21, ggf. kann eBay sogar im Rahmen der Störerhaftung verpflichtet sein, Vorsorge gegen Rechtsverletzungen zu treffen22. Auch der Vergleich mit bloßen Urkundenentwürfen bei § 267 StGB trägt nicht, weil die Daten hier – anders als bei bloßen Entwürfen – gegenüber Dritten zum Abschluss eines Vertrages genutzt werden. Entwurfscharakter kann man daher nur auf dem Rechner gespeicherten Daten zubilligen können, die erst später – z. B. in Form eines Computerausdrucks oder per E-Mail – in den Rechtsverkehr gelangen sollen.23 Grundsätzlich wird man sagen können, dass bei einer Anmeldung zu OnlineDiensten, bei denen ein Vertrag zustande kommt, die Beweiserheblichkeit bejaht 16 Siehe nur Fischer (Anm. 15), § 269 Rn. 3; LPK-Kindhäuser (Anm. 5), § 269 Rn. 7; krit. hinsichtlich einer eigenständigen Bedeutung der Beweisfunktion aber NKPuppe (Anm. 7), § 267 Rn. 18 ff.; dies., JZ 1986, 938. 17 OLG Hamm StV 2009, 475 (476). 18 Buggisch, NJW 2004, 3519 (3521). 19 So auch KG Berlin K&R 2009, 807 (809 f.); Jahn, JuS 2009, 662 (663); Weidemann, in: Beck-OK, Stand: 1.10.2009, § 269 Rn. 9. 20 KG Berlin K&R 2009, 807 (810). 21 BGH NJW 2008, 3714. 22 Brandenburgisches OLG NJW-RR 2006, 1193. 23 Dazu auch NK-Puppe (Anm. 7), § 269 Rn. 12; Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (51); SK-Hoyer (Anm. 7), § 269 Rn. 12.
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werden kann.24 Bestätigt wird dies, wenn man mit Puppe erkennt, dass hinter dem wenig erhellenden Begriff der „beweiserheblichen Daten“ die „rechtserhebliche Erklärung in Datenform“ steht.25 Daraus folgt im Übrigen zugleich, dass der Nutzer bei Anmeldung des Accounts auch in subjektiver Hinsicht zur Täuschung im Rechtsverkehr handelt.26 2. Die digitale Signatur als Voraussetzung der Beweiserheblichkeit In Anlehnung an Stimmen aus der Literatur verneint das OLG Hamm die Beweisfunktion aber auch deshalb, weil einer einfachen elektronischen Willenserklärung ohne elektronische Signatur keine Beweiseignung zukomme.27 Voraussetzung für die Anwendung des Tatbestandes des § 269 StGB wäre daher, dass bei der jeweiligen Erklärung eine elektronische Signatur, d.h. ein fremder Signaturschlüssel i. S. d. Signaturgesetzes, verwendet wird. Dies kann schon deshalb wenig überzeugen, weil – wie Puppe zutreffend dargelegt hat28 – das Signaturgesetz zeitlich nach § 269 StGB geschaffen wurde und die Materialien des Gesetzgebers auf keinerlei Einschränkung hindeuten.29 Auch darf die Frage der Beweiserheblichkeit nicht mit derjenigen nach der Beweisdienlichkeit oder Beweiskraft im zivilrechtlichen Sinne gleichgesetzt werden.30 Im Rahmen der Urkundendelikte sollen mit dem Erfordernis der Beweiseignung letztlich nur für den Beweisverkehr irrelevante Äußerungen ausgeschlossen werden, auf zivilrechtliche Beweisfragen kommt es im Rahmen des § 269 StGB nicht an.31 Zum Beweis geeignet ist die Datenurkunde daher bereits dann, wenn sie auf die Bildung der Überzeugung mitbestimmend einwirken kann; den vollen Beweis muss sie nicht erbringen.32 Zudem kommt es auch bei verkörperten Gedankenerklärungen nicht darauf an, ob die Fälschung durch bestimmte Umstände – wie etwa eine eigen24 Vgl. aber auch Buggisch, NJW 2004, 3519 (3521); Weidemann, in: Beck-OK (Anm. 19), § 269 Rn. 9; für eine Strafbarkeit bei Eröffnung eines E-Mail-Accounts dagegen Hilgendorf, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Strafgesetzbuch, 2009, § 269 Rn. 7. 25 Vgl. Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (588). 26 Vgl. auch KG Berlin K&R 2009, 807 (810 f.). 27 OLG Hamm StV 2009, 475 (476); so auch Frank, CR 2004, 123 (124 f.); Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2005, Rn. 177; vgl. ferner Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (58). 28 Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (572); ferner MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 269 Rn. 18; Stuckenberg, ZStW 118 (2006), S. 878 (888). 29 BT-Drs. 10/318, S. 31 ff., 55, 57; BT-Drs. 10/5058, S. 33 f. 30 Zutreffend Stuckenberg, ZStW 118 (2006), S. 878 (887). 31 KG Berlin K&R 2009, 807 (810 f.); Jahn, JuS 2009, 662 (664). 32 Vgl. z. B. Lackner/Kühl (Anm. 6), § 267 Rn. 12; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 11. Da dieses Merkmal kaum eine Einschränkung des Tatbestandes mit sich bringt, wird die praktische Funktion neben dem Erfordernis der Absicht zur Täuschung im Rechtsverkehr bestritten; im Anschluss an Kienapfel, ZStW 82 (1970), S. 346 (363) auch NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 18.
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händige Unterschrift oder ein Siegel – erschwert wird.33 Selbst bei leichtester Fälschungsmöglichkeit kann der Tatbestand des § 267 StGB verwirklicht sein.34 Sieht man mit unserer Jubilarin vom Tatbestand des § 269 StGB das Interesse des Einzelnen, den Erklärenden an seiner Erklärung festhalten zu können, als geschützt, so wird deutlich, dass es maßgeblich auf die Verwendung des Namens, nicht aber auf zivilrechtliche Aspekte des Beweises ankommt.35 IV. Garantiefunktion und Unechtheit der Urkunde Die Garantiefunktion verlangt für die Urkundenqualität, dass die Erklärung ihren Aussteller als Urheber der Erklärung erkennen lässt.36 Das OLG Hamm verneint dies im Verkäuferfall, weil die Eingabe des falschen Namens in das Online-Formular den Schluss auf den geistigen Urheber dieser Erklärung nicht zulasse.37 Zwar sei anerkannt, dass die Individualisierung des Ausstellers nach Gesetz, Herkommen oder Parteivereinbarung – ggf. auch nur für die unmittelbar Beteiligten – möglich sei,38 jedoch lasse die bloße Eingabe des Namens und der Adresse keinen hinreichend garantierten Rückschluss auf die Authentizität zu, da sich jeder Internetnutzer unter einem fiktiven Namen Zugang zur Internetplattform verschaffen könne.39 1. Ausstellereigenschaft bei § 269 StGB Blickt man auf die gesetzgeberische Intention des § 269 StGB, so fällt zunächst auf, dass der Gesetzgeber ursprünglich nur Manipulationsfälle, d.h. Verfälschungen von Datenurkunden, im Blick hatte.40 Als Beispiele wurden Mani33 KG Berlin K&R 2009, 807 (811); Jahn, JuS 2009, 662 (664); Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (572); MK-Erb (Anm. 7), § 269 Rn. 18; Stuckenberg, ZStW 118 (2006), S. 878 (887 f.). 34 Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (572 f.); KG Berlin K&R 2009, 807 (810) verweist auf BGHZ 180, 134 ff., wo der BGH bei der Frage der Haftung für ein Mitgliedskonto bei eBay ausgeführt hat, dass die Identifikationsfunktion von elektronischen Zugangsdaten sogar weit über die Verwendung eines Briefpapiers, eines Namens oder einer Adresse hinausgehe, bei denen der Verkehr wisse, dass diese gegebenenfalls von jedermann nachgemacht oder unberechtigterweise verwendet werden können. 35 So formuliert auch Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (587) im Hinblick auf den Bereich der Datenurkunden, die besonders leicht als unecht in den Verkehr gebracht werden können: „Spätestens diese neue Entwicklung hat die Erklärung des Urkundenschutzes als Schutz eines besonders zuverlässigen Beweisverfahrens ad absurdum geführt“. Vgl. ausf. bereits Puppe (Anm. 1), S. 153 ff. 36 Vgl. etwa Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil2, 2009, § 31 Rn. 11; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 16 ff. 37 OLG Hamm StV 2009, 475 (476). 38 Dazu nur Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 17 m.w. N. 39 OLG Hamm StV 2009, 475 (476). 40 BT-Drs. 10/318, S. 32.
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pulationen nach Umstellung auf ein elektronisches Grundbuch oder Veränderungen von Stammdaten der Kunden eines Unternehmens genannt.41 Der Gesetzgeber stellte dabei im Rahmen einer Parallelbetrachtung zu § 267 StGB ausdrücklich darauf ab, ob die Daten, wenn sie auf einer Kartei stünden, als Urkunde anzusehen wären.42 Da die ursprüngliche Tatbestandsfassung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens jedoch als zu eng angesehen wurde, nahm man nach Stellungnahme des Bundesrates43 die Speicherung als Tathandlung auf.44 Eine störende Einwirkung auf den maschinellen Arbeitsvorgang wurde für § 269 StGB – anders als für § 268 StGB – nicht als notwendig erachtet,45 so dass auch die unbefugte Eingabe von Daten erfasst werden sollte.46 Letztlich sollte so die Garantiefunktion in Parallele zu § 267 StGB gewahrt werden.47 Freilich kann die Bestimmung des Ausstellers bei Datenurkunden – gerade bei der erstmaligen Eingabe – Schwierigkeiten bereiten. Häufig wird als Aussteller einer elektronischen Erklärung der Betreiber der hierbei genutzten EDV-Anlage angesehen.48 Freilich passt diese Sichtweise vor allem auf Konstellationen, in denen Mitarbeiter, ggf. aber auch Externe, Daten in eine Anlage innerhalb einer Behörde oder eines Unternehmens eingeben und daher die EDV-Anlage den Aussteller repräsentiert. Hingegen ist eine solche Betrachtung in Fällen, in denen ein Rechner einer Vielzahl von Personen – wie etwa bei Computern in Internetcafés – offen steht, problematisch. Da im Datenverkehr eine Zeichenauswahl übertragen wird und auch bei ordnungsgemäßen Kopiervorgängen erhalten bleibt, darf mit Puppe einer Person eine Information nur als ihre Erklärung zugerechnet werden, wenn sie selbst oder mit ihrer Erlaubnis eine andere Person die Zeichenauswahl beherrscht – sog. Informations- oder Aussageherrschaft.49 Für die Ausstellereigenschaft ist damit die Verantwortung für die rechtserhebliche Erklärung maßgeblich und nicht die Herrschaft über das technische Gerät. Aus diesem Grund kann auch im Falle der unbefugten Verwen41
BT-Drs. 10/318, S. 32. BT-Drs. 10/318, S. 32. 43 BT-Drs. 10/318, S. 55. 44 BT-Drs. 10/318, S. 55, wobei zunächst an eine „unbefugte“ Speicherung angeknüpft wurde. Die heutige Fassung geht auf den Rechtsausschuss zurück; man sah von der „Unbefugtheit“ der Speicherung ab, da das Merkmal in seiner Bedeutung unklar sei; vgl. BT-Drs. 10/5058, S. 33 f. 45 BT-Drs. 10/318, S. 33. 46 BT-Drs. 10/5058, S. 33. 47 BT-Drs. 10/5058, S. 34. 48 Vgl. etwa Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch12, 2006 ff., § 269 Rn. 16; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 17 m.w. N.; Zielinski, Kaufmann-GS, 1989, S. 605 (627); ferner „grundsätzlich“ Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (46). 49 NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 28 ff.; dies., BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (580) und (589); vgl. ferner dies. (Anm. 1), S. 97 ff.; MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 269 Rn. 18; Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (37 f.). 42
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dung einer Zahlungskarte am Geldautomaten der Tatbestand des § 269 StGB bejaht werden. Mit der Eingabe der Geheimzahl (PIN) am Bankautomaten geht der berechtigte Karteninhaber als Aussteller der Erklärung hervor, da dieser hierdurch als legitimiert erscheint, während er tatsächlich keine Informationsherrschaft besitzt. In Wirklichkeit stammt die Datenspeicherung nämlich vom Täter, wenn dieser eine durch verbotene Eigenmacht erlangte Karte nutzt.50 Würden alle eingegebenen Daten ausgedruckt, so läge eine unechte Urkunde vor, weil der berechtigte Karteninhaber scheinbarer Aussteller wäre. Dass ein tatsächlich ausgedruckter Kontoauszug in der Praxis diese Daten (PIN) nicht enthält, ist unerheblich. Denn entscheidend sind alle eingegebenen (eben gerade nicht perpetuierten) Daten und nicht der tatsächliche – möglicherweise unvollständige – Ausdruck des Kontoauszugs. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, wie im konkreten Einzelfall der (scheinbare) Aussteller der Datenurkunde zu bestimmen ist. Grundsätzlich ist zunächst zu beachten, dass der Aussteller aus den Gesamtumständen der Datenspeicherung ersichtlich sein muss;51 zusätzliche Faktoren, die in der Datenurkunde nicht angelegt sind und – wie z. B. Ausstellervermerke auf dem Ausdruck – erst später angebracht werden, können keine Berücksichtigung finden.52 Die gespeicherten Daten würden nämlich im Falle ihrer Wahrnehmbarkeit ohne den zusätzlichen Vermerk keine Urkunde darstellen. Erschwert wird die Bestimmung des Ausstellers durch den Umstand, dass § 269 StGB vielfältige technische Konstellationen – vom Computer als elektronische Schreibmaschine über Datenbanken bis hin zu Internetanwendungen – erfasst. Soweit bei Rechtsgeschäften eine digitale Signatur verwendet wird, kann sicherlich auf diese abgestellt werden.53 Allerdings muss man sehen, dass diese bei alltäglichen Rechtsgeschäften nur vergleichsweise selten verwendet wird und für die Qualität als Datenurkunde auch nicht entscheidend ist.54 Daher überzeugt es auch nicht, wenn die falsche Absenderangabe in einer E-Mail für die Verwirklichung des Tatbestandes nicht ausreichen soll.55 Da bei Datenurkunden häufig nicht der Name des Ausstellers gespeichert wird, muss es genügen, wenn sich die Verantwortlichkeit einer bestimmten Person über entschlüsselbare Kennungen56, die eine eindeutige Zuordnung er50 So Eisele, BT 2 (Anm. 5), Rn. 1247; LPK-Kindhäuser (Anm. 5), § 269 Rn. 8; NK-Puppe (Anm. 7), § 269 Rn. 33. 51 SK-Hoyer (Anm. 7), § 269 Rn. 22; Welp, CR 1992, 354 (360). 52 Vgl. aber Kitz, JA 2001, 303 (304); Lackner/Kühl (Anm. 6), § 269 Rn. 6; Möhrenschlager, wistra 1986, 128 (135). 53 Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (58); Welp, CR 1992, 354 (360). 54 Siehe schon oben III.2. 55 Vgl. aber Frank, CR 2004, 123 (124 f.); Hilgendorf/Frank/Valerius (Anm. 27), Rn. 177; zu Recht dagegen Graf, NStZ 2007, 129 (131 f.); Stuckenberg, ZStW 118 (2006), S. 878 (887). 56 Z. B. im oben genannten Fall der unbefugten Verwendung einer Zahlungskarte am Bankautomaten die Geheimzahl (PIN).
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möglichen, ergibt. Umstritten ist hierbei, ob die IP-Adresse – die einem bestimmten Rechner, der an das Netz angebunden ist, zugewiesen ist – eine solche Kennung ist. Für Fälle des sog. Phishing wird sogar vertreten, dass nur die IPAdresse eine eindeutige Identifizierung des Ausstellers zulässt. In Folge dessen wären jedoch z. B. nachgeahmte Webseiten von Kreditinstituten, mit Hilfe derer Kontendaten, Passwörter usw. im Rahmen des sog. Phishing erlangt werden sollen, keine unechten Urkunden.57 Denn die IP-Adresse der Seite wird hier grundsätzlich zutreffend angeben, sofern diese nicht zusätzlich mittels IP-Spoofing verändert wird. Richtigerweise kann es aber auf die IP-Adresse jedenfalls nicht vorrangig ankommen,58 da diese nur der Identifizierung des Rechners, nicht aber des Nutzers dient. Auch kann die IP-Adresse des jeweiligen Rechners wechseln (sog. dynamische IP-Adresse), so dass diese allenfalls Anhaltspunkte zur weiteren Ermittlung des Ausstellers bieten kann und bei der Nutzung von öffentlich zugänglichen Rechnern letztlich ein kaum geeignetes Kriterium ist. Letztlich erscheint es bei Rechtsgeschäften im Internet lebensfremd, den Vertragspartner per IP-Adresse zu identifizieren, wenn dieser etwa zusätzlich seinen Namen nennt. Und auch beim Einstellen von Webseiten zu Täuschungszwecken wird sich der Aussteller regelmäßig aus den Angaben der Seite selbst, z. B. den Kontaktdaten oder dem Impressum (ggf. in Verbindung mit der Internet-Domain) ergeben. Bei alledem muss man sehen, dass im Einzelfall divergierende Anhaltspunkte die konkrete Bestimmung des Ausstellers zusätzlich erschweren können,59 wobei dies jedoch keine Besonderheit im Zusammenhang mit Datenurkunden darstellt. So kann etwa bei Verwendung von Briefpapier mit Namensaufdruck einer Person Aussteller dennoch eine andere Person sein, wenn diese die Erklärung unterzeichnet und somit persönlich die Verantwortung für den Inhalt übernimmt.60 Bei elektronischen Dokumenten ist zudem zu beachten, dass möglicherweise die (automatisiert) als Ersteller der Datei ausgewiesene Person von der in dem Text des elektronischen Dokuments als Aussteller bezeichnete Person (z. B. aufgrund einer elektronischen Unterschrift) divergiert. Dies kann etwa der Fall sein, wenn ältere Dokumente, die noch den ursprünglichen Aussteller anzeigen, als Formatvorlagen verwendet werden und dann in der Textdatei eine ganz andere Person genannt wird. Ebenso kann es bei Übermittlungsvorgängen zu Divergenzen kommen, wenn ein Vertragsangebot mit Hilfe einer fremden E-Mail-Adresse übermittelt wird. Insoweit wird man den Bezug zum jeweiligen Rechtsgeschäft in den Mittelpunkt rücken müssen. Für die Frage der rechtsgeschäftlichen Erklärung 57 So Hilgendorf/Frank/Valerius (Anm. 27), Rn. 183; vgl. ferner Popp, MMR 2006, 84 (85). 58 In diese Richtung auch Fischer (Anm. 15), § 269 Rn. 5 a. 59 Bleibt die Ausstellerangabe i. E. mehrdeutig, so liegt i. d. R. keine Urkunde vor; vgl. NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 76. 60 Auf Vertretungsfälle in diesem Zusammenhang soll hier nicht näher eingegangen werden; vgl. nur NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 66 ff.
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kommt es daher – soweit es keine gegenteiligen Anhaltspunkte gibt – nur auf den Aussteller an, der im Text der rechtserheblichen Erklärung genannt ist. Hingegen sind die Angaben des Übersenders in der E-Mail – nicht anders als bei einem abweichenden Absender auf einem Briefumschlag – für das übersendete Dokument unerheblich.61 Dass letztlich das Textdokument entscheidend sein muss, zeigen auch unsere Ausgangsfälle. Hier wird der Rechner zunächst nur als Schreibmaschine zum Ausfüllen des elektronischen Anmeldeformulars benutzt. Wäre dieses ausgedruckt und per Post zur Anmeldung versendet worden, läge – vorbehaltlich der weiteren Voraussetzungen – eine Urkundenfälschung vor, da die aus dem Formular als Anmeldender hervorgehende Person zugleich als Aussteller anzusehen wäre. Auf computerspezifische Kriterien für die Bestimmung der Ausstellereigenschaft kommt es in solchen Fällen also nicht an. 2. Offene oder versteckte Anonymität Die Urkundeneigenschaft ist nach den für § 267 StGB entwickelten Grundsätzen jedoch zu verneinen, wenn aus der Urkunde überhaupt kein Aussteller hervorgeht. Folgt man der von Puppe vertretenen Konzeption, so folgt dies daraus, dass in der Urkunde auch die Ausübung der Rechtsmacht einer bestimmten Person verkörpert sein muss, die durch die Erklärung ihre Rechtsverhältnisse gestalten will.62 Dabei ist zu beachten, dass nicht schon deshalb die Garantiefunktion entfällt, weil ein erdichteter Name oder ein Name einer nicht existierenden oder – wie im Fall des KG Berlin63 – verstorbenen Person verwendet wird.64 Anderes soll jedoch gelten, wenn eine Erklärung offen oder versteckt anonym ist, so dass sie keiner Person zugeschrieben werden kann.65 Sog. offene Anonymität liegt hierbei vor, wenn das Schriftstück gar nicht bzw. mit einem Fantasienamen unterzeichnet oder mit einem absichtlich unleserlichen Namenszeichen bzw. Kürzel versehen ist; denn in solchen Fällen ist es offensichtlich, dass niemand als Garant für die Erklärung einstehen will.66 Accountanmeldungen unter Namen wie „Do61 Freilich kann die Absenderangabe Bedeutung erlangen, soweit im Dokument kein Name genannt ist, weil dann die Erklärung regelmäßig dieser Person zugrechnet wird. Zu § 269 StGB beim sog. Phishing vgl. Graf, NStZ 2007, 129 (131 f.); Goeckenjan, wistra 2008, 128 (129); Heghmann, wistra 2007, 167. 62 NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 77. 63 KG Berlin K&R 2009, 807. 64 RGSt 8, 187 (190); RGSt 41, 425 (426); BGHSt 1, 117 (121); BGHSt 5, 149 (151); LK-Zieschang (Anm. 48), § 267 Rn. 57; Seier, JA 1979, 133 (134). 65 MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 151; NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 77; SK-Hoyer (Anm. 7), § 267 Rn. 52. 66 RGSt 46, 297 (301); LK-Zieschang (Anm. 48), § 267 Rn. 57; Schönke/Schröder/ Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 18; and. Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967, S. 271 f., der auch hier die Urkundenqualität bejaht. Teilweise wird bei offener Anonymität die Garantiefunktion bejaht, wenn der Täter ein konkretes Opfer ins Auge gefasst hat oder das Schriftstück gebraucht; das soll insbesondere der Fall sein, wenn das
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nald Duck“ usw. führen also dazu, dass die Urkundenqualität zu verneinen ist. Dagegen steht allein die Verwendung eines Allerweltsnamens dem Urkundencharakter nicht entgegen, weil ansonsten Personen, die einen solchen Namen tatsächlich führen, keine Urkunden erstellen könnten. Eine sog. versteckte Anonymität soll nur anzunehmen sein, wenn bei Gebrauch eines Allerweltsnamens – wie etwa „Müller“ oder „Schulze“ – nach den Umständen des Einzelfalls offensichtlich ist, dass die Identität des Urhebers verborgen bleiben soll. Aus der Urkunde geht dann nur hervor, dass irgendeine Person namens „Müller“ oder „Schulze“ – vergleichbar der Unterschrift „ein Bürger der Stadt“ – die Erklärung abgibt.67 Freilich muss die Abgrenzung letztlich unsicher bleiben, wenn hierfür der objektivierte Wille zur Anonymität – Erkennbarkeit des Verbergens der Identität – maßgeblich sein soll.68 Von einer solchen Anonymität kann in unseren Ausgangsfällen aber nicht ausgegangen werden. Dies gilt zunächst für den Fall, dass bewusst der Bezug zum Namen eines Verstorbenen hergestellt wird, aber ebenso für Fälle, in denen Namen „frei“ erfunden werden. Denn jedes Mal soll mit dem Auktionshaus ein wirksamer Nutzungsvertrag geschlossen werden und daher eBay gerade nicht von einer Anonymität ausgehen. Wenn aber aufgrund der Beweisinteressen von eBay bereits die Anmeldung des Accounts der entscheidende Anknüpfungspunkt ist, so kommt es auch nicht mehr darauf an, dass der jeweilige Nutzer während der Online-Auktion für die weiteren Beteiligten regelmäßig69 nur unter seinem Pseudonym zu erkennen ist; insoweit liegt dann tatsächlich offene Anonymität vor.70 3. Unechtheit der Urkunde: Identitätstäuschung Grundsätzlich führt jede Verwendung eines anderen Namens – solange keine Anonymität im oben genannten Sinne vorliegt – zu einer Identitätstäuschung und damit zur Urkundenfälschung. An einer Identitätstäuschung soll es nur fehlen (sog. Namenstäuschung oder Namenslüge71), wenn trotz der Verwendung eines nicht zustehenden Namens völlige Klarheit über die Urheberschaft herrscht.72 Ausnahmen i. S. e. straflosen Namenslüge sind nach h. M. anzuerkennen, wenn eine Person bekanntermaßen ein Pseudonym führt oder unter einem falschen NaSchriftstück in Gegenwart des Opfers unterzeichnet wird, weil dieses dann davon ausgehen kann, dass ein Garant vorhanden ist; vgl. Seier, JA 1979, 133 (135). 67 RGSt 46, 297 (301); BGHSt 5, 149 (151); Lackner/Kühl (Anm. 6), § 267 Rn. 14. 68 Dazu Seier, JA 1979, 133 (135). 69 Anders ist dies bei gewerblichen Händlern. 70 Vgl. auch OLG Hamm StV 2009, 475 (476); Weidemann, in: Beck-OK (Anm. 19), § 269 Rn. 9; offen gelassen von KG Berlin K&R 2009, 807 (809). 71 Vgl. etwa BGHSt 33, 159 (160). Mit Recht krit. zu dieser Begriffsverwendung Paeffgen, JR 1986, 114. 72 BGHSt 1, 117 (121); BGHSt 33, 159 (160); BGHSt 40, 203 (204); Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 50.
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men bzw. einem Künstlernamen lebt.73 Darauf, ob der Person der Name auch namensrechtlich zusteht, kommt es demgemäß nicht an. Freilich sind auch hier Schwierigkeiten vorprogrammiert, wenn dieser Name lediglich in einem begrenzten Lebensbereich bekannt ist, die Urkunde später aber auch in anderen Verkehrskreisen gebraucht wird.74 Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen ein fremder Name verwendet wird, ohne dass dieser ständig geführt wird. Hier stellt sich vor allem die Frage, ob die persönliche Gegenwart der Person für die Ausstellereigenschaft Bedeutung erlangt. So verneinte etwa das OLG Celle eine Urkundenfälschung in einem Fall, in dem die Angeklagte einen Scheck mit dem abweichenden Familiennamen ihres Lebensgefährten im Beisein der Verkäuferin unterzeichnete, da für diese kein Zweifel über die Identität der Unterzeichnerin bestand.75 Abgesehen davon, dass die persönliche Gegenwart als Kriterium für Rechtsgeschäfte, die über das Internet geschlossen werden, ausscheidet, hat Puppe zutreffend darauf hingewiesen, dass dieses nicht von der Urkunde verkörperte Kriterium nur demjenigen zur Verfügung steht, der bei Herstellung der Urkunde anwesend ist.76 Das Schutzinteresse weiterer Personen, denen gegenüber die Urkunde später ohne die Möglichkeit einer Identitätsprüfung verwendet wird, ist hingegen beeinträchtigt.77 Ganz grundsätzlich ist die Urkunde daher bei Verwendung eines falschen Namens auch dann unecht, wenn die Identität des Austellers auf andere Art und Weise – sei es in unserem Zusammenhang über die IPAdresse78 – geklärt werden kann.79 Keine Identitätstäuschung soll nach der Rechtsprechung des BGH – worauf sich das OLG Hamm beruft80 – ferner vorliegen, wenn die Richtigkeit der Namensangabe unter Berücksichtigung des Verwendungszwecks der Urkunde ohne Bedeutung ist.81 Demnach kommt eine straflose Namenstäuschung auch in Betracht, wenn die Namensangabe für die jeweilige Beweissituation unter Berücksichtigung des Verwendungszwecks der Urkunde ohne jede Bedeutung ist und die Beteiligten kein Interesse daran haben, ob sich der Aussteller der Urkunde seines richtigen Namens bedient. Dies wird man – unabhängig davon, ob dieser 73
RGSt 68, 2 (6); NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 74; Seier, JA 1979, 133 (136). Auf den Kreis der Beteiligten stellen z. B. ab: BGHSt 1, 117 (121), BGH MDR 1985, 685 (686); Seier, JA 1979, 133 (136), setzt voraus, dass das Pseudonym sich zumindest innerhalb eines sachlichen oder örtlichen Lebensbereiches durchgesetzt hat. 75 OLG Celle NJW 1986, 2772 (2773); abl. Puppe, JuS 1987, 275 ff.; RGSt 30, 43 nahm in einem ähnlich gelagerten Fall hingegen eine unechte Urkunde mit dem Argument an, dass als Ausstellerin die (nicht existierende) Ehefrau aus der Urkunde hervorgehe. 76 Puppe, JuS 1987, 275 (277). 77 Vgl. auch Seier, JA 1979, 133 (137). 78 Dazu schon oben IV.1. 79 NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 74. 80 OLG Hamm StV 2009, 475 (476). 81 BGH MDR 1985, 685 (686); BGHSt 33, 159 (160); BGHSt 40, 203 (204). 74
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These in ihrer Pauschalität überhaupt zuzustimmen ist –,82 in unseren Ausgangsfällen jedoch schon angesichts der geschilderten Beweisinteressen83 nicht annehmen können. Zudem wird mit der Eröffnung des Accounts das Rechtsgeschäft nicht sogleich vollständig abgewickelt, so dass die Beteiligten auch später84 – z. B. beim Einfordern der Angebotsgebühr – ein Interesse haben können, den Nutzer an seiner Erklärung festzuhalten.85 Bestätigt wird dies auch durch den Umstand, dass eBay die Identität des Anmeldenden bei der „Schufa“ überprüft. Auf diese oder gar eine weitergehende Verifizierung des Namens des Nutzers seitens eBay kommt es aber für die Verwirklichung des Tatbestandes ohnehin nicht an, da eine solche Überprüfung auch ansonsten nicht Voraussetzung der Urkundendelikte ist und den Geschäftsverkehr durch überzogene Prüfungspflichten beschränken würde.86 Denn § 269 StGB möchte den am Rechtsverkehr beteiligten Personen die Wahrheit, dass eine bestimmte Person eine bestimmte Erklärung abgegeben hat, garantieren und diese Person hierfür haftbar machen.87 Bestätigt wird diese Lösung auch durch die Rechtsprechung des BGH zur Urkundenfälschung bei Bestellungen im Versandhandel, wonach die Angabe falscher Kundendaten den Tatbestand des § 267 StGB erfüllen kann.88 Dabei ist zu beachten, dass für die persönlichen Angaben bei Online-Bestellungen nichts anderes als für Bestellungen gelten kann, die „offline“ getätigt werden und erst anschließend in der EDV-Anlage des Versandhauses gespeichert werden. Freilich geht die eben genannte Rechtsprechung in zwei Punkten zu weit. Erstens muss man sehen, dass ein Unternehmen die Identitätsmerkmale nicht beliebig durch Abfrage weiterer Kriterien erweitern kann, so dass die Angabe einer falschen Telefonnummer, einer falschen E-Mail-Adresse und auch eines falschen Geburtsdatums den Tatbestand nicht erfüllt.89 Und zweitens begründet es keine Urkundenfälschung, wenn eine Person ihr zustehende Namen verwendet, dabei aber – 82 Dagegen mit guten Gründen Paeffgen, JR 1986, 114; ferner MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 159 f. 83 Siehe oben III.1. 84 MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 160, der den Tatbestand verneint, wenn sich die Rechtswirkungen der Urkunde auf ein räumlich und zeitlich überschaubares Ereignis beschränken. 85 Dies mag man (nur) im Einzelfall bei der bloßen Einrichtung eines kostenlosen E-Mail-Kontos freilich anders sehen; dazu Buggisch, NJW 2004, 3519 (3521); ferner KG Berlin K&R 2009, 807 (811); Weidemann, in: Beck-OK (Anm. 19), § 269 Rn. 9. Für eine Strafbarkeit bei Eröffnung eines E-Mail Accounts unter falschem Namen Hilgendorf, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Anm. 24), § 269 Rn. 7. 86 KG Berlin K&R 2009, 807 (811); vgl. aber auch Jahn, Jus 2009, 662 (664). 87 Puppe, BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (589). 88 BGHSt 40, 203 ff.; vgl. ferner BayObLG NJW 1994, 208. 89 Anders aber für das Geburtsdatum, das im Versandhandel zumeist, aber nicht immer angegeben werden muss, BGHSt 40, 203 (206 f.) mit zust. Anm. Meurer, NJW 1995, 1655; dagegen z. B. Mewes, NStZ 1996, 15 (16); MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 165; NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 73; dies., JZ 1997, 490 (492).
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z. B. bei Angabe des zweiten Vornamens90 – ein zusätzliches Profil in der Datenbank des Unternehmens angelegt wird und daher gegenüber einer vorherigen Anmeldung von Personenverschiedenheit ausgegangen wird.91 Denn letztlich kann im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut die Person immer noch an ihrer Erklärung festgehalten werden,92 mag auch der Kunde die Sperrung eines bereits existierenden Accounts, die Überprüfung seiner Zuverlässigkeit oder seiner Kreditwürdigkeit seitens des Unternehmens umgehen.93 Zur eindeutigen Identifizierung einer Person im weltweit vernetzten Internet wird man aber zusätzlich zum Namen94 auch die praktisch bedeutsame Anschrift für die Bestimmung des Ausstellers berücksichtigen müssen,95 obgleich nicht verkannt werden soll, dass diese – etwa bei einem Umzug – wechseln kann und damit nicht unveränderbar mit der Person verbunden ist. Der richtige Name, verbunden mit einer falschen Adresse, kann daher eine Urkundenfälschung begründen, soweit damit die Erklärung einer anderen Person zugeordnet wird.96 Wird hingegen die Adresse ganz weggelassen – in der Regel wird hier eine erfolgreiche Anmeldung freilich schon aus technischen Gründen versagen –, liegt (selbstverständlich) keine unechte Urkunde vor. Umgekehrt ändert bei Verwendung eines falschen Namens die Angabe einer zutreffenden Adresse – dies gilt erst recht für die Angabe der Lieferadresse im Fall des KG Berlin – nichts an der Unechtheit der Urkunde. V. Tathandlung der Speicherung In beiden Ausgangsfällen kann bereits mit dem Ausfüllen und Absenden der elektronischen Anmeldung ein Speichern von Daten i. S. d. § 269 Abs. 1 Var. 1 StGB angenommen werden,97 da auch die Übermittelung per Internet vor der Erfassung durch das Computersystem des Betreibers dem nicht entgegensteht.98 90 Entsprechendes muss auch für die Angabe der zutreffenden Anschrift des Zweitwohnsitzes gelten; vgl. MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 165. 91 MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 165; NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 73; dies., JZ 1997, 490 (492); Sander/Fey, JR 1995, 209 (210); SK-Hoyer (Anm. 7), § 267 Rn. 60. A.A. BGHSt 40, 203 (206 f.); LK-Zieschang (Anm. 48), § 267 Rn. 174; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 267 Rn. 52. 92 MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 165. 93 Puppe, JZ 1997, 490 (492). 94 So finden sich etwa unter http://www.dastelefonbuch.de unter dem Namen „Jörg Eisele“ mehr als zehn Einträge. 95 Insoweit in Übereinstimmung mit BGHSt 40, 203 (205); MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 164. A.A. aber auch hier NK-Puppe (Anm. 7), § 267 Rn. 73; dies., JZ 1997, 490 (492). 96 MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 267 Rn. 165; SK-Hoyer (Anm. 7), § 267 Rn. 59. 97 Dazu, dass auch getrennt gespeicherte Daten regelmäßig den nötigen Zusammenhang aufweisen, vgl. NK-Puppe (Anm. 7), § 269 Rn. 26; ferner MünchKomm-Erb (Anm. 7), § 269 Rn. 10; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 269 Rn. 10; Welp, CR 1992, 354 (358). A.A. aber SK-Hoyer (Anm. 7), § 269 Rn. 23; Zielinski, Kaufmann-GS, 1989, S. 605 (620 ff.).
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Deshalb kommt es also auch in diesem Zusammenhang nicht (mehr) auf die Übermittlung der Daten an die jeweiligen Vertragspartner nach Abschluss einer Auktion an. Soweit das OLG Hamm insoweit die Tathandlung verneint, da der Nutzer auf den übermittelten Datensatz keinen Einfluss habe,99 könnte man dem jedoch entgegenhalten, dass der Nutzer bereits mit Eingabe seiner Daten im Rahmen der Anmeldung des Accounts die spätere automatische Übermittlung veranlasst.100 Jedoch muss man sehen, dass die Online-Übermittlung erst nach computertechnischer Weiterbearbeitung seitens eBay stattfindet und daher nicht lediglich das bei der Anmeldung ausgefüllte Formular als Kopie weiterversendet wird.101 Damit ist die Übermittlung der Kundendaten dem Auktionshaus, das den jeweiligen Vertragspartner informiert, zuzurechnen. Dass der Inhalt dieser Übermittlung (Kundendaten) unwahr ist, ist nach allgemeinen Grundsätzen unerheblich. Die Übermittlung auf dem Postweg würde mangels Identitätstäuschung ebensowenig den Tatbestand des § 267 StGB begründen. Anderes kann selbstverständlich gelten, wenn zwischen den Nutzern nach Beendigung der Auktion noch ein unmittelbarer Kontakt stattfindet und hierbei gesondert über die Identität getäuscht wird. VI. Zusammenfassung Die Verwendung eines falschen Namens im Rahmen einer Online-Anmeldung eines eBay-Accounts begründet – mit dem KG Berlin102 und entgegen dem OLG Hamm103 – den Tatbestand des § 269 StGB. Soweit durch den Einsatz der EDVTechnik die Schreibmaschine und durch die Übermittelung per Internet der Postweg ersetzt werden, kann sich die Strafbarkeit grundsätzlich an denjenigen Grundsätzen orientieren, die für rechtsgeschäftliche Verhaltensweisen „offline“ entwickelt wurden. Diese Grundsätze führen auch zu interessengerechten Ergebnissen, so dass es der Modifikation durch computerspezifische Kriterien – wie etwa der IP-Adresse – in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht bedarf. Die Ausführungen haben damit zugleich gezeigt, dass sich neue Konstellationen, die durch die Fortentwicklung der Computertechnik bedingt sind, mit den traditionellen Leitlinien des Urkundenstrafrechts lösen lassen. Hierfür hat die Jubilarin in einer Vielzahl von Beiträgen die Grundlagen gelegt. 98 KG Berlin K&R 2009, 807 (809); Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Anm. 6), § 269 Rn. 16. 99 OLG Hamm StV 2009, 475 (476). 100 Vgl. Jahn, JuS 2009, 662 (663); offen gelassen von KG Berlin K&R 2009, 807 (809). 101 Dazu, dass sich im Datenverkehr Original und Kopie nicht unterscheiden lassen und daher auch Kopien in § 269 StGB einbezogen sind, vgl. NK-Puppe (Anm. 7), § 269 Rn. 27; dies., BGH-FG (Anm. 7), S. 569 (577 ff.); Radtke, ZStW 115 (2003), S. 26 (31 ff.). 102 KG Berlin K&R 2009, 807. 103 OLG Hamm StV 2009, 475.
Die Unvereinbarkeit der „Zufallsurkunde“ mit einem dogmatisch konsistenten Urkundenbegriff Von Volker Erb I. Einführung Ob eine verkörperte Gedankenäußerung eine „Urkunde“ i. S. von § 267 StGB darstellt, soll nach verbreiteter Ansicht nur bedingt davon abhängen, ob ihr Aussteller in dem Bewußtsein handelte, sich in rechtserheblicher Weise zu äußern: Ist letzteres nicht der Fall, liege zwar in Ermangelung einer Beweisbestimmung zunächst keine Urkunde vor. Dies ändere sich jedoch in dem Moment, in dem sich jemand anschickt, das Dokument zu Beweiszwecken zu gebrauchen – dann entstehe infolge der nunmehr eingetretenen Beweisfunktion eine sogenannte Zufallsurkunde (z. T. auch – weniger verwirrend – „nachträgliche Urkunde“ genannt).1 Die verehrte Jubilarin ist dieser Position entschieden entgegengetreten2 und hat die Zufallsurkunde als „Fremdkörper“ in der Dogmatik der Urkundendelikte bezeichnet.3 Der Verfasser ist ihr in dieser Kritik bereits an früherer Stelle gefolgt.4 Wie im folgenden noch einmal gezeigt werden soll, ist die Figur der Zufallsur1 Vgl. etwa RGSt 16, 262 (266); RGSt 17, 103 (108); BGHSt 3, 82 (86); BGHSt 13, 255 (238); BGHSt 17, 297 (299); Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts Besonderer Teil, Bd. 2, Abteilung 12, 1904, S. 187; Fischer57, 2010, § 267 Rn. 9; Lackner/Kühl26, 2007; LK12 /Zieschang, Bd. 9/Teil 2, 2009, § 267 Rn. 70; Satzger/ Schmitt/Widmaier/Wittig, StGB (SSW), 2009, § 267 Rn. 34; Schönke/Schröder27 /Cramer/Heine, 2006, § 267 Rn. 14; Arzt/Weber/Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil2, 2009, § 31 Rn. 10; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 29, 2005, § 65 Rn. 35; Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 12, 2004, § 52 Rn. 9; Kindhäuser, Strafrecht Besonderer Teil I4 2009, § 55 Rn. 22; ders., Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar (LPK-StGB)4 , 2010, § 267 Rn. 10; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II10, 2009, § 32 Rn. 5. 2 Puppe, Die Fälschung technischer Aufzeichnungen, 1972, S. 125, 174 f.; dies., Jura 1979, 630 (633); NK-StGB/Puppe, Bd. 23, 2010, § 267 Rn. 9. 3 NK-StGB/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 16. 4 MünchKomm-StGB/Erb, Bd. 4, 2006, § 267 Rn. 33; krit. gegenüber der Annahme, wonach eine durch Dritte getroffene Beweisbestimmung die Urkundenqualität eines Schriftstücks begründen kann, im übrigen auch Kohlrausch, Urkundenverbrechen, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Band VI, 1929, S. 334 (336); Schilling, Reform der Urkundenverbrechen, 1971, S. 57, 72; Jakobs, Urkundenfälschung Revision eines Täuschungsdelikts, 2000, S. 56; Eßer, Der strafrechtliche Schutz des qualifizierten elektronischen Signaturverfahrens, 2006, S. 37; Kargl, JA 2003, 604 (606); Otto, Grundkurs Strafrecht BT7, 2005, § 70 Rn. 21; SK-StGB/Hoyer, Stand Juli 1998, § 267 Rn. 39.
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kunde mit einem dogmatisch konsistenten Urkundenbegriff nicht zu vereinbaren. Entsprechendes gilt auch für andere Dokumente, die ihre rechtlichen Wirkungen nicht kraft ihres Inhalts per se entfalten – mit Konsequenzen für die Behandlung schriftlicher Prüfungsarbeiten. II. Zum Urkundenbegriff der h. M. 1. Im allgemeinen Sprachsinn ist „Urkunde“ ein schillernder Begriff, bei dem der Nichtjurist vielleicht an erster Stelle an ein Stück Hochglanzpapier zum Andie-Wand-Hängen denkt, in dem eine Gratulation zu einem sportlichen Erfolg oder zur 25-jährigen Mitgliedschaft in einem Verein ausgesprochen wird. Um ihm für das Strafrecht Konturen zu verleihen, die eine den Anforderungen von Art. 103 Abs. 2 GG genügende Berechenbarkeit der Rechtsanwendung gewährleisten, muß der Begriff anhand von Eigenschaften definiert werden, die bei allen Urkunden im strafrechtlichen Sinn anzutreffen sind und diese zugleich von Nicht-Urkunden unterscheiden, und die nach Möglichkeit zugleich eine Erklärung dafür liefern, warum erstere einen besonderen strafrechtlichen Schutz genießen. 2. Betrachtet man die herkömmliche Definition des Urkundenbegriffs, so sollen diese Eigenschaften in der Verkörperung einer „Gedankenerklärung“ (Perpetuierungsfunktion), deren Zuordenbarkeit zu einer bestimmten Person (Garantiefunktion) und deren Eignung und Bestimmung, im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen (Beweisfunktion), zu erblicken sein.5 Diese Definition beruht nun nicht auf einer systematischen Analyse der spezifischen Funktion, die verkörperte Erklärungen im Rechtsverkehr aufweisen, sondern auf dem Versuch, ein Sammelbecken für alle Erscheinungen zu schaffen, die zunächst vom Reichsgericht (dessen Rechtsprechung zur Urkundenfälschung vielfach heute noch eine Aktualität aufweist, wie das bei kaum einem anderen Straftatbestand der Fall sein dürfte) und später vom BGH und den Oberlandesgerichten in einer kaum an systematischen Kriterien orientierten Kasuistik als „Urkunden“ im strafrechtlichen Sinne bezeichnet wurden – und mithin auch für die „Zufallsurkunde“.6 So verwundert es nicht, daß bei näherer Betrachtung speziell in bezug auf die Beweisfunktion massive Ungereimtheiten auftreten: Wenn die herrschende Meinung zwecks Einbeziehung der „Zufallsurkunde“ darauf beharrt, daß jene nicht kraft einer vom Aussteller vorgenommenen Widmung von Anfang an vorzuliegen braucht, sondern auch nachträglich von einem Dritten geschaffen werden kann, so verliert das Merkmal im Ergebnis jede strafbarkeitsbegrenzende Wirkung. Eine nachträglich entstandene Beweisfunktion ist nämlich bei allen Tatobjekten, 5
Vgl. etwa Schönke/Schröder/Cramer/Heine, (Fn. 1), § 267 Rn. 2 m.w. N. Vgl. NK-StGB/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 15; MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 31. 6
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auf die sich die in § 267 StGB beschriebenen Handlungen beziehen, automatisch gegeben: Da § 267 StGB ein Handeln „zur Täuschung im Rechtsverkehr“ voraussetzt, ist es schlechthin undenkbar, ein Objekt mit der entsprechenden Handlungstendenz herzustellen, zu verfälschen oder zu gebrauchen, ohne daß dieses spätestens hierdurch eine Beweisbestimmung erhält.7 Diese stellt dabei auch keinesfalls eine spezifische Begleiterscheinung der Urkundenfälschung dar, denn sie ist letzten Endes im Zusammenhang mit jedem – echten oder gefälschten – Beweismittel zu verzeichnen. In seiner weiten, ausdrücklich auch eine nachträgliche Widmung dieser Art einschließenden Fassung ist das Kriterium der „Beweisbestimmung“ als Bestandteil der Urkundendefinition für die Anwendung von § 267 StGB im Ergebnis also völlig irrelevant. 3. Nun wäre natürlich denkbar, daß dieses Merkmal in der Urkundendefinition insofern zwar ein überflüssiger Ballast ist,8 der Urkundenbegriff über die Erfordernisse der Verkörperung einer Gedankenäußerung und der Erkennbarkeit des Ausstellers hinaus aber letzten Endes gar keiner weiteren Einschränkung bedarf. Dem entspräche die Vorstellung eines Schutzzwecks von § 267 StGB, der allgemein die „Möglichkeit, mit verkörperten Gedankenerklärungen, die ihren Aussteller erkennen lassen, Beweis zu führen“, zum Gegenstand hat,9 und deshalb eine umfassende Erstreckung von § 267 StGB auf alle möglichen (ausgenommen anonyme) schriftlichen Äußerungen unabhängig davon gebietet, ob diese scheinbar von Anfang an eine Relevanz für den Rechtsverkehr aufweisen. Hiergegen ist allerdings einzuwenden, daß die Zuschreibung einer solchen Schutzfunktion nicht willkürlich erfolgen darf. Statt dessen bedarf es vielmehr einer Erklärung dafür, warum die Möglichkeit, mit Gedankenäußerungen der entsprechenden Art Beweis zu führen, im Vergleich zur Verwendung anderer Beweismittel, deren Fälschung keiner besonderen Strafdrohung unterliegt, einen besonderen Schutz benötigt und verdient. Ein sachlicher Grund dafür, die zunächst ohne erkennbare rechtliche Relevanz vorgenommene schriftliche Erläuterung eines Sachverhalts durch einen bestimmten Autor (etwa im Rahmen eines Reiseberichts) bei einem nachträglich begründeten Beweisinteresse (weil z. B. eine in dem Bericht erwähnte Person darauf eine Alibibehauptung stützen möchte) umfassender gegen Fälschungen zu schützen als Bild- und Tonaufnahmen des gleichen Vorgangs, ist aber schlechthin nicht ersichtlich. Eine hieran anknüpfende Differenzierung erscheint deshalb ebenso willkürlich wie eine Regelung, nach der Manipulationen in der Beweisführung an bestimmten Wochentagen strafbar sind und an anderen nicht. Soll die Privilegierung der Urkunde gegenüber anderen Beweismitteln beim Schutz vor Fälschungen nicht völlig unverständlich bleiben, muß es ein
7 Vgl. auch Freund, Urkundenstraftaten, 1996, Rn. 110; Kindhäuser, LPK-StGB, (Fn. 1), § 267 Rn. 11. 8 In dieser Richtung Kindhäuser, LPK-StGB, (Fn. 1), § 267 Rn. 11. 9 So Kindhäuser, (Fn. 1), § 55 Rn. 25.
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spezifisches Kriterium geben, das eine (in welcher Form auch immer) herausragende Funktion von ersterer begründet. 4. Für die Existenz eines solchen spricht im übrigen auch der Umstand, daß sich der traditionelle Urkundenbegriff eben nicht mit der Beschreibung der Perpetuierungs- und Garantiefunktion der Urkunde im strafrechtlichen Sinn begnügt, sondern die Beweisfunktion einschließt. Dies ist nur damit zu erklären, daß die mit „Urkunde“ bezeichneten Objekte in der Regel wohl doch eine Eigenschaft aufweisen, die etwas mit der Beweiswirkung zu tun hat und spezielleren Voraussetzungen unterliegt als der bei jedem beliebigen Beweismittel anzutreffende Umstand, irgendwann von irgendwem mit einer entsprechenden Zweckbestimmung versehen worden zu sein. Die herrschende Meinung macht dann aber offensichtlich den Fehler, das entsprechende Merkmal im Bestreben um die Rettung der Zufallsurkunde doch wieder im letztgenannten Sinn zu verallgemeinern und ihm damit jede sinnvolle Bedeutung zu nehmen. III. Die maßgebliche Besonderheit von Urkunden gegenüber anderen Beweismitteln 1. Die Erfordernisse der Gedankenäußerung eines bestimmten Ausstellers (Garantiefunktion) und deren dauerhafter Verkörperung (Perpetuierungsfunktion) vermögen für sich genommen in der Tat nicht zu erklären, worin die hervorgehobene Stellung der Urkunde gegenüber anderen Beweismitteln liegen soll: Durch die Anknüpfung an eine menschliche Erklärung kommt beim Urkundenbeweis gegenüber der Präsentation eines Augenscheinsobjekts zwar die Besonderheit ins Spiel, daß man für die Beweisbehauptung die Glaubwürdigkeit eines Menschen in Anspruch nimmt. Menschliche Erklärungen können aber nicht nur mit Urkunden nachgewiesen werden, sondern auch durch Zeugen, die bei ihrer Abgabe zugegen waren, oder durch Ton- oder Videoaufnahmen, und in den letztgenannten Fällen haben wir es zugleich mit einer Verkörperung zu tun. Dabei ist auch keineswegs ausgemacht, daß die Urkunde solchen Nachweisformen automatisch an Zuverlässigkeit überlegen wäre, wenn man bedenkt, daß sie nach allgemeiner Ansicht ja nicht einmal eine Unterschrift und schon gar keine besonderen Sicherheitsmerkmale voraussetzt.10 2. Sucht man nach einer Besonderheit, durch die sich Objekte, die unstreitig als Urkunden im strafrechtlichen Sinn behandelt werden, von allen anderen Beweismitteln unterscheiden, so bleibt schließlich nur folgender Gesichtspunkt übrig: Nichturkundliche Beweise sind dadurch gekennzeichnet, daß sie in irgendeiner Form Rückschlüsse auf einen beliebigen rechtserheblichen Sachverhalt ermöglichen – so vermitteln z. B. Bremsspuren ebenso wie die Aussage eines Zeugen Informationen darüber, wie sich ein Unfall zugetragen hat. Entsprechendes 10
Vgl. zum Ganzen MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 6.
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gilt auch dort, wo die Abgabe der rechtlich erheblichen Erklärung eines Menschen durch ein darüber von Dritten erstelltes Protokoll, Zeugenaussagen, Tonoder Videoaufnahmen oder die Berufung auf sonstige Umstände, die für die Wahrheit der jeweiligen Beweisbehauptung sprechen, bewiesen werden soll. Demgegenüber ist die Urkunde als Verkörperung einer Gedankenerklärung nicht nur Beweismittel, sondern trägt zugleich den Gegenstand eines evtl. Beweisinteresses in sich, wenn – und damit kommen wir zum entscheidenden Merkmal – die betreffende Erklärung als solche eine unmittelbare rechtliche Relevanz entfaltet.11 Besonders offensichtlich ist das bei den Dispositivurkunden, die eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung oder einen Verwaltungsakt verkörpern: Wird eine entsprechende rechtliche Disposition gerade dadurch getroffen, daß die hierfür maßgebliche Handlung in der Ausfertigung und Widmung einer Urkunde besteht (z. B. Aufsetzen und Absenden eines Geschäftsbriefs mit einem Vertragsangebot), ist das Dokument nicht nur ein geeignetes Instrument zum Nachweis bestimmter rechtserheblicher Tatsachen, sondern trägt die wichtigste davon, nämlich den betreffenden Rechtsakt, quasi in sich.12 Ein solches Zusammenfallen von Beweisgegenstand und Beweismittel ist aber auch bei anderen Erklärungen zu verzeichnen, die zwar nicht gezielt zur Gestaltung eines Rechtsverhältnisses eingesetzt werden, aber gleichwohl unmittelbare Rechtswirkungen entfalten und insofern nicht nur als Indizien dafür dienen können, daß bestimmte anderweitige Tatsachen vorliegen, die im Rechtsverkehr von Bedeutung sind. Dazu gehören zunächst die Zeugnisurkunden, in denen jemand über einen von ihm wahrgenommenen Vorgang einen Bericht fertigt, für dessen Richtigkeit er eine rechtliche Verantwortung trägt, womit der Bericht durch die Begründung dieser Verantwortung ebenfalls aus sich heraus rechtliche Konsequenzen entfaltet und nicht nur ein Indiz für den in ihm geschilderten Sachverhalt und dessen rechtliche Folgewirkungen liefert.13 Im übrigen gibt es Gedankenäußerungen, die immer dann, wenn sie gegenüber anderen erfolgen, aufgrund ihres Inhalts automatisch Rechtsfolgen auslösen, und zwar unabhängig davon, ob ihr Urheber dies wünscht oder nicht. Prominentes Beispiel dafür sind die (von der h. M. insofern zutreffend als Urkunde i. S. von § 267 StGB behandelten) „Deliktsurkunden“,14 also in straf11 Dazu Puppe, (Fn. 2), S. 174; dies., Festgabe BGH Bd. IV, 2000, S. 569 (573); NKStGB/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 17; vgl. ferner Brodmann, Die Urkunde, besonders im Strafrecht, 1904, S. 11, 13; Schilling, Der strafrechtliche Schutz des Augenscheinsbeweises, 1965, S. 82, 84; Rheineck, Fälschungsbegriff und Geistigkeitstheorie, 1979, S. 128; Grimm, Die Problematik der Urkundenqualität von Fotokopien, 1994, S. 27; Jakobs, (Fn. 4), S. 51. 12 Vgl. Puppe, Jura 1979, 630 (632). 13 Puppe, (Fn. 12), S. 630 (632); NK/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 7; MünchKommStGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 69. 14 Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967, S. 202 Fn. 196; ders., GA 1970, 193 (202); Samson, JuS 1970, 369 (373); LK/Zieschang, (Fn. 1), § 267 Rn. 69; NK/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 45; SK-StGB/Hoyer, (Fn. 4), § 267 Rn. 40; Wessels/Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil 133, 2009, Rn. 798.
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rechtlich relevanter Form beleidigende, täuschende, drohende, auf Bestechung abzielende oder auf die Anstiftung eines anderen zu einer beliebigen Straftat gerichtete Schreiben. Für schriftliche Äußerungen, die schon allein durch den Umstand, daß sie abgegeben werden, zivilrechtliche oder öffentlichrechtliche Konsequenzen auslösen, gilt aber nichts anderes.15 3. Daß die vorstehend dargestellte spezifische Eigenschaft der Urkunde durchaus verbreiteten Vorstellungen von deren Wesen entspricht, wird deutlich, wenn man einen Blick auf bestimmte Objekte wirft, die von der herrschenden Meinung trotz ihrer äußeren Ähnlichkeit mit Urkunden nicht als solche behandelt werden. Hier sind vor allem die unbeglaubigten (ein Beglaubigungsvermerk würde mit der Haftung der beglaubigenden Person für die Richtigkeit wiederum unmittelbare Rechtswirkungen entfalten) Abschriften und Fotokopien (soweit sie erkennbar nur als sekundäre Reproduktion dienen sollen) von Urkunden zu nennen:16 Diese können zwar ebenfalls mit mehr oder weniger großer Plausibilität Aufschluß darüber geben, wer in welcher Form eine rechtserhebliche Erklärung abgegeben hat, und somit entsprechenden Beweisinteressen dienen. Sie tragen den Gegenstand eines solchen Beweisinteresses im Gegensatz zum Original aber nicht in sich, sondern fungieren nur als Indizien dafür, daß dieser existiert. Auf ähnliche Weise kann man erklären, warum die bloße Kennzeichnung einer Sache im Gegensatz zur Anbringung eines sogenannten Beweiszeichens keine Urkunden entstehen läßt: Der Grund liegt nicht etwa darin, daß erstere, mit denen jemand z. B. sein Eigentum an der entsprechend markierten Sache (oder eine wie auch immer geartete anderweitige rechtliche oder tatsächliche Eigenschaft derselben) zu erkennen gibt, nicht als Beweismittel fungieren könnten – das können sie sehr wohl, wenn es zu einem Streit um das Recht an der Sache (bzw. um das Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Eigenschaften) kommt oder der Eigentümer für eine von dieser ausgehende Gefährlichkeit haften soll. Entscheidend ist vielmehr, daß eine solche Beweisrelevanz wiederum nur auf der Indizwirkung beruht, die eine vorangegangene Kenzeichnung für die Beantwortung der Frage hat, wem die Sache gehört, und nicht darauf, daß die Kennzeichnung selbst unmittelbar rechtliche Wirkungen entfalten würde.17 Demgegenüber tragen die Beweiszeichen den Gegenstand eines möglichen Beweisinteresses in sich; so verkörpert z. B. das gestempelte amtliche KFZ-Kennzeichen (das trotz der insofern etwas mißverständlichen Bezeichnung ein Beweiszeichen und mithin eine Ur15
MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 74. Näher MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 95 m.w. N.; a. A. für die Fotokopie allerdings Puppe, FG BGH, (Fn. 11), S. 569 (579, 586); dies., NStZ 2001, 482 (483); NK/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 24, 50; Freund, (Fn. 7), S. 102, 127; ders., JuS 1991, 723; ders., StV 2001, 234 (235); dagegen Erb, GA 1998, 577 (579); ders., NStZ 2001, 317; MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 101. 17 Grundsätzlich zutr. NK/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 32, die speziell für Eigentümerzeichen a. a. O. Rn. 37 allerdings eine andere Position vertritt; ebenso StGB/Hoyer, (Fn. 4), § 267 Rn. 36; dagegen MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 81. 16
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kunde ist) selbst die unmittelbar rechtserhebliche Erklärung der zuständigen Behörde, daß das betreffende Fahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen darf.18 4. Bei einer solchen Unterscheidung zwischen Urkunden und Nicht-Urkunden ergibt sich zugleich eine zwanglose Erklärung dafür, warum erstere einen besonderen strafrechtlichen Schutz genießen: Weil die Urkunde nicht nur ein Mittel zum Beweis der Tatsache ist, daß eine unmittelbar rechtserhebliche Erklärung existiert, sondern selbst diese in verkörperter Form abgegebene Erklärung darstellt, geht es bei § 267 StGB nicht nur um die Fälschung von Beweismitteln. Der Fälscher erzeugt vielmehr das, was als Haupttatsache bewiesen werden soll (nämlich eine Gedankenerklärung, die bei Erkennbarkeit des Ausstellers als solche rechtliche Konsequenzen auslöst, für die dieser ggf. einzustehen hat), gleich mit. Auf diese Weise wird bei demjenigen, der sich zu Unrecht auf die Echtheit einer ihm vorgelegten Urkunde verläßt, mit der Annahme, er habe die unmittelbar rechtserhebliche Erklärung selbst zur Kenntnis genommen, ein viel weitergehendes Vertrauen enttäuscht als bei jemandem, der im Zusammenhang mit anderen Beweismitteln fälschlicherweise an die Zuverlässigkeit von Indizien glaubt, die ihm das anderweitige Vorliegen der Umstände vorspiegeln, auf die es letzten Endes ankommt.19 IV. Die Einordnung der Zufallsurkunde 1. Vor diesem Hintergrund ist die Behandlung von „Zufallsurkunden“ als Urkunden im Sinne von § 267 StGB offensichtlich nicht richtig: Verkörperte Gedankenäußerungen, die nicht per se rechtserheblich sind, können denknotwendig nicht das eigentliche Ziel einer Beweisführung im Rechtsverkehr bilden. So wird z. B. die in einem Liebesbrief (bei dem es sich wohl um das meistzitierte Schulbeispiel einer „Zufallsurkunde“ handelt) verkörperte Äußerung einer persönlichen Zuneigung niemals zu einer Haupttatsache, die jemand im Rechtsverkehr als solche beweisen will, um aus ihr unmittelbare rechtliche Konsequenzen abzuleiten, wie das etwa bei Vertragsangeboten, Kündigungen, rechtsverbindlichen Bescheinigungen über vom Aussteller wahrgenommene Vorgänge, aber auch bei im strafrechtlichen Sinne beleidigenden Briefen jederzeit der Fall sein kann. Die dem Liebesbrief innewohnende potentielle Beweiseignung, die irgendwann vielleicht jemanden veranlaßt, ihn auch mit einer entsprechenden Beweisbestimmung zu versehen, besteht vielmehr nur darin, daß sein Inhalt Rückschlüsse auf anderweitige Umstände (z. B. ein ehebrecherisches Verhältnis) ermöglicht, die ihrer-
18 Vgl. BGHSt 45, 197 (200); Fischer, (Fn. 1), § 267 Rn. 4; NK/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 34 a. E. 19 Erb, (Fn. 16), S. 577 (579 ); ders., (Fn. 16), S. 317; MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 8.
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seits (etwa in einem Scheidungsverfahren) bestimmte Rechtsfolgen auslösen. Eine solche Einsatzmöglichkeit, die letzten Endes bei jedem beliebigen Gegenstand besteht, dessen Eigenschaften dafür sprechen, daß bestimmte Vorgänge in bestimmter Form abgelaufen sind, hat mit der urkundenspezifischen Beweisfunktion nichts zu tun. Diese und mithin das einzige Merkmal, das eine plausible Unterscheidung zwischen Urkunden und Nicht-Urkunden i. S. von § 267 StGB ermöglicht, ist bei der „Zufallsurkunde“ vielmehr gerade nicht anzutreffen. 2. Spricht nun aber nicht die Legaldefinition der technischen Aufzeichnung in § 268 Abs. 2 StGB, nach der es für das Vorliegen einer solchen ausdrücklich unerheblich sein soll, ob der betreffenden Darstellung ihre Beweisbestimmung „schon bei der Herstellung oder erst später gegeben wird“, in erheblichem Maße dafür, parallel dazu auch die für sich genommen nicht unmittelbar rechtserhebliche und erst nachträglich mit einer Beweisfunktion versehene verkörperte Gedankenerklärung als Urkunde i. S. von § 267 StGB zu behandeln?20 Dazu ist folgendes zu bemerken: Der Gesetzgeber war bei der Einführung von § 268 StGB zwar wohl bemüht, die Legaldefinition der technischen Aufzeichnung dem Urkundenbegriff nachzubilden,21 hat dabei aber in weiser Selbstbeschränkung der Versuchung widerstanden, zur vermeintlichen Beseitigung von Unklarheiten auch den Urkundenbegriff im Gesetz zu definieren und entsprechend zu zementieren. Insofern hat er Rechtsprechung und Wissenschaft jedenfalls nicht auf eine solche Parallelinterpretation beider Begriffe verpflichtet, die eine dogmatisch konsistente Auslegung von § 267 StGB unmöglich macht. Tatsächlich erweist sich das Kriterium der ursprünglichen oder nachträglichen Beweisbestimmung für die Beschreibung eines nach § 268 StGB tauglichen Tatobjekts durchaus als passend, während es an der spezifischen Beweisfunktion der Urkunde i. S. von § 267 StGB völlig vorbeigeht:22 Die technische Aufzeichnung ist gerade keine Urkunde, sondern ein Augenscheinsobjekt und kann demnach gar nicht die Besonderheiten aufweisen, durch die sich Urkunden von Augenscheinsobjekten unterscheiden. Wie für alle Augenscheinsobjekte gilt für die technische Aufzeichnung vielmehr selbstverständlich, daß evtl. Rechtsfolgen nicht von ihr selbst ausgehen, sondern von einem anderweitigen Sachverhalt, für dessen Vorliegen sie ein Indiz darstellt. Der Anlaß und die Legitimation dafür, die technische Aufzeichnung durch § 268 StGB mit einem besonderen strafrechtlichen Schutz zu versehen, bestehen in einer im Vergleich zu anderen Augenscheinsobjekten besonders gelagerten Qualität dieser Indizwirkung, die auf der scheinbaren Unbestechlichkeit der verwendeten Technik beruht und es potentiellen Opfern maßgeblich erschwert, eine Täuschung als solche zu erkennen.23 In diesem Zusammenhang 20
Dafür Kindhäuser, (Fn. 1), § 55 Rn. 25; ders., (Fn. 1), § 267 Rn. 12. So das Argument von Kindhäuser a. a. O. (Fn. 20). 22 Zutreffend NK-StGB/Puppe, (Fn. 1), § 267 Rn. 10; vgl. im übrigen bereits Puppe, (Fn. 2), S. 176. 23 Dazu grundlegend Puppe, (Fn. 2), S. 53, 178; dies., (Fn. 12), S. 630 (631). 21
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spielt es nun ersichtlich keine Rolle, ob die besondere Aussagekraft über das Vorliegen gewisser Umstände (die kraft des Vertrauens in die Zuverlässigkeit der Technik stets von Anfang an gegeben ist) von vornherein für Beweiszwecke genutzt werden soll, oder ob eine solche Zweckbestimmung später getroffen wird, weil sich die betreffenden Umstände erst nachträglich als rechtserheblich erweisen. Demgegenüber führt die nachträglich erkannte Rechtserheblichkeit einer Tatsache, die mit Hilfe einer als solcher nicht unmittelbar rechtserheblichen verkörperten Gedankenäußerung eines Menschen bewiesen werden soll, mit der gleichen Offensichtlichkeit nicht dazu, daß letztere nunmehr selbst zur Quelle von Rechtsfolgen würde, wie dies für eine Urkunde i. S. von § 267 StGB charakteristisch ist. 3. Nach alledem bliebe als mögliches Argument für die Anerkennung der „Zufallsurkunde“ nur die Berufung auf mögliche kriminalpolitische Bedürfnisse und auf eine lange Tradition in Rechtsprechung und Schrifttum. Zu ersteren hat die verehrte Jubilarin aufgezeigt, daß diese in der Praxis gerade nicht erkennbar sind.24 Sie wären im übrigen auch nicht in der Lage, die Auflösung aller dogmatischen Strukturen von § 267 StGB zu legitimieren. Weil die Zufallsurkunde letzteres bewirkt, ist auch die Berufung auf die Tradition (bei der es sich nach den Worten der Jubilarin in der Rechtsprechung um eine solche „von vereinzelten, allerdings über fast ein Jahrhundert verteilten, obiter dicta“ handelt25) im Ansatz verfehlt: Eine Tradition, die den Urkundenbegriff gegen eine dogmatisch schlüssige Interpretation sperrt und statt dessen in einer unsystematischen Kasuistik gefangen hält, verdient es nicht, fortgesetzt zu werden (zumal man sie angesichts ihrer beschuldigtenfeindlichen Wirkungen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht als Gewohnheitsrecht betrachten kann). Sie bedarf vielmehr dringend einer Korrektur. V. Konsequenzen für die Behandlung schriftlicher Prüfungsarbeiten Wenn eine beliebige Beweisbestimmung der verkörperten Gedankenäußerung nicht ausreicht, um dieser Urkundenqualität zu verleihen, dafür vielmehr eine unmittelbare Auslösung von Rechtsfolgen erforderlich ist, scheitert daran nicht nur die Figur der „Zufallsurkunde“. Entsprechende Konsequenzen ergeben sich auch für bestimmte Schriftstücke, bei denen die Beweisbestimmung nicht nachträglich durch einen Dritten getroffen wird, sondern durchaus von Anfang an besteht, nur eben nicht in bezug auf rechtliche Auswirkungen, die das betreffende Dokument nach Entäußerung durch den Aussteller kraft seines Inhalts per se entfaltet. Dieses Manko weisen nämlich nicht nur Papiere auf, denen der Aussteller überhaupt keine Beweisfunktion verliehen hat (in diesem Fall sind sie allerdings zwangsläu24 25
NK-StGB/Puppe (Fn. 3), § 267 Rn. 13. NK-StGB/Puppe (Fn. 3), § 267 Rn. 13, 14 aE.
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fig damit behaftet, weil die zunächst fehlende unmittelbare Rechtserheblichkeit einer Äußerung niemals von einem Dritten26 hergestellt werden kann), sondern auch solche, die er selbst dazu bestimmt hat, als Beweismittel zu fungieren, aber nur für etwas anderes als für die Eigenschaft, eine unmittelbar rechtserhebliche Erklärung zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt bedarf etwa die Behandlung von Prüfungsarbeiten als Urkunden i. S. von § 267 StGB einer kritischen Überprüfung. 1. Keine Probleme bereitet die Urkundenqualität von Prüfungsarbeiten, wenn diese Begleiterklärungen des Prüflings enthalten, in denen dieser ausdrücklich oder konkludent die Einhaltung bestimmter Regeln (insbesondere die selbständige Abfassung der Arbeit) versichert. In diesem Fall bildet die Begleiterklärung mit dem Text der Bearbeitung als Bezugsobjekt eine „zusammengesetzte Urkunde“, die derjenige i. S. von § 267 StGB in unechter Form herstellt oder verfälscht, der die Arbeit unbefugt mit einem entsprechenden Vermerk versieht bzw. diesen austauscht und insofern eine unzutreffende Ausstellerangabe schafft. Solche Begleiterklärungen liegen jedenfalls dann vor, wenn der Prüfling in der Arbeit eine ausdrückliche Versicherung entsprechender Art abgibt. Auch einer eigenhändigen Unterschrift unter der Arbeit27 wird man noch einen diesbezüglichen Erklärungsgehalt beimessen können. Dagegen ist es wohl eine Überinterpretation des Ausstellerverhaltens bzw. – im Hinblick darauf, daß sich eine entsprechende Betrachtung für den Prüfling nicht ohne weiteres aufdrängt – eine unzulässige Erklärungsfiktion, bei nicht unterschriebenen Arbeiten insoweit die bloße Angabe des Namens oder (wie in den juristischen Examina üblich) gar nur einer Kennziffer in der Kopfzeile ausreichen zu lassen.28 Ein unbefangener Betrachter wird einem über dem Text stehenden Identifikationsmerkmal nämlich ausschließlich die Funktion beimessen, die Zuordnung der Klausur zu einem bestimmten Bearbeiter zu ermöglichen, und dem Verfasser nicht unterstellen, gerade durch die Anbringung des Merkmals über die Schaffung dieser Möglichkeit hinaus noch eine rechtsverbindliche Erklärung abgeben zu wollen. Das spricht entscheidend dafür, Name oder Kennziffer in der Kopfzeile einer Prüfungsarbeit nur als „Kennzeichen“ (s. o. III.3.) zu behandeln, deren Anbringung keine urkundliche Erklärung darstellt.29 2. Um bei unbefugter Verwendung von Name oder Kennziffer durch einen „Schlepper“ (oder auch durch jemanden, der einem anderen in Schädigungsab26 Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei darauf hingewiesen, daß ein Beauftragter des Ausstellers, der die Urkunde nach der „Geistigkeitstheorie“ für diesen ausfertigt, in diesem Sinne selbstverständlich kein „Dritter“ ist. 27 So in dem RGSt 68, 240 (241) zugrundeliegenden Sachverhalt. 28 Dafür BayObLG NJW 1981, 772 (773), wo diese Überlegung neben der unten V.2. dargestellten Konstruktion als Begründung angeführt wird. 29 Insofern zutr. Jakobs, (Fn. 4), S. 53 mit Fn. 88; der sich freilich generell gegen eine Begründung der Urkundenqualität mittels der Begleiterklärungen ausspricht.
Die Unvereinbarkeit der „Zufallsurkunde‘‘
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sicht eine schlechte Arbeit unterschieben möchte) ohne gleichzeitigem Vorliegen einer Unterschrift eine Strafbarkeit nach § 267 StGB zu begründen, bliebe deshalb nur die Möglichkeit, die schriftliche Bearbeitung der Prüfungsaufgabe selbst als maßgebliche Erklärung behandeln. So haben der BGH und das BayObLG schriftliche Prüfungsarbeiten in der Tat u. a. deshalb als Urkunden angesehen, weil die von einem Prüfungskandidaten erstellte Lösung eine von diesem abgegebene Erklärung sei, die ihn als Aussteller erkennen läßt und einen rechtsverbindlichen Nachweis über seine Kenntnisse liefert.30 Danach würde die Angabe eines falschen Namens oder einer falschen Kennziffer durch eine dazu nicht befugte (d. h. vom Prüfling verschiedene) Person als irreführende Ausstellerangabe dazu führen, daß insgesamt eine unechte Urkunde vorliegt.31 Dieser Überlegung liegt indessen der gleiche Fehler zugrunde wie der Anerkennung der Zufallsurkunde: Im Unterscheid zu dieser ist die Prüfungsarbeit zwar nicht erst aufgrund des nachträglich entstandenen Beweisinteresses eines Dritten, sondern von Anfang an dazu bestimmt, in entsprechender Weise als Beweismittel zu dienen. Die Lösungsniederschrift, die der Prüfungskandidat erstellt, hat aber ebenso wie eine „Zufallsurkunde“ nur mittelbare rechtliche Auswirkungen, indem ihre Qualität den Ausschlag dafür gibt, ob und ggf. mit welcher Note der Kandidat die Prüfung besteht. Der Inhalt der in ihr enthaltenen Aussagen vermag für sich genommen aber ebensowenig irgendwelche Rechte oder Pflichten zu begründen wie derjenige eines Liebesbriefs (um beim Standardbeispiel der „Zufallsurkunde“ zu bleiben), sondern liefert nur Anschauungsmaterial für die Fähigkeiten des Kandidaten, das den Prüfer in die Lage versetzen soll, diese in begründeter Form zu bewerten.32 Sie hat damit die klassische Funktion eines Augenscheinsobjekts, aus dessen Eigenschaften man bestimmte Schlüsse ziehen kann. Daß diese Schlüsse in einem formalisierten, auf die Feststellung bedeutender Rechtsfolgen gerichteten Verfahren gezogen werden, begründet zwar eine hohe, aber keine urkundentypische rechtliche Relevanz der Klausurbearbeitung.33 3. In diesem Zusammenhang zeigt sich noch einmal in aller Deutlichkeit, welch willkürliche Differenzierungen sich ergeben, wenn man bei der Urkunde i. S. von § 267 StGB auf das Erfordernis von Rechtswirkungen, die durch die verkörperte Erklärung selbst ausgelöst werden, verzichten will: Läßt man die Lö30 BGHSt 17, 297 (298); BayObLG NJW 1981, 772 (773); dem ausdrücklich folgend etwa SSW/Wittig, (Fn. 1), § 267 Rn. 30; Wessels/Hettinger, (Fn. 14), Rn. 795; ebenso wohl Schönke/Schröder/Cramer/Heine, (Fn. 1), § 267 Rn. 12. 31 In diesem Sinne auch NK-StGB/Puppe, (Fn. 2), § 267 Rn. 63; Kindhäuser, (Fn. 1), § 55 Rn 13; ders., (Fn. 1), § 267 Rn. 6; Krey/Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil Band 114, 2008; keinesfalls anwendbar ist § 267 StGB hingegen dann, wenn der Prüfling den von einem „Schlepper“ niedergeschriebenen Klausurentwurf selbst mit seinem Namen oder seiner Kennziffer als Ausstellerangabe versieht, insoweit zutr. alle genannten Autoren und BayObLG NJW 1981, 772 (773). 32 Insofern zutr. Jakobs, (Fn. 4), S. 53 f. mit Fn. 88. 33 Vgl. bereits MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 76.
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sung einer schriftlichen Prüfungsarbeit wegen ihrer Funktion, einen rechtsverbindlichen Nachweis über die Leistungsfähigkeit des Kandidaten zu erbringen, den qualifizierten strafrechtlichen Schutz von § 267 StGB angedeihen, dann stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung man diesen Schutz dem Probestück einer handwerklichen oder künstlerischen Arbeit im Rahmen einer Gesellen- oder Meisterprüfung oder im Abschlußexamen eines künstlerischen Studiengangs versagen will. Der Umstand, daß erstere in einem schriftlichen Text besteht, ändert nämlich nichts daran, daß sie in gleicher Weise als Arbeitsprobe fungiert und nur in dieser Eigenschaft rechtlich bedeutsame Schlußfolgerungen ermöglicht. Warum die Schriftlichkeit allein eine grundlegend andere Behandlung nach sich ziehen sollte (mit dem Ergebnis der Anwendbarkeit von § 267 StGB), ist schlechthin nicht nachvollziehbar.34 Dies gilt um so mehr, als die h. M. umgekehrt ja auch (zu Recht) keine Bedenken hat, die sogenannten Beweiszeichen aufgrund ihrer urkundenspezifischen Funktion im Rechtsverkehr unter § 267 StGB zu subsumieren, obwohl ihnen die Eigenschaft eines schriftlich ausformulierten Textes gerade fehlt! Deutlich faßbar ist hingegen die Kategorienverschiedenheit zwischen einer Klasse von Gegenständen, zu denen neben schriftlichen Prüfungsarbeiten und „Zufallsurkunden“ auch Probestücke in (kunst-)handwerklichen Prüfungen und beliebige andere Augenscheinsobjekte gehören, und einer anderen Klasse, die alle verkörperten Erklärungen umfaßt, die bei Erkennbarkeit ihres Ausstellers kraft ihres Inhalts schon für sich genommen rechtliche Wirkungen entfalten (wobei es wiederum keine Rolle spielt, ob eine solche Erklärung in einem Schriftstück oder in einem Beweiszeichen verkörpert ist). Zwischen diesen Objektsklassen verläuft die Grenze zwischen Urkunden und Nicht-Urkunden i. S. von § 267 StGB! VI. Fazit Eine systematische Unterscheidung zwischen Urkunden und Nicht-Urkunden, die den Zufall und die Willkür einer ohne tragfähige Begründungen gepflegten Kasuistik überwindet, ist nur anhand der Frage möglich, ob es sich bei dem betreffenden Objekt um eine verkörperte Erklärung von unmittelbarer Rechtserheblichkeit handelt, die insofern einen möglichen Gegenstand von Beweisinteressen in sich trägt. Für „Zufallsurkunden“ und ähnliche Gebilde, die mit Urkunden in diesem Sinne nur phänotypische Übereinstimmungen aufweisen, ist dabei kein Raum. Diese Erkenntnis wird eines Tages hoffentlich allgemein dafür sorgen, daß der Urkundenbegriff nicht mehr als verschwommenes Gebilde, sondern als Tatbestandsmerkmal mit klaren und einleuchtenden Konturen wahrgenommen wird. Den Weg dazu hat die verehrte Jubilarin bereitet. 34 Vgl. Jakobs, (Fn. 4), S. 53 mit Fn. 88, der das Abstellen auf die Schriftform in diesem Zusammenhang zutreffend als „ganz oberflächliche Phänotypik“ bezeichnet; MünchKomm-StGB/Erb, (Fn. 4), § 267 Rn. 76.
Störung des Öffentlichen Friedens (§ 130 Abs. 4 StGB): Strafwürdigkeit als Tatbestandsmerkmal* Von Thomas Fischer In Erörterungen über das oft schwierige Verhältnis von Wissenschaft und Praxis im Strafrecht1 bemühen sich gemeinhin beide Seiten, strukturelle Schwächen oder systematische Fehlgriffe der jeweils anderen zu enthüllen und Fehlentwicklungen aufzuzeigen, die nicht selten in ungenauen Begriffen, normativen Unklarheiten oder apodiktischen Kurz-Schlüssen ihren Ausgang nehmen. Thema meines Beitrags für die Festschrift für Ingeborg Puppe soll aber nicht ein (weiteres) Feld des Unverständnisses zwischen Strafrechtswissenschaft und Justizpraxis sein; vielmehr eine Frage, in welcher seit jeher fast vollständige Einmütigkeit herrscht – erstaunlich vor allem deshalb, weil der Konsens hier bei näherem Hinsehen ein Bild bedenklich gleichförmiger Schwäche zeigt, welche alle genannten Merkmale zugleich aufweist: begriffliche Ungenauigkeit, normative Formeln an der Grenze zur Beliebigkeit, zirkelschlüssigen Pragmatismus. Die Rede ist von der Behandlung der Tatbestände zum Schutz des sog. „Öffentlichen Friedens“ im StGB (§§ 126, 130, 140, 166 StGB): Weder ist es der Lehre in der Breite gelungen, die normativ-systematische Struktur dieser Vorschriften überzeugend zu begründen, noch hat die Rechtspraxis in Jahrzehnten praktischer Anwendung Kriterien entwickeln können, welche über Einzelfälle hinaus überzeugende Lösungen, vor allem auch eine allgemeinen Anforderungen genügende Bestimmtheit der Tatbestände garantieren. Die Rechts-Politik greift – verständlicherweise – auf ihre vagen Strukturen zurück, um steuernd auf öffentliches „Meinen“ und Kommunikationsverhalten einzuwirken. Nicht ob man dies – je nach Standpunkt – einmal begrüßen, einmal kritisieren sollte, ist die hier interessierende Frage, sondern ob und unter welchen Bedingungen die gesetzlichen Tatbestände hierfür eine hinreichende Grundlage bieten. Ich hoffe, das In* Zugleich eine Besprechung von BVerfG, Beschl. v. 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 – („Wunsiedel-Entscheidung“), NJW 2010, 47 = JZ 2010, 298 = DVBl 2010, 41 (Bespr. Degenhart, in: JZ 2010, 306; Hörnle, in: JZ 2010, 310; Bertram, in: NJW 2009, H. 50, XII; Michael, in: ZJS 2010, 155; Volkmann, in: NJW 2010, 417). 1 Ich habe mit der Jubilarin hierüber im vergangenen Jahr in einem für mich sehr interessanten Briefwechsel (anknüpfend an Fischer, in: Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 63, 67, Fn. 15) diskutiert. Schon der Versuch, Fehlgriffe der anderen Seite präzise zu formulieren, fördert nicht selten die Erkenntnis, dass der Boden auch des eigenen Standpunkts schwankend sei.
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teresse der Jubilarin mit einem Beitrag treffen zu können, der sich mit einer Grenze strafrechtlicher Tatbestandsbildung befasst. I. Problem und Zusammenhang § 130 Abs. 4 StGB ist durch Gesetz vom 24.3.20052 eingeführt worden. Die Vorschrift bedroht denjenigen mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, der öffentlich oder in einer Versammlung „den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“. Die Regelung knüpft im Tatbestand an den Merkmalen der (nationalsozialistischen) Gewalt- und Willkürherrschaft (vgl. § 92 Abs. 2 Nr. 6; § 194 StGB; § 15 Abs. 2 Nr. 1 VersammlG), des Verharmlosen und Verherrlichens (§ 131 Abs. 1 StGB) und des Billigens (vgl. § 140 Nr. 2 StGB) an. Der objektive Tatbestand setzt voraus, dass durch die Tathandlung (Billigen, Verherrlichen, Rechtfertigen der NS-Herrschaft3) der öffentliche Friede „in einer Weise“ gestört wird, welche die Würde „der Opfer“4 verletzt. Anlass für die Neuregelung war das Herannahen eines weiteren Todestags des Kriegsverbrechers Rudolf Heß.5 Dieses Ereignis war seit 1987 jährlich Anlass für neonazistische Aufmärsche in der oberfränkischen Stadt Wunsiedel geworden, in der Heß begraben ist. Von 1991 bis 2000 waren diese Demonstrationen verboten, ab 2001 vorübergehend erlaubt. Zur Veranstaltung 2004 reisten 3800 Teilnehmer an. Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers sollte mit der Regelung des § 130 Abs. 4 StGB eine materiellrechtliche Anknüpfungsnorm geschaffen werden, auf welche verwaltungsrechtliche Demonstrationsverbote unter Hinweis auf die Gefahr gestützt werden können, dass entsprechende Versammlungen zur Begehung von Straftaten ausgenutzt werden6: „Eine Patentlösung für die Heß-Aufmärsche in Wunsiedel gebe es zwar nicht, der neu gefasste Strafrechtstatbestand 2 BGBl I 969. Vgl. dazu GesE SPD/B90/GR BT-Drs. 15/4832 und Bericht des Innenausschusses BT-Drs. 15/5051. Sachverständigen-Anhörung im Innenausschuss am 7.3.2005 (56. Sitzung). 3 Genauer: der „nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft“. Interessant ist die Frage, ob es auch eine andere, sozusagen harmlose nationalsozialistische Herrschaft gab, die man ohne strafrechtliche Bedenken verherrlichen darf (vielleicht die nationalsozialistische Rechtsherrschaft, die Ns-Verwaltungsherrschaft, die Ns-Kunstherrschaft; usw.). Nur dann nämlich hätte die ausdrückliche Apostrophierung einen abgrenzenden Sinn; andernfalls wäre sie nur Gesetzeslyrik zur Demonstration. 4 Gemeint sind die Opfer der NS-Herrschaft, nicht etwa die der (opferlosen) Tat nach § 130 Abs. 3. Gleichwohl hat die Formulierung ernstlich Anlass zum Streit gegeben, ob vielleicht auch die Würde von Nicht-Opfern, von Bürgern, die Neonazi-Aufmärsche ansehen müssen, oder gar von Abgeordneten verletzt sein könnte, die durch entsprechende Kundgebungen auf dem Weg zu ihren Büros behindert werden (vgl. BT-Drs. 15/5051, S. 6; dazu Fischer, StGB57, 2010, § 130 Rn. 37). 5 Geb. 26.4.1894; gest. 17.8.1987.
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könne aber eine Handhabe für eine erleichterte Untersagung darstellen.“7 § 130 Abs. 4 StGB soll also die Grundlage einer Prognose der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (Rechtsgütersicherheit) schaffen: Wenn hinreichend sicher zu erwarten ist, dass eine Tat nach § 130 Abs. 4 begangen wird, ist die Sicherheit stets gefährdet. Mit einer praktischen Bedeutung des Tatbestands für die Strafrechtspflege wurde dagegen wohl nicht gerechnet8; das hat sich, soweit ersichtlich, bisher bestätigt.9 II. Der vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Fall Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 4. November 2009 die Vereinbarkeit von § 130 Abs. 4 StGB mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG festgestellt.10 Im Mittelpunkt des Beschlusses stehen Erwägungen zur (verfassungsimmanenten) Einschränkung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und zur Qualität des § 130 Abs. 4 StGB als „allgemeines“ Gesetz i. S. von Art. 5 Abs. 2 GG. Im Zusammenhang hiermit und im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG hat das Gericht darüber hinaus Ausführungen zur Auslegung der Friedensschutz-Klausel in § 130 Abs. 4 StGB gemacht, die sich von der gesamten bisherigen Rechtsprechung und herrschenden Lehre abwenden. Sie haben Konsequenzen auch für andere Äußerungstatbestände des StGB. 1. Ausgangsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Die vom BVerfG entschiedene Verfassungsbeschwerde11 richtete sich gegen ein Revisionsurteil des BVerwG, durch welches das Verbot einer öffentlichen 6 Vgl. BT-Drs. 15/4832, S. 1; 15/5051, S. 1: „(. . .) Der Gesetzentwurf konkretisiert die Möglichkeiten, gegen extremistisch ausgerichtete Versammlungen unter freiem Himmel vorzugehen . . .“. § 15 Abs. 1 VersammlG lautet: „(1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“ 7 BT-Drs. 15/5051, S. 6. 8 Vgl. auch BT-Drs. 15/4832, S. 1. 9 Bekannt gewordene gerichtliche Entscheidungen betreffen durchweg verwaltungsrechtliche Streitigkeiten (vgl. auch BVerfG NJW 2005, 3202). Die PKS weist, ohne Differenzierung nach Absätzen, für alle Tatbestände des § 130 zusammen 3773 Tatverdächtige im Jahr 2001, 2363 Tatverdächtige im Jahr 2005, 2809 Tatverdächtige im Jahr 2008 aus. Erkennbar ist hieran, dass eine signifikante Zunahme aufgrund der Gesetzesänderung 2005 ausgeblieben ist. Im Übrigen geben die Zahlen der PKS freilich (auch) hier kaum ein realistisches Bild vom tatsächlichen Umfang der Tatverwirklichung. Im Hinblick auf die bekannten Zahlen dezidiert rechtsradikaler, das NS-Regime zumindest in Teilen befürwortender Personen in Deutschland dürfte die Dunkelziffer von Tathandlungen nach § 130 Abs. 4 StGB hoch sein. 10 Beschluss vom 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 (NJW 2010, 47 = JZ 2010, 298).
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Versammlung „im Gedenken an Rudolf Heß“ im August 2005 in Wunsiedel letztinstanzlich bestätigt wurde.12 Das Verbot war auf § 15 Abs. 1 VersG i.V. mit § 130 Abs. 4 StGB gestützt worden: Versammlungen oder Aufzüge können nach § 15 Abs. 1 VersG verboten werden, wenn bei ihrer Durchführung die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet wäre; eine solche Gefahr ist nach ständiger Rechtsprechung gegeben, wenn die Verletzung von Strafrechtsnormen droht. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil (BVerwGE 131, 216) entschieden, § 130 Abs. 4 StGB sei ein „allgemeines Gesetz“ i. S. von Art. 5 Abs. 2, 1. Alt. GG13, das Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG nicht verletze14 und dem Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG oder Art. 10 Abs. 1 S. 1 MRK im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde und des öffentlichen Friedens zulässige Schranken setze; § 130 Abs. 4 verstoße auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG.15 Die von den Veranstaltern geplante Gedenkveranstaltung für Heß habe konkludent eine positive Bewertung und Billigung des NS-Regimes insgesamt, nicht nur einzelner Aspekte oder Ereignisse zum Ausdruck bringen sollen; dies hätte die Tathandlung des § 130 Abs. 4 StGB verwirklicht. Mit einer Störung des Öffentlichen Friedens sei zu rechnen gewesen, weil die Veranstaltung „voraussichtlich in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben“ wäre und bei überlebenden Opfern und deren Nachkommen16 Angst „vor künftigen Angriffen auf ihre Menschenwürde“17 ausgelöst hätte.18
11 Des im Laufe des Verfahrens am 29.10.2009 verstorbenen, als Förderer und Prozessvertreter der NPD bekannt gewordenen Rechtsanwalts Jürgen Rieger. 12 BVerwGE 131, 216 (Urt. vom 25. Juni 2008 – 6 C 21.07 NJW 2009, 98 = JZ 2008, 1102; Weber, KommJur 2008, 97; Bespr. Enders, in: JZ 2008, 1092); vorangehend Urt. des BayVGH v. 26.3.2007 – 24 B 06.1894 –, BayVBl 2008, 109. 13 Ebd., Leitsatz 1, und Rn. 20 f. 14 Ebd., Rn. 25. 15 Ebd., Rn. 29 f. 16 Siehe oben Fn. 4. Die Zusammenstellung von „Opfern“, „Nachkommen“ und potentiellen Trägern von „Angst“ entspricht hier dem Üblichen, erscheint aber (gerade deshalb) eher zufällig. Aus dem Wortlaut des § 130 Abs. 4 ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der „öffentliche Friede“ aus Gefühlen von „Nachkommen“ solcher Personen abgeleitet werden soll, die (1) Opfer nationalsozialistischer Gewalttaten waren, und (2) deren (offenbar: postmortale) Menschenwürde die Äußerungstat verletzt hat. Die Zusammenstellung stützt sich letztlich wohl eher auf Plausibilitätserwägungen über vermutlich Gewolltes (vgl. auch Enders, JZ 2008, 1092, 1098: „Es ist nur konsequent, wenn das BVerwG den überlebenden Opfern wie den Nachkommen ermordeter [anderer nicht?] Opfer . . . Angst unterstellt“). 17 Unklar bleibt insoweit, ob hiermit zukünftige Gewalttaten gemeint sein sollen – dies würde die Formulierung „Angriffe auf die Menschenwürde“ nicht nahe legen – oder ob, was nach der Formulierung nahe liegt, weitere zukünftige Taten nach § 130 Abs. 4 gemeint sind; Letzteres ist freilich eine eher zirkelschlüssige Argumentation, deren Subsumtion unter den Tatbestand schon nach herkömmlicher Auslegung zweifelhaft erscheint.
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Bei der Prüfung des § 130 Abs. 4 StGB als „allgemeines Gesetz“ i. S. von Art. 5 Abs. 2 GG hat sich das BVerwG im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 5 GG gehalten.19 Seine Ansicht, das strafrechtliche Verbot des Äußerns qualifizierter Zustimmung zur NS-Herrschaft sei ein „allgemeines“, also ein Gesetz, das sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richte20, steht freilich auf schwachen Füßen: Gezielter und selektiver, so möchte man annehmen, kann eine inhaltlich bestimmte, als wertlos angesehene Meinung kaum noch bezeichnet werden, und dem Argument, der „Öffentliche Friede“ wie die Menschenwürde seien in Deutschland „umfassend geschützt“, haftet im Hinblick auf die Anforderung des Art. 5 Abs. 2, 1. Var. GG ein Moment der Zirkelschlüssigkeit an. 2. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 4.11.2009 zunächst geprüft, ob die Handlungs-Merkmale des § 130 Abs. 4 StGB mit dem Bestimmtheitsgebot sowie dem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 vereinbar und von den Tatgerichten willkürfrei ausgelegt und angewandt worden seien21; beide Fragen hat es (zutreffend) bejaht. Das Gericht hat die Frage, ob es sich bei § 130 Abs. 4 StGB um ein „allgemeines Gesetz“ i. S. von Art. 5 Abs. 2 GG handele, abweichend von der bisher ständigen Rechtsprechung (und der Stellungnahme der Bundesregierung im Verfassungsbeschwerdeverfahren) beantwortet: Danach ist § 130 Abs. 4 StGB ein Gesetz, welches sich gezielt und ausschließlich gegen eine bestimmte Meinung zur NS-Herrschaft wendet und daher die genannten Rechtsgüter nicht „allgemein“, sondern gerade (nur) gegen Äußerungen dieser Meinung schützt; es handelt sich um strafrechtliches Sonderrecht.22 Die hierfür gegebene Begründung ist überzeugend.23 Sie ist konsequent, dürfte entsprechend jedenfalls auch für § 130 Abs. 3 StGB gelten24 und begründet eine unmittelbar politisch legitimierte Schranke des Art. 5 Abs. 1 GG: Die Regelung verstoße, so das BVerfG, wegen der historischen Einzigartigkeit der NS-Gewaltherrschaft und der durch sie begangenen Völkermordverbrechen 18 Ebd., Rn. 54; Wiedergabe auch in BVerfG (Fn. 10), Rn. 10 ff. Auch BGHSt 16, 49, 56; 46, 212, 220; BGH NStZ-RR 2006, 305 stellen (wahlweise) auf das „Sicherheitsgefühl der Betroffenen“ ab. 19 BVerwGE131, 216, Rn. 34 ff. Vgl. dazu Degenhart, JZ 2010, 306, 307 f.; krit. Enders, JZ 2008, 1092, 1094, jew. m.w. N. 20 Ebd., Rn. 19 ff. 21 BVerfG a. a. O. (Fn. 10), Rn. 48 ff. 22 BVerfG (Fn. 10), Rn. 61 ff. 23 Zust. auch Degenhart, JZ 2010, 306, 309; Michael, ZJS 2010, 155 ff. 24 Zutr. Hörnle, JZ 2010, 310, 311.
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nicht gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit, weil die offensive Befürwortung dieser Herrschaft „in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential“ sei.25 Damit wird, wie Degenhart in seiner Besprechung des Beschlusses überzeugend dargelegt hat26, eine materielle Begründung im Sinne einer immanenten Schranken-Bestimmung in Art. 5 Abs. 1, 2 GG eingeführt. Da die „Einzigartigkeit“ des NS-Unrechts27 seinerseits nicht unmittelbar in Verfassungsrecht übertragen werden kann, bleibt als Kriterium für die Prüfung der Meinungsverfolgung am Maßstab des Art. 5 Abs. 1, 2 GG im Ergebnis nur das der Verhältnismäßigkeit.28 Dies ist, mit Degenhart formuliert29, ein „Paradigmenwechsel“ mit weit reichenden Konsequenzen. Bemerkenswert ist schließlich, was das BVerfG zum Tatbestandsmerkmal der „Störung des öffentlichen Friedens“ in § 130 Abs. 4 StGB ausgeführt hat. Hier wird der öffentliche Friede zunächst, recht apodiktisch, als das Rechtsgut des § 130 Abs. 4 bezeichnet30; damit grenzt das Gericht die Vorschrift von einer (illegitimen) Verfolgung des Habens oder Äußerns „bloßer“ gefährlicher Meinungen ab.31 Insoweit folgt die Entscheidung der in Rechtsprechung und Literatur gewöhnlich vertretenen Linie, wonach der öffentliche Friede das einzige oder jedenfalls vorrangige Rechtsgut des § 130 sei.32 In Abkehr von der bislang herr25
BVerfG (Fn. 10), Rn. 66. JZ 2010, 309 f. 27 Über die politische, historische, moralische, (straf)rechtliche Einzigartigkeit muss man nicht diskutieren. Unter dem Gesichtspunkt des „Opfer“(!)-Schutzes und der Menschen(!)würde freilich mag man darüber nachdenken, ob nicht die Angst der „Opfer und deren Nachkommen“ anderer Völkermorde oder systematischer Massakrierung von Bevölkerungsminderheiten denselben Schutz verdient. 28 Erneut überspringt damit das BVerfG eine als recht gesichert angesehene formelle Grenze des strafrechtlichen Grundrechtseingriffs mit Hilfe des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit: Schon zu § 66b StGB hat das Gericht gegen die Fachgerichtsbarkeit (BGHSt 50, 121, 132; 50, 373, 381) entschieden, die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung setze keinen Hang im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraus; die „einschränkenden Kriterien“ seien anhand des Gesichtspunkts der Verhältnismäßigkeit zu prüfen (BVerfG NJW 2006, 3483; zur Krit. vgl. Fischer [Fn. 4], § 66b Rn. 35). 29 JZ 2010, 308, 310. 30 BVerfG (Fn. 10), Rn. 69, unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien (Rn. 76); vgl. BT-Drs. 15/4832, S. 5; 15/5051, S. 5). Abweichend noch BVerfG, 1 BvR 808/05 = NJW 2005, 3202, Rn. 15. 31 Dies mag im Hinblick auf die Entscheidung BVerfGE 120, 224 (= NJW 2006, 3483) zu § 173 StGB (Strafbarkeit des Geschwisterinzests) bedeutsam sein, in der ausdrücklich offen gelassen wurde, ob legitimes Strafrecht den Schutz von Rechtsgütern überhaupt voraussetze (vgl. dazu auch Hörnle, JZ 2010, 310, 311; zur Kritik an der weitgehenden Aufgabe eines materiellen oder „systemkritischen“ Rechtsgutsbegriffs in der Entscheidung auch das abweichende Votum von Hassemer). 32 Vgl. nur die fast einhellige Kommentarliteratur: Krauß, in: LK12, 2009, § 130 Rn. 13; Lohse, in: SSW-StGB, 2009, § 130 Rn. 2; Rudolphi/Stein, in: SK-StGB7, 2005, § 130 Rn. 1b, 1f; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 130 Rn. 1; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder StGB27, 2006, § 130 Rn. 1a; Miebach/Schäfer, in: MüKo-StGB, 2005, § 130 Rn. 2; Kindhäuser, LPK4, 2009, § 130 Rn. 1; ähnlich Rössner/Krupka, in: 26
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schenden Ansicht äußert sich das Gericht aber im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Merkmals mit Art. 103 Abs. 2 GG, zur begrifflichen Definition der Rechtsgutsbeschreibung und zur tatbestandlichen Bedeutung des Merkmals. Hierauf ist näher einzugehen. III. Bisheriges Verständnis des Begriffs „Öffentlicher Friede“ 1. „Objektive“ und „subjektive“ Bedeutung In seinem Revisionsurteil hat das Bundesverwaltungsgericht den Begriff des öffentlichen Friedens wie folgt definiert: „Der Begriff ,öffentlicher Friede‘ bezeichnet einen (objektiven) Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und das (subjektive) Bewusstsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden zu leben.“33 Eine Störung des öffentlichen Friedens hat es wie folgt umschrieben: „Der öffentliche Friede ist unter anderem gestört, wenn das Vertrauen der Öffentlichkeit in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert ist.“34 Diese Formulierungen geben seit langem geläufige Definitionen wieder, die sich in Rechtsprechung und Literatur in vielfach ähnlichen Formulierungen finden. Öffentlicher Friede wird beschrieben als „Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit“35, als „der Zustand der Rechtssicherheit und das Gefühl der Bevölkerung, im Schutze der Rechtsordnung zu leben“36; als „das frei von Furcht voreinander verlaufende Zusammenleben der Staatsbürger“, unterschieden in einen objektiven Lebenszustand allgemeiner Rechtssicherheit sowie das subjektive Vertrauen der Bevölkerung in den Fortbestand dieses Zustands37; als „sowohl objektiv feststellbarer Lebenszustand allgemeiner Rechtssicherheit und des frei von Furcht voreinander verlaufenden Zusammenlebens der Bürger als auch das Vertrauen der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können“38; als „der ideale Gesellschaftszustand, der äußerlich durch eine friedfertige demokratische Interessenregelung und Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 2008, § 130 Rn. 1 („friedliches Zusammenleben im multikulturellen Rechtsstaat“); abweichend Ostendorf, NK3-StGB, 2010, § 130 Rn. 4 f. 33 BVerwGE 131, 216, Rn. 20. 34 Ebd., Rn. 51, unter Verweisung auf BGH NJW 2005, 689, 691 (= NStZ 2005, 378); BGHSt 46, 212, 292 (= NStZ 2001, 305) und BGHSt 34, 329, 331. Dass eine allgemeine Begriffs-Definition sogleich wieder mit der Formel „unter anderem“ eingeschränkt wird, ist auffällig; man wüsste gern, wann der Öffentliche Friede außerdem noch gestört ist. Ganz unerklärt bleibt, wie sich „das Vertrauen der Öffentlichkeit“ als straftatbestandlich objektives Merkmal bestimmen (und feststellen!) lassen könnte. 35 BGHSt 34, 329, 331; 46, 212, 218; BGH NStZ 2005, 378; NStZ-RR 2006, 305; st. Rechtsprechung. 36 Lohse, in: SSW-StGB (Fn. 32), § 130 Rn. 2. 37 Schäfer, in: MüKo (Fn. 32) § 126 Rn. 1; gleichlautend Krauß, in: LK12 (Fn. 32), § 126 Rn. 1. 38 Krauß, in: LK12 (Fn. 32), § 130 Rn. 3.
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entsprechende Gesetzesbefolgung sowie innerlich durch eine entsprechende kollektive Vertrauenseinstellung gekennzeichnet ist“39; als „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und befriedeten Zusammenlebens der Bürger und das im Vertrauen auf den Fortbestand dieses Zustands gegründete Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“40; als „Friedlichkeit der politischen Auseinandersetzung“41. Die Unterscheidung in einen „objektiven“ und einen „subjektiven“ Teil des öffentlichen Friedens geht zurück auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts42, die ihrerseits schon an frühere Quellen anknüpfte und mit den genannten Formeln auch in der NS-Zeit fortgeführt wurde.43 Der BGH hat diese Rechtsprechung übernommen44 und auf alle Tatbestände des StGB angewandt, die eine „Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören“, voraussetzen (§§ 126, 139, 140, 166). Die Literatur ist dem im Grundsatz weitgehend gefolgt; kritische Stimmen im Hinblick auf Inhalt und Funktion der Friedensschutz-Klausel sind Ausnahmen geblieben.45 Dies gilt trotz des Umstands, dass die genannten Definitionen im Hinblick auf die Anforderungen an die Bestimmtheit eines strafrechtlichen Tatbestandsmerkmals durchweg zweifelhaft erscheinen. Schon die fast wahllos anmutende Verknüpfung der objektiven mit einer „subjektiven“ Natur des beschriebenen Gegenstands durch „und“, „oder“, „einerseits – andererseits“, „sowohl – als auch“ gibt Rätsel auf.46 Was die „Sicherheit der Rechtsgüter“ betrifft, so ist 39
Ostendorf, in: NK-StGB (Fn. 32) § 126 Rn. 6. Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 32), § 126 Rn. 1. 41 BVerfG (Fn. 10), Rn. 82. 42 RGSt 15, 117; vgl. auch RGSt 18, 316; 18, 409; 34, 269. Darstellung der Entwicklung im Einzelnen und Nachweise bei Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986 (Diss. Würzburg), S. 189 ff. 43 Vgl. z. B. RG HRR 1937 Nr. 607; 1938, Nr. 488; RGSt 71, 248. Weitere Nachw. bei Fischer (Fn. 42), S. 323 ff. Bemerkenswert ist, wie sich in die Formeln vom „gesicherten Zusammenleben“ und vom „Vertrauen der Bevölkerung“ problemlos auch die Umstände des nationalsozialistischen „permanenten Ausnahmezustands“ sowie des Terrorregimes in den besetzten Gebieten Europas integrieren ließen. Der „Öffentliche Friede“ bestand vor 1945 eben auch im Schutz der Ehre der NSDAP bzw. der politischen Führung (vgl. Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20.12.1934, RGBl I 1269, § 2), oder im Gefühl der deutschen Bevölkerung, hinreichend sicher gegen „Rassenschande“ geschützt zu sein. 44 Vgl. etwa BGHSt 16, 49, 56 f. (= NJW 1961, 1364); 21, 371 (= NJW 1968, 309); aus der OLG-Rechtsprechung vgl. insb. OLG Celle NJW 1970, 2257; OLG Hamburg NJW 1975, 1089. 45 Fischer (Fn. 42), S. 493 ff.; ders., NStZ 1988, 162 ff.; ders., GA 1989, 451 ff.; Kargl, Jura 2001, S. 176 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 290 ff.; Hörnle, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 270 ff.; dies., Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 90 ff.; vgl. auch Streng, in: Lackner-FS (1987), S. 501 ff. 46 In Rechtsprechung und Literatur werden die „Aspekte“, wenn sie überhaupt unterschieden werden, meist mit „einerseits“ und „andererseits“ gekennzeichnet oder schlicht mit „und“ nebeneinander gestellt, durchweg ohne Erläuterungen über das Verhältnis der beiden (tatsächlichen) Zustände. In zahlreichen Entscheidungen des BGH entfällt der 40
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schon schwer erkennbar, ob damit die Gesamtheit aller zum jeweiligen Zeitpunkt rechtlich geschützten Sachverhalte, Verhältnisse und Werte gemeint ist oder nur eine jeweils deliktspezifische Auswahl. Im letzteren Fall wäre zu fragen, wie diese Auswahl zu bestimmen ist. Gleichermaßen unklar ist geblieben, in welchem konkreten (Wechsel)Verhältnis Sachverhalte wie „das Gefühl der Bevölkerung“ oder „das allgemeine Vertrauen“ zur objektiven Sicherheitslage (ungenannter) Rechtsgüter stehen sollen; ob nur zutreffende oder auch irrige „Gefühle“ geschützt sind; welches der Maßstab für „richtige“ Gefühle und „begründetes“ Vertrauen ist und wer diesen jeweils bestimmt. Dass man einen als „idealen Gesellschaftszustand“ beschriebenen Sachverhalt, mit dem ersichtlich eher eine allgemeine, wenig präzise Wertungsklausel für die Legitimität des Rechtsgüterschützes als solchem umschrieben wird, als strafrechtliches Tatbestandsmerkmal verwenden will, erscheint eher überraschend. 2. Feststellungsprobleme Die meist eher formelhaft angewendeten Definitionen müssen schon deshalb verwundern, weil die Annahme evident begründungsbedürftig ist, manche Äußerungstatbestände des StGB – nicht aber z. B. die Staatsschutz-Tatbestände im engeren Sinn oder solche Tatbestände, die erfahrungsgemäß besonders öffentlichkeitswirksame, emotional aufwühlende oder belastende Straftaten beschreiben47 – enthielten neben dem Erfordernis der jeweils qualifizierten Äußerung ein objektives Tatbestandsmerkmal, dessen Inhalt („einerseits“) der „Zustand der Gesetzesbefolgung“ und („andererseits“) zugleich das „Gefühl der Bevölkerung“ hiervon sei. Denn im Hinblick auf diese Bestimmung liegen gravierende Feststellungsprobleme auf der Hand: Wie jenseits der „öffentlichen Sicherheit“ ein kollektives Rechtsgut der „Sicherheit der Rechtsgüter“ bestimmbar sein sollte; wie sich ein Zustand des „Sicherheitsgefühls der Bevölkerung“ feststellen lassen könnte; wie sich Erkenntnisse zum Verhältnis der beiden „Seiten“ des Rechtsguts zueinander auf die Feststellung von Verletzungen oder Störungen des Rechtsguts auswirken sollen. Antworten auf diese Fragen finden sich in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht, obgleich Grundfragen der strafrechtlichen Legitimität berührt sind. a) Ein substanzieller Unterschied zwischen „öffentlicher Sicherheit“ und „Sicherheit der Rechtsgüter“ ist nicht erkennbar.48 Da zur Gesichertheit der (aller) rechtlich geschützten Güter gewiss vor allem auch die strafrechtlich geschützten „objektive“ Aspekt allerdings ganz (vgl. etwa BGHSt 29, 26; 46, 212, 218 f.; BGH NStZ 2007, 216 Rn. 14). 47 Etwa terroristische Straftaten; schwere Gewaltverbrechen; schwere gemeingefährliche Straftaten. 48 Dazu auch Hörnle (Fn. 45), S. 93 f.
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individuellen, kollektiven und öffentlichen Güter gehören, denen ein positiver, schützenswerter Gehalt zugeschrieben ist, fügt dem eine Definition des „öffentlichen Friedens“ als „Zustand der Gesichertheit der Rechtsgüter“ nichts substanziell Neues hinzu. Die vom Recht geschützten Güter sind von den und nach Maßgabe der Rechtsnormen des geltenden (Straf-)Rechts geschützt. Ein hiervon abstrakt abgetrennter, in den „potentiellen“ Gefährdungsbereich vorverlagerter Strafrechtsschutz der Gesamtheit der Rechtsgüter ist weder erforderlich noch verfassungsrechtlich legitimiert.49 Das gilt selbst dann, wenn man, wie es das BVerfG wohl tut, einen materiellen Rechtsgutsbegriff recht flexibel durch einen heuristischen Begriff ersetzt.50 b) Es wird allerdings vielfach vertreten, das Rechtsgut umfasse in seinem objektiven Gehalt51 auch (oder nur) „ein gesellschaftliches Klima, das nicht durch Unruhe, Unsicherheit und Ausgrenzung gekennzeichnet ist“52; ein „Klima der Toleranz“53 oder, noch allgemeiner, „das politische Klima“54. Der Begriff eines solchen gesellschaftlich-politischen „Klimas“, mag man dieses als „geistig“, psychologisch oder handlungsstrukturierend verstehen, müsste freilich operationalisiert werden, wenn er als Beschreibung eines Tatbestandsmerkmals taugen sollte. Das stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, denn zum „Klima“ einer Gesellschaft gehört eine große Vielzahl von konstituierenden Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen von der individualpsychologischen Wahrnehmung bis zur medialen Widerspiegelung objektiv messbarer soziologischer Veränderungen, von politischer Meinungsbildung im weiten Sinn, ihrem Verständnis und ihrer Umsetzung in Einstellungen, Haltungen, Verhaltensweisen bis zu Selbst- und Fremdbildern dieser Faktoren; überdies ist zwischen kurz- und längerfristigen Wirkungszusammenhängen zu unterscheiden. Fast unmöglich ist es, den Ort einer solchen „Klima“-Feststellung hinreichend präzise zu bestimmen und die Rückwirkungen der Bestimmung auf die inhaltlichen Faktoren der Klima-Analyse zutreffend zu bewerten. Das „Klima“ für Investitionen in Werkzeugmaschinen oder das „Klima“ für farbige Zuwanderer in Gemeinden unter 2000 Einwohnern mag sich mit Methoden empirischer Sozialforschung noch einigermaßen bestimmen lassen, wenn man zuvor festlegt, welche Kriterien man als bedeutsam ansehen 49
Dazu umfassend auch Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985. Zutr. Hörnle, JZ 2010, S. 310, 311. 51 Anders Rudolphi/Stein, in: SK-StGB7 (Fn. 32), § 130 Rn. 9: Störung des „subjektiven öffentlichen Friedens i. e. S.“, „wenn das gesellschaftliche Klima durch allgemeine Unruhe, Unsicherheit oder Ausgrenzung und Diffamierung von Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist“. 52 Vgl. etwa Rudolphi/Stein, in: SK-StGB7 (Fn. 32) § 126 Rn. 2; Rudolphi/Rogall, ebd. vor § 166 Rn. 7 f.; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 32), § 126 Rn. 1; Lackner/ Kühl (Fn. 32), § 126 Rn. 1; ähnlich von Bubnoff, in: LK11, § 125 Rn. 41; jew. m.w. Nachw. 53 Vgl. auch Hörnle (Fn. 45), S. 96 f. m.w. Nachw. 54 BGHSt 46, 212, 221 f. 50
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möchte. Das „Klima“ für globale Trends, für nur allgemein zu umschreibende gesellschaftliche Entwicklungen oder für die Rechtssicherheit ist hingegen ersichtlich eher Gegenstand spekulativer oder ihrerseits mit dem Ziel „klimatischer“ Wirkung geschaffener Erwägungen in Leitartikeln oder Feuilletons: Ob in Deutschland das Klima für Kinder, Investoren, für den Fortschritt, für die Integration von Ausländern oder für die Korruption gut, schlecht, hoffnungsvoll oder bedrohlich sei, wird täglich hundertfach unterschiedlich beantwortet; ersichtlich kommt es dabei vor allem auf den Blickwinkel an. Ein Tatbestandsmerkmal „Klima der Toleranz“ könnte daher nicht in einer mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbaren Weise angewandt werden, wenn es als empirische Gegebenheit zu verstehen wäre.55 c) Als nicht weniger problematisch stellt sich die in Rechtsprechung und Literatur (zu Recht) in den Mittelpunkt gestellte subjektivierte Bestimmung des „öffentlichen Friedens“ als „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“ dar. Über Gefühle der dauerhaft im Geltungsbereich des StGB lebenden 80 Mio. Personen werden von der empirischen Sozialforschung zwar vielerlei Daten erhoben; auch die Sicherheitsbeurteilung ausgewählter Bevölkerungsgruppen sowie die psychologischen Grundlagen und Abhängigkeiten der Bildung und Veränderung solcher „Gefühle“, Meinungen, Selbst- und Fremdbeurteilungen und Prognosen sind Gegenstände empirischer Forschung und analytischer Deutung. Es sind aber keine Methoden bekannt, mit denen die Gegenstände solcher Untersuchungen mit den Anforderungen des Rechtssystems abgeglichen und in Strukturen übersetzt werden könnten, die sich vom (Straf)Recht ohne Weiteres als Instrumente zur „Feststellung“ öffentlicher Gefühlslagen nutzen ließen, die eine hinreichend gesicherte Feststellung von kollektiven „Stimmungen“ als strafbegründende Merkmale ermöglichte. Selbst wenn dies der Fall wäre, bliebe es mehr als zweifelhaft, ob die Zustandsbeschreibung „(Un)Sicherheitsgefühl eines Teils der inländischen Bevölkerung im Hinblick auf die Sicherheit individueller und kollektiver Rechtsgüter“ vor den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG Bestand haben könnte. Denn die Beschreibung bezieht eine hohe Zahl tatsächlich und normativ flüchtiger, schwer zu konkretisierender und von dritten Faktoren abhängiger Elemente ein, so dass eine für Zwecke strafrechtlicher Verurteilungen ausreichend sichere Feststellung allenfalls zufällig möglich sein dürfte. Selbst dann wäre sie nicht mehr als bloße Momentaufnahme, welche sich schon während eines gestreckten Tatverlaufs, erst 55 Daher soll es nach Rudolphi/Stein (Fn. 32), § 130 Rn. 10, nicht ankommen auf „einen Sozialwissenschaftler, der ggf. eine durch empirische Erhebungen . . . abgesicherte Prognose stellen könnte“, sondern auf einen „fiktiven, durchschnittlich befähigten, um zuverlässige Erkenntnis der Lage bemühten Angehörigen der Verkehrskreise des Täters“. Es ist aber auch nicht ersichtlich, dass Gerichte bei der Beurteilung von Taten nach § 130 StGB den Blickwinkel eines durchschnittlich befähigten Angehörigen der Neonazi-Szene annähmen oder sich darum bemühten.
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recht zwischen Tat und Verfahrensbeginn sowie im Laufe des Strafverfahrens laufend und schnell in unterschiedliche Richtungen ändern kann. Hieran knüpfen sich wiederum zahlreiche Zweifelsfragen der Feststellung eines solchen Zustands selbst, einer (abstrakten oder konkreten) Gefahr des Eintritts eines solchen Zustands sowie des auf den Zustand oder die Gefahr bezogenen Täter-Vorsatzes: Wie soll ein Sachverständiger56 oder mit seiner Hilfe ein Gericht Monate oder Jahre nach einer Äußerung feststellen, ob der Beschuldigte es für sicher oder möglich hielt und billigte, dass für das Gefühl der Bevölkerung über die Sicherheit von (eigenen, fremden, beliebigen?) Rechtsgütern die Gefahr einer Verschlechterung (oder eine solche selbst) eintreten werde? d) Es ist schwer verständlich, warum Rechtsprechung und h. M. diesem sich aufdrängenden Befund nicht Rechnung tragen, sondern seit Jahrzehnten unbeirrt an der „Feststellung“ angeblich empirischer Gegebenheiten festhalten, die sich bei näherem Hinsehen unschwer als Fiktion erkennen lassen. Denn auch in der Rechtsprechung ist kein Anhaltspunkt dafür zu finden, auf welche Weise die Gerichte in der Vergangenheit Störungen des öffentlichen Friedens sicher festgestellt haben oder zukünftig feststellen sollen. Eine Durchsicht der zu §§ 126, 130, 140, 166 StGB ergangenen Entscheidungen57 ergibt, dass Begründungen, mit welchen das Merkmal „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“ bejaht oder ggf. verneint wird, zu den angesprochenen Fragen in der Regel nicht Stellung nehmen, sondern sich auf zwei Argumentationsfiguren beschränken, die ihnen schlicht ausweichen: Die erste ist die einer bloßen Behauptung, welche unmittelbar mit dem – als „gravierend“ bezeichneten – jeweiligen Äußerungsinhalt verknüpft wird. Beispielhaft etwa: „Dass der Film als nat.-soz. antisemitischer Hetzfilm geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, bedarf nach den geschichtlichen Erfahrungen keiner weiteren Begründung;“58 „Es genügt, dass berechtigte Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern (. . .) Bei einem Bekenntnis zu antisemitischen Anschauungen unter gleichzeitiger Befürwortung der NS-Ideologie im Rahmen einer öffentlichen Versammlung steht das außer Frage.“59
Dieses Argument stützt sich also auf eine suggestive Verknüpfung von Momenten der Evidenz mit einem begrifflich unscharfen, feuilletonistischen Moral56 Unklar ist auch, welchen wissenschaftlichen Sachverstand man hierfür benötigen würde: Individualpsychologie des Beschuldigten; Soziologie der gesellschaftlichen Bedrohlichkeits-Vermittlung; Sozialpsychologie von „Bevölkerungsteilen“? 57 Übersicht über ältere Entscheidungen bei Fischer (Fn. 42), S. 189 ff. (Reichsgericht), 319 ff. (NS-Rechtsprechung), 385 ff. (Bundesgerichtshof); vgl. im Übrigen auch die Nachw. bei Krauß, LK12 (Fn. 32), § 126 Rn. 1; § 130 Rn. 3; Schönke/Schröder27/ Lenckner/Perron (Fn. 32), § 126 Rn. 1. 58 BGH NJW 1963, 2034 (zum Film „Jud Süß“). 59 BGH NStZ-RR 2006, 305 Rn. 20.
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Appell: Die Empörung der gewünschten60 Mehrheit nimmt stellvertretend der Richter vorweg, indem er sie als „selbstverständlich“ postuliert. In einem zweiten Schritt wird das zur „tatsächlichen Feststellung“ umetikettiert. Das zweite Argument beschränkt sich – das erste stillschweigend einbeziehend – allein auf die Öffentlichkeit der Tathandlung, leitet also die „Eignung zur Friedensstörung“ oder deren Eintritt ohne nähere Begründung daraus ab, dass die Äußerung öffentlich erfolgte oder erfolgen sollte.61 Beispielhaft hierfür etwa: „Das Landgericht hat den Antrag auch für geeignet gehalten, den öffentlichen Frieden zu stören, weil er in öffentlicher Hauptverhandlung gestellt worden sei (. . .) Die Annahme des Landgerichts . . . begegnet unter den gegebenen Umständen keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken“62; „Die Taten waren geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören (. . .) Es ist offenkundig, dass jedem Internet-Nutzer in Deutschland die Publikationen des Angeklagten ohne Weiteres zugänglich waren. (Sie) konnten zudem von deutschen Nutzern weiterverbreitet werden (. . .).“63 „(Eine Störung des öffentlichen Friedens) wäre zu erwarten gewesen, weil die Veranstaltung voraussichtlich in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben wäre, sondern weit über W. hinaus Beachtung gefunden und (. . .) Angst vor künftigen Angriffen (. . .) ausgelöst hätte.“64
Auch dieses Argument ersetzt objektive Kriterien letztlich durch schlichtes Behaupten oder Plausibilitäts-Vermutungen. Belege dafür, dass Gerichte Untersuchungen über Gefühlszustände oder Vertrauenslagen größerer Bevölkerungsgruppen durchgeführt, veranlasst oder zur Begründung ihrer Entscheidungen herangezogen hätten, finden sich in der veröffentlichten Rechtsprechung nicht.65 Auch Anträge, die auf Beweise für das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher Tatsachen abzielen, werden regelmäßig nicht gestellt. Wenn dies doch einmal geschieht, liegen dem nicht selten ideologisch verquere, verfahrensrechtlich miss60 Vgl. Fischer (Fn. 42), S. 521, 603, 631 ff.: Öffentlicher Friede ist nicht, was alle wollen, sondern was alle wollen sollen. 61 Besonders problematisches Beispiel: Der sog. „volksverhetzende Leserbrief“ an eine Redaktion, die das Schreiben wegen seines Inhalts gerade nicht veröffentlichte oder zum Anlass für eine warnende, ablehnende Kommentierung nahm; vgl. dazu etwa BGHSt 29, 26 (m. Anm. Wagner, JR 1980, 120). 62 BGHSt 46, 36, 39, 42 f. Der Fall betraf eine den Holocaust leugnende Antragstellung eines Rechtsanwalts in einer Hauptverhandlung gegen seinen derselben Tat angeklagten Mandanten. 63 BGHSt 46. 212, 219 f. Der Fall betraf die Veröffentlichung antisemitischer und den Holocaust leugnender Texte im Internet durch einen Australier in Australien. Zur Anknüpfung an den „Kreis der Wahrnehmenden“ vgl. auch Rudolphi/Stein (Fn. 32), § 130 Rn. 10. 64 BVerwGE 131, 216, Rn. 54 (unter Verweisung auf BGH NJW 2005, 689). 65 Dazu auch Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 111 ff.; Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, 2000, S. 226 f.; Rudolphi/Stein, in: SK-StGB7 (Fn. 32), § 130 Rn. 10. Im Übrigen sind Verweisungen auf die angebliche „Fraglosigkeit“ kein Spezifikum der Rechtsprechung. Sie finden sich gleichermaßen in der Literatur.
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bräuchliche Absichten zugrunde, so dass Beweisanträge unschwer zurückgewiesen werden können. Aber auch Beispiele für die Ablehnung nicht offenkundig neben der Sache liegender Anträge lassen sich ebenso wenig finden wie Beweiserhebungen zu (angeblich) empirischen Grundlagen der Friedens-Störung bzw. der Gefahr einer solchen. 3. Gefährdung und Störung Die Unklarheit bei der Feststellung des Tatbestandsmerkmals ist eng verbunden mit der Konstruktion der betreffenden Tatbestände als Gefährdungsdelikte: §§ 126, 140, 166 Abs. 1 und 2 sowie § 130 Abs. 1 und 3 StGB setzen jeweils voraus, dass die Tathandlung „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Damit ist nach ganz h. M. keine konkrete Gefährdung vorausgesetzt.66 Andererseits soll auch eine nur abstrakte Gefahr nicht ausreichen; die genannten Tatbestände werden vielmehr als „abstrakt-konkrete“, „generelle“ oder „potentielle“ Gefährdungsdelikte verstanden.67 Damit soll eine „Unterart der abstrakten Gefährdung“ beschrieben sein, die zusätzlich zur allgemeinen Tauglichkeit der Tathandlung, den Erfolg herbeizuführen, eine Lage tatsächlich „konkreter Umstände“ objektiver und/oder subjektiver Art voraussetzt, in welcher die allgemeine Erfolgstauglichkeit sich zu einer konkreten Erfolgsnähe verdichten kann. Beispielhaft: Die öffentliche Verbreitung der Lüge, der NS-Holocaust habe nie stattgefunden, ist nach Lage der Dinge geeignet, erhebliche Unruhe auszulösen; die Lügen, die Erde sei eine Scheibe oder das Weltall sei von „Thetanen“ der Stufe 15 bevölkert68, weisen diese Eigenschaft nicht auf (§ 130 Abs. 3 StGB).69 Die öffentliche Darlegung, eine jungfräuliche Geburt ohne natürliche oder künstliche Befruchtung sei unmöglich, ist bei einer Gynäkologentagung nicht weiter auffällig, könnte aber bei einem deutschen Katholikentag für Empörung sorgen (§ 166 Abs. 1 StGB). Die öffentliche Verharmlosung des Völkermords an Armeniern in den Jahren 1915/1917 kann große Unruhe auslösen; dagegen gilt eine Verherrlichung der Vernichtung der Völker der Herero und Nama nach dem „Hottentotten-Aufstand“70 in Deutsch-Südwestafrika 1893 schlimmstenfalls als „umstrittener“ Beitrag zur historischen Diskussion (§ 140 StGB).71 66 Anders etwa Gallas, in: Heinitz-FS, 1972, S. 181; Roxin, Strafrecht AT Bd. I4, 2006, § 11 Rn. 163 (konkrete Gefährdungsdelikte). 67 Vgl. etwa BGHSt 16, 56; 29, 26, 27; 34, 329, 332; 46, 212, 219; BGH NJW 1999, 2129; aus der Literatur Rudolphi/Stein (Fn. 32), § 130 Rn. 10 m.w. Nachw.; eher krit. Ostendorf (Fn. 32), § 130 Rn. 5. 68 Diese Erkenntnis des verstorbenen Science-Fiction-Autors Hubbart ist die theologische (!) Grundlage der sog. „Scientology-Kirche“. 69 Wo der sog. Kreationismus als „Theorie“ über die Entstehung der Welt eine auch quantitativ wichtige Rolle spielt, können auch Behauptungen über die Existenz oder Nichtexistenz der biologischen Evolution als „Gefährdung des Friedens“ erscheinen. 70 Im 19. Jhd. diskriminierende Bezeichnung für die Völker der Khoi Khoi im südlichen Afrika.
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Es liegt auf der Hand, dass wegen des sehr vagen, schwer eingrenzbaren Inhalts des Begriffs des „öffentlichen Friedens“ eine Tatbestandskonstruktion als Gefährdungsdelikt72 für die Praxis zu einer erheblichen Erleichterung der Anwendung führen kann, da sich hierdurch – jedenfalls scheinbar – die Probleme der Tatmerkmals-Feststellung vom Erfolg (Friedensstörung) auf die Umstände der Eignung verlagern lassen; dort finden sie sich in einem Feld freien Spekulierens und „Meinens“, dessen Ergebnisse (angeblich) revisionsrechtlich kaum zu überprüfen sind. Der BGH hat zum Merkmal der Eignung zur Friedensstörung ausgeführt: „Solche Gefährdungsdelikte sind eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte . . . Für die Eignung zur Friedensstörung ist deshalb zwar der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht erforderlich . . . Notwendig ist allerdings eine konkrete Eignung zur Friedensstörung; sie darf nicht nur abstrakt bestehen . . . und muss – wenn auch aufgrund generalisierender Betrachtung – konkret festgestellt sein . . . Deshalb bleibt der Gegenbeweis der nicht gegebenen Eignung zur Friedensstörung im Einzelfall möglich.“73
In diesen Ausführungen, die sich ähnlich in zahlreichen Entscheidungen des BGH sowie der Oberlandesgerichte finden, spiegelt sich aber das Dilemma tatrichterlicher Feststellungen zur Friedensschutz-Klausel wider. Der Unterschied zwischen „konkreter Gefahr“ und „konkreter Eignung“ bleibt vor dem Hintergrund der schwer fassbaren Definition des „Störungs“-Erfolgs unbestimmt; in der Rechtsprechung findet sich ein buntes Bild von Umschreibungen, die Abgrenzungen zwischen Gefährdung und Erfolg vielfach nicht erkennen lassen. Auch die zitierte BGH-Entscheidung entgeht dieser Gefahr nicht: Die Formulierung „Notwendig ist eine konkrete Eignung . . .; sie muss konkret festgestellt sein“ gibt dem Tatrichter keine Orientierung, um welche „Feststellung“ es sich eigentlich handelt; das wird noch durch die abschließende Formulierung verstärkt: „Deshalb bleibt der Gegenbeweis . . . im Einzelfall möglich.“ Die Möglichkeit des Gegenbeweises kann sich nicht („deshalb“) aus dem Erfordernis der konkreten Feststellung der konkreten Eignung ergeben; denn Tatsachenfeststellungen sind stets „konkret“. Gemeint ist wohl, dass Indizien für eine Eignung, die sich aus nicht genannten Umständen ergeben74, durch andere Indizien widerlegt werden können. Das ist freilich keine Besonderheit von Eignungs-Delikten. Außer 71 Ein auf empirische Zustände abstellendes Verständnis steht stets vor dem Dilemma, dass es auf die Bedeutung inkriminierter Äußerungen letztlich gar nicht ankommt. Die „Gefühle“ einer manipulierten, fehlgeleiteten oder fanatisierten Öffentlichkeit können gerade auch durch zutreffende Äußerungen verunsichert werden. 72 Anders dagegen noch § 126 RStGB (Landzwang). 73 BGHSt 46, 212, 218; ähnlich BVerfG (Fn. 10), Rn. 103. 74 Es liegt nahe, dass die Verwirklichung der gesetzlich beschriebenen Tathandlung indiziell für eine Rechtsguts-Gefährdung sein soll (vgl. auch BVerfG [Fn. 10] Rn. 85, 102; OLG Celle NStZ 1997, 495 m. Anm. Popp, JR 1997, 80; Rudolphi/Stein, in: SKStGB [Fn. 32], § 130 Rn. 1f). Vgl. auch § 92 Abs. 1 StGB-DDR („Faschistische Propa-
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dem Umstand, dass eine Äußerung nicht öffentlich erfolgte, sind in der Rechtsprechung beweisfähige Eignungs-Tatsachen und „Gegenbeweise“ nicht bekannt geworden. Die verwendeten Formeln zur „konkreten Feststellung“ und ihrer Beweisgrundlage täuschen Bestimmtheit daher nur vor, verweisen in Wahrheit aber auf normative Begriffe, ohne diese aufzulösen. Vor diesem Hintergrund musste es sehr erstaunen, dass der Gesetzgeber des § 130 Abs. 4 StGB die Regelung, in Abweichung von den anderen Vorschriften, die das Merkmal der Friedensstörung enthalten, als Erfolgsdelikt formuliert hat: Für Abs. 4 reicht die Eignung der Äußerung, den öffentlichen Frieden zu stören, nicht aus; vielmehr muss eine Störung tatsächlich eingetreten sein.75 Es drängt sich zunächst die Annahme auf, dass dies vor allem zwei Folgen haben müsste: Zum einen müsste es die Gerichte, aber auch die strafrechtliche Literatur nötigen, endlich Kriterien zu entwickeln, anhand derer zwischen einem StörungsErfolg und einem Eignungs-Erfolg zu unterscheiden ist.76 Zum anderen liegt die Annahme nahe, angesichts der vagen Unkonkretheit des Friedensstörungs-Merkmals sei eine praktische Anwendung der Strafvorschrift von vornherein fast ausgeschlossen; es handle sich also möglicherweise um einen Fall nur „symbolischer“ Strafgesetzgebung, deren Ziel sich in einem demonstrativen „Zeichen-Setzen“ erschöpfe. Beide Annahmen mögen im Grundsatz zutreffen. Der vom BVerfG entschiedene Fall zeigt aber, dass noch wichtiger ein dritter Aspekt ist, der sich aus dem tagespolitischen Anlass des § 130 Abs. 4 StGB ergibt77: Die Regelung zielte vor allem darauf ab, eine Rechtsgrundlage für verwaltungsrechtliche Eingriffe zu schaffen, die ihrerseits an Gefahren-Lagen anknüpfen, namentlich für die Untersagung von Versammlungen bei Vorliegen der Gefahr der Begehung von Straftaten (§ 15 Abs. 1 VersammlG). Aus diesem Blickwinkel war es daher nur konsequent, in § 130 Abs. 4 nicht nur die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung vorauszusetzen, denn verwaltungsrechtliche Verbote, welche an die Prognose der Gefahr einer Gefahr anknüpften, wären auf verfassungsrechtlich unsicheren Grund gebaut. Die „Eignung zur Störung“ wird so auf einem Umweg über § 15 Abs. 1 VersammlG wieder in die Gesamt-Anwendungsregelung eingebaut. Damit wird aber deutlich, dass die Formulierung des § 130 Abs. 4 letztlich eher als Umgehung der Gefährdungs-Problematik konzipiert ist: Der strafrechtliche Tatbestand ganda, Völker- und Rassenhetze“) und dazu Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR, Strafrecht der DDR, Kommentar, 5. Aufl. 1987, 3. 75 BVerwGE 131, 216, Rn. 51; Fischer StGB57 (Fn. 4), § 130 Rn. 14b; Krauß, in: LK12 (Fn. 32), § 130 Rn. 120; Ostendorf, in: NK3-StGB (Fn. 32), § 130 Rn. 36; Lohse, in: SSW-StGB (Fn. 32), § 130 Rn.42; Rudolphi/Stein, in: SK-StGB (Fn. 32), § 130 Rn. 32; Rössner/Krupna, in: HK-GS (Fn. 32), § 130 Rn. 11. 76 Vgl. dazu Lohse, in: SSW-StGB (Fn. 32), § 130 Rn. 42; Fischer, StGB57 (Fn. 4), § 130 Rn. 40. 77 Vgl. oben I.
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ist absichtsvoll als bloße Hilfsvorschrift polizeirechtlicher Eingriffsnormen geschaffen worden. Wenn es dem Strafgesetz aber konzeptionell nicht um Verfolgung und Verurteilung von Straftätern, sondern um Verhinderung von Gefährdungslagen durch verwaltungsrechtliche Eingriffe geht, kommt eine solche Konstruktion einem Missbrauch des Strafrechts für Zwecke des Polizeirechts nahe.78 IV. Neubestimmung der Friedensschutzklausel 1. Abweichende Konzepte Die Auslegung der Friedensschutz-Klausel durch Rechtsprechung und h. M. ist in Teilen der Literatur, mit umgekehrter Zielrichtung aber auch im rechtspolitischen Raum auf Widerspruch gestoßen. Kritik richtete sich einerseits gegen die Unbestimmtheit der Regelung, namentlich der Rechtsgutsbestimmung, und eine hierdurch unvorhersehbare und zu weite Ausdehnung des Tatbestands.79 Aus entgegen gesetztem Blickwinkel wurde die Streichung der Formel gefordert, weil sie die Strafbarkeit, namentlich von Taten nach § 166 Abs. 1 StGB, übermäßig einschränke.80 Nach einer dritten, vom Verf. vertretenen81 Auffassung bestehen, wenn die Klausel als strafbegründendes Merkmal auf empirische Gegebenheiten bezogen wird, unabhängig von der Ausgestaltung als Gefährdungs- oder Verletzungsdelikt Bedenken im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz. Struktur und Anwendung der Klausel legen nahe, sie abweichend von der h. M. nicht als Beschreibung empirischer Tatsachen zu verstehen, sondern als normative Formel, die eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte, letztlich auf das Rechtsgut öffentliche Sicherheit82 bezogene Strafwürdigkeits-Erwägung enthält. „Objektiver öffentlicher Friede“ ist danach deckungsgleich mit öffentlicher Sicherheit, also
78 Ob man von einer neuen Qualität der Vermischung von Straf- und Polizeirecht sprechen kann, mag dahinstehen. „Strafrechtsakzessorisches“ Verwaltungsrecht ist nicht grds. ungewöhnlich (vgl. etwa § 53 AufenthG). Verfassungswidrig wäre es freilich, wenn die strafrechtliche Anknüpfungsnorm von vornherein gar keinen eigenständigen praktischen Anwendungsbereich hätte (oder haben sollte). 79 Siehe etwa Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000, S. 25 ff.; Hörnle (Fn. 45), S. 96 ff., 239, 306; vgl. dazu auch von Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, 2006, S. 118 ff. m.w. Nachw. 80 So wiederholte Gesetzesanträge des Freistaats Bayern, mit denen die Streichung der Friedensschutzklausel vorgeschlagen wurde, um eine weiterreichende Strafbarkeit religionsbeschimpfender Äußerungen zu ermöglichen; vgl. BR-Drs. 367/86 (krit. dazu Fischer, NStZ 1988, 159); 460/98; BT-Drs. 13/10666; 14/4558 (vgl. dazu auch Fischer, StGB57 [Fn. 4], § 166 Rn. 2c). 81 Fischer (Fn. 42), S. 493 ff., 609 ff.; ders., NStZ 1988, 159; ders., GA 1989, 445 ff.; ders., StGB57 (Fn. 4), § 126 Rn. 3, 9f., § 130 Rn. 14a; § 166 Rn. 14. 82 Im Sinn des Schutzes der rechtlich geschützten Individual- und Kollektivgüter.
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der Gesamtheit rechtlich geschützter individueller und überindividueller Rechtsgüter83, „subjektiver öffentlicher Friede“ nicht Summe, Durchschnitt oder Mehrheit der tatsächlichen Gefühle der in Deutschland lebenden Menschen (Bevölkerung), sondern eine vor der Folie der in den Friedensschutz-Tatbeständen angesprochenen Grundrechte auszulegende Wertungsklausel: Es geht bei der „Feststellung“ einer Störung (oder der Eignung hierzu) nicht darum, was alle fühlen (oder wollen), sondern darum, was alle fühlen (oder wollen) sollen.84 2. Friedensstörung als Wertungsklausel a) In einer Entscheidung vom 16. April 200585 hat die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG auf eine Verfassungsbeschwerde einen Beschluss des OVG Mecklenburg-Vorpommern aufgehoben, weil er „in rechtlicher Hinsicht offensichtlich nicht tragfähig“ sei.86 Das OVG hatte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen eine versammlungsrechtliche Verbotsverfügung abgelehnt und dies darauf gestützt, die geplante Demonstration unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge“ werde voraussichtlich den öffentlichen Frieden stören (§ 15 Abs. 1 VersammlG i.V. mit § 130 Abs. 4 StGB). Man könne „in der Regel davon ausgehen“, dass die Verwirklichung der in § 130 Abs. 4 StGB beschriebenen Tathandlungen und einer Verletzung der Menschenwürde der Opfer des NS-Herrschaft den öffentlichen Frieden störe. Eine Friedensgefährdung hafte entsprechenden rechtsextremistischen Äußerungen nämlich regelmäßig an.87 Dem ist das BVerfG unter Berufung auf Verfassungsgrundsätze entgegen getreten: „§ 130 Abs. 4 StGB definiert das Schutzgut mit drei Tatbestandsmerkmalen: (1) die Störung des öffentlichen Friedens, und zwar (2) in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise, die dadurch erfolgt, dass (3) die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht oder gerechtfertigt wird (. . .) Eine strafrechtliche . . . Verurteilung setzt voraus, dass eine Störung des öffentlichen Friedens tatsächlich eingetreten ist (. . .) Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit kommt daher nur in Betracht, wenn hinreichend wahrscheinlich ist, dass der öffentliche Friede tatsächlich gestört werden wird. Das OVG macht diese Bezugnahme auf ein echtes Erfolgsdelikt . . . dadurch hinfällig, dass es von einer Vermutungswirkung ausgeht . . . Würde eine solche Konstruktion im Rahmen des Strafrechts angewandt, handelte es sich um eine Vermutungswirkung zu Lasten des Täters. Derartige strafbegründende Vermutungsregelungen, die ein objektiv nicht festgestelltes Merkmal des gesetzlichen 83 84 85 86 87
Ebenso Hörnle (Fn. 45), S. 92 ff. m.w. N. Fischer (Fn. 42), S. 521. Beschl. v. 16.4.2005 – 1 BvR 808/05, NJW 2005, 3202. Hervorhebung vom Verf. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss v. 15.4.2005 – 3 M 54/05.
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Tatbestandes aus einem anderen gesetzlich festgeschriebenen Umstand ableiten und dem Angeklagten die Beweislast überbürden, dass die zu seinen Lasten angenommene Tatsache nicht vorgelegen habe, sind . . . mit dem Schuldgrundsatz nicht vereinbar.“88
Zu derselben Frage führt die Senatsentscheidung vom 4. November 2009 nun aus: „Die Tatsache, dass der öffentliche Friede bei hinreichend begrenztem Verständnis ein geeignetes Schutzgut der Strafgesetzgebung sein kann, besagt noch nicht, dass auf diesen Begriff ohne weiteres auch als Tatbestandsmerkmal zurückgegriffen werden kann . . . Verstanden als Tatbestandsmerkmal, das eigenständig strafbegründend wirkt, wirft der Begriff des öffentlichen Friedens . . . Zweifel hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz auf. (. . .) Demgegenüber bestehen gegen das Tatbestandsmerkmal . . . dann keine Bedenken, wenn die . . . Störung des öffentlichen Friedens durch andere . . . Tatbestandsmerkmale umschrieben wird, die bereits für sich die Strafandrohung jedenfalls grundsätzlich zu tragen vermögen (. . .) Grundsätzlich begründet bereits die Verwirklichung der anderen Tatbestandsmerkmale die Strafbarkeit, bei deren Erfüllung auch die Störung des öffentlichen Friedens (oder die Eignung dazu) vermutet (sic!) werden kann (. . .) Bei dem öffentlichen Frieden handelt es sich insoweit nicht um ein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal, sondern um eine ,Wertungsformel zur Ausscheidung nicht strafwürdig erscheinender Fälle‘ (. . .) Aus diesem Kontext heraus wird die Störung des öffentlichen Friedens auch als Tatbestandsmerkmal bestimmbar: Sie besteht in einem Absenken der Schwelle der Gewaltbereitschaft und in der bedrohenden Wirkung, die solchen Äußerungen vor dem speziellen Hintergrund der deutschen Geschichte in der Regel zukommt.“89
Beide Begründungen stehen in erkennbarem Widerspruch zueinander. Die das Ergebnis tragende Begründung der Entscheidung vom 4. November 2009 besagt das Gegenteil der tragenden Begründung der Entscheidung vom 16. April 2005: Während nach der ersten Entscheidung die Rechtsanwendung nur dann mit dem Schuldgrundsatz vereinbar ist, wenn eine „Vermutungswirkung“ der Tathandlungsbeschreibung für die Störung des Öffentlichen Friedens ausgeschlossen ist, legt die zweite Entscheidung dar, eine Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG sei nur und gerade dadurch gegeben, dass die Verwirklichung der Tathandlung eine Vermutung für die Friedensstörung begründet. Es ist deshalb erstaunlich, dass der Senat im Beschluss vom 4. November 2009 die Entscheidung vom 16.4.200590 gar nicht erwähnt hat.
88
BVerfG NJW 2005, 3202, Rn. 15 ff. (Hervorhebungen vom Verf.). BVerfG (Fn. 10), Rn. 93 ff. (Hervorhebungen vom Verf.). 90 An der auch zwei Richter beteiligt waren, die an der Senatsentscheidung mitgewirkt haben. 89
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b) Der Entscheidung vom 4. November 2009 ist zuzustimmen, soweit Elemente der rein normativen Definition (oben IV. 1.) aufgegriffen werden. Unklar erscheinen hingegen jedenfalls auf den ersten Blick die Ausführungen, nach denen dieses Verständnis der Friedensschutzklausel mit einem empirischen Tatmerkmalsbegriff „kombiniert“ zu werden scheint: Das Merkmal „Störung des Öffentlichen Friedens“ erfüllt danach nicht die Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit von strafbegründenden Tatbestandsmerkmalen (Art. 103 Abs. 2 GG), wenn es als empirisches Merkmal und „eigenständiges“ Unrechtsmerkmal verstanden wird. Nach (zutr.) Ansicht des Senats handelt es sich aber, entgegen der bisher ganz h. M., nicht um ein solches, sondern um eine „Wertungsformel“. Die Störung des Öffentlichen Friedens ist somit kein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal; dem Merkmal kommt „keine strafbegründende Funktion“ zu. Mit diesen klaren Aussagen ist das Nachfolgende schwer vereinbar: Dass das Merkmal der Störung des öffentlichen Friedens dann „als Tatbestandsmerkmal bestimmbar“ wird, wenn ihm (nur) die Funktion einer Wertungsformel für die Strafwürdigkeit zukommt, leuchtet nicht ein; ebenso wenig die daran anschließende Annahme, diese Wertungsformel beschreibe Taterfolge in Gestalt eines „Absenkens der Schwelle der Gewaltbereitschaft“ sowie einer „bedrohenden Wirkung“. Denn solche Erfolge müssten wohl ihrerseits wiederum empirisch festgestellt werden;91 überdies bleibt fraglich, wie die Kriterien für die Wertung im Einzelnen beschaffen sein und vom Gericht angewendet werden sollen. Hieraus können sich Unklarheiten vor allem auch im Hinblick auf die Anforderungen des subjektiven Tatbestands ergeben: § 130 Abs. 4 StGB setzt, nach allgemeinen Regeln, Vorsatz hinsichtlich aller unrechtsbegründenden Merkmale des Tatbestands voraus. Es kann nicht offen bleiben, ob der Vorsatz des Täters die Störung des öffentlichen Friedens (als „hinreichend bestimmtes Tatbestandsmerkmal“) einbeziehen oder (als „Wertungsformel“) nicht einbeziehen muss. Die Differenzierung zwischen der („vollendeten“) Störung des öffentlichen Friedens (§ 130 Abs. 4) und der bloßen „Eignung“ hierzu (§ 130 Abs. 1 bis 3; §§ 126, 140, 166 StGB) löst sich mit dem neuen Verständnis des Merkmals als Strafwürdigkeits-Wertung auf. Das entspricht der bislang schon gängigen Praxis, die – mangels jeglicher Feststellungen zum empirischen Befund – auch in der Vergangenheit großzügig bei denselben Sachverhalten einmal von Störung, einmal von Eignung hierzu sprach und von beidem regelmäßig behauptete, es stehe „außer Frage“. Es entspricht im Übrigen auch der Intention des Gesetzgebers, der die Vorschrift in scharfsinniger Erkenntnis ihrer strafrechtlichen Struktur bei gleichzeitig bemerkenswerter Verkennung der Legitimationsgrundlagen strafrechtlicher Tatbestände allein mit Blick auf die Gefahr-Prognose des § 15 Abs. 1 91 Dass „Absenken“ als Handlung und „bedrohende Wirkung“ als Handlungserfolg gleichermaßen das Merkmal „Störung des öffentlichen Friedens“ definieren sollen, ist auch sprachlich missverständlich.
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VersammlG konzipiert hat: Da es ihm sowieso nur darum ging, einen Anknüpfungspunkt für polizeirechtliche Besorgnisse zu schaffen, kam es auf die strukturelle und praktische Unanwendbarkeit des § 130 Abs. 4 StGB als „Erfolgsdelikt“ gar nicht an. Daher ist auch die gerichtliche Praxis von der Hürde der „Erfolgs“Feststellung nicht beeindruckt worden: Die nach Einfügung des Abs. 4 nach dieser Vorschrift beurteilten Sachverhalte unterscheiden sich, soweit es den „öffentlichen Frieden“ betrifft, in Nichts von Anwendungen der Absätze 1 bis 3. V. Schlussfolgerungen Für die Anwendung des § 130 Abs. 4 StGB ergibt aus der Entscheidung Folgendes: Nach dem Wortlaut des Tatbestands und bisher herrschender Auffassung müsste eine Verurteilung voraussetzen, dass vom Gericht ein Taterfolg „Störung des öffentlichen Friedens“ festgestellt wird. Nach zutreffender Darlegung des BVerfG bestehen gegen eine solche Auslegung aber durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken, weil der tatsächliche Eintritt von Erscheinungen wie „Unsicherheit der (aller) Rechtsgüter“, „Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas“ oder „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“ sich einer empirischen Feststellung im Strafverfahren entzieht; ebenso Ergebnisse wie das (vom BVerfG erwähnte) „Absenken der Schwelle der Gewaltbereitschaft“ oder eine unkonkret „bedrohende Wirkung“. Hieraus ist mit dem BVerfG der Schluss zu ziehen, dass es sich bei der Störung des öffentlichen Friedens „nicht um ein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal“ handelt. Aus der recht unklar erscheinenden Erwägung des BVerfG, der Begriff sei als strafbegründendes Merkmal nicht hinreichend bestimmt i. S. von Art. 103 Abs. 2 GG, im Kontext der (regelmäßig zu vermutenden) Handlungsgefährlichkeit aber letztlich „auch als Tatbestandsmerkmal bestimmbar“92, ergibt sich im Ergebnis nichts anderes: Danach ist der Begriff der Störung des öffentlichen Friedens weder als Handlungsbeschreibung noch als Beschreibung eines Handlungserfolgs geeignet, den tatbestandlichen Unrechtsgehalt einer Tat nach § 130 Abs. 4 StGB zu bestimmen. Dieser ergibt sich vielmehr schon aus der Tathandlung, deren Verwirklichung „bereits für sich“ die Strafbarkeit begründet93: Öffentliches oder in einer Versammlung begangenes Billigen (usw.) der NS-Herrschaft unter Verletzung der Menschenwürde der Opfer. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so kann „die Störung des öffentlichen Friedens (bzw. die Eignung dazu) vermutet werden“94; nicht anders als die Störung der Sicherheit des Straßenverkehrs bei Verwirklichung einer Tathandlung nach §§ 315b, 315c StGB oder als die Störung
92 93 94
BVerfG (Fn. 10), Rn. 95. BVerfG (Anm. Fn. 10), Rn. 95. BVerfG (Fn. 10), Rn. 95.
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der Sicherheit von Leib und Leben beim Inbrandsetzen von Wohngebäuden (§ 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Für § 130 Abs. 4 muss daher eine „Störung des öffentlichen Friedens“ nicht positiv festgestellt werden; es kommt nicht darauf an, ob Strafanzeigen eingehen oder die Presse über die Äußerung berichtet.95 Hieraus folgt, dass sich auch der Vorsatz des Täters auf einen solchen tatsächlichen Erfolg seines Handelns nicht beziehen muss. Die als „Taterfolg“ formulierte Formel umschreibt vielmehr nur das gesetzgeberische Motiv und die Strafwürdigkeit der abstrakt gefährlichen Tathandlung. Ist diese vorsätzlich begangen, ist der Unrechtstatbestand regelmäßig verwirklicht.96 Zwischen „Störung“ und „Eignung zur Störung“ besteht kein qualitativer Unterschied, da beide Formulierungen nicht einen tatsächlichen empirischen Zustand zum Inhalt haben, sondern das dem Strafrecht allgemein zugrunde liegende Erfordernis der Strafwürdigkeit, also einer am Grundsatz des Rechtsgüterschutzes97 und an Maßstäben der Verfassung orientierten Legitimität der Strafdrohung.98 Ein Unterschied der Friedensschutz-Tatbestände zu anderen Gefährdungsdelikten soll sich daraus ergeben, dass die Vermutung der Rechtsgutsverletzung, die mit der vorsätzlichen Verwirklichung der Tathandlungen gegeben ist, nach Maßgabe der „Wertungsformel“ vom öffentlichen Frieden widerlegbar sein soll. Hierin liegt freilich ein Widerspruch: Von „Widerlegbarkeit“ lässt sich nur sprechen, wenn es um die Berücksichtigung von (neuen) Tatsachen geht; eine „Wertungsformel“ hingegen hat den Sinn, die Kriterien zu bestimmen, nach Maßgabe derer bereits bekannte Tatsachen zu bewerten sind. Das ist mit der vom BVerfG verwendeten Beschreibung gemeint, bei der Friedensstörung handle es sich um eine Formel „zur Ausscheidung nicht strafwürdig erscheinender Fälle“.99 Dies ist keine Frage einer (dem Beweis wie dem Vorsatz zugänglichen) „Widerlegung“, sondern eine solche der richterlichen Bewertung. Dass diese an Kriterien geknüpft wird, die über eine vage Umschreibung der allgemeinen Legitimität von Strafrecht („Gefühl der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden zu leben“) und Bezugnahmen auf dessen positiv generalpräventive Wirkungen nicht hinausgehen, ist ein fortbestehendes Problem, das durch die Ausführungen des BVerfG nicht gelöst wird. Die praktische Anwendung der Vorschrift des § 130 Abs. 4 StGB ist durch die Entscheidung insoweit einfacher geworden, als weder die positive Feststellung eines „friedenstörenden“ Handlungserfolgs noch eines hierauf gerichteten Täter95
So etwa OLG Rostock StraFo 2007, 515. BVerfG (Fn. 10), Rn. 94. 97 Zum Stellenwert der Rechtsguts-Erörterungen des BVerfG, auch vor dem Hintergrund der „Inzest-Entscheidung“, vgl. aber schon oben Fn. 31. 98 Vgl. Fischer (Fn. 42), S. 600, 602. 99 BVerfG (Fn. 10), Rn. 94 unter Bezugnahme auf Fischer StGB56, § 130 Rn. 14b. 96
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vorsatzes erforderlich sind. Wenn freilich die Friedensschutz-Klausel nicht mehr enthält als einen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit der Bestrafung im Einzelfall nach Maßgabe richterlicher Wertungen über die Legitimität strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes im Allgemeinen, so ist ein solcher, praktisch uferloser Vorbehalt entweder überflüssig oder unbestimmt. Rechtspraxis und herrschende Lehre möchten, nach allen Erfahrungen, vermutlich weiterhin mit der Formel arbeiten, die nun kein (unzureichend bestimmtes) strafbegründendes Tatbestandsmerkmal mehr formulieren soll, sondern ein („hinreichend bestimmtes“) Ausscheidungs-Merkmal für nicht Strafbedürftiges. Nach hier vertretener Ansicht freilich stellt sie, indem sie die Legitimationsgrundlage des Strafrechts selbst zum Kriterium freien richterlichen Meinens erhebt, Grundsätze rechtsstaatlicher Tatbestandsbildung in Frage. Die Friedensschutzklauseln sollten endlich gestrichen und die betreffenden Tatbestände – soweit erforderlich – unter Beachtung grundrechtlicher Gewährleistungen zu „normalen“ abstrakten Gefährdungsdelikten umgestaltet werden.
Wider das Dogma vom Finalzusammenhang bei Raub und sexueller Nötigung Von Tatjana Hörnle I. Mögliche Verknüpfungen von Gewalt mit einer zweiten Handlung Gegenstand meiner Erörterung sind die zweiaktigen Delikte in § 249 Abs. 1 und § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB, soweit diesen gemeinsam ist, dass der Täter Gewalt angewandt und eine zweite Handlung vorgenommen hat (Wegnahme einer Sache oder sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers).1 Analysiert man die vorstellbaren Verbindungen zwischen den beiden Elementen eines solchen mehraktigen Tatbestandes, so ergeben sich mehrere Möglichkeiten: • nur zeitliche Nähe von Gewalt und der zweiten Handlung; • eine objektive Verknüpfung der Gewalt mit der zweiten Handlung (entweder in Form von Kausalität oder in anderer Weise als funktionaler Zusammenhang); • eine subjektive Verknüpfung in Form eines Finalzusammenhangs (Absicht des Täters bei der Gewaltanwendung, dass diese die zweite tatbestandliche Handlung ermöglichen solle). In den zu untersuchenden Tatbeständen lautet die einschlägige Formulierung: „mit Gewalt“. Diese Worte lassen Interpretationsspielraum.2 Der Wortlaut (und die dementsprechend durch Art. 103 Abs. 2 GG gezogenen Grenzen) gebietet lediglich den Ausschluss der zuerst erwähnten Auslegungsmöglichkeit: Bloße zeitliche Nähe kann nicht gemeint sein. „Mit Gewalt“ lässt auf eine engere Verbindung zwischen den beiden Handlungen schließen als sie etwa in der vorstellbaren Fassung „Gewalt anwendet und . . .“ zum Ausdruck käme.3 Es bedarf deshalb einer objektiven oder subjektiven Verknüpfung. Genauer analysiert, wären folgende Varianten vorstellbar:
1 In Anbetracht des beschränkten Umfangs eines Festschriftbeitrags wird die Handlungsvariante „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ ausgeklammert. 2 So auch Brandts, Der Zusammenhang von Nötigungsmittel und Wegnahme beim Raub, 1990, S. 25 f. 3 Müller-Dietz/Backmann, JuS 1971, 412, 418.
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1. Variante: Es bedürfe sowohl einer objektiven Verknüpfung als auch einer finalen Verbindung in der Vorstellungswelt des Täters. Diese Variante wird für den Raub von einer Minderheitsmeinung in der strafrechtlichen Literatur vertreten,4 für § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB findet man sie vereinzelt auch in der Rechtsprechung.5 2. Variante: Es bedürfe zwingend eines subjektiv-finalen Konnexes, ein solcher genüge aber auch (dies ist die Auffassung der Rechtsprechung6 und der herrschenden Lehre7). 3. Variante: Eine objektive Verknüpfung sei erforderlich, ohne dass aber ein Finalzusammenhang bestehen müsse. Diese Auffassung soll hier verteidigt werden. 4. Variante: Vorstellbar wäre auch folgende Schlussfolgerung: Es genüge entweder ein objektiver Zusammenhang oder ein Finalzusammenhang. Anliegen meines Beitrages ist es zum einen, die in Rechtsprechung und Literatur bislang weitgehend unstreitige Interpretation zu kritisieren, nämlich die Auffassung, dass zwischen den beiden tatbestandlichen Handlungen als entweder einziges oder jedenfalls notwendiges Verbindungselement ein finaler Zusammenhang bestehen müsse. Diese „Lehre vom Finalzusammenhang“ kann als echtes Dogma eingeordnet werden, d.h. als Lehrsatz, der (fast)8 allgemein als unumstößlich richtig gilt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die ständige Rechtsprechung nicht auf tragfähigen Argumenten beruht. Zum anderen ist unabhängig von „herrschend“ und „ständig“ zu untersuchen, welche Zusammenhänge zwischen Gewalt und Wegnahme oder Gewalt und sexuellen Handlungen vorliegen müssen, damit der Täter aus § 249 oder § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB bestraft werden kann.
4 Sinn, in: SK-StGB, Stand Nov. 2009, § 249 Rn. 35 f., Rn. 43 (diese Ansicht geht auf Samson zurück, der Vorauflagen im SK bearbeitet hatte); Seelmann, JuS 1986, 201, 204; Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2, 2009, § 17 Rn. 11, Rn. 10; Joecks, StGB8, 2009, § 249 Rn. 22. 5 Siehe die Nachweise unten Fn. 49–52. 6 Siehe die Nachweise in Fn. 20. 7 Fischer, StGB57, 2010, § 249 Rn. 6; Kindhäuser, in: NK-StGB3, 2010, § 249 Rn. 11 f.; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 249 Rn. 4; Sander, in: MK-StGB, 2003, § 249 Rn. 24; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 249 Rn. 6; Küper, Strafrecht BT7, 2008, S. 181; Rengier, Strafrecht BT I11, 2009, § 7 Rn. 22; Wessels/Hillenkamp, BT/232, 2009, Rn. 322; Eser, NJW 1965, 377, 378; Müller-Dietz/Backmann, JuS 1971, 412, 418; Geilen, Jura 1979, 165; Biletzki, JA 1997, 385, 386 ff. 8 Gegen die ganz h. M.: Jakobs, in: Eser-FS, 2005, S. 323, 330, 332.
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II. Die Auslegung des Merkmals „mit Gewalt“ in § 249 Abs. 1 StGB 1. Bildung einer ständigen Rechtsprechung und ihre Rezeption im Schrifttum a) Der Beginn in BGHSt 4, 210 In einer später noch oft zitierten Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH aus dem Jahr 1953 (BGHSt 4, 210) ging es um einen Fall, in dem die Angeklagten ihr Opfer, das betrunken vor dem Bahnhof lag, an eine einsame Stelle geschleppt und dort zusammengeschlagen hatten, bis es „blutüberströmt und mit einer Gehirnerschütterung liegen blieb“.9 Danach nahmen sie ihm seine Kleidung sowie Gebrauchsgegenstände weg. Eine Auseinandersetzung mit diesem Urteil lohnt sich auch heute noch, und zwar aus zwei Gründen: Erstens kommt diesem eine Schlüsselstellung für die Ausbildung der späteren ständigen Rechtsprechung zum Finalzusammenhang zu; zweitens liegt ihr ein wenig überzeugendes Verständnis von Kausalität zugrunde. Hätten die damals entscheidenden Richter im NomosKommentar zum StGB die Analysen unserer verehrten Jubilarin Ingeborg Puppe zum Thema Kausalität10 lesen können, wäre uns die Lehre vom Finalzusammenhang vielleicht erspart geblieben. Das den Senat beschäftigende Rechtsproblem ergab sich aus Folgendem: Die Revision der Angeklagten brachte vor, dass zwischen der Gewaltanwendung und der Wegnahme kein ursächlicher Zusammenhang bestanden habe. Der BGH verwarf dies mit den Sätzen, dass „eine tatsächliche Ursachenbeziehung zwischen der Gewaltanwendung und der Wegnahme nicht wesentlich“ sei und dass es genüge, „wenn der Täter die Gewalt deshalb anwendet, weil er sie für geeignet hält, die Wegnahme zu ermöglichen; ob sie dazu wirklich erforderlich war, ist ohne Belang (vgl. RGSt 69, 330). Maßgeblich ist somit allein die Vorstellung und der Wille des Täters.“11 Liest man RGSt 69, 330 nach, so findet man lediglich die knappe Bemerkung, dass der Täter mit der Gewaltanwendung vorhandenen Widerstand brechen oder erwarteten Widerstand von vornherein unmöglich machen will.12 In der RG-Entscheidung ging es allerdings um einen versuchten Raub (zur Wegnahme war es nicht gekommen), so dass es deshalb nahe lag, die Verknüpfung von Gewalt und Wegnahme mit Verweis auf den Täterwillen zu formulieren. In BGHSt 4, 210 führte dann ein vermeintliches Problem mit der Kausalität dazu, dass der Senat befand, diese sei nicht nötig, sondern „allein die Vorstellung und der Wille des Täters“.
9
BGHSt 4, 210, 211. Puppe, in: NK-StGB3, 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 80 ff. Grundlegend dies., ZStW 92 (1980), 863 ff. 11 BGHSt 4, 210, 211. 12 RGSt 69, 327, 330; Hervorhebung durch mich. 10
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War aber tatsächlich Kausalität in Frage zu stellen? Die Urteilsbegründung benennt nicht die Maßstäbe der Prüfung. Der BGH hat allerdings schon in seinen ersten Urteilen die auf dem Prinzip des Wegdenkens beruhende Conditio-sinequa-non-Formel angewendet, derzufolge eine Handlung dann für einen Erfolg kausal wird, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.13 Es ist davon auszugehen, dass dies auch die Überlegungen waren, die hinter den Ausführungen in BGHSt 4, 210 standen. Nimmt man die massiven Gewalttätigkeiten (das Zusammenschlagen) in den Blick, so lässt sich die Gedankenführung wie folgt rekonstruieren: Auch beim Wegdenken dieses Umstandes wäre es vermutlich gelungen, dem Geschädigten Kleidung und Gegenstände wegzunehmen. Stellt man nicht auf die Wegdenk-Methode ab, sondern auf den tatsächlichen Geschehensablauf,14 wäre zu fragen: War die Tatsache, dass das Opfer nach den Schlägen „blutüberströmt mit einer Gehirnerschütterung liegen blieb“ eine notwendige Einzelursache für die Wegnahme?15 Eine eindeutige Antwort ist nicht möglich. Es war offensichtlich nicht mehr aufzuklären, wie tief die Bewusstseinstrübung war (der Geschädigte litt an Gedächtnisverlust). Im Sachverhalt wird das Opfer eingangs als „völlig betrunken“ bezeichnet, an anderer Stelle als „bewusstlos“. Das ist nicht dasselbe: Ein völlig betrunken Schlummernder kann noch in der Lage sein, beim Versuch, ihn zu entkleiden, soweit zu erwachen, um reagieren zu können. Möglicherweise hatte die Trunkenheit jedoch zu einem tiefen Koma geführt, so dass sich die weitere Beeinträchtigung durch das Zusammenschlagen nicht mehr auswirkte. Wenn der Senat (jedenfalls nach dem Grundsatz in dubio pro reo) unterstellte, dass der Geschädigte schon vor den Schlägen absolut reaktionsunfähig war, wäre dies nicht zu beanstanden. Es fehlt jedoch die Auseinandersetzung mit Kausalität im Hinblick auf das Wegschleppen des Opfers an eine uneinsehbare Stelle. Würde man die WegdenkMethode des BGH anwenden, so bliebe allerdings offen, was passiert wäre, wäre es nicht zum Ortswechsel gekommen – es ist unklar, ob zu nächtlicher Stunde mit Entdeckung zu rechnen gewesen wäre, und vor allem, wie sich Passanten verhalten hätten, wenn sie beim Passieren des Bahnhofsgeländes gesehen hätten, dass einem Betrunkenen seine Kleidung weggenommen wird. Das Verhalten von Menschen in schwierigen, Zivilcourage oder jedenfalls Engagement erfordernden Situationen fällt unterschiedlich aus. Wendet man in dubio pro reo an, käme man zum Ergebnis: vielleicht kein Einschreiten durch Dritte im hypothetischen Geschehensablauf und deshalb keine Kausalität des Wegschleppens für die Wegnahme. Aber an dieser Stelle ist nachzuhaken. Puppe liefert uns Vorgaben, die
13 BGHSt 1, 332, 333; 2, 20, 24 (dort wird verwiesen auf die „ständige und gefestigte Rechtsprechung aller deutschen Gerichte“). 14 Siehe dazu Puppe (Fn. 10), Vor §§ 13 ff. Rn. 90 ff. 15 Umfassender präzisiert bei Puppe (Fn. 10), Rn. 103: notwendiger Bestandteil einer nach Naturgesetzen hinreichenden Mindestbedingung.
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für einen Fall wie BGHSt 4, 210 zu einer überzeugenden Lösung führen. Sie unterscheidet zwischen Beweisproblemen, die entstehen, weil Beweismittel fehlen, um zu klären, welche von zwei Tatsachenalternativen vorlag, und Situationen, in denen der Hergang aus prinzipiellen Gründen unaufklärbar ist.16 Im letzteren Fall muss es genügen, dass die Verhinderung eines Kontakts mit möglicherweise rettend einschreitenden Personen für das Opfer das Risiko erhöht hat.17 Mit dieser Überlegung hätte in BGHSt 4, 210 eine kausale Verknüpfung zwischen dem ersten Teilakt (Gewalt in Form des Wegschleppens) und dem zweiten Teilakt bejaht werden können und müssen. Auf „Wille und Vorstellung“ der Täter zurückzugreifen, war nicht erforderlich. Für dieses Urteil, das in späteren Zitatketten als Beginn der Lehre vom Finalzusammenhang angeführt wird, ist Folgendes festzuhalten: 1. Der Verweis auf eine subjektive Verknüpfung von erster und zweiter Handlung war eine Verlegenheitslösung, die gewählt wurde, weil die an sich festzustellende Kausalbeziehung als problematisch angesehen wurde. 2. Die Reichweite der zentralen Aussage ist beschränkt. Der 4. Senat hat nicht entschieden, dass es in allen Fällen zwingend einer subjektiven Verknüpfung bedürfe. b) Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung 1964 entschied der 1. Strafsenat über den Fall eines misslungenen Kussversuches, bei dem der Täter das anhaltende Gerangel mit dem widerstrebenden Mädchen zum Abziehen ihrer Armbanduhr nützte (BGHSt 20, 32). In dieser Entscheidung tauchte eine Konstellation auf, die in den folgenden Jahren noch öfter Gerichte beschäftigt hat: die Aussage des Täters, dass es zu der Wegnahme erst aufgrund eines spontanen Vorsatzwechsels gekommen sei, während die verübte Gewalt ursprünglich anderen Zwecken gedient habe. In BGHSt 20, 32 wurde dieser Umstand nicht entscheidungsrelevant, weil die gewaltausübende Handlung noch andauerte, als der Täter von der Absicht „Kuss“ zur Absicht „Wegnahme“ wechselte. Aber es fasste der 1. Strafsenat das ältere Urteil BGHSt 4, 210 kurz mit den Worten zusammen: „die Gewalt muß also zum Zwecke der Wegnahme angewendet werden“, und zwar muss sie „ihm“ (gemeint ist: der Täter) Mittel zur Wegnahme sein.18 Hier liegt die Keimzelle für die Entwicklung einer ständigen Rechtsprechung – die auf einem Missverständnis beruht. Der BGH hat nämlich in BGHSt 4, 210 nur befunden: Wenn ein Finalzusammenhang besteht, dann genügt dies, dann ist ein Kausalzusammenhang nicht erforderlich. Es ist aber ein 16 17 18
Puppe (Fn.10), Vor §§ 13 ff. Rn. 133; dies., Strafrecht AT/1 (2002), § 2 Rn. 22 ff. Puppe (Fn. 10), Vor §§ 13 ff. Rn. 133. BGHSt 20, 32, 33; Hervorhebung durch mich.
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Denkfehler, die Aussage „Vorstellung und Wille des Täters genügt“ (hinreichende Bedingung) mit der Aussage „Vorstellung und Wille müssen immer vorliegen“ (notwendige Bedingung, d.h. auch dann, wenn ein Kausalzusammenhang selbst mit der Wegdenk-Methode problemlos festzustellen ist!) gleichzusetzen.19 In BGHSt 20, 32 wurde der Ausdruck „finale Verknüpfung“ noch nicht verwendet. Spätestens seit den frühen achtziger Jahren ist er aber gebräuchlich. Seither wird diese Formel kontinuierlich wiederholt.20 Auffallend ist allerdings: Es wurde in keiner Entscheidung auch nur ansatzweise begründet, warum das Tatbestandsmerkmal „mit Gewalt“, das nach seinem Wortlaut für verschiedene Auslegungen offen ist, im Sinne eines unabdingbar erforderlichen Finalzusammenhangs zu verstehen sei. Als ausreichende Begründung gilt die Zitierung früherer BGH-Entscheidungen, die aber ebenfalls nichts begründen, sondern in ihrer kettenartigen Struktur nur daran anknüpfen, dass BGHSt 20, 32 die Reichweite von BGHSt 4, 210 nicht richtig erfasste und BGHSt 4, 210 vorschnell auf eine subjektive Verknüpfung abstellte. In der praktischen Anwendung zeigen sich in späteren Entscheidungen Konsequenzen, die entstehen, wenn man einen Finalzusammenhang zur notwendigen Bedingung macht. Mangels finaler Verknüpfung scheidet nach ständiger Rechtsprechung eine Verurteilung wegen mit Gewalt begangenen Raubes aus, wenn der Täter den Wegnahmeentschluss erst dann fasst, wenn die aus anderen Gründen verübte Gewalthandlung abgeschlossen ist (aber das Opfer noch eingeschüchtert oder bewusstlos ist).21 Eine Auswertung der Rechtsprechung ergibt kein glanzvolles Bild. Eine „Lehre vom Finalzusammenhang“ gibt es genaugenommen nicht, vielmehr handelt es sich um ein ausschließlich selbstreferentiell verankertes Postulat, das wegen der zu oberflächlichen Beschäftigung mit Kausalität und der Unfähigkeit zur Differenzierung zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen entstand. Erstaunlich ist auch, wie wenig diese Rechtsprechung in der Literatur hinterfragt wird. Die Behauptung, dass ein Finalzusammenhang zwingende Voraussetzung für die Anwendung des § 249 StGB sei, findet sich in Lehrbüchern und Kommentaren,22 ohne dass überprüft wird, ob dies wirklich die einzige oder je19 Siehe zur Notwendigkeit, zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu unterscheiden, auch Joerden, Logik im Recht2, 2010, S. 20 f.; Puppe (Fn. 10), Vor §§ 13 ff. Rn. 102. 20 BGH NStZ 1982, 380; BGHSt 41, 123, 124; BGH NStZ 1993, 79; NStZ-RR 1997, 298; NStZ-RR 2002, 304, 305; BGHSt 48, 365, 368; BGH NStZ 2009, 325. Ohne Verwendung des Begriffs „final“, aber der Sache nach identisch BGH NStZ 1999, 510. 21 BGH NStZ 1982, 380; BGHSt 41, 123, 124; BGH NStZ-RR 1997, 298; NStZ 1999, 510; BGHSt 48, 365, 368; BGH NStZ-RR 2002, 304, 305. Eine Verurteilung wegen Raubes sei nur dann möglich, wenn die zuvor verübte Gewalt als Drohung erneuter Gewaltanwendung fortwirke (BGH NStZ 1982, 380; BGHSt 41, 123, 124; BGH NStZ 1999, 510; NStZ-RR 2002, 304, 305), was aber offensichtlich bei Bewusstlosigkeit des Opfers ausscheidet. 22 Siehe die Nachweise oben Fn. 7.
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denfalls die überzeugendste Auslegungsmöglichkeit ist. Selbst die in der Minderheit bleibende Auffassung, die zusätzlich zu einem Finalzusammenhang auch noch einen Kausalzusammenhang verlangt,23 stellt nicht in Frage, dass ein Finalzusammenhang (jedenfalls eine) notwendige Bedingung sei. Für die Strafrechtswissenschaft genügt es offenbar, darauf hinzuweisen, dass dies unstreitig sei24 und es eine „ständige Rechtsprechung“ gibt. Teilweise wird sogar behauptet, dass sich aus dem Wortlaut des § 249 StGB ergebe, dass die Gewalt final zur Wegnahme eingesetzt werden müsse.25 Dies ist jedoch nicht der Fall: Die Formulierung „mit Gewalt“ bringt keine solche Anforderung mit sich. 2. Bedarf es eines Finalzusammenhangs? Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals „mit Gewalt“ in § 249 StGB zu skizzieren, die nicht die etablierte Meinung nachzeichnet. Bedeutsamer als der wenig Anhaltspunkte liefernde Wortlaut ist folgender Umstand: Der Strafrahmen liegt erheblich über dem, was die Tatbestände vorsehen, die bei einer isolierten Bewertung der Teilakte Gewalt (§§ 223, 240 StGB) und Wegnahme (§ 242 StGB) anzuwenden wären. Die Frage, welche Verbindung zwischen den Teilakten zu fordern ist, muss bei diesem Umstand ansetzen. Zur Erklärung des Strafrahmens gibt es zwei mögliche Ausgangspunkte. Zum einen ist zu erörtern, wann eine Koppelung von Gewalt und Wegnahme zur Folge hat, dass das Tatunrecht erhöht wird. Zum anderen ist zu erwägen, ob sich eine Rechtfertigung oder jedenfalls Erklärung aus dem Gedanken der Abschreckung ergibt, und ob hieraus wiederum zu folgern ist, dass ein Finalzusammenhang zwischen Gewalt und Wegnahme bestehen muss (dazu unten b)). a) Tatunrecht als Anknüpfungspunkt Für die Bewertung von Unrecht ist nicht primär darauf zu fokussieren, was der Täter beabsichtigt,26 sondern ausschlaggebend ist in erster Linie, was er in der 23
Siehe die Nachweise oben Fn. 4. So etwa Seelmann, JuS 1986, 201, 203; Walter, NStZ 2004, 153. 25 Eser, NJW 1965, 377, 378; Schünemann, JA 1980, 349, 352; Biletzki, JA 1997, 385, 386. 26 Damit ist kein genereller Einwand gegen die sog. kupierten Erfolgsdelikte verbunden. Es wäre etwa beim Diebstahl unzweckmäßig, Tatbestandserfüllung erst dann anzusetzen, wenn Stunden oder Tage nach der Wegnahme der Täter seine Pläne für die eigene Nutzung des Diebesguts tatsächlich umgesetzt hat. Es gibt deshalb gute Gründe, dass der Gesetzgeber bei den §§ 242, 249 StGB das Element der Zueignung in der subjektiven Variante der Zueignungsabsicht vorgesehen hat. Erforderlich ist aber bei § 249 StGB eine erfolgte Wegnahme, und zu erörtern ist hier der Zusammenhang zwischen zwei nicht nur beabsichtigten, sondern für ein vollendetes Delikt tatsächlich ausgeführten Handlungen. 24
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Außenwelt, im Verhältnis zum Opfer, tut.27 Von diesem Gedanken ausgehend, ist das spezifische Unrecht des Raubes mit Blick auf die Situation des Opfers zu bestimmen. Aus dieser Sicht ist ausschlaggebend, dass mit dem Akt der Wegnahme nicht nur der Sachbesitz tangiert wird, sondern darüber hinaus auch ein anderes Rechtsgut: die personale Selbstbestimmung. Ein charakteristisches Unrechtsmerkmal vieler Raubtaten ist, dass durch Ausschaltung der Willensbildung bzw. Willensbetätigung oder durch Schaffung einer Notstandssituation zum Zeitpunkt der Wegnahme die Selbstbestimmungsfreiheit unterlaufen wird.28 Diese Erklärung basiert auf der Prämisse, dass das Selbstbestimmungsrecht, soweit es sich auf die Nutzung von und Verfügung über Sachen bezieht, besonders bedeutsam ist – bedeutsamer als die Freiheit, über sonstige Handlungen, Duldungen und Unterlassungen selbstbestimmt zu entscheiden (die in § 240 StGB nur mit deutlich niedrigerem Strafrahmen geschützt wird). Dem Grundsatz nach ist eine solche These in Gesellschaftssystemen, die dem Privateigentum hohen Stellenwert einräumen, zu entwickeln. Hieraus ergibt sich, dass Abwehrrechte gegen Eingriffe in das Recht auf Sachgüterbesitz als gewichtige Abwehrrechte gelten. Der maßgebliche Modus einer von § 249 StGB erfassten Wegnahme ist demnach wie folgt zu umschreiben: Wegnahme bei (durch die Gewaltanwendung des Täters) geminderten Abwehrchancen des Opfers. Abwehr ist dabei nicht auf aktive Gegenwehr zu reduzieren, sondern schließt alle Möglichkeiten ein, (eigenständig oder mit schutzbereiten Dritten) einen ungewollten Gewahrsamswechsel zu vermeiden. Allerdings passt ein nur die Situation des Opfers zum Zeitpunkt der Wegnahme betonender Ansatz – worauf Günther Jakobs hingewiesen hat29 – nicht uneingeschränkt für alle Konstellationen, die unter die §§ 249 ff. StGB fallen. Deutlich wird dies, wenn man die Qualifikationen in den §§ 250, 251 StGB berücksichtigt. Manche der Umstände, die zur Einstufung als schwerer Raub führen, wirken sich zwar auch als gesteigerte Fremdbestimmung bei der Wegnahme aus: Wer z. B. mit einer Schusswaffe bedroht wird (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder schwer körperlich misshandelt wird (§ 250 Abs. 2 Nr. 3a StGB), wird durch diese Tatmodalität noch stärker eingeschüchtert und in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt. Andere durch Gewalt ausgelöste Effekte wirken sich allerdings danach, zum Zeitpunkt der Wegnahme, nicht mehr in vollem Umfang als Angriff auf die Selbstbestimmungsfreiheit aus. Dies gilt zum einen bei nur abstrakten Gefahren, von denen das Opfer nichts weiß (etwa, wenn der Täter versteckt eine 27 Brandts (Fn. 2), S. 123 will darauf abstellen, dass der Täter durch eine erfolgreiche Nötigung seinen eigenen Wegnahmeentschluss festige und somit seine eigene Psyche beeinflusse. Dies überzeugt jedoch nicht als Erklärung für den hohen Strafrahmen in § 249 StGB. Käme es auf die Täterpsyche an, müsste auch Diebstahl unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln schärfer bestraft werden. 28 Kindhäuser (Fn. 7), Vor §§ 249 ff. Rn. 5 f. 29 Jakobs (Fn. 8), S. 331 f.
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Waffe bei sich führt, § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB), zum anderen, wenn das Opfer bei der Wegnahme infolge der Gewaltanwendung tot ist (§ 251 StGB). Ob das Opfer getötet oder nur betäubt wird, wirkt sich auf das Ausmaß der Fremdbestimmung zum Zeitpunkt der Wegnahme nicht aus. Die Raubtatbestände des deutschen Rechts setzen also bei unterschiedlichen Bewertungsperspektiven an: Zum Teil ist der Blick auf den Moment der Gewaltanwendung und die damit verbundenen Verletzungen und Gefährdungen gerichtet, zum Teil auf das Unrecht, das in einer Wegnahme bei erschwerter Willensbildung oder erschwerter Willensbetätigung des Opfers liegt. Was folgt hieraus für die Verknüpfung von Gewalt und Wegnahme? Soweit Abwehrchancen des Opfers bei der Wegnahme gemindert sind, gilt Folgendes: Das Dogma vom Finalzusammenhang rückt erstens den falschen Zeitpunkt in den Vordergrund, indem gefragt wird, was der Täter bei der Ausübung von Gewalt dachte. Entscheidend ist die Situation im Moment der Wegnahme, da dann die Verletzung von Selbstbestimmungsrechten stattfindet. Zweitens hängt das Ausmaß des Unrechts nicht davon ab, dass es absichtlich zugefügt wird. Beeinträchtigungen des Opfers (etwa durch vis absoluta in Form von Einsperren oder durch einschüchternde vis compulsiva) sind auch dann relevant, wenn diese nur vom bedingten Vorsatz umfasst sind, nicht aber von einer entsprechenden Intention des Täters. Soweit sich das spezifische Ausmaß einer Gefährdung oder Verletzung dagegen bei der Wegnahme nicht mehr auswirkt, könnte man folgern, dass der Täter schon zum Zeitpunkt der Gewalt diese subjektiv mit einer nachzufolgenden Wegnahme verknüpfen müsse. Beschreibt man das Unrecht solcher Taten in Anlehnung an § 211 Abs. 2 StGB als „habgierige Gewalt“, so ist hieraus abzuleiten, dass das Habgierelement schon bei der Gewaltanwendung in Form eines Wegnahmevorsatzes vorgelegen haben müsse.30 Aber diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend. Eines Ausweichens auf die Beweggründe des Täters, auf seine habgierige Motivation, bedarf es nicht, weil das Tatunrecht auch aus einer objektiven (Opfer-)Perspektive beschrieben werden kann. Insoweit gilt: Das konkrete Ausmaß des Tatunrechts entsteht durch eine Addition unterschiedlicher Unrechtselemente. Zum Kern des Raubes „Wegnahme bei geminderten Abwehrchancen des Opfers“ kommt das sehr unterschiedliche Gewicht hinzu, das Gewalt und die physischen Folgen in ihren konkreten Formen sowie mögliche zusätzliche abstrakte Gefährdungen aufweisen können. Die Tatsache, dass in extremen Fällen, etwa bei der Tötung des Opfers, die Intensität des Gewaltakts das Strafmaß wesentlich prägt, hat nicht zur Folge, dass das objektive Element, das Gewalt und Wegnahme koppelt, wegfällt: nämlich die Tatsache, dass die Abwehrchancen (drastisch) vermindert wurden.
30
Vgl. Jakobs (Fn. 8), S. 332.
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b) Abschreckung als Anknüpfungspunkt Wie sieht die Beurteilung unter dem Aspekt „Abschreckung“ aus? Schünemann bezweifelt, dass die Strafrahmen in den §§ 249 ff. StGB nur mit dem Unrecht dieser Taten zu erklären sind. Er zieht deshalb den Gedanken der Abschreckung heran.31 Die vor allem bei nur abstrakten Gefahren überhöhten Mindeststrafen sind in der Tat nur mit Verweis auf das Tatunrecht nicht zu rechtfertigen. In Frage zu stellen ist allerdings, ob sich hieraus ergibt, dass ein Finalzusammenhang zwischen Gewalt und Wegnahme erforderlich ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn man allein auf zweckrational handelnde Täter abstellt, und darauf, dass die Versuchung, eine Straftat zu begehen, gerade bei Raubdelikten besonders groß ist. Wenn es darum geht, dem Motiv „Bereicherungsabsicht“ das Wissen um drohende hohe Strafen entgegenzusetzen, ergibt sich, dass Ansprechpartner Täter sind, die final Gewalt zur Ermöglichung der Wegnahme einsetzen. In faktischer Hinsicht ist der Verweis auf „besonders hohe Versuchung“ plausibel, jedenfalls in Gesellschaften, in denen viele auf materielle Güter hohen Wert legen und die gleichzeitig durch erhebliche Unterschiede im Güterbesitz gekennzeichnet sind. Es müsste jedoch auch gefragt werden, was aus der Perspektive der Allgemeinheit Raubdelikte besonders gefährlich macht. In diesem Sinne wird verschiedentlich angedeutet, dass der final Gewalt einsetzende Täter besonders gefährlich sei.32 Diese Argumentation überzeugt allerdings nur, wenn man den Täter eines Raubdelikts und den auf direkte Konfrontation verzichtenden Dieb miteinander vergleicht. Das ist aber nicht der maßgebliche Punkt. Vielmehr sind Täter, die Gewalt zweckrational-final einsetzen, mit solchen zu vergleichen, die zwar ebenfalls gewalttätig agieren, aber nicht schon bei der Gewalt die Wegnahme geplant haben. Bei dieser Gegenüberstellung zeigt sich, dass Finalität kein Indikator für ein gesteigertes Eskalationsrisiko ist. Im Gegenteil: Personen, die ihre Absichten impulsiv ändern, sind oft gefährlicher als ein mit klaren Zielen überlegt Gewalt einsetzender Täter. Wenn der Täter im direkten Zusammentreffen mit dem Opfer bereit und fähig zu Gewalt ist und er spontan auftretende Bedürfnisse sofort umsetzen will, ist dies eine Kombination, die Risiken aus Opferperspektive erhöht. Auch der Aspekt „Bewertung von Gefahren“ spricht deshalb nicht dafür, bei der Interpretation des § 249 StGB einen Finalzusammenhang als notwendige Bedingung einzubauen. c) Gefahr von Schutzbehauptungen Außerdem sprechen pragmatische Gründe dagegen, einen Finalzusammenhang zu fordern: Die Rechtsprechung befördert Schutzbehauptungen. Wenn Anklage 31
Schünemann, JA 1980, 349, 352. Küper, JZ 1981, 568, 571; Lund, Mehraktige Delikte, 1993, S. 183; Biletzki, JA 1997, 385, 386. 32
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wegen eines Raubdeliktes zu erwarten ist, ist es wegen des hohen Strafrahmens vor allem beim schweren Raub eine nahe liegende Strategie, auszusagen, dass der Wegnahmeentschluss erst nach der Gewaltanwendung gefasst worden sei. Es dürfte kein Zufall sein, dass es viele höchstrichterliche Entscheidungen gibt,33 die sich mit dem Problem „Änderung von Absichten“ zu befassen hatten. Lässt sich eine solche Geschichte auch nur halbwegs glaubhaft konstruieren, ist damit zu rechnen, dass anwaltlich beratene Beschuldigte versuchen, auf diese Weise den Raubvorwurf abzuwenden. 3. Kausalität als notwendige Bedingung a) Die objektive Seite Stellt man auf einen Kausalzusammenhang ab, muss präzisiert werden, was genau als Erfolg gilt, der durch die erste Tathandlung verursacht wurde. Diesen Erfolg schlicht mit der Wegnahme gleichzusetzen, würde nicht hinreichend berücksichtigen, dass nicht die Wegnahme als solche das Raubunrecht in Abgrenzung zum Diebstahlsunrecht markiert. Maßgeblich sind vielmehr die Modalitäten dieser Wegnahme, d.h. Wegnahme bei (durch die Gewaltanwendung des Täters) geminderten Abwehrchancen des Opfers.34 Aus dieser Unterscheidung zwischen „Wegnahme“ und „Wegnahme bei beeinträchtigten Abwehrchancen“ ergeben sich Konsequenzen für die Kausalitätsfeststellung. Ein Einwand, der gegen den in der Lehre teilweise (zusätzlich zum Finalzusammenhang) geforderten Kausalzusammenhang erhoben wird, ist, dass damit ängstliche und durchsetzungsschwache (oder friedliebende, Eskalationen bewusst vermeidende) Opfer benachteiligt würden.35 Dieser Einwand beruht allerdings auf der Prämisse, dass die Gewalt für die Wegnahme als solche kausal werden müsse. Wenn z. B. ein schüchterner Schuljunge dem dominanten Anführer einer Jugendgang nach einem kräftigen Schlag ins Gesicht aufforderungsgemäß sein Mobiltelefon aushändigt, dies aber auch auf eine nur verbale Aufforderung getan hätte, käme man mit der Wegdenk-Methode des BGH36 zum Ergebnis: Auch ohne die Gewalt wäre es zur Wegnahme gekommen, also sei diese nicht kausal für die Wegnahme gewesen.37 Ebenso wird das Abstellen auf einen Kausalzusam33
Siehe die Nachweise in Fn. 21. Siehe auch Jakobs (Fn. 8), S. 328. Zur notwendigen Anwendung der Risikoerhöhungslehre etwa in Fällen der mittelbaren Täterschaft und der Anstiftung Hoyer, in: Rudolphi-FS 2004, S. 95, 97 ff. Schünemann (JA 1980, 349, 352) hat die Heranziehung der Risikoerhöhungslehre für den Zusammenhang von Gewalt und Wegnahme bei § 249 StGB erwogen, aber im Ergebnis verworfen. 35 Müller-Dietz/Backmann, JuS 1971, 412, 418. 36 Siehe die Nachweise oben Fn. 13. 37 Puppe weist darauf hin, dass es bei psychisch vermittelten Prozessen nur Wahrscheinlichkeiten gibt, aber keine allgemeinen Gesetze. Sie schlägt vor, auf das tatsäch34
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menhang deshalb kritisiert, weil die Privilegierung besonders brutal agierender Täter befürchtet wird38 (im eben erwähnten Beispiel: Begünstigung des Anführers der Jugendgang, der wusste, dass eine verbale Aufforderung genügt, und trotzdem zuschlug). Stellt man jedoch auf das Ergebnis „Wegnahme bei geminderten Abwehrchancen des Opfers“ ab, fällt die Beurteilung anders aus.39 Auch wenn das Opfer infolge seiner Persönlichkeit oder seines körperlichen Zustands oder infolge sozialer Rangordnungen in einer schwachen Ausgangsposition ist, die es dem Täter erlauben würde, durch schlichte Aufforderung ohne Gewalteinsatz eine Wegnahme vorzunehmen, wird das Opfer durch tatsächlich ausgeübte Gewalt regelmäßig noch weiter eingeschüchtert oder behindert, als es aufgrund seiner individuellen Lage schon war. Diese zusätzliche Einschüchterung bedeutet (noch weiter) geminderte Chancen für die freie Willensbetätigung oder Willensbildung, und für eine Wegnahme unter dieser Bedingung war der erste Teilakt kausal. Wie ist zu entscheiden, wenn zwar objektiv eingeschüchtert oder behindert wurde, sich dies aber deshalb nicht ausgewirkt hat, weil entweder das Opfer selbst oder eine andere Person, gegen die Gewalt angewendet wurde, von vornherein subjektiv an einer Abwehr der Wegnahme nicht interessiert war? Bei fehlendem Schutzwillen eines mit Gewalt angegriffenen Gewahrsamsinhabers (was nur bei einem gestörten Verhältnis zwischen Gewahrsamsinhaber und Eigentümer vorstellbar wäre)40 wird meist die Bestrafung wegen vollendeten Raubes schon am tatsächlichen Einverständnis mit der Wegnahme scheitern. Im Übrigen ist entscheidend, dass die Bewertung des Unrechts auf die objektive Lage abstellen sollte. Es kommt auf Abwehrchancen an und nicht auf einen tatsächlich vorhandenen Abwehrwillen des individuell Betroffenen.41 Ob Abwehrchancen gemindert wurden, richtet sich auch danach, ob der mit Gewalt angegriffenen Person ein mutmaßlicher Abwehrwille unterstellt werden kann (bei Gewahrsams-
liche psychische Erleben der konkret betroffenen Person abzustellen (Fn. 10), Vor §§ 13 ff. Rn. 131, 135. Ebenso Brandts (Fn. 2), S. 104. Auch insoweit ist aber entscheidend, was man das Opfer im Falle von vis compulsiva fragen würde: „Hättest du das Telefon dem X auch ohne Gewalt gegeben?“ oder, was überzeugender ist: „Hat dich das Verhalten des X eingeschüchtert?“. Und: Dieser Ansatz führt nicht weiter, wenn (wie in BGHSt 4, 120) das Opfer (z. B. wegen Gedächtnisverlusts infolge der beim Raub erlittenen Kopfverletzungen) dazu nichts aussagen kann. 38 Geilen, Jura 1979, 165, 166; Schünemann, JA 1980, 349, 352; Biletzki, JA 1997, 385 f.; Kindhäuser (Fn. 7), § 249 Rn. 12. 39 So auch die Stimmen in der Lit., die darauf abstellen, ob der Einsatz von Gewalt die Begehung der Wegnahme objektiv gefördert oder erleichtert hat, s. Sinn (Fn. 4), § 249 Rn. 36. 40 Siehe das Beispiel der aus Schadenfreude handelnden Hausgehilfin bei Brandts (Fn. 2), S. 102. 41 A. A. Schünemann, JA 1980, 349, 352 (s. seine Lösung für den auf S. 351 genannten Beispielsfall cc); Brandts (Fn. 2), S. 155 ff.
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inhabern ist das immer der Fall).42 Bei Personen, die nicht selbst Gewahrsamsinhaber sind, kommt es darauf an, ob aus einer objektiven Außenperspektive von einer zu erwartenden Schutzbereitschaft auszugehen ist.43 Ist dies der Fall, kommt es auf das tatsächliche Wollen des mit Gewalt traktierten Individuums nicht an. Es bleiben Konstellationen, in denen Kausalität deshalb zu verneinen ist, weil das, was der Täter getan hat, keinerlei Einfluss auf die objektiv zu bestimmenden Abwehrchancen des Opfers hatte. Solche Sachverhalte sind seltener, als es mancherorts genannte Beispiele suggerieren. Wer z. B. gegenüber einem Schlafenden oder einem Betrunkenen vis absoluta anwendet (ihn fesselt oder mit betäubenden Gasen ruhig stellt), verschlechtert dessen Abwehrchancen (es wird ihm damit die Möglichkeit genommen, nach Erwachen oder im Halbschlaf Abwehr- oder Fluchtversuche zu unternehmen). Falls aber (was in BGHSt 4, 210 eine Möglichkeit war) das Opfer sich schon vor dem Tatgeschehen in einem tiefen Koma befindet, aus dem es durch Umwelteinflüsse wie Geräusche, Berühren usw. nicht zurückzuholen ist, und wenn es keine Dritten mit mutmaßlichem Abwehrwillen gibt, sind Abwehrchancen nicht mehr zu vermindern. Erkennt der Täter nicht, dass das Opfer schon vor der Gewalt tief bewusstseinsgestört war, ist er wegen versuchten Raubes zu bestrafen, wenn er davon ausgeht, Abwehrchancen weiter zu verschlechtern. Ist ihm aber der vollkommen aussichtslose Zustand des Opfers bekannt, so ist dennoch erfolgende Gewalt bloße Aggression. Dies ist ggf. wegen der Brutalität des Vorgehens als Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt angemessen zu ahnden, steht aber auch dann mit einem nachfolgenden Diebstahl nicht in einem besonderen Zusammenhang, wenn der Täter vor den Gewalttätigkeiten schon plante, bewegliche Gegenstände wegzunehmen. b) Vorsatz des Täters Da sich der Vorsatz auf alle Merkmale des Tatbestandes erstrecken muss, gilt dies natürlich auch für die objektive Verbindung der beiden Tathandlungen. Aber es ist kein Grund ersichtlich, mehr zu verlangen als für andere Tatbestandselemente: Bedingter Vorsatz reicht aus. Unter Zugrundelegung der verbreiteten Bestimmung von bedingtem Vorsatz44 bedeutet dies: Der Täter muss es ernsthaft für möglich halten und in Kauf nehmen, dass die von ihm vorsätzlich verübte (oder ihm als eigene Handlung zurechenbare) Gewalt die Chancen geschmälert 42
Brandts (Fn. 2), S. 148. In dem von Seelmann gebildeten Fall eines irrtümlich den eigenen Komplizen gewaltsam angreifenden Täters (JuS 1986, 201, 203 f.) fehlt es an einer Minderung der Abwehrchancen des Gewahrsamsinhabers, weil aus der Außenperspektive zu erkennen war, dass das Gewaltopfer nicht mutmaßlichen Abwehrwillen hatte. 44 Natürlich wäre auch dieser zu hinterfragen (s. z. B. Puppe, Fn. 16, § 16), was aber im hier gegebenen Rahmen nicht möglich ist. 43
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hat, dass das Opfer der nachfolgenden Wegnahme entgehen kann. Maßgeblich ist der Moment der Wegnahme. Ob der Täter zuvor andere Pläne oder keine Pläne hatte, ist irrelevant. An dieser Stelle zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur herrschenden Meinung, der zufolge die Formung der Wegnahmeabsicht erst nach der Gewaltanwendung dazu führen soll, dass kein Raub vorliege.45 Unter dem Dogma vom Finalzusammenhang wird darüber debattiert, ob wenigstens dann ein Raub vorliege, wenn die zunächst ohne Wegnahmeabsicht verübte Gewalt zu Wirkungen geführt hat, die der Täter wieder aufheben könnte. Wer allerdings etwa im Fall einer Fesselung des Opfers eine durch Ingerenz begründete Pflicht zur Entfesselung und somit Gewalt durch Unterlassen bejaht,46 muss sich den Vorwurf der Inkonsistenz gefallen lassen: Hätte der Täter nämlich vis absoluta mit nicht mehr änderbaren Folgen angewandt (z. B. das Opfer bewusstlos geschlagen), so scheitert die Unterlassenslösung.47 Nach dem hier vertretenen Ansatz löst sich das Problem auf. Es genügt, dass der Täter zum Zeitpunkt der Wegnahme bedingten Vorsatz hinsichtlich der Tatsache hat, dass seine Gewaltanwendung die Chancen des Opfers auf Abwendung der Wegnahme beeinträchtigt hat. III. Die Auslegung des Merkmals „mit Gewalt“ in § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB 1. Die Rechtsprechung Auch für das Vorliegen einer sexuellen Nötigung verlangt die Rechtsprechung eine „finale Verknüpfung“ zwischen Gewalt und der zweiten Handlung, also den sexuellen Handlungen.48 Genauso wenig wie beim Raub wurde allerdings begründet, warum diese Auslegung zu bevorzugen sei. Neben den Ähnlichkeiten mit Urteilen zu § 249 StGB fällt auch ein Unterschied auf. In einigen Entscheidungen, die Sexualdelikte nach § 177 StGB betrafen, wurde zusätzlich zur finalen Verknüpfung (die in der Vorstellung des Täters besteht), gefordert, dass „die Einwirkung objektiv geeignet erscheint, das Opfer dem Verlangen des Täters gefügig zu machen“,49 oder dass die Gewalt „dessen Ausübung [der Ausübung des Ge45
Siehe die Nwe. oben Fn. 21. Kühl (Fn. 7), § 249 Rn. 4; Eser, NJW 1965, 377, 379; Schünemann, JA 1980, 349, 353; Seelmann, JuS 1986, 201, 203. Dagegen Rengier (Fn. 7), § 7 Rn. 32; Sander (Fn. 7), § 249 Rn. 32. Offen gelassen wird in BGHSt 48, 365, 370 die Frage, ob die Unterlassenskonstruktion überzeugt, wobei (anders als in BGHSt 32, 88, 92) im Ergebnis eine Strafbarkeit wegen Raubes bejaht wurde. Kritisch zu dieser Entscheidung Fischer (Fn. 7), § 249 Rn. 12 b, c m.w. N. 47 Fischer (Fn. 7), § 249 Rn. 12b; Jakobs (Fn. 8), S. 327 f.; Kindhäuser (Fn. 7), § 249 Rn. 24. Die Inkonsistenz wird von Eser, NJW 1965, 377, 380, eingeräumt. 48 BGH NJW 1984, 1632; BGHR § 177 Abs. 1 Gewalt 1; BGH NStZ 1992, 433; NStZ 1992, 587; NStZ 1995, 229 f.; NStZ 1995, 230; NStZ 1999, 506; NStZ 2005, 268, 269; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, 348, 349. 49 BGHR § 177 Abs. 1 Gewalt 8. 46
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schlechtsverkehrs] auch diente . . . weil das Opfer aus Furcht vor weiteren Gewalttätigkeiten von einer Gegenwehr absieht“50. Eine neuere Entscheidung des 2. Strafsenats am BGH zu § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB verweist darauf, dass ein „funktionaler und finaler Zusammenhang“ auch für § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB erforderlich sei51, und an anderer Stelle ausdrücklich auf die Notwendigkeit eines kausalen Zusammenhangs.52 Der Senat ging nicht darauf ein, dass hier ein Unterschied zur Rechtsprechung liegt, die bei § 249 StGB gilt. Im Schrifttum wird weitgehend das Dogma vom Finalzusammenhang wiedergegeben,53 teilweise aber auch angenommen, dass es zudem einer objektiven Verknüpfung bedürfe.54 2. Wie sollte das Merkmal „mit Gewalt“ in § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB ausgelegt werden? a) Kausalzusammenhang als hinreichende Bedingung Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass die Auslegung nochmals thematisiert wird, obwohl für § 249 StGB bereits ein Vorschlag gemacht wurde. Muss nicht ein Merkmal, das wortidentisch in zwei ähnlich strukturierten Tatbeständen auftaucht, auch identisch ausgelegt werden? Auf den ersten Blick scheint diese Schlussfolgerung nahezuliegen, jedoch wird sich noch zeigen (unten b), dass es Unterschiede gibt. Zunächst sind aber Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Entgegen der Rechtsprechung ist nicht ein funktionaler und finaler Zusammenhang erforderlich. Die merkwürdigerweise nur zu § 177 StGB, nicht aber zu § 249 StGB teilweise erhobene Forderung nach einem „funktionalen Zusammenhang“ oder „kausalen Zusammenhang“ weist allerdings insofern in die richtige Richtung, als ein solcher (und zwar auch ohne zielgerichtete Absicht des Täters) für die Annahme einer sexuellen Nötigung ausreicht. Auch § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist anzuwenden, wenn die Gewalt bewirkt, dass zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung die Abwehrchancen des Opfers gemindert sind, und wenn dieser Effekt zu diesem Zeitpunkt vom bedingten Vorsatz umfasst ist (s. oben II. 2.). Sollte der Täter vorbringen, die auf sexuelle Handlungen gerichtete Absicht erst nach dem Einsatz der Gewalt gefasst zu haben, ist dies irrelevant. Genauso wenig spielt eine Rolle, welche Intentionen der Täter verfolgt, wenn er objektiv die Situation des Opfers verschlechtert. Das Dogma vom Finalzusammenhang führt 50
BGHR § 177 Abs. 1 Gewalt 1; ebenso bereits BGH bei Holtz, MDR 1976, 812,
813. 51
BGHSt 50, 359, 368; ebenso OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, 348, 349. BGHSt 50, 359, 365. 53 Fischer (Fn. 7), § 177 Rn. 13, 52; Frommel, in: NK-StGB3, 2010, § 177 Rn. 40; Kühl (Fn. 7), § 177 Rn. 4; Renzikowski, in: MK-StGB, 2005, § 177 Rn. 28; Lenckner/ Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 7), § 177 Rn. 6. 54 Brandts (Fn. 2), S. 29; Biletzki, JA 1997, 385. 52
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hier zu anderen Ergebnissen, wenn es um Konstellationen geht, in denen der Täter Türen abschließt oder in ähnlicher Weise das Opfer einsperrt. Nach der Rechtsprechung soll die Absicht erforderlich sein, das Opfer einzusperren, was nicht der Fall sei, wenn der Täter angibt, dass es ihm subjektiv nicht um ein Erschweren des Entkommens ging.55 Dies überzeugt nicht: Es genügt, dass er es bei der Vornahme der sexuellen Handlung für ernstlich möglich hält und in Kauf nimmt, dass das Einsperren des Opfers unter anderem auch dessen Fluchtmöglichkeiten beschneidet. Insbesondere zeigt sich bei Tatserien zu Lasten von Minderjährigen aus dem Haushalt des Täters, dass das Pochen auf einen Finalzusammenhang verfehlt ist. Wer den Willen von unterlegenen Personen durch den Einsatz massiver körperlicher Gewalt effektiv gebrochen hat, wird unter Umständen bei nachfolgenden sexuellen Übergriffen nicht mehr wegen sexueller Nötigung verurteilt. Nach dem Dogma vom Finalzusammenhang muss die Gewalt dem Zweck dienen, sexuelle Handlungen zu ermöglichen. Wer zunächst zu anderen Zwecken prügelt und misshandelt und dann die erreichte Unterwerfung und Einschüchterung zu sexuellen Handlungen ausnutzt, begeht nach der h. M. keine sexuelle Nötigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB.56 Dies ist nicht überzeugend. Es muss (bei korrespondierendem bedingtem Vorsatz des Täters) genügen, dass auf Seiten des Opfers die einschüchternde Erinnerung an erlittene Misshandlungen noch lebendig ist (was in Abhängigkeit von der Schwere und Häufigkeit auch nach Wochen noch der Fall sein kann). b) Sonstiger funktionaler Zusammenhang In Fällen der sexuellen Nötigung bleibt eine Konstellation zu erörtern, auf die bei den Raubdelikten nicht eingegangen werden musste. Verständlich wird der Gedanke, dass zwischen sexueller Nötigung und Raub differenziert werden könnte, wenn faktische Unterschiede beleuchtet werden. Das Dogma vom Finalzusammenhang basiert auf dem Gedanken, dass Täter typischerweise zielorientiert vorgehen, wobei die zweite Handlung (Wegnahme oder sexuelle Handlungen) ihr eigentliches Handlungsziel ist und Gewalt nur Mittel zum Zweck. Bei Raubdelikten kann man davon ausgehen, dass Täter tatsächlich oft durch das Streben nach Gewinnmaximierung motiviert werden. Zwar würden vermutlich empirische Untersuchungen auch unter Raubtätern chaotisch agierende oder primär aggressiv motivierte Personen finden. Überwiegend ist jedoch ökonomischzweckrationales Verhalten zu unterstellen – das dürfte der Grund sein, warum in der Praxis das Dogma des Finalzusammenhangs nicht auf so augenfällige Unge-
55 56
BGH bei Miebach, NStZ 1996, 123; BGH NStZ-RR 2003, 42, 43. Siehe z. B. BGH NStZ 2005, 268.
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reimtheiten stößt, dass dies die höchstrichterliche Rechtsprechung erschüttern könnte. Anders verhält es sich aber bei den Tätern, die sexuelle Nötigungen begehen. Implizit liegt der h. M. zwar die Vorstellung zugrunde, dass Sexualtäter wie Raubtäter ein von der Gewaltanwendung zu trennendes Ziel der Maximierung persönlichen Gewinns (in Form von kostenlosen sexuellen Diensten) verfolgen. Dieses Bild wird jedoch erschüttert, wenn man eine größere Zahl veröffentlichter Entscheidungen und deren Sachverhaltszusammenfassungen liest. Vielfach ist Gewalt nicht Mittel, sondern ein Zweck an sich und Sexualität nur ein Mittel zur Verstärkung des vom Täter angestrebten Effekts der Demütigung und Unterjochung. Vor allem zwei Tatvarianten sind zu nennen: die Bestrafung von Frauen (Ex-Freundinnen, Noch-Ehefrauen) nach einer Trennung und die Handlungen von sadistisch veranlagten Tätern. Die zeitliche Abfolge ist bei Sexualtaten als Bestrafung und Rache beliebig: Gewalt bei der sexuellen Handlung oder im Anschluss daran erfüllt den Zweck „maximale Erniedrigung“ genauso wie Gewalt davor. Hier versagt die Lehre vom Finalzusammenhang, weil sie die Motivationsstruktur solcher Täter nicht abbilden kann. Dasselbe gilt für sadistisch veranlagte Personen, die Gewalt nicht zur Verminderung von Abwehrchancen einsetzen, sondern als Begleitmodus der sexuellen Handlung.57 Dass die Rechtsprechung am Erfordernis des Finalzusammenhangs festhält, hat erhebliche praktische Konsequenzen. Während bei Verneinung eines Raubes mangels Finalzusammenhangs der Grundtatbestand des Diebstahls anzuwenden ist, kennt das deutsche StGB keine „einfache sexuelle Nötigung“ (sexuelle Handlungen gegen den Willen der Geschädigten) als Grundtatbestand, auf den eine qualifizierte sexuelle Nötigung (mit Gewalt) aufbauen würde.58 Dies bedeutet, dass sexuelle Übergriffe, bei denen Gewalt nicht final zur Ermöglichung des Körperkontakts durch geminderte Abwehrchancen des Opfers, sondern zur Verstärkung der Demütigung oder zur Verstärkung des Lustgewinns eingesetzt wird, allenfalls als Körperverletzung bestraft werden können. Damit ist aber das Unrecht von Taten nicht angemessen zu erfassen, bei denen Erniedrigung durch die sexuelle Komponente ein wesentliches Element ist. Sexuelle Gewalttaten diesen Zuschnitts können allerdings weder mit dem Dogma vom notwendigen Finalzusammenhang noch mit dem hier für die Raubdelikte vertretenen Ansatz erfasst werden, der eine kausale Verknüpfung zwischen erstem und zweitem Teilakt fordert. Wenn der Täter wie in BGHSt 31, 76 57 Siehe z. B. den Fall, in dem der Täter u. a. einen Schraubendreher in die Scheide seiner Tochter eingeführt und dort aktiviert hatte (BGH NStZ 2005, 268). Diese Körperverletzung erfolgte nicht, um Widerstand zu brechen (die Tochter war durch jahrelang erlebtes und beobachtetes Verhalten des Familientyrannen hinreichend eingeschüchtert), weshalb mangels Finalzusammenhangs nach Ansicht des BGH eine Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB ausschied. 58 Dazu Hörnle, in: LK12, 2010, Vor § 174 Rn. 51.
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im Vorübergehen Frauen Stiche in Brust oder Genitalien versetzt, führt die Gewaltkomponente weder objektiv noch nach der Vorstellung des Täters zu geminderten Abwehrchancen. Fallen Gewalt und sexueller Übergriff zeitlich zusammen und ist beides vorüber, bevor das Opfer eine Chance hat, zu reagieren, wurde durch Schnelligkeit die Willensbildung des Opfers vereitelt und so Abwehrchancen zunichte gemacht, nicht aber durch die Gewalt. Trotzdem ist es (entgegen der h. M.59) möglich, auch solche Konstellationen unter § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu fassen. Der Wortlaut „mit Gewalt“ lässt es zu, Gewalt als Begleitmodus ebenso einzuschließen wie die Widerstandskraft mindernde Gewalt. Dass der BGH schon in den Begriff der Gewalt hineinliest, dass diese geeignet sein müsse, die Widerstandsfähigkeit des Opfers herabzusetzen, beruht auf einer wenig überzeugenden Gleichsetzung der Sexualdelikte mit den Raubdelikten.60 Bei unbefangener Orientierung am Wortlaut liegt es nahe, dem Täter aus BGHSt 31, 76 zu attestieren, dass er den Opfern mit Gewalt unerwünschten Sexualkontakt aufgenötigt hat. Das Wort „nötigt“ als Tatbestandsmerkmal in § 177 Abs. 1 StGB bringt nicht mit sich, dass das Opfer einen Willensentschluss gefasst haben muss, bevor die sexuelle Handlung beginnt. Vielmehr kommt damit nur zum Ausdruck, dass der sexuelle Körperkontakt ohne Einverständnis erfolgt.61 Entscheidend ist auch insoweit der Blick auf das Tatunrecht. Eine unrechtssteigernde Kombination von Gewalt und sexuellem Übergriff liegt vor, wenn Gewalt die demütigende Wirkung der sexuellen Handlung intensiviert und verstärkt. Eine solche Koppelung kann als „funktionaler Zusammenhang“ bezeichnet werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Funktionen von Gewalt vielfältig sein können und nicht auf „Überwindung von Widerstand“ zu reduzieren sind. Zu bejahen ist eine sexuelle Nötigung „mit Gewalt“ über das Kriterium „geminderte Abwehrchancen“ hinaus unter zwei Voraussetzungen. Erstens muss ein enger zeitlicher Zusammenhang (während des Sexualkontakts, aber auch kurz davor oder kurz danach) bestehen, der bewirkt, dass die verstärkte Erniedrigung des Opfers gerade durch die Kombination von aufgezwungenen sexuellen Handlungen und Gewalt entsteht. Zweitens muss es sich, damit dieser Effekt der verstärkten Erniedrigung eintritt, um Gewalteinwirkungen einer gewissen Intensität handeln, etwa Schläge oder andere Formen einer erheblichen körperlichen Misshandlung.
59 BGHSt 31, 76; BGH NStZ 1993, 78; OLG Karlsruhe NJW 2003, 1263; OLG Köln NStZ-RR 2004, 168; Fischer (Fn. 7), § 177 Rn. 14; Kühl (Fn. 7), § 177 Rn. 4; Lenckner/Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 7), § 177 Rn. 5. A. A. aber Renzikowski (Fn. 53), § 177 Rn. 29. 60 Siehe zur Engführung des Gewaltbegriffs in § 249 StGB auf die Ausschaltung von Widerstand RGSt 69, 327, 330; BGHSt 18, 330. 61 BVerfG NJW 2004, 3768, 3769; BGHSt 45, 253, 258; 50, 359, 365. Zur Kritik an diesem Ansatz Fischer (Fn. 7), § 177 Rn. 35 ff. m.w. N.
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IV. Zusammenfassung Das Dogma vom notwendigen Finalzusammenhang, das bei der Auslegung des Merkmals „mit Gewalt“ in den §§ 249, 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB dominiert, sollte aufgegeben werden. Vorzugswürdig ist es, eine objektiv-funktionale Verknüpfung von Gewalt und Wegnahme bzw. sexuellen Handlungen zu fordern, die zum Zeitpunkt der Wegnahme oder der sexuellen Handlung besteht und zu diesem Zeitpunkt vom (mindestens bedingten) Vorsatz des Täters umfasst wird. Mit einem solchen Vorschlag Gehör zu finden, dürfte zwar angesichts einer mehr als fünfzig Jahre zurückreichenden Rechtsprechungspraxis schwierig sein. Vielleicht hilft aber die Einsicht, dass am Anfang dieser Rechtsprechung Fehler und Missverständnisse standen und dass fehlende Sachargumente durch lange Zitierketten früherer Urteile nicht ersetzt werden können. „Mit Gewalt“ handeln Täter, die durch Gewaltanwendung bewirken, dass Wegnahme oder sexuelle Handlung bei verminderten Abwehrchancen des Opfers stattfinden können (Kausalzusammenhang). Ein hinreichender funktionaler Zusammenhang von Gewalt und sexueller Handlung besteht außerdem, wenn das Zusammentreffen von Gewalt und sexuellem Übergriff die Erniedrigung des Opfers intensiviert.
Aussageerpressung und Rettungsfolter Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen des Menschenwürdeschutzes im Strafrecht Von Walter Kargl I. Folterverbot in der Debatte 1. Relativierung des Folterverbots Durch den Entführungsfall Metzler1 und den Einsatz der Folter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus2 ist die ausnahmslose Ächtung der Folter inzwischen auch in Deutschland ins Wanken geraten. Selbst wenn man die Einschätzung nicht teilt, dass die Relativierung des Folterverbots wieder allgemein salonfähig geworden ist3, hat sich doch die Ansicht, die sog. „Rettungsfolter“ müsse in Ausnahmefällen zulässig sein, von der Peripherie des rechtswissenschaftlichen Diskurses in einige seiner Zentren vorgearbeitet. Christian Starck4 schreibt in seinem Grundgesetz-Kommentar, unter engen Voraussetzungen – wenn Würde gegen Würde stehe und keine andere Rettung möglich sei – „darf die Folter zunächst angedroht und gegebenenfalls unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vollzogen werden“. Der Heidelberger Staatsrechtslehrer Winfried Brugger geht noch einen Schritt weiter. In der Juristenzeitung5 kommt er zu dem Ergebnis, unter bestimmten Umständen dürfe die Polizei nicht nur foltern, „sie muss es auch“. Im „Maunz-Dürig“ unternimmt es der Bonner Staatsrechts-
1 Vgl. zum „Daschner-Fall“ LG Frankfurt a.M. NJW 2005, 692 ff. sowie Gäfgen/ Deutschland, Urt. des EGMR vom 30. Juni 2008; Roxin, Festschrift für Nehm, 2006, S. 205, spricht vom „kontroversesten“ Fall der deutschen Nachkriegsgeschichte. 2 Zu den prominenten Fällen der letzten Jahre zählen die Gefangenenmisshandlungen in Abu Ghraib, die Haftbedingungen im Gefangenenlager in Guantanamo, die Verhörmethoden des CIA (vor allem das sog. „waterboarding“, bei dem den Betroffenen das Gefühl des Ertrinkens vermittelt wird). 3 So jedoch Wefing, „Jenseits der Schmerzgrenze“, DIE ZEIT vom 21. Februar 2008. 4 Starck, in: Mangold/Klein/Starck, Grundgesetz5, 2005, Art. 1 Abs. 1, Rn. 79. 5 Brugger, JZ 2000, 165; ders., in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat, 2005, S. 107; ders. VBlBW 1995, 414, 446; ders., Der Staat 35 (1996), S. 67. Ebenso Isensee, in: FAZ vom 21. Januar 2008, S. 10: Ein ungeschriebenes, gleichwohl verfassungsimmanentes Notrecht zum Schutz des Bürgers fordere unter Umständen den staatlichen Eingriff.
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lehrer Matthias Herdegen6, die Fundamentalnorm des Art. 1 GG, die das Folterverbot in seiner Absolutheit und Ausnahmslosigkeit stützt, auf ein „normales“ Grundrecht herunterzuschrauben, das man einschränken kann wie die anderen Grundrechte auch. In dieselbe Kerbe schlagen mittlerweile zunehmend auch Strafrechtswissenschaftler. Nach Volker Erb7 darf die Misshandlung eines Geiselnehmers nicht kategorisch aus der Rechtfertigung der Nothilfe ausgeklammert werden, wenn „der Entführer, der sein Opfer willkürlich gefangen hält und aus eigensüchtigen Gründen in nicht zu überbietender Form instrumentalisiert und erniedrigt, seinerseits gegen die Menschenwürde verstößt“. Kristian Kühl8 will ebenfalls im Hinblick auf polizeilich-präventive Foltermaßnahmen zum Lebensschutz Entführter eine Rechtfertigung gemäß §§ 32, 34 StGB zulassen.9 Den Fall einer atomaren Erpressung im Auge, bei der ganze Völker in Gefahr sind, sehen auch Lenckner und Perron10 den Rechtsstaat an seinen Grenzen und wollen die Frage, wie auf dieses Dilemma zu reagieren wäre, besser nicht stellen. Andere haben die Frage für sich entschieden und das bislang geltende Credo, dass die Folter im Tabubereich des Undenkbaren verbleiben müsse, zumindest für das sog. „ticking-bombscenario“ verabschiedet.11 2. Pönalisierung der Folter a) De lege lata Vor dem Hintergrund dieser in den letzten Jahren verstärkt einsetzenden Bemühungen, das generelle Folterverbot aufzubrechen, verwundert es nicht, dass die entsprechenden Ansätze ein mediales, politisches und wissenschaftliches 6 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 51. Ergänzungslieferung, 2007, Art. 1 Fn. 43 f.; nach Dreier, Grundgesetz3, 2008, Art. 1 Rn. 132 soll das „Unabwägbarkeitsdogma“ nur für Folter in Normalsituationen gelten, „der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision“ dürfe „nicht von vornherein auszuschließen sein“; ders., in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, ARSP Beiheft 101 (2005), S. 33; in diese Richtung auch Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz5, 2000, Art. 1 Rn. 24. 7 Erb, in: MK, StGB, 2003, § 32 Rn. 174; ders., NStZ 2005, 593; ders., Jura 2005, 24; zur Interessenabwägung ders., JuS 2010, 110; ähnlich zur Erweiterung hoheitlicher Befugnisse bereits Schaffstein, Gedächtnisschrift für Schröder, 1978, S. 111; Wimmer, GA 1983, 157. 8 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch26, 2007, § 32 Rn. 17a. 9 Ähnlich Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 620; Wittreck, DÖV 2003, 876; Miehe, 2003, 1219; Fahl, JR 2003, 190; Götz, NJW 2005, 956; Hilgendorf, JZ 204, 338; Herzberg, JZ 2005, 321; Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006, S. 155; diff. Eser, in: Festschrift für Hassemer, 2010, S. 721 ff. 10 Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 34 Rn. 41e. 11 Zum sog. „ticking-bomb-szenario“, das Parallelen zum „Fall Daschner“ aufweist, vgl. Ernst Albrecht, Der Staat – Idee und Wirklichkeit, 1976, S. 172; Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, S. 1; Pawlik, in: FAZ vom 25. Februar 2008, S. 40.
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Echo ausgelöst haben, das einen deutlichen Gegenakzent setzt.12 Zumeist wird dabei an die Rechtslage erinnert, deren Sprache in den einschlägigen Vorschriften keine Zweifel aufkommen lasse.13 Im völkerrechtlichen Regelungswerk bildet das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (FoK) die speziellste Norm gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen, die zum ausnahmslosen Verbot verpflichten.14 Art. 3 EMRK enthält ebenfalls ein ausdrückliches Verbot der Folter: „Niemand darf der Folter (. . .) unterworfen werden“15. Ein nahezu identischer Wortlaut findet sich in Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR).16 Im nationalen Bereich wird das Folterverbot von den Strafvorschriften nach §§ 343, 340, 240 StGB flankiert. Auf strafprozessualer Ebene erfährt das Folterverbot durch die Regelung des § 136a StPO eine weitere Konkretisierung.17 b) De lege ferenda Offensichtlich hat das unverbrüchliche Stoppschild „Folterverbot“, das Foltermaßnahmen – wie eben aufgezeigt – sowohl im nationalen Recht als auch im Völkerrecht den schwersten Menschenrechtsverbrechen zuordnet, Risse bekommen. Zum Steigbügelhalter für die Aufweichung der bisher gemeinschaftlich getragenen Überzeugung wurden dabei nicht nur Abwägungsüberlegungen, die sich 12 Ausführliche Kritik an den Argumenten der Befürworter der Rettungsfolter bei Herzog, in: NK3, 2010, § 32 Rn. 59; Fischer, StGB57, 2010, § 32 Rn. 13; Rönnau, in: LK, StGB12, 2006, Vor § 32 Rn. 255; Voßen, in: MK (Anm. 7), § 343 Rn. 6; Jahn, KritV 2004, 24; Perron, in: Festschrift für Weber, 2004, S. 143; Ambos/Rackow, JA 2006, 948; Prittwitz, in: Festschrift für Herzberg, 2008, S. 520; Greco, GA 2007, 626; Hamm, NJW 2003, 946; vgl. schon Hassemer, in: Festschrift für Maihofer, 1988, S. 202. 13 Z. B. Epping, Grundrechte4, 2009, Rn. 582 m.w. N. 14 Siehe die Präambel der FoK; vgl. auch Bruha/Steiger, Das Folterverbot im Völkerrecht, 2006, S. 25. 15 Gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK ist Art. 3 EMRK notstandsfest; er kann also nicht einmal „im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht“, eingeschränkt werden; näher dazu Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht4, 2009, § 3 Rn. 37; Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981. Der EGMR hat dies auch für den Fall der Bekämpfung des Terrorismus und des Organisierten Verbrechens bekräftigt; vgl. Coracov/Modawien, Urt. des EGMR vom, 4. Juli 2006, Z. 54; Jalloh/Deutschland, Urt. des EGMR vom 11. Juli 2006, Z. 99 (= NJW 2006, 3117). 16 Dazu Hoffmann, Das Völkerrechtliche Folterverbot, in: Ostendorf (Hrsg.), Folter, Praxis, Verbot, Verantwortlichkeit, 2005, S. 9, 31. Darüber hinaus wird die Folter in Art. 4 der Europäischen Grundrechtscharta (EuGRC) und in Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) genannt. 17 Ausführlich Krack, NStZ 2002, 120; Kühne, Strafprozessrecht7, 2007, S. 508; Meyer-Goßner, Strafprozessrecht31, 2009, § 136a Rn. 6; zur polizeilichen Problematik vgl. Rachor, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts4, 2007, S. 497; Saliger, in: Strafverteidigervereinigung (Hrsg.), Wen schützt das Strafrecht?, 2006, S. 206.
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auf die Rechtfertigungsgründe der §§ 32, 34 StGB stützen, sondern auch Hinweise auf Strafbarkeitslücken in den einschlägigen Strafvorschriften. Bei § 343 StGB wäre etwa die dort vorausgesetzte „Innerprozessualität“ zu nennen, der zu Folge nur solche Misshandlungen dem tatbestandlichen Anwendungsbereich unterfallen, die innerhalb eines repressiven Verfahrens vorgenommen werden.18 Folgerichtig muss sich auch die spezielle Nötigungsabsicht auf die rein repressive Maßnahme richten.19 § 240 StGB führt in die Abwägungsspirale der Verwerflichkeitsklausel des Absatz 2 und erschwert damit die Annahme, die Androhung von Folter als verwerflich zu qualifizieren.20 Doch selbst wenn sich die Einwände entwaffnen ließen, verdeutlicht die strafrechtliche Handhabung des „Daschner-Falles“, dass sich die Justiz zu einer klaren Bestätigung des Folterverbots nicht durchringen kann. Ein Urteil, das einerseits die Strafbarkeit der Folter bejaht und andererseits die Tat mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt sanktioniert21, sendet widersprüchliche Signale aus.22 Um das Zurückweichen vor einer eindeutigen Stellungnahme künftig zu verhindern, fordern inzwischen einige Autoren einen expliziten Foltertatbestand im StGB. Es geht dabei namentlich darum, mit Hilfe einer neuen Norm, das hohe Maß der Missbilligung, das der Folter als einem schweren Menschenrechtsverbrechen zukommen muss, zu symbolisieren und Einfluss auf die normative gesellschaftliche Verständigung zu nehmen.23 Ob man diesen Appell im Rahmen der Aussageerpressung unterbringt24 oder einen eigenen Paragraphen vorsieht25, ist von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist die Frage, ob die zusätzliche Absicherung des Folterverbots den Maßstäben entsprechen kann, die ein gesetzlich bestimmtes, die Pönalisierungsgrenzen achtendes Strafrecht einfordern muss.
18 Aus diesem Grunde lehnen die Einschlägigkeit des § 343 StGB für die Rettungsfolter ab: Wagenländer, Rettungsfolter (Anm. 9), S. 108; Erb, Jura 2005, 24; Rogall, in: Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 536; Steinke, Kriminalistik 2004, 326. 19 Beutler, Strafbarkeit der Folter zu Vernehmungszwecken, 2006, S. 160; Prittwitz, in: Festschrift für Herzberg, 2008, S. 530. 20 Für die Annahme der Verwerflichkeit Jessberger, Jura 2003, 714; P. A. Albrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 17. 21 Wolfgang Daschner wurde wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Nötigung im Amt für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 120 Euro verurteilt. Die Strafe wurde jedoch gem. § 59 StGB vorbehalten; vgl. LG Frankfurt a.M., NJW 2005, 696. 22 Scharnweber, Kriminalistik 2005, 164; Anders, in: Goerlich (Hrsg.), Staatliche Folter. Heiligt der Zweck die Mittel?, 2007, S. 23; zur Aporie einer „tragic choice“ zwischen Menschenwürdeverletzung und Rettung von Menschenleben vgl. Luhmann, Normen (Anm. 11), S. 1. 23 In diesem Sinne Herzog/Roggan, GA 2008, 148; von Schenck, Pönalisierung der Folter in Deutschland – de lege lata et ferenda, Diss. Frankfurt a. M. 2009, S. 254. 24 Herzog/Roggan, GA 2008, 150. 25 von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 221.
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Dieser Frage soll im Folgenden in drei Schritten nachgegangen werden. Der erste Schritt befasst sich mit den vorhandenen strafgesetzlichen Möglichkeiten, die Folter zu ahnden. Im zweiten Schritt soll untersucht werden, ob das Phänomen der Folter sowohl hinsichtlich seines Unrechtsgehalts als auch seiner Merkmale durch die Sanktionierung der Folter de lege lata hinreichend erfasst wird. Dabei steht vor allem das Problem im Vordergrund, welches Rechtsgut durch die neue Vorschrift geschützt werden soll. Der dritte Schritt gilt der Überlegung, ob und in welchem Maße die Konzeption des Rechtsgüterschutzes überhaupt geeignet ist, die mit der Folterthematik (beispielhaft) aufgeworfenen Fragen befriedigend zu beantworten. II. Folterverbot im Tatbestand der Aussageerpressung (§ 343 StGB) 1. Objektiver Tatbestand a) Täterkreis Als Täter kommen nur Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB) sowie Offiziere und Unteroffiziere i. S. des § 48 Abs. 1 WStG in Betracht. Die Betreffenden müssen zur Mitwirkung an einem der in Nummern 1 bis 3 genannten Verfahren berufen sein, d.h. es muss zu ihrem dienstlichen Aufgabenkreis gehören, an solchen Verfahren auf Seiten der Verfahrensführung beteiligt zu sein.26 Eine Beschränkung des Täterkreises auf Personen, die nach der Behördenorganisation und der Geschäftsverteilung für die Vernehmung des Betroffenen (konkret) zuständig sind, findet weder in den Gesetzesmaterialien 27 noch im Wortlaut28, der abstrakt-generell von „berufen“ spricht, eine Stütze. Die weite Auslegung der Berufung zur Verfahrensmitwirkung dürfte in aller Regel die Vernehmenden (z. B. Staatsanwälte und deren Hilfsbeamte, Polizeibeamte), die an Folterhandlungen beteiligt sind, erfassen. Vorgänge wie die in Abu Ghraib würden allerdings schon auf Grund der fehlenden Tätereigenschaft der Militärangehörigen nicht gemäß § 343 StGB geahndet werden können. Da nur Offiziere und Unteroffiziere den Amtsträgern gleich gestellt sind (§ 48 Abs. 1 WStG), wären Misshandlungen, die von niedrigeren Dienstgraden – wie in Abu Ghraib – vorgenommen werden, nach deutschem Recht nur als einfache Körperverletzungen gemäß § 223 StGB einzustufen. 26 Kuhlen, in: NK (Anm. 12), § 343 Rn 4; Fischer, StGB (Anm. 12), § 343 Rn. 2; Kindhäuser, in: LPK-StGB4, 2010, § 343 Rn. 2; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder (Anm. 10), § 343 Rn. 19; Horn/Wolters, in: SK StGB8, 2008, § 343 Rn. 3a. 27 BT-Drucks. 7/550, S. 278. 28 OGH vom 11.7.1950, NJW 1950, 714; OGH vom 11.4.1950, NJW 1950, 613; BayObLG NJW 2003, 1617; Jescheck, in: LK StGB11, 1999, § 343 Rn. 3; Voßen, in: MK (Anm. 7), § 343 Rn. 11.
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b) Tatsituation Objektiv tatbestandsmäßig ist ein Verhalten nur, wenn ein Amtsträger im Rahmen eines der in Abs. 1 genannten Verfahren gegenüber einer anderen Person Gewalt anwendet.29 Den dort aufgezählten Verfahren ist gemeinsam, dass sie repressiven Charakter haben, also auf eine Strafe, Sanktion oder Maßregel abzielen.30 Somit sind von § 343 StGB präventive Verfahren, die nur der polizeilichen Gefahrenabwehr dienen, nicht erfasst.31 Zum Problem wird die betreffende Maßnahme erst dann, wenn sie nicht nur der Strafverfolgung, sondern auch der präventiven Gefahrenabwehr dient.32 Über die Beurteilung dieser Konstellation gehen die Meinungen auseinander. Nach einer Ansicht entscheidet über das Verhältnis zwischen Repression und Prävention der temporale Kontext. Geschieht die präventive Maßnahme während eines Ermittlungsverfahrens („bei dieser Gelegenheit“), so gehe der repressive Charakter des Verfahrens nicht verloren.33 Dieser Ansicht steht freilich entgegen, dass sie die Beurteilung von einem zeitlichen Kriterium und nicht vom materiellen Gehalt der Handlung abhängig macht.34 Ein anderer Standpunkt besteht dagegen auf der Exklusivität von Repression und Prävention. Die Abgrenzung habe danach zu erfolgen, ob der Schwerpunkt der in Frage stehenden Maßnahme auf der Repression oder auf der Prävention liege.35 Diese Ansicht konzediert, dass es faktisch eine Gemengelage von beiden Zielen geben kann, aber rechtlich müsse eine strikte Trennung eingehalten werden. Bei sog. doppelfunktionellen Maßnahmen sei die Polizei deshalb gehalten, vor einer zu ergreifenden Maßnahme den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit festzulegen.36 Auf diese Weise werde sicher gestellt, dass die Aufgabe der Strafverfolgung und die Gefahrenabwehr nicht vermengt und zwei Rechtsmaterien nicht parallel angewendet würden.37 29 Zu dem Prinzip der „Innerprozessualität“ vgl. Rogall, in: Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 537; Kuhlen, in: NK (Anm. 12), § 343 Rn. 6; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Anm. 10), § 343 Rn. 3. 30 RGSt 25, 367; BGHSt 2, 149; 6, 145; Voßen, in: MK (Anm. 7), § 343 Rn. 16. 31 Wagenländer, Rettungsfolter (Anm. 9), S. 108; Erb, Jura 2005, 24; Steinke, Kriminalistik 2004, 326; Rogall, in: Festschrift für Rudolphi. 2004, S. 536. 32 Sog. doppelfunktionelle Maßnahmen; siehe dazu Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht13, 2001, Rn. 546. 33 Neuhaus, GA 2004, 523. 34 So zutr. von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 79. 35 Herzog/Roggan, GA 2008, 146; Rogall, in: Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 538; wohl auch Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil 29, 2005, § 77 II Rn. 26. 36 Zur rechtlichen Trennung beider Maßnahmen vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger (Anm. 16), S. 367; Gusy, Polizeirecht6, 2006, S. 367; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht11, 2007, S. 83; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht4, 2007, S. 26; Lambiris, Klassische Standardbefugnisse im Polizeirecht, 2002, S. 107. 37 Siehe Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht6, 2009, Rn. 423; Saliger, ZStW 116 (2004), S. 43; Kretschmer, RuP 2003, 103; Jahn, KritV 2004, 40.
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Das Argument, dass die an sich richtige Unterscheidung zwischen beiden Aufgaben stets deren Exklusivität bedinge, ist in dieser Allgemeinheit nicht haltbar. Es trägt schon deshalb nicht sehr weit, weil über die Kriterien der Schwerpunktsetzung keine Einigkeit besteht.38 Gewichtiger ist der Einwand, dass durch die rechtsstaatswidrige Erlangung einer Aussage zum Zweck der Gefahrenabwehr zugleich die Gefahr besteht, die Aussage als Geständnis der Tatbegehung anzusehen.39 In diesem Fall kontaminiert die präventive Maßnahme das Ermittlungsverfahren, in dem repressiv-strafrechtliche Interessen im Vordergrund stehen.40 Deshalb erscheint es unsachgemäß, den Festgenommenen säuberlich in seine Funktionen als „Störer“ und als „Verdächtiger“ aufzuspalten. Soweit auf die Zielsetzung des polizeilichen Handelns abgestellt wird, hat die Erörterung tatbestandssystematisch auf der subjektiven Tatebene zu erfolgen. Unter objektiven Gesichtspunkten besteht wegen des (auch) repressiven Effekts kein Anlass, die Rettungsfolter vom objektiven Tatbestand des § 343 StGB auszuschließen.41 c) Tathandlungen Als Zwangshandlungen, die zu einer Aussage nötigen sollen, benennt der Tatbestand des § 343 StGB die körperliche Misshandlung42, die Gewaltanwendung43, die Gewaltandrohung44 und das seelische Quälen45. Stellt man allein auf diese Tathandlungen ab, wäre das äußere Geschehen, das mit dem Begriff der Folter assoziiert wird, im Großen und Ganzen zutreffend wiedergegeben. Zum Beleg sei auf Art. 1 Abs. 1 der Anti-Folter-Konvention (FoK) verwiesen, in dem der (seltene) Versuch unternommen wird, das Phänomen der Folter begrifflich zu bestimmen. Wenn dort mit dem Ausdruck „Folter“ jede Handlung beschrieben wird, „durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden“, so steht – ebenso wie bei § 343 StGB – 38
Wie sich im Anschluss an die Folterandrohung im „Daschner-Fall“ gezeigt hat; vgl. LG Frankfurt a.M., StV 2003, 327. 39 Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 619. Den Selbstbelastungseffekt sucht Eser, in: Festschrift für Hassemer, 2010, S. 727 mit einem Verwertungsverbot zu begegnen. 40 Vgl. von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 80; Kinzig, ZStW 115 (2003), S. 796; Kretschmer, RuP 2003, 103. 41 BT-Drucks. 7/550, S. 278. 42 Entspricht § 223 StGB; vgl. Jescheck, in: LK (Anm. 27), § 343 Rn. 8; Lackner/ Kühl, StGB (Anm. 8), § 343 Rn. 3; Horn/Wolters, in: SK (Anm. 25), § 343 Rn. 7. 43 Der Begriff der Gewalt orientiert sich an dem des § 240 StGB; dazu Kindhäuser, in: LPK (Anm. 25), § 343 Rn. 11; Fischer, StGB (Anm. 12), § 343 Rn. 8; Voßen, in: MK (Anm. 7), § 343 Rn.25. 44 Zur Gewaltandrohung Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2 (Anm. 34), § 77 Rn. 26; Jescheck, in: LK (Anm. 27), § 343 Rn. 10. 45 Näher Siegert, DRiZ 1953, 99; Maiwald, JuS 1977, 350; BGHSt 15, 187 zu § 136a StPO; Kuhlen, in: NK (Anm. 12), § 343 Rn. 11; zur Phänomenologie eingehend Schaub, Grausamkeit und Metaphysik, 2009.
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im Zentrum der Definition das Tatobjekt der physischen und psychischen Integrität. Auch die drei Misshandlungsformen des Art. 3 EMRK (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) beziehen sich auf den Schutzbereich der körperlichen und seelischen Integrität.46 Allerdings macht die Aufzählung deutlich, dass das Völkerrecht die verschiedenen Misshandlungsformen nach ihrem Schweregrad differenziert.47 Dementsprechend verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich, dass die Folter – als die eingriffsintensivste Misshandlungsform – „besonders gravierend“ sein muss.48 Wo im nationalen Recht explizit auf den Begriff der Folter Bezug genommen wird49, findet sich zwar keine materielle Beschreibung des Phänomens, aber es besteht Einigkeit, dass insofern die im Völkerrecht vorgegebene Definition gilt. Von dieser Definition weicht § 343 StGB nur insofern ab, als die durch einen Amtsträger begangene Verletzung der körperlichen Integrität des Opfers nicht besonders schwerwiegend sein muss. 2. Subjektiver Tatbestand a) Nötigungsabsicht nach dem Kriterium der Zwecksetzung Der innere Tatbestand erfordert neben dem Vorsatz hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale zusätzlich die Absicht, den Tatbetroffenen zu einer Aussage oder Erklärung oder zu deren Unterlassung zu nötigen. Spätestens an der Hürde der speziellen Nötigungsabsicht scheitert nach überwiegender Meinung die Pönalisierung der Rettungsfolter gemäß § 343 StGB. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass sich die Absicht auf die Nötigung zu einer Aussage in einem der in den Nummern 1 bis 3 genannten, repressiven Verfahren beziehen muss.50 Dieses Moment der Verfahrensidentität könne bei der speziellen Konstellation der Rettungsfolter nicht angenommen werden, da die auf die Rettung von 46 Dazu Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996, S. 17; Demko, HRRS 2005, 95; Hailbronner, DÖV 1999, 67. Amtsträgereigenschaft und Zwecksetzung der Informationsgewinnung weichen ebenfalls nicht von den Voraussetzungen des § 343 StGB ab; vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtkonvention3, 2008, § 20 Rn. 21; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht (Anm. 14), § 3 Rn. 37; Bungenberg, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 12 Rn. 1. 47 Art. 7 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte setzt bei der Folter ebenfalls die Zufügung erheblicher körperlicher oder seelischer Schäden oder Leiden voraus. 48 Vgl. Salman/Türkei, Urt. des EGMR vom 27. Juni 2000 (Fall „Tomasi“). 49 Z. B. in § 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB, § 53 Abs. 1 AuslG, § 60 Abs. 2 AufenthG oder in § 6 AsylblG. 50 Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Anm. 10), § 343 Rn. 16; Horn/ Wolters, in: SK (Anm. 25), § 343 Rn. 11b; Kuhlen, in: NK (Anm. 12), § 343 Rn. 13; Rogall, in: Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 537.
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Menschenleben abzielende Misshandlung präventiv determiniert sei.51 Den Einwand, der Beschuldigte lege durch die abgenötigte Aussage zugleich ein Geständnis über die Tat ab, pariert die h. M. mit dem Argument, dass es sich bei der mit der Nötigung verbundenen, repressiven Folge um einen unerwünschten Nebeneffekt handele, der von der erforderlichen Absicht nicht umfasst sei. Dieser Standpunkt verdankt sich den Konkretisierungen, die der allgemeine Absichtsbegriff im Bereich des Betrugstatbestands erfahren hat. Im Ausgangspunkt besteht Einigkeit darüber, dass der Täter mit Bereicherungsabsicht nur dann handelt, wenn er den ihm objektiv zuwachsenden Vermögensvorteil zielgerichtet anstrebt.52 Das Erfordernis des zielgerichteten Willens wird von der Rechtsprechung53 und einem Teil der Literatur54 dahingehend ausgelegt, dass der Vorteil weder der einzige Zweck noch das einzig tragende Motiv zum Handeln sein muss. Es genüge, wenn der Täter ihn neben anderen Zielen als Mittel für einen anderweitigen Zweck anstrebe. Dagegen sei es mit dem Merkmal der Zielgerichtetheit nicht mehr vereinbar, wenn der Vorteil für den Täter nur eine notwendige Nebenfolge eines von ihm erstrebten anderen Erfolgs darstelle. Erscheint die vom Täter als sicher vorausgesehene Nebenfolge diesem „als peinliche oder lästige Folge seines Handelns“, die er nur hinnimmt, weil er glaubt, sonst sei das mit der Handlung angestrebte Ziel zu verfehlen, soll diese Nebenfolge nicht mehr vom Begriff der Absicht umfasst sein.55 Überträgt man das Auseinanderfallen von (End- oder Zwischen-)Ziel und bloßer Nebenfolge auf den Sachverhalt der Rettungsfolter, erscheint es konsequent, die Gefahrenabwehr als angestrebtes Ziel und die Strafverfolgung als unerwünschte Nebenfolge zu qualifizieren. b) Nötigungsabsicht nach dem Kriterium der Zielgerichtetheit Gegen die herrschende Meinung ist einzuwenden, dass sie die Intentionalität dessen, was den Absichtsbegriff ausmacht, verkennt56. Um die im Unterschied 51 LG Frankfurt a.M., NJW 2005, 695; Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 620; Jessberger, Jura 2003, 712; Mitsch, Die Polizei 2004, 155; Norouzi, JZ 2005, 3307; Ziegler, KritV 2004, 52. 52 Dencker, in: Festschrift für Grünwald, 1999, S. 86; von Selle, JR 1999, 311; zum Vorteilsbegriff eingehend Kargl, ZStW 114 (2002), S. 798; ders., JZ 2005, 505. 53 BGHSt 16, 6; BGH NStZ 2003, 264; OLG Köln NJW 1987, 2095; BayObLG JZ 1994, 384; 1999, 491. 54 Welzel, NJW 1962, 20; Fahl, JA 1997, 110; Rengier, JZ 1990, 321; Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil5, 1996, § 29 III 1a; Tiedemann, in: LK (Anm. 12), § 263 Rn. 250; Seier, NZV 1995, 34; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 8 Rn. 41; Herzberg, JuS 1972, 185; Seelmann, JuS 1982, 748. 55 Siehe auch Hohmann/Sander, Strafrecht Besonderer Teil2, 2000, § 11 Rn. 156; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4, 2006, § 12 Rn. 13; zum Ganzen Gehrig, Der Absichtsbegriff, 1986, S. 73. 56 Dies gilt auch für die Auffassung von Wagenländer, Rettungsfolter (Anm. 10), S. 106, wonach es inkonsequent sei, innerhalb des Tatbestands den Begriff des Verfah-
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zum direkten Vorsatz hervorgehobene Dominanz des voluntativen Elements57 richtig zu erfassen, ist es hilfreich, auf die von der Rechtsprechung entwickelte Definition zurückzukommen. Danach handelt in „Bereicherungsabsicht“, wer einen Vermögensvorteil zielgerichtet anstrebt, wem es also auf den Vorteil als Erfolg seines Handelns ankommt.58 Für dieses „Anstreben“ ist erforderlich, dass die Vorstellung, ihn herbeizuführen auf den Tatentschluss bestimmend einwirkt.59 In Abgrenzung zum dolus directus II ist dagegen nicht vorausgesetzt, dass der Täter den Erfolgseintritt, auf den es ihm ankommt, für sicher hält.60 Entscheidend für die Annahme von Absicht ist also allein die Frage, ob der tatbestandsmäßige Erfolg das Ziel der Täterhandlung war. Mit dem Kriterium der „Zielgerichtetheit“ verträgt es sich nicht, wenn Zielsetzung und Zwecksetzung miteinander vermengt werden. Diese Vermengung kommt regelmäßig in der Wendung zum Ausdruck, dass der angestrebte Erfolg gerade der Beweggrund für das Verhalten des Täters sein muss. Das ist als generelle Aussage nicht richtig. Es mag nicht selten vorkommen, dass Ziel und Motiv zusammenfallen, weil der Täter aus der Erfolgsverwirklichung unmittelbar Befriedigung schöpft. Doch häufiger dürfte es so sein, dass der Täter das Ziel der Tatbestandsverwirklichung nur als Mittel zu einem anderen „Ziel“ einsetzt.61 Hinter den weiteren Zielen oder – besser gesagt – hinter den anderen Zwecken verbirgt sich nichts anderes als das Motiv für den angestrebten Erfolg. Wer einen Bankraub begeht, dem kommt es darauf an, an das Geld der Bank zu gelangen, das eigentliche Motiv kann aber ganz verschiedener Natur sein: Schulden bezahlen, die teure Operation der Ehefrau finanzieren oder dem Ruf zu entgehen, beruflich am Ende zu sein.62
rens sowohl repressiv als auch präventiv zu verwenden. Bung, KritV 2005, 67, 71, plädiert in Fällen, in denen durch die Handlung mehrere Erfolge gleichzeitig bewirkt werden, für die Auflösung der Unterscheidung der Vorsatzformen des direkten Vorsatzes und der Absicht. Dagegen spricht, dass trotz des gleichzeitigen Wissens und Wollens um Ziel und Nebenfolge die Möglichkeit besteht, dass der voluntative Aspekt verschieden stark ausgeprägt ist; siehe dazu Beutler, Vernehmungszwecke (Anm. 18), S. 160; von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 26. 57 Näher zu den Erscheinungsformen des Vorsatzes Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil39, 2009, Rn. 211; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil8, 1992, § 22 Rn. 15. 58 BGHSt 14, 388; 16, 4; 18, 248; 38, 352; BGH NStZ 1992, 541; 1996, 39; StV 2000, 79; BayObLG NStZ 1994, 492. 59 Küper, Strafrecht Besonderer Teil7, Definitionen mit Erläuterungen, 2008, S. 86. 60 Vgl. Lackner/Kühl, StGB (Anm. 8), § 263 Rn. 58; Welzel, NJW 1962, 21; Krey/ Hellmann, Strafrecht Besonderer Teil 215, 2008, Rn. 89b; Roxin, AT I (Anm. 54), § 12 Rn. 10; v. Selle, JR 1999, 315. 61 Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen der Zielvorstellung des Täters und dem Beweggrund oder Motiv seines Handelns vgl. Puppe, in: NK (Anm. 12), § 15 Rn. 106; siehe auch BGH GA 1985, 321. 62 Weiteres Beispiel bei Wessels/Beulke, AT (Anm. 56), Rn. 211.
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In der Sache greift auch die h. M. diese Differenzierung auf, wenn es heißt, der erstrebte Erfolg brauche weder das Endziel des Täters noch der überwiegende Zweck des Handelns zu sein.63 Doch die begriffliche Identität von Ziel und Motiv drängt sich wieder bei der Annahme in den Vordergrund, dass es bei der Absicht auf die affektive Beziehung zum Erfolg ankomme. Die Frage, ob der Erfolg nicht peinlich oder sonst unwillkommen war, gehört zu den Motiven des Täters und hat mit der Tatbestandsverwirklichung nichts zu tun. Aus der inneren Einstellung zur Tat spricht die Gesinnung des Täters und der Beweggrund zur Tat. Deshalb handelt es sich – worauf die verehrte Jubilarin64 zu Recht hinweist – beim Beweggrund nicht um ein Unrechtsmerkmal, sondern um ein Schuldmerkmal i. S. des § 46 StGB. Dort fungieren „Beweggründe und Ziele des Täters“ ausdrücklich als Strafzumessungsgesichtspunkte. Wird dagegen das Anstreben des Erfolgs mit dem emotionalen Kriterium der Gefühle gleichgesetzt, verliert sich das Ziel der Handlung auf der Suche nach Motiven und Willensabstufungen im „Seelensack“ (Hegel) des Täters. Belässt man es bei der Definition der Absicht als zielgerichteter Erfolgswille, dann fällt die Entscheidung hinsichtlich des Sachverhalts der Rettungsfolter nicht schwer: Dem Täter kommt es darauf an, durch die Folter eine Selbstüberführung des Beschuldigten abzupressen.65 Das eigentliche Motiv, mit dem Geständnis Menschenleben zu retten, ändert nichts an der Zielgerichtetheit des tatbestandsmäßigen Verhaltens. 3. Rechtswidrigkeit a) Notwehr (§ 32 StGB) Ein weiterer Ansatz, die Rettungsfolter zu privilegieren, könnte darin bestehen, dem Amtsträger das Nothilferecht des § 32 StGB zuzubilligen. Nach Maßgabe dieser Vorschrift müsste es erforderlich und geboten sein, das als Angriff zu verstehende Schweigen des Beschuldigten abzuwehren. Die erste Hürde, die sich aus der Anwendung der Nothilfe auf den einschlägigen Sachverhalt ergibt, errichtet die vielfach vertretene Ansicht, dass die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe nur für den Bürger, nicht hingegen für die Polizei gelten.66 Diese Hürde sucht 63 Zur Differenzierung in Fernziel und Nahziel Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil2, 2009, § 20 Rn. 131; gegen eine unterschiedliche Behandlung erwünschter und unerwünschter Nebenfolgen Tiedemann, in: LK (Anm. 12), § 263 Rn. 251, 253; Gehrig (Anm. 54), S. 73. 64 Puppe, in: NK (Anm. 12), § 15 Rn. 107. 65 Der eher theoretische Fall der Folterung eines Zeugen, der mit der Entführung nichts zu tun hat, wäre von § 343 StGB nicht erfasst. 66 Zum Meinungsstand Roxin, AT I (Anm. 54), § 15 IX, § 16 V 2; vgl. auch Helmrich, Die Berufung gewerblicher Sicherheitskräfte auf Notwehr und Nothilfe, 2008, S. 98; Götz, Polizeirecht (Anm. 31), S. 337; Gusy, Polizeirecht (Anm. 36), S. 398; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht (Anm. 36), S. 290; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizeirecht (Anm. 35), § 10 Rn. 30; Ehlers, in: Festschrift für Lukes, 1989, S. 353.
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Erb67 damit zu umgehen, dass er Opfer, Angreifer und Nothelfer gleichsam im „Naturzustand“ agieren sieht. Da der Staat durch das Verbot der Folter die Verteidigung des Opfers vereitle, trete faktisch eine Situation ein, als ob es keinen Staat gäbe. Würde man hier den Nothelfer unter Androhung von Strafe davon abhalten, Hilfe zu leisten, so sei dies nicht anders zu bewerten als eine Beihilfe zum Angriff auf das Opfer.68 Wegen dieser tatsächlichen Auswirkung spiele es keine Rolle, ob der Nothelfer eine Privatperson oder ein Amtsträger sei.69 Dem Verweis auf den Naturzustand ist aus dem einfachen Grunde zu widersprechen, weil der Täter seine Amtsträgereigenschaft nicht dadurch verliert, dass er seine Amtspflichten verletzt.70 Die Entscheidung über staatliches Handeln ist mit der Ermittlung und der Festnahme gefallen, und wird durch eine polizeiliche Vernehmung, die fundamentale Rechtsnormen missachtet, nicht außer Kraft gesetzt. Aus der Selbstbindung des Staates wäre auch eine Privatperson, die faktisch in der Funktion eines Amtsträgers handelt, nicht entlassen.71 Das Folterverbot macht weder in der Verfassung noch im internationalen Recht eine Ausnahme für den einzelnen Bürger. Vor dem Hintergrund der absoluten Pflicht zur Achtung des Folterverbots können Notwehr- und Nothilfehandlungen also niemals geboten sein. b) Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) An die Legitimierung des Folterverbots gemäß der Notstandsvorschrift kann nur gedacht werden, wenn man sich die These zu eigen macht, das Lebensinteresse des Opfers sei wesentlich wichtiger als die Beachtung des Folterverbots. Darüber hinaus setzt Satz 2 des § 34 StGB voraus, dass die Tat ein angemessenes Mittel ist, um die Gefahr abzuwehren.72 Ob die Angemessenheitsklausel eine eigenständige Bedeutung hat73 oder ob deren Wertungsgesichtspunkte schon bei 67
Erb, Jura 2005, 27. Erb, NStZ 2005, 594. 69 Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf Private vgl. Helmrich, Sicherheitskräfte (Anm. 65), S. 102; Tischbein, Zusammenstellung einiger Aspekte der rechtlichen Behandlung privater Sicherheitsunternehmen, 2000, S. 158; Beaucamps, JA 2003, 4403; Huber, Wahrnehmung von Aufgaben der Gefahrenabwehr durch das Sicherheits- und Bewachungsgewerbe, 2000, S. 150. 70 Vgl. Lüderssen, in: Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 705; von Schenck, Folter (Anm. 22), S 61. 71 Roxin, in: Festschrift für Nehm, 2004, S. 210. 72 Einen Abriss der Entwicklung des Notstandsrechts bieten Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 78 und Erb, JuS 2010, 17, 109 f; zur Zumutbarkeitsprüfung gem. § 35 Abs. 1 S. 2 vgl. Hörnle, JuS 2009, 877. 73 BT-Drucks. IV/650, S. 159; Amelung/Schall; JuS 1975, 569; Grebing, GA 1979, 81; Hruschka, JuS 1979, 385; Joerden, GA 1991, 411; Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand, 1990, S. 212; Renzikowski, Jahrbuch für Recht und Ethik 2005, S. 646; Erb, in: MK (Anm. 7), § 34 68
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der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind74, bedarf keiner Erörterung, da die Streitfrage vorliegend keine praktische Auswirkung hat. Es ist allseits anerkannt, dass eine Rechtfertigung im Sinne der Notstandsvorschrift ausgeschlossen ist, wenn der Täter in unantastbare Rechte des Betroffenen eingreift.75 Zu den Wertungen, von denen man sagen kann, dass sie weder einer Güterabwägung zugänglich sind, noch ihre Missachtung jemals als angemessen bezeichnet werden könnte, zählt an erster Stelle die Menschenwürde.76 Diesen Fall von der Notstandsrechtfertigung auszuschließen, war das erklärte Motiv des Gesetzgebers.77 c) Öffentlich-rechtliche Rechtfertigung Ein Argument aus dem öffentlichen Recht betont den Wertungsunterschied, der darin bestehen soll, dass der Polizei beim „finalen Rettungsschuss“ sogar die Tötung eines Menschen zur Rettung eines anderen Menschen erlaubt, wohingegen in derselben Situation schon die Androhung von Folter verboten sei.78 Diese Analogie nimmt jedoch die Unterschiedlichkeit des Sachverhalts nicht ausreichend zur Kenntnis. Zum einen ist der Umstand bedeutsam, dass der Rettungsschuss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den rechtswidrigen Zustand beendet, bei der Folter bleibt dagegen der gewünschte Erfolg häufig offen.79 Zum anderen ist der Unterschied der Eingriffsgüter relevant. Beim finalen Rettungsschuss erschöpft sich die Maßnahme in der Verletzung des Körpers bzw. des Lebens des Betroffenen. Die Folter begnügt sich nicht mit der „bloßen“ Neutralisierung des Opfers, sondern instrumentalisiert darüber hinaus das Opfer, indem sie seinen Körper und seine Psyche zum willenlosen Objekt einer Erzwin-
Rn. 168; ders., JuS 2010, 112; Neumann, in: NK (Anm. 12), § 34 Rn. 21, 117; Fischer, StGB (Anm. 12), § 34 Rn. 36. 74 Jescheck/Weigend, AT (Anm. 53), § 33 IV Rn. 3d; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 123; Stree, JuS 1973, 464; Lenckner/Cramer, in: Schönke/Schröder (Anm. 10), § 34 Rn. 46; Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil8, 1998; S. 102; Otto, Strafrecht Besonderer Teil7, 2005, § 8 Rn. 178; Zieschang, in: LK (Anm. 12) , § 34 Rn. 79; Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen?, 1986, S. 53; ders., JZ 1980, 755. 75 Roxin, AT I (Anm. 54), § 15 IX; Fischer, StGB (Anm. 12), § 34 Rn. 16; Lackner/ Kühl, StGB (Anm. 8), § 34 Rn. 6, 9. 76 Dazu ausf. das BVerfG vom 15. Februar 2006 (NJW 2006, 751) zur Regelung des § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz, die es erlaubte, entführte Verkehrsflugzeuge durch Angehörige der Bundeswehr abzuschießen und gegebenenfalls unbeteiligte Passagiere zu töten. Zust. Hassemer, StV 2006, 321; Schenke, NJW 2006, 736; Sachs, JuS 2006, 448; Gropp, GA 2006, 284; Merkel, JZ 2007, 373; abl. Rogall, NStZ 2008, 5. 77 Roxin, AT I (Anm. 54), § 16 IV. 78 Brugger, in: FAZ vom 10. März 2003, S. 8; ders., JZ 2000, 167; ders., Der Staat 35 (!996), 74; siehe auch Miehe, NJW 2003, 1219. 79 Kinzig, ZStW 115 (2003), S. 806; Saliger, ZStW 116 (2004), S. 47; Baum, in: Liebl (Hrsg.), Vernehmung in schwierigen Feldern, 2006, S. 152.
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gungshandlung macht.80 In dem Moment der Objektivierung des Betroffenen liegt die Rechtfertigung des kategorischen Verbots der Folter.81 Würden Rettungsfolter und Rettungsschuss rechtlich gleich behandelt, müsste man auch die Rechtsgüter „Leben“ und „Menschenwürde“ als gleichwertig ansehen.82 Dem steht jedoch entgegen, dass die Verfassung selbst eine unterschiedliche Wertung getroffen hat und somit eine analoge Behandlung der beiden Maßnahmen ablehnt: Einerseits sieht sie in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG gesetzliche Einschränkungen für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vor, andererseits ist die Würde „unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 GG) und unterliegt damit keinen Beeinträchtigungen.83 Insofern ist es verfehlt, aus der Zulässigkeit des finalen Rettungsschusses auf die Zulässigkeit einer der Gefahrenabwehr dienenden Folter zu schließen. Nach einer anderen Ansicht soll es zwischen der Würde des zu Folternden und der Würde von dessen Opfer eine Pattsituation geben.84 Die sich daraus ergebende Abwägung zur Lösung dieser Kollision müsse zugunsten der Schutzpflicht des Opfers ausfallen, da der zu Folternde sich selbst in diese Kollision gebracht habe und es auch allein an ihm liege, diesen Zustand zu beenden.85 Dass die Würde des entführten Opfers missachtet wird, ergebe sich aus der Preisgabe seines Lebens als bloßes Mittel zum Zweck der Erpressung. In der Situation, in der Würde gegen Würde stehe, müsse die Rechtsordnung sich auf die Seite des Opfers stellen.86 An dieser Ansicht trifft zu, dass der Täter die Würde des Entführ80 Hufen, JuS 2010, 4, 6; Wilhelm, in: Liebl (Hrsg.), Vernehmung in schwierigen Feldern, 2006, S. 121; Ebel, Kriminalistik 1995, 827; Roxin, in: Festschrift für Eser, 2005, S. 464; Enders, in: Nitschke, Rettungsfolter (Anm. 5), S. 138; vgl. auch Eisenhardt, Das nemo-tenetur-Prinzip. Grenze körperlicher Untersuchungen beim Beschuldigten, 2007, S. 216. 81 Nach a. A. wird ein qualitativer Unterschied zwischen Folter und Rettungsfolter damit begründet, dass der Zweck der Lebensrettung die Menschenwürde nicht tangiere; stattdessen sollte man von „Rettungsbefragung“ sprechen, insoweit Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung, 2006; siehe auch Herdegen, in: Maunz/Dürig (Anm. 6), Art. 1 Rn. 43 ff. 82 So aber Brugger, VBlBW 1995, 450; Kloepfer, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band 2, 1976, S. 412; ders., in: Badura (Hrsg.), in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, 2001, S. 77, gewichtet die Schutzbedürftigkeit des Lebens sogar schwerer als die der Menschenwürde. 83 Zum Stellenwert der Menschenwürde als dem Höchstwert der Verfassung vgl. Kretschmer, RuP 2003, 108; Kahl/Ohlendorf, JuS 2008, 683; Hufen, JuS 2010, 2; Dederer, JöR 2009, 93; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II25, 2009, Rn. 349; Ipsen, Grundrechte12, 2009, Rn. 225; Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, 926; Wittreck, DÖV 2003, 878; monographisch: Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; Ladeur/Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, 2009; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2007; Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2008. 84 Brugger, in: Nitschke, Rettungsfolter (Anm. 5), S. 112; ders., Aus Politik und Zeitgeschichte 2006, 12. 85 Brugger, VBlBW 1995, 450; H. Götz, NJW 2005, 955.
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ten verletzt. Gleiches gilt aber nicht für den Staat, wenn er Foltermaßnahmen unterlässt. Denn das Folterverbot formuliert die absolute Grenze jeder Schutzverpflichtung. Zur Erfüllung seiner Aufgaben darf sich der Staat demnach nicht derselben Methoden bedienen wie der Täter. Gerade in der Achtung vor den Grenzen, die dem staatlichen Handeln gesetzt sind, erweist sich die sittliche Überlegenheit des Rechtsstaats gegenüber dem Rechtsbrecher. Dieser moralische Unterschied würde verwischt, wenn man im Unterlassen der Folter einen Menschenwürdeverstoß erblicken und den Staat zu einem Handeln verpflichten würde, das ihm untersagt ist.87 Die behauptete Pattsituation ist also eine Fiktion, die letztlich nur dazu dient, die Differenzierung zwischen Leben und Menschenwürde aufzuheben. 4. Zwischenergebnis Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass die unrechtsbeschreibenden Merkmale des § 343 StGB das Phänomen der (Rettungs-)Folter weitestgehend erfassen. Lediglich die von Privatpersonen vorgenommenen und/oder auf rein präventive Ziele gerichteten Foltermaßnahmen zählen nicht zum Anwendungsbereich des § 343 StGB.88 Für die „Privatfolter“ verbleiben also nur diejenigen Fälle, in denen Privatpersonen einen anderen Menschen misshandeln, um etwa Rache zu üben oder den Entführer zu einer Aussage über den Aufenthaltsort des Opfers zu bewegen. Da die Polizei in der Regel die besseren Zugriffsmöglichkeiten hat, dürften solche Konstellationen praktisch wenig relevant sein.89 Im Ergebnis ebenfalls eher theoretischer Natur dürfte eine staatliche Beteiligung an Folterhandlungen sein, die nicht in den Bereich eines repressiven Verfahrens fallen.90 86 Brugger, JZ 2000, 169; ähnlich Daschner in einem Interview mit der Zeitschrift „Der Spiegel“ Nr. 9, 24. Februar 2003, S. 24. Februar 2003, S. 24; ebenso Kissel, in: FAZ vom 5. März 2003, S. 7. 87 Roxin, in: Festschrift für Eser, 2005, S. 466; von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 58; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 248; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 46; Merten, JR 2003, 407; Lübbe, in: Lenzen (Hrsg.), Ist die Folter erlaubt?, 2006, S. 74: „Eine Würdeverletzung, die zu Recht geschieht, kann es nicht geben“. 88 Davon zu unterscheiden sind Misshandlungen von privater Hand, die in einem staatlichen Zurechnungszusammenhang stehen, weil sie durch den Staat veranlasst oder auch nur geduldet werden; für das Völkerrecht vgl. Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention: EMRK-Kommentar2, 1996, Art. 1 Rn. 10 ff.; Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 15. 89 Vgl. Polzin, Strafrechtliche Rechtfertigung der „Rettungsfolter“, 2008, S. 158; Kinzig, ZStW 115 (2003), S. 807; von Schenck (Anm. 22), S. 43 ff. 90 Die ausschließlich präventive Zielsetzung ist für Polizeibeamte praktisch schwer vorstellbar, da die Befragung zur Erlangung von Informationen regelmäßig als Vernehmung eines Beschuldigten zu bewerten ist und daher (auch) ein repressives Verfahren vorliegt.
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Obwohl sich für die reine Privatfolter demnach nur ein sehr schmales Anwendungsfenster öffnet, ist die Frage nicht erledigt, ob der Gesetzgeber weiterhin an der Eingrenzung des Täterkreises auf Amtsträger und an der Beschränkung der Tatsituation auf repressive Verfahren festhalten sollte.91 Diese Frage stellt sich umso dringlicher, wenn man die Einbindung der Rettungsfolter in den Tatbestand des § 343 StGB an den Kriterien der prozessakzessorischen Tatsituation oder der Aussagenötigungsabsicht scheitern lässt. Was spricht dagegen, Folter mit ausschließlich präventiver Zielsetzung nicht ebenfalls der hohen Strafdrohung des § 343 StGB zu unterstellen? Warum bedarf es der Amtsträgereigenschaft, um tauglicher Täter einer Folterhandlung zu sein? Diese Fragen lenken den Blick auf den materiellen Unrechtsgehalt des Folterphänomens, der über die bloße Verletzung der körperlichen Integrität und der Willensentschließungsfreiheit des Betroffenen hinausweist. III. Folterverbot im Lichte des Rechtsgüterschutzkonzepts 1. Folter als Menschenwürdeverletzung a) Die „Objektformel“ Heute besteht – von wenigen Ausnahmen abgesehen92 – Konsens darüber, dass die Folter mittels der Verletzung der körperlichen Integrität des Betroffenen einen Angriff auf die Menschenwürde darstellt. Im Völkerrecht ist anerkannt, dass die Integritätsverletzung als solche die Folter nicht begründen kann, sondern zusätzlich das Opfer in seinem Menschsein betroffen und damit in seiner Würde verletzt worden sein muss.93 Die Konkretisierungen, die das BVerfG94 im Anschluss an Dürig95 vorgenommen hat, bestimmen den Verletzungsvorgang nach Maßgabe der „Objektformel“. Danach ist die Würde verletzt, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“96. Diese Formel liefert zwar keine inhaltliche Definition der Men91 Teilweise wird die Beschränkung des Täterkreises abgelehnt; siehe dazu Perron, in: Festschrift für Weber, 2004, S. 150; Kretschmer, RuP 2003, S. 108; Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 619. 92 Z. B. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Anm. 6), Art. 1 Rn. 45; Herzberg, JZ 2005, 325; Eser, in: Festschrift für Hassemer, 2010, S. 715 f. (beide zumindest für die Androhung der Folter). 93 Zur Folter im Kontext des Art. 3 EMRK vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3, 2008, § 20 Rn. 21; Bungenberg, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 12 Rn. 1; Schweizer/Sprecher, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, ARSP Beiheft 101 (2005), S. 140; Karl, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde2, 2005, S. 33. 94 BVerfG 9, 95; 27, 6; 28, 391; 45, 228; 50, 175; 87, 228; 96, 399; 115, 153. 95 Dürig, AöR 81 (1956), 127. 96 Dürig, in: Maunz/Dürig (Anm. 6), Art. 1 Abs. 1 Rn. 28; krit. zur Reichweite der Objektformel Eser, in: Festschrift für Hassemer, 2010, S. 217.
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schenwürde97, aber sie benennt den Modus, der darüber entscheidet, wann der Mensch zum Objekt degradiert wird. b) Verobjektivierung im Staat-Bürger-Verhältnis Erblickt man den Kern der Phänomenologie der Folter in der Verletzung der Menschenwürde, ist noch nicht mit letzter Sicherheit entschieden, worin der für das Strafrecht relevante Unterschied zwischen der Privatfolter und der staatlichen Folter besteht. Immerhin ist der Gedanke der Instrumentalisierung des Betroffenen zu außerhalb seiner Person liegenden Zwecken auch auf das Verhältnis zwischen Privaten anwendbar. Gleichwohl lässt sich unschwer erklären, warum die Subjektqualität des Opfers im Staat-Bürger-Verhältnis stärker negiert wird als im Bürger-Bürger-Verhältnis.98 Im Falle der rein privaten Folter steht dem Betroffenen staatliche Hilfe in präventiver und repressiver Hinsicht zur Verfügung.99 Befindet sich dagegen ein Amtsträger auf der Täterseite, erhöht sich die Schutzund Hilflosigkeit des Opfers in erheblicher Weise.100 Denn nicht nur, dass die Institution, die qualifizierten Schutz vor der Verletzung von Grundrechten bieten kann, auf der Täterseite steht, auch die Gefahr, dass Straftaten von Amtsträgern nur schwer verfolgbar sind, liegt auf der Hand.101 Mit Blick auf die durch die Objektformel näher charakterisierte Menschenwürdeverletzung macht es also Sinn, bei der Folter das Staat-Bürger-Verhältnis vorauszusetzen.
97 Definitionen, die auf das Wesen der Menschenwürde abstellen, gelten als gescheitert, so etwa die Definition von Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 22, 1968, S. 1: „(Die Menschenwürde ist) der Eigenwert und die Eigenwertigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin“. Andere Versuche, die Menschenwürde abstrakt-generell zu bestimmen, indem man sie als die Summe der Addition von Einzelgarantien ansieht (vgl. Podlech, in: AK-GG3, 2001, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17) führen in einen Abwägungsprozess, der gerade vermieden werden soll; vgl. Nettesheim, AöR 130 (2005), S. 77. 98 Ausführlich zu dieser Thematik Fahl, Jura 2007, 748; von Schenck (Anm. 22), S. 45; Prittwitz, in: Festschrift für Herzberg, 2008, S. 537. 99 Durch den Gewaltbegriff und die Drohungsalternative ist sichergestellt, dass jede denkbare Folterhandlung – also auch die Rettungsfolter – unter § 240 StGB subsumierbar ist; dazu Gromes, Präventionsfolter – ein rechtsgebietsübergreifendes Phänomen, 2007, S. 97. Demgegenüber würde § 223 StGB nur die physischen Misshandlungen des Opfers, nicht dagegen „die Folter seines Geistes“ (Lilie, in: LK [Anm. 12], § 223 Rn. 8) erfassen. 100 Vgl. Perron, in: Festschrift für Weber, 2004, S. 152; Saladin, in: Riklin (Hrsg.), Internationale Konventionen gegen die Folter, 1979, S. 132; Bruha/Steiger (Anm. 13), S. 25. 101 Singelnstein, Misshandlungen in polizeilichem Gewahrsam, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Prävention von Folter und Misshandlung in Deutschland, 2007, S. 213.
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c) Vorrang des Schutzes der Rechtspflege Mit dem Festhalten an der Amtsträgereigenschaft des Täters sind aber noch nicht alle Bedenken ausgeräumt, die an der repressiven Ausrichtung der Norm ansetzen. Selbst wenn man – wie hier – trotz der vorgegebenen Innerprozessualität auch präventiv orientierte Misshandlungen wie die Rettungsfolter durch § 343 StGB erfasst sieht, zeigen die der Norm zugeschriebenen Schutzrichtungen, dass sie das Unrecht der Folter nicht in Gänze abbilden. Entsprechend der von der überwiegenden Auffassung vertretenen dualen Schutzrichtung102 sollen bei der Aussagerpressung zwar auch die Individualrechtsgüter der körperlichen Integrität und der Willensentschließungsfreiheit geschützt werden. Im Vordergrund steht aber der amtsbezogene Schutz der Rechtspflege.103 Dies folgt einerseits aus der Einordnung der Aussageerpressung als echtes Amtsdelikt104 und andererseits aus der Ausgestaltung der Tatbestandsmerkmale. Danach leitet sich der Unrechtsgehalt des Delikts vor allem aus dem Umstand ab, dass die Übergriffe von Amtsträgern in staatlichen Verfahren begangen werden. Da dieser Aspekt auch für die Bestimmung des Rechtsguts maßgeblich sein muss, ist es folgerichtig, wenn der Schutz des § 343 StGB primär nicht dem Individualrechtsgut der Willensfreiheit, sondern dem kollektiven Rechtsgut der „Rechtspflege“ bzw. genauer: der Strafrechtspflege gilt.105 Dieses Rangverhältnis der Rechtsgüter spiegelt indes nicht die Pönalisierungswürdigkeit der Folter wider, deren Substanz in der Verletzung der Menschenwürde besteht.106 Zudem deckt die Fokussierung der Schutzrichtung auf die 102 Kuhlen, in: NK (Anm. 12), § 343 Rn. 3; Horn/Wolters, in: SK (Anm. 25), § 343 Rn. 2; Fischer, StGB (Anm. 12), § 343 Rn. 1; a. A. Geppert, Jura 1981, 81, der allein auf die Rechtspflege abstellt. 103 Nach Jescheck, in: LK (Anm. 27), § 343 Rn. 1 soll § 343 StGB die Rechtspflege davor bewahren, die Rechtsordnung mit gesetzeswidrigen Vernehmungsmethoden durchsetzen zu wollen; ähnlich Horn/Wolters, in: SK (Anm. 25), § 343 Rn. 2. Da die Bekämpfung staatlichen Machtmissbrauchs eng mit der Idee des Rechtsstaats verknüpft ist, sehen einige Autoren die Rechtsstaatlichkeit als geschütztes Rechtsgut des § 343 StGB an, so etwa Amelung, in: Festschrift für Dünnebier, 1982, S. 513; Wiedemann, Die Aussageerpressung, 1953, S. 17; Wagner, Amtsverbrechen, 1975, S. 187; von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 190. Dagegen wegen des zu hohen Abstraktionsgehalts Hirsch, ZStW 88 (1976), S. 752; Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, 1990, S. 169; Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht, 2001, S. 239; wohl auch Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2010, 116: Strukturprinzip und Grundsatz des Grundgesetzes. 104 Zur strafbegründenden Wirkung der Amtsträgereigenschaft vgl. Kuhlen, in: NK (Anm. 12), § 343 Rn. 18; Horn/Wolters, in: SK (Anm. 25), § 343 Rn. 2; Fischer, StGB (Anm. 12), § 343 Rn. 1. Die Gegenposition, die § 343 StGB für einen Spezialfall der (versuchten) Nötigung und damit für ein unechtes Amtsdelikt hält (Cramer/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder [Anm. 10], § 343 Rn. 1; Lackner/Kühl, StGB [Anm. 8], § 343 Rn. 1), überzeugt nicht, weil sich das Unrecht der Aussageerpressung originär aus dem Bezug zur Staatstätigkeit speist. 105 Wagenländer, Rettungsfolter (Anm. 9), S. 102; Voßen, in: MK (Anm. 7), § 343 Rn. 1.
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Strafrechtspflege nicht den Phänomenbereich der Folter ab, da sich die Übergriffe von Amtsträgern nicht auf repressive Verfahren beschränken. Vor diesem Hintergrund erscheint es schon wegen des Streits über die Reichweite der Innerprozessualität sinnvoll, die Norm des § 343 StGB auf alle staatlichen Maßnahmen zu erstrecken. Damit würden jedenfalls die phänotypischen Verhaltensweisen der Folter erfasst. Die darüber hinausgreifende Forderung, die schwerste Menschenrechtsverletzung nicht nur nebenher als Angriff gegen die Körperintegrität und die Willensfreiheit, sondern explizit – wie in § 130 StGB107 – als „Angriff auf die Menschenwürde“ auszuweisen, würde sicher der expressiv-symbolischen Funktion des Strafrechts entgegenkommen.108 Aber dann müsste zumindest die Rechtsgutsqualität der Menschenwürde gesichert sein – eine Voraussetzung, die sowohl im Verfassungsrecht als auch im Strafrecht äußerst umstritten ist. 2. Menschenwürde als Schutzgut a) Postulat oder subjektives Grundrecht? In der verfassungsrechtlichen Literatur ist immer noch ungeklärt, ob es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um ein Grundrecht oder ein allen Grundrechten vorausliegendes Staatsprinzip handelt. Dass der Streit nicht zur Ruhe kommt, hängt mit der oben bereits angesprochenen Schwierigkeit zusammen, den Begriff der Menschenwürde positiv zu bestimmen. Solange die inhaltliche Definition der Menschenwürde durch den Rückgriff auf die negative Objektformel ersetzt werden muss, lässt sich in der Tat schwerlich ein Schutzbereich einhegen, der eine Linie gegenüber anderen Lebensbereichen zieht.109 Aus diesem Grunde begreifen einige Autoren die Menschenwürde nicht als ein „normales“ Grundrecht, das die klassischen Eigenschaften einer subjektiv-rechtlichen Gewährleistung aufweist, sondern allein als ein „tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes“110, das den Staat darauf verpflichtet, die Grundrechte so zu respektieren, dass durch ihre Verletzung der Betroffene nicht zum Objekt degradiert wird.111 Bei der Men106 Ausführlich von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 97; Gromes, Präventionsfolter (Anm. 98), S. 97. Bereits de lege lata halten die Menschenwürde durch § 343 StGB für abgesichert: Wiedemann, Aussageerpressung (Anm. 102), S. 17; Schneidewin, JZ 1955, 26; Herzog/Roggan, GA 2008, 145. 107 Näher zur Funktion der Menschenwürde in § 130 StGB Kargl, Jura 2001, 178 f. m.w. N. 108 Fischer-Lescano, in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, 2006, S. 146; Bielefeldt, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, 2007. 109 Hierzu instruktiv Enders, Menschenwürde (Anm. 82), S. 107 ff.; Dreier, in: ders., GG (Anm. 6), Art. 1 Rn. 40, 127. 110 BVerfGE 87, 228. 111 So etwa Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 164 ff.; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S. 14; Dreier, in: Seelmann, Menschenwürde (Anm. 6), S. 49 ff.; ders., in: BK-GG, 2008, Art. 1 Rn. 63; Böckenförde, JZ 2003, 809.
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schenwürde wäre danach von einem an den Staat gerichteten Postulat auszugehen, das die Freiheit des Bürgers vor den mit amtlichen Befugnissen ausgestatteten Personen garantieren soll.112 Demgegenüber vertraten das BVerfG113 und die Mehrheit im Schrifttum114 von vornherein die Auffassung, Art. 1 Abs. 1 GG stelle (zumindest auch) ein Grundrecht dar, das der konkreten Person eine subjektive Rechtsposition zuweise. Den Befürwortern des Grundrechtscharakters des Art. 1 Abs. 1 GG geht es dabei vor allem darum, die verfassungsrechtliche Klagbarkeit von Menschenwürdeverletzungen sicherzustellen.115 Das Manko, dass es sich hierbei um ein rein ergebnisorientiertes Argument handelt116, kann freilich bis zu einem gewissen Grad durch den Hinweis auf die Systematisierung, die der Schutzbereich der Menschenwürde durch die Rechtsprechung erfahren hat, entschärft werden.117 Dennoch verdeutlichen die Fallgruppen, dass sich die einzelnen Elemente der Menschenwürde und die spezielleren Grundrechte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG) sowie die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) überschneiden. Diesem Gesichtpunkt hat sich auch das BVerfG nicht verschlossen, wenn es in der Menschenwürde das Fundament aller Grundrechte und folglich in den Grundrechten die Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie erblickt.118 Daher fällt es nicht leicht, einen eigenständigen Anwendungsbereich eines Menschenwürdegrundrechts zu erkennen, der nicht schon durch den Schutz der Art. 2 ff. GG abgedeckt wäre.119
112 Dazu Neumann, in: Festschrift für Manoledakis, Bd. II, 2007, S. 45, 56; Heinrich, Amtsträgerbegriff (Anm. 102), S. 281; Manoledakis, in: Prittwitz/Manoledakis (Hrsg.), Strafrecht und Menschenwürde, 1998, S. 9 ff. 113 BVerfGE 61, 137; BVerfG, NJW 1994, 783; NJW 2001, 584. 114 Vgl. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte (Anm. 82), Rn. 350; Epping, Grundrechte (Anm. 13), Rn. 585; Kunig, in: von Mangold/Kunig, GG, Bd. 15, 2000, Art. 1 Rn. 3; Höfling, in: Sachs, GG4, 2007, Art. 1 Rn. 3; Robbers, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, 2002, Art. 1 Rn. 33; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 58 II 5; von Bernstorff, Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie, Der Staat 47 (2008), S. 21 ff. 115 Explizit bei Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG (Anm. 4), Art. 1 Abs. 1 Rn. 30, der die Klagbarkeit der Würde mittels der Verfassungsbeschwerde als entscheidendes Argument für die Qualifizierung des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht anführt; siehe auch Enders, in: Seelmann, Menschenwürde (Anm. 6), S. 50; Höfling, in: Sachs, GG (Anm. 113), Art. 1 Rn. 5. 116 So von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 32 im Anschluss an Enders, Menschenwürde (Anm. 82), S. 115; vgl. auch Dreier, in: ders., GG (Anm. 6), Art. 1 Abs. 1 Rn. 129. 117 Vertiefend zu den Fallgruppen Hufen, JuS 2010, 2 ff.; Epping, Grundrechte (Anm. 13), Rn. 589 ff. 118 BVerfGE 93, 293 („Soldaten sind Mörder“); 107, 284 (Schockwerbung II). 119 Epping, Grundrechte (Anm. 13), Rn. 584; Lenz, Freiheitsrechte (Anm. 111), S. 17.
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b) Menschenwürde als strafrechtliches Rechtsgut aa) Wertkomponente Stellt man die im verfassungsrechtlichen Schrifttum formulierten Zweifel an der selbständigen Rechtsgutsqualität der Menschenwürde beiseite, wäre immer noch zu klären, inwieweit die Menschenwürde mit den besonderen Bedingungen kompatibel ist, die für den Begriff des strafrechtlichen Rechtsguts entwickelt worden sind. Ohne auf die vielfältigen Facetten des strafrechtlichen Rechtsgutsbegriffs näher einzugehen, ist doch weithin anerkannt, dass er neben dem Wertaspekt, bei dem es um die Ermittlung der schützenswerten Inhalte geht, auch eine Seinskomponente enthalten muss, deren Verletzungs- und Schutzmöglichkeit tatsächlich nachweisbar ist.120 Schon die positive Bestimmung des wertbezogenen Inhalts der Menschenwürde bereitet Schwierigkeiten. Über eine Anknüpfung an die allgemeine Aufgabe des Strafrechts, wonach nur der Schutz solcher Werte in Betracht kommt, die für ein friedliches Zusammenleben und die freie Entfaltung der Bürger unabdingbar sind, wird man kaum hinauskommen.121 Zwar lässt sich bei dieser Aufgabenbestimmung die Gefahr begrenzen, dass rein moralische oder ideologische Werte in den Katalog der Rechtsgüter aufgenommen werden122, aber die Abstraktheit und Allgemeinheit der Objektformel ist – wie oben dargelegt – außerstande, eine bereichsspezifische Konkretisierung zu gewährleisten. Zur Beantwortung der Frage, wann ein Mensch zum Objekt degradiert wird, bedarf es vielmehr externer Referenzpunkte, anhand derer sich die Negierung der Subjektqualität des Betroffenen beurteilen lässt.123 Erst durch die Bezugnahme auf Individualrechtsgüter wie Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit wird es möglich, anhand der Objektformel zu entscheiden, wann ein Verhalten nicht nur die Grundrechte verletzt, sondern zugleich das Opfer instrumentalisiert.124 120 Überblick bei Roxin, AT I (Anm. 54), § 2 Rn. 2 ff.; M. Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, 1972, S. 9 f.; Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 93; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 18. 121 Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 138; Hassemer, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 58; J. Vogel, StV 1996, 110; Schmidt-Jortzig, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 501; vertiefend zur nichtempirischen Begründung der Menschenrechte Zaczyk, in: Festschrift für Hassemer, 2010, S. 259 ff. 122 Die Filterfunktion des allein auf Wertaspekte gegründeten Rechtsgutsbegriffs ist allerdings nur gering zu veranschlagen; vgl. dazu Dubber, ZStW 117 (2005), S. 508; Hassemer, in: Festschrift für Arthur Kaufmann, 1989, S. 85; J. Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S. 9; Kargl, Vertrauen als Rechtsgutsbestandteil, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 41 ff. 123 Sog. „Anseilungstheorie“, vgl. Kloepfer, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 517.
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bb) Realitätskomponente Eine schärfere Profilierung scheint die Rechtsgutsqualität der Menschenwürde durch den Seinsaspekt zu erfahren, sofern dieser über den Begriff des personalen „Interesses“ ermittelt wird.125 Mit der Berufung auf ein begründetes Interesse kann dargelegt werden, warum man überhaupt ein Recht hat, warum dem Leben, der körperlichen Integrität, dem Eigentum etc. ein Wert zukommen soll, der einen Anspruch auf Achtung legitimiert.126 Der Interessenbegriff schließt überdies die nichtmaterielle Realität ein127 und ist deshalb gegen eine ontologisierende Deutung, die nur Bezug auf die Wirklichkeit körperlicher Gegenstände nimmt128, besser gefeit. Eine Verletzungstauglichkeit kann seelisch-geistigen Sachverhalten ebenfalls nicht abgesprochen werden, da sie – anders als ideelle Gedankengebilde – keineswegs der kausalen Einwirkung entrückt sind. Der gegenteilige Standpunkt verkennt, dass die Schädlichkeit von Interessenverletzungen nicht zuvörderst im Eintritt unerwünschter Zustände oder in der Beeinträchtigung von Sachen oder Dingen liegt, sondern in der Verletzung eines Anspruchs, dass dieser Zustand unter den gegebenen Umständen nicht eintrete.129 Definiert man das Interesse an der Menschenwürde dahingehend, nicht zum Objekt staatlicher Will-
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Zum Ganzen ausführlich von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 29 ff. Näher Papagorgiou, Schaden und Strafe, 1994, S. 107; Alexy, Individuelle Rechte und kollektive Güter, in: Internationales Jahrbuch für Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, 1989, S. 59; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 60 ff.; Kargl, ARSP 1996, 490; zur personalen Rechtsgutstheorie und zum rechtsphilosophischen Begriff der „Person“ Hassemer, in: Festschrift für Arthur Kaufmann, 1989, S. 85; Radbruch, Rechtsphilosophie8, 1979, S. 225; Coing, Der Rechtsbegriff der Person und die Theorie der Menschenrechte, in: ders., Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 56; Günther, in: Neumann/Prittwitz (Anm. 122), S. 17 ff.; Sternberg-Lieben, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Anm. 121), S. 65 ff. 126 Dazu, dass sich die Begründung des Interesses nicht aus subjektiven Wünschen herleiten lässt, sondern dass sie auf einer intersubjektiven Verständigung über die unerlässlichen Komponenten der Entwicklungsinteressen der Person beruhen muss, vgl. Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik, 1978, S. 16; Mittelstraß, Über Interessen, in: ders. (Hrsg.), Methodologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, 1975, S. 126 ff. 127 Hierzu schon Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts14, 1847, S. 45; siehe auch Stratenwerth, in: Festschrift für Lenckner, 1998, S. 380; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 226; krit. zur Gefahr der „Vergeistigung“ des Rechtsguts Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 175; Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 55. 128 In diese Richtung die Konzeptionen z. B. von H. Meyer, Strafrecht AT, 1967, S. 53: „Zustand“; M. Marx, Rechtsgut (Anm. 120), S. 9: „Gegenstand“; Manoledakis, Menschenwürde (Anm. 112), S. 11: „Objekt“. 129 Das naturalistische Verletzungsmoment betont v. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663, wenn er behauptet, dass nicht die Rechtsgüter als solche, sondern nur ihre sinnlich wahrnehmbare „Hülle“, das „Handlungsobjekt“ geschädigt werden könnte. 125
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kür zu werden, spricht auf den ersten Blick wenig dagegen, die Menschenwürde unter den Interessenbegriff zu subsumieren.130 cc) Verhaltenskomponente Es ist nicht zu übersehen, dass sich diese Definition genau genommen nicht dem Inhalt der Menschenwürde, sondern dem Angriffsverhalten verdankt. Ansatzpunkt für den Schutzbereich wäre danach nicht die Frage, worin die Würde des Menschen besteht, sondern die Frage, wodurch die Menschenwürde verletzt werden kann, welche Handlungen eine demütigende, missachtende oder entwürdigende Behandlung implizieren.131 Eine solche Vorgehensweise würde aber die begründende Funktion des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes untergraben, weil sie die Beurteilung der Legitimität der Pönalisierung vom Verhalten abhängig macht. Die Prüfungsreihenfolge hat daher umgekehrt zu erfolgen: Zuerst geht es um das „Warum“ der strafrechtlichen Bewährung bestimmter Interessen und danach um das „Was“ und „Wie“ der Tatbestandsumschreibung.132 Erst die Kombination von Rechtsgut, Tatobjekt und Angriffsverhalten sowie deren wechselseitige Beziehung konstituieren die Bedingungen der Pönalisierungswürdigkeit. Die Konzentration auf das Angriffsverhalten führt indes auch nicht zur erforderlichen Klarheit der Tatbestandskonturen. Denn das Verbot der Fremdbestimmung verlangt – wie wir gesehen haben – seinem umfänglichen Sinn nach, dass „der Mensch von keinem Menschen . . . bloß als Mittel, sondern . . . jederzeit zugleich als Zweck“ gebraucht werde133. Dies kann bereits dadurch geschehen, dass der Täter eine Situation schafft, in der seine eigenen Vorstellungen, Zwecke, Einsichten oder Überlegungen diejenigen des Opfers verdrängen oder dominieren. Im Strafrecht sind Angriffe dieser Art unter Strafe gestellt, wenn der Täter einzelne Persönlichkeitsrechte durch Beleidigung, Nötigung, Freiheitsberaubung, Köperverletzung etc. beeinträchtigt. Eine über diese ohnehin massiven Tathandlungen hinausgehende Einfügung der Formel vom „Angriff auf die Menschenwürde“ hätte also nur unter der Voraussetzung Sinn, dass der Begriff der Men130 Zur Rechtsgutsqualität der Menschenwürde vgl. NK-Ostendorf (Anm. 12), § 130 Rn. 4; Peglau, Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Strafrecht, 1997, S. 47; zust. im Hinblick auf die Folter Roxin, AT I (Anm. 54), § 2 Rn. 20 ff.; Neumann, in: Festschrift für Manoledakis, Bd. II, 2007, S. 45; Prittwitz, in: Prittwitz/ Manoledakis (Anm. 112), S. 27; abl. Vitzthum, JZ 1985, 204. 131 Neumann, ARSP 1998, 165; ihm folgend Bong-Jin Ko, Menschenwürde und Biostrafrecht bei der embryonalen Stammzellenforschung, 2008, S. 45 ff. 132 Näher zu den unterschiedlichen Funktionen Maurach/Zipf, Strafrecht AT 17, 1987, § 19 II Rn. 4; Wohlers, GA 2002, 16; Kargl, GA 2001, 550; Manes, ZStW 114 (2002), S. 722; Seher, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Anm. 121), S. 39; von Schenck, Folter (Anm. 22), S. 128 ff.; Hassemer/Neumann, in: NK (Anm. 12), Vor § 1 Rn. 112 m.w. N. 133 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. VII, BA 96.
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schenwürde in einem engeren Sinn als in Art. 1 GG verstanden würde. Bei § 130 StGB hat das Abstellen auf die Verletzung des „unverzichtbaren Kernbereichs der Persönlichkeit“ nicht dazu geführt, dass aus dem Wortlaut der Norm herausgelesen werden kann, welches Verhalten – als „Rechtsgutsbeeinträchtigung“ – unter Strafe gestellt ist und welches nicht.134 Ähnliches gilt für das in § 7 V StGB formulierte „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, bei der die Zuschreibung von Schutzgütern wie „Menschenwürde“135, „Humanität“136, „elementare Menschenrechte“137 oder schlicht „Menschlichkeit“138 verständlicherweise keinen Sachverhalt spezifiziert, der sich von anderen Lebensbereichen abgrenzen ließe.139 Unter diesen Voraussetzungen entbehrt das in Anspruch genommene Begriffspathos nicht nur jeglichen kritischen Potentials, sondern ist noch nicht einmal dazu geeignet, der Praxis Hilfestellung bei der Auslegung des Tatbestands zu leisten. IV. Ergebnis und Ausblick Auf die Frage, ob die Verteidigung der Geltung des absoluten Folterverbots in § 343 StGB eine angemessene Berücksichtigung findet, hat die vorliegende Untersuchung eine geteilte Antwort gegeben. Einerseits hat sich gezeigt, dass die Beschränkung des Tatbestands der Aussageerpressung auf repressiv-prozessakzessorische Misshandlungen die Folter zwar in ihrem Kernbereich erfasst, die Übergriffe von Amtsträgern in rein präventiven Verfahren jedoch vernachlässigt. Insofern erscheint es schon wegen des Streits über die Reichweite der Innerprozessualität sinnvoll, die Norm des § 343 StGB auf alle staatlichen Maßnahmen zu erstrecken. Andererseits ist vorstehend der darüber hinausgehenden Forderung, die schwerste Menschenrechtsverletzung im Tatbestand des § 343 StGB explizit als „Angriff auf die Menschenwürde“ auszuweisen, eine klare Absage erteilt worden. Auch wenn nicht verkannt wird, dass das Unrecht der Folter substantiell in der Verletzung der Menschenwürde besteht, so würde sich deren 134 Siehe Schultz, in: Festschrift für Maihofer, 1988, S. 520; Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000, S. 56; Kargl, Jura 2001, 178; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Anm. 10), § 130 Rn. 3, 6; zur Judikatur vgl. BGHSt 36, 90; 40, 100; BVerfGE 87, 223. 135 Meseke, Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, 2004, S. 124; Stahn/Eiffler, StV 1999, 258. 136 Werle, Völkerstrafrecht7, 2007, S. 239. 137 Becker, Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1996, S. 118; Lampe, in: Festschrift für Kohlmann, 2003, S. 153. 138 Gropengießer, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, 2003, S. 118. 139 Vor allem dann, wenn der Bestand der Völkergemeinschaft, die Menschheit oder das Wohl der Welt in den Schutzbereich aufgenommen werden; dazu krit. Kirsch, Der Begehungszusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 2009, S. 120 ff.
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normative Verdeutlichung in einer bloß symbolisch-expressiven Geste erschöpfen. Mit dem Abrücken vom Schutz ausschließlich repressiver Verfahren wäre der Vorwurf, § 343 StGB verteidige lediglich das Interesse an der (Straf-) Rechtspflege, ohnehin obsolet geworden, da die Ausweitung der Tatsituation zwangsläufig die Individualinteressen der Opfer ins Blickfeld rückt. Am Schluss fällt daher das Resümee einigermaßen leicht: Die überschießende Werttendenz, die an sich jedem Rechtsgut eigen ist, erfährt im Falle der Menschenwürde eine Verschärfung, die nicht nur die Tatbestandsbestimmtheit außer Kraft setzt, sondern auch die Legitimationsfunktion schwächt, die im freiheitlichen Strafrecht immer nur darin bestehen kann, das jeweilige Rechtsgut als relativ schutzwürdig zu bestimmen.
Strafbare Untreue und Gemeinwohlbindung von Gesellschaftsvermögen Von Rainer Keller Mehrfach hat Ingeborg Puppe gefordert, beim Betrug die primär wirtschaftliche Schadensbestimmung einzuschränken: „Jede wirtschaftliche Betrachtungsweise im Recht muss da ihre Grenze finden, wo sie dazu führt, dass jemand aus seinen eigenen rechtswidrigen Absichten Vorteile zieht.“1 Puppe macht dies im Hinblick auf den sog. unechten Erfüllungsbetrug geltend, wo die h. M.2 wegen der schon bei Vertragsschluss gegebenen Absicht des Schuldners, den rechtlichen Anspruch des Gläubigers nicht zu erfüllen, aber eine der geschuldeten wirtschaftlich gleichwertige Leistung zu erbringen, den Schaden verneint. Puppe kritisiert mit der referierten These die Berücksichtigung der auf Nichterfüllung gerichteten Absicht. Sie macht auch methodische Vorbehalte gegen die wirtschaftliche Schadensbestimmung im gegebenen Fall geltend: Die wirtschaftliche Gleichwertigkeit der Leistungen sei rechtlich nur schwer zu bestimmen, weshalb die Orientierung an dem im Vertrag der Beteiligten begründeten zivilrechtlichen Anspruch zu präferieren sei. I. Problemstellung Im Folgenden soll die Diskussion um den unechten Erfüllungsbetrug nicht weitergeführt werden. Vielmehr wird untersucht, was Puppes Thesen bedeuten im Hinblick auf einige neuerdings im Zusammenhang mit der Untreue aufgetretene Fragen – genauer: Ist der von einem Vorstandsmitglied oder anderen leitenden Mitarbeitern einer Aktiengesellschaft betriebene strafrechtswidrige Einsatz von Gesellschaftsvermögen als Untreue gemäß § 266 StGB zu bewerten, wenn er wirtschaftlich zu einem Gewinn führt? Nicht berücksichtigt werden also die speziell mit dem Unterhalten schwarzer Kassen verbundenen Probleme der schadensgleichen Vermögensgefährdung. Es wird davon ausgegangen, dass der zur Betreuung des Gesellschaftsvermögens Verpflichtete dieses – wie im Bundesliga-Fall – zur Finanzierung von Bestechungen einsetzt, die erfolgreich in dem Sinne sind, dass die Unrechtsvereinbarung erfüllt wird und beispielsweise die Vereinsmannschaft ein Spiel gewinnt oder das Unternehmen – wie im Siemens1 2
Puppe, JZ 1984, 531 (532); in der Sache ebenso dies., ZIS 2010, 216 ff. Vgl. Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT 232, 2009, Rn. 540 m.w. Nachw.
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Fall – einen profitablen Auftrag erhält oder, nachdem ein Zivilrichter bestochen wurde, ein wirtschaftlich günstiges Urteil erreicht. Wird hier die mit dem Einsatz von Bestechungsgeld entstandene Vermögensminderung durch den erzielten Gewinn kompensiert? Legt man Puppes Thesen zu Grunde, so könnte angenommen werden, wenn die rechtswidrige Absicht des Betreuungspflichtigen ihn nicht entlasten darf, dann ebenso wenig die Realisierung der Absicht: der durch die Erfüllung der Unrechtsvereinbarung erzielte Gewinn. Dieser dürfte nicht als Kompensation des Verlustes bewertet werden. Andererseits könnte argumentiert werden, dass in den dargestellten Konstellationen – anders als in dem von Puppe thematisierten Fall – der Unwert der Absicht und ihrer Verwirklichung – die Bestechung – durch die selbständige Bestrafung des Täters – wegen Bestechung – erfasst und abgegolten wird, also nicht als Untreue gegenüber der Aktiengesellschaft zu bewerten sei. Damit würde unterstellt, das Unrecht der Bestechung sei relevant nur in Relation zu dem von dieser unmittelbar betroffenen Rechtsgut: dem sportlichen oder wirtschaftlichen Wettbewerb, der Integrität der staatlichen Willensbildung, der Unparteilichkeit der Justiz etc. – nicht aber in Relation zu dem vom Täter jeweils zu betreuenden Vermögen. In dieser Relation könne der Gewinn aus der Bestechung durchaus als Kompensation des Bestechungsgeldeinsatzes bewertet werden. Hier greifen jedoch Puppes methodische Bedenken ein: Bei konsequent wirtschaftlicher Schadensbestimmung wäre nicht nur der unmittelbar erzielte Vorteil zu berücksichtigen, sondern auch die mehr oder weniger naheliegende Gefahr der Tataufdeckung, der Rückabwicklung, des Verfalls und des Prestigeverlustes des Unternehmens. Ob an diese schwierig zu quantifizierenden Faktoren das Recht gekoppelt werden sollte, ist fraglich. Deshalb könnte angenommen werden, die gegen den Willen des Unternehmensinhabers erfolgende Umsetzung rechtmäßigen Unternehmensvermögens in Deliktsbeute sei rechtlich stets als Schaden am Vermögen zu bewerten. – Zu den Voraussetzungen der Untreue im Einzelnen: II. Betreuungspflicht und Pflichtverletzung Nach dem Gesellschaftsrecht verletzt der Vorstand einer Aktiengesellschaft mit dem Einsatz von Gesellschaftsvermögen für Bestechungen oder sonstige Straftaten, auch wenn die Straftat absehbar profitabel sein wird, die ihm gegenüber der Gesellschaft obliegende Pflicht zur Vermögensbetreuung (§ 93 I AktG).3 Im Innenverhältnis kann die „nützliche Pflichtverletzung“ gerechtfertigt sein, jedoch nur, so wird überwiegend angenommen, wenn sie vertraglich begründete Pflichten betrifft, nicht also bei Strafrechtsverstößen wie Bestechungen. Teilweise werden für „seltene Fälle“ wettbewerbsbeschränkende Schmiergeldzahlungen (§ 299 StGB) im Interesse des Unternehmens in dessen Innenverhältnis zu3
Dazu und zum Folgenden Fleischer, ZIP 2005, 141 (144 ff., 148) m.w. Nachw.
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gelassen.4 Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 19845, die hier einen weiteren Spielraum zuließ, dürfte inzwischen überholt sein, denn der gegen Schmiergeldzahlungen zu schützende Wettbewerb hat als wirtschaftinterne Machtbeschränkung seitdem an Bedeutung gewonnen, weil in Folge der Internationalisierung der Wirtschaftstätigkeit staatliche Regulationen der wirtschaftlichen Macht geschwächt wurden; näher dazu unten VIII. 2. Gleiches gilt für andere selbstständig agierende Mitarbeiter, an die die Wahrnehmung von Vorstandsaufgaben delegiert wurde. Ein Einverständnis des Vorstands mit dem pflichtwidrigen Verhalten solcher Mitarbeiter rechtfertigt nicht – anders (wiederum) bei Verletzung vertraglich begründeter Pflichten und eventuell den genannten seltenen Fällen. Im Strafrecht wird die Pflichtverletzung teilweise enger gefasst im Hinblick auf die Spezifik des durch § 266 StGB zu schützenden Vermögens.6 Ob dies angemessen ist, wird vorliegend nicht erörtert. Es hängt u. a. ab von der näheren Bestimmung jenes Vermögens, die im Folgenden ausschließlich Thema ist. III. Rechtsprechung und Literatur zum Vermögensschaden 1. Zu den unter I. aufgeworfenen Fragen der Schadensbestimmung ist die Stellungnahme des Bundesgerichtshofes nicht ganz eindeutig. Im Bundesliga-Fall7 – der Vorstand eines Fußballvereins hatte Spieler eines anderen Vereins bestochen und dadurch den Sieg seiner Mannschaft und vorübergehend den profitablen Klassenerhalt erreicht – bewertete der BGH den Klassenerhalt als Vermögensvorteil, der – auch unter Berücksichtigung des ex ante gegebenen Risikos der Tataufdeckung und des Klassenverlustes – den Einsatz des Bestechungsgeldes kompensiere. Hier wurde also eine konsequent wirtschaftliche Vermögensbestimmung zu Grunde gelegt, der – mit Einschränkungen – auch das Landgericht Darmstadt8 im Schwarze Kassen-Fall folgte: Der durch eine Schmiergeldzahlung erreichte Vergütungsanspruch aus einem Vertrag soll grundsätzlich zur Kompensation des eingesetzten Schmiergeldes geeignet sein. Dem hat der Zweite Senat des BGH9 in seiner Revisionsentscheidung zu den Schwarzen Kassen nicht widersprochen. Allerdings hat er in anderem Zusam4
Spindler, in: MüKo AktG, 2008, § 76 Rn. 89. BGH wistra 1984, 226; ebenso Zieschang, in: Park (Hrsg.), Kapitalmarktstrafrecht, 2004, S. 167 f. 6 Vgl. Bernsmann, GA 2009, 296 (300 ff.); Knauer, NStZ 2009, 151 (152 f.); Saliger, HRRS 2/2008, S. 57 (68 f.); Satzger, NStZ 2009, 297 (299 f.); Schünemann, NStZ 2006, 196 (198); Weber, FS Seebode, S. 437 (442). 7 BGH NJW 1975, 1234 f. 8 Vgl. Saliger, a. a. O. (Anm. 6), S. 73 ff. mit detaillierter Kritik. 9 NJW 2009, 89 ff. m. Anm. Ransiek. 5
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menhang eine bemerkenswerte neue Erwägung geltend gemacht. Nachdem er erläutert hat, dass das gegenüber dem Vermögensinhaber verdeckte Verwahren von Vermögen in den Schwarzen Kassen grundsätzlich schon als vollendeter Schaden zu bewerten sei, setzt er sich mit dem Umstand auseinander, dass der die Schwarzen Kassen führende Mitarbeiter das verdeckte Vermögen in für das Unternehmen gewinnbringende Bestechungen investieren wollte. Dies, so der BGH10, stehe der Bewertung als vollendeter Schaden aus „normativen Erwägungen“ nicht entgegen, denn die Entscheidung über die Art der Verwendung des Vermögens obliege dessen Inhaber. Deshalb könne der Plan einer dem Willen des Vermögensinhabers widersprechenden, letztlich finanziell vorteilhaften Verwendung die Annahme eines vollendeten Vermögensverlustes nicht ausschließen. Dies soll „namentlich dann“ gelten, „wenn der Vorteil durch einen seinerseits gesetz- oder sittenwidrigen und gegebenenfalls strafbaren Einsatz der Mittel erzielt werden könnte.“ Ist diese normative Erwägung zu vereinbaren mit der Bewertung des Bestechungserfolges als Kompensation? Rekonstruieren wir die normative Erwägung des BGH: Die Abweichung der verdeckten Verwahrung des Vermögens vom Willen des Vermögensinhabers liegt namentlich vor, wenn die Verwahrung motiviert ist von der Verwendung des Vermögens für Zwecke, deren Verwirklichung strafbar ist. Damit kann nicht gemeint sein, dass ein gewinnbringender Erfolg besonders unwahrscheinlich sei, wenn er durch strafrechtswidrige Taten erreicht werden soll11. Dies mag oft zutreffen, wäre aber eine empirische, nicht eine normative Erwägung, die der BGH anstellen will. Gemeint sein muss also, dass die Abweichung der verdeckten Vermögensverwahrung vom Willen des Vermögensinhabers normativ vertieft wird, also erst recht die Annahme vollendeten Schadens legitimiert, wenn sie auf Zwecke gerichtet ist, deren Verwirklichung strafbar ist. Dazu fügt sich, dass Thomas Fischer (Richter im Zweiten Senat) im Hinblick auf bezweckte Straftaten der Mitarbeiter betont, der BGH bestimme den Schaden durchaus auch normativ12. Damit aber ergibt sich: Die Abweichung vom Willen des Vermögensinhabers wird noch weiter vertieft, wenn die Zwecke realisiert, die Straftaten begangen werden, denn die Deliktsvollendung ist gravierender unwertig als der Plan. Der schon mit dem Plan eingetretene Schaden wird mit der Planverwirklichung vertieft. Und das Erzielen von Vorteilen durch die zunächst geplanten und dann begangenen Straftaten ist, wenn es sich um Bestechungen handelt, deren Beendigung, eine weitere Vertiefung des Schadens gemäß der vom BGH postulierten normativen Erwägung. Man kann auch nicht annehmen, von der negativ (als Schadensvertiefung) bewerteten Tatbegehung sei die Bewertung der Tatbeute zu trennen. Denn
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A. a. O. (Anm. 9), S. 92. So wohl Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8 (18); ders., StGB56, 2009, § 266 Rn. 73a; Wessels/Hillenkamp (Anm. 2), Rn. 775. 12 Fischer (Anm. 11), S. 11, 20. 11
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die §§ 73 ff. StGB demonstrieren mit dem Verfall der durch Straftaten erlangten Vorteile, dass diese dem Begünstigten normativ nicht zustehen. Wie mit der dargestellten normativen Erwägung zu vereinbaren sein soll, dass die gegebenenfalls erlangten Vorteile den Unwert des Vermögensschadens kompensieren sollen, bleibt rätselhaft. Der BGH will aber offenbar daran festhalten.13 Nicht erklärt werden könnte dies mit dem Hinweis, dass die jeweils begangene Bestechung ein anderes Delikt ist als die eventuell vorangegangene Untreue, denn den zu dieser gehörenden Schaden hat der BGH, wie gezeigt, u. a. mit dem Plan der Bestechung begründet und den Einsatz des Vermögens für die Bestechung hat er als Schadensvertiefung im Zusammenhang mit der Untreue bewertet. 2. In der Literatur wird die kompensierende Berücksichtigung des Gewinns aus Bestechungen abgelehnt von der Zweckverfehlungslehre14, sofern der auf die Bestechung gerichtete Vermögenseinsatz nicht vom Vermögensinhaber wirksam genehmigt war, also nicht durch Erfüllung der Vermögensbetreuungspflicht erlangt wurde. Teilweise entscheiden Vertreter der ökonomisch-juristischen Vermögensbestimmung ebenso, u. a. weil der Gewinn aus der Bestechung jenseits des rechtmäßigen Vermögensverkehrs erlangt wurde15. Überwiegend wird in der Literatur16 jedoch die ökonomische Komponente betont und die rechtswidrige Herkunft des Gewinns nur dann berücksichtigt, wenn dieser dem Vermögensinhaber zivilrechtlich nicht oder nicht sicher zusteht. Es kommt dann darauf an, ob der erlangte Vertrag oder das Urteil nichtig, bestandskräftig oder zunächst mit Risiken behaftet (anfechtbar, aufhebbar etc.) ist. Letzteres mindert den Wert des erlangten Vorteils. Es werden die Grundsätze des Risikogeschäftes angewendet17, so dass auch der erlangte nichtige Vertrag noch als Vorteil in wirtschaftlicher Sicht gelten kann, wenn die Aufdeckung der Nichtigkeitsgründe beim Vermögenseinsatz mehr oder weniger unwahrscheinlich war. Wenn die Risiken zunächst kaum sinnvoll zu quantifizieren waren (was oft der Fall sein dürfte), müs-
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Vgl. Fischer (Anm. 11), S. 18 Fn. 145; BGH NStZ 2009, 694 (695). NK2-Kindhäuser, 2005, § 266 Rn. 104, 113. 15 LK10-Hübner, § 266 Rn. 86; Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, S. 436 ff.; Seelmann, JuS1982, 509, 914, 918. In entsprechenden Fällen des Betruges wird teilweise die Vermögensverfügung verneint: Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 147; Samson, JA 1989, 314; SK7-Hoyer, 2004, § 263 Rn. 227; s. a. Bergmann-Freund, JR 1991, 357 f. 16 Mit Differenzen im Einzelnen: Bernsmann (Anm. 6), S. 308; Burger, Untreue durch das Auslösen von Sanktionen zu Lasten von Unternehmen, 2007, S. 223 ff.; Ransiek, ZStW 2004, 634 (678 f.); ders., StV 2009, 321 (322 ff.); Rönnau, FS Tiedemann, S. 713 (727 ff.); ders., StV 2009, 246 ff.; Saliger (Anm. 6), S. 73 ff.; Satzger (Anm. 6), S. 302 ff.; Schünemann (Anm. 6), S. 199; ders., StraFo 2010, 1 ff.; Weber, FS Seebode, S. 437, 442 ff. Zum Vermögensbegriff instruktiv: Arzt/Weber, 2000, § 20 Rn. 15 ff.; Kargl, JA 2001, 714 ff. 17 BGH NJW 1975, 1234 f. 14
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sen sie – in dubio pro reo – als gering eingeschätzt werden, so dass die kompensatorische Wirkung der Vorteile wenig beeinträchtigt wird, auch wenn sich später das Risiko verwirklicht.18 Diese primär wirtschaftliche Bewertung soll nun näher untersucht werden. Ihre Eigenheiten zeigen sich etwa, wenn der vermögensbetreuungspflichtige Mitarbeiter einer Aktiengesellschaft gegen den Willen des Vorstandes in einem Zivilprozess den Richter durch Zahlung von 10.000 A besticht und dadurch eine Verurteilung der Aktiengesellschaft zur Zahlung von 500.000 A abwendet. Hat der Mitarbeiter die Bestechung umsichtig durchgeführt, also das Risiko ihrer Aufdeckung und der Aufhebung des Urteils in der Wiederaufnahme gering gehalten, so ist von der erreichten Befreiung von der Zahlungspflicht nur wenig abzusetzen und der Vermögenseinsatz erscheint bei strikt wirtschaftlicher Sicht kompensiert. Der Mitarbeiter hat dann, weil er seine Bestechung geschickt kaschierte, keine Untreue begangen. Dass jemand nicht bestraft werden kann, weil er seine Tat verdeckte, ist juristischer Alltag. Dass seine Verdeckungsaktivität ihm zugutegehalten wird und die materiell-rechtliche Bewertung seines Verhaltens als Straftat ausschließt, könnte Bedenken wecken, weil dabei das rechtliche Sollen abhängig gemacht wird von der quantifizierten und kommerzialisierten Chance der Nichtdurchsetzung des Rechts. Herkömmlich wird die Koppelung des Sollens an die Zufälle oder Machtverhältnisse des Seins abgelehnt. Allerdings liegt hier nur eine mittelbare Koppelung vor: Die Bewertung als Untreue hängt ab von der quantifizierten Größe der Entdeckungschance bezüglich der Bestechung. Wegen Bestechung bleibt der Angestellte strafbar – wenn er nicht auch insofern die Verurteilung durch Bestechung mithilfe des Unternehmensvermögens abwendet, was nicht als Schaden gemäß § 266 gelten soll, wenn es dem Unternehmen wirtschaftlich nützt. Lassen wir diese in der Bundesrepublik derzeit wenig realistische Perspektive zunächst beiseite. Die Vertreter des primär wirtschaftlichen Schadensbegriffs bestreiten keineswegs, dass Korruption effektiv bestraft werden sollte. Die wirtschaftliche Bewertung soll sich auf den davon zu unterscheidenden Tatbestand der Untreue beziehen, weil dieser ausschließlich das Vermögen schütze, das der erwähnte Mitarbeiter zu betreuen hat. Der Tatbestand der Untreue dürfe, so wird argumentiert, nicht ausgeweitet werden, um Korruption zu bekämpfen. Die damit geltend gemachte Trennung des Interesses am Vermögen und am Unterbleiben von Straftaten, die mit ihm eventuell finanziert werden, ist jedoch möglicherweise überzogen.
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Ransiek (Anm. 16); Saliger (Anm. 6), S. 74.
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IV. Gemeinwohlbindung des Vermögens der Aktiengesellschaft 1. Das Vermögen von Aktiengesellschaften dient rechtlich auch dem Gemeinwohl. Die Vorstände von Aktiengesellschaften, die unmittelbar deren Vermögen zu betreuen haben, sind dabei nicht nur dem Interesse der Aktionäre und der Arbeitnehmer verpflichtet, sondern – in Ermessensgrenzen – auch dem Gemeinwohl19 und dazu könnte auch das Unterbleiben von Straftaten gehören, die mit dem Gesellschaftsvermögen begangen werden können, denn Straftaten betreffen, wie ihre Verfolgung durch staatliche Behörden zeigt, stets auch das Interesse der Allgemeinheit. Folglich könnte der durch die genannten Straftaten erlangte Gewinn, weil Ergebnis einer Zweckverfehlung, nicht als Teil des Gesellschaftsvermögens gelten. In der Begründung zu § 76 AktG heißt es: „Dass der Vorstand . . . die Belange der Aktionäre und der Arbeitnehmer zu berücksichtigen hat, versteht sich von selbst und braucht deshalb nicht ausdrücklich im Gesetz bestimmt zu werden. Gleiches gilt für die Belange der Allgemeinheit“20. Es wird dann auf § 396 AktG verwiesen, wonach die Gesellschaft auf Antrag einer Landesbehörde durch Urteil aufgelöst werden kann, wenn sie „durch gesetzwidriges Verhalten ihrer Verwaltungsträger“ „das Gemeinwohl . . . gefährdet“. Auch das Publizitätsgesetz zeigt die Gemeinwohlbindung des Vermögens der Aktiengesellschaft, denn das Vermögen ist Gegenstand der vorgeschriebenen Publizität für u. a. die Allgemeinheit. Im Übrigen wurde in der letzten Wirtschaftskrise, als zahlreiche Unternehmen durch staatliche Bürgschaften vor der Insolvenz bewahrt wurden, deutlich, dass das Gemeininteresse an den Unternehmen keine Phrase ist. Gewiss wird mit dem Bezug auf das Gemeinwohl die Differenzierung Privatwirtschaft/Staat nicht aufgehoben. Unstreitig hat der Vorstand aber einen „Interessenpluralismus“ zu wahren, wobei sein Ermessen weit, aber wie zu §§ 76, 396 AktG gezeigt nicht unbegrenzt ist. 2. Normativ begründet ist die Gemeinwohlbindung in Art. 14 II S. 2 GG, der sie freilich nur vage formuliert. Konkreter geht es um die Legitimation und Begrenzung der sozialen Macht, die mit wirtschaftlichem Vermögen verbunden ist und die insbesondere bei Vermögensakkumulation sozial wichtige Rechtsgüter wie die Unabhängigkeit der Justiz sachwidrig beeinflussen kann. Versucht man Gemeinwohl näher zu bestimmen, ist klar, dass damit mehr oder etwas anderes Dazu und zum Folgenden Hüffer, Aktiengesetz8, 2008, § 76 Rn. 12; Kübler/Assman, Gesellschaftsrecht6, 2005, S. 176 ff., 182 f.; Kübler, Verrechtlichung von Unternehmensstrukturen, in: Zacher/Simitis/Kübler/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Sicherheit, 1984, S. 167 ff., 217; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht4, 2002, S. 805 f. Teilweise [vgl. Spindler (Anm. 5), § 76 Rn. 65 ff.; Windbichler, Gesellschaftsrecht22, 2009, § 27 Rn. 23 f.] wird die Gemeinwohlbindung nur auf Art. 14 II GG bezogen und im Übrigen das Ermessen des Vorstandes betont. Zu dieser Differenz s. u. 2. 20 Zit. nach K. Schmidt (Anm. 19). 19
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gemeint sein muss als die Interessen von Aktionären und Arbeitnehmern, da ansonsten der Hinweis auf das Gemeinwohl neben jenen Interessen sinnlos wäre. Folgende Bedeutungen lassen sich unterscheiden: (a) Die materielle Versorgung der Bevölkerung sowie das Steueraufkommen des Staates, die durch erfolgreiches selbstständiges Wirtschaften der Gesellschaft gefördert werden, sofern freier Wettbewerb oder adäquate Machtbegrenzungen funktionieren. Ferner (b) die Förderung oder Schonung von bestimmten sozial wichtigen Rechtsgütern wie ökologischen Zuständen, karitativen Einrichtungen und dergleichen; die Berücksichtigung dieser Rechtsgüter steht ebenfalls weitgehend – nicht vollständig – im Ermessen des Vorstandes der Aktiengesellschaft. Schließlich (c) kann unter Gemeinwohl das allgemeine Recht, u. a. also das Strafrecht, verstanden werden, das der Vorstand und die Mitarbeiter gemäß § 93 I AktG zu respektieren haben. Diese Bedeutung dürfte in § 396 AktG sowie in der zitierten Begründung des § 76 AktG gemeint sein.21 Sie soll hier vorläufig zugrunde gelegt werden. 3. Dann ergibt sich, dass zumindest gesellschaftsrechtlich die Beeinträchtigung des Gemeinwohls als Nachteil am Vermögen der Aktiengesellschaft zu bewerten sein kann, weil dieses Vermögen auch dem Gemeinwohl dient. Es gibt kein Vermögen an sich, sondern nur als Gegenstand von Interesse22, das freilich seinerseits rechtlich zu definieren ist. Demgemäß kann ein Gegenstand in Bezug auf verschiedene rechtlich relevante Interessen unterschiedlich zu bewerten sein. Dass etwa die Brauchbarkeit einer Sache für die Bewertung des Verbrauchervermögens relevant sein kann, ist im Strafrecht weitgehend anerkannt. Daher kann auch der Einsatz des Gesellschaftsvermögens für kriminelle Zwecke als Nachteil im Hinblick auf das Gemeininteresse bewertet werden – auch wenn der Vermögenseinsatz rein wirtschaftlich profitabel ist und nicht die Gefahr besteht, dass durch Prestigeverlust in Folge der Straftat ein mittelbarer wirtschaftlicher Nachteil am Gesellschaftsvermögen entsteht. Es ist also zumindest gesellschaftsrechtlich nicht richtig, bei der Bestimmung des Vermögensnachteils das Vermögen ohne Weiteres nur wirtschaftlich im Hinblick auf ein eventuelles Aktionärsinteresse zu kalkulieren ohne Berücksichtigung seines eventuellen kriminellen, also gemeinschädlichen Einsatzes. Demgemäß wird im Gesellschaftsrecht angenommen, bei Bestimmung des durch pflichtwidrigen Einsatz von Unternehmensvermögen entstandenen Schadens könne ein gegebenenfalls durch die Pflichtverletzung entstandener Vermögensvorteil nicht als Ausgleich berücksichtigt werden, wenn dies den Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Gesetzeszweck entspricht.23 Die im Strafrecht herrschende Lehre geht darauf nicht ein, was erstaunt, denn es liegt nicht auf der Hand, dass das Strafrecht den Schaden rigider wirtschaftlich bestimmt als das Gesellschaftsrecht. 21 Vgl. Hüffer (Anm. 19), § 396 Rn. 2; Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd. 1, 2007, § 396 Rn. 4. 22 BGHSt 16, 321 (325 f.). 23 Fleischer (Anm. 3), S. 151 f.
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V. Übertragung der Gemeinwohlbindung ins Strafrecht? Nun muss das Strafrecht nicht alle in anderen Teilen der Rechtsordnung geschützten Interessen seinerseits schützen. Es könnte also vertreten werden, der Vermögensnachteil sei im Strafrecht anders zu bestimmen als im Gesellschaftsrecht; § 266 StGB schütze das Vermögen der Aktiengesellschaft ungeachtet der Gemeinwohlbindung jenes Vermögens.24 Dafür scheint zunächst Wortlaut des § 266 StGB zu sprechen, der auf „Vermögensinteressen“ des Geschäftsherrn abstellt. Indessen ist damit nicht ausgesagt, dass ein finanzieller Gewinn stets – also auch wenn er etwa durch Richterbestechung erlangt ist – dem Interesse des Geschäftsherrn am Vermögen entspricht. Wie erwähnt kann Vermögen, wie jeder Gegenstand, nicht unabhängig von Interessen bestimmt werden.25 Diese können auch normativ definiert werden. Geschäftsherr ist vorliegend die Aktiengesellschaft vertreten durch den Vorstand. Da dieser bei der Leitung der Aktiengesellschaft und der Verwaltung ihres Vermögens für sie auch Gemeinwohlinteressen zu wahren hat, ist nicht einzusehen, warum neben dem Interesse an finanziellen nicht auch normativ bestimmte soziale Belange relevant sein sollen, die gegebenenfalls ausschließen, einen finanziellen Gewinn als Kompensation eines Verlustes zu berücksichtigen. Auch der Rekurs auf das Rechtsgut führt nicht weiter. Dass das Vermögen nur finanziell zu bestimmen sei, ist eine Setzung. Die Rechtsgutslehre konnte noch nicht nachweisen, dass Individualrechtsgüter wie das Vermögen einer Aktiengesellschaft strafrechtlich unabhängig von ihrer rechtlich geordneten Einbindung, zu der vorliegend auch Gemeinwohlbelange gehören, zu schützen seien26, zumal das Individualeigentum selbst ein Ergebnis rechtlicher Zuweisung ist. Deshalb könnte das Vermögen der Aktiengesellschaft strafrechtlich akzessorisch zu deren gesellschaftsrechtlicher Konstitution auch unter Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen bestimmt werden. Die Relevanz der normativen Definition von Interessen am Vermögen wird in anderen Fällen von der h. M. anerkannt. Wenn der zu einer Geldstrafe Verurteilte deren Erfüllung vorschwindelt, wird angenommen, dass kein Vermögensschaden eingetreten sei, obwohl die geschuldete finanzielle Leistung ausblieb, an der wirtschaftlich – erinnert sei an die Höhe moderner Geldbußen – durchaus Interesse bestehen könnte. Dieses bleibt außer Acht, weil das Interesse des strafenden Staates normativ unabhängig von wirtschaftlichen Belangen bestimmt wird.27 – Im Übrigen ist auch Vertretern von primär wirtschaftlicher Bestimmung des Vermögens der strafbegründende Bezug auf soziale Interessen nicht fremd: 24
Dazu eingehend Schünemann (Anm. 4). Dazu NK-Kindhäuser (Anm. 14), Rn. 43; Nelles (Anm. 15), S. 468. 26 Zum Diskussionsstand vgl. einerseits Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 2 Rn. 7 ff.; andererseits Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I5, 2004, § 2 Rn. 7 ff. Zur rechtlichen Einbindung des Rechtsguts Vermögen instruktiv Kargl (Anm. 16). 27 Wessels/Hillenkamp (Anm. 2), Rn. 37 m.w. Nachw. 25
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Wenn im Verhältnis von Ganoven rechtswidrig einzusetzendes Vermögen abgeschwindelt wird, wird die Anwendung des § 263 StGB bekanntlich mit dem sozialen Interesse am Frieden zwischen den Beteiligten und an der Vermeidung der Diskriminierung Schwacher begründet.28 In den vorliegend relevanten Konstellationen kann auch nicht argumentiert werden, der Vorstand und die anderen Mitarbeiter hätten gegenüber der Allgemeinheit keine Vermögensbetreuungspflicht.29 Gleiches könnte hinsichtlich der Aktionäre gesagt werden, die nicht Vertragspartner des Vorstands und der Manager sind. Diese sind gegenüber der Aktiengesellschaft zur Betreuung von deren Vermögen verpflichtet, welches im Verhältnis zu den Aktionären verselbständigt ist. Und was dieses Vermögen ist, was hier vorteilhaft und nachteilig ist, ist allerdings zu bestimmen im Horizont der Interessen von Aktionären und Allgemeinheit. Schließlich kann auch nicht angenommen werden, zur Wahrung des Gemeinwohls sei die hier erwogene Nichtberücksichtigung des durch die Straftat eines Unternehmensmitarbeiters dem Unternehmen zugekommenen Gewinns überflüssig, weil ohnehin der Verfall (§ 73 StGB) das Gemeinwohl wahre. Denn die eventuelle Nichtberücksichtigung ist vom Verfall zu unterscheiden. Sie wäre speziell mit dem Einsatz von Unternehmensvermögen verbunden und würde unabhängig von der gerichtlichen Anordnung des Verfalls eingreifen. Das ist praktisch folgenreich, denn ob es letztlich zur gerichtlichen Anordnung des Verfalls kommt, kann beim Vermögenseinsatz ungewiss und also Gegenstand der oben (III. 2.) dargestellten Risikokalkulation sein, die die Annahme eines Schadens oft ausschließt. Entsprechendes gilt für zivilrechtliche Rückabwicklungspflichten. Das Zwischenergebnis lautet also: Es ist nicht ausgeschlossen, bei der Bestimmung des Schadens auch Gemeinwohlbelange zu berücksichtigen, die der kompensierenden Berücksichtigung des Gewinns aus strafrechtswidrigem Vermögenseinsatz entgegenstehen, weil der Gewinn nicht entsprechend dem Gemeinwohl erwirtschaftet wurde. Damit ist freilich noch nicht entschieden, ob dies für alle Gemeinwohlbelange gilt. VI. Differenzierung von staatlicher Gemeinwohlorientierung und privater Zweckverfolgung Wenn der Begriff des Gemeinwohls, wie hier vorläufig angenommen wurde, das Unterbleiben aller Straftaten umfasst, und weiter angenommen würde, wegen der Bindung der Aktiengesellschaft an dieses umfassende Gemeinwohl sei für sie 28 Wessels/Hillenkamp (Anm. 2), Rn. 564; aus primär juristischer Sicht ebenso Kargl (Anm. 16), S. 719 f.; krit. Kindhäuser/Wallau, NStZ 2003, 152 ff.; Puppe, ZIS 2010, 216 (218 ff.). 29 So bekanntlich der Einwand gegen die Berücksichtigung des Gläubigerschutzes bei der Begrenzung von Einwilligungen der GmbH-Gesellschafter.
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der Gewinn aus allen Straftaten tabu (nicht zu berücksichtigen), so würde die normative Orientierung der Aktiengesellschaft in problematischer Weise mit der Funktion der Strafverfolgungsbehörden gleichgestellt. Im Einzelnen: Straftaten wie Bestechungen rechtlich abzuwerten, obliegt herkömmlich den staatlichen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten, die mit ihren Aburteilungen klarstellen, dass bestimmte Taten falsch waren, nicht gelten sollen, folglich auch der Vorteil, den jemand durch die normativ negierte Tat erlangte, dem Begünstigten entzogen werden soll. Solange eine solche staatliche Abwertung nicht deklariert worden ist, kann der Täter sich als unschuldig gerieren und der Inhaber des genannten Vorteils diesen wirtschaftlich nutzen vorbehaltlich zivilrechtlicher Rückabwicklungspflichten. Wenn unabhängig von der strafjustiziellen Abwertung und normativen Negation angenommen wird, auch bei der Vermögensberechnung der privaten Aktiengesellschaft müsse der faktisch vorhandene Gewinn aus einer Straftat jederzeit als inexistent – wertlos – gelten, so wird die Tätigkeit des privaten Unternehmens normativ mit der Funktion der Strafjustiz identifiziert. Die von dieser vorzunehmende Abwertung wird in die Vermögensbestimmung des Unternehmens hineinverlegt. Eine solche Verschiebung ist in der gegebenen Rechtsordnung ungewöhnlich. Hier ist vielmehr die Kompetenz zur Ahndung und Abwertung von Straftaten bei den zuständigen staatlichen Behörden konzentriert. Diese Arbeitsteilung konstituiert die Differenz öffentlich/privat.30 Sie entlastet die Bürger und Unternehmen nicht nur von eigenen Selbstschutzbemühungen und von denen anderer Privater, sondern auch von Wertungen. Sie können ihren Partikularinteressen folgen und die Abwertung von Straftaten den Gerichten überlassen. Das Strafrecht ist äußere Grenze ihres Verhaltens. Im Hinblick auf diese grundlegende soziale Differenzierung31 versteht es sich nicht von selbst, dass ein privates Unternehmen im Anschluss an eine Straftat von sich aus das durch sie Erlangte wirtschaftlich tabuieren sollte. Der zur Begründung einer solchen Tabuierung teilweise eingebrachte Begriff ,Makel‘32 ist hier wenig hilfreich; die in ihm enthaltene Moralisierung soll gerade durch die dargestellte Differenzierung öffentlich/privat begrenzt werden. – Von Seiten der Zweckverfehlungslehre und auch von Puppes eingangs dargestellter Position aus könnte gegen die Berücksichtigung des faktischen Gewinns eingewendet werden, sie widerspreche der objektiven Zurechnung; der Gewinn sei nicht Folge eines dem Strafrecht entsprechenden Vermögenseinsatzes. Indessen ist im Hinblick auf die gezeigte Differenzierung zwischen staatlicher Abwertung 30 Dazu Luhmann, Grundrechte als Institution, 2. Aufl. 1974, S. 14 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 452 ff. 31 Schünemann, NStZ 2008, 430 (433), hat die Differenz zu Recht zur Erläuterung der Besonderheit der Haushaltsuntreue in der öffentlichen Verwaltung geltend gemacht. 32 LK-Hübner (Anm. 15), § 266 Rn. 86.
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von Straftaten und privater Verfolgung von Partikularinteressen fraglich, ob die Strafrechtswidrigkeit des Vermögenseinsatzes ohne Weiteres in die private Vermögensberechnung hineinwirken sollte. Andererseits ist auch klar, dass die Differenzierung zwischen staatlicher Gemeinwohlverwirklichung durch Straftatahndung und privater Verfolgung von Partikularzwecken keine vollständige Trennung beider Bereiche gebietet. Denn die staatliche Strafverfolgung arbeitet nicht autark. Sie ist beständig angewiesen auf Anzeigen Privater; Ermittlungen und Festnahmen durch Private sind in Grenzen zulässig. Neuerdings zeigt die Einführung von Anzeigepflichten, dass wegen zunehmender Komplexität der privaten Wirtschaft einzelne Strafverfolgungsfunktionen verbindlich auch ihr auferlegt werden können. – Insgesamt ist also davon auszugehen, dass die gemeinwohlorientierte Abwertung von Straftaten und ihren profitablen Folgen der Strafjustiz überlassen, begründete Abweichungen davon aber möglich sind. Demnach ist zu fragen, ob es Umstände gibt, die rechtfertigen, die gemeinwohlorientierte Abwertung des aus Straftaten erlangten Gewinns in die private Vermögensberechnung hineinzuverlegen. Bevor dies geklärt wird, ist noch eine andere Erwägung relevant. VII. Spezifik erwerbswirtschaftlicher Unternehmen Vertreten werden könnte, der rechtliche Schutz des privaten Vermögens bedeute, dass der Inhaber frei über den Vermögenseinsatz disponieren können soll; folglich müsse der Inhaber sich einen seinem Willen widersprechenden Einsatz seines Vermögens nicht aufdrängen lassen, auch wenn der Einsatz profitabel ist. Der Vermögensinhaber sei nicht auf Profiterzielung festgelegt. Daher könne der gegen den Willen des Vermögensinhabers durch Straftaten erzielte Gewinn nicht als Vermögensvorteil berücksichtigt werden.33 Auch Puppes oben zitierter Stellungnahme dürfte dies entsprechen. Genau genommen trifft dies jedoch nur auf Privatpersonen voll zu, weniger auf Kapitalgesellschaften34. Zwar können diese in ihrer Satzung auf soziale Zwecke festgelegt sein, die durch Straftaten vollständig verfehlt werden (dazu unten VIII. 5.). Typischerweise sind Kapitalgesellschaften jedoch erwerbswirtschaftlich orientiert.35 Die oben (IV. 2. b)) erwähnten kulturellen und sozialen Gemeinwohlaktivitäten sind dann Ergänzungen im Ermessen des Vorstandes und die Bindung an das Gemeinwohl i. S. des allgemeinen Rechts ist, wie gezeigt, meist äußere Grenze ihrer Erwerbstätigkeit. Die Festlegung auf die Erwerbstätigkeit dient den 33 So NK-Kindhäuser (Anm. 14), der jedoch bei Kapitalgesellschaften Differenzierungen hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit erwägt. 34 Jakobs, JuS 1977, 228, 231, beschränkt seine objektiv-personelle Vermögensbestimmung auf den persönlichen Lebensbereich; dazu Nelles (Anm. 15), S. 424 f. 35 Kübler/Assmann (Anm. 19), S. 37.
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Anlegern, den Arbeitnehmern, der Bevölkerung, deren Versorgung durch erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit gefördert wird, sowie den Gläubigern. Die erwerbswirtschaftliche Gewinnorientierung beim Einsatz von Vermögen ist also für den Vorstand der Kapitalgesellschaft nicht ebenso wie für Privatpersonen ein disponibler Gegenstand freier Entscheidung. Damit wird die eventuell gegebene Zweckbestimmung, das Gesellschaftsvermögen nicht strafrechtswidrig einzusetzen, in Fällen profitablen Einsatzes nicht aufgehoben. Aber bei der Bestimmung des Vermögensschadens ist stets neben dem durch die Straftat beeinträchtigten Gemeinwohl das begünstigte Erwerbsinteresse, das u. U. seinerseits gemeinwohlförderlich ist, abwägend zu berücksichtigen, auch wenn der Einsatz des Vermögens für Straftaten unternehmensintern verboten war. Es kann deshalb nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass der Gewinn aus einer Straftat den mit ihr verbundenen unzulässigen Vermögenseinsatz nicht kompensiere. Vielmehr müssen dafür – wiederum – besondere Gründe des Gemeinwohls gegeben sein. VIII. Fälle vorrangiger Gemeinwohlbindung Hier eine konsistente vollständige Bestimmung der genannten besonderen Gründe zu unternehmen, wäre angesichts der Komplexität der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse vermessen. Angegeben werden können immerhin – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einzelne Konstellationen, in denen es evident naheliegt, den Unternehmen ein gegenüber dem Erwerbsinteresse vorrangiges Gemeinwohlinteresse zuzuschreiben. Durch die mit Unternehmensvermögen begangenen, gemeinwohlwidrigen Straftaten, deren profitable Folgen nicht positiv gewertet werden sollen, müssen rechtlich geschützte Umstände betroffen sein, die außerhalb des unmittelbaren Erwerbsinteresses liegen, aber mittelbar – als generelle Gegebenheiten – mit ihm verknüpft sind, so dass es legitim ist, den Unternehmen, deren Erwerbsinteresse seinerseits gemeinwohlförderlich sein kann (VII.), ihre Berücksichtigung aufzuerlegen. Betroffen sein müssen Grundlagen der modernen Wirtschaftstätigkeit, die, weil sie seine Grundlagen sind, dem wirtschaftlichen Tauschverkehr entzogen sind. 1. Zu den genannten Grundlagen gehört die Integrität des Justizsystems. Wenn die Unterscheidung von Recht und Unrecht gesteuert wird durch wirtschaftliche Zahlungen, so verliert die moderne Wirtschaft zentrale Orientierungen und Machtbegrenzungen. Auch ein sachlich berechtigter Titel ist dann u. U. nur gegen Zahlung zu erreichen und durch weitere Zahlung von der Gegenpartei zu verhindern. Entsprechendes gilt für die Differenzierung von Wirtschaftssystem und staatlicher Verwaltung. Mit der diese Differenzierung durchbrechenden Beamtenbestechung können einzelne Vermögensinhaber ihre Macht in einer für die allgemeine Wirtschaftstätigkeit und die Bevölkerung gefährlichen Weise entgrenzen. 2. Ob zu den genannten machtbegrenzenden Grundlagen der Wirtschaftstätigkeit auch der faire Wettbewerb gehört, der durch Bestechung im geschäftlichen
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Verkehr (§ 299 StGB) beeinträchtigt wird, ist nicht ohne Weiteres klar. Der Wettbewerb fördert, wie erwähnt, die wirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung. Jedoch wurde und wird diese Funktion teilweise auch durch staatliche Beeinflussungen der Wirtschaft (Preisbindungen, Mindestlöhne, Kapitalbeteiligungen, Rettung von insolvenzbedrohten Großunternehmen u. dergl.) übernommen, weshalb insbesondere in der Vergangenheit die zentrale wirtschaftliche Funktion des Wettbewerbs relativiert war. Dementsprechend war die Bestechung im geschäftlichen Verkehr bis 1997 im Nebenstrafrecht pönalisiert. Dass sie nun ins Hauptstrafrecht übernommen wurde, reflektiert einen Bedeutungszuwachs des Wettbewerbs. Denn mit der zunehmenden Internationalisierung der Tätigkeit der Wirtschaftsunternehmen wird die Möglichkeit der Staaten, auf diese zugunsten der Bevölkerung Einfluss zu nehmen, geschwächt. Damit wächst dem wirtschaftsinternen Wettbewerb eine auch international wichtige Funktion bei der Begrenzung von Vermögensmacht zwischen den Wirtschaftsunternehmen und zugunsten der Bevölkerung zu. Die 2003 erfolgte Ausweitung des § 299 StGB auf extraterritoriale Taten ist konsequent. Allerdings hat die die Funktion des Wettbewerbs relativierende staatliche Wirtschaftsteuerung, wie die letzte Wirtschaftskrise zeigte, nach wie vor erhebliche Bedeutung. Wird ein Großunternehmen vor der Insolvenz, in deren Nähe es in Konsequenz des Wettbewerbs geraten ist, durch staatliche Bürgschaft gerettet, so mag es dafür gute Gründe geben; die These von der grundlegenden Funktion des Wettbewerbs wird jedoch geschwächt. Bemerkenswert hinsichtlich der Gewichtung des Wettbewerbs ist auch, dass Kartelldelikte in Deutschland nach wie vor als Ordnungswidrigkeiten gelten, ferner dass § 299 StGB nicht Zuwendungen an Geschäftsherren zwecks unlauterer Bevorzugung erfasst36. Insgesamt kann mithin nicht ohne Zweifel angenommen werden, dass der Wettbewerb zu den eingangs genannten Grundlagen gehört. Eine wichtige Funktion hat er immerhin. Deshalb liegt es nahe, dass Bestechungen im geschäftlichen Verkehr dann die hier thematischen Folgen im Rahmen des § 266 haben, wenn sie systematisch und in großem Umfang begangen wurden. Gleiches sollte dann wegen der dargestellten Internationalisierung grundsätzlich auch für Bestechungen im internationalen geschäftlichen Verkehr angenommen werden. Weitere Zweifel ergeben sich hier hinsichtlich des Gewichts von Wettbewerbsverstößen in Staaten, in denen der Wettbewerb ineffektiv geordnet ist.37 3. Eine Grundlage modernen Wirtschaftens ist zweifellos die Monopolisierung von körperlicher Gewalt beim Staat. Wenn mit Raubzügen oder anderen Gewalttaten Vermögen akkumuliert würde, wäre differenzierte Erwerbstätigkeit nicht
36 37
Dazu LK11-Tiedemann, 2009, § 299 Rn. 2 f., 10. Vgl. LK11-Sowada, 2009, Rn. 28 vor § 331.
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möglich. Die Straftaten, deren profitabler Erfolg insofern nicht zu verrechnen ist, sind also Tötungs-, Körperverletzungs- und sonstige Gewaltdelikte. 4. Nicht nur spezifisch für das Wirtschaftssystem, sondern allgemein für eine offene Gesellschaft grundlegend ist die Anerkennung aller Menschen als Subjekte, die nicht Gegenstand von wirtschaftlichem Tauschverkehr werden dürfen. Deshalb gehören auch Gewinne aus Straftaten gegen die Menschenwürde (Menschenhandel, unzulässiger Organhandel und – auch insofern – Angriffe auf Leben und Körperintegrität) zu den nicht zu verrechnenden Vorteilen. 5. Von einem Unternehmen autonom gesetzte Gemeinwohlbindungen können den hier thematischen Ausschluss der Verrechnung begründen, wenn gegenüber der Gemeinwohlbindung, wie oben (VII. a. E.) gezeigt, die Erwerbsorientierung verbindlich und generell nachrangig oder irrelevant bleibt. Wenn also ausnahmsweise eine Aktiengesellschaft oder, was häufiger vorkommt, eine GmbH durch ihre Satzung nicht erwerbswirtschaftlich, sondern auf einen Gemeinwohlzweck fixiert ist, so kann ihr wirtschaftlicher Gewinn aus Straftaten, die diesem Zweck widersprechen, nicht den Einsatz ihres Vermögens kompensierend berücksichtigt werden. IX. Nachträge Was hier zur Gemeinwohlbindung des Vermögens der Aktiengesellschaft ausgeführt wurde, gilt ebenso für das Vermögen der GmbH, nicht für das von Personenhandelsgesellschaften und Einzelkaufleuten. Zwar gilt auch für sie Art. 14 II GG; das Verhältnis von Gemeinwohl und Erwerbsinteresse ist bei ihnen jedoch typischerweise beweglicher. Einzelne Zwecksetzungen zugunsten des Gemeinwohls und deren Verfehlung können hier weitergehend berücksichtigt werden. Ferner: Die hier gegebene Darstellung der Gemeinwohlbindung, die der kompensierenden Berücksichtigung von Vorteilen aus Straftaten u. U. entgegensteht, ist bezogen auf eine primär wirtschaftliche Schadensbestimmung. Wird der Schaden mit Puppe im Ansatz primär juristisch bestimmt, mögen sich weitere Einschränkungen der Kompensation ergeben. Und auch hinsichtlich der Gemeinwohlbindung kann gegenüber der scharfsinnigen Kollegin Puppe mit diesem Beitrag gewiss nicht das letzte Wort in der Diskussion um die Schadensbestimmung bei der Untreue beansprucht werden.
Sind Bestellungen zu Belästigungszwecken eine Betrugskonstellation? Von Ralf Krack I. Einleitung Modethemen wiederholen sich; das gilt zum Teil auch für die Strafrechtswissenschaft. Durch einen Aufsehen erregenden Fall aus dem Jahr 2005 ist in den letzten Jahren eine Fragestellung wieder in den Fokus der strafrechtlichen Aufmerksamkeit geraten, die ca. 35 Jahre zuvor schon einmal erhebliche Beachtung gefunden hat: Erfüllt derjenige den Betrugstatbestand, der Waren oder Dienstleistungen unter fremdem Namen bestellt, um durch die Andienungsbemühungen des so Getäuschten den vermeintlichen Besteller zu belästigen? Der neuere Fall zeigt, wozu (auch) bei Examenskandidaten das Zusammentreffen von Phantasiepotential und krimineller Energie führen kann: Student S befindet sich im Examensstress. Um seinen Nachbarn N zu ärgern, der sich aus Sicht des S zu sehr in sein Leben einmischt, bestellt S Waren und Dienstleistungen unter dem Namen des N. Beispielsweise ordert er mehrfach Pizza, deren Annahme N verweigert. In ähnlicher Weise bestellt S etwa auch Medikamente, Kies, einen Abschleppdienst, eine Notverglasung sowie – ebenfalls für N – die letzte Ölung. Insgesamt handelt es sich um 36 Bestellungen innerhalb von dreizehn Tagen. Infolge der daraus für N resultierenden Aufregung kommt es bei ihm zu erheblichen gesundheitlichen Störungen.1 Während eine Körperverletzung unproblematisch vorlag, bestand über die Betrugsstrafbarkeit keine Einigkeit. Das AG Elmshorn hat den Betrug mangels Bereicherungsabsicht abgelehnt und allein wegen (fahrlässiger) Körperverletzung verurteilt. Das LG Kiel nahm daneben für die meisten Fälle auch Betrug an.2 Dem hat sich das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht in der Revisionsinstanz angeschlossen.3 Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.4
1
LG Kiel NStZ 2008, 219 ff. mit geraffter Darstellung des Lebenssachverhalts. Hinsichtlich des Auftrags für die letzte Ölung erfolgte keine Anklage wegen Betrugs. 3 SchlHOLG, Beschluss v. 28.06.2006, Az. 2 Ss 70/06. 4 BVerfG DVBl 2007, 126 f. 2
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Mit ganz ähnlichen Fällen hatte es das BayObLG in seiner Revisionsentscheidung aus dem Jahr 1971 zu tun. Hier wurden unter fremdem Namen Blumensträuße, Verlobungskarten und Torten bestellt, um den Adressaten durch die Anlieferungen zu ärgern.5 Eine der Anmerkungen zu dieser Entscheidung stammt von der damaligen Wissenschaftlichen Assistentin Dr. Ingeborg Puppe.6 Das dürfte Anlass genug sein, die Thematik in dieser Festschrift zu behandeln. Nach geltendem Recht wäre in dem aktuelleren Fall der Anwendungsbereich des Nachstellungstatbestandes eröffnet; die Verurteilung hätte auch auf § 238 I Nr. 3 gestützt werden können. Diese Norm ist jedoch erst nach der Tatbegehung in das StGB aufgenommen worden, so dass es allein um die Strafbarkeit wegen Körperverletzung und Betrug ging. Die Einführung des § 238 StGB hat der in diesem Beitrag behandelten Frage jedoch nicht ihre praktische Bedeutung genommen. Denn in Fällen weniger hartnäckiger Täter scheidet der Nachstellungstatbestand aus, da es an den Tatbestandsmerkmalen der Beharrlichkeit des Täters sowie der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers fehlt. Auch eine als Körperverletzung erfassbare Beeinträchtigung wird in weniger gravierenden Fällen ausbleiben, jedenfalls aber häufig nicht als das Werk des Täters nachweisbar sein. Dann können derartige Fälle allein aus dem Betrugstatbestand bestraft werden. Das hätte auch hier gegolten, wenn man den Täter des neueren Falles etwa schon nach der ersten Belästigung überführt hätte. § 238 ist auch dann nicht einschlägig, wenn die Bestellungen für unterschiedliche Adressaten erfolgen. So verhielt es sich in demjenigen Lebenssachverhalt, der der Entscheidung des BayObLG aus dem Jahr 1971 zu Grunde lag. Hier wurden zwar immerhin fünf Bestellungen unter fremdem Namen aufgegeben (Blumensträuße, Verlobungskarten, Torten), jedoch bezogen sich die Bestellungen auf unterschiedliche Adressatinnen.7 Nachfolgend soll es um die beiden Rechtsfragen gehen, die sich bei der Subsumtion des beschriebenen Verhaltens unter den Betrugstatbestand stellen. Bevor die höchst umstrittene Kernproblematik betrachtet wird, ob der Täter die für die Betrugsstrafbarkeit notwendige Bereicherungsabsicht aufweist (III.), soll auf die ebenfalls – wenn auch nicht im Ergebnis – umstrittene Fragestellung eingegangen werden, worin die Vermögensverfügung des Getäuschten zu erblicken ist (II.). Um die Darstellung zum Zwecke der Anschaulichkeit zu vereinfachen, soll nachfolgend grundsätzlich von dem Fall der Pizzabestellung die Rede sein.
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Nachweis BayObLG JZ 1972, 25 f. Puppe, MDR 1973, 12 f. BayObLG JZ 1972, 25.
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II. Vermögensverfügung und Vermögensschaden Während die Gegenstände von Täuschung und Irrtum mit der Identität sowie der Zahlungsbereitschaft des Bestellers leicht ausgemacht werden können, ist es problematisch, die Vermögensverfügung und den sich aus ihr ergebenden Vermögensschaden zu konstruieren. In diesem Zusammenhang sind Gerichtsentscheidungen und Schrifttumsbeiträge teilweise ungenau. Darauf hat schon Puppe in ihrer Anmerkung zu Recht hingewiesen.8 Aber auch nach Erscheinen ihres Beitrags finden sich noch derartige Fehler. Das liegt primär darin begründet, dass die zivilrechtlichen Rechtsfolgen des Auftretens unter fremdem Namen nicht hinreichend beachtet werden. Es liegt hier ein Fall der Bestellung unter fremdem Namen vor. Dadurch kommt ein Vertrag des Pizzabäckers weder mit dem Bestellenden noch mit dem scheinbaren Besteller zustande. Stattdessen gilt § 179 I BGB analog, wonach der Pizzabäcker gegenüber dem unter falschem Namen auftretenden Besteller wahlweise Erfüllung oder Schadensersatz verlangen kann.9 Wenn von Vertragsabschluss und erworbenen Ansprüchen die Rede ist, trifft das die Rechtslage ebenso wenig wie die Begriffe Eingehungs- und Erfüllungsbetrug. Denn ein Vertrag, der nicht zustande kommt, wird weder eingegangen noch erfüllt. 1. Mögliche Anknüpfungspunkte für eine Vermögensverfügung Auch wenn die Verwendung der Begriffe Eingehungs- und Erfüllungsbetrug hier demnach zumindest missverständlich ist, zeigt sie die zwei Anknüpfungspunkte für das Opferverhalten auf, aus dem sich die relevante, zum Schaden führende Vermögensminderung ergeben kann. Auf der einen Seite könnte sich die Vermögensminderung aus dem Erbringen der versprochenen Leistungen (Arbeits- und Materialeinsatz) ergeben, auf der anderen Seite aus dem auf die Leistungserbringung gerichteten Versprechen. Ansatzpunkte sind also die auf die Erfüllung eines scheinbar geschlossenen Vertrags gerichteten Handlungen sowie das scheinbare Eingehen eines Vertrags. Beide Ansatzpunkte werden als Gegenstand der Vermögensverfügung vertreten. Nachfolgend soll in diesem Beitrag von „Eingehungs“betrug und „Erfüllungs“betrug die Rede sein, soweit es um Fälle des Handelns unter fremdem Namen geht. Einerseits soll die bekannte Begriffsverwendung zum Ausdruck zu bringen, dass es um die beiden von Eingehungsund Erfüllungsbetrug bekannten Ansatzpunkte der Abrede zwischen den Beteiligten („Eingehung“) und der Erbringung der Leistungen („Erfüllung“) geht, an-
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Puppe, MDR 1973, 12 f. Zu Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Auftretens unter fremdem Namen siehe z. B. Schilken, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearb. 2009, Vorbem. § 179 Rn. 25. 9
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dererseits sollen die Anführungsstriche zeigen, dass hier kein Vertrag vorliegt, der eingegangen oder erfüllt werden kann. Freilich ist zu beachten, dass diese Doppelung der Anknüpfungspunkte so deutlich nur bei einem Teil der Fälle in Betracht kommt. Die der Entscheidung des BayObLG zu Grunde liegenden Lebensachverhalte zeichnen sich dadurch aus, dass die Opfer bereits Leistungen erbracht haben (Bedrucken von Karten, Backen von Torten, Beschaffen von Blumen), bevor das Bestellte dem scheinbaren Besteller angedient wird. So verhält es sich auch bei einem Teil der vom SchlHOLG zu beurteilenden Sachverhalte, etwa bei der hier als Leitbeispiel herausgegriffenen Pizzabestellung. Bei anderen Bestellvorgängen liegt es anders. So nimmt nach der Bestellung eines Umzugs zunächst ein Mitarbeiter der Spedition Kontakt mit dem scheinbaren Besteller auf, um Einzelheiten zu klären. Hier beginnt die Ausführung des scheinbar geschlossenen Vertrags mit einem Gespräch, das eventuell sogar nur telefonisch geführt wird. Nachfolgend soll allein die mit größerem Ärgerpotential ausgestattete und daher wohl gängigere Konstellation betrachtet werden, in der die Kontaktaufnahme nicht am Anfang steht, sondern wie bei der Pizzabestellung in Gestalt der Anlieferbemühungen den Abschluss des Opferverhaltens darstellt. 2. „Eingehungs“betrug oder „Erfüllungs“betrug? In Schrifttum und Rechtsprechung werden für die Fälle der Pizzabestellkonstellation unterschiedliche Ansatzpunkte für die relevante Vermögensverfügung vertreten. Die einen erblicken die entscheidende Vermögensverfügung schon in dem Leistungsversprechen und sehen in der anschließenden Leistungserbringung ein Opferverhalten, das den Schaden allenfalls zu vertiefen vermag.10 Hier wird eine schadensgleiche Vermögensgefährdung angenommen, wie wir sie auch vom Eingehungsbetrug her kennen. Die anderen stellen auf die Leistungserbringung als Vermögensverfügung ab.11 Unabhängig von einer Schadensbegründung schon durch Versprechen der Leistung ergebe sich der manifeste Schaden aus der Erbringung der Leistungen durch den Pizzabäcker. In diesem Zusammenhang wird häufig von einem Erfüllungsbetrug gesprochen. Vollständig richtig liegt keiner dieser beiden Ansätze; der erste trifft in der Sache nicht zu, der zweite missachtet die übliche Definition des Erfüllungsbetrugs: Wenn Leistungen erbracht worden sind, sollte hinsichtlich Vermögensverfügung und Schaden auf diese selbstschädigenden Handlungen des Opfers abgestellt werden. Selbst wenn man den Eingehungsbetrug trotz der zweifelhaften 10 Z. B. BayObLG JZ 1972, 25; LG Kiel NStZ 2008, 219 (220); Wessels/Hillenkamp, Strafrecht Besonderer Teil 232, 2009, Rn. 539b. 11 Z. B. Herzberg, JuS 1972, 185 (187); Krey/Hellmann, Strafrecht Besonderer Teil 214, 2005, Rn. 493.
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Konstruktion der schadensgleichen Vermögensgefährdung anerkennt und in der Pizzakonstellation einen Anwendungsfall des „Eingehungs“betrugs ausmacht – Puppe hat in ihrer Anmerkung auf die besondere Problematik in Fällen fehlender vertraglicher Verpflichtungen hingewiesen –12, sollte man auf die Leistungserbringung abstellen. Nicht ohne Grund erteilt man diesen Rat den Studierenden im Rahmen der juristischen Ausbildung.13 Im Wesentlichen sind es zwei Gründe, die für diese Sichtweise sprechen: Zum einen erspart man sich den eben nur angedeuteten argumentativen Aufwand um die Anerkennung eines Eingehungsbetrugs. Zum anderen wird nur so der aus der Leistungserbringung resultierende manifeste Vermögensschaden erfasst, der mehr ist als die bloße Vermögensgefährdung im Zeitpunkt der Leistungszusage.14 Trotzdem widerspricht es der üblichen Begriffsverwendung, hier von einem Erfüllungsbetrug zu sprechen. Denn der Erfüllungsbetrug (der echte, um den unechten, bei dem in der Eingehungsphase kein Schaden eintritt,15 geht es hier nicht) wird so definiert, dass der Täter sich erst nach Vertragsschluss entschließt, nicht vertragsgemäß zu leisten und darüber zu täuschen.16 Nach dieser Begriffsverwendung, die man nicht glücklich finden muss, aber wohl hinnehmen sollte, handelt es sich also in derartigen Konstellationen nicht um einen Erfüllungsbetrug, sondern durchaus auch um einen Eingehungsbetrug. Teilweise wird der Begriff des „abgewickelten Eingehungsbetrugs“ verwendet17 – eine misslungene Bezeichnung, da nicht der Eingehungsbetrug abgewickelt ist, sondern das eingegangene Rechtsgeschäft, wenn häufig auch nur seitens des Opfers. Die maßgebliche Vermögensverfügung liegt also in der Konstellation des Pizzafalls in der Erbringung von Leistungen seitens des Pizzabäckers (Produktion und Auslieferung). Der Vermögensschaden besteht darin, dass mit dieser Vermögensminderung kein Vermögenszugang korrespondiert, da der Anspruch gegen den Besteller (§ 179 I BGB analog) nicht werthaltig ist. Denn dem Pizzabäcker ist die Identität des wahren Bestellers nicht bekannt; ferner fehlt es an dessen Zahlungsbereitschaft.
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Puppe, MDR 1973, 12 f. So z. B. Rengier, Strafrecht Besonderer Teil I11, 2009, § 13 Rn. 91a („Einheit aus dem Blickwinkel der späteren Erfüllung prüfen“). 14 Schröder (JR 1968, 346 f.) weist darauf hin, dass hierin der zutreffende Ansatz für den Verjährungsbeginn liegen dürfte. 15 Küper, Strafrecht Besonderer Teil7, 2008, S. 389. 16 Kindhäuser, Nomos-Kommentar StGB3, 2010, § 263 Rn. 329; Wessels/Hillenkamp (Anm. 10), Rn. 540; abweichend aber z. B. Joecks, Studienkommentar StGB8, 2009, § 263 Rn. 92 f. 17 Rengier (Anm. 13), § 13 Rn. 91a. 13
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III. Bereicherungsabsicht Während es in der hier betrachteten Konstellation im Bereich der Vermögensverfügung also lediglich um die zutreffende Konstruktion einer Vermögensverfügung geht, streitet man sich bei der Bereicherungsabsicht um die für die Betrugsstrafbarkeit entscheidende Frage, ob dieses Tatbestandsmerkmal überhaupt erfüllt ist. Es gibt zwei Gründe dafür, dass die Entscheidung schwer fällt, ob der Täter mit Bereicherungsabsicht handelt. Zum einen ist das Primärziel, das Ärgern des Nachbarn, kein wirtschaftlich relevantes. Es kommt daher darauf an, ob der Täter einen wirtschaftlich relevanten Vorteil anstrebt, der mit diesem Endziel hinreichend verknüpft ist, also nach dem Täterplan ein notwendiges Zwischenziel darstellt. Zum anderen gilt es, trotz der Anlieferung der bestellten Ware bei einem Dritten eine angestrebte Eigenbereicherung des Täters zu konstruieren; denn der Täter möchte dem Adressaten keinen Vermögenswert verschaffen. Aus der Dogmatik zur Zueignungsabsicht bei § 242 in der Fassung vor dem 6. StrRG wissen wir, dass in dieser Richtung konstruktiv vieles möglich ist, was zu einer unangemessen extensiven Interpretation verleitet. Gesichtspunkte für und wider die Annahme einer Bereicherungsabsicht ergeben sich insbesondere aus dem Vergleich mit ähnlichen Fallkonstellationen. 1. Vergleich mit der direkten Belieferung des Täters, der den Nachbarn selbst ärgern möchte Für die Annahme einer Bereicherungsabsicht scheint der Vergleich mit derjenigen Konstellation zu sprechen, in der der Täter sich die Pizza zunächst selbst liefern lässt, um anschließend – als Pizzabote auftretend – den Nachbarn selbst zu ärgern. Um einen Betrugsfall daraus zu machen, muss man jedoch den Gegenstand von Täuschung und Irrtum leicht variieren: Angenommen, dem Täter gelingt es als Stammkunde des Pizzabäckers, die Pizza auch ohne Bezahlung ausgehändigt zu bekommen, so wird zwar nicht über die Person des Bestellers getäuscht (kein Handeln unter fremdem Namen), wohl aber wie in der Ausgangskonstellation über die Zahlungsbereitschaft. In einem solchen Fall wäre die Bereicherungsabsicht unproblematisch gegeben. Auch dann, wenn es anders als im Ausgangsfall nicht um die Übereignung der Pizza ginge, läge die angestrebte Bereicherung darin, dass dem Täter die aus den Zutaten gebackene Pizza angedient wird. Vom Rechtsgefühl her ist (zunächst) nicht ersichtlich, weshalb es den entscheidenden Unterschied zwischen Straflosigkeit und Strafbarkeit ausmachen soll, ob die Auslieferung der Pizza an den Täter erfolgt oder ob direkt an den zu ärgernden Nachbarn geliefert wird. In beiden Fällen nutzt der Täter die Dienste des Pizzabäckers als Mittel, um den Nachbarn ärgern zu können. Mag dieser – nach meiner Erfahrung von Studierenden gern herangezogene – Vergleich letztlich nicht schlüssig sein, da es bei der Belieferung des Täters
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selbst zur Lieferung des Bestellten und damit zur Vertragserfüllung kommen würde und nicht nur zum Lieferungsversuch,18 so öffnet er doch den Blick für die nachfolgenden Überlegungen. Vieles spricht dafür, dass in dieser Konstellation die für die Betrugsstrafbarkeit nötige Bereicherungsabsicht vorliegt. Faktisch hat der Besteller die Verfügungsmöglichkeit über die vom Pizzabäcker erbrachten Leistungen. Zwar besteht wie gesehen aufgrund der Bestellung unter falschem Namen rechtlich kein Anspruch auf Lieferung der Pizza, solange nicht der Pizzabäcker gem. § 179 I 1. Var. BGB Erfüllung wählt oder der Adressat den Vertrag genehmigt. Tatsächlich führt jedoch der Pizzabäcker bis zur Entdeckung der Identitätstäuschung genau das aus, worum der Besteller ihn gebeten hat: Er backt eine Pizza und dient sie derjenigen Person an, der sie laut Bestellung zugedacht ist. Eine Eigenbereicherung im Sinne der Eigenbereicherungsabsicht des § 263 setzt nicht voraus, dass die die Vermögensverfügung ausmachende Leistung in Anwesenheit des Täters vorgenommen wird.19 Wer beispielsweise ein Feuerwerk bestellt hat, wird durch das Abbrennen des Feuerwerks an der vereinbarten Stelle unabhängig davon bereichert, ob er selbst anwesend ist oder nicht. Der Feuerwerker bereichert denjenigen, der das Feuerwerk bei ihm bestellt hat, nicht dagegen dessen Gäste, die sich an dem Feuerwerk erfreuen. Das gilt unabhängig davon, ob der Besteller das Feuerwerk wahrnimmt oder nicht. In diesem Zusammenhang wäre es gekünstelt, eine Betrugskonstruktion über die Bereicherung der Gäste vorzunehmen. Das muss unabhängig davon gelten, ob das Feuerwerk zur Freude oder zum Ärger derjenigen eingesetzt werden soll, die das Spektakel wahrnehmen. Ob man seine Nachbarn durch ein unangekündigtes Feuerwerk erfreuen oder ärgern möchte, hat keinen Einfluss darauf, ob das Abbrennen des Feuerwerks den Besteller vermögensrelevant bereichert. Hier gilt das, was Herzberg mit einem schönen Beispiel illustriert hat: Wer durch Vortäuschung seiner Zahlungsbereitschaft einen Männerchor dazu bringt, einem Jubilar ein Ständchen zu bringen, kann dem Betrugsvorwurf nicht erfolgreich mit der Einlassung begegnen, er habe den Jubilar ärgern wollen.20 Auf einen Pizzabestellfall übertragen bedeutet dies: Wenn eine Bereicherungsabsicht für den Fall vorliegen sollte, dass der Täter sich an den Lieferbemühungen des Pizzaboten erfreuen möchte (etwa weil ihm der Anblick des zur Anlieferung verwendeten Sportwagens gefällt), so müsste auch eine Bereicherungsabsicht für den Fall vorliegen, dass der Täter jemanden durch
18 Der zutreffende Vergleichsfall liegt wohl dann vor, wenn der Täter es bei sich selbst klingeln lässt, um mit der lauten Schelle seinen Nachbarn zu ärgern. 19 Für die Gleichbehandlung der Lieferung an den Täter und an einen Dritten auch BayObLG JZ 1972, 25. 20 Herzberg, JuS 1972, 185 (189).
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die Anlieferungsbemühungen ärgern möchte (etwa weil die vom Lieferwagen ausgehenden Geräusche ihn stören). Schröder hat sich gegen die Annahme einer Bereicherungsabsicht mit der Begründung ausgesprochen, es fehle an der „wirtschaftlichen Ausnützung“ der Leistungserbringung, wenn diese allein zum Ärgern eines Dritten erstrebt werde.21 Wie gesehen verhält es sich jedoch anders. Die (angestrebte) Bereicherung erfolgt unabhängig davon, ob der Täter Adressat der erschwindelten Dienstleistung ist oder nicht. Und die Werthaltigkeit der Leistungserbringung hängt für ihn nicht davon ab, ob er dem Dritten einen Vorteil zuwenden oder Ärger bereiten möchte. Auch der von Herzberg erhobene Einwand, die Lieferung der Ware diene „unmittelbar ihrem unökonomischen Hänselzweck“,22 ist kein Gegenargument. Falls die Absicht auf die Anlieferung der Ware gerichtet sein sollte – dazu sogleich –, liegt diesbezüglich auch eine Bereicherungsabsicht vor, weil es sich dann bei der Ware um einen geldwerten Vorteil handelt, dessen Lieferung ein Mittel auf dem Weg zum Endziel darstellt, das mit dem Ärgern des Scheinbestellers tatsächlich ein wirtschaftlich irrelevantes ist. So spricht also unter dem bislang gewählten Blickwinkel einiges dafür, in der hier untersuchten Konstellation eine Bereicherungsabsicht und damit auch die Betrugsstrafbarkeit anzunehmen. 2. Mögliche Gegenstände der erstrebten Bereicherung Ebenso wie zur Vermögensverfügung werden auch zur Bereicherungsabsicht unterschiedliche Gegenstände genannt, die die vom Täter erstrebte vermögensrelevante Bereicherung ausmachen sollen. So sollen die faktische Verfügungsmöglichkeit über die vom Getäuschten erbrachten Leistungen, die Bereicherung um die Arbeitsleistung des Getäuschten oder die Ersparnis eigener Aufwendungen Gegenstand der Bereicherungsabsicht sein. Teilweise wird davon ausgegangen, dass jede vom Pizzabäcker erbrachte Leistung (Materialeinsatz, Arbeitsleistung beim Backen, Anlieferung) erfasst wird.23 Tatsächlich ist jedoch eine Differenzierung notwendig.24 Die Leistungen des Pizzabäckers lassen sich bei vergröbernder Betrachtung in drei Bestandteile aufschlüsseln, den Materialeinsatz, die Arbeitsleistung beim Backen sowie die Anlieferung der Pizza. Von der Bereicherungsabsicht umfasst werden nach der all21
Schröder, JZ 1972, 26. Herzberg, JuS 1972, 185 (188). Herzberg gelangt dennoch zu einer Bereicherungsabsicht, indem er statt auf die Ware auf die Arbeitsleistung abzielt. 23 So ist z. B. BayObLG JZ 1972, 25 f. zu verstehen. 24 Für eine Differenzierung zwischen Ware und Arbeitsleistung Herzberg, JuS 1972, 185 (187 f.); Maiwald, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil 110, 2009, § 13 Rn. 136. 22
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gemeinen Vorsatzdogmatik nur diejenigen Bestandteile, die notwendiges Zwischenziel auf dem Weg zu dem vom Täter verfolgten Endziel sind.25 Um das Opfer zu ärgern, bedarf es lediglich der Anlieferungsbemühungen des Pizzaboten. Denn allein das Klingeln beim Nachbarn, die Ankündigung der Lieferung einer angeblich bestellten Pizza und vielleicht noch das Einfordern des Entgelts sind diejenigen Handlungen, denen das Potential zum Ärgern des Nachbarn zukommt. Ob der Pizzakarton Mehl, Tomatenpaste und Belag enthält und ob diese Gegenstände zu einer Pizza verbacken worden sind, ist für das erstrebte Endziel irrelevant. Beim Backen der Pizza handelt es sich hinsichtlich Material- und Arbeitseinsatz lediglich um Nebenfolgen. Sie werden zwar vom Täter als sicher vorausgesehen, sind jedoch nicht in der die Bereicherungsabsicht ausmachenden Weise mit dem Endziel des Täters verknüpft. Für derartige Nebenfolgen außerhalb der Zweck-Mittel-Relation liegt nur dolus directus 2. Grades (Wissentlichkeit) vor.26 Umgekehrt ist jedenfalls das Klingeln an der Haustür Gegenstand der Bereicherungsabsicht. Hiergegen wendet sich das von Maurach gegen die Entscheidung des BayObLG vorgebrachte Argument, Motiv und Bereicherungsgegenstand seien in solchen Fällen zu sehr voneinander abgeschichtet.27 Maurach geht davon aus, dass zwischen dem „ersehnten Ziel“, also dem „Objekt des Motivs“, und dem „primär nicht angestrebten Nebenprodukt“ „eine gewisse materielle Identität“ bestehen müsse. Diese sei etwa gegeben, wenn der Täter sich Geld erschwindele, ohne das eine notwendige Krankenhausbehandlung nicht durchführbar sei. Dann bestehe diese Identität, da die Behandlung nur aus der Substanz des sekundär angestrebten Vermögensvorteils bestritten werden könne. In der hier untersuchten Konstellation sei dies nicht gegeben, weil das Verursachen von Ärger als „Endprodukt“ und der Vermögensvorteil durch Kosteneinsparung als „Nebenprodukt“ zu weit voneinander abgeschichtet seien, um von der nötigen materiellen Identität sprechen zu können.28 Diese Argumentation vermag jedoch nicht zu überzeugen. Zwar gibt es wie von Maurach aufgezeigt Fälle, in denen Endziel und Zwischenziel näher beieinander liegen als in der hier untersuchten Konstellation der Pizzabestellung. Eine wirtschaftliche Identität von Endziel und Zwischenziel ist jedoch nach der allgemeinen Vorsatzdogmatik nicht erforderlich. Wer beispielsweise einen Wach25 Nicht eingegangen werden kann hier auf die abweichende Auslegung des § 263 durch Puppe, die für das überschießende subjektive Merkmal bei kupierten Erfolgsdelikten dolus eventualis hinreichen lässt (NK-StGB (Anm. 16), § 15 Rn. 108), sowie durch Rengier, der zur Vermeidung des Problems der Abgrenzung von Zwischenziel und Nebenfolge dolus directus 2. Grades genügen lassen will (JZ 1990, 321 ff.). 26 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil6, 2008, § 5 Rn. 39; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I4, 2006, § 1 Rn. 18; Vogel, Leipziger Kommentar12, 2007, § 15 Rn. 82. 27 Maurach, JR 1972, 345 (346). 28 Maurach, JR 1972, 345 (346).
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mann tötet, um Geld erbeuten zu können, handelt hinsichtlich der Tötung mit dolus directus 1. Grades, da der Tod des Wachmanns nach dem Tatplan Zwischenziel auf dem Weg zum Endziel der Gelderlangung ist. Eine materielle Identität kann es bei den unterschiedlichen Gütern Menschenleben und Geld nicht geben. Das Ausgeschaltetsein des Wachmanns weist keine Identität mit der erstrebten Beute auf. Das steht jedoch der Annahme von dolus directus 1. Grades nicht entgegen. Zwischen Endziel und Zwischenziel muss es über die ZweckMittel-Verknüpfung hinaus keine weitere Verbindung geben. Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Bereicherungsabsicht i. S. d. § 263 eine Abweichung von der allgemeinen Vorsatzlehre gemacht werden sollte. Die einzige Anforderung, die in Richtung materieller Identität zweier Vermögensgrößen geht, ist die den Charakter des Vermögensverschiebungsdelikts ausmachende Notwendigkeit der Stoffgleichheit zwischen Vermögensschaden und erstrebter Bereicherung. Gegenstand der Bereicherungsabsicht ist also (allein) der Anlieferungsversuch beim scheinbaren Besteller, zumindest das Klingeln an der Haustür sowie das Anbieten der scheinbar bestellten Pizza. 3. Die Lieferung ist nicht wirtschaftlich bedeutungslos Angesichts der herausgearbeiteten Beschränkung der Bereicherungsabsicht auf den Bestandteil der Lieferung könnte man jetzt auf die Idee kommen, daraus die Straflosigkeit der Pizzabestellung herzuleiten. In der Tat macht das Andienen der Pizza nur einen Bruchteil des Aufwandes aus, der dem Pizzabäcker insgesamt entsteht. Der Materialeinsatz sowie die weiteren Kosten im Rahmen der Herstellung (Arbeitsleistung, Heizen des Ofens) sind sehr viel höher als die Kosten, die durch das Andienen der Pizza beim scheinbaren Besteller entstehen. Dennoch handelt es sich bei den vom Täter angestrebten Anlieferungsbemühungen des Pizzabäckers um einen wirtschaftlich relevanten Vorteil. Der reguläre Kunde des Pizzabäckers zahlt mit einem Teil des Kaufpreises für die Pizza auch die Anlieferungsbemühungen. Auch wenn man diese Dienstleistung nicht einzeln kaufen kann und die Preiskalkulation des Pizzabäckers keinen eigenen Betrag nur für das Andienen an der Wohnungstür ausweisen wird, handelt es sich um einen erstrebten wirtschaftlichen Vorteil. Damit liegt auch eine Kommerzialisierung dieser Dienstleistung vor. 4. Betrug ohne Grenzen Die bisherigen Überlegungen deuten also darauf hin, dass in der hier untersuchten Konstellation der Warenbestellung zum Zwecke der Belästigung eine Betrugskonstellation vorliegt. Zweifel daran stellen sich jedoch spätestens ein, wenn man sich die mögliche Weite dieser Konstellation vor Augen führt. Die vom BayObLG und dem SchlHOLG entschiedenen Fälle sind solche, die auch vom
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Rechtsgefühl her an der Grenze des Anwendungsbereichs des § 263 liegen, unabhängig davon, auf welcher Seite der Grenze man sie einordnet. Es sind jedoch auch Sachverhalte denkbar, bei denen man kaum an eine Betrugsstrafbarkeit denken dürfte. Die belieferte Person und diejenige Person, die der Täter belästigen möchte, können auseinander fallen. So ist denkbar, dass der Täter die Pizza unter fremdem Namen nicht zur Belästigung des Belieferten bestellt, sondern um einen anderen Bewohner des Hauses zu verärgern, der sich an der lauten Türklingel des Belieferten stört. Dann ist möglicher Gegenstand einer Bereicherungsabsicht nicht einmal mehr das gesamte Andienen der unter falschen Angaben bestellten Pizza, sondern allein ein kleiner Ausschnitt aus den Bemühungen um die Lieferung der Pizza, nämlich das Drücken des Klingelknopfes. Ferner kann der Grad der beabsichtigten Beeinträchtigung deutlich geringer sein. Wenn etwa der faule Pförtner im Bürohaus dadurch geärgert werden soll, dass Pizzalieferungen für einige Büros geordert werden, so geht es allein darum, dass der Pförtner den Pizzaboten öffnen und den Weg in das jeweilige Büro erklären muss. Freilich lässt sich aus diesen vom Rechtsgefühl her wohl nicht mehr unter den Betrugstatbestand fallenden Vergleichsfällen noch kein zwingendes Argument gegen die Annahme einer Betrugsstrafbarkeit herleiten (ein solches folgt erst sogleich). Das Auseinanderfallen von Beliefertem und Belästigtem kann keine rechtliche Relevanz haben. Das geringe Belästigungspotential der letzten Vergleichsgruppe allein kann nicht gegen die Strafbarkeit aus § 263 angeführt werden. Denn diese Norm schützt nur den an seinem Vermögen Geschädigten, in diesen Fällen also das Vermögen des Pizzabäckers, nicht dagegen die persönliche Unversehrtheit des durch die Lieferbemühungen Belästigten. Ein solcher Individualschutz außerhalb von Vermögensinteressen kann hier allein von § 238 und §§ 223, 229 ausgehen, nicht jedoch vom Betrugstatbestand.
5. Vergleich mit der schlichten Fremdschädigung Das aus meiner Sicht zwingende Argument gegen die Betrugsrelevanz der hier untersuchten Fallkonstellation gerät in den Blick, wenn man den Grundfall anderweitig abwandelt: Liegt ein Anwendungsfall des § 263 vor, wenn der Täter die Pizzabestellung unter falschem Namen aufgibt, um den Pizzabäcker selbst dadurch zu ärgern, dass er die von ihm gebackene Pizza vergeblich an den angeblichen Besteller auszuliefern versucht? In diesem Fall einen Betrug anzunehmen würde eine wichtige gesetzgeberische Wertung missachten: Durch das Merkmal der Bereicherungsabsicht bringt das Gesetz deutlich zum Ausdruck, dass allein die täuschungs- und irrtumsvermittelte Veranlassung einer Selbstschädigung für einen Betrug nicht hinreicht. Es muss noch die auf eine (stoffgleiche) Bereicherung gerichtete Absicht des Täters
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hinzukommen, damit § 263 erfüllt ist. Wer also beispielsweise mit Schädigungsvorsatz durch Täuschung einen Pizzabäcker dazu bringt, eine Pizza zu backen und auszuliefern, begeht keinen Betrug. Da solche Fremdschädigungsfälle typischerweise dadurch motiviert sind, den Geschädigten zu ärgern,29 würde das Erfordernis der Bereicherungsabsicht umgangen, falls in solchen Fällen eine Bereicherungsabsicht konstruiert würde. Wenn in diesen Fällen, in denen die geschädigte und die zu ärgernde Person identisch sind, eine Betrugsstrafbarkeit ausscheidet, muss dies auch bei fehlender Personenidentität gelten. Denn aus rechtlicher Sicht ist kein Differenzierungsgrund für diese beiden Konstellationen erkennbar. Das Unrecht der Tat wird nicht dadurch beeinflusst, gegen welche Person das Ärgerpotential eingesetzt werden soll, gegen den Pizzabäcker oder gegen einen Dritten. IV. Fazit Die hier untersuchte Konstellation der Bestellung unter fremdem Namen zu Belästigungszwecken beweist wieder einmal die Weite des potentiellen Anwendungsbereichs des Betrugstatbestandes sowie die Schwierigkeiten, auf die man bei der Subsumtion unter diese faszinierende Strafnorm stoßen kann. Ingeborg Puppe hat schon vor 38 Jahren deutlich aufgezeigt, dass man auch in dieser Fallkonstellation sehr schnell ungenau arbeitet, wenn man die zivilrechtlichen Vorfragen nicht in die strafrechtliche Lösung einbezieht. Wer mit Eingehungs- und Erfüllungsbetrug das übliche Handwerkszeug der Betrugsdogmatik zur Anwendung bringen möchte, missachtet die Rechtsfolgen der Bestellung unter fremdem Namen. Die den Kern des Vermögensschadens herbeiführende Vermögensverfügung ist hier das Erbringen der (nur scheinbar vertraglich) versprochenen Leistungen. Die Betrugsstrafbarkeit scheitert jedoch an der fehlenden Bereicherungsabsicht. Wenn die Absicht des Täters allein darauf gerichtet ist, das der Schadensherbeiführung innewohnende Belästigungspotential auszunutzen, kann nicht von einer Bereicherungsabsicht i. S. v. § 263 ausgegangen werden. Andernfalls würde die Notwendigkeit einer vom Schädigungsvorsatz trennbaren Bereicherungsabsicht übergangen.
29 Das ist freilich nicht zwingend. Ein anderes Motiv läge beispielsweise vor, wenn es dem Anrufer darum ginge, den durch das Auslieferungsfahrzeug besetzten öffentlichen Parkplatz frei zu machen.
Die „täuschende Warnung“: eine Drohung? Von Wilfried Küper I. 1. Wer im 44. Jahrgang (1989) der „Juristenzeitung“ blättert, kann darin ein auf den ersten Blick eher unauffälliges Urteil des BGH zum „Gebrauchen“ einer unechten Urkunde (§ 267 I Var. 3 StGB) entdecken.1 Die Veröffentlichung des Urteils wird ergänzt durch eine Besprechung von Ingeborg Puppe,2 deren Hauptinhalt – zunächst überraschend – einem ganz anderen Thema gilt. Der BGH verneint ein „Gebrauchen“ u. a. deshalb, weil sich das Verhalten des Angeklagten darauf beschränkt habe, die Adressaten der beabsichtigten Täuschung auf die Existenz der – bei einem Notar hinterlegten – gefälschten Urkunden hinzuweisen und einzelne Angaben über deren Inhalt zu machen. Da für ein „Gebrauchen“ aber erforderlich sei, dass dem Adressaten wenigstens die Möglichkeit zur „Wahrnehmung der Urkunde selbst“ verschafft werde, reiche ein solches Verhalten nicht aus. Auch ein Versuch des „Gebrauchens“ sei mangels eines (nachweisbaren) Vorsatzes zur Ermöglichung der Wahrnehmung nicht gegeben. Das alles ist eigentlich nicht weiter bemerkenswert.3 Interessant wird die Entscheidung erst durch die Besprechung Puppes. Sie macht darin auf einen Aspekt des Falles aufmerksam, den der BGH in seinem Urteil nicht berücksichtigt hat: das Problem einer möglichen – erpresserischen – „Drohung“ und ihres Verhältnisses zur sog. „Warnung“. Diesem Fragenkreis widmet unsere „Jubilarin“ eingehende Ausführungen, die auf eine Kritik und Korrektur des traditionellen, „klassischen“ Drohungsbegriffs abzielen, um ihn durch eine Konstellation zu erweitern, die üblicherweise der bloßen, als Nötigungsmittel nicht geeigneten „Warnung“ zugerechnet wird. Dem Urteil des BGH lag – auf das Wesentlichste beschränkt – der folgende Sachverhalt zugrunde:4 1 BGH, JZ 1989, 595 f., Urteil vom 21.12.1988 (2 StR 613/88); auch in: BGHSt 36, 64 ff.; BGH, NJW 1988, 1099 f.; NStZ 1989, 178 f.; MDR 1989, 367 f.; wistra 1989, 142 ff.; BGHR, StGB § 267 Abs. 1, Gebrauchmachen 2. 2 Puppe, JZ 1989, 596 ff. 3 Zu den Voraussetzungen des „Gebrauchens“ in § 267 I StGB näher NK3 /StGBPuppe, 2010, § 267 Rn. 94 ff. 4 Nach der knappen Darstellung in BGHSt 36, 64 f.; BGH, JZ 1989, 595. Weitere Details, die hier nicht interessieren, in BGH, NJW 1989, 1099 f.; NStZ 1989, 178.
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Ein gewisser St. besaß mehrere Wechsel über insgesamt 2,8 Millionen DM; sie waren mit gefälschten Unterschriften des Seniorchefs der Firma N. versehen. Der Angeklagte, der zu St. Kontakt hatte, setzte sich nach dem Tod des Seniorchefs mit dessen Sohn in Verbindung. Er erklärte ihm wahrheitswidrig, dass er „von Wechseln erfahren habe“, die über eine Freundin des Vaters an St. gelangt seien: Der Vater habe beabsichtigt, sich mit seiner Freundin nach Spanien abzusetzen, und ihr deshalb mehrere Wechsel gegeben. Dabei hob der Angeklagte mehrmals die Gefahren hervor, die wirtschaftlich der Firma N. und persönlich der Witwe des Seniorchefs drohten, falls die Wechsel bei einer Bank vorgelegt würden. Gegenüber dem Sohn und einem Vertreter der Firma erbot sich der Angeklagte, für die „Sicherstellung“ der Wechsel durch deren Ankauf – zu etwa 20% des Nennwertes – zu sorgen, und forderte dafür entsprechende Geldbeträge. Als dieser Vorschlag abgelehnt wurde, hinterlegte er die Wechsel bei einem Notar und erklärte den Vertretern der Firma N., der Notar werde die Papiere herausgeben; doch müssten ihm (dem Angeklagten) zuvor 28.000 DM „zur Deckung seiner Unkosten“ gezahlt werden. Nach dieser Erklärung wurde er von einem im Nebenraum anwesenden Kriminalbeamten festgenommen.
Das LG hatte den Angeklagten wegen versuchten Betruges verurteilt. Die Staatsanwaltschaft wollte mit der Revision eine Verurteilung auch wegen (vollendeter oder versuchter) Urkundenfälschung erreichen. Der BGH hat die Revision insoweit aus den schon dargelegten Gründen verworfen. Bei der Bestätigung des Schuldspruchs wegen Betrugsversuchs ist in der Entscheidung unberücksichtigt geblieben, dass der Angeklagte die Vermögensschädigung nicht nur durch eine Täuschung über extrem hohe Wechselforderungen bewirken wollte, sondern auch durch die damit verbundene Ankündigung von „empfindlichen Übeln“: einer für die Firma N. wirtschaftlich bedrohlichen und für die Witwe des Seniorchefs persönlich kompromittierenden Situation, wie sie bei der Geltendmachung der behaupteten Forderungen entstehen würde. Möglicherweise ist der BGH darauf nicht eingegangen, weil die Staatsanwaltschaft keine Verurteilung wegen versuchter Erpressung angestrebt oder weil der BGH als selbstverständlich vorausgesetzt hat, dass es sich bei dem Verhalten des Angeklagten nicht um eine „Drohung“ handelte. Denn der Angeklagte hatte die Verwirklichung der angekündigten Übel nicht als von seinem Einfluss abhängig („in seiner Macht stehend“) dargestellt und insofern nur eine „Warnung“ ausgesprochen. So hat der BGH denn auch früher in einem vergleichbaren Fall dargelegt, dass bei der Ankündigung eines von einem „Dritten“ zu erwartenden Übels eine „Drohung“ nur vorliege, sofern in dem Adressaten die Vorstellung erweckt werden solle, der „Drohende“ könne und wolle „den Dritten in der befürchteten Richtung beeinflussen“. Das soll auch gelten, wenn der Täter das vom „Dritten“ drohende Übel nur vortäuscht.5 5 Vgl. BGHSt 7, 197 (198). Dort war wegen Erpressung angeklagt worden. Zu dieser Entscheidung unter dem Aspekt der „Drohung“ oder „Warnung“ näher Küper, GA 2006, 439 (456 ff.). – Die unter dem Stichwort des „erpressungsähnlichen Betruges“ um BGHSt 7, 197 geführte Diskussion gilt namentlich den Betrugsproblemen dieses „Chantage“-Falles, wobei eine „Drohung“ regelmäßig verneint wird. Vgl. etwa Graul,
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2. In einem nicht gerade leicht zugänglichen Gedankengang hat Ingeborg Puppe dieses traditionelle Verständnis der „Drohung“ grundsätzlich in Frage gestellt.6 Nach dem üblichen Drohungsbegriff – so Puppe – enthielten die täuschenden Erklärungen des Angeklagten im BGH-Fall keine „Drohung“, sondern „nur eine Warnung vor einem anderweitig drohenden Übel“, die zugleich mit dem Angebot verbunden war, „diesem Übel abzuhelfen, falls der Adressat bestimmte Bedingungen erfülle, insbesondere Leistungen erbringe“. Puppe hält dieser Beurteilung zunächst entgegen, dass es für den „Bedrohten“ keinen wesentlichen Unterschied bedeute, ob er den Täter als Quelle des drohenden Übels erkenne oder nicht:7 Für die „Zwangswirkung“, die den Unrechtsgehalt der Nötigung begründe, sei allein entscheidend, dass „der Täter für das Opfer eine scheinbare oder wirkliche Verknüpfung hergestellt hat zwischen einem bestimmten Verhalten [scil. des Opfers] und dem Eintritt bzw. Ausbleiben eines bestimmten Übels“. Denn damit habe der Täter diejenige „Herrschaft über die Willensentscheidung des Opfers“ erlangt, die das Unrecht der Nötigung als Freiheitsdelikt ausmache. Für Puppe folgt aus solcher Herrschaftsbegründung, dass „die Vortäuschung eines Übels mit Abwendungsmöglichkeit den deliktsspezifischen Unrechtsgehalt einer Drohung aufweist“. Bei dieser Überlegung hat ersichtlich Jakobs Pate gestanden, auf den der „Verknüpfungs“-Topos zurückgeht. Auch er hat eine „freiheitsbeschränkende Drohung“ darin gesehen, dass der Täter ein „real nicht drohendes Übel“ ohne die Behauptung eigenen Einflusses auf dessen Realisierung „als abwendbar darstellt“: Es komme nicht darauf an, ob der Täter – zumindest – vorgibt, auf das „angedrohte Übel“ Einfluss zu haben, sondern lediglich darauf, „ob die zumindest vorgebliche Verknüpfung von Übel und Opferverhalten vom Täter abhängt“.8
Dass der Täter in dieser Weise – durch Täuschung – Zwang auf die Willensentscheidung des Opfers ausüben, es insofern zu einem bestimmten Verhalten „nötigen“ kann, ist nachgerade evident.9 Aber ist das auch Zwangsausübung
in: Pfeiffer u. a. (Hrsg.), Brandner-FS, l996, S. 801 (825 ff.); Herzberg, JuS 1972, 570 (571); Kindhäuser, ZStW 103 (1991), 398 (414); Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT 232, 2009, Rn. 632 ff. – Auf den in BGHSt 7, 197 (198) aufgestellten Grundsatz hat der BGH seitdem häufiger zurückgegriffen, zuletzt in BGH, NStZ 2009, 692 (693). 6 Zum Folgenden Puppe, JZ l989, 596 f. – Hervorhebungen (wie generell in diesem Beitrag) nicht im Original. 7 Puppe vergleicht die Situation mit einer Täuschung i. S. des § 263 I StGB, für die es nicht erforderlich sei, dass der Adressat den Täuschenden als Quelle der falschen Information erkenne. So liege z. B. eine Täuschung auch bei der Verursachung des Anscheins vor, dass ein anderer eine falsche Erklärung abgegeben habe. 8 Jakobs, in: Baumann u. a. (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Strafrechts, K. PetersFS, 1974, S. 69 (84). Vgl. auch Jakobs, in: Hirsch u. a. (Hrsg.), H. Kaufmann-GS, 1986, S. 791 (809 f. mit Fn. 44). – Von Puppe wird Jakobs freilich nicht erwähnt. 9 Bezeichnend BGHSt 7, 197 (198), wo zur Vortäuschung des vom einem „Dritten“ drohenden Übels angemerkt wird, dass dies für eine erpresserische Drohung nicht genüge, „obwohl [!] hier nicht nur das durch § 263 allein geschützte Rechtsgut des Ver-
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durch „Drohung“? Puppe möchte, um die Konkordanz des Täterverhaltens mit dem Wortsinn herzustellen, den Begriff der „Drohung“ semantisch erweitern. Werde er „im Sinne von jemandem drohen“ verstanden, so gerate die Einbeziehung der thematischen Vortäuschung in Widerspruch zum Analogieverbot. Man könne aber das Merkmal der „Drohung“ auch in der (erweiterten) Bedeutung von „Bedrohung“ verstehen und diese „Bedrohung“ wiederum als „jede Verursachung des Zustandes der Furcht vor einem Übel“ oder als „Versetzen in der Zustand des Bedrohtseins“ bestimmen. Die Autorin sieht, dass ein so konzipierter Drohungsbegriff zu einer Gleichsetzung oder Überschneidung mit der „Warnung“ führen könnte, die auch nach ihrer Auffassung von einer „Drohung“ sachlich zu unterscheiden ist. Wer nämlich einen anderen vor einem ihm bisher unbekannten Übel „warne“, versetze den Adressaten ebenfalls in den „Zustand der Bedrohtheit“. Weise er dabei den Gewarnten auf ein Mittel zur Abwendung des Übels hin oder erbiete er sich selbst, unter gewissen Bedingungen dem Übel abzuhelfen, so stelle er auch damit „eine Verknüpfung zwischen dem drohenden Übel und einem bestimmten Verhalten des Adressaten her“. In der Befürchtung, deshalb könnten „Drohung“ und „Warnung“ miteinander identifiziert werden, vermutet Puppe den Grund für das traditionelle Drohungserfordernis, dass „der Täter seine Macht über Zufügung oder Ausbleiben des Übels behaupten und sich so als Herrn der Bedrohung des anderen darstellen muss“.10 Für die Abgrenzung der Drohung von der Warnung sei indessen nicht maßgebend, dass sich der Erklärende als „Herrn des Bedrohtseins darstellt“, sondern dass er „tatsächlich Herr des Bedrohtseins“ ist. Ebenso wie bei der Vortäuschung des Täters, das angedrohte Übel selbst verwirklichen zu können, liege jedoch eine derartige Herrschaft über den „psychischen Bedromögens, sondern auch die sonst [!] durch § 253 zusätzlich geschützte Freiheit der selbständigen Entscheidung verletzt worden ist“. 10 Begriffsgeschichtlich ist diese Hypothese allerdings nicht berechtigt. Der traditionelle Drohungsbegriff mit seiner Unterscheidung von „Drohung“ und „Warnung“ stammt aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung. Das RG hatte beide Erklärungen zunächst nur logisch und nach „allgemeinem Sprachgebrauch“ zu unterscheiden versucht: Die Warnung sei der „allgemeinere“, die Drohung der „engere“ Begriff, der sich dadurch kennzeichne, dass „die Verwirklichung des Übels in der Macht und dem Willen des Drohenden – wenigstens nach dessen Meinung – liegen muß“ (RGSt 34, 15 [19]). Erst später hat das RG den Versuch einer materiell-qualitativen Differenzierung unternommen: Die „Einschüchterung“ sei jeweils „eine verschiedene“, nämlich bei der Drohung die „Furcht vor dem Warnenden“ (d.h. Drohenden), bei der Warnung „nur vor den unabhängig von ihm eintretenden Folgen einer Nichtbeachtung der Warnung“ (RGSt 54, 236 [237]). Die Vortäuschung des Übels hat dabei keine Rolle gespielt; diese Möglichkeit ist offenbar gar nicht gesehen worden. Zu dieser Rechtsprechung, die der BGH später schematisch-unkritisch auf die „täuschende Warnung“ angewandt hat, näher Küper, GA 2006, 450 ff. – Richtig ist freilich, dass in der Literatur zuweilen die Befürchtung anklingt, bei einer Erweiterung des Drohungsbegriffs um die Vorspiegelung eines „externen“ Übels gehe der Unterschied zur Warnung verloren. Vgl. z. B. Bergmann, Das Unrecht der Nötigung (§ 240 StGB), 1985, S. 146; LK11 /StGB-Träger/Altvater, 2001, § 240 Rn. 56 mit Fn. 398 (wo Puppes Auffassung missverstanden wird).
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hungszustand“ vor, wenn der Täter dem Bedrohten „vorspiegelt, dass ihm von anderen Personen oder von den objektiven Verhältnissen ein Übel drohe“: Der Täter habe dann den „Zustand der Bedrohtheit“ sozial inadäquat verursacht und es jederzeit in der Hand – wozu er auch verpflichtet sei –, diesen Zustand durch Aufklärung zu beseitigen. Mit der Täuschung werde er für die Furcht des Bedrohten vor der vermeintlichen Gefahr „verantwortlich und rechtlich zuständig“. Deshalb dürfe man ihn „mit gleichem Recht“ als „Herrn dieses Bedrohungszustandes“ ansehen wie jemanden, der fälschlich behaupte, dem anderen ein Übel zufügen zu können. Durch „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ – so das Fazit – nötige daher auch, wer dem Opfer vortäusche, „von anderer Seite drohe ihm ein Übel, wenn es sich nicht in bestimmter Weise verhalte“.
Für den konkreten Fall folgert Puppe aus dieser „Erweiterung des Drohungsbegriffs“, dass der Angeklagte versucht habe, den Sohn des Seniorchefs mit einer „Drohung“ (erpresserisch) zu nötigen, weil er ihn durch die Täuschung in den „Zustand der Bedrohtheit“ zu versetzen und sich zum „Herrn über dessen Bedrohtheit“ zu machen versuchte.11 Das Angebot, gegen Erstattung angeblicher Aufwendungen das vermeintliche Übel abzuwenden, stelle hierbei allerdings nicht selbst die tatbestandliche „Drohung“ dar, sondern die „Verknüpfung zwischen Drohung und abzunötigendem Verhalten, durch die die Drohung zum Mittel der Nötigung geworden ist“. Für die Anwendung der Verwerflichkeitsklausel auf dieses Verhalten gelte, dass jede Bedrohung eines anderen durch Täuschung von vornherein „sozial inadäquat“ sei: „Es ist prinzipiell nicht erlaubt, einen anderen in Furcht vor vermeintlichen Gefahren zu versetzen, um ihn dadurch zu irgendeinem Verhalten . . . zu veranlassen.“ 3. Dieser „erweiterte“ Drohungsbegriff ist in der Literatur zwar inzwischen häufiger registriert worden, hat jedoch nur wenig – positive oder kritische – Resonanz gefunden. Es ist seit mehr als zwei Jahrzehnten sein dogmatisches Schicksal geblieben, meist nur Gegenstand eines ominösen „a. A.-Vermerks“ (oder „krit.-Vermerks“) zu sein.12 Zu den Ausnahmen gehört namentlich die Monographie von Arndt Sinn, der in anderer Terminologie Puppes Thesen im Ergebnis bestätigt und sie im Vergleich von „Drohung“ und „Warnung“ geringfügig ergänzt, ihnen damit freilich auch die Prägnanz genommen hat.13 Beiden Erklärungen ist nach Sinn gemeinsam, dass der Adressat durch die Konfrontation mit 11 Puppe, JZ 1989, 597 f. – Richtiger müsste es wohl heißen, dass der Angeklagte den Sohn in den Zustand des Bedrohtseins (tatsächlich) versetzt hat usw.: Versuch der Nötigung durch – nicht bloß „versuchte“ – Drohung. 12 In vielen Lehrbüchern fehlt auch dieser Hinweis. Vgl. z. B. A/W-Weber, Strafrecht BT2, 2009, § 9 Rn. 47 ff.; Eisele, Strafrecht BT I, 2009, Rn. 448 ff.; Gössel/Dölling, Strafrecht BT 12, 2004, § 17 Rn. 59 ff.; Heghmanns, Strafrecht für alle Semester, BT, 2009, Rn. 604 f.; Krey/Heinrich, Strafrecht BT 114, 2008, Rn. 325 ff.; Küpper, Strafrecht BT 13, 2007, Teil I, § 3 Rn. 47 ff.; Otto, Strafrecht BT7, 2005, § 27 Rn. 17 ff.; Rengier, Strafrecht BT II10, 2009, § 23 Rn. 39 ff. 13 Sinn, Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 231 ff., 238. Vgl. ferner Hoffmann, GA 2002, 385 (398 f.); MK/StGB-Gropp/Sinn, 2003, § 240
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einem „Übel“ in eine „Zwangslage“ versetzt werde. Bei der „Warnung“ vor einem tatsächlich drohenden Übel fehle jedoch der für die Drohung kennzeichnende „instrumentalisierende“ Einsatz des Opfers als „Werkzeug gegen sich selbst“, beherrsche das „Übel“, nicht der „Täter“ die Willensentscheidung des Gewarnten. Im Fall der Vorspiegelung, dass von einem Dritten ein Übel drohe, habe aber wiederum der Täter die Herrschaft über den Entscheidungsprozess und setze er „das Opfer zur Erreichung seiner Ziele in instrumentalisierender Weise ein“. Wie auch sonst bei mittelbarer Täterschaft sei es nicht erforderlich, dass das „Werkzeug“ sich der überlegenen Stellung des Täters bewusst sei.14 II. 1. Es ist die Pointe dieses erstmals von Puppe genauer begründeten, erweiterten Drohungsbegriffs, dass er die für eine Drohung kennzeichnende (Intention zur) „Beherrschung“ des Opferwillens nicht auf diejenige Herrschaft beschränkt, die vom Drohenden durch die Erklärung seiner Macht zur Verwirklichung des Übels ausgeübt werden kann, sondern dass er – gleichsam im Durchgriff durch dessen eigene Darstellung – auch die „Machtposition“ einbezieht, die der Täter durch Vorspiegelung eines von seinem Einfluss unabhängigen Übels zu gewinnen vermag. Freilich fällt auf, dass Puppe hierbei die Herrschaft über den „psychischen Zustand des Bedrohtseins“ aus einer Parallele zur falschen Darstellung des Täters ableitet, das Übel selbst zufügen zu können. Jene „Herrschaft“ beruht jedoch bei der regulären Drohung zwar nicht auf der realen Macht des Drohenden zur Verwirklichung des angekündigten Übels, aber auch nicht spezifisch auf der Vortäuschung dieser Macht. Sie beruht vielmehr auf der – wahren oder falschen – Behauptung, zur Realisierung des Übels bereit und in der Lage zu sein. Diese Erklärung – die „Machtdemonstration“ des Drohenden – begründet, sofern der Adressat sie ernst nimmt, unabhängig von ihrer Wahrheit die Herrschaft des Täters über den „Bedrohtheitszustand“ des Opfers und damit die „Zuständigkeit“ für die daraus resultierende Furcht vor dem Übel. Will man die Vortäuschung eines Übels, der solche Demonstration eigener Verwirklichungsmacht fehlt, in die tatbestandliche „Drohung“ aufnehmen, so müsste deshalb nachgewiesen werden, dass das Opfer in diesem Fall mit annähernd gleicher Intensität der „Herrschaft“ des Täters unterworfen werden kann wie bei der Ankündigung eines Übels, für welches der Täter selbst die Kompetenz zur Realisierung in Anspruch nimmt. Sonst erhält man einen völlig disparaten Drohungsbegriff ohne eine hinreichende normative Verbindung seiner EleRn. 70 ff.; NK3 /StGB-Toepel, 2010, § 240 Rn. 100; Sinn, JuS 2009, 577 (582 f.); Zopfs, JA 1998, 813 (819 zur „Drohung mit Unterlassen“). 14 Auf die Analogie zur mittelbaren Täterschaft beruft sich auch Toepel (Anm. 13) für seine Auffassung, dass die „Darstellung der Realisierung als vom Drohenden abhängig“ kein notwendiges Element der „Drohung“ sei.
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mente, die den faktisch-psychologischen Unterschied überbrückt, wie er zwischen der Ankündigung eines gerade vom Drohenden zu befürchtenden und eines anderweitigen, „externen“ Übels besteht.15 Es geht, anders gesagt, um die Möglichkeit – und Notwendigkeit – einer normativen Gleichstellung der Vorspiegelung eines „Drittübels“ mit der regulären, die Behauptung tätereigener Verwirklichungsmacht enthaltenden Drohung. Der hierfür erforderliche Nachweis ist aber durch eine Umdefinition der „Drohung“ in die zurechenbare Verursachung eines psychischen „Bedrohtheitszustandes“ ebenso wenig schon geführt wie mit dem Gedanken einer „Herrschaft über den Entscheidungsprozess“ oder vergleichbaren Paraphrasierungen. Außerdem verschwimmt bei diesem Ansatz die Unterscheidung von „Drohung“ und „Warnung“, die zu den Voraussetzungen der Argumentation gehört. Wenn nämlich auch die mit einem „Abwendungsangebot“ verbundene „Warnung“ vor einem bisher unbekannten Übel den Adressaten in den „Zustand der Bedrohtheit“ oder eine „Zwangslage“ versetzen, eine „Verknüpfung“ von Übel und Opferverhalten herstellen und so ebenfalls „Herrschaft“ über die Willensentscheidung des Betroffenen begründen kann, dann wird prinzipiell unklar, weshalb der Täter in diesem Fall nicht i. S. der Drohung „Herr über den psychischen Bedrohungszustand“ sein und eine „Instrumentalisierung“ des Gewarnten fehlen soll. Dass hier nur das „Übel“, nicht aber der „Täter“ den Opferwillen beherrsche (Sinn), bleibt gleichermaßen eine unbefriedigende Auskunft wie der Hinweis, dass der Täter nur bei einer Täuschung für die Furcht des Opfers „rechtlich zuständig“ sei. 2. Ich hatte deshalb schon vor einigen Jahren vorgeschlagen, das – sonst erstaunlich wenig behandelte – Problem aus anderer Perspektive in den Blick zu nehmen: es in einer freiheitstheoretischen Analyse deutlicher auf die Frage zurückzuführen, ob und inwiefern die „täuschende Warnung“ vor einem nicht vom Täter zu befürchtenden Übel („fraudulöse Warnung“) einen der regulären Drohung gleichwertigen Eingriff in die Freiheit des Opfers enthält, der dagegen bei der Warnung vor einem tatsächlich drohenden Übel („redlicher Warnung“) fehlt.16 Ist diese Frage positiv zu beantworten, so lässt sich die „fraudulöse Warnung“ ohne eine Umdeutung der „Drohung“ in „Herrschaft über Bedrohtheit“ dem Drohungsbegriff einfügen. Sprachlich ist dieser Begriff ohnehin nicht darauf festgelegt, dass der Drohende ein „in seiner Macht stehendes“ Übel ankündigt,17 15 Auf diesen psychologischen Unterschied hat das RG der Sache nach die Differenzierung zwischen „Drohung“ und „Warnung“ gestützt; vgl. oben Anm. 10. Er dürfte sub limine auch hinter der verbreiteten Abneigung stehen, die Vortäuschung eines „externen“ Übels als Drohung anzuerkennen. 16 Vgl. Küper, GA 2006, 464 ff. 17 Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001, S. 302 mit Fn. 1532, hat unter Hinweis auf die Sitzblockaden-Entscheidung BVerfGE 92, 1 (16) verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Auffassung geltend gemacht, dass „die Vortäuschung eines vom
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und semantisch sind „Drohung“ und „Warnung“ kaum unterscheidbar.18 Auch enthält das Gesetz keine systematisch verbindlichen Vorgaben zugunsten des traditionellen Begriffs der „Drohung“, denen die Einbeziehung der „täuschenden Warnung“ widerspräche.19 Die damals dazu vorgetragenen Überlegungen sollen hier wieder aufgenommen und weitergeführt werden. Sie beruhen auf einem Vergleich der Übelsankündigungen unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Freiheitsbeschränkung auf der Opferseite und der Verantwortlichkeit für die Beschränkung auf der Seite des Täters. Gegenstände des Vergleichs sind die reguläre „Drohung“ im traditionellen Sinn, die „redliche Warnung“ vor einem realiter extern drohenden Übel und die „fraudulöse Warnung“ bei Vortäuschung eines derartigen Übels. Zu vergleichen sind die Ankündigungen unter der Voraussetzung einer „erfolgreichen“, d.h. vom Adressaten ernst genommenen Erklärung, an der sich die (potentiell) freiheitsbeschränkende Wirkung zeigt, die mit der jeweiligen Ankündigung subjektiv intendiert wird.20
III. 1. „Drohung“ im traditionellen Verständnis ist die ausdrückliche oder schlüssige Ankündigung – das „Inaussichtstellen“ – eines künftigen Übels, dessen Eintritt der Ankündigende als „in seiner Macht stehend“, „von seinem Einfluss abhängig“ darstellt.21 Dies ist auch in der Weise möglich, dass das Übel – nach Täter unbeeinflußbaren Übels den Drohungsbegriff des § 240 StGB erfüllt“. Er bezieht sich dabei auf das problematische Obiter dictum des BVerfG, dass eine „Ausweitung“ der gesetzlich festgelegten Nötigungsmittel „im Wege der Interpretation“ (!), etwa auf „List oder Suggestion“, selbst dann ausscheide, „wenn diese Mittel eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer [!] haben wie die beiden im Gesetz pönalisierten“. Doch abgesehen davon, dass das BVerfG in dieser vagen Äußerung weder zum thematischen Drohungsproblem noch überhaupt zum Inhalt einer „Drohung“ Stellung nimmt, enthält Art. 103 II GG gewiss kein verfassungsrechtliches Verbot, den Begriff der „Drohung“ abweichend vom traditionellen Verständnis zu interpretieren. 18 Bezeichnend dafür RGSt 34, 15 (18 f.); 54, 236 f.; RG, JW 1923, 398 f., wo die sprachliche Austauschbarkeit mehrmals deutlich wird; dazu Küper, GA 2006, 450 ff. 19 Bergmann (Anm. 10), S. 147, stützt seine Ansicht, dass nur eine „mit Warnung verbundene Täuschung“ vorliege, maßgeblich auf § 126 I, II StGB, wo die „Androhung“ einer Katalogstraftat von der „Vortäuschung“ des Bevorstehens tatbestandlich unterschieden, beides aber im Strafmaß gleichgestellt wird. Diese Sonderregelung – in der es ohnehin nicht um Nötigungsmittel geht – zeigt aber ebenso wie die in § 241 I, II StGB zur „Bedrohung“ (bzw. „Vortäuschung“) getroffene allenfalls, dass der Gesetzgeber bei der Konzeption dieser speziellen Tatbestände vom herkömmlichen Drohungsbegriff ausgegangen ist. Eine darüber hinaus gehende, auch für § 240 StGB und sonstige Nötigungsdelikte geltende, systematische Grundentscheidung lässt sich daraus nicht ableiten. Eher spricht die gesetzliche Gleichstellung der „Vortäuschung“ mit der „Androhung“ bzw. „Bedrohung“ für die Einbeziehung der „täuschenden Warnung“ in den allgemeinen Drohungsbegriff. Vgl. auch Hoffmann, GA 2002, 399; Sinn (Anm. 13), S. 237 f. 20 Ob es bereits zum Begriff der „Drohung“ gehört, dass der Adressat die Ankündigung tatsächlich ernst nimmt (ihre Verwirklichung zumindest für möglich hält), interessiert daher in diesem Zusammenhang nicht. Zum Problem vgl. Küper, Strafrecht BT, Definitionen mit Erläuterungen7, 2008, S. 106 ff., mit weit. Nachw.
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dem Inhalt der Ankündigung – mittelbar durch einen „Dritten“ verwirklicht werden soll, auf den der Drohende entsprechenden Einfluss hat oder zu haben behauptet. Die Darstellung der „Macht“ zur oder des „Einflusses“ auf die Verwirklichung des angedrohten Übels enthält dabei zugleich die Erklärung des Willens, das Übel herbeizuführen. Dieser Willensbezug der Ankündigung wird meist nicht eigens hervorgehoben,22 ist aber ein notwendiges Moment des Drohungsbegriffs: Eine Erklärung etwa des Inhalts, ein bestimmtes Übel zwar verwirklichen zu „können“, dies aber nicht zu „wollen“, ergibt keine „Drohung“ mit dem Übel. Da es für die Drohung als psychisches Mittel der Willenseinwirkung nur auf den Erklärungsinhalt, nicht auf die reale Gefahr ankommt, dass das angekündigte Übel eintreten wird, bleibt es andererseits gleichgültig, ob der Drohende das Übel tatsächlich verwirklichen kann oder (und) will. Die Eignung dieser „klassischen“ Drohung als Nötigungsmittel beruht auf dem „Bedingungselement“ der Ankündigung:23 Das Übel wird nicht „absolut“ und vorbehaltlos, sondern für den Fall – „bedingt“ – in Aussicht gestellt, dass das vom Drohenden geforderte Verhalten des Bedrohten unterbleibt; der Drohende erklärt, dass er (nur) unter dieser Bedingung ein Übel, welches er verwirklichen könne, auch realisieren wolle. Im Erklärungskontext der Drohung steht der Eintritt des angedrohten Übels damit in einem zweifachen Verhältnis der „Abhängigkeit“: Die Realisierung des Übels ist „abhängig“ von der Macht und dem Willen des Drohenden, das Übel zu verwirklichen, und sie ist – aufgrund der Abhängigkeit des Willens vom Verhalten des Bedrohten – außerdem „abhängig“ vom jeweiligen Opferverhalten. Sinngemäß teilt der in dieser Weise „bedingt“ Drohende dem Adressaten mit: „Ich kann das Übel verwirklichen, wenn ich es will, und ich will es verwirklichen, wenn du dich nicht so verhältst, wie ich es will.“ Eine solche „konditionale“ Drohung enthält damit zugleich ein – wiederum bedingtes – „Vermeide“- oder „Abwendungsangebot“ an die Adresse des Bedrohten, das dieser mit dem geforderten Verhalten „annehmen“ soll und dessen „Ablehnung“ durch die Übelsandrohung „sanktioniert“ wird: das Angebot des Drohenden, auf die ihm mögliche Realisierung des Übels zu verzichten, sofern der Bedrohte das geforderte Verhalten vollzieht, andernfalls jedoch die „Sanktion“ der Herbeiführung des Übels zu vollstrecken. Es versteht sich, dass dieses Ange21 Dazu und zum Folgenden statt vieler Küper (Anm. 20), S. 105, mit weit. Nachw. – Mit dem oft erwähnten „Einfluss“ bzw. der „Macht“ ist dabei die Möglichkeit gemeint, das Übel herbeizuführen (zuzufügen), und nicht etwa diejenige, es zu verhindern. Vgl. dazu auch Küper, GA 2006, 441 Fn. 9. 22 Vgl. aber etwa Gössel/Dölling (Anm. 12), § 17 Rn. 59; Kindhäuser, LPK4 /StGB, 2010, Vor § 232 Rn. 22; Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 240 Rn. 12; Sinn, JuS 2009, 582 f.; BGH, NStZ 2009, 692 (693). 23 Zum „Bedingungselement“, in dem man bereits ein Begriffsmerkmal der „Drohung“ sehen kann, das aber jedenfalls deren Qualität als Nötigungsmittel ausmacht, vgl. die Hinw. bei Küper (Anm. 20), S. 106, sowie in GA 2006, 440 mit Fn. 6. Vgl. auch Sinn (Anm. 22).
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bot ebenso wenig „wahr“ sein muss wie die Erklärung, zur Verwirklichung des Übels imstande und gewillt zu sein. Freiheitstheoretisch formuliert, bietet der Drohende dem Adressaten mit dem Abwendungsangebot einen „Tausch von Freiheiten“ an. Der Bedrohte soll zugunsten des Drohenden Handlungsfreiheit opfern (das geforderte Verhalten vollziehen) und dafür eine Freiheit gewinnen, die in der Sicherheit vor dem angekündigten Übel besteht. Doch ist der damit oktroyierte „Freiheitsgewinn“ nur ein scheinbarer, da er lediglich in der Aufhebung einer vom Drohenden bewirkten Freiheitsbeschränkung (dem angedrohten Übel) liegt: Der Bedrohte erhält im „Tausch der Freiheiten“ nur eine Freiheit wieder zurück, die ihm ohnehin zusteht und seinen Freiheitsverlust nicht kompensiert.
Diese „bedingte“ Drohung mit einem vom Einfluss und Willen des Drohenden abhängigen Übel enthält – analytisch betrachtet – einen doppelten Eingriff in die Freiheit des Bedrohten, den der Täter als Freiheitsbeschränkung zu verantworten hat. Er mindert den Freiheitsstatus des Adressaten einmal schon dadurch, dass er in dessen Lebenssphäre die Konfrontation mit einem künftigen Übel induziert, welches er selbst verwirklichen wird, und den Adressaten damit in eine „Zwangslage“ versetzt: Der Bedrohte muss sich nunmehr entscheiden, ob er das bevorstehende Übel ertragen oder vermeiden will. Darüber hinaus verengt der Täter die dem Opfer zur Vermeidung des Übels verfügbaren Alternativen auf die von ihm – dem Drohenden – angebotene, mit der Übelsandrohung „sanktionierte“ Alternative, die in dem geforderten Verhalten besteht: Der Bedrohte kann das in der Drohung enthaltene „Abwendungsangebot“ nur ablehnen, wenn er die Verwirklichung des angedrohten Übels durch den Täter zumindest riskiert. Für diese doppelte Freiheitsminderung, die durch keinerlei „Freiheitsgewinn“ ausgeglichen wird, trägt der Drohende allein die Verantwortung. 2. a) Diese Konstellation ändert sich wesentlich, wenn die Ankündigung des Übels so beschaffen ist, dass der Erklärende vor einem von Dritten oder den Verhältnissen bereits drohenden – dem Adressaten bisher unbekannten – Übel lediglich warnt, ohne das Übel vorzutäuschen („redliche Warnung“). In diesem Fall ist der Freiheitsstatus des Gewarnten mit der „negativen Exspektanz“ des zu erwartenden Übels – die der Warnende nicht zu verantworten hat – schon vorbelastet und dadurch reduziert (gemindert); verwirklicht sich die Exspektanz im realen Eintritt des Übels, so entsteht mit dem Wegfall der Abwendungsmöglichkeit ein effektiver Freiheitsverlust. Der Warnende, der nach Art einer „Belehrung“24 dem Adressaten diese Beschränkung bewusst macht, schafft dadurch zwar, parallel zur Drohung, eine Entscheidungssituation, die man psychische „Zwangslage“ nennen kann; der Gewarnte muss sich jetzt entscheiden, ob er das Übel in Kauf nehmen oder ihm begegnen will. Doch resultiert dieser Entscheidungszwang nur aus der vom Warnenden vermittelten Kenntnis einer schon vorhandenen Übelsbedrohung und Freiheitsminderung, die der Gewarnte auch selbst hätte erlangen können und 24
Vgl. RGSt 54, 236 (237); RG, JW 1923, 398 f.
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im eigenen Interesse hätte erlangen sollen; die „Warnung“ ersetzt nur dessen Selbstinformation über die bestehende Freiheitsbeschränkung. Für diese Entscheidungslage und deren „Zwang“ ist der Warnende daher ebenso wenig verantwortlich wie für das drohende Übel. Gemessen am Status quo ante wird durch die zutreffende („redliche“) Warnung der Freiheitsstatus des Adressaten sogar verbessert, seine Freiheit „erweitert“, weil er damit die Möglichkeit erhält, das drohende Übel abzuwenden25 und so die Freiheitseinbuße zu vermeiden, die in der Realisierung des Übels besteht – ein relativer „Freiheitsgewinn“. Auf der Basis dieser erweiterten Freiheit kann der Gewarnte zudem die Alternativen zur Vermeidung des Übels selbst bestimmen, während er bei der Drohung an die vom Täter angebotene Alternative dadurch „gebunden“ wird, dass deren Ablehnung das Risiko der Verwirklichung des Übels enthält. Die „Warnung“ ist daher kein der „Drohung“ gleichwertiger Freiheitseingriff. b) Allerdings kann der Warnende seine Erklärung mit einem Angebot zur Abwendung des Übels verbinden, etwa mit der Information, wie der Adressat dem Übel durch eigenes Abwehrverhalten ausweichen kann, vor allem aber mit der Offerte des Warnenden, seinerseits – oder zusammen mit dem Gewarnten – für die Vermeidung des Übels zu sorgen. Ein solches „Abwendungsangebot“ ist zwar kein begrifflicher Bestandteil der eigentlichen Warnung, weil es bei einem über das drohende Übel schon unterrichteten Empfänger ebenfalls denkbar und praktisch möglich ist. Doch gehört es in den Sachzusammenhang typischer „Warnungsfälle“ und führt in diesem Kontext zur Frage des Verhältnisses von „Drohung“ und „Warnung“: Der Warnende stellt in solchen Fällen26 ein Übel in Aussicht, das unabhängig von seiner Verwirklichungsmacht eintreten werde, wenn es nicht verhindert wird, und bietet dem Gewarnten (mindestens) eine Alternative zur Abwendung des drohenden Übels an. Der in dieser Weise mit „Abwendungsoption“ Warnende nimmt, was den Eintritt des Übels betrifft, nicht „Realisierungskompetenz“, wohl aber „Verhinderungs-“ oder „Vermeidekompetenz“ und (nur) in diesem Sinn „Einfluss“ auf die Verwirklichung des Übels in Anspruch. Dadurch erhält er aber die Chance, den Gewarnten – unter dem psychischen „Druck“ des bevorstehenden Übels – zur Annahme des Angebots zu motivieren und so dessen Verhalten in eine von ihm (dem Warnenden) bestimmte Richtung zu lenken: eine „Verknüpfung“ zwischen dem Übel und dem Verhalten des Adressaten. Trotzdem liegt darin noch kein der regulären Drohung gleichwertiger Eingriff in die Freiheit des Gewarnten. Solange der Adressat das mit der Warnung verbundene Abwendungsangebot ablehnen kann, ohne die Verwirklichung des dro25 26
Vgl. auch Bergmann (Anm. 10), S. 146. Dazu Küper, GA 2006, 444 f., an Beispielen aus der Rechtsprechung des RG.
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henden Übels zu riskieren, fehlt es überhaupt an jeder vom Warnenden bewirkten Freiheitsbeschränkung, weil die Selbstbestimmung des Adressaten zur Vermeidung des Übels nicht tangiert wird. Muss der Gewarnte hingegen bei Ablehnung des Angebots die Realisierung des Übels befürchten, dann wird er hierdurch allerdings an das Abwendungsangebot des Warnenden „gebunden“ und in seiner Freiheit zur Bestimmung der Abwehralternativen beschränkt; die Ablehnung des Angebots steht insofern, ähnlich wie bei regulärer Drohung, unter der „Sanktion“ des Übelseintritts. Doch ist diese Bindung der von einer Drohung ausgehenden und vom Drohenden zu verantwortenden Freiheitsbeschränkung qualitativ nicht äquivalent. Die Ungleichwertigkeit beruht letztlich darauf, dass der Drohende die für den Adressaten bedrohliche Lage durch die Ankündigung des Übels selbst schafft, während sie bei der Warnung bereits besteht, ohne dass der Warnende dafür Verantwortung trägt: Die „Bindung“ des Gewarnten an dessen Abwendungsangebot resultiert mittelbar aus dem durch das tatsächlich drohende Übel von vornherein beschränkten und mit der Warnung wieder relativ „erweiterten“ Freiheitsstatus des Adressaten. Diesen reduzierten Freiheitsstatus modifiziert das „bindende“ Abwendungsangebot lediglich derart, dass allein die Selbstbestimmung des Gewarnten zur Vermeidung des Übels begrenzt wird; eine weitere Freiheitsbeschränkung enthält es nicht. Ist das Angebot zur Abwendung des Übels geeignet und wird es vom Gewarnten angenommen, so trägt die Warnung „freiheitsbewahrend“ dazu bei, dass sich das bevorstehende Übel nicht verwirklicht und die mit dessen Realisierung verbundene Freiheitseinbuße unterbleibt. Die „Warnung mit Abwendungsoption“ stellt sich damit als ein Schutz- und Hilfsangebot zugunsten des Gewarnten dar und hat deshalb nicht die Qualität des einer Drohung immanenten Freiheitseingriffs. c) Die wesentliche Differenz zur Freiheitsbeschränkung durch „Drohung“ zeigt sich auch im Vergleich der jeweiligen „Abwendungsangebote“. Das in der Drohung indirekt enthaltene Vermeideangebot impliziert den Verzicht des Drohenden auf die Realisierung des angedrohten Übels unter der Voraussetzung, dass der Bedrohte dafür die „Gegenleistung“ des geforderten Verhaltens erbringt; nur dadurch kann das Abwendungsangebot des Drohenden „angenommen“ werden. Die von einem Abwendungsangebot begleitete Warnung enthält dagegen nicht notwendig diese freiheitsbeschränkende Bedingung und wird schon dadurch „angenommen“, dass der Gewarnte das Angebot akzeptiert. – Allerdings kann das Angebot des Warnenden auch den Inhalt haben, dass er das drohende Übel nur abwenden werde, wenn der Adressat bestimmte Bedingungen erfüllt, also für die Abwendung des Übels eine „Gegenleistung“ erbringt. In diesem Fall erhält die Warnung vor dem Übel eine der „bedingten Drohung“ vergleichbare Struktur, nämlich diejenige der „Drohung mit einem Unterlassen“:27 Der Warnende stellt 27 Vgl. Küper, GA 2006, 445; SK/StGB-Horn/Wolters (Stand Oktober 2003), § 240 Rn. 17.
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nunmehr in Aussicht, dass er ein Übel, dessen Verhinderung in seiner Macht stehe, nicht abwenden (die Abwendung unterlassen) werde, wenn der Gewarnte auf die Bedingungen des Angebots nicht eingeht. Diese strukturelle Parallelität ergibt jedoch nicht notwendig einen der regulären Drohung gleichwertigen Freiheitseingriff; sie führt vielmehr erst zu der Frage, unter welchen weiteren Voraussetzungen die „Drohung mit Unterlassen“ einer Drohung mit der Zufügung des Übels gleichgestellt werden darf. Dieses Problem kann hier nicht diskutiert werden. Es sei nur festgehalten, dass eine „Warnung mit bedingter Abwendungsoption“ in den Fragenkreis der „Drohung mit Unterlassen“ gehört.28 IV. Bei der hier als „fraudulöse Warnung“ – oder auch: „täuschende Warnung“ – apostrophierten Erklärung spiegelt der Warnende ein künftiges Übel vor, dessen Realisierung nicht von ihm selbst, sondern von einem Dritten oder sonstigen Umständen zu erwarten ist. Diese Vortäuschung eines „externen“ Übels interessiert im Zusammenhang mit der Frage, ob sie einen der regulären Drohung äquivalenten Freiheitseingriff darstellt, nur unter der Voraussetzung, dass der Erklärende sie mit einem „Abwendungsangebot“ verbindet, wie es ähnlich auch in der „bedingten Drohung“ schon enthalten ist. Die bloße Vortäuschung eines als abwendbar dargestellten Übels kann ohnehin keine der eigentlichen Drohung gleichwertige Freiheitsbeschränkung ergeben und ist für das Problem ohne Relevanz. Es geht also um die täuschende Warnung mit „Abwendungsoption“.29 28 Zur Problematik der sog. „Drohung mit Unterlassen“ vgl. die Diskussionsübersichten bei Hillenkamp, 40 Probleme aus dem Strafrecht, BT11, 2009, S. 28 ff.; Küper (Anm. 20), S. 110 ff.; jew. mit weit. Nachw.; eingehende Erörterungen zuletzt etwa bei Gutmann (Anm. 17), S. 268 ff., 287 ff. und passim; NK/StGB-Toepel (Anm. 13), § 240 Rn. 118 ff.; Zopfs, JA 1998, 813 ff. 29 Ist das Abwendungsangebot „bedingt“, also mit der Forderung einer „Gegenleistung“ für die Abwendung des Übels gekoppelt, so liegt ihm die Struktur einer bedingten „Drohung mit Unterlassen“ (der Abwendung des vermeintlichen Übels) zugrunde. Deshalb könnte das Problem auch unter dem Aspekt thematisiert werden, ob die Ankündigung dieses Unterlassens derjenigen eines aktiven Tuns „gleichgestellt“ werden kann (vgl. Zopfs, JA 1998, 819). Die folgenden Überlegungen gehen, um die Qualität des Freiheitseingriffs substantiell zu erfassen, bewusst einen anderen Weg und werfen die Frage der Gleichstellung von Unterlassen und Tun in diesem Zusammenhang nicht explizit auf. Verlangt man für die Gleichstellung die „Pflichtwidrigkeit“ der Unterlassung, also eine Rechtspflicht zur Abwendung des Übels, so trifft dieses Kriterium auf die „fraudulöse Warnung“ ersichtlich nicht zu. Deshalb müsste von diesem Standpunkt aus eine tatbestandsmäßige „Drohung“ eigentlich von vornherein verneint werden (so offenbar SK/StGB-Horn/Wolters [Anm. 27], § 240 Rn. 18 i.V. m. Rn. 17). Das liegt aber nur daran, dass bei einem vorgetäuschten Übel die Frage der „Pflichtwidrigkeit“ (des angekündigten Unterlassens!) nicht mehr sinnvoll gestellt werden kann. Als Gegenstand einer „Pflicht“ kommt hier allenfalls die Aufklärung des Adressaten über die fehlende Übelsbedrohung und als „pflichtwidrig“ die Unterlassung dieser Maßnahme in Betracht, die freilich mit dem angedrohten Unterlassen nicht identisch ist. Auch unter dieser Voraussetzung bleibt indes die These begründungsbedürftig, dass der Täuschende
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Eine solche Erklärung hat mit der „klassischen“ Drohung und der „redlichen Warnung“ zunächst gemeinsam, dass sie den Empfänger mit einem – angeblich – bevorstehenden Übel konfrontiert und ihn so in die bereits beschriebene „Zwangslage“ versetzt. Im Unterschied zur „redlichen Warnung“ – und parallel zur regulären Drohung – trifft diese Konstellation auf einen Freiheitsstatus des Adressaten, der nicht mit der „negativen Exspektanz“ einer tatsächlichen Übelsbedrohung schon vorbelastet und dadurch gemindert ist. Deshalb fehlt zugleich jene relative „Erweiterung“ der Freiheit, die bei „redlicher Warnung“ aus der Möglichkeit resultiert, das drohende Übel abzuwenden und die Alternativen zu dessen Vermeidung (primär) selbst zu bestimmen. Zudem bindet die „fraudulöse Warnung“ den Adressaten in ähnlicher Weise wie die echte Drohung an das Abwendungsangebot des Warnenden – einschließlich der darin enthaltenen Bedingungen – und führt insoweit zu einer vergleichbaren „doppelten“ Freiheitsbeschränkung: Zwar wird der „fraudulös“ Gewarnte, da er das vermeintliche Übel nicht vom Warnenden zu erwarten hat, an dessen Abwendungsangebot nicht in der Weise freiheitsbeschränkend „gebunden“, dass er im Ablehnungsfall die Realisierung des Übels gerade durch ihn befürchten muss. Insofern stimmt die „täuschende Warnung“ mit der „redlichen“ überein und unterscheidet sie sich von der regulären Drohung. Indessen ersetzt der täuschend Warnende diese Freiheitsbeschränkung – mit gleicher Wirkung für den Adressaten – durch die Vorspiegelung des von dritter Seite drohenden, mit der Annahme des Angebots (angeblich) abwendbaren Übels. Im Gegensatz zum Abwendungsangebot – Hilfsangebot – eines „redlich“ Warnenden wird dabei nicht nur die Selbstbestimmung des Gewarnten zur Vermeidung des Freiheitsverlustes begrenzt, der mit der Verwirklichung des Übels eintritt. Dieses relativ „freiheitsbewahrende“ Moment fehlt der täuschenden Warnung: ein bloß vorgetäuschtes Übel ist überhaupt nicht „abwendbar“. Soweit für den Gewarnten noch ein Rest an Freiheit übrig bleibt, erschöpft er sich in der Möglichkeit einer Korrektur des vom Warnenden verursachten Irrtums, mit der zugleich die vermeintliche Übelsbedrohung entfiele. Diese Alternative der nachträglichen „Selbstbefreiung“ aus einer Zwangslage, für die der Warnende allein verantwortlich ist, besteht freilich ebenso bei der regulären Drohung, wenn der Täter seinen Einfluss auf das Übel oder seinen Verwirklichungswillen nur vortäuscht. Die „fraudulöse Warnung“ – mit „Abwendungsoption“ – stellt daher einen der regulären Drohung gleichwertigen, vom Täter zu verantwortenden Eingriff in die Freiheit des Adressaten dar: sie ist eine „Drohung“. ebenso zu behandeln sei wie jemand, „der mit der Unterlassung eines übelabwendenden Verhaltens droht, zu dem er rechtlich verpflichtet ist (Puppe, JZ 1989, 597). – Zopfs, JA 1998, 819, begründet die Gleichstellung mit einer von ihm sog. „Setzungsmacht aus normativen Gründen“, die praktisch in der „Herrschaft über das Geschehen“ und die „bedrohliche Lage“ des Opfers bestehen soll. – Abschluss des Manuskripts: Februar 2010.
Strafrechtliche Bekämpfung der Zwangsheirat Von Klaus Letzgus I. Ausgangslage 1. Tatsächliche Situation Seit Anfang der 80er Jahre werden die vor einem in der Regel islamisch geprägten Migrationshintergrund in Deutschland geschlossenen oder vermittelten Zwangsehen zu einem zunehmend verstärkten Problem. In der überwiegenden Zahl der Fälle sind Mädchen und junge Frauen, vor allem minderjährige Mädchen, von Zwangsheirat betroffen. Es sind Fälle bekannt geworden, in denen 16jährige Mädchen für ein paar Tausend Euro regelrecht an ältere Männer verkauft wurden. Für die betroffenen jungen Frauen ist es außerordentlich schwer, Wege aus der Zwangsehe zu finden, da die eigene Familie und der Ehemann sie überwachen, sie tagelang sogar einsperren. Die jungen Frauen haben Angst, dass ihr „Ungehorsam“ bestraft wird, weil sie angeblich die Familienehre verletzt haben. Zu den Druckmitteln gehören physische und sexuelle Gewalt, Nötigung durch Drohungen, Einsperren, Entführen, psychischer und sozialer Druck sowie emotionale Erpressung1. Die betroffenen Mädchen und junge Frauen suchen häufig in Frauenhäusern Schutz, wobei sich viele gezwungen sehen, ihre Heimatstadt auf der Flucht vor der Familie zu verlassen. Sie haben Angst vor dem Verlust der Familie und vor den Aggressionen des Vaters. Unterdrückung und sexuelle Übergriffe führen häufig zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen der Frauen. Zwangsheirat liegt dann vor, wenn mindestens einer der Eheschließenden durch eine Drucksituation zur Ehe gezwungen wird und mit seiner Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich der Eheschließung zu widersetzen, weil Eltern, Familie und Schwiegereltern mit den unterschiedlichsten Mitteln psychischen Druck ausüben2. Von den Zwangsehen sind die so genannten „arrangierten Ehen“ zu unterscheiden, die auf Wunsch und mit Einverständnis beider Ehegatten durch Verwandte oder Freunde initiiert werden. Beruht die Eheschließung letztlich auf dem freien 1 2
Vgl. BR-Drs. 436/05, S. 5. Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54; Schubert/Moebius, ZRP 2006, 34.
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Willen beider Ehegatten, liegt keine Zwangsehe im hier verstandenen Sinne vor, wobei allerdings die Übergänge zwischen Zwangsehe und arrangierter Ehe fließend sind. 2. Erscheinungsformen der Zwangsheirat In der Praxis werden drei, teilweise auch vier Erscheinungsformen der Zwangsehe unterschieden3. Die einfachste Form ist die Verheiratung in Deutschland lebender Personen mit Migrationshintergrund mit Mitteln der Nötigung. So genannte „Importbräute“ werden Mädchen und junge Frauen genannt, die von in Deutschland lebenden Bekannten aus dem Heimatland nach Deutschland geholt werden. Dies ist in aller Regel das Ergebnis von Vereinbarungen zwischen der in Deutschland lebenden Familie des Mädchen und der Familie des Mannes im Ausland. Da diese jungen Frauen in aller Regel weder die deutsche Kultur und Sprache noch eine Vertrauensperson kennen, mit der sie sich austauschen können, sind sie den beiden sich einigenden Familien gegenüber weitgehend ausgeliefert4. Diese Form der Zwangsheirat wird auch Heiratshandel genannt. Umgekehrt werden bei der so genannten Heiratsverschleppung in Deutschland lebende junge Frauen anlässlich eines als vorübergehend ausgewiesenen Aufenthalts im Herkunftsland der Eltern verheiratet, ohne vorher darüber informiert zu sein5. Diese Form der Zwangsheirat wird auch Ferienverheiratung genannt. Bei der „Verheiratung für ein Einladungsticket“ wird eine Frau mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland von ihrer eigenen Familie einem noch im Ausland lebenden Mann versprochen. In diesem Fall ist die Frau in der Regel lediglich ein Mittel zur legalen Einwanderung des Mannes im Rahmen des so genannten Ehegattennachzugs. 3. Zwangsehe als Menschenrechtsverletzung Obwohl Zwangsehen zweifellos das Recht auf freiwillige Eheschließung verletzen, wurden sie lange Zeit öffentlich kaum wahrgenommen, weil Politik und Gesellschaft wohl gewisse Bedenken hatten, gegen kulturell motivierte Verhaltensweisen vorzugehen. Das Recht der freien Eheschließung und selbstbestimmten Partnerwahl wird jedoch durch Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen sowie durch Art. 12 der Europäischen Konvention zum Schutz der 3 4 5
Vgl. Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54. Vgl. BR-Drs. 546/05, S. 5. Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54 ff.
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Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert. Ferner heißt es in der Empfehlung Nr. 21 des UN-Komitees zur Abschaffung aller Formen zur Diskriminierung von Frauen wörtlich: „Das Recht, einen Partner zu wählen und eine Heirat freiwillig einzugehen, ist von zentraler Bedeutung für das Leben einer jeden Frau, für ihre Würde und Gleichberechtigung als menschliches Wesen.“
Die UNO hat sogar Zwangsheirat als moderne Form der Sklaverei bezeichnet. Auch die EU hat allein zwischen den Jahren 2002 und Dezember 2005 elf Richtlinien mit dem Ziel erlassen, Zwangsehen zu verhindern. Diese sollten bis zum Jahre 2006 in nationales Recht umgesetzt werden, was jedoch in Deutschland nur teilweise und sehr zögerlich erfolgt ist. Ferner verstößt die Zwangsehe gegen Art. 6 Abs. 1 GG, der nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG die Eheschließungsfreiheit, d. h. das Recht jedes Menschen, die Ehe mit einem selbst gewählten Partner einzugehen, unter besonderen Schutz stellt6. Ein wesentlicher Grund für das bisher zögerliche Verhalten des deutschen Gesetzgebers gegen die Zwangsheirat mag auch in der Tatsache begründet sein, dass sich mögliche Täter einer Zwangsheirat auf die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG berufen, da dort die ungestörte Religionsausübung gewährleistet ist. Im Hinblick auf die hohe Akzeptanz von Koran, Sunna und Scharia ist durchaus nachvollziehbar, dass insbesondere traditionell lebende Moslems das Unrechtsbewusstsein für Handlungen fehlt, die nach unseren Vorstellungen rechtswidrig sind7. Eine Grundrechtskollision zwischen Religionsfreiheit einerseits und Schutz der Ehe und Familie andererseits zu konstruieren, liegt jedoch neben der Sache. Zwar haben beide Grundrechte keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt, jedoch liegt es – auch ohne in die Grundrechtsdogmatik tiefer einzusteigen – auf der Hand, dass derjenige, der gegen elementare Menschenrechte verstößt und sich dabei schon nach geltendem Recht strafbar macht, sich nicht auf ein Grundrecht berufen kann. II. Notwendigkeit einer strafrechtlichen Regelung 1. Gesetzgeberische Initiativen zur Bekämpfung der Zwangsheirat Im Interesse der Integration, aber auch des Opferschutzes versucht die Politik zu Recht, wirksame Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von Zwangsehen zu ergreifen. Dabei ist man sich zwar im Wesentlichen darüber im Klaren, dass nicht vornehmlich neue Strafvorschriften, sondern vielmehr ergänzende Vorschriften im Familien- und Erbrecht, aber auch im Aufenthaltsrecht notwendig sind. Der 6 7
BVerfGE 31, 67; 105, 342. Busch, NJ 2010, 24.
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Gesetzgeber ist jedoch der Meinung, dass auch mit Mitteln des Strafrechts gegen die Zwangsverheiratung vorgegangen werden muss, und hat erstmals mit dem 37. Strafrechtsänderungsgesetz vom 11.02.2005 durch die Einfügung eines Regelbeispiels für den besonders schweren Fall der Nötigung „zur Eingehung der Ehe“ in § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StGB einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Diese in der Praxis kaum zur Anwendung gekommene Vorschrift war jedoch offenbar zur Bekämpfung der Zwangsehe nicht ausreichend, da sowohl in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition vom 07.11.2005 (Seite 140) wie auch im jetzigen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP vom 26.10. 2009 zusätzlich rechtliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Zwangsehe vereinbart wurden. Während die Große Koalition – wie ebenfalls in der damaligen Koalitionsvereinbarung vorgesehen – mit § 238 StGB zwar einen neuen Straftatbestand zur Nachstellung (Stalking) eingeführt hat, ist es trotz mehrerer Initiativen seit 2004, insbesondere über den Bundesrat durch die Länder Baden-Württemberg (BR-Drs. 767/04) und Berlin (BR-Drs. 436/05), zu keiner gesetzlichen Regelung gekommen, wobei man sich zwar über das Ziel, nicht jedoch über die rechtlich sinnvollen Maßnahmen zur Bekämpfung der Zwangsheirat einig war. Nunmehr hat der Bundesrat in seiner 866. Sitzung am 12.02.2010 auf Antrag der Länder Baden-Württemberg und Hessen erneut beschlossen, den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat (Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz) unverändert beim Bundestag einzubringen (BR-Drs. 36/10). Dieser Beschluss beruht auf dem Gesetzentwurf der vom Bundesrat am 08.07.2005 (Drs. 546/05) sowie erneut am 10.02.2006 (Drs. 51/1/06) beschlossenen Fassung, die wiederum auf den Antrag des Landes Baden-Württemberg vom 06.07.2005 (BR-Drs. 767/04) zurückgeht. Neben Änderungen im Familien- und Erbrecht zur Ausschlussfrist eines Antrags auf Aufhebung der Ehe, zum Unterhaltsanspruch und zum gesetzlichen Ehegattenerbrecht steht im strafrechtlichen Teil, abgesehen von einer Folgeänderung in § 6 Nr. 4 StGB zur Anwendung des Weltrechtsprinzips, ein neuer § 234b StGB im Mittelpunkt. Diese Vorschrift hat folgenden Wortlaut: Zwangsheirat (1) Wer eine andere Person rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Eingehung der Ehe nötigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu 10 Jahren bestraft. Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine andere Person unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, zur Eingehung der Ehe bringt. (3) Ebenso wird bestraft, wer eine andere Person durch List, Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungs-
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bereichs dieses Gesetzes verbringt, oder veranlasst, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren, um sie unter Ausnutzung der Zwangslage oder Hilflosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in diesem Gebiet verbunden ist, zur Eingehung der Ehe zu bringen. (4) Der Versuch ist strafbar. (5) In minderschweren Fällen der Abs. 1 bis 3 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.
2. Amtliche Begründung einer strafrechtlichen Regelung Die neue Strafvorschrift wird mit erheblichen Defiziten in der Strafverfolgung begründet, da die bisherigen rechtlichen Instrumente nicht ausreichen, um die Zwangsheirat wirksam zu bekämpfen und den Opfern von Zwangsheirat angemessenen Schutz zu gewähren. Obwohl diese Verhaltensweisen häufig den Tatbestand der Nötigung, je nach den Umständen des Einzelfalls auch der Körperverletzung oder eines Sexualdelikts erfüllten, werde dadurch dem spezifischen Unrecht einer Zwangsehe nicht ausreichend Rechnung getragen8. Mit einer speziellen Strafnorm, welche die typischen Erscheinungsformen der Zwangsheirat erfasse, sei das eindeutige Signal verbunden, dass der Staat diese Form der Menschenrechtsverletzung mit dem schärfsten ihm zur Verfügung stehenden Mittel unterbinden will. Der Gesetzgeber soll die Verhaltensweisen der Zwangsehe unmissverständlich als strafwürdiges Unrecht kennzeichnen und der Fehlvorstellung entgegentreten, es handle sich um eine zumindest tolerable Tradition aus anderen Kulturen9. 3. Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit der Zwangsheirat a) In der gesetzgeberischen Praxis findet sich allzu häufig die lapidare Begründung, kriminalpolitsche Zwecke und Notwendigkeiten erforderten die Strafbarkeit einer bestimmten menschlichen Handlung, wie dies auch hier bei dem geplanten § 234b StGB zur Bekämpfung der Zwangsheirat der Fall ist. Dabei wird übersehen, dass allein mit dem Schlagwort der kriminalpolitischen Erfordernisse eine Strafbarkeit keineswegs ausreichend begründet werden kann. Eine menschliche Handlung muss darüber hinaus auch strafwürdig sein, wobei umgekehrt freilich nicht jede strafwürdige Handlung auch tatsächlich vom Gesetzgeber mit Strafe belegt werden muss, sondern nur dann, wenn er dies unter Abwägung aller übrigen Gesichtspunkte nach seinem freien gesetzgeberischen Ermessen für kriminalpolitisch unbedingt erforderlich hält10. 8
Vgl. Antrag Baden-Württemberg, BR-Drs. 767/04. So der Berliner Antrag vom 03.06.2005, BR-Drs. 436/05, S. 9. 10 Zum Verhältnis zwischen Strafwürdigkeit und Strafbarkeit insbesondere Sax, Grundsätze des Strafrechts in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III, 2 S. 930. 9
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Aufgabe des Strafrechts ist es demnach, innerhalb des missbilligten menschlichen Verhaltens die Tätigkeiten herauszustellen, welche in einem so starken Maße sozialschädlich und damit für die Gesellschaft gefährlich sind, dass sie mit Strafe bedroht werden müssen. Der Schutz der Gesellschaft ist somit die legitime Aufgabe des Strafrechts11. Diese Aufgabe erfüllt das Strafrecht, indem es sowohl repressiv, d. h. durch Ahndung von begangenen Verbrechen, als auch präventiv, d. h. durch Verhütung zukünftiger Verbrechen, wirkt, wobei je nach Lage des Falles die repressive oder die präventive Funktion im Vordergrund stehen kann12. Die Grundwerte der Sozialordnung, welche das Strafrecht schützen soll, beziehen sich einmal auf bestimmte Rechtsgüter, die den einzelnen Straftatbeständen zu Grunde liegen (Erfolgsunrecht), zum anderen aber auch bestimmte Qualitäten menschlicher Handlung13, die in dem die Rechtsordnung missachtenden Willen des Menschen zum Ausdruck kommen (Handlungsunrecht). b) Eine so als Aufgabe des Strafrechts verstandene Strafbedürftigkeit setzt jedoch eine Strafwürdigkeit menschlichen Handelns voraus14. Da die Strafe eine Missbilligung der Tat durch die Gesellschaft bedeutet und dem Täter dadurch ein Übel auferlegt wird, was er von Rechts wegen verdient, muss die menschliche Handlung einmal die Rechtsordnung verletzen, d. h. materielles Unrecht darstellen, zum anderen muss sie ein Schuldvorwurf treffen. Verschuldetes Unrecht ist indessen allein nicht ausreichend, um die Strafwürdigkeit einer Tat zu bejahen, da der Staat auch andere Reaktionsmittel besitzt, um Rechtsverletzungen auszugleichen. Die Strafe als das stärkste staatliche Zwangsmittel (Ultima-ratio-Prinzip) darf nur dann eingesetzt werden, wenn andere Mittel nicht ausreichend sind, um den Schutz der Gesellschaft zu erreichen. Ein solch gesteigertes Schutzbedürfnis ergibt sich einmal aus dem besonderen Wert des zu schützenden Rechtsguts (Erfolgsunwert), zum anderen aus der besonderen Gefährlichkeit des Angriffs auf gerade dieses Rechtsgut (Handlungsunwert), wobei die Gefährlichkeit auch als übergeordneter Gesichtspunkt betrachtet werden kann, da bei geringwertigen Rechtsgütern eine Verletzung nicht als besonders gefährlich einzustufen ist, d. h. die Gefährlichkeit proportional mit dem Wert des Rechtsguts zunimmt. Neben der besonderen Gefährlichkeit für sozial wichtige Rechtsgüter ist jedoch zusätzlich ein besonderer Grad der Verwerflichkeit der Tätergesinnung Voraussetzung der Strafwürdigkeit einer menschlichen Handlung15.
Vgl. Jescheck, Allgemeiner Teil4, S. 2 ff. Vgl. Letzgus, Vorstufen der Beteiligung, S. 113. 13 Vgl. Welzel, Kohlrausch-Festschrift, S. 107. 14 Vgl. im Einzelnen Gallas, Gründe und Grenzen der Strafbarkeit, S. 5 ff.; Jescheck, Allg. Teil (Fn. 11), S. 43 ff.; Sax (Fn. 10), S. 909 ff. 15 Worauf insbesondere Gallas (Fn. 14), S. 11 ff. und Jescheck, Allg. Teil (Fn. 11), S. 45 hinweisen. 11 12
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c) Wenn demnach die Strafwürdigkeit menschlichen Handels im Wesentlichen von den drei Variablen Wert des Rechtsguts, Gefährlichkeit des Angriffs und Verwerflichkeit der Tätergesinnung abhängt, muss zunächst das Rechtsgut festgestellt werden, das durch den neuen § 234b StGB-E geschützt werden soll. Dies ist in erster Linie die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung, wie sich schon aus der derzeitigen Gesetzeslage in § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StGB ergibt. Die Angriffe auf die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung sind freilich bei der Zwangsverheiratung intensiver, aber auch unterschiedlicher Natur, wie sich schon daran zeigt, dass die Nötigung zur Ehe schon im heutigen Abs. 4 des § 240 StGB als qualifizierter Fall ausgestaltet ist. Man geht wohl nicht fehl, wenn man bei der Zwangsehe als zusätzliches Rechtsgut die Menschenwürde nennt, gegen die in den genannten Fällen massiv verstoßen wird. Kein in § 234b StGB-E geschütztes Rechtsgut ist dagegen weder die sexuelle Selbstbestimmung, wie z. B. in § 232 StGB, dem Abs. 2 des § 234b StGB-E nachgebildet ist, noch die Schutzmöglichkeit der Person durch Gemeinschaft und Rechtsstaat, wie zumindest teilweise in § 234a StGB, der gesetzestechnisch in gewisser Weise dem Abs. 3 des § 234b StGB-E als Vorbild diente. Die besondere Gefährlichkeit des Angriffs und damit auch die hohe konkrete Gefährdung des Rechtsguts steht ebenso wie die Verwerflichkeit der Tätergesinnung bei der Zwangsverheiratung wohl außer Zweifel. Man wird sogar so weit gehen können, dass die hohe Gefährdung der Rechtsgüter Eheschließungsfreiheit und Menschenwürde sowie die verwerfliche Tätergesinnung einen über § 240 StGB hinausgehenden neuen Straftatbestand nicht nur rechtfertigen, sondern geradezu fordern. Dabei dürften kriminalpolitisch generalpräventive Gesichtspunkte eindeutig im Vordergrund stehen, um den potenziellen Tätern unmissverständlich deutlich zu machen, dass entsprechende Verhaltensweisen in unserem Staat als strafwürdiges Unrecht angesehen werden. Damit ist das eindeutige Signal verbunden, dass der Staat diese Form der Menschenrechtsverletzung mit dem schärfsten, ihm zur Verfügung stehenden Mittel bekämpfen und verhindern will16. III. Strafbarkeit der Zwangsehe Die grundsätzliche Bejahung der Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit der Zwangsheirat sagt noch nichts darüber, wie die notwendige Sanktion im Einzelnen ausgestaltet werden soll, damit vor allem die generalpräventive Wirkung für die zu schützende Eheschließungsfreiheit möglichst effektiv ist. 1. Grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers a) Der einfachste Weg wäre zweifellos der Hinweis auf die derzeitige Gesetzeslage der qualifizierten Nötigung in § 240 Abs. 4 StGB, zumal eventuell damit 16
Vgl. BR-Drs. 436/05, S. 9.
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verbundene Handlungen durch psychische oder sexuelle Gewalt sowie durch Einsperren, Entführung und Erpressung der Opfer zusätzlich in speziellen Straftatbeständen sanktioniert sind. Dem spezifischen Unrecht der Zwangsehe wird dadurch jedoch nicht ausreichend Genüge getan. Diesem Anliegen tragen die geplanten, nunmehr besonders unter Strafe gestellten Verhaltensweisen in Abs. 2 und Abs. 3 im Entwurf des § 234b StGB Rechnung. Die vorgeschlagene Regelung gliedert sich in drei Absätze, welche die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Zwangsheirat widerspiegeln und unter Strafe stellen. Der geplante Straftatbestand des § 234b StGB-E lehnt sich gesetzestechnisch an die Tatbestände der Nötigung in § 240 StGB, des Menschenhandels in § 232 StGB und der Verschleppung in § 234a StGB an. Für alle drei Tatbestandsalternativen wurde die Obergrenze der Strafdrohung gegenüber § 240 StGB von fünf auf zehn Jahre angehoben. Dennoch bleibt die Zwangsehe insgesamt ein Vergehen, während die Verschleppung nach § 234a StGB Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr vorsieht, d. h. als Verbrechen normiert ist. b) Es bestehen aber erhebliche Bedenken, ob wirklich alle Verhaltensweisen in den drei Tatbestandsalternativen der Abs. 1 bis 3 im Unwertgehalt gleichzustellen sind. Aufgrund der ganz unterschiedlichen Tathandlungen und einem Vergleich mit ähnlichen Strafnormen spricht vieles dafür, den Unwertgehalt der in den drei Absätzen des § 234b StGB-E geregelten Verhaltensweisen unterschiedlich zu bewerten und damit auch die Strafdrohung unterschiedlich auszugestalten. So könnte man z. B. daran denken, die Strafdrohung der Nötigung zur Eingehung einer Ehe in Abs. 1, die exakt der qualifizierten Nötigung in § 240 Abs. 4 StGB entspricht, unverändert zu belassen, d. h. Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, während man die Obergrenze der Strafdrohung beim Heiratshandel in Abs. 2 – entsprechend dem § 232 StGB – wie vorgesehen auf zehn Jahre anheben könnte. Die Heiratsverschleppung in Abs. 3 sollte dagegen – entsprechend dem Vorbild des § 234a StGB – nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe betragen, d. h. als Verbrechen ausgestaltet werden. c) Die Abs. 2 und 3 des § 234b StGB-E erfassen Begehungsweisen mit Auslandsbezug, die gerade für die Zwangsheirat typisch sind. Deshalb soll im Gesetzentwurf die Zwangsehe in den Fällen der Abs. 2 und 3 des § 234b StGB-E dem Weltrechtsprinzip unterstellt und § 6 Nr. 4 StGB entsprechend ergänzt werden. Dies hat zur Folge, dass das deutsche Strafrecht auch für im Ausland begangene Taten der Zwangsheirat gilt. Eine uferlose Ausdehnung der Ermittlungstätigkeit ist dabei nicht zu befürchten, weil die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung nach eigenem Ermessen nach § 153c StPO absehen kann17. Auch ein Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip ist damit nicht verbunden, da es auch bei diesen Auslandstaten eines legitimierenden inländischen Anknüpfungs17
Vgl. Schubert/Möbius, ZRP 2006, 36.
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punktes für die Strafverfolgung bedarf18. Merkwürdig ist freilich, dass der Verschleppungstatbestand des § 234a StGB, der ebenfalls einen deutlichen Auslandsbezug hat, nicht in § 6 StGB für Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter, sondern in § 5 Nr. 6 StGB für Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter geregelt ist. 2. Analyse und Auslegung des § 234b StGB-E Da § 234b Abs. 1 StGB-E wörtlich dem § 240 Abs. 4 StGB und § 234b Abs. 2 und 3 StGB-E gesetzestechnisch zumindest teilweise dem Straftatbestand des Menschenraubes in § 232 StGB bzw. dem Tatbestand der Verschleppung in § 234a StGB nachgebildet sind, kann die Auslegung zu diesen teilweise bereits längere Zeit in Kraft befindlichen Straftatbeständen, zumindest soweit wörtliche Übereinstimmung besteht, auch zur Auslegung des § 234b StGB-E im Einzelnen herangezogen werden. a) Nötigung zur Eingehung der Ehe In Abs. 1 des § 234b StGB-E wird die Nötigung zur Eheschließung mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel unter Strafe gestellt, wobei als Handlungsmodalität – insoweit §§ 240 ff. StGB folgend – die List nicht genannt ist. Die Freiheitsstrafe wird gegenüber der qualifizierten Nötigung in § 240 Abs. 4 StGB dagegen auf zehn Jahre erhöht. Dies erscheint mehr oder weniger willkürlich, da nicht nachvollziehbar ist, warum der Unrechtsgehalt einer Nötigung zu einer sexuellen Handlung oder zum Schwangerschaftsabbruch niedriger sein soll, als zur Eingehung der Ehe. Ganz allgemein muss deshalb bezweifelt werden, ob die Aufzählung der Fälle einer qualifizierten Nötigung in § 240 Abs. 4 StGB insgesamt nicht doch Zufallscharakter hat, da unter den zahlreichen theoretisch möglichen Nötigungsfällen ohne weiteres auch andere, besonders schwere Fälle denkbar sind. Es wäre deshalb vorstellbar, den § 240 Abs. 4 StGB unverändert zu belassen und lediglich die Sachverhalte in Abs. 2 und 3 des § 234b StGB-E neu zu regeln19. Eine solche Lösung wäre gesetzessystematisch zweifellos besser, andererseits würde dadurch der einheitliche Charakter aller Verhaltensweisen der Zwangsheirat zerstört, was sich wiederum negativ auf die gewünschte generalpräventive Zielrichtung dieser neuen Norm auswirken könnte. Eine weitere Problematik besteht in der Frage, ob die dem § 240 Abs. 2 StGB nachgebildete Verwerflichkeitsklausel in Abs. 1 Satz 2 des § 234b StGB-E tatsächlich notwendig ist. Der Berliner Entwurf20 lehnt dies mit der Begründung 18 19 20
BR-Drs. 546/05, S. 11. So Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 60. BR-Drs. 436/05 vom 03.06.2005, S. 5.
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ab, dass es nicht vorstellbar sei, das Herbeiführen einer Ehe mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel als nicht verwerflich zu beurteilen. Hiergegen wird im Entwurf von Baden-Württemberg21, der auch der jetzigen Bundesratinitiative zu Grunde liegt, vorgebracht, dass insbesondere bei der Drohungsalternative durchaus Fallgestaltungen denkbar sind, in denen die Androhung eines empfindlichen Übels zu dem angestrebten Zweck nicht als verwerflich anzusehen ist, z. B. bei der Ankündigung eines Partners einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, den anderen zu verlassen, wenn er nicht zur Eingehung der Ehe bereit ist. In diesem Beispiel ist freilich die Frage zu stellen, ob es hier für die Frau wirklich ein empfindliches Übel darstellt, wenn der Mann sie nicht heiratet, das Gegenteil dürfte vielmehr der Fall sein. Wenn man jedoch an der Zweck-Mittel-Relation festhalten will, wären zumindest theoretisch auch in Abs. 3 des § 234b StGB-E Fälle denkbar, die darunter fallen, zumal auch dort als Handlungsweise alternativ die Drohung mit einem empfindlichen Übel erwähnt ist. Alles in allem wäre es deshalb vorzuziehen, dem Berliner Entwurf zu folgen und auf die Zweck-Mittel-Relation ganz zu verzichten, damit nicht zuletzt auch dadurch die Eigenständigkeit des neuen Tatbestandes und dessen Abkehr von dem bestehenden § 240 StGB deutlich wird. § 234b StGB-E ist ein Erfolgsdelikt, d. h. sofern es nicht zur Eheschließung kommt, liegt lediglich Versuch vor, der nach Abs. 4 freilich ebenfalls strafbar sein soll. b) Strafbarkeit des Heiratshandels § 234b Abs. 2 StGB-E regelt in Anlehnung an den Tatbestand des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung in § 232 Abs. 1 StGB eine besondere Form der Zwangsheirat, die auch als Heiratshandel bezeichnet wird. Um die Strafbarkeit nicht zu weit auszudehnen, reicht die bloße Kenntnis der Zwangslage oder der speziellen Hilflosigkeit nicht aus, vielmehr ist deren Ausnutzung erforderlich22. Entsprechend der durch das 37. StrÄndG neu formulierten Tatbestände des Menschenhandels nach §§ 232 Abs. 1, 233 Abs. 1 StGB ist auch der geplante Tatbestand des Heiratshandels – ebenso wie Abs. 1 des § 239b StGB-E – als Erfolgsdelikt ausgestaltet, d. h. die Eheschließung muss tatsächlich erfolgt sein, sonst ist lediglich eine Strafbarkeit wegen Versuchs nach Abs. 4 möglich. Während Abs. 1 des § 234b StGB-E als Tathandlung – § 240 StGB folgend – die Nötigung zur Eingehung der Ehe als objektives Tatbestandsmerkmal normiert, enthalten die Abs. 2 und 3 des § 234b StGB-E das neue Tatbestandsmerk21 22
BR-Drs. 546/05, S. 12. Vgl. BR-Drs. 446/05, S. 12.
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mal „zur Eingehung der Ehe bringt“, das in Abs. 2 als objektives Merkmal und in Abs. 3 als Merkmal des subjektiven Tatbestandes ausgestaltet ist. Diese sehr weite Formulierung, die über das „Bestimmen“ bei der Anstiftung weit hinaus geht, könnte Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit i. S. v. Art. 103 Abs. 2 GG aufwerfen23. Zu § 232 StGB wird die Ansicht vertreten, dass die Tathandlung des „dazu Bringens“ nicht nur das „Bestimmen“, sondern auch das sonstige Veranlassen des Opfers erfasst24. Richtigerweise soll für die Formulierung „zur Eingehung der Ehe bringen“ nicht die bloße Kausalität genügen, vielmehr ist eine intensive und tagtägliche Einflussnahme auf das Opfer durch Drängen, Überreden, Einsatz von Autorität zur Einschüchterung etc. zu verlangen25. Jede andere Auslegung würde auch in einem gewissen Widerspruch zu der in § 234b Abs. 2 StGB-E tatbestandlich verlangten Ausnutzung einer Schwächesituation stehen. Fraglich ist, ob die Schwächesituation, d. h. die Zwangslage oder die auslandsspezifische Hilflosigkeit tatsächlich bestehen muss oder ob es ausreichend ist, dass das Opfer sich subjektiv als solches empfindet. Letzteres dürfte wohl ausreichend sein26. Unerheblich ist es auch, ob das Opfer die Zwangslage selbst verschuldet hat27. Der Tatbestand ist dagegen nicht erfüllt, wenn sich die betroffene Person unabhängig vom Verhalten des Täters dazu entschließt, mit ihm die Ehe einzugehen. Auch das Einverständnis des Opfers mit der Heirat schließt den Tatbestand aus. An dem erforderlichen Gefahrenzusammenhang zwischen Schwächesituation einerseits und Eheschließung andererseits fehlt es aber auch dann, wenn die Schwächesituation zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht mehr vorliegt28. In all diesen Fällen kann freilich ein untauglicher Versuch vorliegen, sofern dem Täter die für die Straflosigkeit notwendigen Merkmale nicht bekannt sind, also er z. B. das Einverständnis der Frau mit der Heirat nicht kennt oder fälschlicherweise von einem Gefahrenzusammenhang zwischen Schwächesituation und Eheschließung ausgeht. c) Strafbarkeit der Heiratsverschleppung Während § 232 StGB, der auf die früheren Tatbestände der §§ 180b und 181 StGB zurückgeht, erst mit dem 37. StrÄndG im Jahre 2005 in der vorliegen23
Ähnlich Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 60. NK3-Böse, § 232 Rn. 13; Schönke/Schröder27 /Eisele, § 232 Rn. 18. 25 So NK-Böse, § 232 Rn. 16. 26 NK3-Böse, § 232 Rn. 11; Schönke/Schröder27 /Eisele, § 232 Rn. 10. 27 Fischer, StGB57, § 232 Rn. 9; NK3-Böse, § 232 Rn. 11. 28 Vgl. Fischer, StGB57, § 232 Rn. 11; NK3-Böse, § 232 Rn. 15; Schönke/Schröder27 /Eisele, § 232 Rn. 12. 24
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den Form in das StGB eingefügt wurde, handelt es sich bei dem Verschleppungstatbestand des § 234a StGB um eine bereits 1951 gewissermaßen als Kind des Kalten Krieges in das StGB eingeführte Vorschrift, die allerdings laut Kriminalstatistik bisher nur selten zur Anwendung kam. Dennoch war sie Vorbild für den geplanten Abs. 3 des § 234b StGB-E und auch Grund für die systematische Stellung im Strafgesetzbuch unmittelbar im Anschluss an § 234a StGB. § 234b Abs. 3 StGB-E stellt in Anlehnung an den Tatbestand der Verschleppung solche Fälle unter Strafe, in denen das Opfer dem tatsächlichen und rechtlichen Schutz, der mit seinem Aufenthalt im Inland verbunden ist, entzogen wird, mit dem Ziel, das Opfer unter Ausnutzung der Zwangslage oder Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in diesem Gebiet verbunden ist, zur Ehe zu bringen, d. h. die Eheschließung herbeizuführen. Um den Tatbestand auf wirklich strafwürdige Fälle zu begrenzen, muss das Handeln des Täters einen tatsächlichen, im Regelfall schutzmindernden Aufenthalt im Ausland bewirkt haben29. Der tatbestandliche Erfolg dieser Fallkonstellation in Abs. 3, die auch als Heiratsverschleppung bezeichnet wird, kann deshalb ein dreifacher sein. Einmal das Verbringen in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB, zum anderen die Veranlassung des Opfers, sich dorthin zu begeben, oder schließlich, das Opfer davon abzuhalten, von dort zurückzukehren. Während der Auslandsbezug in Abs. 2 des § 239 StGB-E mit „Aufenthalt in einem fremden Land“ definiert wird, spricht Abs. 3 von einem „Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes“. Es erscheint fraglich, ob diese Differenzierung sinnvoll und gewollt ist, da § 234a StGB als Kind des Kalten Krieges in das StGB eingefügt wurde und verhindern sollte, dass jemand, der aus politischen Gründen verfolgt wird, in einem fremden Land rechtsstaatswidrig behandelt wird. Diese damalige Intention passt jedoch auf den geplanten § 234b Abs. 3 StGB-E mit Sicherheit nicht. Auch soweit in dem Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes rechtstaatliche Grundsätze Anwendung finden, sollte zumindest nach dem Willen des Gesetzgebers die Heiratsverschleppung – im Gegensatz zur politischen Verschleppung nach § 234a StGB – strafrechtlich verfolgt werden. Es wäre deshalb gesetzestechnisch klarer und sachlich richtiger, auch im Abs. 3 des § 234b StGB-E dem Abs. 2 folgend die Formulierung „in ein fremdes Land verbringt“ zu verwenden. Anders als in den Abs. 1 und 2 des § 239 StGB-E wird in Abs. 3 für die Strafbarkeit die Eheschließung als solche nicht als tatbestandlicher Erfolg vorausgesetzt. Es reicht ein Handeln, wenn dieses einen schutzmindernden Aufenthalt im Ausland bewirkt hat. Wegen dieser überschießenden Innentendenz hinsichtlich der dreifach möglichen Erfolge liegt hier ein Absichtsdelikt vor. Dogmatisch 29
BR-Drs. 436/05, S. 12.
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dürfte es sich dabei nicht um ein erfolgskupiertes Delikt, sondern um ein so genanntes unvollkommen zweiaktiges Delikt handeln, da der Täter den über den objektiven Tatbestand hinausgehenden Erfolg, d. h. die Eheschließung, nach Erfüllung des Tatbestandes durch eigenes Handeln herbeiführen will30. Da die Ausnutzung der Schwächesituation zur Eingehung der Ehe als Absichtsdelikt in den subjektiven Tatbestand verlagert ist, ist zur Tatbestandserfüllung weder Kausalität, noch ein Zurechnungszusammenhang zwischen einem der drei Tathandlungen und der Eheschließung notwendig. 3. Besondere Erscheinungsformen des Straftatbestandes Nicht nur die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des geplanten § 234b StGB-E, sondern auch die Anwendung der besonderen Erscheinungsformen des Allgemeinen Teils auf den Tatbestand der Zwangsheirat werden mit Sicherheit zu vielfältigen Auslegungsproblemen führen, da praktisch das gesamte dogmatische Instrumentarium nahezu ohne Einschränkung zur Verfügung steht. Dies betrifft sowohl Fragen des Versuchs und der Beteiligung als auch die Frage, ob § 234b StGB-E auch durch Unterlassung begangen werden kann, von den gerade bei der Zwangsheirat besonders schwierigen Vorsatz- und Irrtumsproblemen einmal ganz abgesehen. Auf Einzelheiten kann hier schon aus Platzgründen nicht eingegangen werden. a) Nur ein kurzer Hinweis soll zur Frage der Feststellung des Täters erfolgen, was zunächst einfach zu sein scheint. Aufgrund der exakten Tatbestandsbeschreibung wird zwar das Opfer des § 234b StGB-E relativ schnell zu ermitteln sein, aber schon die Frage, wer im konkreten Fall Täter, Mittäter, Anstifter oder Gehilfe ist, kann im Einzelfall auf Schwierigkeiten stoßen. So scheidet das Opfer als notwendig Beteiligter sowohl als Anstifter wie auch als Gehilfe aus. Im Übrigen ist für alle drei Absätze des § 234b StGB-E sowohl mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft als auch Anstiftung und Beihilfe denkbar. Gerade weil die Zwangsheirat häufig auf einer Vereinbarung der beteiligten Familien beruht, sind nahezu alle Teilnahmeformen denkbar, wobei der Ehepartner des Opfers in der Regel keineswegs der im Mittelpunkt stehende Täter sein wird, vielmehr häufig lediglich als Gehilfe bestraft werden kann oder evtl. ganz straflos bleibt, wenn auch er zur Eingehung der Ehe von einer der Familien mehr oder weniger genötigt wurde. Man wird hier den Sachverhalt jeweils sehr genau analysieren müssen, um feststellen zu können, bei wem die eigentliche Tatherrschaft liegt. b) Da in Abs. 4 des § 234b StGB-E auch der Versuch unter Strafe gestellt werden soll, dürfte neben der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs, auf den bereits oben kurz hingewiesen wurde, vor allem die Abgrenzung zwischen straf30
Vgl. Jescheck, Allg. Teil (Fn. 11), S. 286.
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loser Vorbereitungshandlung und Versuch im Einzelfall schwierig zu entscheiden sein, was insbesondere für die Abs. 2 und 3 gilt, während bei Abs. 1 des § 234b StGB-E zumindest teilweise auf die Rechtsprechung zu § 240 StGB zurückgegriffen werden kann. Man wird wohl bei Abs. 2 für einen Beginn der Ausführungshandlung im Sinne des strafbaren Versuchs zumindest verlangen müssen, dass der Täter mit dem Ziel einer Eheschließung Handlungen begonnen hat, die eine Ausnutzung einer Zwangslage oder Hilflosigkeit darstellen, da erst dann eine konkrete Gefährdung des Opfers vorliegt. Bei dem Absichtsdelikt des Abs. 3 in § 234b StGB-E ist die Abgrenzung zur straflosen Vorbereitungshandlung insofern einfacher, als bei diesem unvollkommen zweiaktigen Delikt drei exakt fassbare alternative Tathandlungen genannt sind, deren Ausführungsbeginn im Hinblick auf eine konkrete Gefährdung des Rechtsguts im konkreten Fall relativ leicht feststellbar sein wird. c) Bei der Frage, ob § 234b StGB-E auch durch Unterlassen begangen werden kann, steht – wie bei allen unechten Unterlassungsdelikten – die Frage der Garantenstellung im Mittelpunkt. Diese wird bei § 234b StGB-E jedoch im konkreten Fall unschwer zu beantworten sein, da die Garantenstellung – sofern man der überlieferten Einteilung folgend auf den Entstehungsgrund der Rechtspflichten abhebt – infolge der in der Regel verwandtschaftlichen Beziehungen entweder auf Gesetz oder auf enger Lebensbeziehung beruht. Stellt man dagegen mit der modernen so genannten Funktionslehre auf die Obhutspflichten ab, wird man die Garantenstellung regelmäßig mit der Schutzfunktion für das in § 234b StGB-E geschützte Rechtsgut begründen können.
IV. Ergänzungen im Strafprozessrecht Der mit § 234b StGB-E beabsichtigte Opferschutz durch die Strafbarkeit der Zwangsheirat bedarf einer Ergänzung durch Regelungen im Strafverfahren, die gewährleisten, dass die Opfer – in der Regel minderjährige Frauen mit Migrationshintergrund – ihre Rechte auch effektiv wahrnehmen können. Entgegen eines früheren Beschlusses des Bundesrates vom 25.04.2008 (BR-Drs. 16/9448) sieht der jetzige Beschluss des Bundesrates vom 12.02.2010 (BR-Drs. 36/10) jedoch keine Änderungen im Prozessrecht vor. 1. Zulässigkeit der Nebenklage Da der geplante § 234b StGB-E in § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO über die bisherige Aufzählung der §§ 234 bis 238 StGB jedoch bereits erfasst wird, ist gesetzestechnisch keine zusätzliche Vorschrift über die Zulässigkeit der Nebenklage notwendig, wie dies damals vom Bundesrat durch Einfügung einer Ziffer 1 f geplant war31. Damit haben die Opfer einer Zwangsheirat zukünftig die Befugnis, sich
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als Nebenkläger am Strafverfahren zu beteiligen. Dies ist zu begrüßen, da diese Opfer regelmäßig besonders schwerwiegend und nachhaltig in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind. Hinzu kommt, dass den Zeugenaussagen der Opfer einer Zwangsheirat im Strafverfahren besondere Bedeutung zukommt, da sie sich regelmäßig Fragen aus ihrem persönlichen Lebensbereich stellen müssen. 2. Bestellung eines Opferanwalts Ergänzt werden sollte aber in jedem Fall § 397a StPO, um den Opfern einer Zwangsheirat die Möglichkeit zu geben, die Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand zu beantragen und zwar auch dann, wenn die Voraussetzungen der Gewährung von Prozesskostenhilfe nach § 397a Abs. 2 StPO nicht vorliegen. § 397a StPO schützt allgemein Verletzte, die Opfer von erheblichen Angriffen auf Persönlichkeitsrechte, insbesondere in ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich, geworden sind. Ferner kommt der Zeugenaussage solcher Opfer in Anbetracht der gerade bei Sexual- und Beziehungstaten häufig anzutreffenden „Aussage-gegen-Aussage-Situation“ besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund sind sie sich nicht selten einer besonders kritischen Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit ausgesetzt32. Da diese Opfer – in der Regel Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren – ihre „Interessen ersichtlich nicht selbst wahrnehmen können“, wie dies in § 397a Abs. 1 Satz 2 StPO als Voraussetzung für die Bestellung eines Opferanwalts formuliert ist, muss ihnen die Befugnis eingeräumt werden, einen Antrag auf Bestellung eines solchen Opferanwalts zu stellen, obwohl im vorliegenden Fall kein Verbrechen, sondern nur ein Vergehen vorliegt.
31 32
Vgl. BR-Drs. 16/9448, S. 5. So zu Recht BR-Drs. 16/9448, S. 6.
Dolus eventualis und Schaden bei der Untreue, § 266 StGB Von Harro Otto I. Dolus eventualis und Schaden bei den Vermögensdelikten Ingeborg Puppe, der diese Zeilen in Verehrung gewidmet sind, hat ihre strafrechtsdogmatischen Überlegungen intensiv der Bewährungsprobe an Entscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung unterzogen, die eigenen Feststellungen dabei präzisiert sowie argumentative Mängel und Widersprüche der Praxis und der Literatur aufgezeigt. – Einen besonderen Schwerpunkt dieser Auseinandersetzung bildete die Vorsatzproblematik, deren Eigenheiten sie sowohl von den Grundsätzen des Allgemeinen Teils her ausleuchtete, als auch im Besonderen Teil aufdeckte, und zwar nicht nur im Bereich der Tötungsdelikte, sondern auch in dem der Vermögensdelikte. Unter Rückgriff auf allgemeine Zurechnungsregeln lehnt sie im Gegensatz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Unterscheidung zwischen Vorsatzgefahr und Fahrlässigkeitsgefahr mit Hilfe eines Kriteriums der emotionellen Einstellung zum Erfolg ab und greift zurück auf den jeweiligen Grad der Gefahr. Im Hinblick auf die Vermögensdelikte wies sie darüber hinaus darauf hin, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung hier die so genannte Wahrscheinlichkeitstheorie anwendet, die sie bei der Bestimmung des dolus eventualis ausdrücklich ablehnt: „Im Bereich des Vermögensstrafrechts geschieht dies allerdings nicht mittels der Lehre vom Vorsatz, sondern mittels der Lehre vom Vermögensschaden, nämlich durch den Begriff der schadensgleichen Vermögensgefährdung. Eine Vermögensgefährdung wird dann als schadensgleich angesehen, wenn sie einen hohen Grad erreicht und sich ohne weiteres Zutun des Täters oder des Opfers realisiert (. . .). Durch diese Veränderung der Erfolgsbestimmung wird auch der Inhalt des Tätervorsatzes verändert. Stellt sich der Täter eine hohe Wahrscheinlichkeit vor, handelt er also im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie vorsätzlich im Bezug auf den effektiven Schaden, so liegt nach der Lehre von der schadensgleichen Vermögensgefahr bereits dolus direktus zweiten Grades vor.“1 – Damit hatte Ingeborg Puppe die Konsequenzen aufgedeckt, die sich für den Vorsatz aus der Identifizierung von „schadensgleicher Vermögensgefährdung“ und Vermögensnachteil zwingend ergeben, vor denen aber höchstrichterliche Rechtsprechung und h. M. jahrzehntelang die Augen verschlossen haben. Dabei hatte es 1
Puppe, in: Nomoskommentar zum StGB1 (NK1), 1995, § 15 Rdn. 81.
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durchaus Anzeichen dafür gegeben, dass der Vorsatz der Untreue Anknüpfungspunkt für eine grundsätzliche Neubestimmung des dolus eventualis sein könnte, weil das Erfordernis des billigenden In-Kauf-Nehmens des Erfolges hier nicht in die Vorsatzproblematik hineinpasste. II. Der Ausgangspunkt: BGH 1 StR 685/78 = NJW 1979, 512 ff. 1. Der Leitsatz der Entscheidung Einen Wendepunkt in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum dolus eventualis bei der Untreue, § 266 StGB, schien die Entscheidung BGH 1 StR 685/78 = NJW 1979, 512 einzuleiten. Der Leitsatz dieser Entscheidung lautete: „Erkennt der Leiter einer Bank die jeweilige gegenwärtige Benachteiligung der Bank als mögliche Folge seines Handelns und nimmt er sie dennoch hin in der Hoffnung, dass die ganze Angelegenheit später einmal doch noch gut ausgehen werde, so handelt er vorsätzlich“.2 2. Die Kenntnis der Gefährdung des Vermögens Mit der Forderung, dass der Täter die jeweilige gegenwärtige Benachteiligung der Bank als mögliche Folge seines Handelns erkannt haben muss, knüpfte der BGH an das Erfordernis der Kenntnis der Möglichkeit bzw. des Risikos des Schadenseintritts als Folge des eigenen Handelns an. Dieses Erfordernis bedarf jedoch einer weiteren Konkretisierung, soll der dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit abgegrenzt werden, denn die Kenntnis des möglichen Schadenseintritts, d. h. die Kenntnis der Gefährdung des Vermögens, ist zugleich Voraussetzung der bewussten Fahrlässigkeit. 3. Die Billigung des Erfolges Nicht erwähnt wird in der Entscheidung das Erfordernis der „Billigung des Erfolges“ als Element emotionaler Einstellung, mit dem die höchstrichterliche Rechtsprechung üblicherweise den bedingten Vorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit abgrenzte. – Das Fehlen dieses Elementes konnte jedoch kaum als Mangel angesehen werden, sondern vielmehr als ein Gewinn an Rechtssicherheit.3 Gerade im Vergleich einzelner Entscheidungen des BGH hatte sich nämlich erwiesen, dass dieses Element teils inhaltsleer, teils widersprüchlich verwendet wurde. Zwei Entscheidungen waren hier besonders instruktiv: BGHSt 7, 363: K und J wollten den M in dessen Wohnung berauben und zu diesem Zweck widerstandsunfähig machen. Einen früheren Plan, M mit einem Riemen zu 2 3
Vgl. auch BGH wistra 1985, 190, 191. So Otto, NJW 1979, 2415.
Dolus eventualis und Schaden bei der Untreue, § 266 StGB
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drosseln, gaben sie wieder auf, weil sie erkannten, dass M dabei nicht nur bewusstlos werden, sondern den Tod erleiden könnte. Als ihr Versuch, den M mit einem Sandsack zu betäuben, misslungen war und M Widerstand leistete, griffen sie doch wieder zu dem Lederriemen und drosselten den M „mit aller Gewalt . . . so lange“, bis er die Arme fallen ließ und ins Bett sank. Als sie dann M fesselten, richtete sich dieser wieder auf. J warf sich darauf hin auf den Rücken des M und drückte ihn nach unten. K drosselte dann erneut „so lange bis M sich nicht mehr rührte und keinen Laut mehr von sich gab“. Als J dies merkte, rief er K zu: „Hör auf!“ K ließ daraufhin vom Drosseln ab. Nachdem sie dann die gewünschten Sachen an sich genommen hatten, bekamen sie Bedenken, ob M noch lebe. Ihre Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Der BGH bejahte bedingten Vorsatz des K und J in Bezug auf die Tötung des M. Er führte aus: „Die Billigung des Erfolges, die nach der Rechtsprechung des RG und des BGH das entscheidende Unterscheidungsmerkmal des bedingten Vorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit bildet, bedeutet aber nicht etwa, dass der Erfolg den Wünschen des Täters entsprechen muss. Bedingter Vorsatz kann auch dann gegeben sein, wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges unerwünscht ist. Im Rechtssinne billigt er diesen Erfolg trotzdem, wenn er um des angestrebten Zieles willen notfalls, das heißt wofern er anders sein Ziel nicht erreichen kann, sich auch damit abfindet, dass seine Handlung den an sich unerwünschten Erfolg herbeiführt, und ihn damit für den Fall seines Eintritts will.“4 Dem gegenüber BGH 2 StR 432/57, bei Schmidhäuser, GA 1958, 163 ff.: Der Angekl. brach nachts – unter anderem mit einem Brotmesser als Waffe – in einen Gutshof ein, um sich dort Geld zu verschaffen. In dem Gebäude wurde er dann von dem Gutsherrn und dessen Neffen gestellt. Beide griffen den Eindringling an. Der Gutsherr umfasste seine Brust unter den Armen, und sein Neffe versuchte, den Angekl. zu würgen. Um sich zu befreien, zog dieser das Messer „und stach blindlings im Dunkeln um sich“. Dabei verletzte er seine beiden Gegner, und zwar den Gutsherrn durch einen Stich in den Bauch lebensgefährlich. Der BGH bestätigte die Ablehnung des bedingten Vorsatzes durch das SchwurGer., weil der Angekl. eine Tötung nicht gebilligt habe: „Wohl habe er eine zum Tode führende Verletzung bei seinem Vorgehen in Kauf genommen, . . ., das reiche jedoch zur Annahme des Tötungsvorsatzes nicht aus . . . Das SchwurGer. hat die Grenze zwischen bewußter Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz zutreffend gezogen. Denn es geht richtig davon aus, daß bedingter Vorsatz eine innere Billigung des Erfolges durch den Täter erfordert und ein bloßes ,In-Kauf-Nehmen‘ des Erfolges nicht genügt.“
Ingeborg Puppe hat die Entscheidung BGHSt 7, 363 zum Ausgangspunkt ihrer Kritik genommen5 und dargelegt, dass die Formel vom billigenden In-Kauf-Neh-
4
BGHSt 7, 363, 369. Vgl. Puppe, ZStW 103 (1991), 6 ff.; dies., in: Nomoskommentar zum StGB3 (NK3) 2010, § 15 Rdn. 32. – Zur Auseinandersetzung mit weiteren höchstrichterlichen Entscheidungen im Einzelnen: Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 1, 2002, § 16 Rdn. 11 ff. 5
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men im Rechtssinne inhaltsleer bleibe. Fest stehe lediglich, dass diese Formel nicht bedeute, dass der Täter den Erfolg gewünscht hat, dass er zu ihm gleichgültig eingestellt gewesen sei oder dass ihm der Vorwurf der Gleichgültigkeit in einem normativen Sinne gemacht werden könne, weil er sich durch die Erkenntnis einer großen Gefahr der Erfolgsverursachung nicht von seinem Handeln habe abbringen lassen. Die Formel werde daher weder in ihrem deskriptiv-psychologischen, noch in ihrem normativen Sinne von der Rechtssprechung gebraucht. „Sie hat also, so wie sie vom BGH verwandt wird, gar keinen Sinn.“6 Die nachdrückliche Ermahnung der Tatrichter durch den BGH, die Formel nicht formelhaft zu verwenden, erscheint ihr vor diesem Hintergrund lediglich als ein Mittel, zu kaschieren, dass sich der BGH mit dieser Formel die Möglichkeit eröffnet hat, jedes tatrichterliche Urteil, das den dolus eventualis feststellt, mit der Begründung aufzuheben, die Formel vom billigenden In-Kauf-Nehmen sei darin formelhaft angewandt, da es nicht möglich sei, eine Formel, die keinen Sinn habe, anders zu verwenden als formelhaft.7 Mit Recht kommt Ingeborg Puppe zu dem Schluss, dass die Verwendung dieser inhaltsleeren Formel in der Praxis zu einer fast unbegrenzten Manipulierbarkeit der Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit führe und damit zu völliger Rechtsunsicherheit in diesem Bereich.8 Die Aufgabe des Billigungselements in der Bestimmung des dolus eventualis in der Entscheidung BGH NJW 1979, 1512 begründete daher die Hoffnung auf eine Neubestimmung des dolus eventualis der Untreue und darüber hinaus auf einen erheblichen Gewinn an Rechtssicherheit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. – Dass diese Hoffnung trog, erwies die Rechtsprechung der folgenden Jahre.9 4. Der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts Die Feststellung des BGH, dass die Hoffnung des Täters, die mögliche Schädigung werde nicht eintreten, weil die „ganze Angelegenheit später einmal doch noch gut ausgehen werde“, der Annahme des Vorsatzes nicht entgegenstehe, verweist darauf, dass der BGH durchaus zutreffend davon ausgeht, dass der Vorsatz mehr Gefahrenkenntnis erfordert als die bloße Kenntnis der Möglichkeit des Erfolgseintritts. Er knüpft damit offenbar an seine Unterscheidung zwischen Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit dahin an, dass der Fahrlässigkeitstäter ernsthaft
6 Puppe, in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn. 33 unter Hinweis auf Schmidhäuser, JuS 1980, 246 und Brammsen, JZ 1989, 77; vgl. auch Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 15 Rdn. 25; Otto, Grundkurs Strafrecht, A.T.7, 2004, § 7 Rdn. 39. 7 Puppe, in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn 34; dies., ZStW 103 (1991), 7; dies., NStZ 1987, 363. 8 Puppe, in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn. 36. 9 Dazu Feigen, in: FS Rudolphi, 2004, S. 461, Fn. 130; Hillenkamp, NStZ 1981, 162.
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und nicht nur vage auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut,10 während der Vorsatztäter allenfalls vage darauf hofft. Die Gegenüberstellung von ernsthaftem und nur vagem Vertrauen kennzeichnet jedoch keinen bestimmten Grad der Gefahr, an dem Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit zu unterscheiden wären, und ist daher durchaus manipulierbar.11 – Zwar ließe sich der Gegensatz dahin konkretisieren, dass es hier nicht um eine bloß emotionelle Einstellung geht, sondern um eine subjektive Beurteilung der Situation, in der rational begründetes auf konkreten Tatsachengegebenheiten beruhendes Vertrauen auf das Ausbleiben des Schadens einem rational nicht mehr untermauerten, auf Wünschen und lediglich irrationalen Hoffnungen gegründetem Vertrauen gegenübergestellt würde. Danach müsste das Bewusstsein des Vorsatztäters die konkrete unmittelbare Gefahr der Rechtsgutsbeeinträchtigung umfassen, das heisst die Gefährdung des Angriffobjekts in der Art, dass er sich bewusst ist, dass ein Ausbleiben des Erfolgs nur noch von zufälligen Gegebenheiten abhängen kann, auf deren Vorliegen kein Hinweis erkennbar ist und die dem Täter auch nicht beherrschbar sind. – Diese Deutung der „Hoffnung, dass die ganze Angelegenheit später doch noch einmal gut ausgehen werde“, ist möglich,12 aber keineswegs zwingend, da es sich auch um eine lediglich durch die subjektive Tätereinschätzung bedingte Feststellung handeln kann. 5. Der Begriff des Vermögensschadens Kein Hinweis findet sich in der Entscheidung, ob eine Situation, in der der Täter sich bewusst ist, dass die Rückzahlung des von ihm herausgegebenen Kredits in so hohem Maße gefährdet ist, dass lediglich noch auf die Hoffnung gesetzt werden kann, die ganze Angelegenheit werde doch noch gut ausgehen, nicht das Urteil begründet, die Rückforderung ist im Zeitpunkt der Kreditherausgabe bereits wertlos, so dass nicht nur eine konkrete Gefahr vorläge, dass die Forderung wertlos werde, sondern dass diese bereits wertlos sei. Dann hätte der Täter – unabhängig von der Problematik, ob die Kenntnis der schadensgleichen Gefährdung bereits den dolus directus 2. Grades begründet, weil diese Gefährdung mit dem vom Tatbestand geforderten Nachteil gleichgesetzt wird – nicht nur mit dolus eventualis gehandelt, sondern mit dolus direktus zweiten Grades, so dass das Element der Billigung des Erfolges in der Tat überflüssig gewesen wäre. – Eine solche Interpretation der Entscheidung ist möglich, liegt aber – aufgrund des Wortlauts der Entscheidung – wenig nahe.
10 Vgl. BGHSt 36, 1,10 mit w. N. – Dazu auch Puppe, in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn. 35; dies., A.T. (Fn. 5), § 16 Rdn. 9. 11 Dazu Puppe, in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn. 36; dies., ZStW 103 (1991), 59; vgl. auch Geppert, Jura 2001, 59; Herzberg, in: FG BGH, Bd. IV, 2000, S. 75 f. 12 Dazu Otto, NJW 1979, 2415.
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III. Klarstellungen: BGH 1 StR 280/99 = BGHSt 46, 30 1. Billigung als Element des dolus eventualis der Untreue Dass der erste Strafsenat des BGH das Billigungselement nicht aus der Definition des dolus eventualis der Untreue, § 266 StGB, ausschließen wollte, stellt er in BGHSt 46, 30, 34 klar, indem er ausdrücklich die Entscheidung NJW 1979, 1512 anführt und sodann darlegt, dass der Entscheidungsträger eine über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehende Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank erkannt und gebilligt haben müsse. 2. Billigung und Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts Eingehend nimmt der Senat zum Verhältnis des Grades der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts und der Billigung des Erfolgs durch den Täter Stellung. Er führt aus, dass zwischen den begrifflichen Voraussetzungen des dolus eventualis und den Anforderungen, die an seinen Beweis zu stellen sind, zu unterscheiden sei. Dabei soll nach den in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen die Annahme einer Billigung des Erfolges beweisrechtlich nahe liegen, wenn der Täter ein Verhalten trotz äußerster Gefährlichkeit durchführt; in solchen Fällen soll er sich nicht auf die vage Hoffnung berufen können, jene Gefahr werde sich wider erwarten doch nicht verwirklichen.13 Diese Ausführungen scheinen die Überlegungen in NJW 1979, 1512 geradezu zu bestätigen, indem sie einem selbstständigen emotionalen Element der Billigung die Bedeutung absprechen, denn auch wenn hier nur von den Anforderungen, die an den Beweis des dolus eventualis zu stellen sind, ausgegangen wird, so wird deutlich, dass jedenfalls unter diesem Aspekt dem Billigungselement kaum Relevanz zugesprochen, sondern auf den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolges abgestellt wird. Das sieht offenbar auch der Senat ähnlich, denn für den Bereich der Untreue distanziert er sich anschließend von diesen Grundsätzen, indem er klarstellt, dass „derartige Umschreibungen, die weitgehend für den Bereich der Tötungsdelikte entwickelt worden sind, nicht formelhaft auf Fälle offener, mehrdeutiger Geschehen angewendet werden“ können.14 „Der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts allein kann kein Kriterium für die Entscheidung der Frage sein, ob der Angeklagte mit dem Erfolg auch einverstanden war. Es kommt vielmehr immer auf die Umstände des Einzelfalles an, bei denen insbesondere die Motive und die Interessenlage des Angeklagten zu beachten sind“.15
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BGHSt 46, 30, 35 unter Bezug auf BGH NStZ 1984, 19 und BGH NStZ 1986,
550. 14 15
BGHSt 46, 30, 35. BGHSt 46, 30, 35.
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Damit schien klargestellt, dass der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts allein nicht als Kriterium für die Entscheidung anerkannt war, ob der Täter mit dem Erfolg auch einverstanden war. Kenntnis der über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehenden Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs und Billigung dieser Gefährdung stehen als selbstständige Elemente des dolus eventualis der Untreue nebeneinander.16 IV. Die Kehrtwende: BGH 1 StR 185/01 = BGHSt 47, 148 1. Die Begrenzung des Billigungselements Schon in BGHSt 46, 30, 34 f hatte der Senat im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Kenntnis und Billigung der über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehenden Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs dargelegt: „Bei Bankvorständen und Bankmitarbeitern versteht sich das auch bei problematischen Kreditvergaben jedoch nicht von selbst (. . .), wenn nicht die bereits angeführten Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung vorliegen“. Hieran knüpft er in BGHSt 47, 148, 157 unmittelbar an und konkretisiert diese Begrenzung seiner Feststellungen dahin: „Zwar kann der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts allein kein Kriterium für die Frage sein, ob der Bankleiter mit dem Erfolg auch einverstanden war (BGHSt 46, 30, 35). Diese in BGHSt 46, 30 ff. aufgestellte Einschränkung betrifft jedoch in erster Linie die Fälle, in denen die dort genannten Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung nicht vorliegen“.17 Während in diesen Fällen der Schluss vom Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts auf die Billigung des Täters unzulässig sein soll, wird dieser Schluss in anderen Fällen zugelassen: „Liegt indessen – wie hier – neben einer gravierenden Verletzung der Informations- und Prüfungspflicht bereits eine derart über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehende erkannte höchste Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank vor, so liegt es nahe, dass der Bankleiter die Schädigung der Bank im Sinne einer Vermögensgefährdung auch billigend in Kauf genommen hat. Die Billigung liegt noch näher, wenn das Kreditengagement unbeherrschbar ist“.18 Im Hinblick auf erhebliche Folgeschäden des Kreditausfalls kommt der 1. Strafsenat sodann zu dem Ergebnis: „Generell gilt, dass eine Billigung stets anzunehmen ist, wenn der Bankleiter erkennt, dass die Kreditvergaben die Existenz der Bank aufs Spiel setzen. Bei positiver Kenntnis von der persönlichen Unzuverläs-
16 Zustimmend Dierlamm/Links, NStZ 2002, 656; Feigen, in: FS Rudolphi (Fn. 9), S. 461. – Krit. Otto, JR 2000, 517 f. 17 BGHSt 47, 148, 157. 18 BGHSt 47, 148, 157.
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sigkeit des Kreditnehmers kann sogar ein direkter Vorsatz bezüglich der schadensgleichen Vermögungsgefährdung nahe liegen“.19 Gegen diese Überlegung des 1. Strafsenats ist geltend gemacht worden, dass der Senat das Billigungselement des dolus eventualis auch auf die Möglichkeit eines späteren endgültigen Schadens zu beziehen scheine.20 Eher geht es hier aber um einen Folgeschaden des durch den Kreditausfall begründeten Schadens. Richtig ist hingegen, dass der 1. Strafsenat aus dem Wissenselement des dolus eventualis auf das Willenselement zurückschliesst.21 Denn die „höchste Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank“ und „die Unbeherrschbarkeit des Kreditengagement“ sind Aussagen über den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgeintritts, aus denen auf das Willenselement des dolus eventualis geschlossen wird. Nun ist es sicher nicht möglich, die begrifflichen Elemente des dolus eventualis je nach unterschiedlichen Fallgruppen unterschiedlich zu bestimmen. Doch das trifft die Argumentation des 1. Strafsenats nicht, denn wie sein Hinweis auf die Unterscheidung zwischen den begrifflichen Voraussetzungen des dolus eventualis und den Anforderungen, die an seinen Beweis zu stellen sind, ergibt, geht es ihm hier augenscheinlich um die je nach Fallsituation unterschiedlichen Anforderungen an den Beweis des dolus eventualis. Aber auch unter diesem Aspekt ist der Schluss von der Art der Pflichtverletzung auf die Voraussetzungen des dolus eventualis wenig überzeugend. Wird als Pflichtverletzung im Sinne des § 266 StGB eine im Rahmen einer Kreditvergabe unvertretbare unternehmerische Handlung im Hinblick auf die bei der Kreditvergabe zu beachtenden Rechtspflichten – und damit eine gravierende Pflichtverletzung22 – gesehen, so stellen Pflichtverletzung und Schaden zwei unabhängige Tatbestandsvoraussetzungen dar, die lediglich darin verbunden sind, dass der Schaden in der pflichtverletzenden Handlung begründet sein muss. Im Hinblick auf Pflichtverletzung und Schaden ist Vorsatz erforderlich. Ein Schluss von der Art der Pflichtverletzung auf den Vorsatz des Schadens ist deshalb unzulässig. Diesem, nur für eine Fallgruppe überhaupt relevanten Aspekt, soll aber nicht weiter nachgegangen werden. Wesentlich ist nämlich, dass die „Beweisregel“ in der Sache unmittelbar auf Feststellungen verweist, die Ingeborg Puppe gerade im Hinblick auf die Sachwidrigkeit der Differenzierung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit mit Hilfe des Elements einer emotionalen Einstellung getroffen hat: „Maßgeblich ist also nicht, ob der Täter die Gefährdung und Verletzung fremder Integrität tatsächlich gebilligt oder verdrängt hat, sondern ob sein Verhalten, in19
BGHSt 47, 148, 157. Dazu Feigen, in: FS Rudolphi (Fn. 9), S. 461 f.; Keller/Sauer, wistra 2002, 368; Kühne, StV 2002, 199. 21 Dazu Feigen, in: FS Rudolphi (Fn. 9), S. 462; Knauer, NStZ 2002, 403. 22 Eingehend dazu m. N. Otto, in: FS Tiedemann, 2008, S. 694 ff. 20
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terpretiert als das eines Vernunftwesens, der Ausdruck einer solchen Billigung ist. Dabei ist das Wort ,billigen‘ durchaus in seinem ursprünglichen Sinne zu verstehen, nämlich als normatives Urteil, dass Gefährdung und Erfolg sein sollen oder mindestens sein dürfen. Vorsätzlich ist also ein Handeln, das ein vernünftiger Mensch in der Situation mit dem Wissen des Täters nur dann vornehmen würde, wenn er den Erfolg in diesem Sinne billigen würde, das also die Norm zum Ausdruck bringt: ,Der Erfolg soll bzw. darf sein‘. Man kann das auch dahin formulieren, dass das Verhalten des Täters in Verbindung mit seinem Wissen Ausdruck einer Entscheidung für den Erfolg sein muss“.23 Es geht ihr, wie sie im Nomoskommentar darlegt, darum, dem Täter „die Kompetenz zu verweigern über die Handlungsrelevanz des Risikowissens das er hatte, selbst rechtsverbindlich zu entscheiden.“24 Dieses Anliegen dürfte auch das des 1. Strafsenats sein, wenn er von der „höchsten Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs“ oder von der „Unbeherrschbarkeit des Kreditengagement“ auf die nahe liegende oder sogar noch näher liegende Billigung des Erfolgseintritts durch den Täter schließt. Der Unterschied in der Aussage, wann dolus eventualis vorliegt, obwohl das Billigungselement nicht positiv nachgewiesen ist, erscheint daher durchaus überbrückbar zu sein. Wesentlich weiter ist hingegen der Schritt von der Beweisregel zum Begriffsinhalt, denn zutreffend hat Ingeborg Puppe darauf hingewiesen, dass man einem Begriff, der keinen klaren Sinn hat, nicht dadurch Sinn geben kann, dass man Beweisregeln für sein Vorliegen aufstellt. Sie hat sich dagegen gewandt, den „zentralen Punkt innerhalb der Vorsatzproblematik nicht im Begrifflichen zu suchen, sondern im Prozessualen“25 oder anstelle einer Begriffserklärung des Vorsatzes einen „offenen Katalog von Indikatoren“ zu setzen,26 bzw. zu akzeptieren, „dass es dogmatisch gleichgültig ist, ob man eine Zuordnungsregel jener Art als Definition eines Merkmals oder als Satz zu seinem Beweis (Beweisregel) behandelt“,27 denn „die Gleichsetzung von Indiz- und Begriffsmerkmal enthebt die Theorie der Anstrengung des Begriffs und seiner Legitimation“.28 Auf der begrifflichen Ebene dürfte aber auch die Differenz zur herrschenden Lehre,29 die in der Tat in einem bisher wenig ergiebigen Streit um den „adäqua23 Puppe, ZStW 103 (1991), 14 f. unter Bezug auf Roxin, JuS 1964, 61; Zielinski, in: AK-StGB, 1990, §§ 15/16 Rdn. 75; Hassemer, in: GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 309. 24 Puppe, in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn. 85. 25 Prittwitz, Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesellschaft, 1993, S. 359. 26 Hassemer, in: GedS Armin Kaufmann (Fn. 23), S. 304 f. 27 Volk, in: FG BGH, Bd. IV, 2000, S. 747. 28 Puppe, in: NK2, 2005, § 15 Rdn. 54; eingehend Puppe, GA 2006, 67 ff., 79. 29 Überblick über den Meinungsstand bei Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht, A.T.12, 2006, 1. Problem; Kühl, Strafrecht A.T.6, 2008, § 5 Rdn. 46; Otto, A.T.7 (Fn. 6), § 7 Rdn. 42.
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ten Begriff“30 befangen ist, recht erheblich sein, denn Ingeborg Puppe31 ist durchaus zuzustimmen darin, dass Kriterien, ob der Täter die Gefahr „ernst nimmt“ oder „verdrängt“,32 ob es ein „für den Täter gültiges Urteil“ ist, dass die Tatbestandsverwirklichung möglich bzw. nicht unwahrscheinlich ist33 oder dass er das „sich aneignet“34 bzw. „dies für sich so sieht“,35 lediglich verdeutlichen, dass allein die innere Einstellung des Täters, die er zu der Gefahrvorstellung bezieht, über Vorsatz und Fahrlässigkeit entscheidet. Und ihr Verdacht erscheint durchaus berechtigt, dass die Vorschläge immer neuer Kriterien des voluntativen Vorsatzelements, von denen nicht klar ist, ob und wie sie sich inhaltlich überhaupt unterscheiden, ihre Vertreter dahin gebracht haben, sich von der Frage nach dem Begriff des Vorsatzes ab- und der Frage nach seinem Beweis zuzuwenden.36 Insoweit ist die sachliche Nähe der einzelnen Aussagen zwischen den Überlegungen des 1. Strafsenats und denen von Ingeborg Puppe durchaus eher zu erkennen, als eine sachliche Nähe zur herrschenden Meinung. Zwar beschreiben die Aussagen des 1. Strafsenats: bei höchster Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank liegt die Billigung nahe; bei Unbeherrschbarkeit des Kreditengagement noch näher; bei einer Existenzgefährdung der Bank ist die Billigung nahezu stets anzunehmen, lediglich bestimmte Situationen, inhaltlich aber ist die Nähe der „Beweisregeln“ des 1. Strafsenats zu den Überlegungen von Ingeborg Puppe nicht zu verkennen: „Das allgemeine Kriterium ist, dass die Vorsatzgefahr so groß, anschaulich und vom Täter nicht beherrscht sein muss, dass sie nach Maßstäben der praktischen Vernunft nur eingegangen werden kann, wenn der Eintritt des Erfolgs akzeptiert wird, das heißt, wenn er dem Täter erwünscht oder gleichgültig ist“.37 Oder: „Das Verhalten des Täters ist dann Ausdruck seiner Entscheidung für den Erfolg, wenn die Gefahr, die er (wissentlich oder vermeintlich) für das Rechtsgut schafft, von solcher Quantität und Qualität ist, dass ein Vernünftiger sie nur unter der Maxime eingehen würde, dass der Verletzungserfolg sein soll oder doch mindestens sein darf“.38 Als Kriterien für die relevante Gefahrvorstellung – und hier wird wiederum die sachliche Übereinstimmung mit dem 1. Strafsenat greifbar – werden die
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Frisch, in: GedS Meyer, 1990, S. 547. Vgl. Puppe, A.T. (Fn 5), § 16 Rdn. 8 ff., dies., in: NK3 (Fn. 5), § 15 Rdn. 46. 32 Vgl. dazu Jescheck/Weigend, Strafrecht, A.T.5, 1996, § 29 III 3; Roxin, Strafrecht, A.T. I4, 2006, § 12 Rdn. 27 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, A.T.5, 2004, § 8 Rdn. 117; Wessels/Beulke, Strafrecht, A.T.39, 2009, Rdn. 214 ff. 33 Vgl. dazu Jakobs, Strafrecht, A.T.2, 1991, 8/23. 34 Vgl. dazu Schroth, Vorsatz als Aneignung der unrechtskonstituierenden Merkmale, 1994, S. 116 ff. 35 Vgl. dazu Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 192 ff. 36 Dazu Puppe, GA 2006, 66 f. 37 Puppe, A.T. (Fn. 5), § 16 Rdn. 42. 38 Puppe, ZStW 103 (1991), 41; dies., GA 2006, 73. 31
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Höhe der Gefahr, die so groß sein muss, dass ein Vertrauen auf den guten Ausgang unrealistisch und unvernünftig wäre, die Anschaulichkeit der Gefahr und das mehr oder weniger unmittelbare Bevorstehen ihrer Realisierung benannt.39 Auch hier also Beschreibungen der Gefahrensituation, um die Vorsatzgefahr anschaulich zu machen, denn aus der Sicht Ingeborg Puppes ist der Begriff der Vorsatzgefahr ein Typusbegriff,40 da die Merkmale des Vorsatzes steigerungsfähige Begriffe seien, und die Werte, die sie auf einer Wertskala im Einzelfall erreichen, miteinander „verrechnet“ werden müssten. Als steigerbarerer Begriff weise der Vorsatz ein Wissenselement und ein voluntatives Element auf. In je stärkerem Maße das Wissenselement im Einzelfall vorhanden sei, in desto geringerem Maße muss das voluntative Element vorliegen und umgekehrt. Als steigerungsfähiger Begriff verstanden, besage das voluntaristische Vorsatzelement, dass dem Täter der Eintritt des Erfolgs mehr oder weniger willkommen oder unwillkommen sein kann. In der Mitte dieser Skala stehe die völlige Indifferenz des Täters zu Eintritt und Ausbleiben des Erfolges. – „Je größer die Gefahr nach der Vorstellung des Täters ist, je unmittelbarer sich ihm die Schadensmöglichkeit aufdrängt und je näher sie bevorsteht, desto eher ist eine Vorsatzgefahr anzunehmen“.41 Auch unter Beachtung der Differenz zwischen Beweisregel und Typusbegriff sollte der sachlichen Nähe in der Beschreibung des gemeinten Sachverhalts der Vorzug eingeräumt werden und das entscheidende Abgrenzungskriterium in Anlehnung an Bekanntes und auch in der Praxis Bewährtes enger dahin gefasst werden, dass es hier um das Bewusstsein einer konkreten Gefahr geht. Dabei soll es hier nicht darum gehen, die Diskussion um den Begriff der konkreten Gefahr allgemein weiterzuführen, sondern klargestellt werden soll nur, dass Gefahr in diesem Sinne nicht die abstrakte Gefahr der Rechtsgutsverletzung ist, das heisst die Situation, in der die Rechtsgutsverletzung als bloß denkbare Möglichkeit angelegt ist, sondern die konkrete unmittelbare Gefahr der Rechtsgutsverletzung. Das ist die Gefährdung eines Angriffsobjektes derart, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob die Rechtsgutsverletzung eintritt oder nicht. Der Täter sieht in dem Geschehensablauf die Rechtsgutsbeeinträchtigung bereits angelegt, soweit nicht ein von ihm nicht beherrschter Zufall dem Geschehen einen anderen Verlauf gibt. Oder von der anderen Seite her gesehen: „Eine Vorsatzgefahr liege dann nicht vor, wenn der Täter vernünftigerweise darauf vertrauen kann, dass er selbst, das Opfer oder ein Dritter die Gefahr wirkungsvoll steuern wird.“42
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Puppe, ZStW 103 (1991), 41; vgl. auch dies., GA 2006, 74. Vgl. Puppe, GA 2006, 70 f.; dazu auch Haft, ZStW 88 (1976), 385 ff.; Schünemann, in: FS Hirsch, 1999, S. 372 f. 41 Puppe, ZStW 103 (1991), 42. 42 Puppe, GA 2006, 74; dazu auch Puppe, A.T. (Fn. 5), § 16 Rdn. 44; Herzberg, JuS 1986, 260. 40
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Diese Gefahrensituation ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung durchaus erfasst und konkretisiert worden. Bei der Abgrenzung der Vorbereitungshandlung vom Versuch wird darauf abgestellt, dass das Versuchsstadium des § 22 StGB frühestens mit Handlungen beginnt, die im ungestörten Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder die unmittelbar im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen, das geschützte Rechtsgut somit unmittelbar gefährden, bzw. als versuchsbegründende Handlungen des Täters werden Handlungen erfasst, die „nach seinem Tatplan der Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals vorgelagert sind, in die Tatbestandshandlung einmünden und nach der Vorstellung des Täters das geschützte Rechtsgut konkret gefährden“.43 – Damit stimmen die Vertreter der so genannten Gefährdungstheorie bei der Abgrenzung von Vorbereitungshandlung und Versuch überein.44 Das Bewusstsein dieser Gefahrenlage und der Wille, sie zu verwirklichen, sind dann die den Vorsatz konstituierenden Elemente. Das bedeutet für den dolus eventualis: Mit dolus eventualis handelt der Täter, der sich der konkreten, unmittelbaren Gefahr der Rechtsgutsbeeinträchtigung bewusst ist und trotz dieser Kenntnis nicht von seinem Vorhaben Abstand nimmt. Ein weiteres Kriterium der emotionalen Einstellung zum Erfolg bedarf es nicht.45 Auch dort, wo es nicht um die Herbeiführung eines Erfolges, sondern um andere vom Vorsatz umfasste Tatbestandsmerkmale geht, bewährt sich die Formel: Mit dolus eventualis handelt der Täter, der die konkrete unmittelbare Gefahr der Verwirklichung der Tatumstände erkannt hat und trotz dieser Erkenntnis nicht von seinem Vorhaben Abstand nimmt.46 Der auf die konkrete Gefahr der Rechtsgutsverletzung bezogene Vorsatz lässt sich auch überzeugend von dem für die konkreten Gefährdungsdelikte notwendigen konkreten Gefährdungsvorsatz abgrenzen.47 Wer sich der Wahrscheinlichkeit bewusst ist, dass er einen anderen durch sein Verhalten in die Situation einer konkreten Gefährdung bringt, muss nicht notwendig auch von der Wahrscheinlichkeit der Verletzung ausgehen, denn er kann unter Umständen mit guten Gründen darauf vertrauen, dass die Verletzung ausbleibt.48 Zutreffend weist Ingeborg
43 BGH MDR 1983, 685; BGH 2 StR 98/83 v. 10.06.1983; BGH JZ 1985, 100 sowie BGH StV 1984, 420; BGHSt 30, 363, 364. 44 Dazu vgl. auch BGHSt 38, 83, 85; 43, 177, 179 f. mit Otto, NStZ 1998, 243 f.; Herzberg, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 2003, § 22 Rdn. 145, 156 f.; Küper, JZ 1992, 340 f.; Otto, A.T. (Fn. 6), § 18 Rdn. 27 ff.; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 306 ff. 45 Dazu auch Otto, Jura 1996, 471 f.; ders., A.T.7 (Fn. 6), § 7 Rdn. 36. – Vgl. auch Brammsen, JZ 1989, 80; Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortungsbegriffs, 1988, S. 151. 46 Otto, Jura 1996, 473. 47 A.A. Köhler, Die bewusste Fahrlässigkeit, 1982, S. 288; Küpper, ZStW 100 (1988), 774.
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Puppe darauf hin: „Jedes konkrete Gefährdungsdelikt, das in unserem Strafgesetzbuch vorkommt, baut auf einem abstrakten Gefährdungsdelikt auf. Die konkrete Gefahr im Sinne des Gesetzes lässt sich also dahin bestimmen, dass die Faktoren einer im Tatbestand erschöpfend beschriebenen abstrakten Gefahr vorhanden sind und dass ein Rechtsgutsobjekt dergestalt in den Einflussbereich dieser Faktoren geraten ist, dass seine Verletzung aufgrund dieser Kausalfaktoren möglich erscheint. Welchen Wahrscheinlichkeitsgrad diese Möglichkeit haben muss und auf welcher Tatsachenbasis sie zu beurteilen ist, also welche Besonderheiten des Einzelfalles in das Möglichkeitsurteil eingehen sollen, ist umstritten. Aber jedenfalls ist dieses Möglichkeitsurteil noch weit genug entfernt von dem Urteil, dass der Täter eine taugliche Erfolgsherbeiführungsstrategie angewandt hat.“49 Gut vor Augen führen lässt sich die Problematik am Beispiel des Durchbrechens einer Polizeisperre, wenn der Täter aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten davon ausgeht, der Polizeibeamte werde beiseite springen. In dieser Situation ist ein Lebensgefährdensvorsatz des Täters durchaus zu bejahen, nicht aber ein (bedingter) Tötungsvorsatz.50 2. Der Begriff des Vermögensschadens Im Hinblick auf den Vermögensschadens geht der 1. Strafsenat in dieser Entscheidung von den Prämissen der überkommenen höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur aus: „Bei der Kreditgewährung besteht der Nachteil im Sinne des § 266 StGB in der schadensgleichen Vermögensgefährdung, die spätestens mit der Valutierung eingetreten sein kann. Allein auf die Vermögensgefährdung muss sich das Wissenselement beziehen (. . .). Das Wissenselement des Schädigungsvorsatzes fällt folglich nicht deshalb weg, weil der Bankleiter beabsichtigt, hofft oder glaubt, den endgültigen Schaden abwenden zu können. Erforderlich ist vielmehr nur, dass der Bankleiter im Zeitpunkt der Kreditgewährung die Minderwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs im Vergleich zu der ausgereichten Darlehensvaluta gekannt hat. Dazu genügt freilich bereits seine Kenntnis der die Vermögensgefährdung begründeten Umstände und das Wissen, dass die Forderung nach allgemeinen Bewertungsmaßstäben nicht als gleichwertig angesehen wird, mag er sie selbst auch anders bewerten (. . .)“.51 – Die Konsequenz, 48 Dazu auch BGHSt 22, 67, 73 ff.; 26, 244, 246; Küpper, ZStW 100 (1988), 768; Lackner/Kühl26 (Fn. 6), § 15 Rdn. 28; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 15 Rdn. 98a; Schünemann, in: FS Hirsch (Fn. 40), S. 375; Vogel, in: Leipziger Kommentar zum StGB12, Bd. 1, 2007, § 15 Rdn. 129. 49 Puppe, A.T. (Fn. 5), § 16 Rdn. 44; dies., GA 2006, 75. 50 Vgl. BGHSt 22, 67, 73 ff.; Puppe, A.T. (Fn. 5), § 16 Rdn. 44; dies., in: NK1 (Fn. 1), § 15 Rdn. 102; Vogel, in: LK12 (Rn. 48), § 15 Rdn. 129. 51 BGHSt 47, 148, 156 f.
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bereits den dolus directus 2. Grades in dieser Situation anzunehmen, wird hier noch nicht gezogen. Das ist durchaus konsequent wenn man eine Vermögensgefährdung dann als schadensgleich ansieht, wenn die Wahrscheinlichkeit so hoch ist, dass die Gefahr sich ohne weiteres Zutun des Opfers oder des Täters realisiert. Zu unterscheiden ist dann nämlich zwischen zwei Arten von Gefahren: „Denjenigen Gefahrenfaktoren, die die schadensgleiche Gefahr selbst ausmachen und damit den Schadenserfolg i. S. der Vermögensdelikte und denjenigen, die daraufhin zu überprüfen sind, ob sie eine generell geeignete Methode zur Herbeiführung einer schadensgleichen Gefahr und damit eine Vorsatzgefahr darstellen. Was eine schadensgleiche Gefahr ist, hängt nicht von den Urteilen und Bewertungen des Täters ab, sondern von denen des Wirtschaftsverkehrs. Deshalb scheitert der Vorsatz, eine solche schadensgleiche Gefahr herbeizuführen, nicht schon daran, dass der Täter selbst die ihm bekannten Faktoren, die eine schadensgleiche Gefahr begründen, nicht als solche bewertet“.52 V. Besondere Anforderungen an den dolus eventualis der Untreue: BGH 2 StR 499/05 = BGHSt 51, 100 und BGH 2 StR 469/06 = NStZ 2007, 704 1. Die besonderen Anforderungen an den dolus eventualis der Untreue Der 2. Strafsenat nähert sich der Problematik des dolus eventualis bei der Untreue vom objektiven Tatbestand her, indem er die Gleichsetzung der schadensgleichen Vermögensgefährdung mit dem Vermögensschaden kritisch hinterfragt und zu dem Ergebnis kommt, dass die Anerkennung einer „konkreten Vermögensgefährdung“ auf der Grundlage einer wirtschaftlichen Betrachtung als Schaden im Sinne des § 266 StGB eine Vorverlagerung der Vollendung der Untreue in den Bereich des Versuchs bedeute.53 Die unveränderte Übertragung des von der Rechtsprechung ursprünglich für die Bestimmung des Vermögensschadens in Sonderfällen des Betrugs entwickelten Begriffs der schadensgleichen Vermögensgefährdung auf die Auslegung des Nachteilsbegriffs in § 266 Abs. 1 StGB beachte nicht hinreichend, dass der subjektive Tatbestand des § 263 Abs. 1 durch das Erfordernis der Bereicherungsabsicht eine Einschränkung erfahre, die der Tatbestand der Untreue nicht voraussetze. Dies führe in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Tatvollendung vom – nicht strafbaren – Versuch und bei der Anwendung des Untreuetatbestandes insbesondere im Bereich wirtschaftlichen Handelns.54 Puppe, in: NK1 (Fn. 1), § 15 Rdn. 101. BGHSt 51, 100, 123 unter Hinweis auf Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 48), § 263 Rdn. 143. 54 BGHSt 51, 100, 121. 52 53
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Allerdings folgert der Senat aus den Feststellungen nicht, dass eine vollendete Untreue erst vorliegen könne, wenn der Vermögensnachteil nicht nur drohe, sondern wenn er eingetreten sei. Er will die „Ausweitung des ohnehin schon äußert weiten Tatbestandes der Untreue in Richtung auf ein bloßes Gefährdungsdelikt“55 im subjektiven Bereich dahin begrenzen, „dass der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das In-Kauf-Nehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolges abfindet.“56 2. Die dogmatische Konstruktion Indem der 2. Strafsenat versucht, die Interpretation „des ohnehin schon äußerst weiten Tatbestandes der Untreue in Richtung auf ein bloßes Gefährdungsdelikt“ zu begrenzen, stellt er sich letztlich jener von Ingeborg Puppe bereits in der 1. Aufl. des NK-StGB konstatierten und von der Praxis und herrschenden Lehre bisher vernachlässigten Problematik, die grundsätzlich in der Gleichstellung der schadensgleichen Vermögensgefährdung mit dem Vermögensschaden liegt. „Stellt sich der Täter eine hohe Schadenwahrscheinlichkeit vor, handelt er also im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie vorsätzlich in Bezug auf den effektiven Schaden, so liegt nach der Lehre von der schadensgleichen Vermögensgefahr bereits dolus directus zweiten Grades vor“.57 Die Umdeutung des Erfolgsdelikts in ein Gefährdungsdelikt wird damit offensichtlich. Dieser grundsätzliche Mangel wird aber durch die Konstruktion eines Delikts „mit (schwach) überschießender Innentendenz“58 keineswegs behoben, denn die Problematik ist nicht auf den dolus eventualis beschränkbar. Gerade beim dolus direktus wird die Bedenklichkeit der Konstruktion, die in der Gleichsetzung der so genannten schadensgleichen Vermögensgefährdung mit dem Vermögensschaden liegt, augenfällig. Ist nämlich „die Gefährdung wirklich schon eine pflichtwidrig herbeigeführte Vermögenseinbuße für den zu Betreuenden, ist doch recht erstaunlich, dass selbst direkter Vorsatz zur Tatbestandsverwirklichung nicht ausreichen soll“.59 Mit dem Gesetzeswortlaut ist das nicht vereinbar, denn die An-
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BGHSt 51, 100, 121. BGHSt 51, 100, 121; bestätigt in BGH NStZ 2007, 704, 705. – Zustimmend BGH 5 StR 354/07 = BGHSt 52, 182, 190. 57 Puppe, in: NK1 (Fn. 1), § 15 Rdn. 81. 58 Bernsmann, GA 2007, 230; vgl. dazu auch Beulke, FS Eisenberg, 2009, S. 264; Beulke/Witzigmann, JR 2008, 435; Ransiek, NJW 2007, 1279; Saliger, NStZ 2007, 550; Schlösser, NStZ 2008, 398; Schünemann, NStZ 2008, 431. 59 Ransiek, NJW 2007, 1729. 56
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knüpfung an die Gefährdungssituation und damit die Vorverlagerung der Straftat in den Versuchsbereich werden damit nicht beseitigt.60 3. Die Logik der Differenzierung zwischen Gefährdung und Verletzung als Bezugsobjekt des Vorsatzes Unabhängig von der Konstruktion führt die Differenzierung zwischen Gefährdung und Verletzung als Bezugsobjekt des Vorsatzes der Untreue keineswegs zu einer begrifflich überzeugenden Begrenzung des Untreuetatbestandes. Der Fehler liegt hier in einer Differenzierung unterschiedlicher Einstellungen, die in der gewünschten Weise aber ausgeschlossen ist, wie Ingeborg Puppe in anderem Zusammenhang dargelegt hat: „Es ist . . . logisch ausgeschlossen, eine konkrete Gefahr ernst zu nehmen, sie für sich zu sehen, sie sich zu eigen zu machen, für sich gültig zu beurteilen, und gleichzeitig die Möglichkeit, dass die Verletzung eintritt, nicht ernst zu nehmen, nicht für sich zu sehen, nicht als für sich gültig zu beurteilen und sich nicht zu eigen zu machen, denn die konkrete Gefahr und die Verletzungsmöglichkeit sind ein und dasselbe. Eine solche Unterscheidung zwischen der Akzeptanz der Erfolgsmöglichkeit als konkrete Gefährdung und der Nichtakzeptanz als Möglichkeit der Verletzung ist nur auf der emotionalen Ebene denkbar, denn das Gefühl ist im Gegensatz zum Verstand an die Logik nicht gebunden.“61 – Was für das Ernstnehmen bzw. Nicht-Ernstnehmen u. ä. ausgeführt ist, gilt ohne Einschränkung auch für das Billigen bzw. Nicht-Billigen. VI. Die besonderen Erfordernisse des dolus eventualis der Untreue als Scheinproblem: BGH 1 StR 488/07 = JR 2008, 426 und BGH 1 StR 731/08 = BGHSt 53, 199 1. Die grundsätzliche Problematik Ausdrücklich stellt der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung JR 2008, 426, 428 fest, dass er den Überlegungen des 2. Strafsenats nicht folgen könne, soweit dieser davon ausginge, „dass sich als Voraussetzung für den Tatbestand der Untreue beim vorsätzlichen pflichtwidrigen Eingehen von Vermögensrisiken der Vorsatz immer auch auf die Billigung des endgültigen Vermögensnachteils erstrecken muss.“62 Er erkennt in der Erstreckung des – bedingten – Vorsatzes auf einen in der Zukunft zu erwartenden endgültigen Vermögensnachteil eine der 60 Dazu auch Dierlamm, NStZ 1997, 534 f.; Feigen, in: FS Rudolphi (Fn. 9), S. 456 f.; Krüger, NJW 2002, 1180; Kühne, StV 2002, 199; Weber, in: FS Eisenberg, 2009, S. 375. 61 Puppe, A.T. (Fn. 5), § 16 Rdn. 43. 62 Zu dieser Kontroverse zwischen den Senaten vgl. auch Fischer, StraFo 2008, 269 ff., und Nack, StraFo 2008, 277 ff.
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bisherigen Dogmatik widersprechende Konstruktion und geht davon aus, dass zunächst zu prüfen sei, „ob sich das Problem bei einer präzisen Begriffsverwendung unter exakter Betrachtung des tatsächlichen wirtschaftlichen Nachteils zum Zeitpunkt einer pflichtwidrigen Handlung bei genauer Feststellung dessen, worauf sich das Wissen und Wollen des Täters insoweit tatsächlich erstreckt, nicht weitgehend erledigt, bzw. als Scheinproblematik herausstellt.“63 Das Ergebnis dieser genauen Betrachtung ist knapp, frappierend und überzeugend, denn es offenbart, „dass sich die bei pflichtwidrigen Risikogeschäften so genannte konkrete Vermögensgefährdung in Wirklichkeit als ein bereits unmittelbar mit der Tathandlung eingetretener Vermögensnachteil darstellt“.64 Beispielhaft erläutert der Senat dieses sodann mit der Auszahlung eines ungesicherten Kredits an ein zahlungsunfähiges Unternehmen. Der mit der Vergabe dieses Kredits erlangte Rückzahlungsanspruch sei sofort über das bei jeder Kreditvergabe mögliche und zulässige Maß hinaus minderwertig.“ Aus der Saldierung der ausbezahlten Darlehenssumme mit dem verbleibenden Wert der Rückzahlungsforderung folgt der unmittelbar und real eingetretene Vermögensnachteil.65 „Abschließend weist der 1. Strafsenat noch darauf hin, dass der Wert des Rückzahlungsanspruchs dabei bewertet werden, letztlich geschätzt werden müsse. Insoweit stelle sich die Situation aber nicht anders dar als beim Verkauf dieser Forderung an ein Inkassounternehmen oder bei der an sich sofort gebotenen Wertberichtigung, „wenn auch im strafrechtlichen Bereich verbleibende Unwägbarkeiten zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt werden müssen“.66 Im Hinblick auf den Vorsatz ist die Konsequenz zwingend, denn bezogen auf den durch die Minderwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs begründeten Vermögensnachteil handelt der Täter, der die die Pflichtwidrigkeit und den Minderwert des Rückzahlungsanspruchs begründenden Umstände kennt, bei der Tathandlung mit direktem Vorsatz.67 In der Tat bedeutet die Rückführung des Gefährdungserfolgs auf den Verletzungserfolg ein Umdenken hinsichtlich der Anforderung an den Vorsatz, da die durch den Bezug auf den Gefährdungserfolg bedingten inhaltlichen Änderungen der Anforderung an den Vorsatz entfallen. Der Gefährdungstatbestand wird auf einen Verletzungstatbestand zurückgeführt und „das tatsächlich nicht gegebene Problem der Überdehnung des Untreuetatbestandes stellt sich dann auch nicht scheinbar“.68
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BGH JR 2008, 426, 428. BGH JR 2008, 426, 428. BGH JR 2008, 426, 428. BGH JR 2008, 426, 428. Dazu Bosch/Lange, JZ 2009, 228. BGH JR 2008, 426, 428.
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2. Die Kritik an der Entscheidung des 1. Strafsenats Der ausdrückliche Bruch mit einer seit 100 Jahren tradierten Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung69 und der herrschenden Lehre70 hat Überraschung ausgelöst: „Erstaunt vernimmt der Leser diese Botschaft: Die Richter des 1. Strafsenats geben den Kritikern Recht, welche der Gefährdungskonstruktion die Gefolgschaft verweigern.“71 Geltend gemacht wird, dass die Möglichkeit bestehe, nahezu jede Vermögensgefährdung als „schadensgleich“ anzusehen72, insofern dies im Einzelfall kriminalpolitisch opportun erscheine. Es müsse eingeräumt werden, dass es leider immer noch nicht gelungen sei, hinreichend bestimmte, allgemein gültige und zugleich praxistaugliche Kriterien zu benennen, mit deren Hilfe zuverlässig ermittelt werden könne, ob eine bestimmte Vermögensgefährdung „schadensgleich“ sei, ohne den Bereich des Strafbaren zu weit auszudehnen. Dass die Vorgehensweise des 1. Strafsenats verfehlt sei, zeige aber auch die Überlegung, dass selbst dann, wenn der Darlehensgeber zum Zeitpunkt der Fälligkeit entgegen der Prognose die gesamte Darlehensvaluta wiedererlange, weiterhin – folge man dem 1. Strafsenat – von einem tatsächlich eingetretenen endgültigen Vermögensnachteil ausgegangen werden müsse.73 Durchaus richtig ist an diesem Einwand, dass sich offenbar in der Praxis keine Verurteilungen in Fällen finden, in denen der Rückzahlungsanspruch aus einem Kredit bei der Aushändigung der Kreditsumme aufgrund fehlender Bonität des Schuldners wertlos war, gleichwohl aber der Kredit bei Fälligkeit zurückgezahlt wurde. Mit der bisher einhellig geforderten Verbindung zwischen Vermögensverfügung und Vermögensschaden beim Betrug, § 263 StGB, dahin, dass die Vermögensverfügung unmittelbar den Vermögensschaden begründen muss, ist diese Praxis aber nicht vereinbar. Wenn die Auffassung des 1. Strafsenats gleichwohl nicht nur bei Wirtschaftswissenschaftlern auf Unverständnis stoßen sollte, sondern auch bei all jenen Kopfschütteln auslösen sollte, die in der Praxis mit der Vergabe von Krediten betraut sind,74 so muss gerade dieses Erstaunen begründen. In diesen Fällen geht es wohl weniger darum, dass sich bei kaufmännischer Betrachtung behaupten ließe, die Rückzahlung sei nur vorübergehend gefährdet ge69 Vgl. RGSt 16, 1, 11; RG JW 1928, 411; . . . BGHSt 15, 24, 27; 21, 112, 113; 34, 394, 395; 40, 287, 296 f.; 44, 376, 384; 46, 30, 34; 47, 148, 156; 48, 354, 356 ff.; 51, 100, 113. 70 Vgl. z. B. Dierlamm, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 4, 2006, § 266 Rdn. 186 ff., 195 ff.; Lackner/Kühl26 (Fn. 6), § 263 Rdn. 40, § 266 Rdn. 17a; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 48), § 266 Rdn. 45; Riemann, Vermögensgefährdung und Vermögensschaden, 1989, S. 60 ff.; Schünemann, in: Leipziger Kommentar zum StGB11, 1992 ff.; § 266 Rdn. 146; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht B.T./232, 2009, Rdn. 571. 71 Beulke/Witzigmann, JR 2008, 433. 72 Beulke/Witzigmann, JR 2008, 434; vgl. auch Schünemann, NStZ 2008, 432. 73 Beulke/Witzigmann, JR 2008, 433. 74 Beulke/Witzigmann, JR 2008, 433.
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wesen,75 sondern vielmehr darum, dass Schweigen gleichsam Gold ist, wenn der Kreditgeber auf seine eigene Verhaltensweise bei Auszahlung der Valuta zurückblickt. Eine Berechtigung, den so genannten Endschaden als relevant anzusehen, folgt daraus aber keineswegs. Dieser ist irrelevant, wenn er ausbleibt, wie auch dann, wenn er eintritt, obwohl der Kredit bei Ausreichung durchaus gesichert war. 3. Die Entgegnung des 1. Strafsenats: BGH 1 StR 731/08 = BGHSt 53, 199 Der 1. Strafsenat weist zunächst darauf hin, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung einhellig davon ausgeht, dass ein Schaden im Sinne von § 263 StGB eintritt, wenn die Vermögensverfügung unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts des Vermögens des Verfügenden führe.76 Maßgeblich sei der Zeitpunkt der Vermögensverfügung, also der Vergleich des Vermögenswertes unmittelbar vor und unmittelbar nach der Verfügung. Spätere Entwicklungen, wie Schadensvertiefung, Schadensausgleich oder Schadenswiedergutmachung berührten den tatbestandlichen Schaden nicht.77 Auch bei Risikogeschäften gelte nichts anderes, denn in derartigen Fällen müsse mit der Vermögensverfügung bei Saldierung der Vermögenslage vor und nach der Verfügung ein Schaden unmittelbar eingetreten sein. „Der Begriff der konkreten Vermögensgefährdung beschreibt dies nur unzureichend und ist entbehrlich.“78 Dies sei in der Rechtsprechung des BGH auch schon früher anerkannt worden.79 Dass der Minderwert nicht beweisbar sei, leuchtet dem 1. Strafsenat nicht ein. Für ihn liegt es bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise auf der Hand, dass beim Eingehen eines Risikogeschäfts mit einer nicht mehr vertragsimmanenten Verlustgefahr ein unmittelbarer Wertverlust, eine Vermögenseinbuße einhergeht, und dass dieser Schaden auch nachzuweisen ist: „Das mit der Verfügung (. . .) eingegangene – . . . – Risiko und der dadurch verursachte Minderwert des im Synallagma Erlangten sind zu bewerten“.80 Dies sei – wie der BGH durchaus zutreffend feststellt – kaufmännischer Alltag. Letztlich führt die Feststellung der 75 So Beulke/Witzigmann, JR 2008, 433; dazu auch Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, S. 12 f., 15. 76 BGHSt 53, 199, 201 unter Verweis auf BGHSt 3, 99, 102; 16, 220, 221; 30, 388, 389; 34, 199, 203; 45, 1, 4; 51, 10, 15; 51, 165, 174; BGHR StGB § 263 Abs. 1, Vermögensschaden 54, 70; BGH Beschl. vom 26.01.2006 – 5 StR 334/05; BVerfG Beschl. vom 20.05.1998 – 2 BvR 1385/95; Hefendehl, in: MüKo (Fn. 70), § 263 Rdn. 442 ff. 77 BGHSt 53, 199, 201 f. unter Bezug auf BGHSt 30, 388, 389 f. 78 BGHSt 53, 199, 202 unter Verweis auf BGH JR 2008, 426, 428. 79 BGHSt 53, 199, 202 m. N. 80 BGHSt 53, 199, 203 mit Literaturnachweisen zur Einzelwertberichtigung, zur Bildung von Rückstellungen für drohende Verluste und zum Verkauf von Forderungen.
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realen Wertminderung zu erheblich genaueren Beurteilungen, da der Rechtsfigur des Gefährdungsschadens stets die Gefahr der Überdehnung der Straftatbestände hin zu einem Gefährdungsdelikt eigen gewesen sei, indem tatsächlich nur abstrakte Risiken in die Wertung einbezogen worden seien. „Die Notwendigkeit, den mit der Vermögensverfügung unmittelbar real eingetretenen Schaden zu bewerten und zu benennen, zwingt dem gegenüber zu Klarheit und vermeidet Grenzüberschreitung.“81 Allerdings verneint der 1. Strafsenat nicht nur die Sachgerechtigkeit der Konstruktion der schadensgleichen Vermögensverfügung, sondern spricht ihr kurz und knapp auch die rechtliche Zulässigkeit ab, indem er darauf hinweist, dass die Subsumtion wirklich nur „schadensgleicher“ Gefährdungen unter den Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB mit Art. 103 Abs. 2 GG kaum vereinbar sei.82 Im Hinblick auf den Vorsatz sind die Konsequenzen sodann zwingend: „Allein auf den unmittelbaren mit der Vermögensverfügung des Getäuschten eingetretenen tatbestandlichen Schaden muss sich das voluntative Element des Vorsatzes des Täters erstrecken. Auf die Billigung eines eventuellen Endschadens kommt es nicht an“.83 4. Stellungnahme Dass die Ablehnung einer schadensgleichen Vermögensgefährdung nicht auf den Kreis der Risikogeschäfte zu beschränken ist, kann nicht zweifelhaft sein. Auch die herrschende Meinung erkennt durchaus an, dass eine Forderung wertlos ist, wenn der Schuldner illiquid oder bereits im Konkurs ist, bzw. wenn der Konkurs mangels Masse gar nicht erst eröffnet wird. Hier handelt es sich aber um keinen Ausnahmefall, sondern die Vermögenswertminderung aufgrund der Gefahr des Ausfalls der Forderung ist lediglich offensichtlich. Die Bewertung von Forderungen ist auch keineswegs unmöglich oder doch zumindest grob unzuverlässig,84 wie die Praxis zeigt. Sie gehört zum alltäglichen Geschäft von Bankkaufleuten und Finanzbuchhaltern und erfordert unter Umständen einen in diesem Bereich ausgewiesenen Sachverständigen. Unabhängig davon ist darauf hinzuweisen, dass in vielen Fällen der so genannten schadensgleichen Vermögensgefährdung eine echte Wertminderung des Vermögens und damit ein realer Vermögensschaden vorlag. Ob dieses allerdings – wie Fischer meint85 – stets der 81
BGHSt 53, 199, 204. BGHSt 53, 199, 204. 83 BGHSt 53, 199, 204. 84 In dieser Richtung gleichfalls kritisch: Beulke/Witzigmann, JR 2008, 433; Bosch, JA 2009, 550; Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, S. 12; Kempf, in: FS Volk, 2009, S. 240; Schmitt, in: FS Nobbe, 2009, S. 1023; Schünemann, NStZ 2008, 432. 85 Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, S. 11 f. – In gleicher Richtung BVerfG – 2. Kammer d. 2. Senats – wistra 2009, 385, 389. 82
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Fall gewesen ist, mag hier offenbleiben, denn schon in den Fällen der so genannten Schwarzen Kassen ist dieses keineswegs unproblematisch, und in der Literatur ist die schadensgleiche Vermögensgefährdung so nicht verstanden worden. Wenn es sich aber wirklich nur um eine „Frage der Formulierung“86 handeln sollte, so sollte dieses den Abschied von der dubiosen Konstruktion erleichtern, der begrifflich und rechtlich zwingend ist. Eine „konkrete“ Vermögensgefährdung kann begriffsnotwendig als solche niemals ein Vermögensschaden oder Vermögensnachteil im Sinne der §§ 263, 266 StGB sein, denn die Gefahr eines Schadens – ob abstrakt, konkret oder abstrakt-konkret – ist nicht identisch mit dem eingetretenen Schaden. Es widerspricht dem Grundsatz der Gesetzbestimmtheit, Art. 103 Abs. 2GG, wenn eine konkrete Vermögensgefährdung als Vermögensschaden interpretiert wird. Sachlich ist zu sehen, dass der Gläubiger mit der Auszahlung der Valuta innerhalb eines Kreditgeschäfts eine Forderung erwirbt, die unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten dem Kredit gleichwertig sein muss. Dabei kommt es nicht darauf an, dass zwischen dem Haben von Bargeld und den Haben einer Forderung stets ein Unterschied besteht. Dieser Unterschied ist unwesentlich, wenn die Forderung aufgrund der Verzinsung der Kreditsumme wirtschaftlich betrachtet wertgleich ist. Erhält der Kreditgeber hingegen für seinen Kredit nur eine nominell gleich hohe Forderung, die jedoch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten minderwertig ist, so erleidet er einen Vermögensschaden. Das ist nicht nur ein Gefährdungsschaden, sondern ein realer Vermögensschaden aufgrund der Wertminderung des Vermögens.87 Dieser Schaden ist Bezugsgegenstand des Vorsatzes. Erkennt der für eine Kreditherausgabe Verantwortliche bei der Prüfung der Bonität der Forderung lediglich abstrakte Möglichkeiten für die Notwenigkeit der Wertberichtigung der Forderung oder ihren totalen Ausfall, so begründet diese Erkenntnis keinen Vorsatz. Die bloße Möglichkeit, dass ein Schuldner illiquide wird, weil eine Konjunktur sich abschwächt, eine Finanzkrise ausbricht, Käuferverhalten sich ändert, Forde86 Hefendehl, in: MüKo (Fn. 70), Bd. 4, 2006, § 263 Rdn. 543; Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, S. 12. 87 Dazu im Einzelnen: BVerfG – 2. Kammer d. 2. Senats – wistra 2009, 385, 389 mit Bespr. Fischer, StV 2010, 95 ff.; vgl. weiter: Bernsmann/Gatzweiler, Verteidigung bei Korruptionsfällen, 2008, Rdn. 725; Bosch, wistra 2001, 257; ders., JA 2009, 550; Dierlamm, in: MüKo (Fn. 70), § 266 Rdn. 186, 195; ders., NStZ 1997, 535; Feigen, in: FS Rudolphi, S. 457; Günther, in: FS Weber, 2004, S. 313; Hefendehl, in: MüKo (Fn. 70), § 263 Rdn. 563 ff., 718; Hirsch, in: FS Tröndle, 1989, S. 32; Keller/Sauer, wistra 2002, 365, Fn. 9; Kindhäuser, in: NK3 (Fn. 5), § 263 Rdn. 303; Krey/Hellmann, Strafrecht, B.T., 2. Bd.14, Rdn. 567a; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, B.T., Bd. 19, 2003, § 41 Rdn. 123 f.; Mosenheuer, NStZ 2004, 179 f.; Nack, StraFo 2008, 278 ff.; Naucke, StV 1985, 187; Otto, Grundkurs Strafrecht, B.T.7, § 51 Rdn. 70; ders., JR 2000, 517; ders., JZ 1993, 657 f.; Saliger, ZStW 112 (2000), 574 ff.; Schäfer, JR 2009, 289; Schäfer, JR 2009, 289; Tiedemann, in: LK11 (Fn. 70), § 263 Rdn. 168 ff.; Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 131 ff.
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rungen des Schuldners gegen Dritte ausfallen oder der Schuldner aus sonstigen ähnlichen Gründen in finanzielle Schwierigkeiten gerät, sind kreditgeschäftsimmanente Risiken. Sie sind irrelevant, auch wenn der für die Kreditvergabe Verantwortliche seine vertrags-, satzungs- oder gesetzmäßig festgelegten Befugnisse überschritten hat. Die Beurteilung ändert sich aber grundlegend, wenn der für die Kreditvergabe Verantwortliche im Zeitpunkt der Auszahlung des Kredits sich der Möglichkeit bewusst ist, dass die Rückzahlung des Kredits konkret gefährdet ist, weil der Schuldner keine hinreichenden Sicherheiten bieten kann oder weil seine Vermögenslage desolat ist und auch keine konkreten, rationalen nachvollziehbaren Gründe für eine Besserung der Vermögenslage sprechen. In dieser Situation schließt die bloße Hoffnung, es werde schon alles gut gehen, einmal müsse eine Besserung der Konjunktur einsetzen o. ä. das Bewusstsein der Schädigung nicht aus.88 VII. Ergebnis Ingeborg Puppes Hinweis, dass die Bestimmung des Vermögensschadens bei den Vermögensdelikten mit Hilfe der schadensgleichen Vermögensgefährdung zu wesentlichen Konsequenzen beim Vorsatz führt, ist nicht bei Zeiten hinterfragt worden. Ein umständlicher und langwieriger Weg zur zutreffenden Erkenntnis hätte damit vermieden werden können. Auch wenn dieser Erkenntnisprozess bisher nur auf wesentlichen Erkenntnisgewinn bei der Bestimmung des Vermögensschadens deutet, so sollte der hier gewonnene Durchblick doch auch den Blick auf den dolus eventualis klären, und das inhaltsleere, Rechtsunsicherheit begünstigende Merkmal der Billigung aus der Definition des dolus eventualis verbannen. Es ist methodisch und sachlich unbefriedigend, wenn nach der Rechtsprechung des BGH bei Tötungsdelikten der Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Handlungen auf den bedingten Vorsatz grundsätzlich möglich ist,89 bei anderen Rechtsgutsbeeinträchtigungen aber ein „Billigungselement“ gefordert wird. Dass die Indizwirkung der objektiven Gefahr widerlegt ist, wenn feststeht, dass der Täter die Gefahr nicht erkannt oder darauf vertraut hat, der Erfolg werde auf Grund rational nachvollziehbarer Überlegungen nicht eintreten, gilt wiederum für alle vorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen.
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Dazu bereits Otto, JR 2000, 518. Dazu zuletzt BGH StV 2009, 473; BGH NStZ 2009, 629, 630.
Aussteller einer Urkunde und Täter der Falschangabedelikte Von Andreas Ransiek
I. Einführung Den Namen der verehrten Jubilarin verbindet man unweigerlich mit zwei großen strafrechtlichen Themenbereichen: mit Kausalität und objektiver Zurechnung einer- sowie den Urkundendelikten andererseits. So ist es zugegebenermaßen nicht sehr einfallsreich, wenn ich die Überlegungen von Ingeborg Puppe zum strafrechtlichen Begriff der Urkunde und insbesondere zum Aussteller einer Urkunde als Ausgangspunkt zur Beantwortung der Frage wähle, welche Voraussetzungen an die täterschaftliche Verwirklichung der Falschangabedelikte zu stellen sind. Gemeinsamer Nenner dieser Tatbestände, die bunt über das StGB und das Nebenstrafrecht verstreut sind, ist es, dass der Täter über bestimmte Sachverhalte falsche Angaben macht: bspw. in § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO unrichtige oder unvollständige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen, in § 264 Abs. 1 StGB unrichtige oder unvollständige Angaben über subventionserhebliche Tatsachen, in § 264a Abs. 1 StGB unrichtige vorteilhafte Angaben über für den Erwerb von Wertpapieren erhebliche Umstände oder in § 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG falsche Angaben über bestimmte Gründungsvoraussetzungen bei der GmbH. Einigkeit besteht dabei darin, dass unvollständige Angaben ebenfalls unrichtige Angaben sind, soweit in einer Erklärung der Eindruck der Vollständigkeit hervorgerufen wird. Inhaltlich den schon genannten Beispielen entsprechend verlangen andere Tatbestände, dass jemand etwas unwahr darstellt oder unrichtig wiedergibt: etwa der Geschäftsführer die Vermögenslage der Gesellschaft in einer öffentlichen Mitteilung nach § 82 Abs. 2 Nr. 2 GmbHG oder das Mitglied des vertretungsberechtigten Organs einer Kapitalgesellschaft deren Verhältnisse im Jahresabschluss nach § 331 Nr. 1 HGB. Aber auch § 263 StGB kommt in den Blick, da derjenige, der täuscht, falsche Angaben über Tatsachen macht. Es soll also nicht darum gehen, der Jubilarin in irgendeiner Detailfrage der Urkundenfälschung zu widersprechen oder zu versuchen, ihre Überlegungen zu den Urkundendelikten für eine neue Fallvariante weiterzuführen, sondern um etwas Grundsätzlicheres. Aus der Antwort auf die Frage, wer Aussteller einer Urkunde ist, lassen sich Schlussfolgerungen für die beispielhaft genannten Tatbe-
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stände ziehen. Genauer: Rückschlüsse darauf, wer als Täter der Falschangabedelikte anzusehen ist und wer (nur) als Teilnehmer. Die Überlegungen von Ingeborg Puppe führen damit weit über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus. Ich will dabei für mich nicht beanspruchen, die von der Jubilarin immer wieder angemahnte Präzision bei der strafrechtlichen Begriffsbildung und Argumentation auch nur annähernd zu erreichen. Ihre Präzision jedenfalls hat mir geholfen. II. Herstellen einer unechten Urkunde Üblicherweise wird formuliert, dass eine unechte Urkunde dann vorliegt, wenn der aus ihr ersichtliche Aussteller nicht mit dem wirklichen Aussteller identisch ist.1 Als wirklicher Aussteller der Erklärung wird also der Fälscher selbst angesehen, obwohl er – so Ingeborg Puppe – als Erklärender aus der Urkunde gerade nicht erkennbar ist. Man stellt damit zunächst fest, wer der scheinbare Aussteller der Urkunde ist, um sodann in einem zweiten Schritt ihren wirklichen Aussteller zu bestimmen.2 Die Jubilarin hingegen betont, dass die unechte Urkunde in Wahrheit keinen Aussteller habe. Die Prüfung der Echtheit einer Urkunde beschränke sich deshalb auf die Frage, ob der scheinbare Aussteller der wirkliche Aussteller sei oder nicht.3 Überzeugend ist dabei die Annahme, dass man zur Bestimmung der Unechtheit eine Urkunde gar nicht feststellen muss, wer denn ihr „eigentlicher“ Aussteller ist, sondern dass dazu die negative Feststellung ausreicht, dass es sich jedenfalls nicht um eine Erklärung des scheinbaren Ausstellers handelt. Durch die Definition der unechten Urkunde in der Formulierung der h. M. wird deshalb gleich ein wenig versteckt die Erläuterung der Tathandlung des § 267 StGB mitgeliefert: Hersteller der unechten Erklärung ist eben der Fälscher, derjenige, der sie tatsächlich in die Welt setzt, obwohl er seinerseits gerade nicht als Aussteller der Urkunde erscheint. Der „tatsächliche Aussteller“ ist also der „Hersteller“, derjenige, der die Urkunde hervorbringt, die den unrichtigen Anschein erweckt, vom erkennbaren Aussteller herzurühren.4 Stellt man somit fest, wer denn der wirkliche Aussteller einer Erklärung ist, weiß man bereits, dass diese Person die Tathandlung begangen hat und Täter des § 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB ist. 1 Siehe NK3-Puppe, 2010, § 267 Rn. 79 mit Hinweis auf BGHSt 1, 118, 121; 33, 159; LK11-Gribbohm, 2005, § 267 Rn. 160; Schönke/Schröder27-Cramer/Heine, StGB, 2006, § 267 Rn. 48; Otto, Strafrecht BT7, 2005, § 70 Rn. 32; Maiwald, in: Maurach/ Schroeder, Strafrecht BT 29, 2005, § 65 Rn. 46. Siehe auch Küper, Strafrecht BT7, 2008, S. 335 f. m.w. N. 2 Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 79. 3 Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 79 f.; dies., Jura 1986, 25 f.; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 133, 2009, Rn. 821: Urkunde rührt nicht von demjenigen her, der aus ihr als Aussteller hervorgeht. 4 Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 267 Rn. 17.
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Dabei soll es – jedenfalls nach inzwischen wohl einhelliger Meinung – nicht entscheidend darauf ankommen, wer die Urkunde körperlich herstellt.5 Wirklicher und nicht nur scheinbarer Aussteller der Urkunde kann vielmehr auch derjenige sein, der die Erklärung nicht selbst körperlich erstellt hat. Entscheidend soll für die Bestimmung des Ausstellers vielmehr sein, von wem die Urkunde „geistig herrührt“6 oder wem sie „geistig zuzurechnen“ sei.7 Zu Recht kritisiert Puppe, dass mit dieser Definition gar nicht gesagt wird, was überhaupt gemeint ist,8 oder schärfer: Wörtlich genommen ist die Begriffsbildung falsch und wird wohl auch von niemandem im eigentlichen Wortsinn verstanden.9 Denn darauf, von wem eine Erklärung geistig herrührt, wessen Geistesprodukt oder Schöpfung sie ist, kommt es im Rechtsverkehr nicht an, wenn es um den Schutz von Vertrauen in die Echtheit von Erklärungen geht.10 So ist bei einer Prüfungsarbeit nicht derjenige Aussteller, der den Kandidaten unzulässigerweise „geistig“ dadurch unterstützt, dass er die Prüfungsleistung inhaltlich ersinnt und sie damit „in Wahrheit“ erbringt,11 sondern Aussteller ist derjenige, der die inhaltlich von einem anderen stammende Erklärung durch die Unterzeichnung mit seinem Namen als seine Prüfungsarbeit in den Rechtsverkehr gibt. Dementsprechend geben umgekehrt diejenigen, die die Prüfungsaufgabe inhaltlich lösen, gegenüber dem Prüfungsamt keinerlei Erklärung ab. Die Behauptung des Kandidaten ist unwahr, dass es sich um eine eigenständige Leistung handelt. Es ist aber die Leistung, die derjenige abgibt, der sie im Rechtsverkehr auch als seine eigene gelten lassen will – ihm wird sie durch seine Unterschrift oder Kennziffer zugerechnet. Nur weil es sich um seine Erklärung handelt, kann er für den Täuschungsversuch verantwortlich gemacht werden. Es geht also um die rechtliche Beziehung zwischen Urkunde und Aussteller: Wer steht im Rechtverkehr als Garant hinter einer Erklärung, wer will für sie einstehen und an sie erkennbar gebunden sein, wem ist sie zuzurechnen? Deshalb sind Aussteller einer Vertragsurkunde die Parteien, die den Vertrag unterzeichnen, nicht aber der Rechtsanwalt oder Notar, der ihn inhaltlich ersonnen oder
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Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 62; Lackner/Kühl (Fn. 4), § 267 Rn. 14. BGHSt 13, 382, 385; Erb, in: Münchner Kommentar zum StGB, 2006, § 267 Rn. 124 f.; Gribbohm (Fn. 1), § 267 Rn. 29; Cramer/Heine (Fn. 1), § 267 Rn. 55; Wessels/Hettinger (Fn. 3), Rn. 801. 7 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 267 Rn. 14. 8 Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 64. 9 Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 63. 10 Wessels/Hettinger (Fn. 3), Rn. 801; Lackner/Kühl (Fn. 4), § 267 Rn. 14. Auch der Begriff „materielle Urheberlehre“ ist eher irreführend. 11 BayObLG NJW 1981, 772; Wessels/Hettinger (Fn. 3), Rn. 801; Lackner/Kühl (Fn. 4), § 267 Rn. 14; Kindhäuser, Strafrecht BT I4, 2009, § 55 Rn. 12 f.; siehe aber auch LG Dresden NZV 1998, 217 zum Aussteller eines polizeilichen Vernehmungsprotokolls. 6
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formuliert hat.12 Rechtlich gebunden werden allein die Parteien durch ihre Unterschrift – die Erklärung wird durch die Unterschrift zu ihrer Erklärung. Allein die Unterzeichnenden sind Aussteller. Derjenige, der alles geistig ersonnen hat, ist noch nicht einmal Mitaussteller, sondern insofern rechtlich ohne Belang. Deshalb ist auch der Schreibgehilfe nicht Aussteller einer Urkunde.13 Der erklärte Inhalt muss sich als die Ausübung von Rechtsmacht einer bestimmten Person erweisen, die durch diese Erklärung ihre Rechtsverhältnisse gestalten will.14 III. Falsche Angaben und unrichtige Darstellungen im Bilanzstrafrecht Man kann also festhalten, dass für die Urkundendelikte zwar im Detail unterschiedliche Formulierungen gewählt werden und in Sonderfällen Uneinigkeit besteht, wer als Aussteller einer Urkunde anzusehen ist, grundsätzlich jedoch kein Meinungsstreit darüber herrscht, dass zu klären ist, wem eine Erklärung zuzurechnen ist. 1. Bilanzfälschung nach § 331 Nr. 1 HGB Um eine identische Fragestellung geht es fast wie selbstverständlich bei einem Teil der Falschangabedelikte. Zwar werden hier keine Erklärungen abgegeben, die scheinbar von einer anderen Person stammen, sondern tatbestandlich werden inhaltlich unrichtige Angaben erfasst. Trotzdem ist auch hier zu klären, wem diese inhaltlich unrichtigen Angaben zuzurechnen sind, wer also als derjenige anzusehen ist, der die falsche Erklärung abgibt. Nach § 331 Nr. 1 HGB bspw. kann sich täterschaftlich nur strafbar machen, wer als Mitglied des vertretungsberechtigten Organs oder des Aufsichtsrats einer Kapitalgesellschaft die Verhältnisse dieser Gesellschaft im Jahresabschluss – also in Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung – unrichtig wiedergibt oder verschleiert. Zweck dieses Tatbestands ist es, diejenigen vor Gefährdungen ihres Vermögens zu schützen, die aufgrund unrichtiger Informationen insbesondere über die Vermögensverhältnisse der Kapitalgesellschaft für sich nachteilige wirtschaftliche Entscheidungen treffen könnten. Deshalb ist anerkannt, dass der Tatbestand Schutzgesetz nach § 823 Abs. 2 BGB zu Gunsten gegenwärtiger und künftiger Gläubiger der Gesellschaft ist und auch die Gesellschafter in den Schutzbereich einbezogen sind.15 Schon durch die Fassung des Straftatbestands als Sonderdelikt ist dabei vorgegeben, dass der Jahresabschluss der Kapitalgesellschaft als strafrechtlich relevante Erklärung ausschließlich den Organpersonen bzw. Aufsichtsratsmitgliedern 12 13 14 15
Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 63. Wessels/Hettinger (Fn. 3), Rn. 801. Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 77. Ransiek, in: Achenbach/Ransiek, HWSt2, 2008, VIII 1 Rn. 20, 40 m.w. N.
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zugerechnet werden kann, da alle anderen Personen als Täter ausscheiden. Die Organpersonen wiederum geben die Erklärung nach der Konzeption des Bilanzrechts für die von ihnen vertretene Gesellschaft ab. Nach § 325 Abs. 1 HGB haben die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften den Jahresabschluss für diese beim Betreiber des elektronischen Bundesanzeigers elektronisch zur Offenlegung einzureichen. Aus § 328 Abs. 1 HGB ergibt sich, dass eine Veröffentlichung oder Vervielfältigung zusätzlich in anderer Form aufgrund des Gesellschaftsvertrags oder aufgrund der Satzung vorgesehen sein kann. In beiden Konstellationen wird der Zusammenhang mit dem Schutzzweck der Norm deutlich: Mit der Veröffentlichung eines unrichtigen Jahresabschlusses werden die Interessen unbestimmt vieler Außenstehender gefährdet, da sie nunmehr Vermögensdispositionen auf der unrichtigen Informationsgrundlage treffen könnten. Dass es sich um eine Erklärung der Organpersonen handelt, ist auch für die Phase der Entstehung des Jahresabschlusses vor seiner Einreichung zur Offenlegung deutlich: Bei der Aktiengesellschaft etwa hat der Vorstand den Jahresabschluss und Lagebericht nach § 170 Abs. 1 AktG unverzüglich nach ihrer Aufstellung dem Aufsichtsrat vorzulegen und nach § 170 Abs. 2 AktG den Vorschlag zu unterbreiten, den er auch in der Hauptversammlung für die Verwendung des Bilanzgewinns machen will. Das verdeutlicht, dass auch insofern der Jahresabschluss nach seiner Aufstellung als Erklärung des Vorstands an den Aufsichtsrat angesehen wird, dem Vorstand der Jahresabschluss also zugerechnet wird. Den aufgestellten Jahresabschluss hat der Aufsichtsrat nach § 171 AktG zu prüfen, wobei er am Schluss seines Berichts zu erklären hat, ob nach dem abschließenden Ergebnis seiner Prüfung Einwendungen zu erheben sind und ob der vom Vorstand aufgestellte Jahresabschluss gebilligt wird (§ 171 Abs. 2 S. 4 AktG). Nach § 172 AktG ist der Jahresabschluss festgestellt, wenn der Aufsichtsrat ihn billigt und nicht gemeinsam mit dem Vorstand beschließt, die Feststellung der Hauptversammlung zu überlassen. Geschieht Letzteres nicht, wird der Jahresabschluss also mit der Feststellung auch zur Erklärung des Aufsichtsrats. Lässt man einmal den Sonderfall beiseite, dass die Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung erfolgt,16 ist deutlich, dass der Jahresabschluss im 16 Für diesen Fall kann man die Mitglieder der Hauptversammlung als Aussteller des Jahresabschlusses ansehen. Dass hier allerdings die Regeln der Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB prozessual sehr schnell an ihre Grenzen stoßen würden, wenn man beweisen wollte, dass die Hauptversammlung vorsätzlich einen unrichtigen Jahresabschluss festgestellt habe und ihren Mitgliedern die falsche Erklärung gemeinsam zuzurechnen sei, liegt bei einer Publikumsgesellschaft geradezu auf der Hand. Es wäre also sinnlos, die Mitglieder der Hauptversammlung mit Strafe zu bedrohen. Zudem bleibt der Vorstand verantwortlich: Nach § 325 Abs. 1 HGB hat er den festgestellten Jahresabschluss einzureichen. Die Verantwortung der Aufsichtsratsmitglieder für einen von der Hauptversammlung festgestellten Jahresabschluss lässt sich über § 13 Abs. 1 StGB begründen: Die Mitglieder des Aufsichtsrats haben zu verhindern, dass sich Gefahren für andere, die aus dem unrichtigen Abschluss entstehen, verwirklichen.
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gesamten Verlauf seiner Entstehung als Erklärung der Organpersonen für die Aktiengesellschaft angesehen wird. Aus § 42a Abs. 1 GmbHG ergibt sich das Gleiche für die GmbH. Die Geschäftsführer haben den Jahresabschluss aufzustellen und zum Zwecke der Feststellung den Gesellschaftern vorzulegen. Vergleicht man das mit den Urkundendelikten, so ist hier natürlich schon durch die Fassung des Straftatbestands selbst klargestellt, wer nicht als derjenige angesehen wird, der etwas erklärt oder Angaben macht. Das Ergebnis ist aber identisch: Es handelt sich nicht um eine Erklärung derjenigen, die den Jahresabschluss tatsächlich erstellen, die den Skripturakt vornehmen und die einzelnen, vielleicht streitigen oder problematischen Buchungen und Bewertungen im Verlauf des Geschäftsjahres durchführen, die schließlich Eingang in den Jahresabschluss finden. Obwohl sie inhaltlich, „geistig“ den Jahresabschluss bestimmen, handelt es sich nicht um ihre Erklärung, sondern um die der Organpersonen. Es geht also auch hier nicht darum, wer inhaltlich eine Erklärung ersonnen hat, sondern wem sie zuzurechnen ist. Die Parallele zu den Urkundendelikten ist offenkundig: Vor Aufstellung des Jahresabschlusses durch den Vorstand handelt es sich um einen bloß internen Urkundenentwurf. Erst mit seiner Aufstellung bekommt dieser Entwurf rechtliche Relevanz, da er die Grundlage der Prüfung durch den Aufsichtsrat ist. Oder in den Worten von Ingeborg Puppe: Derjenige, der den Skripturakt vornimmt, durch den ein Urkundenentwurf in eine Urkunde verwandelt wird, ist Aussteller der Urkunde. Das ist der Normalfall, dass der von einer Erklärung inhaltlich Betroffene diese eigenhändig unterschreibt, wobei für diesen Fall die Bestimmung des Ausstellers schon nach der Körperlichkeitstheorie richtig ist.17 Selbst wenn ein Buchhalter im Verlauf des Geschäftsjahres wissentlich unrichtige Buchungen vorgenommen hat, die dann in den Jahresabschluss einfließen, wird dieser rechtlich gleichwohl nicht als seine Erklärung angesehen. Wäre § 331 HGB freilich nicht als Sonderdelikt, sondern als Allgemeindelikt ausgestaltet, wäre das teilweise anders. Über § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB könnte man den vorsätzlich handelnden Buchhalter jedenfalls dann als mittelbaren Täter der unrichtigen Erklärung ansehen, wenn er den gutgläubigen Vorstand über die Richtigkeit des Jahresabschlusses täuscht – er ist dann der „eigentliche“ Aussteller, weil nur er die Unrichtigkeit erkennt und das Geschehen dadurch steuert, dass er die „erkennbaren“ Aussteller als seine Werkzeuge einsetzt.
17 Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 62 unter Hinweis auf Frank, Kommentar zum StGB, 1931, S. 620.
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2. Geschäftslagetäuschung nach § 82 Abs. 2 Nr. 2 GmbHG Das Gleiche gilt bspw. für § 82 Abs. 2 Nr. 2 GmbHG. Handelt es sich bei der unrichtigen öffentlichen Mitteilung über die Vermögenslage der GmbH um eine schriftliche Erklärung, ist irrelevant, wer diese Erklärung faktisch erstellt oder vorbereitet hat. Entscheidend ist allein, dass sie inhaltlich dem Geschäftsführer der GmbH als dessen Erklärung zugerechnet wird und somit als eine Erklärung gilt, die wegen des Amtes des Erklärenden verbindlich für die GmbH abgegeben worden ist. Aus diesem Grund kann auch eine anonyme Erklärung für die GmbH nicht tatbestandsmäßig sein. Wie bei den Urkundendelikten bei anonymen Erklärungen kein Vertrauen des Rechtsverkehrs in einen hinter der Erklärung stehenden Aussteller gegeben sein kann, kann hier kein schutzwürdiges Vertrauen des Geschäftsverkehrs in die Richtigkeit einer Erklärung für die GmbH entstehen, wenn der Geschäftsführer nicht als Urheber erkennbar ist.18 Und ebenso wie bei den Urkundendelikten muss der Geschäftsführer die Erklärung nicht „körperlich“ selbst abgeben: So reicht es etwa, wenn er sich zur Veröffentlichung unrichtiger Angaben der Presse bedient, solange er als ihr Urheber erkennbar ist.19 3. Verletzung der Berichtspflicht nach § 332 HGB Auch bei der strafbaren Verletzung der Berichtspflicht nach § 332 HGB ist es dann folgerichtig, dass Täter nur sein kann, wer für den Bericht oder Teile des Berichts verantwortlich ist. Zwar ist nicht nur der nach § 318 HGB bestellte Prüfer selbst, sondern auch sein Prüfungsgehilfe tauglicher Täter nach § 332 HGB. Einigkeit besteht aber, dass bloße Schreib- oder Hilfskräfte trotzdem nicht als Täter infrage kommen.20 Denn zuzurechnen ist der Prüfungsbericht nicht dem Gehilfen, sondern dem Prüfer – es ist seine Erklärung. Das ist nur dann anders, wenn auch der Prüfungsgehilfe den Bericht unterzeichnet und dadurch deutlich macht, dass auch er für dessen Richtigkeit einstehen und ihn als eigene Erklärung gelten lassen will. Weil der Prüfungsgehilfe selbst als tauglicher Täter im Straftatbestand genannt wird, ergibt sich eine weitere Ausnahme: Ist der Prüfungsgehilfe im Gegensatz zum Prüfer derjenige, der die Unrichtigkeit des Berichts erkennt, kommt er als mittelbarer Täter in Betracht. Dem Gehilfen ist dann die Erklärung des unwissenden Prüfers zuzurechnen. Tatsächlich ist er dann Aussteller der falschen Erklärung.
18 Ransiek, in: Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2008, § 82 Rn. 130; a. A. Geilen, in: Kölner Kommentar z. AktG1, 1985, § 400 Rn. 17. 19 Ransiek (Fn. 18), § 82 GmbHG Rn. 133. 20 Geilen (Fn. 18), § 403 Rn. 16 ff.; Dannecker, in: Ulmer, HGB-Bilanzrecht, 2002, § 332 HGB Rn. 18.
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IV. Falsche Angaben im Steuerstrafrecht 1. Steuerpflichtiger, Bote und Sekretärin Die bisherigen Überlegungen lassen sich für das Steuerstrafrecht fortführen. Auch bei einem Allgemeindelikt21 ist nicht schon immer derjenige Täter nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, dem Herrschaft über die Herbeiführung des (Steuerverkürzungs-)Erfolgs zukommt, sondern nur die Person, der die Angaben inhaltlich (zumindest auch) als eigene zuzurechnen sind. Das aber ist nur dann der Fall, wenn jemand die Erklärung als eigene abgibt – entweder offen als tatsächlicher und gleichzeitig auch erkennbarer Erklärender (echter Aussteller), verdeckt als tatsächlich Erklärender für einen scheinbar anderen Aussteller (unechte Erklärung) sowie als tatsächlich den Inhalt einer Erklärung Steuernder, die von jemandem abgeben wird, der sie in Bezug auf den Inhalt nicht verantwortlich abgibt (Erklärung in mittelbarer Täterschaft).22 Dass es auch bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO um die Zurechnung von Erklärungen geht, lässt sich schon durch ein einfaches Beispiel belegen. Unmittelbare Täterschaft liegt sicher dann vor, wenn der Täter selbst die unrichtigen oder unvollständigen Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen körperlich erstellt – etwa sein Steuererklärungsformular ausfüllt –, diese Erklärung eigenhändig unterschreibt und sie sodann als „seine“ Erklärung der Finanzbehörde zugänglich macht. Wäre das anders, bliebe niemand übrig, der § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO täterschaftlich verwirklichen könnte. Für die Bejahung der Täterschaft ist dabei entscheidend, dass der Täter die Angaben inhaltlich bestimmt, die im weiteren Verlauf so in den Rechtsverkehr gelangen, dass sie ihm als Urheber zugerechnet werden können. Durch die Unterschrift wird deutlich, dass der Unterzeichnende für sie einstehen will. Dann ist dem Täter die Erklärung o.w. zuzurechen: Im Rechtsverkehr nach außen erscheint er als Erklärender und inhaltlich handelt es sich auch tatsächlich um seine Erklärung. Dann aber kann es aber zur Bejahung der Tathandlung nicht ausreichen, dass jemand eine falsche Erklärung eines Dritten nur tatsächlich dem Empfänger (körperlich) überbringt und so zugänglich macht. So ist der Bote, der die unrichtige Angaben enthaltende und von diesem erstellte und vorschriftsmäßig unterschriebene Einkommensteuererklärung seines Chefs in den Briefkasten des Finanzamts wirft, schon durch die Kennzeichnung als Bote auch dann nicht derje21 BGH NJW 2003, 2924; BGHSt 38, 37, 41; BGH NJW 1990, 80; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht7, 2009, § 370 AO Rn. 19; Hellmann, in: Hepp/ Hübschmann/Spitaler, AO, § 370 Rn. 207; Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, Stand 43. Lief. 2010, § 370 AO Rn. 91; Jäger, NStZ 2007, 688, 691. 22 Diese letzte Konstellation wird nicht durch § 267 Abs. 1 StGB erfasst: Dort geht es um unechte, nicht um unrichtige Erklärungen. Jemandem ist eine Erklärung auch dann als eigene zurechenbar, wenn er über den Inhalt irrt. Siehe Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 71.
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nige, der falsche Angaben macht, wenn er weiß, dass sein Chef die Höhe seiner Einkünfte unrichtig erklärt hat. Die Begründung dieses Ergebnisses folgt allerdings nicht daraus, dass der Bote doch nur etwas Unwesentliches tut. Denn nicht der Chef, sondern erst der Bote gibt die Erklärung in den Rechtsverkehr. Ohne Zugang bei der Behörde kann sich aber das Risiko der falschen Angaben nicht verwirklichen und nicht zu einem Steuerverkürzungserfolg führen. Ob also die unrichtige Steuererklärung der Behörde (hier und jetzt) zugeht oder nicht, entscheidet der Bote bei deren Abgabe, nicht aber der Urheber der Erklärung. Ebenso wenig ist es für die Verantwortung wegen eines Tötungsdelikts unerheblich, von welcher Person dem Opfer das Gift verabreicht wird, das dieser Person zu eben diesem Zweck von einem anderen übergeben wurde. Wie auch sonst ist es dabei zudem unerheblich, wenn ohne den Boten hypothetisch eine andere Person gehandelt hätte, also bspw. der Arbeitgeber die Erklärung selbst in den Briefkasten des Finanzamts eingeworfen hätte. Unproblematisch lässt sich damit dem Urheber der Steuererklärung dieser Teil des Tatgeschehens nur dann zurechnen, wenn der Bote die Erklärung in Unkenntnis ihrer Unrichtigkeit überbringt – dann ist der Bote Werkzeug nach § 25 Abs. 1 Alt. 2 in Bezug auf die Abgabe der Erklärung.23 Der Bote tut also durchaus etwas für die Herbeiführung des Steuerhinterziehungserfolgs Wesentliches. Trotzdem kann man den Boten nicht als (Mit-)Täter ansehen. Denn er macht gegenüber der Finanzbehörde keinerlei eigene Angaben. Das Zivilrecht gibt die Lösung vor: Der Bote überbringt eine für ihn fremde Erklärung und ist gerade nicht Vertreter, der eine eigene Willenserklärung abgibt. Zugerechnet werden die Angaben deshalb allein dem Arbeitgeber. Die Beziehung zwischen Erklärung und Erklärendem ist insofern also auch hier eine rechtliche Beziehung, die nicht durch eine tatsächliche Beziehung – die Abgabe der Erklärung – ersetzt werden kann.24 Es geht um die Bestimmung des Urhebers einer Erklärung, um denjenigen, der die Garantie für die Erklärung übernimmt – und das ist hier ausschließlich derjenige, den die steuerlichen Angaben inhaltlich betreffen. Deshalb ist auch der Drucker eines Prospekts nicht derjenige, der im Prospekt falsche Angaben über eine Kapitalanlage i. S. des § 264a StGB macht, sondern derjenige, der über den Inhalt des Prospektes entscheidet.25 Daraus folgt auch, dass die Sekretärin nicht (Mit-)Täterin des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ist, wenn sie auf Anweisung ihres Chefs dessen Steuererklärungsformular wissentlich unrichtig ausfüllt, das dieser dann unterschreibt und bei der Finanzbehörde einreicht. Auch sie macht in ihrer Person keine Angaben – der In23 Zur Zurechnung über § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB bzw. über den Gedanken des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in den anderen Fällen siehe Ransiek, in: Kohlmann (Fn. 21), § 370 AO Rn. 112.5 f. 24 Vgl. Puppe (Fn. 1), § 267 Rn. 64. 25 Siehe Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 57.
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halt der Erklärung wird ihr im Rechtsverkehr nicht zugerechnet. Zu einer rechtlich verbindlichen Erklärung wird die Steuererklärung vielmehr erst dann, wenn sie durch die Unterschrift des Steuerpflichtigen zur Urkunde gemacht wird. Die Entscheidungsmacht über den Inhalt der Erklärung kommt demjenigen zu, der sie durch seine Unterschrift als seine Erklärung kennzeichnet, für die er deshalb im Rechtsverkehr die Garantie übernehmen will und muss. Es geht also auch bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht darum, wer die falschen Angaben körperlich erstellt, sondern um die Frage, wer die Erklärung als seine Erklärung in den Rechtsverkehr gibt. Auch das entspricht den Urkundendelikten: Rechtlich wird die unrichtige Erklärung, die die Sekretärin entworfen hat, durch die Unterschrift zur Erklärung ihres Chefs. Die einen notariellen Vertrag unterzeichnenden Personen geben Erklärungen im Vertrag ab, nicht (auch) der Notar, der die einzelnen Vertragsregelungen erdacht hat. Übernimmt jemand durch seine Unterschrift eine Erklärung nach außen als eigene, macht allein der Unterzeichnende Angaben, wenn er nicht als Werkzeug des Täuschenden eingesetzt wird, etwa durch Täuschung.26 Handelt es sich somit um Angaben, die der Sekretärin gar nicht als Urheberin zugerechnet werden, ist sie auch nicht Mittäterin nach § 25 Abs. 2 StGB: Denn das setzt voraus, dass es sich zwar nicht allein um ihre, aber doch auch um ihre Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen handelt, die sie nämlich gemeinsam mit einem anderen abgibt. Ist die unmittelbare Täterschaft dadurch gekennzeichnet, dass der Erklärende als Urheber der unrichtigen oder unvollständigen Angaben anzusehen ist, muss bei der Mittäterschaft die unrichtige oder unvollständige Erklärung auch eine solche der Mittäter sein – nur dann ist sie eine gemeinschaftliche Erklärung. Das Ausfüllen der Erklärung ist damit allenfalls Beihilfe zur Steuerhinterziehung desjenigen, der falsche Angaben abgibt. Mittäterschaft liegt nur vor, wenn jeder Mittäter für sich falsche Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen macht, die zusammen mit den Falschangaben des jeweils anderen den Tatbestandserfolg herbeiführen sollen oder eine Person gemeinsam mit einer anderen als Urheber einer einzigen Erklärung anzusehen ist. Dementsprechend geht der BGH bei anderen Äußerungsdelikten – bei der Aufforderung zu Straftaten und bei der Billigung von Straftaten bzw. bei der Werbung für eine terroristische Vereinigung nach §§ 111 Abs. 1, 140 Nr. 2, 129a Abs. 1 Nr. 3 StGB a. F. – zutreffend davon aus, dass Täter nur sein kann, wer den jeweiligen strafbaren Inhalt der Veröffentlichung als eigene Meinungsäußerung mitträgt und mittragen will.27 Täter ist also nur, wer für den Inhalt und die Veröffentlichung der tatbestandserheblichen Äußerungen verantwortlich ist.
26 27
Zu diesem Fall sogleich bei Fn. 28. BGHSt 36, 363, 366, 367 f., 370.
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Das bedeutet umgekehrt allerdings nicht, dass nur derjenige unmittelbarer Täter einer Steuerhinterziehung sein kann, der die Erklärung mit seinem eigenen Namen unterzeichnet oder der sich sonst als Urheber nach außen zu erkennen gibt.28 Fertigt jemand eine unechte Erklärung an, indem er vorgibt, dass die tatsächlich von ihm stammende Erklärung scheinbar von jemand anderem herrührt, und reicht er diese Fälschung ein, begeht er die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO in eigener Person – er ist dann tatsächlicher Aussteller der nur scheinbar von einem anderen stammenden Erklärung.29 Das trifft z. B. auf den Finanzbeamten zu, der steuerpflichtige Personen erfindet, um so Steuererstattungen zu erlangen,30 oder auf denjenigen, der die Existenz eines Unternehmens vortäuscht, um Vorsteuer ziehen zu können31. Und auch bei der mittelbaren Täterschaft ist die Person, die die Angaben steuert, nicht erkennbar: Fertigt die Sekretärin bewusst eine unrichtige Steuererklärung an, die ihr Chef gutgläubig unterzeichnet und einreicht, ist sie diejenige, die durch ein gutgläubiges Werkzeug die falsche Erklärung abgibt: Der unrichtige Inhalt ist ihr als Urheberin zuzurechnen, weil sie diesen Inhalt bestimmt; nur scheinbar ist der Unterzeichnende derjenige, der für den Inhalt einsteht.32 2. Strafbarkeit des Ehegatten als Mittäter für falsche Angaben des Partners nach § 25 Abs. 2 StGB? Die Überlegungen zur mittäterschaftlichen Verantwortung bei gemeinsamer Abgabe von Erklärungen sind auch in der Rechtsprechung anerkannt, soweit es um unrichtige Angaben geht, die ein Ehegatte mit Wissen des anderen in der gemeinschaftlichen Einkommensteuererklärung macht. Unproblematisch liegt Mittäterschaft i. S. des § 25 Abs. 2 StGB vor, wenn vorsätzlich unrichtige Angaben über Einkünfte gemacht werden, die beide Ehegatten betreffen, etwa bei einer Mitunternehmerschaft, oder wenn falsche Angaben darüber gemacht werden, dass die Ehegatten nicht dauernd getrennt leben. Hier sind beide Ehegatten gemeinsam Urheber der Erklärungen, die beide betreffen. 28
Siehe auch BGH NJW 2005, 2720. Vgl. BGH NStZ 1990, 80. Der BGH geht in dieser Entscheidung davon aus, dass ein Ehemann eine Umsatzsteuer- und Lohnsteuerhinterziehung zugunsten seiner Ehefrau begeht. Das ist zutreffend, wenn der Ehemann ohne Einverständnis seiner Ehefrau für sie Erklärungen abgibt und in ihrem Namen unterschreibt. Daneben liegt dann Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB vor. War die Ehefrau mit diesem Vorgehen einverstanden, ist allerdings fraglich, ob nicht eine verdeckte Stellvertretung vorlag, so dass die Ehefrau selbst unrichtige Angaben machen würde, ihr Mann hingegen nur „Schreibhilfe“ wäre. Zur Problematik der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB vgl. Puppe, NStZ 1989, 314. 30 BGHSt 51, 356; BFHE 211, 19. 31 BGHSt 40, 109; BGHSt 36, 100. 32 Siehe BGH wistra 2003, 266; wistra 2007, 224; Ransiek, in: Kohlmann (Fn. 21), § 370 AO Rn. 111. 29
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Dagegen geht die Rechtsprechung zu Recht davon aus, dass die bloße Mitunterzeichnung der gemeinsamen Steuererklärung durch einen „mitwissenden“ Ehegatten für die Bejahung mittäterschaftlicher Steuerhinterziehung nicht ausreicht33, wenn die Falschangaben nur die Einkünfte des Ehepartners, nicht aber die eigenen betreffen.34 Würde man allein Tatherrschaftskriterien zur Klärung dieser Frage anwenden, müsste das Ergebnis allerdings anders ausfallen: Denn bei der Zusammenveranlagung nach § 26b EStG bestimmt der die gemeinsame Steuererklärung mitunterzeichnende Ehegatte das „Ob“ der Tat. Eine Zusammenveranlagung kann bei Verweigerung der Unterschrift durch den Ehegatten gar nicht durchgeführt werden, weil die gemeinsame Einkommensteuererklärung nach § 25 Abs. 3 S. 5 EStG von beiden Ehegatten eigenhändig zu unterschreiben ist. Wird also die Unterschrift vom Mitwisser verweigert, kann der Verkürzungserfolg so nicht eintreten. Die Möglichkeit, die Tatbegehung verhindern zu können, reicht aber nicht aus, um den Ehegatten, den die Angaben inhaltlich nicht betreffen, zum Urheber der Erklärungen des Partners zu machen. Durch die bloße Unterschrift wird der Ehegatte nicht zum „Aussteller“ der Erklärung, die inhaltlich den anderen betrifft, da im Rechtsverkehr nicht erwartet wird, dass der Ehegatte für ihn nicht betreffende Angaben inhaltlich einstehen will – die Angaben werden ihm nicht als Urheber zugerechnet. Mittäterschaft scheidet deshalb notwendig auch dann aus, wenn der Ehegatte selbst ein besonderes eigenes Interesse an der Tat hat – darum geht es gar nicht.35 Der BFH formuliert zutreffend: „Das bloße Mitunterzeichnen der Steuererklärung, zu der der andere Ehegatte bei der Zusammenveranlagung verpflichtet ist, begründet noch keine Mitverantwortung des mitunterzeichnenden Ehegatten für die unrichtige Erklärung der Einkünfte des anderen Ehegatten [. . .] Aus der gemeinsamen Unterzeichnung lässt sich nicht folgern, dass alle Angaben auch von beiden Ehegatten mitgetragen werden [. . .] Denn ein Ehegatte macht Angaben nur zu dem Sachverhalt, der seiner Wissenssphäre zuzurechnen ist.“36 Mit der so jeweils zu unterscheidenden Wissenssphäre korrespondiert der Erklärungsgehalt 33 So die h. M. in der Literatur: Reinisch, DStR 1965, 589; Joecks (Fn. 21), § 370 AO Rn. 249; ebenso Hellmann (Fn. 21), § 370 AO Rn. 80; a. A. Reichle, wistra 1998, 91; Rolletschke, DStZ 1999, 216. 34 BFH NJW 2002, 2495: Die Ehegatten hatten gemeinsame Einkommensteuererklärungen abgegeben, in denen allein der Ehemann vorsätzlich Einkünfte aus Agententätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR verschwiegen hatte. Die Ehefrau hatte in Kenntnis der Unrichtigkeit der Angaben die Steuererklärungen unterschrieben. Das Finanzamt sah die Ehefrau als Mittäterin an und nahm sie für die verkürzten Steuern nach § 71 AO in Haftung. Die Klage der Ehefrau gegen den Haftungsbescheid war erfolgreich. Auch eine Beihilfestrafbarkeit wird abgelehnt, aaO. 2495 f. Die Sicht des BFH teilt das OLG Karlsruhe NJW 2008, 162; siehe auch BFH NJW 2006, 2430. 35 OLG Karlsruhe NJW 2008, 162; a. A. Joecks (Fn. 21), § 370 AO Rn. 249. 36 BFH NJW 2002, 2495, 2496.
Aussteller einer Urkunde und Täter der Falschangabedelikte
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der Unterschrift und damit der Verantwortungsbereich des jeweiligen Ehegatten: Betrifft die Erklärung Einkünfte, die nur von einem Ehegatten erzielt werden, so macht nur derjenige Ehegatte Angaben, der den Tatbestand dieser Einkunftsart verwirklicht. Aber auch dann, wenn die Tatbeiträge des Ehegatten über das bloße Mitunterzeichnen der gemeinsamen Steuererklärung hinausgehen, der Ehegatte den anderen Ehegatten aktiv bei dessen Falschangaben unterstützt, reicht das entgegen der Auffassung der Rechtsprechung für die Annahme von Mittäterschaft nicht aus.37 Denn durch die Unterstützung im Vorfeld entsteht keine Herrschaft über den Inhalt der Erklärungen, die der andere Ehegatte abgibt. Letzterer bleibt alleiniger Urheber der Erklärung. 3. Der steuerliche Berater als( Mit-)Täter nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO Unproblematisch ist der steuerliche Berater Täter einer Steuerhinterziehung, der im eigenen Namen vorsätzlich unrichtige Angaben für seinen Mandanten macht und selbst bei der Finanzbehörde einreicht. Praktisch bedeutsam ist das vor allem in den gesetzlich zulässigen Fällen der Stellvertretung, z. B. bei Umsatzsteuervoranmeldungen oder Lohnsteueranmeldungen.38 Wenn es nach den bisherigen Überlegungen weder bei den Urkunden- noch bei den Falschangabedelikten darum geht, wer eine Erklärung „geistig“ ersonnen oder erdacht hat, sondern wenn entscheidend ist, wer ihr Urheber ist, ergeben sich aber auch Folgerungen für die (mit-)täterschaftliche Verantwortung steuerlicher Berater. Bereitet nicht die Sekretärin die unrichtige Erklärung ihres Arbeitgebers vor, sondern tut dies der beauftragte Steuerberater, macht dieser ebenso wenig Falschangaben wie die Sekretärin, wenn der Mandant die Steuererklärung in Kenntnis ihrer Unrichtigkeit unterzeichnet. Angaben macht allein der Mandant, der sie durch seine Unterschrift rechtlich zu seiner Erklärung macht. Dann aber muss es unerheblich sein, ob sich der Berater (vielleicht besonders trickreich oder geschickt) ausgedacht hat, inwieweit oder in Bezug auf welche steuerlich erheblichen Umstände Falschangaben von seinem Mandanten gemacht werden sollen. Es ist unerheblich, ob er falsche Angaben für Sachverhalte vorschlägt, deren tatsächlicher Hintergrund sich am ehesten verschleiern lässt, die durch die Finanzbehörden am schwierigsten aufzudecken sind oder die am wenigsten auffallen. All das mag mitentscheidend für den Entschluss des Steuerpflichtigen sein, überhaupt falsche Angaben zu machen, und damit für die Herbeiführung des Taterfolgs. Darum geht es aber nicht: Auch der Bote, der die un37
So der BFH, NJW 2002, 2495, 2496 in einem obiter dictum. Vgl. FG Niedersachsen DStRE 2008, 1353, 1354; BayObLG ZfZ 1960, 343; BGH wistra 1984, 178; OLG Stuttgart, wistra 1987, 263; Dörn, DStZ 1996, 168; ders., NStZ 2002, 189. 38
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richtige Steuererklärung in den Briefkasten des Finanzamts wirft, tut etwas für die Beeinträchtigung des Rechtsguts Entscheidendes – er erklärt jedoch nichts.39 Denn die Gestaltungsempfehlungen im Vorfeld machen den steuerlichen Berater nicht zum (Mit-)Urheber von Erklärungen des Mandanten, die dieser allein für sich abgibt. Ist nicht derjenige Aussteller einer Examensklausur, der sie inhaltlich löst, sondern wer sie als seine Lösung in den Rechtsverkehr gibt,40 ändert sich an diesem Ergebnis nichts, nur weil die Lösung der Aufgabe besonders schwierig war. Geben allein diejenigen, die einen Vertrag unterzeichnen, Erklärungen ab,41 ändert sich daran nichts, wenn das Ersinnen der Vertragsklauseln besonders viel Aufwand erforderte und kompliziert war. Der Notar gibt auch dann keine eigenen Erklärungen ab. Deshalb reicht die Tatsache, dass ein steuerlicher Berater in den Gesamtvorgang der Steuerhinterziehung eingeschaltet ist, entgegen der Rechtsprechung zur Bejahung von Mittäterschaft nicht aus.42 Der Steuerberater hat noch nicht einmal die „Macht“, die dem mitunterzeichnenden Ehegatten zukommt: Er hat keine Möglichkeit, die Tat des Mandanten zu verhindern. Auch dann, wenn der Steuerberater einen der unrichtigen Steuererklärung korrespondierenden Jahresabschluss inhaltlich erstellt, ändert sich nichts: Denn der Jahresabschluss ist ebenfalls keine Erklärung des Beraters, sondern Erklärung derjenigen Personen, die zu ihrer Erstellung verpflichtet sind.43 Der steuerliche Berater, der die Steuererklärung für einen anderen erstellt, kann also weder als unmittelbarer Täter noch als Mittäter seines Mandanten angesehen werden, wenn der Mandant die falsche Erklärung in Kenntnis der Unrichtigkeit unterschreibt und sie damit zu seiner Erklärung macht. Das bloße Ausfüllen reicht wie bei der Urkundenfälschung nicht aus, um die Zurechnung des Erklärten an den steuerlichen Berater zu ermöglichen. Reicht der Auftraggeber die falsche Steuererklärung als „seine“ Erklärung bei der Finanzbehörde ein, ist sie nur ihm zuzurechnen. V. Schluss Aus der Dogmatik der Urkundendelikte ergeben sich Konsequenzen für die Auslegung der Falschangabedelikte: Auch bei ihnen macht nur derjenige unrichtige Angaben, dem eine Erklärung als Urheber zuzurechnen ist. Bei manchen Tatbeständen folgt das schon zwanglos daraus, dass sie als Sonderdelikte ausgestaltet sind. Gleiches gilt aber auch für Allgemeindelikte wie § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Alle anderen Personen kommen als Täter oder Mittäter nicht infrage. 39
Siehe oben bei Fn. 23. Siehe oben bei Fn. 11. 41 Siehe oben bei Fn. 12. 42 Vgl. etwa BGH wistra 1991, 343; wistra 1983, 252; vgl. auch Joecks (Fn. 21), § 370 AO Rn. 242, 76. 43 Siehe oben bei Fn. 16. 40
Strafbarkeit nach §§ 222, 229 StGB durch Rauschgiftüberlassung an freiverantwortlichen Konsumenten Von Detlev Sternberg-Lieben I. Einleitung Die Strafbarkeit desjenigen, der an einer zur Verletzung führenden Selbstgefährdung eines anderen mitwirkt, beschäftigt Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft seit geraumer Zeit. Da auch Ingeborg Puppe sich immer wieder dieser Problematik gewidmet hat,1 hoffe ich, dass mein Beitrag in dieser ihr gewidmeten Festgabe ihr Interesse finden wird. Von der Vielfalt der Fragen, die mit dieser Themenstellung verbunden sind,2 soll in diesem Beitrag nur auf eine spezielle Facette eingegangen werden: Bekanntlich geht die Rechtsprechung3 davon aus, dass derjenige, der lediglich eine eigenverantwortlich bewirkte Selbstverletzung4 fahrlässig veranlasst oder fördert5, hierfür nicht wegen fahrlässiger Tötung bzw. Körperverletzung bestraft werden könne, da er sich auch im Falle vorsätzlicher Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung dieses Erfolges6 nicht strafbar ma1
Vgl. die Nachweise in Fn. 3. Sie reichen von der Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung über eine etwaige Sittenwidrigkeit der Einwilligung des Verletzten bei einer Fremdschädigung bis hin zur Bestimmung der den Täter treffenden Sorgfaltspflichten in Konstellationen, in denen das Opfer sich selbst sehenden Auges in Gefahr gebracht hat. 3 Seit BGHStE 24, 342, 344; 32, 262, 264; zuletzt BGHStE 53, 55, 60; die Lehre ist dem jedenfalls im Ergebnis weitgehend gefolgt (vgl. die Nachweise bei Verf., in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar28, 2010, § 15 Rn. 162). 4 Die Abgrenzung von Fremd- und Selbstgefährdung bzw. -verletzung (so z. B. Verf., Schönke/Schröder28 [Fn. 3], § 15 Rn. 162 m.w. N.) wird von der Jubilarin unter Betonung des für Fahrlässigkeitsdelikte maßgebenden Einheitstäterbegriffs nachdrücklich in Zweifel gezogen (in: Nomos-Kommentar, Strafgesetzbuch3, Bd. 1, 2010, vor §§ 13 ff. Rn. 179; dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Bd. 1, 2002, § 5 Rn. 31 ff.; dies., ZIS 2007, 247, 249; dies., ZJS 2008, 600, 605; dies., GA 2009, 486, 490 ff.); vorliegend fehlt der Raum zu einer angemessenen Auseinandersetzung mit diesem Ansatz. 5 Bspw. durch Überlassen einer Einwegspritze an einen zur Eigenverantwortung noch fähigen Drogenkonsumenten (so die Konstellation von BGHStE 32, 262). 6 Eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstverletzungen unterfällt nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, so dass derjenige, der lediglich den Akt der eigenverantwortlich gewollten und bewirkten Selbstschädigung vorsätzlich veranlasst, ermöglicht oder fördert, an einem Geschehen teilnimmt, 2
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chen würde.7 Demgegenüber kann auch nach der Rechtsprechung8 im Bereich von § 30 I Nr. 3 BtMG der leichtfertig verursachte Tod des Rauschgiftkonsumenten dem Täter strafschärfend zugerechnet werden. Umgekehrt gehen der Bundesgerichtshof9 und ein Teil der Lehre10 davon aus, dass es in entsprechenden Konstellationen im Hinblick auf die kernstrafrechtlichen Regelungen der §§ 222, 229 StGB bei der Straflosigkeit einer Mitwirkung an entsprechenden Selbstverletzungen bleibt. Dieses auch von der Jubilarin11 abgelehnte Ergebnis soll nachfolgend überprüft werden. II. Paternalistische Schranken der Selbstverfügungsfreiheit des Rauschgiftkonsumenten Zunächst einmal gilt es, der Legitimation der §§ 29, 30 BtMG nachzuspüren, da sich hieraus – möglicherweise – eine Einschränkung der Selbstverfügungsfreiheit des Rauschgiftkonsumenten ergeben könnte. Sollte dieser Nachweis nicht gelingen, so wäre infolge des Konsenses des Rauschmittel-Konsumenten eine Strafbarkeit nach §§ 229, 222 StGB von vornherein nur erschwert zu begründen:12 auch nach Auffassung der Rechtsprechung unterfällt die Einwilligung in das – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit kein teilnahmefähiger Vorgang ist (BGHStE 32, 262, 265). 7 Krit. zu dem insoweit herangezogenen Erst-Recht-Schluss von der Straflosigkeit einer Beteiligung an vorsätzlicher Selbstverletzung (z. B. BGHStE 32, 262, 264): Puppe, in: NK3 (Fn. 4), vor §§ 13 ff. Rn. 184 f.; dies., AT 1 (Fn. 4), § 6 Rn. 3; dies., Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 105 ff.; dies., ZIS 2007, 247, 249 f.; dies., GA 2009, 486, 490 ff. 8 BGHStE 37, 179, 181 ff.; 46, 279, 289; zust. Rahlf, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2007, § 30 BtMG Rn. 141 m.w. N. pro und contra. 9 BGHStE 32, 262, 266; 49, 34, 43; NStZ 1985, 319; 2001, 205 f.; offengelassen von BGHStE 37, 179, 181. 10 Duttge, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, § 15 Rn. 152; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2008, § 10 Rn. 17; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil6, 2008, § 4 Rn. 87; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I4, 2006, § 11 Rn. 112; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil, Bd. II9, 2008, § 9 Rn. 25; Vogel, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar12, Bd. 1, 2007, § 15 Rn. 241. 11 Puppe, in: NK3 (Fn. 4), vor §§ 13 ff. Rn. 190; dies., AT 1 (Fn. 4), § 6 Rn. 27; dies., Jura 1998, 21, 30; dies., GA 2009, 486, 494; ebenso im Ergebnis: Hardtung, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, § 222 Rn. 25; Jähnke, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar11, Bd. 5, 2005, § 222 Rn. 11 (Stichwort: Betäubungsmittel); Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 11 Rn. 34; ders., Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar4, 2010, vor § 13 Rn. 134; Köhler, MDR 1992, 739, 741; Kubink, FS Kohlmann, 2003, S. 53, 56; U. Weber, FS Baumann, 1992, S. 43, 53; ders., FS Spendel, 1992, S. 371, 378 ff.; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 60. 12 Der Frage nach der Reichweite einer vom Drogenkonsumenten erklärten „RisikoEinwilligung“ kann hier ebenso wenig nachgegangen werden wie Überlegungen einer Begrenzung der den Drogen-Lieferanten treffenden Sorgfaltspflichten oder Einschrän-
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eine entsprechende Körperverletzung nicht mehr per se dem Verdikt einer Unvereinbarkeit mit den guten Sitten (§ 228 StGB).13 Die Strafvorschriften des BtMG, die den Vertrieb von Rauschgift verbieten, könnten als paternalistische Schutzvorschriften ihre Rechtfertigung finden, als Vorschriften also, die einen mündigen Bürger gegen seinen Willen vor den Gefahren der Rauschgiftsucht bewahren sollen.14 Es kann hier nicht weiter der Frage nachgegangen werden, inwieweit angesichts der Freiheitsvorgabe der Grundrechte schon außerhalb des Strafrechts Zweifel an einer staatlichen Befugnis bestehen, insoweit die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), die auch die Freiheit zum Eingehen gegebenenfalls sich nachteilig auswirkender Risiken abdeckt,15 einzuschränken. Eine Inkriminierung ist in derartigen Fällen jedenfalls nur bei Sozialschädlichkeit des Täterverhaltens (im Sinne einer Rechtsgutsbeeinträchtigung bei Dritten) zulässig. Das Strafrecht hat im Bereich des Individualschutzes nur zu verhindern, dass der Einzelne gegen seinen Willen geschädigt wird; oder in den Worten Roxins: Was mit dem Willen des Geschädigten geschieht, ist keine Rechtsgutsverletzung, sondern Bestandteil seiner Selbstverwirklichung und geht den Staat nichts an.16 Wenn also der sog. starke Paternalismus, der einer Person fremde Wertvorstellungen oder Entscheidungen zu ihrem Wohle aufzwingen will,17 von vornherein auf ganz erhebliche Bedenken stoßen muss,18 so gilt dies nicht für Konstellationen des sog. schwachen Paternalismus, in denen der Betroffene nicht unter die endgültige Entscheidungsmacht Dritter gestellt, sondern vor möglicherweise unüberlegtem Verhalten geschützt werden soll.19 Entsprechende Einschränkungen sind dann zwar als solche durchaus legitimierungsbedürftig, aber eben kung der objektiven Zurechnung (hierzu allg. Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder28 [Fn. 3], vor §§ 32 ff. Rn. 102 ff.). 13 BGHStE 49, 34, 43; zur Verfassungswidrigkeit des § 228 StGB vgl. Verf., in: Schönke/Schröder28 (Fn. 3), § 228 Rn. 2 f. 14 So deutlich Puppe, AT 1 (Fn. 4), § 6 Rn. 27: „Wenn der Gesetzgeber den Vertrieb von Betäubungsmitteln untersagt, geriert er sich paternalistisch, indem er dem Einzelnen gegen seine Willen Vernunft aufzwingt und den anderen (ergänze: den Drogenlieferanten) in gewissen Grenzen zu seinem Vormund macht.“; ebenso in: ZIS 2007, 247, 252; dies., ZJS 2008, 600, 606; dies., GA 2009, 486, 494 f.; dies., in: NK3 (Fn. 4), vor §§ 13 ff. Rn. 189. 15 Siehe Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 15, 2005, Art. 2 Abs. 1 Rn. 124. 16 AT I4 (Fn. 10), § 2 Rn. 32. 17 So läge bspw. im Arzt-Patienten-Verhältnis harter Paternalismus vor, wenn ein ärztlicher Heileingriff auch ohne (informierte) Zustimmung des Patienten unter Hinweis darauf für legitim erklärt würde, der Arzt wisse am Besten, was für seinen Patienten gut sei; eine Einwilligungsschranke bspw. in Form der Vorgabe eines Mindestalters für gravierende irreparable Körpereingriffe (§ 2 I Nr. 3 KastrG) stellt sich demgegenüber als Form von schwachem Paternalismus dar. 18 Hierzu Verf., FS Amelung, 2009, S. 325, 339 ff. (verfassungsrechtlich unzulässige Bevormundung; auch unter dem Blickwinkel eines Schutzes der Menschenwürde ergibt sich nichts anderes: Verf., ebenda, S. 347 ff.). 19 Hierzu Verf., FS Amelung, S. 325, 345 ff.
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auch einer Legitimation zugänglich. Ein Anwendungsfall hierfür bietet der Schutz von Personen, die zu freiverantwortlichen Entscheidungen noch nicht (Jugendschutz) oder nicht mehr20 in der Lage sind. Eine derartige, Schutzmaßnahmen legitimierende Entscheidungsschwäche kann bei minderjährigen Rauschgiftkonsumenten oder hochgradig Suchtabhängigen durchaus vermutet werden; allerdings geht der Regelungsbereich der §§ 29 f. BtMG weit darüber hinaus.21 Es kann nun durchaus sinnvoll (wenngleich nicht zwingend geboten) sein, staatlicherseits die Bedingungen freier Selbstbestimmung in Bezug auf weitreichende, gegebenenfalls irreversible Entscheidungen zu gewährleisten oder zu verbessern. Zulässig ist mithin eine sozialstaatlich motivierte Freiheitsvorsorge, um die materialen Bedingungen einer selbstbestimmten22 Entscheidung sicherzustellen.23 Es geht in derartigen Fällen eines zulässigen schwachen Paternalismus also darum, im Rahmen verhältnismäßiger Eingriffe die Selbstbestimmung des Einzelnen nicht etwa endgültig aufzuheben, sondern die rechtstatsächlichen Voraussetzungen für eine autonome Entscheidung des Betroffenen zu sichern. Aber auch diese legitime Spielart „schwacher“ Bevormundung wird von der pauschalen Regelung der §§ 29 f. BtMG verfehlt, so dass ihre Legitimation nur unter einem anderen, schützenswerte Drittinteressen einbeziehenden Blickwinkel möglich ist. 20 Bspw. Patienten, die sich in der aktuellen Behandlungssituation infolge Bewusstlosigkeit nicht mehr äußern können; vgl. insoweit die kürzliche erfolgte Regelung in §§ 1901a ff. BGB durch das PatVG idF des 3. BetreuungsÄndG vom 29.7.09 (BGBl I 2286); hierzu Eser, in: Schönke/Schröder28 (Fn. 3), vor §§ 211 ff. Rn. 28d. 21 Auch deshalb krit. Paeffgen, FG BGH, Bd. IV, 2000, S. 695, 705; ebenso Roxin, AT I4 (Fn. 10), § 2 Rn. 35. – Allerdings darf der Gesetzgeber schwach paternalistische Regelungen in zulässiger Weise typisieren (vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 192 ff.), also etwa de lege ferenda auch bei hinreichend informierten Patienten die Wirksamkeit ihrer Patientenverfügungen von vorheriger ärztlicher Beratung abhängig machen (im PatVG [Fn. 20] nicht aufgegriffen); fürsorglich aufgestellte „Entscheidungshilfen“ ziehen dann unvermeidbare, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zulässige Freiheitseinbußen bei Individuen ohne Defizite nach sich, vgl. van Aaken, in: Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 69, 135, 139. 22 Erkenntnisse der Verhaltensökonomik sowie der kognitiven Psychologie könnten dafür sprechen, klassische Rationalitätsannahmen infolge kognitiver und voluntativer Schwächen des Entscheidenden in Zweifel zu ziehen, vgl. van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 93 ff.; dies., in: Anderheiden u. a. (Fn. 21), S. 69, 114 ff.; Lorenz, in: Schildmann/Fahr/Vollmann (Hrsg.), Entscheidungen am Lebensende in der modernen Medizin: Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, 2006, S. 179, 189 ff.; ders., Sterbehilfe – Ein Gesetzentwurf, 2008, S. 77 f.; krit. Kahlo, in: Anderheiden u. a. (Fn. 21), S. 259, 262. 23 Die Autonomie des Einzelnen kann auch durch Vernachlässigung materialer Freiheitsbedingungen als Ausübungsbasis eben dieser Selbstbestimmung bedroht sein (Damm, FS Eike Schmidt, 2005, S. 73, 79): Selbstbestimmung lebt von Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen und garantieren kann (Hollerbach, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, 1996, S. 1, 25).
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III. Sozialstaatliche Schranken der Selbstverfügungsfreiheit des Rauschgiftkonsumenten Möglicherweise kann dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG) eine Befugnis zur Beschränkung der „Freiheit zum Risiko“ bzw. zur (mittelbaren) Selbstverletzung entnommen werden, nämlich infolge einer Pflicht des Einzelnen24 zur Rücksichtnahme auf die Solidargemeinschaft, auf deren Hilfe er sich umgekehrt auch verlässt (und nach Art. 1 I, 20 I GG auch verlassen kann25). Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht26 in seiner Entscheidung zur Helmtragepflicht das Recht eines Kraftradfahrers auf Selbstgefährdung für einschränkbar erklärt, da bei den sozialen Sicherungssystemen im Falle der Gefahrenrealisierung finanzielle Lasten bezüglich Versorgung und Betreuung der Geschädigten anfallen könnten. Zur Verstärkung dieses Ansatzes kann auch auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes zum Menschenbild des Grundgesetzes27 verwiesen werden, wonach den Grundrechten nicht ein Menschenbild des isolierten Individuums zugrunde liegt, sondern das Bild eines in die Gemeinschaft gestellten Menschen;28 hierin erfährt das empirische Faktum der gegenseitigen Abhängigkeit der Individuen als Grund und Folge ihrer Eigenschaft als Sozialwesen verfassungsrechtliche Berücksichtigung.29 24 Zur moralischen Begründung einer Gesundheitspflicht des Einzelnen primär durch das Fairness-Argument: Patzig, EthikMed 1 (1989), 3 ff. 25 Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht (NJW 2010, 505, 507 f.) aus Art. 1 I i.V. m. 20 I GG einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hergeleitet, der sich auf diejenigen Mittel erstreckt, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind und das gesamte Existenzminimum gewährleistet (physische Existenz des Menschen i. S. v. Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, aber auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben). 26 BVerfGE 59, 275, 279. 27 Vgl. aber die noch heute gültigen Bedenken, die Badura, JZ 1964, 337, 339 ff., dagegen erhoben hat, in Art. 1 I GG eine Regelung zu sehen, durch die eine bestimmte (philosophisch begründete) Anthropologie zur Basis des Verfassungsrechts erhoben würde; krit. auch Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III: Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, 2009, § 60 Rn. 88. 28 BVerfGE 4, 7, 15 f.; 12, 45, 51; 32, 98, 107; di Fabio, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III: Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, 2006, § 46 Rn. 27 (Leitbild verantwortlicher Grundrechtsausübung). 29 Diese staatliche Schutzpflicht zugunsten verfassungsrechtlich geschützter Güter Dritter oder der Allgemeinheit wurde im übrigen auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 59, 275, 279) zur Legitimation der bußgeldbewehrten Schutzhelmtragepflicht (§ 24 StVG i.V. m. §§ 49a I Nr. 20a, 21a II StVO) herangezogen; es lehnte eine unzulässige Bevormundung des Bürgers mit der Begründung ab, ein Kraftradfahrer, der ohne Schutzhelm fahre und deshalb schwere Kopfverletzungen davontrage, schädige keineswegs nur sich selbst; würde er bei Bewusstsein und damit handlungsfähig bleiben,
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Eine Freiheitseinschränkung infolge des Sozialstaatsprinzips stößt aber schon deshalb auf erhebliche Bedenken,30 weil hierdurch eine Rechtspflicht zum „vernünftigen“ Verhalten statuiert und dem Recht auf autonome Entscheidung über das Eingehen von Risiken der Boden entzogen würde. Der für den Bürger eingerichtete Sozialstaat würde sich als „Bumerang“ für den Bürger erweisen; ihm würde ein Verhalten auferlegt, das den Sozialstaat möglichst nicht in Anspruch zu nehmen bräuchte.31 Dem läge letztlich eine völlig andere Vorstellung des Verhältnisses von Staat und Bürger zugrunde: Grundrechte, die Freiheit nur noch vorbehaltlich des Sozialstaatsgebotes gewährleisteten, würden ihre Aufgabe einer Sicherung individueller Beliebigkeit verlieren; sie wären stattdessen mit relativ beliebig zu setzenden gesellschaftspolitischen Inhalten zu füllen, die letztlich den Einzelnen den Belangen der Allgemeinheit unterordnen würden.32 Würde dem Staat die Befugnis eingeräumt, die gesamte Lebensführung der Bürger in die Pflicht zu nehmen, um vermeidbare Inanspruchnahmen der Solidargemeinschaft auszuschließen, wollte man also an die Stelle der Eigenverantwortung eine Pflicht zur Entfaltung oder zumindest Bewahrung eigener Rechtsgüter, namentlich der Gesundheit, setzen, so würde der vom Grundgesetz garantierte freiheitliche Charakter unserer Gesellschaft angetastet.33 Selbst wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht34 bestimmte Tätigkeiten auf Grund ihrer Sozial- und Gemein-
so könne er vielfach weiteren Schaden (gemeint wohl: bei hilfsbedürftigen sonstigen Unfallopfern) abwenden. Allerdings entfällt eine strafbewehrte Hilfeleistungspflicht (§ 323c StGB), sofern der konkret Hilfeleistungspflichtige sich durch sein Vorverhalten außerstande gesetzt hat, die Hilfe zu erbringen, doch wird man an eine Ordnungswidrigkeit der StVO m. E. einen milderen Maßstab anlegen können, ohne sich dem Vorwurf systematischer Widersprüchlichkeit auszusetzen. Beim Sicherheitsgurt sei auch an Gesundheitsbeeinträchtigungen von Mitfahrern, die durch einen Nichtangeschnallten verletzt werden könnten, zu denken (BVerfG [K] NJW 1987, 180). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht (E 59, 275, 279) auch die unfallbedingten sozialen Folgelasten („Einsatz der Rettungsdienste, ärztliche Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden“) als schützenswerte Allgemeininteressen benannt. 30 Vgl. hierzu Verf., Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 50 ff. 31 Ablehnend deshalb: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 1992, S. 119; K. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 259 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 101, 159 ff.; zweifelnd auch Doehring, Zeidler-FS, Bd. II, 1987, S. 1553, 1557; einschr. Schwab, JZ 1998, 66, 74. 32 So deutlich: Fink (Fn. 31), S. 119. Vgl. auch die (i. Z. m. einem umfassenden Rauchverbot zum Nichtraucherschutz in Gaststätten) ausgesprochene Warnung Masings vor einem „Weg edukatorischer Bevormundung“ (BVerfGE 121, 317, 388 [Minderheitenvotum]). 33 Steiner, NJW 1991, 2729, 2735. 34 Weitergehend das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 1, 48, 52 sowie 92, 94; 7, 125, 139), wonach es zum Inbegriff aller Grundrechte gehöre, dass sie nicht in Anspruch genommen werden dürften, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft
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schaftsschädlichkeit nicht einer Grundrechtsschranke unterfallen, sondern sie von vornherein nicht am Schutz durch das jeweilige Grundrecht teilhaben lassen will,35 so könnte hieraus in vorliegendem Zusammenhang kaum etwas gewonnen werden: Eine entsprechende Ausgrenzung könnte – wenn überhaupt – nur für solche Verhaltensweisen in Betracht gezogen werden, denen nach allgemeiner Überzeugung von vornherein ein ganz erhebliches Maß an Sozialschädlichkeit innewohnt (also etwa bei einem aus Art. 2 I bzw. 12 GG hergeleiteten „Grundrecht“ auf Mord, Kannibalismus oder Menschenhandel). Der Sozialstaat des Grundgesetzes stellt sich sicherlich als ein komplexes Geflecht wechselseitiger Pflichten und Rücksichtnahmen dar, sind in ihm doch Kollektiv- und Individualverantwortung verflochten: In den Systemen der sozialen Sicherung zeigt sich sowohl die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft als auch umgekehrt die Abhängigkeit der Gemeinschaft von ihrer Unterstützung durch den Einzelnen. Dies rechtfertigt aber nicht, die Individualfreiheiten unter ein allumfassendes Gebot der Sozialpflichtigkeit zu stellen. Die Verflochtenheit von Kollektiv- und Individualverantwortung wird deshalb vernünftigerweise im gegenwärtigen Sozialsystem regelmäßig nur bei der Finanzierung, nicht hingegen nachfolgend bei der Leistungserbringung berücksichtigt.36 Mithin sollte in Bezug auf Freiheitseinschränkungen wie folgt differenziert werden: Hinsichtlich der Freiheit zur finanziellen Schaffung einer sozial gesicherten Lebensbasis sind Beschränkungen zulässig, um durch den Zwang zur finanziellen Vorsorge später die Allgemeinheit vor vermeidbarer Inanspruchnahme von steuerfinanzierten Sozialleistungen zu bewahren (Schutz der Allgemeinheit vor mangelnder Eigenvorsorge als insoweit zulässige und verhältnismäßige Beschränkung allgemeiner Handlungsfreiheit aus Gründen des Allgemeinwohls37). Die konkrete Bestimmung dessen, was vom Verfassungsprinzip des Sozialstaates und dem hierdurch auf der normativen Ebene verankerten, vormals nur rechtsethischen Postulat der Solidarität gefordert wird, hängt dann im Übrigen von sozialund gesellschaftspolitischen Überlegungen ab, die dem Gesetzgeber einen erheblichen Gestaltungsspielraum einräumen.38 Demgegenüber besteht keine Legiti-
notwendigen Rechtsgüter gefährdet würden; abl. BVerfGE 32, 98, 108, Merten (Fn. 26), § 60 Rn. 25. 35 BVerfGE 115, 276, 301; 117, 126, 137 (jeweils zu Art. 12 GG); zust. Merten (Fn. 27), § 60 Rn. 26 m.w. N. auch zur Gegenansicht in Fn. 154, sowie Volkmann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III (Fn. 28), § 32 Rn. 42 f.; a. A. Dreier, in: Dreier (Hrsg.) Grundgesetz, Kommentar, Bd. 12, 2004, Vorb. Art. 1 Rn. 120 (unter plausiblem Hinweis auf das Erfordernis, Begründungslasten für staatliche Maßnahmen systematisch abzuarbeiten und dies nicht durch vorschnelles Ausblenden von Grundrechten zu umgehen). 36 Vgl. auch Fn. 44. 37 Siehe BVerfGE 29, 221, 236. 38 Vgl. etwa BVerfGE 40, 121, 133.
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mation dafür, dem Einzelnen zu verwehren, von dieser sozial gesicherten Basis aus sein Leben in Selbstbestimmung auch risikoreich zu gestalten: Der Sozialstaat hebt den Rechtsstaat nicht auf, sondern erweitert ihn um eine weitere Zweckdimension, nämlich um den Schutz der Freiheit in ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen;39 Freiheit darf nicht zu dem Zwecke eingeschränkt werden, dem Eintritt von Lebenslagen gegenzusteuern, in denen das Sozialstaatsprinzip Sozialleistungen gebietet.40 Ein weiterer Umstand steht einer Einschränkung grundrechtlich geschützter Individual-„Freiheit zum Wagnis“ 41 zwecks Minimierung der hieraus resultierenden sozialen Folgelasten in Umsetzung sozialstaatlich gebotener Fürsorge entgegen:42 Aus Gründen des Übermaßverbotes dürfen entsprechende Freiheitseinschränkungen ja nur diejenigen treffen, die auf die Solidargemeinschaft angewiesen sind, da nur insoweit eine Beschränkung der Verhaltensfreiheit zur Entlastung der Allgemeinheit überhaupt erforderlich wäre. Das Sozialstaatsprinzip soll aber gerade den sozial Schwachen durch Gewährleistung sozialer Sicherheit den Freiheitsgebrauch erst möglich machen. Mit dieser den individuellen Freiheitsgebrauch ermöglichenden Funktion des Sozialstaates wären sozialstaatlich begründete Einschränkungen grundrechtlicher Freiheit sozial Schwacher nicht vereinbar. Wenn also eine Freiheitsbetätigung, die auf die Gütersphäre des Grundrechtsträgers beschränkt bleibt, nicht allein aus Gründen des Sozialstaates beschränkt werden darf, so bedeutet dies, dass weder die unmittelbare noch eine mittelbare, durch dritte Hand erfolgende Selbstgefährdung oder -verletzung allein deswegen unterbunden werden darf, um sozialen Folgelasten gegenzusteuern;43 insoweit wäre dann de lege ferenda der Ausschluss von Leistungsansprüchen44 die frei39
Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 18. So auch Nestler, in: Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelrechts, 1998, § 11 Rn. 236, der ebenda in Fn. 550 zu Recht betont, dass die Leistungsfähigkeit des Staates (bzw. der Sozialsysteme) den sozialstaatlichen Verfassungsauftrag und nicht die grundrechtlichen Freiheitsrechte begrenzt (so auch Hillgruber [Fn. 31], S. 99 ff., 161 ff.). 41 Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck5 (Fn. 15), Art. 2 Abs. 1 Rn. 124, der aber die Anschnall- und Helmpflicht auf Grund der gemeinschaftsbelastenden Folgen schwerer Unfälle für verfassungsgemäß hält. 42 Hillgruber (Fn. 31), S. 161; a. A. Schwab, JZ 1998, 66, 73. 43 And. aber BGHStE 38, 339, 344 („Da die Gesellschaft für die negativen Folgen des Drogenmißbrauchs aufzukommen hat, darf sie sich auch gegen deren Ursachen wehren. Ein solcher Präventionszweck darf auch mit Mitteln des Strafrechts verfolgt werden.“). 44 Insoweit sei – mit Axer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht, Bd. IV3, 2006, § 95 Rn. 46 – auf den derzeit allerdings weitgehend (vgl. aber § 52 SGB V) sanktionslosen (Schnapp, DVBl 2004, 1053, 1055 f.) Programmsatz des Rechts der staatlichen Krankenversicherung in § 1 S. 2 HS 1 SGB V verwiesen: „Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mit verantwortlich; sie sollen durch eine gesundheits40
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heitsverträglichere Alternative.45 Etwas anderes könnte allenfalls46 dann gelten, wenn die Kumulation47 risikobehafteter Einzelentscheidungen, die je für sich genommen für die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung irrelevant sind, zu qualitativ und quantitativ erheblichen Gefahren für das Allgemeinwohl durch finanzielle Überforderung der Systeme sozialer Sicherung führen würde.48 Dies mag angesichts der Vielzahl von Verkehrsunfällen die bußgeldbelegte (und eben nicht: strafbewehrte) Schutzhelmtrage- sowie Anschnallpflicht (§ 24 I 1 StVG i.V. m. §§ 49a I Nr. 20a, 21a I 1 bzw. 21a II 1 StVO) legitimieren. Aber auch bei einer drohenden Überforderung des Sozialsystems wäre vorzugswürdig, zunächst einmal das eigene Verschulden des Betroffenen zu berücksichtigen und sozialversicherungsrechtliche Ansprüche bis zur Grenze des von Art. 1 I GG geforderten Mindestmaßes zu begrenzen. Erst wenn auch bei entsprechender Anspruchsverkürzung eine allgemeine Überforderung des Sozialsystems zu befürchten stünde,49 wäre dem risikoträchtigen Verhalten als solchem entgegenzutreten.
bewußte Lebensführung, . . . dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden.“ 45 So auch Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3, 2009, Bd. VII, § 147 Rn. 98; skeptisch zur Umsetzbarkeit dieses Ansatzes aber Schwab, JZ 1998, 66, 73. Damit wäre auch der Anforderung genüge getan, dass jede auslegende Einschränkung eines Grundrechts um des Sozialen willen den Eigen-Sinn des jeweiligen Grundrechts zu respektieren hat (s. Zacher, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts3, 2004, Bd. II, § 28 Rn. 113). 46 Aber auch dann gilt der Einwurf Paeffgens (FG BGH, Bd. IV [Fn. 21], S. 695, 699), dass im freiheitlich verfassten Staat des Grundgesetzes eine strafbewehrte Rechtspflicht, sich zugunsten der Allgemeinheit gesund zu halten, erst noch darzulegen wäre. In der Diskussion um eine überindividuelle Rechtfertigung des § 216 StGB wurde jedenfalls ein mögliches Interesse der Allgemeinheit an der physischen Fortexistenz der eben diese Gemeinschaft bildenden einzelnen Personen nicht als hinreichend anerkannt. Eine derartige Rechtspflicht zur Sicherung des physischen Fortbestandes der Gemeinschaft ist abzulehnen, würde doch diese staats- bzw. gemeinschaftsutilitaristische Begründung der Unverfügbarkeit des Lebens für den einzelnen Rechtsgutsinhaber das grundgesetzliche Verhältnis von Staat und Bürger auf den Kopf stellen (s. Verf. [Fn. 30], S. 114 f. m.w. N.). 47 Entsprechende Überlegungen sind aus der Diskussion um die Legitimität von Strafvorschriften, etwa im Bereich des Umweltstrafrechts, bekannt (für alle: Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik moderner Gefährdungsdelikte, 2000, S. 142 ff., 318 ff.); krit. i. Z. m. einer Legitimation des Betäubungsmittelstrafrechts Nestler (Fn. 40), § 11 Rn. 265 f. 48 Vgl. Doehring, FS Zeidler, Bd. II (Fn. 31), S. 1553, 1557 f.; Steiner, NJW 1991, 2729, 2735. 49 Dem Gesetzgeber stünde insoweit allerdings ein Einschätzungsspielraum zu (s. a. BVerfGE 103, 197, 223: Pflege-Pflichtversicherung; 123, 186, 241: private Krankenversicherung; zur sozialrechtlichen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers s. a. BVerfG 103, 271, 288).
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IV. Sonstige drittschützende Schranken der Selbstverfügungsfreiheit in diesem Bereich Die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes gehen aber über einen verfassungsrechtlich höchst zweifelhaften50 Schutz eines freiverantwortlich Einwilligenden vor sich selbst51 bzw. den Schutz der Ressourcen der Sozialleistungssysteme hinaus. Sie sollen stattdessen – in einem grundsätzlich unbedenklichen Ansatz52 – die Allgemeinheit unter anderen Aspekten schützen. Die von ihnen errichtete Verfügungsschranke über die eigene Gesundheit (bzw. ggf. auch über das eigene Leben) kann zwar noch nicht – so auch die Jubilarin53 – durch bloßen Zugriff auf das Rechtsgut „Volksgesundheit“ kreiert werden54: Zwar würde dem Einzelnen von vornherein die Dispositionsbefugnis über dieses überindividuelle Rechtsgut fehlen, doch verschleiert dieses vermeintliche Rechtsgut55 die wahren Schutzgegenstände. Da es keinen „Volkskörper“ gibt, kann „Volksgesundheit“ – auf den Gesundheitsschutz bezogen – von vornherein nicht mehr sein als die Summe der Gesundheit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.56 Ist insoweit strafbewehrter Schutz des Einzelnen vor sich selbst grundsätzlich unzulässig 50
Siehe oben unter II. Für einen Schutz des freiverantwortlich nur sich selbst Schädigenden würde m. E. grundsätzlich die verfassungsrechtliche Legitimation fehlen; dies wurde leider von BVerfGE 90, 145, 174 mit dem letztlich eher an die „Volksgesundheit“ anknüpfenden Ansatz („Schutz der menschlichen Gesundheit sowohl des Einzelnen wie der Bevölkerung im ganzen“) nicht thematisiert. Freiverantwortlichkeit ist allerdings im Bereich des Rauschmittelkonsums durchaus zweifelhaft, so dass insoweit ein gesetzlich (im BtMG) vertypter strafrechtlicher Schutz des auf Grund seiner Sucht stets als unfrei anzusehenden Drogenabhängigen als verfassungsrechtlich noch zulässiger „weicher“ Paternalismus auch bezüglich eines im Einzelfall freiverantwortlich sich selbst Schädigenden vorstellbar ist (krit. Paeffgen, FG BGH, Bd. IV [Fn. 21], S. 695, 705; Wohlers [Fn. 47], S. 195), vgl. Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 28 ff., 38, zur – je nach Rauschgift unterschiedlichen – Bedrohung individueller Freiheit durch Eintritt eines vom Konsumenten nicht mehr selbstbestimmbaren Abhängigkeitszustandes. 52 Vgl. Müller-Terpitz (Fn. 45), ebenda. 53 NK3 (Fn. 4), vor §§ 13 ff. Rn. 189; dies., ZIS 2007, 247, 252. 54 Krit. zu diesem „vielschichtigen“ überindividuellen Rechtsgut – es handelt sich hierbei aber lediglich um einen abgeleiteten Sammelbegriff genuin personaler Rechtsgüter (so auch Frisch, FS Stree/Wessels, 1993, S. 69, 94) – auch Nestler (Fn. 40), § 11 Rn. 17 ff. 55 Auch von BGHStE 37, 179, 182 als komplexes Rechtsgut eingestuft, das nicht in erster Linie das Leben und die Gesundheit des Einzelnen – wie die §§ 211 f., 222, 223 ff. StGB – schützen, sondern Schäden vorbeugen soll, die sich für die Allgemeinheit aus dem verbreiteten Konsum vor allem harter Drogen und den daraus herrührenden Gesundheitsbeeinträchtigungen der Einzelnen ergeben; zust. Rahlf (Fn. 8), vor §§ 29 ff. BtMG Rn. 24 (unter Verweis auf die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 8/3351, S. 35: Schutz der Volksgesundheit und der sozialen Interessen der Gemeinschaft, sowie auf die vom Gesetzgeber anlässlich der Ratifizierung internationaler Übereinkommen geäußerten Absichten [Nachw. ebenda, Rn. 19 ff.]). 56 Frisch, FS Stree/Wessels (Fn. 54), S. 69, 94; Paeffgen, BGH-FG, Bd. IV (Fn. 21), S. 695, 705; Wohlers (Fn. 47), S. 191. 51
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(s. o. unter II.), so ändert sich durch eine bloße Vervielfachung der Betroffenen hieran nichts. Insoweit ist das Ganze hier eben doch nicht mehr als die Summe seiner Teile. Die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes sollen aber – so der vorliegend auf seine Stichhaltigkeit nicht näher zu hinterfragende57 Ansatz des Bundesverfassungsgerichtes58 – die Allgemeinheit schützen, und zwar vor einer der Dispositionsmacht des Einzelnen nicht mehr unterliegenden Gefährdung Dritter infolge der Schaffung neuer Gefahrenquellen: Zu nennen sind insoweit neben Belangen des Jugendschutzes59 die drittschädigende60 Beschaffungskriminalität im Drogenbereich sowie die durch akut Drogenbeeinflusste drohende Beeinträchtigung des mitmenschlichen Zusammenlebens (z. B. Ausfallerscheinungen im Straßenverkehr61) und nicht zuletzt die Gefährdung der Allgemeinheit durch die in den Betäubungsmittelabsatz verstrickte organisierte Kriminalität.62 Mithin kann – mit Ingeborg Puppe63 – festgehalten werden, dass der Gesetzgeber durch §§ 29 f. BtMG zulässige Schranken der Selbtverfügungsfreiheit aufgestellt hat. V. Strafbarkeit des Rauschgiftüberlassenden trotz Selbstgefährdung des Opfers: Kein Fall unzulässiger Rechtsgutsvertauschung 1. Erklärt der Rechtsanwender die vom Konsumenten erklärte Einwilligung in eine körperverletzende Beibringung von Betäubungsmittelmitteln zum Schutze der Rechtsgüter Dritter für unwirksam, so könnte dies eine unzulässige Rechtsgutsvertauschung darstellen, da dann die Pönalisierung einer Körperverletzung erfolgte, um die oben unter IV. benannten Drittinteressen zu schützen.64 Bei die57 Krit. etwa Paeffgen, FG BGH, Bd. IV (Fn. 21), S. 695 ff., 704 ff.; Wohlers (Fn. 47), S. 196 ff. 58 BVerfGE 90, 145, 174 f., 184. 59 BVerfGE 90, 145, 184; BGHStE 43, 8, 11; krit. wegen des Pönalisierungsumfangs Paeffgen, FG BGH, Bd. IV (Fn. 21), S. 695, 705. 60 Zur Drittschädigung i. Z. m. Haschischkonsum: BGHStE 38, 339, 344; Nachw. zur Drittgefährlichkeit des Drogenbesitzes bei Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 98 in Fn. 183; zw. Frisch, FS Stree/Wessels (Fn. 54), S. 69, 95; abl. unter Hinweis auf die – eine Zurechnung versperrende – Selbstverantwortung der BtM-Konsumenten: Nestler (Fn. 40), § 11 Rn. 240 ff. 61 Zum Schutz der Leistungskraft des sozialen Sicherungssystems s. o. unter III. 62 Ihrem gemeinschädlichen Wirken entgegenzutreten, dies wurde von BVerfGE 90, 145, 184 als wichtiger Gemeinschaftsbelang zur Legitimation der Strafvorschriften des BtMG anerkannt; krit. Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, 2001, S. 209 f.; Wohlers (Fn. 47), S. 197 f. 63 Strafrecht AT I (Fn. 4), § 6 Rn. 27; dies., ZIS 2007, 247, 252; dies., ZJS 2008, 600, 606; dies., in: NK3 (Fn. 4), vor §§ 13 ff. Rn. 189 (unter Einstufung als paternalistische Sorgfaltspflicht). 64 Zu diesem Ansatz, aber auch seinen Grenzen näher: Verf. (Fn. 30), S. 512 ff.; FS Dias, 2010, Bd. 2, S. 1039 ff. (unter II.); s. a. Rönnau, Willensmängel bei der Einwilli-
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sem noch näher zu erläuternden Verbot einer Rechtsgutsvertauschung als Schranke richterlicher Rechtsanwendung handelt es sich i. Ü. keineswegs um ein Spezifikum der Körperverletzungsdelikte.65 a) Das zentrale Bedenken gegen das Überschreiten der tatbestandlichen Unrechtsvertypung im Wege einer Limitierung66, die nicht in der Strafvorschrift, deren Verletzung konsentiert wurde, selbst vertypt ist, ergibt sich aus dem Parlamentsvorbehalt: Die Straftatbestände typisieren das strafwürdige Unrecht und verdeutlichen hierdurch die vom Gesetzgeber für besonders bedeutsam und des strafrechtlichen Schutzes für würdig und bedürftig erachteten unmittelbaren und mittelbaren Entfaltungsvoraussetzungen der Person. Der Gesetzgeber hat infolge des Parlamentsvorbehalts als Minimalprogramm einer Strafnorm das zu schützende Rechtsgut (Erfolgsunrecht) sowie die Art und Weise der Gutsverletzung (Handlungsunrecht) festzulegen. Bei dieser Programmsetzung ist es dem Gesetzgeber jedenfalls unter dem Aspekt des Parlamentsvorbehaltes freigestellt, ob er das Rechtsgut nur in bestimmten Situationen, also gegenüber bestimmten Angriffsformen und gegenüber einem in bestimmter Willensrichtung handelnden Täter, schützt (z. B. im Bereich der Vermögensdelikte), oder ob er dem zu schützenden Gut einen Rund-um-Schutz gegenüber vorsätzlicher und fahrlässiger Beeinträchtigung unabhängig vom Gegebensein einer besonderen Tatsituation zugesteht (z. B. in Bezug auf Leben und Körperintegrität). Es sind also gesetzliche Unrechtsvertypungen gefordert und durch Art. 103 II GG garantiert, die vom
gung im Strafrecht, 2001, S. 172 f.; Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die guten Sitten, 1999, S. 174 ff. 65 So stuft Rönnau (ZStW 119 [2007], 887, 924 f.; s. a. ders., FS Tiedemann, 2008, S. 713, 718 f.) zu Recht die Erfassung von Verstößen gegen die korruptionsstrafrechtlichen Vorschriften der §§ 299, 331 ff. StGB, die im Einverständnis des Geschäftsherrn vorgenommen wurden, als strafbare Untreue (§ 266 StGB) mittels des Kunstgriffs, der Zustimmung infolge ihres Pflichtwidrigkeit tatbestandsausschließende Relevanz abzusprechen (offengelassen von BGHStE 52, 323, 335), als inakzeptablen Fall von Rechtsgutsvertauschung ein: Anstelle des von § 266 StGB bezweckten Vermögensschutzes des Treugebers (Geschäftsherrn) bildet dann die Beeinträchtigung des lauteren Leistungswettbewerbs beziehungsweise des Vertrauens in die Lauterkeit öffentlicher Amtsführung den eigentlichen Schutzgegenstand. Als weiteres Beispiel sei hier die Untreuestrafbarkeit eines GmbH-Geschäftsführers genannt, der im Konsens mit allen GmbHGesellschaftern das Stammkapital der GmbH antastet: Vollstreckungsrechtliche Vermögensinteressen der Gläubiger werden bei Vermögensverfall ihrer Schuldner im Fall des Gesamtvollstreckung durch §§ 283 ff. StGB, bei Einzelzwangsvollstreckung über § 288 StGB geschützt. Begibt man sich durch eine (fehlsame) Interpretation des § 14 StGB (so z. B. BGHStE 6, 314, 317; 30, 127, 128 f.; einschr. nunmehr BGH NJW 2009, 2225, 227; abl. Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder28 [Fn. 3], § 14 Rn. 26) der Möglichkeit, diese gerade auf die Gefährdung der Gläubigerinteressen zugeschnittenen Strafvorschriften bei juristischen Personen anzuwenden, so ist es nicht zulässig (s. Lenckner/ Perron, ebd., § 266 Rn. 21), bei Einverständnis aller Gesellschafter mit vermögensschädigenden Verfügungen diese Strafbarkeitslücke durch Anwendung des § 266 StGB schließen zu wollen. 66 Namentlich durch Aufstellen objektiver Einwilligungsschranken.
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Rechtsanwender nicht verschoben werden dürfen.67 Der Gesetzgeber selbst muss bestimmen, ob ein bestimmtes Rechtsgut generell oder in einer bestimmten Situation strafrechtlichen Schutz erfahren soll; er und nicht erst der normvollendende – und eben nicht: normschöpfende – Rechtsanwender bei seiner Entscheidung im Einzelfall hat das strafrechtliche Programm, zu dem ganz wesentlich das von der Strafvorschrift geschützte Gut gehört, festzulegen. Die Unrechtsvertypungen im Besonderen Teil des StGB hindern nun im Bereich der Einwilligung – und dieser Ansatz trägt dann auch im Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit68 – grundsätzlich daran, eine erteilte Einwilligung aus Gründen für unwirksam zu erklären, die in der dieses Rechtsgut schützenden Strafvorschrift selbst keinen Anklang gefunden haben. Es ist unzulässig, Rechtsgütern Dritter mittelbaren strafrechtlichen Schutz dadurch zu gewähren, dass eine Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Individualrechtsguts für unwirksam erklärt wird. Die Schutzwürdigkeit dieses vertypten Guts (hier: Leib und Leben) in der konkreten Situation würde dann nämlich an Umständen (hier: die oben unter IV. genannten Güter) festgemacht, die außerhalb des Normzwecks liegen: Bei Individualrechtsgütern besteht das strafwürdige Verhalten gerade darin, dass der Täter sich über den Erhaltungswillen des Berechtigten hinwegsetzt; nur insoweit besteht eine staatliche Schutzpflicht, aber auch überhaupt ein Schutzrecht für grundrechtlich geschützte Individualgüter. Liegt nun insoweit eine freiwillige, eigenverantwortliche Rechtsgutspreisgabe durch das „Opfer“ vor, so würde eine Bestrafung zwar formal noch aus dieser Individualinteressen schützenden Strafvorschrift erfolgen. Die Bestrafung fände ihren Grund aber materiell in einem entweder überhaupt nicht explizit unter Strafe gestellten oder zumindest außerhalb dieses Individualschutztatbestandes strafrechtlich typisierten Unrecht. Diese Divergenz kann nicht überzeugend mit einer Differenzierung zwischen Schutzgegenstand (Rechtsgut bzw. Rechtsgutsobjekt) und Schutzgrund erklärt werden,69 da der Schutzgrund70 auf den Schutzgegenstand zu beziehen ist: Würde etwa eine Einwilligung in eine Körperverletzung zwecks Dopings zum Schutze des Ansehens und der Vorbildfunktion des Leistungssports bzw. eine Einwilligung in eine verstümmelnde Körperverletzung zum Schutze der Vermögensinteressen des Sozialversicherungsträgers jeweils bezüglich der konsentierten Beeinträchtigung des Individualrechtsguts Körperintegrität für nicht strafbarkeitsausschließend erachtet, so bliebe es nur vordergründig bei dem vom Gesetzgeber angeordneten und in § 223 StGB vertypten Schutz von Körper und Gesundheit. Diese persona67 Vgl. Tiedemann, FS Baumann, 1992, S. 7, 18; ders., Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 40, 48, 57 f. 68 Da es um die Reichweite strafgesetzgeberischer Unrechtsvertypung geht, können die mit derartigen „Risiko-Einwilligungen“ verbundenen Probleme (vgl. Fn. 12) beiseite gerückt bleiben. 69 And. aber Mitsch (Fn. 60), S. 518 f. 70 Also der Zweck der Strafvorschrift bzw. der Grund für ihre Aufstellung.
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len Entfaltungsvoraussetzungen werden aber als Rechtsgüter des Individuums um ihrer selbst willen und nicht zugunsten von Belangen des Leistungssports bzw. der Sozialversicherung geschützt. Würde beispielsweise71 die Einwilligung in eine Körperverletzung zum Schutze der Vermögensinteressen der Sozialversicherung für unwirksam erklärt, so würde der Schutz der Körperintegrität aus einem Grunde (Erhaltung des Vermögen des Sozialversicherungsträgers) erfolgen, der mit dem Rechtsgut der Strafvorschrift (§ 223 StGB), deren Verletzung dem Täter als schwerer sozialethischer Tadel im Tenor der Verurteilung vorgeworfen würde, selbst nichts zu tun hat: Es würde eine Rechtsgüterschädigung bei Dritten (finanzielle Belastung der Sozialversicherung) mittelbar durch einen Tatbestand (§ 223 StGB) erfasst, der gar keine Vertypung gerade dieses Unrechts (Vermögensverletzung) enthält. Eine Aufspaltung von (bei Einwilligungsunwirksamkeit unverändert bleibendem) Schutzgegenstand und (je nach zu schützendem Drittinteresse variabel zu handhabendem) Schutzgrund wäre mit dem Parlamentsvorbehalt nicht vereinbar: Nur der Gesetzgeber hat darüber zu befinden, aus welchem Grund der Schutzgegenstand (also das zu schützende Rechtsgut) Strafschutz erfährt. Der Gesetzgeber hat als Minimalprogramm nicht nur über das zu schützende Rechtsgut (Erfolgsunwert), sondern auch über den Verhaltensunwert zu entscheiden; liegt diese Entscheidung (z. B. in § 223 StGB) vor, so kann dieser Unrechtsvertypung (zu denken als Aufeinanderbezogensein von Schutzgegenstand und Schutzgrund) nicht nachträglich vom Rechtsanwender ein anderes Programm (durch Austausch des Schutzgrundes) unterlegt werden,72 da andernfalls Rechtsgüter strafrechtliche Absicherung erführen, ohne dass das Parlament ihren strafrechtlichen Schutz beschlossen hätte. Während mithin im Regelfall die Pönalisierung der Rechtsgutsverletzung ihre Rechtfertigung in der Bewahrung des in der jeweiligen Norm geschützten (vertypten) Gutes findet, würde in den oben erwähnten Beispielen die Pönalisierung der Gutsverletzung Mittel zum Schutz eines ganz anderen Schutzgegenstandes sein. Hierdurch würde – und zwar durch eine nicht vom Strafgesetzgeber (Parlamentsvorbehalt für den Erlass von strafrechtlichen Regelungen) getroffene Entscheidung – ein neuer Schutzgegenstand in die Norm „eingeführt“; zusätzlich würde infolge der Unwirksamkeit der Einwilligung sogar der eigentliche Schutz-
71 Zur Konstellation der Beibringung von Dopingmitteln s. Verf., FS Dias, Bd. II (Fn. 64), unter II.4.d). 72 Hierbei ist es unerheblich, ob man bei Individualrechtsgütern die Dispositionsfreiheit über das geschützte Gut als Teil des Rechtsguts ansieht (so etwa Roxin, AT 1 [Fn. 10], § 13 Rn. 13 ff.) oder aber lediglich die von der Dispositionsfreiheit zu trennende Unversehrtheit des jeweiligen Objektes (so etwa Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder28 [Fn. 3], vor §§ 32 ff. Rn. 33a); entscheidend ist vielmehr der Umstand, dass der strafrechtliche Schutz eines Individualrechtsgutes eben nur zum Schutze der in dieser Strafvorschrift vertypten Interessen des Einzelnen erfolgt.
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grund (Sicherung individueller Verfügungsfreiheit) geradezu verfehlt werden, soweit die individuelle Verfügungsfreiheit auf Grund normfremder (d.h. sich nicht auf die Sicherung dieser individuellen Verfügungsfreiheit des Einwilligenden beziehenden) Überlegungen aufgehoben würde. Bei Individualrechtsgütern ist nun im Regelfall kein Anzeichen aus der Norm selbst herzuleiten, dass über den Schutz der Individualautonomie bezüglich des dortigen Guts hinaus sonstige Interessen geschützt werden sollten. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden,73 es handele sich hierbei doch lediglich um die Fortgeltung des ursprünglichen, seinerseits auf einer Parlamentsentscheidung beruhenden Normbefehls (z. B. Verbot einer Körperverletzung) infolge Einwilligungsunwirksamkeit. Die ohnehin etwas gekünstelt wirkende Unterscheidung von Schutzgegenstand und Schutzgrund ist mit der Funktion des Straftatbegriffs (plakative Typisierung des Unrechts durch Aufstellung von „Warntafeln“, die das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Bedeutung und die zu erstrebende Unantastbarkeit der tatbestandlich vertypten Rechtsgüter stärken sollen) nicht in Einklang zu bringen: Das in einer Individualinteressen schützenden Strafvorschrift vertypte Unrecht (etwa: Körperverletzung gegen den Willen des Betroffenen) entfällt infolge der Einwilligung des Rechtsgutsinhabers, so dass durch die „Aufhebung der Aufhebung“ des Strafrechtsschutzes eben doch ein neues (zusätzliches) Rechtsgut in den Schutzbereich dieser Norm einbezogen würde. b) Diese verfassungsgestützten Bedenken gegen eine rechtsgutsaustauschende Ausweitung der tatbestandlichen Schutzrichtung durch Aufstellen ungeschriebener (bzw. zumindest in der konkreten Strafvorschrift nicht in Bezug genommener) Einwilligungsschranken zum Schutze von Drittinteressen erfährt – dies kann hier nur angedeutet werden – binnenstrafrechtlich Verstärkung unter dem Blickwinkel der Verrufswirkung des Strafurteils sowie der (positiven) Generalprävention.74 2. Diese Überlegungen zur unzulässigen Rechtsgutsvertauschung bedürfen allerdings einer Einschränkung für den Fall, dass ein konsentiertes Individualdelikt mit einer Drittinteressen schützenden75 Strafvorschrift zusammentrifft.76 Straflosigkeit infolge einer Einwilligung in die Körperverletzung darf nämlich nicht gegen das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Binnenordnung des Strafrechts verstoßen.77 Hiermit ist eine aus der Verfassung resultierende Vorgabe angesprochen: Da der Strafrichter in die vom Gesetzgeber vorgegebene Ordnung einge73
So aber Mitsch (Fn. 60). Hierzu Verf., FS Dias-FS, Bd. II (Fn. 64), unter II.3. 75 Insoweit kommt der Einwilligung mangels Dispositionsbefugnis von vornherein keine Wirkung zu. 76 Also im Falle der Rauschgiftbeibringung bzw. -überlassung: Zusammentreffen von §§ 223 bzw. 229, 222, 227 StGB mit §§ 29 f. BtMG. 77 Siehe Verf. (Fn. 30), S. 199 f., 492 f. 74
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bunden ist,78 hat er seine im Einzelfall zur Konkretisierung des Gesetzesbefehls unerlässlichen eigenen Bewertungen in die vom Gesetzgeber vorgezeichnete Ordnung widerspruchsfrei einzupassen. Zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung besteht unter dem Blickwinkel des Art. 3 I GG eine sich ergänzende Funktionenverteilung: Die Gesetzgebung schafft abstrahierende Gleichheit,79 die Rechtsprechung hat durch gesetzesanwendende Nachsteuerung dann konkretisierende Gleichheit80 herzustellen. Art. 3 I GG verpflichtet die Rechtsprechung zur Rechtsanwendungsgleichheit in Form der Entsprechungsgleichheit81 und gibt ihr für ihre Judikate einen Vergleich zum vorgefundenen Normierungsbestand im Binnenbereich der Gesetzesordnung und ihrer Teilaussagen auf. Mithin hat auch der Strafrichter infolge der ihn treffenden Entsprechungspflicht (Art. 3 I GG) seine Entscheidungen in Übereinstimmung mit den vorgefunden Sach- und Rechtsstrukturen der Strafrechtsordnung zu treffen. Ist nun für eine konkrete Fallgestaltung strafgesetzlich normiert, dass zum Schutze von Drittinteressen in eben dieser Konstellation auch die Verfügungsfreiheit über ein Individualrechtsgut aufgehoben ist, so kommt der Einwilligung in die Beeinträchtigung des Individualrechtsgutes des Konsentierenden keine rechtfertigende Wirkung zu: Ein und dasselbe Täterverhalten, das auf ein Individualgut zugreift, kann nicht durch eine Strafvorschrift ausdrücklich für verboten, durch eine andere für unverboten (infolge erteilter Einwilligung) gewertet werden,82 ohne die Bewertungs- und Bestimmungsfunktion der Strafrechtsordnung zu tangieren.83 a) Von vornherein einsichtig ist dies in den Fällen, in denen eine konsentierte Individualgutsverletzung notwendigerweise von der ausdrücklich pönalisierten Drittverletzung erfasst wird, beispielsweise die Einwilligung in eine verstümmelnde Körperverletzung, um sich dem Wehrdienst zu entziehen, § 223 StGB/ §§ 109 StGB: In diesem Falle liegt eine von der die Drittinteressen (Verteidigungskraft) schützenden Strafrechtsnorm selbst vorgenommene Verknüpfung 78 Die Umgestaltung dieser Ordnung steht nicht dem Rechtsanwender, sondern dem Gesetzgeber zu. 79 Gubelt, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, Kommentar5, 2000, Art. 3 Rn. 26: Typisierende Regelung, die zwangsläufig mit einer ggf. durch eine Härteklausel auszugleichende Benachteiligung Einzelner verbunden ist. 80 Hierzu: Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V2, 2000, § 125 Rn. 44 f. 81 Kirchhof, FS Uni Heidelberg, 1986, S. 11, 15 f., 29; BVerfGE 54, 277, 296: Gleichheit der Rechtsanwendung als „Seele der Gerechtigkeit“. 82 Vgl. auch Puppe (i. Z. m. §§ 30 I Nr. 3 BtMG/223 StGB): identische Sorgfaltsnorm eines Verbots des Handelns mit Rauschgift (AT 1 [Fn. 4], § 6 Rn. 25). 83 Ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt läge hierin nicht, da ja in einer für den in Frage stehenden Handlungsvollzug einschlägigen Strafvorschrift die gesetzgeberische Entscheidung verkörpert ist, dass ausnahmsweise zum Schutze von Drittinteressen auch keine Verfügungsfreiheit über ein Individualrechtsgut besteht. Dementsprechend würde der Täter auch nicht unzulässig bemakelt.
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zwischen der konsentierten Individualgutsverletzung und der Drittbeeinträchtigung vor (§ 109 I StGB: „mit dessen Einwilligung“), eine gesetzliche Verbindung also, die die bewilligte Verletzung des Individualrechtsgutes als Mittel zur Herbeiführung einer strafrechtlich ausdrücklich untersagten Drittschädigung kennzeichnet.84 b) Enthält die Strafvorschrift, die Drittinteressen schützen soll, nun keine derartige ausdrückliche Verknüpfung, so folgt hieraus noch nicht die prinzipielle Beachtlichkeit eines Konsenses in die Beeinträchtigung eines Individualrechtsguts. Beschränkungen individueller Dispositionsbefugnis können nämlich auch dann zulässig sein, wenn die Zustimmung zur Individualgutsgefährdung bzw. -verletzung auf Grund einer strafrechtlich normierten Entscheidung für unwirksam erachtet wird, nach der zum Schutze von Drittinteressen in einer bestimmten Konstellation die Verfügungsfreiheit über ein Individualrechtsgut aufgehoben ist. Dies sei am Beispiel eines Verstoßes gegen § 29 I 1 Nr. 6b BtMG (Verabreichen von Betäubungsmitteln) und der Unwirksamkeit einer Einwilligung des Opfers in eine durch das Verabreichen von Drogen bewirkte Körperverletzung (§ 223 StGB) bzw. der Unbeachtlichkeit seiner Zustimmung zu einer sich dann realisierenden Lebensgefährdung (§ 222 StGB) erläutert: Das Betäubungsmittelgesetz sieht keinen – verfassungsrechtlich ja höchst zweifelhaften – Schutz des Einwilligenden vor sich selbst vor; es soll stattdessen die Allgemeinheit schützen, und zwar vor nicht der Dispositionsmacht des Einzelnen unterliegenden Gefährdungen Dritter (s. o. unter IV.). Durch eine Entscheidung des Strafgesetzgebers wird also die Handlungsfreiheit der einverständlich miteinander agierenden Personen in Erfüllung staatlicher Schutzpflichten für Unbeteiligte zulässig eingeschränkt: Der Gesetzgeber hat eine Verhaltensnorm aufgestellt, die es dem Täter verbietet, einem anderen Rauschgift beizubringen.85 Damit86 ist es dem Rauschgiftkonsumenten (als Inhaber der Rechtsgüter Gesundheit und Leben) ausdrücklich durch strafgesetzgeberische Entscheidung (§§ 29 I 1 Nr. 6b, 30 I Nr. 3 BtMG) verwehrt, seine Individualrechtsgüter Körperintegrität und Gesundheit in dieser Weise verletzen zu lassen. Seine Einwilligung in die Beeinträchtigung seiner Individualgüter ist unbeachtlich,87 da eine strafgesetzliche Vorgabe besteht, dass zum Schutze von Drittinteressen in dieser Konstellation dem Einzelnen ausnahmsweise keine Verfügungsfreiheit über seine Individualrechtsgüter zukommt.88 84 Für Unbeachtlichkeit der Einwilligung in die Körperverletzung auch Eser, in: Schönke/Schröder28 (Fn. 3), § 109 Rn. 22; a. A. Wohlers, in: NK3 (Fn. 4), § 109 Rn. 10. 85 Siehe Puppe, AT 1 (Fn. 4), § 6 Rn. 27; in: NK3 (Fn. 4), vor §§ 13 Rn. 190; jeweils i. Z. m. strafbarer Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung. 86 U. Weber sprach 1992 insoweit von einer „Verzahnung der Rechtsgüter“ (FS Spendel, S. 371, 378). 87 And. z. B. BGHStE 49, 34, 43. 88 Vgl. Verf. (Fn. 30), S. 572 ff.; weitergehend hält U. Weber angesichts des grundsätzlichen strafrechtlichen Verbots der Gefahrschaffung im BtMG eine den Täter entlastende Risikoübernahme durch ein sich freiverantwortlich selbstgefährdendes Opfer
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In Konsequenz hieraus ist im Einklang mit der Jubilarin89 festzuhalten,90 dass angesichts des Schutzzwecks der §§ 29, 30 BtMG91 – und nur innerhalb ihrer tatbestandlichen Reichweite92 – im Fahrlässigkeitsbereich (§§ 222, 229 StGB) ausnahmsweise die Mitwirkung an einer entsprechenden Selbstverletzung strafbar bleibt.93
auch dann für nicht möglich, wenn im Einzelfall das Täterverhalten nicht gegen §§ 29 f. BtMG verstoßen sollte (FS Spendel, S. 371, 378 f.; FS Baumann, S. 43, 53); ähnlich auch die Jubilarin, die das Opfer zum Schutz vor Suchtgefahren unter die „Vormundschaft“ des Täters gestellt sieht, dem ja der Vertrieb des Rauschgifts verboten ist (AT 1 [Fn. 4], § 6 Rn. 27; dies., ZIS 2007, 247, 252). 89 Oben in Fn. 11. 90 Verf., in: Schönke/Schröder28 (Fn. 3), § 15 Rn. 165 m.w. N. pro und contra (hierzu zählt auch die Rechtsprechung. 91 Eine entsprechende Gemengelage findet sich angesichts der Vorgabe von §§ 95 I Nr. 2a, 6a I AMG auch bei der Anwendung von Arzneimitteln zu Dopingzwecken, s. Verf., FS Dias, Bd. II (Fn. 64), unter II 4d. 92 So auch Kindhäuser, AT4 (Fn. 11), § 11 Rn. 34; Puppe, AT 1 (Fn. 4), § 6 Rn. 27. Also kann bspw. das – von den Strafvorschriften des BtMG nicht erfasste – gemeinsame Bereiten von Stechapfel-Tee (Konstellation von BGH NStZ 1985, 25) mit einem über das Risiko dieses Nachtschattengewächses Informierten bei dessen Tod nicht über § 222 StGB erfasst werden; anders aber – angesichts der Inkriminierung durch § 29 I 1 Nr. 11 BtMG – beim Überlassen einer Spritze an einen durch Rauschgiftgenuss dann zu Tode kommenden Heroinsüchtigen (Konstellation von BGHStE 32, 262): Überlassen einer Spritze als Verschaffen der Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch von Betäubungsmitteln, vgl. auch § 29 I 2 BtMG. 93 Wobei es angesichts der gesetzgeberischen Vorgabe durch §§ 29 f. BtMG hierfür nicht darauf ankommt, ob infolge der Selbstgefährdung die Schutzwürdigkeit bzw. -bedürftigkeit des Verletzten entfällt, ein Gedanke, den Ingeborg Puppe (unter dem Aspekt einer Eingrenzung von Sorgfaltspflichten) allgemein für die Begrenzung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bei Mitwirkung an einer bewussten Selbstgefährdung nutzbar machen will (ZIS 2007, 247, 250 f.; dies., in: NK3 (Fn. 4) vor §§ 13 Rn. 192 ff.; sowie – besonders deutlich – dies., AT 1 [Fn. 4], § 6 Rn. 6: Verneinung entsprechender Sorgfaltspflichten, um die Freiheit des Opfers von Bevormundung durch fremde Vernünftigkeit zu gewährleisten; vgl. aber auch Verf. [Fn. 30], S. 224 in Fn. 129); zur sog. RisikoEinwilligung näher Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder28 (Fn. 3), vor §§ 32 ff. Rn. 102 ff.
Das Mordmerkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ Von Frank Zieschang I. Einleitung Das wissenschaftliche Werk der Jubilarin weist eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu Fragen des Allgemeinen und Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs auf. Ingeborg Puppe hat sich dabei neben zahlreichen anderen Untersuchungen wiederholt auch mit den Tötungsdelikten beschäftigt.1 Der vorliegende Beitrag knüpft zu Ehren der Jubilarin an diesen Themenbereich an und setzt sich im Einzelnen damit auseinander, was unter dem Mordmerkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ zu verstehen ist. Dies ist umso mehr vonnöten, als eine nähere Betrachtung der einschlägigen Rechtsprechung und diesbezüglicher Stellungnahmen im Schrifttum offenbart, dass mit dem Merkmal doch sehr unterschiedliche Gesichtspunkte verknüpft werden, sodass Inhalt und Reichweite keineswegs als geklärt angesehen werden können.2 Im Folgenden wird zunächst die relevante höchstrichterliche Rechtsprechung vorgestellt (II.), sodann der Meinungsstand im Schrifttum (III.). Ausgehend davon sollen im Anschluss die exakten Konturen des Merkmals erarbeitet werden (IV.). Dies eröffnet dann den Weg zur Lösung umstrittener Einzelfragen (V.). Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (VI.). II. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Der BGH hat wiederholt dazu Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen eine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln anzunehmen ist. In manchen Entscheidungen geht die Rechtsprechung dabei ohne weitere Erläuterungen wie selbstverständlich vom Vorliegen dieses Merkmals aus, in anderen dagegen setzt sich der BGH eingehend mit den Erfordernissen auseinander, wenngleich – wie eine nähere Untersuchung der maßgeblichen Rechtsprechung offenbart – durchaus nicht ganz widerspruchsfrei. Im Einzelnen:
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Siehe etwa Puppe, NStZ 2006, 290; dies., JZ 2005, 902; dies., NStZ 1992, 576. Vgl. Horn, in: Systematischer Kommentar, StGB Stand: 2000, § 211 Rn. 49: „Der Begriff des ,gemeingefährlichen Mittels‘ ist noch nicht gänzlich geklärt“; ferner Rengier, StV 1986, 405 (406); ders., JZ 1993, 364. 2
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In einer ganzen Reihe von Fällen hat der BGH eine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln bejaht, ohne das Merkmal weiter zu vertiefen oder zu problematisieren: So beim Hineinwerfen von Brandflaschen in ein Asylbewerberheim,3 beim Öffnen einer Gasflasche, wobei im Falle einer Explosion Zerstörungen in einer Entfernung von 50 bis 100 Metern hätten verursacht werden können,4 bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Diskothek5 und dem Anbringen einer Autobombe6. Lässt sich das Fehlen weiterer Ausführungen in diesen Fällen dadurch erklären, dass aufgrund der Wucht der eingesetzten Mittel tatsächlich jeweils eine unbestimmte Anzahl von Personen gefährdet war, geraten die Dinge problematischer, wenn die Rechtsprechung von einer (versuchten) Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln in einer Konstellation ausgeht, in welcher der Täter seine frühere Lebensgefährtin durch zur Explosion gebrachtes Gas im Grillwagen des Opfers töten wollte.7 Hier wären zumindest in der Konsequenz Ausführungen dazu erforderlich gewesen, wie der Ort beschaffen war, an dem der Grillwagen stand – etwa in einem dicht besiedelten Gebiet –, ob andere Menschen in der Nähe waren und welche grundsätzliche Explosionskraft vorlag, also andere Personen gefährdet werden konnten. Ähnlich verhält es sich in dem Fall, dass die Täterin sich selbst und ihren Sohn durch Inbrandsetzen ihres Anwesens töten wollte.8 Hier hat das Instanzgericht eine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln bejaht, ohne dass dem Sachverhalt entnommen werden kann, ob der Brand auch Unbeteiligte hätte beeinträchtigen können. Die beiden letztgenannten Entscheidungen vermitteln demnach den Eindruck, dass die Rechtsprechung bei „ihrer Natur nach“ gemeingefährlichen Mitteln – was immer dies auch exakt heißen mag – das Mordmerkmal unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalls bejaht. Dazu würde passen, dass der BGH in einer anderen Entscheidung formuliert, für den Gehilfen habe es keine Auswirkungen auf den Vorsatz, wenn die Täter „ein anderes ebenso wie Sprengstoff gemeingefährliches Tatmittel eingesetzt haben“.9 Hier wird augenscheinlich allein auf die abstrakte Natur des Tatmittels unabhängig von den Einzelfallumständen abgestellt. Ist diese abstrakte Sicht aber wirklich die Position des Bundesgerichtshofs? Darauf deutet die Entscheidung des dritten Strafsenats des BGH vom 13. Februar 3 BGH, NStZ 1994, 483; siehe auch BGH, StV 1999, 211; BGH, Urt. v. 13.5.1971 – 3 StR 337/68 –; ferner BGH, NStZ-RR 2000, 165; BGH, NStZ 1994, 584; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 36. 4 BGH, Beschl. v. 18.2.2005 – 2 StR 551/04 –; vgl. auch BGH, NJW 2002, 3719: Öffnen zweier Gashähne in einem 12-Familien-Haus. 5 BGH, NJW 2004, 3051. 6 BGH, NStZ 1998, 294. 7 BGHSt 40, 106; die Geschädigte überlebte mit schweren Verletzungen, das Fahrzeug brannte aus. 8 BGH, NStZ 2008, 275. 9 BGH, Urt. v. 24.8.1983 – 3 StR 176/83 –; in NStZ 1984, 42 insoweit nicht abgedruckt.
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1985 in der Tat (zunächst) hin, in der sich dieser ausführlich mit dem Mordmerkmal „gemeingefährliches Mittel“ befasst.10 Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Angeklagten hatten drei Brandflaschen in einen Raum geworfen, in dem sich zwei vietnamesische Flüchtlinge befanden, auf die sich der Tötungsvorsatz der Täter bezog und die infolge des Anschlags verstarben. Aufgrund der feuersicheren Bauweise des Gebäudes war jedoch der konkrete Gefährdungsbereich von vornherein auf diesen Raum beschränkt; andere Personen konnten nicht beeinträchtigt werden. Dennoch erachtete der BGH das Mordmerkmal als erfüllt:11 Die Brandflaschen seien „ihrer Natur nach“ gemeingefährliche Mittel und „im Allgemeinen“ nicht mehr beherrschbar; liege diese allgemeine Eignung vor, komme es auf den Umfang des konkreten Gefährdungsbereichs nicht an. Diese Ausführungen deuten in die Richtung, dass allein die abstrakte Eignung maßgeblich ist. Doch bereits in der Entscheidung selbst schränkt der BGH sogleich seinen Standpunkt wieder ein, rudert zurück und bemerkt: Ein solches abstrakt gefährliches Mittel führe dann nicht zu einer Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln, „wenn der Täter es in der konkreten Tatsituation unter Berücksichtigung seiner persönlichen Fertigkeiten so beherrscht, dass deswegen eine Gefährdung jedenfalls einer Mehrzahl von Menschen ausgeschlossen ist, wenn er z. B. Gift nicht in den Kessel einer Gemeinschaftsküche, sondern in den Teller des Opfers gibt“. Beide Standpunkte sind aber tatsächlich nicht miteinander zu vereinbaren: Entweder kommt es auf die abstrakte Eignung an oder aber eben auf den Einzelfall. So ist denn auch der Wurf der Brandflaschen in den durch eine feuerfeste Bauweise gekennzeichneten Raum in Wirklichkeit nichts anderes, als dass das Gift in den Teller des Opfers gegeben wird. Legt also der BGH diesen zweiten Aspekt zugrunde, hätte er Mord mit gemeingefährlichen Mitteln in der Konsequenz verneinen müssen und insofern wie die Vorinstanz nur Versuch annehmen dürfen, da die Angeklagten keine Kenntnis von der feuerfesten Bauweise hatten; die Entscheidung gerät damit widersprüchlich. Wenn der BGH weiter ausführt, jedenfalls dann, wenn der Täter nicht gewiss sei, die Wirkung des seiner Natur nach gemeingefährlichen Mittels beschränken zu können, liege ein Mord aufgrund Verwendung gemeingefährlicher Mittel vor, vermischt der dritte Strafsenat im Übrigen objektive und subjektive Gesichtspunkte. Objektiv konnten nur die in dem Raum befindlichen Personen betroffen werden, sodass das Mordmerkmal ausscheidet. Eine andere Frage ist, was der Täter sich vorstellt: Beurteilt er die Sachlage richtig, entfällt Mord und es verbleibt Totschlag, geht er irrtümlich vom Gegenteil aus, liegt vollendeter Totschlag in Idealkonkurrenz mit versuchtem Mord vor. Der BGH ist aber bei dieser widersprüchlichen Sicht auch nicht stehen geblieben. Vielmehr zeigt sich in der weiteren Entwicklung, dass die Rechtsprechung 10 11
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tatsächlich (auch) eine konkrete Sicht zugrunde legt, wobei ein Spannungsverhältnis zu den vorerwähnten Entscheidungen verbleibt, denn von den dortigen Ausführungen ist der BGH bislang nicht ausdrücklich abgerückt. Die Heranziehung der Einzelfallumstände wird zunächst daran mittelbar deutlich, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung in einzelnen Entscheidungen selbst bei der Verwendung eines „seiner Natur nach“ gemeingefährlichen Mittels die konkreten Gegebenheiten berücksichtigt und etwa bei einer Brandstiftung einen Mord unter Verwendung gemeingefährlicher Mittel verneint hat, wenn keine konkreten Feststellungen zu den tatsächlichen örtlichen Verhältnissen getroffen worden sind.12 Umgekehrt bejaht der BGH das Merkmal erst, wenn in genügendem Maße feststeht, dass andere Personen gefährdet werden konnten und der Täter die Ausdehnung der Gefahr nicht in der Hand hatte13 oder verneint es, falls im konkreten Fall keine anderen Personen gefährdet werden konnten.14 Eine ganz besondere Bedeutung weist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des ersten Strafsenats des BGH vom 1. September 1992 auf.15 In diesem Urteil wird ausführlich begründet, dass der Schuss aus einer Pistole, selbst wenn unbeteiligte Dritte getroffen werden können, keine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln darstellt.16 Der BGH erläutert, dass das Merkmal vorliege, wenn der Täter ein Mittel einsetzt, das in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil der Täter die Ausdehnung der Gefahr nicht in der Gewalt hat.17 Danach sind also die jeweiligen Umstände des Einzelfalls entscheidend. Diese doch klare Aussage wird jedoch sodann wieder vom BGH aufgeweicht: So führt er in der Entscheidung weiter aus, es sei „nicht allein“ auf die abstrakte Gefährlichkeit abzustellen, sondern auf die konkrete Situation unter Berücksichtigung der persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters.18 Zum einen vermischt der BGH erneut objektive und subjektive Gesichtspunkte, zum anderen scheint es so, dass der BGH danach neben der konkreten ebenfalls eine abstrakte Eignung verlangt. Aber auch ein solches Erfordernis ist zwischenzeitlich aufgegeben: So führt die höchstrichterliche Rechtsprechung in jüngeren Entscheidungen aus, dass das Mordmerkmal ebenfalls dann erfüllt sein kann, wenn ein Tötungsmittel (Pkw) eingesetzt wird, das seiner Natur nach nicht
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Siehe BGHR StGB § 306 Nr. 2 Vorsatz 1; ferner BGH, StV 1986, 421. Vgl. BGH, NStZ 1993, 385. 14 BGH, NStZ-RR 2004, 108. 15 BGHSt 38, 353. 16 Ebenso BGH, NStZ 1993, 341; vgl. aber auch BGH, Urt. v. 15.12.1964 – 1 StR 254/64 –: Dort wird die Erschießung von 12 Gefangenen als Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln angesehen. 17 BGHSt 38, 353 (354), Hervorhebung nicht im Original; ebenso bereits BGHSt 34, 13 (14). 18 BGHSt 38, 353 (354). 13
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gemeingefährlich ist.19 Wiederum nicht ganz konsequent legt der BGH aber weiter dar, maßgeblich sei „dann“ jedoch die Eignung des Mittels zur Gefährdung Dritter in der konkreten Situation.20 Dies vermittelt nämlich zumindest den Eindruck, bei abstrakt gefährlichen Mitteln komme es nicht auf die konkrete Situation an, was zu den vorerwähnten Entscheidungen in Widerspruch steht. Auch ist es verwirrend, wenn der BGH21 meint, maßgeblich sei, ob das Mittel in der konkreten Situation überhaupt „abstrakt geeignet“ war, eine Mehrzahl von Menschen zu gefährden; zu prüfen sei, ob eine „abstrakte Gefährdung“ anderer von vornherein ausgeschlossen war. Hier vermischt der BGH wieder verschiedene Aspekte und bringt neue Unsicherheiten ins Spiel: Die Rechtsprechung beachtet nicht, dass sie mit ihren unpräzisen Formulierungen immer wieder neue Fragen, Unsicherheiten und Widersprüche entstehen lässt. Nunmehr ist anscheinend die abstrakte Gefährdung in der konkreten Situation maßgeblich, was immer auch darunter überhaupt exakt zu verstehen sein soll. Unabhängig davon gibt es, wie bereits an anderer Stelle im Einzelnen dargelegt worden ist,22 begrifflich eine „abstrakte Gefährdung“ als solche nicht. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bislang hat es der BGH versäumt, eine klare Position insofern einzunehmen, welche exakten Voraussetzungen nach seiner Sicht mit dem relevanten Mordmerkmal verbunden sind, wenngleich festzustellen ist, dass die jüngere Rechtsprechung stärker auf die Heranziehung der konkreten Umstände abstellt. Davon abgesehen hat der BGH bislang auch nicht geklärt, ob es ausreicht, dass „nur“ eine Leibesgefährdung in Rede steht,23 oder das Merkmal allein erfüllt ist, wenn das Leben anderer bedroht ist.24 Zudem bleibt im Dunkeln, wie viele andere Menschen mindestens potenziell gefährdet sein müssen. III. Der Meinungsstand im Schrifttum So wenig homogen die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs insgesamt ausfallen, so unterschiedlich ist der Meinungsstand in der Literatur zu den Anforderungen an das hier näher zu untersuchende Mordmerkmal: Umstritten ist bereits, 19 BGH, NStZ 2007, 330; BGH, NStZ 2006, 503; BGH, NStZ 2006, 167; siehe auch BGH, Beschl. v. 5.12.2006 – 4 StR 468/06 –; vgl. zudem früher schon BGH VRS 63, 119 (Steinwürfe von der Autobahnbrücke), insofern aber auch BGH, NStZ-RR 1997, 294, wo das gemeingefährliche Mittel nicht angesprochen ist. 20 So BGH, NStZ 2007, 330; BGH, NStZ 2006, 167. 21 So BGH, NStZ 2007, 330. 22 Siehe dazu bereits Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 27, 183 ff. 23 In diese Richtung BGH, NJW 1985, 1477: Eignung, eine größere Anzahl von Menschen an Leib „oder“ Leben zu gefährden. 24 Dafür anscheinend BGHSt 38, 353 (354); BGHSt 34, 13 (14); BGH, NStZ 2006, 503; BGH, NStZ 2006, 167: Dort wird von „Leib und Leben“ gesprochen. BGH, Urt. v. 5.12.2006 – 4 StR 468/06 – benutzt den Begriff „Todesgefahr“.
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ob vorausgesetzt wird, dass das Mittel sowohl abstrakt gemeingefährlich ist als auch in der konkreten Situation nicht beherrscht wird25 oder in der konkreten Situation abstrakt gemeingefährlich sein muss,26 der Eintritt einer konkreten Gefahr erforderlich ist27 oder – wie es überwiegend vertreten wird – es ausreicht, dass das Tatwerkzeug in der konkreten Situation zur Gefährdung geeignet ist28. Weiterhin werden unterschiedliche Angaben gemacht zu der Zahl der zumindest potenziell Gefährdeten.29 Auch wird kontrovers diskutiert, ob es um Gefahren für das Leben gehen muss30 oder solche für den Leib genügen31. Ferner beurteilt 25 So Brandts, JA 1985, 491 (492); von Danwitz, Jura 1997, 569 (570 ff.); Horn (Fn. 2), § 211 Rn. 49 f.: Abstrakte Vielgefährlichkeit und vom Täter im konkreten Fall nicht beherrscht; ders., JR 1986, 32 f.; Otto, Jura 1994, 141 (150); ders., Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 4 Rn. 41. 26 Siehe Eschelbach, in: Beck’scher Online Kommentar, StGB, Stand: 2009, § 211 Rn. 66; Schneider, in: Münchener Kommentar, StGB, 2003, § 211 Rn. 107, jedoch wiederum mit gleichzeitigem Ausschluss bei Ungefährlichkeit im Einzelfall (siehe zu dessen Auffassung den Text unten bei Fn. 51); Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, 33. Aufl. 2009, Rn. 103; vgl. auch Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 211 Rn. 59; Hilgendorf, in: Arzt/Weber/B. Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 2009, § 2 Rn. 52. 27 So Blei, Strafrecht BT, 12. Aufl. 1983, S. 26; Gössel/Dölling, Strafrecht BT 1, 2. Aufl. 2004, § 4 Rn. 126; Krey/M. Heinrich, Strafrecht BT, Bd. 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 61; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teilbd. 1, 10. Aufl. 2009, § 2 III Rn. 48; vgl. auch Haft, Strafrecht BT II, 8. Aufl. 2005, S. 113, sowie Jäger, Strafrecht BT, 3. Aufl. 2009, Rn. 40; Mitsch, JuS 1996, 213 (215); Rengier, StV 1986, 405 (407 f.). 28 Siehe Eisele, Strafrecht BT I, 2008, Rn. 108; Hilgendorf (Fn. 26), § 2 Rn. 52; Hohmann/Sander, Strafrecht BT II, 2000, § 2 Rn. 46; Jähnke, in: Leipziger Kommentar, StGB, 11. Aufl. 2002, § 211 Rn. 57; Kindhäuser, Strafrecht BT I, 4. Aufl. 2009, § 2 Rn. 33 f.; Köhne, Jura 2009, 265 (267); Küper, Strafrecht BT, 7. Aufl. 2008, S. 235; Küpper, Strafrecht BT 1, 3. Aufl. 2007, § 1 Rn. 51; Neumann, in: Nomos Kommentar, StGB, 2. Aufl. 2005, § 211 Rn. 85; Rössner/Wenkel, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 2008, § 211 StGB Rn. 6. 29 Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 108, verlangt mindestens drei Unbeteiligte, die gefährdet werden können; ebenso Eschelbach (Fn. 26), § 211 Rn. 66; Rengier, StV 1986, 405 (409); Rössner/Wenkel (Fn. 28), § 211 Rn. 6. Andere verzichten auf eine zahlenmäßige Festlegung: Fischer (Fn. 26), § 211 Rn. 59 (unbestimmte Anzahl); Gössel/Dölling (Fn. 27), § 4 Rn. 126 (unbestimmt viele andere Menschen); Köhne, Jura 2009, 265 (268): Die Zahl der Personen müsse nicht ohne Weiteres auf einen Blick zu erfassen sein. 30 So Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 211 Rn. 29; Horn, JR 1986, 32 f.; Jäger (Fn. 27), Rn. 40; Köhne, Jura 2009, 265 (268); Krey/M. Heinrich (Fn. 27), Rn. 61; Küpper (Fn. 28), § 1 Rn. 51; Mitsch, JuS 1996, 213 (215); Neumann (Fn. 28), Rn. 86; Rengier, StV 1986, 405 (407); ders., Strafrecht BT II, 10. Aufl. 2009, § 4 Rn. 46; Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 106. 31 Eisele (Fn. 28) Rn. 108; Eschelbach (Fn. 26), § 211 Rn. 66; Gössel/Dölling (Fn. 27), § 4 Rn. 129; Hohmann/Sander (Fn. 28), § 2 Rn. 46 f. (es bedürfe zumindest der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung); Jähnke (Fn. 28), § 211 Rn. 57; Kudlich, Strafrecht BT II, 2. Aufl. 2009, Nr. 18; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 211 Rn. 11; Rauber, Mord durch Unterlassen? 2008, S. 160; Wessels/Hettinger (Fn. 26), Rn. 103; nach Blei (Fn. 27), S. 26, soll sogar eine Gefahr für Leben, Gesundheit und hochwertiges Eigentum anderer genügen.
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man die Mehrfachtötung unterschiedlich.32 Schließlich ist umstritten, ob im Einklang mit dem BGH33 das Mordmerkmal nicht durch Unterlassen verwirklicht werden kann34 oder dies durchaus in Betracht kommt35. IV. Stellungnahme Betrachtet man die verschiedenen Möglichkeiten, wie das Merkmal im Ausgangspunkt ausgelegt werden kann, ist zunächst an eine rein abstrakte Sicht zu denken, sodass zu prüfen wäre, ob das Mittel „im Allgemeinen“, „seiner Natur nach“, „typischerweise“ gemeingefährlich ist. Es käme dann also auf die abstrakte Gefährlichkeit des Mittels an, die losgelöst von den Einzelfallumständen zu ermitteln ist. Dafür mag die Historie sprechen, resultiert doch das Mordmerkmal ursprünglich aus der Aufzählung „mittels Gift, Sprengstoffen oder Feuer“.36 Andererseits muss man bereits eingestehen, dass der Gesetzgeber eben nicht bloß abstrakt gefährliche Mittel aufzählt, sondern den Begriff „gemeingefährliches Mittel“ benutzt. Diese Formulierung lässt nun wiederum zweierlei Deutungen zu: Einmal könnte man darunter verstehen, dass die Tatmittel „im Allgemeinen“, „normalerweise“, „typischerweise“ gefährlich sind; das würde eine abstrakte Betrachtung unter Ausblendung der Umstände des Einzelfalls bedeuten. Zum anderen kann aber der Begriff auch verstanden werden als „für die Allgemeinheit gefährlich“. Bei diesem Verständnis ist nun aber eine Betrachtung der konkreten Gegebenheiten möglich, denn für die Frage, ob eine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit vorliegt, können die Umstände des Einzelfalls zugrunde gelegt werden. Eröffnet der Wortlaut aber eine konkrete Betrachtung, dann verbietet sich eine Abstraktion.37 Fraglich ist damit, welche der beiden Deutungen zutrifft. Insofern ist nun hilfreich, dass das StGB an anderer Stelle eine zwar nicht identische, jedoch sehr ähnliche Formulierung verwendet: So findet sich in den §§ 145, 243 Abs. 1 S. 2 32 Für Gemeingefährlichkeit etwa Eisele (Fn. 28), Rn. 109; Rengier (Fn. 30), § 4 Rn. 47a; dagegen z. B. Hilgendorf (Fn. 26), § 2 Rn. 52; Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 103. 33 BGHSt 34, 13 (14); BGH, NStZ 2010, 87; offengelassen in BGHSt 48, 147 (149). 34 Vgl. Arzt, in: Festschrift für Roxin, 2001, S. 855, 858; Eisele (Fn. 28), Rn. 113; Eschelbach (Fn. 26), § 211 Rn. 71; Eser (Fn. 30), § 211 Rn. 29; Hilgendorf (Fn. 26), § 2 Rn. 53; Horn (Fn. 2), § 211 Rn. 53; Köhne, Jura 2009, 265 (267 f.); Krey/Heinrich (Fn. 27), Rn. 61a; Küpper (Fn. 28), § 1 Rn. 51; Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 109; Wessels/Hettinger (Fn. 26), Rn. 103. 35 So Fischer (Fn. 26), § 211 Rn. 61; Gössel/Dölling (Fn. 27), § 4 Rn. 130 f.; Rauber (Fn. 31), S. 168 ff.; Roxin, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 577, 583. 36 So Art. 52 des Vorentwurfs von 1896 zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch, an den sich § 211 StGB anlehnt; zur historischen Entwicklung siehe BGHSt 9, 385; von Danwitz, Jura 1997, 569 (570 ff.). 37 Zieschang (Fn. 22), S. 295.
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Nr. 6 und 323c StGB der Begriff der „gemeinen Gefahr“.38 Zwar scheint dies mehr einen Zustand zu umschreiben, wohingegen in § 211 StGB eher die Art und Weise der Tatausführung konkretisiert zu sein scheint,39 dennoch ist unabhängig davon aufschlussreich, wie dort der Begriff „gemein“ verstanden wird: Man verbindet damit nämlich eine Gefahr für eine unbestimmte Zahl von Menschen, eine solche für die Allgemeinheit, ohne dass von den Einzelfallumständen abstrahiert wird.40 Dann spricht aber einiges dafür, den Begriff „gemein“ in § 211 StGB ebenso zu verstehen, also danach zu fragen, ob eine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit vorliegt, ohne eine Abstraktion von den Einzelfallumständen vorzunehmen. Gegen eine ausschließlich abstrakte Sicht ist des Weiteren einzuwenden, dass das Merkmal selbst bei absoluter Ungefährlichkeit für Unbeteiligte im Einzelfall bejaht werden müsste: Die Beispiele aus der Rechtsprechung und im Schrifttum sind insofern mannigfaltig: § 211 StGB läge vor, wenn Gift in das Essen des Opfers O gegeben würde,41 der allein lebt, sodass Unbeteiligte nicht beeinträchtigt werden. Mord müsste angenommen werden, wenn der im Hochsitz befindliche Jäger mittels Sprengstoff getötet würde und weit und breit niemand anders gefährdet werden konnte.42 Ebenfalls wäre die Vorschrift zu bejahen, wenn der Skipper, der sich einsam auf hoher See befindet, aufgrund eines durch Zeitzünder ausgelösten Feuers an Bord sein Leben verliert,43 obwohl sich keine andere Person auch nur annähernd bei ihm befand. Der Totschlag würde also zum Mord hinaufgestuft mit der zwingenden Konsequenz einer lebenslangen Freiheitstrafe, obwohl das Verhalten konkret für andere überhaupt nicht gefährlich war. Eine solche Konsequenz wäre jedoch unverhältnismäßig und mit dem Schuldprinzip nicht mehr vereinbar. Bezeichnenderweise vertritt denn nun heute auch niemand
38 Zudem geht es in § 145 StGB und in § 323c StGB noch um gemeine Not. Es besteht Einigkeit, das sich der Begriff „gemeine“ auch auf die Not bezieht; Spendel, in: Leipziger Kommentar, StGB, 11. Aufl. 1996, § 323c Rn. 70. 39 Siehe dazu im Einzelnen unten den Text bei Fn. 61. 40 Siehe Fischer (Fn. 26), § 323c Rn. 3c, 3d, § 243 Rn. 21; Heine, in: Schönke/ Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 19; von Heintschel-Heinegg, Beck’scher Online-Kommentar, StGB, Stand: 2009, § 323c Rn. 12; Joecks, StGB, 8. Aufl. 2009, § 323c Rn. 11; Kindhäuser, Lehr- und Praxiskommentar, 4. Aufl. 2010, § 323c Rn. 11 f.; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 323c Rn. 3; Rudolphi/Stein, in: Systematischer Kommentar, StGB, Stand: 2007, § 323c Rn. 10; Verrel, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 323c StGB Rn. 7. Spendel (Fn. 38), § 323c Rn. 59, lässt daneben eine Gefahr für einen unbestimmten Einzelnen genügen, der repräsentativ für die Allgemeinheit steht; ebenso Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 323c Rn. 8; vgl. auch Freund, in: Münchener Kommentar, StGB, 2006, § 323c Rn. 70, 73. 41 Vgl. BGH, NJW 1985, 1477. 42 Siehe Horn (Fn. 2), § 211 Rn. 49. 43 Vgl. Rengier, StV 1986, 405 (406).
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mehr, allein die abstrakte Gefährlichkeit genüge bereits zur Annahme des Mordmerkmals. Hinzu kommt ein Weiteres: Würde man eine ausschließlich abstrakte Sicht zugrunde legen, wäre ganz offen, welcher Abstraktionsgrad maßgeblich wäre: Ist etwa Waschpulver möglicherweise als ein Gift abstrakt gefährlich? Wird es ein solches, wenn es dem Kantinenessen untergemischt wird? Ist es erst abstrakt gefährlich, wenn es in einer bestimmten Konzentration beigemischt wird? Kommt es darüber hinaus auch auf die Kantinenbenutzer an (Vorschulkinder, Jugendliche, Erwachsene, ältere Personen)? Man erkennt, dass der unterschiedliche Grad der Abstraktion oder reziprok der Umfang der Konkretisierung jeweils ganz verschiedene Ergebnisse liefern kann. Da es aber von vornherein gar nicht klar ist, welche Randbedingungen berücksichtigt werden, wären die Ergebnisse bei einer grundsätzlichen abstrakten Sicht ex ante zumindest schwer vorhersehbar, ja erschienen mitunter willkürlich und damit unvereinbar mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Der soeben angesprochene Aspekt spricht auch entscheidend gegen die teilweise im Schrifttum und mitunter auch in der Rechtsprechung zum Ausdruck kommende Sichtweise, die grundsätzlich eine abstrakte Beurteilung befürwortet, jedoch das Merkmal dann bei Ungefährlichkeit im Einzelfall verneint.44 Zwar entgeht diese Auffassung dem Vorwurf, dass lebenslange Freiheitsstrafe selbst dann verhängt werden muss, wenn die mögliche Gefährdung Dritter absolut ausgeschlossen ist, denn dann will sie eben auch Mord verneinen; es bleibt aber zum einen dabei, dass der Wortlaut des tatbezogenen Merkmals bei einer systemgerechten Interpretation gar keine Außerachtlassung der Einzelfallumstände gebietet.45 Zum anderen gerät diese Auffassung in Konflikt mit dem Gebot, nicht willkürlich das Merkmal zu bejahen oder aber zu verneinen: So meint etwa von Danwitz, der die abstrakte Gefährlichkeit des Mittels voraussetzt, das Mordmerkmal jedoch bei Ungefährlichkeit im Einzelfall verneint, bei einem Pkw sei diese abstrakte Gemeingefährlichkeit nicht gegeben;46 andererseits vertritt er den Standpunkt, sehr wohl abstrakt gemeingefährlich sei ein Pkw ohne funktionierende Bremsen.47 Eine solche Differenzierung erscheint aber wiederum willkürlich und unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgebot. Ein Pkw soll im Grundsatz nicht gemeingefährlich sein, jedoch ein solcher ohne funktionierende Bremsanlage schon; es liegt damit im Belieben des jeweiligen Betrachters, welche Einzelfallumstände noch hinzugezogen werden, um dann doch wieder die Gemeingefährlichkeit zu bejahen: Ist etwa ein Pkw ohne funktionierende Lichtanlage abstrakt gemeingefährlich? Ist er es möglicherweise nicht am Tag, jedoch in der Nacht 44 45 46 47
Siehe oben die Nachweise in Fn. 11 ff. und Fn. 25. Siehe dazu oben bei Fn. 40. von Danwitz, Jura 1997, 569 (573). von Danwitz, Jura 1997, 569 (573).
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oder nur in der Nacht bei einer Fahrt auf einer unbeleuchteten Straße? Von Vorhersehbarkeit kann nicht mehr die Rede sein. Hinzu kommt, dass von Danwitz tatsächlich die von ihm propagierte rein abstrakte Sicht verlässt, indem er durch die Konkretisierung der Randbedingungen – die Bremsanlage funktioniert nicht – eine Einzelfallbeurteilung vornimmt, ohne sich dies aber letztlich einzugestehen und ohne den richtigen Schritt zu gehen, der Betrachtung sämtliche Einzelfallumstände zugrunde zu legen. Die abstrakte Sicht hat aber weitere Nachteile: Konsequent angewendet müsste etwa Salz, da typischerweise (wohl) nicht abstrakt gefährlich, als gemeingefährliches Mittel ausscheiden. Das würde aber bedeuten, dass das Mordmerkmal nicht angenommen werden dürfte, wenn zum Beispiel der Täter, um ein bestimmtes Kind zu töten, einem Schulessen in erheblichen Mengen Salz untermischt, obwohl damit eine Todesgefahr auch für unbeteiligte Kinder verbunden ist.48 Da die Gemeingefährlichkeit dieses Verhaltens sich aber nun nicht von der unterscheidet, dass der Täter einen Sprengsatz im Speisesaal der Schule zur Explosion bringt, ist richtigerweise auch in diesem zwar nicht abstrakt, jedoch konkret gemeingefährlichen Fall das Mordmerkmal zu bejahen und damit insgesamt eine abstrakte Sicht abzulehnen. Teilweise hat man den Eindruck, dass Autoren, welche eine abstrakte Beurteilung befürworten, nicht hinreichend beachten, dass der Wortbestandteil „gemein“ nichts zu tun hat mit einer allgemeinen, abstrakten Betrachtung, sondern sich auf den Adressatenkreis bezieht, nämlich die Allgemeinheit. Die Frage, ob eine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit vorliegt, kann nun aber sehr wohl konkret beurteilt werden. Nur eine solche Sicht vermeidet willkürliche Entscheidungen. Das sieht letztlich auch von Danwitz, wenn er schlussendlich meint, bei Ungefährlichkeit im Einzelfall scheide das Merkmal aus.49 Wenn damit feststeht, dass eine Berücksichtigung der konkreten Situation zu erfolgen hat, bleibt weiter zu erörtern, ob – wie es teilweise vertreten wird – möglicherweise maßgeblich ist, dass das Tatmittel in der konkreten Tatsituation typischerweise Menschen gefährden kann. Die Befürworter einer solchen Sicht50 wollen also zunächst die Einzelfallumstände heranziehen, abstrahieren dann aber wieder und fragen, ob ein solches Tatmittel im Allgemeinen Menschen gefährden kann. Insoweit ist jedoch unmittelbar einzuwenden, dass sich nicht erschließt, warum man diese Abstraktion überhaupt vornimmt und nicht ausschließlich auf den konkret zu beurteilenden Fall abstellt. Gerade beim mit obligatorischer lebenslanger Freiheitsstrafe versehenen Mordtatbestand müssen die Einzelfallumstände den 48 49 50
Zur Lebensgefährlichkeit von Salz siehe BGH, NStZ 2006, 506. von Danwitz, Jura 1997, 569 (573 f.). Siehe die Nachweise in Fn. 21 und 26.
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Ausschlag geben, ohne dass es darauf ankommt, ob das Mittel typischerweise gefährlich ist. Anderenfalls könnte es wiederum sein, dass wegen Mordes bestraft wird, da das Tatmittel in der konkreten Situation typischerweise gefährlich war, obwohl der Täter es im Einzelfall beherrschte und damit Unbeteiligte gar nicht beeinträchtigt werden konnten. Dann wäre jedoch die lebenslange Freiheitsstrafe unverhältnismäßig. Zudem bleiben die Konturen im Dunkeln: Es ist nicht klar, welche Kriterien der abstrakten Betrachtung zugrunde gelegt werden und von welchen abgesehen wird. Um das obige Beispiel des Fahrzeugs mit defekter Lichtanlage (konkrete Tatsituation) wieder aufzunehmen: Kommt es bei der Frage nach der typischen Gefährlichkeit darauf an, dass das Fahrzeug nachts benutzt wird oder bleibt dies außer Betracht? Ist maßgeblich, ob die benutzte Straße beleuchtet ist? Sind die Witterungsverhältnisse zu berücksichtigen? Wird einbezogen, ob das Fahrzeug auf einer Straße mit Gegenverkehr benutzt wird? Auch hier zeigt sich, dass die Randbedingungen mannigfaltig sind und nicht vorhersehbar ist, was bei der abstrakten Betrachtung noch herangezogen wird und was nicht mehr, sodass wiederum die Gefahr willkürlicher Entscheidungen besteht. Letztlich ist die angebotene Formel praktisch nicht umsetzbar. Abgesehen davon erschließt sich nicht der Erkenntnisgewinn einer wie auch immer durchzuführenden abstrakten Betrachtung in der konkreten Situation; entscheidend ist doch allein, ob im zu beurteilenden Einzelfall die Möglichkeit der Beeinträchtigung Unbeteiligter bestand. Von daher vermag die Prüfung der abstrakten Gefährlichkeit in der konkreten Tatsituation nicht zu überzeugen. Wie wenig konsequent im Übrigen die abstrakte Betrachtung durchgehalten wird, sei schließlich an einem Beispiel veranschaulicht: So verlangt Schneider im Ausgangspunkt, dass in der konkreten Situation eine generelle Gefährlichkeit gegeben sein müsse.51 Bereits hierbei erschließt sich nicht, warum erst auf die konkrete Situation abgestellt wird, dann aber wieder – im Übrigen ohne Angabe jeglicher Maßstäbe – generalisiert werden soll. Ein solches Vorgehen erscheint wenig konsequent, nicht geboten und nicht praktikabel. Hinzu kommt nun, dass Schneider die Auffassung vertritt, nach dieser Feststellung sei die Gemeingefährlichkeit dennoch zu verneinen, wenn in concreto die Realisierung der Gefahr für Dritte tatsächlich ausgeschlossen ist.52 Die Prüfung erfolgt also im Ergebnis „konkret-abstrakt-konkret“. Letztlich vollzieht Schneider nicht den entscheidenden Schritt, indem er deutlich macht, dass allein eine konkrete Sicht maßgeblich ist, obwohl er selbst richtigerweise ausführt, dass anderenfalls die absolute Strafandrohung unverhältnismäßig wäre.53 51 Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 107: Ausreichend sei, dass das Tatwerkzeug „nach seinen typischen Wirkungsweisen tatsituativ“ solche Gefahren hätte hervorrufen können. 52 Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 107: „konkret-individuelle Ungefährlichkeitsfeststellung“. 53 Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 107.
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Als Zwischenergebnis kann somit festgehalten werden, dass es allein auf die Einzelfallumstände ankommt, ohne dass davon in welcher Weise auch immer zu abstrahieren ist. Muss man damit eine konkrete Betrachtung durchführen, hat das zur Konsequenz, dass im Ausgangspunkt drei mögliche Ausgestaltungen der Vorschrift gegeben sein können54: Einmal könnte verlangt sein, dass aus einem konkret gefährlichen Verhalten eine konkrete Gefahr resultieren muss. Zum anderen kommt in Betracht, dass das konkret gefährliche Verhalten einen konkret gefährlichen Zustand als der konkreten Gefahr vorgelagerten Erfolg verlangt. Schließlich könnte es ausschließlich um ein konkret gefährliches Verhalten gehen. Welche dieser Ausgestaltungen trifft nun auf das Merkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ zu? Zunächst ist zu erörtern, ob der Eintritt einer konkreten Gefahr erforderlich ist, wie es teilweise im Schrifttum vertreten wird.55 Für diese Auslegung spricht, dass dann vor dem Hintergrund der obligatorischen lebenslangen Freiheitsstrafe die engsten Voraussetzungen mit der Norm verknüpft würden und das Merkmal restriktiv ausgelegt würde. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Kennzeichen für die konkrete Gefahr der Zufallsaspekt ist: Konkrete Gefahr bedeutet, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob es zum Schadenseintritt kommt oder nicht.56 Darauf laufen letztlich alle Umschreibungen der konkreten Gefahr im Schrifttum hinaus,57 und dies entspricht auch der Auffassung des BGH58. Zufall bedeutete nun nichts anderes als Unbeherrschbarkeit der Situation.59 Letzteres wird aber gerade als ein Kennzeichen des gemeingefährlichen Mittels angesehen.60 Von daher gibt es durchaus eine Reihe von Aspekten, die zugunsten einer Auslegung im Sinne des Erfordernisses einer konkreten Gefahr sprechen. Andererseits ist zu bedenken, dass man den Aspekt der Unbeherrschbarkeit bei dem in Rede stehenden tatbezogenen Mittel richtigerweise darauf zu beziehen hat, dass der Täter nicht mehr in der Lage ist, das Mittel auf das ausgewählte Opfer zu begrenzen. Die Situation muss aber noch nicht zwingend so weit gediehen sein, dass sich Unbeteiligte in konkreter Gefahr befinden: Setzt der Täter in einem Mehrfamilienhaus zur Tötung des Opfers eine Wohnung vollständig in Brand, dann beherrscht der Täter die Ausbreitung des Feuers nicht mehr, selbst wenn alle anderen Wohnungsinhaber noch in der Lage sind, rechtzeitig das Haus 54 Zu den möglichen Strukturen siehe bereits ausführlich Zieschang (Fn. 22), S. 15 ff., 28 ff., 52 ff. 55 Siehe oben die Nachweise in Fn. 27. 56 Zieschang, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, S. 22. 57 Zieschang, GA 2006, 1 (8 f.). 58 BGH, DAR 1997, 281 (282); BGH, NStZ-RR 1997, 18. 59 Zieschang (Fn. 56), S. 22. 60 Siehe zum Beispiel BGHSt 38, 353 (354 f.); Eisele (Fn. 28), Rn. 108.
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zu verlassen, also deren Überleben nicht nur noch vom Zufall abhing. Zwischen der Unbeherrschbarkeit des eingesetzten Mittels einerseits und der Nichtbeherrschung im Sinne der konkreten Gefahr andererseits kann also unterschieden werden. Unabhängig von der vorangegangenen Überlegung ist folgender entscheidender Gesichtspunkt zu berücksichtigen: Während es bei der ersten und dritten Gruppe der Mordmerkmale um eine spezifische Motivation des Täters geht, ist Kennzeichen der tatbezogenen zweiten Gruppe eine bestimmte Art und Weise der Tatausführung: Der Täter tötet heimtückisch, grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln. Auch bei dem letzten Merkmal geht es wie bei den zuvor Genannten um die Begehungsart.61 Mit anderen Worten verlangt die Norm in Bezug auf die tatbezogenen Merkmale nicht einen aus der Handlung resultierenden besonderen Erfolg, sondern ausschließlich ein konkret gefährliches Verhalten. Daraus resultiert gleichzeitig, dass weder eine konkrete Gefahr noch ein spezifischer Erfolg im Sinne eines konkret gefährlichen Zustands vorausgesetzt wird. Dass in § 211 StGB bei dem untersuchten Mordmerkmal die Art und Weise der Tatbegehung in Rede steht, zeigt sich im Übrigen bei einem Vergleich mit der Strafbestimmung der unterlassenen Hilfeleistung. Wenn auch diese Norm dafür hilfreich ist, was inhaltlich unter dem Begriff „gemein“ zu verstehen ist62, weist sie unabhängig davon eine andere Struktur auf: Geht es in § 323c StGB darum, dass im Zustand der gemeinen Gefahr keine Hilfe geleistet wird, betrifft § 211 StGB im Gegensatz dazu den Fall, dass der Täter unter Benutzung gemeingefährlicher Mittel tötet. Dem entspricht es, wenn im Schrifttum die gemeine Gefahr in § 323c StGB verstanden wird als eine konkrete Gefahr63 oder als ein „Zustand“64 oder eine „Situation“65. Dagegen ist in § 211 StGB die Gemeingefährlichkeit mit dem Verhalten verknüpft, so dass dadurch die Tathandlung gekennzeichnet wird;66 maßgeblich ist die objektive Gefährlichkeit der Art und Weise der Tatausführung.67 Da es um die Beurteilung des Verhaltens geht, hat das zur Konsequenz, dass aus der Sicht ex ante zu beurteilen ist, ob die konkrete Art und Weise der An61 A.A. von Danwitz, Jura 1997, 569 (570 ff.); dessen grundsätzliche abstrakte Betrachtung vermag aus den bereits aufgezeigten Gründen insbesondere vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Mordmerkmal aber nicht zu überzeugen. 62 Siehe oben bei Fn. 40. 63 Siehe Fischer (Fn. 26), § 323c Rn. 3c, § 243 Rn. 21; Freund (Fn. 40), § 323c Rn. 70; von Heintschel-Heinegg (Fn. 40) § 323c Rn. 12; Joecks (Fn. 40), § 323c Rn. 11; Spendel (Fn. 38), § 323c Rn. 58; Sternberg-Lieben (Fn. 40), § 323c Rn. 8. 64 Lackner/Kühl (Fn. 31), § 323c Rn. 3; Verrel (Fn. 40), § 323c Rn. 7. 65 Kindhäuser (Fn. 40), § 323 c Rn. 11. 66 In diese Richtung auch Heine (Fn. 40), Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 19. 67 Blei (Fn. 27), S. 24; Fischer (Fn. 26), § 211 Rn. 59; Neumann (Fn. 28), § 211 Rn. 85; ferner Köhne, Jura 2009, 265, 268.
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wendung des Tatmittels geeignet ist, kumulativ zum ausgewählten Opfer andere Unbeteiligte in Gefahr zu bringen. Es geht um eine kumulative Tauglichkeit:68 Zusätzlich zu dem eigentlichen Opfer können andere Unbeteiligte beeinträchtigt werden, was etwa bei einem Pistolenschuss normalerweise nicht der Fall ist, da dort immer höchstens eine Person getroffen wird, sodass in diesem Fall die Gemeingefährlichkeit entfällt.69 Entscheidend ist also die konkrete objektive Gefährlichkeit des Verhaltens und damit im Übrigen auch nicht – wie oftmals angenommen wird70 – die besondere Rücksichtslosigkeit des Täters.71 Die Gemeingefährlichkeit ist vielmehr objektiv zu bestimmen: Aus der Sicht ex ante72 eines Dritten in der Situation des Täters73 ist zu beurteilen, ob kumulativ zu dem eigentlichen Opfer im konkreten Fall andere Unbeteiligte in Gefahr gebracht werden können. V. Einzelfragen Nachdem die vorangegangenen Überlegungen die Struktur der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln verdeutlicht haben, bedarf es ausgehend von den dort ermittelten Ergebnissen der Klärung von umstrittenen Einzelfragen. Konkret geht es darum, welche Art von Rechtsgütern potenziell betroffen sind (1.), ob eine Mindestzahl an möglicherweise beeinträchtigten Rechtsgutsobjekten vorliegen muss (2.), von einer gemeingefährlichen Tötung auch gesprochen werden kann, wenn der Täter alle Personen töten möchte (3.) und ob das Mordmerkmal auch bei einem Unterlassen gegeben sein kann (4.). 1. Die Art der potenziell betroffenen Rechtsgüter Zu klären ist zunächst, welche Art von Rechtsgut möglicherweise betroffen sein muss. Vom theoretischen Ausgangspunkt geht es hierbei um das Leben, die körperliche Unversehrtheit sowie um das Eigentum anderer. Dabei kann man innerhalb der beiden letztgenannten Rechtsgüter noch Differenzierungen etwa dahingehend vornehmen, ob es sich um fremde Sachen von bedeutendem Wert oder möglicherweise um eine drohende schwere Gesundheitsschädigung handeln muss. 68
Siehe dazu auch Rengier, JZ 1993, 364. Vgl. dazu BGHSt 38, 353; Rengier, JZ 1993, 364. 70 Etwa Eschelbach (Fn. 26), § 211 Rn. 66; Jähnke (Fn. 28), § 211 Rn. 57; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 27), § 2 III Rn. 48; Rössner/Wenkel (Fn. 28) § 211 Rn. 6; Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 102; Wessels/Hettinger (Fn. 26), Rn. 103. 71 Wie hier auch Neumann (Fn. 28), § 211 Rn. 85. 72 Rengier, JZ 1993, 364. 73 Zur konkreten Ausstattung des Beurteilers siehe bereits Zieschang (Fn. 22), S. 54 ff. 69
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Die Beantwortung dieser Frage hat sich dabei vor allem an der gebotenen restriktiven Interpretation der Mordmerkmale auszurichten; dies vor allem auch deshalb, weil die konkrete Gefährlichkeit des Verhaltens im Sinne des Merkmals relativ geringe Voraussetzungen aufweist. Immer dann, wenn aus der ex anteSicht unbeteiligte Güter durch die Tötungshandlung betroffen sein können, ist es verwirklicht. Lässt man nun die kumulativ mögliche Beeinträchtigung (hochwertigen) Eigentums ausreichen, würde nun aber § 211 StGB über dieses Merkmal eine doch zumindest bedenkliche Ausweitung erfahren. So wäre Mord gegeben, wenn der Täter beispielsweise einen Baseballschläger als Tötungsinstrument benutzt und er sich mit dem Opfer in einer Kampfsituation befindet, wobei – etwa in einer Wohnung – im Rahmen der Auseinandersetzung (wertvolles) Eigentum beschädigt werden kann. Auch bei einer Schussabgabe ist nicht selten auszuschließen, dass die Kugel fremde Sachen durchschlägt, bevor sie das Opfer trifft. Vergleichbare Aspekte sprechen auch dagegen, die mögliche Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit ausreichen zu lassen. So können wiederum bei einem Schuss, sofern andere Personen zugegegen sind, diese durch umherfliegende Splitter möglicherweise (erheblich) verletzt werden.74 Es erscheint daher vorzugswürdig, das Merkmal nur dann anzunehmen, wenn Unbeteiligte kumulativ zum eigentlichen Tatopfer getötet werden können. Erst diese engste Voraussetzung rechtfertigt es, den Totschlag zum Mord heraufzustufen.75 Dafür spricht im Übrigen auch der Vergleich der Strafandrohungen im StGB: So wird die besonders schwere Brandstiftung – als Tatmittel im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse – dann, wenn der Täter einer schweren Brandstiftung einen anderen Menschen durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt, gemäß § 306b Abs. 2 StGB „lediglich“ mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft, wobei der Täter auch hinsichtlich der Todesgefahr Vorsatz aufweisen muss.76 Dann wird man aber bei § 211 StGB, der obligatorisch lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht und nach den vorangegangenen Darlegungen in Bezug auf die Unbeteiligten keine konkrete Gefahr verlangt, sondern schon ein konkret gefährliches Verhalten ausreichen lässt, zu verlangen haben, dass diese Personen möglicherweise ihr Leben verlieren. Erst diese ganz besondere Gefährlichkeit vermag die lebenslange Freiheitsstrafe zu legitimieren. 74 Vgl. den Sachverhalt BGHSt 38, 353: Ein Unbeteiligter wurde durch einige infolge des Schusses in den Gaststättenraum fliegende Glassplitter am Auge verletzt; dazu auch Rengier, JZ 1993, 364 (365). 75 Neumann (Fn. 28), § 211 Rn. 86. 76 BGH, NJW 1999, 3131 (3132) m.w. N.; es ist umstritten, ob derjenige, welcher Gefährdungsvorsatz bezüglich des Todeseintritts hat, zwingend auch Tötungsvorsatz hat; siehe insofern die Nachweise bei Zieschang (Fn. 22), S. 122 f. Aber selbst wenn man dies mit der Rechtsprechung (etwa BGHSt 36, 1 [15 f.]; BGHSt 26, 244 [246]) verneint und zudem berücksichtigt, dass es bei § 306b StGB anders als bei § 211 StGB nicht um den Tod eines ausgewählten Opfers geht, macht der Vergleich deutlich, dass bei § 211 StGB keine zu geringen Anforderungen hinsichtlich der Art des Rechtsguts gestellt werden dürfen.
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2. Die Mindestzahl der betroffenen Rechtsgutsobjekte Kontrovers wird weiterhin beurteilt, ob eine Mindestzahl von Personen anzugeben ist, die betroffen ist, oder sich eine Festlegung erübrigt, indem es sich um eine unbestimmte Anzahl von Personen handeln muss. Die Befürworter einer zahlenmäßigen Konkretisierung erachten dies im Hinblick auf die Orientierungsfunktion der Norm für erforderlich.77 Überwiegend geht man dabei von drei Personen aus;78 die Gefährdung nur eines einzigen Unbeteiligten werde dem Unrechtscharakter der Tat nicht gerecht und könne daher nicht ausreichen.79 In der Tat erscheint es vor dem Hintergrund des Erfordernisses einer restriktiven Interpretation der Mordvorschrift problematisch, bereits eine Person neben dem Tatopfer genügen zu lassen. Dies widerspräche zudem dem Begriff der „Gemeingefährlichkeit“, wie er insbesondere in § 323c StGB benutzt wird, wo auf eine unbestimmte Anzahl von Menschen abgestellt wird.80 Auch nach der Entstehungsgeschichte des § 211 StGB ging es um die mögliche Beeinträchtigung vieler Menschen.81 Wie kann man aber nun den Begriff „viele Menschen“, der vor dem Hintergrund des in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgebots einer zahlenmäßigen Konkretisierung bedarf, hinreichend präzisieren? Das Schrifttum geht von drei Personen aus, jedoch muss man zugestehen, dass diese Zahl durchaus etwas in der Luft hängt, zumal kein Grund dafür angegeben wird, warum gerade diese und nicht eine andere Mindestgröße maßgeblich sein soll. Andererseits darauf abzustellen, ob die Zahl der Personen „nicht ohne Weiteres ,auf einen Blick‘ zu erfassen ist“,82 erscheint vor dem Hintergrund einer hinreichenden Normenklarheit ebenfalls nicht überzeugend. So bleibt offen, ob diese fehlende Überschaubarkeit schon bei vier Personen der Fall ist, möglicherweise bei zehn oder gar erst eventuell bei 40 oder noch mehr Menschen. Zur Lösung der Frage, was unter der Formulierung „viele Menschen“ zu verstehen ist, bietet sich zunächst einmal an, das StGB selbst darauf zu durchforsten, 77
Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 108. Siehe oben die Nachweise in Fn. 29. 79 Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 108. 80 Siehe oben bei Fn. 40. Lediglich diejenigen Autoren, die bei § 323c StGB genügen lassen, dass ein Einzelner gefährdet ist, der repräsentativ für die Allgemeinheit steht (vgl. am Ende von Fn. 40), könnten einen Unbeteiligten ausreichen lassen. Dagegen spricht aber die Entstehungsgeschichte des § 211 StGB, da es beim gemeingefährlichen Mittel um die Beeinträchtigung vieler Menschen gehen soll; siehe die nachfolgende Fußnote. 81 Siehe dazu als Fortentwicklung von Art. 52 des Vorentwurfs von 1896 zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch, an den sich § 211 StGB anlehnt (siehe oben Fn. 36), Art. 99 des Entwurfs eines Schweizerischen Strafgesetzbuches 1918: „. . . Feuer, Sprengstoffe oder andere Mittel, die geeignet sind, Leib und Leben vieler Menschen zu gefährden . . .“. 82 Köhne, Jura 2009, 265 (268); nach Köhne a. a. O. erfordere dies „jedenfalls mehr als drei Menschen“. 78
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ob in anderen Bereichen vergleichbare Begriffe benutzt werden und wie man diese jeweils interpretiert.83 Hierbei fällt auf, dass der Gesetzgeber bei verschiedenen Normen durchaus Mengenbegriffe verwendet. So findet sich im StGB neben anderen Angaben84 mehrfach die Formulierung „große Zahl von Menschen“85 und auch der Ausdruck „viele Personen“.86 Sicherlich ist richtig, dass bei der Bestimmung, was jeweils unter diesen Begriffen zu verstehen ist, stets die spezifische Ausgestaltung der Norm und der Zweck der Vorschrift unter Beachtung des geschützten Rechtsguts eine ganz besondere Rolle spielen, sodass selbst identischen Begriffen in verschiedenen Vorschriften unterschiedliche Bedeutungen zukommen können und die zahlenmäßige Größenordnung je nach Vorschrift durchaus voneinander abweichen mag.87 Auch muss man zugeben, dass solche Mengenangaben nicht von vornherein nur den Schluss auf eine ganz bestimmte Mindestanzahl zulassen. Andererseits bedarf es der hinreichenden Konkretisierung der Norm. Insofern ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse, dass der Begriff „große Zahl“ auffallend häufig bei Vorschriften des 28. Abschnitts des StGB (gemeingefährliche Straftaten) benutzt wird.88 Zwar ist richtig, dass das gemeingefährliche Mittel in der Mordvorschrift nicht deckungsgleich ist mit den gemeingefährlichen Straftaten; vielmehr kann § 211 StGB auch erfüllt sein, wenn Gemeingefährlichkeit allein aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls gegeben ist, wie etwa bei einem Steinwurf von der Autobahnbrücke. Andererseits muss man berücksichtigen, dass die Verwendung eines gemeingefährlichen Mittels wie Feuer und Sprengstoff, wodurch im Einzelfall Unbeteiligte beeinträchtigt werden können, durchaus den klassischen Fall der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln darstellt. Von daher bietet sich an, für die Frage, wie groß der betroffene Personenkreis ist, bei aller gebotenen Vorsicht, da die Delikte verschiedene Strukturen aufweisen, an diese Vorschriften und die dort mitunter verwendete Formulierung „große Zahl von Menschen“ anzuknüpfen. Trotz Unterschiede im Detail wird nun insbesondere bei § 306b Abs. 1 StGB mit dem Begriff „große Zahl“ überwiegend eine Größenordnung von mindestens zehn Menschen verbunden.89 Diese Zahl erachtet man im Übrigen auch bei dem 83 Siehe zu Mengenbegriffen im StGB auch Kretschmer, Festschrift für Herzberg, 2008, S. 827 ff.; Küpper, Festschrift für Kohlmann, 2003, S. 133 ff. 84 § 309 Abs. 2 StGB spricht etwa von einer „unübersehbaren Zahl von Menschen“, § 264a StGB von einem „größeren Kreis von Personen“. 85 Siehe §§ 306b Abs. 1, 308 Abs. 2, 309 Abs. 3, 312 Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 2, 318 Abs. 3, 330 Abs. 2 Nr. 1, 330a Abs. 1. 86 §§ 283a, 283d Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StGB. 87 Vgl. Wolters/Horn, in: Systematischer Kommentar, StGB, Stand: 2006, § 306b Rn. 4. 88 §§ 306b Abs. 1, 308 Abs. 2, 309 Abs. 3, 312 Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 2, 318 Abs. 3 StGB. 89 Siehe Geppert, Jura 1998, 597 (603); Gössel/Dölling (Fn. 27), § 41 Rn. 27; Heine (Fn. 40), Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 13a: je nach Gewicht der Verletzungen; Ingelfinger, JR
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Begriff „viele Menschen“ für maßgeblich.90 Zwar findet sich wiederholt auch als Mindestmaßstab bei Delikten, welche die Formulierung „große Zahl“ benutzen, die Forderung nach zumindest 20 Personen.91 In der notwendigen Entscheidung zur Herstellung ausreichender Bestimmtheit erscheint es indes für § 211 StGB vorzugswürdiger, auf eine Anzahl von zehn Personen neben dem/den eigentlichen Tatopfer(n) abzustellen: Dafür spricht, dass diese Größenordnung mit dem Begriff „viele Menschen“ verbunden wird, worum es ja gerade bei der Gemeingefährlichkeit im Sinne einer solchen für die Allgemeinheit, also für viele, geht. Diese Mindestgröße würde zudem zu einer im Vergleich zu den bisherigen Angaben eher zurückhaltenderen Anwendung des Mordmerkmals führen, ohne durch ein weiteres Heraufschrauben der Mindestanzahl die Anforderungen an das Erfülltsein zu überspannen. Auf diese Weise wird man dem Gehalt des Begriffs der „Gemein“gefährlichkeit“ am ehesten gerecht, zumal wie gesehen zu berücksichtigen ist, dass es beim gemeingefährlichen Mittel in § 211 StGB lediglich um die Art und Weise, also die spezifische Gefährlichkeit der Tathandlung geht, ohne dass insofern noch daraus kausal ein spezifischer Erfolg in Bezug auf einzelne unbeteiligte Rechtsgutsobjekte eintreten muss. Damit ist zu verlangen, dass aus der Sicht ex ante kumulativ zumindest weitere zehn unbeteiligte Personen einer Lebensgefahr ausgesetzt sein können. Erst dann kann man von einer Gefährlichkeit der Tathandlung „für viele“ sprechen. 3. Das Problem der Mehrfachtötung Im Zusammenhang mit dem Mordmerkmal „gemeingefährliches Mittel“ wird immer wieder auf das Problem der Mehrfachtötung hingewiesen: So sei der Fall erfasst, dass der Täter eine Bombe in ein Lokal wirft, um einen Anwesenden umzubringen, nicht aber die Konstellation, dass der Täter alle Anwesenden töten 1999, 211 (213); Jäger (Fn. 27), Rn. 514; Kretschmer, Festschrift für Herzberg, 2008, S. 827, 833; Kühn, NStZ 1999, 559; Müller/Hönig, JA 2001, 517 (522): Richtschnur; Nagel, Jura 2001, 588 (590): zwischen 10 und 14; Rengier (Fn. 30), § 40 Rn. 41; Wolff, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2008, § 306b Rn. 6; Wolters/Horn (Fn. 87), § 306b Rn. 4. Nach BGHSt 44, 175 (178) ist das Merkmal jedenfalls erfüllt, wenn „14 Personen als Bewohner eines mittelgroßen Hauses betroffen sind“. Abweichend Fischer (Fn. 26), § 306b Rn. 5: „jedenfalls“ bei 20 Personen; Radtke, ZStW 110 (1998), 848 (876); bei 20 Betroffenen sei der „sichere Anwendungsbereich“ erreicht; ders., in: Münchener Kommentar, StGB, 2006; § 306b Rn. 8 f.; anders wiederum Wessels/Hettinger (Fn. 26), Rn. 971: mehr als drei; dagegen verlangt Cantzler, JA 1999, 474 (476), fünfzig Personen. 90 Vgl. Fischer (Fn. 26), § 283a Rn. 3, 4; Kindhäuser (Fn. 40) § 283a Rn. 3; Küpper, Festschrift für Kohlmann, 2003, S. 133, 140; Wegner, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, VII 1 Rn. 190 („mehr als zehn Personen“). 91 Siehe Fischer (Fn. 26) § 306b Rn. 5; Radtke, ZStW 110 (1998), 848 (876); sowie etwa für §§ 330, 330a StGB Kretschmer, Festschrift für Herzberg, 2008, S. 827, 833 f. m.w. N.; Nagel, Jura 2001, 588 (591).
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will, da dann keine Unbeteiligten beeinträchtigt werden.92 Verschiedentlich ist versucht worden, dieses Problem zu lösen: So wird teilweise im letzteren Fall auf die niedrigen Beweggründe ausgewichen.93 Dagegen ist jedoch unmittelbar der Einwand zu erheben, dass zwar durchaus dieses täterbezogene Mordmerkmal bei der Mehrfachtötung vorliegen kann, dadurch aber nicht die Frage gelöst und entbehrlich wird, ob die Mehrfachtötung auch eine solche mit gemeingefährlichen Mitteln ist.94 Insbesondere Eisele und Rengier haben alternative Lösungswege angeboten: Erstrecke sich der Vorsatz des Täters darauf, alle Repräsentanten der Allgemeinheit zu töten, bestehe kein Grund, den Täter zu begünstigen und das Mordmerkmal zu verneinen.95 Seien nicht ausgesuchte, bestimmte Individualpersonen, sondern letztlich austauschbare Repräsentanten der Allgemeinheit betroffen, könne das Mordmerkmal etwa bei einem Bombenangriff auf ein Flugzeug angenommen werden.96 Befürwortet man eine solche Sicht, hat dies jedoch zur Konsequenz, dass zum einen gewisse Friktionen entstehen und zum anderen neue Unsicherheitsfaktoren mit dem Merkmal verbunden werden.97 Man stelle sich etwa einen Streit in der Unterwelt vor: Zündet der Täter zum Beispiel in einem gut besetzten Lokal eine Bombe, um alle dort anwesenden zwanzig Personen (Angestellte und Gäste) zu töten, damit er die Herrschaft über die Gastronomie in seinem Bezirk erhält, käme das Mordmerkmal nach Eisele und Rengier in Betracht, da austauschbare Repräsentanten der Allgemeinheit betroffen wären. Bringt der Täter dagegen bei einer Zusammenkunft von zwanzig ihm namentlich bekannten und mit ihm verfeindeten Restaurantbetreibern die Bombe zur Explosion, um alle zu töten, müsste die Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln nun aber verneint werden, da es sich nicht bloß um austauschbare Repräsentanten der Allgemeinheit geht. Hier zeigen sich zumindest Reibungen. Darüber hinaus werden neue Unsicherheiten in die Prüfung hineingetragen: So ist nicht hinreichend klar, wann noch von „austauschbaren Repräsentanten der Allgemeinheit“ auszugehen ist. Kann man dies noch annehmen, wenn der Täter eine Gruppe von dreißig Ausländern einer bestimmten Nation tötet? Wie verhält es sich mit Anhängern einer spezifischen politischen Gruppierung oder einer bestimmten Berufsgruppe? Unabhängig davon ist zu berücksichtigen, dass Hintergrund für die Heraufstufung zum Mord bei der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln nicht die Tötung vieler Menschen ist, sondern die ganz besondere Gefährlichkeit der Tathandlung, indem andere Menschen durch die Tat möglicherweise in Mitleidenschaft gezo92 93 94 95 96 97
Siehe etwa Hilgendorf (Fn. 26), § 2 Rn. 52; Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 103. Jähnke (Fn. 28), § 211 Rn. 57. Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 103. Eisele (Fn. 28), Rn. 109 f. Rengier, StV 1986, 405 (407); ders. (Fn. 30), § 4 Rn. 47a. Vgl. auch Schneider (Fn. 26), § 211 Rn. 103 m. Fn. 342.
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gen werden. Es geht also um die spezifische Art und Weise der Tatausführung, die zum Tod von Unbeteiligten führen kann. Von daher lässt sich durchaus erklären, warum das Mordmerkmal nicht Fälle der Mehrfachtötung erfasst,98 ohne dass dies als paradox zu erachten wäre.99 Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist de lege lata im Übrigen so zu akzeptieren. 4. Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln und Unterlassen Schließlich ist auf die kontrovers diskutierte Frage einzugehen, ob bei diesem Mordmerkmal eine Strafbarkeit wegen Unterlassens in Betracht kommt. Der BGH hat dies zwar in einer jüngeren Entscheidung offengelassen,100 in einem Urteil aus dem Jahr 1986 jedoch abgelehnt101. Das Mordmerkmal erfordere, dass der Täter ein Mittel zur Tötung einsetzt.102 Die Qualifikation habe ihren Grund in der besonderen Rücksichtslosigkeit des Täters, der sein Ziel durch die Schaffung unberechenbarer Gefahren für andere durchzusetzen sucht. Sie sei daher nicht gegeben, wenn der Täter eine bereits vorhandene gemeingefährliche Situation nur zur Tat ausnutzt.103 Dem stimmen weite Teile des Schrifttums zu.104 Es fehle an der Gleichstellbarkeit des Unterlassens mit dem aktiven Tun, an der Modalitätenäquivalenz.105 Die Formulierung „mit gemeingefährlichen Mitteln“ spreche zudem für das Erfordernis eines Handelns des Täters.106 Die Ablehnung des Unterlassens bewirke eine einschränkende Auslegung. Zudem sehe § 211 StGB ausschließlich lebenslange Freiheitsstrafe vor, sodass beim Unterlassen kein Ausgleich über die Strafzumessung stattfinden könne, was bewirke, dass die Entsprechungsklausel zu verneinen sei.107 Bei der Entscheidung der Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das zuletzt genannte Argument nicht zu überzeugen vermag: So sieht § 13 Abs. 2 StGB ausdrücklich eine fakultative Strafmilderung vor, die ebenfalls gemäß § 49 Abs. 1 StGB auf die lebenslange Freiheitstrafe Auswirkungen hat; ein Ausgleich bei der Strafzumessung ist daher im Grundsatz möglich. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Formulierungen im StGB bei den Begehungsdelikten logischer98
Ähnlich Köhne, Jura 2009, 265 (268 f.). Von „Paradoxon“ spricht etwa Schneider (Fn. 26) § 211 Rn. 103. 100 BGHSt 48, 147 (149). 101 BGHSt 34, 13. In dem Beschluss des BGH vom 7.7.2009 – 3 StR 204/09 – (NStZ 2010, 87) wird ausgeführt, der Senat sei sich zwar durchaus bedenkenswerten Einwänden gegen diese Rechtsprechung bewusst, er sehe aber dennoch keinen Anlass, „hier von ihr abzuweichen“. 102 BGHSt 34, 13 (14), Hervorhebung im Original. 103 BGHSt 34, 13 (14), Hervorhebung im Original. 104 Siehe oben die Nachweise in Fn. 34 sowie zur Gegenansicht in Fn. 35. 105 Horn (Fn. 2), § 211 Rn. 53. 106 Köhne, Jura 2009, 265 (268). 107 Köhne, Jura 2009, 265 (268). 99
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weise auf positives Tun ausgerichtet sind, sodass daraus unmittelbar keine Früchte für die Frage gezogen werden können, ob Unterlassen in Betracht kommt. Dies bestimmt sich vielmehr primär nach den Anforderungen des § 13 StGB. Schließlich ist es richtig, dass es einer einschränkenden Auslegung der Mordmerkmale bedarf, jedoch wird dadurch nicht die Prüfung entbehrlich, ob die Vorschrift nicht dennoch auch im Fall des Unterlassens in Betracht kommt. Wenn der BGH argumentiert, es gehe um den Einsatz des Mittels, nicht bloß um ein Ausnutzen, dann ist aus dieser Formulierung nicht sehr viel gewonnen: Abgesehen davon, dass im Wortlaut des § 211 StGB der Begriff „einsetzen“ nicht benutzt wird, ist „einsetzen“ einerseits und „ausnutzen“ andererseits nicht mehr als eine andere Umschreibung von „positivem Tun“ und „Unterlassen“. Daraus ist aber dann noch kein Argument dafür gewonnen, warum das Mordmerkmal nicht auch beim Ausnutzen, also Unterlassen, gegeben sein kann. Dass es bei den gemeingefährlichen Mitteln nicht entscheidend um die Rücksichtslosigkeit des Täters geht, ist im Übrigen bereits dargelegt worden.108 Damit verbleibt für die Frage, ob ein Unterlassen in Betracht kommt, letztlich nur der Aspekt zu beleuchten, ob die Entsprechungsklausel im Sinne des § 13 Abs. 1 a. E. StGB zu bejahen ist, also von der Modalitätenäquivalenz ausgegangen werden kann. Kennzeichen für die Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln ist ein Verhalten, durch das Unbeteiligte kumulativ zum eigentlichen Opfer beeinträchtigt werden können. Dieses Charakteristikum kann nun aber nicht nur mit positivem Tun, sondern auch mit Unterlassen verbunden sein: Verursacht etwa der Täter fahrlässig einen Brand in einem von mehreren Personen bewohnten Gebäude,109 wodurch er eine Garantenstellung aus Ingerenz einnimmt, und unternimmt er nun nichts zur Abwendung des Brandes, weil ihm der Tod der Bewohner recht ist, dann bedient auch er sich eines gemeingefährlichen Mittels110 zur Tötung und sein Unterlassen ist ebenso gefährlich für Unbeteiligte wie das etwaige positive Tun. Selbst wenn der Brand zufällig entstanden ist oder durch einen Dritten verursacht wurde, kann das Mordmerkmal durch Unterlassen verwirklicht werden, sodass Modalitätenäquivalenz vorliegt: Erkennt etwa der Vermieter eines maroden Mehrfamilienreihenhauses, dass im Keller des Gebäudes durch einen Kurzschluss ein Brand entstanden ist, und unternimmt er nun nichts, weil er den Tod der Bewohner des Gebäudes herbeiführen will, dann ist sein Nichtstun ebenso für Unbeteiligte gefährlich wie in dem Fall, dass er selbst den Brand zur Tötung der Bewohner legt.111 Zwar kennzeichnet das untersuchte 108
Siehe oben den Text bei Fn. 70. Vgl. den Sachverhalt bei BGHSt 34, 13: Der Angeklagte war mit brennender Zigarette eingeschlafen, was zu einem Gebäudebrand führte. 110 Es soll dabei davon ausgegangen werden, dass durch den Brand auch Unbeteiligte beeinträchtigt werden können. 111 Die in Fn. 110 genannte Prämisse soll auch hier gelten. 109
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Mordmerkmal die Art und Weise der Tatausführung, die sich für Unbeteiligte als besonders gefährlich darstellt, damit ist es aber nicht ausschließlich auf positives Tun begrenzt, denn dadurch kann ebenso das Unterlassen charakterisiert sein. VI. Schluss Es hat sich gezeigt, dass derzeit mit dem Mordmerkmal „gemeingefährliche Mittel“ eine ganze Reihe von Ungereimtheiten verbunden sind. Die vorangegangenen Überlegungen mögen einen Beitrag zur Abhilfe dieses Zustands schaffen: Kennzeichnend ist danach für das Mordmerkmal die besondere Gefährlichkeit der Art und Weise der Tatausführung. Eine Abstraktion von den Umständen des Einzelfalls findet nicht statt. Maßgeblich ist, ob aus der Sicht ex ante in der konkreten Situation durch das Verhalten des Täters aufgrund des eingesetzten Tatmittels neben dem ausgewählten Opfer kumulativ andere Menschen ihr Leben verlieren können. Da es um ein gefährliches Verhalten für die Allgemeinheit, also für viele Menschen, geht, ist die Mindestzahl der potentiell Beeinträchtigten bei zehn anzusiedeln. Nicht erfasst wird von dem Mordmerkmal die Mehrfachtötung. Dagegen kommt eine Unterlassungsstrafbarkeit bei entsprechender Garantenstellung durchaus in Betracht.
Täterschaft und Teilnahme bei der Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB) Von Jan Zopfs In den letzten 50 Jahren ist wiederholt eine Reform1 oder sogar die Abschaffung des Straftatbestandes der Beteiligung an einer Schlägerei gefordert worden.2 Unter Hinweis auf die generalpräventive Notwendigkeit der Norm3 hat sich der Straftatbestand und die beachtliche Strafdrohung aber nahezu unverändert erhalten. De lege lata bemüht man sich deshalb um eine restriktive Auslegung der Vorschrift4 – Die damit zusammenhängende Diskussion um das Verständnis der schweren Folge5 ist hinlänglich bekannt. Demgegenüber ist der Beteiligungsbegriff eher6 unbeachtet geblieben. Hier wird – entgegen aller Mahnungen zu einer restriktiven Auslegung – ein von der Rechtsprechung des Reichsgerichts geprägtes extensives Verständnis fortgeführt, das im Folgenden kritisch betrachtet werden soll. Täter des § 231 StGB ist, wer sich an einer Schlägerei oder an einem von mehreren verübten Angriff beteiligt. In Rechtsprechung und Schrifttum herrscht Einigkeit darüber, dass diese „Beteiligung“ nicht technisch zu verstehen ist7, also nicht jede Form der Täterschaft oder der Teilnahme (im Sinne des Beteiligtenbegriffs in § 28 Abs. 2 StGB) erfasst. Danach verbleibt neben der täterschaftlichen Beteiligung an der Schlägerei auch noch ein eigenständiger Anwendungsbereich 1 Zuletzt hat Saal, Die Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB), 2005, zugl. Diss. Bochum 2004, den Wegfall der schweren Folge und eine Reduktion des Strafrahmens gefordert. Eine Begrenzung der Strafobergrenze bei Beibehaltung der schweren Folge hatte bereits § 156 Abs. 1 des E 1962 gefordert. 2 So auch der RegE zum 6. StrRG (BT-Drs. 13/8587, S. 35) im Anschluss u. a. an Hund, Beteiligung an einer Schlägerei – ein entbehrlicher Tatbestand?, Diss. Mainz 1988. 3 Dazu z. B. der Bundesrat in der Stellungnahme zum Entwurf des 6. StrRG, s. BTDrs. 13/8587, S. 61, was dazu führte, dass § 227 StGB a. F. als § 231 StGB dem deutschen Strafrecht erhalten blieb. 4 Exemplarisch LK11-Hirsch (Stand: 15.12.2000) § 231 Rn. 1. 5 Dabei geht es nicht nur um die dogmatische Einordnung, sondern auch um die Reichweite der Norm (Selbstverletzung, gerechtfertigt herbeigeführte Folge, Beteiligung erst nach Eintritt der Folge). 6 Anders besonders Stree, Probleme des Schlägereitatbestandes, FS Schmitt, 1992, S. 215 (216–220). 7 In diesem Sinne bereits RGSt 9, 370 (380: „im Sinne des gemeinen Lebens“).
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für eine Teilnahmestrafbarkeit.8 Andererseits ist man sich aber auch darin einig, dass die täterschaftliche Beteiligung über ein unmittelbares Tätlichwerden gegen einen anderen hinausgehen und klassische Teilnahmehandlungen (wie das Zureichen von Waffen etc.) umfassen kann. Täterschaftlich beteiligt soll damit derjenige sein, der am Tatort (der Schlägerei oder des Angriffs) anwesend ist und durch seine Mitwirkung an Tätlichkeiten teilnimmt, die gegen andere gerichtet sind.9 Diese „Harmonie“ in der Auslegung des Beteiligungsbegriffs ist jedoch nur eine scheinbare. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich erhebliche Friktionen bei der Beurteilung derjenigen Mitwirkung, die hinter einem unmittelbarem Tätlichwerden (bzw. dem Ansetzen zu einem solchen) zurückbleibt. Grundsätzlich ist dabei zu beachten, dass es auf dem Boden des Beteiligungsbegriffs der h. M. ohnehin zwei Formen der Beteiligung gibt: Neben der oben angeführten Beteiligung an einer bereits stattfindenden Auseinandersetzung ist die Beteiligung zu beachten, durch die ein Angriff oder eine Schlägerei erst begründet wird – Küper spricht hier von einer schlägereikonstitutiven Beteiligung. Insoweit genügt unstrittig nicht eine rein psychische Unterstützung (einer der Kontrahenten eines Zweikampfs wird angefeuert), so dass die konstitutive Beteiligung enger gefasst wird als die oben definierte Beteiligung an einer stattfindenden Auseinandersetzung.10 Wie diese restriktiven Kriterien darüber hinaus zu bestimmen sind, ist ungeklärt. So sieht der BGH den für eine Schlägerei notwendigen dritten Mann schon in demjenigen, der Schlichtungswillige oder Personen abhält, die einem der beiden Streitenden zur Hilfe eilen wollen.11 Nach Küper12 8 Etwa durch Tatortabwesende, die Personen zur Beteiligung an der stattfindenden Schlägerei anstiften oder diese mit Waffen etc. ausrüsten, insoweit unstrittig, vgl. LK11Hirsch, § 231 Rn. 20 (Fn. 4) oder NK3-Paeffgen, 2010, § 231 Rn. 19. 9 In diesem Sinne – sieht man von dem Streit um die Einbeziehung einer nur psychischen Mitwirkung ab – die ganz h. M.: Fischer, StGB57, 2010, § 231 Rn. 8 („dazu beitragen, dass geschlagen wird“); Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 231 Rn. 3 („Anwesenheit am Tatort und irgendeine [. . .] Mitwirkung in feindseliger Willensrichtung“); LK11Hirsch, § 231 Rn. 6 (Fn. 4) („alle, die am Tatort an den Auseinandersetzungen in gegnerischer Weise teilnehmen“); LPK4-Kindhäuser, 2010, § 231 Rn. 8 („Mitwirkung an den gegen andere gerichteten Tätlichkeiten“); MK-Hohmann, 2003, § 231 Rn. 14 („Teilnahme an einer körperlichen Auseinandersetzung“); NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 8 (Fn. 8) („am Tatort anwesend und aktiv [. . .] und in feindseliger Weise durch einen [. . .] Tatbeitrag an jenen Aggressionsakten mitwirkt“); Sch/Sch/Stree27, 2006, § 231 Rn. 6 („jeder, der am Tatort anwesend ist und in feindseliger Weise an den Tätlichkeiten teilnimmt“); SK7-Horn/Wolters (Stand: August 2003), § 231 Rn. 5 („in feindseliger Weise an den Tätlichkeiten bzw. am Angriff teilnimmt“). 10 Küper, Strafrecht BT – Definitionen7, 2008, S. 263 f. (für den Angriff: S. 17); sachlich ebenso Eisele, ZStW 110 (1998), 69 (72 f.); LK11-Hirsch, § 231 Rn. 4 und 7 (Fn. 4); wohl auch MK-Hohmann, § 231 Rn. 15 (Fn. 9). 11 BGHSt 15, 369 (371 f.) = NJW 1961, 839 (840); zustimmend: Stree (Fn. 6), S. 216 f. (wenn dies den Fortgang des Streits fördert). Anders (Abhalten eines Dritten genügt nicht) die hL: vgl. z. B. LK11-Hirsch, § 231 Rn. 4 (Fn. 4); MK-Hohmann, § 231 Rn. 6 (Fn. 9); SK7-Horn/Wolters, § 231 Rn. 5 (Fn. 9). 12 Küper, BT7 (Fn. 10), S. 263.
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genügt als schlägereikonstitutive Beteiligung eine „physische Beihilfe“, nach Hirsch13 müssen die Personen „gegeneinander tätlich“ werden, bzw. bedarf es einer „unmittelbaren aktiven Mitwirkung“. Für die Beteiligung an einer stattfindenden Auseinandersetzung ist zum einen umstritten, ob die Beteiligung in feindseliger Weise vorgenommen werden muss.14 Zum anderen ist strittig, ob die Beteiligung generell15 oder zumindest im Falle der unterstützenden physischen oder psychischen Mitwirkung parteiergreifend16 sein muss, damit von einem täterschaftlichen Beteiligen gesprochen werden kann. Daneben ist aber auch ungeklärt, ob eine psychische Unterstützung für eine Beteiligung ausreicht,17 unter welchen Voraussetzungen das Abhalten Dritter tatbestandsmäßig sein kann18 und ob eine Anstiftungshandlung am Ort des Geschehens für eine täterschaftliche Beteiligung genügt.19 Die eingangs angeführte Definition der täterschaftlichen Beteiligung (Anwesenheit am Tatort und aktive Mitwirkung an der Auseinandersetzung) erbringt LK11-Hirsch, § 231 Rn. 4 (Fn. 4); MK-Hohmann, § 231 Rn. 15 (Fn. 9) will offenbar ein „Mitschlagen“ voraussetzen. 14 So Lackner/Kühl26 (Fn. 9); NK3-Paeffgen (Fn. 8); Sch/Sch27 /Stree (Fn. 9); SK7Horn/Wolters (Fn. 9) mit dem Ziel, über dieses Kriterium den schlichtend Eingreifenden aus dem Anwendungsbereich des Tatbestands herauszunehmen. Dagegen LK11Hirsch, § 231 Rn. 6 (Fn. 4) und MK-Hohmann, § 231 Rn. 14 (Rn. 9) mit dem Hinweis, dass es dem tatbestandlich einzubeziehenden Nothelfer an einem solch feindseligen Willen fehlt. Mit Hirsch ist deshalb treffender ein „Vorgehen in gegnerischer Weise“ zu verlangen. 15 LK11-Hirsch, § 231 Rn. 6 (Fn. 4) unter Hinweis auf RGSt 5, 170 (dort wird allerdings nicht die Ansicht des RG, sondern die des Revisionsführers wiedergegeben). 16 So: LK11-Hirsch, § 231 Rn. 7 (Fn. 4); MK-Hohmann, § 231 Rn. 16 (Fn. 9); SK7Horn/Wolters, § 231 Rn. 5 (Fn. 9); dagegen (bei physischer Beihilfe): Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip, 1998, S. 283 Fn. 65. Ohne diesen Zusatz der parteiergreifenden Unterstützung Fischer57, § 231 Rn. 8 (Fn. 9) und auch BGHSt 15, 369 (371 f.), wenn dort das Abhalten eines Schlichtungswilligen als täterschaftliches Beteiligen gesehen wird, weil es den Fortgang des Streits fördere. 17 Ablehnend: Stree (Fn. 6), S. 219 f.; ders. in: Sch/Sch, § 231 Rn. 6 (Fn. 9); Geisler (Fn. 16), S. 283; ebenso: Küper, GA 1997, 301 (328); Lackner/Kühl26, § 231 Rn. 3 (Fn. 9); NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 8 (Fn. 8). 18 NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 17 (Fn. 8) verlangt ein gewaltsames Abhalten des Schlichtungswilligen, Stree (Fn. 6), S. 216 f. differenziert nach der Eingriffsrichtung des abgehaltenen Dritten (schlichtend oder teilnehmend), SK7-Horn/Wolters, § 231 Rn. 7 (Fn. 9) und LK11-Hirsch, § 231 Rn. 7 (Fn. 4) wollen nach der Zielrichtung des Abhaltenden (parteiergreifend?) unterscheiden, und Fischer57, § 231 Rn. 8 (Fn. 9) lässt jedes „Abhalten von Hilfskräften“ genügen. 19 Überwiegend wird zwar hervorgehoben, dass sich die Anstiftung nach allgemeinen Regeln richtet – es hier also offenbar nicht auf die Tatortanwesenheit ankommen soll (vgl. etwa Sch/Sch27 /Stree, § 231 Rn. 12 [Fn. 9]). NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 19 (Fn. 8) und Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2, 2009, § 6 Rn. 93 verstehen die h. M. hingegen so, dass es doch auf die Tatortanwesenheit ankommen soll. Unklar zum Tatortbezug bleibt MK-Hohmann § 231 Rn. 29 (Fn. 9): Nur Anstiftung zu § 231 StGB, wenn die Schlägerei „auf der gegenüberliegenden Straßenseite“ stattfindet. 13
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also keineswegs eine klare Abgrenzung20 zwischen Täterschaft und Teilnahme bei § 231 StGB. Zu klären ist deshalb, weshalb dieser Beteiligungsbegriff gleichwohl allgemein favorisiert, und mit welchen Normzweckerwägungen er gestützt wird. I. Die Beteiligung als Tathandlung im Besonderen Teil des StGB Neben der Verwendung des Beteiligtenbegriffs in § 28 Abs. 2 StGB wird im Besonderen Teil die Beteiligung auch mehrfach als Tathandlung angeführt. So kennt das StGB nicht nur die Beteiligung an einer Schlägerei, sondern auch eine solche „als Täter oder Teilnehmer“ an Gewalttätigkeiten und Bedrohungen (§ 125), die Beteiligung an einem Glücksspiel (§ 285) und die Beteiligung „als Mitglied“ krimineller (§ 129) oder terroristischer Vereinigungen (§ 129a). Der Blick auf die jeweilige Auslegung dieser Tathandlungen hilft bei der Bestimmung des Begriffs bei § 231 StGB jedoch kaum weiter. Bei § 285 StGB21 ist zwar als Tathandlung ebenfalls nur die Beteiligung angeführt, die tatsächliche Handlung hat mit der des § 231 StGB aber nur wenig gemein. Letzteres ist bei der Beteiligung an der Gewalttätigkeit beim Landfriedensbruch zwar anders, dort ist aber ausdrücklich klargestellt, dass der Tatbestand auch durch die Beteiligung eines Teilnehmers verwirklicht wird. Und daraus folgt keineswegs, dass – weil ein solcher Zusatz bei § 231 StGB fehlt – dort eine Teilnahme als Beteiligung zur Tatbestandserfüllung nicht ausreichen kann. Denn bei § 125 StGB soll jede Teilnahme genügen, während die h. M. zu § 231 StGB nur solche Unterstützungshandlungen einbeziehen will, die vor Ort erbracht werden. Die umstrittene Auslegung zu §§ 129, 129a StGB, nach der jedes Unterstützen als täterschaftliches Verhalten betrachtet wird, ist erkennbar von dem besonderen Schutzzweck dieser Norm geprägt. Schon diese Besonderheit steht einer Übertragbarkeit des Begriffsverständnisses auf andere Tatbestände entgegen. Zudem wird eine Beteiligung als Mitglied vorausgesetzt. Auch diese – dem § 231 StGB fremde – Inkorporation beeinflusst das Gewicht der Tathandlung. II. Die Beteiligung im Hinblick auf die Ratio des § 231 StGB Die Erstreckung des Beteiligungsbegriffs auf Unterstützungsmaßnahmen vor Ort wird in der Kommentarliteratur nicht begründet – auch die dafür angeführte Rechtsprechung des Reichsgerichts hat sich darum nicht bemüht.22 Erst bei der 20 Siehe auch: NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 8 (unklare Grenzziehung) (Fn. 8); Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT2 (Fn. 19), § 6 Rn. 93 (unsichere Abgrenzung). 21 Insoweit besteht Einigkeit, dass die Abgrenzung sich nach den allg. Regeln der §§ 25 ff. richtet, vgl. MK-Groeschke/Hohmann, 2006, § 285 Rn. 10. 22 Siehe RGSt 5, 170 (171); RG Rspr 9, 584; RG JW 1932, 948 (949); RG HRR 1941, Nr. 369. Lediglich Wegner hat in seiner Anmerkung zu RG JW 1932, 948 ver-
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Diskussion um die Art der Beihilfehandlung oder generell beim Schutzzweck finden sich entsprechende Anhaltspunkte. Zu nennen ist etwa die Steigerung des typischen Risikos, das von einer Schlägerei ausgehe; eine solche Risikosteigerung sei auch schon mit der psychischen Beihilfe23 und jeder [alternativ: nur der physischen] parteiergreifenden Unterstützung24 verbunden, nicht aber mit jedem Abhalten Eingriffswilliger.25 Daneben wird auch auf die Schwierigkeit verwiesen, die Art der Beteiligungshandlung genau nachzuweisen. Überzeugend sind all diese Überlegungen jedoch nicht: 1. Beweisschwierigkeiten und der weite Beteiligungsbegriff? Die Vorschrift soll nicht nur vor den Gefahren für Leib und Leben schützen, die bei Schlägereien und von mehreren vorgetragenen Angriffen bestehen. Im Schrifttum wird der Sinn der Vorschrift auch darin gesehen, den dabei auftretenden „typischen Beweisschwierigkeiten (. . .) zu begegnen“.26 Bei diesen Nachweisschwierigkeiten geht es nicht darum, den Täter wegen seines vermuteten Beitrags an der Herbeiführung der schweren Folge zur Rechenschaft zu ziehen.27 Nach h. M. ist es vielmehr so, dass – weil der Nachweis der Verursachung der schweren Folge in solch unübersichtlichen Situationen meist nicht gelingt – schon die bloße Beteiligung an solchen Auseinandersetzungen unter Strafe gestellt wird, um der Gefahrensituation entgegenzuwirken.28 Mit anderen Worten: Weil die Verursachung der schweren Folge im Tumult nicht nachgewiesen werden kann, wird stattdessen29 schon die Beteiligung als solche bestraft – dies allerdings nur, wenn der Tumult eine schwere Folge30 hervorgebracht hat. sucht, mit dem Gefährdungsdeliktscharakter den weiten Kreis der Beteiligten zu rechtfertigen. 23 Z. B. LK11-Hirsch, § 231 Rn. 7 (Fn. 4). 24 Z. B. Stree (Fn. 6), S. 220; kritisch hingegen NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 19 (neutrale Unterstützung erbringe nicht weniger Gefahren für Leib oder Leben) (Fn. 8). 25 Stree (Fn. 6), S. 217: kein potentieller Beitrag zur Gefährlichkeit einer tätlichen Auseinandersetzung. 26 SK7-Horn/Wolters, § 231 Rn. 1a. (Fn. 9); ebenso z. B. Lackner/Kühl26, § 231 Rn. 1 (Fn. 9); LK11-Hirsch, § 231 Rn. 1 (Fn. 4); Sch/Sch/Stree, § 231 Rn. 1 (Fn. 9). 27 Darauf zielten noch die Strafvorschriften wegen Tötung im Raufhandel bis zum Jahre 1840 ab, zur Entwicklungsgeschichte Zopfs, Jura 1999, 172 (173 ff.). 28 Kritisch dazu LK11-Hirsch, § 231 Rn. 1 (Fn. 4). Die Interpretation der h. M. war früher auch im Hinblick auf die Regelung in § 367 Abs. 1 Nr. 10 StGB a. F. erheblichen Einwänden ausgesetzt, da bereits dort die (sogar bewaffnete) Beteiligung an einer folgenlosen Schlägerei mit (im Vergleich zu § 227 StGB a. F.) geringerer Strafe bedroht war. Das RG versuchte dem zu begegnen, indem es bei § 367 StGB a. F. die Anforderungen an die Schlägerei bzw. den Angriff herabsetzte, vgl. bei Schwarz/Dreher, StGB30, 1968, § 367 Anm. 10. 29 BGHSt 33, 100 (103). 30 Die Funktion der in § 231 StGB angeführten schweren Folge ist damit allerdings noch nicht befriedigend geklärt. So hat bereits Löffler (Vergleichende Darstellung des
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Die Unübersichtlichkeit der tätlichen Auseinandersetzung wird aber auch angeführt, wenn es um den Nachweis der Beteiligungshandlung selbst geht.31 So betont Hirsch32, dass vielfach nicht zu ermitteln sei, ob ein physischer oder psychischer Unterstützungsbeitrag vorliege. Auch deshalb müsse die Beteiligung im Sinne des § 231 StGB jede Form der Mitwirkung erfassen. Diese Überlegungen berücksichtigen den Umfang der ohnehin festzustellenden Tatsachen jedoch nicht. Denn die bloße Anwesenheit auf dem Kampfplatz, das „Dabeisein“ bei einer Schlägerei genügt für eine Beteiligung nach allen Ansichten nicht. Erforderlich ist vielmehr stets der zweifelsfreie Nachweis, dass der Handelnde in irgendeiner Weise dazu beigetragen hat, dass geschlagen wird. Muss aber ein Mitwirkungsbeitrag als Anknüpfungspunkt ohnehin zweifelsfrei festgestellt werden, so ist auch erwiesen, welche Beteiligungshandlung (physisch oder psychisch) zugrunde liegt. Bestehen insoweit Nachweisschwierigkeiten, dann fehlt die Anknüpfung insgesamt, so dass auch bei weiter Auslegung des Beteiligungsbegriffs keine Bestrafung möglich ist. Ist der Nachweis hingegen erbracht, so ist auch die Art der Mitwirkung geklärt, die dann nach allgemeinen Regeln als täterschaftliche Beteiligung oder nur als Teilnahme an fremder Beteiligung unterschieden werden könnte. Eine weite Auslegung der Beteiligung wäre also auch dann nicht notwendig.33 Hier ließe sich möglicherweise einwenden, dass bei § 231 StGB an den Nachweis einer die Haupttat fördernden Beihilfe aber doch höhere Anforderungen zu stellen sind als an den Nachweis einer täterschaftlichen Mitwirkungshandlung. Denn diese setzt nach h. M. nur voraus, dass der Täter „in feindseliger Weise gegen irgend Jemand sich verhält“.34 Bedingen die Nachweisschwierigkeiten beim Raufhandel also eine weite Auslegung der täterschaftlichen Beteiligung, um den Beweisanforderungen der Beihilfe zu entgehen? Dies würde jedoch bedeuten, dass die „Beweismangel-Situation“ den Handelnden „gleichsam ,zur Strafe‘ für die schlechte Beweislage in die Rolle eines Täters“ 35 hievt. Außerdem gehen die Beweisanforderungen, die an eine Beihilfe zu einer Beteiligung an einer Schlägerei zu stellen sind, ohnehin nicht weiter als der Nachweis einer täterschaftlichen Mitwirkung im Sinne des herrschenden Verständnisses. Denn diese dt. und ausl. Strafrechts, BT, Band V [1905], S. 325) von einem „unausgesetzt störenden inneren Widerspruch“ gesprochen, der zwischen dem polizeilichen Charakter des Tatbestandes und dem Einfluss der schweren Folge besteht. Diese Schwierigkeit besteht nach wie vor, etwa bei der Diskussion um den Zeitpunkt der Beteiligung. 31 Dabei ist unumstritten, dass die für eine Schlägerei bzw. einen Angriff mehrerer konstitutive Beteiligung ohnehin während der gesamten Zeitdauer der Auseinandersetzung nachgewiesen werden muss. 32 LK11-Hirsch, § 231 Rn. 7 (Fn. 4); ähnlich MK-Hohmann, § 231 Rn. 16 (Fn. 9). 33 Im Ergebnis auch Hund (Fn. 2), S. 88 f.: „Somit löst § 227 StGB [a. F.] keine Beweisprobleme bezüglich der Beteiligung des einzelnen.“ 34 So RG Rspr 9, 584 (584). 35 NK3-Paeffgen, § 231 Rn. 8 (Fn. 8).
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Mitwirkung muss stets so beschaffen sein, dass sie für den Fortgang der Auseinandersetzung förderlich ist36 bzw. das Risiko einer Gesundheitsschädigung für die Anwesenden erhöht.37 Höhere Anforderungen werden – nach herrschender Ansicht – bekanntlich auch für die Kausalität einer Beihilfe nicht gefordert. 2. Die angeblich typisch gefährlichen Unterstützungsmaßnahmen Im Schrifttum wird die täterschaftliche Beteiligung – häufig allerdings ohne nähere Begründung – unter Hinweis auf die besondere Gefährlichkeit solcher Unterstützungsmaßnahmen bejaht. Hier lassen sich drei unterschiedliche Unterstützungsformen ausmachen: Die parteiergreifende Unterstützung soll gefährlicher sein als eine, die allen Kämpfenden zu Gute kommt,38 die physische Mitwirkung soll mehr Gefahren mit sich bringen als die nur psychisch wirkende39 und die am Tatort geleistete Hilfe berge höhere Risiken als eine, die außerhalb desselben vorgenommen wurde. Eine überzeugende Abgrenzung zwischen täterschaftlicher Beteiligung einerseits und einer Teilnahme an der Beteiligung andererseits kann damit jedoch nicht erzielt werden: Zwischen dem Zureichen eines Prügels und dem anfeuernden Zuruf „Tritt doch mit den Springerstiefeln“ liegt – was die Gefährlichkeit für Leib und Leben der Beteiligten angeht – kein wesentlicher Unterschied. Denn ein Prügel etc. muss im Tumult von dem unmittelbar Beteiligten zuerst einmal so ergriffen werden, dass er auch gegen Dritte eingesetzt werden kann. Hier vermögen gezielte Hinweise zur Vorgehensweise ebenso gefährlich sein, zumal nicht außer Acht zu lassen ist, dass der unmittelbar Tätige „in einer Art von Bühnensituation steht.“40 Ein Zuruf der Zuschauer zeigt ihm unmissverständlich, was von ihm erwartet wird, und kann ihn – wenn er und der Zurufende derselben Gruppe angehören, psychisch unmittelbar unter Zugzwang setzen. Dass die physischen Unterstützungen bereits Kämpfender daher typischerweise gefährlichere Auswirkungen haben als die nur psychisch wirkende verbale Mitwirkung, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht sagen. Eine generell höhere Gefährlichkeit ist auch nicht der Unterstützungsmaßnahme vor Ort beizumessen, vergleicht man sie mit einer solchen, 36 BGHSt 15, 369 (371); ähnlich RGSt 5, 170 (171) und RG HRR 1941, Nr. 369: „dazu mitwirkt, daß geschlagen wird“); enger (und sachlich auf eine versuchte psychische Förderung abstellend): RG JW 1932, 948 (Verbleiben in der Menge mit dem Willen der Unterstützung der eigenen Partei bzw. Schwächung der Gegenpartei); MK-Hohmann, § 231 Rn. 16 (Anwesenheit soll eine der Parteien ermuntern) (Fn. 9). 37 LK11-Hirsch, § 231 Rn. 7 (Fn. 4) für psychisch wirkende Beiträge. 38 s. die Nachweise in Fn. 16 und 24. 39 Saal (Fn. 1), S. 89; Stree (Fn. 6), S. 220 und die Nachweise in Fn. 17. Dagegen LK11-Hirsch, § 231 Rn. 7 (Fn. 4); MK-Hohmann, § 231 Rn. 16 (Fn. 9); SK7-Horn/Wolters, § 231 Rn. 5 (Fn. 9). 40 Hund (Fn. 2), S. 61 m.w. N.
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die außerhalb des Tatorts41 geleistet werden. So wird das vielfach angeführte Zureichen von Wurfgegenständen oder Waffen im allgemeinen Tumult mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein, die nicht bestehen, wenn der zum Kampfort Eilende zuvor an noch unbedrängter Stelle mit Waffen versehen wird. Und schließlich ist auch nicht einsichtig, weshalb das Ausrüsten einer Partei mit Steinen für die Beteiligten nun mehr Gefahren mit sich bringen soll, als wenn alle Tätigen mit Steinen ausgerüstet worden wären. Und dies gilt nicht nur für eine Schlägerei,42 sondern auch für einen Angriff mehrerer: Wird hier nur die Angriffsseite mit Wurfgeschossen versorgt, so werden dadurch die Risiken für den Angegriffenen zwar erhöht. Das gleiche Risiko trifft ihn aber, wenn auch er mit solchen Wurfgeschossen ausgerüstet worden ist, diese aber als nur Angegriffener nicht zu seiner Verteidigung einsetzen kann.43 Soweit Stree die täterschaftliche Beteiligung bei physischer parteiergreifender Unterstützung damit rechtfertigen will, „daß eine allen Beteiligten gewährte Unterstützung kaum eine schwere Folge unmittelbar verursachen kann“, bleibt diese Argumentation unverständlich. Zum einen kann doch auch das parteiergreifende Ausrüsten mit Waffen nur durch die Beteiligungshandlung der so Ausgerüsteten – also ebenfalls nur mittelbar – eine schwere Folge verursachen. Zum anderen kommt es für die Beteiligung ohnehin nicht entscheidend darauf an, ob diese so beschaffen ist, dass sie unmittelbar die schwere Folge verursachen kann. Denn der Täter wird wegen jeder Beteiligung an der Auseinandersetzung und nicht nur wegen einer solchen bestraft, die – abstrakt betrachtet – auch eine schwere Folge (die dem Täter nach herrschendem Verständnis ja gar nicht vorgeworfen werden) verursachen könnte. 3. Was kennzeichnet die besondere Gefährlichkeit der Schlägerei/des Angriffs? Will man die Besonderheit der täterschaftlichen Beteiligung aus dem Schutzzweck der Norm ableiten, so ist zunächst zu klären, auf welche Kriterien die besondere Gefährlichkeit der Schlägerei bzw. des Angriffs zurückzuführen ist. Blickt man auf die zurückliegenden Gesetzesbegründungen und Gesetzesberatungen, so wird meist nur darauf verwiesen, dass solche Auseinandersetzungen „er41 Wo ist da eigentlich die Grenze zu ziehen? Kommt es auf eine Entfernung in Metern oder auf die visuelle Wahrnehmbarkeit für Dritte an? 42 Selbst wenn sich hier zwei gleich starke Parteien gegenüberstünden, so führt zwar das Anreichen von Wurfgeschossen für nur eine Partei zu Gefahren, die überwiegend der Gegenpartei erwachsen. Die gleichmäßige Unterstützung beider Parteien führt dann aber eben nicht zu einer Egalisierung solcher Gefahren, sondern dazu, dass auch die Gegenseite gefährlicher vorgehen kann und damit zu einer Gefahrerhöhung für alle Beteiligten; anders offenbar Stree (Fn. 6), S. 220. Im Ergebnis wie hier Saal (Fn. 1), S. 89. 43 Setzt er sie ein, so wird der Angriff zu einer Schlägerei. Dort erwachsen dann neben den zusätzlichen Gefahren für ihn durch den Einsatz der Wurfgeschosse durch ihn nun auch noch Gefahren für die vormaligen Angreifer.
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fahrungsgemäß“44 besonders gefährlich für Leib oder Leben der Anwesenden sind. Welche Umstände begründen aber typischerweise solche Gefahren, die gerade von einer Schlägerei bzw. einem Angriff mehrerer ausgehen? Anders als bei einer Körperverletzung, bei der sich Täter und Opfer gegenüber stehen, ist eine Schlägerei dadurch gekennzeichnet, dass ein mit gegenseitigen Tätlichkeiten verbundener Streit vorliegt, bei dem zumindest drei Personen aktiv tätig sind.45 Die Beteiligten müssen deshalb damit rechnen, dass sie aus unterschiedlichen Richtungen angegriffen werden, sich also prinzipiell nach allen Seiten gegen Angriffe versehen (so etwa bei einer typischen Wirtshausschlägerei bei der „alle gegen alle“ kämpfen).46 Dies gilt mit Abstrichen auch für einen Angriff mehrerer: Hier sieht sich der Angegriffene zumindest zwei aktiv gegen ihn vorgehenden Angreifern gegenüber47 (muss sich seinerseits also gegen zwei Angriffsrichtungen schützen); aber auch der Angreifer kann – da zwar ein einheitlicher Angriffswille, aber keine mittäterschaftliche Absprache vorausgesetzt wird – die anderen Angreifer nicht außer Acht lassen, um nicht unversehens in die Angriffsaktion der anderen zu geraten. Beide Formen der Auseinandersetzungen können deshalb „erfahrungsgemäß eine unkontrollierbare Dynamik entwickeln. Einzelne Mitwirkungshandlungen können mit anderen häufig zufallsbedingten Faktoren unberechenbare Folgen sowohl für beteiligte als auch für unbeteiligte Dritte nach sich ziehen.“48 Eine Schlägerei oder ein Angriff mehrerer ist deshalb durch die Mehrzahl der beteiligten Personen gekennzeichnet, von denen unmittelbar die Gefahr ausgeht, dass sie gegen andere tätlich werden. Aus der Vielzahl der möglichen Angriffsrichtungen resultieren für die vor Ort befindlichen Personen eingeschränkte Schutzmöglichkeiten und damit unkalkulierbare Verletzungsrisiken. Hinzu kommt ein Weiteres: Das Geschehen ist typischerweise von „Erregung, Kampfeseifer“ und dem „Aufschaukeln gruppendynamischer Effekte“ geprägt. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Anonymität im Tumult tragen darüber hinaus zu einem verminderten Verantwortungsgefühl49 und zu einer Herabsetzung der Hemmschwelle bei den Umstehenden bei, so dass jeder Schlägerei bzw. jedem Angriff mehrerer auch eine Anreizwirkung für Dritte zukommt.50 Be44
Siehe dazu die Darstellung bei Hund (Fn. 2), S. 59 m.w. N. Küper, BT7 (Fn. 10), „Schlägerei, Beteiligung an“, S. 262. 46 Ähnlich bereits Kraus, Gerichtssaal 1852, 129 (140: „Die Gefahr für Leben und Gesundheit wird durch die Zahl Derjenigen, welche sich am Schlagen betheiligen, erhöht“); ebenso Hund (Fn. 2), S. 61 („Die Zahl der Tätlichkeiten erhöht sich mit zunehmender Größe des Personenkreises, der sich am Kampf beteiligt“). 47 Wessels/Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil33, 2009, Rn. 347. 48 So Geisler (Fn. 16), S. 284 (für die Schlägerei). 49 Geisler (Fn. 16), S. 284 (dort auch die vorhergehenden Zitate) sowie Hund (Fn. 2), S. 65 f. m.w. N. 50 Dazu bei Hund (Fn. 2), S. 62 mit typischen Beispielen aus der Rspr. in Fn. 2 dort und S. 66 ff. speziell zum gruppendynamischen Verhalten. 45
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teiligen sich auch diese, potenzieren sich die möglichen Angriffsrichtungen, was wiederum weitere Personen zum Mittun verleiten kann usw. (bis hin zur Massenschlägerei). Die abstrakte Gefährlichkeit einer Schlägerei bzw. eines Angriffs mehrerer beruht damit auf zwei typischen Umständen: Zum einen führt die Vielzahl der möglichen Angriffsrichtungen für die bereits Beteiligten zu einer für sie (aber auch für die Umstehenden) nicht kalkulierbaren Gefahr für Leib und Leben. Zum anderen geht von der Auseinandersetzung eine Anreizwirkung für Umstehende und Hinzukommende aus. 4. Die Beteiligung als Ausdruck der typischen Gefährlichkeit der Schlägerei/des Angriffs § 231 StGB bestraft denjenigen, der sich an einer Schlägerei oder einem Angriff mehrerer beteiligt mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe allein deshalb, weil er sich beteiligt hat.51 Dieser zu weite Strafrahmen52 für ein abstrakt gefährliches Verhalten legt eine restriktive Auslegung nahe. Die von der ganz h. M. vorgenommene Aufwertung einer vor Ort erbrachten Unterstützungsmaßnahme zu einem täterschaftlichen Beteiligen ist damit nicht vereinbar. Die Tathandlung ist deshalb auf solche Fälle zu beschränken, in denen das Verhalten auch die typischen Raufhandelsgefahren schafft oder verstärkt. Demnach beteiligt sich nur derjenige täterschaftlich an einer Schlägerei, der auch unmittelbar tätlich an dieser mitwirkt, zumindest aber zu diesen Handlungen ansetzt. Denn nur dann wird für die Anwesenden die Gefahr einer neuen Angriffsrichtung begründet53, und andere werden dazu angeregt, in gleicher Weise mitzutun. Wer hingegen (parteiergreifend oder nicht) die bereits Kämpfenden mit Waffen oder Wurfgegenständen ausrüstet (physische Unterstützung), schafft selbst keine eigenständige Angriffsrichtung. Das mit dieser Unterstützungshandlung in die Auseinandersetzung hinein getragene Gefahrenpotential kann sich immer nur mittelbar über die Kämpfenden verwirklichen. Damit kann die Intensität der Schlägerei bzw. des von mehreren verübten Angriffs zwar erkennbar gesteigert werden (höheres Verletzungsrisiko durch Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs). Diese mögliche Intensivierung des bereits bestehenden Kampfes fördert aber nicht die für eine Schlägerei typische unübersichtliche Situation, aus der heraus völlig unvorhergesehene Gefahren erwachsen. Anders als bei einem Hinzukom51 Eine Strafbarkeit nach § 223 StGB (bzw. §§ 223, 22 StGB) tritt in Tateinheit hinzu, wenn dem Täter auch die Verursachung einer Verletzungsfolge (bzw. das Nichtvorliegen eines Rücktritts nach § 24 Abs. 1 StGB) nachzuweisen ist. 52 Zur Kritik an der hohen Strafdrohung s. die Darstellung bei Saal (Fn. 1), S. 125. 53 Im Ansatz ähnlich Stree (Fn. 6), S. 217, wenn er davon spricht, dass es einer Erweiterung der Gefahrmomente bedarf; das ist eben mehr als nur die Intensivierung bereits bestehender Gefahren.
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menden, der unmittelbar mitschlägt, begründet die physische Unterstützung des Kämpfenden also keine weitere, unmittelbar wirkende Gefahrenquelle, gegen die sich die Beteiligten zusätzlich schützen müssten. Auch der zweite Gefährlichkeitsaspekt – die Anreizwirkung für andere – lässt sich bei bloßer Unterstützungshandlung überzeugend nicht bejahen. Der physischen Unterstützungsmaßnahme fehlt die Dynamik, die einem unmittelbarem Schlagen, Stoßen oder Treten sowie einem Ausholen zum Schlag unter Kämpfenden zukommt. Nicht das distanzierte Anreichen von gefährlichen Werkzeugen aus dem Hintergrund reizt andere dazu, nun ebenfalls mitzuschlagen. Anhänger der Gegenpartei oder sonst Rauflustige sehen den Ausgangspunkt der Gefahr und damit ihren Ansatzpunkt zum „Einsteigen“ in die Rauferei primär in der Aktion der Schlagenden, nicht aber in dem Verhalten einer am Rande agierenden Figur. Die typischen Raufhandelsgefahren fehlen erst recht bei einer nur psychischen Unterstützung.54 Ein Anfeuern der Kämpfenden schafft keine zusätzliche, in einer Auseinandersetzung von allen Beteiligten zu beachtende Gefahrenquelle. Das Anfeuern der schon Kämpfenden allein animiert andere auch noch nicht zum Mitkämpfen. Insoweit kommt es vielmehr darauf an, ob sich aus Sicht der Umstehenden das Anfeuern als verstärkter Kampfeseifer auch bei den Streitenden widerspiegelt.55 Somit geht auch hier die Anreizwirkung unmittelbar von den Kämpfenden und nicht schon von der zuvor geleisteten Unterstützungshandlung aus. Führt eine Unterstützung der Kämpfenden ohne eigenes tätliches Vorgehen also nur zu einer Intensivierung der bestehenden Schlägereigefahren und damit zu einer Teilnahmestrafbarkeit, so führt auch ein Abhalten oder Ablenken schlichtungswilliger Personen nur zur Beihilfe.56 Ungeachtet der Fragen, ob diese Maßnahme nun parteiergreifend ist oder am Tatort vorgenommen wird,57 bringt ein solches Vorgehen keine typischen Schlägereigefahren mit sich. Weder wird eine neue Angriffsrichtung begründet, noch werden dadurch andere zum Mitmachen angereizt. Selbst wenn das Abhalten Schlichtungswilliger es ermöglichen würde, dass nun weitere Personen an der Schlägerei teilnehmen, so fehlt diesem Abhalten Dritter der von einem tätlichen Beteiligen ausgehende animierende Signaleffekt.
54 Zu weitgehend ist deshalb auch mein Vorschlag in Jura 1999, 172 (173), die psychische Mitwirkung schon dann als Beteiligung ausreichen zu lassen, wenn der Anfeuernde in die tätliche Auseinandersetzung mitverwickelt werden kann. 55 Einer verbalen Unterstützung, die von den Kämpfenden nicht beachtet wird, dürfte auch von Dritten keine Aufmerksamkeit geschenkt werden, da diese primär auf die tätliche Auseinandersetzung achten. 56 Und zwar als Beihilfe durch aktives Tun (Eingreifen in fremde Rettungsbemühungen). 57 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 18.
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Soweit der BGH eine täterschaftliche Beteiligung auch dort noch bejahen will, wo die abgehaltenen Dritten einem Angegriffenen zur Hilfe eilen und diesen tätlich unterstützen wollten,58 wird verkannt, dass die darin liegende Unterstützung des Angreifers zwar eine Beteiligung an einer Körperverletzung begründen, aber – ungeachtet der hier vertretenen Ansicht – nicht zu einer Strafbarkeit nach § 231 StGB führen kann. Stree hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zu beachten ist, welche Wirkungen die Unterstützung des Abgehaltenen gehabt hätte. Wer einen anderen davon abhält, sich in das Kampfgeschehen einzumischen und die Schar der Kämpfenden zu vergrößern, verhindert eine Eskalation des Geschehens.59 Er erweitert also durch sein Abhalten nicht das Gefährdungspotential des Raufhandels, er verringert es vielmehr. Ein solches Abhalten Eingriffswilliger ist demzufolge nicht als Beteiligen an einem Angriff und – mangels Intensivierung der Raufhandelsgefahren – auch nicht als Beihilfe zur Beteiligung der bereits Kämpfenden zu bestrafen. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass derjenige, der abgehalten wird, dem unterlegenen Angegriffenen doch zur Seite gestanden hätte, die Gefahr für den Angegriffenen also doch verringert worden wäre, wenn der Dritte teilgenommen hätte. Wenn sich der Abgehaltene tätlich zugunsten des Angegriffenen beteiligt, so wird aus dem Angriff eine Schlägerei, bei der sich die Kontrahenten zwar möglicherweise mit gleichem Kräfteverhältnis gegenüber stehen. Möglicherweise sind die Gefahren für den Angegriffenen durch das Abhalten des Eingriffswilligen also erhöht worden. Lässt sich dieses aber nur vermuten, so würde zugleich doch immer feststehen, dass diese „Hilfe“ des Abgehaltenen generell zu einer quantitativen Erhöhung des Gefährdungspotentials geführt hätte, da eine weitere tätliche Beteiligung zu der Auseinandersetzung hinzugekommen wäre. Das Verhindern solcher Unterstützung verringert also auch die Risiken, die mit einem Raufhandel typischerweise einhergehen und ist deshalb gemäß § 231 StGB straflos. III. Vorteile eines restriktiven Beteiligungsbegriffs Wer für die täterschaftliche Beteiligung ein Verhalten verlangt, mit dem die oben dargelegten typischen Schlägereigefahren begründet oder erweitert werden, kann somit nicht nur eine eindeutige, dem Gebot restriktiver Auslegung folgende Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme erzielen. Es lassen sich auch weitere Inkonsequenzen der h. M. vermeiden. Lässt man nämlich mit dieser die parteiergreifende psychische Beihilfe vor Ort für ein täterschaftliches Beteiligen ausreichen, so würde derjenige als Täter bestraft, der einen bereits Mitraufenden nur bestärkt, während derjenige, der einen bisher unbeteiligten Zuschauer zum Mitschlagen anstiftet, nur als Teilnehmer be58 59
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Täterschaft und Teilnahme an einer Schlägerei (§ 231 StGB)
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langt werden würde.60 Nach der hier vertretenen Ansicht kann das Verhalten hingegen – seinem Unrechtsgehalt entsprechend – als Beihilfe und Anstiftung eingestuft werden. Außerdem entfällt die nach h. M. notwendige Unterscheidung zwischen schlägereikonstitutiver und sekundärer Beteiligung (vgl. oben vor I.). Insoweit ist vorab zu klären, welche Anforderungen an die konstitutive Beteiligung zu stellen sind: Die Gefahren einer Schlägerei bzw. die eines von mehreren verübten Angriffs liegen erst vor, wenn zumindest drei bzw. zwei Personen mitschlagen oder zumindest zum Schlag ausholen. Nur dann besteht die für einen Raufhandel typische Unübersichtlichkeit. Für eine konstitutive Beteiligung genügt daher eine bloß physische Unterstützung noch nicht.61 Wer bei einem Zweikampf einen der Kämpfenden oder bei einer Körperverletzung den Angreifer mit Waffen versieht, schafft keine weitere Gefahrenquelle für die an der Auseinandersetzung Beteiligten. Dem Geschehen fehlt noch die von § 231 StGB vorausgesetzte (oben unter II. 3. umschriebene) Dynamik, die sie von dem einfachen Körperverletzungsgeschehen unterscheidet. Bedarf es deshalb für die konstitutive Beteiligung eines Mitschlagens (bzw. eines Ansetzens dazu), so würde – folgt man beim Beteiligungsbegriff der h. M. – die Diskrepanz im Verhältnis zur Beteiligung an einer bereits bestehenden Beteiligung noch weiter reichen. Dazu kommt es nicht, wenn die täterschaftliche Beteiligung, die eine Schlägerei bzw. einen Angriff mehrerer begründet oder erweitert, nach dem gleichen, an den typischen Raufhandelsgefahren orientierten Maßstab ausgerichtet wird.
60 Zur ungewissen Einordnung des Anstifters auf dem Boden der h. M. siehe die Nachweise oben in Fn. 19. 61 Zu den ungewissen Anforderungen, die an die schlägereikonstitutive Beteiligung nach h. M. gestellt werden, vgl. oben vor I. mit den Fn. 12 und 13.
Untreue und Betriebsverfassung – Die VW-Affäre Von Gabriele Zwiehoff I. Das Problem Die Bewertung von Vermögensgegenständen ist ein im Strafrecht nach wie vor ungelöstes Problem.1 Insbesondere bei der Untreue sind „Vermögensbegriff und Tätersicht, Anknüpfung des Rechtsguts an zivilrechtliche Vorfragen, sozialer Handlungssinn und Prozesscharakter von Vermögensverfügungen“ in vielen Fallgruppen nicht widerspruchsfrei miteinander vereinbar.2 Ob ohne die „üblichen dogmatischen Scheuklappen“3 bessere Ergebnisse zu erwarten sind, mag hier auf sich beruhen. Sporadische dogmatische Begrenzungen bzw. Erweiterungen des Tatbestandes jedenfalls sind der Rechtssicherheit abträglich. Zudem scheint es, dass zuweilen die Ergebnisse an den maßgeblichen Wertungen des Wirtschaftsverkehrs vollkommen vorbeigehen. Die bislang in der strafrechtlichen Literatur wenig kommentierte4 „VW Affäre“5 liefert hierfür Anschauungsmaterial. II. Die Entscheidung des BGH Kurz gefasst hatte sich der BGH mit folgendem Sachverhalt6 zu beschäftigen. V war – dauerhaft freigestellter – Gesamtbetriebsratsvorsitzender der VW-AG und gehörte als Arbeitnehmervertreter dem Aufsichtsrat an. In den ersten Jahren seiner Betriebsratstätigkeit wurde er entsprechend seiner ursprünglichen Tätigkeit als Arbeiter entlohnt. Dies änderte sich im Jahr 1991, nachdem die VW-AG eine paritätisch besetzte Kommission zur Festlegung der Betriebsratsvergütung eingesetzt hatte, die V in die Gehaltsgruppe der Topmanager einstufte, was zu mehr als einer Verdoppelung seines ursprünglichen Einkommens führte. 1994 trat V an den Vorstandsvorsitzenden P heran und verhandelte mit ihm über die Anhebung der Gehälter für Führungskräfte und Betriebsräte. P verwies 1
Becker, HRRS 2009, 334, 339. Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 16; zu Widersprüchlichkeiten beim Betrug s. zuletzt Puppe, ZIS 2010, 216 ff. 3 Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 16. 4 Bittmann, Anm. NJW 2010, 98 f.; Wessing, EWiR 2009, 787 f. 5 In der Öffentlichkeit bekannt geworden als „Lustreisen-Affäre“. 6 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf den Komplex der an V gezahlten „Sonderboni“. 2
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den V „zuständigkeitshalber“ an H, den damaligen Personalvorstand und Arbeitsdirektor der VW-AG. Da die begehrten Gehaltsanhebungen firmenintern keine Zustimmung fanden, H sich aber das Wohlwollen des Gesamtbetriebsratsvorsitzenden erhalten wollte, schlug er dem V vor, ihm jährlich eine Sonderzahlung aus einem Sonderbonustopf zukommen zu lassen, allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit, um Begehrlichkeiten anderer nicht zu wecken. Damit war V einverstanden. Die Zahlungen sollten von vornherein keine Entlohnung des V für besondere Leistungen, sondern eine Gehaltsanhebung in Richtung der Vergütung eines Markenvorstandes sein. Konkrete Gegenleistungen wie die Befürwortung bestimmter unternehmerischer Entscheidungen waren nicht vereinbart worden. Um die Zahlungen nicht publik werden zu lassen, befasste H die Kommission nicht mit der Angelegenheit und ließ die jährlichen Sonderzahlungen nicht von der für Betriebsräte zuständigen Gehaltsabteilung, sondern von dem besonders vertrauenswürdigen Leiter der Abteilung „Gehaltsabrechnung für Führungskräfte“ abwickeln. Nach Ansicht des BGH7 hat die VW-AG aufgrund der durch H veranlassten Sonderbonuszahlungen einen Vermögensnachteil erlitten, da die Vermögensabflüsse nicht durch kompensierende Vermögenszuflüsse ausgeglichen worden seien. Zwar habe H sich das Wohlwollen des Betriebsratsvorsitzenden V erhalten wollen und er sei davon ausgegangen, dass dies der VW-AG zugute kommen würde. Solches belege aber keinen kompensationsbegründenden Vorteil. H habe einen Vorteil erstrebt, den zu leisten V „jedenfalls angesichts seiner im Rahmen der VW-AG nahezu maximalen Entlohnung als Arbeitnehmer ohne Sonderbonuszahlung bereits verpflichtet war“. Denn aufgrund der ihn unmittelbar verpflichtenden Vorschrift des § 2 Abs. 1 i.V. m. § 51 Abs. 5 BetrVG sei V ohnehin zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber „zum Wohl“ auch „des Betriebs“ gehalten gewesen. 1. Verpflichtung des Betriebsrats zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber Natürlich fehlt es von vornherein an einem Vorteil, wenn die fragliche Leistung schon kraft gesetzlicher Anordnung geschuldet ist. Diese Argumentation des BGH erscheint daher bestechend, zumal intrikate Fragen zur Schadensfeststellung sich erübrigen.8 Betriebsverfassungsrechtlich stellt sich die Sachlage jedoch weitaus komplexer dar, als die Vorschrift des § 2 Abs. 1 BetrVG – auf des7
BGH NJW 2010, 92, 94, Rn. 38, 39. Ähnlich auch im Rahmen der „Siemens“-Entscheidung, BGH NJW 2009, 89 ff., wo der BGH allein aufgrund des Führens schwarzer Kassen bereits einen endgültigen Schaden annimmt – obwohl doch das Vermögen sich ungeschmälert im Herrschaftsbereich des Treugebers befindet und im Sinne des Vermögensinhabers verwaltet wird, s. etwa Satzger, NStZ 2009, 297, 302 f., 303. 8
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sen verkürzte Wiedergabe der BGH sich beschränkt – dies auf den ersten Blick vermuten lässt. Indem der BGH nur die „Verpflichtung des Betriebsrats nach § 2 Abs. 1 BetrVG“ auf der einen und die „Übersteigerung des betriebsverfassungsrechtlich geschuldeten Wohlwollens gleichsam als Verrat an den Interessen der Arbeitnehmer“9 auf der anderen Seite in den Blick nimmt, scheint es für ihn Erscheinungsformen zwischen diesen beiden Polen nicht zu geben. a) Schon mit Blick auf §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 StGB überrascht dies. Zahlungen an einen Amtsträger sind auch dann, wenn sie nicht als Gegenleistung für die Verletzung von Dienstpflichten geleistet werden, strafbar, sofern sie nur der „allgemeinen Klimapflege“ dienen. Die Lockerung der Unrechtsvereinbarung durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz 1997 wurde gerade deshalb eingeführt, um die in der Praxis weit verbreiteten unspezifischen, nicht auf eine bestimmte Diensthandlung bezogenen Zuwendungen, die lediglich zur „ allgemeinen Klimapflege“ ein „generelles Wohlwollen“ schaffen, strafrechtlich erfassen zu können. Ähnlich wie bei der Vorteilsannahme bzw. -gewährung nach §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 StGB das allgemeine Wohlwollen vornehmlich wichtiger Amtsträger sozusagen vorsorglich, d.h. ohne Beziehung zu einer konkreten Diensthandlung erkauft werden soll10, erscheint es auch hier nicht fernliegend, dass H von V aufgrund der Sonderzahlungen mehr erwartete,11 als dieser dem Unternehmen aufgrund betriebsverfassungsrechtlicher Vorschriften schuldete. Nicht entkräftet werden kann dieser erste Anschein mit dem Hinweis, V sei zu dem von H erstrebten Verhalten „jedenfalls angesichts seiner im Rahmen der VW-AG nahezu maximalen Entlohnung ohne Sonderbonuszahlung“ verpflichtet gewesen. Denn offensichtlich hielt H trotz der schon üppigen Bezahlung des V weitere Zugeständnisse für sinnvoll.
9
BGH NJW 2010, 92, 94 Rn. 39. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT2 (2009), § 39 Rn. 26. Dass zur Tatbestandserfüllung der §§ 331, Abs. 1, 333 Abs. 1 StGB schon der böse Anschein der Käuflichkeit ausreicht (s. BGH NStZ 2005, 334, 335; NStZ 2005, 509, 511; NJW 2008, 3580, 3583), also nicht nachgewiesen werden muss, dass der Vorteil als Gegenleistung für eine bestimmte Diensthandlung gefordert u.s.w. wird, steht dem nicht entgegen. Wirtschaftlich betrachtet macht das Handeln des Vorteilsgebers nur dann einen Sinn, wenn das „Anfüttern“ sich irgendwann einmal auszahlen wird etc. Gerade bei solchen Zuwendungen, die nicht mit der Erwartung bestimmter Gegenleistungen verbunden sind, werden Nähe- und Abhängigkeitsverhältnisse aufgebaut, die sich schließlich in dienstlichem Entgegenkommen der Amtsträger niederschlagen, s. Bannenberg, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts3 (2007), Bestechungsdelikte, Rn. 67 m.w. N. 11 Im Zusammenhang mit §§ 331, 333 StGB: Beim „Anfüttern“ von Amtsträgern wird die Grenze zur strafbaren Vorteilsannahme überschritten, sobald für den Amtsträger erkennbar wird, dass der Private von dem Amtsträger irgendwann eine Gegenleistung erwartet, Korte, in: MK-StGB (2006), § 331 Rn. 105. 10
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Betriebsverfassungsrechtlich zu beanstanden ist freilich bereits die Prämisse des BGH („nahezu maximale Entlohnung als Arbeitnehmer“). Die Mitglieder des Betriebsrats üben gem. § 37 BetrVG ihr Amt unentgeltlich aus. Dies hat zur Konsequenz, dass ein dauerhaft freigestelltes Betriebsratsmitglied so zu entlohnen ist, wie es bei Ableistung der vertraglich vereinbarten Arbeit bezahlt worden wäre („Entgeltausfallprinzip“). Zu vergüten ist also ausschließlich die fiktive Arbeitsleistung als Arbeitnehmer, niemals die „Amtstätigkeit“ als Betriebsrat, so dass alle Vergütungssysteme unzulässig sind, die Betriebsratsmitgliedern, wie dies bei ihren herausgehobenen Funktionsträgern oftmals der Fall ist, Vergütungen und Nebenleistungen (etwa: Firmenwagen) nach Maßgabe der Vergütung ihres Gesprächspartners auf Arbeitgeberseite zuordnen. Selbst wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat als „Co-Manager“ sehen und werten will: Das Amt des Betriebsrates ist ein unentgeltliches Ehrenamt, und daher darf der Betriebsrat nicht als Führungskraft bezahlt werden. Bezahlung nach „Augenhöhe“ ist unzulässig.12 Für langjährig freigestellte Betriebsräte ist folglich eine hypothetische Betrachtung der beruflichen Entwicklung vonnöten – ein naturgemäß schwieriges Unterfangen, weil diese Betriebsratsmitglieder sich aufgrund ihres „hauptberuflichen“ Engagements in ihrer eigentlichen Arbeitstätigkeit nicht mehr weiterentwickeln. Das BetrVG schreibt jedoch einen objektivierten Vergleichsmaßstab vor, indem es in § 37 Abs. 4 BetrVG auf das Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung abstellt. Daraus folgt, dass stets nur ein typischer Normalverlauf, niemals aber eine Sonderkarriere zugrunde gelegt werden darf13, und damit dürfte außer Frage stehen, dass das Gehalt des V, der als Arbeiter bei der VW-AG eingestellt worden war und bis zu seiner Freistellung auch als solcher gearbeitet hatte, schon nicht dem eines „Topmanagers“ angepasst werden durfte. Bei Lichte betrachtet hätte damit bereits in der Festsetzung der Gehälter der freigestellten Betriebsräte durch die eigens hierfür eingesetzte Kommission im Jahre 1991 ein Verstoß gegen das Begünstigungsverbot (§§ 78 S. 2, 119 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG) vorgelegen. Die Argumentation des BGH, V sei „jedenfalls aufgrund seiner maximalen Entlohnung“ zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber verpflichtet gewesen, führt damit in die Irre. Das Ehrenamtsprinzip mag antiquiert und damit reformbedürftig sein. Jegliche Änderung aber – etwa die Einführung einer Öffnungsklausel für freigestellte Betriebsratsmitglieder in großen Unternehmen14 – ist dem Gesetzgeber vorbehalten.
b) Was also schuldet der Betriebsrat dem Unternehmen gem. § 2 Abs. 1 BetrVG? Wie schon ein kurzer Blick in die betriebsverfassungsrechtliche Literatur zeigt, stellt das Gebot vertrauensvoller Zusammenarbeit der Betriebspartner zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs nicht in Abrede, dass der Betriebsrat Vertreter der Arbeitnehmerinteressen ist und dementsprechend nicht ein Instrument zur Durchsetzung der Unternehmenspolitik.15 Zwar geht das zum Wohl 12
Rieble, NZA 2008, 276. BAG NZA 2006, 448, 449; Rieble, NZA 2008, 276, 277. 14 Rieble, NZA 2008, 276, 280; s. a. Fischer, NZA 2007, 484 ff. 15 Kloppenburg, in: Düwell (Hrsg.), HaKo-BetrVG3, 2010, § 2 Rn. 1; zudem: Die Vorschrift beschreibt nicht die betriebliche Wirklichkeit, s. nur Richardi, in: Richardi, BetrVG12, 2010, § 2 Rn. 6. 13
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der Arbeitnehmer und (!) des Betriebs bestehende Gebot des Zusammenwirkens – im Gegensatz zum Tarifvertragssystem – von einem Kooperationsmodell, also einem auf Kommunikation und Konsens angelegten System, aus16, jedoch wird von niemandem in Frage gestellt, dass zwischen dem Arbeitgeber und dem die Arbeitnehmer repräsentierenden Betriebsrat ein prinzipieller Interessengegensatz besteht.17 Die in § 2 Abs. 1 BetrVG vorgeschriebene Zusammenarbeit zum Arbeitnehmer- und Betriebswohl schließt es daher nicht aus, dass Betriebsrat und Arbeitgeber ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen und mit Nachdruck verfolgen.18 In der betriebsverfassungsrechtlichen Realität gibt es daher die unterschiedlichsten Konstellationen, je nach Größe des Unternehmens, je nach Persönlichkeit und Geschick der beteiligten Personen, je nach Ausprägung ihres Machtinstinkts oder Durchsetzungsvermögens in der Belegschaft, je nachdem, ob große Umstrukturierungsmaßnahmen einhergehend mit Betriebsänderungen, Personalabbau und Sozialplänen zu bewältigen sind oder ob es nur um die allgemeinen Aufgaben (s. § 80 BetrVG) des Betriebsrats geht. So changieren die Erscheinungsformen oftmals zwischen der relativen Farblosigkeit der Mitbestimmung in kleineren Unternehmen, über einen oft konfliktbeladenen Kontrast im mittleren Betrieben insbesondere dann, wenn der „Patron“ noch das Sagen hat, bis hin zu den Phänomenen der großen Konzerne, in denen die Tätigkeit der Betriebsräte oftmals als „Co-Management“ bezeichnet wird.19 So wurde auch hier der Gesamtbetriebsrat durch das „Management“ über die eigentliche Betriebsratstätigkeit hinaus an dessen Entscheidungen beteiligt und konnte auf diese Weise – wie der BGH feststellt – seine Erfahrungen einbringen.20 Dieses Phänomen beruht vornehmlich auf der vielfach anzutreffenden Identität von Betriebsratsmitgliedern und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat, wodurch nicht nur betriebsverfassungsrechtliche Fragen in den Aufsichtsrat hineingetragen werden21, sondern darüber hinaus den Betriebsräten die Möglich16 Richardi (Fn. 15), § 2 Rn. 5. § 1 BRG 1920 hatte sich noch darauf beschränkt, dass Betriebsräte „zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellte) dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung des Betriebszwecks“ gebildet werden. Daraus leitete man ab, dass dem BRG 1920 ein Modell der Konfrontation zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zugrunde lag. 17 Siehe etwa Eisemann/Koch, Erfurter Kommentar zum BetrVG10, 2010, § 2 Rn. 1. 18 Kloppenburg (Fn. 15), § 2 Rn. 5. 19 Fischer, NZA 2007, 484, 486. 20 BGH NJW 2010, 92; das LG Braunschweig, Urteil v. 22.02.2008 – 6 KLs 20/07 Rn. 7, sprach ausdrücklich vom „Co-Management“. 21 Nach Ansicht der wissenschaftlichen Mitglieder der („Biedenkopf-“)Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung, 2006, S. 27, handelt es sich bei der Unternehmensmitbestimmung und Betriebsverfassung um „sich einander ergänzende Subsysteme der Arbeitnehmerbeteiligung“, so dass gegen die – von Arbeit-
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keit eröffnet wird, ihre Präsenz zur Erweiterung ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Informations- und Handlungsmöglichkeiten zu nutzen. Nicht selten initiiert daher die Unternehmensführung, um konsensuale Lösungen mit dem Betriebsrat zu erreichen, Vorbesprechungen gerade mit den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat, die dem Betriebsrat angehören. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass es im Jahre 1993 dem VW-Konzern gelungen war, zur Abwendung einer existenzgefährdenden Situation in Wolfsburg mit Zustimmung des Betriebsrates anstelle der Entlassung von 30.000 Arbeitnehmern die 4-Tage-Woche bei Lohnverzicht einzuführen. Insgesamt hatte dieser Prozess nur wenige Wochen gedauert22 – erklärbar nur damit, dass der Betriebsrat seine gesetzlichen Rechte nicht ausgereizt und damit maßgeblich zur Beschleunigung beigetragen haben dürfte.23
Es ist also durchaus möglich, dass Umstrukturierungs- und Sanierungsmaßnahmen im Einvernehmen mit dem Betriebsrat und damit effizient durchgesetzt werden können; das muss aber nicht so sein. Häufig klagen gerade Vertreter großer Kapitalgesellschaften über Verzögerungen notwendiger Entscheidungen durch die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten. Und nicht zuletzt zeigt der – beim BGH noch zur Entscheidung anstehende – Fall Siemens/AUB, dass jedenfalls das Interesse eines Unternehmens an einem „gut funktionierenden“ Betriebsrat nicht von der Hand zu weisen ist.24 Meinungsverschiedenheiten zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung sind daher systemimmanent und – trotz der gem. § 2 Abs. 1 BetrVG gebotenen Kooperation – nicht betriebsverfassungsrechtlich untersagt. Letzteres zeigt sich insbesondere darin, dass das BetrVG selber Regelungen zur Lösung unüberbrückbarer Konflikte bereithält. So haben Arbeitgeber und Betriebsrat zwar gem. § 74 Abs. 2 S. 2 BetrVG über strittige Fragen mit dem ernsthaften Willen zur Einigung zu verhandeln, lassen sich diese jedoch nicht einvernehmlich beilegen, so ist nach § 76 BetrVG das Einigungsstellenverfahren durchzuführen. Für den Betrieb kann dies – wie jeder Kundige weiß – durchaus wirtschaftlich zum Verhängnis werden. Denn das Einigungsstellenverfahren ist wegen seiner bürokratigeberseite geäußerten – Bedenken wegen der Verbindung zweier Mitbestimmungsebenen nicht durchgreifen. 22 Insoweit im Urteil des BGH nicht mitgeteilt, s. aber LG Braunschweig, Urteil v. 22.02.2008 – 6 KLs 20/07, Rn. 6. 23 Nur in extrem gelagerten Notfällen braucht ausnahmsweise die Zustimmung des Betriebsrates – zunächst – nicht eingeholt zu werden; jedoch muss, wenn die Maßnahme noch fortwirkt und der Betriebsrat nicht einverstanden ist, das Einigungsstellenverfahren durchgeführt werden, s. nur Richardi (Fn. 15), § 87 Rn. 62 ff. 24 LG Nürnberg/Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/2008; konkret ging es um die finanzielle Unterstützung der Gewerkschaft „AUB“ durch die Siemens AG mit dem Ziel einer Veränderung der Mitbestimmungsverhältnisse im Aufsichtsrat über eine „Verschiebung der Kräfteverhältnisse in den einzelnen Betriebsräten“. Es sollte mit der AUB eine „Betriebsräteorganisation“ gefördert werden, die sich als Gegengewicht zur IG Metall kooperativer gegenüber der Arbeitgeberseite zeigt.
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schen Strukturen wenig flexibel, teilweise langwierig25 und zudem kostenträchtig. Ein zur „Landschaftspflege“ gekauftes, allgemeines Wohlwollen kann dem Unternehmen folglich greifbare Vermögensvorteile bringen, indem etwa der Betriebsrat seine Rechte nicht ausreizt oder sogar auf den Gebrauch formaler Rechte verzichtet26 und damit nicht erst das Einigungsstellenverfahren, sondern gleich schon im Vorfeld Reibungsverluste vermieden werden. Zusammenfassend kann bis hierher festgehalten werden: Ein negativ eingestellter Betriebsrat schadet dem Unternehmen, ohne hierbei seine betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten auf Rücksichtnahme aus § 2 Abs. 1 BetrVG zu verletzen. Demgegenüber ist ein wohlgesonnener Betriebsrat dem Unternehmensinteresse förderlich, und auch dies, ohne seine betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse zu Lasten der Arbeitnehmer zu missbrauchen (s. dazu noch unten). Die Ansicht, der Betriebsrat habe dem Unternehmensinteresse schon kraft Gesetzes Wohlwollen zu zollen, überzeugt daher nicht. Aus diesem Grund besitzt ein „gekauftes“ Wohlwollen für das Unternehmen einen wirtschaftlichen Wert. 2. Bloße Hoffnung oder begründete Aussicht auf einen Vermögensvorteil Wegen der Zukunftsoffenheit der Entwicklungen stellt sich die weitere Frage, ob bereits eine begründete Aussicht27 auf einen Vermögensvorteil entstanden war, wodurch der jeweilige Vermögensabfluss hätte ausglichen werden können. Keinen zur Kompensation geeigneten gegenwärtigen Vermögensvorteil stellt die bloße vage Chance auf Vermögensmehrung dar. So geht der BGH im Fall „Siemens“ davon aus, dass der Vermögensverlust durch das Führen schwarzer Kassen, um damit „zu Bestechungszwecken später einmal einen möglicherweise im Ergebnis wirtschaftlich vorteilhaften Vertrag abzuschließen“, nicht ausgeglichen werde.28 Hierfür mag sprechen, dass die „Absicht, bei irgendeiner in unbestimmter Zukunft liegenden Gelegenheit mit Hilfe von dem der Treugeberin entzogenen Geld möglicherweise Bestechungstaten zu begehen, begehen zu lassen oder zu erleichtern, die unter derzeit noch nicht absehbaren Umständen zu einem für die Treugeberin in unbekannter Höhe vorteilhaften Geschäft unbekannten Inhalts, Orts und Umfangs führen könnten,“ nicht gleichgesetzt werden kann mit einer objektiven Sachlage, bei der ein Vermögenszuwachs mindestens in der Höhe des Vermögensnachteils mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.29 25
Siehe etwa Francken, NZA 2008, 750. Einzelheiten bei Fischer, NZA 2007, 484, 487. 27 Das LG Braunschweig, Urteil v. 22.02.2008 – 6 KLs 20/07, Rn. 342 verneint dies, allerdings ohne genauere Prüfung. 28 BGHSt 52, 323, 338 Rn. 45 („Siemens“). 26
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Aber gelten diese Überlegungen auch für den „Fall VW“? Da sich eine „eindeutige, allgemeine, für jeden Einzelfall gültige Bewertungsregel“ zur Beantwortung der Frage, ob der Täter „nur nach Art eines Spielers bewusst und entgegen den Regeln kaufmännischer Sorgfalt eine aufs äußerste gesteigerte Verlustgefahr auf sich nimmt, nur um eine höchst zweifelhafte Gewinnaussicht zu erlangen“, nicht festlegen lässt, kommt es im Zweifel darauf an, „ob bei wirtschaftlich vernünftiger, alle bekannten äußeren Umständen berücksichtigender Gesamtbetrachtung die Gefahr eines Verlustgeschäfts wahrscheinlicher ist als die Aussicht auf Gewinnzuwachs.“30 Im Gegensatz zum Unterhalten „schwarzer Kassen“, deren Depots unter Umständen jahrelang vergessen oder ungenutzt bleiben (sollen) und daher für erst „in ferner Zukunft“ abzuschließende Geschäfte eingesetzt werden sollen,31 bestand hier aufgrund der jährlichen Zahlungen immerhin ein engerer zeitlicher Konnex zwischen Vermögensabflüssen auf der einen und „Erwartungen“ des H auf der anderen Seite. Innerhalb welchen Zeitraums eine ausstehende Gegenleistung sich noch hinreichend konkretisieren lässt,32 ist bei komplexen Sachverhalten im Gegensatz zu Verträgen, die mit dem simultanen Austausch von Leistung und Gegenleistung abgeschlossen sind, wegen der ihnen immanenten Zukunftsoffenheit der Entwicklung stets schwierig zu beurteilen. Aber dies ist kein prinzipielles33 Problem, sondern ein anhand der Besonderheiten des Einzelfalls zu messender Umstand.
Aufgrund der somit erforderlichen Gesamtbetrachtung wäre eine größere Wahrscheinlichkeit auf Gewinnzuwachs zu bejahen, wenn eine (konkludente) gelockerte34 Unrechtsvereinbarung zwischen H und V stattgefunden hätte. Dann nämlich wäre auch für V von vornherein klar gewesen, dass die Zahlungen „für seine Dienstausübung“ geleistet wurden und somit an Erwartungen des H geknüpft waren. Dem steht zunächst nicht entgegen, dass die Strafbestimmung der Betriebsratsbegünstigung gem. § 119 Abs. 1 Ziff. 3 BetrVG im Gegensatz zu §§ 331 ff. StGB überhaupt keine Unrechtsvereinbarung zwischen Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer voraussetzt. Das vollständige Fehlen dieses Erfordernisses in § 119 Abs. 1 Ziff. 3 BetrVG lässt sich damit erklären, dass sich wegen der Komplexität mitbestimmungsrechtlicher Sachverhalte vornehmlich in großen Unternehmen der 29 Fischer, NStZ-Sonderheft, 2009, 8, 18, hier unter ausdrücklicher (Fn. 144) Bezugnahme auf die Bundesliga-Skandal-Entscheidung. 30 BGH NJW 1975, 1234, 1236 (Bundesliga-Skandal). 31 Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 19, insbes. auch Fn. 157. 32 Zu diesem Argument Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 19. 33 Sonst müsste die Kompensationseignung vermögenswerter Exspektanzen von vornherein ausscheiden; auch Fischer stellt in seinem Beitrag, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 11 f., auf den prozesshaften Verlauf und darauf ab, dass es sich bei Exspektanzen um Gewinnprognosen handelt, deren Bewertung sich laufend dynamisch ändere. 34 Konkrete unternehmensfreundliche Absprachen haben nicht stattgefunden; solchen hätte der BGH überdies schon wegen ihrer Sittenwidrigkeit jeglichen Wert abgesprochen, BGH NJW 2010, 92, 94 Rn. 39.
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Nachweis einer Unrechtsvereinbarung häufig nur schwer erbringen lässt. Verstärkt wird dieses Phänomen dadurch, dass die typischerweise in bestem Einverständnis agierenden Beteiligten in einem kaum durchschaubaren „Mitbestimmungsfilz“ verstrickt sind.35 Mag auch die Mitbestimmung nach dem BetrVG schon dann beeinträchtigt sein, sobald nur der böse Schein der Käuflichkeit von Arbeitnehmervertretern besteht, so gilt dies erst recht, wenn die Bevorzugung mit Erwartungen verknüpft wird.36 Und dass dies regelmäßig der Fall sein dürfte, liegt auf der Hand: Da eine Aktiengesellschaft gewinnoptimiert zu führen ist, muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Aufwendungen ein Ertrag gegenübersteht,37 und aus diesem Grund liegt es nahe, dass ein Betriebsratsmitglied, auch wenn konkrete Gegenleistungen nicht ausdrücklich vereinbart werden, nicht „einfach nur so“ mehr als die ihm geschuldeten Leistungen erhält. Die Wahrscheinlichkeit also, dass H und V sich zumindest stillschweigend darüber einig waren, dass die Sonderzahlungen ihren Grund gerade in der Dienstausübung hatten, ist damit schon aufgrund eines allgemeinen Erfahrungssatzes nicht von der Hand zu weisen. Die Sachverhaltskonstellationen, in denen Betriebsratsmitglieder ohne konkrete Absprachen mit Wohltaten genährt werden, sind damit vergleichbar mit der Vergabe von Zuwendungen an Beamte zum Zwecke der „politischen Landschaftspflege“. Hier wie dort muss die Dienstausübung nach den Vorstellungen der Beteiligten nicht – noch nicht einmal in groben Umrissen – konkretisiert sein; vielmehr genügt es, wenn der Wille des Vorteilsgebers auf ein generelles Wohlwollen bezogen auf künftige Entscheidungen gerichtet ist, das bei Gelegenheit aktiviert werden kann.38 Zum – naturgemäß schwierigen – Nachweis des Vorliegens einer gelockerten Unrechtsvereinbarung kann daher auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die die Rechtsprechung im Zusammenhang §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 StGB entwickelt hat.39 Maßgebliche Bedeutung kommt insoweit dem Näheverhältnis zwischen Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer zu, denn je enger dieses Verhältnis ist, desto mehr drängt sich die Annahme einer Verknüpfung des Vorteils mit einer vom Vorteilsgeber erwünschten und vom Vorteilsnehmer gebilligten Klimapflege auf.40 Wegen ihrer eng miteinander verflochtenen Tätigkeitsfelder besteht zwischen Arbeitsdirektor und Betriebsratsvorsitzendem bereits kraft ihrer Ämter ein besonderes Näheverhältnis. Diese institutionell vorgegebene Verflechtung ihrer Zustän-
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Rieble, CCZ 2008, 121, 125. Dazu, dass in § 119 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine Unrechtsvereinbarung hineinzulesen ist, s. Pasewaldt, ZIS 2007, 75, 79. 37 Rieble, CCZ 2008, 121, 128. 38 BGH NJW 2008, 3580, 3583, Rn. 30. 39 BGH NJW 2008, 3580, 3583, Rn. 32 ff. m.w. N. aus der Rechtsprechung. 40 BGH NStZ 2008, 216, 218. 36
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digkeiten wird im konkreten Fall dadurch untermauert, dass nach den Feststellungen des Landgerichts eine gute – von H als „Co-Management“ bezeichnete – Zusammenarbeit gepflegt wurde.41 Ein weiteres gewichtiges Beweisanzeichen, das auf eine Unrechtsvereinbarung schließen lässt, ist die gezielte Verschleierung der Zahlungen.42 Zwar erfolgte die Geheimhaltung, um keine Begehrlichkeiten anderer zu wecken43. Jedoch lässt sich mit diesem eher vordergründigen Argument die indizielle Bedeutung der fehlenden Transparenz für das Vorhandensein einer konkludenten Unrechtsvereinbarung nicht entkräften. Gerade die Exklusivität der Zahlungen kennzeichnet vielmehr die dem V zugedachte Sonderrolle abseits der betriebsüblichen Gepflogenheiten, so dass der Zweck der Verschleierung auch darin bestand, die Unrechtsvereinbarung, an deren Geheimhaltung die involvierten Beteiligten in der Regel ein Interesse haben,44 nicht publik werden zu lassen. Von Bedeutung sind schließlich die Regelmäßigkeit und die beträchtliche Höhe der Sonderzuwendungen in einer durchschnittlichen Größenordnung von jährlich 200.000 A. Auch diese Indizien legen eine Verknüpfung des Vorteils mit der Dienstausübung im Sinne eines Gegenseitigkeitsverhältnisses nahe.45 Da andere plausible Beweggründe46 nicht ersichtlich sind, spricht die gesamte, anhand der Indizien erkennbare Interessenlage der Beteiligten für das Vorliegen einer konkludenten Unrechtsvereinbarung zwischen H und V. Aufgrund der Gesamtschau aller bekannten wirtschaftlich vernünftigen Umstände kann daher nicht angenommen werden, dass H eine aufs Äußerste gesteigerte Verlustgefahr auf sich genommen hat, nur um eine höchst zweifelhafte Gewinnchance zu erlangen. Vielmehr lag wegen der (gelockerten) Unrechtsvereinbarung eine wirtschaftlich realistische Gewinnerwartung vor, so dass der vom LG Braunschweig vertretene Standpunkt, H habe lediglich auf das Wohlwollen des V gehofft, nicht überzeugt.47
41 LG Braunschweig, Urteil v. 22.02.2008 – 6 KLs 20/07, Rn. 7; dementsprechend auch BGH NJW 2010, 78, wonach das „Management“ den Gesamtbetriebsrat über die eigentliche Betriebsratstätigkeit hinaus an dessen Entscheidungen beteiligte. 42 BGH NStZ 2008, 216, 218; NStZ-RR 2007, 309, 311. 43 BGH NJW 2010, 92. 44 Paster/Sättle, NStZ 2008, 366, 373. 45 Korte, in: MK-StGB (Fn. 11), § 331, Rn. 100; Paster/Sättle, NStZ 2008, 366, 373. 46 Nach BGH NStZ-RR 2008, 13, 14, etwa freundschaftsbedingte Schenkungen. 47 Im Unterschied zum Fall „Siemens“ ging es hier also nicht nur um die der Verwendung der „schwarzen Kassen“ zugrunde liegende „gute Absicht“ oder das Motiv, eine „letztlich vielleicht“ vorteilhafte Verwendung der Mittel vorzunehmen (zur „verwendungszweckabhängigen“ Sicht Fischer, StGB57, 2010, § 266 Rn. 83 m.w. N.), sondern um eine bereits konkretisierte und damit wirtschaftlich realistische Gewinnerwartung.
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3. Kompensationsfähigkeit und Unmittelbarkeit Eine schadensausschließende Kompensation soll freilich nur insoweit in Betracht kommen, als durch die Tathandlung zugleich („unmittelbar“) ein den Verlust aufwiegender Vermögenszuwachs bewirkt wird.48 Die grundlegende Problematik des Unmittelbarkeitserfordernisses in § 266 StGB soll hier nicht vertieft werden. Immerhin hat der BGH in einer neuen Entscheidung49 klargestellt, dass das Risiko der Inanspruchnahme auf Schadensersatz und Prozesskosten nach Begehung einer Straftat einen Schaden nicht begründe, da mit der Aufdeckung der Tat ein Zwischenschritt vorausgesetzt werde. Sind somit auf der Verlustseite nur Positionen berücksichtigungsfähig, deren Realisierung keine weiteren „Zwischenschritte“50 erfordert, so muss dies für die Kehrseite der Vorteilsverschaffung gelten.51 Danach ist klar, warum vertragliche und gesetzliche Schadensersatzansprüche52 anerkanntermaßen nicht kompensationsgeeignet sind, denn hierfür bedarf es weiterer Zwischenschritte53, insbesondere der Geltendmachung durch den Treugeber, der im Zweifel seinen Schadensersatzanspruch nicht einmal kennt54. Die Aussage dagegen, ebenso unstreitig könnten „irgendwelche mittelbaren, unkonkreten, nur mehr oder minder wahrscheinliche zukünftige Vorteile als kompensationsfähige ,unmittelbare‘ Vermögensmehrungen“ nicht gegengerechnet werden,55 gehört dagegen in einen anderen Zusammenhang: Noch unkonkrete, mehr oder minder wahrscheinliche Vorteile begründen lediglich eine „vage Chance“ und stellen folglich schon keinen kompensationsfähigen gegenwärtigen 48
Siehe nur Fischer (Fn. 47), § 266 Rn. 115. BGH, NStZ 2009, 686, 687 („Berliner Stadtreinigungsbetriebe“). 50 Freilich bleibt in der Entscheidung offen, in welchem Umfang der Senat die Unmittelbarkeit jenseits des entschiedenen Sachverhaltskonstellation (im entschiedenen Fall war die Tataufdeckung der die Unmittelbarkeit ausschließende, notwendige Zwischenschritt) installieren will, s. Mosiek, HRRS, 2009, 565, 566. 51 Zu den verschiedenen Bedeutungsebenen der Unmittelbarkeit s. Kempf, in: HammFS, 2008, S. 255, 260; Mosiek, HRRS 2009, 565 f.; s. a. BGH NStZ 1986, 455, 456: „Zwar fehlt es an einem Nachteil, wenn wertmindernde und werterhöhende Faktoren sich gegenseitig aufheben. Das ist aber grundsätzlich nur dann der Fall, wenn die Untreuehandlung selbst Vorteil und Nachteil zugleich hervorbringt, so dass Verlust und Gewinn sich die Waage halten. Anders ist es dagegen, wenn sich der Vermögensvorteil nicht aus der pflichtwidrigen Handlung selbst ergibt, sondern durch eine andere, rechtlich selbständige Handlung hervorgebracht wird. In einem solchen Fall kann der erlangte Gewinn den durch die Untreuehandlung verursachten Vermögensnachteil rechtlich nicht ausräumen.“ (Hervorhebung von Verf.) 52 Siehe nur BGH NJW 2009, 89, 92, Rn. 45. 53 BGH NStZ 2009, 686, 687; s. a. BGH NStZ 2006, 401, 402: Mittelbare Auswirkungen auf das zu betreuende Vermögen werden von § 266 StGB nicht erfasst. 54 Fischer (Fn. 47), § 266 Rn. 168. 55 So aber Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 19; ebenso im Ergebnis BGH NJW 2009, 89, 92, Rn. 45. 49
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Vorteil dar.56 Ist jedoch letzteres – wie vorliegend – zu bejahen, so bedarf es keiner Zwischenschritte, sondern es besteht aufgrund der den Zahlungen zugrunde liegenden Unrechtsvereinbarung schon im Zeitpunkt der Tathandlung ein werthaltiger Anspruch.57 Diese begründete Gewinnaussicht ist der Vermögensvorteil, der unmittelbar58 mit der Tathandlung verknüpft ist. 4. Nichtberücksichtigung illegaler (Gegen-)Leistungen? Schließlich könnte gleichwohl ein Schaden zu bejahen sein, wenn darauf abzustellen wäre, dass der für die Zahlung erlangte „Anspruch“ auf Gegenleistung auf einer gesetzeswidrigen Grundlage (hier: § 119 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG) beruht59 bzw. ein sittenwidriges Ziel60 zum Gegenstand hat und damit unabhängig von seinem wirtschaftlichen Wert überhaupt nicht berücksichtigt werden dürfte. Angesprochen ist damit die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen normative Einschränkungen des Vermögensbegriffs vorzunehmen sind.61 Derlei, den wirtschaftlichen Vermögensbegriff einschränkende Restriktionsbemühungen der Rechtsprechung sind jedoch problematisch, weil sie zu differenzierten und in sich nicht widerspruchsfreien Lösungen gelangen. Dies gilt nicht nur im Bereich des Betruges62, sondern auch im Zusammenhang mit § 266 StGB. So ist der BGH schon in seiner „Bundesligaskandal“-Entscheidung nicht der Ansicht gefolgt, dass im Fall einer berechtigten Gewinnaussicht die (für die Zahlung eines Bestechungsgeldes erlangte und daher) illegale Gegenleistung nicht zum Schadensausgleich geeignet sei. Oder es wurde unter ausdrücklichem Hinweis, dass die Rechtsordnung im Bereich der Vermögensdelikte wegen seiner Herkunft, Entstehung oder Verwendung schlechthin schutzunwürdiges Vermögen nicht kennt, der Verlust deliktisch erworbenen Vermögens als Schaden i. S. von § 266 StGB 56
BGH NJW 2009, 89, 92, Rn. 45. Zwar heißt es beim BGH NJW 2010, 92, 94 Rn. 39, dass selbst konkrete unternehmensfreundliche Absprachen zwischen V und H nicht unmittelbar zu Vermögenszuflüssen für das Unternehmen geführt hätten. Dies sei jedoch die – wohl kaum beabsichtigte – Konsequenz, dass vermögenswerte Gewinnerwartungen (s. etwa Fischer, Fn. 47, § 266 Rn. 115) mangels Unmittelbarkeit niemals im Rahmen der Kompensation berücksichtigungsfähig wären. 58 Darauf, dass auch Ausnahmen von dem Gleichzeitigkeitserfordernis („zugleich“) gemacht werden können – nämlich dann, wenn bei wirtschaftlicher Betrachtung nach einem vernünftigen Gesamtplan mehrere Verfügungen erforderlich sind, um den ausgleichenden Erfolg zu erreichen (s. BGHSt 47, 295, 302) – kommt es also hier nicht einmal an. 59 BGH NJW 2009, 89, 92, Rn. 44. 60 BGH NJW 2010, 92, 94, Rn. 39, wo insoweit auf den „Verrat“ an den von V zu vertretenden Interessen der Arbeitnehmer abgestellt wird. 61 Fischer (Fn. 47), § 266 Rn. 112, bejaht dies unter Verweis auf die zum Betrug ausgeführten Grundsätze. 62 Fischer, NStZ-Sonderheft 2009, 8, 11; ders. (Fn. 47), § 263 Rn. 101. Siehe auch Puppe, ZIS 2010, 216 ff. 57
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angesehen.63 Und schließlich hat der BGH auch in jüngerer Zeit ausdrücklich einen Vorteil i. S. d. § 266 StGB, der auf betrügerisches Verhalten zurückzuführen ist, bejaht.64 Man mag also darüber streiten, ob derjenige, der Vermögenswerte bewusst zu illegalen Zwecken einsetzt, geschädigt ist, wenn er sein „gutes Geld“ weggibt, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Um die Frage, ob rechtlich missbilligte Positionen geschützt werden sollen, geht es vorliegend aber nicht. Erhält etwa derjenige, der eine dienstpflichtwidrige Handlung vornehmen soll, seine Entlohnung, so stellt sich die Frage jedenfalls des Betruges nicht. Daher ist derjenige, auch wenn er Vermögenswerte zu illegalen Zwecken einsetzt, nicht geschädigt, sofern er die Gegenleistung erhält. Nichts anderes gilt für den Fall des Erhalts einer berechtigten Gewinnchance. Auch hier geht es nur um die Überlegung, dass der nicht geschädigt sein kann, der das erhält, was er erhalten will.65 Und schließlich kann hier auf die rechtliche Missbilligung des Vorteils selbst nicht abgestellt werden. Ein Verrat an den Arbeitnehmerinteressen ist mit einem am Unternehmensinteresse orientierten „wohlwollenden“ Verhalten des Betriebsrats nicht notwendiger Weise verknüpft. Betriebsräte haben im Rahmen ihres Tätigkeitsspektrums breit gefächerte Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume, so dass sich in vielen Fällen eine Überschreitung des Ermessens und damit eine hierauf gegründete Pflichtwidrigkeit erst gar nicht begründen lässt.66 Eine „arbeitgeberfreundliche“ Entscheidung des Betriebsrats muss also – entgegen vielleicht dem ersten Anschein – im Ergebnis nicht zwangsläufig arbeitnehmerschädigend sein. Im Gegenteil: Wegen der Komplexität der Entscheidungsvorgänge wird sich kaum jemals verlässlich beurteilen lassen, ob eine konkrete Entscheidung pflichtwidrig war. So ist es durchaus vorstellbar, dass eine auf den ersten Blick nachteilige Entwicklung sich für die Belegschaft letztlich als positiv erweist. 5. Wirtschaftlicher Wert Dass ein „erkauftes“ Wohlwollen einen wirtschaftlichen Wert für das Unternehmen hat, steht damit außer Frage. Was bleibt, ist das Problem, dass es hierfür 63 BGH NStZ-RR 1999, 184, 185 f.; das Argument der Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der Gesamtrechtsordnung werde, wie es dort ausdrücklich heißt, dadurch nicht in Frage gestellt. 64 BGH NStZ 2009, 686, 688. 65 Vgl. Ransiek, StV 2009, 321, 323. 66 So setzt die Bestechlichkeit eines Ermessensbeamten voraus, dass der Empfänger der Zuwendung nach außen bekundet, beeinflussbar zu sein (§ 332 Abs. 3 Nr. 2 StGB). Es bedarf deshalb tragfähiger Umstände, aus denen sich die Folgerung ableiten lässt, der Amtsträger habe bewusst seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, seine Entscheidung auch an dem Vorteil auszurichten, BGH NStZ-RR 2008, 13, 14. – Im vorliegenden Fall ist dies aufgrund der landgerichtlichen Feststellungen ausgeschlossen.
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einen Marktpreis, der sich konkret beziffern oder gar bilanziell abbilden ließe, nicht gibt. Bekannt ist dieses grundsätzliche Problem schon lange, etwa im Hinblick auf Sponsoringleistungen, die vor allem große Unternehmen zur Förderung für Kunst, soziale Belange, Sport oder Wissenschaft zur Verfügung stellen, darüber hinaus aber auch ganz allgemein deshalb, weil es – jenseits von Geld und anderen Nominalwertgütern – den objektiven wirtschaftlichen Wert im Sinne einer präzise berechenbaren Größe ohnehin nicht gibt.67 Inwieweit sich also Aufwendungen lohnen, wird in diesen Fällen niemand betriebswirtschaftlich belegen können. Immerhin hat die Strafjustiz sich bemüht, dem Denken der Wirtschaft gerecht zu werden, indem sie als Kompensation von Aufwendungen das Bemühen akzeptiert, ein „good corporate citizen“ zu sein, den „good-will“ zu steigern, sich Marktchancen zu eröffnen etc.68 Generell muss daher die Einschätzungsprärogative, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang unternehmerische Investitionen sich rechnen, bei der Wirtschaft, nicht der Strafjustiz liegen. Nur dann, wenn das Missverhältnis von Aufwand und erwartetem Nutzen sowie von Aufwand und Ertragslage des Unternehmens krass und eindeutig ist69 oder wenn ein Bezug zum Unternehmensinteresse nicht mehr erkennbar ist, kann ein Schaden bejaht werden. Diese Ausnahmen dürften vorliegend zu verneinen sein. III. Schlussbemerkung Das „Schmieren“ eines Betriebsratsmitglieds ist eine Straftat nach § 119 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, nach Ansicht des BGH unter dem Aspekt der Teilnahme auch für den Betriebsrat selbst.70 Unbefriedigend mag hier der niedrige Strafrahmen (bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe) sowie das Strafantragserfordernis71 nach Abs. 3 sein. Darüber hinaus einen Schaden i. S. d. § 266 StGB zu bejahen, heißt aber, den im Rahmen der Gesamtsaldierung72 zugrunde zu legenden wirtschaftlichen Wert eines reibungslos funktionierenden Betriebsrats zu ignorieren.
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Becker, HRRS 2009, 334, 338. BGH NJW 2002, 1585, 1586, wo allerdings bereits das Merkmal der Pflichtverletzung verneint wurde; genauer Schünemann, NStZ 2006, 196, 198; OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 244. 69 Siehe etwa Ransiek, StV 2009, 321, 324: Grenze ist nur die Vertretbarkeit. 70 BGH NJW 2010, 92, 97, Rn. 68 ff.; da es sich um einen Fall notwendiger Teilnahme handelt, muss der Tatbeitrag des Betriebsratsmitglieds das Maß des zur Tatbestandsverwirklichung Notwendigen überschreiten; s. insgesamt hierzu Schlösser, NStZ 2007, 562, 566. 71 Hieran scheiterte im konkreten Fall eine Bestrafung wegen (Anstiftung zu) § 119 BetrVG, BGH NJW 2010, 92, 97, Rn. 68 ff. 72 Siehe hierzu ferner Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57, 74 f. 68
VI. Nebenstrafrecht, insbesondere Medizinstrafrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht
Vorsatzanforderungen bei Blankettgesetzen am Beispiel des Kartellrechts Von Martin Böse I. Einleitung Einer der Schwerpunkte des wissenschaftlichen Werkes von Ingeborg Puppe ist den Anforderungen an den Vorsatz und den in diesem Zusammenhang auftretenden Irrtumsfragen gewidmet.1 Besondere Aufmerksamkeit hat sie dabei unter anderem der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen zuteil werden lassen2 und ihre Überlegungen anhand von Beispielen aus dem Nebenstrafrecht verdeutlicht3. Dies gibt mir Anlass zu der Hoffnung, dass die nachfolgenden Ausführungen zum Irrtum im Kartellordnungswidrigkeitenrecht (§ 81 GWB) auf ihr Interesse stoßen werden (II.), zumal sich auf der Grundlage dieser Überlegungen Konsequenzen für die Behandlung von Irrtumsfragen ergeben, die der Straftatbestand des § 298 StGB (Submissionsabsprachen) aufwirft (III.). II. Kartellordnungswidrigkeitenrecht (§ 81 GWB) Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist der Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 81 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 GWB, der Verstöße gegen das allgemeine Kartellverbot (§ 1 GWB) mit einer Bußgeldandrohung bewehrt. § 1 GWB verbietet Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Die in dem Bußgeldtatbestand enthaltene Verweisung gibt im vorliegenden Zusammenhang Anlass zu der Frage, ob der Irrtum des Kartellmitgliedes, das eigene Wettbewerbsverhalten verstoße nicht gegen § 1 GWB, einen Tatbestandsoder einen Verbotsirrtum darstellt (s. § 11 Abs. 1 bzw. Abs. 2 OWiG).
1 Siehe insoweit pars pro toto die Kommentierung des § 16 StGB, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar zum StGB3 (2010). 2 Puppe, GA 1990, 145 ff. = dies., Strafrechtsdogmatische Analysen (2006), S. 265 ff.; dies., FS Herzberg (2008), S. 275 ff. 3 Siehe zu § 22a KrWaffG: Puppe, NStZ 1993, 595; dies., Strafrecht AT (2002), S. 504 ff.
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1. Kartellrechtswidrigkeit als rechtlich-institutionelles (normatives) Tatbestandsmerkmal oder als Blankettmerkmal? Nach herrschender Auffassung muss sich der Vorsatz des Täters auch auf die rechtliche Bewertung eines Sachverhaltes – gegebenenfalls nach Maßgabe einer Parallelwertung in der Laiensphäre – beziehen, wenn das Strafgesetz durch Verwendung eines normativen Tatbestandsmerkmals an diese Wertung anknüpft.4 So wird beispielsweise mit dem Merkmal „fremd“ (§§ 242, 246 StGB) auf das Institut Eigentum Bezug genommen. Dies lässt sich mit Puppe dahingehend präzisieren, dass die Strafnorm auf ein dem tatbestandlichen Verbot vorgelagertes („außerstrafrechtliches“) Rechtsverhältnis verweist: Kennt der Täter diese „institutionelle Tatsache“ nicht, so handelt er nicht vorsätzlich.5 Von normativen Tatbestandsmerkmalen in dem vorgenannten rechtlich-institutionellen Sinn zu unterscheiden sind Blankettmerkmale, mit denen der Tatbestand auf eine andere Norm verweist, um den Inhalt des tatbestandlichen Verbotes festzulegen. Nach herrschender Auffassung ist es für den Vorsatz des Täters ausreichend, dass dieser in Kenntnis der Tatbestandsmerkmale der Ausfüllungsnorm handelt; ob er die Verbotswidrigkeit seines Verhaltens erkennt, ist hingegen ohne Bedeutung (s. dazu näher unten 2.).6 Wendet man diese Kriterien auf § 81 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 GWB an, so wird man ein Blankettgesetz annehmen müssen, denn das tatbestandliche Verbot ergibt sich erst aus der Verweisung auf § 1 GWB. Ohne Heranziehung der Ausfüllungsnorm bleibt der Sinn der Verbotsnorm unklar:7 „Ordnungswidrig handelt, wer dem Verbot einer Vereinbarung, eines Beschlusses oder einer abgestimmten Verhaltensweise zuwiderhandelt.“ Anders gewendet, mit dem Kartellverbot wird kein dem Tatbestand vorgelagertes Rechtsverhältnis, sondern das bußgeldbewehrte Verbot formuliert. Dementsprechend behandelt der BGH die irrtümliche Annahme, das Verhalten verstoße nicht gegen § 1 GWB, als Verbotsirrtum (§ 11 Abs. 2 OWiG).8
4 Frister, Strafrecht AT4 (2009), 11. Kap. Rn. 33 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT4 (2009), § 27 Rn. 23 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. I4 (2006), § 12 Rn. 100 ff. 5 Puppe, FS Herzberg (2008), S. 275, 277; s. auch bereits dies., GA 1990, 145, 157 f. 6 Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB27 (2006), § 15 Rn. 99 f.; Frister (Fn. 4), 11. Kap. Rn. 36 ff.; Jakobs, Strafrecht AT2 (1991), 8. Abschn. Rn. 46 f.; Kindhäuser (Fn. 4), § 27 Rn. 32 f.; Roxin (Fn. 4), § 12 Rn. 110 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn, Systematischer Kommentar zum StGB (Stand: 120. Lieferung – November 2009), § 16 Rn. 18 f.; Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen (1955), S. 36 f.; Welzel, MDR 1952, 584, 586; s. dagegen Dietmeier, Blankettstrafrecht – ein Beitrag zur Lehre vom Tatbestand (2002), S. 221 ff.; Enderle, Blankettstrafgesetze (2000), S. 332 ff.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht (1969), S. 385 ff.; T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 358 ff. 7 Vgl. Puppe, GA 1990, 145, 162. 8 BGHSt 21, 18, 20 ff.; wistra 1982, 73, 74.
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Demgegenüber wird die Kartellrechtswidrigkeit im Schrifttum zum Teil als normatives Tatbestandsmerkmal angesehen, mit der Folge, dass der Vorsatz des Täters auch das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot (§ 1 GWB) umfassen müsse.9 Ein solches Verständnis liegt auch der jüngeren obergerichtlichen Rechtsprechung zu Grunde.10 Zur Begründung wird dabei im Schrifttum auf die Rechtsprechung zu der früheren Fassung des Ordnungswidrigkeitentatbestandes (§ 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB a. F.) verwiesen.11 Den Umstand, dass der damalige Tatbestand im Unterschied zu der heutigen Regelung nur das Hinwegsetzen über die Nichtigkeit oder Unwirksamkeit eines nach § 1 GWB nichtigen bzw. unwirksamen Vertrages oder Beschlusses erfasste, hatte das Kammergericht im Jahr 1980 zum Anlass genommen, die Unwirksamkeit des Vertrages (Beschlusses) als normatives Tatbestandsmerkmal einzuordnen.12 Der Gesetzgeber – so das Kammergericht – habe bewusst davon abgesehen, bereits den Abschluss eines Kartellvertrages (vgl. § 1 GWB) mit einem Bußgeld zu belegen, sondern habe das tatbestandsmäßige Verhalten in § 38 GWB a. F. vielmehr eigenständig beschrieben; mit der vergleichsweise herangezogenen hypothetischen Gesetzesfassung nimmt das Gericht die Neufassung des Bußgeldtatbestandes in § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB vorweg und macht deutlich, dass sich der Vorsatz bei einer einfachen Verweisung auf § 1 GWB nur auf die Tatbestandsmerkmale des dort geregelten Verbotes, nicht aber auf das Bestehen des Verbotes selbst beziehen muss.13 Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung wäre die Kartellrechtswidrigkeit des Wettbewerbsverhaltens daher nicht als normatives Tatbestandsmerkmal, sondern als Blankettmerkmal einzuordnen. Mit anderen Worten, die Rechtsprechung ist mit der Einführung von § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB überholt. Die Plausibilität dieses Ergebnisses lässt sich mit der „Umkehrprobe“ untermauern: Die irrtümliche Annahme des Täters, sein Verhalten verstoße gegen § 1 GWB, begründet noch kein (hypothetisches)14 Versuchsunrecht, sondern wäre als Wahndelikt anzusehen.15 Dies wirft die Frage auf, ob die Nichtigkeit des Vertrages bzw. Beschlusses im Rahmen des § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB a. F. nicht ebenfalls ein Blankettmerkmal darstellt, denn letztlich beruhen die Nichtigkeit des Vertrages und 9 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 2 – GWB4 (2007), Vor § 81 Rn. 83 f.; Rengier, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG3 (2006), § 11 Rn. 22. 10 OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.5.2008 – VI-Kart 9-11/07 (OWi), WuW/E DE-R 2589, 2591; Urteil vom 13.9.2006 – VI-Kart 2/06 (OWi), WuW/E DE-R 1917, 1919; Urteil vom 27.3.2006 – VI-Kart 2/05 (OWi), WuW/E DE-R 1733, 1744. 11 Siehe die Nachweise in der vorherigen Fn. 12 KG, Urteil vom 12.6.1980 – Kart 9/79, WuW/E OLG 2321, 2323; zustimmend OLG Stuttgart, Urteil vom 18.10.1982 – 2 Kart 1/82, WuW/E OLG 2795, 2798. 13 KG a. a. O. 14 Der Versuch einer Ordnungswidrigkeit nach § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB wird nicht mit Geldbuße geahndet (s. § 13 Abs. 2 OWiG). 15 Siehe zu diesem Umkehrschluss: Puppe, FS Herzberg (2008), S. 275, 285 ff.
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das tatbestandliche Verbot auf ein und derselben Norm (§ 1 GWB). Auf diese Frage wird bei der Auslegung des Merkmals „rechtswidrig“ in § 298 StGB zurückzukommen sein (s. unten III.). 2. Die Behandlung des Irrtums über die Ausfüllungsnorm (§ 1 GWB) Geht man nach alledem davon aus, dass es sich bei § 81 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 GWB um ein Blankettgesetz handelt, so sind die in der Ausfüllungsnorm genannten Merkmale mit dem Tatbestand des Blankettgesetzes „zusammen zu lesen“16, d.h. der Täter muss in Bezug auf sämtliche Tatbestandsmerkmale der Ausfüllungsnorm (vgl. § 1 GWB) vorsätzlich handeln.17 Nach herrschender Auffassung muss sich der Vorsatz jedoch nicht auf das in der Ausfüllungsnorm enthaltene Ge- oder Verbot beziehen; ein entsprechender Irrtum wird vielmehr als Verbotsirrtum (§ 17 StGB bzw. § 11 Abs. 2 OWiG) angesehen.18 Daraus ergibt sich für § 81 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 GWB, dass sich der Vorsatz des Täters auf die Umstände erstrecken muss, die einen Verstoß gegen § 1 GWB begründen, also z. B. die Faktoren, aus denen sich eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung der Vereinbarung ergibt, die Kartellrechtswidrigkeit des Verhaltens selbst aber nicht vom Vorsatz erfasst sein muss.19 Geht der Täter irrtümlich davon aus, sein Verhalten sei mit § 1 GWB vereinbar, so unterliegt er nach herrschender Auffassung lediglich einem Verbotsirrtum (§ 11 Abs. 2 OWiG).20 Dieses Ergebnis beruht auf der Erwägung, dass der Irrtum auf die strafbewehrte (bzw. in diesem Fall bußgeldbewehrte) Pflicht selbst bezogen ist und somit nach der Entscheidung des Gesetzgebers für die Schuldtheorie nicht als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum, sondern als das Unrechtsbewusstsein betreffender Verbotsirrtum zu qualifizieren ist.21 Demgegenüber ist das Blankettmerkmal nach Ansicht von Puppe insoweit den normativen (rechtlich-institutionellen) Tatbestandsmerkmalen gleichzustellen, als der Vorsatz die Kenntnis der Rechtspflicht voraussetzt, die in der Ausfüllungsnorm enthalten ist; der Unterschied bestehe allein darin, dass der Vorsatz bei Blankettstrafgesetzen nicht allein die Rechtsfolge (Rechtspflicht), sondern auch die Tatbestandsmerkmale der Ausfüllungsnorm umfassen müsse.22 Gegen die 16
Welzel, MDR 1952, 584, 586. Dies ist im Ergebnis allgemein anerkannt, s. Puppe, in: NK-StGB (Fn. 1), § 16 Rn. 60 m.w. N. 18 Siehe die Nachweise in Fn. 6. 19 Achenbach, in: Jaeger/Pohlmann/Rieger/Schröder (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, § 81 GWB Rn. 62. 20 BGHSt 21, 18, 20; wistra 1982, 73, 74; Achenbach (Fn. 19), Rn. 63. 21 Siehe allgemein Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder (Fn. 6), § 15 Rn. 99; Rudolphi, in: SK-StGB (Fn. 6), § 16 Rn. 19; Warda (Fn. 6), S. 37. 22 Puppe, GA 1990, 145, 167 f.; dies., in: FS Herzberg (2008), S. 275, 291. 17
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herrschende Auffassung wird dabei der Einwand erhoben, dass der Umkehrschluss aus § 17 StGB nicht zwingend sei, da die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten der Schuldtheorie es durchaus zulasse, einzelne Irrtümer über die Rechtswidrigkeit nicht als Verbotsirrtum, sondern als Tatbestandsirrtum zu behandeln.23 Beispielhaft wird dabei auf den Irrtum über die Gültigkeit einer Einzelanordnung verwiesen, der von der Rechtsprechung24 als Tatbestandsirrtum angesehen wird.25 Dass der Irrtum über Blankettmerkmale bereits den Vorsatz ausschließe, ergebe sich daraus, dass der Grundgedanke des § 17 StGB auf derartige Irrtümer nicht zutreffe, denn dieser bestehe darin, dass die Anwendbarkeit strafrechtlicher Verhaltensnormen nicht davon abhängig gemacht werden könne, dass dem Täter diese auch bekannt seien.26 Dies sei berechtigt, soweit die Kenntnis dieser Normen im Rahmen der Sozialisation des Einzelnen in der Gesellschaft vermittelt werde, gelte aber nicht für Pflichtverletzungen, deren Unwert sich erst aus dem Erlass eines entsprechenden gesetzlichen Verbotes ergebe.27 Die Bestimmungsnorm, die sich aus dem Zusammenfügen von Blankett- und Ausfüllungsnorm ergebe, sei in diesem Fall rechtlich neutral; das Unrecht entstehe erst dadurch, dass das in der Ausfüllungsnorm enthaltene Verbot hinzugefügt werde.28 Der Vorwurf, der den Täter aufgrund seiner Unkenntnis von diesem Verbot treffe, stehe dem Fahrlässigkeitsvorwurf daher näher als dem Vorsatzvorwurf.29 Die These, das von dem Blankettgesetz erfasste Verhalten sei neutral und könne daher nicht als Bestandteil der im Rahmen der Sozialisation vermittelten und allgemein anerkannten Verhaltensnormen angesehen werden erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als zu undifferenziert. So wird mit Recht darauf hingewiesen, dass auch bußgeldbewehrte (Blankett-)Normen im allgemeinen Bewusstsein ähnlich verankert sind wie strafrechtliche Verbote.30 Neben dem Straßenverkehrsrecht (s. etwa das Rechtsfahrgebot, § 24 StVG i.V. m. §§ 49 Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 2 Abs. 1 S. 1 StVO) kann insoweit auch das Kartellrecht als einschlägiges Beispiel angeführt werden31, das mit der Wettbewerbsbeschränkung 23
Puppe, GA 1990, 145, 168. BGH NJW 1989, 1939 (zu § 145c StGB); ebenso die h. L., s. Cramer/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 6), § 15 Rn. 102; Jakobs (Fn. 6), 8. Abschn. Rn. 47; Roxin (Fn. 4), § 12 Rn. 111. 25 Puppe, GA 1990, 145, 167. 26 Puppe, GA 1990, 145, 167, unter Verweis auf Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum (1987), S. 339. 27 Puppe, GA 1990, 145, 167 f.; dies., in: NK-StGB (Fn. 1), § 16 Rn. 66, unter Verweis auf den von M. E. Mayer geprägten Begriff der Kulturnormen. 28 Puppe, in: FS Herzberg (2008), S. 275, 290. 29 Puppe, GA 1990, 145, 168. 30 Rengier (Fn. 9), § 11 Rn. 6. 31 Rengier, a. a. O., der als weitere Beispiele das Kinder- und Jugendschutzrecht sowie das Gewerbe- und Umweltrecht nennt. 24
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einen von dem bloßen Gesetzes- bzw. Verwaltungsungehorsam gelösten Unrechtskern aufweist und auch im allgemeinen Bewusstsein als sanktionswürdiges Unrecht fest verankert ist. Dies belegt nicht nur der umsatzbezogene Bußgeldrahmen (§ 81 Abs. 4 S. 2–4 GWB), der Geldbußen in Millionenhöhe ermöglicht32, sondern auch die seit Jahrzehnten geführte Diskussion über eine Kriminalisierung von Kartellrechtsverstößen33, die mit der Einführung des § 298 StGB ihren (vorläufigen) Abschluss gefunden hat. Gravierender erscheint jedoch der Umstand, dass die oben angeführte Argumentation in Anlehnung an die Gründe, aus denen eine Übernahme der Vorsatztheorie im Nebenstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht gefordert worden ist34, für Blankettstrafgesetze eine Ausnahme von der als Grundlage der gesetzlichen Regelung (§§ 16, 17 StGB bzw. § 11 OWiG) übernommenen Schuldtheorie geschaffen wird.35 Nun ist durchaus einzuräumen, dass derartige Ausnahmen nicht schlechterdings mit der gesetzlichen Regelung unvereinbar sind (s. o. zur Anknüpfung an eine Einzelanordnung). Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob eine solche Ausnahme über die „Unrechtsneutralität“ des in den betreffenden Tatbeständen beschriebenen Verhaltens begründet werden kann. Wenn nur der Irrtum über die Normen des Kernstrafrechts (des StGB) den Vorsatz unberührt lassen soll36, die Unkenntnis der lediglich bußgeldbewehrten Verbote hingegen nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf zu begründen vermag, so wäre die Regelung des Verbotsirrtums im Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 11 Abs. 2 OWiG) schlechterdings überflüssig.37 Nun ließe sich dagegen einwenden, dass die Anwendung der Vorsatztheorie nicht für das gesamte Ordnungswidrigkeitenrecht, sondern allein für die Bußgeldvorschriften gefordert wird, die als Blankettgesetze ausgestaltet sind.38 Allerdings zeigt § 11 Abs. 2 OWiG, dass der materielle Grund, auf den die vorsatzausschließende Wirkung des Irrtums über das Blankettmerkmal gestützt wird (Unrechtsneutralität von Ordnungswidrigkeiten bzw. nebenstrafrecht32 Siehe zuletzt die Verhängung von Geldbußen in Höhe von insgesamt 13 Millionen gegen mehrere Baustoff-Fachhandelsverbände, Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 2.3.2010. 33 Siehe insbesondere Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht (1976), passim; s. zuletzt Dannecker, in: FS Tiedemann (2008), S. 789 ff. 34 Siehe etwa R. Lange, JZ 1956, 73, 75 ff.; Tiedemann (Fn. 6), S. 385 ff. 35 Treffend Frister (Fn. 4), 11. Kap. Rn. 38. 36 Puppe, in: NK-StGB (Fn. 1), § 16 Rn. 66. 37 Vgl. dagegen T. Walter (Fn. 6), S. 366, wonach die Entscheidung des Gesetzgebers wegen eines ansonsten drohenden Verstoßes gegen den Schuldgrundsatz „korrigiert“ werden müsse. Angesichts des weiten Ermessensspielraums des Strafgesetzgebers (s. nur BVerfGE 80, 244, 255; 90, 145, 173; 120, 224, 241) erscheint diese – in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht näher begründete – These jedoch zweifelhaft; s. auch allgemein zur Vereinbarkeit des § 17 StGB mit dem Schuldgrundsatz BVerfGE 41, 121, 125 f. 38 Vgl. zu einem ähnlichen auf das Strafrecht bezogenen Einwand: Kuhlen (Fn. 26), S. 427 f.
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lichen Delikten), nicht verallgemeinerungsfähig ist, so dass die spezifische Begründung dafür fehlt, dass der Irrtum über die bußgeldbewehrte Pflicht bei Blankettgesetzen den subjektiven Tatbestand, bei anderen Bußgeldtatbeständen hingegen erst die Vorwerfbarkeit entfallen lassen soll. Der Grund für diese unterschiedliche Behandlung liegt nach Ansicht von Puppe in der Gesetzgebungstechnik, denn in dem Rückgriff auf Blankettmerkmale spiegele sich das Unvermögen des Gesetzgebers wider, das strafbewehrte Gebot oder Verbot abschließend und klar positiv zu formulieren.39 Wenn der Gesetzgeber aber nicht einmal selbst in der Lage sei, das tatbestandliche Unrecht in wenigen Worten klar zum Ausdruck zu bringen, so könne auch von dem Bürger nicht erwartet werden, aus der Kenntnis der unrechtsbegründenden Tatsachen auf das Bestehen eines entsprechenden Verbotes zu schließen.40 Es bestehen allerdings erhebliche Zweifel, ob die Gründe für den Gesetzgeber, von der Technik der Blankettgesetzgebung Gebrauch zu machen, auf diese Weise zutreffend beschrieben werden. So zeigt gerade das Beispiel des Kartellrechts, dass es gute Gründe geben kann, das tatbestandliche Verbot (§ 1 GWB) und die Bußgeldandrohung (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB) getrennt zu regeln, da eine Reihe anderer Vorschriften an den Verbotstatbestand anknüpfen, z. B. die Befugnisse der Kartellbehörden (§§ 32 ff. GWB), insbesondere zum Erlass einer Untersagungsverfügung (§ 32 GWB), zivilrechtliche Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche (§ 33 GWB) sowie die Bestimmungen zur Vorteilsabschöpfung (§§ 34, 34a GWB). Die Verweisung in § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB beruht daher nicht auf dem Unvermögen des Gesetzgebers, einen Ordnungswidrigkeitentatbestand klar und abschließend zu normieren, sondern auf der nachvollziehbaren Erwägung, dass die allgemeine Verbotsnorm (§ 1 GWB) und ihre Ausnahmen (§§ 2, 3 GWB) aufgrund ihrer übergreifenden Bedeutung für das Verwaltungs-, Zivil- und Ordnungswidrigkeitenrecht „vor die Klammer gezogen“ werden (s. auch §§ 19 ff. GWB). Der Verzicht auf die Formulierung eines vollständigen Tatbestandes ist Ausdruck der Akzessorietät des Strafrechts zu einem – selbständig normierten – verwaltungsrechtlichen Verbot, dessen wörtliche Wiedergabe im Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitentatbestand der Gesetzgeber als entbehrlich angesehen hat, und sagt über den Gegenstand des tatbestandlich vertypten Unrechts nichts aus.41 39
Puppe, in: FS Herzberg (2008), S. 275, 291. Puppe, a. a. O. 41 Vogel, in: LK-StGB12 (2007), § 16 Rn. 40; s. auch zur statischen Verweisung: Kuhlen (Fn. 26), S. 425 f. Dass die Anforderungen an den Vorsatz nicht in Abhängigkeit von der Gesetzestechnik bestimmt werden können, zeigen beispielsweise auch die Strafvorschriften über den Handel mit Atomwaffen (§ 19 KrWaffG), biologischen und chemischen Waffen (§ 20 KrWaffG) und Antipersonen- und Streuminen (§ 20a KrWaffG), in denen zum Teil auf die verwaltungsrechtlichen Verbotsnormen verwiesen wird (§ 20a Abs. 1 Nr. 1; s. auch § 18 Abs. 1 Nr. 1 KrWaffG), zum Teil eine solche Bezugnahme fehlt (§ 20 KrWaffG). Aus diesem Umstand unterschiedliche Anforderungen an den 40
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Vor diesem Hintergrund erweist sich der Hinweis auf den Wortlaut des Gesetzes, wonach das Blankettmerkmal als Tatbestandsmerkmal anzusehen sei42, als zu formal. Letztlich wird die an die Formulierung des Tatbestandes anknüpfende Betrachtungsweise auch nicht vollständig durchgehalten, denn sie begnügt sich nicht mit dem Vorsatz in Bezug auf das Vorliegen des Blankettmerkmals selbst (hier: Vorliegen eines Verstoßes gegen § 1 GWB), sondern verlangt darüber hinaus auch Kenntnis von den Tatbestandsmerkmalen der Ausfüllungsnorm.43 Ausschlaggebend für diese Differenzierung zwischen normativen (rechtlich-institutionellen) Tatbestandsmerkmalen und Blankettmerkmalen ist wiederum ein materielles Kriterium, nämlich der Sinn des jeweiligen Tatbestandes, der ohne die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale der blankettausfüllenden Norm nicht erfasst werden könne.44 Wird der Sinn aber bereits maßgeblich durch den formellen Gesetzes- bzw. Verwaltungsungehorsam bestimmt, so stellt sich die Frage, ob es der Kenntnis weiterer Umstände bedarf, um das tatbestandsmäßige Unrecht zu erfassen. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, ob die in Bezug genommene Pflicht nicht auf einem Rechtsverhältnis beruht, von dem auch der Laie eine so klare Vorstellung hat, dass er den Sinn des Tatbestandes bereits über die Kenntnis dieses Rechtsverhältnisses erfassen kann. Exemplarisch: So wie sich die in § 242 StGB enthaltene Strafandrohung als implizite Verweisung auf das dem zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch (§ 1004 BGB) zu Grunde liegende Verbot verstehen lässt, das dem Täter über das Institut Eigentum sinngemäß bekannt ist45, ist es für den subjektiven Tatbestand des § 145c StGB ausreichend, dass der Täter in der Vorstellung handelt, gegen ein gerichtlich angeordnetes Berufsverbot zu verstoßen46, das als Ausfluss der über das Prozessrechtsverhältnis begründeten Pflicht zur Befolgung bzw. Duldung der gerichtlich angeordneten Sanktionen allgemein anerkannt ist. Dementsprechend wird im Schrifttum die unterschiedliche Behandlung von Blankettmerkmalen und normativen Tatbestandsmerkmalen abgelehnt und jeweils allein darauf abgestellt, dass der Täter in dem Bewusstsein handelt, gegen das in der Ausfüllungsnorm enthaltene Verbot zu verstoßen.47 Wie die obigen Ausführungen zu § 81 GWB gezeigt haben, ist eine solche Gleichstellung von Blankettmerkmalen und normativen Tatbestandsmerkmalen jedoch zu undifferenziert. Damit wird es zu einer Frage der Auslegung des jewei-
Vorsatz abzuleiten, erschiene angesichts des in materieller Hinsicht ohne Weiteres vergleichbaren Unrechts kaum nachvollziehbar. 42 Puppe, in: NK-StGB (Fn. 1), § 16 Rn. 67. 43 Siehe die Nachweise in Fn. 22; zum Sinn des Tatbestandes als dessen Intension: Puppe, GA 1990, 145, 149. 44 Puppe, GA 1990, 145, 163. 45 Vgl. T. Walter, in: FS Tiedemann (2008), S. 969, 975. 46 Vgl. oben Fn. 24. 47 Dietmeier (Fn. 6), S. 221 ff.; Enderle (Fn. 6), S. 332 ff.; Tiedemann (Fn. 6), S. 388; T. Walter (Fn. 6), S. 365 ff.
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ligen Tatbestands, welche Anforderungen an den Vorsatz zu stellen sind.48 In diesem Zusammenhang wird auch von der vorherrschenden Auffassung anerkannt, dass die Kriminalisierung fahrlässigen Verhaltens darauf hindeutet, dass vorsätzliches Handeln die Kenntnis des in der Ausfüllungsnorm enthaltenen Verbotes voraussetzt, soweit der Fahrlässigkeitstatbestand in erster Linie für die Fälle der „Rechtsfahrlässigkeit“ (d.h. der fahrlässigen Verbotsunkenntnis) geschaffen worden ist.49 Diese Erwägungen treffen jedoch auf den Tatbestand des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB nicht zu. Zwar werden von § 81 GWB seit der 6. GWB-Novelle auch fahrlässige Verstöße erfasst. Die Aussagekraft dieser Gesetzesänderung darf jedoch nicht überschätzt werden, denn sie geht in erster Linie auf das Bestreben zurück, das deutsche GWB an das europäische Wettbewerbsrecht anzupassen.50 Dass es sich um eine wenig durchdachte Regelung handelt, zeigt sich auch daran, dass die Ausweitung der Bußgeldtatbestände auf fahrlässiges Verhalten zunächst leer lief, soweit diese implizit ein vorsätzliches Verhalten verlangten.51 Der Gesetzgeber hat diese Ungereimtheiten inzwischen durch Einführung einer selbständigen Regelung für vorsätzliche Verstöße (§ 81 Abs. 3 GWB) weitgehend korrigiert52, aber letztlich nicht vollständig ausgeräumt: So wird nach wie vor kritisiert, dass ein fahrlässiges „Bezwecken“ einer Wettbewerbsbeschränkung (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 i.V. m. § 1 GWB) nicht möglich sei.53 Selbst wenn man diese Kritik unberücksichtigt lässt und die Bußgeldandrohung für fahrlässige Wettbewerbsverstöße als Grundentscheidung des Gesetzgebers der Auslegung des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB zu Grunde legt, ist nicht davon auszugehen, dass sich die fahrlässige Begehung dieser Ordnungswidrigkeit auf Fälle der Rechtsfahrlässigkeit beschränkt, sondern der Tatbestand bezieht insbesondere den Fall mit ein, dass dem Täter die Auswirkungen seines Verhaltens auf den Wettbewerb verborgen bleiben, während er sie bei der vorsätzlichen Begehung absichtlich oder zumindest bewusst herbeiführt.54 Daraus ergibt sich zu48 Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 6), § 15 Rn. 100; Rudolphi, in: SK-StGB (Fn. 6), § 16 Rn. 19. 49 Roxin (Fn. 4), § 21 Rn. 43. 50 Siehe die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 13/9720, S. 30. Nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (ABl. EU L 1 vom 4.1.2003, S. 1) können auch fahrlässige Verstöße gegen Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) geahndet werden. 51 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 9), Vor § 81 Rn. 8 (Fn. 31). 52 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 15/3640, S. 66. 53 Achenbach, in: Frankfurter Kommentar (Fn. 19), § 81 Rn. 64; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 9), § 81 Rn. 79 f.; s. dagegen für ein (europarechtskonformes) objektives Begriffsverständnis: Böse, in: Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht (im Erscheinen), § 81 GWB Rn. 16. 54 Siehe zum Irrtum über die Eignung einer Absprache zur Marktbeeinflussung: OLG Stuttgart, Urteil vom 29.4.1983 – 2 Kart 1/83, WuW/E OLG 2986, 2987.
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gleich, dass der Täter den Unwert des von ihm bewirkten Erfolgs – die Beschränkung des Wettbewerbs – sinngemäß erfassen kann, ohne dass ihm das gesetzliche Verbot bekannt ist. Die vorsätzliche Begehung des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB setzt daher nicht voraus, dass dem Täter bewusst ist, dass sein Verhalten gegen § 1 GWB verstößt. Ein entsprechender Irrtum ist nicht als Tatbestandsirrtum (§ 11 Abs. 1 OWiG), sondern als Verbotsirrtum (§ 11 Abs. 2 OWiG) anzusehen. Dies gilt entsprechend für den Irrtum über die Freistellung vom Kartellverbot (§ 2 GWB). III. Submissionsabsprachen (§ 298 StGB) Mit der Einführung des § 298 StGB hat der Gesetzgeber einen Teilbereich der Kartellordnungswidrigkeiten (s. § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB) kriminalisiert.55 Dies kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass das Merkmal der „rechtswidrigen“ Absprache auf das allgemeine Kartellverbot (§ 1 GWB) Bezug nimmt und somit kartellrechtsakzessorisch auszulegen ist.56 Die Verweisung auf das Kartellrecht wirft daher wiederum die Frage auf, ob der Vorsatz des Täters sich auch darauf erstrecken muss, dass die Absprache, auf deren Grundlage er sein Angebot abgibt, gegen das allgemeine Kartellverbot (§ 1 GWB) verstößt. Nach vorherrschender Auffassung ist die Rechtswidrigkeit der Absprache als normatives Tatbestandsmerkmal anzusehen, so dass ein entsprechender Irrtum als Tatbestandsirrtum den Vorsatz ausschließt (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB).57 Dies verwundert zunächst, da die Akzessorietät zum Kartellrecht – insbesondere zu den dort vorgesehenen Ausnahmen58 – eher die Annahme eines Blankettmerkmals nahe legt.59 Die Einordnung als Tatbestandsmerkmal und die entsprechende Behandlung des Irrtums wird mit der Erwägung begründet, dass sich das Merkmal „rechtswidrig“ nicht auf die Tathandlung (Abgabe eines Angebotes), sondern auf einen der Tathandlung vorgelagerten Umstand (Absprache) beziehe.60 Dies entspricht in der Sache der Argumentation des Kammergerichts zu § 38 Abs. 1 Nr. 1 55
Siehe die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 13/5584, S. 13. BGHSt 49, 201, 205; s. dazu eingehend Wunderlich, Die Akzessorietät des § 298 StGB zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (2009), S. 73, 75 ff., 161 ff., 187 ff. 57 Dannecker, in: NK-StGB (Fn. 1), § 298 Rn. 47, 50, 56; Grützner, Die Sanktionierung von Submissionsabsprachen (2003), S. 523 f.; Hohmann, in: MK-StGB, Bd. 5 (2006), § 298 Rn. 76, 98; Kuhlen, in: FS Lampe (2003), S. 743, 754; Lackner/Kühl, StGB26 (2007), § 298 Rn 3, 5; Tiedemann, in: LK-StGB12 (2008), § 298 Rn. 36, 43. 58 Vgl. zu den Bietergemeinschaften den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 13/8079, S. 14; s. dazu allgemein Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 9), § 1 GWB Rn. 285. 59 Siehe auch Hohmann, in: MK-StGB (Fn. 57), § 298 Rn. 12 („unechte Blankettnorm“). 60 Grützner (Fn. 57), S. 523. 56
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GWB a. F., das die Unwirksamkeit der Kartellvereinbarung als normatives Tatbestandsmerkmal eingeordnet hatte (s. o. II.1.). Gegen diese Rechtsprechung ist jedoch einzuwenden, dass die Unwirksamkeit der Vereinbarung und die tatbestandliche Verhaltensnorm auf ein- und dasselbe Verbot zurückzuführen sind. Dieser Zusammenhang wird durch die äußerliche Anknüpfung an die Unwirksamkeit des Vertrages lediglich verdeckt, aber nicht aufgehoben.61 Wie aus der Gesetzesbegründung zu § 38 GWB a. F. deutlich wird, ging es dem Gesetzgeber darum, nicht bereits den Abschluss, sondern erst die Durchführung einer (rechtswidrigen) Kartellvereinbarung mit einer Geldbuße zu bedrohen.62 Derartige Erwägungen waren auch für die Ausgestaltung des § 298 StGB maßgeblich63, sind dort allerdings im Wortlaut klarer zum Ausdruck gekommen, der ein Angebot verlangt, das auf einer rechtswidrigen Absprache beruht, und damit eine Durchführung der Kartellvereinbarung fordert. Das tatbestandliche Verbot, die Vereinbarung durchzuführen, lässt sich damit auf das (allgemeine) Kartellverbot (§ 1 GWB) zurückführen, das somit nicht nur auf ein einzelnes Tatbestandsmerkmal (Absprache) zu beziehen ist, sondern (auch) das Unrecht der Tathandlung bezeichnet.64 Dementsprechend werden der Abschluss der Vereinbarung und deren anschließende Umsetzung im Ordnungswidrigkeitenrecht als einheitlicher Kartellverstoß angesehen.65 Der Tatbestand des § 298 StGB unterscheidet sich von dem des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB lediglich darin, dass er eine bestimmte Wettbewerbssituation (Ausschreibung bzw. Teilnahmewettbewerb) und – wie § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB a.F – nicht nur den Abschluss einer Kartellvereinbarung, sondern auch deren Vollzug (Abgabe eines entsprechenden Angebotes) voraussetzt. Beide Tatbestände verhalten sich zueinander wie Grundtatbestand und Qualifikation.66 Erliegt der Täter in Bezug auf die Verwirklichung des Grundtatbestandes einem Verbotsirrtum (§ 17 StGB bzw. § 11 Abs. 2 OWiG), so kann dieser Irrtum im Hinblick auf den Qualifikationstatbestand, der insoweit auf derselben Verhaltensnorm beruht, nicht als Tatbestandsirr61 Hätte der Gesetzgeber beispielsweise in § 29 BtMG formuliert: „Wer sich über die Unwirksamkeit eines Kaufvertrages über die Lieferung von Betäubungsmitteln hinwegsetzt . . .“, so nähme diese Formulierung auf dem Umweg über § 134 BGB auf das allgemeine Verkehrsverbot (§ 3 BtMG) Bezug und es wäre kaum anzunehmen, dass ein Gericht den Vorsatz des Täters bei irrtümlicher Annahme eines wirksamen Kaufvertrages verneinte. 62 Siehe die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 2/1158, S. 45. 63 Siehe die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 13/5584, S. 14. 64 In diesem Sinne Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 6), § 298 Rn. 13; Rudolphi, in: SK-StGB (Fn. 6), § 298 Rn. 8. 65 BGH JZ 1997, 98, 100 f.; NJW 2006, 163 f. 66 Siehe die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 13/5584, S. 13 („Kriminalisierung eines Teilbereichs der bisherigen Ordnungswidrigkeiten . . .“); s. zum Verhältnis von § 298 StGB und § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB: Böse, in: Graf/Jäger/Wittig (Fn. 53), § 298 StGB Rn. 3, 4.
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tum (§ 16 StGB bzw. § 11 Abs. 1 OWiG) angesehen werden: Handelt der Dieb bei der Wegnahme in dem Glauben, der Diebstahl sei gerechtfertigt, und wendet er anschließend gegen das Opfer Gewalt an, um sich im Besitz der gestohlenen Sache zu erhalten, so begründet der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Diebstahls (§ 242) im Rahmen der Qualifikation (§ 252) nicht etwa einen Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB), sondern es ist in Bezug auf beide Tatbestände ein Verbotsirrtum (§ 17 StGB) anzunehmen. Als Ergebnis ist daher festzuhalten, dass der Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Absprache im Rahmen des § 298 StGB als Verbotsirrtum (§ 17 StGB) anzusehen ist.67 IV. Fazit Entgegen der Auffassung der Jubilarin ist aus dem Umstand, dass es sich bei § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB (und nach hier vertretener Ansicht auch bei § 298 StGB) um ein Blankettgesetz handelt, nicht abzuleiten, dass der Vorsatz des Täters auch die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens umfassen muss (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). Der Irrtum über die Kartellrechtswidrigkeit der Absprache ist vielmehr sowohl im Kartellordnungswidrigkeitenrecht (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB) als auch im Wettbewerbsstrafrecht (§ 298 StGB) als Verbotsirrtum (§ 17 StGB bzw. § 11 Abs. 2 OWiG) einzuordnen. Die vorstehenden Ausführungen behandeln mit dem Kartellrecht nur einen kleinen Ausschnitt des Blankettstrafrechts und nehmen nicht für sich in Anspruch, ein verallgemeinerungsfähiges Kriterium für die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum zu entwickeln. Den Kern eines solchen Abgrenzungskriteriums hat Ingeborg Puppe mit dem Hinweis auf den Sinn des Tatbestands benannt.68 Möglicherweise veranlassen sie die vorstehenden Zeilen, das Thema erneut aufzugreifen und die wissenschaftliche Diskussion durch einen ihrer scharfsinnigen Beiträge voranzutreiben. In diesem Sinne verbinde ich meine herzlichsten Glückwünsche zum 70. Geburtstag mit der Hoffnung, dass der kritische Geist von Ingeborg Puppe der Strafrechtswissenschaft noch viele Jahre erhalten bleiben möge.
67 Ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafrechtBT-29 (2005), § 68 Rn. 5; Rudolphi, in: SK-StGB (Fn. 6), § 298 Rn. 8; s. auch Fischer, StGB57 (2010), § 298 Rn. 18. 68 GA 1990, 145, 149, 163, 167 f.
Zur gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung Von Dieter Dölling Die verehrte Jubilarin hat sich in ihrem umfangreichen Werk auch mit dem Medizinstrafrecht befasst.1 Deshalb hat der vorliegende Beitrag ein medizinrechtliches Thema zum Gegenstand. Behandelt wird die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung, die durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29.7.20092 erfolgt und am 1.9.2009 in Kraft getreten ist. Ziel der gesetzlichen Regelung ist es, im Bereich der Patientenverfügung mehr Rechtssicherheit zu schaffen.3 In dem vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, inwieweit dies gelungen ist. Diese Frage ist für die strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens von Ärzten, Pflegepersonal und Betreuern nicht mehr einwilligungsfähiger Patienten von erheblicher Bedeutung. Eine Strafbarkeit kommt insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer Körperverletzung durch Vornahme eines ärztlichen Heileingriffs4 und unter dem Aspekt einer Tötung oder Körperverletzung durch Unterlassen durch Nichtvornahme einer medizinisch indizierten ärztlichen Maßnahme5 in Betracht. Hat der nicht mehr einwilligungsfähige Patient eine Patientenverfügung errichtet, hängt die strafrechtliche Würdigung des Verhaltens der für die gesundheitliche Versorgung des Patienten verantwortlichen Personen in erheblichem Maß von Wirksamkeit, Inhalt und Tragweite der Patientenverfügung ab. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über die gesetzliche Regelung gegeben. Dann wird erörtert, wie die einzelnen Vorschriften auszulegen sind. Hierbei müssen sich die Ausführungen auf eine Skizzierung der vielschichtigen Problematik beschränken. Das Kernstück der gesetzlichen Regelung sind die neuen §§ 1901a und 1901b BGB und der neu gefasste § 1904 BGB. Nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB ist eine Patientenverfügung eine schriftliche Festlegung eines einwilligungsfähigen Volljährigen, die dieser für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit darüber trifft, ob 1 Vgl. Puppe, Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes bei mangelnder Aufklärung über eine Behandlungsalternative – Zugleich Besprechung von BGH, Urteile vom 3.3.1994 und 29.6.1995, GA 2003, S. 764 ff. 2 BGBl. I, S. 2286. 3 Gesetzesentwurf der Abgeordneten Stünker u. a., BT-Drs. 16/8442, S. 3. 4 Zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes der Körperverletzung durch ärztliche Heileingriffe siehe BGHSt 11, S. 111, 112, und Fischer, StGB57, 2010, § 223 Rn. 9 ff. m.w. N. auch zur – in verschiedenen Ausgestaltungen vertretenen – Gegenmeinung. 5 Zur Garantenstellung von Ärzten und Betreuern vgl. BGHSt 40, S. 257, 266.
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er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Gemäß § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB kann eine Patientenverfügung jederzeit formlos widerrufen werden. Liegt eine nicht widerrufene Patientenverfügung vor, prüft nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB im Falle der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten der Betreuer, ob die Festlegungen in der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer gemäß § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer nach § 1901a Abs. 2 S. 1 BGB die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist gemäß § 1901a Abs. 2 S. 2 BGB aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Hierfür nennt § 1901a Abs. 2 S. 3 BGB eine Reihe von Kriterien. Nach § 1901a Abs. 3 BGB gelten die Absätze 1 und 2 unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten. Gemäß § 1901a Abs. 5 BGB gelten die Absätze 1 bis 3 für Bevollmächtigte entsprechend. Nach § 1901a Abs. 4 kann niemand zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet werden und darf die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden. § 1901b BGB enthält Regelungen über das Vorgehen bei der Feststellung des Patientenwillens. Nach § 1901b Abs. 1 S. 1 BGB prüft der behandelnde Arzt, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Gemäß S. 2 erörtern er und der Betreuer diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a BGB zu treffende Entscheidung. Außerdem soll nach § 1901b Abs. 2 BGB bei der Feststellung des Patientenwillens nach § 1901a Abs. 1 BGB oder der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens nach § 1901a Abs. 2 BGB nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerungen möglich ist. Diese Regelungen gelten nach § 1901b Abs. 3 BGB für Bevollmächtigte entsprechend. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Einwilligung oder Nichteinwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten oder der Widerruf der Einwilligung der Genehmigung des Betreuungsgerichts bedarf, ist in § 1904 BGB geregelt. Nach § 1904 Abs. 1 BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr be-
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steht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist. Die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Maßnahme i. S. v. § 1904 Abs. 1 BGB bedarf nach Abs. 2 der Vorschrift der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Den Maßstab für die Entscheidung des Betreuungsgerichts enthält § 1904 Abs. 3 BGB. Danach ist die Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 zu erteilen, wenn die Einwilligung, die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht. Eine Genehmigung des Betreuungsgerichts ist gemäß § 1904 Abs. 4 BGB nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901a BGB festgestellten Willen des Betreuten entspricht. Die Regelungen des § 1904 Abs. 1 bis Abs. 4 BGB gelten nach § 1904 Abs. 5 S. 1 BGB auch für einen Bevollmächtigten. Dieser kann gemäß § 1904 Abs. 5 S. 2 BGB in eine ärztliche Maßnahme i. S. v. § 1904 Abs. 1 und 2 BGB nur einwilligen, nicht einwilligen oder die Einwilligung widerrufen, wenn die Vollmacht diese Maßnahme ausdrücklich erfasst und schriftlich erteilt ist.6 Im Folgenden sollen zunächst die gesetzlichen Anforderungen an die Errichtung einer wirksamen Patientenverfügung erörtert werden. Im Hinblick auf die Form verlangt § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB lediglich Schriftform. Es reicht also nach § 126 Abs. 1 BGB die eigenhändige Namensunterschrift unter die Urkunde aus. Ort und Zeitpunkt der Errichtung der Patientenverfügung müssen nicht angegeben werden. Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn im Zeitpunkt der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten eine schriftliche Patientenverfügung nicht vorliegt, aber Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Patient eine schriftliche Patientenverfügung errichtet hat und diese verloren gegangen oder sonst nicht auffindbar ist. Nach zivilrechtlichen Regeln wird zum Beispiel die Wirksamkeit eines formgültig errichteten Testaments nicht dadurch berührt, dass die Urkunde ohne Willen und Zutun des Erblassers vernichtet worden, verloren gegangen oder sonst nicht auffindbar ist, und kann der Nachweis von Existenz und Inhalt eines nicht auffindbaren Testaments mit allen zulässigen Beweismitteln geführt werden.7 Werden diese Grundsätze auf die Patientenverfügung angewendet, müsste 6 Zu den verfahrensrechtlichen Neuregelungen siehe Höfling, NJW 2009, S. 2849, 2851 f.; Olzen, JR 2009, S. 354, 359. 7 Vgl. BGH, NJW 1951, S. 559; BayObLG, FamRZ 1986, S. 1043, 1044; 1990, S. 1162, 1163.
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also versucht werden zu ermitteln, ob der Patient tatsächlich eine schriftliche Patientenverfügung errichtet hat und was der Inhalt dieser Verfügung war. Es liegt auf der Hand, dass dies erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann.8 § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB verlangt weiter, dass die Patientenverfügung von einem einwilligungsfähigen Volljährigen errichtet werden muss. Im Hinblick auf das Erfordernis der Einwilligungsfähigkeit besteht Einigkeit darüber, dass es hierfür nicht auf die Geschäftsfähigkeit ankommt, sondern auf die natürliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit: Der Betroffene muss in der Lage sein, Art, Bedeutung, Tragweite und die Risiken der ärztlichen Maßnahme zu erfassen und seinen Willen hiernach zu bestimmen.9 Es kann allerdings schwierig sein festzustellen, ob die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung vorlag. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Betroffene die Verfügung zu einem Zeitpunkt errichtet hat, in dem er möglicherweise schon unter dem Einfluss einer seine geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheit stand. Die Schwierigkeiten können deshalb besonders gravierend sein, weil das Gesetz sowohl auf das Erfordernis einer ärztlichen Beratung vor Errichtung der Patientenverfügung als auch auf das Erfordernis einer notariellen Beurkundung verzichtet hat. Es kann deshalb sein, dass es keine Personen gibt, die sich mit der psychischen Verfassung des Betroffenen im Zeitpunkt der Errichtung der Patientenverfügung näher auseinandergesetzt haben. Für Betreuer, Ärzte und Betreuungsgericht können daher schwierige Entscheidungssituationen entstehen, wenn es Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung gibt. Fraglich könnte die Wirksamkeit einer Patientenverfügung sein, wenn der Betroffene im Zeitpunkt ihrer Errichtung zwar einwilligungsfähig war, aber wesentliche Willensmängel vorlagen. Für die Einwilligung ist anerkannt, dass ihre Wirksamkeit nicht nur die Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsträgers voraussetzt, sondern auch erforderlich ist, dass dieser die Einwilligung frei von wesentlichen Willensmängeln erteilt.10 Es liegt nahe, diese Wirksamkeitsanforderungen auch an die in einer Patientenverfügung enthaltene Nichteinwilligung in die Vornahme einer ärztlichen Maßnahme zu stellen.11 Wird dem gefolgt, ist eine Patientenverfügung zum Beispiel dann nicht wirksam, wenn der Verfasser einem 8 Solche Schwierigkeiten können durch Eintragung der Patientenverfügung in das Zentrale Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer vermieden werden, siehe dazu Diehn/Rebhan, NJW 2010, S. 326, 330. 9 Palandt/Diederichsen, BGB69, 2010, § 1901a Rn. 10. 10 HK-GS/Dölling, 2008, § 228 StGB Rn. 5 f.; NK3-Paeffgen, 2010, § 228 Rn. 14 ff.; 22 ff. 11 Vgl. Albers, Medizinrecht, 2009, S. 138, 141, und Neuner, in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, 2008, S. 113, 122, nach denen eine Patientenverfügung im Falle von Willensmängeln gegenstandslos ist.
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Irrtum über die Schwere oder die Folgen einer Krankheit oder die Wirksamkeit oder Nebenfolgen einer Behandlungsmaßnahme unterliegt. Es könnte daran gedacht werden, die Irrtumsfreiheit der Patientenverfügung nicht bereits bei der Prüfung ihrer Wirksamkeit zu berücksichtigen, sondern die Irrtumsfreiheit in die nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB vorzunehmende Prüfung einzubeziehen, ob die Festlegungen in der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Näher liegt es jedoch, für die Wirksamkeit der Patientenverfügung Irrtumsfreiheit zu verlangen und die Prüfung nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB auf die Frage zu beschränken, ob die irrtumsfrei zustande gekommene Patientenverfügung auf die aktuelle Situation zutrifft. Eine Patientenverfügung ist auch dann unwirksam, wenn sie durch eine Nötigung erzwungen wird. Wird verlangt, dass bei der Errichtung der Patientenverfügung keine wesentlichen Willensmängel vorlagen, kann die Feststellung auch dieser Voraussetzung erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Hier wirkt sich wiederum der Verzicht des Gesetzgebers auf die Erfordernisse der ärztlichen Beratung und der notariellen Beurkundung aus. In den Gesetzesmaterialien heißt es, dass der in einer Patientenverfügung zum Ausdruck kommende Wille bindend sei, wenn „keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Patientenverfügung durch äußeren Druck oder aufgrund eines Irrtums zustande gekommen ist“.12 Nach dieser Formulierung wäre eine Patientenverfügung nicht nur dann als unwirksam anzusehen, wenn ein Willensmangel bei ihrer Errichtung feststeht, sondern bereits dann, wenn Anhaltspunkte für einen Willensmangel vorliegen.13 Nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB muss sich die Patientenverfügung auf „bestimmte“ ärztliche Maßnahmen beziehen. Allgemeine Richtlinien für eine künftige Behandlung sind vom Begriff der Patientenverfügung nicht umfasst.14 Ob Gegenstand einer Patientenverfügung eine bestimmte ärztliche Maßnahme ist, kann allerdings zweifelhaft sein. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Betroffene in der Verfügung lebensverlängernde Maßnahmen generell ausschließt. Teilweise wird angenommen, dass es ausreicht, wenn sich der Betroffene in seiner Verfügung z. B. bei irreversiblem Koma gegen die Einleitung lebensverlängernder Maßnahmen entscheidet.15 In der Gesetzesbegründung wird freilich ausgeführt, dass Äußerungen wie „Wenn ich einmal dement bin, will ich keine lebenserhaltenden Maßnahmen“ von vornherein keine unmittelbare Bindungswirkung haben können, „weil sie keine hinreichend konkrete Behandlungsentscheidung in 12
Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 8. Vgl. auch Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung. Gutachten C zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, C 81, der für die Bindungswirkung einer Patientenverfügung auf das Fehlen konkreter Anhaltspunkte für fehlende Einwilligungsfähigkeit oder unzulässige Einflussnahme Dritter im Zeitpunkt der Abfassung abstellt. 14 Gesetzentwurf (Fn. 3), S. 13. 15 Palandt/Diederichsen (Fn. 9), § 1901a Rn. 6. 13
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einer bestimmten Krankheitssituation enthalten“.16 Solche Verfügungen geben nach der Gesetzesbegründung „für sich allein keinen Aufschluss darüber, ob beispielsweise eine Behandlung mit Antibiotika erfolgen soll oder nicht“.17 Anscheinend sieht die Gesetzesbegründung in dem Beispielsfall nicht nur die Bezeichnung der Krankheit, sondern auch die Umschreibung der ärztlichen Maßnahmen, die unterbleiben sollen, als nicht hinreichend bestimmt an. Das würde bedeuten, dass ein Betroffener, der für eine bestimmte Situation lebenserhaltende ärztliche Maßnahmen ablehnen will, alle in der betreffenden Situation in Betracht kommenden lebenserhaltenden ärztlichen Maßnahmen in der Patientenverfügung im Einzelnen nennen müsste. Es ist also noch klärungsbedürftig, was unter einer bestimmten ärztlichen Maßnahme i. S. v. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB genau zu verstehen ist. Probleme können sich auch ergeben, wenn der Inhalt einer Patientenverfügung nicht eindeutig ist. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die Verfügung ohne ärztliche und juristische Beratung getroffen worden ist. In diesen Fällen muss die Verfügung ausgelegt werden. Es kommt dann darauf an, den wirklichen Willen des Betroffenen zu ermitteln.18 Ist dies nicht möglich, liegt keine wirksame Patientenverfügung vor. Unwirksam sind Patientenverfügungen, mit denen ein gesetz- oder sittenwidriges Verhalten verlangt wird. Eine nach § 216 StGB strafbare Tötung auf Verlangen kann daher mit einer Patientenverfügung nicht wirksam gefordert werden.19 Auch ein menschenwürdewidriger Ausschluss der Basisversorgung kann durch eine Patientenverfügung nicht erfolgen.20 Ist eine wirksame Patientenverfügung errichtet worden, kann diese nach § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB jederzeit formlos widerrufen werden. Insoweit besteht Einigkeit darüber, dass auch ein Widerruf durch konkludentes Verhalten genügt.21 Fraglich könnte sein, ob der Widerruf die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen voraussetzt. In § 1901 Abs. 3 S. 2 BGB ist geregelt, dass die grundsätzliche Pflicht des Betreuers, Wünschen des Betreuten zu entsprechen, auch für Wünsche gilt, die der Betreute vor der Bestellung des Betreuers geäußert hat, dies aber nicht gilt, wenn der Betreute an diesen Wünschen erkennbar nicht festhalten will. Für das Abrücken von den früheren Wünschen wird ebenso wie bei § 1897 Abs. 4 S. 3 BGB der natürliche Wille des Betreuten als ausreichend angesehen.22 Es könnte daran gedacht werden, diese Auslegung auf den Widerruf
16
Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 15. A. a. O. 18 Siehe Neuner (Fn. 11), S. 119. 19 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 7; Olzen (Fn. 6), S. 357. 20 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 13; Olzen, a. a. O. 21 Gesetzesentwurf, a. a. O.; Palandt/Diederichsen (Fn. 9), § 1901a Rn. 25. 22 Vgl. MK-BGB5 /Schwab, 2008, § 1901 Rn. 11, 13; § 1897 Rn. 21; Staudinger/ Bienwald, 2006, § 1901 Rn. 25; § 1897 Rn. 28. 17
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nach § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB zu übertragen.23 Der Widerruf gemäß § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB ist allerdings ein actus contrarius zur Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB. Für die Patientenverfügung setzt das Gesetz Einwilligungsfähigkeit voraus. Das könnte dafür sprechen, auch für den Widerruf Einwilligungsfähigkeit zu verlangen.24 Auch wenn dieser Ansicht gefolgt wird, muss das nicht bedeuten, dass ein natürlicher Wille des Patienten völlig unbeachtlich ist. Die Problematik kann u. a. praktisch relevant werden, wenn ein Betroffener in einer Patientenverfügung lebenserhaltende Maßnahmen untersagt hat, nach Verlust der Einwilligungsfähigkeit aber den natürlichen Willen äußert, weiterzuleben und die lebenserhaltende Maßnahme in Anspruch zu nehmen.25 Nach der Gesetzesbegründung kann die Problematik unter Umständen im Rahmen der Prüfung, ob die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen, gelöst werden. Nach der Gesetzesbegründung ist hierbei auch zu prüfen, „ob das aktuelle Verhalten des nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten konkrete Anhaltspunkte dafür zeigt, dass er unter den gegebenen Umständen den zuvor schriftlich geäußerten Willen nicht mehr gelten lassen will und ob der Betroffene bei seinen Festlegungen diese Lebenssituation mitbedacht hat“.26 Hat der Betroffene also bei der Erstellung der Patientenverfügung nicht daran gedacht, dass er nach dem Verlust der Einwilligungsfähigkeit den natürlichen Willen zum Weiterleben haben könnte, könnte angenommen werden, dass die in der Patientenverfügung enthaltene Untersagung der lebenserhaltenden Maßnahme auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation nicht zutrifft, und dies könnte die Möglichkeit eröffnen, die lebenserhaltende Maßnahme vorzunehmen. Dieser Lösungsweg ist jedoch verschlossen, wenn der Betroffene in der Patientenverfügung die lebenserhaltende Maßnahme auch für den Fall untersagt, dass er im einwilligungsunfähigen Zustand einen natürlichen Willen zum Weiterleben äußert. Es stellt sich dann die Frage, ob die Patientenverfügung bindend ist und Betreuer und Arzt verpflichtet sind, den aktuell lebenswilligen Patienten sterben zu lassen. Die Auferlegung einer solchen Verpflichtung wäre inhuman und mit der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zum Lebensschutz27 kaum vereinbar. Auch in anderen Zusammenhängen – vgl. außer § 1897 Abs. 4 S. 3 und § 1901 Abs. 3 S. 2 BGB auch § 1905 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB – beachtet das 23 Siehe Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens? Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, A 117 f., der für den Widerruf keine Einwilligungsfähigkeit verlangt. 24 Für Bindung des Widerrufs an die Einwilligungsfähigkeit Olzen (Fn. 6), S. 358; Spickhoff, FamRZ 2009, S. 1949, 1955. 25 Die umgekehrte Konstellation, dass die Patientenverfügung eine Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme enthält und der einwilligungsunfähig gewordene Patient die Maßnahme ablehnt, kann vorliegend nicht erörtert werden. 26 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 14 f. 27 Siehe dazu BVerfGE 39, S. 1, 41, 42; 46, S. 160, 164; 115, S. 118, 152.
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Betreuungsrecht den natürlichen Willen nicht mehr einwilligungsfähiger Personen. In der geschilderten Fallkonstellation dürfte daher eine Bindung an die Patientenverfügung abzulehnen sein.28 Schwierigkeiten ergeben sich, wenn zweifelhaft ist, ob der Betroffene von der Patientenverfügung abgerückt ist. In den Gesetzesmaterialien heißt es: „. . . gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene seine Entscheidung geändert hat, ist es Aufgabe des Betreuers, dem Behandlungswillen des Betroffenen Ausdruck und Geltung zu verschaffen“.29 Diese Formulierung könnte in der Weise verstanden werden, dass bereits konkrete Anhaltspunkte für eine Willensänderung des Betroffenen ausreichen, um die Bindungswirkung der Patientenverfügung zu verneinen. Hat der Betroffene die wirksame Patientenverfügung nicht widerrufen und ist er auch sonst nicht in rechtlich beachtlicher Weise von der Patientenverfügung abgerückt, hat der Betreuer nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB zu prüfen, ob die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Diese Prüfung kann sehr schwierig sein, denn kaum einmal wird die aktuelle Situation in allen Aspekten mit der in der früheren Verfügung beschriebenen Lage übereinstimmen.30 Von Bedeutung ist insbesondere, ob gerade die Krankheit und das Krankheitsstadium vorliegen, die in der Patientenverfügung beschrieben sind, und ob gerade die ärztliche Maßnahme indiziert ist, in die der Betroffene in der Patientenverfügung eingewilligt hat bzw. die er in der Patientenverfügung untersagt hat. Die Aktualität einer Patientenverfügung, mit der eine lebenserhaltende Maßnahme untersagt worden ist, kann u. a. zu verneinen sein, wenn seit der Errichtung der Patientenverfügung neue schmerzlindernde Behandlungsmethoden entwickelt worden sind, mit denen der Betroffene bei der Errichtung der Patientenverfügung noch nicht gerechnet hat. Trifft die Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer nach § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Insoweit ist umstritten, ob die Einwilligung in die ärztliche Maßnahme bzw. die Untersagung der Maßnahme bereits in der Patientenverfügung liegt31 oder ob der Betreuer nach Feststellung der Aktualität der Patientenverfügung in der Bindung an diese die Einwilligung in die ärztliche Maßnahme bzw. die Untersagung der ärztlichen Maßnahme zu erklären hat32. Nach der ersten Auffassung rechtfertigt die in der Patientenverfügung liegende Einwilligung unmittelbar den ärztlichen Heileingriff, ohne dass es einer 28
Für Beachtlichkeit des natürlichen Willens auch Spickhoff (Fn. 24). Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 11. Vgl. auch Verrel (Fn. 13), der ebenfalls auf das Fehlen konkreter Anhaltspunkte für eine zwischenzeitliche Willensänderung abstellt. 30 Siehe Albers (Fn. 11), S. 140, nach der „die aktuelle Situation, in der Mediziner handeln müssen, immer unter irgendeinem Aspekt eine andere als die in der früheren Verfügung beschriebene“ ist. 31 So Palandt/Diederichsen (Fn. 9), § 1901a Rn. 22. 32 Dafür Diehn/Rebhan (Fn. 8), S. 327. 29
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weiteren Einwilligung des Betreuers bedarf. Nach der zweiten Ansicht hat die Einwilligung des Betreuers konstitutive Wirkung. Ohne sie fehlt es an einer wirksamen Einwilligung, so dass der Arzt den Heileingriff nicht vornehmen darf.33 Für die erstgenannte Meinung könnte der Wortlaut des § 1901a Abs. 1 und Abs. 2 BGB sprechen. In § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB heißt es, dass der Betreuer einer auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffenden Patientenverfügung Ausdruck und Geltung zu verschaffen hat. In Abs. 2, der den Fall betrifft, dass eine Patientenverfügung entweder nicht vorliegt oder auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation nicht zutrifft, ist demgegenüber davon die Rede, dass der Betreuer auf der Grundlage der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens des Betreuten zu entscheiden hat, ob er in die ärztliche Maßnahme einwilligt oder sie untersagt. Das Gesetz spricht also nur in § 1901a Abs. 2 BGB, nicht aber in Abs. 1 von einer Einwilligung des Betreuers. Für die erstgenannte Auffassung könnte auch eine Wendung in den Gesetzesmaterialien sprechen. Danach ist dann, wenn die Patientenverfügung eine auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutreffende Entscheidung über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in eine ärztliche Maßnahme enthält, „eine Einwilligung des Betreuers in die anstehende ärztliche Behandlung nicht erforderlich, da der Betreute diese Entscheidung bereits selbst getroffen hat und diese für den Betreuer bindend ist“.34 Für die zweite Meinung kann § 1904 BGB ins Feld geführt werden. § 1904 Abs. 1 und Abs. 2 BGB sprechen davon, dass die Einwilligung bzw. die Nichteinwilligung des Betreuers unter den dort genannten Voraussetzungen der Genehmigung des Betreuungsgerichts bedarf. Zwar könnten Ausführungen in den Gesetzesmaterialien dafür angeführt werden, dass § 1904 BGB nur eingreifen soll, wenn es um die Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten geht.35 § 1904 Abs. 4 BGB, der das Genehmigungserfordernis bei Einvernehmen zwischen Betreuer und behandelndem Arzt ausschließt, bezieht sich aber auf den gesamten § 1901a BGB und nicht nur auf dessen Absatz 2. Auch für den Fall des Vorliegens einer aktuellen Patientenverfügung spricht § 1904 BGB somit von einer Einwilligung bzw. Nichteinwilligung des Betreuers. Für die zweite Ansicht lässt sich auch anführen, dass durch das Erfordernis einer Einwilligung bzw. Nichteinwilligung des Betreuers für den Arzt mehr Rechtssicherheit geschaffen wird, da die Auslegung der Patientenverfügung zweifelhaft sein kann.36 Diese Überlegungen machen deutlich, dass das Gesetz in diesem Punkt nicht hinreichend klar ist. Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der 33 34 35 36
Siehe Diehn/Rebhan (Fn. 8), S. 329, 331. Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 14. Vgl. Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 18 f. Siehe Diehn/Rebhan (Fn. 8), S. 327.
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Betreuer nach § 1901a Abs. 2 S. 1 BGB die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme einwilligt oder sie untersagt. Nach § 1901a Abs. 2 S. 2 BGB ist der mutmaßliche Wille aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Danach darf auf den mutmaßlichen Willen nur abgestellt werden, wenn für diesen konkrete Anhaltspunkte vorliegen; eine Ermittlung des mutmaßlichen Willens allein auf der Grundlage von allgemeinen Wertvorstellungen ist nicht zulässig.37 Die Frage, ob bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen des Patienten allgemeine Wertvorstellungen ergänzend herangezogen werden dürfen, ist nicht eindeutig geregelt.38 Aus der in § 1901a Abs. 2 S. 3 BGB enthaltenen Aufzählung von Kriterien für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens ist im Verlauf der Gesetzesberatungen das Schmerzempfinden herausgenommen worden, weil das Schmerzempfinden eines Patienten derart subjektiv sei, dass es durch einen außenstehenden Dritten kaum beurteilt werden könne. Als ausdrückliches Kriterium für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens sei es deshalb ungeeignet.39 Es dürfte allerdings nicht völlig ausgeschlossen sein, das Schmerzempfinden unter bestimmten Umständen gleichwohl bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens heranzuziehen, etwa dann, wenn der Patient offenkundig unter schwersten, nicht zu lindernden Schmerzen leidet oder wenn keinerlei Anhaltspunkte für Schmerzen des Patienten vorliegen.40 Kann der mutmaßliche Wille nicht ermittelt werden, hat der Betreuer nach den in § 1901 BGB niedergelegten allgemeinen Grundsätzen für die Wahrnehmung der Betreuung zu entscheiden. Maßgeblich ist danach das Wohl des Patienten, wobei im Zweifel dem Lebensschutz der Vorrang zu geben ist.41 Handelt es sich um die Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme, die die begründete Gefahr mit sich bringt, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, oder um die Nichteinwilligung oder den Widerruf der Einwilligung in eine ärzt37
Vgl. Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 11, 15. Nach Höfling (Fn. 6), S. 2851, darf nur auf individuelle konkrete Kriterien zurückgegriffen werden. In dem Urteil BGHSt 40, S. 257, 263 hat der BGH zum einen ausgesprochen, dass allgemeine Wertvorstellungen Anhaltspunkte für die Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens sein können, und zum anderen entschieden, dass beim Fehlen konkreter Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens auf allgemeine Wertvorstellungen zurückgegriffen werden muss. Jedenfalls in dem letzten Punkt hat der Gesetzgeber in § 1901a Abs. 2 S. 2 BGB anders entschieden. 39 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/13314, S. 20. 40 Vgl. NK3-Paeffgen (Fn. 10), Vor § 32 Rn. 166, der unter den von BGHSt 40, S. 257, 263 aufgestellten Kriterien, die weiterhin von Belang bleiben, auch das Erleidenmüssen von Schmerzen nennt. 41 Siehe Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 11, 16; Beckmann, Medizinrecht, 2009, S. 582, 586. 38
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lichen Maßnahme, die medizinisch angezeigt ist und bei deren Unterbleiben oder Abbruch die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute deshalb stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, muss nach § 1904 BGB die Genehmigung des Betreuungsgerichts für die Entscheidung des Betreuers eingeholt werden, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt kein Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901a BGB festgestellten Willen des Betreuten entspricht. Welche rechtliche Bedeutung die Genehmigung des Betreuungsgerichts hat, ist zweifelhaft. So kann die Auffassung vertreten werden, dass die Genehmigung des Betreuungsgerichts die Rechtmäßigkeit der ärztlichen Maßnahme bzw. ihres Unterbleibens zur Folge hat, so dass der Betreuer und der Arzt für die Durchführung bzw. das Unterlassen der ärztlichen Maßnahme strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden können.42 Dies dürfte jedoch jedenfalls dann nicht zutreffen, wenn Betreuer oder Arzt dem Betreuungsgericht unzutreffende entscheidungsrelevante Informationen gegeben oder solche Informationen vorenthalten haben.43 Für den Fall des Einvernehmens von Betreuer und Arzt, das nach § 1904 Abs. 4 BGB die Genehmigung des Betreuungsgerichts entbehrlich macht, ist in den Gesetzesmaterialien ausgeführt, dass „. . . bei zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für ein sachfremdes oder gar kollusives Zusammenwirken . . . Arzt und Betreuer mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen eines Körperverletzungs- oder gar Tötungsdelikts rechnen“ müssen.44 Die vorstehenden Ausführungen betrafen den Fall, dass für den einwilligungsunfähigen Patienten ein Betreuer bestellt worden ist. Zweifelhaft ist die Bedeutung der Patientenverfügung, wenn keine Betreuung angeordnet ist. Nach einer Auffassung ist eine Patientenverfügung auch dann maßgeblich, wenn kein Betreuer bestellt worden ist, und ist bei Vorliegen einer eindeutigen und wirksamen Patientenverfügung die Bestellung eines Betreuers nicht erforderlich.45 Nach anderer Ansicht ist bei Einwilligungsunfähigkeit des Patienten – von Eilfällen abgesehen – ein Betreuer zu bestellen, der dann die Patientenverfügung nach Maßgabe der §§ 1901a und 1901b BGB umzusetzen hat.46 In den Gesetzesmaterialien heißt es, dass die Patientenverfügung als Rechtsinstitut im Betreuungs42 Vgl. dazu in der Entscheidung BGHZ 154, S. 205 ff., die Ausführungen auf S. 215 f. einerseits und auf S. 227 andererseits, sowie Popp, ZStW 118 (2006), S. 639, 674 ff. 43 Siehe zur Problematik auch Albers (Fn. 11), S. 143. 44 Gesetzesbegründung (Fn. 3), S. 19. 45 So Palandt/Diederichsen (Fn. 9), § 1901a Rn. 7, 15, 24; vgl. auch Verrel (Fn. 13), C 98, nach dem die Bestellung eines Betreuers nur bei Zweifeln über die Validität der Patientenverfügung oder dann erforderlich ist, wenn sich der Arzt weigert, eine wirksame Patientenverfügung umzusetzen. 46 Dafür Beckmann (Fn. 41), S. 583; Diehn/Rebhan (Fn. 8), S. 330; Olzen (Fn. 6), S. 358.
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recht verankert werden soll. Der Entwurf „beschränkt sich daher auf Regelungen, die die Berücksichtigung eines für den Fall der späteren Einwilligungsunfähigkeit geäußerten Behandlungswillens des Betreuten im Verhältnis zum Betreuer oder zu einem Bevollmächtigten betreffen“.47 Außerdem wird ausgeführt, dass in dem Entwurf „nicht ausdrücklich zu regeln war die Aufgabe des Arztes und weiterer an der Behandlung beteiligter Personen (z. B. Pflegepersonal), im Rahmen ihrer Verantwortung zu prüfen, ob und welchen Behandlungswillen der Patient geäußert hat, ob er eine Entscheidung über die anstehenden Behandlungen getroffen hat oder ob es dafür der Entscheidung des Betreuers oder Bevollmächtigten bedarf“.48 Diese Darlegungen könnten dafür sprechen, dass eine Patientenverfügung unabhängig von einer Prüfung und Entscheidung durch einen Betreuer für den behandelnden Arzt verbindlich ist und ausgeführt werden muss. Andererseits würden dann, wenn von einer unmittelbaren Bindungswirkung der Patientenverfügung für den Arzt ohne die Notwendigkeit der Einschaltung eines Betreuers ausgegangen wird, die verhältnismäßig differenzierten Vorschriften der §§ 1901a, 1901b und 1904 BGB über die Feststellung des Inhalts einer Patientenverfügung und deren Umsetzung durch den Betreuer erheblich an Bedeutung verlieren. Es handelt sich somit um einen weiteren wichtigen Punkt, in dem die gesetzliche Regelung nicht hinreichend klar ist.49 Für die strafrechtliche Beurteilung ergeben sich aus der geschilderten Situation eine Reihe von Problemen. Sie resultieren aus dem Umstand, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für eine wirksam errichtete und aktuell bindende Patientenverfügung im Einzelfall zweifelhaft sein kann, und aus einer Reihe von Unklarheiten des Gesetzes. Bei Zweifeln über die tatsächlichen Verhältnisse müsste nach dem Grundsatz in dubio pro reo von dem für den potentiellen Täter jeweils günstigsten Sachverhalt ausgegangen werden. Im Hinblick auf die aufgeworfenen Rechtsfragen bleibt abzuwarten, ob diese in nächster Zeit befriedigend und mit Aussicht auf Konsens geklärt werden können.50 Ist dies nicht der Fall, ist zu überlegen, ob der Gesetzgeber nachbessern muss.
47
Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 11. Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 15. 49 Vgl. Höfling (Fn. 6), S. 2850, nach dem „ungeregelt bleibt, was geschieht, wenn weder ein Betreuer bestellt noch ein Bevollmächtigter benannt ist“. Die Unsicherheit über die Frage, ob zur Umsetzung einer Patientenverfügung die Bestellung eines Betreuers erforderlich ist, spiegelt sich auch in den Leserbriefspalten von Tageszeitungen wider, vgl. die Leserbriefe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.2., 11.2. und 12.2.2010. 50 Siehe auch Spickhoff (Fn. 24), S. 1950, der von der „nur angeblich erreichten Rechtssicherheit“ spricht. 48
Verkauf und Erwerb unrechtmäßig erworbener Daten sowie deren Verwertbarkeit im Strafverfahren Von Karl Heinz Gössel Bereits im Jahre 2000 stellte „ein untreuer Angestellter eines Liechtensteiner Treuhänders . . . den deutschen Ermittlern“ eine Compact Disk (CD) „mit Geschäftsgeheimnissen reicher Leute“1 zur Verfügung. Anfang des Jahres 2009 wurden Steuerfahndern weitere CDs zum Kauf angeboten: in Freiburg mit 1.700 Daten deutscher Bank- und Versicherungskunden von Credit Suisse, UBS und Generali zum Kauf gegen Zahlung von 500.000 A und in München mit Daten von angeblich mehr als 1.000 deutschen Kunden einer Luxemburger und einer kleinen Schweizer Bank2. Zu einem späteren Zeitpunkt verhandelte „ein Team der Wuppertaler Steuerfahndung, das von dem Vorsteher des Amtes . . . angeführt wurde, . . . im Ausland mit einem Informanten über den Ankauf einer CD mit den Daten von 1.500 deutschen Kunden der Schweizer Bank Credit Suisse“ um 2,5 Millionen Euro. Die von den Wuppertaler Verhandlern zur Prüfung vorab verlangten Namenslisten führten weit überwiegend zur Ermittlung von Steuerstraftaten, und die Auswertung der von dem Anbieter weiter übergebenen „Interna der Credit Suisse aus den Jahren 2004 bis 2008“ ergab, dass „nach internen Schätzungen“ dieser Bank „88 Prozent“ ihrer deutschen Kunden das Geld auf diesen Konten „dem deutschen Fiskus verschwiegen haben“. Daraufhin wurde die CD angekauft; der Kaufpreis wurde unter Zusage einer Zahlung des Bundes von 1,25 Millionen Euro vom Land Nordrhein-Westfalen3 bezahlt – und ein altruistischer Kämpfer gegen das Verbrechen hat französischen Behörden Schweizer Steuerdaten von Kunden der HSBC verschafft, die er auch deutschen Behörden kostenlos4 zur Verfügung stellen würde. Die deutsche politische Diskussion dieser Problematik hat sich bisher auf das Für und Wider eines Ankaufs von CDs mit den Daten deutscher Kunden ausländischer Banken beschränkt und auf dessen mögliche Strafbarkeit. Aspekte rechtsstaatlich korrekten Verhaltens kamen im Wesentlichen nicht zur Sprache, nicht einmal die mögliche Unverwertbarkeit der angekauften Daten in Steuerstrafverfahren wurde ausreichend angesprochen. Die folgenden Darlegungen sind den 1 2 3 4
Süddeutsche Zeitung – SZ – v. 9. Februar 2010, S. 6, „Weder Diebstahl noch Hehlerei“. SZ v. 9. Februar 2010, S. 6. SZ v. 27./28. Februar 2010, S. 7: „CD mit Schweizer Bankdaten übergeben“. SZ v. 6./7. März 2010, S. 3: „Alles muss raus“.
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sich in diesem Bereich stellenden materiell-rechtlichen wie aber auch prozessualen Problemen gewidmet. Die diesen Vorgängen zugrundeliegenden Tatsachen sind zwar nur teilweise bekannt, insbesondere nicht die Identität des Anbieters der CD, weshalb die Schweizer Bundesanwaltschaft mit einem Rechtshilfeersuchen an deutsche Behörden die Identität des Anbieters der inzwischen angekauften CD zu ermitteln sucht – allerdings dürften das Bundesfinanzministerium und das Bundeskanzleramt (wenn auch im Gegensatz zum Bundesjustizministerium und zum Auswärtigen Amt) dieses Rechtshilfeersuchen ablehnen, weil sie ihrem Informanten zugesagt haben, „seine Identität zu schützen“ und dass sie sich deshalb nicht an Ermittlungen gegen ihn beteiligen5. Die nunmehr bekannt gewordenen Tatsachen über die Verhandlungen der Wuppertaler Steuerfahndung im Ausland über den Erwerb der CD mit den Daten der deutschen Kunden der „Credit Suisse“ bieten indessen schon eine ausreichende Grundlage für eine Beurteilung des Verhaltens der Wuppertaler Verhandlungskommission nach materiellem Strafrecht, weshalb hier vorzugsweise der Strafbarkeit der dieser Kommission angehörigen Personen nachgegangen werden soll. Dabei können indessen vorausgehende Vorgänge wie etwa die Herstellung der fraglichen CD nicht gänzlich außer Betracht bleiben, wobei tatsächlicher Unsicherheiten wegen insbesondere bei der Anfertigung dieser CD und auch über die jeweiligen Tatorte sich eine alternative Beantwortung nicht immer vermeiden lassen wird; ebenso wenig kann die Rechtslage in der Schweiz im Hinblick auf die sich hier unvermeidlich stellenden Fragen nach dem räumlichen Geltungsbereich des Strafrechts außer Acht gelassen werden. Der Kreis der in diesem Zusammenhang möglicherweise strafbaren Handlungen erscheint dabei durchaus beschränkt: neben der unmittelbaren Verschaffung der Daten deutscher Kunden der hier betroffenen Schweizer Institute aus deren Datenverarbeitungssystemen auch die Weitergabe dieser Daten entweder über Dritte oder direkt an deutsche Steuerbehörden, aber auch Informationserwerb und -verwertung durch die deutschen Behörden. Damit aber ist es möglich, den sich in diesem Zusammenhang stellenden rechtlichen Fragen in diesem der verehrten Jubilarin gewidmeten Beitrag nachzugehen in der Hoffnung, dass sie ihr Interesse finden. Dabei soll, angesichts der möglicherweise in beiden Ländern gelegenen Tatorte, der Strafbarkeit dieser Verhaltensweisen, sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz, jeweils unter den Gesichtspunkte des Verrats oder der Verwertung von Betriebsgeheimnissen (sogleich unten A.), sodann von solchen gegen den persönlichen Geheimnisbereichs (unten B.) und dem sonstigen Persönlichkeitsbereich (C.) nachgegangen werden, wobei auch auf die Verwertbarkeit der erwähnten CD im Steuerstrafverfahren einzugehen sein wird. Abschließend werden die Ergebnisse der hier angestellten Überlegungen zusammengefasst dargestellt (D.). 5
SZ wie Fn. 3.
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A. Strafbarkeit wegen unbefugter Verwertung von Betriebsgeheimnissen I. Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht: Die Geheimnishehlerei des § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG Der Tatbestand der Datenhehlerei setzt die Verwertung eines Geschäftsgeheimnisses voraus, welches der Täter entweder aus den strafbaren Vortaten des Geheimnisverrats eines Unternehmensbeschäftigten nach § 17 Abs. 1 UWG oder der Betriebsspionage (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 UWG) erlangt hat oder auf sonstige Weise. Damit verlangt die Geheimnishehlerei, ähnlich dem Verhältnis des § 259 StGB zu den Tatbeständen des Diebstahls6, eine vom Täter der potentiellen Vortaten verschiedene Person als tauglichen Täter: Geheimnishehlerei und Vortaten können damit nicht idealiter (§ 52 StGB)7 konkurrieren. a) Gemeinsames Tatobjekt8 aller genannten Tatbestände ist ein „Geschäftsoder Betriebsgeheimnis“. Darunter wird „jede im Zusammenhang mit dem Betrieb oder der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens nicht offenkundige Tatsache“ verstanden, „deren Geheimhaltung im objektiven wirtschaftlichen Interesse wie auch im subjektiven Willen des Unternehmens (-inhabers, -leitungsorgans) fundiert ist“;9 das objektive wirtschaftliche Interesse an der Geheimhaltung ist dann zu bejahen, wenn die Geheimhaltung dem gesicherten Bestand des Unternehmens „durch möglichst störungsfreien Funktionsablauf bei der unternehmensspezifischen Zweckverfolgung“10 dienen soll, insbesondere der Wettbewerbsfähigkeit11 des Unternehmens. Das ist bei Kundendaten12 einer Bank offensichtlich der Fall. b) Die Strafbarkeit wegen Geheimnishehlerei setzt die in § 17 Abs. 2 Nr. 1 UWG genannten Arten der Verschaffung voraus, von denen hier vornehmlich nur diejenigen durch die Vortaten der Betriebsspionage oder des Geheimnisverrats betrachtet werden sollen, weil die bisher bekannten Umstände diese beiden Varianten besonders nahelegen. 1. Taugliche Täter des Geheimnisverrats nach § 17 Abs. 1 UWG können nur die bei dem betroffenen Unternehmen beschäftigten Personen sein, also alle Ar6 Fischer, StGB56, 2009, § 259 Rn. 31. Mangels Sacheigenschaft der Tatobjekte (§ 90 BGB) scheiden §§ 242, 259 StGB offensichtlich aus. 7 Rengier, in: Fezer, Lauterkeitsrecht 2, 2010, § 17 UWG, Rn. 82. 8 Fezer/Rengier, § 17 UWG Rn. 7 (Fn. 7); Brammsen, in: Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, 2006, § 17 UWG Rn. 7. 9 MK-Brammsen, § 17 UWG Rn. 8 (Fn. 8). 10 MK-Brammsen, § 17 UWG Rn. 19 (Fn. 8). 11 Harte-Bavendamm, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG Kommentar2, 2009, § 17 Rn. 6. 12 Vgl. dazu BGH NJW-RR 2003, 833.
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beitnehmer und sonstigen abhängig Beschäftigten unabhängig von deren Qualifikation, Bezahlung oder betrieblicher Eingliederung13, also auch Mitglieder der Geschäftsleitung oder des Aufsichtsrats wie aber auch Praktikanten und sogar formal ausgelagertes14 Reinigungspersonal – lediglich Gesellschafter, Aktionäre und für das Unternehmen freiberuflich Tätige wie Rechtsanwälte und Steuerberater scheiden aus dem Kreis der tauglichen Täter aus. Wenn es auch nicht sicher ist, so aber doch wahrscheinlich, dass die Kundendaten von denjenigen erlangt und den deutschen Steuerbehörden zum Kauf angeboten wurden, die den abhängig Beschäftigten und damit den tauglichen Tätern zuzurechnen sind. aa) Dass einem tauglichen Täter die Kundendaten mindestens zugänglich geworden sind, ist zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher: Es erscheint auch möglich, dass sich der Unternehmensangehörige das Betriebsgeheimnis durch Betriebsspionage (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 UWG) verschafft hat. bb) Die Tathandlung des „Verrats“ besteht in der bloßen Mitteilung als einer „beliebige(n) Bekanntgabe, die irgendeine Verwertung oder Weitergabe des Geheimnisses“15 nach sich ziehen kann; durch die Übergabe der das Geheimnis beinhaltenden Kundendaten an die deutschen Steuerbehörden ist diese Tathandlung durch den Übergebenden verwirklicht worden. Diese Mitteilung war auch unbefugt. Sie verstieß gegen die jedem Arbeitsverhältnis „immanente Schweigepflicht“16 und widersprach auch dem Willen seines Arbeitgebers: Mit der Aufnahme der Geschäftsbeziehungen wollte die Schweizer Bank dem Willen ihrer deutschen Kunden entsprechen, ihre Daten vor den deutschen Behörden verborgen zu halten. Demnach kommen die deutschen Unterhändler zwar nicht als taugliche (Mit-)Täter des Geheimnisverrats in Betracht, aber doch als sonstige Beteiligte. Sie haben mit ihren Verhandlungen schon psychische Beihilfe (§ 27 StGB) zu dem in der Weitergabe des Geheimnisses liegenden Verrat des Anbieters geleistet, die hier indessen hinter die stärkere Beteiligungsform der darüber hinaus vorliegenden Anstiftung nach § 26 StGB zurücktritt.17 Die Anstiftungsstrafbarkeit kann auch nicht deshalb verneint werden, weil der Anbieter (als omnimodo facturus) ohnehin dazu entschlossen gewesen sei, die angebotenen Daten bekannt zu geben: Genau das war er nur unter der Voraussetzung der Zahlung der geforderten Geldsumme, die damit zum bestimmenden Merkmal der Verwirklichung der strafbaren Verarbeitung personenbezogener Daten in der Form der Bekanntgabe wird. „Angestiftet werden kann auch der, der sich selbst erbietet, die Tat – etwa gegen Belohnung – auszuführen“18 – „dass die Initiative“ zur Tat13 14 15 16 17 18
MK-Brammsen, § 17 UWG Rn. 30 (Fn. 8). Harte-Bavendamm, § 17 Rn. 8 (Fn. 11). Harte-Bavendamm, § 17 Rn. 10 (Fn. 11); Fezer/Rengier, § 17 Rn. 34 (Fn. 7). Harte-Bavendamm, § 17 Rn. 11 (Fn. 11). Maurach/Gössel/Zipf, AT 27, 1989, § 55 Rn. 47. MK-Joecks, 2003, § 26 Rn. 24 (Fn. 8).
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begehung vom Täter „ausging, und er von sich aus die Bereitschaft erklärt hatte“, den Tatbestand zu verwirklichen, steht nicht entgegen: Erst durch das Zahlungsangebot ist der Täter zu seiner konkreten Tat „veranlasst worden“.19 Dabei sind allerdings zwei Anstiftungshandlungen zu unterscheiden: einmal die zur Übergabe der „Prüfdaten“ und zum anderen die zur Übergabe der CD selbst. Beide Taten bilden indes einen einheitlichen historischen Sachverhalt und sind deshalb als eine Tat i. S. des § 264 StPO zu behandeln; materiell-rechtlich ist die Vortat zur Übergabe der Prüfdaten im Verhältnis zur Übergabe der CD als mitzubestrafende Vortat anzusehen.20 cc) Der von den deutschen Behörden für die Offenbarung der Kundendaten geforderte Kaufpreis erweist das Vorliegen des subjektiven Tatbestandsmerkmals des Handelns aus Eigennutz. 2. Als Vortat der Geheimnishehlerei kommt indessen auch die Betriebsspionage aus Eigennutz [s. o. 1. cc)] in der Form des Erwerbs der Kundendaten durch die unbefugte [s. dazu oben 1. bb)] Herstellung einer in der Form einer CD verkörperten Wiedergabe (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 lit. b UWG) in Betracht, freilich auch in der Form der Wegnahme zum Nachteil dessen, der die CD schon angefertigt hatte. Tauglicher Täter ist hier jedermann, so dass neben den nach Abs. 1 als Täter tauglichen Betriebsangehörigen und anders als dort auch Unternehmensfremde den Tatbestand der Betriebsspionage verwirklichen können.21 c) Die dem Wuppertaler Steuerfahndungsteam zugehörigen Personen haben mit dem Ankauf der CD unter den oben [b) 1. bb)] genannten – unsicheren – Voraussetzungen schon Anstiftung zur Geheimnishehlerei geleistet, aber möglicherweise zudem auch als Täter den Tatbestand der unbefugten Verwertung deshalb verwirklicht, weil sie mindestens ohne Einwilligung, wahrscheinlich aber sogar gegen den Willen der Geschäftsleitung der Credit Suisse, deren Kundendaten zur Eintreibung von Steuerschulden oder zur Einleitung von Steuerstrafverfahren nutzen wollen.22 Die mögliche Strafbarkeit der Personen der deutschen Verhandlungskommission wird nicht etwa dadurch in Frage gestellt, dass bei dem bisherigen Erkenntnisstand unklar bleibt, welche der zur Strafbarkeit der Geheimnishehlerei erforderlichen Vortaten verwirklicht wurde. Zur Strafbarkeit reicht aus, dass eine dieser Vortaten verwirklicht wurde. Wenn auch der bisherige Kenntnisstand nicht ausreicht, die Verwirklichung einer dieser Taten sicher nachzuweisen, so dürften 19 BGHSt 45, 373, 374; ebenso schon BGH MDR 1972, 569; Maurach/Gössel/Zipf, § 51 Rn. 9 (Fn. 17). 20 Maurach/Gössel/Zipf, § 56 Rn. 11 (Fn. 17). 21 Vgl. z. B. MK-Brammsen, § 17 UWG Rn. 69 (Fn. 8), allg. M. 22 Harte-Bavendamm, § 17 Rn. 35 (Fn. 11); s. ferner auch Fezer/Rengier, § 17 Rn. 76 (Fn. 7).
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Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden hier Abhilfe schaffen können. Sollte dies nicht möglich sein, so wird doch festzuhalten sein, dass der derzeitige Kenntnisstand lediglich die sichere Feststellung eines tauglichen Täters des Geheimnisverrats nicht zulässt, dass die fragliche CD den deutschen Behörden aber nur entweder durch einen geheimnisverpflichteten Betriebsangehörigen oder aber durch einen Dritten angeboten worden sein kann, der sich entweder das Geheimnis durch Betriebsspionage oder aber auf sonstige Weise verschafft hat. Eine dieser drei Möglichkeiten ist indessen sicher verwirklicht worden; weil sich diese gegenseitig ausschließen, ist hier eine Wahlfeststellung zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Tathandlung der Verschaffung (Verwertung) möglich. d) Die Strafbarkeit wegen Geheimnishehlerei nach Art. 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG hängt indessen von der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ab – und damit kommen auch als geeignete Vortaten der Geheimnishehlerei nur solche in Betracht, die auch nach deutschem Recht strafbar sind. 1. Das deutsche Recht wird jedenfalls dann anwendbar sein, wenn sich die Anbieter der CD als Angehörige einer deutschen Niederlassung der betroffenen Schweizer Unternehmen das Geheimnis an einem deutschen Tatort verschafft haben (§ 9 StGB). 2. Handelt es sich dagegen um eine in der Schweiz begangene Tat, setzt die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts zwingend die Strafbarkeit auch nach Schweizer Strafrecht voraus (§ 7 Abs. 1 und 2 StGB), dessen Anwendbarkeit deshalb auch hier (unten II.) untersucht werden soll. Nach § 7 Abs. 1 StGB kann deutsches Strafrecht auch in diesem Fall nur angewendet werden, wenn die Tat „gegen einen Deutschen begangen“ wurde – und diese Tat muss eine solche nach § 17 UWG sein, weil es hier um die Anwendbarkeit dieser Strafrechtsnorm auf eine Auslandstat geht. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall: § 17 UWG schützt nicht Geheimnisse Privater, sondern nur Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse, die aber hier keinem Deutschen zustehen, sondern einer Schweizer juristischen Person – unmittelbar, und das ist insoweit entscheidend,23 wird allein in deren Rechtssphäre eingegriffen. § 7 Abs. 2 StGB verlangt zur Anwendbarkeit des deutschen Rechts neben der Strafbarkeit nach Schweizer Recht zudem, dass der Täter entweder Deutscher ist oder, als Ausländer im Inland betroffen, endgültig nicht ausgeliefert wird.24 Diese letztgenannte Alternative kann also auch bei Auslandstaten eines Ausländers dazu führen, Deutsche wegen der Verschaffung der Geschäftsgeheimnisse durch den Ankauf der CDs nach § 17 UWG zur Verantwortung zu ziehen.
23 24
Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB12, 2007, § 7 Rn. 69. Fischer56, § 7 Rn. 10 f. (Fn. 6).
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Ist es auch möglich, dass das oben vor A erwähnte Schweizer Rechtshilfeersuchen zu einem Auslieferungsantrag der Schweiz führen kann, so aber auch, dass die Schweiz, schon angesichts der wahrscheinlich zu erwartenden Ablehnung des Rechtshilfeersuchens, keinen Auslieferungsantrag stellt und die deutsche Justiz um die Übernahme der Strafverfolgung mit der Folge ersucht, dass der Betreffende nicht ausgeliefert wird.25 Der Verzicht auf einen Auslieferungsantrag würde zur Anwendung des § 17 Abs. 1 und auch des Abs. 2 Nr. 1 UWG auf die in der Schweiz begangene Tat des nicht ausgelieferten Schweizers führen, weshalb auch die deutschen Ankäufer wegen Geheimnishehlerei nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG zu verfolgen und zu bestrafen wären [s. oben c)] – eine aus Schweizer Sicht möglicherweise sinnvolle Maßnahme zur Bekämpfung des Ankaufs Schweizer Betriebsgeheimnisse. [Näheres dazu unten d)]. Weil die in Betracht kommenden Schweizer Institute weder inländische Unternehmen noch von einem inländischen Unternehmen abhängig sind, kann auch die Vorschrift des über § 17 Abs. 6 UWG entsprechend anzuwendenden § 5 Nr. 7 StGB nicht zur Anwendbarkeit des deutschen Rechts führen. 3. Die bis jetzt bekannt gewordenen Tatsachen lassen auf Schweizer Täter schließen. Damit kommt eine Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nur im Fall des § 7 Abs. 2 StGB in Betracht – eine zwar nicht sicher ausschließbare, aber doch eher unwahrscheinliche Möglichkeit. e) Ergebnis: Eine Strafbarkeit wegen Geheimnishehlerei setzt voraus, dass nach deutschem Strafanwendungsrecht § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG auf das Verhalten beim Anbieten und Verkauf der hier in Rede stehenden CD angewendet werden darf, was wiederum voraussetzt, dass auf die in dieser Vorschrift genannten Vortaten ebenfalls das deutsche Recht, und zwar § 17 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 UWG, anwendbar ist [s. oben b)]. Damit allein lässt sich indessen die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts noch nicht bejahen. Zweifelsfrei ist dies nur dann möglich, wenn ein Deutscher das Geheimnis durch eine in Deutschland begangene Vortat verwertet oder sich verschafft hat. Auch § 7 Abs. 1 StGB ermöglicht die Anwendung des § 17 UWG auf die Geheimnisverschaffung durch einen Deutschen in der Schweiz, dies aber nur dann, wenn die Tat auch in der Schweiz strafbar ist (s. dazu unten II.). Auf die entsprechende Tat eines Schweizers in Deutschland ist § 17 UWG nur dann anwendbar, wird dieser Schweizer in Deutschland betroffen, aber nicht an die Schweiz ausgeliefert (oben d) 2.).
25
Böse, in: NK-StGB3, 2010, § 7 Rn. 19.
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II. Strafbarkeit nach Schweizer Strafrecht a) Verrat und Verwertung von Geschäftsgeheimnissen nach Art. 162 SchwStGB: „Wer ein Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnis, das er infolge einer gesetzlichen oder vertraglichen Pflicht bewahren sollte, verrät, wer den Verrat für sich oder einen andern ausnützt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
1. Die jeweilige Geschäftsleitung einer Bank, Versicherung oder einer Vermögensverwaltung (Treuhänder) hat bekanntlich ein erhebliches Interesse daran, die Daten ihrer Kunden geheim zu halten: Wie alle Daten von Unternehmenskunden, so haben auch die hier betroffenen Kundendaten Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens und stellen damit einen erheblichen wirtschaftlichen Wert dar.26 Deshalb begrenzen die jeweiligen Geschäftsleitungen den Kreis der Mitwisser auf bestimmte Mitarbeiter und schließen damit alle sonstigen Personen von der Kenntnis dieser Daten aus. Die Kundendaten sind damit als Geschäftsgeheimnisse anzusehen, deren Schutzwürdigkeit auch dann zu bejahen ist, „wenn die Vertraulichkeit der Information nicht ausschließlich darauf ausgerichtet ist, legitime Erwartungen zu enttäuschen“.27 Mag ein schutzwürdiges Interesse auch dann entfallen, beinhalten diese Daten gleichsam „illegale“ Geschäftsgeheimnisse etwa über im Betrieb hergestellte gefälschte Waren,28 so kann aber doch das „illegale“ Interesse der deutschen Bankkunden, durch den Transfer von Vermögenswerten in die Schweiz den deutschen Fiskus zu schädigen, die Datensammlung der Banken selbst etc. mit ihren davon unabhängigen Kundendaten ihres Schutzes nicht berauben. Der Personenkreis, dem diese Geheimnisse nach dem Willen der Geschäftsleitung zugänglich sein sollen, unterliegt einer Geheimhaltungspflicht, die sich regelmäßig aus Art. 321a des Schweizer Obligationenrechts29 ergibt, wonach Arbeitnehmer während des gesamten Arbeitsverhältnisses unbeschränkt zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, darüber hinaus u. U. auch aus einzelvertraglichen Regelungen.30 Offenbart eine Person aus dem Kreis dieser zur Verschwiegenheit Verpflichteten die Kundendaten den Behörden des deutschen Fiskus, so wird der Tatbestand des Art. 162 SchwStGB in seiner ersten Handlungsalternative (Verrat) verwirklicht: Diese Behörden sollten von der Kenntnis dieser Daten nach dem Willen nicht nur der auf das Schweizer Bankgeheimnis vertrauenden deutschen Kunden ausgeschlossen sein, sondern auch nach 26 Trechsel/Jean-Richard, in: Trechsel et al., Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, Art. 162 Rn. 6. 27 Amstutz/Reichert, Art. 162 Rn. 12 f., in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht II2, 2007, Art. 111–392 SchwStGB. 28 Trechsel/Jean-Richard, Art. 162 Rn. 2b (Fn. 26). 29 OR, Ständerat, Systematische Sammlung des Bundesrechts 220. 30 Amstutz/Reichert, Art. 162 Rn. 17 (Fn. 27).
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dem der Geschäftsleitung der Credit Suisse, die mit der Aufnahme der Geschäftsbeziehungen diesem Willen ihrer Kunden entsprach.31 Die Verwertung und damit Ausnutzung dieser Geheimnisse wird in der Schweizer Rechtsprechung vom Verrat unterschieden, so dass „die Verwertung des Geheimnisses durch die geheimhaltungspflichtige Person selbst“ von der ersten Handlungsalternative nicht mehr erfasst wird.32 2. Auch der zweiten Handlungsalternative der Ausnützung des Verrats unterfallen die zur Verschwiegenheit Verpflichteten nicht: diese Variante verwirklichen nur diejenigen, „die ein durch Verrat eines Schweigepflichtigen erlangtes Geheimnis zu ihrem eigenen oder zum Vorteil eines Dritten ausnützen wollen“,33 womit vorausgesetzt wird, dass die Täter dieser Alternative einen Vermögensvorteil erzielen wollen – es reicht aus, dass dieser Vermögensvorteil einem Dritten zugute kommen soll, worunter auch eine juristische Person zu verstehen ist.34 Wer also das aus dem von einem Geheimnispflichtigen erlangte Geheimnis kostenlos nur aus Neid oder deshalb den deutschen Behörden offenbart, weil er das Verhalten der deutschen Bankkunden für unrechtmäßig hält, verwirklicht die zweite Handlungsalternative gleichwohl deshalb, weil er damit einen Vermögensvorteil für den deutschen Fiskus erstrebt. 3. Der direkte Zugriff durch beliebige Personen etwa durch „hacking“ wird nicht von Art. 162 SchwStGB erfasst: Die bloße Beschaffung der Daten allein ist damit nach Art. 162 SchwStGB nicht strafbar. 4. Ob das Verhalten der Mitglieder der Wuppertaler Verhandlungskommission Art. 162 SchwStGB subsumiert werden kann oder etwaigen Beteiligungsvorschriften, soll hier indessen, wie bereits oben vor A dargelegt, nicht untersucht werden: wie oben I. d) 2. dargelegt wurde, waren die soeben angestellten Überlegungen zum Schweizer Strafrecht lediglich notwendig zur Prüfung der Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht. III. Fazit: Strafbarkeit der deutschen Käufer der CD mit den Daten der Kunden der Schweizer Bank „Credit Suisse“ Eine etwaige Strafbarkeit nach § 17 UWG oder wegen Beteiligung an dieser Straftat kann aus zwei Gründen nicht sicher beurteilt werden: Einmal erscheint unklar, von welcher Person mit welchen hier bedeutsamen persönlichen Merkmalen die CD erlangt wurde [oben A. I. b) 1.] und überdies ist die Anwendbarkeit 31 32 33 34
Vgl. dazu Amstutz/Reichert, Art. 162 Rn. 20 (Fn. 27). Amstutz/Reichert, Art. 162 Rn. 22 (Fn. 27). Amstutz/Reichert, Art. 162 Rn. 23 (Fn. 27). Amstutz/Reichert, Art. 162 Rn. 24 (Fn. 27).
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des deutschen Rechts von Faktoren abhängig, die durchaus unklar erscheinen [oben A. I. e)]. Weil diese Fragen bisher nicht beantwortet werden können, kann derzeit von einer Strafbarkeit der deutschen Aufkäufer nicht ausgegangen werden.
B. Strafbarkeit wegen unbefugten Eindringens in den persönlichen Geheimnisbereich I. Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht: Die Verletzung oder Verwertung von Privatgeheimnissen (§§ 203, 204 StGB) Eine Strafbarkeit nach beiden Straftatbeständen setzt im Katalog des § 203 StGB abschließend benannte, zur Verschwiegenheit verpflichtete Personen als taugliche Täter voraus. Anhaltspunkte dafür, dass eine diesem Täterkreis zugehörige Person sich die Kundendaten verschafft oder verwertet hat, liegen indessen nicht vor; insbesondere scheiden hier, anders als im Fall des § 17 Abs. 1 UWG, die bei den hier betroffenen Schweizer Instituten Beschäftigten als taugliche Täter aus. II. Strafbarkeit nach deutschem Recht: Unmittelbare Datenverschaffung durch Ausspähen von Daten (§ 202a StGB35) a) Der Tatbestand begnügt sich mit der bloßen Zugangsverschaffung zu davor geschützten Daten. 1. Tatsubjekt der sog. „Datenspionage“ ist jedermann: Eine besondere Beziehung des Täters zu Unternehmen, welche Daten in Datenverarbeitungssystemen speichern, wird ebenso wenig gefordert wie zu den Personen, über welche die Daten Informationen enthalten. Alle Personen, die sich die Informationen auf den oben vor A genannten CDs verschafft haben oder diese verwerten, kommen daher als taugliche Täter in Betracht. 2. Tatobjekt sind Daten, die nicht für den Täter bestimmt und überdies gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind. Die hier betrachteten Kundendateien sind offensichtlich elektronisch, nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert und damit taugliche Tatobjekte nach § 202a Abs. 2 StGB. Ob die Daten nicht für den Täter bestimmt sind, richtet sich nach dem Willen des über die jeweiligen Daten Verfügungsberechtigten, hier also der Geschäftsleitung der jeweiligen Unternehmen, auf deren „Veranlassung die Speicherung“ der 35 Für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 202b StGB (Abfangen nicht öffentlicher Daten aus einer Datenübermittlung), liegen keine Anhaltspunkte vor, vgl. dazu nur Fischer56, § 202b Rn. 3 (Fn. 6).
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Kundendaten „erfolgt“ 36 ist. Hat die Geschäftsleitung dem Täter diese Daten etwa zur Sicherung, Pflege oder sonst zur Erledigung der ihm im Geschäftsbetrieb übertragenen Aufgaben oder gar zur Nutzung überlassen, sind sie auch für ihn bestimmt – und eine Strafbarkeit entfällt mangels tauglicher Tatobjekte. Die bisher zu dem Verkaufsangebot bekannt gewordenen Umstände lassen nicht erkennen, ob die von ihm auf der CD gespeicherten und zum Kauf angebotenen Daten für ihn bestimmt waren oder nicht. Sollte aber mangels geeigneter Tatobjekte die Strafbarkeit der potentiellen Täter entfallen, so können die Personen der Wuppertaler Verhandlungsgruppe an einer folglich nicht existierenden Straftat auch nicht in strafbarer Weise teilgenommen haben. Weil dies aber nicht sicher erscheint, soll auch die zweite Strafbarkeitsvoraussetzung der Überwindung einer Zugangssicherung nicht außer Betracht gelassen werden. Erst wenn die Geschäftsleitung „ihr Interesse an der Geheimhaltung“ der Kundendaten durch eine einen Zugriff auf die Daten ausschließende oder mindestens erheblich erschwerende Sicherung37 gegen technische oder physische Einwirkungsmöglichkeiten auf den jeweiligen Datenspeicher38 dokumentiert hat, sind sie i. S. des § 202a StGB besonders geschützt; diese Sicherungen können entweder „unmittelbar am Datenspeicher oder . . . am Datum selbst angebracht“ sein oder doch mindestens mittelbar durch die Sicherung des zum Abruf der Daten notwendigen Betriebssystems39 oder des Zugangs zu den Räumen, in den sich die Datenverarbeitungsanlage befindet, etwa durch Ausweisleser oder Codekarten40. Unberechtigter, vor dessen Zugang die Daten gesichert sein müssen, ist einmal jeder, für den diese Daten nicht bestimmt41 sind, aber auch diejenigen, die ohne Einwilligung der Geschäftsleitung handeln oder bei denen die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes nicht vorliegen.42 Ob die Daten der deutschen Kunden von Schweizer Unternehmen in dieser Weise geschützt waren, kann angesichts des Presseberichts in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 6./7. März 2010 („Alles muss raus“) nur als fragwürdig beurteilt werden. 3. Die Tathandlung besteht darin, dass der Täter die vor unbefugtem Zugriff gesicherten Daten sich oder einem anderen „unter Überwindung der Zugangssicherung verschafft“. Das setzt voraus, dass der Täter „die tatsächliche HerrVgl. z. B. Hilgendorf, in: Leipziger Kommentar StGB12, 2010, § 202a Rn. 26; Graf, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 202a Rn. 17; Fischer56, § 202a Rn. 7 (Fn. 6). 37 MK-Graf, § 202a Rn. 28 (Fn. 36); Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar27, 2006, § 202a Rn. 7. 38 Fischer56, § 202a Rn. 8 (Fn. 6). 39 Schönke/Schröder/Lenckner27, § 202a Rn. 8 (Fn. 37). 40 MK-Graf, § 202a Rn. 34 (Fn. 36). 41 NK-Kargl3, § 202a Rn. 11 (Fn. 25); Schönke/Schröder/Lenckner27, § 202a Rn. 9 (Fn. 37); a. A. Fischer56, § 202a Rn. 8 (Fn. 6). 42 Zutr. MK-Graf, § 202a Rn. 52 (Fn. 36). 36
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schaftsgewalt über die Daten erlangt“43, sei es, dass er den jeweiligen Datenspeicher physisch in seinen Besitz bringt oder dass er die Daten nur wahrnehmen, aber auch verändern, löschen oder z. B. auf einen beliebigen Datenträger übertragen44 kann. Die Zugangssicherung wird überwunden, wird die jeweilige Sicherung ihrer sichernden Funktion beraubt.45 b) Die Tatbestände der §§ 202a StGB, 17 UWG schließen sich nicht etwa gegenseitig aus, können aber tateinheitlich 46 zusammentreffen (§ 52 StGB). c) Wie schon § 17 UWG, so kann auch dieser Tatbestand zweifelsfrei nur auf das Handeln Deutscher in Deutschland angewandt werden. Auch § 202a StGB kann nach § 7 Abs. 1 StGB auf die Tat eines Deutschen in der Schweiz angewendet werden oder nach § 7 Abs. 2 StGB auch auf Auslandstaten von Ausländern [s. dazu oben A. I. d)], in beiden Fällen aber nur, wenn die Tat auch in der Schweiz strafbar ist – auch wenn die Tatobjekte möglicherweise für den Täter bestimmt oder nicht ausreichend gesichert waren und schon deshalb eine Strafbarkeit entfällt [oben a) 2.], sei dem im Hinblick auf die aber doch nicht ausschließbare Strafbarkeit dennoch sogleich unter III. nachgegangen. III. Strafbarkeit nach Schweizer Strafrecht a) Unbefugte Datenbeschaffung nach Art. 143 SchwStGB und unbefugtes Eindringen in ein Datenverarbeitungssystem nach Art. 143bis SchwStGB Art. 143 SchwStGB: „1 Wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmässig zu bereichern, sich oder einem andern elektronisch oder in vergleichbarer Weise gespeicherte oder übermittelte Daten beschafft, die nicht für ihn bestimmt und gegen seinen unbefugten Zugriff besonders gesichert sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. 2 Die unbefugte Datenbeschaffung zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag verfolgt.“
Art. 143bis: Wer ohne Bereicherungsabsicht auf dem Wege von Datenübertragungseinrichtungen unbefugterweise in ein fremdes, gegen seinen Zugriff besonders gesichertes Datenverarbeitungssystem eindringt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
1. Das mit Art. 143 SchwStGB geschützte Rechtsgut ist mindestens auch das „Geheimhaltungsinteresse“ 47, „das ungestörte Verfügungsrecht über ComputerNK3-Kargl, § 202a Rn. 12 (Fn. 25). MK-Graf, § 203a Rn. 43 ff. (Fn. 36). 45 Fischer, § 202a Rn. 11b (Fn. 6). 46 Vgl. z. B. NK3-Kargl, § 202a Rn. 18 (Fn. 25); Fezer/Rengier, § 17 UWG Rn. 82 (Fn. 7). 43 44
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daten“48. Mit dieser Vorschrift werden der direkte Datenzugriff oder die sonstige unbefugte Beschaffung von Daten dann erfasst, wenn diese für den Zugreifenden nicht bestimmt und überdies gegen einen Zugriff besonders gesichert sind. Die Tatobjekte der Kundendaten müssen damit einmal die Eigenschaft aufweisen, für den Täter nicht bestimmt zu sein, diesem also kein Verfügungsrecht über diese Daten eingeräumt49 wurde: „Darf jemand Daten benützen, so sind sie auch für ihn bestimmt“50. Verfügungsberechtigte sind dabei in erster Linie diejenigen, in deren Auftrag die Daten abgespeichert wurden „und der Datenberechtigte die Daten ohne Aufgabe seines Verfügungsrechts anderen zugänglich machen“51 kann. Wie schon im Fall des § 202a dStGB, so können sich auch solche Personen die Tatobjekte des Art. 143 SchwStGB verschafft haben, denen darüber ein Verfügungsrecht, etwa zur Sicherung oder Datenpflege oder aus welchen Gründen auch immer, eingeräumt worden war. Wie schon deshalb eine Strafbarkeit nach deutschem Recht (§ 202a dStGB) entfallen würde, so ebenso nach Art. 143 SchwStGB. Entsprechendes gilt für die weitere Strafbarkeitsvoraussetzung der besonderen Sicherung gegen den Zugriff Unbefugter, mit der als weitere strafbegründende Eigenschaft der Tatobjekte „eine Parallele zum Gewahrsam hergestellt werden“52 soll; dabei ist ausreichend, „dass eine bestimmte Sicherungsmaßnahme unter den Umständen des jeweiligen konkreten Falles üblicherweise ausreicht, um Unbefugte von den Daten fernzuhalten“53. Angesichts der schlechten, möglicherweise sogar fehlenden Datensicherung kann schon deshalb eine Verwirklichung des Tatbestandes ausgeschlossen54 sein, zudem aber auch deshalb, weil die bestehenden Sicherungsmaßnahmen befugt überwunden wurden und auch insoweit eine Strafbarkeit nach Art. 143 SchwStGB entfällt. Weil aber auch dies nicht sicher erscheint, seien auch weitere Strafbarkeitsvoraussetzungen dieser Norm erwähnt. 2. Die Tathandlung der Datenverschaffung verwirklicht, wer „die Zugriffsschranken überwunden oder umgangen hat und die Daten für seine Zwecke gebrauchen kann“55; „die bloße Kenntnisnahme der geschützten Daten, die ihre spätere Benutzung ermöglicht, reicht aus“56, „wenn er nicht nur die Hindernisse überwunden hat, die ihm den Zugang verwehren sollten, sondern überdies in der
47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
Trechsel/Crameri, Art. 143 Rn. 2 (Fn. 26). Weissenberger, Basler Kommentar, Strafrecht II2, 2007, Art. 143 Rn. 4. Trechsel/Crameri, Art. 143 Rn. 5 (Fn. 47). Weissenberger, Art. 143 Rn. 15 (Fn. 48). Weissenberger, Art. 143 Rn. 14 (Fn. 48). Weissenberger, Art. 143 Rn. 15 (Fn. 48); Trechsel/Crameri Art. 143 Rn. 6 (Fn. 47). Weissenberger, Art. 143 Rn. 18 (Fn. 48). Vgl. Bericht der SZ wie Fn. 4. Weissenberger, Art. 143 Rn. 22 (Fn. 48). Weissenberger, Art. 143 Rn. 25 (Fn. 48).
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Lage ist, mit den Daten zu ,arbeiten‘, sie jederzeit zu konsultieren, abzuändern, auszudrucken, neu zu kombinieren usw.“57 Die Tathandlung des Art. 143 SchwStGB verlangt des Weiteren als subjektives Tatbestandselement ein Handeln in der Absicht, sich oder Andere unrechtmäßig zu bereichern – eine Vermögensschädigungsabsicht wird nicht verlangt. Wer sich also die hier relevanten Kundendaten allein zu dem Zweck beschafft, die deutschen Steuerbehörden unentgeltlich deshalb zu informieren, weil sie der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen wollen oder aber, weniger verdienstvoll, aus Neid handeln, macht sich nicht nach Art. 143 SchwStGB strafbar – wohl aber nach Art. 143bis SchwStGB deshalb, weil er in das Datenverarbeitungssystem eindringt; dass er sich dabei auch Daten verschafft, wird zur Strafbarkeit nicht verlangt: Von § 143bis SchwStGB geschütztes Rechtsgut58 ist die Privatsphäre des gegen „Zutritt von Unbefugten geschützten Datenverarbeitungssystems“. c) Eine Strafbarkeit nach dem Schweizer Strafrecht setzt indessen seine Anwendbarkeit voraus, die sich nach Art. 3–8 SchwStGB bestimmt, die wie folgt lauten: Art. 3 SchwStGB: Verbrechen oder Vergehen im Inland Diesem Gesetz ist unterworfen, wer in der Schweiz ein Verbrechen oder Vergehen begeht Art. 4 SchwStGB betrifft Verbrechen oder Vergehen im Ausland gegen den Staat, Art. 5 SchwStGB betrifft Straftaten gegen Unmündige im Ausland, Art. 6 gemäß staatsvertraglicher Verpflichtung verfolgte Auslandtaten. Diese Normen können hier außer Betracht bleiben. Art. 7 SchwStGB: Andere Auslandtaten 1 Wer im Ausland ein Verbrechen oder Vergehen begeht, ohne dass die Voraussetzungen der Artikel 4, 5 oder 6 erfüllt sind, ist diesem Gesetz unterworfen, wenn:
a. die Tat auch am Begehungsort strafbar ist oder der Begehungsort keiner Strafgewalt unterliegt; b. der Täter sich in der Schweiz befindet oder ihr wegen dieser Tat ausgeliefert wird; und c. nach Schweizerischem Recht die Tat die Auslieferung zulässt, der Täter jedoch nicht ausgeliefert wird. 2
Ist der Täter nicht Schweizer und wurde das Verbrechen oder Vergehen nicht gegen einen Schweizer begangen, so ist Absatz 1 nur anwendbar, wenn: a. das Auslieferungsbegehren aus einem Grund abgewiesen wurde, der nicht die Art der Tat betrifft; oder
57 Trechsel/Crameri, Art. 143 Rn. 7 (Fn. 47); ablehnend dazu Weissenberger, Art. 143 Rn. 25 (Fn. 48): bloße Kenntnisnahme reicht aus. 58 Trechsel/Crameri, Art. 143bis Rn. 2 (Fn. 47).
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b. der Täter ein besonders schweres Verbrechen begangen hat, das von der internationalen Rechtsgemeinschaft geächtet wird. 3
Das Gericht bestimmt die Sanktionen so, dass sie insgesamt für den Täter nicht schwerer wiegen als die Sanktionen nach dem Recht des Begehungsortes. 4 Der Täter wird, unter Vorbehalt eines krassen Verstosses gegen die Grundsätze der Bundesverfassung und der EMRK, in der Schweiz wegen der Tat nicht mehr verfolgt, wenn:
a. ein ausländisches Gericht ihn endgültig freigesprochen hat; b. die Sanktion, zu der er im Ausland verurteilt wurde, vollzogen, erlassen oder verjährt ist. 5
Ist der Täter wegen der Tat im Ausland verurteilt worden und wurde die Strafe im Ausland nur teilweise vollzogen, so rechnet ihm das Gericht den vollzogenen Teil auf die auszusprechende Strafe an. Das Gericht entscheidet, ob eine im Ausland angeordnete, aber dort nur teilweise vollzogene Massnahme fortzusetzen oder auf die in der Schweiz ausgesprochene Strafe anzurechnen ist. Art. 8 SchwStGB: Begehungsort 1 Ein Verbrechen oder Vergehen gilt als da begangen, wo der Täter es ausführt oder pflichtwidrig untätig bleibt, und da, wo der Erfolg eingetreten ist. 2
Der Versuch gilt als da begangen, wo der Täter ihn ausführt, und da, wo nach seiner Vorstellung der Erfolg hätte eintreten sollen.
1. Die nach Art. 143, 143bis SchwStGB strafbaren Handlungen sind regelmäßig in der Schweiz begangen, so dass Schweizer Strafrecht nach Art. 3 SchwStGB anwendbar ist. Wurden solche Handlungen indessen in Deutschland beim Eindringen in die Datenverarbeitungssysteme Schweizerischer Unternehmen begangen, sind diese Taten nach Art. 8 SchwStGB in Deutschland, also im Ausland, begangen wie auch regelmäßig Straftaten nach Art. 162 SchwStGB (Ankauf und Verkauf von Geschäftsgeheimnissen). In diesen Fällen hängt die Anwendbarkeit des Schweizerischen Strafrechts nach Art. 7 SchwStGB davon ab, ob der Täter die Schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt. Ist der Täter Schweizer, so ist das Schweizer Strafrecht nur anwendbar, wenn die Tat auch in Deutschland strafbar ist (Art. 7 Abs. 1 lit. a SchwStGB); ist der Täter aber kein Schweizer, so ist das Schweizerische Strafrecht deshalb anwendbar, weil sich die Tat (auch) gegen Schweizerische Unternehmen und damit gegen Schweizer richtet (Art. 7 Abs. 2 SchwStGB). IV. Fazit: Strafbarkeit der deutschen Käufer der CD mit den Daten der Kunden der Schweizer Bank „Credit Suisse“ Weil es durchaus möglich erscheint, dass sich verfügungsberechtigte Personen die angebotenen Daten verschafft haben, aber auch Zugangssicherungen nicht sicher festgestellt sind [oben II. a) 2.] und eine etwaige Strafbarkeit nach Schwei-
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zer Recht aus ähnlichen Gründen [oben III. a) 1.] oder mangels Kenntnis der Nationalität der möglichen Täter [oben III. c)] unsicher ist, kann vor einer derzeit nicht möglichen Klärung dieser Frage auch die Strafbarkeit der Mitglieder der Verhandlungskommission nicht sicher beurteilt werden und muss daher derzeit außer Betracht bleiben.
C. Verschaffung oder Verwertung personenbezogener Daten I. Straftaten nach deutschem Datenschutzrecht: § 44 Abs. 1 i.V. m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG: Unbefugte Datenerhebung a) Trotz der in § 1 Abs. 3 Satz 1 BDSG grundsätzlich normierten Subsidiarität des BDSG gegenüber anderen Rechtsvorschriften des Bundes darf eine etwaige Strafbarkeit nach § 44 BDSG deshalb nicht außer Acht gelassen werden, weil die hier in Betracht kommenden Strafvorschriften sowohl des § 202a StGB als auch des § 17 UWG mit § 44 UWG in dem hier untersuchten Fall idealiter konkurrieren können: Während die Tatbestände des BDSG das Persönlichkeitsrecht des Individuums vor dem Umgang mit seinen personenbezogenen Daten schützen (§ 1 Abs. 1 BDSG), schützt § 17 UWG das davon verschiedene Rechtsgut der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und damit das Vermögen59 [oben A. I. a)], so dass beim Zusammentreffen beider Tatbestände zwei verschiedene Rechtsgüter verletzt würden und deshalb Idealkonkurrenz60 (§ 52 StGB) vorliegen würde. Aber auch mit § 202a StGB61 dürfte in den hier zu beurteilenden Fällen deshalb Idealkonkurrenz vorliegen, weil Verfügungsberechtigter über ihre Kundendaten die jeweilige Bank in der Schweiz ist, der von diesen Daten Betroffene aber der jeweilige Kunde selbst: In diesem Fall können beide Taten unabhängig voneinander begangen werden und also idealiter konkurrieren62 (§ 52 StGB), wenn dieselbe Handlung beide Tatbestände verwirklicht. b) Tatobjekt sind personenbezogene Daten, die nicht allgemein zugänglich sind. Die auf den zum Kauf angebotenen CDs gespeicherten Kundendaten der schweizerischen Unternehmen sind Einzelangaben sowohl über deren persönliche als auch sachliche Verhältnisse und damit nach der Legaldefinition des § 3 Abs. 1 BDSG personenbezogene Daten; nach dem übereinstimmenden Willen der Unternehmensleitungen und auch der betroffenen Kunden sind diese Daten auch nicht allgemein zugänglich. 59
MK-Brammsen, § 17 UWG Rn. 4 f. (Fn. 8). NK3-Kargl, § 202a Rn. 18 (Fn. 25). 61 Zur Diskussion um das von § 202a StGB geschützte Rechtsgut s. z. B. Gössel/Dölling BT 12 (2004), § 37 Rn. 112 und NK3-Kargl, § 202a Rn. 3 (Fn. 25). 62 LK12-Hilgendorf, § 202a Rn. 43; MK-Graf, § 202a Rn. 84 (Fn. 36); NK3-Kargl, § 202a Rn. 18 (Fn. 25); Fischer56, § 202a Rn. 15 (Fn. 6); a. A.: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch26 (2007), § 202a Rn. 8. 60
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c) Die Tat kann in den beiden Handlungsvarianten der Datenerhebung und der Datenverarbeitung verwirklicht werden. 1. Die Tathandlung des Erhebens wird in § 3 BDSG als „Beschaffen von Daten über den Betroffenen“ legal definiert und bezeichnet damit einmal den jeweiligen Kunden als Betroffenen (Legaldefinition des §§ 3 Abs. 1 BDSG) und zum anderen die soeben genannten Tatobjekte als Gegenstände der Tathandlung. Auch die Erhebenshandlung selbst lässt sich damit bestimmen: Sie „besteht . . . in einer Aktivität, durch die die erhebende Stelle Kenntnis von den betreffenden Daten erhält oder Verfügung über diese begründet“, wobei „die Methode der Beschaffung“ keine Rolle spielt, also auch „die körperliche Übernahme aller Arten von Informationsträgern in Betracht“ 63 kommt. Wer also die Kundendaten auf einen Datenträger überträgt, verwirklicht diese Tathandlung ebenso wie jeder, der diese Datenträger körperlich erwirbt – damit kommt neben denjenigen, welche die Kundendaten der Credit Suisse auf einen Datenträger übertragen haben, auch jede für deutsche Behörden beim Ankauf der fraglichen CDs tätig werdende Person als Täter der Datenerhebung durch Übernahme des Informationsträgers in Betracht, hier also der CD mit den Kundendaten. Unsicher erscheint, ob die CD schon von der Wuppertaler Verhandlungskommission im Ausland übernommen worden ist: Weil die Tat in diesem Fall gegen Deutsche (Kunden der Credit Suisse) begangen worden ist, ist deutsches Strafrecht nur anwendbar, wenn diese Tat auch im Ausland strafbar ist. Soweit der ausländische Verhandlungs- und Übernahmeort in der Schweiz liegt, so ist nach § 7 Abs. 1 StGB das deutsche Strafrecht grundsätzlich deshalb anwendbar, weil sie gegen die deutschen Kunden der Schweizer Institute begangen wurden, allerdings nur dann, wenn diese Tat auch in der Schweiz mit Strafe bedroht ist. aa) Das allerdings ist nach Art. 35 des Schweizerischen Bundesgesetzes über den Datenschutz (SchwDSG) jedenfalls für denjenigen zu bejahen, welcher die hier relevanten Kundendaten „unbefugt bekannt gibt, von denen er bei der Ausübung seines Berufes, der die Kenntnis solcher Daten erfordert, erfahren hat“. Wenn es auch nicht sicher feststeht, ob die Übermittler der Kundendaten die von Art. 35 SchwDSG geforderte Täterqualifikation aufweisen, so dürfte dies doch sehr wahrscheinlich sein, wie z. B. auch daraus erhellt, dass die deutschen Ankäufer dieser Daten nicht bereit sind, die Identität der Anbieter 64 bekanntzugeben. Selbst wenn aber mangels dieser Täterqualifikation eine Strafbarkeit nach Art. 35 Abs. 1 SchwDSG scheitern sollte, so ist gleichwohl eine Strafbarkeit zu bejahen: Der jeweilige Täter hat mit der Übertragung der Kundendaten auf eine CD eine Datensammlung i. S. des Art. 3 lit. g SchwDSG hergestellt, bei der 63 Dammann in: Simitis, Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz 5, 2003, § 3 Rn. 108, 111. 64 SZ wie Fn. 3.
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„der Bestand von Personendaten . . . so aufgebaut ist, dass die Daten nach den betroffenen Personen erschliessbar sind“ und er seiner Verpflichtung aus Art. 7a SchwDSG zur Information der betroffenen deutschen Kunden der Credit Suisse nicht nachgekommen ist und er damit eine Übertretung nach Art. 34 Abs. 1 lit. b Nr. 2 SchwDSG verwirklicht hat. Die entsprechenden Bestimmungen des SchwDSG lauten: Art. 3 Begriffe Die folgenden Ausdrücke bedeuten: ... g. Datensammlung: jeder Bestand von Personendaten, der so aufgebaut ist, dass die Daten nach betroffenen Personen erschliessbar sind; Art. 7a Informationspflicht beim Beschaffen von besonders schützenswerten Personendaten und Persönlichkeitsprofilen 1
Der Inhaber der Datensammlung ist verpflichtet, die betroffene Person über die Beschaffung von besonders schützenswerten Personendaten oder Persönlichkeitsprofilen zu informieren; diese Informationspflicht gilt auch dann, wenn die Daten bei Dritten beschafft werden. Art. 34 Verletzung der Auskunfts-, Melde- und Mitwirkungspflichten
1
Mit Busse werden private Personen auf Antrag bestraft:
... b. die es vorsätzlich unterlassen: 1. die betroffene Person nach Artikel 7a Absatz 1 zu informieren, oder
bb) Dass diese Strafbarkeitsvoraussetzungen mit denen der §§ 44 Abs. 1; 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG nicht völlig übereinstimmen, schadet nicht: ist doch „die völlige Übereinstimmung der Straftatbestände und ihrer Anwendung in Praxis für verschiedene Staaten naturgemäß ausgeschlossen“. Deshalb ist allein entscheidend „die Tatsache“, „dass die Handlung am Tatort mit Strafe bedroht ist. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob der Strafverfolgung dort ein Verfahrenshindernis entgegenstünde. Mit Strafe bedroht bliebe die Tat dennoch. Entscheidend ist allein die sachlich-rechtliche Lage“65. cc) Zwar scheint die Strafbarkeit nach dem Schweizer Strafrecht deshalb zu fehlen, weil diese Tat nur mit „Busse“ bedroht ist und deshalb eine von einer Straftat verschiedene bloße Ordnungswidrigkeit i. S. des deutschen Rechts vorliegen66 könne: Dies trifft indessen deshalb nicht zu, weil das SchwStGB neben den in seinem Ersten Teil in Art. 10 genannten Vergehen und Verbrechen in Art. 103 auch die mit „Busse“ bedrohten Übertretungen kennt, auf die nach Art. 104 die
65 66
BGHSt 2, 160, 161. Vgl. dazu NK3-Böse, § 7 Rn. 7 (Fn. 25).
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Bestimmungen des Ersten Teils des SchwStGB über Verbrechen und Vergehen anzuwenden sind, wenn auch mit gewissen Modifikationen: Art. 103 SchwStGB lautet: „Übertretungen sind Taten, die mit Busse bedroht sind.“ Art. 104 SchwStGB lautet: Die Bestimmungen des Ersten Teils gelten mit den nachfolgenden Änderungen auch für die Übertretungen.
Gleichwohl kann die Frage der Anwendbarkeit des deutschen Rechts deshalb nicht sicher bejaht werden: erscheint es doch durchaus möglich, dass dieser Ort ebenso in Österreich, Frankreich oder Italien liegt. Wenn es auch durchaus möglich erscheint, dass das Strafrecht auch dieser Länder eine entsprechende Strafbarkeit vorsieht, so würde eine entsprechende Untersuchung doch den Rahmen dieser Studie sprengen: Deshalb soll für die weitere Betrachtung hinsichtlich der Strafbarkeit der Mitglieder der Wuppertaler Verhandlungskommission außer Betracht bleiben, ob auf die Datenerhebung durch Übernahme des Datenträgers das deutsche Strafrecht anwendbar ist, worauf auch deshalb verzichtet werden kann, weil eine solche Strafbarkeit wegen der Verwirklichung der Verarbeitungsvariante (sogleich unten 2.) gegeben ist – gleichwohl bleibt die Strafbarkeit derjenigen, welche die Datenerhebung durch Übertragung auf Datenträger durchgeführt haben, im Zusammenhang mit der Verwertung der Daten in deutschen Steuerstraftaten von Bedeutung (dazu unten D.). 2. Nach der Legaldefinition des § 3 Abs. Abs. 4 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 BDSG wird der Tatbestand in der Handlungsvariante des „Verarbeitens“ durch die Bekanntgabe der erhobenen Daten nicht nur an die Mitglieder der deutschen Verhandlungsgruppe, sondern auch durch deren Weiterleitung an die deutschen Steuerbehörden verwirklicht. Insoweit kommen die für diese Steuerbehörden handelnden Personen zwar nicht als Täter der unbefugten Datenerhebung durch verarbeitende Bekanntgabe in Betracht, wohl aber als Anstifter dazu nach §§ 44 Abs. 1 i.V. m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG, § 26 StGB, weil sie durch ihr Angebot zur Zahlung des geforderten Kaufpreises dazu bestimmt haben, zu Tätern der verarbeitenden Bekanntgabe zu werden. Wenn auch die Anbieter ohnehin dazu entschlossen waren, die angebotenen Daten bekannt zu geben, so sind sie dennoch aus denselben Gründen anstiftungsfähig, die bereits oben A. I. b) 1. bb) dargelegt wurden. Diese strafbaren Handlungen wurden allerdings im Ausland (s. oben vor A.) begangen, möglicherweise in der Schweiz, möglicherweise aber auch in Österreich oder Frankreich. Die strafbare Weiterleitung der Daten durch die Verhandlungsgruppe an die deutschen Steuerbehörden aber ist am Tatort Deutschland geschehen (§ 9 StGB) und damit ist das deutsche Strafrecht anwendbar. 3. Bei beiden in Betracht kommenden Tätergruppen liegt das von § 44 Abs. 1 BDSG strafbegründende subjektive Tatbestandsmerkmal der Bereicherungsab-
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sicht vor: Diejenigen, welche die Daten zum Zwecke des späteren Verkaufs an die deutschen Steuerbehörden auf Datenträger übertragen, handeln in der Absicht, sich selbst zu bereichern, und die Aufkäufer in der Absicht, den Fiskus zu bereichern; weil die Tatbestände des BDSG das Persönlichkeitsrecht des Individuums schützen [oben a)] und gerade nicht Vermögen oder Eigentum, ist das strafbarkeitsbegründende Element der Bereicherungsabsicht schon nach dem Gesetzeswortlaut unabhängig davon gegeben, ob der Täter sich oder Dritte zu Unrecht bereichern will: Auch zur Verfolgung berechtigter finanzieller Interessen darf nicht ungestraft in das Persönlichkeitsrecht eingegriffen67 werden. d) Beide Tatvarianten des Erhebens wie auch die des Verschaffens personenbezogener Daten werden allerdings nur dann rechtswidrig verwirklicht, wenn die jeweiligen Daten „unbefugt“ erhoben oder verarbeitet werden. Ein grundsätzliches Verbot68 normiert § 4 Abs. 1 BDSG „als zentrale Norm zur Sicherung des informationellen Selbstbestimmungsrechts“69. Gleichwohl kann die Datenerhebung in diesem wie aber auch in der Tatvariante der Verarbeitung (§ 4 Abs. 1 BDSG) allerdings dann zulässig sein, wenn sie durch die Einwilligung des Betroffenen, nach § 3 Abs. 1 BDSG also nur die der Kunden der schweizerischen Unternehmen, gestattet ist (§ 4 Abs. 1, Abs. 2 BDSG), die indes weder zur Übertragung der Kundendaten auf die CD noch durch deren Übernahme vorliegt. e) Beide Tatvarianten können indessen auch dann befugt verwirklicht werden, wenn eine Rechtsvorschrift auch außerhalb des BDSG dies erlaubt oder sogar anordnet (§ 4 Abs. 1 BDSG). Für die Erhebung, sowohl in der Form der Übertragung auf die CD als auch in der Form des Erwerbs dieses Datenträgers, muss diese Norm auch zu der nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BDSG notwendigen Erhebung bei den betroffenen deutschen Kunden berechtigen, und zwar auch ohne70 deren Mitwirkung. Als eine dazu berechtigende Rechtsvorschrift kommt hier § 94 StPO in Betracht. 1. Wie oben c) 2. dargelegt wurde, ist der Erfolg der Datenverschaffung in Deutschland eingetreten und deshalb nach § 9 StGB deutsches Strafrecht anwendbar. Durch die Existenz der CD mit den Daten der deutschen Kunden der Credit Suisse wird der Anfangsverdacht der Steuerstraftat der Steuerhinterziehung (§§ 369, 370 AO) gegen die betroffenen Kunden der Schweizer Unternehmen begründet, zu deren Ermittlung nach § 386 Abs. 1 AO die in Abs. 2 dieser Vorschrift genannten Finanzbehörden zuständig sind und deshalb das Verfahren 67 Dies verkennen Simitis/Damman, BDSG5, § 44 Rn. 8 (Fn. 63), wenn sie meinen, auf die erhöhte Bereicherung dürfe kein Anspruch bestehen, „da sonst kein Grund für eine erhöhte Bestrafung“ bestehe; auf die insoweit gar nicht einschlägige Entscheidung BGHSt 19, 216 (zum Betrug bei Zeichnung von VW-Aktien) können sie ihre gegenteilige Auffassung nicht stützen. 68 Gola/Schomerus, BDSG, Kommentar9, 2007, § 4 Rn. 3. 69 Simitis, BDSG5, § 4 Rn. 2 (Fn. 63). 70 Simitis/Sokol, BDSG5, § 4 Rn. 19 ff., 26 (Fn. 63).
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auch selbständig durchführen, wobei sie nach § 399 Abs. 1 AO auch die Rechte und Pflichten wahrnehmen, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen. Weil nun die CD offensichtlich zu den Gegenständen gehört, die als Beweismittel für die Untersuchung der hier in Betracht kommenden Steuerhinterziehung von Bedeutung sind, gewährt § 94 StPO den Steuerbehörden das Recht, diese Gegenstände sicherzustellen, notfalls durch Beschlagnahme. Die Erhebung der Daten durch Ankauf und auch durch deren Weiterleitung durch (und an) die Steuerbehörden wäre damit befugt: Hier handelt es sich um eine Sicherstellung auf andere Weise, die anders als durch Ankauf wegen der Vorsichtsmaßnahmen der Anbieter faktisch nicht möglich wäre, insbesondere dann nicht, wenn es sich um Schweizer Bürger handelt und das Angebot in der Schweiz erfolgt. 2. Hier ist indessen zu berücksichtigen, dass § 94 StPO die Sicherstellung durch Datenerhebung nur in dem Umfang erlauben kann, in dem diese Norm auch anwendbar ist – und folglich auch nur in diesem Umfang zur Zulässigkeit der Datenerhebung und -verarbeitung i. S. des § 4 Abs. 1, 2 BDSG führen und damit auch die – strafausschließende – Befugnis zur Erhebung oder Verarbeitung personenbezogener Daten i. S. der §§ 44 Abs. 1, 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG gewähren kann. Und hier erweisen sich die sog. Beweisverbote als bedeutsam, die der Verpflichtung zur Aufklärung und Ahndung von Straftaten (§ 244 Abs. 2 StPO) bekanntlich Grenzen71 setzen und damit auch den jeweiligen Ermittlungsmaßnahmen: Überschreiten die Ermittlungsbehörden die Grenzen des § 94 StPO, entfällt nicht nur die Zulässigkeit der auf diese Norm gestützten Ermittlungsmaßnahmen, sondern zudem die Zulässigkeit der Erhebung und Verarbeitung (§ 4 Abs. 1, 2 BDSG) sowie die strafausschließende Befugnis zu deren Vornahme. aa) Wie oben c) 1. dargelegt, stellt die Übertragung der Kundendaten auf die CD eine strafbare Handlung dar und macht die CD selbst zu einem productum sceleris, nicht nur für den Hersteller, sondern auch für jeden, der sie erwirbt – und damit auch für den Erwerb im Wege der Sicherstellung. Den Ermittlungsbehörden im Strafverfahren gewährt weder § 94 StPO noch sonst eine Rechtsvorschrift das Recht, Beweismittel durch Straftaten herzustellen oder auch nur zu erlangen: Alle staatliche Gewalt und damit auch die strafverfolgende ist durch Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Hätten also die deutschen Ermittlungsbehörden selbst die Daten der deutschen Kunden der Credit Suisse auf die CD übertragen, so fehlte es schon an der nach Art. 20 Abs. 3 GG notwendigen, zu solchem Eingriff berechtigenden Norm mit der Folge der Rechtsstaatswidrigkeit dieses Verhaltens, die, erst recht im Zusammenhang mit der Strafbarkeit dieses Verhaltens, zu einem Verbot der Verwertung dieses productum sceleris führen würde. Weil indes die Ermittlungsbehörden eine solche Tat gar nicht begangen haben, scheidet, wobei die Möglichkeit eines etwa unzulässigen sicher-
71
BGHSt 19, 325.
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stellenden Erwerbs eines productum sceleris vernachlässigt werden soll, ein Verwertungsverbot aus. bb) Gehandelt hat indessen eine Privatperson, deren Verhalten aber z. B. bei der Erhebung oder Verarbeitung von Daten auch vom BDSG erfasst wird: § 1 Abs. 2 Nr. 3 BDSG benennt ausdrücklich auch „nicht-öffentliche Stellen“ als Adressaten72 des BDSG, zu denen nach § 2 Abs. 4 Satz 1 BDSG auch natürliche Personen zählen, die folglich die Vorschriften des BDSG zu beachten73 haben. Demnach kann auch die Erhebung (durch Übertragung auf die CD) zulässig und befugt vorgenommen werden, falls eine beliebige Rechtsvorschrift dies erlaubt (§ 4 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BDSG), selbst wenn sie, wie hier, entgegen § 4 Abs. 2 Satz 1 BDSG nicht bei den betroffenen deutschen Kunden (§ 3 Abs. 1 BDSG) der Credit Suisse vorgenommen wird, sondern bei dieser Bank; ebenso kann die Verarbeitung (durch Bekannt- und Weitergabe) aufgrund einer bestimmten Rechtsvorschrift zulässig (und damit befugt) sein. Allerdings muss diese Norm den jeweils Handelnden zu seinem Tun berechtigen, hier also eine Privatperson, mit der Folge, dass § 94 StPO, auf den sich nur die Ermittlungsbehörden im Strafverfahren berufen können, ebenso als Befugnisnorm ausscheidet wie sonstige Normen der StPO, die zu Maßnahmen gegenüber anderen Personen als den Betroffenen berechtigen, wie etwa § 103 StPO. Bei der Suche nach einer solchen Norm ist stets zu berücksichtigen, das § 1 Abs. 1 BDSG als Schutzgegenstand das „Persönlichkeitsrecht“74 benennt und damit das Ziel des BDSG deutlich macht zu verhindern, dass sich der Einzelne „in ein mehr und mehr manipulierbares Informationsobjekt“75 verwandelt. Damit zeigt sich: Das BDSG erweitert den Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts über das Verhältnis des Einzelnen zum Staat auch auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Rechtsgenossen und normiert damit eine Drittwirkung dieses Grundrechts, welche auch die Strafverfolgungsbehörden zu beachten haben. Ebendieser Drittwirkung wegen und auch im Übrigen mangels einer zum Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der deutschen Kunden der Credit Suisse berechtigenden Rechtsvorschrift ist die Erhebung oder Verarbeitung dieser Daten unberechtigt und verwirklicht damit den Tatbestand des § 44 Abs. 1 i.V. m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG, an der sich folglich auch die Mitglieder der Wuppertaler Verhandlungskommission in strafbarer Weise beteiligt haben. Darüber hinaus haben auch die Ermittlungsbehörden zu beachten, dass das durch eine strafbare Handlung gewonnene Beweismittel der CD (productum sceleris) „derart kontaminiert“ ist, dass „dessen Verwertung“ im Strafverfahren „unzulässig wird“76. 72 73 74 75 76
Simitis, BDSG5, § 2 Rn. 112 (Fn. 63). Gola/Schomerus, BDSG9, § 1 Rn. 1 (Fn. 68). Gola/Schomerus, BDSG9, § 1 Rn. 6 (Fn. 68). Simitis, BDSG5, § 1 Rn. 36 (Fn. 63). LR26 /Gössel, 2006, Einl. L Rn. 113.
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Damit ergibt sich: mangels einer die Erhebung oder Verarbeitung der auf die die CD übertragenen Daten der deutschen Kunden der Credit Suisse erlaubenden Rechtsnorm wird nicht nur die Verwertung dieses Beweismittels im Strafverfahren unzulässig, sondern auch die Erhebung oder Verarbeitung dieser Daten „unbefugt“ i. S. der §§ 44 Abs. 1, 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG. Damit haben die Mitglieder der Wuppertaler Verhandlungskommission sich an dieser Straftat durch Anstiftung (§ 26 StGB) beteiligt; die Strafbarkeit kann indessen wegen Tatbestandsoder Verbotsirrtums entfallen, was hier indessen nicht mehr untersucht werden kann.
D. Ergebnis I. Die Existenz des (unbekannten) Anbieters der CD dürfte einen Anfangsverdacht hinsichtlich der Verwirklichung von Tatbeständen nach § 17 UWG und auch § 202a StGB begründen, dessen Berechtigung durch entsprechende Ermittlungen geklärt werden können dürfte. Weil es sich in beiden Fällen indessen um Antragsdelikte handelt, entfällt eine Ermittlungspflicht (§ 17 Abs. 5 UWG; § 205 StGB). Indessen erscheint es angebracht, zu prüfen, ob nicht in beiden Fällen ein zur Strafverfolgung berechtigendes besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung auch über die in Nr. 260a Abs. 1 RiStBV genannten Fälle hinaus besteht. II. Auch die Verfolgung wegen Anstiftung zur unerlaubten Datenerhebung oder -verarbeitung wird nur auf Antrag verfolgt, ohne dass die Möglichkeit besteht, diesen Antrag durch die Erklärung über das Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung zu ersetzen (§ 44 Abs. 2 BDSG). Die hier Antragsberechtigten, insbesondere der Bundesbeauftragte für Datenschutz, sollten indessen eine derartige Antragstellung deshalb sehr genau prüfen, damit nicht eine rechtsstaatlich gebotene Strafverfolgung der machiavellistischen (Recht ist, was dem Staate nützt) oder der gegenreformatorisch-jesuitischen Maxime (Der Zweck heiligt die Mittel) zum Opfer fallen möge – eine Prüfung, die auch den Ermittlungsbehörden in den oben I. genannten Fällen bei der Entscheidung über die Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung gut anstehen würde.
Das Übernahmeverschulden als Regulativ im ärztlichen Feld* Von Heike Jung I. Einführung Ingeborg Puppe hat viele dogmatische Glanzlichter gesetzt, vor allem in der Zurechnungslehre.1 Mit meinem Beitrag zu ihren Ehren möchte ich die praktische Seite der Zurechnungslehre und der Fahrlässigkeitsdogmatik ins Bildrücken. Was manchen als eine reichlich abstrakte Übung erscheint, verkörpert in Wirklichkeit das Steuerungsinstrument für die sozialen und professionellen Interaktionen. Man könnte dies an vielen Begriffen der Zurechnungslehre veranschaulichen. Mein Kandidat ist der Begriff des Übernahmeverschuldens. „Übernahmeverschulden“, gelegentlich ist auch von „Übernahmefahrlässigkeit“ die Rede, verweist eigentlich auf eine Selbstverständlichkeit: Wenn man etwas nicht kann, sollte man die Finger davon lassen.2 Man könnte dies fast als allgemeine Lebensregel betrachten. Als Rechtsfigur gehört das Übernahmeverschulden seit Langem zum gesicherten dogmatischen Bestand.3 Es ist das Vehikel zur Vorverlagerung der Verantwortlichkeit, um etwaigen auf die eigentliche Fehlhandlung bezogenen Exkulpationsstrategien vorzubeugen.4 Die „Vorverlagerungsthese“ ist freilich nicht unbestritten und wird bekanntlich für die verwandte Konstellation der „actio libera in causa“ in Zweifel gezogen.5 Man kann auch über die Relevanz einer solchen Rechtsfigur streiten, weil eine abstrakt verstandene Sorgfaltspflicht einen Großteil der Konstellationen, für die sie herange-
* Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. auf einer Tagung des Medizinisch-Juristischen Arbeitskreises Saar am 24. April 2009 in La-Petite-Pierre gehalten hat. 1 Ich verweise nur auf Puppe, Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000. 2 Ebenso Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I4, 2006, S. 1076: „Wer etwas nicht weiß, muss sich informieren, wer etwas nicht kann, muss es lassen“. 3 Kienapfel/Höpfel, Strafrecht Allg. Teil13, 2009, S. 160: „Diese Rechtsfigur ist seit jeher auch in der Lehre anerkannt.“ 4 Dazu Puppe, in: NK-StGB3, 2010, vor § 13 Rn. 160. Nachdrücklich für die Vorverlagerungsthese Seebaß, Handlungstheoretische Aspekte der Fahrlässigkeit, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), S. 375, 406–408. 5 Vgl. z. B. von Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985.
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zogen wird, auffangen dürfte. Allerdings sind derartige rollenspezifische Formen einer strafrechtlichen „Garantiehaftung“ vergleichbaren Einwänden ausgesetzt.6 Wie dem auch sei: Das Übernahmeverschulden hat sich als griffige Formel eingebürgert,7 die aus der Fahrlässigkeitsdogmatik nicht wegzudenken ist, auch wenn sie in den Einzelheiten noch wenig erforscht ist.8 Offenbar gilt sie als eine Art ungeschriebene Grundregel der Sorgfalt.9 Besser wäre es vielleicht, von einer die Strafrechtsdogmatik transzendierenden Metaregel der Zurechnung zu sprechen, die „binnensystematische“ Einwände nicht zur Geltung kommen lässt.10 Mir geht es im Folgenden freilich nicht um diese dogmatischen Feinheiten, sondern um eine Demonstration der Leistungsfähigkeit dieser Figur im ärztlichen Feld. Mit der Ahndung individuellen Fehlverhaltens sind immer auch präventive Funktionen verbunden. Im soziologischen Sprachgebrauch heißt dies: Die Reaktion auf die Abweichung stabilisiert die Norm. Nun ist das System der Prävention im ärztlichen Feld vergleichsweise komplex. Es umfasst Strafrecht, Zivilrecht, administrative Vorkehrungen und die (regulierte) Selbstregulierung.11 Wir werden sogleich feststellen, dass und wie die Kategorie des Übernahmeverschuldens sich in dieses Modell einfügt. Hierzu müssen wir uns zunächst noch einmal bewusst machen, wie das Feld der medizinischen Leistungserbringung strukturiert ist. Die Fixierung auf den Arzt verstellt den Blick für die vielen Abhängigkeiten sowie strukturellen und sachlichen Differenzierungen, die auch auf die Verhaltensanforderungen durchschlagen: Wir kennen sie alle: ambulant/ stationär, Allgemeinarzt/Facharzt, Anfänger/erfahrener Arzt, Schulmedizin/Alternative Medizin. Das Begriffspaar „gut/schlecht“ fehlt zwar bei dieser Aufzählung. Sein Fehlen macht deutlich, dass das Raster der Qualitätskontrolle, mit dem wir das Feld medizinischen Handelns qua Begriff „Übernahmeverschulden“ überziehen, eher allgemeiner Natur ist. Die Differenzierung „gut/schlecht“ wird haftungsrechtlich betrachtet weitgehend aufgefangen durch standardisierte Erwartungen an die Leistungserbringung.12 So verstanden kann man es natürlich als 6
Im Einzelnen Neumann (Fn. 5), S. 202. Dementsprechend begnügt sich die Lehrbuchliteratur mit apodiktischen Feststellungen, vgl. z. B. Wessels/Beulke, Strafrecht Allg. Teil39, 2009, S. 253. 8 Ebenso Roxin (Fn. 2), S. 1105. 9 Z. B. Roxin (Fn. 2), S. 1076; Riklin, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I3, 2007, S. 232. 10 In Anlehnung an Neumann (Fn. 5), S. 276 ff. 11 Zu deren Zusammenspiel Eser, Perspektiven des Medizin(straf)rechts, in: Frisch (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, Ethik und Recht in der Medizin Bd. 41, 2006, S. 9, 24 ff. 12 Der „durchschnittliche“ Leistungserbringer ist natürlich ein haftungsrechtliches Konstrukt, was nicht heißt, dass der situative Kontext bei dieser Konstruktion ausgeblendet werden darf. Missverständlich insofern Fuchs/Schirmer, Von Recht gegen Medi7
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Übernahmeverschulden klassifizieren, wenn ein Arzt eine schwierige Operation übernimmt, ohne sich mit den neuesten Erkenntnissen der Medizin vertraut zu machen.13 Im Übrigen hängt bei der Frage der Haftung wegen Übernahmeverschuldens – angefangen von der medizinischen Ausbildung bis zur Organisation der medizinischen Leistungserbringung – alles mit allem zusammen. Welche Relevanz hat etwa der Stellenplan eines Krankenhauses? Wie sollen Anfänger lernen, wenn sie nichts machen dürfen? Wie soll sich Fortschritt einstellen, wenn man bestimmte Vorgehensweisen für sakrosankt erklärt? II. Die Figur des Übernahmeverschuldens als Steuerungsmittel 1. Ambulante contra stationäre Versorgung Die moderne „Medizinlandschaft“ ist das Produkt einer langen historischen Entwicklung. Dies gilt namentlich für den hoch spezialisierten Krankenhausbetrieb. Mit der Krankenhausmedizin verknüpfen sich heute viele hochgesteckte Erwartungen, aber auch manche Ängste. Für die meisten Patienten bleibt freilich der primäre Ansprechpartner der niedergelassene (Haus)Arzt. Damit wird er auch zum „gate-keeper“ für das Krankenhaus. Die Regeln für die Überweisung sind im Prinzip klar: Komplexere oder unklare Krankheitsbilder, namentlich solche, die eine „Rundumversorgung“ oder auch bestimmte diagnostische Abklärungen und umfangreiche operative Eingriffe mit entsprechender Nachsorge verlangen, machen eine Einweisung in das Krankenhaus erforderlich. Man kann dies auch umgekehrt lesen: Wenn sich ein bestimmtes kuratives Netzwerk auch außerhalb der Institution Krankenhaus herstellen lässt, kann die Einweisung verzichtbar sein. Viele Entscheidungen sind Selbstläufer; z. B. bei Brandopfern gibt es überhaupt nur wenige Einrichtungen, die eine optimale Versorgung garantieren können, womit wir zugleich die spannende Frage nach der Konkurrenz und Komplementarität der Krankenhäuser untereinander angesprochen haben, die sich, jedenfalls in der Theorie durch einen durch technisch-personelles Versorgungsniveau und Erreichbarkeit geprägten Parameter beantwortet. Dies sind Parameter, die über die Zeit nicht starr geblieben sind, wie das Aufkommen und die Ausbreitung ambulanter Operationen zeigt. Trotz z. T. klarer, weitgehend konsentierter Vorgaben, bleiben Einschätzungsprärogativen dort, wo die Entscheidung nicht evident ist. Hier können dann auch persönliche Einstellungen, Vorsicht oder Risikofreude durchschlagen. zin zum Medizinrecht, in: Lilie/Bernat/Rosenau (Hrsg.), Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, 2009, S. 45, 47, die die individuelle Situation außen vor lassen wollen, aber vermutlich (nur) die individuellen Fähigkeiten meinen. 13 Riklin (Fn. 9); vgl. auch Kühl, Strafrecht Allg. Teil6, 2008, S. 520, 543.
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2. Allgemeinarzt/Facharzt Für das Verhältnis „Allgemeinarzt/Facharzt“14 gelten ähnliche Gesichtspunkte. Die Übergänge sind freilich eher noch fließender. Die Rechtslage ist klar: Wenn der Arzt unsicher ist, ob ihn der Fall nicht doch überfordert, sollte er ihn entweder nicht übernehmen, den Patienten an einen sachkundigen Kollegen überweisen oder einen fachkundigen Spezialisten hinzuziehen. In der Praxis wird das vielfach auch so laufen. Freilich wird man Fortbildung nicht pönalisieren dürfen. Man darf also nicht reflexhaft nach dem Facharzt rufen, wenn ein Allgemeinmediziner sich entsprechend fortgebildet hat. Zu beachten ist dabei, dass der Facharztstandard kein formelles, sondern ein materielles Kriterium ist, das sich also auf einen bestimmten Wissens- und Erfahrungsstandard mit Bezug auf die in Rede stehende Behandlungsmaßnahme bezieht.15 Wagt sich der Arzt auf ein fremdes Fachgebiet, dann hat er für die dort geltenden Standards einzustehen.16 3. Schulmedizin vs. alternative Medizin Der Arzt ist in der Wahl seiner Therapie frei. Dieser als Kurier- oder Therapiefreiheit bekannte Grundsatz17 gilt längst nicht mehr uneingeschränkt. Es lohnt jedoch, ihn angesichts der rechtlich sanktionierten Tendenz, das medizinische Handeln vorzugsweise an quantitativ getesteten Verfahren auszurichten,18 in Erinnerung zu rufen. Medizinisches Handeln sollte den Fokus stets auf den Einzelfall richten, was der Verabsolutierung statistischer Erfolgsmaßstäbe bei der Wahl des therapeutisch einzuschlagenden Weges entgegensteht.19 Dies findet selbst in dem eher standardisiert operierenden Recht der gesetzlichen Krankenversicherung Niederschlag. Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls in einer viel beachteten, wenn auch kontrovers diskutierten Entscheidung unter Berufung auf Art. 2 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip auf den individuellen Wirkungszusammenhang abgehoben.20 14 Genaugenommen gibt es natürlich keinen Allgemeinarzt, sondern nur einen Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin (Hausarzt). 15 Näher Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis4, 2008, S. 35, der zusätzlich darauf verweist, dass nach Inkrafttreten der neuen Weiterbildungsordnung mit dem Facharztstatus teilweise ein gegenüber früher eingeschränkter Leistungsnachweis attestiert wird. 16 Kaiser, Arzthaftungsrecht, in: Ratzel/Luxenburger (Hrsg.), Handbuch Medizinrecht, 2008, S. 601, 610 f. 17 Zusammenfassend Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht6, 2009, S. 340 ff. 18 Dazu namentlich Buchner, Die Abhängigkeit des haftungsrechtlichen vom sozialrechtlichen Standard, in: Lilie u. a. (Fn. 12), S. 63, 69 19 Vgl. auch Katzenmeier, in: Laufs u. a. (Fn. 17), S. 344 („Individualität des Behandlungsgeschehens“). 20 BVerfGE 115, 25, 50 f.
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Bei dem Umgang mit Außenseitermethoden müssen wir also eine schwierige Gratwanderung vollziehen. Auf der einen Seite steht das sog. gesicherte Fachwissen, der Standard, der zunehmend in Leitlinien für die Behandlung gegossen wird.21 Auf der anderen Seite steht die Erkenntnis, dass die Frage, was im Einzelfall hilft, oftmals gar nicht so einfach zu beantworten ist. Neue Wege der Behandlung und andere Zugänge zu dem Verständnis von Krankheit sollten also nicht a priori versperrt werden.22 Schließlich wissen wir alle, dass der Kanon gesicherten Wissens auch in der Schulmedizin in immer kürzeren Abständen „umgeschlagen“ wird. Und mittendrin steht der Patient, vielfach hilflos, bisweilen aber auch überinformiert – das Internet lässt grüßen – und gar nicht so selten von einem gewissen Misstrauen gegenüber einer Hightech-Medizin beseelt. Die Figur des Übernahmeverschuldens ist auch hier hilfreich. Sie verlangt, dass der Behandelnde seine Grenzen kennt, d.h. er muss nicht nur über Kompetenz, sondern auch über „Kompetenzkompetenz“ verfügen. Er muss also zu einem Vergleich der Therapiemöglichkeiten befähigt sein und einen solchen auch tatsächlich anstellen.23 Demjenigen, der sich von einer anderen Warte heraus nähert, obliegen daher Prüfungs- und Aufklärungspflichten. Wir begnügen uns also mit der Statuierung bestimmter eher formaler Sollanforderungen, die die Sachkunde und die Vorgehensweise betreffen.24 Allerdings reichen die Sicherungsvorkehrungen an dieser Stelle über das Haftungsrecht hinaus. All jene, die gewerbsmäßig therapeutisch tätig sind, werden nämlich in Deutschland als eine Art Minimalkontrolle dem Heilpraktikergesetz unterworfen. 4. Berufsanfänger vs. erfahrener Arzt Es gibt auch, vielleicht sogar gerade in der traditionellen Medizin eine große Varianz in der Qualität der Leistungserbringung. Dies hängt nicht zuletzt mit der beruflichen Erfahrung zusammen. Ungeachtet aller in das Studium einbezogener Praxiskontakte muss man sich als junger Mediziner seine Sporen erst noch verdienen. Das Problem besteht darin, dass man am Menschen „übt“. Insofern darf der Anfänger sich auch nicht von dem Interesse an seiner eigenen Fortbildung dazu hinreißen lassen, selbstständig Behandlungsmaßnahmen zu übernehmen, denen er noch nicht gewachsen ist.25 21 Statt vieler Hart, Vom Standard zur Leitlinie: Bewertungszusammenhänge im Medizin- und Gesundheitsrecht, KritV 2005, 154, wobei Hart den Leitlinien zu viel „normative Relevanz“ beimisst. 22 Ebenso Eser, Medizin und Strafrecht: Eine schutzgutorientierte Problemübersicht, ZStW 97 (1985), S. 1, 12. 23 Vgl. etwa Jung, Außenseitermethoden und strafrechtliche Haftung, ZStW 97 (1985), S. 47, 56 f. 24 Jung (Fn. 23). 25 Vgl. Ulsenheimer (Fn. 15), S. 46.
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Die Sozialisation in das medizinische Berufsfeld scheint auf den ersten Blick im Großen und Ganzen gut geregelt. Freilich wird auf die „Anfänger“ in den Kliniken zu viel abgeladen. Die Zauberformel heißt im Übrigen „Supervision“, d.h. Erfahrung muss gezielt, stufenweise und kontrolliert weitergegeben werden. Dem „Anfänger“ muss jemand über die Schulter blicken, im Krisenfall muss die Interventionsmöglichkeit durch einen fachkundigen erfahrenen Arzt gewährleistet sein. Nur so lassen sich beruflich-fachliche Sozialisation und das Gebot einer optimalen Versorgung der Patienten in Einklang bringen.26 Hier rühren wir an die Figur des Organisationsverschuldens, jene Figur also, mit der das Recht die Verhaltensabläufe in Institutionen durchleuchtet.27 Zugleich stoßen wir an die Restriktionen und Zwänge, mit denen Institutionen unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit und der Verwaltung des Mangels arbeiten. III. Übernahmeverschulden in Zeiten der Wirtschaftlichkeit Der Konflikt zwischen Sorgfaltspflicht und Wirtschaftlichkeit spitzt sich immer mehr zu. Dies hat auch aber nicht nur mit dem sozialrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebot zu tun.28 Diese für die Gesundheitsversorgung ganz zentrale Fragestellung interessiert hier nur unter dem Blickwinkel des „Übernahmeverschuldens“. Es ist nun eine nicht nur den medizinischen Bereich betreffende Frage, ob man die Standards der Leistungserbringung nach den Möglichkeiten der Institution oder aber den Zuschnitt der Institution nach den Standards der Leistungserbringung ausrichten soll. Hier muss man natürlich das Gesundheitssystem in seiner Gesamtheit mit seinen Abstufungen nach dem Grad der Versorgung sehen. Mit diesem Vorbehalt kann als Richtschnur nur Letzteres gelten, obwohl sich eine mehr und mehr auf Wirtschaftlichkeit gepolte Gesundheitsverwaltung immer wieder darüber hinwegsetzt. Es beginnt schon damit, dass die Qualität der Leistungserbringung im Krankenhaus vom Personalschlüssel abhängt. Es ist evident, dass allzu lange und allzu häufige Dienste die Qualität der Leistungserbringung mindern. Niemand möchte in der Unfallstation von jemandem operiert werden, der sich nur noch mühsam wach halten kann. Hier treffen wir vielfach auf die schon angesprochene Gemengelage von Übernahmeverschulden des Einzelnen und Organisationsverschulden der Institution. Wer heillos übermüdet ist, darf einen Eingriff schon gar nicht erst übernehmen. Umgekehrt muss die Institution gewährleisten, dass solche Zustände gar nicht erst eintreten. Diese Diskussion wird vorzugs26
Vgl. auch Kaiser (Fn. 16), S. 619 f. Zur Interaktion beider Haftungsformen z. B. Kaiser (Fn. 16), S. 618. 28 Mehr dazu statt vieler bei Katzenmeier, Kostendruck und Standard medizinischer Versorgung – Wirtschaftlichkeitspostulat versus Sorgfaltsgebot, in: Festschrift für Herta Müller, 2009, S. 237; Ulsenheimer (Fn. 15), S. 40 f. 27
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weise am Beispiel der Klinik geführt. Sie stellt sich aber auch für den praktisch tätigen Arzt, der immer wieder Gefahr läuft, sich selbst zu überfordern und über die Grenzen seiner Belastbarkeit hinauszugehen. Für eine Medizin, die sich verstärkt mit Tendenzen zur Rationierung konfrontiert sieht, stellt sich zunehmend die Frage, was der Arzt tun soll, wenn der gebotene (Mindest)Standard nicht mehr gewährleistet ist. Sollte die dem Standard entsprechende Behandlung andernorts verfügbar sein, wird man den Patienten hierauf verweisen. Fuchs/Schirmer halten es in dieser Situation nicht für möglich, das Risiko qua „Risikoeinwilligung“ auf den Patienten abzuwälzen, was mir freilich allzu paternalistisch erscheint.29 IV. Die Rolle der Einwilligung Medizinische Eingriffe sind autonomiegebunden. Vereinfacht formuliert: Ohne die Einwilligung des Patienten läuft – von den Konstellationen, die durch die mutmaßliche Einwilligung regiert werden, und den seltenen Fällen zulässiger Zwangsbehandlung abgesehen – nichts. Was in der Regel unter dem Gesichtspunkt des Aufklärungsmangels und damit der Haftung „qua Aufklärungsschiene“ diskutiert wird, kann man auch aus einem gewissermaßen gegenläufigen Blickwinkel betrachten: Wenn es auf die Einwilligung ankommt, stellt sich nämlich die Frage, inwieweit diese als Korrektiv gegen die Annahme eines Übernahmeverschuldens ins Feld geführt werden kann, inwieweit sie also den Vorwurf des Übernahmeverschuldens „neutralisieren“ kann. Praktisch bedeutsam kann dies immer dann werden, wenn der Patient sich gegen die fachlich gebotene oder vorzugswürdige Behandlungsform wehrt, etwa nicht von Spezialisten behandelt werden möchte, eine Einweisung ins Krankenhaus ablehnt, eine homöopathische Behandlung bevorzugt, keine Bluttransfusion erhalten möchte. Gründe für diese Entscheidung kann es viele geben: Ein Patient will nicht aus seiner häuslichen Umgebung herausgerissen werden. Er will vielleicht auch nicht, dass bei der Diagnostik zu viel entdeckt wird. Er ist bekennender Anhänger der homöopathischen Richtung. Sein Gewissen verbietet ihm bestimmte Behandlungsformen. Was Ärzte in solchen Fällen – ethisch betrachtet – tun sollten, ist keine einfach zu beantwortende Frage. Rechtlich betrachtet scheint mir klar zu sein, dass die Einwilligung eines über alle Risiken und die Chancen der Behandlungsalternativen aufgeklärten Patienten den Handlungsspielraum des Arztes zu erweitern vermag.30 Eine Verantwortlichkeit aus dem Gesichtspunkt des Übernahmeverschuldens kann dadurch ausgeschlossen werden. Dies gilt z. B., wenn der Patient sich bewusst gegen eine (fach)ärztliche Behandlung und für die Behandlung durch einen Heilpraktiker entschieden hat. 29 30
Fuchs/Schirmer (Fn. 12), S. 55. Vgl. auch Katzenmeier, in: Laufs u. a. (Fn. 17), S. 348.
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Mit dem vorsichtigen „kann“ sind zugleich Grenzen angedeutet. Vielfach werden wir uns dabei in den Bereich des „mehr oder weniger“ medizinisch Sinnvollen bewegen. In dieser Marge wird sich das Haftungsrecht an der autonomen Entscheidung des aufgeklärten Patienten orientieren. Ansonsten kann sich natürlich ein Konflikt zwischen einer autonomiebasierten Legitimation und dem indikationsorientierten ärztlichen Handeln auftun. Soll der Patient auch einen medizinisch sinnlosen Eingriff legitimieren können? In strafrechtlichen Kategorien transformiert: Subsumiert man ärztliche Eingriffe unter den Tatbestand der Körperverletzung, so werden wir auf die Problematik der Grenzen der Rechtfertigung durch Einwilligung verwiesen.31 Mit einer um sich greifenden wunscherfüllenden Medizin spitzt sich die Debatte um die Grenzen der Einwilligungsfähigkeit qua Sittenwidrigkeit nach § 228 StGB immer mehr zu. Dabei dürfte es sich jedoch nicht um einen Fall des Übernahmeverschuldens, sondern um eine Instrumentalisierung des Arztes für Eingriffe handeln, deren medizinische Kategorisierung zweifelhaft ist, bei denen man sich im äußersten Fall fragt, ob es überhaupt einen allgemein akzeptierten Grund für die Intervention gibt. Die in § 228 StGB angelegte Supervision der Autonomie des Einzelnen stößt freilich zunehmend auf (verfassungsrechtliche) Kritik. Sternberg-Lieben sieht darin eine unzulässige Bevormundung des Einzelnen. In der Konsequenz dieses Ansatzes wendet er sich dagegen, via medizinische Indikation ein Sonderstrafrecht für Ärzte statuieren zu wollen.32 Daum/Schulte in den Bäumen hinwiederum wollen am traditionellen Heilauftrag als paradigmatischer Leitgröße festhalten.33 Diese Richtungsentscheidung ist freilich nicht unser eigentliches Thema. V. Der Notfall Wir haben das Übernahmeverschulden vorzugsweise als eine Figur präsentiert, die das medizinische Handeln vor dem Hintergrund der fachlichen Ausdifferenzierung des medizinischen Feldes steuert. Viele Professionen halten im Prinzip an einem „Einheitsmodell“ fest. So wie es den „Einheitsjuristen“ gibt, gibt es auch den „Einheitsmediziner“. Während also auf der einen Seite die Einheit des Berufsstandes beschworen wird, hat uns der arbeitsteilige Prozess der Spezialisierung ein komplexes, teils durch konkrete gesetzliche Vorgaben, teils durch Stan31 Vgl. dazu schon den bekannten „Zahnextraktionsfall“ BGH, NJW 1978, 1206. Zur neueren Diskussion über die Zulässigkeit von Wunschamputationen Nitschmann, Chirurgie für die Seele?, ZStW 119 (2007), S. 547. 32 Sternberg-Lieben, Die Strafbarkeit eines nicht indizierten ärztlichen Eingriffs, in: Festschrift für Amelung (2009), S. 325; ebenso Paeffgen, in: NK3-StGB (Fn. 4), § 228 Rn. 54. 33 Daraus folgt für sie, „daß auch weiterhin nicht die Grundregeln der Indikationsmedizin, sondern Ausweitungstendenzen der Wunschmedizin rechtfertigungsbedürftig sind“; Daum/Schulte in den Bäumen, Indikation und informed consent, KritV 2005, 101, 135.
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des- und Berufsrecht, teils eben durch Figuren wie das Übernahmeverschulden geregeltes, an der Kompetenz orientiertes Verteilungssystem beschert. Dieses System ist nicht starr, sondern lässt fließende Übergänge und Grenzverwischungen zu, was damit zu tun hat, dass jeder Arzt durch Weiterbildung zusätzliche Fachkenntnisse erwerben kann, aber auch damit, dass der einzelne Patient bis zu einem gewissen Grad dem Arzt seines Vertrauens eine Art (begrenzten) haftungsrechtlichen „Freibrief“ erteilen kann, also dessen Handlungsspielraum – u. U. vorbehaltlich der Fragen der Kostentragung – erweitern kann. Zudem gibt es immer wieder Konstellationen, in denen die allgemeine Kompetenz gefragt ist. Dies gilt vor allem im Notfall. Hier wird man in der Regel kein Spezialwissen mehr abrufen können. Ich selbst bin vor einiger Zeit Zeuge eines Vorfalls gewesen, bei dem ein Gast in einem Lokal plötzlich zusammensackte. Sofort hat man nach einem Arzt im Raum gerufen. Und während der Notarzt unterwegs war, konnte der zufällig anwesende Gynäkologe die Beteiligten nach einer kurzen Untersuchung zunächst einmal beruhigen. Viele werden Ähnliches erlebt haben. In solchen nicht steuerbaren Situationen tritt der Gedanke der fachlichen Spezialisierung hinter die Tatsache zurück, dass es allemal besser ist, wenn jemand mit einer Allgemeinqualifikation zur Verfügung steht als gar niemand. Bekannte Filme kreisen um vergleichbare Szenarien in anderen Lebensbereichen, wenn z. B. jemand, der früher einmal Düsenjäger geflogen hat, in der Not die große Verkehrsmaschine steuern muss und diese dann – jedenfalls im Film – auch glücklich zur Landung bringt. Eine verwandte, aber nicht identische Frage betrifft die Organisation der Nachtbereitschaft der niedergelassenen Ärzte. Denn hier geht es, anders als bei jenen plötzlich auftretenden Ereignissen, um Konstellationen, die Zeit genug lassen, um Vorsorge zu treffen. Die Organisation eines solchen Notfalldienstes ist geradezu Ausdruck des Bemühens der Ärzteschaft um eine flächendeckende, zeitlich möglichst lückenlose und qualitativ möglichst hochwertige Versorgung. Das bedeutet freilich auch, dass ein solcher Nachtbereitschaftsdienst mit „Allroundern“ besetzt sein sollte. Mit der allzu weitgehenden Einbeziehung von Spezialisten wird möglicherweise die Grundkonzeption eines solchen Notfalldienstes gefährdet. Denn hier geht es ja nicht um den Notfall als plötzlich auftretendes Ereignis, sondern um die Organisation der ärztlichen Grundversorgung. Man mag sich freilich damit trösten, dass für die kritischen Fälle der Rettungsdienst und die (Notfall)Ambulanzen größerer Kliniken zur Verfügung stehen. VI. Schlussbetrachtung In der Figur des Übernahmeverschuldens laufen wie in einem Brennspiegel die verschiedensten strukturellen Fragen des ärztlichen Berufes und des medizinischen Feldes zusammen. Der Begriff verweist darauf, dass die moderne Medizin einen Grad an Ausdifferenzierung erreicht hat, die Organisation des medizini-
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schen Feldes derart komplex geworden ist, dass spezielle Zuweisungskategorien als Vorgabe zur Orientierung zwingend geboten sind. Die meisten Differenzierungen sind längst sozialer Fakt und damit Teil der allgemeinen Denk- und Handlungsmuster. Dies gilt etwa für die Gegenüberstellung „stationär/ambulant“, die sich durch den gesamten Betreuungsbereich bis hin zur „Zwangsbetreuung“ verurteilter Straftäter zieht. Bei näherer Betrachtung schlägt freilich doch der Einzelfall korrigierend durch, sowohl auf Seiten des Behandelnden als auch auf Seiten des Behandelten. Ärzte können sich natürlich spezielle Fachkenntnisse aneignen, die ihren Kompetenzbereich – und zwar unabhängig von formalen Insignien, sprich speziellen Ausbildungsabschlüssen, erweitern. Patienten hinwiederum wählen, soweit sie entsprechend aufgeklärt sind, ohnehin die Behandlungsform, die sie wünschen. Es ist nicht zu leugnen, dass versicherungsrechtliche Vorgaben das ärztliche Handeln zunehmend einengen.34 Dessen ungeachtet bleibt die Risikovorsorge für die Qualität ärztlichen Handelns „in dem mittleren Normalbereich“ weitgehend dem Haftungsrecht und hier nicht zuletzt der Figur des Übernahmeverschuldens überlassen. Man vertraut im Übrigen dem ärztlichen Aus- und Weiterbildungssystem. Öffentlich-rechtliche Spezialregelungen haben eher Seltenheitswert und sind in der Regel besonders risikoträchtigen oder gesellschaftspolitisch oder medizinethisch besonders verantwortungsvollen, vielleicht auch kontroversen Tätigkeiten vorbehalten. Vor dem Hintergrund des einzigen allgemeinen Regulativs, des Heilpraktikergesetzes, regeln sie zum Teil einen Arztvorbehalt, zum Teil einen Facharztvorbehalt, zum Teil statuieren sie auch Anforderungen an die Einrichtung selbst. Es sollte sein Bewenden haben bei einer derartigen punktuellen Form öffentlich-rechtlicher Qualitätsvorsorge. Namentlich sollten wir dem immer wieder aufkeimenden Wunsch, dass der Gesetzgeber in der Auseinandersetzung der Schulmedizin mit alternativen Behandlungsformen (noch) stärker regulierend eingreifen möge, nicht Rechnung tragen.35 Eine allzu starke gesetzliche Zementierung des medizinischen Handlungsfeldes wäre für dessen Weiterentwicklung und damit im Interesse der Patienten und der Gesundheitsvorsorge kontraproduktiv. Insofern mag man diese Problemskizze auch als Anstoß verstehen, sich verstärkt Fragen der Theorie der Regulierung im Bereich des Arztrechts zuzuwenden.36
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Besorgt Katzenmeier, in: Laufs u. a. (Fn. 17), S. 350. Vgl. auch Grupp, Rechtliche Probleme alternativer Behandlungsmethoden, MedR 1992, 256, 263, der feststellt, dass das übliche juristische Instrumentarium durchaus genügt, um die durch alternative Behandlungsmethoden aufgeworfenen rechtlichen Probleme zu erfassen. 36 Dazu schon Jung, Die Rolle des Gesetzgebers auf dem Gebiet des Arztrechts, in: Jung/H. W. Schreiber (Hrsg.), Arzt und Recht zwischen Therapie und Recht, 1981, S. 189. 35
Zur Lockerung der Akzessorietät in § 14 OWiG Von Jürgen Seier I. Einführung: eine Bestandsaufnahme In der komplex angelegten Vorschrift des § 14 OWiG werden gleich an mehreren Stellen Elemente des § 28 StGB aufgegriffen. Dies ist allerdings zum Teil nur bruchstückhaft (§ 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 2 OWiG), zum Teil in stark modifizierter Form (§ 14 Abs. 4 OWiG) geschehen, was – um es vorwegzunehmen – im ersten Fall auf die Eigenarten des Rechts der Ordnungswidrigkeiten zurückzuführen ist: das Einheitstätermodell (§ 14 Abs. 1 S. 1 OWiG) sowie das Geldbußensystem. Der Umgang mit diesen von § 28 StGB entliehenen Regeln bereitet weder der Anwendungspraxis noch dem Schrifttum nennenswerte Schwierigkeiten. Geht es um eine Ordnungsverfehlung, an der mehrere beteiligt sind, besteht in der Beurteilung der Rechtsfolgen – von seltenen Ausnahmen abgesehen – völliger Konsens. Diese Einmütigkeit erstaunt, gehört doch § 28 StGB, an den § 14 OWiG sich anlehnt, ohne Frage zu den kompliziertesten Vorschriften des Allgemeinen Teils. Die Regelung, die abweichend von den §§ 26, 27 StGB eine Akzessorietätslockerung einfordert, ist gespickt mit Streitfragen, die seit Jahrzehnten diskutiert und gerade in jüngster Zeit wieder verstärkt in den Blick genommen werden.1 Das beginnt bereits mit dem nach wie vor ungeklärten Verhältnis des § 28 StGB zu der Nachbarvorschrift des § 29 StGB2, geht weiter mit dem Verständnis der „besonderen persönlichen Merkmale“ und betrifft schließlich auch die Rechtsfolgen des § 28 StGB. Darüber hinaus ist in Einzelfällen die Abgrenzung zwischen strafbegründenden und -ändernden persönlichen Merkmalen fraglich. Zu erinnern ist an den „Klausurklassiker“ aus dem Bereich der Tötungsdelikte: Zur Freude der Klausurensteller ist hier die zwischen BGH und Literatur ausgetragene Kontroverse, ob die subjektiv eingefärbten Mordmerkmale des § 211 StGB strafbegründenden oder strafschärfenden Charakter haben, nach wie vor existent.3 1 Das belegen etliche Festschriftbeiträge und Aufsätze; vgl. etwa Bacigalupo, in: FS für Tiedemann, 2008, S. 253 ff.; Küper, in: FS für Jakobs, 2007, S. 311 ff.; Puppe, ZStW 120 (2008), 504 ff.; Schünemann, in: FS für Küper, 2007, S. 561 ff. 2 Zusammenfassend Joecks, in: MüKo StGB, 2003, § 28 Rn. 11 ff., § 29 Rn. 2 ff. 3 Vgl. einerseits BGHSt 50, 1, 5 f. und andererseits Puppe, StrafR AT 2, 2005, § 43 Rn. 43 ff.; dies., JZ 2005, 902 ff. Bedenken gegen die bisherige st. Rspr. äußert in ei-
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Das Abgrenzungsproblem stellt sich des Weiteren bei den sog. unechten Amtsdelikten. Denn insoweit ist die bislang als mehr oder weniger selbstverständlich empfundene Sicht, dass diese Kategorie im Unterschied zu den echten Amtsdelikten dem § 28 Abs. 2 StGB zuzuordnen ist, stark ins Wanken geraten. Ihr ist – von Lehrbüchern und Kommentaren weitgehend unbemerkt – die Jubilarin entgegengetreten und hat ein Modell entwickelt, demzufolge alle Amtsdelikte (also auch die unrechtssteigernden) dem § 28 Abs. 1 StGB zu überantworten sind.4 Auffällig ist im Übrigen, dass in beiden Absätzen des § 28 StGB die Sachprobleme unterschiedlich gewichtet sind. In Abs. 1 ist die Rechtsfolge der obligatorischen Strafmilderung (§ 49 Abs. 1 StGB) ausdrücklich vorgegeben. Streitig ist insoweit nur, ob Teilnehmer im Fall der Beihilfe ausnahmslos oder nur unter bestimmten Voraussetzungen5 von einer doppelten Strafmilderung profitieren. Die eigentlichen Schwierigkeiten liegen auf der „Tatbestandsseite“, nämlich bei der Frage, welche Tätereigenschaften als besondere persönliche Merkmale einzustufen sind und welche sich bei näherem Hinsehen als nur deliktstypisierend erweisen. Soweit ersichtlich, ist die Lösung bei keinem einzigen Tätermerkmal völlig gesichert6; stattdessen ist die Zuordnung mal mehr, mal weniger umstritten. Genau umgekehrt verhält es sich bei § 28 Abs. 2 StGB. Hier besteht weitgehend Einigkeit darüber, welche strafmodifizierenden Umstände den besonderen persönlichen Merkmalen unterfallen. Offensichtlich lässt man sich davon leiten, dass sich mit subjektiven Voraussetzungen, die die Strafe schärfen, regelmäßig eine erhöhte Verantwortung des Täters für das betroffene Rechtsgut bzw. gesteigerte Pflichten verbinden. Das Kernproblem ist hier auf der Rechtsfolgenseite verborgen, welches das Gesetz von Anfang an – seit 1871 (§ 50 RGStGB) – mit den unverbindlichen Worten: „so gilt das nur für den Beteiligten, bei dem sie vorliegen“ umschreibt. Das lässt Raum für unterschiedliche Deutungen. Man sollte meinen, dass die Fülle von Einzelproblemen jedenfalls zum Teil auf § 14 OWiG zurückfällt. Aber nichts von alledem! Hier herrscht, wenn man so sagen darf, vergleichsweise „dogmatische Ruhe“, und zwar vermutlich deshalb, weil man sich dem Gesamtanliegen des § 14 OWiG – der Vereinfachung und Beschleunigung der Bußgeldpraxis – verpflichtet glaubt.
nem obiter dictum der 5. Strafsenat (BGH, NJW 2006, 1008, 1012 f. m. Bspr. Küper, JZ 2006, 608, 612 f.). 4 Puppe, in: NK StGB 3, 2010, §§ 28, 29 Rn. 6 ff., 35 ff.; dies., AT 2 (Fn. 3), § 43 Rn. 22 f.; dies., ZStW 120 (2008), 504, 517 ff. Erste kritische Stellungnahmen bei Frister, StrafR AT4, 2009, 25/34; Schünemann, in: LK StGB12, 2007, § 28 Rn. 4. 5 So der BGH in st. Rspr. Grundlegend BGHSt 26, 53 ff.; des Weiteren BGH, NStZRR 2006, 109; 2009, 102. 6 Das gilt selbst für die Arzteigenschaft in § 203 StGB (verneinend Lenckner, in: Schönke/Schröder StGB27, 2006, § 203 Rn. 73) sowie die Treupflicht bei § 266 StGB (abermals ablehnend Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder27, § 266 Rn. 52).
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II. Ahndungsbegründende besondere persönliche Merkmale (§ 14 Abs. 1 S. 2 OWiG) 1. § 14 Abs. 1 S. 2 OWiG lehnt sich an § 28 Abs. 1 StGB an, beschränkt sich aber auf die Aussage, dass die Beteiligtenhaftung nicht davon abhängt, dass ahndungsbegründende (Täter-)Merkmale bei jedem Einzelnen vorliegen.7 Wer etwa als Außenstehender an einer Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot (§§ 81 Abs. 2 Nr. 1, 1 GWB) mitwirkt, wird in die solidarische Haftung einbezogen, wenn einer der weiteren Beteiligten die erforderliche Täterqualität aufweist, also entweder der Inhaber des Unternehmens ist oder zu dem in § 9 OWiG benannten Personenkreis gehört.8 Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass in der Praxis Fälle, in denen ein „Nebenbeteiligter“ im Gegensatz zum „Hauptbeteiligten“ das die Ahndbarkeit ermöglichende Tätermerkmal nicht erfüllt, eine erhebliche Rolle spielen. Denn das Recht der Ordnungswidrigkeiten ist geradezu übersät mit Normen, die sich an einen bestimmten Adressaten richten (z. B. Unternehmer, Betriebsinhaber, Gewerbetreibender, Arbeitgeber, Veranstalter, Warenhersteller und -vertreiber, Eigentümer, Arzt, Apotheker, Halter, Führer eines KFZ) und damit der Kategorie der Sonderdelikte unterfallen. Dass § 14 Abs. 1 S. 2 OWiG darauf verzichtet, nichtqualifizierten Beteiligten eine Milderung einzuräumen, wird damit begründet, dass die einzelnen Ordnungswidrigkeiten keine Mindestgeldbuße auswerfen9, es vielmehr durchweg bei der Untergrenze des § 17 Abs. 1 OWiG (5 EUR) verbleibt. Anders als im StGB (§§ 13 Abs. 2, 17 S. 2, 21, 23 Abs. 2, 35 Abs. 2 StGB) findet sich deshalb im gesamten Allgemeinen Teil des OWiG keine einzige Milderungsvorschrift. Damit freilich ist noch nicht gesagt, ob es nicht doch nach dem Vorbild des § 28 Abs. 1 StGB – möglicherweise sogar zwingend – geboten ist, fehlende Täterqualifikationen im Rahmen der Geldbußenbemessung mildernd zu berücksichtigen. 2. Eine solche Forderung ginge indes ins Leere, wenn es sich bei den Täterkriterien a priori nicht um besondere persönliche Merkmale i. S. des § 28 Abs. 1 StGB handeln würde. Das ist teilweise so gesehen worden: Die Sondereigenschaften seien allesamt entweder kraft gesetzlicher Anordnung (§ 14 Abs. 1 S. 2 OWiG)10 oder in der Sache11 als tatbezogene Merkmale zu werten und damit 7 Problematisch erscheint dies, wenn sich der Sonderpflichtige auf typische Teilnahmehandlungen beschränkt und ein Extraneus die übrigen Tatbestandsmerkmale „tatherrschaftlich“ verwirklicht. Dreher (NJW 1970, 217, 220) sprach hier seinerzeit von einem „Schönheitsfehler“; vgl. dazu auch Rengier, in: KK OWiG3, 2006, § 14 Rn. 40 ff. 8 Achenbach, in: Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht 2, 2008, III 5/25. 9 Vgl. etwa Lemke/Mosbacher, OWiG2, 2005, § 9 Rn. 4, § 14 Rn. 10; Rengier, in: KK3 (Fn. 7), § 14 Rn. 39 m.w. Nachw. 10 Bloy, in: FS für Schmitt, 1992, S. 33, 41; ders., Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 158 f. 11 Schumann, Zum Einheitstätersystem des § 14 OWiG, 1979, S. 38 ff.
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auch in den Rechtsfolgen voll akzessorisch zu behandeln. Beide Thesen stehen jedoch im Widerspruch zur Gesetzesbegründung, in der es heißt, dass die Nichtqualifikation eines Beteiligten bei der Geldbußenbemessung mildernd veranschlagt werden könne.12 In der aktuellen Kommentarliteratur wird darüber hinaus an die Möglichkeit erinnert, das Verfahren nach § 47 OWiG einzustellen.13 Diese Hinweise wären verfehlt, wenn sämtliche Subjektsqualitäten von vornherein als reine Unrechtsmerkmale bzw. als „funktional-sachliche“ Merkmale14 zu deuten wären. Denn dann sähe man kein Bedürfnis, den Extraneus besser zu stellen. 3. Diese Empfehlungen haben freilich nur einen unverbindlichen Anstrich; sie überlassen es mehr oder weniger nur dem Zufall, ob der außerhalb der Pflichtenbindung stehende Beteiligte im Bußgeldverfahren tatsächlich eine Milderung erfährt. Es kann demnach nicht ausgeschlossen werden, dass er der Einfachheit halber und der raschen Erledigung wegen dem Sonderpflichtigen in den Rechtsfolgen gleichgestellt wird, obwohl er, wäre er allein tätig geworden, den Tatbestand nicht erfüllen würde. Um dieser möglichen Gleichschaltung vorzubeugen, ist mit Blick auf § 28 Abs. 1 StGB noch ein Schritt weiterzugehen: Sofern sich das Täterkriterium als besonderes persönliches Merkmal erweist, ist die Milderung als „Muss“ zu erachten, weil es sonst zu Wertungswidersprüchen mit dem Strafrecht käme. § 14 OWiG setzt zwar auf das Einheitstäterprinzip und emanzipiert sich damit scheinbar von den strafrechtlichen Teilnahmeregeln. Diese sind aber bereits in gewissem Umfang in § 14 Abs. 2 OWiG angelegt. Darüber hinaus hat sich längst die Auffassung durchgesetzt, dass der Begriff der „Beteiligung“ gänzlich unter dem Vorbehalt der im Strafrecht geltenden Akzessorietätsvoraussetzungen steht: Die Mitwirkung eines Außenstehenden kann nur mit Geldbuße belegt werden, wenn der Tatbeitrag vorsätzlich erbracht wird und sich auf eine vom „Haupttäter“ vorsätzlich begangene Ordnungswidrigkeit bezieht.15 Die Erfordernisse der §§ 26, 27 StGB werden damit komplett auf den Beteiligten übertragen. Dann aber ist es nur konsequent, nicht nur das „Ob“, sondern auch das „Wie“ der Ahndbarkeit dem Strafrecht anzugleichen. Die Milderung für den „Nebenbeteiligten“ ist mithin verbindlich, was konkret bedeutet, dass – den §§ 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 StGB entsprechend – auf höchstens drei Viertel der angedrohten Geldbußenobergrenze erkannt werden darf.16
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Reg.-Vorlage, BT-Drucks. V/1269, S. 49. Gürtner, in: Göhler, OWiG15, 2009, § 14 Rn. 12a; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG3, Stand 2004, § 14 Rn. 26. 14 Zu diesem Begriff vgl. Herzberg, GA 1991, 143, 169. 15 Grundlegend BGHSt 31, 309 ff.; vgl. auch BayObLGSt 1997, 148 f.; 2000, 184, 187; BayObLG, NStZ-RR 2001, 338 f.; OLG Köln, NStZ 1984, 460; OLG Köln, GewArch 1993, 168. Das Schrifttum folgt dem inzwischen fast geschlossen. Abweichend allerdings Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten2, 2005, § 13 Rn. 52 ff. 16 So auch Trunk, Einheitstäterbegriff und besondere persönliche Merkmale, 1987, S. 21 ff. 13
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Gleiches muss folgerichtig für § 27 Abs. 2 StGB angenommen werden, womit dann im Zusammenhang mit § 28 Abs. 1 StGB – so wie im Strafrecht – die Frage einer ggf. zweifachen Ermäßigung zu klären wäre. 4. Spätestens an dieser Stelle droht der grundsätzliche Einwand, alle Vorteile, die man sich von der Verankerung des Einheitstäterbegriffs erhofft hat, verspielt zu haben. Mit der Einführung dieses Instituts war doch erklärtermaßen bezweckt, dem Rechtsanwender den „Aufwand an juristischer Feinarbeit“, der bei der mitunter diffizilen Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme anfällt, zu ersparen.17 Insbesondere bei Massenordnungswidrigkeiten sei es weder möglich noch mit Blick auf die Sanktionen angemessen, die Verwaltungsbehörden mit dieser Aufgabe zu belasten. Die damit verbundenen Vergröberungen glaubte der Gesetzgeber ohne Weiteres in Kauf nehmen zu können: Zum einen stünden ja die Rechtsfolgen des Bußgeldrechts denen des Strafrechts an Gewicht nach, und zum anderen könne dem graduellen Unwertgefälle der Beteiligungsformen, ohne diese als Täterschaft oder Teilnahme zu klassifizieren, bei der Bemessung der Sanktion Rechnung getragen werden.18 5. Darauf ist zu replizieren, dass die Euphorie, die man zu Anfang dem Einheitstäterkonzept entgegenbrachte, schnell verflogen ist. Schon in kürzester Zeit hat sich die Notwendigkeit ergeben, die „Beteiligung“ i. S. des § 14 OWiG an den strafrechtlichen Vorgaben der §§ 26, 27 Abs. 1 StGB auszurichten. Zumindest in Einzelfällen sind hierzu tiefergehende Überlegungen unumgänglich. Sie anzustellen ist beispielsweise erforderlich, wenn ein Nichtqualifizierter eine Ordnungswidrigkeit begeht, an der der Intraneus lediglich als Randfigur mitwirkt.19 Ob dieser dann trotz seiner untergeordneten Rolle mit Sanktionen belegt werden kann, hängt von den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft, insbesondere von der Frage ab, ob diese Täterschaftsform den Fall des „qualifikationslos handelnden Werkzeugs“ miterfasst. Angeführt werden kann überdies das akzessorietätsdurchbrechende Institut der sog. notwendigen Teilnahme, das man ohne jede Einschränkung aus dem Strafrecht übernommen hat.20 Hier gilt es ebenfalls, nicht nur die Schutzrichtung des betroffenen Tatbestandes festzulegen, sondern auch den Beitrag des „notwendig Beteiligten“ auf eine etwaige Rollenüberschreitung hin zu überprüfen. Bliebe man jetzt auf dem halben Wege stehen und würde man wenigstens die Rechtsfolgen – losgelöst vom Strafrecht – „einheitstäterschaftlich“ festlegen, wäre das durch nichts zu rechtfertigen, außer vielleicht durch die Scheu, damit Reg.-Vorlage, BT-Drucks. V/1269, S. 48; vgl. auch Rengier, in: KK OWiG3 (Fn. 7), § 14 Rn. 2. 18 Schwacke, Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht, 1981, S. 42. 19 Das belegt z. B. der Vorlagebeschluss des OLG Koblenz, NStZ 1982, 473 m. Anm. Seier, JA 1983, 98 f. 20 Rengier, in: KK3 (Fn. 7), § 14 Rn. 52 ff. m. zahlr. Beispielen. 17
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auch die letzte Bastion des Einheitstäterprinzips aufzugeben. Die „Rezeption“ auch der §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 2 StGB führt nämlich dazu, dass § 14 OWiG unter dem Strich vollständig von strafrechtlichen Strukturen überlagert wird. Im Grunde bleibt vom Einheitstätermodell nichts mehr übrig, und de lege ferenda wäre es geboten, zu dem ursprünglich geltenden dualistischen Beteiligungssystem (§ 10 OWiG 1952) zurückzukehren, um der Praxis den komplizierten (und überflüssigen) Umweg über § 14 OWiG zu ersparen. Den Ausschlag geben sollte die Entwicklung, die das Ordnungsunrecht mittlerweile genommen hat. Es geht nicht mehr allein um Bagatellsachen oder auch Ordnungsverfehlungen, für die der generelle Bußgeldrahmen des § 17 Abs. 1 OWiG gilt. Vermehrt hinzugekommen sind vor allem im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts Ordnungswidrigkeiten, die eine Höchstgrenze von 1 Mio. EUR und weit darüber vorsehen (§ 81 Abs. 4 GWB, § 39 Abs. 4 WpHG, § 60 Abs. 3 WpÜG, § 130 Abs. 3 S. 1 OWiG sowie verschiedene landesrechtliche Denkmalschutzgesetze) und die in dieser Dimensionierung dicht an eine Geldstrafe heranrücken. Hier dem „Nebenbeteiligten“ die obligatorische Milderung der §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 2 StGB zu verwehren und stattdessen die Geldbußenbemessung ganz in das Ermessen der Ahndungsbehörde bzw. des Richters zu stellen, ist kaum zu verantworten.21 Bedacht werden sollte in diesem Zusammenhang überdies die „Grenzbereich-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts.22 Danach kann (und darf) der Gesetzgeber in der „Grauzone“ nach eigenem Gutdünken darüber entscheiden, ob er ein Fehlverhalten dem Strafrecht oder dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuweist. Verlegt er sich auf die zweite Alternative, liegen dem zumeist bloße Praktikabilitätserwägungen zugrunde. Anders als im Kernbereich ist zudem im Grenzbereich der qualitative Unterschied zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit eingeschmolzen: Die Sanktionsnormen bilden hier kein aliud (mehr), sondern stehen, was im Übrigen auch § 14 Abs. 4 OWiG belegt, in einem „Plus-Minus-Verhältnis“ zueinander. 6. Der Rückgriff auf § 28 Abs. 1 StGB macht es erforderlich, die einzelnen Täterbezeichnungen der Bußgeldvorschriften in Augenschein zu nehmen, um zu ergründen, ob mit ihnen ein besonderes persönliches Merkmal in Rede steht. Wiederum müssen strafrechtliche Wertungen durchschlagen. Nur sieht man sich insoweit vor dem Dilemma, dass die Einordnung schon bei strafrechtlichen Sonderdelikten heillos umstritten und auf dem Gebiet des Ordnungswidrigkeitenrechts gänzlich unerforscht ist. Zu befürchten ist, dass die im Strafrecht zu beobachtende Rechtsunsicherheit sich nicht nur überträgt, sondern angesichts der
21 Darauf, dass der Gesetzgeber die unterschiedlichen Limitierungen der Höchstsätze nicht bedacht hat, weisen bereits Schumann (Fn. 11), S. 71, sowie Welp, VOR 1972, 299, 324 f., hin. 22 BVerfGE 22, 49, 81, 125, 133; 23, 113, 126; 27, 18, 28 ff.; 45, 272, 289.
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Fülle von Sonderordnungswidrigkeiten sogar erheblich zunimmt. Von daher ist die Versuchung groß, sich zu einer bequemen Pauschallösung zu bekennen. Die Täterqualifikationen generell aus dem Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 StGB auszublenden, entspricht, wie schon aufgezeigt, nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers. Unberücksichtigt bliebe zudem, dass zahlreiche Ordnungswidrigkeiten maßgerecht auf den Grundgedanken des § 28 Abs. 1 StGB zugeschnitten sind. Das gilt etwa für § 18 Abs. 1Nr. 1 TierschutzG, der speziell den Halter und Betreuer bußgeldbewehrt verpflichtet, Tieren bei der Haltung, Pflege, Unterbringung oder Beförderung erhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden zu ersparen. Dem Halter bzw. Betreuer obliegt damit eine Sonderverantwortung im Umgang mit „seinen“ Tieren; er steht ihnen gegenüber in einem umfassenden Obsorgeverhältnis23, an dem ein Außenstehender nicht teilhat. Angeführt werden können des Weiteren die bußgeldbewehrten Arbeitsschutzbestimmungen (z. B. § 25 ArbSchG, § 22 AZG, § 58 JArbSchG, § 21 MuSchG) und Unfallverhütungsvorschriften, die dazu dienen, Gefahren von dem einzelnen Arbeitnehmer fernzuhalten.24 Diese Regelungen konkretisieren die allgemeine Fürsorgepflicht, die den Arbeitgeber oder Dienstberechtigten höchstpersönlich trifft und in die ein Dritter nicht eingebunden ist. Bei einem Verstoß wird demnach Sonderunrecht gesetzt, das einem „Nebenbeteiligten“ nicht ungeschmälert zur Last gelegt werden kann. Auf der anderen Seite ginge es zu weit, sämtliche Tätereigenschaften dem § 28 Abs. 1 StGB zu unterstellen. Wenn sich beispielsweise etliche der Ahndungsgrundlagen aus dem Bereich des Straßenverkehrsrechts ausschließlich an den Kraftfahrzeugführer richten, dann liegt das nicht daran, dass dieser für das Rechtsgut der Verkehrssicherheit eine gesteigerte Verantwortung trägt. Die Eingrenzung resultiert vielmehr daraus, dass in den so gestalteten Tatbeständen die Belange des Straßenverkehrs eben nur durch den Fahrer beeinträchtigt werden können. Geschwindigkeitsüberschreitungen, falsches Überholen, zu geringer Abstand, Vorfahrtsmissachtungen etc. sind Verstöße, die zu begehen allein dem Fahrer vorbehalten ist. Das Unrecht dieses gefahrträchtigen Fehlverhaltens wird deshalb nicht durch ein personales Pflichtelement, sondern durch die Notwendigkeit der Täterauswahl geprägt. Wer demnach als „Nichtfahrer“ dazu anstiftet, hat für das Heraufbeschwören der abstrakten Gefahrensituationen in gleichem Maße einzustehen wie der Fahrer selbst. § 28 Abs. 1 StGB dürfte – jedenfalls grundsätzlich – auch nicht auf Ordnungswidrigkeiten aus dem Bereich des Wirtschaftsverkehrs (z. B. § 340n HGB, § 405 AktienG) anwendbar sein.25 Denn die jeweiligen Täterkennzeichnungen wollen 23
Vgl. dazu BayObLG, NStZ-RR 1996, 89 f. OLG Naumburg, NStZ-RR 1996, 229 ff. 25 Ebenso Puppe, ZStW 120 (2008), 504, 513 (Wirtschaftsstraftaten betr.). Vgl. auch BGH, NJW 1992, 3114 f. m. abl. Bspr. Holthausen, NStZ 1993, 568 ff. (zu Straftaten des AWG und des KWKG). 24
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regelmäßig nicht besagen, dass der Verbots- oder Gebotsadressat eine besondere Vertrauensstellung den geschützten (wirtschaftlichen) Interessen gegenüber einnimmt. Mit ihnen wird lediglich dem Umstand Rechnung getragen, dass typischerweise nur der in die Pflicht Genommene die Möglichkeit hat, die Regeln der Wirtschaftsordnung zu verletzen. Bei diesem grundrisshaften Überblick und den wenigen Beispielen muss es im Rahmen dieses Beitrags sein Bewenden haben. Deutlich geworden ist immerhin, dass je nach Funktion des Tätermerkmals von Fall zu Fall zu entscheiden ist: Ein besonderes persönliches Merkmal ist jedenfalls dann gegeben, wenn die Sonderordnungswidrigkeit auf den Schutz individueller Rechtsgüter zielt, die dem Sonderpflichtigen anvertraut sind. Geht es hingegen um Interessen der Allgemeinheit, wird zumeist kein besonderes persönliches (Täter-)Merkmal anzunehmen sein. III. Ahndungsverändernde besondere persönliche Merkmale (§ 14 Abs. 3 S. 2 OWiG) Im Unterschied zu § 28 Abs. 2 StGB werden in § 14 Abs. 3 S. 2 OWiG nur sanktionsausschließende, nicht aber schärfende oder mildernde Merkmale erwähnt. Dieser „Lücke“ dürfte wiederum die Überlegung zugrunde liegen, dass für alle Ordnungswidrigkeiten einheitlich das Geldbußenmindestmaß des § 17 Abs. 1 OWiG gilt. Mit Rücksicht darauf sind im gesamten Recht der Ordnungswidrigkeiten keine Privilegierungstatbestände auffindbar. Auch ahndungssteigernde Tatbestände sind nur äußerst selten anzutreffen, wobei es sich bei den Zusatzvoraussetzungen zumeist um tatbezogene Qualifikationsmomente oder um ahndungsbegründende Merkmale handelt.26 Anführen lässt sich einzig § 23 StVG, der bei Vorliegen von Gewerbsmäßigkeit die Obergrenze der Bußgeldandrohung im Vergleich zu den § 24 StVG i. V. mit §§ 69a Abs. 2 Nr. 7, 22a Abs. 2 S. 1 StVZO drastisch anhebt. Aber auch insoweit bleibt das Bedenken zurück, ob die Gewerbsmäßigkeit – anders als sonst – nicht in Wahrheit dazu dient, gewerbliches Feilbieten von privatem Handeln abzugrenzen.27 Wenn ja, stünde kein besonderes persönliches Merkmal in Rede. Weil ohne bzw. nur von geringer praktischer Bedeutung, darf im Folgenden die Frage, ob ggf. § 28 Abs. 2 StGB heranzuziehen ist, außer Acht gelassen werden. Theoretisch wäre sie zu bejahen, und es bliebe zu klären, wie der Nichtqualifizierte in den Rechtsfolgen zu behandeln ist.
26 27
Zu Beispielen und den Analysen vgl. Rengier, in: KK OWiG3 (Fn. 7), § 14 Rn. 47. Anders König, in: Hentschel/König/Dauer, StVR40, 2009, § 23 Rn. 4.
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IV. Die Regelung des § 14 Abs. 4 OWiG 1. Eine Sonderstellung nimmt die Vorschrift des § 14 Abs. 4 OWiG ein. Sie betrifft die sog. Mischtatbestände, bei denen das Fehlen eines besonderen persönlichen Merkmals dazu führt, dass sich eine Straftat in eine bloße Ordnungswidrigkeit wandelt. Veranschaulicht wird dieses eigentümliche Prinzip allenthalben anhand der Entscheidung BayObLGSt 1981, 44 f. zur unerlaubten Prostitutionsausübung: Eine Prostituierte, die sich beharrlich über ein entsprechendes Verbot hinwegsetzt, macht sich nach § 184e StGB strafbar. In strafrechtlichen Kategorien gedacht, wäre ein Teilnehmer, der selbst nicht beharrlich handelt, ebenfalls aus § 184e StGB (i.V. mit §§ 26, 27 StGB) zu strafen, nur mit dem Unterschied, dass ihm die Strafmilderung des § 28 Abs. 1 StGB zugute käme. Mit dieser Wertung bricht § 14 Abs. 4 OWiG, dem eindeutig zu entnehmen ist, dass der Mitwirkende lediglich (als Einheitstäter) aus § 120 OWiG belangt werden kann. § 14 Abs. 4 OWiG überträgt demnach das Prinzip des § 28 Abs. 2 StGB28 auf gemischte Sanktionsnormen und fingiert, dass bei ihnen Merkmale, die an sich die Strafe begründen, als „strafschärfend“ zu behandeln sind.29 2. Anders als bei den § 120 OWiG, § 184e StGB verhält es sich oftmals so, dass der Sprung von einer Ordnungswidrigkeit zur Straftat nicht allein durch ein besonderes persönliches Merkmal bedingt ist. Der Übergang wird vielmehr durch das kumulative Vorliegen eines persönlichen Merkmals und objektiver Unrechtsfaktoren geschaffen. Dazu zählt etwa § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB, der sich über das Herbeiführen eines Gefährdungserfolgs hinaus durch die Voraussetzungen „grob verkehrswidrig“ und „rücksichtslos“ von den entsprechenden Ordnungswidrigkeiten der StVO (§ 24 StVG i.V. mit § 49 StVO) abhebt. Wer nun an einer grob verkehrswidrigen Gefährdung des Straßenverkehrs beteiligt ist, ohne dass ihn selbst der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit trifft, soll sich nach ganz h. M.30 nicht auf § 14 Abs. 4 OWiG berufen können. Weil die Rücksichtslosigkeit des Kraftfahrzeugführers nur im Verein mit zusätzlichen objektiven Bedingungen in die Strafbarkeit aus § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB führt, bleibt der Beteiligte dem Strafrecht verhaftet, wobei das Fehlen eigener Rücksichtslosigkeit (nur) mit der Strafmilderung des § 28 Abs. 1 StGB zu honorieren ist.31 Diese Lösung ist nicht einsichtig. Wenn nämlich die h. A. dem Teilnehmer die Strafreduktion des § 28 Abs. 1 StGB zubilligt, die Rücksichtslosigkeit also als strafbegründender persönlicher Umstand ausgewiesen wird, dann ist das exakt 28 Direkt ist § 28 Abs. 2 StGB selbstverständlich nicht anwendbar, weil er sich nur auf das Verhältnis von Straftaten zueinander bezieht. 29 BayObLG, NJW 1985, 1566 f. m. Anm. Geerds, JR 1985, 472, und Göhler, NStZ 1986, 18; Cramer, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten, 1971, 11/16. 30 Gürtler, in: Göhler15 (Fn. 13), § 14 Rn. 19; König, in: LK StGB12, 2008, § 315c Rn. 206; Rengier, in: KK3 (Fn. 7), § 14 Rn. 50. 31 Dazu Roxin, StrafR AT II, 2003, § 27 Rn. 9 ff.
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die Konstruktion, die dem § 14 Abs. 4 OWiG zu eigen ist: Geht es um das Verhältnis „Straftat/Ordnungswidrigkeit“, werden aus strafbegründenden Merkmalen i. S. des § 28 Abs. 1 StGB (straf-)schärfende, die nach dem Vorbild des § 28 Abs. 2 StGB zu behandeln sind. Diesem Modell entsprechend verschiebt sich die Haftung des Beteiligten in den Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten.32 3. Weil § 14 Abs. 4 OWiG gewissermaßen eine Verlängerung des § 28 Abs. 2 StGB darstellt, fragt sich, ob die darin angeordnete Deliktsauswechselung auch dafür herhalten kann, die Strafbarkeit zu erweitern. Erläutert sei dies wiederum am „Prostituierten-Fall“, wobei allerdings jetzt ein Rollentausch vorzunehmen ist: Eine Prostituierte (P) geht verbotenerweise der Prostitution nach, ohne dass ihr beharrliches Zuwiderhandeln vorgeworfen werden kann. Demgegenüber kann gegen den Betreiber (B) des „Clubs“, in dem P tätig ist, der Nachweis beharrlicher Missachtung geführt werden.33 An sich könnten beide – P als „Hauptbeteiligte“, B als „Nebenbeteiligter“ – nur aus § 120 OWiG belangt werden. Einhellig anerkannt ist aber, dass B wegen seiner Beharrlichkeit über § 14 Abs. 4 OWiG als Teilnehmer an der Straftat des § 184e StGB einzustufen ist.34 Daran, dass es an einer strafrechtlichen Haupttat fehlt, nimmt, soweit ersichtlich, niemand Anstoß. Stattdessen wird das Haupttaterfordernis der §§ 26, 27 StGB kurzerhand durch das Vorhandensein einer Ordnungswidrigkeit (§ 120 OWiG) ersetzt. Es verwundert, dass es hierzu keine Gegenstimmen gibt.35 Denn dieses Konzept muss gleich aus mehreren Gründen auf Bedenken stoßen. Schon auf den ersten Blick wirkt es befremdlich, einer Norm aus dem OWiG die „Macht“ zuzusprechen, eine Gesetzesverletzung als strafbares Unrecht auszugeben. Zudem fragt sich, ob B im Beispiel auch dann zum Straftatteilnehmer avancieren würde, wenn der P nur Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden könnte. Ein solch tiefer Einschnitt in die Akzessorietätssystematik wäre sicher nicht zu billigen, zumal B in diesem Fall – mangels vorsätzlicher Haupttat36 – nicht einmal an der Ordnungswidrigkeit des § 120 OWiG ahndbar beteiligt gewesen wäre.
32 Im Ergebnis ebenso: Lackner/Kühl, StGB26, 2007, § 28 Rn. 12; Schumann (Fn. 11), S. 67 f. 33 Vgl. hierzu und zum Folgenden BayObLG, NJW 1985, 1566 f. 34 Bohnert, OWiG2, 2007, § 120 Rn. 9; ders., Ordnungswidrigkeitenrecht 3, 2008, Rn. 119; Gürtler, in: Göhler15 (Fn. 13), § 14 Rn. 19, § 120 Rn. 9; Rotberg, OWiG5, 1975, § 14 Rn. 14; Schumann (Fn. 11), S. 67 f. Stellvertretend für die gesamte strafrechtliche Kommentarliteratur: Lenckner/Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder27 (Fn. 6), § 184d Rn. 7. 35 Kritik äußert allein Stelzl, Die Beteiligung am echten und unechten Mischtatbestand nach § 14 IV OWiG unter Berücksichtigung der Akzessorietätssystematik, Diss. Tübingen 1990, S. 170, der sich jedoch weitgehend auf Vorschläge de lege ferenda verlegt. 36 Siehe oben bei Fn. 15.
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Seine „strafrechtliche Aufwertung“ ist überdies mit dem Zweck des § 14 OWiG nicht in Einklang zu bringen. Mit dieser Vorschrift sollte lediglich die Rechtsanwendung erleichtert und damit vereinfacht werden.37 Ihr Ziel war es hingegen gerade nicht, die Sanktionsmöglichkeiten und die Verfolgbarkeit auszuweiten.38 Vor diesem Hintergrund fiele § 14 Abs. 4 OWiG völlig aus dem Rahmen, weil die Regelung sogar den Bereich der Strafbarkeit vergrößern würde. Ein Letztes kommt hinzu: In § 14 Abs. 4 OWiG ist – im Unterschied zu den vorangestellten Absätzen – die Rede von den besonderen persönlichen Merkmalen des „Täters“. Man kann das natürlich als redaktionelle Unsauberkeit abtun. Ebenso möglich ist aber, dass der Gesetzgeber den terminus mit Bedacht gewählt hat und ihn im strafrechtlichen Sinne verstanden wissen will. Diese Vermutung wird dadurch genährt, dass § 14 OWiG und § 28 Abs. 1 StGB bzw. deren Vorläufer (§ 9 OWiG a. F., § 50 Abs. 2 StGB a. F.) zeitgleich konzipiert worden sind. Beide Regelungen sind durch das EGOWiG v. 24.5.1968 eingeführt worden, und mit § 14 Abs. 4 OWiG hat der Gesetzgeber eine Norm geschaffen, die sich an beiden Absätzen des § 28 StGB orientiert und diese ergänzt. Die Annahme, ihm sei bei der Wortwahl des § 14 Abs. 4 OWiG ein Versehen unterlaufen, liegt deshalb eher fern. Hiervon ausgehend müsste B in unserem Beispiel, weil selbst nicht Täter der Straftat des § 184e StGB, von Strafe verschont bleiben; ein Ergebnis, das im Übrigen auch den Vorgaben des § 28 Abs. 1 StGB entspricht. Unterstellt, es gäbe die Ordnungswidrigkeit des § 120 OWiG nicht, müsste B, weil nur er als Teilnehmer das strafbegründende Gesinnungsmerkmal der Beharrlichkeit aufweist, straffrei gestellt werden. Es spricht nach allem Einiges dafür, von § 14 Abs. 4 OWiG nur zugunsten des „Nebenbeteiligten“ Gebrauch zu machen und den Anwendungsbereich der Norm auf diesen Fall zu beschränken. V. Die Tatbestandslösungen der § 14 Abs. 4 OWiG, § 28 Abs. 2 StGB Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass § 14 OWiG durch Übernahme des Akzessorietätsprinzips und seiner Lockerungen weitestgehend „strafrechtskonform“ auszulegen ist. Zum Abschluss sei der Frage nachgegangen, ob § 14 Abs. 4 OWiG nicht seinerseits den Umgang mit § 28 Abs. 2 StGB beeinflusst.
37 Gürtler, in: Göhler15 (Fn. 13), § 14 Rn. 2 u. Hinw. auf die Gesetzesbegründung zu § 9 OWiG a. F. 38 Cramer (Fn. 29), 11/7; Herzberg, Die Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb, 1984, S. 109 ff.
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1. Die Rechtsprechung39 und h. L.40 verstehen § 28 Abs. 2 StGB bekanntlich als Tatbestandsverschiebungsregel. Strafschärfende besondere persönliche Merkmale entziehen sich der Zurechnung mit der Folge, dass trotz einer einheitlichen Tat Täter und Teilnehmer aus unterschiedlichen Strafgrundlagen haften. Die Crux dieser herkömmlichen Lesart ist, dass sie sich in Widerspruch zu § 28 Abs. 1 StGB setzt. Wenn nämlich in § 28 Abs. 2 StGB die persönlichen Merkmale als nichtakzessorisch gewertet werden, müssten konsequenterweise Teilnehmer, bei denen strafbegründende besondere persönliche Umstände fehlen, straffrei bleiben. Das lässt indes § 28 Abs. 1 StGB nicht zu, der den Extranei lediglich eine Strafermäßigung zubilligt41 und somit die persönlichen Merkmale als (halb-)akzessorisch behandelt. Diese offenkundige Ungereimtheit hat jedoch aus der Sicht der h. A. allein der Gesetzgeber zu vertreten. Wenn überhaupt, verweist man in aller Kürze auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des § 28 StGB42 und verlegt sich im Übrigen weitgehend darauf, die Schwächen und Gebrechen der Gegenpositionen aufzuzeigen. 2. Mit dem erklärten Ziel, den Gleichklang zwischen § 28 Abs. 1 und Abs. 2 StGB herzustellen und dem Strafgrund der Teilnahme besser gerecht zu werden, erachten zahlreiche Autoren § 28 Abs. 2 StGB ebenfalls als Strafzumessungsregel43: Der Extraneus hat danach für das von ihm bewirkte oder geförderte qualifizierte Haupttatunrecht sehr wohl einzustehen; lediglich der Strafrahmen ist dem Grunddelikt zu entnehmen. Wer also als Privatperson den zuständigen Amtsträger dazu bewegt, dienstlich verwahrte Schriftstücke beiseite zu schaffen, macht sich aus §§ 133 Abs. 3, 26 StGB strafbar. Für das Strafmaß ist allerdings § 133 Abs. 1 StGB zuständig. 3. Ein Unterschied zur h. M., die hier auf §§ 133 Abs. 1, 26 StGB erkennen würde, scheint damit im Ergebnis nicht zu bestehen. Dennoch ist nicht zu über39
BGH, StV 1994, 17; 1995, 84; BGH, NStZ 2000, 197 f.; 2007, 526; 2009, 95. Grünwald, in: FS für Arnim Kaufmann, 1989, S. 555, 564; Jescheck/Weigend, StrafR AT5, 1996, S. 657; Krey, StrafR AT 23, 2008, Rn. 233 ff.; Küper, ZStW 104 (1992), 559, 581; ders., in: FS für Jakobs, 2007, 311, 322; Mitsch, ZStW 110 (1998), 187, 121 ff.; Schünemann, in: LK12 (Fn. 4), § 28 Rn. 9, 12; Wessels/Beulke, StrafR AT39, 2009, Rn. 557. 41 Vor Inkrafttreten des § 28 Abs. 1 StGB (§ 50 Abs. 2 StGB a. F.) war sogar anerkannt, dass der Außenstehende – von § 27 Abs. 2 StGB abgesehen – ohne Abstriche aus der Tätertat strafbar ist. Vgl. RGSt 4, 184 ff.; 22, 51 ff.; 25, 234 ff.; 55, 181 f.; 59, 140 f.; BGHSt 5, 75, 81 f.; 6, 260 f.; 8, 205, 208. Nachweise aus der Literatur bei Hake, Beteiligtenstrafbarkeit und „besondere persönliche Merkmale“, 1994, S. 22 Fn. 68, S. 28 Fn. 93. 42 Lackner/Kühl26 (Fn. 32), § 28 Rn. 1; vgl. auch Frister, StrafR AT, 25/34 ff. 43 So – im Anschluss an Cortes Rosa, ZStW 90 (1978), 413 ff. – u. a. Hake (Fn. 41), S. 140 ff.; Hirsch, in: FS für Tröndle, 1989, S. 19, 35; ders., in: FS für Schreiber, 2003, S. 153, 162 ff.; Hoyer, in: SK StGB8, Stand 2009, § 28 Rn. 5, 45; Roxin, StrafR AT II (Fn. 31), § 27 Rn. 16 ff.; Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 40 ff. 40
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sehen, dass die Strafzumessungslösung den Teilnehmer mit einem schwereren Tatvorwurf stigmatisiert, was im Übrigen auch Auswirkungen auf den Versuch der Beteiligung (§ 30 StGB) sowie den Ablauf der Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 4 StGB) hat. Weitere nachteilige Konsequenzen ergeben sich im Zusammenhang mit den §§ 340, 223 StGB.44 Der auf §§ 340, 26/27 StGB lautende Schuldspruch hat für den nichtqualifizierten Beteiligten zur Folge, dass er sich nicht auf eine Einwilligung und nicht auf einen fehlenden Strafantrag (§ 230 StGB) berufen kann. Der Preis, den der Teilnehmer für seine Hochstufung im Urteilstenor zu zahlen hat, ist also unter Umständen ein beträchtlicher. Aber das ist ein Vorhalt, der die Anhänger dieser Theorie sicher nicht zu beeindrucken vermag, weil eben im Einzugsbereich des § 28 Abs. 1 StGB nichts anderes gilt. 4. Statt (negativ) Kritik zu üben, sollte die Tatbestandslösung ihre Trumpfkarten ausspielen, d.h. die positiven Begründungen stärker in den Vordergrund rücken und dabei insbesondere § 14 Abs. 4 OWiG in die Betrachtung einbeziehen.45 Vor dieser Regelung, die nur im Sinne einer Tatbestandsverschiebung verstanden werden kann, muss die Strafzumessungslösung vollends kapitulieren. Hier mit einem bloßen Sanktionsaustausch zu arbeiten wäre nachgerade absurd. Denn das hieße im „Prostituierten-Fall“46, dass die Verurteilung des nichtqualifizierten Teilnehmers wegen einer Straftat aus §§ 184e i. V. mit 26/27 StGB mit dem „Strafausspruch“ einer Geldbuße nach § 120 OWiG verknüpft werden müsste. Weil § 14 Abs. 4 OWiG als Weiterführung des § 28 Abs. 2 StGB gedacht ist, muss davon ausgegangen werden, dass zumindest der Reformgesetzgeber auf die Tatbestandslösung gesetzt hat. Nun mag man über den Wert der historischen Auslegungsmethode trefflich streiten.47 Wenn aber – wie hier – hinzu kommt, dass § 14 Abs. 4 OWiG die Rechtsfolgenumschreibung des § 28 Abs. 2 StGB wortgetreu übernimmt, dann ist das als die gesetzgeberische Entscheidung zu akzeptieren. Den miteinander verwandten Gesetzesbestimmungen trotz übereinstimmender Wortfassung unterschiedliche Deutungen zu geben, wäre also weder mit dem Regelungswillen des Gesetzgebers noch mit der Systematik zu vereinbaren.48
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Dazu ausführlich Roxin, StrafR AT II (Fn. 31), § 27 Rn. 20 f. So auch Mitsch, ZStW 110 (1998), 187, 203; abweichend Hirsch, in: FS für Schreiber, S. 153, 168, wonach sich aus der dem Einheitstäterbegriff verschriebenen Vorschrift nichts ableiten lässt. 46 Siehe oben bei Fn. 29. 47 Hierzu vor allem Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts2, 2008, Rn. 224. 48 Gegen diesen Einwand gefeit ist das Lösungskonzept der Jubilarin (s. o. Fn. 4), die die unechten Amtsdelikte aus § 28 Abs. 2 StGB ausgliedert und dem Abs. 1 zuschlägt. Nur fragt sich, ob sich ihr Modell wirklich auf Amtsdelikte beschränken lässt oder auch andere Fälle – etwa die veruntreuende Unterschlagung, § 246 Abs. 2 StGB – erfasst. 45
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VI. Fazit Es hat sich gezeigt, dass § 28 StGB und § 14 OWiG mannigfach miteinander verknüpft sind und sich in ihrer Auslegung wechselseitig beeinflussen. So ist bei Abwesenheit ahndungsbegründender persönlicher Merkmale (§ 14 Abs. 1 S. 2 OWiG) nach dem Muster des § 28 Abs. 1 StGB zu verfahren: Die Geldbuße ist für den Beteiligten obligatorisch zu mildern. § 14 Abs. 4 OWiG lässt seinerseits Rückschlüsse auf die Deutung des § 28 Abs. 2 StGB zu. Beide Vorschriften durchbrechen die Akzessorietät und zwar in der Weise, dass Täter und Teilnehmer bzw. „Haupt- und Nebenbeteiligter“ aus unterschiedlichen Sanktionsnormen haften. § 14 Abs. 4 OWiG entfernt sich allerdings insofern von § 28 Abs. 2 StGB, als er den Übergang vom Ordnungswidrigkeitenrecht ins Strafrecht nicht erlaubt. Die Regelung dient nur einseitig dazu, den nichtqualifizierten Straftatteilnehmer zu entlasten.
Alkoholverbot für Fahranfänger und Fahranfängerinnen Zur Gesetzgebungspraxis im Ordnungswidrigkeiten- und Straßenverkehrsrecht am Beispiel von § 24c StVG Von Ulrich Stein I. Ist die Droge Alkohol legal? Natürlich darf man die häufig zu hörende und zu lesende Bemerkung, Alkohol sei eine – oder gar „die“ – legale Droge, nicht ganz wörtlich nehmen. Gemeint sein kann damit sinnvollerweise nur, dass der Umgang mit Alkohol grundsätzlich nicht in weiter gehendem Maße verboten ist als derjenige mit anderen, nicht psychotropen Substanzen, die bei bestimmter Verwendung gefährlich sein können. Es kommen namentlich drei Arten von Verboten in Betracht: 1. Erstens ist es wegen der physiologischen Wirkungen – genauer: zum Schutz der Gesundheit des Betroffenen – untersagt, einem anderen ohne dessen wirksame Disposition Alkohol zuzuführen (es sei denn, die Menge ist so gering, dass nennenswerte physiologische Wirkungen ausgeschlossen sind). Insofern gilt nichts anderes als beispielsweise für die Verabreichung von Säuren, Laugen, Giften usw. Verletzungen dieses Verbots können gegebenenfalls als Körperverletzungs-, in Extremfällen als Tötungsdelikte strafbar sein. In diesen Zusammenhang gehören auch Verbote, an bestimmten Orten Alkohol an Kinder oder Jugendliche abzugeben oder ihnen den Alkoholkonsum zu gestatten (§ 9 JuSchG); sie beruhen auf der Einschätzung des Gesetzgebers, dass dieser Personenkreis typischerweise noch nicht in hinreichendem Maße in der Lage ist, die Wirkungen und damit auch die Gefahren des Alkoholkonsums verständig zu beurteilen und auf dieser Basis eine eigenverantwortliche Disposition zu treffen. Vorschriften mit dieser Funktion und dieser Strukturierung gibt es nicht nur mit Bezug auf Alkohol, sondern es ist darüber hinaus beispielsweise verboten, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu anderen gesundheitsschädlichen Stoffen (Tabak, § 10 JuSchG), zu sonstigen die Persönlichkeitsentwicklung gefährdenden Gegenständen (Bild- und Spielesoftwareträger, Bildschirmspielgeräte, jugendgefährdende Trägermedien, §§ 12 ff. JuSchG), zu potenziell jugendgefährdenden Veranstaltungen (Tanzveranstaltungen, § 5 JuSchG, Glücksspielen, § 6 Abs. 2 JuSchG, bestimmte öffentliche Veranstaltungen, § 7 JuSchG) oder zu Orten, an denen die Persönlichkeitsentwicklung, die Gesundheit oder Vermögen gefährdet werden
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kann (Gaststätten, § 4 JuSchG, Spielhallen, § 6 Abs. 1 JuSchG, bestimmte Gewerbebetriebe, § 7 JuSchG), zu ermöglichen. Das Straßenverkehrsrecht betreffen diese Normen nur dann, wenn sie über den Schutz der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen hinaus auch die Funktion haben zu verhindern, dass es aufgrund Alkoholkonsums zu gefährlichem Verhalten im Straßenverkehr kommt. Dieser Frage soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Ein spezifischer Bezug zu § 24c StVG jedenfalls besteht offenkundig nicht. 2. Anders verhält es sich bei der zweiten Art von Verboten. Sie erstrecken sich auf bestimmte, den Straßenverkehr betreffende Verhaltensweisen nach Alkoholkonsum, weil diese infolge der spezifischen Wirkung des Alkohols konkret oder wenigstens typischerweise für andere gefährlich sind. Hierzu gehören die Verhaltensnormen, die durch § 316 und § 315c Abs. 2 Nr. 1, Abs. 2, Abs. 3 StGB strafbewehrt sind (Führen eines Fahrzeugs im Zustand der sog. Fahruntüchtigkeit), ferner das in § 24a Abs. 1, Abs. 3 StVG mit Geldbuße und Fahrverbot bewehrte Verbot (sog. 0,5-Promille-Grenze). Auch diese Normen sind keine auf den Alkohol beschränkte Besonderheit, sondern § 316 und § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassen in gleicher Weise („infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel“) sämtliche legalen wie illegalen Drogen, die eine dem Alkohol vergleichbare Wirkung haben, also auch zahlreiche Medikamente. Ergänzend enthält § 24a Abs. 2, Abs. 3 StVG ein mit Bußgeld- und Fahrverbotsandrohung bewehrtes Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen nach Konsum bestimmter illegaler, in der Anlage zu dieser Vorschrift aufgelisteter Drogen. Korrespondierende Normen gibt es auch hier für die Konstellationen der nicht auf Drogenkonsum, sondern auf anderen Gründen beruhenden Einschränkung der Fahrtüchtigkeit: § 315c Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 StGB erfasst das Führen von Fahrzeugen trotz Fahruntüchtigkeit infolge „geistiger oder körperlicher Mängel“, also beispielsweise infolge der Anwendung sonstiger Medikamente (etwa von Augensalben, die einen Schmierfilm auf der Hornhaut bilden und dadurch die Sehfähigkeit herabsetzen) oder schlichter Übermüdung. Ganz offensichtlich gehört jedenfalls auch die zweite Variante von § 24c StVG (Fahrtantritt unter der Wirkung eines alkoholischen Getränks) in diesen Zusammenhang: Diese Vorschrift erweitert – als Parallele zu § 24a Abs. 1, Abs. 3 StVG – das sanktionsbewehrte Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen unter Alkolholeinfluss „nach unten“, d. h. in den Bereich unterhalb einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,5‰ bzw. einer Atemalkoholkonzentration (AAK) von 0,25 mg/l. 3. Schließlich gibt es drittens sanktionsbewehrte Verbote, sich in einen bestimmten Zustand zu versetzen (und Gebote, einen bestimmten Zustand zu verhindern oder zu beseitigen), wenn konkret absehbar ist, dass man in diesem Zustand nicht in der Lage sein wird, bestimmte Verhaltenspflichten, deren Entstehung ebenfalls konkret absehbar ist, zu erfüllen – sei es, dass man sich schon die Fähigkeit zur Handlungssteuerung, sei es, dass man sich die Einsichts- und/oder die Steuerungsfähigkeit nimmt. Ein solcher Zustand kann auf unterschiedlichsten
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Wegen herbeigeführt werden, z. B. indem man es unterlässt, Maßnahmen gegen das Abgleiten in einen schuldausschließenden Affekt zu ergreifen,1 indem man (etwa, um ein bereits angeführtes Beispiel aufzugreifen, durch Applikation einer sehbehindernden Augensalbe) die kognitive Fähigkeit zur Erfüllung einer Garantenhandlungspflicht (§ 13 Abs. 1 StGB) beseitigt oder indem man durch Konsum von legalen – namentlich Alkohol – oder illegalen Drogen seine Steuerungsfähigkeit aufhebt. Führt dies in zurechenbarer Weise zur Verletzung oder zum Tod eines anderen, kann der Tatbestand der vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung bzw. des Totschlags oder der fahrlässigen Tötung, jeweils durch Begehen oder durch Unterlassen, verwirklicht sein (sog. actio oder omissio libera in causa). Für die Straßenverkehrsdeliktstatbestände sind diese Konstellationen zwar nicht von spezifischer Bedeutung, denn die Tatbestände sind durchweg als sog. eigenhändige Delikte strukturiert, bei denen die Grundsätze der actio bzw. omissio libera in causa schon wegen des Analogieverbots nicht eingreifen können.2 Das heißt aber zunächst einmal nur, dass solche Straftatbestände nicht verwirklicht sind; ob dennoch die zugrunde liegenden Verhaltensnormen verletzt und lediglich insoweit nicht strafbewehrt sind, ist eine andere Frage, der hier nicht nachgegangen werden soll. Eine wichtige Ergänzung ist das durch § 323a StGB und § 122 OWiG sanktionsbewehrte Konsumverbot: Es ist untersagt, sich durch „alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel“, also durch legale oder illegale Drogen, in einen „Rausch“ zu versetzen, d. h. in einen Zustand, der seiner Art nach geprägt ist durch eine Minderung des psychophysischen Leistungsvermögens, die der spezifischen Wirkungsweise des Alkohols entspricht oder, bei „anderen Mitteln“, mit dieser vergleichbar ist. Erhebliche Probleme bereitet die Frage, welchen Mindestschweregrad diese Leistungsminderung haben muss. Je niedriger man die Schwelle ansetzt, umso weiter wird das Konsumverbot ausgedehnt, und zwar auf Verhaltensweisen mit immer geringerem Gefährlichkeitsgrad, so dass die Legitimation schon der Verhaltensnorm im Hinblick auf das Grundrecht der Verhaltensfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immer schwieriger wird. Außerdem sind die jeweils zusätzlich erfassten Fälle dadurch geprägt, dass das eigentlich zu verhindernde Verhalten – z. B. das Zuschlagen bei Tötungs- und Körperverletzungsdelikten, das Führen von Kraftfahrzeugen bei Straßenverkehrsdelikten – immer stärker eigenverantwortlich und immer weniger durch eine enthemmende Wirkung des vorangegangenen Konsums mitmotiviert ist; daher kann die Rechtsordnung in immer stärkerem Maße auf ein flankierendes Verbot schon des Rauschmittelkonsums verzichten. Es verwundert nicht, dass die Auslegung des Merkmals „Rausch“, was den Mindestschweregrad anbetrifft,
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Siehe z. B. BGHSt 35, 143 (145 f.). Spätestens seit der Entscheidung BGHSt 42, 235 (238 ff.) ist dies ganz herrschende Meinung. 2
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in besonderem Maße umstritten ist: Während sich die herrschende Meinung am Begriff der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) orientiert,3 setzen andere die Grenze tendenziell niedriger an.4 Jedenfalls aber, so sollte man meinen, wird der Gesetzgeber keine Veranlassung sehen, zur Verhinderung eines anschließenden rauschmittelbedingt gefährlichen Verhaltens einen noch geringeren Konsum zu verbieten, denn insoweit genügt das Verbot des späteren gefährlichen Verhaltens. Ein Blick in § 24c StVG belehrt jedoch eines Besseren: Die zweite Tatbestandsvariante – „wer . . . alkoholische Getränke zu sich nimmt“ – enthält schon dem Wortlaut nach ganz eindeutig ein Verbot des Konsums, und zwar, wie sich dann aus der Interpretation des Tatbestands ergibt, gerade auch des Konsums einer Alkoholmenge, die nicht einmal zu einer BAK von 0,5‰ führen kann. II. Sind Fahranfänger und Fahranfängerinnen gefährlich? Natürlich sind Fahranfänger und Fahranfängerinnen nicht gefährlicher als andere Personen, wohl aber ist es sinnvoll und legitim, das Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen nach geringfügigem Alkoholkonsum auf Angehörige dieses Personenkreises zu beschränken, denn wenn sie ein solches Verhalten an den Tag legen, ist es gefährlicher, als wenn andere das Gleiche tun. Allerdings gibt die an die gesetzliche Überschrift angelehnte Bezeichnung „Fahranfängerinnen und Fahranfänger“ nicht den gesamten Adressatenkreis wieder. Die Überschrift stammt noch aus der ursprünglichen Fassung des Gesetzentwurfs5 und wurde nicht angepasst, obwohl der Adressatenkreis der Norm auf Vorschlag des Bundesrats und des Verkehrsausschusses6 erweitert wurde. Er nennt jetzt zwei Personengruppen, die sich teilweise überschneiden: 1. Erfasst sind zunächst Fahrzeugführer „in der Probezeit gem. § 2a“, d. h. Personen, denen eine Fahrerlaubnis gem. § 2a StVG auf Probe erteilt worden ist, solange diese Probezeit, die in der Regel zwei Jahre beträgt, noch nicht abgelaufen ist. Der Gesetzgeber kann sich insoweit auf Untersuchungen stützen, die belegen, dass gerade bei dieser Personengruppe (weitgehend unabhängig vom Le3 BayObLG NJW 1978, 957; OLG Karlsruhe NJW 2004, 3356 (3357); OLG Köln DAR 2001, 230; OLG Zweibrücken NZV 1993, 488 (488); offen gelassen von BGHSt 32, 48 (54) m. krit. Bespr. von Dencker, JZ 1984, 453 ff. Aus dem Schrifttum statt vieler: Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, § 323a Rn. 8a; Dencker, NJW 1980, 2159 (2164); Geisler, in: Münchner Kommentar, StGB, 2006, § 323a Rn. 21. 4 So z. B. Puppe, Jura 1982, 281 (285 ff.): „Sozialuntüchtigkeit“; früher nur terminologisch anders dies., GA 1974, 98 (109): „Verkehrsuntüchtigkeit“; ähnlich Horn, JR 1980, 1 ff.: Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens durch Herabsetzung der „Gesamtleistungsfähigkeit“; sehr weitgehend Montenbruck, GA 1978, 225 (230 ff.): sog. absolute Fahruntüchtigkeit i. S. von §§ 315c, 316 StGB. 5 Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 5. 6 Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 11 f.; 16/5398, S. 1, 3.
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bensalter) ein signifikant erhöhtes Unfallrisiko auch schon nach geringem Alkoholkonsum besteht.7 Insofern hat der Gesetzgeber eine durchaus plausible typisierende Eingrenzung vorgenommen. Nicht bedacht hat er aber offenbar, dass es genau genommen gar nicht auf die Existenz einer noch auf Probe geltenden Fahrerlaubnis ankommen kann, sondern auf die Nichtexistenz einer endgültig erteilten Fahrerlaubnis für die jeweilige Fahrzeugklasse. Es gibt offenbar keine Untersuchungen über das alkoholspezifische Unfallrisiko von Kraftfahrzeugführern, die die erforderliche Fahrerlaubnis nicht besitzen. Aber eine Plausibilitätsüberlegung ergibt eindeutig, dass das erhöhte Risiko bei ihnen erst recht besteht, sofern sie nicht in der näheren Vergangenheit (wobei ein Zeitraum von fünf Jahren plausibel sein dürfte) die Fahrerlaubnis besessen haben. In der Regel hat diese „Lücke“ zwar keine praktische Bedeutung, weil eine Straftat nach § 21 StVG vorliegt und die Ordnungswidrigkeit gem. § 21 Abs. 1 OWiG dann subsidiär wäre. Ist aber ausnahmsweise eine Bestrafung nicht möglich, etwa weil weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit hinsichtlich der Nichtexistenz der erforderlichen Fahrerlaubnis nachweisbar sind, oder wird aus anderen Gründen keine Strafe verhängt (s. § 21 Abs. 2 OWiG), dann ist die missliche Konsequenz, dass auch eine Ahndung nach § 24c StVG ausgeschlossen ist. Nicht erfasst sind ferner Fahrschüler bei Ausbildungs- und Prüfungsfahrten; auch insoweit ist die Restriktion nicht zweckmäßig,8 aber aufgrund der Überlegung diskutabel, dass immerhin eine Aufsicht durch den Fahrlehrer vorhanden ist. Jedenfalls ist bei der Interpretation der lex lata zu beachten, dass es – was der Wortlaut nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt – stets nur auf die Existenz einer für das jeweilige Führen erforderlichen Fahrerlaubnis auf Probe ankommen kann. Dies ist eine Konsequenz aus der de lege ferenda verfehlten Beschränkung des Verbots auf Fahrerlaubnisinhaber, die aber gezogen werden muss, um weitere evidente Ungereimtheiten zu vermeiden. Soweit das Führen bestimmter Fahrzeugarten (z. B. Mofas) gem. § 4 Abs. 1 S. 2 FeV nicht fahrerlaubnispflichtig ist, kann diese erste Täterkreisvariante von § 24c StVG schon deshalb nicht eingreifen (oder sollte das Führen eines Mofa bei 0,2‰ BAK allein dadurch zur Ordnungswidrigkeit werden, dass man eine Fahrerlaubnis auf Probe für Motorräder und damit typischerweise bereits eine gewisse gefährlichkeitsmindernde Fahrerfahrung besitzt?). Das Gleiche gilt mit sinngemäßer Begründung, 7 Hansjosten/Schade, Legalbewährung von Fahranfängern, Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 71, 1997; Preusser, BAC and Fatal Crash Risk, in: ICADTS Symposium Report „The Issue of Low BAC“, 2002, S. 937; Sardi/Evers, Drinking and Driving, in: Cauzard, European Drivers and Road Risk, SARTRE 3 reports – Part I: Report on Principle Results, 2004, S. 42. – S. dazu die Entwurfsbegründung, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 7 f. 8 Ebenso König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht40, 2009, § 24c StVG Rn. 6.
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wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe nur für Pkw einen Lkw steuert, und wenn ein Fahrschüler, der eine Fahrerlaubnis auf Probe besitzt, zur Erweiterung der Fahrerlaubnis Ausbildungs- und Prüfungsfahrten unternimmt. 2. Auf Betreiben des Bundesrats und des Verkehrsausschusses, die sich auf Statistiken über alkoholbedingte Unfälle junger Fahrer stützten,9 wurden als zweite Personengruppe die Unter-21-Jährigen einbezogen. Allerdings liegt insoweit die statistische „Belastungsspitze“ erst bei den 25-Jährigen, was eine entsprechend höhere Altersgrenze nahe gelegt hätte. Insoweit vermag weder das Argument des Bundesrats zu überzeugen, eine Grenze bei 25 Jahren wäre „ungewöhnlich“, noch sein Hinweis auf einen „gewissen Erziehungs- oder Gewohnheitseffekt“ „bei einer mindestens dreijährigen Übung des Fahrens ohne Alkohol“, denn immer dann, wenn die Fahrerlaubnis mit Vollendung des 19. Lebensjahres oder später erworben wurde, dauert diese „Übung“ in der Regel nicht länger als die Regeldauer der Probezeit, also zwei Jahre. Eigenständige Bedeutung bekommt diese zweite Fallgruppe immer dann, wenn die Fahrerlaubnis vor Vollendung des 19. Lebensjahres erworben wurde, vor allem auch beim sog. „Begleiteten Fahren ab 17“, sowie für Ausbildungs- und Prüfungsfahrten von Fahrschülern vor Vollendung des 21. Lebensjahres, außerdem (sofern ausnahmsweise keine Bestrafung gem. § 21 StVG erfolgt) für das „selbstständige“ Fahren von Unter-21-Jährigen ohne die erforderliche Fahrerlaubnis. Offenbar unbeachtet geblieben ist bislang eine zusätzliche, praktisch sehr bedeutsame (und konsequente) Erweiterung: Nach ihrem ganz eindeutigen Wortlaut erstreckt sich die Vorschrift auf Führer aller Arten von Kraftfahrzeugen,10 nicht nur der fahrerlaubnispflichtigen, und in gesetzessystematischer Hinsicht wird dies vor allem durch einen Vergleich mit § 24a StVG bestätigt, wo die praktisch gleiche Formulierung eindeutig und unbestrittenermaßen so gemeint ist. Auch das Führen von Mofas, motorisierten Krankenfahrstühlen, bestimmten Mobilitätshilfen sowie land- und forstwirtschaftlichen Zugmaschinen (§ 4 Abs. 1 S. 2 FeV) fällt also bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres unter § 24c StVG. III. Was ist ein alkoholisches Getränk? Nicht durchgesetzt hat sich der Bundesrat mit seinem Vorschlag,11 in Anlehnung an die Formulierung von § 24a Abs. 2 StVG und inhaltlich (abgesehen vom Fehlen einer festen BAK- bzw. AAK-Grenze) an § 24a Abs. 1 das Führen von 9 Stellungnahme des Bundesrats, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 11 f.; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Bundestags-Drucks. 16/5398, S. 3. 10 Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (792). 11 Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 12 f. – Auch ein großer Teil des Schrifttums hält die Beschränkung des Tatbestands auf Getränke für verfehlt: Hufnagel, NJW 2007, 2577 (2579 f.).
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Fahrzeugen „unter der Wirkung von Alkohol“ – unabhängig von der Art der Zubereitung und des Konsums – zu erfassen. Eine solche Gesetzesfassung hätte nicht zuletzt auch dem in der Entwurfsbegründung betonten Anliegen entsprochen, ein „klares und verständliches Signal“ zu setzen, „dass Fahren und Trinken nicht zu vereinbaren sind“12 (wobei „Trinken“ in diesem Zusammenhang nur in einem weiten, jede Form des Alkoholkonsums umfassenden Sinne gemeint sein kann). Die Bundesregierung mochte diesem Vorschlag nicht folgen, weil dadurch die erste Verhaltensvariante (Zusichnehmen eines alkoholischen Getränks während der Fahrt) entfallen und „die klare Botschaft eines absoluten Verbots für Fahranfänger, alkoholisiert ein Fahrzeug zu führen, . . . damit aufgeweicht“ worden wäre.13 Eine hinreichende Begründung dafür, weshalb nicht die Formulierung „alkoholische Getränke“ durch „Alkohol“ ersetzt wurde, liegt in dieser Erläuterung der Bundesregierung nicht. Als Ergänzung folgt lediglich der Hinweis, dass „Lebensmittel“ nicht erfasst seien (gemeint sein dürfte: alkoholhaltige Nahrungs- und Genussmittel in ganz oder überwiegend fester, jedenfalls nicht trinkbarer Form),14 und dass die bestimmungsgemäße Einnahme von Medikamenten die Fahreignung oft erst herstelle und sich daher auf die Verkehrssicherheit positiv auswirken könne (wobei jedoch der Grund für den Ausschluss auch des nicht medizinisch indizierten Medikamentenkonsums offen bleibt und im Übrigen das Wort „Getränke“ den Ausschluss von Medikamenten höchstens andeutungsweise zum Ausdruck bringt). Was unter „Getränk“ zu verstehen ist, bleibt damit in hohem Maße interpretationsbedürftig. Zwar nicht dieses Merkmal, wohl aber seine Interpretationsbedürftigkeit ist neu, denn in § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und § 316 StGB ist es ergänzt durch „andere berauschende Mittel“, worunter auch alkoholhaltige Substanzen fallen, die keine Getränke sind. Doch ist dies nicht die einzige durch die Gesetzesfassung verursachte Schwierigkeit. Klar ist ebenso wenig, ob jedes auch nur in geringem Maße alkoholhaltige Getränk ein alkoholisches i. S. von § 24c StVG ist oder ob bzw. in welcher Weise diese Frage differenziert beantwortet werden muss. Und nicht zuletzt wäre es interessant zu wissen, ob diese Eingrenzungen, namentlich diejenige auf Getränke, nicht nur für die Sanktionsandrohung gelten, sondern auch schon für die zugrunde liegende Verhaltensnorm, oder ob sich umgekehrt die Verbotsnorm auf den Konsum (bzw. das Fahren nach dem Konsum) von Alkohol jeder Zubereitungsform erstreckt (so dass auch das Fahren nach dem Genuss von Wodka-Götterspeise oder Rum12
Entwurfsbegründung, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 7. Gegenäußerung der Bundesregierung, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 14. 14 Eine Begründung hierfür gibt Krell, SVR 2007, 321 (324): Die Einbeziehung von „Lebensmitteln“ wäre unverhältnismäßig, weil der genaue Alkoholgehalt nicht immer ersichtlich sei. Bei selbst zubereiteten Getränken ist dies jedoch nicht anders. Im Übrigen hängt die Verhältnismäßigkeit des Verbots letztlich entscheidend davon ab, inwieweit man das Risiko, den Alkoholgehalt zu unterschätzen, als erlaubtes oder unerlaubtes und damit den Konsum bzw. das Fahren trotz dieses Unterschätzungsrisikos als sorgfaltswidrig oder erlaubt einstuft. 13
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rosinen polizeirechtlich unterbunden werden könnte). Doch kann dieser letzteren Frage hier nicht nachgegangen werden. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die Ebene der Sanktionsnorm. 1. Wann ist eine alkoholhaltige Substanz ein Getränk? Sprachlich kann man eine Substanz nur dann als Getränk bezeichnen, wenn sie eine flüssige (sei es auch „dickflüssige“) Konsistenz hat und daher getrunken werden kann.15 Insoweit setzt der noch mögliche Sprachgebrauch, an den das Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) anknüpft, eine feste Grenze. Alkoholhaltige feste Speisen sind keine Getränke, mögen auch bei ihrer Zubereitung alkoholische Flüssigkeiten verwendet (z. B. mit Rotwein, Champagner, Rum, Likören usw. zubereitete Kuchen oder Cremes, vor allem aber auch hochprozentige „Wodka-Götterspeisen“ u. Ä.) oder in ihrem Gewebe alkoholische Flüssigkeitsmengen eingelagert sein (Beispiele: Sauerkraut, in Alkohol eingelegte Früchte). Anders verhält es sich mit Zubereitungen wie Likör- oder Branntweinpralinen, bei denen in einem Hohlraum ein alkoholisches Getränk eingeschlossen ist; man kann die Praline zerkauen und hinunterschlucken, man aber auch – was keineswegs unüblich ist – eine Öffnung hineinbeißen und den Inhalt „austrinken“. Daher ist es sprachlich zwar nicht möglich, die Praline, wohl aber ihren Inhalt, als Getränk zu bezeichnen.16 Anders wiederum verhält es sich, wenn lediglich eine kleinere Menge Flüssigkeit über eine festere Substanz gegossen wurde, die sich verteilt und teilweise mit dieser vermengt hat, wie z. B beim Verfeinern eines Eisbechers mit Likör. Eine Besonderheit in sprachlicher Hinsicht stellen (etwa mit Wein zubereitete) Saucen dar: Trotz ihrer flüssigen Konsistenz bezeichnet man die praktisch ausschließlich übliche Art ihres Konsums nicht als Trinken, die Saucen daher nicht als Getränke.17 Würde man zwar diese durch das Analogieverbot gesetzte Barriere respektieren, ansonsten aber undifferenziert alle alkoholischen flüssigen Substanzen einbeziehen, weil man ohnehin schon die Eingrenzung auf Getränke für unangebracht hält, dann überschritte man in anderer Hinsicht die Grenzen zulässiger Auslegung: Man würde sich über die inhaltliche Entscheidung hinwegsetzen, die in der ausdrücklichen Beschränkung auf Getränke zum Ausdruck kommt. Ein solcher inhaltlicher Grundgedanke lässt sich der Regelung durchaus entnehmen. Man kann sie verstehen als das Bemühen des Gesetzgebers, ein Signal in einem ganz äußerlichen, plakativen Sinne zu setzen, indem er die Bußgeldandrohung 15
König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 8: „trinkbare Flüssigkeit“. A. M. Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (792); Janker, DAR 2007, 497 (499); ders., in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht21, 2010, § 24c StVG Rn. 13; König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 8. 17 Im Ergebnis ebenso, aber mit nicht ganz klarer Begründung König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 8. 16
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auf diejenigen Verhaltensweisen konzentriert, die man landläufig spontan mit den Stichworten „Alkoholkonsum trotz Fahrens“ oder „Fahren trotz Alkoholkonsums“ assoziieren würde und bei denen dementsprechend ein besonderer Nachahmungsanreiz zu befürchten ist. Dies ist eine der Art nach zulässige und dem Inhalt nach nicht ganz unplausible, jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 3 Abs. 1 GG) unbedenkliche Form der Ausgestaltung eines Sanktionstatbestands. Der Grundgedanke lässt sich dahin konkretisieren, dass nur diejenigen Flüssigkeiten gemeint sind, bei denen es nahe liegt, dass jedenfalls größere Teile der Bevölkerung sie als Genussmittel konsumieren und deshalb auch ein Nachahmungsanreiz geschaffen wird. Das ist neben den „klassischen“ alkoholischen Getränken wie Bier, Wein, Branntweinen, Likören usw. fraglos auch z. B. bei Likörpralinen und ähnlichen Produkten der Fall, aber auch bei bestimmten als Heilmittel im Handel befindlichen und beworbenen Produkten wie dem oft zitierten „Klosterfrau Melissengeist“,18 der hauptsächlich durch Kräuterextrakte und ähnliche Inhaltsstoffe beruhigend und schlaffördernd wirken soll und bei dem angesichts seiner geschmacklichen Zubereitung durchaus vorstellbar ist, dass er zwar sicher nicht von jedermann, aber doch von manchen auch als – zugleich gesundheitsförderndes – Genussmittel konsumiert wird. Ein Gegenbeispiel ist die ebenfalls häufig genannte Baldriantinktur, die als Genussmittel wohl allenfalls für einen kleinen Personenkreis mit speziellen geschmacklichen Vorlieben in Betracht kommt. Erst recht keine Getränke sind flüssige Medikamente mit hochwirksamen und potenziell Nebenwirkungen hervorrufenden Inhaltsstoffen gegen spezifische Erkrankungen. Letzteres ändert aber nichts daran, dass es – entgegen der Ansicht der Bundesregierung – prinzipiell unerheblich ist, ob es sich um ein Medikament handelt19 und ob der Konsum im Einzelfall medizinisch indiziert ist oder nicht.20 2. Wann ist ein alkoholhaltiges Getränk ein alkoholisches? Konsequenterweise muss man den Grundgedanken auch im Hinblick auf den Mindestalkoholgehalt dahingehend konkretisieren, dass ein Getränk nur dann ein alkoholisches i. S. des § 24c StVG ist, wenn ein verbreiteter Konsum als Genussmittel gerade auch wegen des darin enthaltenen Alkohols nahe liegt. Das trifft neben den bereits erwähnten „klassischen“ alkoholischen Getränken auch auf Light-Bier, Alkopops und Mischgetränke wie Radler, Alsterwasser, Krefelder, 18 Unter Berufung auf die Entwurfsbegründung a. M. Janker, DAR 2007, 497 (499); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 13. 19 Zumindest tendenziell („höchst zweifelhaft“) wie hier König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 8. – Unter Berufung auf die Entwurfsbegründung a. M. Janker, DAR 2007, 497 (499); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 13. 20 Hinsichtlich der medizinischen Indikation a. M. Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (792).
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Weinschorle usw. zu,21 normalerweise auch für den Inhalt von Likörpralinen, andererseits scheidet z. B. Kefir aus, aber beispielsweise auch leicht angegorener Fruchtsaft und vor allem sog. alkoholfreies Bier.22 Die beiden zuletzt genannten Getränke haben üblicherweise einen Alkoholgehalt von ca. 0,5–0,6 Volumenprozent, so dass sie sich zwar dazu eignen mögen, bei einem Konsum in noch überschaubarer Menge eine alkoholische „Wirkung“ i. S. von § 24c StVG herbeizuführen. Doch kommt es hierauf in diesem Zusammenhang nicht an. Entscheidend ist, dass ein Genusskonsum gerade auch wegen des Alkohols, also wegen einer durch den Konsumenten deutlich spürbaren psychotropen Wirkung, nahe liegt, und dies kommt bei einem Alkoholgehalt unter einem Volumenprozent wohl kaum in Betracht. Hinsichtlich der Untergrenze gilt daher im Ergebnis das Gleiche wie für den Begriff des alkoholischen Getränks i. S. von § 9 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG. IV. Wann steht man unter der Wirkung eines alkoholischen Getränks? 1. Was ist die Wirkung von Alkohol? Der Wortsinn der Formulierung „unter der Wirkung stehen“ ist nicht eindeutig, sondern lässt eine recht große Bandbreite von Interpretationen zu. Schon der Effekt, der dadurch ausgelöst wird, dass ein einziges Alkoholmolekül im Zentralnervensystem an dem entsprechenden Rezeptor andockt, kann man rein sprachlich als „Wirkung“ bezeichnen.23 Sprachlich möglich ist es aber auch, in quantitativer Hinsicht – orientiert an der Intensität der spezifischen psychotropen Wirkung des Alkohols – höhere Anforderungen zu stellen. Abstellen kann man insbesondere darauf, von welcher BAK an bei einem Konsumenten eine spezifisch alkoholbedingte Minderung des physischen und/oder psychischen Leistungsvermögens in Bezug auf die Teilnahme am Straßenverkehr nicht auszuschließen ist, wobei es denkbar ist, sich an der individuellen Konstitution, Alkoholverträglichkeit, Alkoholgewöhnung usw. des Konsumenten oder aber an einem generalisierenden Maßstab – etwa einer durchschnittlich konstituierten Person oder an einer besonders alkoholempfindlichen Person – zu orientieren. Weitere mögliche Anknüpfungspunkte sind die BAK, von der an eine deutliche Verminderung der Fahrtüchtigkeit typischerweise (oder auch sicher) eintritt, wobei wiederum ein individueller oder auch ein generalisierender Maßstab denkbar ist, oder die BAK, von der an die Fahrtüchtigkeit ausgeschlossen ist. 21
Janker, DAR 2007, 497 (499); ders. (Anm. 18), § 24c StVG Rn. 11. Im Ergebnis ebenso, aber mit alleiniger Anknüpfung an den Alkoholgehalt: Janker, DAR 2007, 497 (499); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 11. Wohl ebenfalls allein an den Alkoholgehalt anknüpfend, aber mit deutlich höherer Grenze (1 Volumenprozent) König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 8. 23 Näher dazu – bezogen auf die Wirkstoffe der von § 24 Abs. 2 StVG erfassten Drogen – Stein, NZV 1999, 441 (444 f.). 22
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Aus gesetzessystematischer Sicht scheiden die beiden zuletzt genannten Möglichkeiten offensichtlich aus. Die Stufe der Fahruntüchtigkeit hat in § 316 StGB, diejenige der typischerweise deutlich verminderten Fahrtüchtigkeit in § 24a Abs. 1 StVG eine ersichtlich abschließend gemeinte Regelung gefunden. Am anderen Ende der Skala ist die Interpretation als „Null-Promille-Grenze“ schon deshalb zu verwerfen, weil sie verfassungsrechtlich im Hinblick auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wohl kaum haltbar wäre. Wenn es in der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats – allerdings bezogen auf die erste Tatbestandsvariante, auf die noch zurückzukommen sein wird – heißt, die Entscheidung des BVerfG zu § 24a Abs. 2 StVG24 stehe einer „Null-Promille-Grenze“ bei Fahranfängern nicht entgegen, weil die „fehlende Übereinstimmung von Nachweis- und Wirkungsgrenze“ bei Alkohol nicht bestehe,25 so beruht dies auf einer Fehlinterpretation der Entscheidung. Ihre Basis ist gerade die (allerdings vom BVerfG nicht weiter begründete) Annahme, mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar könne nur eine Regelung sein, die mindestens voraussetze, dass angesichts der Quantität der inkorporierten Drogenwirkstoffe eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit nicht auszuschließen sei. Zwar lässt die Entscheidung nicht erkennen, ob nach Ansicht des BVerfG nur der Bußgeldtatbestand oder auch schon die zugrunde liegende Verhaltensnorm diesem Maßstab genügen muss. Klar ist jedenfalls, dass ein Tatbestand, der die Überschreitung einer Nullwert-BAK- bzw. -AAK-Grenze mit Geldbuße bedroht, erst recht als verfassungswidrig eingestuft würde. Denn bei einer legalen Droge wie Alkohol, die noch dazu in oft sehr geringer, nicht psychotropisch wirkender Dosierung zur Geschmacksverfeinerung in einer kaum überschaubaren Vielzahl von Speisen und Getränken enthalten ist, kann man nur selten sicher sein, dass man nicht unbemerkt eine geringe, subjektiv nicht spürbare Menge davon konsumiert hat. Wenn diese ubiquitäre Möglichkeit, Alkohol konsumiert zu haben, das Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen nach sich ziehen würde – und nur an diese ex ante bestehende Möglichkeit, nicht an die zuverlässige Feststellung ex post kann das Verbot anknüpfen –, wäre die Verhaltensfreiheit in viel stärkerem Maße eingeschränkt als durch die NullwertGrenze bei anderen Drogen. Dies gilt umso mehr, als im Unterschied zu den von § 24a Abs. 2 StVG erfassten illegalen Drogen die Wirksamkeitsgrenze viel besser erforscht und in viel höherem Maße kalkulierbar ist.26 Praktisch jeder Kraft24
BVerfG NJW 2005, 249. Gegenäußerung der Bundesregierung, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 14, gegen die zutreffende Stellungnahme des Bundesrats, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 12; wie die Bundesregierung Krell, SVR 2007, 321 (323). – Im Schrifttum wie hier Bode, zfs 2007, 488 (490); König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 5; Nehm, DAR 2008, 1 (4); tendenziell („verfassungsrechtlich nicht unproblematisch“) auch Janker, DAR 2007, 497 (498); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 10. 26 Die Verfasser des Entwurfs von § 24a Abs. 2 StVG stützten die dort vorgesehene Nullwertgrenze gerade auch auf eine solche Unkalkulierbarkeit: Bundestags-Drucks. 25
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fahrzeugführer kann einigermaßen zuverlässig abschätzen, ob bei einer bestimmten konsumierten Kleinstmenge eines bestimmten alkoholhaltigen Nahrungsoder Genussmittels schon irgendwelche alkoholspezifischen Wirkungen denkbar sind oder ob dies ausgeschlossen ist. Damit relativiert sich auch das vom Verkehrsausschuss27 für die Nullwert-Grenze angeführte Argument, die strikte Trennung von Fahren und Alkoholkonsum bewirke einen „Erziehungs- und Gewohnheitseffekt“: Die Einübung der Trennung von Fahren und Trinken ist auch dann möglich, wenn man unter „Trinken“ nur das Zusichnehmen einer nicht schon offensichtlich unwirksamen Kleinstmenge versteht. Nicht zu überzeugen vermag schließlich auch das in der Entwurfsbegründung28 zu findende Argument, bei einem Gefahrengrenzwert oberhalb des Nullwerts sei zu befürchten, dass sich Fahranfänger an diesen Grenzwert „herantrinken“ und ihn dann möglicherweise infolge einer Fehleinschätzung überschreiten. Bei höheren Grenzwerten mag diese Gefahr bestehen, und dort ist sie nicht vermeidbar; worin aber soll der Anreiz liegen, sich an eine 0,1-Promille-Grenze (tatsächlicher Wert, bzw. 0,2‰ Mess-Durchschnittswert) heranzutrinken, wenn eine entsprechende Menge noch keine alkoholspezifische euphorisierende Wirkung verspricht und wegen des geringen Volumens auch als wohlschmeckendes Getränk kaum attraktiv ist? Man mag nun zu der Entscheidung des BVerfG, soweit sie § 24a Abs. 2 StVG betrifft, stehen wie man will29 – jedenfalls ergibt sich aus den soeben für den Erst-rechtSchluss angeführten Gesichtspunkten, dass ein Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen, das an eine auch für Alkohol geltende Nullwertgrenze anknüpft, die Verhaltensfreiheit in einem verfassungsrechtlich unzulässigen Maße einengen würde. „Unter der Wirkung von Alkohol“ i. S. von § 24c StVG steht man daher (erst, aber immerhin schon dann), wenn man eine Alkoholmenge im Körper hat, bei der eine die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigende Wirkung nicht völlig auszuschließen ist. Dabei stellt die Verbotsnorm und dementsprechend auch der Bußgeldtatbestand auf die Ausschließbarkeit einer Beeinträchtigung bei jedermann – und das heißt: bei der denkbar alkoholempfindlichsten Person – ab. Insofern besteht eine Parallele zu § 24a Abs. 1 StVG, der mithilfe eines festen BAK- bzw. AAKWerts auf eine typischerweise, also nicht unbedingt bei dem einzelnen Normadressaten, vorliegende Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit abstellt, und ein Unterschied zu § 316 StGB, wo es auf die individuelle Fahruntüchtigkeit an-
13/3764, S. 5; zustimmend Bönke, NZV 1998, 393 (394); s. dazu Stein, NZV 1999, 441 (445 f.). 27 Bundestags-Drucks. 16/5398, S. 3. 28 Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 9; insofern zu Recht skeptisch König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 10. 29 Nur wenn man die Entscheidung für rechtlich unzutreffend hält, wäre die von Ternig (NZV 2008, 271 [275]) vorgeschlagene Einführung einer Nullwert-Grenze für illegale Drogen bei Fahranfängern verfassungsrechtlich zulässig – zu erwarten wäre dann allerdings die baldige Wiederaufhebung einer solchen Vorschrift durch das BVerfG.
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kommt. Würde § 24c StVG an die individuelle Konstitution des jeweiligen Normadressaten anknüpfen,30 würden nicht nur Unsicherheiten in die Feststellung der Verbotsvoraussetzungen durch den einzelnen Normadressaten in der Verhaltenssituation hineingetragen (wer kann schon präzise abschätzen, ob er gerade im „Bagatellbereich“ mehr oder weniger alkoholempfindlich ist als andere Personen?), sondern es wäre auch eine Vielzahl von Verstößen praktisch nicht verfolgbar, weil die individuelle Alkoholempfindlichkeit im Bagatellbereich auch forensisch kaum (und erst recht nicht mit vertretbarem Aufwand) verifizierbar ist. Nach rechtsmedizinischen Erkenntnissen liegt die so definierte Grenze bei einer BAK von 0,1‰, was bei Einbeziehung eines „Sicherheitszuschlags“ von 0,1‰ einem Mess-Durchschnittswert von 0,2‰ entspricht; der korrespondierende AAK-Messwert liegt bei 0,1 mg/l.31 Auf eine vollständige Resorption des konsumierten Alkohols aus dem Magen-Darm-Trakt kommt es ebenso wenig wie bei § 24a StVG, wo dieser Punkt im Gesetzestext ausdrücklich geregelt ist, und bei § 316 StGB an, denn der Umstand, dass sich erst eine geringere Menge Alkohol im Blutkreislauf befindet und daher wirksam sein kann, wird kompensiert durch die sog. Anflutungswirkung, d. h. die größere Wirkungsintensität aufgrund der ansteigenden BAK infolge des Resorptionsvorgangs.32 Aus der Entstehungsgeschichte des Tatbestands ergibt sich, dass die Entwurfsverfasser das Merkmal genau so gemeint haben. Zwar war es das erklärte Ziel der Bundesregierung, so weitgehend wie möglich eine „Null-Promille-Grenze“ einzuführen. Wegen der Schwierigkeit, ganz geringe Blutalkohol-Konzentrationen durch Blutanalyse oder Atemalkoholmessung nachzuweisen, wollte man ein Verhalten mit Geldbuße bedrohen, von dem man sich eine relativ einfache Nachweismöglichkeit durch Augenzeugen versprach, nämlich das Trinken während des Fahrens. Damit glaubte man alle relevanten Fälle erfasst mit Ausnahme derjenigen, in denen der Alkoholkonsum nur vor, aber nicht mehr während der Fahrt erfolgt. Zur Schließung dieser Lücke hat man den Fahrtantritt nach Alkoholkon30
So offenbar AG Herne, Urt. v. 17.12.2008 – 15 OWi 60 Js 584/08 – 5/08 –. Jachau/Wittig/Krause, BA 2007, 117 (120 ff.); Krause u. a. (Alkohol-Kommission der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin), BA 2007, 169 (170). – Im juristischen Schrifttum wird meist schlicht auf das rechtsmedizinische verwiesen: Bode, zfs 2007, 488 (489); Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (793); Dronkovic (Karbach), in: Himmelreich/Halm (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Verkehrsrecht3, 2010, Kap. 34 Rn. 20a; Hufnagel, NJW 2007, 2577 (2578); Janker, DAR 2007, 497 (499); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 16; König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 11; wohl ebenso, aber mit nicht ganz eindeutiger Formulierung Krell, SVR 2007, 321 (323): Diese Messwerte dienten „allein dem Ausschluss von Messunsicherheiten und endogenem Alkohol“; nach Abzug des Sicherheitszuschlags seien sie ebenfalls zu verstehen als „absolutes“ Verbot des Fahrtantritts, wenn sich im Körper aus Getränken stammender Alkohol „oberhalb des Spurenbereichs“ befinde. – Anders AG Herne, Urt. v. 17.12.2008 – 15 OWi 60 JS 584/ 08 – 5/08 –: 0,26‰. 32 König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 13. In der Stellungnahme des Bundesrats (Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 12) wird dies offenbar übersehen. 31
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sum als zweite, flankierende Verhaltensvariante aufgenommen, wobei man sich darüber im Klaren war, dass in dieser Variante ein Nachweis des Alkoholkonsums meist nur durch Blut- oder Atemanalyse möglich ist, die mit Messungenauigkeiten verbunden ist und schon deshalb sinnvollerweise nur an einen Wert oberhalb der Nullwertschwelle anknüpfen kann. Daher wählte man die gleiche Formulierung wie in § 24a Abs. 2 StVG, für die das BVerfG zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden hatte, dass sie verfassungskonform im Sinne einer möglicherweise die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigenden Wirkstoffmenge zu verstehen sei.33 Hingewiesen sei noch auf ein Detail, das zwar isoliert betrachtet kaum praktische Relevanz haben dürfte,34 jedoch (offenbar bislang übersehene) Rückwirkungen auf sämtliche Konstellationen haben kann. Und zwar ist § 24a Abs. 2 StVG nach herrschender Meinung so zu verstehen, dass zwar bei einer Wirkstoffkonzentration von dem jeweiligen durch die sog. Grenzwerte-Kommission erarbeiteten analytischen Grenzwert an eine „Wirkung“ der Droge ohne Rücksicht auf die individuelle Konstitution vorhanden ist,35 während andererseits aber auch unterhalb des Grenzwerts aufgrund einer besonderen individuellen Empfindlichkeit eine (sich insbesondere in Ausfallerscheinungen manifestierende) „Wirkung“ denkbar ist.36 Diese Interpretation wird (konsequenterweise) auf § 24c StVG übertragen.37 Als Begründung findet man bisweilen den Hinweis, diese Grenzwerte wiesen eine Parallele zum Grenzwert der so genannten absoluten Fahruntüchtigkeit (§ 316 StGB) auf, daher gebe es auch eine Parallele zur „relativen“, sich in Ausfallerscheinungen niederschlagenden Fahruntüchtigkeit.38 Dieser Vergleich „hinkt“ jedoch. Die Fahruntüchtigkeit i. S. von § 316 StGB ist, was durch die Redeweise von einem „absoluten“ Wert verdeckt wird, ex definitione ein durchgehend individualisierender Begriff; von dem Grenzwert der so genannten absoluten Fahruntüchtigkeit an ist jedes Individuum fahruntüchtig. Die von den Fachwissenschaftlern für § 24a Abs. 2 und § 24c StVG erarbeiteten Grenzwerte hingegen können nur in einem generalisierenden Sinne gemeint sein: Von dem jeweiligen Wert an kann die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigt sein, sie muss es aber nicht sein; ob sie es ist, hängt von der schwer abschätzbaren individuellen Verträglichkeit des Alkohols bzw. der jeweiligen anderen Droge ab. Sobald man im niedrigen Wertebereich (d. h. unterhalb der Grenzwerte) auf die individuelle 33 Auf diesen Zusammenhang mit § 24a Abs. 2 StVG wird im Schrifttum verschiedentlich hingewiesen: Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (793); Janker, DAR 2007, 497 (499); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 16. 34 Insoweit zutreffend König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 11. 35 So ausdrücklich König (Anm. 8), § 24a StVG Rn. 21 a. 36 OLG München NJW 2006, 1606 (1607); König (Anm. 8), § 24a StVG Rn. 21 b; ders., DAR 2006, 286 (287); Maatz, BA 2006, 451 (455 f.). – A. M. z. B. OLG Bamberg, DAR 2006, 286; Wehowsky, BA 2006, 125 (128). 37 So Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (793); König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 11. 38 König (Anm. 8), § 24a StVG Rn. 21 b; ders., DAR 2006, 286 (287).
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Konstitution abstellt, muss man dies konsequenterweise auch im etwas höheren Bereich (auf und über dem Grenzwert) tun, d. h. man muss dann immer die individuelle Verträglichkeit feststellen, was praktisch nicht zu leisten und deshalb, wie schon betont, eine sinnvolle Interpretation weder von § 24a Abs. 2 StVG noch von § 24c StVG ist. 2. Wann wirkt das Getränk und nicht die Rumfrüchte? Den Tatbestand des § 24c StVG verwirklicht im Unterschied zu § 24a StVG und im Übrigen auch zu § 316 StGB nicht – was eine sinnvolle Regelung wäre – jeder, der unter der Wirkung von Alkohol steht, sondern nur derjenige, bei dem der Alkohol, unter dessen Wirkung er steht, aus einem alkoholischen Getränk stammt. Damit hat der Gesetzgeber nicht nur eine, wie bereits erörtert, in der Sache kaum einleuchtende materiell-rechtliche Differenzierung, sondern auch Beweisschwierigkeiten in den Tatbestand hineingetragen, von denen zu erwarten ist, dass sie in der Rechtspraxis oft nicht oder jedenfalls nicht ohne unverhältnismäßigen Aufwand überwindbar sein werden.39 Probleme bereiten dürfte schon die Widerlegung der Einlassung, man habe gar kein alkoholisches Getränk, sondern lediglich große Mengen alkoholhaltiger fester Nahrungs- oder Genussmittel (Sauerkraut, Rotweinsauce, danach ein Dessert mit Rotweincreme und Rumfrüchten usw.) konsumiert. Kaum noch möglich sein wird der Nachweis, dass nach einem „Mischkonsum“ von festen alkoholhaltigen Zubereitungen und alkoholischen Getränken, der zu einer (tatsächlichen) BAK von 0,2‰ geführt hat, mindestens 0,1‰ aus den Getränken stammen. Ein solcher Nachweis ist aber nach dem Gesetzeswortlaut zwingend erforderlich. Diese Konstellation darf nicht verwechselt werden mit dem (auch) bei anderen Tatbeständen bisweilen relevanten „Mischkonsum“ von Alkohol und anderen psychotrop wirkenden Substanzen; wenn es dort zu einem Zustand gekommen ist, der den spezifischen psychotropen Wirkungen von Alkohol entspricht, dann ist damit klar, dass diese Wirkung auf dem konsumierten Alkohol beruht; weitere Beweisschwierigkeiten bestehen dann normalerweise nicht. Die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen den Wirkungen mehrerer konsumierter Alkohol-Teilmengen existiert nur bei § 24c StVG. V. Was ist verboten, was ist ordnungswidrig? Welche Arten von Handlungen ordnungswidrig sind, ist nach dem Gesetzeswortlaut eindeutig: In der ersten Tatbestandsvariante ist es das Zusichnehmen eines alkoholischen Getränks als Führer eines Kraftfahrzeugs, also der Alkohol39 Stellungnahme des Bundesrats, Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 13; Janker, DAR 2007, 497 (500) ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 16; König, in: Hentschel/König/ Dauer, Straßenverkehrsrecht40, 2009, § 24c StVG Rn. 12.
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konsum als solcher während des Fahrens (und nicht etwa das Fahren), in der zweiten das Antreten einer Fahrt als Kraftfahrzeugführer. 1. Wie nimmt man als Führer eines Kraftfahrzeugs ein alkoholisches Getränk zu sich? a) Wie nimmt man das Getränk zu sich? Man nimmt ein alkoholisches Getränk jedenfalls dadurch zu sich, dass man es trinkt. Wenn man Likörpralinen, deren Inhalt, wie schon erörtert, ebenfalls unter den Begriff des alkoholischen Getränks fällt, zerbeißt und den Inhalt zusammen mit der umhüllenden Schokolade hinunterschluckt, nimmt man ebenfalls ein Getränk zu sich. Weitere für den Tatbestand praktisch relevante Formen des Zusichnehmens von Getränken existieren wohl kaum. Es sei daran erinnert, dass Gegenstand des Konsums kein „Getränk“ mehr ist, wenn man lediglich denjenigen Likör zu sich nimmt, mit dem man zuvor einen Eisbecher, Kuchen usw. verfeinert hat. b) Wie tut man dies als Führer eines Kraftfahrzeugs? Das Merkmal „als Führer eines Kraftfahrzeugs“ kann sinnvollerweise nur gemeint sein als Synonym der Formulierung „während man ein Kraftfahrzeug führt“. Es ist also im gleichen Sinne zu verstehen wie die Beschreibung des Tatverhaltens in § 316 StGB und § 24a StVG – nur eben mit dem Unterschied, dass es in der ersten Variante des § 24c StVG nicht das Tatverhalten definiert, sondern lediglich den Zeitraum absteckt, in dem das Zusichnehmen eines alkoholischen Getränks ordnungswidrig ist.40 Wie in den genannten anderen Tatbeständen beginnt das Führen mit dem In-Bewegung-Setzen des Fahrzeugs. Selbst wenn es rein sprachlich möglich sein sollte, das Substantiv „Kraftfahrzeugführer“ in einem etwas weiteren Sinne zu verwenden als das Verbum „führen“, insbesondere durch Einbeziehung der Phase vom Inbetriebnehmen des Fahrzeugs (Anlassen des Motors usw.) bis zum Losfahren – was aber nicht eindeutig ist und weiterer Untersuchung bedürfte –, bestünde keine Veranlassung zu einer extensiveren Interpretation. Das Losfahren ist ein „Antreten der Fahrt“, es wird also, wenn man beispielsweise zwischen dem Anlassen des Motors und dem In-Bewegung-Setzen des Fahrzeugs Alkohol zu sich nimmt, durch die zweite Tatbestandsvariante erfasst. Das Führen des Fahrzeugs dauert an, solange dessen Bewegung nicht oder nur verkehrsbedingt unterbrochen ist.41 Wer also einen Schluck aus der Flasche nimmt, während er vor einer Rotlicht zeigenden Ampel wartet, verwirklicht die erste Tatbestandsvariante, nicht aber derjenige, der das Gleiche tut, nachdem er 40 41
König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 7. Janker, DAR 2007, 497 (499); König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 7.
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am Straßenrand angehalten hat, um sich mit dort befindlichen Personen zu unterhalten. Jedoch ist im zuletzt genannten Fall das Losfahren nach dem nicht verkehrsbedingten Anhalten der Antritt einer (neuen) Fahrt und kann daher die zweite Tatbestandsvariante verwirklichen. c) Ist das Trinken kleinster Mengen verboten? Die Einführung einer „Null-Promille-Grenze“ durch die erste Tatbestandsvariante war, wie bereits erläutert, gerade ein Hauptanliegen des Gesetzgebers. Der Gesetzeswortlaut lässt eine diesem Anliegen entsprechende Interpretation nicht nur zu, sondern spricht – jedenfalls wenn man die Formulierung der ersten mit derjenigen der zweiten Tatbestandsvariante vergleicht – sogar eher für als gegen sie, denn in der ersten Variante ist von der Erforderlichkeit einer „Wirkung“ des konsumierten Alkohols keine Rede. Andererseits aber erzwingt der Wortlaut keine solche unterschiedliche Interpretation der beiden Varianten. Der Sprachgebrauch lässt es auch zu, zu sagen, wer an einem Glas Bier nur „nippe“, „probiere“ das Getränk nur, nehme es aber nicht zu sich. Außerdem liegt für den Leser des Gesetzestextes schon aus sprachlicher Sicht die Überlegung nicht fern, in der ersten Variante sei lediglich aus formulierungstechnischen Gründen das Wort „Wirkung“ weggelassen worden, weil Formulierungen wie „ein alkoholisches Getränk in einer wirksamen Menge“ unschön klingen würden. Der Gesetzestext belässt also (mindestens) zwei Interpretationsmöglichkeiten. Welche von ihnen zutrifft, ist nach den bereits zum Merkmal „Wirkung“ angestellten Überlegungen klar: Eine Nullwert-Grenze wäre verfassungswidrig; die erste Variante ist im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung so zu verstehen, dass nur der Konsum einer Alkoholmenge verboten und gegebenenfalls nach der ersten Tatbestandsvariante ahndbar ist, die (i. S. der zweiten Tatbestandsvariante) „wirksam“ ist, die also zu einer BAK führt, bei der eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit nicht von vornherein auszuschließen ist (tatsächliche BAK von mindestens 0,1‰ wie in der zweiten Variante).42 d) Warum ist überhaupt das Trinken verboten? Das (noch dazu bußgeldbewehrte) Verbot des Trinkens während der Fahrt ist ein Fehlgriff des Gesetzgebers. Zu erklären ist er mit der verbreiteten Unsicherheit, welche aufeinander aufbauenden Verhaltensweisen derselben Person zulässigerweise und sinnvollerweise Gegenstand eines Verhaltensverbots sein können. Der Grundsatz lautet, dass ein Verhaltensverbot nicht erforderlich ist (und damit, 42 Wie hier: Bode, zfs 2007, 488 (490). – Anders die h. M.: Burhoff, ZAP Fach 9 (2008), 791 (792); Janker, DAR 2007, 497 (498); ders. (Anm. 16), § 24c StVG Rn. 9; wohl auch König (Anm. 8), § 24c StVG Rn. 5, 9, obwohl er die Unvereinbarkeit mit der Kammerentscheidung des BVerfG betont.
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genau genommen, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt), wenn bei Auferlegung und Befolgung des Verbots eines späteren Verhaltens derselben Person von dem früheren Verhalten keine Gefahr mehr ausgehen kann.43 Daher hat man beispielsweise keine Rechtspflicht, das Licht einzuschalten, wenn man vorhat, bei Dunkelheit loszufahren. Vielmehr ist das Einschalten des Lichts eine bloße Obliegenheit, durch deren Erfüllung man sich die Option offen hält, erlaubtermaßen loszufahren; solange bei Dunkelheit das Licht nicht eingeschaltet ist, ist das Losfahren verboten.44 Dementsprechend besteht auch keine Veranlassung, den Alkoholkonsum während der Fahrt zu verbieten: Durch das Nichttrinken hält sich der Fahrer die Option des legalen Weiterfahrens offen, während das Trinken sinnvollerweise ein Verbot des Weiterfahrens auslöst, durch dessen Befolgung die Gefährlichkeit des Alkoholkonsums für die Sicherheit des Straßenverkehrs beseitigt wird. Ausnahmen von dem Grundsatz gibt es zwar, sie sind aber für die Situationen, um die es bei § 24c StVG geht, nicht relevant. Sie betreffen erstens die sog. unbeendeten Versuche, die in dem von § 22 StGB abgesteckten Rahmen verboten sind, obwohl von ihnen bei Befolgung des Verbots der Versuchsbeendigung keine Gefahr ausgehen kann, und zweitens das Verbot der Herbeiführung der eigenen Steuerungsunfähigkeit, durch die die tatsächliche Befolgung der späteren Verhaltenspflicht unsicher wird. Beide Ausnahmefälle haben mit dem Anliegen von § 24c StVG nichts zu tun. Allenfalls könnte man überlegen, ob es Konstellationen gibt, in denen die Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs, die von dem Alkoholkonsum während der Fahrt ausgeht, nicht durch die Auferlegung und Befolgung eines Verbots des anschließenden Weiterfahrens beseitigt werden kann. Schließlich kann es auch – um an das bereits herangezogene Beispiel des Fahrens bei Dunkelheit anzuknüpfen – ausnahmsweise rechtlich geboten (und nicht nur eine Obliegenheit) sein, bei Dunkelheit das Licht einzuschalten, nämlich dann, wenn man bereits ohne Licht fährt und das Anhalten eine gewisse Zeit dauern würde; in einer solchen Situation würde die Befolgung des Verbots weiterzufahren nicht genügen, um die Gefährlichkeit der Fortbewegung des Fahrzeugs im Straßenverkehr ohne Licht zu beseitigen, sondern es muss das sofortige Einschalten des Lichts geboten sein, um den nicht vermeidbaren Zeitablauf bis zum Stillstand bzw. Verlassen des Straßenraums zu überbrücken. Nach einem Alkoholkonsum während der Fahrt ist allerdings normalerweise genügend Zeit zum Anhalten, bis die Resorption so weit fortgeschritten ist, dass man „unter der Wirkung“ des Alkohols steht. Ausnahmen mag es geben, soweit ein sofortiges Anhalten aus besonderen Gründen nicht gestattet ist, z. B. auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen ohne Randstreifen. Das generelle Konsumverbot des § 24c StVG kann man allein hierauf aber nicht stützen. 43 Grundsätzlich dazu sowie zu den Ausnahmefällen des sog. unbeendeten Versuchs Stein, GA 2010, 129 (138 ff., 145 ff.). 44 Siehe dazu auch Rudolphi/Stein, SK StGB8 (119. Lfg. 2009), vor § 13 Rn. 78 m.w. N.
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2. Wie tritt man als Führer eines Kraftfahrzeugs eine Fahrt an? Führer eines Kraftfahrzeugs ist man, wie bereits erläutert, wenn man ein Kraftfahrzeug führt; als solcher tritt man dementsprechend eine Fahrt an, wenn man es in Bewegung setzt, also losfährt (es sei denn, man setzt das Fahrzeug nach ausschließlich verkehrsbedingtem Anhalten wieder in Bewegung, dann nämlich tritt man keine neue Fahrt an, sondern setzt die schon begonnene fort45). Allerdings steckt in diesem Merkmal ein neues Problem, das bei § 316 StGB und § 24a StVG nicht existieren kann, weil dort das (gesamte) „Führen“ und nicht nur das Losfahren vertatbestandlicht ist: Ist „Fahrtantritt“ nur die „logische Sekunde“ des Bewegungsbeginns, oder reicht der Begriff etwas weiter? Sprachlich ist es möglich, das Zurücklegen der ersten kurzen Fahrtstrecke – allerhöchstens aber die ersten fünfzig Meter – noch als „Antreten der Fahrt“ zu bezeichnen. Der Funktion des Tatbestands entspricht eine solche extensive Interpretation des Merkmals allemal. Sie bezieht auch diejenigen Fälle ein, in denen dem Fahrer nicht schon vor dem Losfahren, sondern auf den „ersten Metern“ klar wird (oder anhand von Indizien klar werden könnte und müsste), dass er Alkohol in einer die Fahrtüchtigkeit eventuell beeinträchtigenden Menge zu sich genommen hat. 3. Ist das Weiterfahren verboten, ist es ordnungswidrig? Die Verhaltensnorm, die dem Bußgeldtatbestand des § 24c StVG zugrunde liegt, ist im Gesetz nicht ausdrücklich formuliert, so dass man sie aus der Sanktionsnorm erschließen muss. Eine der Schwierigkeiten solcher, insbesondere im Strafrecht notwendiger Rückschlüsse besteht darin zu ermitteln, welche Merkmale der Sanktionsnorm zugleich die Grenze der Verhaltensnorm beschreiben und welche lediglich dazu dienen, die Sanktionsbewehrung auf einen Teil der Verhaltensnorm zu beschränken. Aus der Sanktionsnorm des § 24c StVG ergibt sich, dass (neben dem Konsum alkoholischer Getränke während des Fahrens) das Führen eines Kraftfahrzeugs unter der Wirkung von Alkohol verboten ist. Als Ordnungswidrigkeit ahndbar ist nach dem eindeutigen Wortlaut nur das Antreten der Fahrt, nicht aber das Weiterfahren. Als Begrenzung auch der Verhaltensnorm wäre dieses Merkmal offenkundig unsinnig. Welchen plausiblen Grund sollte es geben, nur die ersten Meter einer Fahrt unter Alkoholeinfluss zu verbieten, die anschließenden Kilometer aber trotz gleicher Gefährlichkeit zu erlauben? Warum sollte der Schluck aus der Bierflasche während der Fahrt im Hinblick auf die Alkoholwirkung verboten, das Weiterfahren nach diesem Schluck aber erlaubt sein? Nur als Eingrenzung der Sanktionsnorm hat dieses Merkmal eine gewisse 45 Es sei denn, man hat den Halt vor einer Rotlicht zeigenden Ampel spontan für einen Fahrerwechsel genutzt. Ein neuer Fahrer tritt mit dem Losfahren stets eine neue Fahrt an; insofern ist der Fahrtbegriff „personenbezogen“ zu verstehen (Burhoff, ZAP Fach 9 [2008], 791 [793 f.]).
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Plausibilität, denn auf den ersten Blick scheinen (was, wie bereits geschildert, offenbar auch die Entwurfsverfasser so sahen) die relevanten Fälle des Fahrens unter der Wirkung von Alkohol erfasst zu sein, wenn man den Alkoholkonsum während der Fahrt und ergänzend – falls der Alkohol schon vor der Fahrt konsumiert wurde – den Fahrtantritt mit Geldbuße bedroht. Verboten ist das Weiterfahren also (und kann daher z. B. polizeilich unterbunden werden), eine Ordnungswidrigkeit ist es nicht.46 Nicht bedacht hat der Gesetzgeber offensichtlich, dass sowohl beim Alkoholkonsum während der Fahrt als auch beim Fahrtantritt nach Alkoholkonsum Vorsatz und Fahrlässigkeit fehlen können, so dass sich die Notwendigkeit einer Vertatbestandlichung auch des Weiterfahrens unter der Wirkung von Alkohol geradezu aufdrängt. Es ist durchaus möglich, dass man eine geringe, aber für eine „Wirkung“ i. S. von § 24c StVG ausreichende Menge Alkohol zu sich nimmt, ohne dies zu bemerken oder auch nur (i. S. des Fahrlässigkeitsbegriffs) bemerken zu können. Trinkt man beispielsweise während der Fahrt aus einer Wasser- oder Fruchtsaftflasche, die man in einer unverfänglichen Situation von einem anderen mit der glaubhaften Bemerkung gereicht bekommt, es handele sich um Wasser bzw. Fruchtsaft, und bemerkt man nicht vor dem ersten, kräftigen Schluck, dass es sich in Wahrheit um eine mit Alkohol versetzte Fruchtsaftmischung oder gar um Wodka, Rotwein usw. handelt, dann kommt § 24c StVG in seiner jetzigen Fassung „zu spät“, solange der Fahrer sich anschließend beim Anhalten und Wiederlosfahren auf ausschließlich verkehrsbedingte Anlässe beschränkt. Keineswegs ausgeschlossen sind entsprechende Konstellationen nach Alkoholkonsum vor Fahrtantritt. Wenn man beispielsweise scharf gewürzte Speisen und dazu Bier zu sich nimmt, das – glaubhaft – als „alkoholfreies“ serviert wurde und dessen tatsächlichen Alkoholgehalt von 5% man nicht bemerkt, dann ist auch eine tatsächliche BAK zwischen 0,1‰ und 0,4‰ schnell erreicht, ohne dass man dies vor oder bei Fahrtantritt bemerken müsste; während des weiteren Fahrtverlaufs kann der vorangegangene Konsum durch Hinweise anderer Personen oder auch durch Einsetzen eines euphorisierenden Effekts des Alkohols erkennbar werden. VII. Fazit 1. Der noch recht neue Bußgeldtatbestand des § 24c StVG dient einem rechtspolitisch sinnvollen Anliegen.47 Seiner Ausgestaltung nach steht er allerdings in einer doch eher ernüchternden Tradition. 46 Nach früheren Referentenentwürfen (dazu Weibrecht, NZV 2005, 563 [564 f.]) und der Stellungnahme des Bundesrats (Bundestags-Drucks. 16/5047, S. 12) sollte Tatverhalten das „Führen eines Kraftfahrzeugs“ sein (wie in § 316 StGB und § 24a StVG). Die Bundesregierung konnte sich dem nicht anschließen, weil sie zwischen der „Nullwertgrenze“ für den Alkoholkonsum während des Fahrens und der „Wirkungsgrenze“ für den Fahrtantritt nach vorherigem Konsum differenzieren wollte.
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Diese beginnt mit der Einführung von § 24a Abs. 1 StVG im Jahre 1973, der aus rechtsstaatlicher Sicht nach wie vor ein Ärgernis ist.48 Sein (ursprünglicher) Wortlaut – „obwohl er 0,8‰ oder mehr Alkohol im Blut hat“ – ist klar und eindeutig: Der Tatbestand ist verwirklicht, wenn die durch Blutanalyse und/oder sonstige Beweismittel nachzuweisende, tatsächliche BAK mindestens 0,8‰ beträgt. Bei einem beweisrechtlich zum Ausgleich möglicher Messungenauigkeiten zu addierenden „Sicherheitszuschlag“ von (damals) 0,15‰ ist die Ahndung also von einem Mess-Mittelwert von 0,95‰ an zulässig. So aber hat der Gesetzgeber ausweislich der Entwurfsbegründung den Tatbestand nicht gemeint, vielmehr sollte der „Sicherheitszuschlag“ bereits in den 0,8‰ enthalten, das Fahren also bereits ab einer tatsächlichen BAK von 0,65‰ ahndbar sein. Mit Duldung des BVerfG, das in einem Kammerbeschluss diese Lesart für vereinbar mit dem Wortsinn erklärte,49 haben die Rechtsprechung und fast einhellig auch das Schrifttum – methodisch sehr anfechtbar – von Anfang an die aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen Vorstellungen der Entwurfsverfasser als allein maßgebend angesehen.50 Die mehrfache Änderung des Tatbestands (schrittweise Umstellung auf die „0,5-Promille-Grenze“, Ergänzung durch eine AAK-Grenze mit ebenfalls schon eingearbeitetem „Sicherheitszuschlag“) hat daran im Grundsatz nichts geändert. Geahndet wird das Fahren heute (bei einem Sicherheitszuschlag von 0,1‰) ab einer zuverlässig nachgewiesenen tatsächlichen BAK von 0,4‰. Mit kaum noch zu entwirrender Vermengung von materiell-rechtlicher und beweisrechtlicher Seite wurde der 1998 hinzugekommene Tatbestand des Führens von Kraftfahrzeugen unter der Wirkung bestimmter illegaler Drogen (§ 24a Abs. 2 StVG) gestaltet.51 Als Einführung einer „Nullwert-Grenze“ ausgeflaggt, enthält er eine beweisrechtliche (oder doch wenigstens so klingende) Regelung, die anfangs bewirkte, dass eine Ahndung nur möglich war, wenn psychotrope Wirkstoffe der jeweiligen Droge in einer Konzentration im Blut vorhanden waren, bei der eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit nicht ausgeschlossen war. Funktionieren konnte die Konstruktion nur, solange die Untergrenze der analysetechnisch zuverlässig nachweisbaren Wirkstoffkonzentration in etwa übereinstimmte mit dem Wert, von dem an eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit 47 Insoweit übereinstimmend Janker, DAR 2007, 497 (498), der allerdings darüber hinausgehend die – wohl als moralische, nicht als rechtliche Vorgabe gemeinte – These aufstellt, die Einhaltung der Nullwert-Grenze sollte für jeden Fahrzeugführer selbstverständlich sein. Dies ist eine jedenfalls bei legalen Drogen ganz unrealistische und, soweit sie Minimalmengen betrifft, die Verkehrssicherheit nicht erhöhende Forderung. 48 Ausführlich zum Folgenden, jew. m.w. N.: Stein, NZV 1999, 441 (441 f.); ders., StV 2001, 356 f. 49 BVerfG VersR 1976, 600 = BA 1976, 240. 50 Statt vieler: BayObLG DAR 1974, 301 f.; OLG Celle, DAR 1974, 222 f.; OLG Hamm StV 2001, 355 f. 51 Ausführlich zum Folgenden Stein, NZV 1999, 441 ff. m.w. N.
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möglich erschien. Mit der bald erreichten erheblichen Verfeinerung der Analysetechnik, die nicht hätte überraschen sollen, war der Tatbestandskonstruktion die Basis entzogen, und das BVerfG52 sah sich in einer Kammerentscheidung veranlasst, darauf hinzuweisen, dass nur diejenige Interpretation des Tatbestands verfassungskonform sei, die unabhängig vom Stand der Analysetechnik eine potenziell fahrtüchtigkeitsrelevante Wirkstoffmenge verlange. Auch die Einführung von § 24c StVG segelte unter der Flagge „NullwertGrenze“, tatsächlich enthält der Tatbestand aber, wie gezeigt, keine solche Grenze. Auch an die Formulierung des Tatverhaltens ist der Gesetzgeber offensichtlich zu unbefangen herangegangen. Das Verbot des Konsums geringer Alkoholmengen (und dies auch noch unzweckmäßigerweise beschränkt auf Getränke) statt des Verbots des Fahrens trotz Alkoholkonsums ist systemwidrig und nicht sinnvoll; seine Kombination mit dem Verbot (nur) des Fahrtantritts nach vorangegangenem Konsum vermag diesen Konstruktionsfehler nicht zu beseitigen und lässt unzweckmäßige Lücken. 2. Der Gesetzgeber hätte folglich besser daran getan, sich dem Vorschlag des Bundesrats anzuschließen und Fahranfängern während der Probezeit sowie Personen unter 21 Jahren das Führen von Kraftfahrzeugen unter der Wirkung von Alkohol mit Bußgeldandrohung zu verbieten. Noch besser wäre es gewesen, anstelle dieses unbestimmten Begriffs nach dem Vorbild von § 24a Abs. 1 StVG eine konkrete niedrige, aber noch zuverlässig messbare BAK bzw. AAK zu benennen.53 Eine solche Vorgehensweise wäre zugleich eine gute Gelegenheit gewesen, die Tradition des Verstoßes gegen das Analogieverbot zu beenden, indem nicht nur in § 24c StVG die gemeinte tatsächliche BAK bzw. AAK angegeben, sondern zugleich in § 24a Abs. 1 StVG „0,5‰“ durch „0,4‰“ ersetzt und auch die AAK-Angabe entsprechend gesenkt wird. Wenn zugleich noch in der Entwurfsbegründung unmissverständlich klargestellt worden wäre, dass nunmehr die tatsächlichen Werte gemeint sind und auch die Änderung der Angaben in § 24a Abs. 1 StVG ausschließlich diesem Zweck dient, hätte auch die Rechtspraxis keinerlei Veranlassung mehr, die Angaben im Sinne von Mess-Durchschnittswerten zu verstehen.
52
BVerfG NJW 2005, 349 (350 f.). Ebenso Jachau/Wittig/Krause, BA 2007, 117 (121): 0,2‰ und 0,1 mg/l (womit die Mess-Durchschnittswerte gemeint sind); hinsichtlich der Angabe konkreter Werte im Gesetzestext (nicht aber bzgl. des Tatverhaltens) auch Bode, zfs 2007, 488 (489 f.). Frühere, nicht im Bundestag eingebrachte Referentenentwürfe enthielten eine solche Regelung; dazu Weibrecht, NZV 2005, 563 (564 f.). 53
VII. Internationales und Europäisches Strafrecht sowie Völkerstrafrecht und Europarecht
Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im spanischen Strafrecht Von Manuel Cancio Meliá I. Einführung Ingeborg Puppe hat sich in ihren Schriften vor allem mit den schwierigsten Grundfragen subjektiver und objektiver Zurechnung auseinandergesetzt. Sie hat damit ihren Scharfsinn der wissenschaftlichen Durchdringung der großen, allgemeinen Kategorien der Straftatlehre gewidmet. Das System der allgemeinen Verbrechenslehre hat den Anspruch, kein Selbstzweck zu sein, und – wie Puppe in ihrem ganzen Werk zeigt – lebt von seiner Relevanz für den konkreten Sachverhalt. Die Lehre von der Straftat muss aber, um eine wirklich allgemeine Lehre zu werden, auch den Anspruch erheben, auf ihren Ursprungsort (konkrete Probleme konkreter Delikte) zurückzuwirken: Die Zurechnungsregeln der Verbrechenslehre sollen auch im Besonderen Teil ihre Wirksamkeit entfalten; der Aufbau konkreter Tatbestände muss auf der allgemeinen Zurechnungslehre beruhen. Da die Dogmatik der Verbrechenslehre geronnener Gesetzlichkeitsgrundsatz ist und dieser wiederum institutionalisierte Bürgerrechte bedeutet, darf es in ihrem Geltungsbereich keine systemfremden Einsprengsel geben – und gibt es sie, kontaminieren sie das System.1 Gibt es einen Punkt, an dem diese Kohärenz in den westlichen Rechtsordnungen heute in Frage gestellt wird, so muss vor allem an die von Terroristen begangenen Delikte gedacht werden: Die größte Gefahr, die von der „. . . Antiterrorismusgesetzgebung [ausgeht], . . . ist die Vorspiegelung, dass sie nur und ausschließlich auf Terroristen angewandt werden werde.“2 Die Problematik der Überdehnung bzw. der Abkehr von allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen stellt sich auf besonders intensive Weise bei der Straftat, die auf gewisse Weise den Grundstein des Terrorismusstrafrechts ausmacht: Das Verbrechen, das quasi nur im Terrorist-Sein – ohne jeden konkreten Schaden – besteht: die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Wer ist ein Terrorist? Wie ist er zu definieren, ohne in bloße Kategorisierung zu verfallen? Die
1 Cancio Meliá, ZStW 117 (2005), 267 ff.; ders., in: Vormbaum/Asholt (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 1 ff., 10 ff. 2 Bustos Ramírez, in: Losano/Muñoz Conde (Hrsg.), El Derecho ante la globalización y el terrorismo, 2004, S. 406 f.
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Antwort muss lauten, eine zurechenbare Beziehung zur terroristischen Organisation, ein tatbestandsmäßiges Verhalten der Mitgliedschaft sei zu bestimmen. Das spanische Terrorismusstrafrecht enthält soweit ersichtlich die schärfste Regelung Westeuropas, sowohl in der Tiefe (Härte der angedrohten Strafen) als auch in der Breite (Umfang der als Terrorismusdelikte erfassten Taten).3 Diese Regelung wird auch seit Jahrzehnten massiv angewandt: Aus in den Besonderheiten der spanischen Geschichte zu suchenden Gründen ist heute eine noch zu einer in den anderen westeuropäischen Ländern schon abgetretenen Epoche gehörende terroristische Organisation – ETA4 – aktiv, so dass hier die zwei jüngsten Terrorwellen der westlichen Welt – endogene pseudomarxistische oder nationalistische Gruppen wie RAF, Brigate Rosse oder Action Directe, IRA oder FNLC in den siebziger und achtziger Jahren und der gegenwärtige fundamentalistisch-religiös 3 Vgl. die kurze Darstellung bei Cancio Meliá, JjurZG 1/2009, 15 ff.; vgl. auch ders., Los delitos de terrorismo: estructura típica e injusto, 2010, S. 135 ff. 4 „Euskadi ta Askatasuna“ (baskisch: Baskenland und Freiheit) wurde Ende der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gegründet. Ursprünglich rein baskisch-nationalistisch orientiert, übernahm sie später, wie andere westeuropäische Gruppen, den pseudomarxistischen Anstrich bzw. die Stadtguerrilla-Rhethorik auf der Linie von Volksbefreiungsbewegungen in Kolonien westlicher Mächte. Während der nationalkatholischen Diktatur des Generals Franco (die jede über Folklore hinausgehende national-baskische Aktivität, auch die öffentliche Verwendung der baskischen Sprache, konsequent unterdrückte) beging die Organisation einige wenige tödliche Anschläge, vor allem gegen Militärs und Mitglieder der politischen Polizei, unter denen aber die im Jahre 1973 begangene Ermordung – durch einen spektakulären Bombenanschlag im Zentrum von Madrid – des Regierungspräsidenten (und Vertreters einer harten Linie innerhalb des Regimes) Admiral Carrero Blanco wegen ihrer Bedeutung für den ganzen Übergangsprozeß hervorzuheben ist. ETA war aber mit dem Ende der Diktatur nicht zufrieden. Zwar sagte sich nach heftigen internen Auseinandersetzungen ein Teil der Organisation von der Gewalt los und stellte sich unter die Geltung des allgemeinen Amnestiegesetzes von 1977; die für die Weiterführung der terroristischen Aktionen eintretende Mehrheit in „ETA-militarra“ verlangte aber sofortige „territoriale Wiedervereinigung“ aller baskischen Territorien mit dem autonomen spanischen Baskenland und sofortigen „Rückzug“ des spanischen Staates, also eine unmögliche Kapitulation, steigerte die Intensität ihrer Anschläge und bombte immer härter auf den eben eingeführten neuen spanischen Verfassungsstaat ein, so dass der Höhepunkt des Terrors – mit jährlichen Opferzahlen um die hundert Toten und permanenter „Präsenz“ mit blutigen Anschlägen auch in Madrid, Barcelona und anderen Orten außerhalb des Baskenlandes – in die achtziger Jahre fällt (insgesamt sind über 800 Todesopfer zu verzeichnen!). Seit Beginn der neunziger Jahre ist – begleitet von zwei Verhandlungsprozessen mit vorherigem „Waffenstillstand“ in den Jahren 1998 und 2007, die beide am Maximalismus der Forderungen der ETA scheiterten – ein stetiger Rückgang der terroristischen Aktionen eingetreten. Parallel zu ihrem „operativen“ Niedergang hat ETA den Kreis ihrer Opfer ungeheuer ausgedehnt; zuletzt werden auch ehemalige Mitglieder von ländlichen Gemeinderäten wegen ihrer Tätigkeit bei den spanischen Konservativen oder bei den Sozialdemokraten, oder kleine Unternehmer, die sich an einem ETA nicht genehmen Bahnprojekt beteiligen, als „Unterdrücker des baskischen Volkes“ ermordet. Trotz des unübersehbaren Niedergangs der ETA als terroristischer Organisation ist heute die Frage der richtigen Antiterrorlinie gegenüber ETA politisch wichtiger und kontroverser denn je; dies äußert sich auch in stetigen Verschärfungen des geltenden Rechts; vgl. die Skizze bei Cancio Meliá, JjurZG 1/2009, 17 ff.
Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im spanischen Strafrecht 1451
orientierte internationale Terrorismus – zeitlich aufeinandertreffen; deshalb kommt der Tatbestand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation – in scharfem Gegensatz zur Lage in Deutschland und den anderen westeuropäischen Ländern – tagtäglich zur Anwendung. Obwohl gegenwärtig ETA eindeutig geschwächt ist, findet zur Zeit auch in der Rechtsprechung die Ausweitung entscheidender Begriffe statt: Einerseits hat der Tribunal Supremo (= TS, Oberster Gerichtshof) die Reichweite des Merkmals der terroristischen Organisation seit 2007 auch auf alle Gruppen im politischen Umfeld ausgedehnt; andererseits werden in den letzten Jahren auch alle konkreten Straftaten, insbesondere die Unterstützung und die Mitgliedschaft, mit viel flexibleren Kriterien ausgelegt.5 Auf diese besondere spanische Lage wirkt neben dem allgemeinen, von punitivem Populismus geprägten kriminalpolitischen Klima nun auch die neue europäische Kriminalpolitik6 auf dieses Gebiet ein, insbesondere auch durch die einschlägigen Rahmenbeschlüsse aus den Jahren 2002 und 2008. Zwar gibt es in Spanien objektiv kaum etwas zu reformieren oder zu erweitern – weil das spanische Antiterrorismusstrafrecht so weit gespannt ist, dass keiner der beiden Beschlüsse Nichterfasstes enthält –, doch bieten solche europäische Initiativen einen willkommenen legitimatorischen Vorwand, um eine schon uferlose Regelung ins Unendliche auszudehnen.7 Es zeigt sich hier – wie es, so steht zu vermuten, auch in anderen Bereichen und anderen Ländern geschieht – ein Charakteristikum dieser EU-vermittelten Kriminalpolitik: Wie der spanische Volksmund formuliert, wird hier „der Stein geworfen und die Hand verborgen“; um die Folgen dieser Initiativen kümmert sich die europäische Ebene nicht. Auch innerhalb der eng an die deutsche Theorie gebundenen Länder wird dieses Defizit nicht durch die Diskussion in der Strafrechtswissenschaft wettgemacht, denn obwohl ein gefestigter Dialog zu den Fragen der allgemeinen Zurechnungslehre gepflegt wird, tendiert die Kenntnis der jeweiligen Ausgestaltung des Besonderen Teils anderer Mitgliedsstaaten gegen null. Aus vorstehenden Gründen mag es angehen, wenn in einem Beitrag zu einem zu Ehren von Puppe herausgegebenen Band nicht versucht wird, an der Entwicklung allgemeiner Kategorien teilzunehmen, sondern ein Bericht über die Lage bei einer konkreten Straftat in der spanischen Strafrechtsordnung vorgelegt wird. Auch (gerade) in diesen Außenbezirken der Verbrechenslehre muss der Aus5
Vgl. Cancio Meliá (Fn. 3), S. 171 ff., 201 ff., 230 ff. Zum aktuellen Reformgesetzentwurf 2009, der die Terrorismusdelikte bis hin in bloße ideologische Unterstützung (und darunter: auch das Skandieren von Slogans, die zur Aufstachelung zur Begehung von Straftaten geeignet sind, soll kriminalisiert werden) ausdehnen will, vgl. nur Cancio Meliá, in: Álvarez García/Manjón-Cabeza Olmeda (Hrsg.), Enmiendas al Proyecto de Ley de Reforma Penal de 2009 (im Erscheinen). 7 In der ganzen westlichen Welt, und insbesondere auch auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung, findet eine Globalisierung kriminalpolitischer Diskurse statt; vgl. Cancio Meliá, FS Tiedemann, 2008, S. 1489 ff. 6
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tausch der europäischen Strafrechtswissenschaft stattfinden, will sie nicht in Bedeutungslosigkeit versinken. Hierzu wird zunächst das grundlegende Problem eines jeden Delikts der Mitgliedschaft in einer Organisation angerissen: Die Frage nach der grundsätzlichen Legitimität eines solchen Tatbestandes (unten II.). Zweitens ist die Einpassung des Delikts in den Kontext der Terrorismusdelikte der spanischen Strafrechtsordnung darzulegen (unten III.). Schließlich wird auf der Folie der tragischerweise so reichhaltigen spanischen Rechtsprechung versucht, die Grundlagen einer Tatbestandsdefinition zu benennen (unten IV.). II. Das Problem Die Terrorismusdelikte – wie auch das empirische Phänomen „Terrorismus“ – sind aufgrund ihrer politischen Bedeutung ganz wesentlich von der Bedeutung des Kollektivs geprägt: Protagonistin der terroristischen Strategie ist stets die Organisation.8 Anders formuliert: der Terrorismus ist organisierte Kriminalität. Diese Organisation wird aber natürlich von der Rechtsordnung nicht als solche anerkannt; vielmehr wird ihre Existenz durch Kriminalisierung von verschiedenen Formen des Kontakts von Individuen mit ihr registriert. Die entscheidende strukturelle Kopplung zwischen der empirischen Organisation und dem Individuum, das bestraft wird, weil er sie unterstützt, liegt selbstverständlich in der Straftat, die gerade darin besteht, zu ihr zu gehören, zum Fleisch der Organisation zu werden: In der Straftat der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Dieses Delikt stellt die Strafrechtstheorie vor große Schwierigkeiten: Aus der Perspektive normaler Straftaten, die ein konkrete Rechtsgüter schädigendes oder gefährdendes Verhalten erfassen, stellt die Straftat der Mitgliedschaft Formen von Vor-Vorbereitung oder Vor-Teilnahme unter Strafe. Aus der hier eingenommenen Perspektive kann aber eine Straftat der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation legitimiert werden: bei zutreffender Bestimmung des Rechtsguts der Organisationsdelikte – auch als zurechenbarer Sinnausdruck, nicht nur als schiere Bekämpfung von Gefährlichkeit – liegt in dem Verhalten des sich in die Organisation Eingliedernden ein spezifisches Unrecht.9 Das konkrete Verhalten ist aber tatbestandlich zu beschreiben, will man vermeiden, dass das Delikt als bloße Adhäsion, als formale Identifizierung als einer von ihnen verstanden und angewandt wird. 8 Vgl. zum Beispiel die prägnante Formulierung bei Lutz/Lutz, Global Terrorism, S. 11: „For political violence to be terrorism there must be an identificable organization. An individual is unable to carry out the actions, reach the target audience, and present the political demands that are necessary to end the violence.“ 9 Cancio Meliá, FS Jakobs, 2007, S. 27 ff., 48 ff.
Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im spanischen Strafrecht 1453
Die geltende spanische Regelung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Mitgliedschaft – im Rahmen einer Haltung, die als Normalitätsideologie10 umschrieben werden kann – als Straftat wie jede andere darstellt: Sie integriert das Delikt der Mitgliedschaft als qualifizierten Tatbestand in die allgemeine Regelung der kriminellen Vereinigung.11 Die Untersuchungen zum aktuellen Stand der Kriminalpolitik weisen dieser Straftat aber eine zentrale Stellung als Paradigma des sogenannten „Feindstrafrechts“12 zu. Wie auch allgemein zu den Organisationsdelikten13 soll aber hier nicht davon ausgegangen werden, dass die Straftat der Mitgliedschaft strukturell (zumindest als Strafrecht) illegitim ist.14 Ein solches Vor-Urteil bringt den Interpreten besonders drastisch zwischen das Schwert der globalen Anerkennung der Legitimität des Delikts und die Wand einer externen, bloß negatorischen Globalkritik.15 Hier soll vielmehr das Tertium einer Auslegung versucht werden, die ein legitimes und dogmatisch anwendbares Verständnis der Straftat ermöglichen soll. Dies soll natürlich einerseits im Rahmen des dogmatisch Möglichen geschehen: Nicht alle Entscheidungen des Gesetzgebers/ der Gerichte sind erfolgreich in ein stringentes Konzept einzugliedern. Andererseits soll bei dieser Untersuchung berücksichtigt werden, dass das Delikt der Mitgliedschaft in einer Organisation materiell ein allgemeines Zurechnungsproblem und nicht eine bloße Frage einer formellen Tatbestandserfassung darstellt.16
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Siehe Cancio Meliá, JpD 44 (2002), S. 19 ff.; ders., JjurZG 1/2009, 18. Vgl. Cancio Meliá, FS Jakobs, 2007, S. 48 ff., 50 zu den Unterschieden zwischen Terrorismus und anderen Organisationsdelikten. 12 Zum Begriff nur Jakobs, ZStW 97 (1985), 753 ff.; ders., HRRS 2004, 88 ff.; ders., Die staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, 40 ff.; ders., in: Cancio Meliá/Gómez-Jara Díez (Hrsg.), Derecho penal del enemigo. El discurso penal de la exclusión, 2006, Bd. 2, S. 93 ff. Für seine analytische Potenz, gegen seine Vereinbarkeit mit einem rechtsstaatlichen (Straf-)Recht Cancio Meliá, ZStW 117 (2005), 267 ff.; ders., in: Jakobs/Cancio Meliá, Derecho penal del enemigo2, 2006, S. 85 ff. Die aus hiesiger Perspektive jedenfalls fruchtbare Polemik wird umfangreich und international dokumentiert in dem Sammelwerk Cancio Meliá/Gómez-Jara Díez, Derecho penal del enemigo, 2 Bde. 13 Cancio Meliá, FS Jakobs, 2007, S. 27 ff. 14 Vgl. aber Jakobs’ Position (z. B. in: ZStW 117 [2005], 839 ff.), der davon auszugehen scheint, dass alle Organisationsdelikte zum Feld des Feindstrafrechts zu schlagen sind; differenzierter ist seine ursprüngliche Analyse in seiner entscheidenden Untersuchung zur Kriminalisierung im Vorfeld (ZStW 97 [1985], 753 ff.); hierzu Cancio Meliá, FS Jakobs, 2008, S. 38 ff. 15 Wie Silva Sánchez (LH Ruiz Antón, 2004, S. 1074), formuliert, „ist es nicht sicher, ob diese Alternative wirklich existiert“. 16 Hierzu grundlegend Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 9 ff., 11, 21; vgl. auch Langer-Stein, Legitimation und Interpretation, 1987, S. 165; Sánchez García de Paz, LH Barbero Santos, 2001, S. 647, 673 ff.; Silva Sánchez, LH Ruiz Antón, 2004, S. 1074. 11
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III. Die Straftat der Mitgliedschaft und die Terrorismusdelikte 1. Der Begriff der terroristischen Organisation in Bezug auf das Mitgliedschaftsverhalten Das gemeinsame Element aller Terrorismusstraftaten (seien es periphere Tatbestände, wie die verschiedenen Formen der Unterstützung, oder instrumentelle Delikte, wie die in Ausübung terroristischer Aktivitäten verübten Tötungen oder Freiheitsberaubungen usw., oder schließlich Delikte struktureller Art, wie die Mitgliedschaft) ist das Bestehen einer terroristischen Organisation. In der spanischen Lehre ist auf der Grundlage einer relativ inhaltsreichen gesetzlichen Beschreibung ein funktionaler Organisationsbegriff entwickelt worden, nach dem sich die Organisation als permanente, arbeitsteilige Struktur darstellt, die über die Begehung von konkreten Straftaten hinaus ein langfristiges politisches Programm verfolgt – ein Begriff, der auch die neuen Netzwerkorganisationen des neuen internationalen Terrorismus mühelos zu erfassen in der Lage ist.17 In Art. 516 CP wird die Mitgliedschaft spezifisch in einer terroristischen Organisation mit gegenüber der gewöhnlichen kriminellen Vereinigung verschärften Strafen bedroht. Die spanische Regelung ist besonders inhaltsreich, was die Bezeichnung der Gründe für diese Verschärfung angeht, und es kann behauptet werden, dass es hierbei um drei Elemente geht: erstens um das durch die Organisation geschaffene besondere Gefahrpotential, zweitens um den spezifischen Aktionsmechanismus des Terrors und drittens um das besondere politische Programm („Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung“).18 Das spezifische Unrecht der Terrorismusdelikte ergibt sich also sowohl aus der besonderen Gefährlichkeit, die die organisatorische Struktur als Multiplikator individueller Faktoren hervorruft, als auch aus der radikal illegitimen Bedeutung der Verwendung der spezifisch terroristischen Strategie und der daraus abzuleitenden Infragestellung der grundlegenden politischen Partizipationsverfahren.19 Das ist also das „Primärsubstrat“
17 Vgl. nur García-Pablos de Molina, in: Cobo del Rosal (dir.)/Bajo Fernandez (coord.) u. a., Comentarios a la Legislación penal, Bd. II, S. 116 ff.; Terradillos Basoco, in: Barja de Quiroga/Rodríguez Ramos (Hrsg.), Código penal comentado, 1990, S. 407; Cancio Meliá (Fn. 3), S. 166 ff. 18 Cancio Meliá, LH Gimbernat Ordeig, Bd. II, 2008, S. 1879 ff. 19 Das sich das besondere Unrecht sowohl aus Gefährlichkeit als auch aus der politischen Bedeutung ergibt, lässt sich auch an denjenigen Fällen ablesen, bei denen eine terroristische Organisation ihrer Auflösung nahe kommt; das ist in Spanien z. B. bei den „Grupos Revolucionarios Armados Primero de Octubre“ der Fall („Bewaffnete Revolutionäre Gruppen Erster Oktober“; s. die monographische Untersuchung bei Roldán Barbero, Los GRAPO, 2008, S. 165 ff., 168 ff.; zu anderen Gruppen in ähnlicher Lage vgl. z. B. Avilés Gómez, Criminalidad organizada, 2004, S. 428 ff.); obwohl es sich nur noch um eine Handvoll Aktivisten handelt, die sich aufs Überleben durch Banküberfälle konzentrieren, rechtfertigt ihr aufrechterhaltener politischer Anspruch trotz mäßiger faktischer Gefährlichkeit ihre Weiterbehandlung als terroristische Organisation.
Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im spanischen Strafrecht 1455
des Mitgliedschaftstatbestandes20 – das tatbestandsmäßige Verhalten muss also für eine solche Organisation funktional sein. 2. Konkurrenzen Ebenfalls vor der Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens der Mitgliedschaft stellt sich die Frage, welche Beziehung dieses Delikt zu den als Aktivitäten der terroristischen Organisation erfassten restlichen Terrorismusdelikten unterhält. Dabei ist zu erörtern, in welchem Verhältnis die Mitgliedschaft einerseits zu anderen begangenen vollendeten Terrorismusstraftaten, andererseits zu den spezifisch mit Strafe bedrohten Vorbereitunghandlungen steht. a) Instrumentelle Straftaten Im spanischen Terrorismusstrafrecht kann im Prinzip eine jede Straftat zu einem Terrorismusdelikt werden, sofern sie „als Mitglied, in Unterstützung oder im Dienste“21 einer terroristischen Organisation begangen wird. Da also die Verbindung mit der terroristischen Organisation ein Tatbestandsmerkmal aller Terrorismusdelikte darstellt, scheint es offensichtlich, dass es sich um einen Fall des bis in idem handelte, wenn die Mitgliedschaft gesondert und zusätzlich zu einem anderen Terrorismusdelikt bestraft würde.22 Genau dies ist aber die übliche Praxis der zuständigen23 spanischen Gerichte: „Es handelt sich um zwei bestens zu unterscheidende Taten, deren Beziehung eine der Realkonkurrenz ist. Die Straftat der Eingliederung oder Mitgliedschaft . . . in einer terroristischen Organisation . . . ist ein Zustandsdelikt, das solange vorliegt, wie der Wille des Täters diese Zuschreibung zulässt, ohne dass der bezeichnete Tatbestand . . . eine bestimmte Tätigkeit zur Voraussetzung macht . . . die konkreten Handlungen, die von den Mitgliedern der Organisation begangen werden und eine selbstständige Straftat darstellen, sind vom Delikt der Eingliederung oder Mitgliedschaft unabhängig, denn es handelt sich um unterschiedliche Sachverhalte.“24 Geht man davon aus, dass 20 STS (sentencia del Tribunal Supremo, Entscheidung des OGH) 119/2007 (16.2. 2007). 21 Vgl. Cancio Meliá, JjurZG 1/2009, 17 f.; ders. (Fn. 3), S. 219 ff. 22 Für alle Lamarca Pérez, Derecho penal, Parte Especial3, 2005, S. 712; Hernández Hernández, in: Conde-Pumpido Ferreiro (Hrsg.), Código penal, Bd. III, 1997, S. 4902 m.w. N.; für die Bejahung von Realkonkurrenz soweit ersichtlich nur Moral de la Rosa, Aspectos penales y criminológicos del terrorismo, 2005, S. 188 ff. 23 Für Terrorismusdelikte besteht in Spanien die „ordentlich-besondere“ (Gómez Benítez, CPC 16 [1982], 49, 55) Gerichtsbarkeit des Nationalen Gerichtshofes (Audiencia Nacional) in Madrid als Instanzgericht (und besonderer Untersuchungsrichter), dessen Entscheidungen im Rechtszug der Kassation vor dem Tribunal Supremo anfechtbar sind. 24 SAN (sentencia de la Audiencia Nacional, Entscheidung des Nationalen Gerichtshofes) 12/2003 (Sekt. 4) 1.4.2003, eindeutig auch z. B. STS (14.10.1987 und 15.4. 1993).
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die Straftat der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation nicht nur polizeilich-faktisch orientiert ist, sondern auch die Unrechtsdimensionen eines politisch inakzeptablen Sinnausdrucks beinhaltet, ist es offensichtlich, dass dieses Element auch bei den anderen Terrorismusstraftaten präsent ist. Anders lässt sich die Strafverschärfung gegenüber den parallelen gewöhnlichen Delikten nicht erklären: Die Terrorismusdelikte sind in jedem Falle kondensierte Akte der Unterstützung der Organisation, eine Realkonkurrenz zwischen Mitgliedschaft und instrumenteller Straftat eine eindeutige Doppelbestrafung. Die Rede von den „unterschiedlichen Sachverhalten“ ist nichts weiter als eine petitio principii, mit der verschleiert wird, worum es geht: um Kategorisierung; der Täter wird als Feind definiert, entscheidend ist nicht, was er tut, sondern wer er ist. b) Strafbare Vorbereitungshandlungen Zweitens stellt sich auch die Frage, wie die Mitgliedschaft von den in Art. 579 CP mit Strafe bedrohten Vorbereitungshandlungen abzugrenzen sind, da es offensichtlich ist, dass als Mitgliedschaftsverhalten erfasstes Verhalten oft materiell auf die Vorbereitung von weiteren Straftaten abzielt. Wann ist dieses Verhalten als Mitgliedschaft, wann als Vorbereitung einer anderen Straftat zu erfassen? In einem System wie dem spanischen, bei dem die Achse der Regelung auf der Mitgliedschaft liegt – und nicht auf einem Katalog von konkreten Akten der conspiracy, wie im angelsächsischen Rechtskreis –, scheint die Lösung klar: zeichnet sich die Vorbereitung durch die Konkretisierung der Handlungspläne aus, so sind auf der einen Seite die Beiträge zur allgemeinen Struktur des Kollektivs, auf der anderen konkrete deliktische Vorhaben.25 Auch in diesem Bereich ist festzustellen, dass bei gleichem Wortlaut des Gesetzestextes und gleicher theoretischer Position der Rechtsprechung die Auslegung zunehmend ausufert: Jeder Beitrag, der später von anderen Mitgliedern der Organisation in ein konkretes Delikt eingebaut wird, soll auch als Grundlage einer Zurechnung wegen der konkreten Vorbereitung (oder der anschließenden Begehung) dienen, auch wenn der Täter den Zusammenhang gar nicht überblicken kann. Eine Art Generalvorsatz soll das legitimieren: Wenn der Betreffende eine wie auch immer geartete Aktivität im Rahmen der Organisationstätigkeiten ausführt, kann er auch vorhersehen, dass sein Beitrag später in eine konkrete Deliktsplanung oder -begehung eingepasst werden wird, und kann dafür bestraft werden – wobei nach ständiger Rechtsprechung, wie vorhin ausgeführt, auch die Strafe für die Mitgliedschaft dazukommt.26
25 26
Auf dieser Linie z. B. SAN 6/2007 (Sekt. 1) 7.2.2007. Vgl. Cancio Meliá (Fn. 3), S. 206 ff.
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IV. Tatbestandsmäßigkeit 1. Passive Mitgliedschaft? Bei der Bestimmung des Umfangs tatbestandsmäßigen Verhaltens ist zunächst eine Vorfrage zu klären: Die Fassung der Organisationsdelikte im spanischen Strafgesetzbuch enthält einen Unterschied in der Formulierung des Verhaltens des Mitglieds27; handelt es sich um eine gewöhnliche kriminelle Vereinigung, ist die Rede von „aktiven“ Mitgliedern, bei der terroristischen Organisation nur von schlichten „Mitgliedern“. Wie auch bei der Frage der Abgrenzung zu den konkreten instrumentellen Terrorismusstraftaten scheint sich hier der Gedanke widerzuspiegeln, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sei ein reines Tätigkeitsdelikt in dem Sinne, dass es nur um einen formellen Akt des Beitritts gehe.28 Dieses Verständnis des Tatbestandes ist aber falsch: es verlässt den Rahmen, den die Tatbestandsstruktur der Terrorismusdelikte für die Auslegung festlegt. Auch wenn hier das verwandte konkrete Wort nichts Konkretes besagt,29 kann die Mitgliedschaft gar nicht ideeller Art sein. Gerade aus der Perspektive eines Regelungsmodells, das wie das spanische die tatbestandlichen Mittel des Terrorismus benennt (mit allen faktischen Implikationen: Abtauchen in den Untergrund, Schutz vor den Aktivitäten von Polizei- und Geheimdienststellen), handelt es sich stets um Organisationen, die einen ganzen Parcours von Dienstverhältnissen festlegen, bevor in den inneren Kreis der Mitgliedschaft vorgedrungen werden kann. In einem Wort: in der Praxis der terroristischen Organisationen gibt es keine Mitgliedschaft ohne relevante Beiträge an die Organisation; die richterliche Anwendung darf eine solche Fiktion auch nicht zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten zur Tatbestandsdefinition erheben. 2. Mitgliedschaftsverhalten a) Einführung Mit vorstehenden Überlegungen ist noch nichts zur konkreten Ausgestaltung des tatbestandsmäßigen Verhaltens gesagt; es wurde lediglich festgestellt, dass es 27 Zur Gesetzgebungsgeschichte dieser Formulierung vgl. nur Terradillos Basoco, Terrorismo y Derecho, 1988, S. 81 f.; gegen die Kriminalisierung bloßer formeller Mitglieder schon Carbonell Mateu (DJ 37/40 [1983] vol. 2, S. 1303). 28 Vgl. für alle Terradillos Basoco (Fn. 27), S. 83 f.; Manjón-Cabeza Olmedo, LH Ruiz Antón, 2004, S. 557; Silva Sánchez, ebenda, S. 1088 f.; Cancio Meliá, FS Jakobs, 2007, S. 41 f., 45 mit Fn. 88. 29 Im Unterschied zur deutschen Regelung, die in den §§ 129, 129a StGB den sprachlich eine konkrete Handlung voraussetzenden Begriff „Beteiligter“ verwendet, ist im spanischen CP nur vom „Mitglied“ die Rede.
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nicht um einen persönlichen Status, sondern um eine Handlung, um ein Verhalten der Mitgliedschaft gehen muss. Dieses Verhalten lässt sich als Straftat dadurch legitimieren, dass in der Eingliederung in die Organisation ein zurechenbarer „Kontrollverlust“30 gesehen wird: Der Täter macht sich zum Teil der Organisation, er wird ihr Fleisch. Er ordnet sich also der Organisation unter, erkennt deren interne Strukturen an und tut, was ein Mitglied dieser Organisation typischerweise tut. Die Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens kann nicht ausschließlich auf der abstrakten Ebene des materiellen Rechts stattfinden; wie das Verhalten auch immer definiert wird, ist gleichzeitig auch zu untersuchen, welche konkreten Sachverhalte den Schluss zulassen, der Täter sei Mitglied der Organisation. Bei einer per definitionem verborgenen Tätigkeit wird bei der Verhandlung schwerlich ein direkter Beweis – eine Mitgliederliste, eine Art Soldbuch oder Ähnliches – vorzulegen sein. Der Nachweis der Mitgliedschaft31 wird vielmehr aufgrund von Indizien erfolgen. Konkret bedarf also die Definition des tatbestandsmäßigen Verhaltens einer Art Katalog von Sachverhalten, bei deren Vorliegen der rationale Schluss einer Eingliederung in die Organisation notwendig wird. b) Anwendung An den in der Rechtsprechung verwandten Sachverhaltskatalogen lässt sich ablesen – wie abschließend zu skizzieren bleibt –, dass die jüngere Rechtsprechung auch hier durch Verwässerung der Beweispraxis eine immer breitere und deshalb auch unsichere Anwendung des Mitgliedschaftstatbestandes praktiziert, so dass die Grenzen zwischen Unterstützung einer terroristischen Organisation, Teilnahme an einer konkreten Straftat und dem Tatbestand der Mitgliedschaft immer unklarer werden. Bei einigen Entscheidungen wird der Versuch gemacht, das Verhalten positiv zu beschreiben: „. . . die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation wird gerichtlich bejaht, wenn der Nachweis unmittelbarer, als Zwecke der Gruppe definierter Handlungen erbracht wird . . .“32
Die meisten Urteile, insbesondere aus jüngerer Zeit, scheinen aber bei der Definition auf die bloße Adhäsion abzustellen:
30
Jakobs, ZStW 97 (1985), 762 ff., 765, 766. Sowohl auf der objektiven Ebene, was die materielle Eingliederung des Täter angeht (aus der Perspektive der Organisation), als auch auf der subjektiven Seite (Kenntnis seiner Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation durch den Betreffenden). 32 SAN 28/2000 (Sekt. 4) 20.10.2000. 31
Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im spanischen Strafrecht 1459 „Wie die Rechtsprechung dieses Senats festgestellt hat, ist der Straftatbestand der Mitgliedschaft . . . eine formelle Straftat bzw. ein reines Tätigkeitsdelikt. . . . jede Art Mitarbeit reicht zur Vollendung hin, ohne dass es . . . notwendig ist, dass die Beiträge Teil von Straftaten der Organisation darstellen“33; „. . . der strafrechtliche Akzent ist in der Mitgliedschaft in der Organisation zu sehen . . . und nicht in den konkreten Akten der Mitarbeit“34. Einige Entscheidungen gehen auch so weit, direkt den formellen Beitrittsakt zur Vollendung hinreichen zu lassen: „Unsere wiederholte Rechtsprechung ist klar . . . die Eigenschaft als Mitglied wird nach der Entscheidung zur Aufnahme der betreffenden Person in der terroristischen Organisation erlangt.“35
Abgesehen von diesen allgemeinen Definitionen ist aber wie gesagt entscheidend, welche konkreten Sachverhalte als typische Formen mitgliedschaftlichen Verhaltens erachtet werden. Die Praxis hat in zahlreichen Entscheidungen einen diesbezüglichen Katalog erarbeitet: Die Beweislage ist zur Verurteilung wegen Mitgliedschaft als hinreichend eingestuft worden, wenn der Betreffende die Aufgabe hat, Dokumente der terroristischen Organisation zu erhalten und anzufertigen, oder als Verantwortlicher für die Geheimhaltung der Organisation fungiert, oder eine Schreibmaschine besitzt, mit der die Daten einer Zielperson festgehalten wurden, oder in seiner Wohnung Mitglieder der Organisation beherbergt, oder beim Bau eines unterirdischen Verstecks mitwirkt.36 Einige Jahre später aktualisiert aber die Audiencia Nacional diesen Katalog und erweitert ihn ganz entscheidend: Nun ist es auch typisch für ein Mitglied der terroristischen Organisation, wenn „andere überzeugt werden, den Jihad einzuleiten; das heißt, eine Indoktrinierung im islamischen Fundamentalismus“ stattfindet; die Entsendung von Personen zu von Al Qaida kontrollierten Ausbildungslagern, in denen sie die Verwendung von Waffen und Sprengstoff erlernen sollen; die Rückkehr aus einem solchen Ausbildungslager; der Besitz von genauen Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffen; die Unterstützung dieser Aktivitäten durch Geldgaben.37 Es handelt sich hierbei, wie ausgeführt, um Indizien: aus den nachgewiesenen Umständen wird abgeleitet, dass der Betreffende ein Mitglied sein muss. So wird z. B. argumentiert, ETA trage keinem, der nicht ihr volles Vertrauen genieße – also Mitglied sei – auf, Sprengstoff von Frankreich nach Spanien über die Grenze zu bringen38, oder der Besitz von bestimmten Material (Sprengstoff, gefälschte Dokumente) sei ein klares Indiz für die Mitgliedschaft.39 Frühere Entscheidungen hatten aber andere Maßstäbe angelegt:
33
STS 15.4.1993. STS 17.6.2002. 35 Beschluss AN (Sekt. 4) 8.2.2001. 36 SAN 28/2000 (Sekt. 4) 20.10.2000. 37 SAN (Sekt. 2) 31.3.2006; in dieser Entscheidung wird der Verantwortliche einer Webseite als Mitglied der terroristischen Organisation verurteilt. 38 STS 1346/2001 (28.6.2001). 39 STS 1127/2002 (17.6.2002). 34
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„. . . die angefochtene Entscheidung . . . enthält drei grundlegende tatsächliche Feststellungen: a) Das wichtige Material an Waffen und Sprengstoff, das ETA den beiden Angeklagten anvertraut hatte; b) die Verstecke, die sie zur Verbergung der Waffen vorbereitet hatten; c) die koordinierte Handlungsweise sowohl bei der Übergabe als auch beim Transport dieses Materials. Aber diese drei Indizien passen bei gemeinsamer Betrachtung sowohl zur Mitgliedschaft bei ETA als auch auf einen Fall der Unterstützung ohne Mitgliedschaft. Deshalb scheint es uns nicht angemessen anzunehmen, dass [die Angeklagten] Mitglieder von ETA waren.“40
Unabhängig von der Richtigkeit der konkreten Entscheidung in jedem Fall – und auch vom jüngsten Prozess der Erweiterung bzw. Verwässerung der Unterscheidungskriterien – wird deutlich, dass es hier um eine konkrete funktionale Betrachtung gehen muss: Mitglied einer Organisation kann derjenige sein, der diejenigen Beiträge durchführt, die typischerweise den Mitgliedern der Organisation vorbehalten bleiben. Es wird also offensichtlich, dass die Notwendigkeit besteht, die konkreten Strukturen einer jeden Organisation zumindest in den Grundlagen zu kennen; erst dadurch kann der Schluss von der konkreten Handlung auf den Status erfolgen.
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STS 563/1997 (25.4.1997).
Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts Von Michael Köhler La Souveraineté est inaliénable Jean-Jacques Rousseau1
Die europäische Einigung seit Ende des 2. Weltkrieges ist ein geradezu revolutionärer Fortschritt zum fortdauernden Frieden – wenn nicht eine dem freiheitlichen Rechtsprinzip widerspechende Vorstellung von „Unions“-Recht und daraus resultierende Zumutungen einer zentralistischen Superstruktur sie zu Fall bringen. Anlass zur Grundsatzreflexion bietet der geltende Stand des Vertrags-Verfassungsrechts oder „Primärrechts“ der Europäischen Union,2 und ihrer Gesetzgebung, des „Sekundärrechts“, die durch ein Übermaß an Regelungsfülle, Kompliziertheit und vor allem: Unklarheit von Verantwortlichkeiten gekennzeichnet sind. Das weckt, bei aller Anerkennung der Fortschritte zur Friedensidee, das tiefe Misstrauen des Bürgers, der eigentlich nach der europäischen Idee der Freiheit und dem daraus abgeleiteten gemeineuropäischen Grundsatz der Volkssouveränität das legitime Subjekt aller staatlichen und internationalen Verfassungsordnungen sein müsste, sich aber einer undurchschaubaren Rechtssetzungsstruktur anonymer Mammutbürokratien3 überantwortet sieht. Dies ist nun nicht etwa bloße Einbildung, der gegenüber das geltende Europarecht und seine Kenntnis sowie die europäische Politik einen überlegenen Standpunkt hätten. Vielmehr spiegelt sich darin ein in der Tat gravierender Legitimationsmangel wider, eine Grundwidersprüchlichkeit der geltenden europäischen Verfassung zu unabweisbaren Prinzipien freiheitlichen Staats- und Völker-(bundes)-Rechts. Im Folgenden werden daher die vorhandenen europäischen Rechtsstrukturen auf Basisbegriffe öffentlichen Verfassungsrechts – vor allem die Begriffe Souveränität und Repräsentation in der Gesetzgebung – kritisch und produktiv, also keineswegs europa-skeptisch, rückbezogen.4 Exemplarische Bedeutung hat hier1 Rousseau, Contrat Social, L. II, Chap. 1, in: Œuvres complètes, III, Paris 1964, S. 368. 2 Vertrag über die Europäische Union (EUV), Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), nach den Verträgen von Lissabon v. 13.12.2007, ABl. Nr. C 3306/1 v. 17.12.2007, konsolidierte Fassungen, in: Der Vertrag von Lissabon, hrsgg. von Schwartmann, 2008. 3 Empirisch Vaubel, The European Institutions as an Interest Group, 2009.
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Michael Köhler
bei die Verfasstheit der europäischen Strafgesetzgebung, da an dieser Materie der Prinzipienwiderspruch in der Gesamtstruktur, aber auch seine mögliche Lösung besonders deutlich werden. 1. Das europäische Recht beruht auf Verfassungen öffentlichen Rechts, und zwar nicht eines europäischen (Bundes-)Staates, sondern eines Staatenbundes (Völkerbundes) selbstbestimmter (souveräner) Rechtsstaaten gemäß deren Staatsverfassungen. Der Begriff der Rechtsverfassung5 (constitutio), unabhängig von historischempirischen Entstehungsweisen, äußeren Formen und Benennungen, besteht im Akt eines vereinigten Rechtswillens der Gründung und grundgesetzlichen Regelung einer relativ selbständigen Rechtsordnung mit Organen, Zuständigkeiten, Handlungsformen und Verfahren zu gemeinsamen Gesetzen öffentlichen Rechts, deren Anwendung und der urteilenden Entscheidung eines Auslegungsstreites. Die europäischen Verträge, zumal in der entwickelten Form der Verträge von Lissabon, bestimmen die Europäische Union als juristische Person, weisen ihr Zuständigkeiten insbesondere zur Rechtssetzung zu (Art. 1 EUV), bestimmen Organe insbesondere das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den (Minister-)Rat, die Europäische Kommission, den Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 13 ff. EUV) und definieren Zuständigkeiten, Formen und Verfahren der Rechtssetzung insbesondere einer „ordentlichen Gesetzgebung“ (Art. 288 ff., 4 Die folgenden Überlegungen führen fort Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und Europäische Rechtsangleichung, in: Festschrift für G. A. Mangakis, hrsgg. von G. Bemmann und D. Spinellis, Athen 1999, 751 ff.; ders., Zum Begriff des Völkerstrafrechts, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 435, 448 ff.; ders., in: Jean-Jacques Rousseau, Friedensschriften, Französisch-Deutsch, übersetzt und hrsgg. von Michael Köhler, Hamburg 2009, Einleitung IX ff.; s. auch Köhler/Hössl, Si vis pacem, para pacem? Friede durch internationale Organisation als Option für das 21. Jahrhundert, in: Rechtsphilosophische Hefte, Band 13 (2007), insbes. die Texte von Köhler, Einleitung 7 ff., Grohmann, Ist der Weltstaat rechtsprinzipiell notwendig? 13 ff.; Sander, Die Verfassungselemente der Europäischen Union und ihr Standpunkt im System des internationalen Rechts, 41 ff.; Hössl, Das kantische Weltbürgerrecht als komplementäre Verfassungsform des internationalen Austauschs Privater? 137 ff.; vgl. auch die am hiesigen Seminar für Rechtsphilosophie entstandene Dissertation von Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung. Das Handlungsformensystem des Mehrebenenverbundes als Ausdruck einer legitimitätsorientierten Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten, 2005, mit der Verf. weithin übereinstimmt; zur schärferen Akzentuierung des freiheitsgesetzlich-produktiven Begriffs der Volks- bzw. Staatssouveränität und deren Unveräußerlichkeit im folgenden systematischen Zusammenhang. 5 Grundlegend zu Begriff und Arten-Trias, Kant, Zum Ewigen Frieden (ZEF), Definitivartikel, in: Akademieausgabe (AA), VIII, S. 349 ff.; Metaphysik der Sitten, 1. Teil: Rechtslehre (MdS, RL), §§ 43 ff., §§ 53 ff., § 62, in: AA, VI, S. 311 ff., 343 ff., 352 ff.; zur Aktualisierung insbes. auch im Hinblick auf existierende internationale Organisationen, Mestmäcker, Kants Rechtsprinzip als Grundlage der europäischen Einigung, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, 1999, S. 61 ff.; die in Fn. 4 genannten Arbeiten von Köhler (2003, 2009), Grohmann, Hössl, Sander.
Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts
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293 ff. AEUV). Es handelt sich also um eine, nach der Ratifikation durch die Mitglieder der EU, gültige Verfassung. Dass das Wort Verfassung im Unterschied zum vorangehenden und an ablehnenden Referenden insbesondere in den Niederlanden und in Frankreich gescheiterten europäischen Verfassungsvertrag im Wortlaut nicht genannt wird, sondern stattdessen die Bezeichnung „Vertrag über die Arbeitsweise der EU“ gewählt wurde, ist zwar von historischem und womöglich moralischem Interesse, was die Klarheit und die Redlichkeit der Repräsentanten der beteiligten Staatsvölker diesen gegenüber angeht. Begrifflich ändert dies nichts: die EU-Verträge formen eine Verfassung öffentlichen Rechts. Damit ist noch nicht die Art dieser Verfassung bestimmt, da es nach schon älterer, richtiger Einsicht drei Verfassungsarten öffentlichen Rechts gibt: Die Staatsverfassung, die Völkerrechtsverfassung und die international-bürgerrechtliche Verfassung. Die Europäische Union ist kein Staat, ihre Verfassung keine Staatsverfassung. Der Staat ist seinem Rechtsbegriff nach die grundgesetzliche Normwillensvereinigung eines Volkes/einer Gesellschaft auf einem bestimmten Territorium zu allgemeingültigen Gesetzen, gegliedert nach Legislative, Exekutive, Judikative. Dies ist die primäre Verfassung öffentlichen Rechts. Daher kommt dem Staat höchste, d. h. absolut selbstbestimmte, unteilbare, unveräußerliche Rechtsmacht im inneren Verhältnis (innere Souveränität) und im wechselseitigen Verhältnis zu anderen Staaten (äußere Souveränität) zu.6 Souveränität ist nicht misszuverstehen als absolutistische oder gar despotische Willkürbefugnis oder als Prinzip eines monadenartigen Rückzuges des Staates auf einen unantastbaren Binnenraum. Vielmehr gewinnt der Begriff mit der freiheitlichen Rechts- und Staatsbegründung auch in der internationalen Beziehung seine verbindliche und produktive Bedeutung: Aus dem Rechtsprinzip der Selbstbestimmung in ihrer kulturellgesellschaftlichen, staatsrechtlichen Besonderheit eignet vor allem der Republik freier und gleicher Bürger Souveränität (Volkssouveränität).7 Die wechselseitige Anerkennung der staatlichen Selbstbestimmung (Souveränität) im äußeren Verhältnis prägt folgerichtig auch die Begründung und konkrete Formung des internationalen Rechts. Dieses erfordert nämlich zur Sicherung dauerhaften Friedens 6 Vgl. mit empiristisch-willenstheoretischer Begründung Hobbes, De cive/Vom Bürger, Kap. V, 11; VI, 1 ff., 18, 19, Ausgabe Günter Gawlick, 1959, S. 129, 130 ff., 145; freiheitsbegrifflich Locke, Second Treatise of Government, Chap. 13, §§ 149, 150, Ed. Peter Laslett, Cambridge 1992, S. 366 ff.; Rousseau, Contrat Social, I, 6, 7; II, 1 ff., in: OC III (Fn. 1), S. 361 ff., 368 ff.; Kant: MdS, RL, §§ 45 ff., in: AA VI, S. 313 ff.; begriffsgeschichtlich Quaritsch, Souveränität – Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, 1986; ders., in: HWPh Bd. 9 (1990), Sp. 1104 ff.; klärend im Sinne höchster selbstbestimmter Rechtsmacht in Verknüpfung von Staats- und Völkerrecht gegen das empiristische Missverständnis von faktischer Allmacht, s. Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, JZ 2000, 1072 ff. 7 Vgl. eindeutig Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“.
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Michael Köhler
nicht etwa notwendig den Völker- oder Universalstaat, sondern einen selbst nicht staatsförmigen Völkerbund, dessen Verfassung und Gesetze zunächst negatorisch-verbietend gegen Übermachtgewinn durch Verletzung der Unabhängigkeit eines ihrer Mitglieder oder Vertragsuntreue gerichtet sind.8 Ein Völker- oder Staatenbund ist daher die Vereinigung verschiedener souveräner Völker (Staaten) gemäß einer vertraglich konstituierten Verfassung zu konsentierten gesetzlichen Grundsätzen wechselseitig-allgemeiner Respektierung der staatlichen Unabhängigkeit, also zugleich des Ausschlusses von interessegeleitetem Übermachtstreben eines Staates gegen den anderen – die Völkerfriedensverfassung.9 Für die Stabilität dieses Bundes steht vor allem die Rechtsstaatlichkeit ihrer Mitglieder, deren Verfassungen den internationalen Frieden mit der Verfassung des Bundes schlüssig in sich aufnehmen. Die seinem Freiheitsgrund entsprechende Inhaltsund Zukunftsoffenheit des Souveränitätsbegriffs enthält im Weiteren auch die produktive Öffnung des Rechtsstaates für die ihre Freiheit international verwirklichenden Staats- und Weltbürger – in einem dritten Schritt der Verfassungsbildung, mit dem die Staaten gleichgeordnet, mithin in konsensualer Souveränitätsausübung die internationale Erweiterung subjektiv-rechtlicher Freiheiten und die schlüssige Identität ihrer je auch besonderen Rechtsordnungen koordinieren. Kritisch abgrenzend gilt zunächst: Die Europäische Union als einen Staat zu gründen, käme den konstituierten Staatsorganen eines Rechtsstaates, exemplarisch der Bundesrepublik Deutschland, nicht zu, da sie unter der Verfassung stehen, sondern nur der verfassungsgebenden Macht (pouvoir constituant) des Volkes selbst, z. B. des deutschen Volkes, im Übergang zu einem europäischen Volk.10 Demgemäß ist die Europäische Union, zunächst ausweislich ihres Verfassungstextes, kein (Bundes-)Staat. Dies hat das BVerfG in einer Hauptlinie seines 8 Vgl. Kant, ZEF, 2. Definitivartikel, in: AA VIII, S. 353 ff., 356 f.: „Dieser Bund geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten“; vgl. auch MdS, RL, § 54, in: AA VI, S. 344: „dass die Verbindung (scl. zum Völkerbund) doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung) sondern eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse“ (in diesem Sinne „negatives Surrogat“ für die in der Idee vorstellbare, aber in ihren Realisationsbedingungen wegen des berechtigten Selbständigkeitsstreben der Staaten unabsehbare Weltrepublik); dazu erhellend Grohmann (oben Fn. 4); zur weiterführenden Lösung s. auch Köhler, in: Rousseau (2009), Einl. S. LXVI f. – Zur Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund nach dem Souveränitätskriterium, bei Zweideutigkeit der Termini foedus/Bund bzw. Föderalismus, s. Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 172 ff., 276 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht3, 1984, S. 594 ff. 9 So vor allem die Vereinten Nationen nach ihrer Verfassung, der UN-Charta vom 26.6.1945, vgl. Art. 1, 2; s. aber auch Art. 3 I EUV: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“. – Das Friedensziel erinnert an das ursprüngliche Motiv der Gründung der Europäischen Gemeinschaft nach dem 2. Weltkrieg. 10 Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts zur Begrenzung der Kompetenz nach Art. 23 Abs. 1 durch Art. 79 Abs. 3 GG, zutreffend BVerfG, Urteil vom 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a. – Rn. 226 ff., NJW 2009, 2270 ff.
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Urteils zu den Verträgen von Lissabon zutreffend dargelegt:11 Die vertragsschließenden Rechtsstaaten (Völker) sind und bleiben die selbstbestimmten (souveränen) und zwar produktiven Konstituenten der Vertrags-Verfassung (des „Primärrechts“). Das wird ex negativo durch das Austrittsrecht (Art. 50 EUV) bestätigt.12 Die Ermächtigung der EU bzw. ihrer zuständigen Organe zur Setzung von internationalen Normen materiell-gesetzlichen Inhaltes stammt von den Staaten als prinzipiell „begrenzte Einzelermächtigung“ (Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV); sie enthält keine dem Souveränitätsbegriff entsprechende Selbstzuschreibung von Normsetzungszuständigkeiten (sog. Kompetenz-Kompetenz) und, anders als im Bundesstaatsrecht, keinen letztlich gewaltsamen Bundeszwang.13 Im Ganzen ist es daher prinzipiengesichert und folgerichtig, wenn das BVerfG die den EU-Verfassungsverträgen immanenten Befugnisse zur Erweiterung der Normsetzungszuständigkeiten durch die Organe der Europäischen Union selbst von einer Zustimmung der zuständigen mitgliedstaatlichen Gesetzgebungskörperschaft abhängig macht.14 Dieser positivrechtliche Befund wird dadurch erhärtet, dass es unabsehbar an substantiellen Voraussetzungen eines europäischen Staatsgründungswillens, der sich der verfassungsgebenden Macht (pouvoir constituant) der europäischen Völker oder vielmehr eines dafür erforderlichen europäischen Staatsvolkes verdanken müsste, fehlt. Vielmehr existieren auf dem Hintergrund differenter empirischer und historisch-kultureller Bedingungen des auch in Sprachen-Vielfalt sich niederschlagenden Weltbezuges verschiedene europäische Völker/Gesellschaften, die in sich nach eigentümlichen Privatrechtsbeziehungen und in öffentlich-gesetzlicher Integration als Rechtsstaaten verfasst sind, insbesondere gemäß einer repräsentativ demokratischen Legislative des jeweiligen Volkes mit höchster innerer Rechtsmacht (Volkssouveränität).15 Aufgrund dessen wäre es einfach absurd, zu behaupten, England, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Italien, Spanien, Polen, Tschechien und die anderen europäischen Rechtsstaaten seien 11
BVerfG Rn. 208 ff., 226 ff., NJW 2009, 2268 ff., 2271 ff. Vom BVerfG LS. 1 zutreffend zurückgeführt auf die Staatensouveränität, s. Rn. 329, 330, NJW 2009, 2267, 2268 ff., 2271 ff., 2284. 13 Vgl. exemplarisch Art. 37 i.Vb. mit Art. 30 GG. 14 Vgl. LS. 2 und Begründung Rn. 306 ff., 320, 322 ff., 328, NJW 2009, 2267, 2281 ff., 2283 f. (zum ordentlichen und vereinfachten Vertragsänderungsverfahren, zum „Brückenverfahren“, zu „Brückenklauseln“, zur „Vertragsabrundungskompetenz“) – dies übrigens ein Beleg für die Unklarheit der Verträge. 15 Grundlegend zum europäischen „génie de Liberté“ und der darauf beruhenden „diversit