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German Pages 217 Year 1998
JENS BLÜGGEL
Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 757
Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht
Von
Jens Blüggel
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Blüggel, Jens: Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht / von Jens Blüggel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 757) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09299-6
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09299-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer semester 1997 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Herr Professor Dr. Walter Krebs hat die Arbeit betreut und auch die Bearbeitung dieses Themas angeregt. Für seine vielfältige Förderung, zuerst in Münster, dann in Berlin, bin ich ihm sehr dankbar. Herrn Professor Dr. Christian Pestalozza danke ich für die schnelle Erstattung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich schließlich auch Herrn Dr. Frank Heerstraßen, der die Druckvorlage erstellt hat. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Andrea. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern.
Berlin, im Oktober 1997 Jens Blüggel
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
11
Erstes Kapitel Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen
14
A. Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen
14
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Fallgruppen und Rechtsfolgen
18
I . Problematik der Fallgruppenbildung und bisheriger Erkenntnisstand in der Literatur I I . Fallgruppen der Unvereinbarerklärung 1. Die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit ist nicht bzw. nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich
18 31 31
a) Das gleichheitswidrige Gesetz
32
b) Das nachbesserungsfähige, defizitäre Gesetz
45
c) Zusammenfassung
60
2. Die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit durch Kassation der Norm stellt nicht zugleich den verfassungsmäßigen Zustand her
62
a) Rechtsgüterschutz
63
b) Freiheitsgebrauch
75
c) Rechtsgüterwahrung
81
d) Zusammenfassung
85
3. Ergebnis ΙΠ. Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung 1. Rechtsfolgen für die Norm
88 91 91
8
Inhaltsverzeichnis 2. Rechtsfolgen für die Normanwender a) Grundsatz: Anwendungssperre und Aussetzungspflicht aa) Anwendungssperre
92 93 94
bb) Aussetzungspflicht
94
b) Ausnahmen
96
aa) Vorübergehende Anwendbarkeit bb) Ausnahmen von der Aussetzungspflicht ( 1 ) Fortführung der Verfahren (2) Bedingte Aussetzungspflicht (3) Aussetzungsoption? 3. Rechtsfolgen für den Normgeber
96 101 102 103 106 107
a) Verpflichtung zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Rechtslage
107
b) Frist
,
c) Gegenstand der Regelungspflicht 4. Ergebnis
109 111 115
C. Andere atypische EntscheidungsVarianten bei Normenkontrollentscheidungen
117
I . Feststellung der Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens
117
I I . „Noch verfassungsmäßige" Gesetze und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers
120
ΙΠ. Nichtigerklärung mit eigener Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichtes
122
I V . Ergebnis
126
Zweites Kapitel Die Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung als gesetzesübersteigende richterliche Rechtsfortbildung A. Der einfach-gesetzliche Ausgangsbefund I . Gesetzliche Grundlagen I I . Argumentum a majore ad minus?
128 128 128 129
Inhaltsverzeichnis Β . Voraussetzungen und Grenzen gesetzesübersteigender richterlicher Rechtsfortbildung
130
I . Unmöglichkeit gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung I I . Offenheit der gesetzlichen Regelung
132 132
ΙΠ. Gesetzesvorbehalt
134
I V . Normerhaltung als verfassungsrechtliches Postulat
136
1. Nichtigkeitsdogma und Unvereinbarerklärung a) Das Nichtigkeitsdogma
137 137
aa) Inhalt und Begründung
137
bb)Kritik und Gegenposition
141
b) Das Nichtigkeitsdogma als Rechtssatz
142
aa) Regeln und Prinzipien
145
bb)Das Nichtigkeitsdogma als Prinzip
147
c) Zusammenfassung
151
2. Die Fallgruppen der bundesverfassungsgerichtlichen Unvereinbarerklärung 152 a) Das gleichheitswidrige und das nachbesserungsfähige, defizitäre Gesetz 152 aa) Unmöglichkeit einer kassatorischen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung infolge „gleichheitswidriger Normenrelation"? 153 (1) Das Modell der „gleichheitswidrigen Normenrelation" .
153
(2) Stellungnahme
157
bb) Vertrauensschutz
161
cc) Funktionell-rechtliche Begrenzungen
162
dd) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
164
ee) Zusammenfassung
167
b) Der aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderliche (Mindest-)Bestand an gesetzlichen Normen 168 aa) Methode zur Auflösung der Prinzipienkollision
169
bb)Kompetenz zur Auflösung der Prinzipienkollision
174
cc) Zusammenfassung
186
10
Inhaltsverzeichnis
C. Ergebnis
188
Schlußbetrachtung
191
Anhang: Die Unvereinbarerklärungen des Bundesverfassungsgerichts
194
Literaturverzeichnis
201
Sachwortregister
215
Einleitung Nach der Konzeption des Grundgesetzes sowie der Landesverfassungen markiert die Verkündung eines von einem Parlament beschlossenen Gesetzes das Ende des formellen Gesetzgebungsverfahrens. 1 Eine Wiederaufnahme dieses Verfahrens ist nicht vorgesehen.2 Die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, deren Aufgabe (auch) die Kontrolle von Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist 3 , ändert an diesem Befund grundsätzlich nichts. Denn zum einen ist das Normenkontrollverfahren dem Gesetzgebungsverfahren zeitlich nachgeschaltet; jenes beginnt also regelmäßig4 erst dann, wenn dieses bereits abgeschlossen ist. Zum anderen ist Inhalt der Normenkontrollentscheidung grundsätzlich entweder die Bestätigung oder die Kassation, d.h. die Aufhebung der überprüften Regelung. In beiden Fällen ist der Gesetzgeber frei in der Entscheidung, ob er in Reaktion auf die verfassungsgerichtliche Entscheidung ein.neues Gesetzgebungsverfahren einleiten will oder nicht.5 Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn das Bundesverfassungsgericht bei Normenkontrollentscheidungen von anderen Tenorierungsformen als den
1
Vgl. Art. 82 Abs. 1 GG sowie beispielsweise Art. 60 Abs. 2 der Verfassung von Berlin. 2 Selbstverständlich kann der Gesetzgeber das verkündete Gesetz ändern und damit ein neues Gesetzgebung s verfahren einleiten. 3 Vgl. für das Bundesverfassungsgericht Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG (i.V.m. § 95 Abs. 3 BVerfGG) und Art. 100 Abs. 1 GG. 4 Eine Ausnahme soll für Zustimmungsgesetze zu Staatsverträgen gelten. Bei diesen hält das Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle des Gesetzes vor dessen Ausfertigung und Verkündung für zulässig (vgl. etwa BVerfGE 36, 1, 15), um zu verhindern, daß die völkerrechtliche Bindung einerseits und die Wirksamkeit des innerstaatlichen Zustimmungsaktes andererseits auseinanderfallen. Diesen Ausnahmefall bezeichnet Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 8 Rn. 8, daher als „Normentwurfs-Kontrolle" (ebd.). 5
Ein Übergriff des Bundesverfassungsgerichtes in den Bereich der Gesetzgebung ist insoweit also nicht ersichtlich. Vgl. auch Bettermann, DVB1. 1982, S. 91: „Ist aber die richterliche Bestätigung eines Gesetzes (...) keine Gesetzgebung, dann ist es auch die ,Verwerfung' nicht."
12
Einleitung
klassischen - Bestätigung oder Verwerfung des Gesetzes - Gebrauch macht. An zwei Beispielen sei dieses verdeutlicht. Sowohl die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches als auch das Kleingartenrecht waren Gegenstand von jeweils zwei bundesverfassungsgerichtlichen Normenkon trollen tschei düngen.6 Den beiden Beispielen ist gemein, daß das Bundesverfassungsgericht sowohl die ursprüngliche Regelung als auch die Neuregelung des Gesetzgebers für verfassungswidrig befunden und sich im Entscheidungsausspruch nicht auf diese Feststellung beschränkt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr auch und zugleich entschieden, daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage (in bestimmter Weise) herzustellen. Ein solcher Entscheidungsausspruch bewirkt, daß das Gesetzgebungsverfahren, insbesondere wenn das Bundesverfassungsgericht zweimal in derselben Sache judiziert, in materieller Hinsicht noch nicht beendet ist. Nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes muß der Gesetzgeber das Gesetz nachbessern oder sogar vollständig neu konzipieren. Daß das Gesetzgebungsverfahren materiell noch nicht zu Ende ist, läßt sich insbesondere dann beobachten, wenn das Bundesverfassungsgericht - wie etwa in den beiden genannten Entscheidungen zum Kleingartenrecht - ein verfassungswidriges Gesetz für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, ohne es zu kassieren. Diese Unvereinbarerklärungen - dieser Begriff wird als Pendant zu dem der Nichtigerklärung im folgenden verwendet7 - sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.8 Diese vom Bundesverfassungsgericht durch Rechtsfortbildung geschaffene Entscheidungsvariante hat in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtes, wie sich 6 Vgl. zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches BVerfGE 39, 1; 88, 203; zum Kleingartenrecht BVerfGE 52, 1; 87, 114.- Ausführlich zu diesen Entscheidungen unten S. 121 ff. und S. 55 ff. 7 Ebenso die Terminologie etwa bei Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 365, und Hein, passim. Gelegentlich wird auch von „Verfassungswidrigerklärung" (so z.B. Strehle, S. 106) oder von „Unvereinbarkeitserklärung" (so z.B. Seer, NJW 1996, S. 285) gesprochen. Die Terminologie des Bundesverfassungsgerichtes schwankt. In BVerfGE 91, 186 etwa finden sich die Begriffe „bloße Verfassungswidrigerklärung" (a.a.O., S. 207) sowie „Unvereinbarkeitserklärung" (ebd.). 8 Auch auf andere Entscheidungsvarianten, die sich ebenfalls nicht auf die Bestätigung oder Verwerfung der kontrollierten Norm beschränken, wird im folgenden noch insoweit einzugehen sein, als deren Abgrenzung von der Unvereinbarerklärung es erfordert. Siehe unten S. 117 ff.
Einleitung
im folgenden zeigen wird, einige, in manchen Rechtsgebieten sogar maßgebliche Bedeutung^ und entwickelte sich seit ihrer letzten monographischen Darstellung 10 in quantitativer und qualitativer Hinsicht weiter. Nachfolgend wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Unvereinbarerklärung zunächst dargestellt (Erstes Kapitel). Anschließend ist die rechtliche Zulässigkeit dieser Entscheidungsvariante zu erörtern (Zweites Kapitel).
9
So soll zum Beispiel im Bereich des Steuerrechts die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze (schon) der Normalfall sein (so P. Kirchhof, vgl. „Focus" 10/1996, S. 98). 10 Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht. Grundlagen, Anwendungsbereich, Rechtsfolgen. 1988.
Erstes Kapitel D i e Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen A. Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen Das Grundgesetz bestimmt, daß die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere an die Grundrechte, gebunden ist (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG). Gesetze, die der verfassungsmäßigen Ordnung nicht entsprechen, sind also verfassungswidrig. Ob ein Gesetz verfassungswidrig (vgl. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG) bzw. nicht vereinbar mit dem Grundgesetz (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) ist, ist Gegenstand der Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Diese ergehen sowohl in den Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle (Art. 93 Abs.l Nr. 2 und Nr. 2 a, Art. 100 Abs. 1 GG) als auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG). In letzterem ist die Norm entweder unmittelbarer (sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde) oder mittelbarer (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde) Prüfungsgegenstand. 1 Gemeinsam ist den drei Verfahrensarten, daß die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Norm zum Entscheidungsinhalt gehört, daß in diesen Verfahren also über die Verfassungsmäßigkeit der (prinzipal oder inzident) kontrollierten Norm entschieden wird (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 und 2 BVerfGG). 2
1 Vgl. § 95 Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG. I m Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ist dem Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm versagt (vgl. zuletzt BVerfGE 85, 264, 266 und 326; w. Nachw. zur früheren Judikatur bei Stern, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art. 93 Rn. 175); § 67 BVerfGG benennt den zulässigen Entscheidungsinhalt. Gleiches gilt für den Bund-Länder-Streit verfassungsrechtlicher (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) oder nichtverfassungsrechtlicher (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Fall 1 GG) Art, vgl. § 69 i.V.m. § 67 bzw. § 72 BVerfGG. Diese Verfahrensarten können damit im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. 2
Α. Überblick über die Rechtsprechung
15
Diese Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Norm hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 S. 1 und 2 BVerfGG). 3 Im Grundgesetz ist nicht ausdrücklich normiert, welche Konsequenzen die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes hat. Das „Rechtsschicksal"4 der verfassungswidrigen Norm gibt die Verfassung selbst expressis verbis also nicht vor. Auf der Ebene des einfachen Rechts hingegen finden sich diesbezüglich Aussagen. § 78 S. 1 BVerfGG bestimmt, daß mit dem Grundgesetz unvereinbare Normen für nichtig zu erklären 5 sind. Die Nichtigkeit als Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ordnet auch § 95 Abs. 3 S. 1 und 2 BVerfGG an. Diese Konnexität zwischen Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit eines Gesetzes wird in den §§ 79 Abs. 1,31 Abs. 2 S. 2 und 3 BVerfGG aufgegeben
3
Zum Sinn und Zweck des § 31 Abs. 2 BVerfGG - personelle Erstreckung der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG - vgl. Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 460 (m.w.N. in Fn. 122). 4 Hoffmann, JZ 1961, S. 193, 194. 5 Ursprünglich - d.h. in der Fassung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) - hatte § 78 S. 1 BVerfGG folgenden Wortlaut: „Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, daß Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so stellt es in seiner Entscheidung die Nichtigkeit fest" (Hervorhebung vom Verfasser). Den heutigen Wortlaut („erklärt") hat § 78 S. 1 BVerfGG durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1765) erhalten. Der Wortlaut des § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG hat durch das bezeichnete Vierte Änderungsgesetz dieselbe Modifizierung erfahren: Nun wird die Nichtigkeit eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht „erklärt", während sie gemäß § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG i.d.F. des Dritten Änderungsgesetzes vom 3. August 1963 (BGBl. I S. 589) noch „festgestellt" worden ist. Den dargestellten Neufassungen der §§ 78 S. 1 und 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG ist (insoweit) keine Bedeutung beizumessen (vgl. Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1163): Zum einen ist in § 78 S. 2, § 79 Abs. 1 und § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG schon in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) von Nichtigerklärung die Rede. Zum anderen manifestiert sich die mit der Neuformulierung beabsichtigte Betonung der „gestaltende(n) Funktion" (BT-Drs. V/3816, S. 7) der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung auch in einer Feststellung der Nichtigkeit, nicht nur in der Erklärung derselben (ausführlich hierzu Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 14 (S. 278)).
16
1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
bzw. durchbrochen: Diese Vorschriften erwähnen neben der Entscheidungsvariante der Nichtigerklärung die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung. 6 Wann ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig oder aber mit dem Grundgesetz für unvereinbar zu erklären ist, sagen weder das Grundgesetz noch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Letzteres setzt in den §§ 79 Abs. 1,31 Abs. 2 S. 2 und 3 BVerfGG Nichtig- und Unvereinbarerklärung vielmehr voraus7, ohne den Anwendungsbereich, die „Tatbestandsvoraussetzungen"8 der jeweiligen Entscheidungsvariante zu bezeichnen. So fragt sich, in welchen Fällen die Nichtigerklärung und in welchen (anderen) Fällen die Unvereinbarerklärung das von der Rechtsordnung vorgesehene Instrumentarium darstellt. Diese Frage soll nachfolgend aus der Perspektive des Bundesverfassungsgerichtes beantwortet werden. Dabei werden die Fälle in den Blick genommen, in denen das Bundesverfassungsgericht ein verfassungswidriges Gesetz für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat. Letzteres erscheint aus zwei Gründen als sinnvoll: Zum einen hebt die Nichtigerklärung einer verfassungswidrigen Norm diese in ihrem Bestand9 auf.i° Das Gesetz ist also beseitigt. Diese Beseitigung des 6
Um den Hinweis auf die Unvereinbarerklärung sind die §§ 79 Abs.l, 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG erst durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S . 1765) ergänzt worden, das zudem den jetzigen Satz 3 in § 31 Abs. 2 BVerfGG eingefügt hat. Die ursprüngliche Fassung sah sowohl in § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG (vgl. BGBl. I (1963) S. 589) als auch in § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BGBl. I (1951) S. 243) nur die Nichtigerklärung vor. Schon vor der Neufassung dieser Vorschriften hat das Bundesverfassungsgericht verfassungswidrige Gesetze mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt (zuerst im Urteil vom 13.12.1961, BVerfGE 13, 248). Ob der Gesetzgeber mit der Novellierung nur eine „neutrale Haltung" (so Ipsen, Rechtsfolgen, S. 212) gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Ausdruck gebracht, ob er diese immerhin „zur Kenntnis genommen" (so Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 362; Pestalozza, BVerfG und GG I, S. 519, 521) oder aber sogar „nachträglich (...) gebilligt" (so Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1158) hat, kann an dieser Stelle dahinstehen. 7 8 9
Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 211. Löwer, StVj 1991, S. 97, 98. Die Differenzierung zwischen dem Bestand und der Anwendbarkeit bzw. Nichtan-
wendbarkeit eines Gesetzes ist von Schiaich (Bundesverfassungsgericht, Rn. 368 und
Α. Überblick über die Rechtsprechung
17
verfassungswidrigen Gesetzes fuhrt grundsätzlich zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes bzw. zur Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes. Der Vorrang der Verfassung ist somit in der Regel bereits durch den Einsatz der Nichtigerklärung gewährleistet. Es stellt sich folglich die Frage nach der Notwendigkeit einer alternativen Entscheidungsvariante und damit der Unvereinbarerklärung. Die Anwendung der Unvereinbarerklärung ist also begründungsbedürftig. Zum anderen ergeben sich bei der Bestimmung der Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung größere Probleme als bei der Nichtigerklärung, u Diese schafft durch den „scharfen Schnitt" 12 der Kassation der verfassungswidrigen Norm zunächst klare Verhältnisse, während jene das verfassungswidrige Gesetz in seinem Bestand unberührt läßt 13 , so daß sich die Frage stellt, wie mit der beanstandeten Norm zu verfahren ist: Ist für die Beseitigung des verfassungswidrigen bzw. für die Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes der Gesetzgeber zuständig (oder hierzu sogar verpflichtet)? Ist er hierbei an eine (konkrete) Frist gebunden? Dürfen Gerichte und Verwaltungsbehörden die Norm weiterhin anwenden? Falls nicht: Wie lange gilt die Anwendungssperre, und dürfen die Gerichte und Verwaltungsbehörden das Verfahren fortführen, indem sie die Lücke 1 4 selbst schließen, etwa 389 f.; vgl. auch schon dens., Bundesverfassungsgericht, 2. Auflage 1991, Rn. 389 f.) getroffen worden. I m Gegensatz zur Nichtigerklärung bleibe bei der Unvereinbarerklärung der Bestand der Norm unberührt, so Schiaich a.a.O.- Vgl. zuvor auch schon Schef old/Leske, NJW 1973, S. 1297, 1302: Das Bundesverfassungsgericht habe „das verfassungswidrig erklärte Gesetz in seinem Bestand belassen"; sowie Löwer, HStR Π, § 56 Rn. 107 (S. 806): Der „Unvereinbarkeitsausspruch läßt den Bestand der Norm unangetastet (...)".- Ausführlich hierzu unten S. 91 f. 10 Dieses gilt unabhängig davon, ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes als deklaratorisch oder als konstitutiv zu qualifizieren ist: In letzterem Fall ist der Bestand der Norm (regelmäßig) ab dem Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung aufgehoben, in ersterem Fall schon ab dem Zeitpunkt der KoUision der Norm mit der Verfassung. Nach der Lehre von der Nichtigkeit verfassungswidriger Normen ist die NormenkontroUentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes deklaratorischer, nach der Lehre von der (bloßen) Vernichtbarkeit verfassungswidriger Normen dagegen konstitutiver Natur. Instruktiv zu dieser begrifflichen Verknüpfung Ipsen, Rechtsfolgen, S. 150-152. 11 Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht insoweit ersichtlich um KlarsteUung bemüht, vgl. etwa BVerfGE 87, 153, 178 (sub 3 a). Weitere Nachweise unten S. 91 ff. 12 Maurer, FS Weber, S. 345, 346. 13
Siehe Fn. 9. Die Lücke resultiert aus der Anwendungssperre, nicht aus der Beseitigung des Gesetzes, da das Gesetz im FaUe der Unvereinbarerklärung in seinem Bestand ja gerade unberührt bleiben soll, s. oben Fn. 9. 14
2 Blüggel
18
1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
durch Anwendung der von der Unvereinbarerklärung nicht erfaßten (restlichen) Norm? 15 Wie ist zu verfahren, wenn der Gesetzgeber untätig bleibt? Damit ist auch der Gang dieser Untersuchung vorgezeichnet. Zunächst sind die Konstellationen herauszuarbeiten, in denen das Bundesverfassungsgericht auf das Instrument der Unvereinbarerklärung zurückgegriffen, in denen das Gericht die Anwendung dieser Entscheidungsvariante als notwendig erachtet hat. 16 Zuvor wird der diesbezügliche bisherige Erkenntnisstand in der Literatur wiedergegeben und die Problematik einer System- bzw. Fallgruppenbildung erörtert. 17 Sodann ist zu fragen, welche Rechtsfolgen die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht sowohl für die Norm selbst als auch den Anwender sowie den Urheber 18 der Norm hervorb r i n g t . 1 ^ Schließlich ist die Unvereinbarerklärung von anderen, ebenfalls atypischen20 Entscheidungsvarianten abzugrenzen, auf die das Bundesverfassungsgericht rekurriert und die Parallelen zu der Unvereinbarerklärung aufweisen. 21
B. Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Fallgruppen und Rechtsfolgen I. Problematik der Fallgruppenbildung und bisheriger Erkenntnisstand in der Literatur Vom Instrument der Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze hat das Bundesverfassungsgericht bisher in 123 Entscheidungen Gebrauch gemacht.22 15 Vgl. hierzu BVerfGE 87, 234, 262 f. und 269 und ausführlich unten S. 103 f. 16
Dazu unten S. 31 ff. Dazu unten S. 18 ff. 18 Vgl. zu den Begriffen „Anwender" und „Urheber" der Norm Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20, vor Rn. 128. 19 Dazu unten S. 91 ff. 17
20
Atypisch, weil diese Entscheidungsvarianten ebenfalls im Bundesverfassungsge-
richtsgesetz als solche ausdrücklich nicht normiert sind. 21 Dazu unten S. 117 ff. 22 BVerfGE 13, 248; 18, 257; 18, 288; 23, 1; 25, 101; 25, 236; 26, 79; 26, 100; 26, 163; 28, 227; 28, 324; 29, 57; 29, 71; 29, 283; 30, 227; 30, 292; 31, 1; 32, 199; 32, 365; 33, 90; 33, 106; 33, 303; 34, 9; 34, 71; 35, 79; 37, 154; 37, 217; 37, 342; 38, 1; 38, 41; 38, 61; 38, 213; 39, 316; 40, 196; 40, 296; 41, 399; 42, 176; 43, 58; 43, 242; 45, 104; 45, 376; 46, 97; 47, 1; 48, 64; 48, 227; 48, 327; 51, 1; 51, 166; 51, 193; 51,
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
19
Das Unternehmen, diese bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen nach Fallgruppen zu ordnen oder (sogar) in ein System einzuordnen, um auf diese Weise „Fäden (herauszuarbeiten), die Orientierung ermöglichen" 23, die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes also determinierbar, rational nachvollziehbar und (damit) vorhersehbar machen, bereitet Schwierigkeiten. Diese ergeben sich daraus, daß es solche Fallgruppen erst aufzudecken bzw. zu bilden gilt und sich hierbei die Frage stellt, welche Ordnungskriterien für diese Fallgruppenbildung maßgeblich sein sollen. Geeignete Ordnungskriterien könnten' zunächst die in der jeweiligen Entscheidung maßgebliche(n) Kontrollnorm(en), der jeweilige Kontrollgegenstand oder die vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Argumentationstopoi sein. Jedoch bringt die Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nach diesen Kriterien keine Erkenntnisse hervor. Wenn man nämlich die jeweilige Kontrollnorm in den Blick nimmt, zeigt sich zwar, daß Art. 3 GG, insbesondere dessen erster Absatz, dominiert. 24 Oft wird als Kontrollnorm auch die Verbindung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) mit einem anderen Grundrecht oder einem Verfassungsprinzip 356; 52, 1; 52, 357; 52, 369; 53, 366; 54, 159; 54, 301; 55, 134; 56, 146; 56, 175; 56, 192; 56, 353; 57, 335; 57, 361; 58, 137; 59, 302; 61, 43; 61, 210; 61, 319; 62, 256; 62, 374; 63, 119; 64, 323; 64, 367; 67, 348; 71, 1; 71, 146; 71, 224; 72, 9; 72, 155; 72, 278; 72, 330; 73, 40; 73, 118; 74, 203; 74, 297; 75, 40; 75, 108; 75, 166; 75, 284; 77, 308; 78, 350; 79, 87; 79, 257; 81, 242; 81, 363; 82, 60; 82, 126; 82, 198; 82, 322; 83, 130; 84, 9; 84, 168; 84, 348; 85, 191; 85, 226; 86, 148; 87, 114; 87, 153; 87, 234; 88, 5; 89, 15; 90, 60; 90, 118; 90, 263; 91, 186; 91, 389; 92, 53; 92, 158; 93, 37; 93, 121; 93, 165; 93, 386; 94, 241.- Vgl. auch den Anhang dieser Arbeit.- Unklar (und daher hier nicht als Unvereinbarerklärung kategorisiert) BVerfGE 7, 320; 31, 229; 31, 275; 32, 173.- Die vorliegende Untersuchung berücksichtigt die in der von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichtes herausgegebenen Entscheidungssammlung (vgl. § 31 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichtes) veröffentlichten Judikate (einschließlich des 94. Bandes). 23
Ipsen, JZ 1983, S. 41. Art. 3 Abs. 1 GG: BVerfGE 13, 248; 18, 288; 23, 1; 25, 101; 26, 100; 26, 163; 28, 227; 29, 283; 30, 227; 32, 365; 33, 90; 33, 106; 37, 154; 37, 217; 37, 242; 38, 1; 38, 41; 38, 213; 40, 295; 43, 58; 45, 104; 46, 97; 47, 1; 48, 64; 48, 227; 51, 1; 56, 146; 56, 175; 56, 353; 61, 43; 62, 256; 71, 146; 73, 40; 75, 108; 75, 166; 79, 87; 82, 126; 82, 198; 84, 348; 85, 191; 88, 5; 89, 15; 91, 389; 92, 53; 93, 121; 93, 165; 93, 386; 94, 241.- Art. 3 Abs. 2 GG: BVerfGE 31, 1; 52, 369; 57, 335; 71, 224; 84, 9.Art. 3 Abs. 3 (S. 1) GG: BVerfGE 85, 191. 24
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
letztere als Einschränkung der im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG eröffneten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers25 - herangezogen26. Gelegentlich wird auf spezielle Gleichheitssätze zurückgegriffen. 27 Doch der Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung beschränkt sich nicht auf Gleichheitsrechte, sondern erfaßt auch Freiheitsrechte - wie zahlreiche bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen verdeutlichen28»29 - sowie Staatsorganisationsnormen und sonstige Vorschrif2
5 Vgl. etwa BVerfGE 87, 234, 256. Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG: BVerfGE 35, 79; 43, 242; 56, 192; 61, 210.- Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG: BVerfGE 18, 257; 29, 71; 61, 319; 67, 348; 82, 60; 87, 234.- Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 4 GG: BVerfGE 75, 40.- Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 und Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG: BVerfGE 78, 350.- Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfGE 25, 236; 30, 292; 34, 71; 38, 61; 59, 302; 75, 284.- Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Sozialstaatsprinzip: BVerfGE 33, 303.- Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Sozialstaatsprinzip: BVerfGE 39, 316; 42, 176; 45, 376.- Vgl. ferner auch BVerfGE 37, 217 (Art. 3 Abs. 2 i.V.m Art. 6 Abs. 2 GG). 26
27
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG: BVerfGE 82, 322.- Art. 6 Abs. 5 GG: BVerfGE 84, 168.- In BVerfGE 28, 324; 29,57 wird auch Art. 6 Abs. 1 GG als besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes begriffen (vgl. BVerfGE 28, 324, 346 f.: „(...) jedenfalls dann (...), wenn die gesetzliche Vorschrift direkt an die Eheschließung anknüpft (...)."). 2 * Art. 2 Abs. 1 GG: BVerfGE 57, 361.- Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht): BVerfGE 72, 155; 73, 118; 79, 256; 90, 263.Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG: BVerfGE 73, 118; 74, 297; 90, 60.- Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG (i.V.m. Rechtsstaatsprinzip): BVerfGE 83, 130.- Art. 6 Abs. 1 GG: BVerfGE 55, 134.- Art. 6 Abs. 2 GG: BVerfGE 84, 168; 92, 158.- Art. 6 Abs. 4 GG: BVerfGE 52, 357.- Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG: BVerfGE 90, 128.- Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfGE 40, 196; 51, 166; 54, 301; 59, 302; 77, 308; 81, 242; 85, 226.- Art. 14 Abs.l GG: BVerfGE 51, 193; 52, 1; 58, 137; 71, 1; 72, 9; 74, 203; 87, 114.- Art. 33 Abs. 5 GG: BVerfGE 26, 79; 62, 374; 64, 323; 64, 367; 81, 363.- Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV: BVerfGE 53, 366; 72, 278. 29
In BVerfGE 87, 153 sind die geprüften einkommenssteuerrechtlichen Vorschriften „mit der grundrechtlichen Garantie des einkommenssteuerrechtlichen Existenzminimums" (a.a.O., S. 169) für unvereinbar erklärt worden. Das Bundesverfassungsgericht läßt hierbei ausdrücklich offen, „aufgrund welcher Maßstäbe und wie im einzelnen die (...) verfassungsrechtlichen Grenzen der staatlichen Besteuerungsgewalt zu bestimmen sind" (ebd.- Hervorhebung vom Verf.) und verortet die Garantie des Existenzminimums damit nur allgemein im Grundgesetz, anstatt die relevante(n) Norm(en) der Verfassung präzise zu bezeichnen (vgl. ebd.: „(...) jedenfalls an Art. 2 Abs.l GG zu messen."). Eine solche Vorgehensweise legt die Vermutung nahe, daß am Anfang der Prüfung das zu erzielende Ergebnis und nicht die auszulegende Norm steht, und daß (auch hier) das Grundgesetz als Verkörperung einer Wertordnung verstanden wird, die mehr beinhaltet als die bloße Summe der einzelnen grundgesetzlichen Normen, so daß letzteren bei der
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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ten der Verfassung 30. Die Unvereinbarerklärung läßt sich folglich nicht einer bestimmten grundgesetzlichen Normengruppe zuordnen. Auch die Systematisierung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen nach dem Kontrollgegenstand erweist sich für sich genommen als wenig aufschlußreich. Viele der vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar erklärten Normen sind zwar solche des Sozialrechts (insbesondere des Sozialversicherungsrechts) 3!, des Steuerrechts32 oder des Beamtenrechts (insbesondere des Besoldungsrechts)33. Doch in den verbleibenden 57 der insgesamt 123 Unvereinbarerklärungen war über Normen aus anderen Rechtsgebieten zu entscheiden34, so daß das Instrument der Unvereinbarerklärung nicht nur auf Gesetze aus einigen bestimmten Rechtsgebieten Anwendung findet. Die Bildung von Fallgruppen anhand der Argumentationstopoi, die das Bundesverfassungsgericht verwendet, um die Anwendung der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung zu begründen, gelingt ebenfalls nicht.
Auslegung der Verfassung nur noch eine sekundäre Bedeutung zukommt.- Vgl. in diesem Zusammenhang auch Simon, in: HdVR § 34 Rn. 50: Nach Simons Einschätzung geht die „wertorientierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (...) weit über eine bloße Normsubsumtion hinaus (...)." 30 Vgl. BVerfGE 32, 199 und 34, 9 (Verstoß gegen Bundesrecht, d.h. Art. 31 GG); 40, 296 (Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG); 51, 356 (Rechtsstaatsprinzip); 54, 159 (Art. 19 Abs. 4 S. 1, Art. 20 Abs. 2 S. 2, Art. 82, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG); 72, 330 (Art. 107 Abs. 2, Art. 107 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG); 86, 148 (Art. 107 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, Art. 107 Abs. 2 S. 3, Art. 107 Abs. 2 S. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG); 91, 186 (Art. 74 Nr. 11 i.V.m. Art. 72, Art. 105, Art. 110 GG); 93, 37 (Art. 28 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 GG). 3 1 BVerfGE 13, 248; 18, 257; 25, 236; 28, 324; 29, 57; 29, 283; 31, 1; 32, 365; 37, 154; 38, 41; 38, 213; 39, 316; 42, 176; 45, 376; 51, 1; 51, 356; 52, 357; 57, 335; 63, 119; 71, 1; 71, 146; 72, 9; 74, 203; 75, 198; 79, 87; 82, 60; 87, 234; 94, 241. 32 BVerfGE 23, 1; 25, 101; 28, 227; 33, 90; 33, 106; 38, 62; 43, 58; 45, 104; 47, 1; 54, 301; 59, 302; 61, 319; 72, 330; 73, 40; 78, 350; 82, 198; 84, 348; 86, 148; 87, 153; 89, 15; 92, 53; 93, 121; 93, 165. 33 BVerfGE 26, 79; 26, 100; 26, 163; 32, 199; 34, 9; 38, 1; 45, 97; 56, 146; 56, 175; 56, 353; 61, 43; 62, 374; 64, 323; 64, 367; 81, 363; 93, 386. 34 Vgl. beispielsweise zum (Hoch-)Schulrecht BVerfGE 33, 303; 35, 79; 43, 242; 56, 192; 61, 210; 75, 40; 90, 128; zum Bürgerlichen Recht BVerfGE 55, 134; 62, 256; 67, 348; 72, 155; 79, 256; 82, 126; 84, 9; 84, 168; 90, 263; 92, 158.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Zum einen fehlt in vielen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen eine 35, so daß diese Judikate schon von vornherein keiner Fallgruppe zugeordnet werden können. derartige Begründung
Zum anderen lassen sich die vom Bundesverfassungsgericht angeführten Argumente nicht in Bezug zueinander setzen und sind daher als Ordnungskriterien unbrauchbar, da sie sich zum Teil überschneiden, zum Teil auf verschiedenen Ebenen angesiedelt oder aus sich heraus nicht verständlich sind. So greift das Bundesverfassungsgericht in den weitaus meisten Fällen auf den Argumentationstopos der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zurück 36 , indem es darauf verweist, daß, wenn „mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes bestehen"37, die Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen 38 bzw. dem Gesetzgeber „vorgreifen" 39 würde.
35
So in BVerfGE 26, 79; 26, 100; 26, 163; 42, 176; 51, 166; 52, 357; 53, 366; 54, 301; 59, 302; 63, 119; 67, 348; 71, 146; 72, 9; 72, 278; 74, 297; 75, 40; 75, 284; 81, 363; 89, 15; 90, 128. 3 6 BVerfGE 18, 257, 273; 18, 288, 302; 23, 1, 10; 25, 101, 111; 25, 236, 252; 28, 227, 242 f.; 28, 324, 362 f.; 29, 57, 70; 29, 71, 83; 29, 283, 303; 30, 227, 249 f.; 30, 292, 332 f.; 31, 1, 7; 32, 199, 221; 32, 365, 372; 33, 90, 105 f.; 34, 71, 81; 35, 79, 148; 37, 154, 176; 37, 217, 260; 37, 342, 361; 38, 1, 22; 38, 41, 99; 38, 61, 101 f.; 38, 213, 223; 39, 316, 322 f.; 40, 196, 227; 41, 399, 424 u. 426; 43, 58, 74; 43, 242, 291; 45, 104, 141, 45, 376, 393; 46, 97, 112 f.; 47, 1, 32 f.; 48, 64, 94; 48, 227, 239 f.; 51, 1, 29; 51, 356, 368 f.; 52, 1, 40; 52, 369, 379; 55, 134, 143; 56, 146, 168 f.; 56, 175, 184; 56, 192, 215; 57, 335, 346; 57, 361, 388 f.; 58, 137, 152; 61, 43, 68; 61, 210, 259; 62, 374, 391; 64, 376, 388; 71, 224, 229; 73, 40, 101; 73, 118, 173; 74, 203, 217 f.; 75, 108, 165; 75, 166, 182; 77, 308, 337; 78, 350, 363; 79, 87, 105; 79, 256, 274; 81, 242, 263; 82, 198, 208; 84, 9, 20 f.; 84, 168, 186 f.; 84, 348, 365; 85, 191, 212 f.; 85, 226, 237 f.; 86, 148, 270 u. passim; 87, 114, 150; 87, 153, 178; 87, 234, 262; 88, 5, 17; 93, 386, 402.- Zum Teil spricht das Bundesverfassungsgericht auch von der „Aufgabe" (etwa in BVerfGE 32, 199, 221; 51, 1, 29; 71, 224, 229), der „Gestaltungsbefugnis" (BVerfGE 87, 114, 150), den „Gestaltungsmöglichkeiten" (BVerfGE 85, 191, 211) oder dem „eigenen Entscheidungsfreiraum" (BVerfGE 84, 348, 365) des Gesetzgebers. 37 Vgl. z.B. BVerfGE 28, 324,362; zuletzt BVerfGE 91, 389, 404. Vgl. auch BVerfGE 94, 241, 265: „Das Grundgesetz legt den Gesetzgeber nicht auf eine bestimmte Lösung fest." 3 * Vgl. z.B. BVerfGE 28, 324, 362. 3 9 So BVerfGE 85, 226, 237.
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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In anderen Entscheidungen dagegen bildet die funktionelle Untauglichkeit der Nichtigerklärung den Kern der bundesverfassungsgerichtlichen Argumentation. Je nach Lage des Falles könne die Nichtigerklärung zu wenig 40 , zu viel 4 1 oder das Falsche42 bewirken. Desweiteren wird argumentiert, daß die Nichtigerklärung „gesetzestechnisch nicht möglich" 43 sei, wenn die Norm unvollständig44 sei, da nicht die „positivrechtlich(e) Regelung"45 sondern die „Lücke in der gesetzlichen Regelung"46den Verfassungsverstoß bewirke. 47 Eine Nichtigerklärung sei schließlich auch dann ausgeschlossen, wenn - wie insbesondere bei einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG möglich - sich die verfassungswidrige Rechtslage „aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt" 48 , da dann die Möglichkeit bestehe, „daß der Gesetzgeber den
BVerfGE 43, 242, 291; 56, 192, 215: Die Nichtigerklärung würde die Verfassungswidrigkeit nicht beseitigen.- BVerfGE 13, 248, 260; 18, 288, 301; 41, 399, 426: Die Nichtigerklärung würde das „Anliegen" (BVerfGE 13, 248, 260; 41, 399, 426) des Beschwerdeführers nicht erfüllen bzw. die „Beschwer" (BVerfGE 18, 288, 301) des Beschwerdeführers nicht beseitigen. Vgl. zu letzterem auch das obiter dictum des Bundesverfassungsgerichtes in einem Beschluß aus jüngerer Zeit (BVerfG, NJW 1995, S. 2407 (sub 2 a)). 41 BVerfGE 33, 106, 115: Die Nichtigerklärung würde eine - unzulässige - Erweiterung der gesetzlichen Regelung bewirken. 42 BVerfGE 32, 199, 217 f.; 34, 9, 43 f.; 37, 342, 361; 38, 1, 22; 40, 296, 329: Die Nichtigerklärung würde durch die Kassation der Norm zu einer „Lücke im geltenden Recht" (BVerfGE 38, 1, 22) und damit „zu einer schwer erträglichen Unsicherheit über die Rechtsgrundlage" (BVerfGE 34, 9, 44) führen.- In BVerfGE 37, 217, 261; 61, 319, 356; 73, 40, 102 wird das Argument angeführt, daß es „ein rechtliches Vakuum" (BVerfGE a.a.O.) zu verhindern gelte. Doch dient dieser Topos in den genannten Entscheidungen nicht dazu, die Anwendung der Unvereinbarerklärung zu begründen, sondern die ausnahmsweise vorübergehende Anwendbarkeit der für unvereinbar erklärten Norm zu rechtfertigen (ausführlich zu letzterem unten S. 96 ff.). 43 BVerfGE 41, 399, 425 f. 44 Vgl. z.B. BVerfGE 54, 159, 172. 45 BVerfGE 54, 159, 172. 46 BVerfGE 51, 193, 221. 47 Vgl. etwa BVerfGE 41, 399, 425 f.; 51, 193, 221; 54, 159, 172. 48 BVerfGE 82, 60, 84; siehe auch BVerfGE 82, 126, 154. Vgl. ferner BVerfGE 92, 158, 186: „wenn der verfassungswidrige Teil der Norm nicht klar abgrenzbar ist".
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
verfassungsrechtlichen Mangel in einer Weise (behebt), daß die beanstandete Norm im Endergebnis bestehen bleibt (...)" 49 . Wie sich die wiedergegebenen Argumentationstopoi des Bundesverfassungsgerichtes zueinander verhalten, ob sie sich gegenseitig ausschließen oder ergänzen, ob sie gleich oder verschieden gelagerte Fälle erfassen, läßt sich der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur nicht eindeutig entnehmen. In letzter Zeit bemüht sich das Bundesverfassungsgericht insoweit zwar ersichtlich um Klarstellung 50, indem es seine Entscheidungspraxis dahingehend zusammenfaßt, daß die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze dann geboten sei, „wenn durch eine Nichtigerklärung ein Zustand geschaffen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung"5!, oder „wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen"52. Unklar bleibt jedoch, wie sich diese beiden Fallkonstellationen, in denen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes von einer Nichtigerklärung abzusehen ist, zueinander verhalten (sollen). Beide Konstellationen werden vielmehr beziehungslos nebeneinander angeführt. 53 Auch wird nicht die Frage
49 BVerfGE 82, 60, 84.- Das Bundesverfassungsgericht weist in dieser Entscheidung ausdrücklich darauf hin, daß dann, wenn der Verfassungsverstoß aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen resultiert, eine Einzelregelung aber „nicht schon deshalb verfassungswidrig (ist), weil sie von ihrem Regelungs gegenständ her geeignet ist, dem Gesetzgeber durch ihre Änderung die Behebung eines - auch oder sogar in erster Linie durch eine andere Norm geschaffenen - verfassungswidrigen Zustands zu ermöglichen. Hinzukommen muß vielmehr, daß die Norm objektiv erkennbar dem Regelungs ziel dient, das in verfassungswidriger Weise verfehlt worden ist" (BVerfGE 82, 60, 85 Hervorhebungen vom Verf.). Ohne einen solchen Hinweis hätte das Bundesverfassungsgericht konsequenterweise edle (Einzel-)Normen für unvereinbar erklären müssen, durch deren Nachbesserung die Verfassungswidrigkeit beseitigt werden könnte. 50 Vgl. BVerfGE 84, 9, 20; 84, 168, 186 f.; 85, 191, 211 f.; 87, 114, 135 f.; 87, 153, 177 f.; 89, 381, 394; 92, 158, 186. 51 BVerfGE 87, 153, 177 f. Ebenso BVerfGE 90, 60, 104 f. 52 BVerfGE 87, 153, 178. Ebenso zuletzt BVerfGE 92, 158, 186.- Der zuletzt genannte FaU wird in BVerfGE 84, 168, 186 f. um eine weitere Bedingung ergänzt: „(...) wenn mehrere Möglichkeiten für die Beseitigung des VerfassungsVerstoßes bestehen und die Nichtigerklärung in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen würde (...)" (Hervorhebung v. Verf.). Ebenso BVerfGE 84, 9, 20.- Vgl. auch die Nachweise zur älteren Rspr. des Bundesverfassungsgerichtes bei Heußner, NJW 1982, S. 257, 257 (in Fn. 4). 53
Die in BVerfGE 89, 381, 394 insoweit geschlagene „Brücke", daß dieser Rechtsprechung „vor allem die Erwägung zugrunde (liege), daß das Bundesverfassungsgericht mit
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beantwortet, wann - also in welchen Fällen - der Gesetzgeber denn mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes hat, und wann durch die Nichtigerklärung denn ein Zustand geschaffen würde, der mit der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger vereinbar ist als der gegenwärtige.54 Kontrollnorm, Kontrollgegenstand und vom Bundesverfassungsgericht verwendete Argumentationstopoi eignen sich - jeweils für sich genommen - also nicht als Ordnungskriterien für die Bildung von Fallgruppen. Bei der Darstellung und Kategorisierung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung greift die Literatur deshalb überwiegend auch auf mehrere der genannten Kriterien zurück. 55 Mit Hilfe dieser Kriterien werden im wesentlichen drei Fallgruppen herausgearbeitet, um den Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht zu bezeichnen:
seinen Entscheidungen nicht einen Zustand herbeiführen darf, der mit der Verfassung noch weniger vereinbar wäre als der im konkreten FaU beanstandete" (BVerfGE a.a.O.), hüft - derart abstrakt formuliert - auch nicht weiter. 54 Vgl. auch Rinken in: AK, Art. 93 Rn. 46: Die Argumentationstopoi gewinnen „erst im Zusammenhang typischer Fallgruppen deutlichere Konturen". 55 Eine Darstellung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes zur Unvereinbarerklärung findet sich etwa bei Battis , HStR VE, § 165 Rn. 38; Gerontas, DVB1. 1982, S. 486, 489 f.; Gusy, S. 188-193; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 107-117; Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1181-1187; Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 78 Rn. 8; Löwer, StVj 1991, S. 97, 100 f.; Maurer, FS Weber, S. 345, 347-352; Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, S. 64-69; Moench, S. 37-69; Pestalozza, BVerfG und GG I, S. 519, 523-540; ders., Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 13 (= S. 277) u. Rn. 112-124 (= S. 339-351); Pohle, S. 65-100; Rinken in: AK, Art. 94 Rn. 47 f.; Sachs, DÖV 1982, S. 23, 27; Schiaich,, Bundesverfassungsgericht, Rn. 366-377; Schneider, S. 168-211; Söhn, S. 63-66; Stern in: B K (Zweitbearbeitung), Art. 93 Rn. 277-290; Strehle, S. 109-111, Stuthin: Umbach/Clemens, § 78 Rn. 14-19 (vgl. auch Rennert in: a.a.O., § 95 Rn. 75); Ulsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 78 Rn. 12 u. 29; Vogel, S. 223-228. Vgl. auch Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 24.- Ausführlich zuletzt Hein, S. 38-91 (Auswertung der Judikatur bis einschließlich Band 71 der von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichtes herausgegebenen Entscheidungssammlung).- Einen Überblick über die hier interessierende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gibt auch die Bundesregierung in der Begründung zum ersten Regierungsentwurf eines Änderungsgesetzes zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, vgl. BT-Drs. V/3816, S. 9.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Vom Instrument der Unvereinbarerklärung mache das Bundesverfassungsgericht dann Gebrauch, -
wenn das kontrollierte Gesetz Begünstigungen gleichheitswidrig gewähre bzw. - allgemeiner - gleichheitswidrig differenziere (Fallgruppe 1: „Der willkürliche Begünstigungsausschluß"56),
-
wenn die Nichtigerklärung einen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darstelle (Fallgruppe 2:„Die Gestaltungsfireiheit des Gesetzgebers"57), oder
-
wenn die Nichtigerklärung einen noch verfassungswidrigeren Zustand herbeiführe als den durch die verfassungswidrige Norm geschaffenen, also ,»Folgeprobleme" 58 zeitige, die „verfassungsrechtlich nicht tragbar" 5^ seien, was insbesondere im Besoldungs-, Organisations- und Statusrecht der Fall sein könne60 (Fallgruppe 3: „Das Rechtsfolgenargument des Bundesverfassungsgerichtes"61)62
56
Vgl. etwa Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109.- Wie noch zu zeigen sein wird, ist dieser Begriff zu eng, da diese Fallgruppe sämtliche Gesetze erfaßt, die gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (oder z.T. auch gegen seine speziellen Ausprägungen) verstoßen, also auch gleichheitswidrig belastende Normen. Da der „willkürliche Begünstigungsausschluß" aber den „dogmatische(n) Ausgangspunkt" (Ipsen a.a.O.) der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung markiere, sei dieser Begriff als „schlagwortartige Kennzeichnung" (Hein, S. 39 (in Fn. 52)) zu begreifen und zu verwenden (so Hein a.a.O.). 57
Vgl. etwa Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 369. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 114. Ebd. 60 Vgl. Rinken in: A K , Art. 94 Rn. 49: „komplexe Statusverhältnisse". 61 Vgl. Hein, S. 85. 62 Vgl. zu dieser Fallgruppenbildung die in Fn. 55 genannten Autoren (außer Söhn, dazu sogleich).- Die Fallgruppen 1 und 2 werden von einigen Autoren zu einer Gruppe zusammengefaßt (so etwa Gerontas, Mayer, Rinken, Schneider, Stre hie, Ulsamer, Vogel (vgl. oben, Fn. 55)), so daß bei einer solchen Kategorisierung zwei - statt drei Fallgruppen der Unvereinbarerklärung existieren. Inhaltlich ergeben sich dadurch keine Veränderungen.- Bei Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 78 Rn. 8, finden sich folgende drei Fallgruppen: Von der Unvereinbarerklärung mache das Bundesverfassungsgericht dann Gebrauch, wenn durch die Nichtigerklärung ein Zustand geschaffen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung (Fallgruppe 1), wenn der Gesetzgeber mehrere Möglich58
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Ergänzend weisen Klein 63 , Schiaich64, Pestalozza65 und Jarass66 auf weitere Konstellationen hin, in denen die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls verwendet werde. Nach Schiaich67 liegt verschiedenen Unvereinbarerklärungen allein die Absicht zugrunde, die vorläufige Weiteranwendung der Norm anzuordnen, um auf diese Weise eine „ L ü c k e im Normengefüge zu verhindern" 68. Der Anwendungsbereich, der Tatbestand der Unvereinbarerklärung werde damit von der Rechtsfolge 69 her definiert. Ein solches Vorgehen sei „an sich unzulässig"70.
keiten habe, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (Fallgruppe 2), oder wenn der verfassungswidrige Teil der Norm nicht klar abgrenzbar sei (Fallgruppe 3).- Außer Betracht bleiben in der vorliegenden Untersuchung die Fälle der „fehlenden Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts" (etwa hinsichtlich Besatzungsrecht oder primärem Europäischem Gemeinschaftsrecht) und des „nicht evidenten Verfassungsverstoßes" (bei Fehlern im Gesetzgebungsverfahren; vgl. zuletzt etwa BVerfGE 91, 148, 175), die von einigen Autoren als zwei weitere Fallgruppen der Unvereinbarerklärung angeführt werden (so z.B. bei Pestalozza, BVerfG und GG I, S. 519, 523-525 u. 536540; Gusy, S. 189 f.; Stuth in: Umbach/Clemens, § 78 Rn. 14 f.). Diese Konstellationen können deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die genannten Fälle allgemeine Probleme aufwerfen (nämlich die Bestimmung des tauglichen Kontrollgegenstandes sowie der angemessenen Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichtes) und damit nicht spezifische der Unvereinbarerklärung sind. Aus dem gleichen Grunde bedarf an dieser Stelle auch die Konstellation des Unterlassens des Gesetzgebers keiner Erörterung (vgl. auch Hein, S. 65).- Eine andere Fallgruppenbüdung als die oben im Text wiedergegebene findet sich bei Söhn (a.a.O. (s. Fn. 55)). Nach diesem erstreckt sich der Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung im wesentlichen sowohl auf gleichheitswidrige als auch auf solche Normen, die einen Verfassungsauftrag nicht (ordnungsgemäß) erfüllen (Söhn, ebd.). Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1181-1187. Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 366-377. 65 Pestalozza, BVerfG und GG I, S. 519, 523-540; ders., Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 13 (= S. 277) und Rn. 112-124 (= S. 339-351). 66 Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 24. 67 Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 370. 68 Ebd., mit Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. 69 Und zwar von der ausnahmsweisen Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung: Grundsätzlich hat die Unvereinbarerklärung zur Folge, daß Gerichte und Verwaltungsbehörden die Norm nicht weiter anwenden dürfen. S. ausführlich unten S. 94. 7 0 Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 370. 64
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Klein 7 ! eruiert einen Rückgriff des Bundesverfassungsgerichtes auf die Unvereinbarerklärung (auch) in den Fällen, in denen „die fragliche Rechtsnorm erst durch die Veränderung tatsächlicher Umstände (wirtschaftlicher Verhältnisse) in die Verfassungswidrigkeit „hineingewachsen" ist" 72 , oder in denen das Bundesverfassungsgericht „eine überraschende Neuorientierung in der verfassungsgerichtlichen Beurteilung vornimmt" 73. Diese Fälle seien allerdings selten.74 Bei Pestalozza findet sich die Fallgruppe „unvollständige Normen" 75 bzw. „Teilunterlassungen"76 des Gesetzgebers. Die Unvollständigkeit der Norm - und damit das teilweise Unterlassen des Gesetzgebers - könne sowohl aus einem fehlenden Gebot (der Kreis da- Begünstigten wird durch die Norm zu eng gezogen) als auch aus einem fehlenden Verbot (der Kreis der Begünstigten wird durch die Norm zu weit gezogen) resultieren. 77 Unvollständige Normen schone das Bundesverfassungsgericht, indem es diese Normen grundsätzlich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erkläre 78. Ausnahmsweise erkläre das Bundesverfassungsgericht aber auch die unvollständige Norm für nichtig oder das Unterlassen des Gesetzgebers für unvereinbar. 79 Jarass schließlich nimmt die Fallgruppen des „willkürlichen Begünstigungsausschlußes"80 und der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers"8! näher in den Blick, um diese dann neu zu definieren. 82 Eine Unvereinbarerklärung werde vom Bundesverfassungsgericht dann eingesetzt, „wenn der Verfassungsverstoß auch durch eine 7 1
Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1185 f. A.a.O., Rn. 1185. 73 A.a.O., Rn. 1186. 7 4 Klein (a.a.O., Rn. 1185 f.) führt vier bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen als Beleg an, wobei aUerdings ein Verweis fehlgeht: In BVerfGE 53, 257 wurde die geprüfte Norm nicht mit dem Grundgesetz für unvereinbar, sondern vielmehr für vereinbar erklärt. Gleichzeitig sprach das Gericht die Verpflichtung des Gesetzgebers aus, die komplexe Materie neu zu regeln und eine ergänzende Regelung für bestimmte HärtefäUe zu treffen (vgl. BVerfGE 53, 257, 257 (Ls. 4) u. passim). 72
7 5
Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 115 (S. 340).- Vgl. zu diesem Begriff auch BVerfGE 54, 159, 172. 7 6
Pestalozza, BVerfG und GG I, S. 519, 529.- Die Wendung „Das teüweise Unterlassen des Gesetzgebers" findet sich bereits in BVerfGE 6, 257, 264. 7 7 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 115 (S. 340). 78 Ebd., § 20 Rn. 115 (S. 342). Ebd. (vor Fn. 340). 80 = Fallgruppe 1; s. oben S. 26. 81 = Fallgruppe 2; s. oben S. 26. 82 Vgl. Jarass in: Jaras s/P ieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 24.
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Ergänzung oder Änderung des Gesetzes behoben werden kann. Das ist v.a. bei Gleichheitsverletzungen möglich (...), aber auch in anderen Fällen, etwa bei einem Verstoß gegen Art. 12 (BVerfGE 81,242/243), gegen Art. 14 (BVerfGE 87,114/136; NJW-RR 93, 971) oder gegen Art. 107 (BVerfGE 72, 330/333)"83. Ziel der vorliegenden Untersuchung soll sein, die dargestellten, durch die Literatur ausgearbeiteten Fallgruppen der Unvereinbarerklärung näher aufzuschlüsseln. Eine solche Zielsetzung erscheint aus mehreren Gründen als sinnvoll. Zunächst bedarf die Fallgruppe der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers"84 einer näheren Auslotung. Denn der Topos der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ist für sich genommen als Begründung für den Verzicht auf die Nichtigerklärung nichtssagend.85 Ohne weitere Erläuterung bleibt somit unklar, warum in diesen Fällen ein Freiraum der Gestaltung für den Gesetzgeber eröffnet sein soll, warum sich also das Bundesverfassungsgericht zur Anwendung der Unvereinbarerklärung veranlaßt sieht. Desweiteren zeigt die Durchsicht der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen86, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, soweit diese hier interessiert, nicht immer präzise und korrekt nachgezeichnet wird. So wird insbesondere festgestellt, daß das Bundesverfassungsgericht die „Figur der Unvereinbarerklärung im wesentlichen auf die Fälle (beschränke), in denen der gleichheitswidrige Begünstigungsauschluß die Unvereinbarerklärung begründet"87. Die Rechtsprechung sei damit zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt 88; die Judikatur zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sei „heute a u f g e g e b e n " 8 ^ Ein solcher Befund läßt sich indes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht nachweisen. Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich der Fallgruppe des „willkürlichen Begünstigungsausschlusses" gerade etwas mehr als die Hälfte der Unvereinbarerklärungen zuordnen90; eine andersartige Entwicklung
83
Ebd.- Hervorhebungen im Original. = Fallgruppe 2; s. oben S. 26. 85 Vgl. auch Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 369, der von der „Generalklausel der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" spricht. 86 Soweit diese in der von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichtes herausgegebenen Entscheidungssammlung veröffentlicht sind (einschließlich des 94. Bandes). 84
87
Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 375. Schiaich, a.a.O., Rn. 366. 8 9 Schiaich, a.a.O., Rn. 369. 88
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
der Rechtsprechung ist nicht ersichtlich. Es besteht damit auch Aufklärungsbedarf in tatsächlicher Hinsicht. Schließlich macht eine intensivere Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes diese zum Teil erst rational nachvollziehbar und damit inhaltlich angreifbar. Mit der Fallgruppe der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers"91 beispielsweise kann eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung erst dann erfolgen, wenn der Begriff der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit nicht mehr inhaltsleer (bzw. inhaltlich vollständig offen) ist. 92 Nachdenklich stimmt in diesem Zusammenhang auch, daß sich das Bundesverfassungsgericht bisher an keiner Stelle ausdrücklich mit der Kritik der Literatur an der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis auseinandergesetzt hat, was angesichts der mittlerweile umfangreichen Kritik 93 zumindest verwundert. Um das aufgezeigte Ziel der vorliegenden Untersuchung zu erreichen, wird im folgenden vom Normalfall der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung ausgegangen.94 Verfassungswidrigen Normen begegnet das Bundesverfassungsgericht im Normalfall mit dem Instrument der Nichtigerklärung. 95 Ein solcher Normalfall 90
Nämlich 72 von insgesamt 123 Unvereinbarerklärungen. Das sind etwa 59 %. -Vgl. die Nachweise unten in Fn. 99. 91 = Fallgruppe 2; s. oben S. 26. 92 Kurz geraten daher auch die kritischen Ausführungen zu dieser Fallgruppe bei Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 369. 9 3 Vgl. hierzu die Nachw. bei Hein, S. 98-100 und 114-122. 94 Vgl. zur sog. Normalfallmethode Haft, Einführung in das juristische Lernen, 5. Auflage 1991, S. 113-137. 95 Daß die Nichtigerklärung hier als „Normalfall" behandelt wird, ist auch deshalb gerechtfertigt, weil nicht diese, sondern die Unvereinbarerklärung begründungsbedürftig ist (s. oben S. 17).- Von der Nichtigerklärung als Normalfall scheint auch das Bundesverfassungsgericht auszugehen, vgl. die Nachweise bei Stern, Staatsrecht ΙΠ/2, § 90 Π 2 (S. 1145 mit Fn. 22). In BVerfGE 90, 60, 104 bezeichnet das Gericht die Nichtigkeit eines Gesetzes als die „Regelfolge der Verfassungswidrigkeit".- Aus quantitativer Sicht kann die Nichtigerklärung allerdings kaum noch als Normalfall eingeordnet werden: In der von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichtes herausgegebenen Entscheidungssammlung finden sich 123 Unvereinbarerklärungen und etwa doppelt so viele Nichtigerklärungen. Als Faustformel mag somit gelten, daß das Bundesverfassungsgericht von drei verfassungswidrigen Gesetzen zwei für nichtig und eines für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.- Nach P. Kirchhof ist im Bereich des Steuerrechts die Unvereinbarerklärung sogar der Normalfall (vgl. „Focus" 10/1996, S. 98).
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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liegt dann vor, wenn die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nur96 durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich ist und die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit zugleich die Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes bewirkt. Mit dieser Definition des Normalfalles werden zugleich zwei Problemfälle vorgegeben. Diese liegen dann vor, wenn entweder die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nicht bzw. nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich ist, oder wenn die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit durch Kassation der verfassungswidrigen Norm nicht zugleich den verfassungsmäßigen Zustand herstellt, da ein (Mindest-)Bestand an gesetzlichen Normen aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich ist. In diesen beiden „pathologischen Fällen" 97 , die nun eingehend dargestellt werden, macht das Bundesverfassungsgericht vom Instrument der Unvereinbarerklärung Gebrauch.
II. Fallgruppen der Unvereinbarerklärung 1. Die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit ist nicht bzw. nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich Der erste Anwendungsbereich der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung kennzeichnet sich dadurch, daß in den zugrundeliegenden Fällen die Verfassungswidrigkeit nicht bzw. nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm zu beseitigen ist. Die Aufgabe, verfassungswidrige Zustände zu beseitigen, ist in diesen Fällen nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes nicht bzw. nicht ausschließlich durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zu bewältigen. An die Stelle der Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. neben diese tritt die Gesetzgebung. Das Bundesverfassungsgericht überläßt, soweit es um die Beseitigung verfassungswidriger Zustände geht, im Ergebnis dem Gesetzgeber das Feld, indem es das verfassungswidrige 96
Vgl. z.B. BVerfGE 74, 9, 28: Hier begründet das Bundesverfassungsgericht die Nichtigerklärung des gegen Art. 3 Abs. 1 GG (!) verstoßenden Gesetzes damit, daß „den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG nur durch Beseitigung der zur Prüfung gestellten Norm entsprochen werden (könne)."- Hervorhebung vom Verfasser. 97 Vgl. zu dieser Terminologie Haft, a.a.O. (s. Fn. 94), S. 114.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Gesetz (bloß) für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt und damit dem Gesetzgeber die Aufgabe der Beseitigung der Verfassungswidrigkeit überantwortet. 98 Die grundsätzlich dem Bundesverfassungsgericht obliegende Aufgabe der Elimination verfassungswidriger Zustände verortet das Gericht damit funktionell neu nämlich bei einem anderen Verfassungsorgan, dem Gesetzgeber. Ein derartiges Vorgehen hält das Bundesverfassungsgericht sowohl bei gleichheitswidrigen Gesetzen (dazu unten bei a)) als auch bei nachbesserungsfähigen, defizitären Gesetzen (dazu unten bei b)) für geboten. a) Das gleichheitswidrige Gesetz Gleichheitswidrige Gesetze stellen den Hauptanwendungsfall der Unvereinbarerklärung dar." Im folgenden soll ein Überblick über die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum gleichheitswidrigen Gesetz gegeben werden. 100 Der „dogmatische Ausgangspunkt"101 und damit die „eigentliche Wiege" 102 der Unvereinbarerklärung findet sich im „willkürlichen Begünstigungsausschluß". Dieser Terminus bezeichnet ein Gesetz, das Begünstigungen gewährt und bei dieser Gewährung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG 98
Die „Verpflichtung des Gesetzgebers, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen" (BVerfGE 87, 153, 178), ist für den Gesetzgeber die Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung; s. dazu ausführlich unten S. 107 f. 99 Von 123 für unvereinbar erklärten Gesetzen sind 72 der Fallgruppe des gleichheitswidrigen Gesetzes zuzuordnen: BVerfGE 13, 248; 18, 257; 18, 288; 23, 1; 25, 101; 25, 236; 26, 100; 26, 163; 28, 227; 28, 324; 29, 57; 29, 71; 29, 283; 30, 227; 30, 292; 31, 1; 32, 365; 33, 90; 33, 106; 37, 154; 37, 217; 37, 342; 38, 1; 38, 41; 38, 61; 38, 213; 39, 316; 40, 296; 41, 399; 42, 176; 43, 58; 45, 106; 45, 376; 46, 97; 47, 1; 48, 64; 48, 227; 48, 327; 51, 1; 52, 369; 56, 353; 57, 335; 61, 43; 61, 319; 62, 256; 63, 119; 67, 348; 71, 146; 71, 224; 72, 330; 73, 40; 75, 108; 75, 166; 75, 284; 78, 350; 79, 87; 82, 60; 82, 126; 82, 198; 82, 322; 84, 9; 84, 348; 86, 148; 87, 234; 88, 5; 89, 15; 91, 389; 92, 53; 93, 121; 93, 165; 93, 386; 94, 241. 100 Eine ausführliche Darstellung der diesbezüglichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes (bis zum 71. Band der amtlichen Entscheidungssammlung) findet sich bei Hein, S. 39-55. 101 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109. 102 Hein, S. 39.
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verstößt. Das Gesetz definiert den personellen oder sachlichen Bereich der Begünstigung also in einer den allgemeinen Gleichheitssatz verletzenden Weise. Dieses geschieht dadurch, daß bestimmte Personengruppen oder Lebenssachverhalte willkürlich bzw. ohne hinreichenden sachlichen Grund vom Anwendungsbereich der die Begünstigung gewährenden Norm nicht erfaßt und damit von der Begünstigung ausgeschlossen werden. Ein solcher gleichheitswidriger Begünstigungsausschluß kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Dieses soll jeweils an einem Beispiel verdeutlicht werden. Über einen ausdrücklichen Begünstigungsausschluß judizierte das Bundesverfassungsgericht, um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu nehmen, im 88. Band der amtlichen Entscheidungssammlung. In dieser Entscheidung!03 überprüfte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger (Beratungshilfegesetz -BerHG-) vom 18. Juni 1980. 104 Diese Vorschrift gewährte Hilfe in Form von Beratung und - soweit erforderlich - Vertretung 105 für die Wahrnehmung von Rechten außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens in Angelegenheiten „des Zivilrechts außer in Angelegenheiten, für deren Entscheidung die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig sind"! 06 . Der Beschwerdeführer, dessen Antrag auf Gewährung von Beratungshilfe das Arbeitsgericht unter Hinweis auf § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BerHG zurückgewiesen hatte, hielt den in dieser Norm ausdrücklich angeordneten Ausschluß der Beratungshilfe in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten für nicht vereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GGi° 7 und erhob deshalb Verfassungsbeschwerde sowohl gegen die seinen Antrag ablehnenden Beschlüsse des Arbeitsgerichtes als auch - mittelbar - gegen § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BerHG. Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Die zur Prüfung gestellte Norm des BerHG benachteilige Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Vergleich zu anderen Rechtsuchenden bei der Gewährung von
103 BVerfGE 88, 5. 104 BGBl. I S. 689. 105
Vgl. § 2 Abs. 1 BerHG. So § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BerHG (Hervorhebung vom Verfasser). 107 Daneben rügte der Beschwerdeführer noch die Verletzung seiner grundrechtlich verankerten Rechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 88, 5, 8 f.), die vom Bundesverfassungsgericht jedoch nicht (mehr) erörtert wurden. 106
3 Blüggel
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Beratungshilfe. 108 Diese Ungleichbehandlung sei nicht durch sachliche Gründe zu rechtfertigen. 109 Insbesondere könne weder die Prozeßkostenhilfe noch das Beratungsangebot der Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen die durch das Beratungshilfegesetz bewirkte Ungleichbehandlung kompensieren.110 Denn die Prozeßkostenhilfe als Hilfe im gerichtlichen Verfahren könne die Beratungshilfe als Hilfe im außergerichtlichen Verfahren nicht ersetzen.111 Das Beratungsangebot der Arbeitnehmer- bzw. Arbeitgeberverbände scheide als Ausgleichsmöglichkeit ebenfalls aus, weil die Arbeitnehmer oder Arbeitgeber wegen ihres geringen Einkommens - die für das Beratungshilfegesetz maßgeblichen Einkommen lagen am Rande des Existenzminimums112 - häufig nicht in der Lage seien, den erforderlichen Beitrag für die Mitgliedschaft in der Vereinigung aufzubringen. 113 Der in § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BerHG enthaltene ausdrückliche Begünstigungsausschluß war nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes also verfassungswidrig. Ein konkludenter Begünstigungsausschluß war beispielsweise Gegenstand in BVerfGE 47,1. Aufgrund mehrerer Verfassungsbeschwerden hatte das Bundesverfassungsgericht hier über die Verfassungsmäßigkeit des § 33 a Abs. 3 Nr. 2 Buchstabe a) des Einkommensteuergesetzes (EStG) 114 zu entscheiden. Diese Vorschrift gewährte einem Steuerpflichtigen dann eine Steuerermäßigung (also eine Begünstigung), wenn dieser eine Haushaltsgehilfin beschäftigte, desweiteren zum Haushalt des Steuerpflichtigen mindestens zwei Kinder gehörten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, und schließlich der Steuerpflichtige verheiratet war, von seinem Ehegatten nicht dauernd getrennt lebte und beide Ehegatten erwerbstätig waren. Steuerpflichtige Eltern mit nur einem Kind erhielten also keine Steuerermäßigung. Die genannte Norm des Einkommensteuerrechts Schloß diese Eltern zwar nicht ausdrücklich, aber konkludent von der Steuerermäßigung als Begünstigung aus. Dieses geschah dadurch, daß der Anwendungsbereich des Gesetzes nur
10» BVerfGE 88, 5, 13. 109 Ebd. HO Vgl. BVerfGE 88, 5, 13-15. m BVerfGE 88, 5, 14. 112 BVerfGE 88, 5, 15. 113 Ebd. 114 In der Fassung vom 10. Dezember 1965 (BGBl. I S. 1901), vom 12. Dezember 1969 (BGBl. I S. 2265) und vom 1. Dezember 1971 (BGBl. I S. 1881).
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positiv, d.h. ohne (ergänzende) ausdrückliche negative Abgrenzung, definiert wurde. Die durch diesen konkludenten Begünstigungsausschluß herbeigeführte Ungleichbehandlung von steuerpflichtigen Eltern mit nur einem Kind gegenüber steuerpflichtigen Eltern mit zwei oder mehreren Kindern wertete das Bundesverfassungsgericht als Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG. Insbesondere stelle die unterschiedliche Kinderzahl keinen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung dar. Denn die Aufwendungen für die Kindesbetreuung durch eine Haushaltsgehilfin seien bei einem Kind kaum geringer als bei mehreren Kindern.n 5 Der in § 33 a Abs. 3 Nr. 2 Buchstabe a) EStG enthaltene konkludente Begünstigungsausschluß war nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes somit verfassungswidrig. In beiden Beispielsfällen war der (ausdrückliche oder konkludente) Begünstigungsausschluß der Grund für die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG und damit die Ursache des Verfassungsverstoßes. Es fragt sich, wie das Bundesverfassungsgericht einem derartigen Verfassungsverstoß begegnet ist. Diese Frage stellt sich deshalb, weil nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes ein Gesetz, das einen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß enthält, kein Normalfall eines verfassungswidrigen Gesetzes darstellt. Das Abnorme und damit Problematische ergebe sich daraus, daß die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nicht bzw. nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich sei. Daß die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich sei, ist dann der Ausgangspunkt der Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes, wenn dieses darauf verweist, daß im konkreten Falle „mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes bestehen".!ι6 Diese Möglichkeiten seien dem Bundes-!!7 oder Landesgesetz-
115 BVerfGE 47, 1, 31 f. 116
So zum Beispiel BVerfGE 28, 324, 362. Vgl. zuletzt BVerfGE 85, 191, 211 f. sowie BVerfGE 91, 389,404: „mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit". Ebenso BVerfGE 93, 386, 402; 94, 241, 264 f. 117 Vgl. etwa BVerfGE 87, 234, 262.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
geber 118 eröffnet; dieser habe angesichts des Umstandes, daß es mehrere Möglichkeiten gebe, insoweit „Gestaltungsfreiheit". 1 ^ In BVerfGE 88,5 - dem zuvor angeführten ersten Beispielsfall - hat das Bundesverfassungsgericht diese verschiedenen Möglichkeiten des Gesetzgebers auch konkret benannt. Um die „Verfassungswidrigkeit zu beheben"!20, könne der Gesetzgeber „etwa die Beratungshilfe unverändert auf das Arbeitsrecht erstrecken oder dem Anliegen, das bei den Verbänden vorhandene Fachwissen zu nutzen (...), durch eine Einbeziehung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände in die nach dem Gesetz zu gewährende Beratung Rechnung tragen. Er ist auch nicht gehindert, die im Gesetz vorgesehenen Leistungen in anderer Weise zu modifizieren." 121 Wenn man sich von diesem Einzelfall löst und eine allgemeine Perspektive einnimmt, hat der Gesetzgeber also regelmäßig drei Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit 122: Der Gesetzgeber kann zunächst die Begünstigung auf die von dem gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß betroffene Personengruppe (bzw. den betroffenen Lebenssachverhalt) personell (bzw. sachlich) erstrecken. Ferner kann der Gesetzgeber die Begünstigung auch ganz abschaffen. 1 2 3 Schließlich kann der Gesetzgeber den personellen oder sachlichen Bereich der Begünstigung völlig neu definieren. 124 Welche dieser aufgezeigten Möglichkeiten dann realisiert werden solle, habe der Gesetzgeber zu entscheiden. Die Eliminierung ist also ein mögliches, aber nicht das notwendige Schicksal der gleichheitswidrigen Norm. 125 Denkbar ist vielmehr auch, daß nach dem Willen des Gesetzgebers das gleichheitswidrige Gesetz
H» Vgl. etwa BVerfGE 58, 137, 152 (allerdings hinsichtlich Art. 14 Abs. 1 GG; zu dieser Entscheidung vgl. unten S. 53 ff.). 119 Vgl. etwa BVerfGE 28, 324, 362 sowie zuletzt BVerfGE 93, 386, 402. 120 BVerfGE 88, 5, 17. 121 Ebd. 122 Vgl. auch BVerfGE 22, 349, 361 sowie BVerfGE 93, 386, 395. 123 Sofern der Gesetzgeber nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen zur Aufrechterhaltung der Begünstigung verpflichtet ist. 124 Vgl. BVerfGE 88, 5, 17. 125 Vgl. auch BVerfGE 93, 121, 148; 93, 165, 178: „Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz führt zu einer bloßen Unvereinbarkeitserklärung, weil die Gleichheitswidrigkeit nicht zu bestimmten Folgerungen zwingt (...)·" BVerfGE 94, 241, 265: „Das Grundgesetz legt den Gesetzgeber nicht auf eine bestimmte Lösung fest."
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weiterhin Bestand haben und nur eine Ergänzung oder inhaltliche Modifizierung erfahren soll. 1 2 6 Die Nichtigerklärung des Gesetzes (und damit die Kassation desselben) greife folglich dem Gesetzgeber vor i 2 7 bzw. in dessen Gestaltungsfreiheit ein i 2 8 . Das Bundesverfassungsgericht müsse sich deshalb darauf beschränken, die Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären so daß der 130 Bestand des Gesetzes unangetastet bleibe. Daß die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nicht durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich sei, hat das Bundesverfassungsgericht soweit ersichtlich - ausdrücklich bisher nur in einer Entscheidung festgestellt. 131 In BVerfGE 18,288 rügten die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Grundrechtes aus Art. 3 Abs. 1 GG durch das Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes. 132 Die Verletzung ihres Grundrechtes resultiere daraus, daß ihnen dieses Gesetz eine Wiedergutmachung erst ab dem 1. Januar 1961 gewähre, während bei einer anderen, vergleichbaren Gruppe der Zahlungsbeginn auf den 1. April 1951 festgelegt werde. Ein sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung sei nicht vorhanden.133 Das Bundesverfassungsgericht gab den Beschwerdeführern Recht. Doch sei es „inicht möglich, eine Norm insoweit für nichtig zu erklären, als sie etwas - hier nämlich Zahlung ab 1. April 1951 - nicht anordnet."134 Infolgedessen erklärte das 126 V g l z u m Beispiel BVerfGE 84, 1,4:,,... der Gesetzgeber könnte die Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage in einer Weise herstellen, die die Norm fortbestehen ließe. Ferner BVerfGE 82, 60, 84: „Die Möglichkeit, daß der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Mangel auch in einer Weise beheben könnte, daß die beanstandete Norm im Endergebnis bestehen bleibt, hat (...) zur Folge, daß das Bundesverfassungsgericht die Norm nicht für nichtig erklären, sondern nur ihre Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststeüen kann."- Hervorhebungen jeweils vom Verfasser. 127 So zum Beispiel BVerfGE 85, 226, 237. 128 So zum Beispiel BVerfGE 28, 324, 362. 129 So das Bundesverfassungsgericht auch in den beiden oben im Text angeführten Beispielsfällen; s. BVerfGE 88, 5, 17; 47, 1, 33. 1 3 0 Ausführlich zu den Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung unten S. 91 ff. 131 BVerfGE 18, 288, 301. In BVerfGE 22, 349; 51, 193, 221 nimmt das Bundesverfassungsgericht auf diese Entscheidung Bezug. 132
Vom 11. Mai 1951 (BGBl. I S . 291) in der Fassung des Sechsten Änderungsgesetzes vom 18. August 1961 (BGBl. I S. 1349). 1 3 3 Vgl. BVerfGE 18, 288, 292-294. 1 3 4 BVerfGE 18, 288, 301 (erste Hervorhebung vom Verfasser, zweite im Original).
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Bundesverfassungsgericht das kontrollierte Gesetz mit dem Grundgesetz für unvereinbar. 135 Das hierbei vom Bundesverfassungsgericht verwendete Argument der gesetzestechnischen136 bzw. urteilstechnischen137 Unmöglichkeit der Nichtigerklärung wurde im Verlauf der weiteren Rechtsprechung aber nicht nochmals verwendet, um den Verzicht auf die Nichtigerklärung zu begründen; es blieb also ein Einzelfall. 13 » Etabliert hat sich in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dagegen das zuvor erörterte Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.139 Dieses Argument übertrug das Bundesverfassungsgericht alsbald vom willkürlichen Begünstigungsausschluß auf andere Arten gleichheitswidriger Normen.
135 Ebd. 1 3 6 Vgl. zu dieser Terminologie BVerfGE 22, 349, 349 (LS. Π ) und 360; Pestalozzi, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 114 (= S. 340); Benda in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1184. 137 Vgl. zur Terminologie Stuth in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn. 19. 138 Vermerkt sei an dieser Stelle aber bereits, daß der Argumentationstopos der Unmöglichkeit der Nichtigerklärung in der Literatur eine herausragende Position bei der Erörterung des gleichheitswidrigen Gesetzes einnimmt: Die „Unmöglichkeit einer kassatorischen Entscheidung" (Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214) resultiere bei gleichheitswidrigen Gesetzen aber nicht aus dem Schweigen des Gesetzes (so wie es das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 18, 288, 301 angenommen hat; s. oben i m Text), sondern aus der Besonderheit des gleichheitswidrigen Gesetzes. I m Falle eines gleichheitswidrigen Gesetzes sei nämlich nicht die Norm, sondern die „Normenrelation" (Ipsen, a.a.O.) verfassungswidrig. So seien beispielsweise „Begünstigung wie Begünstigungsausschluß für sich verfassungsrechtlich unbedenklich" (Ipsen, a.a.O., S. 213). Allein ihre Beziehung zueinander verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Ipsen, ebd.). Bei einem Verstoß eines Gesetzes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz fehle somit eine „isolierbare verfassungswidrige Norm" (Ipsen, a.a.O., S. 214). Die „Relativität des Gleichheitssatzes" (Maurer, FS Weber, S. 345, 354) führe zu „einer nur relativen Verfassungswidrigkeit" (ebd.). Mangels eines isolierbaren Angriffsobjektes greife man mit dem Instrument der Nichtigerklärung daher ins Leere.- Ausführlich zu dieser Argumentation unten S. 153 ff. 139 Vgl. z u weiteren, vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls bei gleichheitswidrigen Gesetzen verwendeten Argumentationsansätzen, die aber vereinzelt blieben und auch in der Literatur keine Aufnahme gefunden haben, so daß sie deshalb hier vernachlässigt werden sollen, Hein, S. 39-52 (insb. 47 und 49).
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So sei nicht nur bei begünstigenden, sondern auch bei belastenden Regelungen bei der Beseitigung der Verfassungswidrigkeit die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu wahren. 1 4 0 Denn mehrere Möglichkeiten, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, habe der Gesetzgeber auch bei belastenden gleichheitswidrigen Regel u n g e n . 1 4 1 Den Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung erstreckte das Bundesverfassungsgericht damit auf sämtliche, den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzende Normen. Das Bundesverfassungsgericht verließ alsbald auch den Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG. Es erklärte Normen für unvereinbar mit dem Grundgesetz, die Art. 3 Abs. 2 G G 1 4 2 oder Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG 1 4 3 verletzten. Der Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung wurde schließlich nicht nur in horizontaler, sondern auch in vertikaler Richtung erweitert. Diese vertikale Vertiefung resultiert aus der veränderten Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes.144 Während das Bundesverfassungsgericht in seiner früheren Rechtsprechung nur dann ein Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig erklärt hat, wenn die gesetzliche Bestimmung „als willkürlich bezeichnet werden muß" 1 4 5 , kann nach neuerer bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur Art. 3 Abs. 1 GG bereits dann verletzt sein, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten" 146 . Diese in 140 Vgl. etwa BVerfGE 23, 1. Weitere Nachweise bei Hein, S. 42 (in Fn. 61). 141 Vgl. etwa BVerfGE 75, 166, 182. 142
Zuerst BVerfGE 31,1; weitere Nachweise siehe oben S. 19 (mit Fn. 24). BVerfGE 41, 399; 82, 322. Beide Entscheidungen betrafen die Chancengleichheit der Parteien; vgl. zu dieser Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 511-514. 144 Vgl. hierzu statt anderer Gubelt in: von Mänch/Kunig, GGK I, Art. 3 Rn. 14. 145 BVerfGE 1, 14, 52.- Dieses sogenannte Willkürverbot ist von Leibholz (Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 72 ff.) herausgearbeitet und vom Bundesverfassungsgericht rezipiert worden; vgl. Schoch, DVB1. 1988, S. 863, 875 (mit Fn. 186).- Weitere Nachweise zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bei Gubelt in: von Münch/Kunig, GGK I, Art. 3 Rn. 11. 143
146 BVerfGE 55, 72, 88; seitdem ständige Rspr.- Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung der beiden bundesverfassungsgerichtlichen Senate Hesse, FS Lerche, S. 121, 122126.- Diese sogenannte neue Formel des Bundesverfassungsgerichtes erinnert an das Übermaßverbot (insbesondere an die Abwägung als dessen (dritte) Komponente); vgl. jetzt auch BVerfGE 91, 386, 401. So vertreten auch einige Autoren die Ansicht, Art. 3
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einigen Fällen bestehende erhöhte Kontrolldichte bei Gesetzen147 vergrößert bzw. vertieft den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 GG in dessen Funktion als Kontrollnorm. Damit wächst auch der Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verlagert sich hierbei auf eine andere Ebene: Während auf der Tatbestandsebene die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit
Abs. 1 GG sei - jedenfaUs bezüglich der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Maßnahme des Gesetzgebers - wie ein Freiheitsrecht zu prüfen; vgl. Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 54 ff.; Koenig, JuS 1995, S. 313, 314 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 484; differenzierend Hesse, FS Lerche, S. 121, 129 ff.; Huster, Rechte und Ziele, S. 225 ff. (insb. 239 ff.) und passim. 147 Nach Herzog (in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Anhang, Rn. 51 (vgl. auch Rn. 69)) macht das Bundesverfassungsgericht von der sogenannten neuen Formel vor aUem bei solchen Gesetzen Gebrauch, die die Freiheitssphäre des Einzelnen verkürzen. Auf Gesetze, die Freiheitsrechte nicht tangieren, werde dagegen (z.T.) auch weiterhin die Willkürtheorie angewandt. Diese werde durch die neue Formel also nicht abgelöst, sondern nur ergänzt (vgl. Herzog, a.a.O.). Wenn man Herzogs Einschätzung zugrundelegt, ergibt sich eine gleitende Skala verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte, deren Grenzwerte einerseits durch das Willkürverbot und andererseits durch die sogenannte neue Formel markiert werden. Auch nach Hesse (FS Lerche, S. 121, 129-131) ist die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte differenziert zu bestimmen. Als Differenzierungskriterium könne man so Hesse a.a.O. - zum Beispiel auf die Intensität des Grundrechtseingriffes zurückgreifen. Hesse schlägt aber vor, die sogenannte neue Formel durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu ersetzen (ebd.). Nach Hesse hält damit der Kontrollmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG sowohl ein Willkür- als auch ein Übermaßverbot bereit. Von letzterem geht mittlerweile auch das Bundesverfassungsgericht (jedenfaUs dessen Erster Senat) ausdrücklich aus, indem es feststellt, daß die sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für den Gesetzgeber „vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen" (BVerfGE 91, 389,401). Dem korrespondiere „eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung" (ebd.- Hervorhebung vom Verfasser). Eine strenge Bindung des Gesetzgebers sei geboten, sofern und soweit die Ungleichbehandlung an „personenbezogene Merkmale" anknüpfe (so zuletzt BVerfGE 91, 346, 363 f.). Nach v. Brünneck (Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 121) ist, wenn man den aügemeinen Gleichheitssatz rechts vergleichend betrachtet, als „allgemeine Tendenz (...) festzustellen, daß die Gleichheitsprüfung um so strenger ist, je mehr die Kernbereiche der menschlichen Persönlichkeit betroffen sind." Diese Tendenz zeige sich insbesondere in der amerikanischen Verfassungsjudikatur (ebd.).
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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„nicht unerheblich eingeschränkt"148 wird, da die erhöhte Kontrolldichte den dem Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG gewährten Gestaltungsspielraum reduziert, ist Gestaltungsfreiheit dem Gesetzgeber nun auf der Rechtsfolgenebene eröffnet, weil dieser zu entscheiden hat, auf welche Weise der durch das gleichheitswidrige Gesetz bewirkte Verfassungsverstoß beseitigt werden soll. 149 Was dem Gesetzgeber also auf der Tatbestandsebene an Gestaltungsfreiheit genommen wird, wird ihm auf der Rechtsfolgenebene - allerdings mit verändertem Inhalt - zurückgegeben. Zusammenfassend ist festzustellen, daß das Bundesverfassungsgericht bei gleichheitswidrigen Gesetzen deshalb vom Instrument der Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze Gebrauch macht, weil die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit in diesen Fällen grundsätzlich nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich ist. Damit sind auch die Konstellationen vorgegeben, in denen das Bundesverfassungsgericht gleichheitswidrige Gesetze ausnahmsweise für nichtig erklärt. Das ist - als Umkehrung des soeben genannten Grundsatzes - dann der Fall, wenn „den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG nur durch Beseitigung der zur Prüfung gestellten Norm entsprochen werden (kann)" 1 5 0 , bzw. wenn „nurdiese eine Möglichkeit zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes in Betracht kommt" 151 . Zwei Konstellationen sind nach bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur denkbar, in denen nur die Nichtigerklärung und damit die Kassation der gleichheitswidrigen Norm die durch diese bewirkte Verfassungswidrigkeit beseitigen kann. Zum einen könne es verfassungsrechtlich geboten sein, den Verstoß gegen den Gleichheitssatz gerade durch die Nichtigerklärung des Gesetzes zu beseitigen.152 Insbesondere ein zwingender Verfassungsauftrag vermöge die Gestaltungsfreiheit
148 Schoch, DVB1. 1988, S. 863, 876. 149 Vgl. oben S. 29 f. 1 5 0 BVerfGE 74, 9, 28 (Hervorhebung vom Verfasser). 151 BVerfGE 22, 349, 362 (Hervorhebung vom Verfasser).- Dasselbe müßte konsequenterweise auch für Normen gelten, die Art. 3 Abs. 2, Art. 3 Abs. 3 oder Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verletzen. Denn auch in diesen Fällen greift das Bundesverfassungsgericht auf das Instrument der Unvereinbarerklärung zurück; s. die Nachweise oben im Text. 152 Vgl. etwa BVerfGE 18, 288, 301 f.; 21, 329, 337 f.; 22, 349, 362; 23, 1, 10; 25, 101, 111; 39, 196, 204; 45, 376, 393.
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des Gesetzgebers dahingehend einzuschränken, daß die Verfassungswidrigkeit nur noch durch die Eliminierung des verfassungswidrigen (Teiles des) Gesetzes beseitigt werden könne. 153 Das „Ermessen" des Gesetzgebers154 ist dann also infolge einer einen bestimmten Weg vorgebenden Verfassungsnorm gewissermaßen auf Null (bzw. Eins) reduziert. Gestaltungsfreiheit ist dem Gesetzgeber folglich nicht (mehr) eröffnet. Durch die Nichtigerklärung kann das Bundesverfassungsgericht in diese auch nicht eingreifen. So erklärte das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel in BVerfGE 71,81 die Vorschrift des § 8 Abs. 1 des Gesetzes über die Arbeitnehmerkammern im Lande Bremeni 55 wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für nichtig. Von der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung machte das Bundesverfassungsgericht keinen Gebrauch. Denn - so das Bundesverfassungsgericht - „dem Gesetzgeber steht kein Gestaltungsspielraum zu, um diesen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit aller Wahlbewerber anderweitig zu beseitigen"156. Bei der Lektüre dieser wie einer anderen Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht ebenfalls eine Art. 3 Abs. 1 GG verletzende Norm für nichtig erklärte 157, fällt auf, daß das Bundesverfassungsgericht nur begründete, warum die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei Erlaß des Gesetzes eingeschränkt war 158 , nicht aber darlegte, wieso die gesetzgeberische Freiheit hinsichtlich der Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes, also die Gestaltungsfreiheit des Gesetz-
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S. Fn. zuvor. 154 Vgl. auch BVerfGE 3, 58, 125: Gesetzgeberischer „Ermessensspielraum".- Nach Lerche (AöR 1965 (Bd. 90), S. 341, 344) ist die Verwendung des Begriffes des gesetzgeberischen Ermessens „Indiz für eine ganz bestimmte, nämlich verwaltungsnahe, Qualifizierung der gesetzgeberischen Tätigkeit". 155
Vom 3. Juli 1956 (Gesetzbl. S. 79) in der Fassung des Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Änderung der wahlrechtlichen Bestimmungen des Gesetzes über die Arbeitnehmerkammern im Lande Bremen vom 17. September 1979 (Gesetzbl. S. 371). 156 BVerfGE 71, 81, 107. 157 BVerfGE 60, 123. 158 i n d e r zuerst genannten Entscheidung wurde nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes die im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG eröffnete Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch den Grundsatz der Chancengleichheit aüer Wahlbewerber (vgl. BVerfGE 71, 81, 96), in der zuletzt genannten Entscheidung durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 60, 123, 134 f.) beschränkt.
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gebers nach Erlaß des (gleichheitswidrigen) Gesetzes eingeschränkt sein sollte.159 Letzteres wäre nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes 160 aber zu erwarten gewesen. Für das Bundesverfassungsgericht sind beide Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers offenbar identisch. Dieses muß nach Pestalozza aber nicht notwendig der Fall sein. So könne der Gesetzgeber frei sein in seiner Entscheidung, eine bestimmte Begünstigung zu gewähren. Die rückwirkende Beseitigung dieser Begünstigung könne aber zum Beispiel wegen des Vertrauensschutzes der bisher Begünstigten ausgeschlossen sein. 161 Die zweite Konstellation, in der nach der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur ein gleichheitswidriges Gesetz ausnahmsweise für nichtig erklärt werden kann, kennzeichnet sich dadurch, daß hier „mit Sicherheit anzunehmen (ist), daß der Gesetzgeber bei Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes die nach der Nichtigerklärung verbleibende Regelung wählen würde" 162 . So hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel in einer Entscheidung aus jüngerer Zeit 1 6 3 festgestellt, daß der hier kontrollierte § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen 164 gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße. Denn mit Art. 3 Abs. 1 GG sei es nicht zu vereinen, Transsexuellen unter 25 Jahren die Möglichkeit einer Vornamensänderung, die älteren Transsexu159 Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auf der Tatbestandsebene einerseits und der Rechtsfolgenebene andererseits s. schon oben S 40 f. 160 Vgl. nochmals BVerfGE 71, 81, 107.
161 Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 118 in Fn. 356 (= S. 345), der letzteres für den Regelfall hält und aus diesem Grunde unter Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nur die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit bei Erlaß des Gesetzes versteht.- Hein, S. 110, schlägt vor, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nach Erlaß des Gesetzes als „Gestaltungszuständigkeit des Gesetzgebers" (ebd.) zu bezeichnen. Auf diese Weise werde zum Ausdruck gebracht, daß sich die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Bereinigung der (verfassungswidrigen) Rechtslage nach der „durch das Gewaltenteilungsprinzip vorgezeichneten Zuständigkeitsordnung zwischen den Verfassungsorganen" (ebd.) richte. 162 So zuletzt BVerfGE 88, 87, 101; vgl. ferner BVerfGE 18, 288, 301 f.; 22, 163, 174 f.; 23, 1, 10; 25, 101, 111; 27, 220, 230 f.; 27, 391, 399; 28, 227, 243; 29, 283, 303; 37, 217, 260; 45, 376, 393; 74, 9, 28; 85, 191, 212. Nebulös die Formulierung in BVerfGE 55, 100, 113. 163 BVerfGE 88, 87. 164 Transsexuellengesetz - TSG - vom 10. September 1980 (BGBl. I S. 1654).
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
eilen durch das Transsexuellengesetz gewährt wird, zu versagen. 165 Sachliche Gründe für die in § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Transsexuellengesetzes gezogene Altersgrenze lägen nicht vor.i 66 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorschrift für nichtig erklärt. Ein Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sei durch die Nichtigerklärung nicht zu befürchten. Denn es sei nicht davon auszugehen, daß der Gesetzgeber eine neue Altersgrenze für die Vornamensänderung bei Transsexuellen einführen werde, da er auch von einer Altersgrenze für geschlechtsanpassende Operationen abgesehen habe.167 Das Bundesverfassungsgericht stellt in dieser zweiten Konstellation, in der es bei gleichheitswidrigen Gesetzen zur Nichtigerklärung greift, also auf den mutmaßlichen Willeni 68 des Gesetzgebers ab. Diesen ermittelt das Bundesverfassungsgericht entweder anhand der Entstehungsgeschichte169 oder anhand der systematischen Stellung der jeweiligen Norm. Letzteres ist dann möglich, wenn die verfassungswidrige Norm in ein Regelungssystem eingebettet ist, das wegen seiner Systematik Rückschlüsse auf den Willen des Gesetzgebers erlaubt. 170 Dieses ist insbesondere bei Gesetzen auf dem Gebiet des Sozialrechts der Fall, da dieses eine hohe Regelungsdichte aufweist.1 71 Als Ergebnis ist damit festzuhalten, daß gleichheitswidrige Gesetze ausnahmsweise dann vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden, wenn nach Auffassung des Gerichtes zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nur die Nichtigerklärung des Gesetzes in Betracht kommt. 172 Die Eliminierung des
165 Vgl. BVerfGE 88, 87, 87 (Leitsatz). 166 Vgl. BVerfGE 88, 87, 97-101. 167 BVerfGE 88, 87, 101 f. 168 Vom „fiktiven Willen des Gesetzgebers" spricht Hein, S. 53 und 55. 169 So im BeispielsfaU: s. BVerfGE 88, 87, 102. 170 Vgl. hierzu auch Jarass in: Jarass/Pieroth, Pie ro t h/S chi ink, Grundrechte, Rn. 536.
Grundgesetz, Art. 3 Rn. 29;
171 Vgl. z.B. BVerfGE 38, 187, 205; 55, 100, 113 f. 172 Bei gleichheitswidrig begünstigenden Normen bewirkt die Nichtigerklärung dann eine (personelle bzw. sachliche) Ausdehnung der Begünstigung, wenn „die Ausschlußvorschrift oder die einschränkenden Satzteile oder Worte für nichtig erklärt werden (können)" (BVerfGE 22, 349, 360), wenn also ein ausdrücklicher Begünstigungsausschluß vorliegt. Bei einem konkludenten Begünstigungsausschluß dagegen ist die Nichtigerklärung nur des Begünstigungsausschlusses (schon deshalb) problematisch,
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Gesetzes greift hierbei nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes nicht in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ein, weil in diesen Fällen entweder dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum gar nicht eröffnet sei 173 oder aber das Gericht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in dessen Sinne ausübel 74 . b) Das nachbesserungsfähige, defizitäre Gesetz Der Argumentationstopos, die Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes greife dann in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein, wenn es mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit gebe, wird vom Bundesverfassungsgericht nicht nur bei gleichheitswidrigen Gesetzen eingesetzt. Auch bei der Kontrolle von Gesetzen am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 1 7 5 oder Art. 14 Abs. 1 GGI 7 6 vermag dieses Argument nach der (vorwiegend jüngeren) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Anwendung der Unvereinbarerklärung und damit den Verzicht auf die Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes zu begründen. Den Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung erstreckt das Bundesverfassungsgericht damit auch auf Gesetze, die verfassungsrechtliche Freiheitsrechte verletzen. Aber nicht allen Normen, die Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG verletzen, begegnet das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung. Diese wird - ebenso wie im Falle des Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz - nur dann eingesetzt, wenn der Gesetzgeber nach weil dieser textlich nicht „greifbar" ist (vgl. BVerfG a.a.O.). Zu erwägen wäre folglich allenfalls noch eine verfassungskonforme (extensive) Auslegung der Vorschrift (vgl. hierzu BVerfGE 8, 28,33-35), die in diesen Fällen aber regelmäßig schon am klaren und damit nicht in diesem Sinne auslegbaren Wortlaut der Norm scheitern dürfte. 173 Erste Fallkonstellation, s. oben S. 41 ff. 1 7 4 Zweite FallkonsteUation, s. oben S. 43 ff. ™ BVerfGE 34, 71; 51, 166; 54, 301; 59, 302; 75, 284; 77, 308; 81, 242; 85, 226.In BVerfGE 34, 71; 59, 302 wurde (in zuletzt genannter Entscheidung zusätzlich) Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG als Kontrollmaßstab herangezogen; in BVerfGE 75, 284 wurde neben Art. 12 Abs. 1 GG auch Art. 3 Abs. 1 GG erörtert. 176 BVerfGE 51, 193; 52, 1; 58, 137; 71, 1; 72, 9; 74, 203; 87, 114. Auch BVerfGE 51, 356 ist an dieser Stelle anzuführen, obwohl das kontroUierte Gesetz hier gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verstieß. Vgl. zu dieser Entscheidung sogleich unten im Text.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Auffassung des Gerichtes mehrere Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen.177 Mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes bestehen bei Normen, die verfassungsrechtliche Freiheitsrechte verletzen, nur dann, wenn die jeweilige Norm nachbesserungsßhig m ist. Wenn die Ergänzung oder Änderung des verfassungswidrigen Gesetzes nicht möglich oder nicht ausreichend, also eine Nachbesserung des Gesetzes ausgeschlossen ist, kommt - ebenso wie beim gleichheitswidrigen Gesetz 1 7 9 - von vornherein nur die Eliminierung und damit Nichtigerklärung des Gesetzes in Betracht, um den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Neben der Nachbesserungsfähigkeit kennzeichnen sich die ein verfassungsrechtliches Freiheitsrecht verletzenden und vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar erklärten Gesetze dadurch, daß sie - wie sogleich zu zeigen ist - defizitär oder undifferenziert sind. Den Tatbestand dieser Normen hat der Gesetzgeber also entweder lückenhaft oder aber zu starr bzw. zu grob definiert. Die Gesetze weisen somit einen Mangel auf, der die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften zur Folge hat. In BVerfGE 77,308 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift des § 3 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes über den Anspruch auf Bildungsurlaub 180 und in BVerfGE 85, 226 die Regelung des § 1 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes über Sonderurlaub für Mitarbeiter in der Jugendarbeit 181 für unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 GG. Beide Gesetze gewährten dem Arbeitnehmer für bestimmte, vom Gesetzgeber für förderungswürdig erachtete Zwecke einen Anspruch auf bezahlten Urlaub. Für den jeweiligen Arbeitgeber bestand gegenüber dem Arbeitnehmer insoweit sowohl eine Freistellungs- als auch eine Entgeltfortzahlungs-
1 7 7 Vgl. etwa BVerfGE 81, 242, 263 (Art. 12 Abs. 1 GG) und BVerfGE 58, 137, 152 (Art. 14 Abs. 1 GG). ™ Vgl. zu diesem Begriff auch BVerfGE 87, 114, 151: Hier hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß das für unvereinbar erklärte Gesetz der „Nachbesserung" (ebd.) bedürfe. Vgl. BVerfGE 65, 325, 358: Das Bundesverfassungsgericht begründete hier die Nichtigerklärung des Art. 3 Abs. 1 GG verletzenden Gesetzes damit, daß praktisch nur die Möglichkeit bleibe, „die Vorschriften (...) vollständig neu (...) zu fassen (...)." „Eine Änderung oder Ergänzung der beanstandeten §§ (...) reicht nicht aus (...)." 180 Vom 16. Oktober 1984 (Gesetz- und Verordnungsblatt I S. 261). 181 Vom 28. März 1951 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. August 1983 (Gesetz- und Verordnungsblatt I S. 130).
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pflicht. Daß letztere den einzelnen Arbeitgeber ausnahmslos in vollem Umfang treffe, stelle - so das Bundesverfassungsgericht - einen unzumutbaren und damit un verhältnismäßigen Eingriff in die Berufsfreiheit des Arbeitgebers dar. 1 8 2 Der Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG resultiere aus dem Umstand, daß das jeweilige Gesetz keine finanziellen Ausgleichsmöglichkeiten für den einzelnen Arbeitgeber vorsehe. 183 Die Gesetze wiesen nach bundesverfassungsgerichtlicher Einschätzung also einen Mangel in Form eines Regelungsdefizites auf, der zu ihrer Verfassungswidrigkeit führte. Zur Beseitigung des Regelungsdefizites und damit der Verfassungswidrigkeit standen dem Gesetzgeber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. 184 Das Bundesverfassungsgericht dürfe „der gesetzgeberischen Einschätzung und Gestaltung nicht vorgreifen" 185. Das Bundesverfassungsgericht erklärte infolgedessen beide hessischen Gesetze nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Mangelnde Differenziertheit stellte sowohl in BVerfGE 34, 71 als auch in BVerfGE 81, 242 den Grund für die Verfassungswidrigkeit der kontrollierten Norm dar. In der zuerst genannten Entscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz 186 über die Berufsausübung im Einzelhandel187 für unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG. 1 8 8 Das Einzelhandelsgesetz konstituierte eine Erlaubnispflicht für alle Formen des Einzelhandels mit Lebensmitteln. Bei der Gewährung der Erlaubnis stellte das Gesetz gleiche Anforderungen an alle Formen des Einzelhandels mit Lebensmitteln. Es differenzierte also nicht zwischen dem Einzelhandel mit Lebensmitteln aller Art und dem Einzelhandel mit nur einzelnen Lebensmitteln. Derjenige Unternehmer, der nur mit einer Art von Lebensmitteln Einzelhandel betreiben 182 BVerfGE 77, 308, 337; 85, 226, 235-237. 183 BVerfGE 77, 308, 308 (LS. 3) und 337; 85, 226, 227 und 235. 184 BVerfGE 77, 308, 337; 85, 226, 237 f. Denkbar sei (u.a.) sowohl ein Ausgleich durch eine Solidareinrichtung der Arbeitgeber als auch eine Kostenerstattung durch eine öffentliche Kasse oder einen Träger der ΒildungsVeranstaltung bzw. der Jugendhilfe; vgl. BVerfG, a.a.O. 185 BVerfGE 77, 308, 337. 186 £ ) e r verfassungswidrige Mangel des Gesetzes ließ sich offenbar nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes nicht einer einzelnen Vorschrift des Gesetzes zuordnen. 187 Vom 5. August 1957 (BGBl. I S. 1121). 188 Vgl. BVerfGE 34, 71, 71 (Entscheidungsformel).
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wollte, mußte - so das Bundesverfassungsgericht - für die Erlaubniserteilung „eine Sachkunde in einem Maße nachweisen, die für einen Lebensmitteleinzelhandel mit umfangreichen Sortiment erforderlich sein mag, jedoch in keinem Verhältnis zu der von ihm geplanten Tätigkeit steht" 189 . Ein hinreichender sachlicher Grund für diese „nicht differenzierende Behandlung"190 sei nicht ersichtlich. Das Einzelhandelsgesetz sei daher wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig, „soweit es keine Möglichkeit vorsieht, für den Einzelhandel mit Lebensmitteln eine auf bestimmte Warenarten beschränkte Erlaubnis zu erteilen und für den Sachkundenachweis entsprechend geringere Anforderungen zu stellen"i 9 i. Der Verfassungswidrigkeit des kontrollierten Gesetzes sei mit der Unvereinbarerklärung zu begegnen, da „die Entscheidung über die Art, in der die Sonderfälle des Berufes des Lebensmitteleinzelhändlers berücksichtigt werden sollen"!92, dem Gesetzgeber obliege. In BVerfGE 81,242 war die Verfassungsmäßigkeit des § 90 a Abs. 2 S. 2 des Handelsgesetzbuches (HGB) 1 9 3 Gegenstand der bundesverfassungsgerichtlichen
189 BVerfGE 34, 71,79.- Mit derselben Begründung steUte das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 54, 301 einen Verstoß der § 5 S. 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 2, §§ 2 bis 4, § 6 Nr. 3 des Steuerberatungsgesetzes (in der Fassung des Art. 1 Nr. 2 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes vom 24. Juni 1975 (BGBl. I S. 1509)) gegen Art. 12 Abs. 1 GG fest. Durch diese Vorschriften des Steuerberatungsgesetzes wurde das Kontorieren von Belegen in die den steuerberatenden Berufen vorbehaltenen Tätigkeiten einbezogen (sog. Buchführunsprivileg für steuerberatende Berufe). Dieses war nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes (auch deshalb) „mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar, weil die Voraussetzungen der Zulassung zu den steuerberatenden Berufen an Berufsbewerber, die nur Buchführungshilfe leisten woUen, unangemessen hohe Anforderungen steUt" (BVerfGE 54, 301,327 - Hervorhebung vom Verfasser). Es verstoße gegen „den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn von einem Berufsbewerber Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden, die in keinem Verhältnis zu der geplanten Tätigkeit stehen (...)" (BVerfGE 54, 301, 331).- Aus demselben Grunde verstoße, so das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung (BVerfGE 59, 302), auch „das Verbot der geschäftsmäßigen Hilfeleistung bei der laufenden Lohnbuchhaltung" (BVerfGE 59, 302, 315), das durch das Steuerberatungsgesetz von 1975 ebenfalls konstituiert wurde, gegen Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 59, 302, 325 f.). 190 BVerfGE 34, 71, 79 (Hervorhebung vom Verfasser). 191 BVerfGE 34, 71, 71 (Entscheidungsformel). 192 BVerfGE 34, 71, 81. 193 In der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Handelsgesetzbuches (Recht der Handelsvertreter) vom 6. August 1953 (BGBl. I S. 771).
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Prüfung. Diese Vorschrift Schloß den durch § 90 a Abs. 1 S. 3 HGB begründeten Anspruch des Handelsvertreters gegen den Unternehmer auf Zahlung einer finanziellen Entschädigung (sogenannte Karenzentschädigung) aus, wenn der Unternehmer den Vertrag aus wichtigem Grund wegen schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters kündigte. Im Falle einer außerordentlichen Kündigung des Unternehmers erhielt der Handelsvertreter also keine finanzielle Entschädigung für das vertraglich vereinbarte Wettbewerbsverbot. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, der durch § 90 a Abs. 2 HGB angeordnete „generelle Ausschluß des Anspruchs auf Karenzentschädigung"i94 werde „den Anforderungen der Berufsfreiheit angesichts der Unterschiedlichkeit der in Betracht kommenden Fälle nicht gerecht" 1 9 5 . Das Gericht führte weiter aus: „Die undifferenzierte und vollständige Verweigerung einer Vergütung für jedwede Fallgestaltung und für die höchstmögliche Dauer der Karenzzeit von zwei Jahren (findet) keine sachliche Grundlage in den Besonderheiten einer vorzeitigen und verschuldeten Vertragsbeendigung. Eine solche Sanktion ist nicht erforderlich, um wettbewerbsrechtlichen Nachteilen des kündigenden Unternehmers zu begegnen; dem Handelsvertreter ist sie wegen ihrer einschneidenden Folgen vielfach unzumutbar; sie wirkt also in dieser Allgemeinheit unverhältnismäßig." 196 Da „dem Gesetzgeber (...) mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit zur Verfügung stehen"!97, könne das Bundesverfassungsgericht „nur die Verfasungswidrigkeit des § 90 a Abs. 2 S. 2 HGB feststellen"! 98. Sowohl in BVerfGE 34, 71 als auch in BVerfGE 81, 242 war damit die kontrollierte Norm deshalb für verfasungswidrig erklärt worden, weil sie nicht differenzierte. Das Gebot zur Ungleichbehandlung 1 9 9 hatte der Gesetzgeber nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes hier also mißachtet.
194 BVerfGE 81, 242, 260 (Hervorhebung im Original). 195 BVerfGE 81, 242, 262. 196 BVerfGE 81, 242, 263 (Hervorhebungen vom Verfasser). 197 Ebd.- So kann der Gesetzgeber zum Beispiel nach bundesverfassungsgerichtlicher Einschätzung „durch eine Generalklausel Differenzierungen ermöglichen" (BVerfGE 81, 242, 262 mit. weiteren Bsp.). 198 Ebd. 199 Vgl. hierzu Stern, FS Dürig, S. 207 ff.; Ρ. Kirchhof HStR V, § 124 Rn. 107-109; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 371-373. 4 Blüggel
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Dieses Gebot las das Gericht in BVerfGE 34, 71 noch aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG heraus 200 , während es in BVerfGE 81, 242 insoweit nur noch Art. 12 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab heranzog. In jener Entscheidung verband das Bundesverfassungsgericht noch die Prüfung des Verhältnismäßigkeitgrundsatzes mit der des allgemeinen Gleichheitssatzes201, was die Nähe dieser beiden Direktiven staatlichen Handelns202, dieser Maßstäbe der vertikalen und horizontalen Gerechtigkeit 203 in Erscheinung treten ließ. In BVerfGE 81, 242 dagegen wurde das Gebot zur Differenzierung und damit Ungleichbehandlung ausschließlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entnommen. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist das Gebot zur Ungleichbehandlung damit offenbar ein Ausfluß des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Wenn man von dieser sowie der weiteren Prämisse ausgeht, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den Grundrechten selbst zu verankern ist 2 0 4 , ist die These nachvollziehbar, daß der ,,Nichtdiskriminierungsgehalt" 205 eine eigenständige Grundrechtsfunktion verkörpere 206. Eine defizitäre Norm war sowohl Gegenstand in BVerfGE 75,284 als auch in BVerfGE 51,166. In diesen Entscheidungen erklärte das Bundesverfassungsge-
200
Ebenso in BVerfGE 59, 302 (vgl. zu dieser Entscheidung schon oben Text in Fn. 189). Das Bundesverfassungsgericht hatte hier (auch) über die Verfassungsmäßigkeit des § 8 Abs. 1 des Steuerberatungsgesetzes von 1975 zu entscheiden. Nach dieser Vorschrift ist das „unaufgeforderte Anbieten der eigenen Dienste oder Dienste Dritter zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen generell untersagt" (vgl. BVerfGE 59, 302, 326 - Hervorhebung vom Verfasser). Diese Norm verstoße - so das Bundesverfassungsgericht - gegen Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und sei damit verfassungswidrig, weü das in diesem Rechtssatz enthaltene generelle Werbeverbot die Berufsausübungsfreiheit der Buchführungshelfer „unverhältnismäßig einschränkt und (diese) ohne hinreichenden Grund mit anderen Gruppen gleichbehandelt, die Hilfe in Steuersachen leisten (...)" (BVerfGE 59, 302, 327 - Hervorhebung vom Verfasser). 201 Vgl. BVerfGE 34, 71, 78 f. 202 Vgl. P. Kirchhof, FS Lerche, S. 133 ff. 203 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 30. 204 So z.B. Schnapp in: von Mänch/Kunig, G G K I , Art. 20 Rn. 27. Vgl. zu den verschiedenartigen Herleitungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Krebs in: von Mänch/Kunig, GGK I, Art. 19 Rn. 24; Remmert, Übermaßverbot, S. 4 (Fn. 16-23). 205 Jarass, AöR 1995 (Bd. 120), S. 345, 366. 206 Ebd., S. 348 f.
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rieht Artikel 1 § 1 Abs. 1 S. 2 des Rechtsberatungsgesetzes207 sowie § 1 der Verordnung über die Auszeichnung der Qualitäten von Ottokraftstoffen und die Bekanntgabe der Anforderungen an Ottokraftstoffe (Benzinqualitätsangabeverordnung) 208 für unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 GG. Während jene Norm, die die Berufstätigkeit der Rechtsbeistände durch einen Katalog von Erlaubnistatbeständen regelte, mit Art. 12 Abs. 1 G G 2 0 9 unvereinbar sei, weil und „soweit im Katalog der weiterhin zulässigen Teilerlaubnisformen der Sachbereich der Versicherungsberatung fehlt" 2 i 0 , verstoße diese gegen Art. 12 Abs. 1 GG, weil die Verordnung keine Auszeichnungsform für bestimmte Otto-Kraftstoffe vorsah2! i. 207 Vom 13. Dezember 1935 (BGBl, m S. 303-12) in der Fassung des Artikels 2 Abs. 6 Nr. 1 des Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 18. August 1980 (BGBl. I S. 1503).- BVerfGE 75, 284. 208
Vom 16. Januar 1976 (BGBl. I S . 135). Diese Verordnung hat die Bundesregierung aufgrund der Ermächtigung des § 2 a Abs. 3 des Benzinbleigesetzes (vom 5. August 1971; BGBl. I S. 1234) erlassen; § 2 a wurde in das Benzinbleigesetz eingefügt durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Ergänzung des Benzinbleigesetzes vom 25. November 1975 (BGBl. I S. 2919).- BVerfGE 51, 166. 209 Und (!) Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfGE 75, 284 wird deshalb auch oben bei der Fallgruppe des gleichheitswidrigen Gesetzes angeführt). Dieses ist ein Novum. Denn das Bundesverfassungsgericht hat, soweit ersichtlich, bis zu dieser Entschei-dung noch nie in einer Normenkontrolle festgestellt, daß das geprüfte Gesetz sowohl gegen ein grundrechtliches Freiheitsrecht als auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt. Auch in späteren Entscheidungen ist dieses nicht wieder geschehen. Regelmäßig wurde und wird also Art. 3 Abs. 1 GG entweder nur in Verbindung mit einem Freiheitsrecht oder inzident, also innerhalb der Prüfung des Freiheitsrechts erörtert, nicht aber selbständig neben diesem geprüft. 210 BVerfGE 75, 284, 284 (Entscheidungsformel). Die Abschaffung der Teüerlaubnis für Versicherungsberatung sei - so das Bundesverfassungsgericht - unverhältnismäßig (BVerfGE a.a.O., S. 298), verletze damit Art. 12 Abs. 1 GG, und entbehre als Ungleichbehandlung gegenüber den weiterhin zugelassenen Berufen eines sachlichen Grundes (vgl. BVerfGE a.a.O., S. 300), verstoße damit (auch) gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 211 Vgl. BVerfGE 51, 166, 167 (Entscheidungsformel). Der Verstoß des § 1 Benzinqualitätsangabeverordnung gegen Art. 12 Abs. 1 GG beruhte nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes jedoch schon auf dem Umstand, daß die Verordnung nicht durch die Ermächtigungsgrundlage des § 2 a Abs. 3 Benzinbleigesetz (BzBIG) gedeckt war und daher nicht aufgrund eines Gesetzes (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG) in die Berufsfreiheit der Betroffenen eingriff (BVerfGE 51, 166, 173). Denn „der Verordnungsgeber mußte (...) in der gemäß § 2 a Abs. 3 BzBIG zu erlassenden Rechtsverordnung Kennzeichnungsmöglichkeiten für die mindestens gewährleistete Qualität aller Kraftstoffe vorsehen, die
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Beide Normen verfügten nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes also über ein Regelungsdefizit 212, das ihre Verfassungswidrigkeit bewirkte. Denselben Mangel wiesen die in BVerfGE 51, 193 und BVerfGE 58, 137 kontrollierten Gesetze auf, die die durch Ari. 14 GG garantierte Eigentumsfreiheit (in unzulässiger Weise) ausgestalteten. In der zuerst genannten Entscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 10 Abs. 3 S. 2 des Weingesetzes213 für unvereinbar mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Das Weingesetz war nach dem Verbotsprinzip ausgestaltet214 und sollte auf diese Weise die große Anzahl von rund 30.000 Lagebezeichnungen des Weines zum Zwecke des Verbraucherschutzes und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Weinwirtschaft vermindern. 215 Nach der vom Bundesverfassungsgericht kontrollierten Vorschrift des Weingesetzes durften Herkunftsbezeichnungen des Weingesetzes nur (noch) verwendet werden, wenn diese von der zuständigen Behörde in die Weinbergsrolle - einem Register - eingetragen worden sind. § 10 Abs. 3 Weingesetz normierte hierbei die Voraussetzungen einer solchen Eintragung. 216 Wenn die Eintragungsvoraussetzungen des § 10 Abs. 3 Weingesetz nicht erfüllt waren, durften folglich auch solche Herkunftsbezeichnungen nicht mehr verwendet werden, die durch ein Warenzeichen geschützt waren. Da das schutzfähige, rechtmäßig eingetragene und aufrechterhaltene Warenzeichen eine durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Vermögenswerte Rechtsposition darstelle, haben nach bundesverfassungsgerichtlicher Beurteilung die „an sich verfassungsmäßigen Vorschriften des Weingesetzes"217 verfassungswidrige Auswirkungen. 218 Die Ausnahmevorschrift des § 10 Abs. 3 S. 2 Weingesetz, die nach dem Benzinbleigesetz verkauft werden dürfen" (BVerfGE 51, 166, 174 - Hervorhebung vom Verfasser). 212 Dieser Begriff findet sich auch in BVerfGE 82, 60, 83. 213 Vom 14. Juli 1971 (BGBl. I S. 893). 214 Vgl. BVerfGE 51, 193, 208. 215 Vgl. BVerfGE 78, 58, 60. 216 § 10 Abs. 3 Weingesetz (in der genannten Fassung) hat folgenden Wortlaut: „Eine Lage darf in die Weinbergsrolle nur eingetragen werden, wenn sie insgesamt mindestens fünf Hektar groß ist. Abweichend davon können die zuständigen Behörden die Eintragung einer kleineren Fläche zulassen, wenn die Bildung einer größeren Lage wegen der örtlichen Nutzungsverhältnisse oder wegen der Besonderheit der auf der Fläche gewonnenen Weine nicht möglich ist." 217 BVerfGE 51, 193, 208. 218 Ebd.
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den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit konkretisiere 219, sei also zu eng bzw. lückenhaft geraten, da diese Norm die durch ein Warenzeichen geschützten Herkunftsbezeichnungen von Weinen tatbestandlich nicht erfaßte. 220„Die Lücke in der gesetzlichen Regelung kann nicht dazu fuhren, die Vorschrift des § 10 Abs. 3 S. 2 für nichtig zu erklären (...). Das Bundesverfassungsgericht muß sich vielmehr auf die Feststellung beschränken, daß der Bundesgesetzgeber in dem aus dem Urteilssatz ersichtlichen Umfang gegen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG verstoßen hat." 221 In BVerfGE 58,137 wurde dem Bundesverfassungsgericht im Wege der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) die Vorschrift des § 9 des Hessischen Gesetzes über Freiheit und Recht der Presse (LPrG) 222 zur Prüfung vorgelegt. Diese Vorschrift - in Verbindung mit § 1 Abs. 1 der vom Hessischen Kultusminister erlassenen Verordnung über die Abgabe von Druckmitteln (Pflichtexemplarverordnung) 223 - begründete für den Verleger von Druckwerken die Pflicht, ein Belegstück von jeden Druckwerk an staatliche Bibliotheken unentgeltlich abzuliefern. Die Normierung dieser Pflicht, mit der das Eigentum am Druckwerk schon bei seiner Entstehung belastet sei 224 , stelle eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG dar. 2 2 5 Hinsichtlich des „weiten Bereich(s) der Fälle, in denen eine Ablieferungspflicht (...) nur geringfügige Belastungen für die Verleger mit sich bringt" 226 , begegnen diesen keine verfas219 v g i . BVerfGE 51, 193, 221. 220 Entsprechendes gelte für Herkunftsbezeichnungen, die Ausstattungsschutz nach § 25 WZG genießen, da (auch) dieser durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt werde; BVerfGE 78, 58, 71. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung vom Instrument der Nichtigerklärung Gebrauch gemacht. Dazu unten S. 59 mit Fn. 265. 221 BVerfGE 51, 193, 221. 222 i n der Fassung der Bekanntmachung vom 20. November 1958 (GVB1. S. 183). 223 V o m 21. März 1977 (GVB1. S. 146).- Die Entscheidungserheblichkeit (vgl. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG) des § 9 LPrG, der als Verordnungsermächtigung „keine die Verleger unmittelbar bindenden Rechtssätze" (BVerfGE 58, 137, 143) enthielt, begründete das Bundesverfassungsgericht damit, daß die Pflichtexemplarverordnung „nur etwas (gebiete), was nach dem objektiven Willen des formellen Gesetzgebers zugelassen sein soll" (ebd.). Die verfassungsrechtliche Problematik liege damit „primär in der Gesetzesnorm" (ebd.). 224 BVerfGE 58, 137, 144. Diese Pflicht ist dem Eigentum also immanent. Vgl. zur sog. Immanenztheorie Böhmer, NJW 1988, S. 2561, 2569. 225 BVerfGE 58, 137, 144 f. 226 BVerfGE 58, 137, 152 (Hervorhebung vom Verfasser).
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
sungsrechtlichen Bedenken.227 Als „eine ins Gewicht fallende Belastung"228 sei die Ablieferungspflicht jedoch bei wertvollen Druckwerken mit niedriger Auflage zu werten. Hinsichtlich dieser Fälle widerspreche § 9 LPrG sowohl dem im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch dem in diesem Rahmen ebenfalls zu berücksichtigenden Gleichheitss a t z . 2 2 9 Letzterer gebiete in seiner Funktion als „allgemeines rechtsstaatliches Prinzip" 230 , daß „einer unterschiedlichen Inanspruchnahme der Eigentümer und damit dem unterschiedlichen Gewicht ihrer Belange gegenüber der Allgemeinheit hinreichend differenziert Rechnung getragen wird (...)" 2 3 i. Die „ungleichen Auswirkungen einer an sich gleichen Regelung"232 habe der Gesetzgeber zu berücksichtigen. Die Regelung des § 9 LPrG bewirkte nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes somit faktische Ungleichbehandlung durch rechtliche Gleichbehandlung. Zusammengefaßt bestehe damit „der Mangel der getroffenen Regelung (...) darin, daß die allgemeine Ablieferungspflicht bei unterschiedslosem Ausschluß einer Kostenerstattung auch diejenigen Druckwerke erfaßt, die mit großem Aufwand und zugleich nur in kleiner Auflage hergestellt werden" 233. Zur Beseitigung des Mangels habe der (Landes-)Gesetzgeber „eine Reihe von Möglichkeiten"234.
227 BVerfGE 58, 137, 148 f. und 152. 228 BVerfGE 58, 137, 149. 229 BVerfGE 58, 137, 148 und 150. 230 BVerfGE 58, 137,1148. 231 BVerfGE 58, 137, 151 (Hervorhebung vom Verfasser). 232 BVerfGE 58, 137, 150. 233 BVerfGE 58, 137, 149. Vgl. auch a.a.O., S. 141: § 9 LPrG sei eine Norm, „der es im Blick auf die von ihr erfaßten in eigentumsrechtlicher Hinsicht sehr verschiedenartigen Sachverhalte an der gebotenen differenzierten Ausgestaltung mangelt" (Hervorhebung vom Verfasser). 234 BVerfGE 58, 137, 152.- Eine Kompensation des Mangels der Norm ist wohl auf zwei Ebenen denkbar: Entweder werden die zuvor bezeichneten „Härtefälle" schon von der Pflicht zur Ablieferung eines Pflichtexemplars entbunden, oder die Möglichkeit einer finanzieüen Entschädigung wird in die Norm aufgenommen, um die übermäßige Belastung in den entsprechenden FäUen ausgleichen zu können.
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In BVerfGE 51,193 und BVerfGE 58,137 lag nach bundesverfassungsgerichtlicher Beurteilung der verfassungsrechtliche Mangel der kontrollierten Rechtssätze also in einem Regelungsdefizit der Normen begründet. Bei der Analyse dieser beiden Entscheidungen ist deutlich geworden, daß zwei Formen des Defizits unterschieden werden können: Ein quantitatives Regelungsdefizit liegt vor, wenn der Anwendungsbereich der Norm tatbestandlich zu eng definiert ist, also zu kurz greift 2 3 5 ; von einem qualitativen Regelungsdefizit kann gesprochen werden, wenn der Anwendungsbereich der Norm zu grob, zu undifferenziert definiert ist und damit der verschiedenartigen Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird 2 3 6 Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG war Prüfungsmaßstab auch in zwei weiteren bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die zum Kleingartenrecht ergangen sind. 237 Das Bundesverfassungsgericht erklärte in BVerfGE 52,1 die Verordnung über Kündigungsschutz und andere kleingartenrechtliche Vorschriften 238 sowie das Gesetz zur Änderung und Ergänzung kleingartenrechtlicher Vorschriften 239 für unvereinbar mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, soweit diese Normen als Teil des Regelungssystems des Kleingartenrechts in diesem keine Befristung der Vertragsdauer vorsahen, die Kündigungsmöglichkeiten eng begrenzten und gleichzeitig zu einem ungewöhnlich niedrigen Pachtzins führten 2 4 0 Doch auch die Neuregelung des Kleingartenrechts, mit der der Gesetzgeber der dargestellten verfassungsgerichtlichen Beanstandung des alten Rechts abhelfen wollte 241 , wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig qualifiziert: § 5 Abs. 1 S. 1 des Bundeskleingartengesetzes242 sei unvereinbar mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, weil die dort getroffene Pachtzinsbegrenzung in ihrem Ausmaß die grundgesetzliche Eigentumsfreiheit verletze. 243
235 So in BVerfGE 51, 193. 236 So in BVerfGE 58, 137. 237 BVerfGE 52, 1; 87, 114. 238 In der Fassung vom 15. Dezember 1944 (Reichsgesetzbl. I S. 347). 239 Vom 28. Juli 1969 (BGBl. I S. 1013). 240 BVerfGE 52, 1 (2, 18, 32 f., 40); zitiert nach BVerfGE 87, 114, 135. 241 Vgl. BVerfGE 87, 114, 116. 242 Vom 28. Februar 1983 (BGBl. I S. 210). 243 BVerfGE 87, 114, 146-150.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht war in beiden Entscheidungen der Auffassung, daß der Gesetzgeber bei der sozialen Ausgestaltung des Kleingartenrecht jeweils gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen habe.244 „Wie der Gesetzgeber den (...) verfassungsrechtlichen Bedenken abhilft, obliegt seiner Entscheidung"245; dem Gesetzgeber komme insoweit eine „Gestaltungsbefugnis" 246 zu. Die vor dem Hintergrund der sozialen Funktion des Kleingartens247 zu leistende Austarierung der Interessen des Eigentümers einerseits und des Kleingärtners andererseits und damit die Lösung dieses mehrdimensionalen Freiheitsproblems 248 überantwortete das Bundesverfassungsgericht damit dem Gesetzgeber. In BVerfGE 51, 356; 71,1; 72, 9; 74,203 schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts zu beurteilen. 249 Alle kontrollierten Normen wiesen nach Einschätzung des Gerichtes ein Regelungsdefizit auf. Konkret fehlten - so das Bundesverfassungsgericht - Übergangsregelungen 250 oder Härteklauseln251. Beim Fehlen von Härteklauseln beanstandete das Bundes-
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Vgl. BVerfGE 52, 1 (29, 32, 36); 87, 114 (148 u. 150).- In BVerfGE 52, 1 widersprachen die kontrollierten Vorschriften zudem „rechtsstaatlichen Anforderungen" (a.a.O., S. 30), da das Gesetz die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht „mit hinreichender Deutlichkeit" (a.a.O., S. 41) definierte. 245 BVerfGE 52, 1, 40. 24 6 BVerfGE 87, 114, 150. 247 Vgl. BVerfGE 87, 114, 147. 248 V g l z u diesem Begriff Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 38-45 (insb. 39). 249 i n BVerfGE 51, 356 erklärte das Bundesverfassungsgericht § 1233 Abs. 1 RVO (in der Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I S. 1965)), in BVerfGE 71,1 das Gesetz zur Zwanzigsten Rentenanpassung und zur Verbesserung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (vom 27. Juni 1977 (BGBl. I S. 1040)), in BVerfGE 72, 9 die Vorschrift des § 104 Abs. 1 S. 1 AFG (in der Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1497)) und in BVerfGE 74, 203 die Regelung des § 120 Abs. 1 AFG (in der gleichen Fassung wie die zuvor genannte Norm) für unvereinbar mit dem Grundgesetz. 250 BVerfGE 51, 356, 368 f.; 72, 9, 10 und 24 f. 251 BVerfGE 71, 1 (hier fehlte eine „Beendigungsmöglichkeit" (a.a.O., S. 16) hinsichtlich des PflichtversicherungsVerhältnisses); 74, 203 (hier fehlte eine
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Verfassungsgericht das Gesetz nicht nur wegen des Regelungsdefizits, sondern auch wegen mangelnder Differenziertheit. 252 Bei der Ausgestaltung der von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Rechtspositionen hatte der Gesetzgeber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes die ihm obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf die nach der alten Rechtslage erworbenen Rechte253 verletzt bzw. - von der anderen Seite her betrachtet - die Vertrauensschutzpositionen des Eigentümers nicht hinreichend berücksichtigt.254 Diese Vertrauensschutzposition verortete das Bundesverfassungsgericht zunächst im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) 2 5 5 , dann im Grundrecht des Art. 14 Abs. 1 GG 2 5 6 . Von der Entscheidungsvariante der Nichtigerklärung machte das Bundesverfassungsgericht keinen Gebrauch. Denn das Bundesverfassungsgericht habe „dem Gesetzgeber nicht vorzuschreiben, in welcher Weise er die von Verfassungs wegen gebotene Ausnahmeregelung257 trifft. Ersichtlich gibt es dafür mehrere
„Ausnahmeregelung" (a.a.O., S. 217) hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht). 252 Vgl. BVerfGE 71, 1, 17; 74, 203, 216.- In der zuletzt genannten Entscheidung heißt es (ebd.): „Demgegenüber fehlen hinreichende Gründe, die Rechte aus dem durch Beitragszahlung erworbenen Versicherungsverhältnis so weitgehend und undifferenziert wie in der beanstandeten Vorschrift einzuschränken" (Hervorhebung vom Verfasser). 253 Vgl. zu dieser Pflicht Bryde in: von Münch/Kunig y GGK I, Art. 14 Rn. 64 (m.w.N.). 254 BVerfGE 51, 356, 362 f. und passim; 7 1 , 1 , 1 (Leitsatz) und passim; 72, 9, 24 f. In BVerfGE 74, 203 erörterte das Bundesverfassungsgericht den Vertrauensschutz zwar nicht ausdrücklich, aber „inzident", indem es feststellte, daß der Kläger mit einer entsprechenden Regelung nicht rechnen mußte (vgl. a.a.O., S. 213). 255 So in BVerfGE 51, 356. 256 So in BVerfGE 71, 1; 72, 9; 74, 203.- In BVerfGE 51, 356 wurde daher das kontroUierte Gesetz mit Art. 20 Abs. 3 GG, in den hier genannten Entscheidungen dagegen mit Art. 14 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt.- Mittlerweile geht das Bundesverfassungsgericht wohl von der Spezialität des Art. 14 Abs. 1 GG aus, soweit es um die Verankerung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes (und damit auch des Rückwirkungsverbotes als Konkretisierung desselben, vgl. Pieroth JZ 1984, S. 971, 972) geht (vgl. Pieroth a.a.O., S. 974 f.; dens. JZ 1990, S. 279, 281 f.), durchbricht aber gelegentlich diese lex-specialis-Regel (Pieroth JZ 1990, S. 278, 284). Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes auch Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 68-71. 257 Bzw. Beendigungsmöglichkeit (vgl. BVerfGE 71, 1, 11) oder Übergangsregelung (vgl. BVerfGE 51, 356, 368 f.; 72, 9, 24 f.).
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Möglichkeiten."258 Den eruierten verfassungsrechtlichen Mangel der geprüften Normen hatte nach den Feststellungen des Gerichtes also der Gesetzgeber zu beseitigen. Zusammenfassend ergibt sich damit folgendes Ergebnis: Die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung setzt das Bundesverfassungsgericht auch bei einem Verstoß der kontrollierten Norm gegen Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG ein. Diese grundgesetzlichen Vorschriften gewährleisten Freiheiten, die der rechtlichen Ausgestaltung bedürfen und dementsprechend bisweilen als,rechtliche (...) Freiheiten" 259 qualifiziert werden. Jedoch erklärt das Bundesverfassungsgericht nicht alle Rechtssätze, die in rechtswidriger Weise in den normgeprägten Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 oder des Art. 14 Abs. 1 GG eingreifen, für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Von der Unvereinbarerklärung macht das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen nur unter drei Voraussetzungen Gebrauch: Zunächst müssen die Normen nachbesserungsßhig sein. 260 Desweiteren müssen die Normen einen bestimmtem verfassungsrechtlichen Mangel 261 aufweisen, also in spezifischer Weise Verfassungsrecht verletzen. 262 Ein solcher spezifischer, verfassungsrechtlich zu beanstandender Mangel liegt vor, wenn die Norm entweder undifferenziert oder defizitär ist, also über ein qualitatives oder ein quantitatives Regelungsdefizit verfügt.
258 BVerfGE 74, 203, 217. 259 Hesse, Grundzüge, Rn. 304. 260
Siehe oben S. 46. Vgl. auch BVerfGE 92, 91, 121: Hier stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß eine „bloße Unvereinbarerklärung" (ebd.) der zur Prüfung gesteüten und gegen Art. 3 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Landesgesetze „nach der Art der festgestellten Verfassung s verstoße" (ebd., Hervorhebung v. Verf.) ausscheide. 262 Insofern könnte man von einer „spezifischen Verfassungsrechtsverletzung" sprechen, wenn dieser Begriff nicht schon anderweitig besetzt wäre. Letzteres wäre nur dann nicht der FaU, wenn man den Begriff hier materiell -rechtlich versteht. Denn bei der Grenzziehung zwischen den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes und den Kompetenzen der sog. einfachen Gerichte wird dieser Begriff (zum Teil) in funktionsrechtlicher Weise eingesetzt, vgl. Krebs, Kontrolle, S. 102 (mit Fn. 346).- Vgl. zur „spezifischen Verfassungsrechtsverletzung" Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht"; Papier, BVerfG und GG I, S. 432 ff.; Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen. 261
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Schließlich setzt die Anwendung der Unvereinbarerklärung in diesen Fällen voraus, daß der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes hat, so daß ihm insoweit Gestaltungsfreiheit zukommt. 263 Ebenso wie im Falle des gleichheitswidrigen Gesetzes264 greift das Bundesverfassungsgericht auch bei dem nachbesserungsfähigen, defizitären Gesetz ausnahmsweise dann auf die Nichtigerklärung zurück, wenn nur diese, d.h. nur die Kassation des verfassungswidrigen Gesetzes, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen vermag. 265
263 V g l dagegen aber BVerfGE 91,1: Hier begründete das Bundesverfassungsgericht die Nichtig(!)erklärung des kontrollierten und gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verstoßenden Gesetzes mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (a.a.O., S. 37: „Sache des Gesetzgebers"). Nach der zuvor dargestellten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hätte hier eigentlich die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung Anwendung finden müssen. Denn nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes verstieß die geprüfte Norm (§ 67 d Abs. 4 S. 2 StGB) deshalb gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, weil diese Vorschrift einen „zu weit gefaßte(n) Anwendungsbereich" (a.a.O., S. 37) und eine „undifferenzierte Rechtsfolge" (a.a.O., S. 36) aufweise. Diese Entscheidung steht damit im Widerspruch zu der soeben wiedergegebenen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Dieser Widerspruch läßt sich wohl auch nicht (aUein) durch den Hinweis auf den Umstand auflösen, daß das in BVerfGE 91,1 kontrollierte Gesetz nicht gegen Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG, sondern gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verstößt. 264 siehe oben S. 41 ff. 265 Vgl. zu Art. 12 Abs. 1 GG BVerfGE 81, 156, 200; 85, 97, 108: „Es ist nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber diesen Verfassungsverstoß in anderer Weise als durch Freistellung des Arbeitgebers von der Erstattungspflicht beseitigen könnte. Insoweit war daher die - eine Erstattungspflicht begründende - Norm des § 128 Abs. 1 Satz 1 AFG a.F. und n.F. für nichtig zu erklären" (BVerfGE 81,156, 200). „Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 WerbeVOStBerG das Verbot enthält, in gemeindlichen Mitteilungsblättern zu inserieren, verstößt er gegen Art. 12 Abs. 1 GG und ist daher nichtig. Nur durch den ersatzlosen WegfaU dieses Verbots ergibt sich eine verfassungsmäßige Rechtslage" (BVerfGE 85, 97, 108).- Vgl. zu Art. 14 Abs. 1 GG BVerfGE 78, 58, 76: „Der Verstoß gegen Art. 14 GG führt dazu, daß die gesetzliche Regelung über das Verbot der Eintragung und Verwendung von Kleinlagenamen in dem beanstandeten Umfang für nichtig zu erklären ist. Mit der Einfügung des § 65 a in das Weingesetz hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, daß er für den Fall warenzeichenrechtlich geschützter Lagenamen das System der Registrierung in der Weinbergsrolle nicht durchbrechen, sondern insoweit dem Zeichenschutz durch eine Ausnahme von der Verbotsregelung Rechnung tragen wiU. Zu diesem Ergebnis führt aber bereits die Nichtigerklärung der beanstandeten Regelung. Danach besteht für das Bundesverfassungsgericht kein Grund, sich (...) auf die Feststel-
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c) Zusammenfassung Das Instrument der Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Normen setzte das Bundesverfassungsgericht anfangs nur bei solchen Rechtssätzen ein, die Begünstigungen gewährten und hierbei den in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz dadurch verletzten, daß bestimmte Personengruppen bzw. Sachverhalte willkürlich von der Begünstigung - sei es ausdrücklich oder konkludent - ausgeschlossen wurden. Dieser sogenannte „willkürliche Begünstigungsausschluß" markiert also den Ausgangspunkt der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung. 266 Den Verzicht auf die Nichtigerklärung bei einem „willkürlichen Begünstigungsausschluß" begründet das Bundesverfassungsgericht mit dem Argument, daß in diesen Fällen die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit nicht allein durch Kassation der verfassungswidrigen Norm möglich sei. 2 6 7 Vielmehr habe der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen. So könne der Gesetzgeber beispielsweise die willkürlich ausgeschlossenen Personengruppe in der Neuregelung berücksichtigen. Neben dieser Ergänzung sei auch eine vollständige Neuordnung der Rechtslage denkbar. Die Eliminierung ist nach bundesverfassungsgerichtlicher Einschätzung also nur ein mögliches, nicht aber das notwendige Schicksal der gleichheitswidrigen Norm. Die Entscheidung über den (weiteren) Bestand, das „Schicksal" der verfassungswidrigen Norm sei dem Gesetzgeber zugewiesen, dem insoweit Gestaltungsfreiheit zukomme.268 Eine Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Rechtssatzes durch das Bundesverfassungsgericht mit der Folge der Eliminierung desselben greife damit grundsätzlich in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein. 269 Ausnahmsweise könne das Bundesverfassungsgericht aber die einen „willkürlichen Begünstigungsausschluß" enthaltenen, gleichheitswidrigen Normen auch für nichtig erklären. Das ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes - als Umkehrung des soeben dargestellten Grundsatzes - dann möglich, wenn der verfassungswidrige Zustand im Ergebnis nur durch die Eliminierung der verfassungswidrigen Norm lung zu beschränken, daß die beanstandete Regelung mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar ist." 266 Siehe oben S. 32. 267 Siehe oben S. 35 ff. 2 68 Siehe oben S. 36 f. 2 69 Siehe oben S. 36 f.
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beseitigt werden kann. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers werde durch die Nichtigerklärung dann nicht beeinträchtigt, weil in diesen Fällen entweder dem Gesetzgeber Gestaltungsfreiheit gar nicht eröffnet sei oder aber diese in dessen Sinne ausgeübt werde. 270 Ersteres sei der Fall, wenn die Nichtigerklärung verfassungsrechtlich - insbesondere aufgrund eines zwingenden Verfassungsauftrages - geboten sei; letzteres, wenn anzunehmen sei, daß der Gesetzgeber die nach der Nichtigerklärung verbleibende Regelung wählen würde. 271 Dieses Grundsatz-Ausnahme Modell übertrug das Bundesverfassungsgericht alsbald auch auf belastende und ferner auf solche Normen, die einen speziellen Gleichheitssatz mißachten.272 Der Ausgangspunkt des „willkürlichen Begünstigungsausschlusses" wurde damit zugunsten sämtlicher gleichheitswidriger Normen aufgegeben. Auch den Bereich des gleichheitswidrigen Gesetzes verließ das Bundesverfassungsgericht schließlich, indem es Normen für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte, die Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG, also grundgesetzliche Freiheitsrechte verletzten.273 Die Unvereinbarerklärung findet bei einem Verstoß einer Norm gegen Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes aber nur unter drei Voraussetzungen Anwendung: Zunächst müssen die Normen nachbesserungsßhig sein. 274 Die Normen müssen ferner in spezifischer Weise Verfassungsrecht verletzen. Dieses ist der Fall, wenn die Normen undifferenziert oder defizitär 215 sind. 276 Schließlich setzt die Anwendung der Unvereinbarerklärung in diesen Fällen voraus, daß der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes hat, ihm also insoweit Gestaltungsfreiheit zukommt. 277 Wenn dagegen nur die Nichtigerklärung die Verfassungswidrigkeit
270
Siehe oben S. 44 f. 271 Siehe oben S. 41 ff. 272 siehe oben S. 39. 273 siehe oben S. 45. 274 siehe oben S. 46. 275 Ygi z u r hier getroffenen Differenzierung zwischen einem qualitativen und einem quantitativen Regelungsdefizit oben S. 55. 276 siehe oben S. 46. 277 siehe oben S. 59.
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beseitigen kann, greift das Bundesverfassungsgericht (wieder) auf das Instrument der Nichtigerklärung zurück. 278 Das Bundesverfassungsgericht wendet also das für gleichheitswidrige Gesetze entwickelte Grundsatz-Ausnahme-Modell auch auf Normen an, die (bestimmte) Freiheitsrechte verletzen. Die in beiden Fallgruppen zum Einsatz kommenden Argumentationsformeln sind demzufolge synonym. Insoweit besteht also eine Parallele zwischen dem gleichheitswidrigen Gesetz und dem nachbesserungsfähigen, defizitären Gesetz.279 2. Die Beseitigung der Verfassungswidrigkeit durch Kassation der Norm stellt nicht zugleich den verfassungsmäßigen Zustand her Der zweite Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Normen durch das Bundesverfassungsgericht kennzeichnet sich dadurch, daß hier die scheinbar notwendige Konnexität zwischen der Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes und der Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes aufgehoben bzw. durchbrochen ist. Im Normalfall 280 beseitigt die Nichtigerklärung (durch die Eliminierung des verfassungswidrigen Gesetzes) den verfassungs widrigen Zustand und stellt damit zugleich den verfassungsmäßigen Zustand her. Letzteres vermag die Nichtigerklärung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes in den nachfolgend darzustellenden Fällen nicht zu leisten.
278 Siehe oben S. 59. 219
Es ist m.E. wahrscheinlich, daß das Bundesverfassungsgericht die Fallgruppe des nachbesserungsfähigen, defizitären Gesetzes in Zukunft erweitern wird zugunsten von Normen, die andere Freiheitsrechte als Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG verletzen. Denn das Regelungsdefizit einer Norm kann beispielsweise auch zur Verletzung von Art. 8 Abs. 1 GG führen. So vertreten die Richter Seibert und Henschel in ihrem Sondervotum zu BVerfGE 85, 69 (ebd., S. 77-79) offenbar die Ansicht, daß die kontrollierte Vorschrift des § 14 VersG, der für alle Versammlungen (und damit auch für sog. Eilversammlungen) eine 48-stündige Anmeldefrist vorsieht, entgegen der Mehrheitsentscheidung, die eine verfassungskonforme Auslegung (im Sinne einer Reduktion) für möglich hält, für unvereinbar mit Art. 8 Abs. 1 GG zu erklären sei, weil und „soweit sie für Eilversammlungen keine Ausnahme vorsieht oder abweichende Regelungen enthält" (ebd., S. 78). Es sei „Aufgabe des Gesetzgebers" (ebd., S. 79), die „Regelungslücke" (ebd.) zu schließen. 280 Vgl. z u m hier verwendeten Verständnis des Begriffs oben S. 30 f.
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Der Anwendung der Unvereinbarerklärung liegt damit die Überlegung zugrunde, daß die Nichtigerklärung in diesen Konstellationen nicht das geeignete Mittel darstellt, um die sogenannte „Normativität" der Verfassung 281 zu sichern und zu gewährleisten 2 8 2 Das Versagen der Nichtigerklärung resultiert daraus, daß in diesen Fällen nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes ein (Mindest-)Bestand an gesetzlichen Normen von der Verfassung gefordert wird. Verfassungsrechtlich sei also Normschöpfung (bzw. -nachbesserung), nicht bloße Normvernichtung geboten. Durch die Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes würde - so das Bundesverfassungsgericht - „ein Zustand geschaffen (...), der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als der jetzige" 283 . Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann ein (Mindest-)Bestand an gesetzlichen Normen aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich sein für den Rechtsgüterschutz (dazu sogleich bei a)), den Freiheitsgebrauch (dazu sogleich bei b)) oder zur Rechtsgüterwahrung (dazu sogleich bei c)). a) Rechtsgüterschutz Einen (Mindest-)Bestand an gesetzlichen Normen fordert das Grundgesetz nach bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur zunächst dann, wenn der Schutz verfassungsrechtlich garantierter Rechtsgüter zu seiner Wirksamkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung bedarf. Die Verfassung verlangt in diesen Fällen nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes nicht die Eliminierung, sondern die „Erzeugung bestimmter Normenkomplexe" 284. Einen derartigen „Verfassungsbefehl" 285 kann, wie anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nun verdeutlicht werden soll, sowohl ein Gesetzgebungsauftrag als auch ein Grundrecht (insbesondere in seiner objektiv-rechtlichen Dimension als Konstituierung einer Schutzpflicht) formulieren.
281 Vgl. hierzu etwa Badura, HStR VE, § 159 Rn. 1. 282 Ebenso im Ergebnis Seer y NJW 1996, S. 285, 287 und 291, sowie Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, S. 82-85 (bes. S. 83). 283 BVerfGE 33, 303, 347. 284 So die Formulierung (im Zusammenhang mit grundgesetzlichen Gesetzgebungsaufträgen) bei Lerche, AöR 1965 (Bd. 90), S. 341, 355. 285 Vgl. zu diesem Begriff Lerche, a.a.O., S. 354-363; Badura,, HStR VII, § 159 Rn. 9.
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Einen Gesetzgebungsauftrag spricht Art. 6 GG aus 286 , der in BVerfGE 52, 357; 55, 134; 57, 361; 84, 168; 92, 158 als Kontrollnorm diente. In diesen Entscheidungen erklärte das Bundesverfassungsgericht die überprüften Gesetze, die gegen Art. 6 Abs. I 2 8 7 , Art. 6 Abs. 2 S. 1 G G 2 8 8 , Art. 6 Abs. 2 und Abs. 5 2 8 9 bzw. Art. 6 Abs. 4 G G 2 9 0 verstießen, für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Denn der Gesetzgeber habe das Eherecht (Art. 6 Abs. 1 GG) durch den Erlaß des § 1568 Abs. 2 bzw. der §§ 1361 Abs. 1 S. 1, 1569, 1573 Abs. 2 B G B 2 9 i in verfassungswidriger Weise ausgestaltet.292 Verfassungswidrig seien ebenfalls § 1738 Abs. 1 BGB 2 9 3 sowie § 1747 Abs. 2 S. 1 und 2 BGB 2 9 4 als einfachgesetzliche Umsetzung des grundgesetzlichen Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). 2 9 5 Die Vorschrift des § 9 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes zum Schutze der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz)296 schließlich werde dem verfassungs-
286
Vgl. zu Art. 6 Abs. 1 GG BVerfGE 24, 119, 135 („ein umfassendes, an die Adresse des Staates gerichtetes Schutzgebot") und BVerfGE 88, 203, 258 („Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 und 4 GG"); zu Art. 6 Abs. 2 GG BVerfGE 24, 119, 144 („Auftrag des Staates"); zu Art. 6 Abs. 4 GG BVerfGE 52, 357, 365 („bindende(r) Auftrag an den Gesetzgeber") und BVerfGE 84, 133, 156 („Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 4 GG"); zu A r t 6 Abs. 5 GG BVerfGE 8, 210, 210 (LS. 2) („bindende(r) Auftrag", „Verfassungsauftrag"). 287
So in BVerfGE 55, 134; 57, 361.- In der zuletzt genannten Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht zwar ausdrücklich nur einen Verstoß des kontrollierten Gesetzes gegen Art. 2 Abs. 1 GG fest. Doch beruhe dieser darauf, daß die Norm mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht i m Einklang stehe und folglich nicht zur „verfassungsmäßigen Ordnung" i.S.d. Art. 2 Abs. 1 GG gehöre, vgl. BVerfGE 57, 361, 378. 288 So in BVerfGE 92, 158. 28 9 So in BVerfGE 84, 168. 2 90 So in BVerfGE 52, 357. 291
Alle genannten Vorschriften in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 (BGBl. I S. 1421). 292 BVerfGE 55, 134; 57, 361, 293 i n der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (BGBl. I S. 1061). 294 i n der Fassung des Gesetzes über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften (Adoptionsgesetz) vom 2. Juli 1976 (BGBl. I S. 1749). 295 BVerfGE 84,168 (zu § 1738 Abs. 1 BGB) und BVerfGE 92, 158 (zu § 1747 Abs. 2 S. 1 und 2 BGB). 296 i n der Fassung der Bekanntmachung vom 18. April 1968 (BGBl. I S. 315).
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rechtlich gewährleisteten Anspruch der Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG) nicht gerecht. Allen genannten Vorschriften des Bürgerlichen Rechts bzw. Arbeitsrechts ist gemein, daß in ihnen entweder eine Rechtsfolge ausnahmslos angeordnet oder aber der Tatbestand in einer Weise definiert wird, die keine Erweiterungen oder Modifizierungen zuläßt. Ersteres hat zur Folge, daß die - zwingend vorgeschriebene - Anwendung der Norm einen Verfassungsverstoß bewirkt 297 ; letzteres, daß gerade das Gegenteil, nämlich die Unanwendbarkeit der Norm, verfassungswidrige Ergebnisse zeitigt 2 9 8 Die „Starrheit" 299 der gesetzlichen Regelung, die sich durch eine „stringente Formulierung" 300 kennzeichnet und „keine Ausnahme vorsieht" 301 bzw. keine Er-
297 Vgl. BVerfGE 55, 134, 134 (Ls.): „§ 1568 Abs. 2 BGB ist mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit danach eine Ehescheidung nach fünfjährigem Getrenntleben der Ehegatten ausnahmslos auszusprechen ist, ohne daß außergewöhnlichen Härten mindestens durch eine Aussetzung des Verfahrens begegnet werden kann (...)." BVerfGE 84, 168, 179: „ M i t der ausnahmslosen Regelung in § 1738 Abs. 1 BGB verweigert der Gesetzgeber jeweils einem Elternteil die volle rechtliche Elternstellung selbst in den Fällen, in denen der Vater mit dem Antrag auf Ehelicherklärung seine Bereitschaft zur Übernahme der vollen Elternverantwortung beweist und die Mutter zur weiteren Ausübung der elterlichen Sorge bereit und in der Lage ist."- Hervorhebungen jeweils vom Verfasser. 298 Vgl. BVerfGE 52, 357, 357 (Ls.): „ M i t Art. 6 Abs. 4 GG ist es unvereinbar, den besonderen Kündigungsschutz des § 9 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes Arbeitnehmerinnen zu entziehen (d.h. auf diese nicht anwenden zu können, d. Verf.), die im Zeitpunkt der Kündigung schwanger sind, ihren Arbeitgeber hierüber unverschuldet nicht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 des Mutterschutzgesetzes unterrichten, dies aber unverzüglich nachholen."- BVerfGE 57, 361, 361 (LS. 2): „§ 1579 Abs. 2 BGB ist mit Art. 2 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit danach die Anwendung der Härteklausel des § 1579 Abs. 1 BGB auch in besonderen Fällen ausgeschlossen ist."- In BVerfGE 92, 158 bestand die Verfassungswidrigkeit des kontrollierten § 1747 Abs. 2 S. 1 und 2 BGB nach Auffassung des Gerichts „darin (...), daß dem Vater bei der Adoption des nichtehelichen Kindes nur unzureichende Rechte eingeräumt worden sind" (a.a.O., S. 186 - Hervorhebung v. Verf.). 299 BVerfGE 55, 134, 143. Vgl. auch BVerfGE 52, 357, 368 (,,starre(...) Fristenregelung des § 9 Abs. 1 MuSchG") und BVerfGE 57, 361, 381 (Die „starre gesetzliche Regelung" läßt „dem Richter keine Möglichkeit (...), den individuellen Verhältnissen des EinzelfaUs hinreichend gerecht zu werden."). 5 Blüggel
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
gänzungen zuläßt 302 , stellte in diesen Fällen also den Grund für die vom Bundesverfassungsgericht angenommene Verfassungswidrigkeit der Vorschrift dar. Der Gesetzgeber könne - so das Bundesverfassungsgericht - die „Verfassungswidrigkeit auf verschiedene Weise beheben"303. Das „Mindestmaß an Elastizität" 3 0 4 könne er beispielsweise „durch eine ergänzende Regelung oder durch eine Umgestaltung"305 der Norm herstellen. Welche der vorhandenen „mehrere(n) Möglichkeiten für die Beseitigung des Verfassungsverstosses" 306 realisiert werde, liege in der „Gestaltungsfreiheit" 307 des Gesetzgebers. Den Topos, der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit, verwendet das Bundesverfassungsgericht bereits in einem anderen, in der vorliegenden Untersuchung schon ausführlich dargestellten Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung. 308 Jener und der hier erörterte Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung weisen insoweit also eine Gemeinsamkeit auf. Doch sind sie nicht identisch. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß hier der Gesetzgeber - infolge des ihn verpflichtenden Verfassungsbefehls - das Gesetz (bzw. die Rechtslage) nachbessern muß.
300
BVerfGE 57, 361, 388. BVerfGE 84, 168, 183. Vgl. auch BVerfGE 52, 357, 368 („...ohne irgendwelche Ausnahmen vorzusehen."). 302 Vgl. BVerfGE 92, 158, 182 f.: Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift war nach Auffassung des Gerichtes nicht möglich. Denn „Wortlaut und Zusammenhang der Regelung ergeben eindeutig, daß der Gesetzgeber dem Vater bei der Adoption des nichtehelichen Kindes durch die Mutter keinerlei Rechte einräumen und ihn bei einer Adoption durch Dritte nur die in § 1747 Abs. 2 S. 2 erster Halbsatz BGB genannten Möglichkeiten gewähren wollte" (ebd.). 301
303 BVerfGE 304 BVerfGE 305 BVerfGE 306 BVerfGE
84, 168, 187. 55, 134, 143. 57, 361, 388 f. 84, 168, 186. Ebenso BVerfGE 92, 158, 186: Dem Gesetzgeber stehen
„verschiedene Möglichkeiten offen, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen". 307 BVerfGE 57, 361, 389. 308 V g l z u den Fallgruppen des gleichheitswidrigen und des nachbesserungsfähigen, defizitären Gesetzes oben S. 31 ff.
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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So stellte das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 55,134 und 57,361 fest: „Der Gesetzgeber hat daher eine Regelung zu treffen, die dem Verhältnismäßigkeitsgebot Rechnung trägt" 309 ,bzw. „die es ausschließt, daß nach Ablauf einer fünfjährigen Trennungsfrist ausnahmslos geschieden werden muß" 3 1 0 . In BVerfGE 84, 168 betonte das Bundesverfassungsgericht zwar zunächst die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.311 Doch ergibt sich aus den nachfolgenden Sätzen, daß sich diese Gestaltungsfreiheit (nur) darauf beziehen sollte, in welcher Form der Gesetzgeber das gemeinsame Sorgerecht für Eltern nichtehelicher Kinder einfuhrt. Daß der Gesetzgeber ein solches Sorgerecht gesetzlich vorsehen mußte, war dagegen nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes bereits von der Verfassung (Art. 6 Abs. 2 und Abs. 5 GG) entschieden und stand damit nicht zur Disposition des Gesetzgebers.312 Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit erhält damit einen anderen (engeren) Inhalt. Während im oben (unter II 1.) dargestellten Anwendungsbereich der
309 BVerfGE 57, 361, 388 (Hervorhebung vom Verfasser). 310 BVerfGE 55, 134, 143. 311 BVerfGE 84, 168, 187. 312 In BVerfGE 84, 168, 186 f. heißt es: „Steht eine Norm nicht mit dem Grundgesetz in Einklang, so ist sie grundsätzlich für nichtig zu erklären (§ 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 S. 1 BVerfGG). Das gilt jedoch nicht, wenn mehrere Möglichkeiten für die Beseitigung des Verfassungsverstoßes bestehen und die Nichtigerklärung in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen würde (vgl. BVerfGE 39, 316 (332 f.); 77, 308 (337)). Danach scheidet eine Nichtigerklärung hier aus. Der Gesetzgeber kann die Verfassungswidrigkeit auf verschiedene Weise beheben. So kann er im Rahmen des Instituts der Ehelicherklärung die Möglichkeit der gemeinsamen Sorge von Mutter und Vater unter den hier erörterten Voraussetzungen vorsehen (...). Der Gesetzgeber kann aber auch ein gemeinsames Sorgerecht für Eltern nichtehelicher Kinder außerhalb der Ehelicherklärung einführen und mit ähnlichen erbrechtlichen Folgen verbinden oder die Rechtsstellung nichtehelicher Kinder insgesamt noch weiter an die ehelicher Kinder angleichen. "Das Bundesverfassungsgericht führte hier für die Beseitigung des Verfassungsverstoßes nur zwei Möglichkeiten an (Einführung des gemeinsamen Sorgerechts „ i m Rahmen" oder „außerhalb" der Ehelicherklärung). Daraus ergibt sich, daß der Gesetzgeber nach bundesverfassungsgerichtlicher Beurteilung ein solches Sorgerecht jedenfalls einführen mußte, er also nur hinsichtlich der Art und Weise der Einführung frei war.- Die gleiche Situation findet sich in BVerfGE 92, 158: Der Gesetzgeber muß - so das Gericht - dem Vater bei der Adoption des nichtehelichen Kindes ein ausreichendes Maß an Beteiligungsrechten einräumen (a.a.O., S. 186). Welche Rechte dieses sein sollen (etwa EinwiUigung oder Widerspruchsrecht, vgl. a.a.O.), habe der Gesetzgeber zu entscheiden.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Unvereinbarerklärung der Gesetzgeber die aus verfassungsrechtlicher Sicht imperfekte Norm 3 1 3 nachbessern konnte, obliegt dem Gesetzgeber im vorliegenden Zusammenhang eine Nachbesserungspflicht. In jenem Anwendungsbereich schuldet der Gesetzgeber also (bloß) eine verfassungsmäßige Rechtslage, in diesem dagegen ein verfassungsmäßiges Gesetz. Eine verfassungsmäßige Rechtslage läßt sich bereits durch bloße Aufhebung des verfassungswidrigen Gesetzes herstellen. So könnte der Gesetzgeber beispielsweise in Reaktion auf BVerfGE 58, 137 3 1 4 nicht nur die Norm nachbessern, sondern diese auch vollständig beseitigen, also aufheben. Die Möglichkeit der bloßen Normaufhebung ist dem Gesetzgeber dagegen hier nicht eröffnet. 315 Eine Nachbesserungspflicht kann sich für den Gesetzgeber nach bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur nicht nur aus einem Gesetzgebungsauftrag, sondern auch aus Grundrechten, insbesondere den grundrechtlichen Schutzpflichten ergeben. Gesetzgebungsauftrag und grundrechtliche Schutzpflicht weisen damit insoweit dieselbe Funktion auf und in dieselbe Richtung.316 313
Vgl. zu diesem Begriff Pestalozza, BVerfG und GG I, S. 519,520 („verfassungsimperfekte(...) Rechtslagen"). 314 Vgl. zu dieser Entscheidung bereits ausführlich oben S. 53 ff. 315 M i t Normaufhebung ist hier die vollständige Aufhebung des den Schutz des verfassungsrechtlichen Rechtsgutes umsetzenden Gesetzes (bzw. des gesetzlichen Regelungssystems) gemeint. Der Gesetzgeber darf das verfassungsrechüich gewährleistete Rechtsgut also nicht auf der Ebene des sog. einfachen Rechts schutzlos steUen, wenn ein entsprechender Schutz verfassungsrechtlich geboten ist. Nicht verwehrt ist dem einfachen Gesetzgeber dagegen, unter Umständen nur einen Teil seines Schutzkonzeptes aufzuheben. Dieses gilt insbesondere dann, wenn dieser Teil eine Beschränkung beinhaltet, so daß dessen Aufhebung das einfach-gesetzliche Schutzkonzept erweitert. So ist der Gesetzgeber beispielsweise der verfassungsgerichtlichen Beanstandung des § 1568 Abs. 2 BGB (BVerfGE 55, 134 - siehe zu dieser Entscheidung oben S. 64 ff.) mit der Aufhebung dieser Norm begegnet (durch Gesetz mit Wirkung zum 1. April 1986 (BGBl. I S. 301)). 316
Vgl. zu einem derartigen „Zusammenspiel" von Gesetzgebungsauftrag und grundrechtlicher Schutzpflicht auch BVerfGE 88, 203, 258: „Der Staat genügt seiner Schutzpflicht (aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG - der Verf.) gegenüber dem ungeborenen Leben nicht allein dadurch, daß er Angriffen wehrt, die diesem von anderen Menschen drohen. Er muß auch denjenigen Gefahren entgegentreten, die für dieses Leben in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen der Frau und der Familie begründet liegen und der Bereitschaft zum Austragen des Kindes entgegenwirken. Darin berührt sich die Schutzpflicht mit dem Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 1 und 4 GG (...)" (Hervorhebung vom Verfasser).- Vgl. ferner Isensee, HStR V, § 111 Rn. 90:
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Eine Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers kann - so das Bundesverfassungsgericht in fünf Entscheidungen überwiegend jüngeren Datums - etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Minderjährigen 3!7 oder des volljährigen Kindes 318 , der „grundrechtlich verankerte Schutz von Kindern und Jugendlichen vor einer Gefährdung der Persönlichkeitsentwickl u n g " 3 1 9 oder die Schutzpflicht des Staates hinsichtlich des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) 3 2 0 begründen. In BVerfGE 72,155 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, die Regelung des § 1629 Abs. 1 B G B 3 2 1 sei „insoweit mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als danach Eltern im Zusammenhang mit der Fortfuhrung eines zu einem Nachlaß gehörenden Handelsgeschäfts ohne vormundschaftliche Genehmigung Verbindlichkeiten zu Lasten ihrer minderjährigen Kinder eingehen können, die über der Haftung mit dem ererbten Vermögen hinausgehen"322. Die Anordnung des gesetzlichen Vertreterrechts der Eltern in § 1629 Abs. 1 BGB berge die Gefahr in sich, „daß Eltern nicht fähig oder nicht bereit sind, den Anforderungen des Elternrechts zu entsprechen" 323 . Der Gesetzgeber sei daher „aufgerufen, in Wahrnehmung seines Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) Regelungen zu treffen, die verhindern, daß der volljährig Gewordene nicht mehr als nur eine scheinbare Freiheit erreicht" 324 . Die gesetzlichen Regelungen reichten nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes „nicht aus, das Problem des Minderjährigenschutzes in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz zu lösen. Der Gesetzgeber hat danach in Erfüllung seines Wächteramtes das verbleibende Defizit abzugleichen. Dabei genügt eine Regelung den Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, welche die Fortführung eines Handelsgeschäftes durch Minderjährige von „Die Schutzpflicht enthält für die Legislative den Gesetzgebungsauftrag, die dem Schutzbedarf genügenden Regelungen zu erlassen, stets für einen Mindeststandard ausreichender Schutznormen zu sorgen, bei Änderung der Verhältnisse die vorhandenen Regelungen »nachzubessern* und neuartigen Gefährdungen anzupassen." 317 BVerfGE 72, 155. 318 BVerfGE 79, 256; 90, 256. 319 BVerfGE 83, 130, 154.- Die grundrechtlichen Normen, aus denen ein solcher Schutz herzuleiten ist, benannte das Bundesverfassungsgericht nicht. 320 BVerfGE 85, 191, 212 f. 321 In der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (BGBl. I S. 1061). 322 BVerfGE 72, 155, 156 (Entscheidungsformel). 323 Ebd., S. 173. Ebd.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
einer vormundschaftlichen Genehmigung abhängig macht oder welche Minderjährige als Miterben eines Handelsgeschäfts jedenfalls nicht über den Umfang des ererbten Vermögens hinaus zu Schuldnern werden läßt." 3 2 5 Die Pflicht des Gesetzgebers, eine verfassungsmäßige gesetzliche Regelung zu erlassen, ergab sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes hier offenbar aus der Kombination des staatlichen Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Minderjährigen. Jedenfalls erörterte das Gericht sowohl das staatliche Wächteramt als auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses könnte so verstanden werden, daß jenes den Grund, dieses das Maß der dem Gesetzgeber obliegenden Schutzpflicht bezeichnen soll. 326 Abwehrrechtlich, und damit von der sogenannten klassischen Grundrechtsfunktion ausgehend, argumentierte das Bundesverfassungsgericht dagegen in BVerfGE 79, 256 und 90, 263. Die hier kontrollierten §§ 1593,1598 i.V.m. 1596 Abs. 1 B G B 3 2 7 seien mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des volljährigen Kindes unvereinbar, „soweit sie dem volljährigen Kind, von den gesetzlichen Anfechtungstatbeständen abgesehen, nicht nur die Änderung seines familienrechtlichen Status, sondern auch die gerichtliche Klärung seiner Abstammung ausnahmslos verwehren" 328, bzw. „soweit danach die Anfechtungsfrist auch dann zwei Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit abläuft, wenn das Kind von den die Anfechtung ermöglichenden Umständen keine Kennt325 Ebd., S. 174. 326 Ausdrücklich in diesem Sinne das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 88, 203 hinsichtlich der Schutzpflicht für das ungeborene Leben: „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt" (ebd.).- An anderer SteUe hat das Bundesverfassungsgericht betont, daß das Wächteramt „sich in erster Linie daraus ergebe, daß das Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf den Schutz des Staates hat" (BVerfGE 24, 119, 144; vgl. auch Isensee, HStR V, § 122 Rn. 115). Hinsichtlich der Verortung des Grundes der staatlichen Schutzpflicht könnte daher Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG als lex specialis gegenüber Art. 1 Abs. 1 (S. 2) GG begriffen werden. 327 i n der Fassung des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften vom 11. August 1961 (BGBl. I S. 1221). In BVerfGE 90, 263 erklärte das Bundesverfassungsgericht „§ 1598 zweiter Halbsatz in Verbindung mit § 1596 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 BGB und § 1593 des Bürgerlichen Gesetzbuchs" (a.a.O., S. 264 (Entscheidungsformel, sub I.) - Hervorhebung v. Verf.) für unvereinbar mit dem Grundgesetz. 328 BVerfGE 79, 256, 256 (Entscheidungsformel) - Hervorhebung vom Verfasser.
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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nis hat, und dem Kind nach Ablauf dieser Frist auch eine gerichtliche Klärung seiner Abstammung ausnahmslos verwehrt ist" 3 2 9 . Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, daß die geprüften Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches in unzumutbarer und damit unverhältnismäßiger Weise in das Persönlichkeitsrecht des Kindes eingriffen. 330 Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen verpflichtet, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die dem Kind die Kenntnis der eigenen Abstammung ermöglicht. Auf welche Weise dieses geschehe, habe der Gesetzgeber zu entscheiden.33! „Ihm stehen dafür verschiedene Möglichkeiten offen." 332 Zudem sei - so ein neuer und bislang nicht wieder aufgegriffener Argumentationstopos des Bundesverfassungsgerichtes - „der verfassungswidrige Teil der Norm nicht klar abgrenzbar" 333, so daß dieser Teil „sich nicht isoliert für nichtig erklären (lasse)"334. Das Bundesverfassungsgericht qualifizierte in den beiden genannten Judikaten die Vorenthaltung der Kenntnis der eigenen Abstammung als unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (= Verstoß gegen das Übermaßverbot). Denkbar wäre aber auch eine Argumentation in umgekehrter Richtung, indem man aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eine Schutzpflicht herausliest335, die dem Gesetzgeber die Verschaffung besagter Kenntnis gebietet (= (effektive) Erfüllung des t/ntermaßgebotes). Übermaßverbot und Untermaßgebot 3 3 6 führten dann zu demselben Ergebnis. 337
329 BVerfGE 90, 263, 264 (Entscheidungsformel, sub I.) - Hervorhebung vom Verfasser. 330 BVerfGE 79, 256, 270; 90, 263, 270. 331 BVerfGE 79, 256, 274; 90, 263, 270. 332 BVerfGE 90, 263, 270 und 276. 333 BVerfGE 90, 263, 276. 334 Ebd. 335 Hinsichtlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat das Bundesverfassungsgericht bisher wohl ausdrücklich noch keine Schutzpflicht des Staates bejaht (vgl. Isensee y HStR V, § 111 Rn. 77-79); vgl. neuerdings in diese Richtung weisend aber BVerfGE 85, 386, 400 f. 336 Vgl. z u m Begriff des Untermaßgebotes bzw. -Verbotes Canaris , AcP 1984 (Bd. 184), S. 201, 228; BVerfGE 88, 203, 254; Isensee, HStR V, § 111 Rn. 90 und 165. Vgl. zuvor auch schon Schuppert, VVDStRL 1981 (Bd. 39), S. 193 (Diskussionsbeitrag). 337 Vgl. Z u m Verhältnis des Obermaßverbotes zum Untermaßgebot auch Hain, DVB1. 1993, S. 982 ff.; Isensee, HStR V, § 11 Rn. 165.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Auf grundrechtliche Schutzpflichten griff das Bundesverfassungsgericht (wieder) in BVerfGE 83,130 und 85,192 zurück, um die Anwendung der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung zu begründen. Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften 338 verstoße - so das Bundesverfassungsgericht - gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip339 und sei damit verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber „wesentliche Fragen der Zusammensetzung der Bundesprüfstelle nicht selbst geregelt (habe)"340. Da das Bundesverfassungsgericht aber „durch seine Rechtsprechung keinen Zustand herbei(...)führen (darf), der mit der Verfassung noch weniger zu vereinbaren wäre als der gegenwärtige"341, müsse das Gericht von einer Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes absehen. Denn „dies hätte zur Folge, daß die Bundesprüfstelle zum Schutz von Kindern und Jugendlichen überhaupt nicht mehr tätig werden könnte. Der grundrechtlich verankerte Schutz von Kindern und Jugendlichen vor einer Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung erfordert eine vorübergehende Fortgeltung des gegenwärtigen Rechtszustandes trotz seiner Mängel". 342 Die zitierten Sätze des Bundesverfassungsgerichtes weisen einen argumentativen Sprung auf. Die „vorübergehende Fortgeltung" 343 des verfassungswidrigen Gesetzes ist eine (auch nur ausnahmsweise eintretende 344) Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung. Das Eintreten einer Rechtsfolge setzt rechtslogisch voraus, daß der entsprechende Tatbestand verwirklicht ist. Zuvor hätte das Gericht also die Anwendbarkeit der Unvereinbarerklärung begründen müssen. Ausdrücklich geschah dieses nicht. Es bleibt daher zu vermuten, daß der „grundrechtlich verankerte Schutz von Kindern und Jugendlichen vor einer Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung" 345 nicht nur die Rechtsfolge, sondern auch die Anwendbarkeit der Unvereinbarerklärung rechtfertigen sollte.
338 In der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Juli 1985 (BGBl. I S. 1502). 339 Vgl. BVerfGE 85, 130, 130 (Entscheidungsformel). 340 BVerfGE 83, 130, 151. 341 Ebd., S. 154. 342 Ebd. 343 Ebd. 344 Grundsätzlich hat die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung für die Normanwender eine Anwendungssperre zur Folge; ausführlich hierzu unten S. 92 ff. 345 BVerfGE 83, 130, 154.
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Mit einer solchen Intention jedenfalls rekurrierte das Bundesverfassungsgericht in einem späteren Urteil auf eine grundrechtliche Schutzpflicht. In BVerfGE 85,191 erklärte das Bundesverfassungsgericht § 19 Abs. 1 1. Alt. der Arbeitszeitordnung 346, der die Beschäftigung von Arbeiterinnen zur Nachtzeit untersagte, wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 und Abs. 1 GG für verfassungswidrig. Denn infolge dieser Regelung wurden die Arbeiterinnen - so das Gericht sowohl gegenüber den männlichen Arbeitnehmern 347 als auch gegenüber den weiblichen Angestellten348 ungleich behandelt, ohne daß diese Ungleichbehandlung durch einen hinreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt werden konnte. Die Verfassungswidrigkeit des § 19 Abs. 1 1. Alt der Arbeitszeitordnung lasse „sich auf verschiedene Weise b e s e i t i g e n " 3 4 9 . Eine bloße Aufhebung der verfassungswidrigen Regelung komme aber nicht in Betracht. 350 Vielmehr stellte das Bundesverfassungsgericht fest:„Der Gesetzgeber ist verpflichtet, den Schutz der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit neu zu regeln. Eine solche Regelung ist notwendig, um dem objektiven Gehalt der Grundrechte, insbesondere des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), Genüge zu tun. Eine Schutzpflicht des Staates besteht gerade im Hinblick auf dieses Grundrecht (...)." 351 Demzufolge „bedarf Nachtarbeit im Rahmen von Arbeitsverhältnissen angesichts ihrer nachgewiesenen Schädlichkeit für die menschliche Gesundheit auch weiterhin einer gesetzlichen Regelung. Ihre unbeschränkte Freigabe ohne flankierende Maßnahmen würde gegen den objektiven Gehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen. Welche Regelungen erforderlich sind, muß zunächst der Gesetzgeber selbst im Rahmen seines weiten Wertungsund Gestaltungsfreiraums bestimmen. Soweit einzelne Gruppen von Arbeitnehmern besonders schutzbedürftig sind, kann sich aus dem objektiven Gehalt von Grundrechten die Pflicht zu weitergehender gesetzgeberischer Vorsorge ergeben." 352 346
Vom 30. April 1938 (Reichsgesetzbl. I S . 447), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. März 1975 (BGBl. I S. 685). 347 Vgl. BVerfGE 85, 191, 206-210. 348 Vgl. Ebd., S. 210 f. 349 Ebd., S. 212. 350
Hier zeigt sich wieder der Gegensatz zum gleichheitswidrigen und zum nachbesse-
rungsfähigen, defizitären Gesetz. Siehe oben S. 67 f. 351 BVerfGE 85, 191, 212. 352 Ebd., S. 213.- Vgl. auch BVerfGE 62, 256, 289: Die Nichtigerklärung würde „zu einer noch größeren Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten führen: Die älteren Arbeitnehmer gingen der verlängerten Kündigungsfristen vollends verlustig"
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
In BVerfGE 54,159 schließlich verpflichtete nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes das „Gebot der personellen Trennung von Rechtsprechung und Verwaltung" 353, das aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien der Gewaltentrennung und der richterlichen Neutralität (Art. 20 Abs. 2 S. 2, Art. 92 GG) abzuleiten ist 3 5 4 , den Gesetzgeber zum erneuten, nachbessernden Tätigwerden. Der in dieser Entscheidung kontrollierte § 2 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über die Berufung der landwirtschaftlichen Beisitzer (GB1B)355 sah vor, daß auch Mitglieder des Vorstandes der Landwirtschaftskammer Rheinland-Pfalz zu Beisitzern an einem Landwirtschaftsgericht vorgeschlagen werden können. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, eine derartige personelle Verzahnung mißachte das zuvor genannte verfassungsrechtliche Gebot und verletze damit Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Art. 92 GG sowie zugleich Art. 19 Abs. 4 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.356,»Daraus leitet sich ab, daß der derzeitige Regelungsgehalt des § 2 GB1B den angeführten Bestimmungen des Grundgesetzes nicht genügt'. 357 Der Gesetzgeber muß nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes also, insbesondere um seiner „Leistungsverpflichtung" 358 aus Art. 19 Abs. 4 GG nachzukommen bzw. um den durch diese Vorschrift formulierten „Rechtsschutzauftrag" 359 zu erfüllen, das Gesetz nachbessern, in dem er die Tätigkeit von Vorstandsmitgliedern der Landwirtschaftskammer als landwirtschaftliche Beisitzer zukünftig ausschließt.360 (ebd.). In dieser Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht aber (noch) keinen ausdrücklichen Bezug zu grundrechtlichen Schutzpflichten her. Aus diesem Grunde ist dieses Judikat in der vorliegenden Untersuchung der Fallgruppe des gleichheitswidrigen Gesetzes zugeordnet worden. 353 BVerfGE 54, 159, 166. 354 Ebd., S. 170. 3 55 Vom 30.11.1956 (Gesetz- und Verordnungsblatt Rheinland-Pfalz S. 150). 356
BVerfGE 54, 159, 172.- Die Aussage, ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Art. 92 GG verletze „zugleich" (ebd.) Art. 19 Abs. 4 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, begründete das Bundesverfassungsgericht damit, daß A r t 19 Abs. 4 GG dem Betroffenen den Weg zu einem mit verfassungsmäßigen Grundsätzen im Einklang stehenden Gericht eröffne, bzw. daß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG voraussetze, daß nur Gerichte bestehen, die in jeder Hinsicht verfassungsmäßigen Anforderungen entsprechen (vgl. ebd., unter Hinweis auf BVerfGE 27, 312, 319; 49, 228, 242). 357 BVerfGE 54, 159, 172 (Hervorhebung vom Verfasser). 358 Krebs in: von Münch/Kunig, GGK I, Art. 19 Rn. 63. Krebs, a.a.O., Rn. 49. 360 D i e Verfassungswidrigkeit der kontrollierten Norm beruhte also darauf, daß der Tatbestand der Norm zu weit definiert war, da § 2 GB1B auch Vorstandsmitgliedern der Landwirtschaftskammer den Beisitz ermöglichte (hinsichtlich der sonstigen Mitglieder
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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b) Freiheitsgebrauch Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes fordert das Grundgesetz (auch) dann einen (Mindest-)Bestand an gesetzlichen Normen, wenn die grundgesetzlich gewährleistete Freiheit ohne gesetzliche Ausgestaltung nicht ausgeübt werden kann. Aus diesem Grunde hält es das Bundesverfassungsgericht bei Normen aus den Bereichen des Hochschulrechts, des Rundfiinkrechts und des Privatschulwesens (bisweilen) für erforderlich, die verfassungswidrige Norm aufrechtzuerhalten anstatt diese zu eliminieren. So erklärte das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 33, 303; 35, 79; 43, 242; 56, 192; 61, 210 Landesgesetze, die das Hochschulrecht regelten, für unvereinbar mit dem Grundgesetz, weil diese Normen entweder gegen Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip 3 6 1 oder gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 G G 3 6 2 verstießen. Allen genannten Entscheidungen ist gemein, daß das Bundesverfassungsgericht Grundrechte in ihrer Funktion als Teilhaberechte363 erörterte. Im Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes das Grundrecht, verstanden als Teilhaberecht, das Recht des hochschulreifen Bewerbers auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl 3 6 4 und im Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG das Recht des Wissenschaftlers auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerläßlich sind. 365 der Landwirtschaftskammer sei die Vorschrift aus verfassungsrechtlicher Sicht dagegen unbedenklich; s. BVerfGE 54, 159, 168). Das Bundesverfassungsgericht begründete daher die Anwendung der Unvereinbarerklärung mit dem Argument, der Verfassungsverstoß habe „seine Ursache nicht in einer positiv-rechtlichen Regelung des § 2 GB1B" (ebd. S. 172), sondern ergebe „sich vielmehr aus der Unvollständigkeit der Norm in Bezug auf die Eingrenzung des für das Richteramt vorzuschlagenden Personenkreises" (ebd.). Vgl. zu diesem Argument schon oben S. 23. 361 BVerfGE 33, 303, 303 (LS. 2) und 331. 362 BVerfGE 35, 79, 80 f.; 43, 242, 244 f.; 56, 192, 192 f.; 61, 210, 210 f. (jeweils Entscheidungsformel). 363 Vgl. auch BVerfGE 35, 79, 115: „Teilhabeberechtigungen". 364 BVerfGE 33, 303, 303 (LS. 2) und 331. 365 BVerfGE 35, 79, 79 (LS. 3) und 115 f.; 43, 242, 269; 56, 192, 211; 61, 210, 240.- Vgl. zum Gewährleistungsinhalt der genannten Teilhaberechte ausführlich Gubelt in: von Münch/Kunig, GGK I, Art. 12 Rn. 1 u. 28 ff.; Wendt, ebd., Art. 5 Rn. 106 ff.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die Herleitung der Teilhaberechte begründete das Bundesverfassungsgericht mit dem Argument, daß die Teilhabe an staatlichen Leistungen die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung des grundrechtlichen Freiheitsrechts (geworden) sei. So führte das Gericht in BVerfGE 33,303 aus, daß das Freiheitsrecht „ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos (wäre)" 366, und daß „eine gesetzliche Grundlage deshalb erforderlich (sei), weü die Beteiligung an staatlichen Leistungen die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten darstellt" 367 . In BVerfGE 35,79 beobachtete das Bundesverfassungsgericht „ein faktisches Monopol" 368 des Staates hinsichtlich des Wissenschaftsbetriebes 369, um anschliessend festzustellen, daß „die Beteiligung am öffentlichen Leistungsangebot zunehmend zur notwendigen Voraussetzung für die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit wird" 370 . Verfassungswidrig waren die kontrollierten Normen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes deshalb, weil das Recht auf Zulassung zum Studium nicht in einer den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG entsprechenden Weise beschränkt werde 371 , bzw. weil „der Gesetzgeber die zum Schutz der
366 BVerfGE 33, 303, 331. 367 Ebd., S. 337.- Vgl. auch Kirchhof (NJW 1996, S. 1497, 1502): In „staatlich monopolisierten Freiheitsbereichen" (ebd.) müsse das Freiheitsrecht wie ein Gleichheitsrecht gehandhabt werden. 368 BVerfGE 35, 79, 115. 369 Ebenso BVerfGE 33, 303, 331 f. hinsichtlich des Hochschulwesens: „ein faktisches, nicht beliebig aufgebbares Monopol". 370 BVerfGE 35, 79, 115.- In BVerfGE 43, 242, 267 nahm das Gericht Bezug auf diese Ausführungen und stellte zudem fest, daß die (insbesondere organisatorischen) staatlichen Maßnahmen dem einzelnen Grundrechtsträger „die freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen" (ebd.).- In BVerfGE 56, 192, ; 61, 210 begründete das Gericht die Herleitung der grundrechtlichen Teilhaberechte nicht (mehr). 371 Der kontrollierte § 17 des Gesetzes über die Universität Hamburg (vom 25. April 1969; Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt S. 61) war nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes deshalb verfassungswidrig, weil der Landesgesetzgeber „für den Fall absoluter Zulassungsbeschränkungen keine Bestimmungen über Art und Rangverhältnis der Auswahlkriterien getroffen hat" (BVerfGE 33, 303, 304 (LS. 5)), also „wesentliche Entscheidungen" (ebd., S. 303 (LS. 4)) nicht selbst getroffen und verantwortet, sondern vielmehr Universität und Exekutive hinsichtlich der zu beschliessenden Zulassungsordnungen eine „Blankett-Ermächtigung" (ebd., S. 346) erteilt hatte (ebd., S. 345-348).
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Wissenschaftsfreiheit erforderlichen Sicherungsvorkehrungen nur zum Teil in dem gebotenen Umfang getroffen (habe)"372. Für nichtig erklären könne das Bundesverfassungsgericht die verfassungswidrigen Normen aber nicht. „Hierdurch wäre die Verfassungswidrigkeit nicht beseitigt." 3 7 3 Durch die Nichtigerklärung „würde vielmehr ein Zustand geschaffen (...), der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als der jetzige" 374 . Es bleibe „dem Gesetzgeber überlassen, auf welchem Wege er den festgestellten Verfassungsverstoß beseitigen will" 3 7 5 . In allen zuvor genannten Entscheidungen griff das Bundesverfassungsgericht daher auf das Instrument der Unvereinbarerklärung zurück. 376
372
BVerfGE 35, 79, 135; 43, 242, 269; vgl. auch BVerfGE 61, 210, 241. BVerfGE 56, 192, 215; ebenso BVerfGE 43, 242, 291. 374 BVerfGE 33, 303, 347.- Dieser „noch verfassungswidrigere" Zustand wurde vom Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen näher beschrieben: In der Entscheidung zu Art. 12 Abs. 1 GG, dem sogenannten Numerus clausus-Urteil, stellte das Gericht fest, daß die Nichtigerklärung, also die Kassation der Norm, der Ordnung des Zulassungswesens die Grundlage entziehen würde, so daß die Universität aufgrund einer „Notkompetenz" (BVerfGE 33, 303, 347) und ohne gesetzliche Grundlage die Studienplätze vergeben müßte (ebd.). In BVerfGE 56, 192, 215 konstatierte das Gericht, daß „im Falle der Nichtigerklärung der angegriffenen Norm (...) die Beschwerdeführer gar keiner Gruppe von Universitätsangehörigen zugeordnet und völlig von der Mitwirkung in der akademischen Selbstverwaltung ausgeschlossen (wären)" (ebd.). 373
37
5 BVerfGE 56, 192, 215. Ebenso BVerfGE 43, 242, 291. Vgl. ebenfalls BVerfGE 33, 303, 348 (allerdings ordnete das Gericht hier auch die vorübergehende Fortgeltung des verfassungswidrigen Gesetzes an, so daß nicht eindeutig ist, ob die Anwendung oder aber die Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung begründet werden sollte.).- In BVerfGE 35, 79, 148; 61, 210, 259 findet sich allein der Hinweis: „Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, auf welchem Wege er die festgestellten Verfassungsverstoße beseitigen will." 376 Vermerkt sei, daß die Aussage des Gerichtes, die Nichtigerklärung könne den Verfassungsverstoß nicht beseitigen, unpräzise ist. Denn der Verfassungsverstoß beruht auf der gesetzlichen Vorschrift, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht (hinreichend) Rechnung trägt. Durch die Nichtigerklärung der Norm ließe sich dieser verfassungswidrige Zustand also - entgegen der Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes - ohne weiteres beseitigen, da dann die Ursache des Verfassungsverstoßes eliminiert wäre. Nicht hingegen vermag die Nichtigerklärung (als Instrument der „Negation") den verfassungsmäßigen Zustand herzustellen. Denn dieser setzt eine positive Ausgestaltung in Form eines den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Gesetzes voraus.
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Normen aus dem Bereich des Rundfunkrechts erklärte das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 73,118 und 74,297 für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Zur Verwirklichung der Freiheit des Rundfunks bedürfe es - so das Bundesverfassungsgericht - „einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet. Um diese zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten soll. Wie der Gesetzgeber seine Aufgabe erfüllen will, ist - in den von der Garantie gezogenen Grenzen - Sache seiner eigenen Entscheidung (...)." 377 Die Rundfunkfreiheit als Forum öffentlicher Meinungsbildung378 verlangte nach bundesverfassungsgerichtlicher Beurteilung also eine bestimmte gesetzliche Ausgestaltung. Die vom Gericht kontrollierten Gesetze vermochten - so das Bundesverfassungsgericht - „die Freiheit des Rundfunks nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu gewährleisten" 379, bzw. waren von der „Ausgestaltungsbefugnis" 380 des Gesetzgebers hinsichtlich der Rundfunkfreiheit nicht gedeckt.381 Das Bundesverfassungsgericht hat demzufolge einen Verstoß der Normen gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG festgestellt. 38*
377 BVerfGE 73, 118, 152 f. Ebenso BVerfGE 74, 297, 324. 378 Das Bundesverfassungsgericht qualifiziert die Rundfunkfreiheit als eine „der Freiheit der Meinungsbildung in ihren subjektiv- und objektivrechtlichen Elementen dienende Freiheit" (BVerfGE 74, 297, 323 - Hervorhebung im Original). 379 BVerfGE 73, 118, 119 (LS. 3). 380 BVerfGE 74, 297, 336. 381 Ebd., S. 334.- Ausführlich zum näheren Inhalt der beiden bundesverfassungsgerichtlichen Judikate Wendt in: von Münch/Kunig, GGK I, Art. 5 Rn. 50 ff. 382 BVerfGE 73, 118, 120 (Entscheidungsformel, sub I. 3.); 74, 297, 299 (Entscheidungsformel, sub I. 1.).- Im zuerst genannten Beschluß verletzte eine der dort geprüften Normen desweiteren das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 73, 118, 120 (Entscheidungsformel, sub I. 4.) und 200 f.), weil es der Gesetzgeber versäumt habe, den verfassungsrechtlich gebotenen „wirksamen Schutz des Einzelnen gegen Einwirkungen der Medien auf seine Individualsphäre" (a.a.O., S. 201 - Hervorhebung v. Verf.) auf einfachgesetzlicher Ebene zu realisieren. Insoweit könnte diese Entscheidung damit auch der im Abschnitt zuvor dargestellten Fallgruppe zugeordnet werden.
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Eine ausdrückliche Begründung für die Anwendung der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung findet sich in keiner der beiden Entscheidungen. So kann man lediglich vermuten, daß nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes die Nichtigerklärung hier ungeeignet war, weil - ebenso wie im Hochschulrecht 383 - auch hier zur Verwirklichung der grundrechtlichen Freiheit eine Ergänzung, eine Nachbesserung der bestehenden Gesetzeslage erforderlich war und keine bloße Normeliminierung. In BVerfGE 75,40 und 90,128 schließlich erklärte das Bundesverfassungsgericht Landesvorschriften, die das Privatschulwesen regelten, für unvereinbar mit Art. 7 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 G G 3 8 4 bzw. mit Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG 3 8 5 . Art. 7 Abs. 4 GG gewährleistet nach Auffassung des Gerichtes nicht nur die Gründungsfreiheit und die institutionelle Garantie der Privatschule, sondern „legt den für die Schulgesetzgebung ausschließlich zuständigen Ländern darüber hinaus die Pflicht auf, das private Ersatzschulwesen neben dem öffentlichen Schulwesen zu fördern und in seinem Bestand zu schützen"386. Diese Schutzpflicht ergebe sich „aus der Bedeutung der Gewährleistung sowie aus ihrer besonderen Ausgestaltung in den Sätzen 2 bis 4, mit der das Grundgesetz selbst Voraussetzungen normiert, ohne deren Erfüllung von dem Grundrecht kein Gebrauch gemacht werden kann" 387 . Im folgenden heißt es: „Der Staat darf sich (...) nicht darauf zurückziehen, die Tätigkeit der privaten Ersatzschulen lediglich zuzulassen. Vielmehr muß er ihnen die Möglichkeit geben, sich ihrer Eigenart entsprechend zu verwirklichen. Ohne Selbstbestimmung im schulischen Wirkungsbereich bleibt das Recht zur Errichtung von privaten Ersatzschulen inhaltlos. Unter den von der Verfassung vorgegebenen Bedingungen ist eine solche Selbstbestimmung ohne staatlichen Beistand nicht möglich." 388 Der Staat hat also nach bundesver-
383
Siehe oben S. 75 ff. BVerfGE 75, 40, 41 (Entscheidungsformel, sub 2.). 3 «5 BVerfGE 90, 128, 128 (Entscheidungsformel). 3 »6 BVerfGE 75, 40, 62. Ebenso BVerfGE 90, 128, 138 („Schutz- und Förderpflicht des Staates").- Eine aus dieser Schutzpflicht folgende Handlungspflicht des Staates werde aber erst dann ausgelöst, „wenn andernfaUs der Bestand des Ersatzschulwesens als Institution evident gefährdet wäre" (BVerfGE 75, 40, 67). 384
387
BVerfGE 75, 40, 62. Ebd., S. 63 (Hervorhebung vom Verfasser).- Vgl. zum „Anspruch auf staatliche Förderung" im Bereich des Privatschulwesens auch BVerfGE 90, 107, 107 (LS. 1) und 115. 388
80
1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
fassungsgerichtlicher Einschätzung im Bereich des Ersatzschulwesens „reale Freiheit" 389 zu gewährleisten. Verfassungswidrig sei die vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 90,128 geprüfte Norm deshalb, weil der Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner ihm aus Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG obliegenden Schutzpflicht eine bestimmte Gruppe von privaten Ersatzschulen „völlig unberücksichtigt" 39° gelassen habe, obwohl deren Einbeziehung (in Form der Gewährung finanzieller Zuwendungen) zur Sicherung des ,,Existenzminimums"391 der Schule verfassungsrechtlich geboten sei. 3 9 2 Die in BVerfGE 75, 40 kontrollierte Rechtsnorm sei verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber eine bestimmte Gruppe von privaten Ersatzschulen im Vergleich zu anderen privaten Ersatzschulen ungerecht berücksichtigt und auf diese Weise gegen die Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 GG, die dem Gesetzgeber bei der Erfüllung der Schutzpflicht aus Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG Grenzen setze 393 , verstoßen habe.39« Das Bundesverfassungsgericht begegnete den angenommenen Verfassungsverstößen mit dem Instrument der Unvereinbarerklärung der landesrechtlichen Normen 395 , ohne allerdings die Anwendung dieser Entscheidungsvariante zu begründen. Da die betreffenden Normen den privaten Ersatzschulen finanzielle Zuwendungen gewährten, auf die diese zur Verwirklichung der ihnen durch Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG eröffneten Freiheit angewiesen waren 396 , liegt die Annahme nahe, daß das Bundesverfassungsgericht den bisherigen Zustand nicht durch einen noch unbefriedigenderen Zustand ersetzen wollte. Denn in den kontrollierten landesrechtlichen Vorschriften wurden bei der Verteilung der finanziellen Zuwendungen (nur) bestimmte private Ersatzschulen nicht oder im Vergleich zu anderen
3g
9 *0 39 l 3 *2 3 *3 3
3
Vgl. zu diesem Begriff Hesse, Festgabe Smend, S. 71, 80 und 85. BVerfGE 90,128, 141 (vgl. auch S. 144 f.) - Hervorhebung vom Verfasser. Ebd., S. 144 und 145. Vgl. ebd., S. 138 ff. BVerfGE 75, 40, 69.
V g l . BVerfGE 75, 40, 56 ff. Allerdings sind die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichtes in BVerfGE 75, 40 nicht unmißverständlich: In der Entscheidungsformel (vgl. BVerfGE 75, 40, 40 f.) differenzierte das Gericht noch deutlich zwischen § 18 („unvereinbar und nichtig") und § 20 Abs. 3 („unvereinbar") des Privatschulgesetzes der Freien und Hansestadt Hamburg. In den Entscheidungsgründen ist dann aber zu lesen, § 18 dieses Gesetzes sei (nur) „unvereinbar" (ebd., S. 75) mit Art. 7 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG. 396 Vgl, nochmals die zuvor zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes, oben S. 79. 395
Β . Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze
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Schulen ungerecht berücksichtigt. Eine Nichtigerklärung dieser Vorschriften hätte dagegen zur Folge gehabt, daß für alle privaten Ersatzschulen eine gesetzliche Verankerung der finanziellen Zuwendungen fehlte. c) Rechtsgüterwahrung Ein (Mindest-)B estand an gesetzlichen Normen kann nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes schließlich erforderlich sein zur Rechtsgüterwahrung. Solche zu wahrenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes insbesondere und vor allem das Prinzip der Rechtssicherheit397 sowie der „hergebrachte Grundsatz, daß die Beamtengehälter generell durch Gesetz zu regeln sind (Art. 33 Abs. 5 GG)" 3 9 8 . Diese Rechtsgüter können nach Einschätzung des Gerichtes den weiteren Bestand des (verfassungswidrigen) Gesetzes fordern. Das ist nach bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur zunächst bei Normen aus dem Beamtenrecht, soweit diese die Besoldung399 oder die Amtsbezeichnung400 zum Gegenstand haben, häufig der Fall. Aber auch bei Normen aus den Bereichen des Rechtes der Abgeordnetenentschädigung (Art. 48 Abs. 3 GG) 40 !, des Namensrechts 402 und des Rundfunkrechts (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Fall 2 GG) 4 0 3 könne es zur Wahrung der genannten verfassungsrechtlichen Rechtsgüter erforderlich sein, von der Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes abzusehen.
397
Das Prinzip der Rechtssicherheit zählt - so das Bundesverfassungsgericht - als „wichtiges Gut" (BVerfGE 90, 263, 271) zu den „wesentlichen Elementen" (BVerfGE 88, 384, 403) des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang (vgl. auch Schnapp in: von Mänch/Kunig, GGK I, Art. 20 Rn. 26 m.w.N.).- Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 390-437, legt dar, daß sich „zahlreiche Normen der Verfassung (...) unter je unterschiedlichen Aspekten um das Ziel ,Rechtssicherheit 4 bemühen" (a.a.O., S. 393 Hervorhebung v. Verf.), so insbesondere die Grundrechte, Art. 79 Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 S. 1 oder Art. 103 Abs. 2 GG (a.a.O., S. 390-392). 398
BVerfGE 8, 1, 18. Vgl. BVerfGE 26, 79; 34, 9; 56, 146; 56, 175; 64, 367; 81, 363. 400 Vgl. BVerfGE 38, 1; 62, 374; 64, 323.- Besoldung und Amtsbezeichnung wurden durch das in BVerfGE 32, 199 kontrollierte Gesetz geregelt. 401 Vgl. BVerfGE 40, 296. 402 Vgl. BVerfGE 48, 327; 84, 9. 403 Vgl. BVerfGE 90, 60. 399
6 Blüggel
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1. Kapitel: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Auf das Instrument der Unvereinbarerklärung greift das Bundesverfassungsgericht hier zurück 404 , um einen noch verfassungswidrigeren Zustand zu vermeiden. Ein solcher würde herbeigeführt werden, wenn die verfassungswidrige Norm für nichtig erklärt und damit eliminiert würde. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in einem frühen Beschluß zur Beamtenbesoldung405 festgestellt: „Grundsätzlich ist ein gegen die Verfassung verstoßendes Gesetz für nichtig zu erklären. Bei einem Besoldungsgesetz, das infolge einer Veränderung der Verhältnisse nicht mehr den Mindestanforderungen eines angemessenen Unterhalts entspricht, würde aber eine solche Entscheidung des Gerichts einen Zustand herbeiführen, welcher der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger entsprechen würde; denn Art. 33 Abs. 5 GG verlangt, daß generelle gesetzliche Besoldungsregelungen überhaupt vorhanden sind. Wegen des Zusammenhangs der beiden verfassungsrechtlichen Grundsätze - Garantie eines angemessenen Lebensunterhalts und generelle gesetzliche Besoldungsregelung darf daher das Bundesverfassungsgericht unzulässig gewordene Besoldungsgesetze nicht für nichtig erklären (...)." 406 Nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes waren also die Folgen einer Nichtigerklärung (= Besoldung der Beamten ohne gesetzliche Grundlage) schwerwiegender als die Folgen im Falle des Unterbleibens einer Nichtigerklärung (= Fortbestand der verfassungswidrigen Norm). 404
Vgl. die in Fn. 399-403 angeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes.- BVerfGE 38, 1; 40, 296; 48, 327; 84, 9 werden in der vorliegenden Untersuchung auch der Fallgruppe des „gleichheitswidrigen Gesetzes" (siehe oben S. 32 ff.) zugeordnet, da die in diesen Entscheidungen kontrollierten Normen (auch) gegen Gleichheitsrechte verstoßen. Bei diesen Judikaten kumulieren also die Gründe für die Anwendung der Unvereinbarerklärung. 4