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German Pages [325] Year 2023
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 191 herausgegeben von
Rolf Stürner
Matthias K. Klatt
Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Mohr Siebeck
Matthias K. Klatt, geboren 1993; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg i. Br.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg; 2021 Promotion; Rechtsreferendar am Hanseatischen Oberlandesgericht. orcid.org/0000-0002-9697-9975
ISBN 978-3-16-161119-3 / eISBN 978-3-16-161120-9 DOI 10.1628/978-3-16-161120-9 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Times gesetzt. Es wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und dort gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Wer das Recht studiert, gelangt bereits in den ersten Vorlesungswochen zu der Erkenntnis, dass es auf viele Rechtsfragen mehrere gut begründbare Antworten gibt. Besonders für Gerichte bedeutet die oft fehelende Eindeutigkeit des Rechts eine Herausforderung, werden sie doch angerufen, um eindeutige Antworten zu geben und auf diesem Weg einen Rechtsstreit zu entscheiden. Gleichzeitig macht indessen diese potentielle Vieldeutigkeit den Reiz gerade der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Recht aus. Dem Bundesverfassungsgericht wurde im Jahr 1970 in Gestalt des Sondervotums ein Instrument an die Hand gegeben, welches es Richterinnen und Richtern ermöglicht, im Anschluss an eine veröffentlichte Senatsentscheidung darzulegen, warum sie anderer Auffassung als ihre Kolleginnen oder Kollegen sind. Dieses Instrument, das der fehlenden Eindeutigkeit gerade des Verfassungsrechts in adäquater Art und Weise Rechnung tragen soll, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. Es handelt sich um eine etwas überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 2021 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg angenommenen Dissertationsschrift. Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung sind grundsätzlich auf dem Stand des Jahres 2021 verarbeitet. Vereinzelt konnte auch spätere Literatur noch berücksichtigt werden. Die empirische Analyse berücksichtigt die Praxis der Sondervoten bis zum Ende des Jahres 2020. Mein sehr herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Armin Hatje. Er hat es stets vermocht, mir mit größter Souveränität und Menschlichkeit nötige Ermutigung und gleichzeitig wissenschaftliche Freiheit zu gewähren. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Es war mir eine besondere Ehre, dass Professor Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, LL.M. als ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgericht bereit war, das Zweitgutachten zu erstatten. Für seine hilfreichen Anregungen bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Herrn Professor Dr. Dres. h. c. Rolf Stürner danke ich herzlich für die Aufnahme meiner Dissertation in die Schriftenreihe zum Verfahrensrecht. Professor Dr. Wolfgang Schulz bin ich für die Zeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl an der Universität Hamburg sehr dankbar. Insbesondere Dr. Stephan Dreyer, Dr. Amélie Heldt, Keno Potthast, Valerie Rhein, Johannes Schmees, und Dr. Florian Wittner haben wesentlich dazu beigetragen, dass ich an diese Zeit mit ihrer fachlich und menschlich wohltuenden Atmosphäre gerne zurückdenke.
VI
Vorwort
Von ganzem Herzen danken möchte ich schließlich meinen Freunden und meiner Familie, insbesondere meiner Mutter Beate Klatt und Miriam. Sie haben vor allem die Fertigstellung dieser Arbeit in ganz besonderer Weise unterstützt und mir stets bedingungslosen menschlichen Rückhalt gewährt. Die Arbeit bemüht sich um eine geschlechtersensible Sprache. Klare Regeln hierfür existieren (noch) nicht, sodass ich um Nachsicht für Fehler und Unzulänglichkeiten bitte, die allein von mir zu verantworten sind. Bei historischen Epochen, in denen keine Frauen gewisse Positionen erreichen konnten und sich die Beschreibung damit tatsächlich nur auf männliche Personen bezieht, wurde ausschließlich die männliche Form gewählt. Ebenso, wenn Äußerungen dargestellt oder zitiert werden, bei denen ausschließlich die männliche Form gewählt ist, um das Original einer fremden Äußerung nicht zu verändern oder zu verzerren. Hamburg, im Dezember 2022
Matthias K. Klatt
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Forschungsbedarf und Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
B. Dissenting, concurring und seriatim opinions in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . 7 I. Entwicklungen in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 II. Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . 10 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . 19 I. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Die geheime Beratung und Abstimmung im Kollegialgericht als Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktuelle Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die veröffentlichte abweichende Meinung der Richter*innen als Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Frühere Durchbrechungen des Beratungsgeheimnisses . . . . . . . . . . . . . b) Die Diskussionen um das GVG von 1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Errichtung des BVerfG im Jahr 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Deutsche Richtergesetz von 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die 1960er Jahre: Eigenmächtige Änderungen und politischer Wandel f) 47. Deutscher Juristentag 1968: Ausschlaggebende Impulse . . . . . . . . aa) Rechtstraditionen: Das Eigene und das Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Öffentlichkeit: Verfahrensbeteiligte, Rechtswissenschaft, Volk . . . .
20 20 22 27 28 28 30 36 48 61 70 71 73
VIII
Inhaltsverzeichnis
cc) Stellung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Gerichtsinterne Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Reform des BVerfGG im Jahr 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 77 79 81 81 94
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse . . . . . . . . . 96 1. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sondervotenpraxis beim Ersten und Zweiten Senat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beteiligung der einzelnen Richter*innen an Sondervoten . . . . . . . . . . . . . 4. Concurring und Dissenting Opinions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 97 105 111 112
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse . . . . . . . . . . . 113 1. Funktionsanalyse (1): Heteronome Bestimmung der Funktionen des Sondervotums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Verfassungsgerichtliche Entscheidungsbegründung und Sondervotum .114 aa) Funktionen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 bb) Anforderungen an die verfassungsgerichtliche Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Begründungspraxis des BVerfG als Kollegialgericht . . . . . . . . . . . 124 dd) Funktion des Sondervotums in Abgrenzung zur Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 ee) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Besondere Verfassungsgerichtsfunktionen und Sondervotum . . . . . . . . 129 aa) Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (1) Das BVerfG als Verfassungsinterpret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (2) Das Sondervotum als Ausdruck einer pluralistischen Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (a) Von Mephisto zu Esra (BVerfGE 30, 173 und 119, 1) . . . . . 135 (b) Rechtsprechungsänderung durch Sondervoten Böckenfördes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (c) Reichweite des Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (d) Menschenwürde und Objektformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (e) Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren . . . . . . . . . 153 (f) Recht auf selbstbestimmtes Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 bb) Diskursbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (1) Von der Integrationsfunktion zur Diskursbegleitung . . . . . . . . . 167 (a) Smend und die Rezeption seiner Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (b) Integrationsfunktion der Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (c) Konsequenzen für das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . 174
Inhaltsverzeichnis
(2) Das Sondervotum als diskursives Instrument . . . . . . . . . . . . . . (a) Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1 und 88, 203) . . . (b) Kruzifix (BVerfGE 93, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Soldaten sind Mörder (BVerfGE 93, 266) . . . . . . . . . . . . . . (d) Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (Beschl. v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kein Automatismus bei kontroversen Rechtsfragen . . . . . . . . . cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionsanalyse (2): Autonome Bestimmung der Funktionen des Sondervotums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritik an einem weiten Verständnis verfassungsgerichtlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik an einem engen Verständnis verfassungsgerichtlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einheitliche und beständige Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sonderfälle und weitere Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ritualisiertes Bedauern in Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Politische Motivation zur Abgabe von Sondervoten? . . . . . . . . . . . . . . g) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktionsanalyse (3): Abgleich mit der Innenperspektive . . . . . . . . . . . . . a) Namentliche Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anonyme Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
175 178 181 183 186 189 191 192 192 193 209 214 222 228 229 232 234 234 254 260
IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
D. Ergebnisse und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 E. English Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 F. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Anhang I: Chronologische Übersicht der Senatsentscheidungen mit Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Anhang II: Seit Einführung des Sondervotums tätige oder tätig gewesene Richter*innen und die Anzahl ihrer Beteiligungen an Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Abkürzungsverzeichnis Abs. abw. AfD Anm. ArbGG BAG BayVerfGHG Bd. BeckOK BerlVerfGHG Beschl. BFH BGBl. BGH BR-Drs. BremStGHG Bsp. BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BvC BvE BvF BvL BvM BvN BvQ
Absatz abweichend Alternative für Deutschland Anmerkung Arbeitsgerichtsgesetz Bundesarbeitsgericht Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof Band Beck’scher Online-Kommentar Gesetz über den Verfassungsgerichtshof Berlin Beschluss Bundesfinanzhof Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesratsdrucksache Gesetz über den Staatsgerichtshof der Freien und Hansestadt Bremen Beispiel Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung) Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (amtliche Sammlung) Aktenzeichen für Beschwerden im Wahlprüfungsverfahren beim BVerfG Aktenzeichen für Verfassungsstreitigkeiten zwischen Bundesorganen vor dem BVerfG Aktenzeichen für Normenkontrollanträge auf Antrag von Verfassungsorganen beim BVerfG Aktenzeichen für Normkontrollanträge auf Vorlage von Gerichten beim BVerfG Aktenzeichen für Verfahren zur Feststellung einer Völkerrechtsregel als Teil des Bundesrechts beim BVerfG Aktenzeichen für Verfahren zur Auslegung des Grundgesetzes auf Vorlage eines Landesverfassungsgerichts Aktenzeichen für Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG
XII BvR PBvU bzw. CDU CR CSU ders. dies. DJT DÖV DP DRiG Drs. DVBl. ebd. EuGRZ f. FAZ FDP ff. Fn. FS GS GG GOBVerfG GVG HambVerfGG HessStGHG i. Orig. i. V. m. insbes. JöR JurA JuS JuWiss-Blog JZ krit. LVerfGG MV LVerfGG SachsAnh LVerfGG SH m. m. w. Nachw. MdB MüKo NJW No. Nr. NStGHG
Abkürzungsverzeichnis
Aktenzeichen für Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG Aktenzeichen für Plenarentscheidungen des BVerfG beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands Computer und Recht Christlich-Soziale Union in Bayern derselbe dieselbe Deutscher Juristentag Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Partei Deutsches Richtergesetz Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt ebenda Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende (Seite) Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei folgende (Seiten) Fußnote Festschrift Gedächtnisschrift Grundgesetz Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen im Original in Verbindung mit insbesondere Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Ausbildung Juristische Schulung Blog des Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht e. V. JuristenZeitung kritisch Landesverfassungsgerichtsgesetz Mecklenburg-Vorpommern Landesverfassungsgerichtsgesetz Sachsen-Anhalt Gesetz über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht mit mit weiteren Nachweisen Mitglied des Deutschen Bundestags Münchener Kommentar Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Niedersächsisches Gesetz über den Staatsgerichtshof
NVwZ OLG RGSt RGZ Rn. S. s. s. o. SächsVerfGHG SCOTUSblog SGG sog. SPD StGB ThürVerfGHG u. a. UK Urt. US v. VerfGGBbg VGH VGHG NW vgl. Vol. Vorbem. VVDStRL VwGO zit. ZPO ZRG Kant. ZRP ZStrW ZZP
Abkürzungsverzeichnis
XIII
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberlandesgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer(n) Seite, Satz siehe siehe oben Sächsisches Verfassungsgerichtshofgesetz Supreme Court of the United States Blog Sozialgerichtsgesetz sogenannt(e) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Thüringer Verfassungsgerichtshofgesetz unter anderem United Kingdom Urteil United States vom/von Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Verwaltungsgerichtshof Gesetz über den Verfassungsgerichtshof für das Land NordrheinWestfalen vergleiche Volume Vorbemerkung(en) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung zitiert Zivilprozessordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess
A. Einleitung „I doubt whether any two [J]ustices have dissented from one another’s opinions any more regularly, or any more sharply, than did my former colleague Justice William Brennan and I. I always considered him, however, one of my best friends on the Court, and I think that feeling was reciprocated.“1 Antonin Scalia Justice United States Supreme Court 1986–2016 „Wenn ich davon ausgehe, daß die Urteile der Gerichte eine Entscheidung des Streits mit möglichst großer Autorität und außerdem eine Herstellung des Rechtsfriedens bringen sollen, dann habe ich die Überzeugung, daß die Veröffentlichung von Sondervoten bei der deutschen Mentalität diese beiden obersten Zwecke der Rechtsprechung gefährden würde.“2 Gebhard Müller Präsident des Bundesverfassungsgerichts 1959–1971
Das BVerfG ist ein Kollegialorgan; es berät und entscheidet mit drei, acht oder sogar 16 Richter*innen. Entscheidungen eines Kollegialgerichts sind vor allem in drei unterschiedlichen Ausprägungen bekannt:3 Erstens die Praxis der seriatim opinion, bei der die Richter*innen ihre jeweilige Rechtsauffassung ohne vorherige Beratung verkünden. Zweitens die Veröffentlichung eines einheitlichen Gerichtsurteils ohne Angabe von Abstimmungsergebnissen oder abweichenden Meinungen. Und drittens die gerichtliche Entscheidung durch eine mindestens von der Mehrheit der Richter*innen unterstützte Gerichtsmeinung, zu der einzelne Richter*innen abweichende Voten publizieren können und auch das Abstimmungsergebnis veröffentlicht werden kann. Während uns die erste Erscheinungsform insbesondere aus der Rechtstradition Großbritanniens bekannt ist (dazu B. I.) und die dritte Methode beim U. S. Supreme Court verbreitet ist (dazu B. II.), kennen wir in Deutschland das Kollegialgericht vor allem als 1
Zitiert nach Ginsburg, Minnesota Law Review, Vol. 95, No. 1 (2010), S. 4. 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 46. 3 Nach Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 7. 2
2
A. Einleitung
einen Spruchkörper der zweiten Kategorie. Einen, der als Kollektiv nach außen tritt und außer der Unterzeichnung der Entscheidungen durch die beteiligten Richter*innen keine Individualität erkennen lässt.4 Lediglich beim BVerfG und einigen Landesverfassungsgerichten5 sind Ausnahmen von dieser verbreiteten Praxis erkennbar: Nach § 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG kann ein Richter „seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen“. Dieses Sondervotum „ist der Entscheidung anzuschließen“. Darüber hinaus können die Richter*innen bei Senatsentscheidungen „in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen“ (S. 2). Weder zur Abgabe von abweichenden Meinungen, noch zur Offenlegung des Abstimmungsergebnisses werden Verfassungsrichter*innen also verpflichtet. Das interne Verfahren für die Abgabe eines Sondervotums wird in § 55 GOBVerfG näher geregelt: Das Sondervotum „muss binnen drei Wochen nach Fertigstellung der Entscheidung dem oder der Vorsitzenden des Senats vorliegen“ (Abs. 1). Eine Fristverlängerung ist möglich. Ein*e dissentierende*r Richter*in hat, „sobald es der Stand der Beratungen ermöglicht“, eine solche Absicht den Senatskollegen mitzuteilen (Abs. 2). Die Veröffentlichung eines Sondervotums wird „bei der Verkündung“ eines Urteils bekanntgegeben; ein*e abweichende*r Richter*in „kann (…) den wesentlichen Inhalt des Sondervotums mitteilen“ (Abs. 3). Eine namentliche Veröffentlichung findet anschließend auch in der amtlichen Entscheidungssammlung des BVerfG statt (Abs. 5). Dieses – für das deutsche Justizsystem außergewöhnliche – Instrument soll in dieser Arbeit näher untersucht werden.
4 Dies wird auch beabsichtigt, vgl. dazu die Aussage der ehemaligen BVerfG-Richterin Lübbe-Wolff: „In den gemeinsamen Leseberatungen, in denen die Richter anhand des Entwurfs des Berichterstatters die abschließende Textfassung der Senatsentscheidungen erarbeiten, wird prononciert Individuelles ausgeschieden.“, in: Schürmann/v. Plato, Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, S. 17, 35. 5 Kein Sondervotum möglich: Baden-Württemberg, Saarland, Sachsen (explizit klargestellt durch § 13 SächsVerfGHG); Rheinland-Pfalz. Sondervotum möglich: Bayern (Art. 25 Abs. 5 BayVerfGHG: „ohne Angabe des Verfassers“); Berlin (§ 29 Abs. 2 BerlVerfGHG); Brandenburg (§ 27 Abs. 2 VerfGGBbg); Bremen (§ 17 Abs. 3 BremStGHG); Hamburg (§ 22 Abs. 3 HambVerfGG); Hessen (§ 16 Abs. 3 S. 2 HessStGHG); Mecklenburg-Vorpommern (§ 27 Abs. 5 LVerfGG MV); Niedersachsen (§ 12 Abs. 1 NStGHG); Nordrhein-Westfalen (§ 25 Abs. 4 VGHG NW); Sachsen-Anhalt (§ 28 Abs. 2 LVerfGG SachsAnh); Schleswig-Holstein (§ 28 Abs. 2 LVerfGG SH); Thüringen (§ 24 Abs. 2 ThürVerfGHG).
I. Forschungsbedarf und Untersuchungsgegenstand
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I. Forschungsbedarf und Untersuchungsgegenstand Wissenschaftliche Abhandlungen über das BVerfG liegen in einer schier unendlichen Fülle vor.6 Die abweichenden Meinungen, welche seit Ende 1970 nach § 30 Abs. 2 BVerfGG von Richter*innen bei Senatsentscheidungen veröffentlicht werden können, sind dabei immer Teil einer Gesamtbetrachtung oder Gegenstand kleinerer Abhandlungen;7 eine umfassende und aktuelle rechtswissenschaftliche Untersuchung dieses Instruments fehlt.8 Auch wenn die einzelnen Sondervoten, etwa durch aktuelle Entscheidungsbesprechungen, zweifellos eine große Aufmerksamkeit in der Rechtswissenschaft erfahren, besteht also ein dringender Bedarf für eine umfassendere Analyse. Auf dieses Thema sind – wie auf die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen – unterschiedliche Zugriffe möglich und jeder ist auf seine Weise sicherlich erkenntnisreich. Für mich stand von Anfang an fest, dass sich eine Untersuchung der Sondervoten erstens an der ergangenen Rechtsprechung zu orientieren hat, also nicht in einem theoretischen Stadium steckenbleiben darf. Zweitens wurde schnell deutlich, dass die Betrachtung eines einzelnen Instruments der Verfassungsgerichtsbarkeit9 immer im Gesamtkontext der Institution BVerfG und seinem Umfeld stattfinden muss. Die grundlegende Forschungsfrage dieser Arbeit ist darauf gerichtet, zu ergründen, inwiefern sich das Sondervotum in der verfassungsgerichtlichen Pra6 Statt vieler: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht; Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, Kulick/Vasel, Das konservative Gericht; Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht; Limbach, Das Bundesverfassungsgericht; Häberle: Verfassungsgerichtsbarkeit – Verfassungsprozessrecht; rechtsvergleichend Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht. Populärwissenschaftlich: Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe; Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe; Rath, Der Schiedsrichterstaat; Säcker, Das Bundesverfassungsgericht; Wesel, Der Gang nach Karlsruhe. Politikwissenschaftlich: Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses; v. Ooyen/Möllers, M., Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. 7 Aus der Zeit nach der Einführung des Sondervotums: Faller, DVBl. 1995, S. 985 ff.; Fischer, in: FS Hassemer 2010, S. 1001 ff.; Fromme, in: FS Geiger 1974, S. 867 ff.; Geiger, in: FS Hirsch 1981, S. 455 ff.; Hill, ZRP 1985, 15 ff.; Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/ Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167 ff.; Möllers, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 39, 58 ff.; Niebler, in: FS Tröndle 1989, S. 585 ff.; Ritterspach, in: FS Zeidler 1987, S. 1379 ff.; Roellecke, in: FS BVerfG 2001, Bd. I, S. 363 ff.; Steiner, ZRP 2007, 245 f.; Spanner, in: FS Geiger 1974, S. 891 ff.; Voßkuhle, JZ 2009, S. 917, 922; Zierlein, DÖV 1981, S. 83 ff. 8 Monographien: Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters (1966 und damit vor der Einführung des Sondervotums in Deutschland); Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts (1985); politikwissenschaftlich: Lamprecht, Richter contra Richter (1993). 9 Zu weiteren verfassungsgerichtlichen Instrumenten vgl. ausführlich Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63 ff.
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A. Einleitung
xis etabliert hat und welche Funktionen diesem Instrument zugesprochen werden können. Während der erste Teil der Frage insbesondere auf empirische Erkenntnisse zielt und bei diesem Thema auf der Hand liegt, erscheint das Interesse an den Funktionen der abweichenden Meinungen rechtfertigungsbedürftig. Es ergibt sich zunächst aus der Erkenntnis, dass abweichende Meinungen von Richter*innen in der deutschen Rechtsprechung etwas zutiefst Ungewöhnliches sind. Auch beim BVerfG wurde dieses Instrument den Richter*innen erst gut 20 Jahre nach der Errichtung des Gerichts an die Hand gegeben. Wenn man also ein für die deutsche Rechtsordnung eher neuartiges und außergewöhnliches Phänomen betrachtet, stellt sich die Grundfrage, was dieses Instrument eigentlich zu leisten vermag, welche Funktionen es einnehmen kann. Ein derartiges Erkenntnisinteresse ergibt sich zudem aus der angestrebten Einbettung dieser Untersuchung in den institutionellen Gesamtkontext: Wer sich über Institutionen Gedanken macht, gelangt automatisch zu der Frage, welche Rolle ihnen im staatlichen Gesamtgefüge zugesprochen wird oder werden muss. Funktionen der Institution (BVerfG) und eines speziellen Instruments, das Akteur*innen dieser Institution zur Verfügung steht (Sondervotum), werden hier also in einen engen Zusammenhang gebracht. In einer Einleitung sollte darüber hinaus immer klargestellt werden, was alles nicht Untersuchungszweck einer Forschungsarbeit ist. Kein Gegenstand der Arbeit ist ein intensiver internationaler oder europäischer Rechtsvergleich. So spannend diese Fragen sind, so sehr hätten sie den Rahmen einer Doktorarbeit gesprengt. Der kurze Exkurs in die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich dient dazu, den Ursprung des Sondervotums adäquat verorten und damit die historische Entwicklung in Deutschland besser verstehen zu können. Auch werden im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder Bezüge zum anglo-amerikanischen Raum hergestellt. Dies kann einen ausführlichen Rechtsvergleich nicht ersetzen, der allerdings von anderen Arbeiten bereits (teilweise) unternommen worden ist.10 Die hier vorgelegten Erkenntnisse können hoffentlich die Grundlage für weitere gewinnbringende Vergleiche mit anderen Rechtsordnungen bilden.
II. Gang der Untersuchung Diese Forschungsarbeit nimmt ihren Ausgangspunkt im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika (B.). Das Erkenntnisinteresse ist darauf gerichtet, den Ursprung des deutschen Sondervotums – die dissenting und concurring opinions – verdeutlichen zu können. Diese Betrachtung kam 10 Vgl. insbesondere Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht und Kelemen, Judicial Dissent in European Constitutional Courts; dies., German Law Journal, Vol. 14 (2013), S. 1345 ff.
II. Gang der Untersuchung
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auch deshalb zustande, weil in der rechtspolitischen Diskussion um die Einführung der abweichenden Meinung in Deutschland immer wieder Bezüge zum anglo-amerikanischen Rechtskreis hergestellt wurden (dazu ausführlich C. I. 2.). Im Zentrum der Untersuchung stehen die Historie und Praxis des Sondervotums beim BVerfG (C.). Der Darstellung der historischen Entwicklung bis zur Einführung dieses Instruments (I.) folgen eine empirische Analyse (II.) und ein funktionsanalytischer Blick (III.) auf die vom BVerfG veröffentlichten abweichenden Meinungen. Die Darstellung der historischen Entwicklung (C. I.) ist sehr umfangreich. Dies rechtfertigt sich aus mehreren Gründen: Zunächst liegen die Ursprünge der rechtspolitischen Diskussion um die Einführung von abweichenden Meinungen im deutschen Rechtskreis erstaunlich weit zurück; sie lassen sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Darüber hinaus wurde seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis zur Einführung des Sondervotums im Dezember 1970 intensiv um diese Reformierung gestritten. Es bedurfte einiger Anläufe im Deutschen Bundestag sowie diverser rechtswissenschaftlicher Debatten bis sich schließlich eine Mehrheit für dieses Projekt fand. Diese Entwicklung ist spannend und verdient besondere Aufmerksamkeit, gibt sie nicht zuletzt auch einen Einblick in die Geschichte der jungen Bundesrepublik und des BVerfG. Die Darstellung bemüht sich dabei stets um eine Einordnung in den politischen und gesellschaftlichen Kontext der jeweiligen Zeit. Rechtswissenschaft und insbesondere Verfassungsrechtswissenschaft kommen nicht ohne diese Betrachtung ihres Umfelds aus, möchten sie sich nicht isolieren. Zudem konnten aus dem Archiv des Deutschen Bundestages viele Dokumente, insbesondere Protokolle des Rechtsausschusses, zusammengetragen werden, die – nicht nur aufgrund der Tatsache, dass der Zugang11 zu der Lektüre mit größerem Aufwand verbunden ist – eine ausführliche Berücksichtigung verdienen. Insbesondere die Anhörungen und Diskussionen mit damaligen Richter*innen des BVerfG sind sehr spannende zeithistorische Dokumente. Diese historische Darstellung, insbesondere der Argumente Für und Wider das Sondervotum, soll im analytischen Teil nicht dazu führen, eine allgemeine Bewertung nach fünfzig Jahren abzugeben, ob das Sondervotum nun „gut“ oder „schlecht“ sei. Diese rechtspolitische Diskussion war vor der Einführung notwendig und kann auch heute geführt werden – diese Arbeit ist allerdings nicht der Ort dafür. Ziel ist es vielmehr, durch eine Analyse der Praxis des BVerfG gewinnbringende rechtswissenschaftliche Erkenntnis zu erhalten. Eine empirische Analyse (C. II.) drängt sich bei dieser Thematik auf und ermöglicht einen ersten Zugriff auf die Frage, inwiefern sich das Sondervotum am BVerfG etabliert hat. Dabei wären sicherlich noch viele weitere empiri11 Die Protokolle und Dokumente des Rechtsausschusses sind im Archiv des Deutschen Bundestags nach Antragstellung kostenlos einsehbar. Über die Internetseiten des Deutschen Bundestags sind dagegen lediglich die Plenarprotokolle und Bundestagsdrucksachen abrufbar.
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A. Einleitung
sche Betrachtungen und Berechnungen möglich. Die Arbeit beschränkt sich auf von einem Rechtswissenschaftler leistbare und auf klaren Kriterien beruhenden Analysen. Dabei ist insbesondere von Interesse, wie viele Sondervoten im Laufe der fünfzigjährigen Geschichte, auch in Relation zur Gesamtzahl der Senatsentscheidungen insgesamt, abgegeben wurden, welche Richter*innen dabei besonders hervorgetreten sind und ob es signifikante Unterschiede zwischen beiden Senaten gibt. Weitere Übersichten werden im Anhang (F.) bereitgestellt, um den Lesefluss nicht allzu stark zu unterbrechen. Die Analyse der Praxis des BVerfG bleibt bei dieser empirischen Betrachtung allerdings nicht stehen, sondern wird im Rahmen einer auf die Funktionen ausgerichteten Betrachtung intensiviert (C. III.). Zunächst werden dazu die Funktionen der Entscheidungsbegründung und des BVerfG insgesamt betrachtet, um daraus wiederum (potentielle) Funktionen des Sondervotums ableiten zu können (heteronome Funktionsbestimmung). Anschließend werden bisher veröffentlichte Sondervoten und Äußerungen (ehemaliger) Richter*innen des BVerfG analysiert, um weitere Funktionen zu bestimmen (autonome Funktionsbestimmung). Die Untersuchung schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse und gibt einen Ausblick auf künftige Forschungsfragen (D.). Eine englischsprachige Zusammenfassung wird ebenfalls bereitgestellt (E.).
B. Dissenting, concurring und seriatim opinions in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika „The right of dissent is an important one and has proved to be such in the history of the Supreme Court. I do not think it is the appropriate function of a Chief Justice to attempt to dissuade members of the Court from dissenting in individual cases.“1 Harlan Fiske Stone Chief Justice of the United States 1941–1946
Das Sondervotum beim BVerfG fand sein großes Vorbild im anglo-amerikanischen Rechtskreis.2 Die einschlägigen Begriffe sind hier dissenting opinion, eine von der Mehrheitsmeinung abweichende Rechtsansicht, und concurring opinion, eine lediglich hinsichtlich der Begründung abweichende Ansicht von einem oder mehreren Richter*innen. Die Entwicklungen in Großbritannien (I.) und in den Vereinigten Staaten von Amerika (II.) werden hier im Rahmen eines kurzen Überblicks dargestellt,3 um den anschließenden Blick auf die deutsche Historie und Praxis zu schärfen.
I. Entwicklungen in Großbritannien In Großbritannien dominiert seit fast eintausend Jahren, seit der Zeit Wilhelm des Eroberers, der versuchte, das Königreich mittels königlicher Gerichte zu vereinen, die Praxis der seriatim opinions. Bei dieser Methode werden Kollegialentscheidungen dadurch getroffen, dass die einzelnen Richter*innen ihre jeweilige Rechtsmeinung mündlich und ohne vorherige Beratung abgeben.4 Es gibt keine gemeinsame „Rechtsfindung“ durch das Kollegialgericht, kein 1
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Zitiert nach Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361,
2 Dafür sprechen insbesondere die Diskussionen während des Prozesses der Einführung des Sondervotums, dazu ausführlich C. I. 2. 3 Vgl. für einen ausführlichen Rechtsvergleich Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, insbes. S. 467 ff. zu abweichenden richterlichen Meinungen. 4 Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 38 f.; Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 7; Austin, Northern Illinois University Law Review, Vol. 31 (2010), S. 19, 29 ff.
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B. Dissenting, concurring und seriatim opinions
Berichterstattersystem, sondern die einzelnen Richter*innen drücken ihre individuelle Rechtsüberzeugung mittels ihrer Voten aus.5 Die einzige Möglichkeit überhaupt eine annähernd exakte Entscheidung des Gerichts festzustellen, ist es, die sich übereinstimmenden Meinungen der Richter*innen „zusammenzuzählen“. Die Entscheidung wird heute durch die order of the court ausgesprochen, wobei bei einer Meinungsverschiedenheit der Richter*innen aus den einzelnen opinions diese Entscheidung ermittelt wird, „ohne Rücksicht darauf, ob und wie sich die Begründungen ergebnisgleicher opinions möglicherweise unterscheiden“.6 Bis in das 17. Jahrhundert war es nicht einmal üblich, die (mehrheitlichen) Meinungen der Gerichte schriftlich zu veröffentlichen; es lag an Gerichtsreportern, aus der mündlichen Überlieferung der einzelnen richterlichen Meinungen die rechtliche Mehrheitsentscheidung zu destillieren. Auch diese Überlieferungen konnten sich aber widersprechen, waren sie letztlich doch nichts anderes als eine individuelle Interpretation von Beobachtenden. Auf diese Weise eine kohärente und präzise Auslegung von Recht zu erreichen, stellte eine große Herausforderung dar.7 Dennoch gab es für diese Praxis lange Zeit eine breite Unterstützung.8 Sie änderte sich erst mit der Ernennung von William Murray, bekannt als Lord Mansfield, zum Lord Chief Justice of the King’s Bench im Jahr 1756.9 Mansfield führte ein Verfahren ein, um Konsens unter den Richtern zu erzielen und im Anschluss eine anonyme und einstimmige opinion of the court vorzulegen. Sein Hauptanliegen war es dabei, für Rechtsklarheit zu sorgen. Dieses Bedürfnis hatte sich vor allem im Handelsrecht herausgestellt, da Rechtsunsicherheit genau das Gegenteil von dem war, was Unternehmen und Geschäftsleute als Bedingung für ihren erfolgreichen wirtschaftlichen Erfolg benötigten.10 Den 5 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 262 f. Ernst stellt ebd. auch dar, dass „jeder Richter auch seine eigene Darstellung des Tatbestands geben könnte; weil dies ein sinnloser Aufwand ist, soweit keine Differenzen hinsichtlich der Tatseite bestehen, wird seit einiger Zeit ein Richter bestimmt, der ein sogenanntes lead judgement verfasst, das die Funktion übernimmt, Fall und Prozessgeschichte aufzubereiten.“; vgl. auch den komprimierten Rechtsvergleich bei Lübbe-Wolff, in: Schürmann/v. Plato, Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, S. 17 ff. 6 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 265. 7 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 7. Laut Henderson gab es keine offiziellen Berichte über einzelne Gerichtsentscheidungen bis in das späte 18. Jahrhundert und zur Regel wurde diese Praxis erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ebd., S. 8. Vgl. zu den einzelnen Gerichten auch ZoBell, Cornell Law Review, Vol. 44, Issue 2, 1959, S. 186, 187 ff. 8 Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 39, der auch ein Argument für diese Unterstützung nennt: „Judgements made in the open and without prior consultation would be less likely – or would certainly appear less likely – to be infected by bribery or collusion with the Crown.“ 9 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 8; Austin, Northern Illinois University Law Review, Vol. 31 (2010), S. 19, 30. 10 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 11 f.
I. Entwicklungen in Großbritannien
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Lösungsweg, diese dringend benötigte Rechtssicherheit zu erreichen, fand Lord Mansfield in der opinion of the court und war damit schnell sehr erfolgreich. Die neue Praxis wurde von den Geschäftsleuten gut angenommen, wodurch die Fallzahlen vor der King’s Bench, dem Gericht von Lord Mansfield, deutlich anstiegen.11 Trotz dieses Erfolges war es nicht der dauerhafte Durchbruch der opinion of the court. Nach der Pensionierung Mansfields beendete sein Nachfolger Lord Kenyon, ein Anhänger der traditionellen Rechtsauslegung, die neue Praxis und die Richter*innen kehrten zur seriatim opinion zurück.12 Diese stellt auch heute noch die gängige Rechtspraxis bei Entscheidungen in britischen Kollegialgerichten dar.13 Zu Bedenken gilt es allerdings, dass die Tätigkeit von Einzelrichter*innen, insbesondere in den „Eingangsinstanzen“, in England stark verbreitet ist.14 Oft stellt sich die Frage nach der kollegialen Entscheidungsfindung also überhaupt nicht. Bei einigen britischen Gerichten, etwa dem Supreme Court, ist in jüngerer Vergangenheit eine neue Entwicklung zu beobachten: Es wird versucht, „Urteile mehr und intensiver kollegial zu beraten“ und durch einen lead judge zu einem composite judgement zu gelangen, „das die Rechtsansichten aller Richter widerspiegelt und vereint“. Dabei werden „Kurzgutachten und Urteilsentwürfe […] schon vor dem hearing in Umlauf gesetzt“ wodurch sich „ein verstärkter Austausch und eine Ausmendelung dessen, was im endgültigen Urteil zu schreiben wäre“ ergibt. Ernst konstatiert aber auch: „Das composite judgement kommt vor, hat sich aber keineswegs durchgesetzt.“15 Brenda Hale, bis Anfang 2020 Präsidentin des Supreme Court, liefert durch eine Statistik aus dem Jahr 2010, nachdem der Gerichtshof im Jahr 2009 errichtet worden war, ein etwas anderes Bild: „Richard Reynolds, one of this year’s Judicial Assistants […], has surveyed our first 57 decided cases. He found that in 20, there was a ‚judgment of the court‘; and in a further 11, there was either a single judgment (with which all the other Justices agreed), or a single majority judgment (with which all the Justices in the majority agreed), or an ‚effectively‘ single or single majority judgment (because separate judgments were simply footnotes or observations). So 31, or more than half, came out as plurality or effectively plurality judgments.“16 11
Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 12 ff. 12 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 14 f.; Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 40. 13 Vgl. für das Zivilrecht v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 159; s. auch Austin, Northern Illinois University Law Review, Vol. 31 (2010), S. 19, 30. 14 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 255. 15 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 277 f. 16 Hale, UK Supreme Court Blog v. 25.10.2010. Sie plädiert für einen „flexible approach in which each Justice is free to write but a climate of collegiality and co-operation in plurality judgments is encouraged“. Dies sei notwendig, um zwei Prinzipien miteinander in Einklang
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B. Dissenting, concurring und seriatim opinions
Ernst bleibt bei seiner Bewertung der Bedeutung dieser neueren Entwicklungen aber zurückhaltend: „Obschon die Entscheidungsfindung in manchen Gerichten Englands […] durch kollegialische Elemente angereichert erscheint, hat sich an dem grundlegenden Ausgangspunkt nichts geändert […].“ Ein „Übergang zu einem echten Kollegialsystem, das den Richtern keine andere Wahl lassen würde als die Herstellung eines unitarischen Urteilsbeschlusses, hat weder in England (und den ins englische Rechtssystem integrierten Jurisdiktionen) noch in den USA stattgefunden“.17 Aus der britischen Rechtstradition bleiben also einerseits die lange bestehende Praxis der seriatim opinions, andererseits die teilweise Entwicklung bei Kollegialgerichten hin zu einer gemeinschaftlicheren Rechtsfindung festzuhalten. Die Methode der seriatim opinions muss strikt von den dissenting opinions getrennt werden, schließlich gibt es bei der Abgabe von einzelnen Voten der Richter*innen, die später zu einer Rechtserkenntnis zusammengefasst werden, keine der Gerichtsmeinung widersprechenden Meinungen, sondern lediglich separate Voten.18 Grundsätzlich weisen seriatim und dissenting opinions aber eine gemeinsame Grundstruktur auf, da es sich jeweils um individuelle Voten von Richter*innen handelt.
II. Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika Zwar werden dissenting und concurring opinion insbesondere mit dem U. S. Supreme Court in Verbindung gebracht, doch auch dort war diese Praxis nicht von Anfang an bekannt. Dies lässt sich zunächst durch den Einfluss der britischen Rechtstradition erklären: Die amerikanischen Juristen übernahmen viele Praktiken und Institutionen aus dem common law. Viele der staatlichen Gerichte wurden nach einem traditionellen englischen System eingerichtet, so dass in jedem staatlichen Gericht und in den ersten Jahren des Obersten Gerichtshofs amerikanische Richter die Praxis der seriatim opinions fortsetzten.19 Jedoch nicht überall: In mehreren Bundesstaaten wurde die kollegiale Methode von Manszu bringen: „that each Justice must take full responsibility for his or her own decision and not simply slip-stream the others“ und „that the Court should be sensitive to the needs of its consumers; it is possible that higher court advocates welcome separate opinions because they give them something to argue about in the next case, and that academics welcome them because they give them something to write about; but lower courts mostly want clear guidance, as do most potential litigants“. 17 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 281 f. 18 Das lässt sich auch bei Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 6, erkennen, der zwischen der „collection of opinions from each judge without an opinion of the court as a whole […]“ und der „opinion of a majority of the judges […] along with any concurring or dissenting opinion“ unterscheidet. 19 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 15; Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 41.
II. Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika
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field als Mittel zur Stärkung der Macht der Gerichte gegenüber den anderen Regierungszweigen übernommen. Man hatte vor allem erkannt wie Mansfield mit seiner Methode den Einfluss seines Gerichts gesteigert hatte und eiferte diesem Modell nun hinterher.20 Andere kritisierten diese Entwicklung: Insbesondere der Republikaner Thomas Jefferson war ein einflussreicher Gegner der opinion of the court, was in einem Briefausschnitt sehr deutlich wird: „An opinion is huddled up in conclave, perhaps by a majority of one, delivered as if unanimous, and with the silent acquiescence of lazy or timid associates, by a crafty chief judge, who sophisticates the law to his own mind, by the turn of his own reasoning.“21
Zu Beginn seiner Tätigkeit war der U. S. Supreme Court stark von der englischen Tradition beeinflusst und übernahm die Methodik der seriatim opinions. Die Probleme, welche diese Entscheidungsweise des Gerichts bereits im englischen Rechtssystem verursacht hatte, traten nun auch in den Vereinigten Staaten zutage: der Supreme Court war weit davon entfernt eine mächtige Institution zu sein und es bestand eine große Rechtsunsicherheit.22 Die Föderalisten wie etwa der erste Chief Justice John Jay (Amtszeit 1789–1795) wollten die Macht des Supreme Courts stärken, um die Vorherrschaft des Bundesrechts zu gewährleisten, konnten sich gegen die dominierende antiföderalistische Haltung gegenüber der Bundesjustiz aber nicht durchsetzen.23 Mit Oliver Ellsworth gelangte im Jahr 1796 als dritter Chief Justice ein starker Befürworter föderaler Staatsgewalt an die Spitze des Supreme Court. Er war der Ansicht, dass durch den Erlass von Entscheidungen, die ohne Widerspruch für den Gerichtshof als Ganzes sprechen würden, die Macht des Gerichts und damit die Macht der Bundesregierung gestärkt würde. Ellsworth versuchte daher die Zahl der per seriatim opinion ergangenen Entscheidungen zu reduzieren. Krankheitsbedingt währte seine Amtszeit allerdings nur bis 1800, weshalb sich seine Reformideen nicht durchsetzen konnten. Ihm werden aber entscheidende Impulse für die weitere Entwicklung zugeschrieben.24
20 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 15. Als Beispiel wird Virginia genannt. Nachdem der dortige Richter Pendleton jedoch durch Richter Spencer Roane ersetzt wurde, kehrte man auch schnell wieder zur seriatim opinion zurück. 21 Brief von Thomas Jefferson an Thomas Ritchie (25.12.1820), zit. nach Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 8, Fn. 38; zur Rolle Jeffersons vgl. auch Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 47 ff. 22 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 18. 23 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 18. 24 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 19; s. auch Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 42 f. mit einigen Fällen aus dieser Zeit.
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B. Dissenting, concurring und seriatim opinions
Den wirklichen Durchbruch schaffte der Supreme Court, sowohl was seine Machtstellung, als auch die Abkehr von seriatim opinions betraf, erst in der folgenden Ära des Chief Justice John Marschall (Amtszeit 1801–1835). Während seiner ersten 16 Jahre erörterte der Gerichtshof nur etwa 60 größtenteils bedeutungslose Fälle und als die Regierung 1800 nach Washington zog, arbeitete der Gerichtshof unter prekären Bedingungen.25 Es stand also eher schlecht um den Supreme Court als Marshall seinen Dienst antrat. Er wurde noch von Präsident John Adams ernannt, der im Gegensatz zu seinem Nachfolger Thomas Jefferson als Föderalist galt und damit für eine Stärkung der judikativen Bundesgewalt eintrat. Marshall erhöhte die Macht des Gerichts gegenüber den anderen Regierungszweigen, indem er die Art und Weise wie das Gericht entschied und seine Entscheidungen verkündete umfassend veränderte, genau wie Mansfield es in England aus ähnlichen Gründen getan hatte. Marshall gab die Tradition der seriatim opinion auf und etablierte eine opinion of the court, die mit einer Stimme für alle Richter sprechen sollte. Etwa 90 % der Gerichtsmeinungen in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit wurden unter seinem Namen publiziert, was aber auch bedeuten konnte, dass ein anderer Richter diese zuvor verfasst hatte.26 Nach der Etablierung der opinion of the court war es Richtern nach wie vor möglich eigene Voten, nun in Form einer abweichenden Meinung, abzugeben. Ein erster Widerspruch gegen die Gerichtsmeinung wurde im Jahr 1804 veröffentlicht, als Justice Samuel Chase mit kurzer Begründung eine concurring opinion abgab.27 Es folgte die erste dissenting opinion im Jahr 1805 durch Justice Bushrod Washington.28 Bis zum Ende der Amtszeit von Chief Justice Marshall im Jahr 1835 gab es bei 1187 opinions of the court nur 87 concurring oder dissenting opinions. Dies entspricht einer Rate von sieben Prozent – der niedrigsten Quote einer Amtsperiode in der Geschichte des Supreme Court.29 Marshall hatte sich mit seinem Kurs, möglichst auf einstimmige Entscheidungen zu setzen, um den Einfluss des Gerichtshofs zu stärken, durchgesetzt. Wenn es abweichende Meinungen oder Begründungen gab, wurde von den jeweiligen Richtern stets betont, dass es sich um einen besonders wichtigen Fall gehandelt habe, wobei Bedeutsam25 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 20. 26 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 20 ff. Hierbei muss aber auch beachtet werden, dass diese Abkehr von seriatim opinions ein Prozess war: Bis zum Jahr 1808 kam es in Einzelfällen noch zu Entscheidungen durch seriatim opinions – jedes Mal ohne die Mitwirkung von Marshall, etwa wegen Abwesenheit. Um das Jahr 1814 war dann schließlich die Praxis, dass ein Richter die opinion of the court verfasste, etabliert, so Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 46. 27 Head & Amory v. Providence Insurance Company, 6 U. S. 127, 169 (1804); dazu auch Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 150 f., 155. 28 United States v. Fisher, 6 U. S. 358, 397 (1805). 29 Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 47.
II. Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika
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keit mit dem Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Frage oder einer besonderen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gleichgesetzt wurde.30 Auch in der folgenden Amtsperiode des Chief Justice Roger Brooke Taney (bis 1864) setzte sich eine eher zurückhaltende Praxis mit abweichenden Voten grundsätzlich fort – eine weit überwiegende Zahl der Entscheidungen blieb auch in dieser Zeit ohne veröffentlichte abweichende Meinung oder Begründung. Lediglich die Intention bzw. Begründung von Richtern, warum sie Sondervoten abgaben, änderte sich: Vermehrt war nun zu lesen, dass sie sich gezwungen fühlten, abweichende Voten zu schreiben, um die Konsistenz ihrer persönlichen Ansichten zu wahren. Sie wollten nicht mit einer bestimmten Mehrheitsmeinung innerhalb des Gerichts assoziiert werden. Diesem Aspekt wird zugeschrieben, mit dafür verantwortlich zu sein, dass sich der Supreme Court mehr und mehr zu einem Kolleg von Individuen, statt einer geschlossenen Einheit entwickelte.31 Ein Blick auf die Statistik der abgegebenen Sondervoten beim Supreme Court zeigt, dass sich an dieser zurückhaltenden Praxis bis 1940 nicht wesentlich etwas änderte: So lag die Quote von Entscheidungen mit abweichenden Meinungen in den Amtszeiten der jeweiligen Chief Justices bis 1940 stets bei unter zehn Prozent.32 Dies ist umso erstaunlicher, wenn man den geschichtlichen Kontext dieser von Kriegen und ökonomischer Krisen geprägten Zeit mitbedenkt.33 Die Motive der Richter*innen, ein Sondervotum zu veröffentlichen, erweiterten sich allerdings stetig: Wenn ein Fall erhebliche praktische Folgen hatte, wenn die Mehrheit eine frühere Entscheidung ignorierte oder wenn sie inhaltlich einfach nicht einverstanden waren, hielten die Richter*innen ein abweichendes Votum nun für gerechtfertigt. Kelsh zieht daraus den Schluss, dass sich der Anwendungsbereich, in dem Sondervoten für angemessen gehalten wurden, erweitert habe.34 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Supreme Court zu einem in ideologische Blöcke zersplitterten Gericht.35 Die immer noch niedrigen Zahlen von abgegebenen Sondervoten zeigt aber auch, dass trotz dieser Tendenzen offensichtlich noch die Meinung vorherrschte, dass abweichende 30
Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 150 f., 155. Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 153 ff. 32 Statistik bei Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 28. 33 Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361 f. 34 Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 165. 35 Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 170. Prominentes Beispiel sind die „Four Hoursemen of the Supreme Court“ bestehend aus den Richtern Pierce Butler, James C. McReynolds, George Sutherland und Willis Van Devanter. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sie einen konservativen Block im Supreme Court, insbesondere die Reformen der Roosevelt-Regierung ablehnend, vgl. Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 25, 222. 31
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B. Dissenting, concurring und seriatim opinions
Voten möglichst zu vermeiden seien.36 Ab 1941 erlebte die Praxis der Sondervoten beim Supreme Court aber einen radikalen Wandel; die Anzahl der Entscheidungen mit einem abweichenden Votum stieg rasant.37 Im Jahr 1948 kam es erstmals dazu, dass die Anzahl der abweichenden Meinungen die Anzahl der opinions of the court überstieg.38 Die Rate der Entscheidungen mit mindestens einem abweichenden Votum stieg unter dem Chief Justice Harlan Fiske Stone (1941–1945) auf 27 % während seiner Amtszeit; zuvor lag diese Rate immer unter zehn Prozent.39 Warum es zu dieser plötzlichen Steigerung der Abgabe von Sondervoten kam, ist eine im US-amerikanischen Raum intensiv diskutierte Frage. Einige nutzen den Judiciary Act aus dem Jahr 1925, mit dem die obligatorischen Zuständigkeiten des Supreme Court ausgelagert wurden, als Begründungsansatz. Dies habe den Richtern mehr Freiheit über die Annahme der zu bearbeitenden Fälle gegeben, sodass am Ende mehr kontroverse Sachverhalte übriggeblieben seien, was wiederum zu weniger einstimmigen Entscheidungen geführt habe.40 Dies wird von anderen wiederum deshalb bestritten, als der Anstieg der nichteinstimmigen Entscheidungen erst fünfzehn Jahre nach dieser Reform zu verzeichnen sei. Der Wandel sei vielmehr mit der Rolle des Chief Justice Harlan Fiske Stone (Amtszeit 1941–1946) zu erklären.41 Die Anhänger*innen dieser Ansicht können sich dabei auf Statistiken berufen, die den signifikanten Anstieg der abweichenden Voten in seiner Amtszeit verzeichnen. Sie beschreiben ihn als unfähige Führungspersönlichkeit und verweisen auf seine, der bis dato geltenden Doktrin widersprechenden, Ansicht, dass die angestrebte Einstimmigkeit des Gerichts für die Entwicklung des Rechts nicht förderlich sei.42 Dies wird mit seinen vorherigen beruflichen Erfahrungen in Verbindung gebracht: So sei Stone der erste Akademiker als Chief Justice gewesen, der deshalb auch mehr für eine offenere Debatte übriggehabt habe. Schon als Associate Justice habe er oft dissenting opinions verfasst und sich als Anhänger dieses richterlichen In36
Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 166. Statistiken bei Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 177 und Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 27. 38 Kelsh, Washington University Law Review, Vol. 77, Issue 1 (1999), S. 137, 178. 39 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 28 f. Während der Amtszeit der folgenden Chief Justices stieg diese Rate noch weiter: Vinson (1946–1952) 48 %, Warren (1953–1968) 50 %, Burger (1969–1985) 59 %, Rehnquist (1986–2005) 56 %, Roberts (seit 2005) 47 % (Stand 2007). 40 Halpern/Vines, The Western Political Quarterly, Vol. 30, No. 4 (1977), S. 471 ff., die aber auch klarstellen, dass es sich nicht um den einzigen Faktor handele. 41 Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361, 365 ff. 42 Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 217 f.; Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 30 f.; Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361, 379 ff.; Cross/Lindquist, University of Pennsylvania Law Review, Vol. 154 (2006), S. 1665, 1681. 37
II. Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika
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struments offenbart.43 Auch während seiner Amtszeit als Vorsitzender hat Stone mit 13 % bei mehr Entscheidungen ein Sondervotum verfasst als jeder andere Chief Justice zuvor.44 Andere sind darüber hinaus der Ansicht, dass die Beförderung eines Associate zum Chief Justice für die sinkenden Konsensorientierung mitverantwortlich gemacht werden könne: Interne Beförderungen führten zu innergerichtlichen Konflikten und verursachten Verbitterung, die durch Eifersucht oder frühere zwischenmenschliche Konflikte ausgelöst würden. Dadurch sei der Führungsanspruch eines solchen Chief Justice beeinträchtigt.45 Dies wird mit dem überzeugenden Argument bestritten, dass unter Chief Justice White (Amtszeit 1910–1921), der ebenfalls vor seiner Führungsposition sechzehn Jahre als Associate Justice gedient hatte, kein signifikanter Anstieg der Sondervoten zu verzeichnen gewesen war.46 Als weitere Erklärungsansätze für den radikalen Anstieg der abweichenden Meinungen werden der hohe Anteil neuer Richter während der Amtszeit Stones (immerhin vier neue Richter in fünf Jahren) und deren Unerfahrenheit mit der Gerichtspraxis angegeben. So seien etwa drei neue Richter direkt aus dem Senat an den Supreme Court gewählt worden, die dadurch bei Amtsantritt nicht mit der konsensorientierten Suche nach richterlichen Entscheidungen, sondern mit der Freiheit der Rede und der lebhaften Diskussion vertraut waren.47 Dagegen kann ein Anstieg der Fallzahlen wohl nicht für eine vermehrte Abgabe von Sondervoten verantwortlich gemacht werden: Wie Statistiken von Henderson zeigen, ist sogar zu beobachten, dass sich der Anstieg der dissenting opinions parallel zu einem Rückgang der Fallzahlen vollzog.48 Er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass nicht die Anzahl, sondern die Art der Fälle für diese Entwicklung verantwortlich war. Darüber hinaus seien Gesellschaft und Recht in dieser Zeit von großem Wandel geprägt gewesen.49 Ein von vielen Sondervoten geprägter Supreme Court ist das Bild, was sich seit der Amtszeit von Stone nicht mehr ändern sollte. In der US-amerikanischen Wissenschaft wird dem eine Dammbruchwirkung zugeschrieben: „At this point, however, it is unclear that a Chief Justice has the power to reverse the frequency of dissents and concurrences. Once the Pandora’s Box was opened by Chief Jus-
43
Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 30 f.; Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 218. 44 Urofsky, Dissent and the Supreme Court, S. 219. 45 Mason, Harlan Fiske Stone, S. 52. 46 Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361, 371. 47 Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361, 372 ff. 48 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 32; zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch bereits Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361, 366. 49 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 32.
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B. Dissenting, concurring und seriatim opinions
tice Stone, the Chief’s ability to influence independent decision making by Associate Justices may have become quite limited.“50 „Once the genie was out of the bottle, it was impossible to put it back in.“51
Der derzeitige Chief Justice John Roberts hat sich zu Beginn seiner Amtszeit als Anhänger eines konsensorientiert arbeitenden Supreme Courts positioniert.52 Bei Aussagen von anderen Mitgliedern des Gerichtshofs zu dieser Zeit wird aber deutlich, dass dieser Prozess nicht unkritisch hingenommen wurde: So schrieb etwa die mittlerweile verstorbene Justice Ruth Bader Ginsburg, dass sie den Wert einstimmiger Entscheidungen zwar schätze, sie sich aber weiterhin in wichtigen rechtlichen Fragen die Abgabe einer dissenting opinion offenhalten werde. Dabei betonte sie insbesondere den Wert der Sondervoten für den internen Prozess der Entscheidungsfindung, die dafür sorgten, dass die Verfassenden der Mehrheitsmeinung (majority opinion) ihren Entwurf schärfer und klarer formulierten.53 Roberts konnte sich mit seinem auf unanimity ausgerichteten Kurs im Gericht letztlich nicht durchsetzen: Von 2010 bis 2018 lag die Quote der 9:0-Entscheidungen durchschnittlich bei nur 49 %, im Jahr 2018 sogar nur bei 38 %54, im October Term 2020 bei 43 %.55 Auch die Zahl der dissenting und concurring opinions bleibt in seiner Amtszeit hoch: Im October Term 2018 standen 72 50 Cross/Lindquist, University of Pennsylvania Law Review, Vol. 154 (2006), S. 1665, 1681; ähnlich Walker/Epstein/Dixon, The Journal of Politics Vol. 50, No. 2 (1988), S. 361, 385. 51 Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 35. 52 Dazu und gleichzeitig Kritik an dieser Ausrichtung Stone, The University of Chicago Faculty Blog, 02.02.2007; ebenfalls krit. Austin, Northern Illinois University Law Review, Vol. 31 (2010), S. 19, 31 und Henderson, University of Chicago Public Law & Legal Theory Working Paper No. 186, 2007, S. 43. 53 Ginsburg, Minnesota Law Review, Vol. 95, No. 1 (2010), S. 1, 3 ff. 54 SCOTUSblog, Final Stat Pack for October Term 2018, S. 5: Während im October Term 2018 27 Entscheidungen einstimmig ergingen, stimmte bei 45 Entscheidungen mindestens ein*e Richter*in gegen die opinion of the court. In 29 % der Entscheidungen (!) erging diese mit fünf zu vier Stimmen. Beachtet werden muss dabei aber auch, dass in der Statistik mehrere Stufen der Einstimmigkeit (unanimity) genutzt werden, ebd., S. 16: Der „engste“ Begriff der Einstimmigkeit dürfte unserem Verständnis entsprechen: „When all justices joined a single majority opinion in full, without any justices writing separate concurring opinions. This is the narrowest measure of unanimity because it requires that the justices agree in full and without any written reservations or additions.“ Bei diesem Verständnis von Einstimmigkeit liegt die Quote sogar nur bei 26 % der Entscheidungen des October Terms 2018. Der weitere Begriff der Einstimmigkeit wird definiert als: „When all justices joined some part of the same majority opinion, but one or more justices (1) wrote separately to state an individual position or (2) did not join the majority opinion in full.“ Hier liegt die Quote des October Terms 2018 bei 7 %. Der weiteste Begriff der Einstimmigkeit lautet: „When all justices simply voted for the same judgment – i. e., whether to affirm or reverse the judgment below. This is the broadest measure of unanimity because it allows for justices to write separate opinions – and sometimes even conflicting ones – as long as each justice voted to affirm or reverse the decision below.“ Hier liegt die Quote des October Terms 2018 bei 6 %. 55 SCOTUSblog, Stat Pack for the Supreme Court’s 2020–21 term, S. 9.
III. Fazit
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majority opinions (Ansicht der Mehrheit und damit auch die Entscheidung des Gerichts), 37 concurring und 58 dissenting opinions gegenüber. Dies entspricht auch etwa dem Durchschnitt für seine bisherige Amtszeit seit 2005 (76 majority opinions, 44 concurring, 52 dissenting opinions).56 Grundsätzlich bleibt der Supreme Court also bei seiner seit Mitte des 20. Jahrhunderts bestehenden Praxis einer regen Veröffentlichung von richterlichen Einzelvoten, die die Anzahl der majority opinions deutlich übersteigen.
III. Fazit Im Rechtskreis des Vereinigten Königreichs war es lange Zeit üblich, Gerichtsentscheidungen der Kollegialgerichte im Wege der seriatim opinions zu treffen. Erst durch den dadurch berühmt gewordenen Lord Mansfield gab es Bestrebungen, diese Praxis zu ändern. Seine Reformideen konnten sich allerdings nicht dauerhaft durchsetzen, sodass auch heute noch derart bei britischen Gerichten verfahren wird. In jüngerer Vergangenheit zeigen sich allerdings Tendenzen, die Entscheidungsfindung kollegialer zu gestalten und damit auch vermehrt zu einstimmigen oder zumindest mehrheitlichen Entscheidungen zu gelangen. Beim Supreme Court of the United States ist es interessant zu beobachten, wie die Art der richterlichen Entscheidungsfindung auch mit der Machtstellung des Gerichts im Gefüge der Staatsgewalten zusammenhing. Erst durch eine konsensorientierte Entscheidungspraxis konnte sich der Supreme Court im föderativen System behaupten. Umgekehrt lässt sich auch sagen, dass die seriatim opinion die Autorität des Gerichts begrenzte.57 Erst mit der Einführung der opinion of the court konnte das Gericht an Einfluss gewinnen und für Rechtsklarheit sorgen. Diese Praxis wiederum ermöglichte erst die Veröffentlichung von dissenting und concurring opinions. Mit diesen Instrumenten gingen die Richter des Supreme Courts, was aus heutiger Sicht überrascht, lange Zeit sehr zurückhaltend um. Seit 1940 dominiert dagegen das Bild eines ideologisch gespaltenen und daher nicht konsensfähigen Gerichtshofs.58 Etliche Neubesetzungen in der Präsidentschaft Donald Trumps führten zur Stärkung einer stark konservativen Mehrheit, was die Gräben im Gericht für die nächsten Jahrzehnte noch tiefer ziehen dürfte. Im Mai 2022 fand diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt, als ein Entscheidungsentwurf der Gerichtsmehrheit einer 56
SCOTUSblog, Final Stat Pack for October Term 2018, S. 9. Austin, Northern Illinois University Law Review, Vol. 31 (2010), S. 19, 26 f. Eine erhellende Analyse der heutigen Situation am U. S. Supreme Court findet sich bei Lübbe-Wolff, FAZ v. 6.10.2020, S. 11. Sie vertritt die überzeugende These, dass die „Polarisierung“ des Gerichts nicht nur mit der aufgeheizten politischen Lage, sondern auch „Konstruktionsfehler[n] im institutionellen Design“, insbesondere einer mangelhaften Beratungskultur, zu erklären sei. 57 58
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B. Dissenting, concurring und seriatim opinions
amerikanischen Tageszeitung aus bis dahin unbekannt gebliebener Quelle zugespielt wurde59 – ein beispielloser Bruch des Beratungsgeheimnisses und die darauffolgende Diskussion um Abtreibungsrechte zeigte abermals, in welch politisch aufgeladener Situation sich der Supreme Court befindet. US-Präsident Joe Biden setzte im Jahr 2021 eine Kommission aus renommierten Verfassungsrechtler*innen (Presidential Commission on the Supreme Court of the United States) ein, um Reformierungsansätze auszuloten, welche im Dezember 2021 ihren Abschlussbericht vorlegte.60 Dass es zu tiefgreifenderen Reformen – etwa einer Amtszeitbegrenzung für Richter*innen – kommt, dürfte allerdings als ausgeschlossen gelten. Der Blick auf englische und US-amerikanische Entscheidungspraktiken von Kollegialgerichten hat ein heterogenes Bild offenbart. Es kann insofern nicht von einer einheitlichen anglo-amerikanischen Rechtstradition gesprochen werden. Die Praxis der seriatim opinions und der opinion of the court mit der Möglichkeit von dissenting und concurring opinions müssen zwingend voneinander unterschieden werden. Beide Methoden haben es aber gemein, das Individuum deutlich stärker als das (anonyme) Kollegialgericht in den Mittelpunkt zu rücken. Letzteres verbinden wir mit der kontinentaleuropäischen Rechtstradition, insbesondere Deutschland.61 Dies wird bei der folgenden Analyse der Historie und Praxis des Sondervotums beim BVerfG noch deutlich werden.
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Gerstein/Ward, Politico v. 02.05.2022; instruktiv dazu Stein, Verfassungsblog v. 04.05.2022. 60 Presidential Commission on the Supreme Court of the United States, Final Report, December 2021. 61 Prägnant Ginsburg, Minnesota Law Review, Vol. 95, No. 1 (2010), S. 1, 3; rechtsvergleichend Lepsius, JöR Bd. 64 (2016), S. 123 ff.
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht „Die Institution des Bundesverfassungsgerichts und der Umfang der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie durch das Grundgesetz geschaffen worden sind, haben kein Vorbild.“1 Bundesverfassungsgericht
Im deutschen Rechtskreis ist das veröffentlichte richterliche Sondervotum eine Ausnahme; wir kennen es bisher nur beim BVerfG und einigen Landesverfassungsgerichten.2 Bis zur Einführung der abweichenden Meinung per Gesetzesänderung war es ein steiniger Weg. Die intensiven und kontroversen Debatten, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreichen, werden daher ausführlich dargestellt und bewertet (I.). Im Anschluss wird der Fokus auf die Praxis des BVerfG gerichtet. Dazu wird zunächst eine empirische Analyse angestellt (II.), wodurch ein Überblick darüber möglich wird, inwiefern sich dieses richterliche Instrument in der Rechtsprechung des Gerichts etabliert hat. In einem zweiten Schritt wird eine Analyse durchgeführt (III.), die unter der Leitfrage steht, welche Rolle dem Sondervotum vor dem Hintergrund der Funktionen des BVerfG eigentlich zukommt. Dies führt letztlich dazu, eigene Funktionen des Sondervotums zu bestimmen.
I. Historische Entwicklung Die Möglichkeit der Veröffentlichung von abweichenden Meinungen von Bundesverfassungsrichter*innen wurde durch Änderung des BVerfGG vom 21.12.1970 in § 30 Abs. 2 BVerfGG geschaffen.3 Dem ging ein intensiver politischer und rechtswissenschaftlicher Diskurs voraus, der hier näher beleuchtet werden soll (2.). Um zu verdeutlichen, warum es eigentlich zu einer derartigen Kontroverse kommen konnte, wird in einem Vorschritt dargestellt, dass eine veröffentlichte abweichende Meinung bei deutschen Gerichten etwas Außergewöhnliches ist (1.). 1
BVerfGE 2, 79, 84 – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Nachweise s. Fn. 5. 3 BGBl. I. S. 1765. In Kraft trat die Gesetzesänderung am 22.12.1970. 2
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
1. Die geheime Beratung und Abstimmung im Kollegialgericht als Grundsatz Kollegialgerichte sind geheim beratende und abstimmende Gremien – dieser Grundsatz ist im deutschen Rechtskreis seit Langem fest verankert. Die aktuelle Rechtslage ist hier eindeutig (a). Ein Blick auf die historische Entwicklung verrät, dass diese Art und Weise der kollegialen Rechtsfindung aber keineswegs selbstverständlich ist (b). Insbesondere die Ausgestaltung der Beratung als Prozess der gemeinsamen Abfassung eines einheitlichen Entscheidungstextes war lange Zeit nicht die praktizierte Arbeitsweise in Kollegialgerichten.
a) Aktuelle Rechtslage Nach § 30 Abs. 1 S. 1 BVerfGG entscheidet das BVerfG „in geheimer Beratung“. Dies ist keine Besonderheit der Verfassungsgerichtsbarkeit: Der § 192 Abs. 1 GVG hält zunächst fest, dass Richter*innen „nur in der gesetzlich bestimmten Anzahl mitwirken“ dürfen. Dies wird durch § 193 Abs. 1 GVG konkretisiert, der klarstellt, dass bei „Beratung und Abstimmung“ nur die „zur Entscheidung berufenen Richter[n]“, Rechtsreferendar*innen sowie wissenschaftliche Hilfskräfte anwesend sein dürfen. Der Öffentlichkeitsgrundsatz des Gerichtsverfahrens wird also bereits durch die an der Willensbildung innerhalb des Gerichts teilnehmenden Personen eingeschränkt, „um eine möglichst eindeutige und unbeeinflusste Beratung und Entscheidungsfindung zu ermöglichen“.4 Für eine konstruktive Zusammenarbeit von Richter*innen in einem Organ sei es notwendig, sich untereinander abzustimmen, bevor eine (veröffentlichte) Entscheidung gefällt wird. Die Beratung soll es ermöglichen, den jeweiligen Sachverhalt intensiv zu diskutieren, Argumente auszutauschen und Konsequenzen einer Entscheidung zu bedenken.5 Kurz gesagt: die Öffentlichkeit ist im Entscheidungsprozess eines professionellen Gerichts unerwünscht und wird als störend empfunden.6 Neben dieser personellen Begrenzung der am Beratungsprozess Beteiligten wird durch § 43 DRiG, welcher nach § 45 Abs. 1 S. 2 DRiG auch für ehrenamtliche Richter*innen gilt, eine richterliche Schweigepflicht festgelegt: „Der Richter hat über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen.“ 4 Zimmermann, in: Rauscher/Krüger, MüKo ZPO, § 192 GVG, Rn. 1. Diese Vorschrift findet auch in anderen (Fach-)Gerichtsbarkeiten Anwendung und ist damit weit verbreitet, s. §§ 55 VwGO, 9 Abs. 2 S. 1 ArbGG, 61 Abs. 2 SGG. 5 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 106; Federer, JZ 1968, S. 511, 512. 6 Zur neueren Diskussion um mehr Transparenz und Öffentlichkeit von Gerichtsprozessen s. ausführlich Bernzen, Gerichtssaalberichterstattung; v. Coelln, Christian, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt; Walther, JZ 1998, S. 1145 ff.
I. Historische Entwicklung
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Die geheime Beratung und Abstimmung ist ein zwingender Grundsatz, der nicht zur Disposition des Gerichts steht7 und bei dessen Verstoß Rechtsmittel geltend gemacht werden können. Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht stellt die Nichtbeachtung des § 193 GVG sogar einen absoluten Revisionsgrund nach § 547 Nr. 1 ZPO und einen Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO dar.8 Die mehrheitlichen Stimmen in der Literatur vertreten hingegen die Ansicht, dass die unbefugte Anwesenheit Dritter nicht schade, wenn die Beeinflussung der Entscheidungsfindung ausgeschlossen sei.9 Auch die Rechtsprechung prüft überwiegend im Einzelfall, ob das Urteil tatsächlich auf einem Verstoß des § 193 GVG beruht, geht also nicht von einem absoluten Revisionsgrund aus.10 Insgesamt wird jedoch auch in der Rechtsprechung der Grundsatz streng ausgelegt. Somit zeigt sich, dass dem Beratungsgeheimnis der Kollegialgerichte in Praxis und Wissenschaft ein großer Stellenwert eingeräumt wird, wenn auch mit gewissen Abstufungen hinsichtlich der Folgen eines Verstoßes gegen die gerichtsverfassungsrechtliche Norm. In der jungen Bundesrepublik gab es interessanterweise keine explizite Regelung zum Beratungsgeheimnis für Richter*innen bei ordentlichen Gerichten,11 sondern nur für Schöff*innen und Geschworene.12 Die Berufsrichter seien ohnehin durch ihre beamtenrechtliche Amtspflicht zur Verschwiegenheit verpflichtet, so eine bei Verabschiedung der Reichsjustizgesetze weit verbreitete Ansicht.13 Andere trennten strikt zwischen der allgemeinen beamtenrechtlichen Amtsverschwiegenheit und dem richterlichen Beratungsgeheimnis im speziellen: Während die allgemeine beamtenrechtliche Pflicht nur gegenüber Dritten, also Nicht-Beamten bestehe, sei das richterliche Beratungsgeheimnis zusätzlich „das alleinige Geheimnis des Kollegiums, das auch den Vorgesetz7 Vgl. dazu den skurrilen Fall VGH Kassel, NJW 1981, 599 f., in dem alle an der Beratung teilnehmenden Richter*innen und Schöff*innen auf die Einhaltung des Beratungsgeheimnisses verzichtet hatten, um einem Studierenden der Kunstgeschichte die Teilnahme an einem Verfahren bezüglich rechtlicher Probleme bei Denkmalschutz zu ermöglichen. Der VGH stellte klar: „Die Zustimmung der Beteiligten zur Teilnahme einer gerichtsfremden Person an der Urteilsberatung und Abstimmung ist unbeachtlich. […] Die geheime Entscheidungsfindung (Beratung und Abstimmung) durch das Gericht ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit.“ 8 Zimmermann, in: Rauscher/Krüger, MüKo ZPO, § 193 GVG, Rn. 3. Vgl. auch VGH Kassel, NJW 1981, S. 599 f., das in Folge des Verstoßes von einer fehlerhaften Besetzung des Gerichtes ausgeht. 9 Hartmann, in: Baumbach ZPO, § 193 GVG, Rn. 6; Jacobs, in: Stein/Jonas ZPO, § 193 GVG, Rn. 9; Lückemann, in: Zöller ZPO, § 193 GVG, Rn. 8. 10 Ausdrücklich BAG NJW 1967, S. 1581 f.; bzgl. der Teilnahme von Ergänzungsrichtern vgl. BGH NJW 1963, S. 1463, 1464; bzgl. der Teilnahme von Jurastudierenden vgl. OLG Bremen NJW 1959, S. 1145, 1146; anders dagegen BVerwGE 5, 85 ff. 11 Anders etwa für das BVerfG, siehe § 30 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. 12 Kohlhaas, NJW 1953, S. 401, 402; Schmidt-Räntsch, JZ 1958, S. 329. 13 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 181; RGSt 26, 202, 204; RGSt 60, 295, 296; RGZ 89, 13, 16 f.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
ten, unbeteiligten Kollegen und Untergebenen gegenüber gewahrt wird“.14 Grundlage dieser zusätzlichen richterlichen Pflicht sei (mittelbar) der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, die nur gewahrt sei, wenn die richterliche Beratung und Abstimmung im Nachhinein nicht durch andere überprüfbar sei.15 Zusätzlich wurde argumentiert, dass von der beamtenrechtlichen Schweigepflicht durch den*die Vorgesetzte*n entbunden werden könne, während das richterliche Beratungsgeheimnis gerade keine solche Ausnahme zulassen dürfe.16 Von manchen wurde die Pflicht zur Verschwiegenheit „zumindest aus Gewohnheitsrecht“ abgeleitet und eine explizite Kodifikation befürwortet.17 Diese Diskussion um die rechtliche Grundlage einer richterlichen Verschwiegenheitspflicht wurde mit Einführung des bereits genannten § 43 DRiG zum 01.07.1962 obsolet.18 In der Bundesrepublik war man sich also zunächst über die Rechtsgrundlage der richterlichen Verschwiegenheitspflicht uneins, dessen Existenz wurde von den weit überwiegenden Stimmen aber nicht bestritten.19
b) Historische Entwicklung Der Blick in die Geschichte offenbart, dass die heute in Deutschland etablierte Art der richterlichen Beratung keinesfalls selbstverständlich ist. Zunächst ist festzuhalten, dass das richterliche Kollegium wie wir es heute kennen lange Zeit völlig anders ausgestaltet war. Bis in die Neuzeit war es üblich, dass die Richter „einer nach dem anderen“ jeweils „in einer begründeten Weise“ ihre Voten ohne vorherige Beratung mit den Kollegen abgaben.20 Diese einzelnen Voten waren nicht lediglich ein Entscheidungsvorschlag oder ein vorbereitender Entwurf, sondern stellten „die eigentliche, prozessentscheidende Spruchtätigkeit der Richter dar.“21 Das ist etwas völlig anderes als ein beratendes und an einem gemeinsamen Entscheidungstext arbeitendes Kollegialgericht, wie wir es heute beim BVerfG erleben. Bis in das Frühmittelalter hinein galt die Rechtsprechung darüber hinaus als Aufgabe des Volkes in Form einer öffentlichen Versammlung. Es herrschte die altdeutsche Ansicht, dass zur Rechtsfindung juristische Kompetenz nicht zwingend erforderlich sei. Der Vorsitzende – der König oder ein Vertreter dessen – fällte nicht etwa das Urteil, sondern leitete lediglich die zur Entscheidung berufene Versammlung.22 Damit ergab sich eine Trennung von Richtern und 14 15
v. Coelln, Das Beratungsgeheimnis, S. 7. v. Coelln, Das Beratungsgeheimnis, S. 8 ff. 16 Schmidt-Räntsch, JZ 1958, S. 329, 330. 17 Schmidt-Räntsch, JZ 1958, S. 329, 330; Spendel, ZStrW 1965, S. 403, 410. 18 Deutsches Richtergesetz v. 08.09.1961, BGBl. I S. 1665. 19 Dagegen wohl nur Scheuerle, ZZP 1968, S. 317, 324 f. 20 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 167. 21 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 167. 22 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 1; Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 80. Diese Praxis ist bereits aus dem antiken Griechenland be-
I. Historische Entwicklung
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Urteilenden; der Richter hatte das Urteil nicht selbst zu fällen, sondern vielmehr zu erfragen und zu vollstrecken.23 Die einzelnen Voten wurden öffentlich abgefragt, abgegeben und das Urteil durch den Richter verkündet. Für Ernst ist es offensichtlich, dass „dabei eine kollegiale Verständigung zwischen den verschiedenen Urteilern nicht stattfand.“24 Im Laufe der Zeit, vor allem auf Reformen Karl des Großen (768–814) zurückgehend, änderte sich diese Praxis dahingehend, dass nur noch wenige Vertreter des Volkes (Schöffen) an der Rechtsprechung beteiligt waren.25 Diese waren zwar immer noch Laien, aber in der Regel „erfahrene und mit dem Recht vertraute Männer“, die auf Lebenszeit ernannt wurden.26 Ab dem 13. Jahrhundert fand eine vermehrte Rezeption römisch-kanonischen Rechts (ius commune) in Deutschland statt.27 Dies sollte die Art und Weise der Rechtsprechung nachhaltig ändern. Die Rezeption des fremden Rechts hatte ihren Ursprung in Oberitalien, wo ab dem 12. Jahrhundert die ersten Universitäten gegründet wurden. Klassische und bis dahin verschollene römische Schriften wurden hierher überliefert, gelehrt und dadurch „bis zum Ende des Mittelalters in Strahlenform über weite Teile Europas verbreitet“.28 Nach Deutschland wurde das römische Recht vor allem durch von der Kirche entsandte Studierende in Bologna und anderen italienischen Universitäten importiert.29 Folglich wuchs der Anteil gelehrter Juristen in Verwaltung und Gerichtsbarkeit und die ersten deutschen Universitäten im 14. Jahrhundert lehrten kanonisches und mit der Zeit auch römisches Recht.30 Das kanonische Recht war schließlich auch für die Entwicklung des Gerichtsverfahrensrechts entscheidend, denn der Prozess fand hier in geschlossenen Räumen und überwiegend schriftlich statt.31 Infolge der Formalisierung und Verschriftlichung kannt. Besonders frappierendes Beispiel ist hierfür die Heleia (eingeführt um 594 v. Chr.) als Kollegialgericht mit 500 Geschworenen, s. Wagner, Der Richter, S. 40. 23 Wagner, Der Richter, S. 45. Dieses System ist heute noch im amerikanischen Strafprozess präsent, in welchem die Geschworenen ohne den*die Richter*in über die Schuld des Angeklagten entscheiden. 24 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 167; ebenso Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 80 f. 25 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 6 f.; v. Coelln, Christian, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt, S. 51 ff. 26 Wagner, Der Richter, S. 46 f. 27 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 18 ff. 28 Wesel, Geschichte des Rechts, S. 307; zur Entwicklung in Oberitalien ausführlich Rainer, Das Römische Recht in Europa, S. 74 ff. 29 Rainer, Das Römische Recht in Europa, S. 118 ff.; Wesel, Geschichte des Rechts, S. 307 f.; zur europäischen Entwicklung insgesamt Koschaker, Europa und das Römische Recht, S. 142 ff. 30 Rainer, Das Römische Recht in Europa, S. 120; Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, S. 235 nennen Deutschland zu dieser Zeit „eine Hochburg des römischen Rechts“. 31 Wesel, Geschichte des Rechts, S. 315; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 22.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
kamen für die Ausübung des Richteramtes nur noch diejenigen in Betracht, die lesen konnten.32 Damit waren laienhafte Schöffen nicht mehr für die Rechtsprechung geeignet und die Gelehrten, die vorwiegend das römische Recht studiert hatten, übernahmen fortlaufend das Richteramt. In diesem Zuge wurde auch die altdeutsche Trennung von Richtern und Urteilern schrittweise aufgegeben.33 Im 17. Jahrhundert waren die Richter aus dem Volk „im wesentlichen beseitigt“.34 Eine Beratungskultur, wie sie uns heute in Kollegialgerichten bekannt ist, bildete sich aber erst Schritt für Schritt heraus. Im römisch-kanonischen Prozessrecht entwickelte sich etwa die Praxis des consilium, also die Vorlage einer Rechtsfrage oder eines Falls insgesamt an einen externen Gutachter.35 In der kirchlichen Rota Romana, die nach Ernst „vielfach zum Modell der Kollegialgerichtsbarkeit“ wurde, traf der Richter (auditor) ein Urteil „nach Befragung der Mitauditoren“.36 Ab dem 14. Jahrhundert entwickelten sich auch Abstimmungsregelungen, nach denen „in Streitfällen die Mehrheit der Koauditoren den Ausschlag“ gab und den zur Entscheidung berufenen Richter band.37 Nach wie vor blieb das Urteil aber jenes des berufenen Richters und nicht des Kollegiums.38 Im Reichskammergericht, dem ab 1495 bis 1806 obersten Gerichts des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation,39 wurde eine Entscheidung im 32 v. Coelln, Christian, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt, S. 56 f. Zu Ausnahmen s. ebd., S. 58 f. 33 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 21 f., der jedoch ebd., Fn. 1 darauf hinweist, dass diese Trennung „nicht sofort und überall aufgegeben“ wurde; vgl. auch Wagner, Der Richter, S. 47; Wesel, Geschichte des Rechts, S. 370. 34 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts S. 22, ebd. auch zu Ausnahmen etwa in Württemberg. 35 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 66 f.; vgl. zu den unterschiedlichen Ausprägungen des consilium, etwa „entscheidungsbestimmend“ und „entscheidungsberatend“, Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, S. 182 ff. 36 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 69; vgl. dazu auch Nörr, ZRG Kant. Abt. 93 (2007), S. 220, 226: „Es war eine Grundvorstellung des Mittelalters, innerhalb wie außerhalb der Kirche, bevor das Urteil gesprochen wurde, den Rat anderer Rechtskundiger (consilium) einzuholen. An diese Praxis hielten sich auch unsere Auditoren; wen sie um das consilium bitten sollten, war freilich nirgends festgelegt. Allmählich bildete sich aber der Brauch heraus, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise die Mitauditoren zu konsultieren. Die Konsultationen nahmen gewisse feste Formen an; man traf sich an bestimmten Tagen der Woche in gemeinsamer Sitzung zur gegenseitigen Beratung. Die Formen folgten aber nicht nur einer an sich freien Observanz, sondern enthielten die doppelte Verpflichtung für den den Fall bearbeitenden Auditor, den Rat der Mitauditoren einzuholen und bei Divergenzen die Ansicht der Mehrheit seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Diese Entwicklung zum Kollegialgericht war vermutlich im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts abgeschlossen.“ 37 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 70; Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, S. 14. 38 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 71; vgl. auch Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, S. 31 f. 39 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 27, 31.
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Wege der Umfrage getroffen: Der „Referent“ trug sein Entscheidungsvotum vor, die „Acessoren“ stimmten darüber ab und eine „anschließende Zählung ergab, ob mit hinreichender Mehrheit eine Entscheidung gefällt worden war.“ Dem Kollegium zugerechnet wurde damit nur der „Tenor“ und das ist „noch nicht dasselbe, wie ein einheitliches, auch einheitlich begründetes Kollegialurteil, das im Wege von Beratung und Abstimmung hervorgebracht wird.“40 Entscheidend, so Ernst, für die Zurechnung einer Entscheidung zu einem Kolleg von Richtern sei „die Vorstellung, dass das Kollegium eine moralische Person“ darstelle.41 Diese Ansicht sei erst „seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ anzutreffen.42 Für die Bedeutung der Beratung ist es zudem wichtig, ob man diese vom Prozess der Abstimmung entkoppelt. Erst dann gewinnt der Beratungsprozess eine eigenständige Relevanz und erst dann handelt es sich um ein Kollegialgericht, wie wir es aus heutiger Praxis kennen. Schröter hat herausgearbeitet, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den deutschen Einzelstaaten Beratung und Abstimmung im Kollegialgericht nicht getrennt waren. Der begründeten Abstimmung durch die einzelnen Richter ging keine offene Diskussion voraus.43 Dies änderte sich im 19. Jahrhundert: „Der Abstimmung geht jetzt regelmäßig eine Beratung vorauß, die meist den Charakter einer freien Diskussion hat […].“44 Ernst stellt die verschiedenen Verfahren treffend als „sukzessiver Einsammlung endgültiger und je für sich begründeter Individualvoten einerseits, der moderneren Kombination von ungebundener Beratung mit abstimmungsweiser Bildung eines gemeinschaftlich zu begründenden Kollegialbeschlusses andererseits“ gegenüber.45 Mit der Verabschiedung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) im Jahr 1877 – das in großen Teilen auch heute noch besteht – wurden nun einheitliche Regelungen geschaffen: § 193 Abs. 1 GVG spricht ausdrücklich von „Beratung und Abstimmung“ und auch § 194 Abs. 1 GVG („Der Vorsitzende leitet die Beratung, stellt die Fragen und sammelt die Stimmen“) lässt eine Trennung dieser beiden Prozesse erkennen.46 Daneben wurde der Grundsatz der öffentlichen 40
Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 74. Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 78. Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 79; zu den Auswirkungen auf die Fragen der Abstimmung im Kollegialgericht vgl. Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, S. 235 ff. 43 Schröter, Der jüngste stimmt zuerst, S. 143. 44 Schröter, Der jüngste stimmt zuerst, S. 143, dort auch Nachweise aus den verschiedenen Verfahrensordnungen. 45 Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, S. 169; vgl. dazu auch Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, S. 264 ff. 46 So schon Schröter, Der jüngste stimmt zuerst, S. 156 f. Vgl. ebd. zu der Diskussion, ob sich die Abstimmungsregel („der jüngere stimmt vor dem älteren“) auch auf die vorausgehende Beratung bezieht. Diese Frage ist hier nicht weiter relevant. Vgl. auch Kissel/Mayer, GVG, § 193, Rn. 2. 41 42
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Verhandlung und Verkündung der Urteile explizit geregelt und galt damit für das gesamte Deutsche Reich.47 Der römisch-kanonische geheime Prozess war damit verdrängt. Die Abstimmung und Beratung wurden bis heute aber keine öffentliche Prozedur.48 Durch die Weimarer Reichsverfassung von 1918 wurde die Gerichtsstruktur grundsätzlich aufrechterhalten und damit an den Grundsätzen des GVG nicht gerüttelt.49 Etablierte Schwurgerichte in der Strafrechtspflege wurden 1924 allerdings durch Schöffengerichte ersetzt und die Zuständigkeit des Einzelrichters in Zivil- und Strafrecht ausgeweitet.50 Während der nationalsozialistischen Herrschaft änderte sich die Rolle des Richters im Staat grundlegend:51 die im Liberalismus gewachsene Gewaltenteilung wurde aufgehoben und alle staatliche Macht auf den „Führer“ übertragen. Die Gerichtsbarkeit sollte nicht objektiv sein, sondern der staatlichen Politik dienen. Den unabhängigen Richter gab es damit nur noch auf dem Papier und er wurde hinsichtlich seiner staatlichen Aufgaben deutlich zurückgedrängt; die Verwaltung übernahm mehr und mehr justizielle Aufgaben. Von manchen wurde darüber hinaus gefordert, den „Führergrundsatz auch in der Rechtspflege durchführen“, wodurch der vorsitzende Richter die Entscheidung allein treffen sollte, die Kollegen lediglich zur Beratung hinzugezogen worden wären.52 Zu dieser radikalen Umdeutung des Kollegialgerichts, gegen die zahlreiche ablehnende Stellungnahmen vorgebracht wurden, kam es letztlich nicht.53 Allerdings wurde während des Zweiten Weltkrieges vor allem in Strafsachen der Vorsitzende eines Richterkollegiums und der einzeln urteilende Amtsrichter deutlich gestärkt und war somit oft allein entscheidungsbefugt.54 In einer Zeit, in der das Kollegialorgan mehr und mehr vom Einzelrichter abgelöst wird, ist auch die Frage nach der Art der kollegialen Beratung weniger relevant. Darüber hinaus muss das Beratungsgeheimnis einem diktatorischen Regime grundsätzlich zuwider sein, da es einen gewissen Schutzmechanismus etabliert: In einem Kollegialorgan ist die Verfolgung eines 47
Gesetz v. 27.01.1877, § 169 GVG: „Die Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte, einschließlich der Verkündung der Urtheile und Beschlüsse desselben, erfolgt öffentlich.“; vgl. auch die Bewertung des GVG von Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 124, als „eine im wesentlichen einheitliche Gerichtsverfassung“ und „eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Gesetz nach der Reichsverfassung“. 48 Vgl. Jacobs, in: Stein/Jonas, § 169 GVG, Rn. 9. 49 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 149 f. 50 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 161 ff. 51 Ausführungen im Folgenden beruhen auf der Darstellung bei Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 197 ff. Vgl. auch Wagner, Der Richter, S. 76 ff. und Müller, Furchtbare Juristen. 52 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 256. 53 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 258 f. m. w. Nachw. aus dem damaligen Schrifttum. 54 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 233, 242 f.; Manthe, Richter in der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft, S. 45.
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Richters schwieriger, da durch das Beratungsgeheimnis nicht nachvollziehbar ist, welcher Richter ein bestimmtes Votum abgegeben hat.55 Wohl auch deshalb nahm die Kompetenz des Einzelrichters stark zu.56 Mit Gründung der Bundesrepublik wurden wieder liberale Verhältnisse geschaffen: Das Vereinheitlichungsgesetz von 195057 machte vor allem Regelungen der nationalsozialistischen Herrschaft bezüglich der Unabhängigkeit der Richter*innen rückgängig und man bemühte sich um eine einheitliche Gerichtsstruktur in Westdeutschland.58 Es blieb bei Gerichtsöffentlichkeit der Verhandlung, der Trennung von Abstimmung und Beratung und dem Beratungsgeheimnis – die bis heute eingehaltene Praxis. Der kurze Rückblick zeigt, dass das deutsche Richteramt eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat, bis es die heute als selbstverständlich angesehene professionelle und unabhängige Rolle einnahm: Von öffentlichen Volksgerichten mit getrennten Richtern und Urteilern, über gewählte Schöffengerichte, bis hin zu unabhängigen Beamtenrichter*innen. Mit der Entwicklung des richterlichen Amtes geht auch eine unterschiedliche Ausgestaltung der Formalität des Gerichtsverfahrens einher. Rückblickend lässt sich festhalten, dass mit dem Einzug der professionellen Berufsrichter und dem römisch-kanonischen Recht in die deutsche Praxis das gesamte Verfahren nicht nur schriftlich, sondern auch geheim geführt wurde. Die Professionalisierung hat die richterliche Tätigkeit in die Amtsstube verlegt und das Volk verdrängt. Zudem offenbart uns der Blick in die Geschichte der deutschen Gerichtsverfassung, dass ein heute zunächst beratendes und dann abstimmendes Kollegialorgan lange Zeit nicht existierte. Vielmehr gaben die Richter begründete Voten ab, ohne vorher eine Diskussion anzustrengen, was den Prozess der Beratung deutlich weniger relevant macht. Wenn man über das Beratungsgeheimnis spricht, muss also immer mitbedacht werden, dass der Prozess der Beratung lange Zeit nicht das war, was der Begriff und unser heutiges Verständnis implizieren.
c) Zwischenfazit Dass sich deutsche Kollegialgerichte heute in das Beratungszimmer zur geheimen Beratung und Abstimmung über die Entscheidung zurückziehen und auch 55 56
Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 275. Vgl. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 277: „Was den Aufbau und die Besetzung der Gerichte anlangt, so ist das Kollegialgericht in weitem Ausmaß durch den Einzelrichter ersetzt […] worden.“ 57 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12.09.1950, BGBl. I, S. 455 ff. 58 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 298 ff.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
nach der Urteilsverkündung über die dortigen Diskussionen Stillschweigen bewahren müssen, ist historisch gesehen keine Selbstverständlichkeit. Die diskursive Beratung und gemeinsame Abfassung eines Urteils sind heute aber unumstrittene Praxis der deutschen Kollegialgerichte.
2. Die veröffentlichte abweichende Meinung der Richter*innen als Ausnahme Unser heutiges Verständnis von Kollegialgerichtsbarkeit geht also von einer geheimen Beratung und Abstimmung aus. Die Veröffentlichung einer dem Urteilstenor oder der Begründung widersprechenden Meinung von Richter*innen muss als eine Durchbrechung des Grundsatzes des Beratungsgeheimnisses gelten, da es einen Einblick in die Positionen während der Beratung gibt.59 Bis zur heutigen Möglichkeit für Richter*innen am BVerfG, ein Sondervotum abgeben zu können, war es ein weiter und beschwerlicher Weg, der hier nachgezeichnet werden soll. Dabei sind zunächst frühere Entwicklungen in einigen deutschen Teilstaaten in den Blick zu nehmen (a). Anschließend werden die Diskussionen um die Einführung eines Sondervotums bei der Verabschiedung des Gerichtsverfassungsgesetzes (b), in der jungen Bundesrepublik (c) und bei der Verabschiedung des Deutschen Richtergesetzes 1961 (d) beleuchtet. In den 1960er-Jahren kam es zu eigenmächtigen Änderungen des BVerfG (e), ehe eine breite Diskussion auf dem 47. Deutschen Juristentag (f ) den Weg zur Einführung der abweichenden Meinung am BVerfG im Jahr 1970 ebnete (g). Bei der historischen Betrachtung wird sich darum bemüht, jeweils einen zeitgeschichtlichen Kontext zu schaffen, um Erklärungen dafür zu finden, warum der Prozess hin zum Sondervotum erst derart beschwerlich war und es schließlich doch zur Einführung dieses Instruments gekommen ist.
a) Frühere Durchbrechungen des Beratungsgeheimnisses Der geheime Prozess der Beratung, sofern man aus heutiger Sicht überhaupt von einer Beratung sprechen kann, war, insbesondere durch die Rezeption römisch-kanonischen Rechts, ein Grundsatz des Gerichtsverfahrens. In gewisser Weise hat es aber auch schon immer Durchbrechungen dieses Prinzips gegeben. Beispielsweise schrieb die Prozessordnung des kurfürstlichen pfälzischen Hofgerichts im 16. Jahrhundert vor, dass neben der Wiedergabe der Mehrheitsentscheidung und der für sie stimmenden Richter „auch die dissentierenden Beisitzer aufgeführt“ werden sollen, „jeweils unter Angabe der wichtigsten Gründe.“60 Eine Möglichkeit, die abweichende Meinung zu Protokoll zu geben, wurde auch durch den Reichskammergerichts-Visitations-Abschied von 1713 59 60
Ebenso Federer, JZ 1968, S. 511. Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, S. 263 m. w. Nachw.
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in § 72 festgeschrieben.61 Bei gewissen Religionssachen musste nach § 157 des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 der „Reichskammergerichtsbeisitzer“ Begründung und Ursachen seines Votums schriftlich feststellen.62 Auch bei einigen Obergerichten, etwa dem Oberappellationsgericht Celle, wurden bei entscheidenden Prozessen die abweichenden Meinungen schriftlich festgehalten.63 Nach der „Hofgerichtsordnung Churfürstlicher Pfaltz“ in Bayern von 1606 konnten „auf Anordnung des Fürsten oder des Gerichts“ die Voten bekannt gegeben werden.64 Beim Württembergischen Staatsgerichthof wurden aufgrund von § 199 Abs. 2 der Württembergischen Verfassung vom 25.09.1819 auch die sogenannten Deliberationsprotokolle, also solche „über die Verhandlungen, Debatten, Abstimmungen und Beschlüsse in den Sitzungen des Gerichtshofes“ veröffentlicht.65 Die Kurbadische Obergerichtsordnung vom 20.01.1803 und die Großherzoglich-Badische Obergerichtsordnung vom 11.05.1807 ordneten in § 136 und § 137 an, dass „die Akten und nach eröffneten Bescheiden auch die Relationen der Räte den Parteien und Anwälten auf Antrag zur Einsicht vorgelegt und ihnen Abschrift der Akten (nicht der Relationen) gefertigt werde.“66 Im Jahr 1826 wurde es den Anwälten auch erlaubt, Abschriften der Relationen bei den Oberhofgerichten anzufertigen.67 Dazu war es „jedem Beisitzer unbenommen, seine Auffassung auf einem besonderen Blatt dem Protokoll beizufügen.“68 Nach Heydes Einschätzung bestand dadurch „praktisch eine Parteienöffentlichkeit der wesentlichen Beratungshergänge“ bis in die 1850er-Jahre hinein.69 In den ab 1823 erschienenen Jahrbüchern des Großherzoglich Badischen Oberhofgerichts zu Mannheim wurden darüber hinaus die einzelnen Voten der Beteiligten, der Gang der Beratung und das Abstimmungsverhältnis veröffentlicht.70 Die Namen der beteiligten Richter wurden dabei aber nicht bekannt gemacht.71 Daneben war es den Richtern „generell möglich, Minderheitsvoten zu den Akten zu reichen.“72 61 62
Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, S. 263. Federer, JZ 1968, S. 511, 512; Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, S. 263. 63 Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, S. 263 f.; Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover, S. 147. 64 Federer, JZ 1968, S. 511, 512 m. w. Nachw. 65 Federer, JZ 1968, S. 511, 513. 66 Federer, JZ 1968, S. 511, 513. 67 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß, S. 182. 68 Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 83. 69 Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 83. 70 Federer, JZ 1968, S. 511, 513; ausführlich dazu Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 84 ff. 71 Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 85. 72 Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 87 m. Bsp.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Ganz anders in Preußen. Dort bestimmte § 18 Abs. 3 S. 3 der Allgemeinen Gerichtsordnung vom 06.07.1793: „Sämtliche Räthe müssen über alle im Collegio vorkommende Angelegenheiten, besonders aber über ihre eigene sowohl, als über die Vota der anderen Mitglieder, in streitigen Rechtssachen, ein gewissenhaftes Stilschweigen beobachten.“73
Auch in Bayern bestand der strikte Grundsatz der geheimen Beratung und Abstimmung.74 Insgesamt bleibt ein heterogenes Bild zurück. Das Beispiel Baden hat gezeigt, dass mitunter sogar eine Veröffentlichung durch Einsichtnahme der Akten und Jahrbücher möglich wurde. Auf der anderen Seite existierte in Preußen und Bayern ein striktes Beratungsgeheimnis. Die Bekanntgabe abweichender Rechtsansichten war der deutschen Gerichtspraxis also nicht völlig fremd.75
b) Die Diskussionen um das GVG von 1879 Das GVG ist uns bereits aus der vorherigen Betrachtung des Beratungsgeheimnisses bekannt (s. 1.). Es trat zusammen mit anderen Reichsjustizgesetzen am 1. 10. 1879 in Kraft, nachdem ein intensiver Gesetzgebungsprozess durch eine eingesetzte Reichsjustizkommission (erste Lesung) und dem Reichstagsplenum (zweite und dritte Lesung) vorausgegangen war.76 Im Zuge dieser Verhandlungen gab es auch intensive Diskussionen um die Einführung öffentlicher Sondervoten bei Gerichten, die durch teilweise sehr weitgehende Vorschläge der Abgeordneten der Kommission ausgelöst worden war. Der Abgeordnete Lasker brachte einen erstaunlich weitgehenden Entwurf zur Einführung eines § 162a GVG ein: „Jeder Richter darf seine von der Mehrheitsentscheidung abweichende Ansicht bei der Verkündigung des Urtheils aussprechen und begründen.“77
Damit wäre das Sondervotum in seiner denkbar weitesten Ausprägung schon im 19. Jahrhundert einheitlich eingeführt worden. Die Begründung von Lasker für seinen Vorschlag ist ausführlich und nimmt viele verschiedene Aspekte 73 Zitiert nach Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, S. 82, Fn. 33; ebenso Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 65. 74 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 65. 75 So das Fazit von Federer, JZ 1968, S. 511, 514. 76 Zur Entstehungsgeschichte Kissel/Mayer, GVG, Einleitung, Rn. 50; Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 977. 77 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 361. Anmerkung: Die Darstellung bei Hahn ist kein Wortprotokoll, sondern gibt die Sitzungen in indirekter Rede wieder. Bei der Zitierung der Wortbeiträge der Abgeordneten im Folgenden kann damit nicht garantiert werden, dass diese einer wortgetreuen Darstellung der Debatte entsprechen.
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auf:78 Er nannte ausdrücklich die Schweiz, England und Nordamerika als Vorbild. Dabei spielte für ihn vor allem England eine entscheidende Rolle: Hier würden die einzelnen Richterpersönlichkeiten durch diese Praxis gestärkt, die Autorität des Urteilsspruches aber nicht automatisch geschwächt. Noch Generationen später spreche man anerkennend über bedeutende Richter und ihre Urteile, die man auch für Recht anerkenne. Die überstimmten Richter hätten ohne die Möglichkeit, ihre abweichende Meinung kundzutun, auch falsche Urteilssprüche der Mehrheit des Senates zu akzeptieren und stünden wegen der geheimen Beratung und Abstimmung mit ihren Namen für diese Entscheidung auch öffentlich ein. Durch die abweichende Meinung sei es dem dissentierenden Richter möglich, die Öffentlichkeit von der aus seiner Sicht richtigen Entscheidung zu überzeugen, was auch der Fortentwicklung des Rechts diene.79 Somit könnten die Beobachter dann selbst entscheiden, welche der Ansichten die richtige sei. Die wissenschaftliche Rezension der Urteile sei dafür nicht ausreichend, sie hätten nicht die gleiche Bedeutung und Aufmerksamkeit wie eine richterliche Äußerung. Zudem würde ein offenerer Dialog zwischen Volk und Richter entstehen, da die Bürger nur so diejenigen, die Recht sprechen, wirklich kennen lernen könnten. Außerdem sei nicht damit zu rechnen, dass die Richter ständig von diesem Recht Gebrauch machen würden: um kein Ansehen zu verlieren würde sich der Richter von selbst nur auf besonders wichtige Verfahren beschränken und das Sondervotum jeweils intensiv begründen müssen.80 Andere Vorschläge gingen weniger weit, so etwa derjenige von Bähr und Struckmann: „Jedes Mitglied eines Kollegialgerichts ist berechtigt, seine von der Beschlussfassung des Gerichts abweichende Ansicht in den Geheimakten des Gerichts niederzulegen.“81
Bähr machte in seiner Begründung deutlich, dass ihm die Vorschläge von Lasker deutlich zu weit gingen.82 Ein offenes Sondervotum würde wie ein „Protest gegen die Mehrheitsentscheidung“ aussehen. Dem Bedürfnis des Richters, seine abweichende Meinung kundzutun, sei durch die Beifügung zu den Akten – die 78 Die folgende Argumentation ist dargestellt bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 361 f. 79 Deutlich dagegen der Abgeordnete Umsberg: „Die Fortbildung des Rechts und die Wissenschaft würde nicht das Mindeste gewinnen; sie könne nur gefördert werden durch Stille ernste Arbeit, durch sorgfältige Ueberlegungen in der Studirstube, aber nicht dadurch, daß der nach lebhafter Diskussion überstimme Richter, noch von der Debatte erregt, in lebhafter und vielleicht unüberlegter Weise gegen die Majorität polemisirend seine abweichende Meinung vortrage“, Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 364. 80 Dagegen der Abgeordnete Reichensperger, der befürchtete, dass es in der Regel nicht mehr zu einstimmigen Beschlüssen kommen werde, Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 363 f. 81 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 361. 82 Die folgende Argumentation ist dargestellt bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 361.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
nur vom Gericht und der höheren Instanz einsehbar seien – Genüge getan.83 Dem Richter müsse dieses Instrument vor allem angesichts befürchteter Syndikusklagen zur Verfügung stehen. Auffällig ist noch der Hinweis, dass der dissentierende Richter bei der Unterschrift unter das Urteil auf sein zu den Akten gegebenes Sondervotum Bezug nehmen könne. Konkretere Angaben wurden zu diesem Vorschlag allerdings nicht gemacht. Eigentlich kann dies nur dahingehend verstanden werden, dass Richter am Ende des Urteils hätten offenlegen dürfen, eine abweichende Stellungnahme verfasst zu haben. Der Öffentlichkeit wäre damit bekannt geworden, wer dem Urteil im Ergebnis zugestimmt hat und nur die Begründung für das abweichende Votum verschlossen geblieben. Faktisch hätte es damit eine Offenlegung des Abstimmungsergebnisses gegeben. Damit hätte es sich um einen deutlich transparenteren Vorschlag gehandelt, als es dem Wortlaut zunächst zu entnehmen ist. Gegen diese Interpretation spricht allerdings der Hinweis Bährs, dass „über das Resultat der Abstimmung selbst“ Geheimhaltung angezeigt sei.84 Letztlich bleibt damit aus den zur Verfügung stehenden Materialien unklar, wie genau dieser Vorschlag zu verstehen ist. Er war aber zweifellos nicht derart weitgehend wie derjenige von Lasker. Unterstützung erhielt dieser Vorschlag durch den Diskussionsbeitrag v. Schwarzes, der insbesondere die Wirkung des offenen Sondervotums auf einen Angeklagten zu bedenken gab:85 Wenn ein Richter öffentlich begründe, warum aus seiner Sicht die Mehrheit des Kollegiums mit dem Urteil falsch liege, müsse beim Angeklagten der Eindruck entstehen, dass ihm Unrecht geschehe. Dies würde das Ansehen des Gerichts „schwer schädigen“. Dem dissentierenden Richter sei es zudem möglich, in Wissenschaft und „zur Kritik berufenen Kreisen“ seinen Unmut über die Mehrheitsmeinung zum Ausdruck zu bringen. Auch eine Orientierung an der englischen Rechtspraxis ließ er nicht gelten: Erstens sei diese nur begrenzt auf das deutsche System übertragbar, zweitens gebe es dort auch keine die Mehrheit kritisierenden öffentlichen Stellungnahmen, sondern einzeln begründete Voten der Richter, die zusammengenommen einen Richterspruch bildeten.86 Der Abgeordnete Grimm schloss sich dem Entwurf von Bähr und Struckmann grundsätzlich an, wollte aber „Akten“ statt „Geheimakten“ im Gesetz verankert wissen, um die Einsichtnahme durch die Beteiligten zu ermögli83 Dagegen der Abgeordnete Umsberg, der angibt, während seiner Zeit bei Gericht nie das Bedürfnis gehabt zu haben, als Teil der Minderheit im Kollegium sich gegen spätere „Syndikatsklagen“ zu wehren, Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 364. 84 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 364. 85 Zum Folgenden siehe die Darstellung bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 362 f. 86 Ähnlich der Abgeordnete Umsberg, der zusätzlich den Vergleich mit Nordamerika ablehnt, Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 364.
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chen.87 Grimm zog vor allem in Erwägung, dass mit Einsichtnahme der Akten der unterlegenen Partei in der nächsten Instanz das Angreifen der Entscheidung erleichtert werde.88 Zudem wäre dies auch für den nachprüfenden Richter der höheren Instanz zur korrekten Bewertung des Urteils von Vorteil. Durch die Geheimhaltung der Sondervoten werde zudem ein fruchtbarer Diskurs in Wissenschaft und Praxis verhindert. Insgesamt orientierte sich dieser Vorschlag an der badischen Praxis89, deren Errungenschaften Grimm ausdrücklich lobte. Der Vorschlag Laskers ging ihm dann aber doch zu weit. Die öffentliche Aussprache der abweichenden Meinung könne zu einer Ostentation der Richter führen, was die Autorität des Gerichts schwächen würde.90 Insgesamt handelte es sich damit um einen Kompromissvorschlag: keine öffentliche abweichende Meinung bei Verkündung des Urteils, aber auch kein Verschwinden des Sondervotums in den Geheimakten des Gerichts. Grimm ging es damit letztlich um eine begrenztere Öffentlichkeit. Festzuhalten bleiben also drei Vorschläge: das bei der Verkündung des Urteils veröffentlichte (Lasker), das zu den Geheimakten gegebene (Bähr/Struckmann) und das in den durch die Parteien einsehbaren Hauptakten eingefügte Sondervotum (Grimm). Der weitgehende Entwurf von Lasker hatte es in der Diskussion erkennbar am schwersten – keiner der Diskussionsteilnehmer sprang ihm unterstützend zur Seite. So wurden sein Antrag mit nur einer Gegenstimme und der von Grimm mit zwei Gegenstimmen abgelehnt, während der Antrag von Bähr und Struckmann mit großer Mehrheit angenommen wurde.91 Damit hatte sich in der ersten Lesung der Reichsjustizkommission der restriktivste Entwurf (die den Geheimakten beigegebenen Sondervoten) durchgesetzt. Immerhin könnte man sagen. Aber auch dieser überlebte den weiteren Gesetzgebungsprozess nicht, sondern wurde in der zweiten Lesung von der Kommission wieder gestrichen.92 Dabei fand keine derart intensive Diskussion wie in der ersten Lesung statt und es gab auch kaum noch eine dem Entwurf positiv gestimmte Wortmeldung – erstaunlich, angesichts der breiten Mehrheit in der ersten Lesung. Der die Streichung beantragende Abgeordnete Kloz hielt die Regelung für „bedenklich“ und „überflüssig“, weil die Abgabe eines Sondervotums 87 Zum Folgenden siehe die Darstellung bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 361 ff. 88 Ausdrücklich dagegen der Abgeordnete Umsberg: „Die Abgabe des dissentierenden Votums zu den Hauptakten wolle den Parteien und Anwälten die Anfechtung des Urtheils erleichtern und ihnen das selbständige Denken ersparen; dazu liege kein Grund vor.“, Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 364. 89 Dazu bereits 2. a). 90 In diese Richtung auch der Abgeordnete Struckmann, der von „Popularitätshascherei“, „Eitelkeit“ und „Rechthaberei“ spricht, Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 366. 91 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 365. 92 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 851 f.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„häufig nur aus Eitelkeit“ erfolge.93 Die Initiatoren des Antrags stellten nochmals klar, dass die Geheimhaltung der Sondervoten allein für die Mitglieder des Kollegialorgans und der höheren Instanz, nicht hingegen für die Parteien aufgegeben werden sollte, weshalb auch keine Gefahr von der vorgeschlagenen Regelung ausgehen würde.94 Mit dieser Argumentation konnten sie das Scheitern ihres Vorschlags aber nicht mehr verhindern. Letztlich hat sich also keiner der drei Entwürfe für die Einführung einer abweichenden Meinung behaupten können. Es blieb beim Regierungsentwurf (§ 163 GVG) und damit beim strikten Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis von Schöffen und Geschworenen;95 wie bereits dargestellt, hielt man die Einführung einer gesetzlichen Schweigepflicht für Berufsrichter zunächst für nicht notwendig.96 Aus der Diskussion um die Reichsjustizgesetze sind drei Kernpunkte festzuhalten: Erstens wird deutlich, dass dieses Thema im deutschen Rechtskreis bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf die Tagesordnung gebracht wurde, weit vor der Gründung der Bundesrepublik und der Einrichtung des BVerfG. Zwar konnten sich die Gegner einer Veröffentlichung von abweichenden Meinungen durchsetzen – weitgehende Vorschläge lagen aber fortan auf dem Tisch. Zweitens ist erkennbar, dass Befürwortende des Sondervotums in dessen Ursprungsländer England und USA blickten.97 Drittens wurden Autorität und Unabhängigkeit des Gerichts stark betont und offene Sondervoten von der Mehrheit der Abgeordneten als diese beschädigend wahrgenommen.98 Aus heutiger Sicht erscheint es doch sehr erstaunlich, dass das richterliche Sondervotum bereits zum Ende des 19. Jahrhundert auf die Tagesordnung kam. Dies mag zunächst damit zusammenhängen, dass damals die Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit und insbesondere die Öffentlichkeit der Justiz intensiv debattiert wurden.99 Diese Fragen waren Teil eines sich in dieser Phase verbreitenden Liberalismus, der eine Stärkung der Bürgerrechte gegen den Staat forderte und von einem gewissen Misstrauen gegenüber der staatlichen Macht gekennzeichnet war.100 Der Zusammenhang mit liberalen Ideen von Staat und Bürgerlichkeit wird auch dadurch offensichtlich, dass der weitreichendste Vorschlag zum Sondervotum aus der Nationalliberalen Partei (namentlich Eduard Lasker) 93 94
Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 851. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 851. 95 Siehe dazu die Übersicht bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 2, S. 1768 f. 96 Dazu bereits 1. a). 97 Dazu bereits unter B. I. 98 Vgl. die Debatte dargestellt bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 362 ff. 99 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 117. 100 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 56 ff.; vgl. auch Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 823, der als eine der Hauptziele des Liberalismus im 19. Jahrhundert die „Kontrolle von Macht“ beschreibt; zur liberalen Forderung nach einer richterlichen Kontrolle der Exekutive vgl. Wagner, Der Richter, S. 69.
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stammte. Wesel beschreibt Lasker als „maßgebliche(n) Vertreter der Nationalliberalen Partei“ und „Repräsentant einer anderen Form von Liberalisierung in der Justiz in Deutschland“.101 Wer wie die Liberalen die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und damit letztlich Transparenz verlangte,102 sympathisiert naheliegender Weise auch mit der öffentlichen Verkündung abweichender richterlicher Meinungen. Mehrheitsfähig war diese Position im von Bismarck regierten Reich allerdings nicht; am Ende stand bei den Reichsjustizgesetzen ein „konservativ-liberaler Kompromiß“ zu Buche.103 Bei der Verabschiedung des GVG standen ohnehin viel grundlegendere Ziele im Vordergrund, so vor allem, im zersplitterten Reich eine einheitliche Gerichtsbarkeit zu schaffen. Das richterliche Sondervotum erscheint in diesem Kontext lediglich als ein Detail. Zusätzlich muss man beachten, dass es um die Verfassung der ordentlichen Gerichtsbarkeit insgesamt ging. Es wird noch gezeigt werden, wie schwer man sich gut 100 Jahre später mit der Einführung des Sondervotums beim höchsten Gericht, also für (heute) 16 Richter*innen bundesweit, tat. Die damalige Skepsis ist angesichts dessen eher verständlich. Darüber hinaus war die Unabhängigkeit der Gerichte noch ein viel bedeutenderes Thema als im heutigen Grundgesetzstaat. Dem Reichsgericht wird in diesem Kontext oft der Ausspruch zugeschrieben, dass die Verschwiegenheitsverpflichtung des Richters ein „Palladium für die Unabhängigkeit“ der Gerichte sei,104 obwohl das RG damals diesen Ausdruck auch nur zitiert hat.105 Dieses Dogma bringt deutlich zum Ausdruck, wie sehr das Thema Beratungsgeheimnis mit der Unabhängigkeit der Gerichte verwoben wurde. Auch dies bietet einen möglichen Erklärungsansatz für die eher skeptische Haltung gegenüber der 101
Wesel, Geschichte des Rechts, S. 424. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 59, bewertet die Forderung nach Öffentlichkeit der Verfahren als eine Forderung des Liberalismus. 103 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 979. 104 Statt vieler Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 30, Rn. 15, unter Verweis auf RGSt 26, 202, 204. Der Begriff Palladium (griechisch: Palladion) heißt im allgemeinen Sinne „jede heilig gehaltene Sache, die etwas schützt, und auf deren Erhaltung viel ankommt“, Meyers Konversationslexikon, Bd. 12, S. 633. 105 RGSt 26, 202, 204 unter Verweis auf die Protokolle der Justizkommission des Reichstages. In der Rechtssache ging es darum, ob ein Richter darüber als Zeuge gehört werden darf, wie das Gericht bei der Beratung zur Annahme einer Strafbarkeit gelangt ist. Dies wird vom Reichsgericht aufgrund der Unabhängigkeit der Rechtspflege abgelehnt: „Die Unabhängigkeit des Richteramtes ist damit an erster Stelle als Grundsatz der deutschen Rechtspflege anerkannt. Dieser Grundsatz würde einen wesentlichen Teil seines Wertes verlieren, wenn es zulässig wäre, über richterliche Abstimmungen und deren Gründe Auskunft zu verlangen und solche von den beteiligten Richtern dadurch zu erzwingen, daß dieselben hierüber, sei es in einem Zivil- oder Strafprozesse, als Zeugen angerufen werden. Schon das Bewußtsein der bloßen Möglichkeit einer solchen Anrufung Folge leisten und demgemäß über Beratung und Abstimmung dritten Personen Rede und Antwort stehen zu müssen, kann geeignet sein, die Unbefangenheit des Urteils und damit die Unabhängigkeit des Richterspruches zu gefährden. Der gesetzlichen Gewährleistung dieser Unabhängigkeit entspricht die Pflicht des Richters zur Amtsverschwiegenheit.“ 102
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Veröffentlichung abweichender Meinungen oder der Abstimmungsergebnisse. Dennoch waren die verschiedenen Modelle eines richterlichen Sondervotums fortan in der Welt.
c) Die Errichtung des BVerfG im Jahr 1951 „Das ganze Grundgesetz besteht ja überwiegend aus Angst vor der Demokratie. Setzen wir doch einmal die Demokratie in den Sattel und setzen wir auch beim Bundesverfassungsgericht fortschrittliche Gedanken in den Sattel.“ Adolf Arndt (SPD)106
Bereits während des Prozesses der Errichtung des BVerfG gab es Vorschläge zur Einführung des öffentlichen Sondervotums. Die SPD-Fraktion legte schon im Dezember 1949 einen Entwurf vor, in dem § 22 Abs. 4 BVerfGG lautete: „Mitglieder, die überstimmt worden sind, können ihre abweichende Meinung in einem begründeten Sondergutachten niederlegen. Das Sondergutachten ist mitzuverkünden und mitzuveröffentlichen.“107
In der ersten Beratung über diesen Entwurf wurde noch sehr grundsätzlich über die Einrichtung des BVerfG, insbesondere die Ausgestaltung der Wahlen von Richter*innen, debattiert. Eine Diskussion um das Sondervotum fand hier noch nicht statt. Die weitere Beratung wurde dem „Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht“ überwiesen.108 Nachdem die SPD früh einen Vorschlag eingebracht hatte, legte wenig später auch die Bundesregierung einen eigenen Gesetzesentwurf vor. Dieser war allerdings deutlich restriktiver und ließ in § 26 Abs. 3 BVerfGG nur ein unveröffentlichtes Sondervotum zu: „Mitglieder des Gerichts, die überstimmt wurden, können ihre abweichende Meinung in einem Sondergutachten niederlegen und zu den Akten geben.“109
Die Veröffentlichung dieser Akten war nicht vorgesehen. Allerding hatten nach § 17 Abs. 1 des Regierungsentwurfes die Beteiligten ein Recht, die Akten einzusehen, womit in sehr abgeschwächtem Umfang auch die Sondervoten zugänglich gemacht werden sollten.110 Zur Begründung wurde von der Bundesregierung lediglich ausgeführt, dass wegen der „besonderen Art der zu entscheidenden Streitigkeiten“ bei der Veröffentlichung die „Gefahr“ bestehe, 106
Protokoll der 23. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 21.03.1950, S. 34. 107 BT-Drs. 1/328, S. 5. 108 28. Sitzung des Deutschen Bundestags, 19.01.1950, Plenarprotokoll, S. 860–877. 109 BT-Drs. 1/788, S. 9. 110 BT-Drs. 1/788, S. 7.
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dass „das Ansehen des Gerichts und die Autorität der Entscheidung“ litten.111 Damit ergibt sich eine interessante Parallele zur Diskussion um das GVG: Der weitreichende Entwurf einer Minderheit – jetzt einer ganzen Fraktion – stand einem restriktiveren Regierungsvorschlag gegenüber. Auch inhaltlich ähnelten sich die Vorschläge, wollte die Opposition doch das veröffentlichte Sondervotum durchsetzen, während die Regierung das – immerhin durch die Beteiligten einsehbare – unveröffentlichte Sondervoten in den Gerichtsakten befürwortete.112 Im weiteren Gesetzgebungsverfahren machte der Bundesrat einen Änderungsvorschlag zum Regierungsentwurf. In § 26 Abs. 3 solle folgender dritter Satz eingefügt werden: „Soweit eine Veröffentlichung der Entscheidungsgründe stattfindet, kann durch Beschluß des Gerichts die Veröffentlichung des Sondergutachtens ohne Nennung des überstimmten Mitglieds zugelassen werden.“113
Dies kann man als Kompromiss werten, denn letztlich wäre damit einerseits das veröffentlichte Sondervotum eingeführt, durch die Anonymität aber auch die befürchteten Autoritätsverluste durch Hervortreten einzelner Richter*innen berücksichtigt worden. Begründet wurde dieser Vorschlag damit, dass die Veröffentlichung „im Interesse der Fortentwicklung des Rechts“ zulässig sein soll.114 Die Bundesregierung hielt in ihrer darauf antwortenden Stellungnahme ohne Begründung an ihrem ursprünglichen Entwurf fest, womit der Kompromiss vom Tisch war.115 Im Rechtsausschuss des Bundestages wurde nach der Überweisung durch das Plenum intensiv über das Sondervotum debattiert. Berichterstatter Kiesinger (CDU) konnte sich laut Ausschussprotokoll dem Vorschlag „auf Veröffentlichung eines Sondervotums unter Namensnennung“ zum „gegenwärtigen Zeitpunkt nicht anschließen.“ So sei „der Deutsche in der heutigen Zeit […] wenig geneigt, Rechtsentscheidungen anzuerkennen“. Mit dem Sondervotum „an der empfindlichsten Stelle unserer Rechtsprechung“ würde „erneut eine Rechts111 BT-Drs. 1/788, S. 27. 112 Vgl. zum GVG 2. b).
113 BT-Drs. 1/788, S. 42. Konkretisiert wurde dieser Änderungsvorschlag vom Berichterstatter im Bundesrat Katz (Schleswig-Holstein), 16. Sitzung des Bundesrates, 17.03.1950, Sitzungsbericht, S. 270: Demnach sollte das Gericht mehrheitlich beschließen können, ein Sondervotum zu veröffentlichen. Die Formel für das Sondervotum sollte lauten: „Ein Mitglied des Bundesverfassungsgerichts vertritt die und die Meinung“. Katz nannte dies eine „Neuerung im deutschen Rechtsleben“, die er „im Interesse der Wissenschaft und der Forschung für außerordentlich wichtig“ hielt. Er wies ausdrücklich auf die – aus seiner Sicht positive – Erfahrungen der angelsächsischen Staaten hin. Weitere Diskussionen gab es in dieser Debatte des Bundesrates nicht. 114 BT-Drs. 1/788, S. 42. 115 BT-Drs. 1/788, S. 48. Das weitere Verfahren wurde in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestags am 31.03.1950 ohne Aussprache an den „Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht“ überwiesen, s. Plenarprotokoll S. 2095.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
unsicherheit, ein Schwinden der Autorität einsetzen“. Kiesinger zeigte sich eher bereit, das unveröffentlichte Sondervotum in den Gerichtsakten zuzulassen: „Wenn auch damit etwas ganz anderes erreicht werde als das, was das Sondervotum wolle, könne man doch so die Entwicklung zunächst einmal verfolgen und dann, wenn man das Gefühl bekomme, im deutschen Volk bestehe die Bereitschaft, Entscheidungen dieses höchsten Gerichts wirklich anzuerkennen, einen Schritt weitergehen und auf dem Wege über eine Novelle des Sondervotums einführen.“116
In einer folgenden Sitzung zusammen mit den Mitgliedern des Rechtsausschusses des Bundesrats ließ der Justizminister von Schleswig-Holstein, Rudolf Katz (SPD), durchblicken, „daß er persönlich ein Anhänger des unbedingten Sondervotums ist, daß er aber in dieser Frage überstimmt worden ist“.117 Der Bundesrat hatte in seinen Änderungsvorschlägen für ein anonymes Sondervotum gestimmt (s. o.). Der SPD-Abgeordnete Arndt warb in einer anschließenden RechtsausschussSitzung für das Sondervotum. Es habe „nur einen Sinn, wenn es ein öffentliches und namentlich gezeichnetes Sondergutachten ist.“ Dieses habe sich in den Vereinigten Staaten „unbestreitbar bewährt“ und man sei dort „sehr stolz“ auf dieses Instrument. Er wandte aber auch ein, dass man es „nicht ohne weiteres rezipieren“ müsse. Eher überraschend stellte er klar: „Der SPD-Entwurf kennt das Separatvotum keineswegs in allen Fällen. Er kennt es nicht bei der Präsidentenanklage und nicht bei der Richteranklage, weil es sicher um die Entscheidung konkreter Fälle und um strafgerichtsähnliche Tätigkeit handelt. Wenn zum Beispiel ein Richter wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz angeklagt und dann freigesprochen wird, kann unmöglich ein Mitglied des Gerichts sagen: Und ich halte diesen Mann trotzdem für schuldig. So etwas ist für die Öffentlichkeit psychologisch unerträglich. […] Sieht man dagegen die Hauptaufgabe des Bundesverfassungsgerichts in der abstrakten Normenkontrolle, dann hat das Separatvotum seinen guten Sinn, weil es sich lediglich darum handelt, daß einer der Richter oder eine Minderheitsgruppe ausschließlich in rechtlicher Hinsicht eine andere Auffassung darlegt und die Gründe dartut, warum sie von der Rechtsauffassung der Mehrheit abweicht. Das halte ich für sehr wünschenswert, und auch die Autorität und Legitimation des Gerichtshofes wird nicht beeinträchtigt.“118
Diese Abstufung nach Verfahrensarten war aus dem Wortlaut des SPD-Entwurfs so nicht zu entnehmen. In den Unterlagen des Ausschusses wird aber 116 Protokoll der 21. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 15.03.1950, S. 7 f. Zu einer Diskussion darüber kam es aufgrund der „vorgeschrittenen Zeit“ bei dieser Sitzung nicht mehr, ebd., S. 12 (Kein Wortprotokoll). 117 Protokoll der 22. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 16.03.1950, S. 4. Dies war die einzige Wortmeldung in dieser Ausschusssitzung zu dieser Thematik. Es wurde intensiv um die Besetzung und Wahl der Richter*innen gerungen (Kein Wortprotokoll). 118 Protokoll der 23. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 21.03.1950, S. 32 f.
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klargestellt, dass das veröffentlichte Sondervotum nicht bei der Anklage gegen den Bundespräsidenten und der Richteranklage zulässig sein soll.119 Kiesinger (CDU) erwiderte darauf, dass er zwar „theoretisch […] ein Freund des Sondergutachtens“ sei, „aber aus den Erfahrungen des politischen Lebens und Kampfes […] die Befürchtung“ habe, dass das „Sondergutachten von der jeweiligen Opposition benützt würde, um gegen die Autorität des staatsrichterlichen Spruches anzugehen“.120 Arndt (SPD) antwortete: „Ich begreife ihre Bedenken, nur bin ich der Meinung, daß wir Gesetze nicht aus Befürchtungen machen können. Manchmal müssen wir sie mit einer gewissen Courage machen. Man kann nicht sagen: wir halten die Einrichtung zwar für wünschenswert, aber das deutsche Volk ist dafür noch zu unreif, und deshalb stellen wir die Sache zurück […]. Wir müssten mindestens den Versuch machen. Ich glaube gar nicht, daß dadurch die Autorität so stark gemindert würde.“121
In folgenden Sitzungen wurde die Frage des Sondervotums ohne erkennbaren Fortschritt diskutiert. Das Sondervotum werde zwar „allgemein bejaht“, allerdings „Bedenken gegen eine Veröffentlichung und Verkündung“ geltend gemacht.122 Neben dem bekannten Kritiker Kiesinger (CDU) wandte sich auch der Abgeordnete von Merkatz (DP) mit einer ähnlichen Argumentation gegen die Einführung der veröffentlichten Sondervoten: „Er führt dazu an, wenn wir in einem geordneten gefestigten, in seiner Grundsubstanz absolut gesicherten Staatsleben mit der Tradition der Achtung vor dem richterlichen Spruch, wie sie sich etwa in den angelsächsischen Ländern herausgebildet habe, leben würden, würde gegen ein Sondergutachten nichts einzuwenden sein. Wir lebten aber in einer Zeit, in der man an allen feststehenden Dingen zu rütteln trachte.“123
Kiesinger (CDU) fügte bestärkend hinzu: „Das deutsche Volk müsse heute zum Recht hin erzogen werden. Es müsse lernen, Entscheidungen wirklich zu respektieren. Mit der Zulassung des Sondergutachtens würde das Gegenteil getan werden.“124
119 Synoptische Darstellung der Grundprobleme in den Entwürfen eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht, S. 5. 120 Protokoll der 23. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 21.03.1950, S. 33. 121 Protokoll der 23. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 21.03.1950, S. 33. 122 Kurzprotokoll der 28. Sitzung Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 19.04.1950, S. 3 (Kein Wortprotokoll). Weiter heißt es ebd.: „Der Ausschuß sieht auch hier von einer endgültigen Stellungnahme ab“. 123 Stenographisches Protokoll über die 28. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 19.04.1950, S. 10 (Kein Wortprotokoll). 124 Stenographisches Protokoll über die 28. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 19.04.1950, S. 10 (Kein Wortprotokoll). Ähnlich krit. auch Etzel (Bayernpartei), ebd., S. 11.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Neben dem bereits bekannten Befürworter der SPD, Adolf Arndt, setzte sich auch der SPD-Abgeordnete Greve für das veröffentlichte Sondervotum ein: „Es bestehe die große Gefahr, daß ein lediglich zu den Akten genommenes Sondervotum dennoch publiziert werde, daß Kombinationen über das Vorhandensein eines Sondergutachtens angestellt würden oder daß bestimmte anonyme und unkontrollierte Verlautbarungen über das Bestehen und den Inhalt des Sondervotums irgendwie in Erscheinung träten.“125
Greve erblickte also Gefahren durch ein unveröffentlichtes Sondervotum und wies beinahe prophetisch darauf hin, dass Sondervoten auf anderem Wege in die Öffentlichkeit gelangen könnten. Genau dies sollte wenig später mit einem Sondervotum Geigers geschehen. Der Abgeordnete Kleindinst (CSU) wandte sich strikt gegen das Sondervotum und begründet seine Haltung eher ungewöhnlich: „Diese seine Auffassung sei kein Mißtrauen gegen die demokratische Entwicklung, sondern ein Mißtrauen gegenüber der deutschen Presse. Deutschland sei für eine solche fremdländische Einrichtung nicht geeignet.“126
Anscheinend befürchtete er eine Auswirkung auf die Berichterstattung über die Gerichtsverfahren, sollte das Sondervotum eingeführt werden. Konkreter wurde er dazu allerdings nicht. Etzel (Bayernpartei) ergänzte, „die Veröffentlichung eines Sondergutachtens würde zur politischen Vergiftung und zu einer großen politischen Beunruhigung führen“.127 Anschließend wurde durch den Rechtsausschuss für die besonders strittigen Fragen ein Unterausschuss eingesetzt, bei dem auch Vertreter des Bundesjustizministeriums anwesend waren.128 Innerhalb dieser Beratungen, die „mehrere 125 Stenographisches Protokoll über die 28. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 19.04.1950, S. 11 (Kein Wortprotokoll). Ähnlich Brill (SPD), ebd., S. 15 f.: Er meinte, „man müsse das Sondergutachten entweder veröffentlichen oder überhaupt darauf verzichten. […] Jede Art von Indiskretionen würde beseitigt werden, wenn die Veröffentlichung der Minderheitsgutachten bei allen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Obersten Bundesgerichts bestimmt würde.“ Ähnlich, allerding mit anderer Konsequenz, Neumayer (FDP) ebd., S. 14: Er war der Ansicht, „wenn das Sondergutachten zugelassen werden, müsse es auch veröffentlicht werden. Er spricht sich jedoch grundsätzlich gegen das Sondergutachten aus und trägt zur Begründung vor, durch das Sondergutachten würde die Autorität des Urteils und vor allem die Rechtskraft des Urteils leiden.“ 126 Stenographisches Protokoll über die 28. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 19.04.1950, S. 13 (Kein Wortprotokoll). 127 Stenographisches Protokoll über die 28. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 19.04.1950, S. 13 (Kein Wortprotokoll). Dagegen sei aber zu erwägen, die „Veröffentlichung des Sondergutachtens in den Fällen, in denen das Verfassungsgericht als Gutachterorgan auftrete“ zu erlauben; ähnlich Kopf (CDU), ebd., S. 14: „Das Sondergutachten würde allen böswilligen Elementen die Möglichkeit geben, die Autorität der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu untergraben.“ 128 Stenographisches Protokoll der 54. Sitzung (Fortsetzung) des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 12.07.1950, S. 3. Der Vorschlag dafür kam von Kiesinger
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Monate“ andauerten129, wurde sich vom Sondervotum verabschiedet. In den Protokollen des Rechtsausschusses findet sich lediglich der Hinweis, dass der § 26 Abs. 3 BVerfGG gestrichen wurde und sich Arndt (SPD) vorbehielt, im Plenum einen Abänderungsantrag dazu zu stellen. Eine „eventuelle Ablehnung dieses Antrages werde nicht die Ablehnung des Gesamtgesetzes durch die SPD zur Folge haben.“130 In der weiteren Beratung des Rechtsausschusses wurde das Sondervotum nicht wieder ins Spiel gebracht.131 Der abschließende Entwurf des Rechtsausschusses wurde daraufhin dem Plenum zugeleitet.132 Der Abgeordnete Wahl (CDU) begründete im Bundestagsplenum die Abkehr von den Plänen, das Sondervotum einzuführen, damit, dass das Vertrauen „zur Justiz und besonders die Autorität der Verfassungsjustiz“ nicht groß genug sei, um die kritischen Reaktionen der Öffentlichkeit bei abweichenden Meinungen schultern zu können.133 Auch die notwendige Autorität bezüglich der Durchsetzung verfassungsrechtlicher Urteile lasse dieses Institut nicht zu: „Wenn die Dissenting opinion bei uns eingeführt werden soll, dann darf man damit nicht bei dem Bundesverfassungsgericht beginnen, denn das politische Kernproblem unserer Verfassungsjustiz besteht darin, daß sich die Urteile des Gerichtshofes auch wirklich durchsetzen, und es muß alles vermieden werden, was der Autorität seiner Entscheidungen Abbruch tun könnte.“134
Dabei betonten allerdings auch konservative Abgeordnete die möglichen Vorteile einer Veröffentlichung von Sondervoten: Der Abgeordnete Laforet (CSU) gab zu, dass die „Weiterbildung des Rechts“ für eine solche Regelung streiten würde und ausländische Vorbilder existierten. Jedoch sprachen auch aus sei(CDU). Als Mitglieder des Unterausschusses wurden bestimmt: von Merkatz (DP), Arndt (SPD), Zinn (SPD), Kiesinger (CDU), Wahl (CDU), Neumayer (FDP). 129 Die Verhandlungen des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht über das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, Ausschuss-Drs. Nr. 94, S. 2. 130 Protokoll der 67. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht am 15.11.1950, S. 17 (Kein Wortprotokoll). 131 Dies ergibt sich aus der Gegenüberstellung der Vorschläge des Unterausschusses mit den Beschlüssen der 2. Lesung des Rechtsausschusses vom 07.12.1950, S. 12. Vgl. ebenfalls Entwurf eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Vorlage für die 3. Lesung des Rechtsausschusses) vom 14.12.1950, S. 10. 132 Vgl. Mündlicher Bericht des Ausschusses für Recht und Verfassungsrecht (23. Ausschuß über den Entwurf eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht), BT-Drs. 1/1724. Vgl. dazu ebenfalls den Bericht von Wahl, 112. Sitzung des Deutschen Bundestages, 18.01.1951, Plenarprotokoll S. 4224 f. 133 112. Sitzung des Deutschen Bundestages, 18.01.1951, Plenarprotokoll S. 4224 f. 134 112. Sitzung des Deutschen Bundestages, 18.01.1951, Plenarprotokoll S. 4225. Ebd. finden sich auch Aussagen zur deutschen Geschichte des Sondervotums: „Gewiß ist die Dissenting opinion ein Institut aus alten deutschrechtlichen Wurzeln; aber seit Jahrhunderten urteilt in deutschen Landen das Gericht als anonyme Behörde ohne Klarstellung darüber, wie die mitwirkenden Richter sich zur gemeinsamen Entscheidung eingestellt haben – die Vorgänge bei der Abstimmung sind ja geheim zu halten –; und gerade die Justiz, die diese eminent politischen Entscheidungen zu fällen hat, schien dem Ausschuß am wenigsten einen solchen Bruch mit der deutschen Gerichtstradition vertragen zu können.“
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ner Sicht die Autorität des Gerichts und „die Gefahren, die namentlich in politisch erregter Zeit aus einem solchen Sondergutachten für die Überzeugung von der unbedingten Unparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts im Volke entstehen können“, dagegen.135 Die KPD versuchte es in der gleichen Sitzung noch einmal mit einem Antrag, das veröffentlichte Sondervotum zuzulassen, scheiterte aber.136 Der Opposition missfiel diese Entwicklung: Der Abgeordnete Arndt (SPD) zeigte sich enttäuscht, weil aus seiner Sicht die Sondervoten „eine wesentliche Erleichterung der Rechtsentwicklung“ mit sich gebracht hätten.137 Diese Forderung der SPD war aber innerhalb des Gesetzgebungsprozesses nicht mehr haltbar, um eine „Einigung in den großen Grundfragen über das Bundesverfassungsgericht“ zu erreichen. Arndt sprach daher ausdrücklich von einer Einigung, die nur durch „erhebliche Opfer“ zustande gekommen sei, wozu er das Sondervotum zählte.138 Letztlich fiel das Sondervotum damit einem politischen Kompromiss zum Opfer; die konservativen Gegner*innen hatten sich durchgesetzt. Damit hatte sich das Recht seit dem GVG von 1877139 in diesem Punkt zwar nicht weiterentwickelt, die Diskussion140 war aber bereits in der jungen Bundesrepublik angestoßen und erinnert stark an die damalige Debatte. Dass es mit der Errichtung des BVerfG nicht sofort zur Einführung der abweichenden Meinung kam, kann bei einer Betrachtung des historischen Kontextes nicht wirklich überraschen. Man kann diese Situation als „Zeit der Unsicherheit“ beschreiben, in der der Erfolg der deutschen Demokratie und des BVerfG keinesfalls garantiert waren.141 Das Ausbleiben gewisser Reformen lässt sich unter der prägnanten – in ähnlichem Kontext genannten – Formel Schönbergers 135 136
114. Sitzung des Deutschen Bundestages, 25.01.1951, Plenarprotokoll S. 4288. Der Entwurf für einen § 30 Abs. 3 BVerfGG lautete: „Mitglieder des Gerichts, die überstimmt werden, müssen ihre abweichenden Meinungen in einem Sondergutachten niederlegen. Das Sondergutachten ist gleichzeitig mit der Urteilsbegründung zu begründen und zu veröffentlichen“, BT-Umdruck Nr. 56 v. 24.01.1951, Blatt 2. Zur Diskussion vgl. 114. Sitzung des Deutschen Bundestages, 25.01.1951, Plenarprotokoll S. 4294 f. Der Abg. Fisch (KPD) verlangte eine „Verpflichtung“ der Veröffentlichung: „Wenn das Bundesverfassungsgericht seiner Sache so sicher ist, dann braucht es keine Angst zu haben, der Begründung des Mehrheitsstandpunktes auch die Begründung des Minderheitsstandpunktes gegenüberzustellen und ihn der Öffentlichkeit mitzuteilen.“ 137 116. Sitzung des Deutschen Bundestages, 01.02.1951, Plenarprotokoll S. 4415. 138 116. Sitzung des Deutschen Bundestages, 01.02.1951, Plenarprotokoll S. 4415. Dabei merkte er kritisch an: „Man soll nicht immer sagen, daß man in Deutschland dafür noch nicht reif sei. Zur Freiheit und zum Fortschritt sollte man immer reif sein.“ 139 Kniesch, NJW 1949, S. 57, hingegen behauptete, dass „in der jüngsten Epoche […] unter dem Eindruck des Rechts der Besatzungsmacht“ die Einführung der Sondervoten verlangt worden sei, ohne dies zu belegen. Die dargestellte Diskussion um das GVG zeigt, dass diese Diskussion auch im deutschen Rechtskreis schon zuvor entstanden war. Ausländische Einflüsse haben diese Debatte zwar sicherlich beeinflusst, können jedoch nicht belegbar als entscheidender Auslöser für die Debatte bezeichnet werden. 140 Aus dem Schrifttum für eine offenere und weniger anonyme Gerichtsbarkeit etwa Cohn, NJW 1949, S. 55 f.; dagegen Kniesch, NJW 1949, S. 57. 141 Bryde, in: v. Ooyen/Möllers, Das BVerfG im politischen System, S. 321, 323.
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zusammenfassen „Man hatte Dringenderes zu tun“142: Nach der elementaren Katastrophe des Zweiten Weltkries stand nun auch ein rechtlicher Neustart an, beginnend mit einer demokratischen Verfassung. Man hatte sich auf ein Grundgesetz geeinigt, das von vielen lediglich als ein „Provisorium“ bezeichnet wurde.143 In allen staatlichen Funktionen wie Bürokratie, Politik und Jurisprudenz war ein „Neuanfang“ gewünscht, für den jedoch unbelastete Führungspersönlichkeiten fehlten und der Umgang mit „Mitläufern“ zu klären war.144 „Man hatte Dringenderes zu tun“ galt in dieser Zeit auch für das BVerfG selbst. Jede staatliche Institution musste sich etablieren und neu bewähren, insbesondere das neue Verfassungsgericht. In den 1950er-Jahren hatte sich das Gericht auf zwei Ebenen zu behaupten: Erstens musste es sich einen ebenbürtigen Platz im Verfassungsgefügte erarbeiten, zweitens war es nun dazu berufen, das vom Wortlaut lediglich vage umrissene Grundgesetz zu konkretisieren. Der erste Kampf um die eigene Autorität war notwendig, weil zu Beginn der Bundesrepublik die heutige starke Rolle des BVerfG keinesfalls vorgegeben war. Es handelte sich um eine „im Kern neuartige Institution“.145 Anders als den anderen Verfassungsorganen wurde dem BVerfG keine herausragende Stellung im GG zuerkennt, sondern es tauchte lediglich unter dem Titel „Rechtsprechung“ mit den anderen Bundesgerichten auf. Das BVerfGG verlautbarte in § 1 Abs. 1 etwas nebulös, dass das BVerfG „ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbstständiger und unabhängiger Gerichtshof“ ist. Die Formulierung „übrigen“ setzt sprachlich voraus, dass das BVerfG selbst ein Verfassungsorgan ist und auch in den Beratungen zum BVerfGG wurde dies immer wieder proklamiert.146 Der Status des Gerichts war aber zu Beginn seiner Arbeit nicht vollständig geklärt. Mehr noch: Es unterstand der Dienstaufsicht des Justizministeriums, was auch bedeutete, dass dort der Haushalt und das Personal verwaltet wurden.147 Die Ansiedlung des BVerfG in Karlsruhe bedeute eine Distanz zum politischen Betrieb und war auch angesichts der Nachbarschaft zum selbstbewussten BGH – nach eigenem Selbstverständnis der Erbe des Reichsgerichts – nicht die beste Startvoraussetzung.148 Das Gericht befand sich ins16.
142 143
Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11,
Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 125 f. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 31. Eine weitere kontroverse Diskussion dieser Zeit war die Frage, ob nun der Fortbestand des Deutschen Reiches (Kontinuitätsthese) oder dessen Untergang (Untergangsthese) zu verzeichnen war, dazu ebd., S. 32 ff. 145 Limbach, NJW 2001, S. 2913. 146 Volp, in: Mitarbeiterkommentar BVerfGG, § 1, Rn. 40 m. w. Nachw. 147 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 23 f. 148 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 20: „In der Vorstellung des Ministeriums war das Bundesverfassungsgericht eine Art Annex des Bundesgerichtshofs […].“ Zum Übergang vom Reichsgericht zum BGH ausführlich Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 269 ff. 144
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
gesamt in einer schwierigen Ausgangslage und musste seinen Emanzipationsprozess selbst anstoßen.149 Eine zentrale Rolle spielte dabei der berühmte „Statusbericht“ von Richter Leibholz,150 der schließlich in eine Denkschrift des gesamten Gerichts151 mündete. Die selbstbewusste Haltung des Appels, der intern152 und extern153 umstritten war, wird gleich zu Beginn deutlich: „Das Bundesverfassungsgericht als der oberste Hüter der Verfassung ist nach Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes und des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht zugleich ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan. Hieraus ergibt sich, daß das BVerfG weder einem anderen Bundesorgan noch einer Bundesbehörde unterstellt sein kann.“154
Letztendlich setzte sich das Gericht mit seinen Forderungen, insbesondere nach Autonomie über Haushalt und Personal, im Jahr 1953 durch und hatte damit ein erstes Ausrufezeichen gesetzt.155 Die zweite große Herausforderung des Gerichts war die Aktivierung und Konkretisierung des GG. In der Anfangszeit der Bundesrepublik spielte dabei vor allem die Vergangenheitsbewältigung eine große Rolle. Bereits zu Beginn seiner Tätigkeit wurde das BVerfG mit der Wiederbewaffnung Deutschlands und damit einem in Gesellschaft und Wissenschaft kontrovers diskutiertem156 149 François, in: Stolleis, Herzkammern der Republik, S. 52, 59 f., der dies vor allem mit einer Orientierung an der nordamerikanischen Rechtstradition erklärt; ähnlich Wehler, in: Stolleis, Herzkammern der Republik, S. 239. 150 Bericht des Berichterstatters an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur „Status“-Frage vom 21.03.1951, später abgedruckt in JöR Bd. 6 (1957), S. 120 ff. 151 Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.06.1952, später abgedruckt in JöR Bd. 6 (1957), S. 144 ff.; zu deren informellen Charakter Möllers, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 39, 49; ausführlich zu deren Bedeutung insgesamt Chatziathanasiou, Rechtswissenschaft 2020, S. 145 ff. 152 So distanzierte sich der Präsident des BVerfG Höpker-Aschoff in einem Brief an den Bundesjustizminister von den Reformideen seiner Kollegen, s. Schreiben des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Oktober 1952, später abgedruckt in JöR Bd. 6 (1957), S. 149 ff. Darauf reagierte der Vizepräsident des BVerfG Katz mit einem kritischen Brief an den Bundesjustizminister, indem er klarstellte, dass seine Meinung „sich mit der aller anderen 20 Mitglieder – ausgenommen also nur die des Präsidenten Dr. Höpker-Aschoff und des Kollegen Dr. Geiger – vollen Umfangs deckt“, s. Schreiben des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Oktober 1952, später abgedruckt in JöR Bd. 6 (1957), S. 156 ff. 153 Thoma, Rechtsgutachten betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, später abgedruckt in: JöR Bd. 6 (1957), S. 161 ff. Rückblickende Kritik an der Statusschrift bei Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 281, 357 f. Laut Chatziathanasiou, Rechtswissenschaft 2020, S. 145, 149, ging der „Streit um die institutionelle Stellung des Gerichts an der Öffentlichkeit im Wesentlichen vorbei“. 154 Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.06.1952, später abgedruckt in JöR Bd. 6 (1957), S. 144. 155 Die komplizierte Geschichte bis zur Verabschiedung der nötigen Reformen durch den Deutschen Bundestag zeichnet Spieker, Herman Höpker Aschoff, S. 211, fundiert nach. Vgl. auch Chatziathanasiou, Rechtswissenschaft 2020, S. 145, 159 f. 156 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 21.
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Thema konfrontiert. Dabei betrat am Ende sogar das Sondervotum die öffentliche Bühne. Für die Errichtung der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) hatte Deutschland den Einsetzungsvertrag bereits ratifiziert.157 Hierbei versuchte die SPD die Wiederbewaffnung zu verhindern, indem sie eine präventive Normenkontrolle vor dem (angeblich „roten“) Ersten Senat anstrengte. Ohne Grundgesetzänderung sei eine Beteiligung an der EVG verfassungswidrig.158 Nur wenige Tage später ersuchte Bundespräsident Heuss, wohl auf Drängen der Regierung Adenauer,159 das Plenum des BVerfG um ein damals mögliches Rechtsgutachten.160 Intention dieses Vorgehens war es, eine Entscheidung durch den („roten“) Ersten Senat mittels einer Begutachtung der Rechtsfragen durch das Plenum zu verhindern.161 Zudem versuchten die Regierungsfraktionen beim (angeblich „schwarzen“) Zweiten Senat mittels eines Organstreitantrags gegen das Bestreben der SPD-Fraktion vorzugehen, eine Verabschiedung des EVG-Vertrags ohne Grundgesetzänderung als verfassungswidrig einstufen zu lassen.162 Das Gericht fand sich damit in einen politischen Streit von Regierung und Opposition hineingezogen. Das BVerfG ließ den SPD-Antrag zunächst an der Zulässigkeit scheitern.163 Das Plenum beschloss daraufhin, dass ein Plenargutachten beide Senate hinsichtlich Verfahren zur selben Rechtsfrage binden würde,164 woraufhin Heuss den Auftrag auf Druck der Bundesregierung zurücknahm.165 Das BVerfG wandte damit die Gefahr ab, dass die politischen Akteure die jeweils unterschiedlich besetzten Senate gegeneinander ausspielen konnten. Eine bindende Entscheidung wollten sie nur gemeinsam, im Plenum, treffen.166 Wohl auf Druck der Öffentlichkeit erklärte Adenauer daraufhin im Namen des Bundeskabinetts: 157 Am Ende scheiterte die EVG an der fehlenden Zustimmung der Französischen Nationalversammlung. Eingehend dazu Haltern, Europarecht I, S. 50 f. 158 Vgl. BVerfGE 2, 79 f. – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. 159 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 22. 160 BVerfGE 2, 79, 81 – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Der dafür grundlegende § 97 BVerfGG wurde 1956 durch Gesetz gestrichen, BGBl. I, S. 664. 161 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 22. 162 BVerfGE 2, 79, 82 f. – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. 163 BVerfGE 2, 79, 82 – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. 164 BVerfGE 2, 79 – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. 165 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 22. Ebd. auch näheres zur scharfen Kritik am BVerfG. 166 BVerfGE 2, 79, 86 – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft: „Wollte das Gericht nicht im Spiele der Zuständigkeiten seine Autorität verlieren, so mußte es über das Verhältnis des Gutachtenverfahrens zu den Urteilsverfahren und eines Plenargutachtens zum Urteil eines der Senate grundsätzliche Verfahrensregeln aufstellen, die sich aus den Grundgedanken des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ergeben.“
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„Das Bundeskabinett stellt einmütig fest, daß es niemals daran gedacht hat, die Rechte und die Würde des BVerfG anzutasten oder auch nur in Zweifel zu ziehen. Das Bundeskabinett achtet das BVerfG als einen integrierenden Bestandteil des demokratischen Rechtsstaates.“167
Eine erste bestandene Feuertaufe für das Gericht. Neben diesen institutionellen Grabenkämpfen kam es im Zuge dieser Verfahren auch zu ersten überraschenden Durchbrechungen des Beratungs- und Abstimmungsgeheimnisses: Der Plenumsbeschluss erging mit 20 zu zwei Stimmen, was das BVerfG auch im amtlichen Entscheidungsband mittteilte, womit erstmals die Geheimhaltung der Abstimmung durchbrochen wurde.168 Eine gesetzliche Ermächtigung gab es dafür zu diesem Zeitpunkt nicht. Dieser Neuerung nicht genug wurde ein Sondervotum des Richters Geiger im Jahr 1953 nachträglich in einer wissenschaftlichen Publikation veröffentlicht.169 Erscheint die rechtliche Kritik am Plenumsbeschluss vertretbar, überrascht die (wissenschaftliche) Veröffentlichung des Sondervotums ohne Rechtsgrundlage doch sehr. Sicherlich handelt es sich hier aufgrund des Gutachterverfahrens, das kein gerichtliches Verfahren im engeren Sinne ist, um einen Sonderfall, zumal der Gutachtenantrag sogar wieder zurückgenommen worden war.170 Dennoch ist es beachtlich, dass Geiger sich in dieser politisch aufgeladenen Situation zu einer Veröffentlichung entschied. Dies dürfte auch im Plenum des BVerfG nicht allen gefallen haben.171 Darüber hinaus lässt sich nachverfolgen, dass Geiger sich schon zuvor als Befürworter des Sondervotums offenbart hatte: Im Südweststaat-Verfahren172, 167 Bulletin der Bundesregierung Nr. 205 v. 23.12.1952, 1785, abgedruckt bei Wild, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 70, 72. Bundesjustizminister Dehler hatte vor Adenauers Äußerungen hingegen deutliche Kritik am BVerfG verlautbaren lassen, s. Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 22. 168 BVerfGE 2, 79 – Gutachten Europäische Verteidigungsgemeinschaft. 169 Geiger in: Institut für Staatslehre und Politik e. V. Mainz, Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2, Halbbd. 2, S. 822 ff. Ebd., S. 824, kritisiert Geiger den Ausspruch der Bindungswirkung durch Plenargutachten: „Dem BVerfG fehlt sonach die Kompetenz, abstrakt und selbstständig zu bestimmen, daß ein Gutachten des Plenums die Senate bindet. Es kann zwar Recht sprechen, aber nicht Recht setzen.“ Später nochmals abgedruckt in: Geiger, Abweichende Meinungen, S. 7 ff. Darüber hinaus soll Geiger später beim Konkordatsurteil (BVerfGE 6, 309) seine abweichende Meinung sogar an Interessierte verschickt haben, welche jedoch wieder eingesammelt wurden, so Fromme, JöR Bd. 32 (1983), S. 63, 68. Auch dieses Sondervotum wurde später in Geiger, Abweichende Meinungen, S. 75 ff., veröffentlicht. 170 Ähnlich Federer, JZ 1968, S. 511, 518. 171 Vgl. dazu eine spätere Äußerung von Zweigert, der zu dieser Zeit Richter am BVerfG war, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 129 (Hervorh. und Abkürzungen i. Orig.): „Im Falle des Gutachtens betr. die Europäische Verteidigungsgemeinschaft […] haben die vereinigten Senate des Gerichts einen Beschluß gefaßt, daß dieses Gutachten die Senate binde, und mein hochverehrter Kollege Geiger hat damals eine dissenting opinion produziert. Insofern kann man ihn heute rückschauend als den ‚illegitimen Vater‘ der dissenting opinion bezeichnen; denn damals war es in der Tat illegitim.“ 172 BVerfGE 1, 14 – Südweststaat.
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das einen Tag nach der Einsetzung des BVerfG mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung begann,173 verfasste Geiger eine geheime abweichende Meinung, welche allerdings erst im Jahr 1989 veröffentlicht wurde.174 Schon bei der ersten Senatsentscheidung in der Geschichte des BVerfG kam es also zu einem (unveröffentlichten) Sondervotum. Darüber hinaus hatte Geiger auch in seinem früh erschienenen Kommentar zum BVerfGG verlautbart, dass er keine gesetzliche Beschränkung erkennen könne, die Richter*innen die Abgabe eines Sondervotums untersage: „Das Gesetz schweigt über die Frage. Es gibt auch sonst kein gesetzliches Verbot des Sondervotums. Dass es in der deutschen Gerichtsbarkeit bisher nicht üblich war, innerhalb der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit auch für unzulässig gehalten wird, besagt nichts für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit in Verfahren des höchsten, durch das Gesetz besonders freigestellten und mit besonderen Vollmachten für eine Gerichtsbarkeit eigener Art ausgestatteten Gerichtshofes, der zugleich Verfassungsorgan ist. Alle ihm vergleichbaren Gerichtshöfe kennen das dissenting vote.“175
Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter überraschend, dass Geiger sich dazu entschieden hatte, auch ohne gesetzliche Ermächtigung Sondervoten zu veröffentlichen. Rechtlich überzeugen kann seine Rechtsauffassung allerdings nicht: Zwar existierte kein explizites Verbot des Sondervotums, mit dem richterlichen Beratungsgeheimnis war es aber zweifellos nicht zu vereinbaren. Insgesamt betrieb das BVerfG zu Beginn seiner Tätigkeit in großem Umfang Vergangenheitsbewältigung, die gleichzeitig auf die Zukunft und damit einen demokratischen Rechtsstaat ausgerichtet war.176 Exemplarisch sind hier die Statusfrage der Beamt*innen177, das Verbotsverfahren der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei (SRP)178 und das Lüth-Verfahren179 zu nennen. Für die Institution Verfassungsgericht bestand dabei eine „Traditionslosigkeit“,180 die für das Gericht selbst eine gewisse Freiheit mit sich brachte, für die Parlamentarier*innen und Regierungen andererseits mit Unsicherheit verbunden war. Die zögerliche Haltung gegenüber der Einführung der abweichenden Meinung lässt sich in diesem Kontext besser verstehen. Die Zeit schien für das Son173 BVerfGE 1, 1 – Südweststaat (einstweilige Anordnung). Dazu Menzel, in: ders./MüllerTerpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 16. 174 Geiger, Abweichende Meinungen, S. 1 ff. 175 Geiger, BVerfGG, Vorbemerkung vor § 17, Anm. 2 (S. 66 f.). 176 Wehler in: Stolleis, Herzkammern der Republik, S. 239, sieht den „liberale[n] Rechtsstaat“ in Deutschland erst „in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts abschließend realisiert“. Für einen Blick aus französischer Perspektive vgl. Jouanjan in: Stolleis, Herzkammern der Republik, S. 137, 140, der das BVerfG auch in dieser Zeit bereits als „wichtigste Beispiel einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit“ bezeichnet. 177 BVerfGE 3, 58. 178 BVerfGE 2, 1. 179 BVerfGE 7, 198. 180 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 30.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
dervotum noch nicht bereit, auch wenn das Beispiel Geiger zeigt, dass im Gericht manche diesem Instrument bereits sehr zugeneigt waren.
d) Das Deutsche Richtergesetz von 1961 „Keine Experimente!“ Wahlslogan der CDU 1957
Das neu erlassene GG erteilte in Art. 98 Abs. 1 dem Bund den Auftrag ein besonderes Gesetz betreffend der Richter*innen zu erlassen – verabschiedet wurde ein solches aber erst 1961.181 Nach einem „Rothenburger Entwurf“ der Landesjustizverwaltungen im Jahr 1950, dem „Entwurf des Richterbundes“ von 1953, einer „Referenten-Denkschrift zur Vorbereitung eines Richtergesetzes“ in 1954, einem Vorentwurf und Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums (beide 1955) wurde ein Entwurf im Jahr 1957 dem Bundesrat zugeleitet.182 Wegen des Ablaufs der Legislaturperiode im selben Jahr verzögerten sich die Beratung und Beschlussfassung jedoch noch weiter. Vom Sondervotum war in diesem Gesetz zunächst überhaupt keine Rede. Die Bundesregierung hatte einen Entwurf (§ 42 DRiG) eingebracht, welcher der heutigen Regelung in § 43 DRiG entsprach und das Beratungsgeheimnis der Richter*innen regeln sollte.183 In diesen Entwürfen gab es keine Regelung zu abweichenden Meinungen. Der „Rothenburger Entwurf“ vom „Justizcollegium“ als Ständige Konferenz der Landesjustizverwaltungen der westlichen Besatzungszonen sah die Möglichkeit der abweichenden Meinungen allerdings vor. Berichterstatter Schlee (CDU/CSU) war dazu ablehnend eingestellt.184 Arndt (SPD) kämpfte dagegen im Rechtsausschuss erneut für ein solches Aufbrechen der Anonymität: „Wenn wir den Richter haben wollen, den wir brauchen, muß es ihm freistehen, mit seinem Namen für seine Entscheidung einzutreten. […] Wir brauchen namentliche Richter in Deutschland. […] Also hier habe ich aus der Grundkonzeption heraus eine andere Auffassung, als sie der Gesetzentwurf verfolgt.“185
Im weiteren Verlauf der Ausschussberatungen kam es wiederum zu einer intensiven Diskussion um die Einführung des Sondervotums. Der Abgeordnete 181
BGBl. I, S. 1665. Gesetzgebungsgeschichte entnommen BT-Drs. 3/516, S. 27; s. dazu auch Wagner, Der Richter, S. 222 ff. 183 BT-Drs. 3/516, S. 7: „Der Richter hat über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen.“ Zu vorherigen – inhaltlich nicht abweichenden – Entwürfen vgl. die Darstellung bei Federer, JZ 1968, S. 511, 517. 184 95. Sitzung des Rechtsausschusses, 25.02.1960, Stenographisches Protokoll, S. 19. 185 95. Sitzung des Rechtsausschusses, 25.02.1960, Stenographisches Protokoll, S. 30 f. Vgl. dazu auch BT-Drs. 3/2785, S. 15. 182
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Schlee (CDU/CSU) äußerte sich in einer Ausschusssitzung ablehnend gegenüber diesem Instrument, weil das Gericht „ein einheitliches Organ sein und nicht ein Gremium aus mehreren selbstständigen Richtern“ sein sollte. „Es bleibe jedem Richter unbenommen, sich wissenschaftlich oder in Zeitschriften mit den Rechtsfragen zu befassen, die der einzelne Prozeß aufwerfe.“186 Dagegen wandte sich Arndt (SPD) entschieden: Von einem „anonymen Kollektiv“ hielt er, auch bei den Instanzgerichten, nichts, vielmehr solle der Richter „jedenfalls wenn er darauf Wert lege, mit seiner Persönlichkeit für seine Auffassung eintreten können“.187 Er war auch der Ansicht, dass eine „Fehde in der Fachpresse“ keine geeignete Alternative darstelle.188 Roemer, Vertreter des Bundesjustizministeriums im Rechtsausschuss, widersprach: „Er berichtet, die Bestimmungen über das Beratungsgeheimnis seien allen Präsidenten der obersten Bundesgerichte mit dem Entwurf zugänglich gemacht worden. Von keiner richterlichen Seite habe man eine Befürwortung des dissenting Vote bekommen, das Abg. Dr. Arndt in das Gesetz aufnehmen wolle. Auch der Deutsche Richterbund habe sich dagegen ausgesprochen. Er gebe zu, daß gewisse Gründe für das dissenting vote beispielsweise in der Verfassungsgerichtsbarkeit sprächen. Das sei aber nicht eine Frage des Richtergesetzes, sondern eine Frage des verfassungsgerichtlichen Verfahrens.“189
Dazu könne die Reform „mindestens in politisch heiklen Verfahren unter Umständen auch den Zwang zum dissenting vote schaffen, wenn sich der betreffende Beisitzer gegen den Verdacht schützen wolle, in einem bestimmten Sinne votiert zu haben, was ihm von irgendeiner Seite angekreidet werden könnte“.190 Arndt erwiderte, „die gegenwärtige Regelung sei natürlich sehr bequem. Daß aus dem Richterbund eine andere Stellungnahme gekommen sei, erstaune ihn nicht.“ Dies könne aber „für den Ausschuß kein Gesichtspunkt sein“.191 Dazu 186 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 25 (Kein Wortprotokoll). 187 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 26 (Kein Wortprotokoll). Seinen Schwerpunkt legt Arndt allerdings auf die Revisionsgerichte: „Daß ein Richter sagen könne, daß er dissentiere, sei bei der revisionsrichterlichen Rechtsprechung unerläßlich, zumal da es sich hier um reine Rechtsfragen handle. Die revisionsrichterliche Rechtsprechung würde dadurch auch davor bewahrt, in Formeln zu erstarren. Es würde dadurch unmöglich gemacht, daß, was man in der revisionsrichterlichen einschließlich der verfassungsrichterlichen Rechtsprechung immer wieder erlebe, auf rechtliche Argumente, die dem Gericht unbequem seien oder Schwierigkeiten bereiteten, in der Urteilsbegründung nicht eingegangen werde.“ 188 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 42 (Kein Wortprotokoll). 189 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 28 (Kein Wortprotokoll). Daneben weist er aber auch darauf hin, dass das Sondervotum „auch beim Supreme Court durchaus umstritten“ sei. 190 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 28 (Kein Wortprotokoll). 191 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 29 (Kein Wortprotokoll).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
teilte er noch gegen Geiger aus, mit dem er bei der gesetzlichen Errichtung des BVerfG im Unterausschuss noch hart um das Sondervotum gerungen hatte und der nun mittlerweile selbst am BVerfG als Richter tätig war: „Bei der Verfassungsgerichtsbarkeit sei diese Frage sehr diskutiert worden, und man habe erlebt, daß der Regierungsvertreter, der geradezu mit größter Verbissenheit das dissenting vote bekämpft habe, das erste dissenting vote abgegeben habe, daß es in der deutschen Rechtsgeschichte gebe. Dabei habe sich gezeigt, daß als Bedürfnis empfunden werde.“192
Arndt nutzte also Geigers wissenschaftliche Publikation des Sondervotums zum Plenarbeschluss hinsichtlich der Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands um seine eigene Position zu stärken. Darüber hinaus hätten ihm „verschiedene Verfassungsrichter“ offenbart, „es sei jammerschade, daß das Gericht nicht offenbaren könne, mit welcher großen Mehrheit oder Einstimmigkeit es gewisse Entscheidungen gefaßt habe.“193 Unterstützung erhielt Arndt vom Vorsitzenden Hoogen (CDU), der sich insbesondere wünschte, die Richter zu stärken: „Richterpersönlichkeiten hätten sich in Deutschland bisher nicht herausstellen können.“194 Dagegen wandte Wahl (CDU/CSU) ein, seine Kontakte in die Justiz hätten ihm eher ein Bild der Überarbeitung offenbart, weshalb die Richter dieses Instrument nur entfernt als eine „ernst zu nehmende Möglichkeit“ sähen. „Über ein dissenting vote beim Bundesverfassungsgericht ließe sich noch am ehesten streiten.“195 Schlee sprach sich mit markigen Worten gegen das Sondervotum aus: „Die Richter seien Menschen wie alle anderen auch. Die Bestimmung über die Wahrung des Abstimmungs- und Beratungsgeheimnisses, die die unbefangene Entscheidung schützen solle, komme einer menschlichen Schwäche entgegen. Das dissenting vote würde einer anderen menschlichen Schwäche die Tür öffnen. Es würde die Gefahr geschaffen, daß der Richter nicht erst sachlich unbefangen abstimme und dann seine Abstimmung bekanntgebe, sondern sich erst überlege, was er veröffentlichen wolle, und dann entsprechend abstimme.“196
192 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 29 (Kein Wortprotokoll). Geiger war damals Referent im Bundesjustizministerium. 193 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 29 (Kein Wortprotokoll). 194 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 33 (Kein Wortprotokoll). 195 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 29 f. (Kein Wortprotokoll). Unterstützung erhielt er von Schwarzhaupt (CDU), ebd., S. 30: „Bei der Gestaltung unseres Verfahrens könne man nicht an dieser Ecke mit einer Reform der Rechtsstellung des Richters anfangen. Die Einführung eines dissenting vote könne am Ende einer Gesamtreform stehen. Ob man es in dieser Form einführen sollte, sei ihr noch zweifelhaft. Jedenfalls könne man es heute nicht“. 196 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 31 (Kein Wortprotokoll).
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Der Abgeordnete Kanka (CDU/CSU) sah sich angesichts des Einwandes der Arbeitsbelastung der Gerichte, der insbesondere durch Wahl vorgebracht wurde, nicht mehr in der Lage, das Sondervotum zu befürworten; „er habe sich eines Besseren belehren lassen“.197 Auch das Argument der Bildung von stärkeren Richterpersönlichkeiten wies er zurück: „Was das Schlagwort von der Bildung des Richters betreffe, so sollten die Richter der höheren Instanzen ihre Ausbildung wie die Bildung ihres Charakters und ihrer Persönlichkeit im Wesentlichen schon abgeschlossen haben.“198
Er meinte, dass mit „aller Vorsicht […] von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht werden“ könne.199 Hielt er damit Durchbrechungen des Beratungsgeheimnisses, wie sie etwa durch Geiger stattfanden, für zulässig? Dies bleibt unklar. Der Ausschussvorsitzende Hoogen (CDU/CSU), neben Arndt Befürworter des Sondervotums, sah nun die Zeit für eine Entscheidung gekommen: Diese „Frage müsse, nachdem sie einige Male angeschnitten worden sei, jetzt im Ausschuß zu einer Lösung gebracht werden“.200 Jahn (SPD) sprang den Befürwortenden bei und entgegnete insbesondere Wahl: „Es gehe nicht um die Frage, ob der Richter normalerweise Zeit dazu habe, eine abweichende Meinung öffentlich zu vertreten. Die Frage sei vielmehr, ob der Richter das tun könne, wenn ihm eine bestimmte Frage wichtig genug sei. Die Veröffentlichung der abweichenden Meinung werde sicherlich keine Massenerscheinung werden, sondern voraussichtlich in einer verhältnismäßig geringen Zahl von Fällen vorkommen.“201
Auch der Abgeordnete Seidl (CDU/CSU) sprach sich für die Einführung der Sondervoten „beim Revisionsgericht und vor allem beim Verfassungsgericht“ aus.202 Der Vertreter des Bundesjustizministeriums Roemer wies in der weiteren Diskussion auf die Praxis des Internationalen Gerichtshofs hin: 197 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 32 (Kein Wortprotokoll). Ähnlich Benda (CDU/CSU), ebd., S. 32: „Er folge zwar grundsätzlich den von Abg. Dr. Arndt vorgetragenen Gedanken, trete aber für eine Beschränkung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Revisionsinstanz ein. Wenn das, was Abg. Dr. Wahl vorgetragen habe, richtig sei, habe man sicherlich alle Veranlassung, sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, ob man da nicht etwas tun müsse.“ Er plädierte aber für die Einführung des Sondervotums „nur in der Verfassungsgerichtsbarkeit und bei den obersten Bundesgerichten“. 198 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 36 f. (Kein Wortprotokoll). 199 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 37 (Kein Wortprotokoll). 200 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 34 (Kein Wortprotokoll). 201 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 35 (Kein Wortprotokoll). 202 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 34 (Kein Wortprotokoll).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„Dieser erlasse sehr wenige Entscheidungen und habe infolgedessen Zeit, sie außerordentlich eingehend zu begründen. Bei der Herkunft der Richter aus allen Rechtsordnungen der Welt […] bestehe gerade dort ein besonderes Bedürfnis, concurring und dissenting opinions zum Ausdruck zu bringen. Hierdurch verlören die Entscheidungen aber geradezu jede Fasson. Der Umfang der verschiedenen abweichenden oder nur im Ergebnis übereinstimmenden Einzelvoten der Richter übersteige meistens den Umfang der Entscheidung der Mehrheit ganz beträchtlich. Was dort notwendig und begreiflich sei, brauche im innerstaatlichen Bereich nicht unbedingt richtig zu sein. Trotzdem habe er […] schon zu erkennen gegeben, daß von der Regierung aus die Gründe, die für ein dissenting vote […] im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit, vielleicht auch der Revisionsgerichtsbarkeit sprechen mögen, nicht verkannt würden.“203
Weitergehend schlug er vor, „die Chefpräsidenten der oberen Bundesgerichte und vor allem des Bundesverfassungsgerichts zu hören“.204 Der Abgeordnete Weber (CDU/CSU) erkannte in den veröffentlichten Sondervoten dagegen eine Gefahr für das Ziel eines Gerichtsprozesses, eine „Rechtsfriedenswirkung“ zu erreichen: „Weiter werde zu berücksichtigen sein, daß die Deutschen sehr rechthaberisch seien und der Fortführung von Streitigkeiten hiermit geradezu Tür und Tor geöffnet werde. […] [I]n Deutschland bestehe allgemein wenig Neigung, den Spruch des Gerichts anzuerkennen, und dieser Sucht, den Streit fortzuführen, würde nur Vorschub geleistet werden, wenn die abweichenden Meinungen veröffentlicht würden. Zu dieser Meinung komme er insbesondere auf Grund der Feststellung, daß man in einer Zeit starker wirtschaftlicher, sozialer und politischer Spannungen lebe, die durch die Teilung Deutschlands noch verstärkt würden. Daß eine derartige Zeit besonders geeignet sei, einen solchen Schritt zu tun, den man ernstlich prüfen müsse, und von einer bewährten Tradition abzugehen, bezweifle er. […] Weber erklärt, es wäre sicher ein Idealzustand, wenn erreicht werden könnte, daß jeder für seine Meinung auch nach außen hin voll und ganz einträte. In einer Zeit starker politischer, sozialer und wirtschaftlicher Spannungen sei der Richter aber vielleicht überfordert, wenn er in den Lebensfragen der Nation, die an ihn und insbesondere an das Bundesverfassungsgericht herangetragen würden, nunmehr auch noch nach außen hin in Auseinandersetzungen hereingezogen werden würde.“205
Jahn (SPD) entgegnete, dass man mit solchen „verallgemeinernden Feststellungen“ zur Diskussion „wenig“ beitrage. Zudem sei festzustellen, dass sich das Gericht „auch heute Angriffen aussetze“: „Daß der einzelne Richter seine abweichende Meinung in einer öffentlichen Diskussion vertreten müsse, sei doch nicht negativ zu werten.“206 Auch Arndt (SPD) zweifelte an den Feststellungen Webers: 203 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 35 f. (Kein Wortprotokoll). 204 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 36 (Kein Wortprotokoll). 205 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 37 f. (Kein Wortprotokoll). Auch er plädierte für eine Anhörung der Präsidenten der betreffenden Bundesgerichte. 206 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 40 (Kein Wortprotokoll).
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„Die sozialen Spannungen überstiegen zur Zeit ein normales Maß nicht. Sie seien in einer modernen Industriemassengesellschaft eine normale Erscheinung. Wenn man hierauf abstelle, könnte man niemals irgendwelche Schritte zur Rechtserneuerung tun.“207
Benda (CDU/CSU) erwiderte, dass „man sich die Entscheidung nicht aus einem gewissen idealistischen Schwung heraus einfach machen sollte, indem man alle Bedenken, die vorgebracht würden, aus dem Gefühl heraus beiseite schiebe, etwas zu machen, was in der Öffentlichkeit vielleicht gut ankommen würde.“208 Gegen eine Einführung der abweichenden Meinung beim Verfassungsgericht wandte sich Benda allerdings nicht; hier könne dieses Instrument insbesondere dann hilfreich sein, „wenn entweder eine Lücke in der rechtlichen Situation vorhanden sei oder die Diskussion noch nicht abgeschlossen sei“.209 Nicht jedes Urteil führe dazu, dass eine Diskussion über die rechtlichen Themen abgeschlossen sei. Jahn (SPD) unterstützte diese Ansicht, indem er klarstellte, „daß zwischen der Autorität der einzelnen Entscheidung, die den konkreten Fall zum Abschluß bringe, und der danebenstehenden Rechtsauffassung des einzelnen Richters deutlich unterschieden werden müsse. Diese greife die Autorität der Entscheidung nicht an, sondern diene lediglich zur Fortführung der Auseinandersetzung mit Rechtsauffassungen.“210 Auch die gerichtsinternen Wirkungen des Sondervotums spielten bei den Kritikern eine Rolle. So zeigt sich Wahl (CDU/CSU) diesbezüglich skeptisch: „Es frage sich, ob die Kollegialität nicht unter Umständen dadurch gestört werde, daß einer der Richter, der überstimmt worden sei, an die Öffentlichkeit gehe.“211
In der Rechtausschusssitzung zum DRiG fanden also intensive Diskussionen statt, die nach dem Willen des Vorsitzenden und anderer Abgeordnete auch in konkreten Ergebnissen münden sollten. Weber (CDU/CSU) stellte den Antrag, „das dissenting vote schlechterdings abzulehnen“, der allerdings „mit 9 gegen 4 Stimmen bei 3 Enthaltungen“ abgelehnt wurde. Ebenso wurde die Einführung des Sondervotums „für alle Kollegialgerichte mit 12 gegen 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen“ und „für die oberen Bundesgerichte, die Staatsgerichtshöfe der Länder und das Bundesverfassungsgericht […] mit 8 gegen 8 Stimmen abgelehnt.“ Dagegen folgte auf Antrag des Abgeordneten Schneider (DP), „über die Einführung des dissenting vote beim Bundesverfassungsgericht und den Staats207 110. Sitzung des (Kein Wortprotokoll). 208 110. Sitzung des (Kein Wortprotokoll). 209 110. Sitzung des (Kein Wortprotokoll). 210 110. Sitzung des (Kein Wortprotokoll). 211 110. Sitzung des (Kein Wortprotokoll).
Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 41 Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 40 Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 45 Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 45 Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 43
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
gerichtshöfen abstimmen zu lassen“ eine mehrheitliche Befürwortung der Einführung „mit 12 gegen 4 Stimmen“. Für das weitere Verfahren wurde bestimmt, „neben der Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts und der Länderverfassungsgerichte auch die Stellungnahme der oberen Bundesgerichte“ einzuholen. Dieser Beschluss erging „mit 15 Stimmen gegen 1 Stimme“; Arndt (SPD) appellierte dabei, „daß nicht die persönliche Meinung des Präsidenten, sondern die Meinung der Gerichte eingeholt werde“.212 Er schien wohl bereits zu ahnen, dass der damalige BVerfG-Präsident ein mächtiger Gegner im Kampf um das Sondervotum werden sollte. Die Wortmeldungen und auch die Abstimmung zeigen, dass es nicht allein die SPD-Abgeordneten waren, die bereits zu dieser Zeit eine Einführung des Sondervotums befürworteten. Bei den konservativen Mitgliedern des Bundestags war zwar eine deutlich größere Skepsis zu beobachten – was die Einführung der abweichenden Meinung beim BVerfG anging, zeigten sie sich allerdings ebenfalls bereit für Veränderungen. Bereits wenige Monate später kam es zu einer Anhörung der Präsidenten des BVerfG, BFH, BGH, BAG, BVerwG, OLG Düsseldorf, sowie Vertretern des Deutschen Richterbundes.213 BVerfG-Präsident Gebhard Müller stellte zunächst klar, dass für ihn „diese Frage in das Gerichtsverfassungsgesetz gehört“ und „das Bundesverfassungsgericht nicht in diese Regelung einbezogen werden sollte“. Eine Anrufung des Plenums sei ihm bisher nicht möglich gewesen, weshalb er nur seine persönliche Auffassung wiedergebe. Neben vielen offenen Fragen der genauen Ausgestaltung des Sondervotums stellte er klar: „Unbestritten ist wohl, daß ein derartiges abweichendes Votum zweifellos der Weiterbildung des Rechts dienen kann, wie vor allem die Entwicklung des amerikanischen Obersten Gerichtshofs gezeigt hat, und daß es auch ein geeignetes Mittel zur Erziehung von Richterpersönlichkeiten ist.“ Müller stellte auch die damalige Praxis des BVerfG dar, bei der es „die Regel“ sei, „daß schon vor der ersten Beratung Richter, die mit dem Votum oder den Voten nicht übereinstimmen, ihre abweichende Meinung dem Vorsitzenden des Senats und den übrigen Mitgliedern des Senats schriftlich zur Kenntnis bringen.“ Diese Stellungnahmen „blieben allerdings gesondert bei den Gerichtsakten und werden verständlicherweise den Prozeßbeteiligten nicht mitgeteilt.“ Sollte „dieselbe Rechtsfrage“ bei einer späteren Entscheidung erneut auftauchen, „liegen diese Unterlagen dem neu entscheidenden Senat vor.“ Die Abfassung einer abweichenden Meinung nach einer getroffenen Entscheidung sei den Richtern ebenfalls gestattet: „Hier ist beim Bundesverfassungsgericht seit seinem Bestehen die Übung, daß ein derartiger Richter berechtigt ist, seine abweichende Meinung und deren schriftliche Begrün212 110. Sitzung des Rechtsausschusses, 15.06.1960, Stenographisches Protokoll, S. 46 (Kein Wortprotokoll). 213 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 2a.
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dung in einem gesonderten Votum dem Präsidenten des Gerichts zu übergeben, der dieses Votum im Panzerschrank, also unter Geheimsachen, aufbewahrt.“214
Hinsichtlich des veröffentlichten Sondervotums zeigte sich Gerichtspräsident Müller als entschiedener Gegner: „Wenn ich davon ausgehe, daß die Urteile der Gerichte eine Entscheidung des Streits mit möglichst größer Autorität und außerdem eine Herstellung des Rechtsfriedens bringen sollen, dann habe ich die Überzeugung, daß die Veröffentlichung von Sondervoten bei der deutschen Mentalität diese beiden obersten Zwecke der Rechtsprechung gefährden würde.“215
Insbesondere im Bereich der Verfassungsbeschwerde könne das Sondervotum dazu führen, dass die „unterlegene Partei durch ein Sondervotum in der Meinung bestärkt würde, es sei ihr doch Unrecht geschehen.“ Dazu gab er zu bedenken: „Bei Veröffentlichung der Minderheitsvoten besteht die Gefahr, daß sich die Angriffe gegen eine Entscheidung des Gerichts genauso wie die unerwünschte Zustimmung zu dieser Entscheidung nicht nur gegen das Gericht, sondern gegen einzelne Richter richten. Im Bundesverfassungsgericht sind häufig Persönlichkeiten, die vor ihrer Berufung an das Gericht bestimmte Grundauffassungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Art vertreten haben. Es kann, wenn das dissenting vote […] eingeführt würde, geradezu ein Zwang für diese Richter bestehen, wenn eine Entscheidung des Gerichts ergeht, die ihrer früheren öffentlich bekundeten Grundauffassung nicht entspricht, ein dissenting vote abzugeben. Man hat gerade von diesen Richtern in bestimmten Kreisen eine bestimmte Haltung erwartet, und wenn das Gericht nun anders entscheidet, erwartet man, daß diese Richter mitteilen, ob sie überstimmt worden sind oder nicht, wie und warum sie so abgestimmt haben. […] Daraus ergibt sich […] auch eine gewisse Gefährdung der Unabhängigkeit […].“216
Auch die Wahrnehmungen von Entscheidungen seien unterschiedlich „je nachdem, ob sie mit einem dissenting vote versehen sind oder nicht.“ Diese „Gefahr“ sei „besonders groß und sehr bedenklich in den Fällen […] wo Stimmengleichheit des Gerichts vorliegt.“ Als Beispiel nannte Müller die Entscheidung Südweststaat217 nach der sich „in der Öffentlichkeit eine große Diskussion entzündet“ habe, „weil einer der beteiligten Regierungschefs in mehreren öffentlichen Reden behauptet hatte, daß dem ersten Südweststaat-Urteil die innere Autorität und Kraft fehle, denn es sei mit Stimmengleichheit gefaßt worden“. Dieser Fall sei „ein Beweis dafür, daß, jedenfalls nach der deutschen Mentali214 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 44 f. 215 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 46. 216 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 46. 217 BVerfGE 1, 14.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
tät, der Versuch gemacht wird, ein Urteil verschieden zu bewerten, je nach der Mehrheit der Stimmen oder nach dem Umfang der Minderheit“.218 Müller zog auch Parallelen zum U. S. Supreme Court, wo es zur Praxis gehöre, dass „nahezu alle Entscheidungen mit einer Mehrheit von 5 gegen 4 getroffen würden“ und somit eine Gruppenbildung entlang ideologischer Lager stattfinde. Zwar bestehe bei einer Einführung des Sondervotums in Deutschland nicht automatisch die Gefahr einer Bildung von Lagern, doch sei es „nicht ausgeschlossen, daß eine derartige Gruppenbildung mindestens von der Bevölkerung vermutet wird, wenn sich auf eine längere Zeit oder mehreren Urteilen immer dieselbe Minderheit gibt.“ Dies hielt Müller für gefährlich: „Ich würde das angesichts der deutschen Verhältnisse – ich erinnere Sie an die Schlagworte vom schwarzen und vom roten Senat – für das Ansehen des Gerichts in außergewöhnlichem Maße für schädlich halten. Ich glaube, es wäre […] auf die Dauer unerträglich, wenn durch die Einführung des dissenting vote in seiner schärfsten Form mit Veröffentlichung der Namen und der Zahl der Richter eine derartige Gruppenbildung vermutet würde, mit all den Nachteilen die sich daraus ergeben, wobei wir ja nie sicher sind, daß auch unsachliche Motive unterschoben werden, daß Schlüsse auf die Konfession der Richter, auf ihre frühere Parteizugehörigkeit, daß sogar Schlüsse darauf gezogen werden, welche Gruppe des Bundestages oder des Bundesrates den betreffenden Richter vorgeschlagen hat.“219
In diesem Kontext gab er auch zu bedenken, dass die Veröffentlichung von Sondervoten einen Einfluss auf die – damals noch möglich – Wiederwahl von Verfassungsrichtern haben könnte. Insgesamt zeigte Müller also eine ablehnende Haltung gegenüber den veröffentlichten Sondervoten. Zwar sei „eine versuchsweise, schrittweise Einführung oder der Versuch einer solchen Einführung“ bedenkenswert, die einzelnen „Modalitäten“ müssten aber „dem Gericht überlassen werden“.220 In einem späteren Portrait des ehemaligen BVerfG-Richters Wand wird Müllers ablehnende Haltung vor allem mit dessen Sorge um die Autorität des Gerichts erklärt.221 Der damalige Präsident des BGH Heusinger zeigte sich in einer wissenschaftlichen Publikation deutlich weniger entschlossen gegen die Veröffentlichung abweichende Meinung: aus seiner Sicht sei es „ernste Überlegung wert“, dieses Institut zumindest in der Revisionsinstanz einzuführen. Dies könnte der „Versteinerung“ des Rechts vorbeugen und die „sehr weit getriebene 218 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 47. 219 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 47. 220 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 03.11.1960, Stenographisches Protokoll, S. 49. 221 Wand, JöR Bd. 34 (1985), S. 89, 101. Dort findet sich auch folgende Aussage: „Noch immer ist aber – auch im vertrauten Gespräch unter Bundesverfassungsrichtern – im Streit, ob seine Einführung eine weise Entscheidung des Gesetzgebers gewesen ist.“
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Anonymität des Richters“ in Deutschland auflockern, auch wenn er angesichts der „Schattenseiten“ noch keine abschließende Meinung verkünden könne.222 Die übrigen angehörten Vertreter der Bundesgerichte sprangen hingegen Müller bei. BVerwG-Präsident Werner sah ausdrücklich eine Übereinstimmung zwischen den Ausführungen Müllers und dem „was die Präsidenten der oberen Bundesgerichte gestern Abend besprochen haben. Wir haben uns einmütig und sehr dezidiert gegen das offene Sondervotum ausgesprochen.“223 Somit hatte sich wohl auch BGH-Präsident Heusinger letztlich gegen das Sondervotum entschieden. Inhaltlich lehnte sich Werner stark an die von Müller vorgebrachten Gegenargumente an: Die Rezeption dieser fremden Rechtstradition lehnte er aufgrund der Systemunterschiede ab. Der von den Befürwortern erhoffte Beitrag zur Rechtsfortbildung werde in Deutschland „einmal dadurch gewährleistet […], daß die Urteile selbst schon die Minderheits- oder die Gegenmeinung zum Ausdruck bringen und sich mit ihr auseinandersetzen, zum andern durch die Auseinandersetzung im Schrifttum.“ Das unveröffentlichte Sondervotum in den Gerichtsakten sah er dagegen weniger kritisch, es sei allerdings beim BVerwG kaum vorgekommen: „Ich darf erwähnen, daß es bei uns in der siebenjährigen Praxis ein einziges Mal vorgekommen ist […]“.224 Die Stellungnahmen der Gerichtspräsidenten beeinflussten den weiteren Reformprozess merklich. Ausschussvorsitzender Hoogen (CDU/CSU) wies in einer folgenden Sitzung auf die ablehnenden Äußerungen der Bundesrichter hin und erklärte, dass er „daher keinen Antrag“ stelle, „von § 42 abzuweichen.“225 Es sollte demnach also beim Regierungsentwurf bleiben, der in dieser Norm das strikte Beratungsgeheimnis ohne Zulassung des Sondervotums regeln sollte. Arndt (SPD) erklärte in einer folgenden Sitzung, dass ihm „in dieser Frage keine Entscheidung lieber als eine negative Entscheidung“ sei. Zudem halte er nichts von „einer Trennung zwischen Verfassungsgerichten und anderen oberen Bundesgerichten“. Letztlich sei die Frage des Sondervotums „erörtert, aber nicht ausdiskutiert und bleibe gewissermaßen in der Schwebe. Sie solle auch im Schrifttum und in der Richterschaft noch weiter erwogen werden.“226 Wittrock (SPD) verlangte, dass im Ausschussbericht festgehalten werden müsse, dass der „Ausschuß das Problem offengelassen habe“ woraufhin Arndt hinzufügte, „daß dies deshalb geschehen sei, weil die Rechtsentwicklung noch nicht die Reife erlangt habe, die es erlaube, im ersten Richtergesetz bereits eine gesetzgebe222
Heusinger, ZZP 76 (1963), S. 321, 338. 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen graphisches Protokoll, S. 50. 224 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen graphisches Protokoll, S. 50 f. 225 129. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen graphisches Protokoll, S. 44 f. (Kein Wortprotokoll). 226 137. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen graphisches Protokoll, S. 25 (Kein Wortprotokoll). 223
Bundestages, 03.11.1960, StenoBundestages, 03.11.1960, StenoBundestages, 10.01.1961, StenoBundestages, 26.01.1961, Steno-
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
rische Entscheidung zu treffen.“227 Schlee (CDU/CSU) offenbarte den Zusammenhang der abgeblasenen Reform mit der Anhörung des BVerfG-Präsidenten: „Offengelassen habe man also die Frage hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts, weil man mit Rücksicht auf die Äußerungen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts die Frage noch nicht für so weit entwickelt halte, daß sie jetzt entschieden werden könne.“228
Die Enttäuschung über das erneute Scheitern der Reform wird insbesondere bei SPD-Vorreiter Arndt in der abschließenden Debatte über die Verabschiedung des Richtergesetzes sehr deutlich: „Das Gesetz hat viele Lücken. Wenn man sich über die neue Auffassung vom Richtertum klar wird, wie sie das Bonner Grundgesetz kennzeichnet, dann müßte es das Ergebnis sein, daß wenigstens für die hohen und höchsten Richter, die mit der reinen Rechtsprechung betraut sind, in den Revisions- und Verfassungsgerichten, mit dem Grundsatz der Anonymität gebrochen wird. Wenn wir die Richterpersönlichkeiten bekommen wollen, die wir mit Bewunderung und nicht ohne Neid in den angelsächsischen Ländern sehen, dann müssen wir anfangen, den Richter aus dem Behördendasein und aus der Anonymität zu erlösen, die ihn gegenwärtig bei uns immer noch kennzeichnen.“229
Arndt sah das Richtertum zu stark an die Struktur einer Behörde angeglichen und plädierte insbesondere dafür, die Anonymität zu durchbrechen. Anders als der Verwaltungsbeamte, der nur als Vertreter seiner Behörde agiere, müsse der Richter selbst in die Öffentlichkeit treten: „Nicht der Richter, sondern Gerichte sollen Recht sprechen, namentlich benannte Richter.“230 Die Betonung der individuellen Richterpersönlichkeit findet sich sogar auch im damaligen Entwurf der Bundesregierung wieder: „Der Entwurf verfolgt zwei allgemeine Ziele. Er will einmal die Unabhängigkeit der Richter ausgestalten und zum anderen zur Entfaltung der Richterpersönlichkeit beitragen.“231 Sehr auffällig ist die Betonung der einzelnen Richterpersönlichkeit im gleichen Atemzug mit der richterlichen Unabhängigkeit. Dazu heißt es weiter: „Nur eine starke Einzelpersönlichkeit kann Erkenntnisse richterlicher, wissenschaftlicher oder allgemeiner Art entwickeln. Das gilt sowohl für den allein entscheidenden 227 137. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 26.01.1961, Stenographisches Protokoll, S. 25 (Kein Wortprotokoll). 228 137. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 26.01.1961, Stenographisches Protokoll, S. 26 (Kein Wortprotokoll). Vgl. auch BT-Drs. 3/2785, S. 15, wo der Zusammenhang zwischen den Äußerungen der Gerichtspräsidenten und dem Ausbleiben der Reform deutlich gemacht wird. 229 162. Sitzung des Deutschen Bundestags, 14.06.1961, Plenarprotokoll, S. 9373. In diese Richtung auch Cohn, NJW 1949, S. 55 f. 230 Arndt, DRiZ 1959, S. 199, 201. 231 BT-Drs. 3/516, S. 28. Vgl. auch Arndt: „Zur Sache selbst ist zu sagen, daß im Mittelpunkt des ersten Deutschen Richtergesetzes das große Thema der richterlichen Unabhängigkeit ist.“, 162. Sitzung des Deutschen Bundestags, 14.06.1961, Plenarprotokoll, S. 9372.
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Richter als auch für den Richter in einem Kollegialgericht.“232 Diese Aussage lässt aufhorchen: Ist es für eine Stärkung von Einzelrichter*innen im Kollegialgericht nicht gerade förderlich, diese aus der Anonymität teilweise zu entlassen und ihnen eine abweichende Stellungnahme zu ermöglichen? Die Bundesregierung schien hier anderer Ansicht zu sein. Die Stärkung der individuellen Persönlichkeit war also ein gemeinsames politisches Ziel, allein der Weg dorthin war umstritten. Aus dem Gesetzgebungsprozess für das DRiG bleibt festhalten, dass sich eine deutliche politische Mehrheit im zuständigen Rechtsausschuss zunächst für die Einführung des veröffentlichten Sondervotums beim BVerfG aussprach. Nicht nur die bereits bekannten Vorreiter der SPD, insbesondere Adolf Arndt, sondern auch konservative Abgeordnete zeigten sich offen für eine Reform. Nach der Anhörung der Präsidenten der Bundesgerichte und deren einmütiger Ablehnung dieses richterlichen Instruments, fanden die Reformbemühungen ein jähes Ende. Offensichtlich wollte sich die Politik nicht gegen die Gerichte stellen, die sie mit der Reform ja eigentlich unterstützen wollten. Der Erneuerungswille divergierte also zwischen Bundesjustiz und Politik deutlich. Misstraute sich die Justiz damit selbst? Immerhin könnte man im Sondervotum auch eine erweiterte Möglichkeit der Einflussnahme der Rechtsentwicklung durch Richter*innen – und damit einen Machtzuwachs – erkennen. Im Schrifttum ließen sich dagegen positive Stimmen hinsichtlich des öffentlichen Sondervotums vernehmen: „Wer ein wahrer Richter ist, wer des Richteramtes würdig ist, will sich nicht hinter der Anonymität des Gerichts verstecken.“233 Mit Offenheit und namentlichem Auftreten der Richter*innen wurde von den Befürwortenden eine Stärkung richterlichen Amtes verbunden, keine Gefahr für deren Autorität und Unabhängigkeit.234 Warum tat sich insbesondere die Justiz derart schwer mit der Einführung der abweichenden Meinung, dem Lüften des Beratungsgeheimnisses, dem partiellen Bruch der Anonymität? Dies kann wiederum nur mit einem Blick auf die historischen Umstände versucht werden zu erklären. Zunächst waren die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrem Umgang mit der Richter*innenschaft immer noch stark präsent, wie etwa die Debatten im Deutschen Bundestag zeigen.235 Die Justiz war gleichzeitig von einer personel232
BT-Drs. 3/516, S. 28. Nadelmann, DRiZ 1958, S. 37, 40, der das Thema vor allem aus rechtsvergleichender Sicht betrachtete. 234 Schmidt-Räntsch, JZ 1968, 329, 330 f.; positiv auch Wagner, Der Richter, S. 230; Nadelmann, DRiZ 1958, 37 ff. 235 Deutlich in der 162. Sitzung des Deutschen Bundestags, 14.06.1961, Plenarprotokoll, S. 9372 ff. Siehe dazu Debattenbeiträge von MdB Schlee: „Eines hat uns diese Vergangenheit gelehrt: Ein Staat kann als Rechtsstaat nur bestehen, wenn sich alle drei Gewalten dem Recht unterworfen und dem Recht verpflichtet fühlen. Aber die letzte Verantwortung bleibt bei der rechtsprechenden Gewalt und damit bei den Richtern“ und Arndt: „Das, was hier im Richter233
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
len Kontinuität geprägt: So waren etwa 79 % der im Jahr 1956 tätigen BGHRichter zuvor in der NS-Justiz tätig.236 Die einzige Institution der Justiz, die weitgehend frei von Kontinuitäten und damit vergleichsweise unbelastet war, war das BVerfG.237 Es wurden im Wesentlichen keine Strafverfahren gegen die am Unrechtsstaat Beteiligten angestrengt oder ihr Verhalten als rechtmäßig, da vom damaligen Recht gedeckt, angesehen.238 Eine solche personelle Kontinuität streitet für die Vermutung, dass sich auch das richterliche Leitbild und Traditionen kaum ändern konnten. Man kann daraus durchaus eine Generationenfrage machen.239 Diese Kontinuitäten wurden aber alsbald in der breiten Öffentlichkeit diskutiert: So veröffentlichte ein von der DDR eingesetzter Ausschuss ab 1957 laufend sog. Braunbücher, in denen hunderte Juristen der Bundesrepublik und ihre konkreten Taten während der NS-Zeit veröffentlicht wurden. Die Bundesregierung tat dies lange Zeit als bloße Kampagne ab und sah auch nach intensiver Prüfung keinen Anlass, hinsichtlich der Vorwürfe gegen ihre Justiz Maßnahmen zu ergreifen.240 Zudem sorgte eine Ausstellung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), die ab 1959 in mehreren deutschen Universitätsstädten viele Fälle nationalsozialistischen Unrechts und die personelle Kontinuität in der BRD-Justiz darstellte, für Furore. Diese Offenlegung von Justizunrecht fand national und international große Aufmerksamkeit, fand aber politisch bis auf die Einführung des § 116 DRiG keinen wirklichen Widerhall.241 Mit der Verabschiedung dieser Norm wurde belasteten Strafrichgesetz und im Bonner Grundgesetz einen neuen Anfang bildet, ist die unbedingte Verantwortlichkeit des Richters für das Recht, das er spricht. Diese Verantwortung kann er nicht von sich weisen. Das ist es, was uns von der Vergangenheit vor 1945 in einer unübertrefflichen, in einer radikalen Art und Weise unterscheidet.“ 236 Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 270. In den Strafsenaten lag die Quote mit 80 % im Jahr 1962 sogar noch höher, s. ebd. 237 Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 287 ff., dort ausführlich zur ersten Besetzung des Gerichts. Das BVerfG hat im Februar 2020 angekündigt, die NS-Vergangenheit seiner ehemaligen Richter*innen wissenschaftlich aufarbeiten lassen zu wollen, s. Hempel, tagesschau.de v. 19.02.2020. Einen krit. Blick wirft Michl, FAZ v. 13.08.2020, S. 6 auf die Vergangenheit der Karlsruher Richter*innen, insbesondere anhand der Biographien von Willi Geiger, Hans Kutscher, Franz Wessel und Wiltraut Rupp-v. Brünneck: „[…] [A]uch am Bundesverfassungsgericht steckte nicht unter jeder roten Robe eine weiße Weste.“ Die NS-Vergangenheit von Richter*innen am BAG wird derzeit nicht offiziell untersucht, allerdings hat der Erfurter Richter Martin Borowsky erste Recherchen unternommen und belastendes Material zu den BAG-Richtern Willy Martel und Georg Schröder entdeckt, s. Klaubert, FAZ v. 02.12.2020, S. 8. 238 Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 18 ff. Ausführlich dazu Müller, I., Furchtbare Juristen, S. 203 ff. 239 So Scheuerle, ZZP 1968, 317, 340: „Es läßt sich voraussehen, daß es [das Beratungsgeheimnis] vor allem in der älteren Generation, die mit ihm verwachsen ist, zahlreiche Verteidiger finden wird.“ 240 Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 194 ff. 241 Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 202 ff. Die SPD entschied sich die Mitglieder ihres Hochschulverbandes SDS aus der Partei auszuschließen, siehe ausführlich Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 465 ff.
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tern und Staatsanwälten (innerhalb einer gesetzlichen Frist) die Möglichkeit gegeben, sich freiwillig in den Ruhestand versetzen zu lassen.242 Man setzte auf Pensionierung – Ruhigstellung – statt auf strafrechtliche Verfolgung des Unrechts. Von dieser freiwilligen Pensionierung haben am Ende allerdings nur wenige Gebrauch gemacht.243 Eine Entnazifizierung der Justiz war damit „gescheitert“.244 Darüber hinaus fand durch die weit verbreitete These, dass ein seit der Bismarck-Zeit fortschreitender Gesetzespositivismus die Richter zu strikten „Subsumtionsautomaten“ hatte werden lassen, auch eine inhaltliche Bereinigung der belasteten Justiz statt.245 Wessen alleinige Aufgabe es ist, das Gesetz anzuwenden, nicht aber das Recht zu setzen, ist nicht Täter oder Beteiligter eines Unrechtsstaates. Wer Recht und Gerechtigkeit auseinanderdividiert, gesteht Juristen stets einen (moralischen) Entlastungsbeweis zu. Die Zeit für große Reformen in der Justiz schien also nach wie vor nicht reif. Personelle Kontinuitäten führten zu einer Versteinerung von Traditionen und kritische Debatten befanden sich erst am Anfang. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Unrecht wurde erst 1958 eröffnet246, der aufsehenerregende Eichmann-Prozess fand 1961247 statt, die sog. Auschwitz-Prozesse ab 1963.248 Die Justiz befand sich noch „in vergleichsweise ruhigem Fahrwasser“, auch wenn eine „ganze Reihe der Konflikte“, die später noch eskalieren sollten, bereits „angelegt“ waren.249 „Die Bundesregierung ist zu der Auffassung gelangt, daß […] die Zeit noch nicht reif ist für eine grundlegende Reform der Stellung der Richter […].“250 Das klingt doch arg nach: „Keine Experimente!“ Und ein solches wäre auch das Sondervotum gewesen.
e) Die 1960er Jahre: Eigenmächtige Änderungen und politischer Wandel Dass gewisse Dinge ins Bröckeln gerieten, ließ sich schon im ersten Jahrzehnt der Geschichte des BVerfG erkennen. In den 1960er-Jahren stärkte das Gericht nun weiter seine eigene Stellung und lockerte in seiner Rechtsprechung in begrenztem Umfang das Beratungsgeheimnis. Bald sollte es sich auch mehrheitlich für die Einführung der abweichenden Meinung aussprechen. Dazu geriet 242 § 116 Abs. 1 lautete: „Ein Richter oder Staatsanwalt, der in der Zeit vom 1. September 1939 bis zum 9. Mai 1945 als Richter oder Staatsanwalt in der Strafrechtspflege mitgewirkt hat, kann auf seinen Antrag in den Ruhestand versetzt werden“, BGBl. I, 1961, S. 1682. 243 Laut Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 206 machten nur 149 Richter von dieser Möglichkeit Gebrauch; vgl. auch Wesel, Geschichte des Rechts, S. 563. 244 Wesel, Geschichte des Rechts, S. 563. 245 Müller, I, Furchtbare Juristen, S. 221 ff., dort auch zur Unhaltbarkeit dieser These. 246 Dazu Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 208 ff. 247 Dazu Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 233 ff. 248 Dazu Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg, S. 244 ff. 249 Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 69 ff. 250 BT-Drs. 3/516, S. 31.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
die politische Stabilität aus den Fugen und die Justiz wurde zunehmend kritisch betrachtet. Bereits seit längerem war es beim BVerfG etablierte Praxis, abweichende Voten der Richter*innen in geheimen Akten des Gerichts aufzubewahren.251 Damit wurde ohne explizite gesetzliche Regelung eine Art des Sondervotums eingeführt, die bereits aus früheren Diskussionen bekannt ist252 und auch heute von einigen Bundesgerichten vollzogen wird.253 Willi Geiger, von dem wir bereits wissen, dass er früh Sondervoten produzierte und sogar eigenmächtig veröffentlichte,254 gab später einen Einblick in die Motivlage für diese Art der Praxis: „Abweichende Meinungen werden nicht für die Öffentlichkeit geschrieben. Das unterscheidet sie von den üblichen Anmerkungen oder Kritiken zu Entscheidungen des Gerichts. Abweichende Meinungen stehen, was ihre Veröffentlichung anlangt, in der Nähe von Korrespondenzen oder Aktenstücken in den Archiven. Solange sie der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, erschöpft sich ihre Wirkung auf die vom Urheber bezweckte Auseinandersetzung mit den Adressaten; das sind bei den Abweichenden Meinungen die (gegenwärtigen und nachkommenden) Kollegen im Gericht.“255
Angesichts seines eigenen, sehr offenen, Umgangs mit Sondervoten256 sind diese Äußerungen recht überraschend. Hinsichtlich der Offenlegung von Details aus dem Beratungszimmer kam es in den 1960er-Jahren zu Veränderungen, etwa im Spiegel-Urteil257 aus dem Jahr 1966: Der Spiegel-Verlag wandte sich mittels der Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung der Redaktionsräume und Verhaftung leitender Re251 Federer, JZ 1968, S. 511, 518, der dort ausführt: „Die Bundesverfassungsrichter haben schon mehrfach in Verfassungsstreitigkeiten von besonderer rechtlicher und staatspolitischer Bedeutung abweichende Meinungen geschrieben, deren Bekanntgabe der Autorität des Gerichts wohl nicht abträglich gewesen wäre.“ Federer war bis 1967 selbst Richter am BVerfG. 252 Vgl. dazu die Darstellung der Diskussionen um das GVG unter 2. b). 253 BGH-Geschäftsordnung, § 10 Abs. 1: „Zu den Beratungen wird der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle nicht hinzugezogen. Der Gang der Beratung, die Abstimmung der einzelnen Mitglieder und die von ihnen geltend gemachten Gründe werden nicht aufgezeichnet. Jedes Mitglied ist jedoch berechtigt, seine von der gefassten Entscheidung abweichende Ansicht mit kurzer Begründung in den Senatsakten (§ 19 Abs. 2) niederzulegen.“; ähnlich BVerwG-Geschäftsordnung § 6 Abs. 2: „Jedes Mitglied eines Senats, das an der Entscheidung mitgewirkt hat, ist berechtigt, seine abweichende Ansicht mit Begründung in den Senatsakten niederzulegen.“; BAG-Geschäftsordnung § 10: „Der Gang der Beratung, die Stimmabgaben der einzelnen Mitglieder und die von ihnen geltend gemachten Gründe werden nicht aufgezeichnet. Jedes Mitglied ist jedoch berechtigt, seine von der gefaßten Entscheidung abweichende Ansicht mit kurzer Begründung in den Senatsakten (§ 16) niederzulegen; die abweichenden Äußerungen sind in einem verschlossenen Umschlag ohne Namensangabe zusammen mit den Senatsakten aufzubewahren.“ 254 Vgl. dazu 2. c). 255 Geiger, Abweichende Meinungen, Vorwort. 256 S. dazu c). 257 BVerfGE 20, 162 – Spiegel; krit. zu dieser Praxis des BVerfG vor allem angesichts der Funktion einer Urteilsbegründung Starck, GS Geck 1989, S. 789 ff.
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dakteure im Zuge der Veröffentlichung eines Magazin-Artikels, der sich kritisch mit der Bundeswehr auseinandergesetzt hatte. Der Vorgang löste eine kontroverse Debatte in der Bundesrepublik aus.258 Beim Verfahren vor dem BVerfG ergab sich die Besonderheit, dass Stimmengleichheit im Senat vorlag, womit nach dem heutigen § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG „ein Verstoß gegen das Grundgesetz […] nicht festgestellt werden kann“.259 Die Verfassungsbeschwerde wird also qua Gesetz abgewiesen. Im Urteil stellte das Gericht daher erstmalig und ausführlich beide Meinungslager dar.260 In früheren Entscheidungen hatte der Erste Senat des BVerfG zwar mitgeteilt, es habe einen Grundgesetzverstoß „nicht feststellen können“261, woraus man ebenfalls einen Fall der Stimmengleichheit ableiten könnte.262 Jedoch fand hier keine explizite Gegenüberstellung der beiden Lager statt, weshalb das Spiegel-Urteil hierfür als Präzedenzfall gelten muss. Durch diese Entscheidung wurde allerdings nicht bekannt, welche Richter*innen sich in den beiden Lagern befanden. Erst durch eine aktuelle Sichtung der zuvor geheimen Gerichtsakten wissen wir, wie sich die einzelnen Richter*innen positioniert haben.263 Zum Spiegel-Urteil ist in der Literatur die Ansicht verbreitet, dass es ein „wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekanntgabe von Sondervoten“ gewesen sei.264 Ob diese These haltbar ist, erscheint zweifelhaft. Zunächst ist die Stimmengleichheit innerhalb eines Senats eine außergewöhnliche Situation, für die auch eine spezielle gesetzliche Regelung getroffen wurde. Die eine Grund258 Ausführlich
zur Spiegel-Affäre Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, S. 287 ff. Damals § 15 Abs. 2 S. 4 BVerfGG, s. BVerfGE 20, 162, 178 – Spiegel. Beispielhaft BVerfGE 20, 162, 178 – Spiegel: „Für eine solche Grundrechtsverletzung sprechen nach der einen Auffassung folgende Gründe […]“ und darauf folgend die Darstellung der Gegenauffassung ebd., 185: „Der die Entscheidung nach § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG tragenden Auffassung erscheinen die vorstehenden Ausführungen nicht ausreichend, um darauf die Verfassungswidrigkeit des Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses und der ihn bestätigenden Beschlüsse des Bundesgerichtshofs zu stützen.“ Die die Entscheidung „tragende Auffassung“ ist in diesem Fall diejenige, die sich für eine Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde stark gemacht hatte. 261 BVerfGE 14, 263, 273 – Feldmühle; ähnlich BVerfGE 16, 147, 160 – Werkfernverkehr. Spätere Fälle der offengelegten Stimmengleichheit: BVerfGE 25, 352, 357 – Gnadenentscheidungen; BVerfGE 27, 180, 189 ff. – Kriminalstrafe trotz Disziplinarstrafe; BVerfGE 53, 224, 249 ff. – Zerrüttungsprinzip bei Ehescheidung; BVerfGE 65, 76, 98 ff. – Offensichtlichkeitsentscheidungen Asylverfahren; BVerfGE 66, 116, 143 ff. – Wallraff; BVerfGE 70, 69, 87 ff. – Waisengeld; BVerfGE 111, 10, 38 – Ladenschlussgesetz; BVerfGE 73, 206, 230 – Sitzblockaden I. 262 So auch Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 86; ebenso Federer, JZ 1968, S. 511, 519, dessen Stimme besonderes Gewicht hat, da er zu dieser Zeit selbst Richter am BVerfG, allerdings im Zweiten Senat, war. 263 Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, S. 319: Für eine Begründetheit der Verfassungsbeschwerde sprachen sich Berichterstatter Scholtissek, Stein, Rupp-von Brünneck und Berger aus. Dagegen votierten Präsident Müller, Haager, Böhmer und Rittterspach. 264 Heyde, JöR Bd. 19 (1970), S. 201, 214; Starck, GS Geck 1989, S. 789, 790 f., dort auch ausführlich zur Begründungspraxis des BVerfG bei Stimmengleichheit; Rupp, FS Leibholz 1966, S. 531, 533. 259 260
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rechtsverletzung ablehnende Meinung ist nicht deshalb durchschlagend, weil sie mehrheitlich argumentativ überzeugt hätte, sondern weil das Gesetz dies so vorsieht. Das BVerfG hat sich in seiner Praxis dazu entschieden, beide Lager mit ihren Begründungen explizit aufzuführen. Dies lässt aber nicht zwingend darauf schließen, dass das Gericht das Beratungsgeheimnis grundsätzlich lockern möchte, da sich die Veröffentlichung einer abweichenden Meinung und die Darstellung der Stimmengleichheit fundamental unterscheiden:265 In der Konstellation der Sondervotenabgabe gibt es ein gemeinschaftliches, also von allen Richter*innen unterschriebenes Urteil inklusive einer Begründung des Tenors. Das dissentierende Gerichtsmitglied hängt sein abweichendes Votum an die Entscheidung an und wird mit seiner Ansicht nicht etwa Teil der eigentlichen Urteilsbegründung. Das Sondervotum ist ein Anhang zur Entscheidung, die Darstellung beider Ansichten findet innerhalb der Entscheidungsbegründung statt. Wer letzteres praktiziert, befürwortet nicht automatisch ersteres. Die Bedeutung des Spiegel-Urteils auf dem Weg zur Einführung des Sondervotums beim BVerfG sollte daher nicht überschätzt werden. Einen beachtenswerten Vorgang stellt die Entscheidung aber ohne Zweifel dar. Neben dieser Premiere werden seit dem 21. Band der amtlichen Entscheidungssammlung des BVerfG, also seit 1967, beim BVerfG die Namen der Richter*innen mitgeteilt, die an der Entscheidung beteiligt waren, womit diese für die Öffentlichkeit ein Stück weit sichtbarer wurden. Der Zweite Senat hat darüber hinaus im Jahr 1967 damit begonnen, die Abstimmungsergebnisse bei Senatsentscheidungen mitzuteilen.266 Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine einheitliche Praxis267 und auch über die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses hat es schon Streit gegeben: In einer Entscheidung wurde das Stimmenverhältnis mit vier zu drei angegeben und zugleich mitgeteilt, dass die Entscheidung über diese Bekanntgabe mit „derselben Mehrheit“ getroffen wurde.268 Zwar dürfen auch diese Reformen als Beitrag für die spätere Einführung des Sondervotums nicht überbewertet werden, da die Bekanntgabe eines Abstimmungsergebnisses immer noch eine deutlich begrenztere Aussagekraft besitzt als der begründete und namentlich unterzeichnete Widerspruch per Sondervotum. Dennoch zeigt diese Entwicklung, deutlich stärker als die Offenlegung der verschiedenen Ansichten bei Stimmengleichheit im Senat, die vermehrte Bereitschaft, Entscheidungen des Gerichts offener zu gestalten.269 265 Anders Heyde, JöR Bd. 19 (1970), S. 201, 215, der in der „Gegenüberstellung der einander die Waage haltenden beiden Meinungen in der Begründung“ eine „echte Vorstufe zur Bekanntgabe abweichender Meinungen“ erkennt. Ähnlich, Rupp, FS Leibholz 1966, S. 531, 533: „Das ist ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Veröffentlichung einer dissenting opinion.“ 266 Erstmals BVerfGE 21, 312 – Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. 267 Roellecke, FS BVerfG 2001, S. 363, 364. 268 BVerfGE 22, 21, 28 – Vorladung zum Verkehrsunterricht. 269 Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Einführung von § 30 Abs. 2 BVerfGG
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Dass eine Mitteilung des Abstimmungsergebnisses zunächst nur beim Zweiten Senat stattfand, lässt sich durch dessen damalige Besetzung erklären: Zu diesem Zeitpunkt war etwa Leibholz Senatsmitglied, ein Vorreiter um den Kampf einer starken Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit und jemand, der im Exil mit englischen Richtertypen in Verbindung gekommen war.270 Federer, der sich nicht erst nach seiner Amtszeit für das Sondervotum aussprach.271 Geiger, der bereits fleißig Sondervoten zu den Akten gab, eines bereits veröffentlicht hatte und später auch in einer Publikation gesammelt offenlegen sollte.272 Rupp, der sich in einem Festschriftenbeitrag 1966 explizit für die Einführung der dissenting opinion aussprach und später häufig davon Gebrauch machte.273 Friesenhahn, der 1963 aus dem Senat ausschied, und später zum 47. DJT ein werbendes Gutachten für das Sondervotum beisteuerte274 und daher wohl auch zuvor bereits ein Befürworter dieses Instruments war. Damit saßen in den 1960erJahren wortmächtige Befürworter und Sympathisanten des Sondervotums im Zweiten Senat.275 So kann es auch nicht völlig überraschen, dass bereits im Jahr 1967 das Plenum des BVerfG mit neun zu sechs Stimmen für eine Einführung des Sonderaus dem Jahr 1969 lässt in seiner Begründung erkennen, dass die politischen Akteure diese Entwicklungen wahrnahmen und in den Kontext der Einführung des Sondervotums einbauten, s. BT-Drs. 6/388, S. 7: „In der Praxis des Bundesverfassungsgerichts gibt es allerdings verschiedene Entscheidungen, die aus der Formulierung, daß eine Verfassungsverletzung nicht festgestellt werden kann, auf ein bestimmtes Abstimmungsergebnis schließen lassen. Auch hat das Bundesverfassungsgericht im Spiegel-Urteil sehr eingehend die die Entscheidung tragende Auffassung und die Auffassung der anderen Richter wiedergegeben. Ferner wird in jüngerer Zeit in den Entscheidungen des Zweiten Senats das jeweilige Ergebnis der Abstimmung mitgeteilt. Die Entwicklung geht also auf eine Zulassung des Sondervotums hin.“ 270 Vgl. zu biographischen Daten Bundesverfassungsgericht, Das BVerfG 1951–1971, S. 232. 271 Federer, JZ 1968, S. 511, 520 f.; vgl. auch Ley, NJW 1984, S. 1343: „Federer war bereits 1950 und später mehrfach dafür eingetreten, ein Minderheitenvotum zuzulassen.“ 272 Siehe dazu bereits oben 2. e). Geigers frühe Befürwortung des Sondervotums wird auch von seinem damaligen Kollegen Zweigert später öffentlich gemacht, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 129 (Hervorh. i. Orig.): „Sie, Herr Geiger, und ich, wir haben später im Bundesverfassungsgericht vor dem Plenum über die Grundsatzfrage diskutiert, ob dort die dissenting opinion eingeführt werden sollte. Herr Geiger war schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt dezidiert dafür.“ 273 Rupp, FS Leibholz 1966, S. 531, 548: „Unsere Betrachtungen haben ergeben, daß bei Einführung der dissenting opinion die Vorteile die Nachteile erheblich überwiegen würden.“ Spätere Sondervoten, teilweise gemeinsam mit anderen Richtern, in BVerfGE 30, 1, 33 ff. – Abhörurteil; BVerfGE 30, 165, 169 f. – Revisionsrichter im Wiederaufnahmeverfahren; BVerfGE 31, 314, 334 ff. – 2. Rundfunkentscheidung; BVerfGE 32, 40, 51 ff. – Kriegsdienstverweigerer; BVerfGE 32, 199, 227 ff. – Hessische Richterbesoldung; BVerfGE 35, 246, 255 ff. – Ablehnung Rottmann; BVerfGE 37, 271, 291 ff. – Solange I; BVerfGE 39, 334, 378 ff. – Extremisten im Staatsdient. 274 Vgl. dazu 2. f ). 275 Vgl. aber auch aus dem Ersten Senat Stein, NJW 1966, S. 2105, 2107, der es für angezeigt hielt „die unpersönliche Anonymität des Richters zu beseitigen“.
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votums votierte.276 Anders als bei der Verabschiedung des DRiG, wo es nur zu einer ablehnenden Stellungnahme von Gerichtspräsident Müller kam, waren nun also alle Richter*innen des BVerfG an dem Gesetzgebungsprozess beteiligt. Dieses Abstimmungsbild zeigt aber auch, dass nach wie vor eine große Skepsis gegenüber diesem Instrument bestand – immerhin sechs Richter stimmten gegen die Einführung des Sondervotums. Einen kleinen Blick ins Innere des Gerichts gab der ehemalige Richter Zweigert auf dem 47. Deutschen Juristentag: Zur Zeit des EVG-Gutachtens für den Bundespräsidenten (1952)277 sei er noch gegen die Einführung des Sondervotums gewesen, „weil ich der Meinung war, daß dieses Gericht erst noch mehr Autorität gewinnen müsse, die dissenting opinion zu verkraften und den Befriedungseffekt seiner Urteile nicht zu gefährden.“ Inzwischen (im Jahr 1968) habe das Gericht „diese Autorität sicherlich erworben“.278 Neben den bereits beschriebenen emanzipatorischen Wegmarken hatte dazu insbesondere das Deutschland-Fernsehen-Urteil aus dem Jahr 1961 beigetragen:279 Die Adenauer-Regierung wollte eine vom Bund eingesetzte und beherrschte „Deutschland-Fernsehen GmbH“ gründen, als Alternative zum bisherigen Angebot der ARD. Die Länder fühlten sich diskreditiert, weil aus ihrer Sicht der Föderalismus ihnen die Organisationshoheit über den Rundfunk gab. Mit einem Antrag beim BVerfG waren einige Bundesländer erfolgreich und sorgten damit für ein rasches Ende des Projektes. Die Bundesregierung war blamiert und reagierte mit scharfer Kritik, insbesondere Adenauer selbst: „Das Kabinett war sich darin einig, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist […].“280 Besonders brisant: sechs der zehn Richter des Zweiten Senates waren von der CDU ins Amt gehoben worden,281 nun wendeten sie sich gegen die konservative Re276
BT-Drs. 6/388, S. 7. S. dazu bereits 2. c). 278 Zweigert, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 129. 279 BVerfGE 12, 205 – Deutschland-Fernsehen; ausführlich zur weiteren RundfunkRechtsprechung Brodocz/Schäller, in: v. Ooyen/Möllers, Das BVerfG im politischen System, S. 243 ff. 280 147. Sitzung des Deutschen Bundestages, 08.03.1961, Plenarprotokoll, S. 8308. Etwas relativierend fügt Adenauer hinzu: „Aber, meine Damen und Herren, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts muß den Gesetzen entsprechend beachtet werden.“ Im Anschluss entbrannte eine hitzige Diskussion, insbesondere zwischen CDU/CSU und SPD, vgl. ebd. S. 8309 ff. Für die Diskussion in der Presse vgl. DER SPIEGEL Nr. 11/1961, S. 15 ff., der von der „ärgste[n] Schlappe“ spricht, die ihr Patriarch Adenauer seit Bestehen seines Staates hat einstecken müssen“. 281 Von der CDU ernannt waren die Richter Leibholz, Henneka, Federer, Geiger, Geller und Friesenhahn, vgl. dazu die Chronologie der Richter*innen- und Präsident*innenwahlen in Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 1013; s. auch Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe, S. 81 ff.; Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, S. 262; zur Richterverteilung in den folgenden Jahren vgl. auch Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, S. 101 ff. Entschieden der Darstellung vom „roten“ und „schwarzen“ Senat tritt Richter Zweigert in: Bundesverfassungsgericht, Das BVerfG 1951–1971, S. 95, 119 entgegen: „Das in den Anfangsjahren beliebte Ge277
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gierung und intensivierten damit ihren Emanzipationsprozess. Unzweifelhaft ist darin ein Schub für Unabhängigkeit und Autorität im Verfassungsgefüge, insbesondere aus der Sicht der Bürger*innen, zu sehen. Die Öffentlichkeit nahm das Urteil vornehmlich positiv auf.282 Auch symbolisch wurde Ende der 1960er-Jahre die neue, selbstbewusstere Stellung des Gerichts verdeutlicht: Nachdem man lange behelfsweise im Karlsruher Prinz-Max-Palais ausharrte, bekam das BVerfG 1969 eine eigene Werkstätte – wirkungsvoll transparent und modern.283 Der weitere zeitgeschichtliche Kontext eines sich wandelnden politischen Umfelds ist ebenso beachtenswert: Zu Beginn der 1960er-Jahre ist Deutschland noch geprägt von einer stabilen konservativen Regierung Adenauers. „Sicherung des prekär Bestehenden nach innen und außen war das zentrale Motiv.“284 Smend bezeichnet das Grundgesetz im Jahr 1962 als von einer nicht „an eine demokratische Ordnung gewöhnten und nun seiner Geschichte und der Politik müde gewordenen Politik hingenommen“.285 Über ein Jahrzehnt nach der Verabschiedung lösten das GG und die Demokratie keine Begeisterungsstürme aus. Diese Stabilität geriet allerdings mächtig ins Wanken: die angesprochene Spiegel-Affäre beschädigte die Regierung schwer und 1963 endete schließlich die lange Ära Adenauers. Drei Jahre später brach die christlich-soziale Koalition unter Erhard bereits wieder auseinander und Kiesinger bildete die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Gegen diese mächtige Bundesregierung bäumte sich die Außerparlamentarische Opposition (APO) auf, die berühmten 1968er stellten die in sich ruhende Bundesrepublik auf den Kopf und hinterfragten vieles. Wenig später machte Willy Brandt mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen!“ Wahlkampf und stellte sich damit fundamental gegen eine Kontinuitätspolitik Adenauers zu Beginn des Jahrzehnts („Keine Experimente“). Alles war im Fluss.286 Damit einhergehend verstärkte sich auch die Ende der 1950er Jahre bereits begonnene Diskussion um die Rolle und Ausgestaltung des richterlichen Amtes und der Justiz insgesamt.287 Der Richter Theo Rasehorn veröffentlicht 1966 rede vom Roten und Schwarzen Senat hatte niemals eine reale Basis, wenn es meinte, daß der politische Hintergrund des Richters auch seine Entscheidung bestimme.“ 282 Vgl. Häussler, Der Konflikt zwischen BVerfG und politischer Führung, S. 50 m. w. Nachw. 283 Zur Architektur des Gerichtsgebäudes Bürklin in: v. Ooyen/Möllers, Das BVerfG im politischen System, S. 17 ff.; vgl. zum steinigen Weg bis zur Übergabe des Gebäudes Müller, in: Bundesverfassungsgericht, Das BVerfG 1951–1971, S. 7 ff. 284 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 317. 285 Smend, in: Bundesverfassungsgericht, Das BVerfG 1951–1971, S. 15, 20. Smend sieht in dieser Situationen eine edukatorische Rolle des Bundesverfassungsgerichts, ebd., S. 29: „Wir wünschen dem deutschen Volk ein offenes Ohr für die von hier ausgehende Weisung auf den rechten Weg durch Recht zur Freiheit.“ 286 Zu alldem prägnant Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 317 ff. 287 Umfassend zur Debatte über die Justiz in den 1960er-Jahren Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 72 ff.
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unter dem Pseudonym Xaver Berra eine „Streitschrift zur Entideologisierung der Justiz“.288 Er kritisierte die mangelhafte Ausbildung, die zu sehr auf die juristische Theorie und zu wenig auf die Bildung einer Persönlichkeit ausgerichtet sei.289 Ferner sah er die richterliche Unabhängigkeit durch mehrere Faktoren bedroht: Es bestehe eine „Kontrolle durch die Rechtsmittelgerichte“, in Kollegialgerichten habe der Vorsitzende Richter einen (faktisch) bestimmenderen Einfluss als seine Kollegen und der Dienstvorgesetzte (Gerichtspräsident) habe durch Beurteilungen großen Einfluss auf die weitere berufliche Karriere.290 Von Richtern verlangte er „Gelassenheit, Zurückhaltung, Demut und Menschlichkeit“, statt „königlichen Glanz und Ruhm, ohne weltmännische Eleganz und Geschicklichkeit, letztlich auch ohne Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit“.291 Und auch der Anonymität sagte er den Kampf an, hinderte sie aus seiner Sicht doch die vollendete Unabhängigkeit des Richters im Kollegialgericht, weshalb er sich auch für die Einführung des Sondervotums aussprach.292 Dies zeigt, wie sehr die Frage der dissenting opinion Teil einer intensiveren Debatte über eine neue Ausgestaltung des deutschen Richter*innenamtes war. Berra veröffentlichte einen Teil seines Buches publikumswirksam im Spiegel293 und erntete ebenso öffentlichen Gegenwind vom ehemaligen Justizminister Jaeger auf dem Deutschen Juristentag 1966.294 Interessanterweise erhielt er für seine Überlegungen Unterstützung von Bundesverfassungsrichter Stein, der ihn für sein Engagement und Mut lobte und ebenfalls Kritik am damaligen Zustand der Justiz übte. Unter anderem verlangte er „die unpersönliche Anonymität des Richters zu beseitigen“.295 Rechtsanwalt Redeker bemängelte, dass sich vor 288 Berra, Im Paragraphenturm. Als Kritiker der Justiz und der Justizausbildung tat sich in dieser Zeit auch Rudolf Wassermann hervor, s. etwa in: ders., Erziehung zum Establishment, S. 33 ff. und die anderen Beiträge des von ihm herausgegebenen Sammelbandes. Vgl. auch die 1989 erschienene Monographie Rasehorns, Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt, in der die Justizkritik erneuert wird, aber auch Fortschritte verzeichnet werden. 289 Berra, Im Paragraphenturm, S. 30. 290 Berra, Im Paragraphenturm, S. 31 ff.; ähnlich Wagner, Der Richter, S. 126. 291 Berra, Im Paragraphenturm, S. 131. 292 Berra, Im Paragraphenturm, S. 144; ähnlich Wassermann DRiZ 1967, S. 41, 45 (ohne Hervorhebungen i. Orig.): „Ein Mittel, um die Richter in den Kollegialgerichten persönlichkeitsbewußter zu machen, wäre die Zulassung des dissenting vote […]. Richten – das ist Sache des Gewissens. Wer auf bloße Autorität hin handelt, handelt […] gewissenlos.“ 293 Berra, Der Spiegel, Nr. 27/1966 (27.06.1966), S. 37 ff. 294 Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte). Widerspruch kam auch von BGH-Richter Sarstedt, DRiZ 1966, S. 337 ff. und Mösl, DRiZ 1966, S. 402; gegen Kritik verteidigend: Amtsgerichtsrat Ostermeyer, DRiZ 1966, S. 404 f. und Schneider, DRiZ 1967, S. 48, 50. Zu Mängeln in der Justiz auch Oberamtsrichter Gelhausen, DRiZ 1967, S. 145 ff. und Wassermann DRiZ 1967, S. 41 ff., sowie Landgerichtsrat Schneider, DRiZ 1967, S. 48, 49: „Unbequeme Richter sind unbeliebt. Bei uns ist die Zahl der unbeliebten Richter zu klein!“ Auffällig innerhalb der Diskussion ist, dass Wortbeiträge von Bundesrichtern die Thesen Berras deutlich ablehnten, während Richter unterer Instanzen diesen eher in Schutz nahmen. Hier wurde anscheinend ein Nerv getroffen, was auch schon die Zahl der Beiträge in der DRiZ offenbart. 295 Stein, NJW 1966, S. 2105, 2106 f. Ebenso erstaunlich ist sein Appel „das hergebrachte
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allem in der rechtsprechenden Gewalt „obrigkeitsstaatliche Züge“ erhalten hätten, weshalb er eine „Demokratisierung“ verlangte.296 Die Stichworte obrigkeitsstaatliche Strukturen und Denkweisen fallen in den 1960er-Jahren immer wieder und lassen einen Reformbedarf erkennen.297 Eine Justizdebatte, angestoßen aus der Justiz selbst, war im vollen Gange. Welche Jurist*innen entscheiden sich für den Dienst in der Justiz? Welche sozialen Hintergründe und Einstellungen bringen sie mit? Auch auf solche Fragen wird in den 1960er-Jahren stärker eingegangen.298 Die Soziologie und mit ihr die Rechts- und Justizsoziologie erlebte einen „Aufstieg“.299 Eine große Rolle in den soziologischen Untersuchungen spielte die Herkunft der im Staatsdienst tätigen Jurist*innen: So stammten laut einer Studie Justizjuristen im Jahr 1965 zu 52 % aus einer Beamtenfamilie (Vaterberuf ), während dies bei Rechtsanwälten nur bei 35 % der Fall war.300 Unter Zusammenrechnung mehrerer Faktoren ergab sich nach der Erhebung eine Wahrscheinlichkeit von 65 %, dass sich Juristen aus einer Beamtenfamilie, die katholisch geprägt war und auf dem Land wohnte, für die Justiz entscheiden würden.301 Nach der Ansicht von 56 % der Justizangehörigen sollten Juristen „Bestehendes bewahren“ (im Gegensatz zu 42 % der Rechtsanwälte).302 Dahrendorf kam zu dem Ergebnis, dass Untersuchungen über deutsche Juristen „regelmäßig ein Profil des Konservatismus und Traditionalismus“ ergeben, welches „die Ansprüche ihrer Rollen weit überschreitet“. Wegen ihrer sozialen Herkunft und der mangelhaften Ausbildung fehle es den Juristen etwa an „Offenheit, Flexibilität, Bereitschaft für neue und überraschende Situationen“.303 Reformatorische Diskussionen gab es auch hinsichtlich der Juristenausbildung.304 Insgesamt führten die rechtssoziologischen
Bild des königlichen Richters zu entmythologisieren, das des Beamtenrichters zu entideologisieren und es in das Bild des Richters als eines Staatsbürgers in der Robe mit all seinen Vorzügen und Schwächen umzuprägen.“, ebd., S. 2107. 296 Redeker, NJW 1967, S. 1297, 1299, Fn. 10. 297 Requete, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 95. 298 Richter, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1960, S. 241 ff.; ders. Zur soziologischen Struktur der Deutschen Richterschaft; Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung; Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie; Dahrendorf, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1960, S. 260 ff.; ders., Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 260 ff.; Feest in: Zapf, Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, S. 95 ff. Zur Person Kaupens und der Entwicklung der deutschen Rechtssoziologie anschaulich Rasehorn in: Strempel/Rasehorn, Empirische Rechtssoziologie, S. 15 ff. 299 Requete, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 120 ff. 300 Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, S. 25. 301 Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, S. 27. 302 Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, S. 34. 303 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 271. 304 Vgl. dafür insbesondere die Debatte auf dem 48. Deutschen Juristentag 1972, ausführlich dazu Requete, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 293 ff.
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Untersuchungen zur Unterfütterung der bereits bestehenden Kritik, die Justiz sei obrigkeitsstaatlich, traditionsversessen und konservativ.305 Diese Untersuchungen und Bewertungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind natürlich nicht automatisch auf das BVerfG übertragbar. Allein qua Verfassung als Rechtserkenntnisquelle und personeller Zusammensetzung aus Hochschullehrer*innen, ehemaligen Politiker*innen und Berufsrichter*innnen unterscheidet sich das BVerfG deutlich von der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Darstellung der Debatten und Probleme der Justiz dieser Zeit können den vom BVerfG selbst initiierten Wandel hin zu einer transparenteren Rechtsprechungspraxis aber in einen Kontext einbetten. Das BVerfG selbst befindet sich in einem Gesamtgefüge staatlicher Institutionen und der Gesellschaft, was eine isolierte Betrachtung verbietet. Dass ein gewisser Wandel innerhalb des Gerichts stattfindet, während in der Bundesrepublik allgemeine Reformdiskussionen stattfinden, kritische rechtssoziologische Untersuchungen publiziert werden und politische Umwälzungen zu verzeichnen sind, ist nicht nur kein Zufall, sondern erst durch diesen Kontext erklärbar. Drei wichtige Entwicklungen sind aus den 1960er-Jahren festzuhalten: Das BVerfG emanzipierte sich erstens vermehrt von der Exekutive und stärkte insgesamt seine Autorität. Nach der mehrheitlichen Ansicht der Richter*innen würde in diesem Umfeld das Sondervotum keinen Schaden mehr anrichten. Zweitens änderten sich die politischen Umstände mit der ersten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung, die sich bereits früh in der Bundesrepublik für verfassungsprozessuale Reformen eingesetzt hatte. Und drittens war eine intensive Debatte um eine konservative und obrigkeitsorientierte Justiz im vollen Gange, eingebettet in eine (wieder) stärker politisierte und kritische Öffentlichkeit. Diese von Umschwung geprägte Zeit ging auch am BVerfG nicht spurlos vorüber; es machte entscheidende Schritte zu einer transparenteren Entscheidungspraxis, getragen vor allem von wortführenden Mitgliedern des Zweiten Senates. Finale Impulse, die letztlich zu einer Änderung des BVerfGG führen sollten, gingen vom Deutschen Juristentag aus. Dazu im Folgenden.
f) 47. Deutscher Juristentag 1968: Ausschlaggebende Impulse Die verfahrensrechtliche Abteilung des 47. Deutschen Juristentages 1968 verhandelte unter der Frage: „Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe des überstimmten Richters (Dissenting Opinion) in den deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen?“ Die Frage der Einführung eines Sondervotums wurde also bewusst weit gefasst und bezog sich auf die gesamte Gerichtsbarkeit, nicht nur das BVerfG. Zweigert, Richter am BVerfG bis 1956, steuerte dazu ein vorbereitendes Gutachten bei.306 Friesenhahn, Richter am BVerfG bis 1963, und BGH305 306
Ähnlich Requete, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 164. Vgl. 47. DJT, Bd. 1, Teil D.
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Richter Pehle hielten ausführliche Referate, ehe es zu einer intensiven Diskussion im Plenum kam. Abschließend wurde über die debattierte Frage abgestimmt. Die Dokumentation dieser Tagung ermöglicht es, sich die damaligen – mitunter zuvor in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion ausgebreiteten – Argumente für und wider das Sondervotum komprimiert vor Augen zu führen. Der Debatte wird an dieser Stelle daher breiter Raum gegeben. Dabei werden die vorgebrachten Argumente in vier Kategorien gebündelt: Rechtstraditionen (aa), Öffentlichkeit (bb), Stellung des Gerichts (cc) und gerichtsinterne Wirkungen (dd). Zuletzt wird der Blick auf die Abstimmung über die Einführung eines Sondervotums gerichtet (ee).
aa) Rechtstraditionen: Das Eigene und das Fremde Ein erstes wichtiges Themenfeld der Diskussion war die Betrachtung der Erfahrung ausländischer Rechtstraditionen, insbesondere der amerikanischen und englischen Gerichtspraxis.307 So betonten viele Debattierende, dass es sich bei öffentlichen Sondervoten um eine fremde Rechtstradition handele, woraus sich eher eine skeptische Haltung gegenüber diesem richterlichen Instrument ableiten lässt.308 Die Erfahrungen mit veröffentlichten abweichenden Meinungen und Voten in Baden und Württemberg309 dürften demgegenüber nicht überschätzt werden.310 Andere sahen dagegen im Rekurrieren auf deutsche Traditionen ein NichtArgument: „Wenn sich die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des Richters als eine vernünftige Maßnahme erweist, dann kann sie nicht mit dem Argument bekämpft werden, daß sie bisher den deutschen Verfahrensordnungen fremd war.“311 Zudem seien die Richter in Ländern, in denen eine Praxis der öffentlichen Sondervoten bestehe, nicht weniger unabhängig als im vom Beratungsgeheimnis beherrschten Deutschland.312 Innerhalb der Debatte lassen sich zwei Lager erkennen: diejenigen, die vor allem die common law-Tradition als Vorbild in dieser Hinsicht sehen, und dieje307
S. dazu auch bereits B. Vgl. Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 9 ff., der die Systemunterschiede betont und eine Einführung nur für die Verfassungsgerichtsbarkeit befürwortet; die Ablehnung des Vorbildcharakters des ausländischen Richters wird besonders offensichtlich bei Rüdel, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 118: „Ich persönlich bin der Meinung, daß es in deutschen Landen genügend Richterpersönlichkeiten gibt, selbst dann, wenn sie keine Perücke tragen, was man anderorts noch für notwendig hält. […] [W]enn mir ein Richter begegnet, dem ich so wenig gewogen bin, daß ich an seiner Richterpersönlichkeit zweifle, so glaube ich, daß mir das in Ländern, wo es diese jetzt angestrebte Möglichkeit gibt, genauso passieren kann. […] Und es ist nicht unmodern, Bewährtes zu erhalten.“ 309 S. dazu 2. a). 310 Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 10. 311 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 34. 312 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 43. 308
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nigen, die eine Rezeption dieser Tradition für das deutsche System als unpassend erachten.313 Befürworter einer Orientierung am fremden Recht merkten an, dass die Systemunterschiede von common law und kontinentaleuropäischem Recht mittlerweile weniger stark ausgeprägt seien: Gerade in der Rechtsquellenlehre habe im common law das Gesetz stärkere Bedeutung erlangt, ebenso wie im kontinentalem Recht die Rechtsprechung.314 Auch in Deutschland dienten Gerichtsentscheidungen hoher Gerichte anderen Richtern, aber auch Anwälten, in anderen Fällen als rechtliche Orientierung.315 Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Zweigert sprach angesichts der eigenen Praxis des BVerfG316 von „Schmälerungen und Durchbrechungen des Beratungsgeheimnisses“, sowie „starke[n] Tendenzen […] de lege lata von ihm abzugehen.“317 Damit wird nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als dass sich die Rechtstradition ohnehin bereits im Wandel befinde. Zudem, so Friesenhahn, finde auch hierzulande bereits Rechtsfortbildung durch Richter statt – ein Prozess, der durch Sondervoten nur belebt werden könne.318 Zweigert hatte darüber hinaus die europäische Entwicklung insgesamt und damit auch die internationalen Gerichte im Blick: „Wenn wir mit der Einführung der dissenting opinion in gewissen Sinne Schrittmacher auch für diese europäische Gerichtsbarkeit sind, so erleichtern wir dadurch […] die Anpassung an das den Engländern – auf deren Beitritt wir hoffen – vertraute System.“319
In diesem Kontext wurden die Vorzüge der eigenen Rechtstradition auch kritisch hinterfragt: So stellte sich zum Beispiel Raabe die Frage, was das Beharren auf dem Beratungsgeheimnis und dem Verbot des öffentlichen Sondervotums der Gerichtsbarkeit genützt habe. Insbesondere wies er in diesem Kontext auf politische Prozesse aus der Zeit der Weimarer Republik hin, in der die abweichende Meinung möglicherweise einen positiven Effekt gehabt hätte: „Wäre es nicht z. B. eine große Möglichkeit gewesen etwa in der Weimarer Zeit, wenn ein vielleicht existierendes Mitglied eines Kollegialgerichtes, das sich der braunen Flut entgegensetzen wollte, die rechtliche Möglichkeit hatte, durch sein Bekenntnis, durch die Abgabe der dissentig opinion diese Dinge zu verhindern […]“.320 313 Differenzierend dagegen Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 35: Nach seiner Ansicht geht es nicht darum, ein anderes Recht zu übernehmen, sondern um eine „systemgemäße Weiterentwicklung des deutschen Verfahrensrechts“. Bei der Einführung des Sondervotums könnten ausländische Erfahrungen nur als „rechtsvergleichendes Material dienen“. 314 Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 18; ähnlich Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 13; zuvor bereits Rupp, FS Leibholz 1966, S. 531, 538; dagegen Schmidt-Räntsch, JZ 1958, 329, 331. 315 Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 19. 316 S. dazu 2. d) und e). 317 Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 15. Inwiefern diese Entwicklungen wirklich einen derartigen Wandel bedeuteten, wurde bereits kritisch hinterfragt, s. 2. e). 318 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 50. 319 Zweigert, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 133. 320 Raabe, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 102. Dabei spielt er insbesondere auf den Prozess gegen Carl von Ossietzky an. Dagegen deutlich, Ostler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 124 f., der
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bb) Öffentlichkeit: Verfahrensbeteiligte, Rechtswissenschaft, Volk Die Befürworter des öffentlichen Sondervotums erhofften sich von dessen Einführung auch „Impulse für die Fortentwicklung des Rechts“. Vor allem der Rechtswissenschaft, aber auch den Instanzgerichten, würde in den betroffenen Fällen eröffnet, dass es sich um ungelöste Rechtsprobleme handele, die weiterer Diskussion bedürften.321 Kritiker merkten an, dass der Dialog mit der Rechtswissenschaft bereits jetzt ausreichend zur Rechtsfortbildung beitrage, die dissenting opinion also keinen Mehrwert bringe.322 Darüber hinaus wurde als Argument für die öffentlichen Sondervoten angeführt, dass sie die „Vorhersehbarkeit künftiger richterlicher Entscheidungen“ erhöhten: Wenn der Öffentlichkeit vermittelt würde, dass ein Urteil nur mit knapper Mehrheit ergangen sei, so sei eine spätere Überraschung über Rechtsprechungsänderung nicht mehr derart groß, was letztlich zur Rechtssicherheit beitrage.323 Eng verwoben mit diesem Aspekt ist die Frage der Transparenz kollegialer Gerichtsentscheidungen: Kritiker des strikten Beratungsgeheimnisses merkten an, dass die Einmütigkeit der Entscheidung auf einer „Täuschung beruhen, die das Geheimhaltungsprinzip veranlaßt“.324 Dahinter steht letztlich der Gedanke, dass die Öffentlichkeit auch einen Anspruch darauf habe, Kenntnis davon zu erlangen, wenn gerichtliche Entscheidungen nicht einstimmig ergangen sind. Nur so könnte sie sich ein wahrhaftiges Bild von der rechtlichen Überzeugungskraft der Urteile machen. Dabei wurde auch ein Vergleich zu anderen öffentlichen Kollegialorganen gezogen, bei denen eine verpflichtende Geheimhaltung nicht die Praxis darstelle.325 Mitunter scharf kritisiert wurde, dass die Öffentlichkeit sich an dieser Gerichtspraxis nicht wirklich störe: der Ansicht war, dass „keine Bestimmung des Gerichtsverfassungsrechts“ die Gräuel der NSZeit hätten verhindern können. 321 Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 22; ähnlich Strelitz, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 74, der meinte, der Öffentlichkeit würde offenbart „wie sehr man sich mit seinem Standpunkt auseinandergesetzt hat“; Geisseler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 97; Scholler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 108, erhoffte sich einen „Brückenschlag“ zwischen der jüngeren Juristengeneration und der „etwas konservativeren Rechtsprechung“. 322 Schulz-Schaeffer, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 91; defensiver Ostler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 124, der für die Rechtsfortbildung den „eigentlichen Platz“ in der Rechtswissenschaft sah und daher „kein Schaden und kein Vorteil“ durch die abweichenden Meinungen erkennen konnte. 323 Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 20 f.: „Die Einführung der dissenting opinion schafft also die Möglichkeit, diejenigen Entscheidungen rational zu erkennen, die nicht Ausdruck einer gesicherten Rechtsprechung sind.“ 324 Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 20; unterstützend Strelitz, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 69 f.; zuvor bereits Rupp, FS Leibholz 1966, S. 531, 539.; ähnlich Pelckmann, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 93 ff., der in der Einführung der Sondervoten ein „Vorbild für eine dynamische Demokratie“ erblickte. 325 Strelitz, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 72 mit dem Verweis auf politische Organe; Scholler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 108 mit dem Verweis auf Parteien (Art. 21 GG) und das Regierungskabinett.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„Mich erschreckt es, wie sehr auch viele Laien sich die Justiz nach diesem Bilde wünschen und den Widerstreit der juristischen Meinungen und Auslegungen als Ärgernis empfinden. In dieser Sehnsucht nach einer einseitigen Erhöhung der Autorität kommt für mich ein Mangel demokratischen Bewußtseins […] zum Ausdruck, dass die Glaubwürdigkeit der Äußerungen staatlicher Organe schon dann bedroht sieht, wenn sich eine Gegenmeinung äußert […]. Nun, der Richterspruch hat etwas Autoritäres an sich. Nichtsdestoweniger kommt er aber im Kollegium als eine höchst demokratische Mehrheitsentscheidung zustande.“326
Zweigert merkte ergänzend an:327 Enge Stimmenverhältnisse gebe es nur bei sehr umstrittenen Rechtsfragen, bei denen ohnehin mit einer kontroversen Diskussion – egal wie das Urteil am Ende ausfällt – zu rechnen sei. Auch wenn abweichende Meinung und Stimmenverhältnis geheim gehalten würden, wäre die Überzeugungskraft der Urteile in diesen Fällen ohnehin geringer. Dann würde auch die Offenlegung der Stimmverhältnisse und Meinungen nichts mehr an der Autorität des Gerichts ändern. Dieser Wunsch nach einem offeneren Umgang mit Meinungsverschiedenheit innerhalb des Kollegialgerichts wurde allerdings nicht von allen geteilt:328 Rüdel merkte an, dass dem Volk durch eine Befragung von Richtern oder Anwälten klar werden könne, dass Urteile „nicht immer einstimmig gefällt werden“,329 während Falkenberg darauf hinwies, dass der Öffentlichkeit das Verständnis dafür fehle, warum keine „eindeutige“ Entscheidung ergangen sei.330 Wer einen für ihn elementaren Prozess durch eine knappe Entscheidung im Kollegialgericht verloren habe, werde mit seinem „Schicksal hadern“ und sich „nicht durch geläuterte Einsicht in die Relativität von Recht und Gerechtigkeit trösten lassen“.331 Dabei wurde auch grundsätzlich darüber nachgedacht, ob eine offenere Gestaltung der Gerichtskultur überhaupt angemessen sei: „Hier wird immer versucht, und zwar mit Pathos versucht, aus dem demokratischen Rechtsstaat, also aus der Demokratisierung und der Liberalisierung des öffentlichen Lebens Folgerungen auch für die innere Struktur der Richterbank zu ziehen und daraus Vorschriften für ihr Verhalten abzuleiten. Ich glaube, dieser Ansatz, so verführerisch er ist, […] ist im Prinzip nicht richtig.“332 326 327
Strelitz, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 72. Zweigert, 47. DJT, Bd. 1, Teil D, S. 20. 328 Ostler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 124, spricht von einer „Publizitätssucht“. 329 Rüdel, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 117. 330 Falkenberg, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 126. Er merkte zudem an: „Es würde die Überzeugungskraft richterlicher Sprüche noch nachhaltiger infrage stellen, als dies bisher schon geschieht.“ Die Einführung des Sondervotums hielt er „allenfalls“ beim BVerfG für „vertretbar“. Vgl. auch zuvor Schmidt-Räntsch, JZ 1968, S. 329, 331: „So ist das Ansehen eines einstimmig gefaßten Beschlusses naturgemäß stärker als eine knappe Mehrheitsentscheidung. Fast die gleiche psychologische Wirkung auf die Beteiligten hat die fiktiv einheitliche Entscheidung des Gerichts. Die ‚Unwahrhaftigkeit‘ dieser Entscheidung sollte nicht überbewertet werden.“ 331 Pecher, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 77; in diese Richtung auch Rotberg, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 110; Rüdel, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 117. 332 Rotberg, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 109 f. Die Argumentation wird allerdings ausdrücklich nicht auf Verfassungsgerichte angewendet.
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Im Parlament ginge es vor allem um die Zweckmäßigkeit einer politischen Entscheidung, im Gerichtssaal dagegen um die Erkenntnis, Wahrheit und eine richtige Entscheidung. Was hier dem Prozess inhärent erscheine, müsse dort nicht ebenso angemessen sein.333 Zudem würde der Richter durch die öffentlichen Sondervoten von vielen Seiten noch stärker beeinflusst, als dies ohnehin schon der Fall sei.334 Die Diskussion drehte sich auch darum, welche Art des Richtertums eigentlich in das deutsche System und damit auch zur deutschen Bevölkerung passe: „Es trifft wohl auch nicht zu, daß das deutsche Volk sich Richter der gekennzeichneten subjektiven Prägung wünsche.“335 Dies blieb jedoch nicht unwidersprochen: Friesenhahn etwa wehrte sich dagegen, „den angeblich deutschen Volkscharakter als Argument gegen die Bekanntgabe der abweichenden Meinungen zu verwenden“. Es frage sich, warum das deutsche Volk nicht reif sei, mit dieser Transparenz umzugehen, da ohnehin niemand annehme, dass „gerichtliche Entscheidungen bei zweifelhafter Rechtslage“ einstimmig ergangen seien.336 Amtierende Richter wehrten sich gegen ein allzu negatives Bild ihres Berufsstandes innerhalb der Diskussion.337 Befürworter des offenen Sondervotums waren darüber hinaus der Ansicht, dass Richter dadurch auch einen etwaigen Gewissenskonflikt abwenden könnten: So müsse der geheim beratende Richter sich mit einer Entscheidung des Gerichts in der Öffentlichkeit identifizieren lassen, wenn seine abweichende Ansicht nicht bekannt werde.338 Dagegen wurde eingewendet, dass der Richter mit seiner Unterschrift unter das Urteil nur bestätige, dass die Entscheidung aus den angegebenen Gründen für die Mehrheit des Gerichts ergangen sei.339 333 334
Rotberg, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 110; ähnlich Rüdel, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 117. Rotberg, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 111. Bei der Stellungnahme von Rotberg, ebd., S. 109, zeigt sich auch, dass sich die Gegner des Sondervotums in der Minderheit und gegen den Zeitgeist argumentierend sehen: „Ich bin mir bewußt, daß ich in einer sehr heiklen Frage Stellung nehme. Ich tue es, um zu vermeiden, daß die Diskussion einseitig wird. Ich tue es auch auf die Gefahr hin, daß Sie mich als Richter von gestern für unmodern halten und von vornherein glauben, ich hätte keinen Sinn für moderne oder fortschrittliche Entwicklung.“ 335 Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 12. Vgl. auch ebd., S. 30: „Wenn der Ruf nach allgemeiner Zulassung der dissenting opinion von dem Wunsch getragen ist, in Zeiten der Gefahr gegen eine Gerichtsmehrheit, die sich von Pressionen der öffentlichen Meinungen oder lautstarken Gruppen beeinflussen ließe, mit echtem Mut […] entgegenzutreten, dann wäre ein solches Bestreben durchaus zu loben […]. Eher hat es aber den Anschein, als gehe es hier um den auch in der Politik zu beobachtenden, dort ebenfalls nicht glücklichen Zug zur Personalisierung.“ 336 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 34; in diese Richtung auch Strelitz, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 72 f. 337 Tophoven, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 120: „Sie [die Richter] sind nicht so schlecht, wie sie heute hier zum Teil gezeichnet worden sind.“ 338 Zweigert, 47. DJT, Bd.1, Teil D, S. 29; ähnlich, mit Bezug auf das „Persönlichkeitsrecht des Richters“ Möhring, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 105. 339 Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 14 f. Darüber hinaus versuchte er ebd., S. 15, das Argument umzukehren: „Für den abweichenden Richter könnte es, wie ich bemerken möchte, bei einer allgemeinen Einführung der dissenting opinion umgekehrt eine Gewissensfrage werden,
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
cc) Stellung des Gerichts Wie bereits dargestellt340 wurde bei der Verabschiedung der Reichsjustizgesetze 1877 unter Rückgriff auf das Reichsgericht das Beratungsgeheimnis als ein notwendiges Instrument zur Sicherung der Unabhängigkeit bezeichnet. Die mittlerweile gestärkte Rolle der Richter im demokratischen Rechtsstaat nahmen die Befürworter nun zum Anlass, diesem Argument seine Grundlage zu entziehen – die Richter hätten schließlich keine Verfolgung durch andere Hoheitsträger mehr zu befürchten.341 Zudem frage sich, inwiefern der Kollegialrichter eigentlich besser gestellt werden solle als der Einzelrichter am Amtsgericht, der „viel stärker Einwirkungen aus seiner mitbürgerlichen Umgebung ausgesetzt sein kann und […] sich nicht hinter einem anonymen Spruchkörper verkriechen kann […]“.342 Ohnehin müsse man viel eher den Einzelrichter und nicht das Organ selbst als Träger der Rechtsprechung betonen: „Unser Anknüpfungspunkt ist also der einzelne Richter im Richterkollegium.“343 Wer darüber hinaus die Einheitlichkeit der Entscheidung als Voraussetzung für Autorität betrachte, vertrete einen alten Autoritätsbegriff.344 Mit einem „obrigkeitlichen Rechtsbewußtsein“ müsse endlich gebrochen werden.345 Anhänger dieser Ansicht traten dafür ein, dass es Autorität erst durch Offenheit des Richters und dem Zugeständnis geben könne, dass sie keine „unfehlbare[n] Götter“ seien.346 ob es die Bedeutung der Sache erfordert, daß er in einem Dreierkollegium seine Meinung nach außen kundgibt, denn damit stellt er zwangsläufig die beiden anderen Richter als Träger der Entscheidung heraus. Das kann geradezu darauf hinauslaufen, diese an den Pranger zu stellen […]. Unbegreiflicherweise wird die Sache meistens so dargestellt, als ob der richterliche Mut immer nur auf Seiten der Minderheit anzutreffen wäre.“ 340 2. b). 341 Vgl. Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 43; ähnlich Zweigert, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 130; dagegen Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 22: „Bei einem z. B. mit drei Richtern besetzten Gericht kann nach dem derzeitigen Rechtszustand niemand einem einzelnen Richter den Vorwurf machen, für die Entscheidung gestimmt zu haben. Dagegen kann schon die bloße Möglichkeit der dissenting opinion oder der Bekanntgabe des Abstimmungsverhältnisses (…) den einzelnen Richter befangen machen, denn dann kann er zur Rede gestellt werden, warum er nicht offen gegen die Entscheidung gestimmt habe.“ 342 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 44; ähnlich Strelitz, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 73 f. 343 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 45; in diese Richtung auch Wassermann, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 82; vgl. auch Heyde, JöR Bd. 19 (1970), S. 201, 217, der von einer Stärkung der „Persönlichkeit des einzelnen Richters“ spricht. 344 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 51; ähnlich Wassermann, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 82; Pelckmann, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 93. 345 Rasehorn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 114 ff., der vor allem eine „obrigkeitliche“ Justizverwaltung kritisierte und daher auch zweifelte, ob eine Veröffentlichung der Namen des dissentierenden Richters sinnvoll sei. 346 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 51, ähnlich Westerath, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 112 der ausführte, dass richterliche Entscheidungen nicht mit „Subsumtionsautomatik“ oder „mathematische[r] Problemlösung“ verwechselt werden dürfe.
I. Historische Entwicklung
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Auf diese Weise könne auch die Distanz zwischen Volk und Gerichtsbarkeit abgebaut werden.347 Darüber hinaus sei auch die „formale Autorität“ des Bundesverfassungsgerichts bei einer Einführung des Sondervotums nicht gefährdet. Diese bleibe in jedem Fall erhalten, da die an die Entscheidung gebundenen Gerichte und anderen Verfassungsorgane die Verfassungsgerichtsentscheidungen nach wie vor befolgen müssten.348 Ferner könne der einzelne Richter ja frei entscheiden, ob er ein Sondervotum veröffentliche und habe damit das „Risiko für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit“ selbst in der Hand.349 Damit sind zwei gegenteilige Lager zu beobachten: Diejenigen, die das Gericht als Organ betonten und solche, die den Richter als Träger der Rechtsprechung sahen. Ersteren ging es vor allem um die Einheit des Kollegiums und die Bewahrung der Autorität. Letztere betonten das Recht des Richters, nach eingehender Diskussion im Kollegium, seine abweichende Meinung öffentlich kundzutun. Innerhalb der Debatte wird immer wieder deutlich, wie stark diese Auseinandersetzung mit den übergeordneten Themen der Demokratie und dem Abschied von autoritären Traditionen verbunden wurde. Dies lässt sich zweifellos auf den allgemeinen historischen Kontext zurückführen.350
dd) Gerichtsinterne Wirkungen Neben den Themen Öffentlichkeit und Autorität des Gerichts spielten auch die möglichen internen Auswirkungen des Sondervotums in der Diskussion eine Rolle. Entscheidend für die Arbeit im Kollegialgericht ist die Beratung, deren Ausgestaltung ebenfalls hinterfragt wurde: So komme es bei der gründlichen Beratung vor allem darauf an, eine möglichst übereinstimmende Ansicht im Gericht zu erreichen. Dieser Wille zur Einheit könne geringer werden, wenn dissenting opinions möglich seien.351 Auf der anderen Seite wurde auch die Ansicht vertreten, dass die kollegiale Beratung durch die Möglichkeit des Sondervotums intensiver werden könne und die Mehrheitsmeinung ihre Begründung „noch besser“ machen werde, um dem Widerspruch des dissentierenden Richters in der Öffentlichkeit standhalten zu können.352 Dieser Ansicht wurde von Diskutanten, die selbst Richter waren, mitunter polemisch entgegengetreten: 347 348
Westerath, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 112. Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 57. 349 Westerath, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 111 f. 350 S. dazu bereits 2. e). 351 Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 19; ähnlich Ostler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 124: „Bis jetzt ist These und Antithese eine Sache vor dem ganzen Gebietskörper […]. Wenn dieses Votum kommt, dann fürchte ich, daß These und Antithese sich sehr verhärtet in das. Beratungszimmer hinein fortsetzt und die Findung der Synthese, die die Aufgabe des Richters ist, ganz erheblich erschwert“; zuvor bereits ähnlich Werner, DÖV 1967, S. 284. 352 Vgl. Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 50.
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„Dennoch glaube ich, in aller Bescheidenheit sagen zu dürfen, daß wir des offenen Minderheitenvotums als einer pädagogischen Zuchtrute zur Hebung unseres Verantwortungsgefühls nicht bedürfen.“353
In diesem Kontext wurde auch die Funktion der Urteilsbegründung hinterfragt. So ist es nach einer Ansicht durch Berücksichtigung der Gegenargumente in der Urteilsbegründung gerade möglich, die Bedürfnisse nach einem Sondervotum zu befriedigen.354 Andere sahen dagegen nicht „bei allen Gerichten die Gewähr gegeben, daß in den Gründen einer Entscheidung auch die Auffassung der Minderheit deutlich genug in Erscheinung“ tritt. Das Gegenteil sei der Fall: „[E]s besteht die Gefahr, daß die Mehrheit, um ihre Entscheidung abzusichern, die Bedenken der Minderheit möglichst zurückdrängt.“355 Darüber hinaus wurde im Schrifttum bereits zuvor die Frage aufgeworfen, ob der dissentierende Richter die Atmosphäre im Kollegium negativ beeinträchtige.356 Friesenhahn, lange Zeit selbst Richter am BVerfG, hielt dies für eine „sehr geringe Einschätzung“ der richterlichen Qualitäten.357 Viele Bundesrichter betätigten sich bereits durch Vorträge und Aufsätze an der öffentlichen Diskussion, weshalb nicht zu erkennen sei, warum eine „offen geäußerte abweichende Meinung so viel gefährlicher“ sei.358 Darüber hinaus war er der Ansicht, dass die abweichende Meinung die Diskussion innerhalb des Kollegiums lebendig halte, zum weiterem nachdenken und überprüfen der getroffenen Entscheidungen einlade.359 Auch die Arbeitsbelastung des Gerichts spielte in der Diskussion eine Rolle. Es bestand die Sorge, dass sich gerade bei den Bundesgerichten die Verfahrensdauer noch stärker verlängern würde.360 Die Befürwortenden erklärten es zur Prämisse, dass es zu einem zurückhaltenden Gebrauch der Sondervoten kommen werde.361 Zudem liege die abweichende Begründung aus der Beratung oh353
Pecher, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 78. Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 19 f.; in diese Richtung auch Ostler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 124; ähnlich bereits zuvor Schmidt-Räntsch, JZ 1968, S. 329, 331. 355 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 43. 356 Wagner, DRiZ 1968, S. 255. 357 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 43 f.; ähnlich Arndt, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 105, der von positiven Erfahrungen aus der Schiedskommission in Koblenz für Güter, Rechte und Interessen in Deutschland berichtete; vgl. dazu auch Scholler, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 109: „Wenn der richterliche Prophet in seiner Kammer wie in seinem Lande nicht wohlgelitten anerkannt ist, dann hat er das gemeinsame Schicksal zu tragen, das alle Propheten getragen haben, und wenn seine dissenting opinion einen Schock auslöste, dann mag es ein heilsamer Schock sein einer Minoritöt, der ‚minorité de choque prophétique‘.“ 358 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 44. 359 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 50 f. 360 Lemhöfer, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 99; ähnlich für Instanzgerichte Tophoven, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 121; Gebhardt, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 123; zuvor bereits Baring, DVBl. 1968, 609, 616. 361 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 47; Wassermann, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 83; Arndt, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 105; aufgrund Erfahrungen beim EGMR für eine „vorsich354
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I. Historische Entwicklung
nehin vor, weshalb der Aufwand, die dissenting opinion zu verfassen, überschaubar sei.362 Mitunter wurde die Ansicht vertreten, die angestrebte Reform bringe einen Fortschritt im „Abbau der oft noch ziemlich hierarchischen Struktur innerhalb der einzelnen Spruchkörper“.363 Eine Argumentationsweise, die uns bereits aus der allgemeinen Justizdebatte bekannt ist.364
ee) Die Abstimmung Nach dieser intensiven Diskussion stimmten die Mitglieder des Juristentages über die Einführung des Sondervotums ab, wobei diese Abstimmung in einzelne Fragen aufgeteilt wurde.365 Einführung des öffentlichen Sondervotums …
Ja
Nein
Abgegebene Zustimmung Stimmen in %
bei den Verfassungsgerichten
371
31
402
92,29
zusätzlich bei dem Gemeinsamen Senat und den Großen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes
356
94
450
79,11
zusätzlich bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes
289
163
452
63,94
zusätzlich bei anderen Kollegialgerichten (Spruchkörpern), die nur über Rechts- und Verfahrensfragen zu befinden haben
237
223
460
51,52
zusätzlich bei allen Kollegialgerichten
170
292
462
36,80
Tabelle 1: Abstimmungsergebnisse beim 47. DJT.
Für die Einführung des Sondervotums beim BVerfG gab es auf den ersten Blick eine überwältigende Mehrheit. Zieht man jedoch in Betracht, dass nach den tig[e], vorsichtig[e] und nochmals vorsichtig[e]“ Einführung des Sondervotums plädierend: Recktenwald, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 126 f. 362 Friesenhahn, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 47. 363 Westerath, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 112; ähnlich Rasehorn: „Von allen Zweigen des öffentlichen Dienstes ist ja das obrigkeitliche Bewußtsein der Justizverwaltung noch am stärksten ausgeprägt.“ Daraus leitet Rasehorn ab, dass eine die „Bekanntgabe des Namens des Dissenters“ nicht stattfinden sollte. 364 2. e). 365 Daten entnommen 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 144; die Zustimmungsquote wurde selbst berechnet; Enthaltungen galten als nicht abgegebene Stimme. Die zur Abstimmung gestellte Grundfrage bezüglich jeder der aufgeführten Bereiche der Gerichtsbarkeit lautete: „In den deutschen Verfahrensordnungen sollte vorgesehen werden, daß jeder Richter seine abweichende Meinung schriftlich niederlegen und die Aufnahme dieser abweichenden Meinung in die Entscheidung verlangen kann.“
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Abstimmungsregeln Enthaltungen als „nicht abgegebene Stimme“ zählten,366 und vergleicht man bei den einzelnen Fragen die insgesamt abgegebenen Stimmen, zeigt sich, dass es eine große Anzahl an Enthaltungen gegeben haben muss: Geht man etwa von den 462 abgegebenen Stimmen bei der letzten Frage aus, gab es bei der Frage um die Einführung beim BVerfG 60 Enthaltungen. Nach dieser Berechnung hätten 91 Mitglieder nicht aktiv für eine Einführung gestimmt.367 Dies relativiert in gewisser Weise die Deutlichkeit des positiven Stimmungsbildes, auch wenn kein Zweifel besteht, dass die Einführung des Sondervotums bei Verfassungsgerichten von einer breiten Mehrheit befürwortet wurde. Dies ließ sich auch in der Diskussion erkennen, in der auch kritische Stimmen die Einführung des Sondervotums bei der Verfassungsgerichtsbarkeit für möglich hielten.368 Dass eine große Mehrheit des Juristentags die abweichende Meinung auch bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes und den Gemeinsamen Senaten einführen wollte, zeigt wiederum deutlich, wie positiv das Stimmungsbild hinsichtlich dieses Instruments bei der Mehrheit der Beteiligten war. Hier gab es auch deutlich weniger Enthaltungen. Immerhin 170 von 462 Abstimmenden (und damit fast 37 %) sprachen sich darüber hinaus für eine Einführung bei allen Kollegialgerichten aus. Diese Offenheit muss überraschen, hatte es dazu in der politischen Debatte doch keine ernsthaften Pläne zu gegeben. Da diese Frage vom Juristentag mehrheitlich verneint worden war, wurde anschließend noch ein „Hilfsantrag“ zur Abstimmung gestellt: „Diese Befugnis des Richters soll zur Zeit noch nicht, möglicherweise später in den deutschen Verfahrensordnungen vorgesehen werden.“ Dieser Antrag erhielt eine Zustimmung von 218 Stimmen bei 208 Gegenstimmen.369 Damit zeigte sich eine knappe Mehrheit der Beteiligten optimistisch, dass bei allen Kollegialgerichten in (näherer) Zukunft das Sondervotum ebenfalls eingeführt werden könne. Ein erstaunliches Ergebnis. Der Juristentag stimmte noch über weitere Detailfragen ab:370 So sprach er sich mehrheitlich dafür aus, dass die abweichende Meinung nur bei Rechtsfragen (nicht bei Tatfragen) in Betracht kommen sollte,371 dass sie auch in Strafsa366
Redeker, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 144. den Materialien zum Deutschen Juristentag lässt sich nicht rekonstruieren, wie viele Mitglieder insgesamt anwesend und stimmberechtigt waren. 368 Vgl. nur Pehle, 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 16. 369 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 145. 370 Zum Folgenden s. 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 145 ff. 371 Diese Frage wurde ausdrücklich nicht auf die Verfassungsgerichte und den Gemeinsamen Senat und den Großen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes bezogen, s. Redeker 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 145: „Die Unterscheidung ‚Rechts- und Tatfragen‘ betrifft nicht die Verfassungsgerichte. Verfassungsgerichte haben natürlich auch Tatfragen zu entscheiden. Aber es ist, glaube ich, bisher von keiner Seite die Meinung geäußert worden, diese Unterscheidung auch bei diesen Gerichten zu treffen.“ Darüber hinaus ist interessant, dass darüber abgestimmt wurde, wer darüber entscheidet, ob es sich um eine Rechts- oder Tatfrage handelt. Der Antrag „Der Richter, der die abweichende Meinung vertritt, entscheidet, ob seine abweichende Mei367 Aus
I. Historische Entwicklung
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chen möglich seien (wiederum auch nur bezüglich Rechtsfragen), dem Berufsund ehrenamtlichen Richter zustehen sollen und sich sowohl auf Begründung als auch auf Ergebnis eines Urteils beziehen könnten (damit wurde also auch die sog. concurring opinion befürwortet).
ff) Zwischenfazit Der Deutsche Juristentag 1968 bot eine Plattform dafür, das Thema der veröffentlichten abweichenden Meinungen ausführlich und institutionsübergreifend zu diskutieren. Angesichts der regen Beteiligung verschiedener Funktionsträger bildet er das Stimmungsbild und die wesentlichen Argumente besonders gut ab. Hinsichtlich der Einführung des Sondervotums bei Verfassungsgerichten und den obersten Bundesgerichten zeigte sich deutlich weniger Skepsis als hinsichtlich der Gerichtsbarkeit insgesamt. Dies hat sich bis heute nicht geändert, kennen wir doch nach wie vor das veröffentlichte Sondervotum nur beim BVerfG und den meisten Landesverfassungsgerichten. Die (politischen) Befürwortenden eines Sondervotums beim BVerfG konnten nun damit argumentieren, dass sich eine anerkannte juristische Vereinigung mit deutlicher Mehrheit für eine Reform ausgesprochen hatte. Dies sollte den Weg zur Einführung der abweichenden Meinung ebnen.
g) Reform des BVerfGG im Jahr 1970 Nach drei gescheiterten Anläufen, zwei davon in der Bundesrepublik, sollte es nun zum letzten Schlagabtausch hinsichtlich der Einführung des öffentlichen Sondervotums beim BVerfG kommen. Einen Reformvorschlag hatte es bereits in der fünften Wahlperiode des Deutschen Bundestages gegeben,372 doch wurde der von der damaligen Bundesregierung eingebrachte Gesetzesentwurf nicht mehr verabschiedet.373 So kam es zu einer erneuten Vorlage des Regierungsentwurfs im Februar 1970, der in § 30 Abs. 2 BVerfGG die Einführung des offenen Sondervotums vorsah: „Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen. Die Senate können in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen. Das Nähere regelt die Geschäftsordnung.“374 nung eine Rechtsfrage betrifft“ erhielt eine Zustimmung von 311 zu 71 Stimmen, s. 47. DJT, Bd. 2, Teil R, S. 147. 372 BT-Drs. 5/3816. Der Entwurf wurde im Februar 1969 nach einer Stellungnahme des Bundesrates im Dezember 1968 in den Bundestag durch die Bundesregierung eingebracht. Zu einer Abstimmung darüber kam es nicht mehr, die Legislaturperiode endete im Oktober 1969. 373 BT-Drs. 6/388, Vorblatt. Der Entwurf wurde im Februar 1970 in den Bundestag eingebracht, nachdem im Januar der Bundesrat eine Stellungnahme abgegeben und auch das Plenum des BVerfG im November 1969 sich geäußert hatte. 374 BT-Drs. 6/388, S. 2.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Erstaunlicherweise hatte sogar Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung zu Beginn der Legislaturperiode im Herbst 1969 auf die Notwendigkeit dieser Reform hingewiesen: „Entscheidend ist, daß unsere Richter den ihnen gestellten Aufgaben gewachsen sind. Dazu müssen wir ihre Aus- und Fortbildung überdenken, ihre Verantwortungsfreude – etwa durch die Heraushebung des Einzelrichters – stärken, […] ihre Mitwirkung in eigenen Angelegenheiten verbessern, ihnen eine ihrer verfassungsrechtlichen Stellung gemäße Besoldung geben und für die Gerichte die Möglichkeiten erschließen, die die moderne Technik bietet. Dem Verfassungsrichter jedenfalls muß das Recht eingeräumt werden, sein von der Mehrheitsmeinung abweichendes Votum zu veröffentlichen.“375
Auffällig ist hier zunächst die Betonung der Stellung von Einzelrichter*innen, die auch bereits in der vorherigen Diskussion von den Befürwortern des Sondervotums immer wieder herausgehoben wurde. Offenbar sah die Bundesregierung einen Bedarf darin, die einzelnen Richter*innen im Kollegialorgan zu stärken und an deren „Verantwortungsfreude“ zu appellieren. Das Sondervotum der Verfassungsrichter*innen schien jedenfalls Teil eines größeren Projekts zu sein, die Justiz zu stärken. Die Richter sollten „den ihnen gestellten Aufgaben gewachsen“ sein.376 Die von der SPD geführte Bundesregierung begründete ihren Entwurf ausführlich:377 Sie rekurrierte auf die durch das BVerfG selbst angestoßenen Änderungen seiner Rechtsprechungspraxis,378 dessen befürwortenden Plenumsbeschluss, positive Stimmen in der Literatur und den 47. Deutschen Juristentag379. Die bereits bekannten Argumente sollen hier nicht wiederholt werden. Beachtenswert ist aber, dass die Bundesregierung eine neue Perspektive mit in die Diskussion brachte: „Die Zulassung des Sondervotums ist für den einzelnen Richter mit einer großen Verantwortung verbunden. Aber auch für das Gericht selbst verlangt sie eine eingehende Auseinandersetzung mit den Argumenten des einzelnen Richters oder der Minderheit. Dadurch wird insbesondere der Gesetzgeber in die Lage versetzt, etwaige Schwächen und Mängel einer gesetzlichen Regelung zu erkennen, zu beseitigen oder den dagegen vorgebrachten Einwänden jedenfalls in Zukunft in stärkerem Maße Rechnung zu tragen.“
Diese Begründung bleibt etwas nebulös. Wodurch genau der Gesetzgeber „Schwächen und Mängel“ der Gesetze erkennen kann, wird nicht ausdrücklich offenbart. Dies ist einerseits durch das Sondervotum selbst vorstellbar: Wenn das Gericht mehrheitlich eine gesetzliche Regelung für verfassungskonform hält, die abweichende Meinung aber auf Zweifel hinweist, kann dies ein Signal 375
4. Sitzung des Deutschen Bundestags, 28.10.1969, Plenarprotokoll, S. 25 f. Laut Plenarprotokoll gab es dafür „Zustimmung bei der SPD“. 376 Brandt, 4. Sitzung des Deutschen Bundestags, 28.10.1969, Plenarprotokoll, S. 25. 377 Die folgende Darstellung der Entwurfsbegründung beruht auf BT-Drs. 6/388, S. 7 f. 378 Vgl. dazu insbesondere 2. e). 379 Dazu ausführlich 2. f ).
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für den Gesetzgeber sein, die Regelung nochmals zu überdenken oder anzupassen. Andererseits wäre ein solcher Effekt auch dadurch möglich, dass das Gericht selbst in der Urteilsbegründung auch auf die Gegenargumente und Zweifel der Senatsminderheit eingeht und damit Signale an den Gesetzgeber sendet. In jedem Fall ist es interessant zu beobachten, dass die Bundesregierung auch positive Effekte für den Gesetzgeber – mittelbar also auch für sich selbst, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Gesetzesinitiativen von der Bundesregierung eingebracht werden – ausmachte. Damit verbunden war die Hoffnung auf eine bessere Vorhersehbarkeit der verfassungsrechtlichen Entwicklung: Durch die Publikation von Sondervoten könne „frühzeitig die Möglichkeit einer Änderung der Rechtsprechung oder jedenfalls die Hervorkehrung neuer Akzente angezeigt“ werden. Die Bundesregierung war der Ansicht, dass eine „Änderung der Rechtsprechung […] auch im Hinblick auf die Autorität des Bundesverfassungsgerichts und der übrigen Verfassungsorgane nicht mehr als so einschneidend“ erscheine, wenn diese in einer abweichenden Meinung bereits zuvor angeklungen sei. Von einer altruistischen Reform kann also nicht die Rede sein. Klarstellend wies die Bundesregierung zusätzlich darauf hin, dass ein Richter seine abweichende Meinung „nur insoweit, als er sie in der Beratung vertreten hat, in einem Sondervotum niederlegen kann“. Diese Vorgabe wurde sogar als „zwingend“ bezeichnet. Sie muss jedoch letztlich als reiner Appell eingestuft werden, lässt sich aufgrund des Beratungsgeheimnisses doch nicht nachvollziehen, inwiefern Richter*innen ihre Meinung schon bei der Diskus sion des Senats ausgebreitet haben. Mit der Einführung des Sondervotums wurde auch die Ausgestaltung der richterlichen Amtszeit beim BVerfG reformiert. Die Amtszeit wurde auf 12 Jahre begrenzt und eine Widerwahl ausgeschlossen.380 Bis zu diesem Zeitpunkt gab es eine uneinheitliche Regelung: Richter*innen von den obersten Bundesgerichten wurden zum BVerfG bis zum Erreichen der Altersgrenze an ihrem jeweiligen Gericht berufen, während für die anderen gewählten Richter*innen eine Begrenzung von acht Jahren Amtszeit – allerdings mit der Möglichkeit der Wiederwahl – vorgesehen war (sog. Zeitrichter).381 Mit der Neuregelung sollten die Amtszeiten und damit auch der Status der Richter*innen angeglichen werden. Auf eine Lebenszeiternennung wurde verzichtet, um durch neue Richter „dem Gericht zugleich neue Impulse zu geben, auf die die Verfassungsrechtsprechung nicht verzichten kann“.382 Diese Neuerung stand nicht nur dadurch mit dem Sondervotum in einem unmittelbaren Kontext, weil 380
§ 4 BVerfGG in der Fassung des Regierungsentwurfs, siehe BT-Drs. 6/388, S. 2. BT-Drs. 6/388, S. 6. BT-Drs. 6/388, S. 6. Ergänzend dazu an gleicher Stelle: „Es ist ein im System des Grundgesetzes durchgängig verwirklichtes Prinzip des demokratischen Staates, daß seine Verfassungsorgane vom Volk oder seinen gewählten Vertretern nur eine zeitlich befristete Legitimation erhalten.“ 381 382
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
beide Reformen durch das Vierte Änderungsgesetz des BVerfGG stattfanden. Die Bundesregierung war darüber hinaus der Auffassung, dass der Ausschluss der Wiederwahl Bedingung für die Einführung des Sondervotums sei: „Die Möglichkeit einer Wiederwahl der Bundesverfassungsrichter vorzusehen, erscheint insbesondere dann nicht angezeigt, wenn […] ein überstimmter Richter seine von der Mehrheitsmeinung des Gerichts abweichende Auffassung in einem Sondervotum (dissenting vote) der Entscheidung anschließen kann. Es sollte jede Möglichkeit ausgeschlossen werden, im Einzelfall zwischen der Abgabe des dissenting vote und der Ausübung des Wahlrechts einen Zusammenhang herzustellen.“383
Die Bundesregierung war sich also bewusst, dass mit dem individuelleren öffentlichen Auftreten der Richter*innen auch Risiken einhergehen können. Mit dem Ausschluss der Widerwahl kommen weder die Richter*innen in die Verlegenheit, besondere Vorsicht walten zu lassen, noch die wählenden Organe in die Versuchung, bestimmte Richter*innen abzusetzen, noch die Öffentlichkeit, über solche Motive zu spekulieren. Niemand kann wissen, ob es jemals dazu gekommen wäre – an den Haaren herbeigezogen erscheinen diese Szenarien aber nicht. Den Gesetzesmaterialien lässt sich auch entnehmen, dass das BVerfG im Reformprozess konsultiert wurde. Bei einer Sitzung des Plenums vom 13.11.1969 wurden kleinere redaktionelle Änderungen an § 30 Abs. 2 BVerfGG vorgeschlagen, um klarzustellen, dass auch die concurring opinion durch das Gesetz zugelassen werde.384 Eine Blockade für die grundsätzliche Einführung der abweichenden Meinung fand, wie bereits dargestellt, durch das Gericht mehrheitlich nicht mehr statt. Auch die Stellungnahme des Bundesrates enthielt nur einen kleineren redaktionellen Änderungsvorschlag, der von der Bundesregierung auch angenommen wurde.385 Verabschiedet worden war der Gesetzesentwurf der Bundesregierung in der fünften Legislaturperiode nicht (s. o.), eine erste Lesung hatte allerdings stattgefunden. In der Debatte wurden die bereits bekannten Argumente im Wesentlichen nochmals vorgebracht und lediglich der Abgeordnete Rutschke (FDP) äußerte sich skeptisch, nachdem Justiz-Staatssekretär Ehmke und Abgeordnete der CDU/CSU und SPD für das Sondervotum geworben hatten.386 Zu einer weiteren Beratung des Gesetzes kam es in der fünften Legislaturperiode nicht mehr. 383
BT-Drs. 6/388, S. 6. BT-Drs. 6/388, S. 15. 385 BT-Drs. 6/388, S. 17 f. 386 215. Sitzung des Deutschen Bundestags, 12.02.1969, Plenarprotokoll, S. 11667 ff. Rutschke meinte, ebd. 11674 f.: „Ich möchte aber darauf hinweisen, daß die Bevölkerung, insbesondere auch die Kläger, wahrscheinlich nicht so viel Verständnis dafür haben wird, wenn man sieht, daß sich das oberste Gericht in einer entscheidenden Frage dann so entscheidet, daß man fragt: Habe ich nun eigentlich recht, oder habe ich nicht recht? Das ist das, was den Mann auf der Straße, der das Gericht anruft, in erster Linie interessiert.“ 384
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In der sechsten Legislaturperiode begann der Gesetzgebungsprozess im Bundestag mit einer ersten Beratung am 13.03.1970. Justizminister Jahn warb nochmals intensiv – mit bekannten Argumenten – für die Einführung des Sondervotums.387 Anschließend wurde im Rechtsausschuss in insgesamt sechs Sitzungen über das Gesetz beraten und dabei auch mit Vertreter*innen des Bundesverfassungsgerichts, sowie einigen Staatsrechtlehrern (Frowein, Rupp, Friesenhahn) diskutiert.388 Eine Rechtsausschusssitzung fand sogar beim BVerfG in Karlsruhe statt. Mehrere Abgeordnete diskutierten mit Präsident Müller, Vizepräsident Seuffert sowie den Richter*innen Rupp-v. Brünneck, Leibholz, Geiger und Haager.389 Neben anderen Reformbestrebungen war es insbesondere die Einführung des Sondervotums, die intensiv besprochen wurde. BVerfG-Präsident Müller wies, wie schon in seiner Anhörung beim DRiG,390 zunächst auf die bisherige Praxis des unveröffentlichten und geheim aufbewahrten Sondervotums hin, die eine geringe Rolle spiele: „Ihre Zahl ist verhältnismäßig gering. Seit 1959 ist im Ersten Senat nur ein solches Sondervotum erstattet worden, im Zweiten Senat sind es nach meiner Erinnerung sieben.“391
Das Sondervotum würde „fraglos eine wesentliche zusätzliche Arbeitsbelastung“ sowohl für den dissentierenden Richter, als auch für die Senatskollegen zur Folge haben. Er sah insbesondere den Berichterstatter in der Versuchung, vermehrt eine abweichende Meinung zu veröffentlichen: „Der Berichterstatter, der den Fall oft monatelang vorbereitet hat, dann aber in der Beratung überstimmt wird, hat im besonderen Maße das Bedürfnis, seine von der Mehrheit abweichende Meinung zu veröffentlichen. Dann tritt aber folgendes ein: ich kann als Vorsitzender einem Berichterstatter nicht zumuten, daß er sowohl die von ihm für falsch gehaltene Meinung der Mehrheit, als auch seine davon abweichende eigene Meinung begründet. Das wäre eine Schizophrenie, die ich für untragbar halte. Bisher war der überstimmte Berichterstatter im Regelfall gezwungen, die Entscheidung des Senats abzusetzen und die Meinung der Mehrheit der Senatsmitglieder darzustellen. Künftig wird er sich dieser Aufgabe mit Recht mit dem Argument entziehen können, seine von der Entscheidung abweichende Meinung veröffentlichen zu wollen. Der Vorsitzende wird sich deshalb genötigt sehen, einen neuen Berichterstatter zu bestimmen, der […] die Entscheidung auszuarbeiten hat; das bedeutet sicher nicht selten eine Verzögerung der Entscheidung des Gerichts um mindestens drei Monate.“392
387 28. Sitzung des Deutschen Bundestags, 13.03.1970, Plenarprotokoll, S. 1902 ff., unterstützt wurde er dabei von SPD-Abgeordneten Claus Arndt, Sohn des bereits mehrfach erwähnten Adolf Arndt, und Diemer-Nicolaus (FDP). Eine kritische Gegenrede gab es während der ersten Beratung nicht. 388 BT-Drs. 6/1471 (Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses), S. 1. 389 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 2a. 390 Dazu ausführlich 2. d). 391 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 30. 392 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 32.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Inwiefern es tatsächlich zu einer regen Praxis von Sondervoten kommen würde, war im Gericht aber umstritten. Während Leibholz vermutete, dass es bei Entscheidungen „von geringerer Wichtigkeit […] kein dissenting vote geben“ werde, entgegnete Präsident Müller, er „bezweifle das“. Leibholz stimmte Müller allerdings dahingehend zu, dass eine „Mehrbelastung für das Gericht nicht unerheblich sein“ werde. Er offenbarte auch, dass die bisherige Praxis der Geheimhaltung ihn an der Abfassung von Sondervoten gehindert habe: „Persönlich habe ich mich nur aus diesem Grunde zu einem dissenting vote bisher nicht entschließen können.“393 Er sollte daraufhin in kurzer Zeit drei Sondervoten veröffentlichen (vgl. Anhang II). Vizepräsident Seuffert sah das Problem der Arbeitsbelastung offensichtlich nicht derart drastisch wie Präsident Müller: Jeder Richter müsse „damit selbst fertig werden“.394 Er setzte sich besonders für die concurring opinion ein, die in Fällen helfen könne, bei denen einzelne Richter in der Begründung anderer Ansicht seien: „In diesen Fällen bleibt […] heute nichts anderes übrig, als einen Kompromiß für die Begründung des Ergebnisses zu finden. Ich möchte ganz offen aussprechen, daß sich in einigen Entscheidungen des Gerichts solche Kompromißspuren allzu deutlich finden. Wenn concurring votes zugelassen werden, würde ich den Vorteil darin sehen, daß man zeigen kann, daß es für dasselbe Ergebnis mehrere Begründungen gibt, und daß jede dieser Begründungen für sich ohne Kompromißcharakter dargestellt werden kann.“395
Diese Aussage gibt einen interessanten Einblick in das Bild, das Bundeverfassungsrichter*innen selbst von ihren Entscheidungen haben. Bei Seuffert wird deutlich, dass er nicht immer glücklich mit der konkreten Ausgestaltung der Entscheidungsbegründung war. Darüber hinaus brachte er die Erfahrungen aus dem Zweiten Senat ein und wies auf die Möglichkeit hin, die gegenteiligen Argumente in der Entscheidungsbegründung bekanntzugeben: „Daraus ergibt sich zwingend, daß in einer solchen Entscheidung auch der Standpunkt der Minderheit wenigstens kurz angedeutet wird, eine Möglichkeit, die, wenn die Angabe des Stimmverhältnisses sinnvoll sein soll, nicht bestritten werden kann. Von dieser Möglichkeit ist bisher im Zweiten Senat praktisch kein Gebrauch gemacht worden. Das läßt also einen gewissen Rückschluß […] zu, daß concurring vote und dissenting vote allzu häufig nicht zu erwarten sind.“396
Präsident Müller entgegnete: „Im Ersten Senat ist es ein nobile officium, in allen Fällen, in denen schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten im Senat zutage getreten und Überstimmungen vorgekom393
13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 33. 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 35. Geiger sah dies ähnlich, vgl. ebd., S. 35. 395 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 43. 396 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 34. 394
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men sind, in der Begründung sorgfältig und gewissenhaft die abweichende Meinung anzuführen und zu versuchen, die Mehrheitsmeinung gegen Einwände zu begründen. Ein solches Verfahren kann man nicht gesetzlich festlegen, das sind Fragen der Zusammenarbeit, der Toleranz und der Achtung vor der anderen Meinung. Wenn Sie aber die 26 Bände der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sorgfältig lesen, werden Sie gerade bei den interessanten Entscheidungen dieses Vorgehen feststellen können.“
Diese Äußerungen lassen aufhorchen, offenbaren sie doch bei beiden Senatsvorsitzenden die Bereitschaft und den Willen, Entscheidungsbegründungen diskursiv auszugestalten.397 Insbesondere Müllers Äußerungen lesen sich so, also sei vor dem Hintergrund dieser Praxis die veröffentlichte abweichende Meinung in Form des Sondervotums nicht mehr notwendig. Richter Geiger, bereits in der Öffentlichkeit aufgetretener Dissenter,398 fasste die Stimmungslage im Gericht zusammen: „Der Herr Präsident hat ja deutlich gemacht, daß er kein Freund der dissenting opinion ist. Demgegenüber darf ich mit aller Offenheit sagen, daß die Mehrheit des Gerichts – ich drücke mich vorsichtig aus – mit Nachdruck die dissenting opinion wünscht […].“399
Er hielt anschließend ein Plädoyer für das veröffentlichte Sondervotum, insbesondere aus Transparenzerwägungen: „Die Dinge, die vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden, sind, wenn ich absehe von den Bagatellsachen, zu wichtig, als daß man in der Öffentlichkeit auch nur den falschen Eindruck erwecken dürfte, daß die Entscheidungen gleichsam in der Regel einstimmig ergehen. Das ist einfach nicht richtig. Es dient der Transparenz der Vorgänge, wenn bei diesem Gericht die kontroversen Auffassungen für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden.“400
Er widersprach auch der Ansicht des Präsidenten Müller, dass eine ausreichende Berücksichtigung der überstimmten Ansicht innerhalb der Entscheidungsbegründung bereits stattfinde: „Es ist nach meinen Beobachtungen durchaus nicht richtig, daß in den Entscheidungen die kontroversen Fragen, die Minderheitsmeinungen mit genügender Deutlichkeit zum Ausdruck bringt. Ich bin da ganz anderer Meinung als der Herr Präsident. Es ist ein Unterschied, ob in einer einheitlichen Begründung da und dort in unausgesprochener Auseinandersetzung mit der Gegenmeinung versucht wird, Argumente einzufügen, mit denen die Minderheitsmeinung widerlegt werden soll, oder ob die Minderheit selbst mit ihren Formulierungen unmittelbar das zum Ausdruck bringt, was ihre rechtliche Überzeugung ist.“401
397
S. zur diskursiven Art der Entscheidungsbegründung auch III. 1. a). S. dazu III. 1. a) (bb). 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 36. 400 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 36. 401 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 37. 398 399
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Geiger begründete seine Befürwortung des veröffentlichten Sondervotums noch umfassender. So hielt er „durch die Darstellung der Kontroverse die Offenheit für eine Fortentwicklung der Interpretation“ für möglich. Eine die Schwächen einer Interpretation aufdeckende abweichende Meinung werde dem „Gericht die Aufgabe erleichtern, später von der bisherigen Interpretation loszukommen und durch eine neue, bessere Interpretation die Dinge elastischer fortzuentwickeln.“ Dazu sei es dem Gericht durch das „Transparentmachen der Kontroverse […] leichter möglich, den politischen Effekt des Befriedens herzustellen.“402 Auch gerichtsintern könne das Sondervotum positive Effekte entfalten: „Es ist die Intensität der Beratung mehr gewährleistet, und die Versuchung, über Einwendungen leichthin hinwegzugehen geringer, wenn damit gerechnet werde muß, das am Ende die nicht überbrückbaren Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Senats öffentlich einander gegenüber gestellt werden.“403
Zudem seien die Befürchtungen, es werde zu vielen abweichenden Meinungen kommen, unbegründet: „Keiner von uns macht aus Rechthaberei eine dissenting opinion, auch nicht aus optischen Gründen. Man soll doch nicht glauben, daß ein Kollege, selbst wenn er überstimmt worden ist, sich zu diesem Schritt entschließt bei Entscheidungen, die mit guten Gründen vertretbar sind.“404
Geiger offenbarte auch seine Einstellung gegenüber der bisherigen Praxis der unveröffentlichten Sondervoten: „Ich gehöre zu denen, die in der Vergangenheit schon gelegentlich eine dissenting opinion geschrieben haben. […] Ich habe sie geschrieben in der Überzeugung, zwar kommen sie nicht an die Öffentlichkeit, aber sie sind für die Rechtsprechung dieses Gerichts von Bedeutung, insofern sie die Kollegen – auch die später hinzutretenden – jedenfalls lesen können, wenn sie wollen.“405
Das ist nur die halbe Wahrheit, hatte Geiger es doch letztlich per wissenschaftlicher Veröffentlichung geschafft, dass sein Sondervotum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.406 Dazu gab er an, „in den vergangenen 19 Jahren rund 20 dissenting opinions geschrieben“ zu haben. Er werde „in demselben Stil weiterverfahren“, sollte die veröffentlichte abweichende Meinung ermöglicht werden.407 Gegen den Teufel der „Schizophrenie“, den Präsident Müller an die Wand gemalt hatte, wandte er polemisch ein: 402 403
13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 37 f. 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 38. 404 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 38. 405 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 39 f. 406 S. dazu c). 407 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 40.
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„Ich habe in der Vergangenheit schon gelegentlich zunächst die Mehrheitsmeinung, so gut ich konnte, begründet […] und habe dann – ohne daß ich deswegen krank geworden bin – meine dissenting opinion geschrieben.“408
Geiger setzte sich also offensiv für das Sondervotum ein, was angesichts seiner bereits bekannten Bereitschaft zum Abfassen und Veröffentlichen von abweichenden Meinungen nicht überraschen kann. Seiner Ankündigung, seine hohe Sondervoten-Schlagzahl beizubehalten, ließ er nach der Einführung des veröffentlichten Sondervotums auch Taten folgen (vgl. Anhang II). Unterstützung erhielt Geiger „in vollem Umfang“ von Richterin Rupp-v. Brünneck.409 Sie wies auch das von Müller bereits früher vorgebrachte Argument der „Gruppenbildung“ entschieden zurück: „Diese Gruppenbildung ist da, so oder so; die dissenting opinion macht sie nur transparent.“ Müller musste zu diesem Zeitpunkt bereits erkennen, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Das Plenum des BVerfG hatte sich immerhin „schon vor drei Jahren“ mehrheitlich für das Sondervotum ausgesprochen.410 Seine bereits im Gesetzgebungsprozess des DRiG geäußerten Zweifel an diesem Instrument brachte er aber erneut zum Ausdruck. Er „bedauere“, dass „auf dem Deutschen Juristentag kein Gegner des dissenting vote als Gutachter oder Berichterstatter zu Wort gekommen“ sei. Zudem sei „nicht zu verkennen, daß das Bundesverfassungsgericht selbst früher mit großer Mehrheit“ das Sondervotum abgelehnt habe.411 Er halte die Entscheidungen in einem Kollegialorgan für eine „Gemeinschaftsarbeit aller Richter“. Die für die Rechtsfortbildung erhofften Vorteile halte er für „außerordentlich überschätzt“. Vergleiche mit dem U. S. Supreme Court halte er angesichts der unterschiedlichen Art und Weise des Beratungsprozesses für nicht tragfähig. Auch er sei für eine „Offenheit der Rechtsprechung“, worunter er verstehe „daß die Argumente pro et contra in der Entscheidung eingehen dargelegt werden“. Weiter meinte er: „Ich könnte mir den – sicher kaum praktischen – Fall vorstellen, in dem ein überstimmter Richter die Entscheidung der Mehrheit mit seinem Gewissen nicht vereinbaren zu können glaubt, so daß er es nicht ertragen kann, unterschreiben zu müssen, ohne seine abweichende Meinung veröffentlichen zu können. In einem solchen äußersten Fall wird man […] das dissenting vote gelten lassen können, auch wenn es nicht gesetzlich verankert ist. Außerdem hat der Richter in einem solchen Fall die Möglichkeit, seinen Rücktritt zu erklären.“412
Diese Äußerungen sind erstaunlich: Müller scheint weniger Probleme damit gehabt zu haben, dass Richter*innen in Extremfällen das gesetzlich fixierte Beratungsgeheimnis brechen, als die Möglichkeit des Sondervotums per Gesetz 408
13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 41. 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 42. 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 44. 411 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 44. 412 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 46 f. 409 410
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
zu erlauben. Daneben dürften Richter*innen in Gewissensnot einen Rücktritt sicherlich nicht als ernsthafte Alternative in Betracht ziehen.413 Weitere Gegenargumente Müllers sind erneut die notwendige Autorität des Gerichts und der Aufgabe „Rechtsfrieden wiederherzustellen“.414 Auch in weiteren Punkten widersprach Müller explizit Geigers Argumenten: „Ich schätze die Wirkung auf den Unterlegenen völlig anders ein als mein Kollege Geiger. Wer unterliegt, ist meist der Meinung, es sei ihm unrecht geschehen. Und wenn er sich dabei auch nur auf einen oder zwei Richter im Senat berufen kann, die seiner Meinung sind, wird er sich nie damit abfinden, daß er nicht recht bekommen hat.“415 „Herr Kollege Geiger ist der Meinung, das dissenting vote werde selten sein und nur in wichtigen Fällen erstattet werden. Dazu kann ich nur sagen, daß wir nur sehr wenige nicht wichtige Fälle haben.“416
Er warnte abschließend eindringlich vor der Reform: „Die Einführung des dissenting vote kann zu grundlegenden Auswirkungen in der Verfassungsrechtsprechung führen, zu Änderungen, die ich nicht für nützlich halte und die ich nicht begrüße.“417
Unterstützung in seiner ablehnenden Haltung erhielt Müller vom Richter Haager.418 Leibholz dagegen offenbarte, dass er seine „Ansicht im Laufe der Zeit ändern“ musste, „weil es tatsächlich Entscheidungen gibt, die man mit seiner Unterschrift mit gutem Gewissen nicht decken kann“.419 Einen solchen Sinneswandel beschrieb auch Richterin Rupp-v. Brünneck: „Als ich in dieses Gericht eintrat, war ich eher der Auffassung, wie der Herr Präsident sie heute vertritt. Je länger ich diesem Gericht angehöre, um so dezidierter bin ich für die dissenting opinion, auch aus der Erfahrung heraus, daß in den Fällen, in denen es um bedeutsamere Gegenstände geht und einzelne Richter überstimmt werden, ihre Meinung von der Mehrheit in der Entscheidung nicht immer richtig gewürdigt wird, vielleicht auch nicht richtig gewürdigt werden kann. […] Der Urteilsstil läßt solche Erörterungen nicht zu. Die Würdigung der Minderheitsmeinung sieht daher häufig so aus: ‚Unzutreffend ist der Einwand, daß …‘. Das ist aber doch etwas ganz anderes, als wenn der Mehrheitsentscheidung eine dissenting opinion mit vollständiger, in sich geschlossener Darstellung der Gegenauffassung angefügt wird.“420
413 Ebenso Leibholz, 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 52 und Rupp-v. Brünneck, ebd., S. 54: „Was würde das für das Gericht bedeuten! Da würden Sie gerade Persönlichkeiten verlieren, an denen Ihnen im Grunde doch sehr gelegen ist.“ 414 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 47. 415 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 48. 416 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 49. 417 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 51. 418 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 51 f. 419 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 52. 420 13. Sitzung des Rechtsausschusses, 23.04.1970, Wortprotokoll, S. 56.
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In seiner strikten Ablehnung des Sondervotums befand sich Präsident Müller also in der Minderheit. Die Diskussion zwischen den Richter*innen blieb zwar stets sachlich, war aber auch nicht frei von Schärfe und offenbarte die sich diametral entgegengesetzten Positionen innerhalb des Gerichts, die sicherlich zu Spannungen geführt haben dürften. Anders als beim DRiG konnte sich Präsident Müller nun nicht mehr durch seine strikte Ablehnung gegenüber den Abgeordneten durchsetzen. In einer folgenden Ausschusssitzung wurden mehrere Staatsrechtslehrer zu verschiedenen Punkten der Reform des BVerfGG angehört, so auch zum Sondervotum: Hans Heinrich Rupp, nicht zu verwechseln mit dem am BVerfG tätigen Richter Hans Georg Rupp, äußerte seine Vermutung, dass ein Richter, wenn „er mit seiner Auffassung nicht durchkommt, nun in der Folgezeit in seinen Gedanken nur noch mit der Abfassung eines möglichst brillanten Dissenting befaßt und daß es insofern dazu kommen könnte, daß sich das Gericht in seiner Arbeitskraft nochmals in Individualisten separiert.“421 In der Sitzung wurde auch deutlich, dass sich manche Abgeordnete angesichts der deutlichen Ablehnung dieses richterlichen Instruments durch BVerfG-Präsident Müller mit der Reform noch immer schwertaten. Dies geht etwa aus der Frage des Abgeordneten Beermann (SPD) an den Staatsrechtslehrer Frowein hervor: „Ich habe, beeinflußt durch ein sehr starkes Votum des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gegen das dissenting vote, gewisse Bedenken, es einzuführen. Ich würde die Bedenken aber sicherlich zurückstellen, wenn mir hier gerade von Ihrer Seite noch klare Argumente für das dissenting vote gegeben würden.“
Frowein sprach sich in seiner Antwort „dezidiert für die Einführung“ des Sondervotums aus, begründete dies mit den bekannten Argumenten einer offeneren Rechtsprechung und einer Stärkung der Rolle des einzelnen Richters innerhalb der Verfassungsrechtsprechung.422 Rupp sah das Sondervotum „im deutschen Recht etwas kritischer“, erkannte aber auch Vorteile, insbesondere für das „Rechtsgespräch zwischen Wissenschaft und Bundesverfassungsgericht zur Entwicklung der Verfassungsdogmatik“. Er „wage […] keine Prognose“, man müsse es „wahrscheinlich einmal versuchen“.423 Auch Friesenhahn wurde angehört und trat erneut, wie bereits durch sein Gutachten für den Deutschen Juristentag,424 werbend für das Sondervotum ein.425 Trotz dieser erneut positiven Stimmen für die Reform war man sich insbesondere in der CDU/CSU-Fraktion noch nicht einig, wie aus einem Vermerk des Sekretärs des Rechtsausschusses hervorgeht. Zum Entwurf des § 30 Abs. 2 BVerfGG heißt es dort: 421
17. Sitzung des Rechtsausschusses, 04.06.1970, Stenographisches Protokoll, S. 25. 17. Sitzung des Rechtsausschusses, 04.06.1970, Stenographisches Protokoll, S. 30 f. 17. Sitzung des Rechtsausschusses, 04.06.1970, Stenographisches Protokoll, S. 31. 424 S. dazu 2. f ). 425 18. Sitzung des Rechtsausschusses, 17.06.1970, Stenographisches Protokoll, S. 8 f. 422 423
92
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„In der CDU/CSU-Fraktion besteht hierüber noch keine endgültige Meinungsbildung.“426
In einer darauffolgenden Sitzung kam es zur Abstimmung über den Gesetzesentwurf. Von § 30 Abs. 2 des Regierungsentwurfs wurden dabei „Satz 1 gegen 4 Stimmen bei einer Enthaltung und Satz 2 gegen 2 Stimmen angenommen.“ Dazu stellte der Abgeordnete Erhard (CDU/CSU) den erstaunlichen Antrag, einen Satz 3 einzufügen, der lautete: „Das Sondervotum ist spätestens drei Wochen nach Vorliegen der Urteilsgründe zu den Akten zu bringen.“ Dieser Antrag wurde allerdings „gegen 4 Stimmen bei 3 Enthaltungen abgelehnt“. Der Zusatz in Satz 3 „Das Nähere regelt eine Verfahrensordnung, die das Plenum des Bundesverfassungsgerichts beschließt“ wurde „bei 8 Enthaltungen“ angenommen. Insgesamt wird der Abschnitt am Ende „in dieser Fassung gegen 2 Stimmen angenommen.“427 Es waren also noch immer nicht alle Abgeordneten von dieser Reform überzeugt. Angesichts des Vermerks aus der wenige Tage vorher stattgefundenen Sitzung der einzelnen Fraktionsvertreter, steht zu vermuten, dass die Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion stammten. Im Bericht des Rechtsauschusses für das Plenum des Bundestags wird die Zustimmung mitgeteilt, allerdings auch darauf verwiesen, dass die „Gründe, die […] von der ablehnenden Minderheit ins Feld geführt wurden, […] vom Ausschuss nicht gering geachtet [werden]“.428 Der Ausschussbericht spricht von „Bedenken“, die aber letztlich „zum großen Teil“ von den positiven Auswirkungen zerstreut würden.429 Man kann dies als Zugeständnis an die Kritiker werten – durchsetzen konnten sie sich nicht mehr. In der abschließenden Sitzung des Plenums (zweite und dritte Beratung) fand nochmals eine ausführliche und durchaus kontroverse Debatte statt. Während der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Claus Arndt (SPD), Sohn des SPD-“Kronjuristen“ Adolf Arndt, angesichts früherer Debatten altbekannte Argumente für das Sondervotum in die Waagschale warf,430 wurde aus der Opposition, namentlich der CDU/CSU-Fraktion, noch einmal deutlicher Widerstand angemeldet.431 So wies Dichgans (CDU/CSU) darauf hin, dass die Sondervoten nicht zur „heutigen Struktur des Gerichts“ passten, vor allem angesichts seiner 426 Vermerk über eine Besprechung am 03.11.1970 der Abgeordneten Lenz, Vogel, Arndt und Kleinert, Rechtsausschuss, 04.11.1970. 427 23. Sitzung des Rechtsausschusses, 05.11.1970, Beschlussprotokoll, S. 6. Der beschlossene § 30 Abs. 2 BVerfGG hatte damit folgenden Wortlaut: „Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen. Die Senate können in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen. Das Nähere regelt eine Verfahrensordnung, die das Plenum des Bundesverfassungsgerichts beschließt“, vgl. BT-Drs 6/1471, S. 12. 428 BT-Drs. 6/1471 (Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses), S. 5. 429 BT-Drs. 6/1471 (Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses), S. 5. 430 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4596. 431 Vgl. vor allem den Wortbeitrag des Abgeordneten Dichgans, 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4598 ff.
I. Historische Entwicklung
93
„Arbeitsüberlastung“.432 Zudem wurde ein eher ungewöhnliches Argument angebracht: „Der amerikanische Richter arbeitet auf Lebenszeit. Er braucht also nicht an seinen späteren Status zu denken. Der deutsche Richter wird nach der neuen Regelung möglicherweise relativ frühzeitig aus seiner Position entfernt. Er kann außerdem nebenbei noch als Professor tätig sein. Und diese dissenting votes könnten bei der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist, eine Versuchung sein, hier Material zur Begründung eines künftigen Status zusammenzutragen, eine Versuchung, daß nicht Judikatur poduziert wird, sondern Literatur. Ich glaube, bei manchen Begründungen sind die Bundesverfassungsrichter bisher schon dieser Versuchung erlegen.“433
Sondervoten als Profilierung für die spätere Karriere – dieses Gegenargument war aus der Debatte bis dahin noch nicht bekannt. Verbunden wurde dies mit einer allgemeinen Kritik, das BVerfG sei bereits der „Versuchung erlegen“, statt Judikatur „Literatur“ anzufertigen. Dichgans ließ im Folgenden eine kritische Haltung gegenüber dem Gericht insgesamt erkennen, etwa als er ausführte, dass im Bundestag eine ebenso große Rechtskunde wie beim BVerfG bestehe. Er sehe zwar ein, dass jemand das letzte Wort haben müsse, doch wies er auch darauf hin, dass das BVerfG in strittigen Fällen mit einer sehr knappen Mehrheit ein im Bundestag einstimmig beschlossenes Gesetz zu Fall bringen könne. Dies führe aus seiner Sicht zu einer gewissen Rechtsunsicherheit, ein Problem, welches „noch nicht genügend durchdacht“ sei.434 Beachtenswert ist auch, dass die CDU/CSU-Fraktion die Entscheidung ihren Abgeordnet*innen freigab, der Fraktionszwang also aufgehoben wurde. Dichgans kündigte an, sich bei der Abstimmung zu enthalten; für ihn „überwiegen“ bei der Reform „die Verschlechterungen, die Versäumnisse“.435 In seiner Antwort wird bei C. Arndt noch einmal deutlich, welch große Bedeutung der Frage der Einführung des Sondervotums von den politischen Befürwortenden beigemessen wurde: „Ich möchte aber nicht versäumen, in diesem Zusammenhang zusätzlich noch auf die große gesellschaftspolitische Bedeutung hinzuweisen, die die Einführung des Sondervotums in unserer Rechtsprechung bedeutet. Sie ist nämlich die Demonstration dafür, daß der Richter kein Subsumtionsautomat ist. Sie weist uns darauf hin, daß das Erkennen des Rechts ein menschlicher Vorgang mit allen Subjektivitäten ist, die nun einmal einen menschlichen Vorgang […] anhaften […]. Das Urteil kommt nicht, wie manchmal in Deutschland noch so mancher vermutet, etwa wie Zeus aus der Wolke gefahren.“436 432
81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4601. 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4601. 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4601. 435 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4602. Kleinert (FDP) hielt zwar ebd., S. 4605, die Gesetzesreform für „gut“, warnte aber angesichts „eine[r] ganze[n] Reihe beachtlicher Gründe dagegen“ davor, „nicht ohne weiteres“ dieses Instrument bei anderen Gerichten einzuführen. 436 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4602. Vgl. 433 434
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Lassen sich noch schwerere Geschütze auffahren als einem richterlichen Instrument, letztlich also einer Detailfrage der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine „große gesellschaftspolitische Bedeutung“ zuzuschreiben? Die Reformer erwarteten Großes vom Sondervotum. In der abschließenden dritten Beratung wurde das Gesetz ohne Debatte und ohne Gegenstimmen „bei einigen Enthaltungen“ angenommen.437 Damit hatten auch die Kritik-Übenden das Gesetz nicht aufhalten wollen. Dies brachte der Abgeordnete Dichgans (CDU) auf den Punkt: Es entspräche nicht der Würde des BVerfG, „Reformen dieses Verfassungsorgans hier in strittigen Abstimmungen mit geringen Mehrheiten zu beschließen.“438 Begeisterung, das wurde bereits durch seinen Debattenbeitrag deutlich, klingt wahrlich anders.
3. Fazit Ausgangspunkt der Betrachtungen über die Geschichte des Sondervotums war das Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis als Grundsatz richterlicher Arbeitsweise im Kollegium. Hierbei wurde gezeigt, dass dies zwar eine festverankerte prozessuale Tradition in Deutschland ist, die Art und Weise der Beratung und Abstimmung aber lange Zeit auf den einzelnen Richter und nicht das gemeinsame Abfassen eines Entscheidungstextes fokussiert war. Rückblicke auf Zeiten vor der Professionalisierung des Rechts haben gezeigt, dass die öffentliche Debatte von Gerichten und Richtern durchaus verbreitet war. Dies ergab sich vor allem aus einem System das zwischen Richtern und Urteilern trennte. Durch die Etablierung von Schöffengerichten wurde das Volk nur noch in kleinerem Maße an der Rechtsprechung beteiligt, ehe es ganz auf professionalisierte Richter überging, weil Laienrichter zunehmend mit komplexen Sachverhalten und der Maße an Fällen überfordert war. So traten die Gelehrten in die Richterschaft und brachten ihre oft im Ausland erworbenen Kenntnisse des römischen und kanonischen Rechts mit. Gerichtsprozesse fanden fortan in geschlossenen Räumen und zunehmend formalisiert – vor allem schriftlich – statt, was die Öffentlichkeit noch mehr aus dem Prozess drängte. Mit dem Kampf um die richterliche Unabhängigkeit ab dem 18. Jahrhundert kehrte auch langsam die Öffentlichkeit in den Gerichtssaal zurück, bis dies als Grundsatz im GVG von 1877 festgeschrieben wurde. Beim strikten Beratungsgeheimnis blieb es jedoch auch während dieser Zeit. In Weimar und vor allem während des Nationalsozialismus gewann der Einzelrichter als Entscheidungsträger gröauch ähnlich Bundesjustizminister Jahn (SPD), ebd., S. 4608: „Hierin muß eine verfassungspolitische Entscheidung ersten Ranges gesehen werden. Die Einführung des Sondervotums ist für die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit ein entscheidender Schritt nach vorn.“ 437 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4608. 438 81. Sitzung des Deutschen Bundestags, 02.12.1970, Plenarprotokoll, S. 4598.
I. Historische Entwicklung
95
ßere Bedeutung, sodass die richterliche Beratung an Bedeutung verlor. Während man in der jungen Bundesrepublik über die (gesetzliche) Grundlage des Beratungsgeheimnisses Diskussionen führte, wurde jedoch nie ernsthaft bestritten, dass es sich dabei um einen festen Grundsatz des deutschen Prozessrechts handelt. Als Ausnahme in diesem Bereich lassen sich liberale Entwicklungen in Baden festhalten, wo am Beratungsgeheimnis teilweise schon früh gerüttelt wurde. Das Sondervotum ist eine Durchbrechung dieses Beratungs- und Abstimmungsgeheimnisses. Bereits bei Erlass der Reichsjustizgesetze Ende des 19. Jahrhunderts wurden Vorschläge dazu von liberaler Seite vorgetragen, hatten jedoch im konservativen Umfeld des Bismarck-Reiches keine Aussicht auf eine Mehrheit. In den ersten Jahren der Bundesrepublik wurde nach einem Vorschlag der SPD insbesondere im Rechtsausschuss ausführlich über das Sondervotum debattiert. Von konservativer Seite wurde immer wieder betont, dass das deutsche Volk noch nicht reif für diese Art der Rechtsprechung sei, ja sogar grundsätzlich erst einmal zum Recht erzogen werden müsse. Der Rückblick zeigt, dass diese Zeit der Unsicherheit geprägt ist von mangelndem Vertrauen in das neu geschaffene BVerfG und dringenderen Problemen des Aufbaus eines demokratischen Rechtsstaates. Mit Willi Geiger saß allerdings bald ein Richter im Gericht, der sehr früh zu eigenmächtigen Durchbrechungen des Beratungsgeheimnisses bereit war. Beim Erlass des DRiG 1961 gab es wiederum sehr intensive Diskussionen im Parlament um die Einführung des Sondervotums als Ausnahme vom Beratungsgeheimnis. Wiederum war die SPD um Adolf Arndt hier die treibende Kraft, allerdings sprach sich bei einer Probeabstimmung im Rechtsausschuss sogar eine breite Mehrheit – und damit auch konservative Abgeordnete – für die Einführung der veröffentlichten abweichenden Meinung zumindest beim BVerfG aus. Die Anhörung der strikt gegen dieses Instrument argumentierenden Gerichtspräsidenten, insbesondere BVerfG-Präsident Müller, ließ die politischen Akteure vor einer Reform allerdings wieder zurückschrecken. In dieser Zeit bestand noch eine große personelle Kontinuität in Justiz und Politik. Es begann jedoch auch eine größere Debatte über die Justiz, auch durch die aufstrebende Rechtssoziologie. Große Reformen blieben zwar aus, jedoch änderten sich die politischen Machtverhältnisse. Beim BVerfG zeigten sich in der Folge kleinere Durchbrechungen der strikt anonymen und geheimen Rechtsprechung. Zudem emanzipierte sich das Gericht mehr und mehr von den anderen Verfassungsorganen und gewann an Autorität und Ansehen. Zu einer großen Debatte um das Sondervotum kam es wieder beim 47. DJT. Diese offenbarte zwar eine breite Zustimmung, ließ aber auch eine anhaltende Skepsis erkennen. Bei der Reform des BVerfGG im Jahr 1970 konnten sich die Befürwortenden im Parlament – die SPD war ab 1966 zum ersten Mal Teil einer Bundesregierung und stellte mit Willy Brandt ab 1969 sogar
96
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
den Kanzler439 – durchsetzen. Sie konnten sich dabei auch auf befürwortende Stellungnahmen aus dem BVerfG berufen, lediglich Gerichtspräsident Mülller blieb ein konsequenter Gegner. Auch die CDU/CSU-Fraktion blieb bis zum Schluss eher skeptisch, konnte aufgrund der Mehrheitsverhältnisse aber nicht mehr entscheidend bremsen. Mit der Verabschiedung des § 30 Abs. 2 BVerfGG wurde das Sondervotum beim BVerfG schließlich Realität. Das Gesetz trat am 22.12.1970 in Kraft.440 Der Weg dorthin war lang und steinig.
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse In einem ersten Schritt der Rechtsprechungsanalyse erfolgt eine empirische Untersuchung. Die dadurch erlangten Erkenntnisse können einen Überblick über die Praxis des Gerichts geben und offenbaren, inwiefern sich dieses Instrument beim BVerfG etabliert hat. Hier sollen nur ausgewählte und für den Verfasser leistbare empirische Untersuchungen stattfinden. Sicherlich sind noch weitere solcher Analysen möglich und wertvoll; der Fokus dieser Arbeit liegt aber bewusst auf der inhaltlich-rechtswissenschaftlichen Betrachtung der Sondervoten (dazu III.). Neben den Graphiken und Tabellen in diesem Abschnitt finden sich noch weitere Übersichten im Anhang (F.).
1. Methode Grundlage für diese Untersuchung ist die offizielle und vom Gericht herausgegebene Sammlung der Senatsentscheidungen des BVerfG (BVerfGE). Daraus wurden die Daten über die Sondervoten (Anzahl, Autor*in, Argumentationsrichtung), die einer jeden Senatsentscheidung angehängt sind, vom Verfasser selbst ermittelt. Die Anzahl der jährlichen Senatsentscheidungen des BVerfG wurde aus den Übersichten der offiziellen Entscheidungssammlung vom Verfasser ermittelt. Grundlage dafür war die Website des BVerfG.441 Die Entschei439
Zwar war bei ursprünglicher Einbringung des Gesetzes noch Kiesinger (CDU) Bundeskanzler. Das Justizministerium – welches den Gesetzesentwurf vorlegte – war während dieser Großen Koalition aber von der SPD geführt. Die Kabinettsprotokolle zeigen dann auch den Widerstand in der CDU gegen den Vorschlag: so enthielt sich der CSU-Minister Höcherl bei der Abstimmung wegen der Sondervoten der Stimme, abrufbar unter: http://www. bundesarchiv.de/cocoon/barch/k0/k/k1968k/kap1_2/kap2_43/para3_7.html (zuletzt abgerufen am 02.12.2020). 440 BGBl. I S. 1765. 441 Übersichten abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Entschei dungen/Entscheidungen/Amtliche%20Sammlung%20BVerfGE.html (zuletzt abgerufen am 21.12.2021).
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
97
dungen der Kammern waren nicht zu berücksichtigen, da nur zu Senatsentscheidungen die Abgabe eines Sondervotums möglich ist. Die Daten wurden von 1971 bis einschließlich 2020 erhoben. Das – zur Zeit der Überarbeitung noch nicht vollendete – Jahr 2021 wurde in der Erhebung nicht mehr berücksichtigt. Das im Dezember 1970 im Zweiten Senat abgegebene Sondervotum wurde immer dann nicht in den Statistiken berücksichtigt, wenn es um einen Bezug zu den jährlichen Senatsentscheidungen insgesamt geht, da dies nicht sinnvoll erscheint, wenn Sondervoten erst seit Dezember 1970 (und damit nicht während des gesamten Jahres 1970) möglich sind. In allen anderen Statistiken über Sondervoten beim Zweiten Senat ist diese abweichende Meinung aus dem Jahr 1970 enthalten. Zu beachten ist außerdem der Sonderfall eines Sondervotums zu einer Plenumsentscheidung von Richter Gaier.442 Dieses Sondervotum wird nicht einem der beiden Senate in den Statistiken zugerechnet, ist aber überall dort berücksichtigt, wo die Gesamtanzahl der Sondervoten relevant ist.
2. Sondervotenpraxis beim Ersten und Zweiten Senat Zunächst stellt sich die Frage, wie häufig es bei beiden Senaten des BVerfG überhaupt zur Veröffentlichung eines Sondervotums gekommen ist. Dazu geben Graphik 1 und 2 einen Überblick, indem sie darstellen, bei wie vielen Entscheidungen pro Jahr es eine Senatsentscheidung mit mindestens einem Sonder votum gegeben hat. Die Anzahl der veröffentlichten Sondervoten ist bei beiden Senaten über die gesamte Erhebungszeit sehr volatil. Es lassen sich keine Regelmäßigkeiten erkennen und Ereignisse oder Einflüsse auszumachen, die sich auf die Abgabe der Sondervoten ausgewirkt haben könnten, fällt sehr schwer. Bei beiden Senaten gibt es zahlreiche Jahre, in denen überhaupt keine Entscheidungen mit Sondervotum zu verzeichnen sind, wobei dies beim Ersten Senat deutlich häufiger vorgekommen ist. Auch plötzliche Anstiege der Veröffentlichungen sind bei beiden Senaten zu beobachten. Ein erheblicher Unterschied in der Praxis liegt darin, dass im Ersten Senat bisher niemals mehr als vier Senatsentscheidungen pro Jahr mit Sondervoten abgegeben wurden, während das Maximum beim Zweiten Senat bei zehn (1971) liegt und diese bisher unübertroffene Anzahl an Entscheidungen mit Sondervoten gleich im ersten (vollen) Jahr des Sondervotums stattfand. Dies zeugt davon, dass man in diesem Teil des Gerichts geradezu auf die Einführung dieses Instrument gewartet hatte. Eine Erkenntnis, die angesichts der bereits dargestellten Zusammensetzung von wortmächtigen Befürwortenden und der bestehenden Praxis der unveröffentlichten Sondervoten im 442
BVerfGE 132, 1 – Luftsicherheitsgesetz.
98
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
Graphik 1: Senatsentscheidungen mit Sondervotum nach Jahren (Erster Senat).
11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
Graphik 2: Senatsentscheidungen mit Sondervotum nach Jahren (Zweiter Senat).
Zweiten Senat nicht mehr überraschen kann.443 Der Einstieg in die Sondervotenpraxis verlief beim Ersten Senat deutlich zurückhaltender und blieb dies auch über die gesamte Untersuchungsperiode. Für einen Eindruck davon, wie häufig Entscheidungen mit Sondervoten bei beiden Senaten tatsächlich sind, ist die Gegenüberstellung mit den jährlichen Senatsentscheidungen insgesamt wertvoll (Graphiken 3 und 4). Daraus wurden 443
S. dazu ausführlich S. 61 ff.
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
55
99
Senatsentscheidungen Entscheidungen mit Sondervotum
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
Graphik 3: Senatsentscheidungen insgesamt und mit Sondervotum (Erster Senat).
50
Senatsentscheidungen Entscheidungen mit Sondervotum
45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
Graphik 4: Senatsentscheidungen insgesamt und mit Sondervotum (Zweiter Senat).
prozentuale Anteile der Entscheidungen mit Sondervoten ermittelt (Graphiken 5 und 6). Bei der Gegenüberstellung der Entscheidungen insgesamt mit jenen Entscheidungen mit Sondervotum zeigt sich, dass der Anteil der mit abweichenden Meinungen ergangenen Entscheidungen recht niedrig verbleibt. Beim Ersten Senat lag dieser Anteil bis einschließlich 1994 stets unter 10 % und erreichte bisher niemals einen Wert von über 23 %, während der Zweiten Senat schon im Jahr 1971 fast einem Viertel seiner Entscheidungen (mindestens) ein Sondervo-
100
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
40 Erster Senat
35 30 25 20 15 10 5 0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
Graphik 5: Anteil der Entscheidungen mit Sondervotum beim Ersten Senat (in %).
40 Zweiter Senat
35 30 25 20 15 10 5 0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
2020
Graphik 6: Anteil der Entscheidungen mit Sondervotum beim Zweiten Senat (in %).
tum angefügt hatte. Auch der bisherige Rekordwert lag beim Zweiten Senat mit abgerundeten 38 % deutlich über demjenigen des Ersten Senats. Erst ab 1995 kam es beim Ersten Senat in manchen Jahren zu deutlich höheren Anteilen der Senatsentscheidungen mit Sondervotum, die höchsten Anteile wurden im Jahr 1995 und 2014 erreicht. Bei der Betrachtung der Anteile ist zu berücksichtigen, dass Anstiege hier auch mit einem Rückgang der Senatsentscheidungen einhergehen (können). Die bei beiden Senaten zu beobachtende Abnahme von jährlichen Senatsentscheidungen insgesamt dürfte insbesondere mit einer ge-
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
101
festigteren Rechtsprechung zusammenhängen, die es erlaubt, bereits im Senat entschiedene Grundsatzfragen nunmehr in den Kammern zu bescheiden. Wie unterschiedlich die Praxis der beiden Senate ist, wird noch einmal in den folgenden Graphiken 7 und 8 verdeutlicht: 12 10,3 10 8 6
5,8
4 2 0 1. Senat
2. Senat
Graphik 7: Mittelwert Entscheidungen mit Sondervotum pro Jahr (in %).
Plenum: 1 (1 %)
1. Senat: 65 (29 %) 2. Senat: 156 (70%)
Graphik 8: Verteilung der Sondervoten auf die Senate und das Plenum.
Das Ergebnis ist eindeutig: Im Zweiten Senat sind deutlich mehr Senatsentscheidungen mit Sondervoten versehen und die Richter*innen des Zweiten Senats haben bisher auch einen wesentlich höheren Anteil an den insgesamt abgegebenen Sondervoten. Während die ermittelte Anzahl der Senatsentscheidungen insgesamt (1971 – 2020) zwischen Erstem (1225) und Zweitem Senat (1151) nicht wirklich stark divergiert, zeigt sich in den Graphiken 7 – 9 ein deut-
102
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
200 Entscheidungen mit Sondervotum Sondervoten insgesamt
156
150 65 100 120
54 50
0 1. Senat
2. Senat
Graphik 9: Anzahl von Entscheidungen mit Sondervotum und Sondervoten insgesamt.
licher Unterscheid bei der Sondervotenverteilung. Dies macht deutlich: Die im Vergleich zum Ersten Senat deutlich höhere Anzahl an Sondervoten beim Zweiten Senat hängt nicht etwa damit zusammen, dass dort mehr Senatsentscheidungen getroffen würden. Im Zweiten Senat gibt es schlichtweg eine höhere Bereitschaft, Sondervoten zu veröffentlichen. Insgesamt zeigt sich, dass Entscheidungen mit Sondervoten bei beiden Senaten die Ausnahme sind. Mögliche Erklärungsansätze dafür gibt es viele, überprüfbar sind sie, außer durch eine Richter*innenbefragung444, nicht. Erklärbar erscheint die Zurückhaltung mit der Veröffentlichung abweichender Meinung zunächst mit der generellen menschlichen Scheu, in Gruppen – insbesondere als Einzelne*r – auszuscheren.445 Dazu ist die Abfassung eines Sondervotums unzweifelhaft mit einem großen Aufwand verbunden, der zu dem unmittelbarfassbaren Effekt auf die Rechtsordnung (nämlich keinem), zunächst in keinem angemessenen Verhältnis steht.446 Plausibel ist auch die Erklärung, dass im Sinne einer möglichst kooperativen Zusammenarbeit im Kollegium von einem erhöhten Gebrauch des Sondervotums abgesehen wird.447 Zudem hat sich das 444
Vgl. dazu unten III. 3. Sunstein, Why Societies Need Dissent, S. 182. Dieser verbindet die spezielle Situation der Kollegialgerichte mit Beobachtungen, die mit Studien belegt werden, über das soziale Verhalten von Menschen in Gruppen insgesamt, vgl. insbes. auch ebd. S. 5 ff. 446 Sunstein, Why Societies Need Dissent, S. 182. 447 Sunstein, Why Societies Need Dissent, S. 182, der dafür den Begriff „collegial concurrence“ prägt. Aufgrund empirischer Studien (ebd., S. 166 ff.) gelangt er zu der Beobachtung: „What is noteworthy is that specialists in the law, with considerable experience and confidence, are subject to powerful conformity effects, even in ideologically contested areas“ (ebd., S. 182). 445
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
Mehrere Richter*innen: 20 (31%)
103
Einzelrichter*in: 45 (69%)
Graphik 10: Sondervoten durch eine*n oder mehrere Richter*innen (Ersten Senat).
Mehrere Richter*innen: 49 (31%)
Einzelrichter*in: 107 (69 %)
Graphik 11: Sondervoten durch eine*n oder mehrere Richter*innen (Zweiter Senat).
BVerfG für eine Entscheidungstechnik entschieden, die durch eine intensive kollegiale Beratung stets darauf ausgerichtet ist, Konsens- oder Kompromissentscheidungen zu treffen.448 Sondervoten sollen also möglichst vermieden werden. Neben dieser Betrachtung der Häufigkeit von Sondervoten bei Senatsentscheidungen stellt sich darüber hinaus die Frage, inwiefern es bei Senatsentscheidungen mehrere oder nur einzelne Sondervoten gab und ob die einzelnen Voten von einem*einer Richter*in oder mehreren Richter*innen verfasst wurden. Hinsichtlich beider Senate zeigen Graphiken 10 und 11, dass die abweichende Meinung von einzelnen Richter*innen dominiert; die Verteilung ist hier nahezu identisch. Dies lädt zu der Vermutung ein, dass Sondervoten beim BVerfG 448 Auf
diesen Aspekt wird im Folgenden immer wieder (vertieft) eingegangen.
104
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
nicht Symptom einer (ideologischen) Gruppenbildung, sondern in der überwiegenden Anzahl der Fälle Ausdruck einer persönlichen Rechtsauffassung einzelne*r Richter*innen sind. Dann wäre die Praxis der abweichenden Meinungen beim BVerfG eine individuelle, keine kollektive.449 Dabei besteht natürlich auch die nicht fernliegende Möglichkeit, dass andere Richter*innen, die ebenfalls eine andere Auffassung im Beratungszimmer vertreten haben, ihren Standpunkt im Sondervotum eines*einer Senatskolleg*in wiederfinden und bereits aus diesem Grund sich dieser nicht öffentlich anschließen. Hinter dem öffentlich-individuellen Widerspruch vermag sich ein geheim-kollektiver Rückhalt verbergen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sich die veröffentlichten Sondervoten auf viele Entscheidungen verteilen oder sich bei einzelnen, besonders kontroversen, Entscheidungen kumulieren. Auch hier zeigt sich bei beiden Senaten ein einheitliches Bild: Bei mehr als dreiviertel der Entscheidungen mit Sondervotum kommt es zu einem einzelnen Sondervotum; dass mehrere abweichende Meinungen bei einer Entscheidung veröffentlicht werden, ist die Ausnahme (Graphiken 12 und 13). Die Gründe für diesen Befund lassen sich bloß erahnen. So erscheint es denkbar, dass das einzelne Sondervotum zu einer jeweiligen Entscheidung „stimme Zustimmung“ in einem Senat erhält und ebenfalls zweifelnde Richter*innen angesichts des bereits nach außen getragenen Widerspruchs darauf verzichten, ein eigenes Sondervotum abzugeben. Darüber hinaus ist es auch denkbar, dass Richter*innen vor der Außenwahrnehmung einer Entscheidung mit mehreren Sondervoten zurückschrecken. So ist es unzweifelhaft, dass eine Entscheidung des BVerfG mit beispielsweise drei abweichenden Meinungen deutlich „strittiger“ wirkt, als wenn sie lediglich einen einzelnen Widerspruch enthält. Für ein Organ, das stark auf Konsens und Einheitlichkeit ausgerichtet ist, kann eine solche Wahrnehmung seiner Entscheidungspraxis nicht wünschenswert sein. Das mehrfache Sondervotum erscheint, neben der Unterstützung eines einzelnen Sondervotums durch mehrere Richter*innen, als Garant dafür, der Entscheidung eine besonders kontroverse Aufnahme in Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft zu bescheren. Dem sind sich die Richter*innen wohl auch bewusst: „Auch wissen alle [Bundesverfassungsrichter], dass eine breit getragene Entscheidung mehr Überzeugungskraft hat als auseinanderlaufende Einzelansichten – bei aller Heterogenität versteht sich insoweit jeder Senat doch als Einheit.“450
449 Insofern wäre Sunsteins Beobachtung dann nicht zutreffend: „People do not like to be lone dissenters“, Why Societies Need Dissent, S. 182. 450 Masing, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 177, 182.
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
105
Mehr als ein Sondervotum 20 %
Graphik 12: Anteil der Entscheidungen mit Sondervotum mit mehr als einem Sondervotum (Erster Senat).
Mehr als ein Sondervotum 22 %
Graphik 13: Anteil der Entscheidungen mit Sondervotum mit mehr als einem Sondervotum (Zweiter Senat).
3. Beteiligung der einzelnen Richter*innen an Sondervoten Nachdem sich ein Überblick über die Häufigkeit der Abgabe von Sondervoten verschafft wurde, ist es bei diesem individuellen Instrument angezeigt, einen genaueren Blick darauf zu werfen, welche Richter*innen sich an dieser Praxis beteiligt oder davon Abstand genommen haben. Von einer Analyse der Beteiligungspraxis nach dem beruflichen Hintergrund der Richter*innen wurde Abstand genommen, da die Lebensläufe der Richter oft zu divers sind, als dass sich ihre vorherigen Tätigkeiten in klare Kategorien (Hochschullehrer, Berufsrichter etc.) fassen ließen. Die Beteiligung von Richter*innen an einem Sondervotum kann einerseits dadurch geschehen, dass sie ein einzelnes Sondervotum abgeben; dies ist, wie gezeigt wurde, beim BVerfG eine weit verbreitete Praxis. Zudem besteht die
106
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Möglichkeit, dass Richter*innen sich einem Sondervotum anschließen oder ein solches gemeinsam verfassen. Um diese Phänomene gesammelt erfassen zu können, wird daher ein weiter Begriff der Beteiligung an einem Sondervotum genutzt. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Zahl der Sondervotenbeteiligungen je Richter*in, sowie deren Senatszugehörigkeit und Amtszeit, absteigend sortiert nach der Zahl der Beteiligungen. Eine Übersicht in alphabetischer Reihenfolge findet sich im Anhang (F.). Die Übersicht zeigt, dass es einige Extremfälle gibt, viele Richter*innen aber eher zurückhaltend von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich an Sondervoten zu beteiligen. Ein genaueres Bild geben die Graphiken 14 bis 16. Tabelle 1: Beteiligung der Richter*innen an Sondervoten. Absteigend nach Zahl der Sondervoten sortiert. Kursiv gedruckte Richter*innen befinden sich noch im Amt. Richter*in
Senat
Amtszeit
Beteiligung an Sondervoten
Hirsch Seuffert Wand Böckenförde Geiger Gerhardt Haas Mahrenholz Lübbe-Wolff Niebler Rinck Rupp Di Fabio Osterloh Rupp-v. Brünneck Simon v. Schlabrendorff Gaier Geller Katzenstein Rottmann Sommer Steinberger Kühling Mellinghoff Broß Graßhof Hohmann-Dennhardt Huber
2 2 2 2 2 2 1 2 2 2 2 2 2 2 1 1 2 1 2 1 2 2 2 1 2 2 2 1 2
1971–1981 1967–1975 1970–1983 1983–1996 1951–1977 2003–2014 1994–2006 1981–1994 2002–2014 1975–1987 1968–1986 1951–1975 1999–2011 1998–2010 1963–1977 1970–1987 1967–1975 2004–2016 1963–1971 1975–1987 1971–1983 1991–2003 1975–1987 1989–2001 2001–2011 1998–2010 1986–1998 1999–2011 2010–
21 15 12 11 11 11 11 11 10 10 8 8 7 7 7 7 7 6 6 6 6 6 6 5 5 4 4 4 4
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
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Richter*in
Senat
Amtszeit
Beteiligung an Sondervoten
Jaeger Kruis Müller, Peter Schluckebier Henschel Hermanns Heußner Jentsch Landau Leibholz Masing Papier Paulus Winter Baer Böhmer Bryde Eichberger Hoffmann-Riem Kirchhof, Paul Klein König Limbach Maidowski Niemeyer Seidl Söllner Voßkuhle Benda Faller Grimm Hassemer Kessal-Wulf Langenfeld Seibert Stein Steiner Träger Zeidler Britz Brox Christ Dieterich, Thomas Franßen
1 2 2 1 1 2 1 2 2 2 1 1 1 2 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 1 1 1 2 1 1 1 2 2 2 1 1 1 2 2 1 1 1 1 2
1994–2004 1987– 1998 2011– 2006–2017 1983–1995 2010– 1979–1989 1996–2005 2005–2016 1951–1971 2008–2020 1998–2010 2010– 1989–2000 2011– 1965–1983 2001–2011 2006–2018 1999–2008 1987–1999 1983–1996 2014– 1994–2002 2014– 1977–1989 1986–1998 1987–1995 2008–2020 1971–1983 1971–1983 1987–1999 1996–2008 2011– 2016– 1989–1999 1951–1971 1995–2007 1977–1989 1975–1987 2011– 1967–1975 2017– 1987–1994 1987–1991
4 4 4 4 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Richter*in
Senat
Amtszeit
Beteiligung an Sondervoten
Härtel Haager Harbarth Herzog Hesse Hömig Kirchhof, Ferdinand Müller, Gebhard Niedermeier Ott Radtke Ritterspach Wallrabenstein
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2
2020– 1962–1979 2018– 1983– 1994 1975–1987 1995–2006 2007–2018 1959–1971 1983–1986 2016– 2018– 1951–1975 2020–
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Keine Beteiligung: 18 (21%)
Beteiligung: 68 (79 %)
Graphik 14: Beteiligung der Richter*innen an Sondervoten während ihrer Amtszeit (Erster und Zweiter Senat).
Keine Beteiligung: 16 (36%)
Beteiligung: 28 (64%)
Graphik 15: Beteiligung der Richter*innen an Sondervoten während ihrer Amtszeit (Erster Senat).
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
109
Keine Beteiligung: 2 (5%)
Beteiligung: 40 (95%)
Graphik 16: Beteiligung der Richter*innen an Sondervoten während ihrer Amtszeit (Zweiter Senat).
In der Zusammenschau beider Senate zeigt sich zunächst, dass sich die weit überwiegende Mehrheit der seit der Reform des § 30 BVerfGG am Gericht tätigen Richter*innen mindestens einmal in ihrer Amtszeit an einem Sondervotum beteiligt haben: Nur 18 Richter*innen waren niemals Mitautor*in einer abweichenden Meinung (Graphik 14). Die Zahlen relativieren sich weiter dadurch, dass sieben dieser 18 Richter*innen derzeit noch im Amt sind und daher noch die Möglichkeit haben, sich an einem Sondervotum zu beteiligen (s. Tabelle 1, Richter in Kursivdruck). Bei einem getrennten Blick auf beide Senate offenbaren sich allerdings deutliche Unterschiede (Graphiken 15 und 16): Während sich beim Ersten Senat 16 Richter*innen (bisher) an keinem Sondervotum beteiligten, waren es beim Zweiten Senat nur zwei Richter*innen. Der Zweite Senat ist in seiner bisherigen Geschichte also deutlich stärker von Richter*innenpersönlichkeiten geprägt, die zur Abgabe von Sondervoten grundsätzlich bereit sind. Zunächst ließe sich vermuten, dass diese Zahlen darauf hindeuten könnten, dass der Zweite Senat die kontroverseren Rechtsfragen zu beantworten habe und deswegen öfter Widerspruch entstehen könnte. Es lässt sich aber bereits nicht feststellen, dass es gewisse Themen gibt, die regelmäßig zur Abgabe von Sondervoten führen. Die Übersicht der abgegebenen Sondervoten zeigt, dass zu ganz unterschiedlichen Rechtsfragen abweichende Meinungen veröffentlicht wurden.451 Ebenso gibt es keinen Automatismus, dass besonders kontroverse oder sensible Fälle zu Sondervoten bei einer Entscheidung führen. Es wird noch gezeigt werden, dass es bei einigen, auch in der Öffentlichkeit vorher breit diskutierten, Fragen Entscheidungen mit Sondervoten gegeben hat und diese dabei die spezifische Funktion der Diskursbegleitung einnehmen.452 Ebenso gibt es 451 452
S. dazu Anhang F. I. S. dazu S. 166 ff.
110
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
aber auch zahlreiche solcher Fälle, in denen kein Sondervotum abgegeben und die Einstimmigkeit der Entscheidung mitgeteilt wurde.453 Man sollte sich daher in Zurückhaltung üben, aus den Inhalten der einzelnen Verfahren eine Wahrscheinlichkeit für die Abgabe eines Sondervotums abzuleiten. Darüber hinaus ist In Erinnerung zu rufen, dass sich das Plenum des BVerfG im Jahr 1967 mit neun zu sechs Stimmen für die Einführung des Sondervotums ausgesprochen hat.454 Immerhin sechs Gegenstimmen gab es am Gericht, insbesondere die des Präsidenten Gebhard Müller. So kann es kaum überraschen, dass er in seiner bis 1971 währenden Amtszeit kein Sondervotum veröffentlichte. Zugegeben hatte er dazu auch nicht lange Gelegenheit, jedoch wäre es angesichts seines intensiven Kampfes gegen die Einführung der abweichenden Meinungen auch bei einer längeren Amtszeit wohl kaum zu einem von ihm unterstütztem Sondervotum gekommen. Neben Müller sind aus der Zeit von 1967 noch vier weitere Richter unter denen, die sich nie an einem Sondervotum beteiligt haben (Brox, Haager, Niedermeier, Ritterspach). Es ist also nicht auszuschließen, dass es Überschneidungen gab zwischen jenen, die gegen die Einführung des Instruments stimmten und jenen, die von der Möglichkeit niemals Gebrauch machten. Ritterspach äußerte sich nach seiner Amtszeit sogar offen kritisch zum Instrument Sondervotum.455 Der Zweite Senat hingegen war bereits in seiner Anfangszeit von Persönlichkeiten geprägt, die das Sondervotum befürworteten. Möglicherweise haben sich daraus früh unterschiedliche „Traditionen“ entwickelt. Eine Erklärung für die unterschiedlichen Beteiligungsquoten bei beiden Senaten kommt letztlich nicht ohne Spekulationen aus. Am Ende des Tages bleibt es eine Frage des individuellen Amtsverständnisses, ob und wie häufig Richter*innen die Möglichkeit, ein Sondervotum abzugeben, wahrnehmen. Dieses ist einer wissenschaftlichen Analyse nur schwer zugänglich.456 Möglicherweise sind die Erklärungen auch viel banaler: Wie ein ehemaliger Richter dem Verfasser anonym mitteilte, war sein Senat zu seiner Amtszeit schlichtweg heillos zerstritten. Auch solche Faktoren des Senatsklimas dürften eine Rolle spielen, inwiefern sich Richter*innen zum offenen Widerspruch entscheiden. Auch die Rolle der Senatsvorsitzenden sollte dabei sicherlich nicht unterschätzt werden.457 Unangefochtener Spitzenreiter bei der Beteiligung an abweichenden Meinungen ist Hirsch (21), gefolgt von Seuffert (15) und Wand (12). Auffällig ist, dass von den zehn Richter*innen, die am meisten Sondervoten abgegeben 453 Aus jüngster Vergangenheit: BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 – Bundesnotbremse I; Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21 – Bundesnotbremse II; Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 – Klimaschutz. 454 Dazu ausführlich S. 61 ff. 455 S. dazu S. 234 ff. 456 Vgl. in Ansätzen dazu S. 234 ff. 457 Vgl. dazu ausführlich S. 234 ff.
II. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Empirische Analyse
111
haben, neun im Zweiten Senat tätig waren. Bemerkenswert ist auch, dass sieben der zehn Richter*innen, die an zehn Sondervoten oder mehr beteiligt waren, von der SPD nominiert wurden; lediglich drei von der CDU/CSU.458 Ein besonderer Fall ist darüber hinaus Seuffert, der durch das Ende seiner Amtszeit im Jahr 1975 lediglich knapp vier Jahre Zeit hatte, Sondervoten zu veröffentlichen, und sich in dieser kurzen Zeit an 15 (!) abweichenden Meinungen beteiligte. Die meisten Richter*innen, die sich besonders rege an abweichenden Meinungen beteiligt haben, waren in der Anfangszeit des Sondervotums am Gericht tätig.
4. Concurring und Dissenting Opinions Ferner ist zu beleuchten, inwiefern die einzelnen Sondervoten concurring oder dissenting opinions darstellen. Dies ermöglicht, neben der bereits beleuchteten Anzahl der Sondervotenbeteiligungen, einen konkreten Blick darauf, welche Zweckrichtung Richter*innen ihren abweichenden Meinungen geben (s. auch Anhang F. I.). Das Bild ist an beiden Senaten sehr eindeutig: Mit einem Anteil von mindestens drei Vierteln der abgegebenen Sondervoten dominiert die dissenting opinion die Praxis beim BVerfG. Concurring opinions stellen die Ausnahme dar. Offenbar ist es in der Praxis des BVerfG also verbreitet, eine abweichende Meinung erst dann zu veröffentlichen, wenn Richter*innen eine Zustimmung zum Ergebnis der Entscheidung nicht möglich ist. Die concurring opinion, die man als „sanfteren“, da nur in der Begründung abweichenden, Widerspruch werten kann, wird offenbar nicht allzu oft für notwendig erachtet. Dies mag wegen einer eher kritischen Betrachtung von concurring opinions, die bereits in der rechtspolitischen Diskussion vor der Einführung459, als auch bei den Richter*innen selbst zu beobachten ist,460 weniger überraschen. Denkbar erscheint vor allem, dass vor dem Hintergrund der hohen Arbeitsbelastung die Abwägung zwischen den Mühen des Abfassens eines Sondervotums einerseits und der eher geringen Schlagkraft einer concurring opinion andererseits oft zuungunsten der Sondervotumsagabe ausfällt. Aber auch die Ausgestaltung der Entscheidungsbegründungen beim BVerfG dürfte einen Erklärungsansatz bilden: Sie sind oft auch darauf ausgerichtet, gewisse Gegenargumente und Aspekte, die der Minderheit wichtig sind, mit einzubauen.461 Der öffentliche Vortrag abweichender Begründungsansätze mag Richter*innen dadurch öfter nicht notwendig erscheinen. 458
Vgl. Anhang F. II. S. dazu S. 28 ff. S. dazu S. 234 ff. 461 Dazu ausführlich S. 114 ff. 459 460
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Concurring Options: 12 (18%)
Dissenting Options: 53 (82%)
Graphik 17: Verhältnis von dissenting zu concurring opinions (Erster Senat).
Concurring Options: 39 (25%) Dissenting Options: 117 (75%)
Graphik 18: Verhältnis von dissenting zu concurring opinions (Zweiter Senat).
5. Fazit Der empirische Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG hat erste Erkenntnisse hinsichtlich der Sondervotenpraxis liefern können. Die Anzahl der Entscheidungen mit Sondervoten ist bei beiden Senaten seit 1970 sehr volatil. Sehr auffällig sind die großen Unterschiede zwischen dem zurückhaltend mit Sondervoten umgehenden Ersten und dem deutlich sondervotenfreudigeren Zweiten Senat. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass beim BVerfG die von Einzelrichter*innen abgegebene abweichende Meinung dominiert. Die Praxis des Sondervotums beim BVerfG könnte also als eine individuelle, keine kollektive, bezeichnet werden, wobei von außen nicht erkennbar ist, ob sich hinter dem öffentlich hervorgetretenen Individuum nicht doch eine still-zustimmende Gruppe befindet. Zudem lässt sich in der überwiegenden Zahl der Fälle beobachten, dass nur eine abweichende Meinung pro Senatsentscheidung abgegeben wird.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
113
Das Sondervotum stößt bei den Richter*innen des BVerfG grundsätzlich auf breite Akzeptanz. 80 % der Richter*innen, die in ihrer Amtszeit die Möglichkeit dazu hatten, haben sich an mindestens einem Sondervotum beteiligt. Zuletzt konnte gezeigt werden, dass es sich bei den bisher am BVerfG abgegebenen Sondervoten überwiegend um dissenting opinions handelt.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse Im zweiten Schritt der Rechtsprechungsanalyse ist der Frage nachzugehen, welche Rolle das Sondervotum innerhalb der verfassungsgerichtlichen Praxis einnehmen kann und tatsächlich einnimmt. Einer Antwort nähert man sich am besten über eine Bestimmung von Funktionen der abweichenden Meinungen beim BVerfG. Im historischen Rückblick wurde deutlich, dass sich die Diskussion um das Sondervotum lange und intensiv rechtspolitisch vollzog. Eine rückblickende Analyse der Praxis von Sondervoten läuft dadurch schnell Gefahr, die Frage beantworten zu wollen, ob das Sondervotum denn nun gut oder schlecht sei, am Ende also ein „gelungenes“ Projekt darstellt. Diese Frage lässt sich möglicherweise auf Grundlage dieser Analyse beantworten, steht hier aber bewusst nicht im Vordergrund. Dem Untersuchungsgegenstand wird sich mittels dreier Ansätze genähert: Zunächst werden über die Funktionen des BVerfG und anderer verfassungsgerichtlicher Instrumente spezifische Funktionen des Sondervotums abgeleitet (1.). Diese Funktionsanalyse wird deswegen als heteronom bezeichnet. In einem zweiten Schritt werden weitere Funktionen des Sondervotums aus der Praxis selbst heraus – und damit autonom – bestimmt (2.). Da beide Ansätze nur eine Außenperspektive ermöglichen, sollen in einem dritten Schritt – soweit dies möglich ist – aus Äußerungen ehemaliger und aktueller Richter*innen die Funktionen aus einer Innenperspektive heraus bestimmt werden (3.). Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern sich die Einschätzungen der Akteure mit der wissenschaftlichen Außenperspektive decken.
1. Funktionsanalyse (1): Heteronome Bestimmung der Funktionen des Sondervotums Um eine konkrete Bestimmung der Funktionen des Sondervotums zu erreichen, werden zunächst die allgemeinen Funktionen des BVerfG als Ausgangspunkt genommen. Heteronom sollen daraus Funktionen des Sondervotums als speziellem Instrument der Verfassungsgerichtsbarkeit abgeleitet werden. Zunächst soll dabei das Augenmerk auf der Entscheidungsbegründung liegen, da sie mit dem Sondervotum in einem unmittelbaren Zusammenhang steht. Beide Elemente verfassungsgerichtlicher Arbeit rechtfertigen eine Rechtsauf-
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
fassung inhaltlich und bemühen sich dabei in aller Regel um eine ausführliche Argumentation. Sie lassen sich durch ihre ähnliche Grundstruktur, trotz unterschiedlicher Zweckrichtung, in einer gemeinsamen Betrachtung verbinden (a). Anschließend sollen die Funktionen des BVerfG allgemein bestimmt und daraus Funktionen des Sondervotums im Speziellen abgeleitet werden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen klassischen und besonderen Gerichtsfunktionen des BVerfG. Die klassische Funktion besteht in der Entscheidung eines Rechtsstreites. Das BVerfG hat über Fälle ganz unterschiedlicher Art zu entscheiden, Ziel dieser Verfahren ist es aber immer, eine verbindliche und für die Adressat*innen verständliche Entscheidung zu treffen.462 Daneben kommen dem BVerfG besondere Verfassungsgerichtsfunktionen zu (b). Diese sind deutlich schwerer zu erfassen und nicht ausdrücklich im Verfassungs- und Verfassungsprozessrecht verankert. Jedes Konzept der Funktionszuschreibung ist kritikwürdig und nicht abschließend. Dass es solche nicht rechtlich-determinierten Funktionen des BVerfG überhaupt gibt, wird – soweit ersichtlich – aber von niemandem ernsthaft bestritten. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auf diesen unterschiedlichen Funktionsebenen des Gerichts auch dem Sondervotum unterschiedliche Funktionen zuzuschreiben sind. Meine These ist, dass das Sondervotum für die besonderen Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit ein wertvolles Instrument darstellt und insbesondere hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung einen Mehrwert schafft.
a) Verfassungsgerichtliche Entscheidungsbegründung und Sondervotum „Manchmal ist es besser, keinen Kompromiss einzugehen. Es gibt Kompromissentscheidungen, die kaum noch verstanden werden. Ich muss sagen, dann ist immer die Frage, stimmt man einem solchen Kompromiss noch zu oder sagt man: ‚Liebe Leute, jetzt ist Schluss! Jetzt schreiben wir ein Sondervotum, dann sind wenigstens die unterschiedlichen Positionen deutlich gemacht worden‘.“463 Richter*in des BVerfG (anonym)
Der Schauplatz juristischer Argumentation ist in Gerichtsentscheidungen grundsätzlich die Entscheidungsbegründung.464 Sie gibt einen Einblick in das, was in internen Beratungen eines Kollegialgerichts diskutiert worden ist. Be462 Eine Differenzierung anhand der unterschiedlichen Verfahrensarten vor dem BVerfG erscheint hier nicht erforderlich. Zwar unterscheiden sich diese grundlegend voneinander, die Grundkonstellation ist hinsichtlich des Sondervotums aber immer die gleiche: Tenor und Entscheidungsbegründung vs. abweichende Meinung. 463 Zitiert nach Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 325, Interview Nr. 16. 464 Historischer Abriss der Begründungspflicht bei Lübbe-Wolff, in: Schürmann/v. Plato, Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, S. 17, 24 ff. m. w. Nachw.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
115
gründungen sind dabei auch eine Kompensation dafür, dass die Adressat*innen einer Entscheidung durch die Geheimhaltung der Beratung keinen Einblick in den Entscheidungsprozess erhalten.465 Sachlich besteht ein enger Zusammenhang mit dem Sondervotum, das entweder in der Begründung oder in der Sache abweicht, dabei also auf Tenor und Entscheidungsbegründung inhaltlich Bezug nimmt. Letztlich sind Sondervoten ebenfalls eine Entscheidungsbegründung im weiteren Sinne, da sie eine Entscheidung, in diesem Fall eine andere mögliche, zu rechtfertigen versuchen.466 Sondervoten setzen sich in der Regel auch mit der Entscheidungsbegründung argumentativ auseinander, stehen also mit diesem Teil der Gerichtsentscheidung in einem untrennbaren Zusammenhang. Dadurch öffnen sie die sonst verschlossene Tür zum Beratungszimmer noch ein kleines Stück weiter, als es die Entscheidungsbegründung zu leisten vermag, und, wie es Möllers prägnant formuliert, „erlauben einen formalisierten Einblick in den informellen Kern des verfassungsgerichtlichen Verfahrens“.467 Es besteht aber nicht nur aus diesen Gründen ein enger Zusammenhang zwischen Sondervotum und Entscheidungsbegründung. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich die Funktionen der Entscheidungsbegründung und der Sondervoten ergänzen (können). Als Ausgangspunkt wird dafür bestimmt, welche Funktionen der Entscheidungsbegründung überhaupt zugesprochen werden können (aa). Anschließend wird untersucht, wie verfassungsgerichtliche Begründungen diese Funktionen erfüllen können (bb), ehe ein kurzer Blick auf die Begründungspraxis des BVerfG geworfen wird (cc). In einem letzten Schritt wird klargestellt, welche Funktion dem Sondervotum abgrenzend zur Entscheidungsbegründung zukommen kann (dd). Dabei wird die These vertreten, dass Sondervoten gegenüber der Entscheidungsbegründung eine Entlastungsfunktion einnehmen können: Zwar sollten Entscheidungsbegründungen auch abweichende Argumente enthalten und damit diskursive Elemente bereithalten; dies gehört zur Vollständigkeit einer Entscheidungsbegründung. Da Begründungen aber den Tenor einer Entscheidung widerspruchsfrei und überzeugend stützen müssen, ist deren diskursive Ausgestaltung begrenzt. Hier kommt das Sondervotum ins Spiel, das abweichende Begründungselemente „auslagern“ kann.
aa) Funktionen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung Fraglich ist, welche Funktionen die verfassungsgerichtliche Entscheidungsbegründung einnimmt. Vorliegend soll es ausschließlich um die Begründung 465
Möllers, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 39, 45. Voraussetzung ist, dass das jeweilige Sondervotum auch wirklich eine Begründung für eine andere Entscheidung anbietet. Dies ist in der Praxis des BVerfG allerdings ganz überwiegend der Fall. Vgl. dazu die ausführliche Analyse unter 2. 467 Möllers, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 39, 59. 466
116
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
von Senatsentscheidungen des BVerfG, nicht um die richterliche oder gar staatliche Entscheidung im Allgemeinen gehen.468 Der Betrachtungsgegenstand wird hier bewusst eingegrenzt, um einen Kontext zum Sondervotum herstellen zu können. Grundlage der Funktionsbestimmung sind zwei ausführliche Untersuchungen von Lücke und Brink.469 Lückes Untersuchung ist auf den „Begründungszwang“ im Allgemeinen ausgerichtet, beschäftigt sich also nicht nur mit Entscheidungen der Judikative. Für die Zwecke dieser Arbeit wird sich auf die Erwägungen zu Entscheidungsbegründungen des BVerfG konzentriert. Der verfassungsrichterlichen Entscheidungsbegründung (§ 30 Abs 1 S. 2 BVerfGG)470 spricht Lücke eine „externe Richtigkeitsfunktion“, „Befriedungsfunktion“ und „Klarstellungsfunktion“ zu.471 Mit der „externen Richtigkeitsfunktion“ meint Lücke, im Gegensatz zur intern ausgerichteten Selbstkontrolle, „Betroffenen die Richtigkeit einer Entscheidung darzulegen.“472 Diese Funktion leitet Lücke bei nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, wie jene des BVerfG es sind, aus den „materiellen Grundrechten als allgemeine Verfahrensgarantien“ ab.473 Unter der „Befriedungsfunktion“ versteht Lücke, dass die Begründung es ermöglicht, „den Betroffenen eine Entscheidung einsichtig und akzeptabel“ zu machen.474 Dies könne entweder dadurch eintreten, dass der Betroffene durch die Begründung „von der (materiellen Richtigkeit) der Entscheidung überzeugt“ werde, sich die Begründung „mit dem Vorbringen der Betroffenen auseinandersetzt“ oder „die Notwendigkeit der Entscheidung zu erklären versteht.“475 Verfassungsrechtlich rückgekoppelt wird diese Funktion an Art. 1 Abs. 1 GG.476 Zuletzt identifiziert Lücke bei der Begründung von Senatsentscheidungen des BVerfG eine „Klarstellungsfunktion“. Damit ist gemeint, dass das Gericht „bei Zweifeln über die Tragweite des verfügenden Teils oder des Tenors“ oder weil es schlicht „unmöglich“ sei, „das Entschiedene allein und abschließend im Entscheidungssatz auszudrücken“, in der Begründung seine Entscheidung kon468
Dazu ausführlich Lücke, Begründungszwang und Verfassung. Lücke, Begründungszwang und Verfassung; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung. 470 Vgl. zur Ausnahme der Begründungspflicht in § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG ausführlich Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? 471 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 107. 472 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 46. 473 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 49. Wegen der Unanfechtbarkeit dieser Entscheidungen scheide eine verfassungsrechtliche Grundlage dieser Begründungsfunktion in Art. 19 Abs. 3 S. 1 GG aus. 474 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 72. 475 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 72. Von der externen Richtigkeitsfunktion unterscheide sich diese durch das „Ziel“, nicht lediglich objektiv etwas erklären, sondern einen „subjektive[n] Zustand – die Befriedung der Betroffenen“ zu wollen. 476 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 73 ff. 469
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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kretisiert und für den Adressaten damit erklärt.477 Diese Funktion wird aus dem verfassungsrechtlichen „Prinzip der Rechtssicherheit“ gewonnen.478 Nicht verständlich ist, warum die allgemein herausgearbeitete Funktion der „Selbstkontrolle“ von Lücke nicht auch im Zusammenhang mit dem BVerfG genannt wird.479 Unter der „Selbstkontrollfunktion“ eines Begründungszwangs versteht Lücke allgemein, alle „staatlichen Organe an unüberlegten Entscheidungen zu hindern und sie statt dessen rechtzeitig zu eingehender, nicht nur pauschaler Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen ihres Tuns anzuhalten.“480 Verfassungsrechtlich verortet wird diese Funktion in Art. 20 Abs. 3 GG.481 Für die Selbstkontrolle verlangt Lücke eine „staatsinterne Begründung“, etwa durch „Voten, Aktenvermerke“ oder „mündlich durch richterliche Beratungen“.482 Die gerichtliche Entscheidungsbegründung ist nach dieser Ansicht also nicht der Ort, eine Selbstkontrolle der Richter*innen zu erreichen. Dies kann nicht überzeugen: Zunächst ist eine wirklich effektive Selbstkontrolle nur denkbar, wenn das Gericht dazu verpflichtet ist, seine internen Erwägungen (teilweise) zu veröffentlichen. Das Wissen um die Öffentlichkeit der Entscheidung und deren Begründung verlangt von den Beteiligten von Anfang an ein deutlich höheres Niveau der kritischen Selbstreflexion.483 Zudem erscheint die Selbstkontrolle nicht nur im Vorhinein einer Entscheidung möglich, sondern ist auch anschließend auf Basis der eigenen Begründung und Reflexion denkbar, ausgelöst durch die Rückmeldung der externen Kontrollierenden. Selbst- und Fremdkontrolle stehen in einem engen Zusammenhang und sind beide auf eine öffentlich zugängliche Entscheidungsbegründung angewiesen. Es ist kein Grund erkennbar, warum diese Kontrollfunktion nicht auch der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung zugeschrieben werden kann. Dass es externen Kontrolleuren qua Unanfechtbarkeit der Entscheidungen versagt ist, rechtswirksam Einfluss auf die Entscheidung zu nehmen, befreit das Gericht nicht davon, sein Handeln selbstkritisch zu hinterfragen. Somit ist die „Selbstkontrollfunktion“ eine weitere Funktion der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung. Neben dieser grundlegenden Betrachtung wird hier auch die Untersuchung von Brink, der sich auf die Funktionen der richterlichen Entscheidungs477 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 91. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass das BVerfG in diversen Fällen innerhalb der Entscheidungsformel auf die Entscheidungsgründe verwiesen habe, etwa BVerfGE 30, 1, 3 – Abhörurteil. 478 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 92 ff. 479 Vgl. Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 107, wo die „Selbstkontrollfunktion“ im Zusammenhang mit § 30 Abs. 1 S. 2 BVerfGG nicht genannt wird. 480 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 39. 481 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 45: „Art. 20 Abs. 3 GG läßt somit einer erst getroffenen Entscheidungen beigegebene oder gar nachfolgende Begründung nicht ausreichen.“ 482 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 45. 483 In diese Richtung auch Schlüter, Das Obiter Dictum, S. 97.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
begründung im speziellen beschränkt hat, mit einbezogen. Brink differenziert bei gerichtlichen Entscheidungsbegründungen zwischen den Funktionen der Information, der Konkretisierung des Urteilstenors, der Befriedung, der Konsolidierung, der Kontrolle und der Gestaltung hinsichtlich richterlicher Rechtsfortbildung.484 Mit der „Informationsfunktion“ meint Brink, dass die „Parteien, andere Gerichte und die Rechtswissenschaft über eingenommene juristische Standpunkte, Argumentationslinien und Rechtsentwicklungen“ informiert werden. Dies bewirke letztlich auch „Rechtssicherheit durch den Gewinn an Vorhersehbarkeit richterlichen Entscheidens“.485 Damit eng zusammen hängt die „Konkretisierungsfunktion“, die – ebenso wie die „Befriedungsfunktion“ – dem bereits von Lücke vertretenem Verständnis entspricht, mit dem Unterschied, dass dieser die Konkretisierungs- als „Klarstellungsfunktion“ bezeichnet.486 Die „Konsolidierungsfunktion“ diene darüber hinaus „der Gewährleistung und Sicherung der allgemeinen Rechtsordnung, sie be- und verstärkt den gesellschaftlichen Konsens, der Grundlage der Schaffung staatlicher Gewalt ist.“487 Sie ist also, im Gegensatz zur „Befriedigungsfunktion“, nicht auf die Prozessbeteiligten, sondern auf eine breitere „Öffentlichkeit“ ausgerichtet.488 Diese zusätzliche Funktionszuschreibung kann nicht überzeugen. Sie setzt zunächst voraus, dass überhaupt ein „Grundkonsens“ besteht, was gerade in verfassungsrechtlichen Fragen selten der Fall,489 jedenfalls aber sehr voraussetzungsvoll ist. Wenn darüber hinaus die Konsolidierung mit einer Integrationsfunktion verknüpft wird,490 ist spätestens das zulässige Maß der Funktionszuschreibungen an die Begründung überschritten.491 Die gerichtliche Entscheidung und ihre Be484
Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 29 ff. Die „Gestaltungsfunktion“ betrifft dabei einen Sonderfall der Rechtsprechung und ist daher aus der hier verfolgten grundsätzlichen Betrachtung zu nehmen. 485 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 29. 486 Vgl. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 30 ff., der auch explizit auf Lücke verweist. 487 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 35. 488 Vgl. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 35. Dieser Gedanke findet sich auch bei Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 94 f., unter dem Stichwort „Konsensfunktion“, der aber darauf hinweist, dass die diese Funktion beim BVerfG keine Anwendung finde, „wegen ihrer Ausrichtung auf die Betroffenen (und nicht die Öffentlichkeit, vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG)“, ebd., 107. Diese Auslegung kann nicht überzeugen, wirken doch gerade Entscheidungen des BVerfG deutlich über die Verfahrensbeteiligten auf die allgemeine Öffentlichkeit hinaus. 489 Dazu ausführlich unten, c) (bb). 490 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 35; ähnlich Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, S. 145 ff. 491 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 95, meint darüber hinaus, dass bei „rein begünstigenden Entscheidungen“ sich ein „Konsens der Öffentlichkeit meist von selbst“ einstelle und fordert einen Begründungszwang qua Konsensfunktion daher lediglich bei „belastenden Entscheidungen“. Diese Ansicht geht völlig an der Realität vorbei, bezieht sie doch die
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gründung sollten vor überzogenen Erwartungen an Funktionen und Wirkungen beschützt werden. Damit soll nicht geleugnet werden, dass Entscheidungen und ihre Begründungen einen gesellschaftlichen Konsens fördern oder die Rechtsgemeinschaft integrieren können. Mit einer Funktionszuschreibung sind aber implizit Erwartungen an das Zuschreibungsobjekt verbunden, weshalb zurückhaltend damit umgegangen werden sollte. Bereits die konkret auf die Verfahrensbeteiligten ausgerichtete Befriedungsfunktion erscheint sehr voraussetzungsreich, kann aber aufgrund des überschaubaren Personenkreises und der Nähe der Beteiligten zum Verfahren eher angenommen werden, als eine abstrakt auf eine breite Öffentlichkeit ausgerichtete Konsensförderungs- und Integrationsfunktion. Darüber hinaus wird die „Kontrollfunktion“ von Brink in einem umfassenden Sinne verstanden, nämlich sowohl als Selbst-, als auch als Fremdkontrolle. Dabei erweitert er auch die kontrollierenden Akteure, indem er etwa „Parteien“ und die „Öffentlichkeit/Medien“ miteinbezieht.492 Da Fremdkontrolle nicht in einem formellen Sinne verstanden wird, also nicht nur die Prüfung durch eine höhere gerichtliche Instanz gemeint ist, gilt diese Funktionszuschreibung auch für das BVerfG. Auch hier findet eine Kontrolle durch die Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit, insbesondere die Rechtswissenschaft, statt. Dass diese aufgrund der Vorrangstellung des BVerfG keine konkrete Auswirkung auf die Bindungswirkung der Entscheidung haben kann, entleert deren Kontrollfunktion nicht – externe Kontrolle muss in einem umfassenden Sinne verstanden und darf nicht nur auf potenzielle rechtliche Wirkungen reduziert werden. Auf Basis dieser grundlegenden Untersuchungen, kombiniert mit eigenen Modifikationen, lassen sich drei Funktionen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründungen festhalten, die als Fundament der weiteren Betrachtung dienen:493 Die Basis bildet zunächst eine Informationsfunktion, die interne Erwägungen offenbart und mittels einer ausführlicheren Erläuterung die knappe Entscheidungsformel konkretisiert.494 Ein profundes Verständnis, was und warum das Gericht entschieden hat, ist für alle weiteren Funktionszuschreibungen grundlegend. Darauf aufbauend kann der Entscheidungsbegründung eine umfassende Kontrollfunktion, sowohl durch das BVerfG selbst, als auch durch externe Akteur*innen, wie die Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit, zugesprochen werden. Ferner lässt sich eine Befriedungsfunktion ableiten: Die Begründung soll dazu dienen, verfassungsgerichtliche Entscheidungen für die Adressat*innen und die Öffentlichkeit einsehbar und akzeptierbar zu gestalten. Öffentlichkeit nicht ein, die mit begünstigenden Entscheidungen zugunsten anderer Personen (die Verfahrensbeteiligten) nicht automatisch einverstanden sein dürfte. 492 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 37. 493 Vgl. auch ähnlich für das Verwaltungsrecht Dolzer, DÖV 1985, S. 9 ff. 494 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 31, bezeichnet die Konkretisierung der Entscheidungsformel zurecht als einen „Unterfall der Informationsfunktion“.
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Dazu bedürfen sie neben der bindenden Entscheidungsformel auch konkreter Anhaltspunkte, warum eine Entscheidung so getroffen wurde und nicht anders. Wichtig ist dabei zu betonen, dass diese subjektive Überzeugung bei der Öffentlichkeit und den Entscheidungsadressaten immer nur das Ziel der Rechtsprechung sein kann. Eine darüberhinausgehende Konsolidierungsfunktion wird hier nicht vertreten, da das Potential einer gerichtlichen Begründung dafür zu unsicher erscheint.
bb) Anforderungen an die verfassungsgerichtliche Entscheidungsbegründung Wurde zunächst der Frage nachgegangen, welche Funktionen die Begründung von Senatsentscheidungen beim BVerfG einnehmen können (und sollten), ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, wie das Gericht diese Funktionen erfüllen kann. Es geht also darum, inhaltliche Anforderungen an die verfassungsgerichtliche Entscheidungsbegründung zu formulieren. Dabei wird sich auch zeigen, was von der Entscheidungsbegründung nicht erwartet werden kann, woraus sich die Frage ergibt, ob Sondervoten diese Aufgaben (partiell) übernehmen können (dd). Erstens liegt es auf der Hand von Entscheidungen eine gewisse Verständlichkeit zu erwarten.495 Entscheidungsbegründungen kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Der Tenor oder die Entscheidungsformel formulieren nur sehr knapp und rechtstechnisch, was aus der gerichtlichen Entscheidung (rechtlich) folgt. Verständlichkeit wird somit insbesondere von der die Entscheidungsformel konkretisierenden Entscheidungsbegründung erreicht. Dazu gehört zunächst ein strukturierter Aufbau der Begründung, da nur so die Gedankengänge des Spruchkörpers nachvollziehbar werden. Darüber hinaus kann der Gebrauch einer angemessenen, für die Verfahrensbeteiligten und Öffentlichkeit verständlichen Sprache verlangt werden.496 Zweitens ist von der Entscheidungsbegründung eine Widerspruchsfreiheit, d. h. eine gewisse „logische Schlüssigkeit“, zu verlangen.497 Schon die Erfüllung der Informationsfunktion, also die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung, wird erschwert, wenn die Adressat*innen der Entscheidung über inhaltliche Widersprüche stolpern. Darüber hinaus erscheint auch eine Befriedung kaum möglich, da Gerichtsunterworfene widersprüchliche Entscheidungen nicht akzeptieren dürften.
495
Vgl. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 32 f., der dieses Erfordernis unter dem Punkt „Befriedungsfunktion“ bearbeitet. Die Verständlichkeit der Begründung ist aber schon auf der Ebene der Informationsfunktion relevant, da nur durch verständliche Begründungen überhaupt die Information der Adressaten erreicht werden kann. 496 Gottwald, ZZP 98 (1985), S. 113, 127. 497 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 33.
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Drittens ist von der Entscheidungsbegründung eine gewisse Vollständigkeit zu erwarten.498 Damit ist zunächst gemeint, dass keine Lücken verbleiben dürfen, die Begründung also alle relevanten Aspekte enthalten muss.499 Auf diese Weise kann eine umfassende Information der Adressaten stattfinden, die Kontrolle effektiv ausgeübt und eine Befriedung im Sinne einer Akzeptanz besser erreicht werden. Vollständigkeit scheint aber mehr als das zu meinen: Es gibt bei Entscheidungen das Bedürfnis, nicht bloß irgendeine Begründung für diese zu erfahren, sondern zu erkennen, warum genau diese Entscheidung und nicht eine andere mögliche getroffen worden ist.500 Nur auf diesem Weg erscheint das Ziel, bei den Beteiligten Verständnis für die Entscheidung oder gar eine Befriedung zu erreichen, ansatzweise erreichbar. Dies ist auch für die Fremdkontrolle (s. o.) von Gerichtsentscheidungen elementare Vorbedingung, müssen die überwachenden Akteur*innen doch zunächst erkennen können, ob das Gericht die Entscheidungsalternativen überhaupt gesehen hat. Dazu ist es für das Gericht in einem ersten Schritt angezeigt, diese Entscheidungsalternativen zu offenbaren. Anschließend muss sich das Gericht damit argumentativ auseinandersetzen und somit für seine Auswahl rechtfertigen. Eine derart verstandene Vollständigkeit von Entscheidungsbegründungen lässt sich mit den bei Gerichtsentscheidungen seit langem diskutierten Fragen nach der Richtigkeit einer Entscheidung eng verweben.501 Zwar mag es sein, dass juristische Diskursteilnehmer*innen notwendigerweise einen „Anspruch auf Richtigkeit“502 erheben, dass es eine einzig richtige Antwort auf jede juristische Frage überhaupt geben kann, wie es etwa Dworkin zugeschrieben wird,503 muss aber als Illusion zurückgewiesen werden.504 Es kann zumeist mehrere 498
Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 33. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 33. Vgl. Laun, Der Satz vom Grunde, S. 53 f.; ähnlich Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 260; Schlüter, Obiter Dictum, S. 103. 501 Dazu bereits Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63, 71 f. Ausführlich dazu auch Siedenburg, Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung. Vgl. auch Schlink, Merkur 74 (848), 2020, 5, 11: „Die richtige Interpretation gibt es nicht, und die Suche nach ihr geht fehl. […] Weil es immer mehrere mögliche Interpretationen gibt, aber nur eine gerichtliche Entscheidung geben kann, müssen Richter wählen“; zu dem Ergebnis gelangt auch Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, S. 79 ff. 502 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 264 ff. 503 Dworkin, in: ders., Taking Rights Seriously, S. 279: „My arguments suppose that there is often a single right answer to complex questions of law and political morality.“ Die Formulierung „often“ zeigt, dass auch Dworkin Ausnahmen von diesem Grundsatz erkennt, also nicht in einer derartigen Absolutheit vertritt, vgl. dazu auch Herbst, JZ 2012, S. 891 ff.; krit. zur Rezeption Dworkins: Hong, in: Schröder/v. Ungern-Sternberg, Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, S. 59, 83; grundlegend Poscher, JZ 2013, S. 1 ff. 504 Siedenburg Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung, S. 19, m. w. Nachw. Siedenburg bezeichnet die „Argumentationsfigur der einzig richtigen Entscheidung“ daher überzeugend als „in jederlei Hinsicht fiktiv“, ebd., S. 320. Im Wissen um die Fiktion dieser Figur handelt es sich Siedenburgs Ansicht nach sogar um eine „Lüge“, wenn der Richter einen „Richtigkeitsbezug“ in seiner Entscheidungsbegründung nutzt, ebd., S. 304. Die 499 500
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richtige505, aber nicht die absolut richtige Entscheidung geben.506 Die Frage ist, welche Konsequenzen man aus dieser Erkenntnis für die Vollständigkeit der Gerichtsbegründung zieht. Hier wird die These vertreten, dass Entscheidungsbegründungen rechtfertigen müssen, warum sich das Gericht für diese, und nicht andere (mögliche vertretbare) Ausgänge des Verfahrens entschieden hat. Die Begründung sollte Entscheidungsalternativen offenlegen, sie aber möglichst gut mittels der eigenen Lösung entkräften. Sie darf nicht offenbaren, dass die Entscheidung „ebenso gut anders hätte ausfallen können“.507 Dies würde die Akzeptanz der Entscheidung stark gefährden.508 „Sprachpraxis der Gerichte“ dürfe daher nicht zu einer „Täuschung der Urteilsadressaten“ führen, ebd., S. 325. Daher sei die „Fiktionalität der Argumentationsfigur der einzig richtigen Entscheidung“ von den Gerichten zu kommunizieren, ebd., S. 334; vgl. auch Neumann, in: Fischer, Beweis, S. 27, 38 f., der die Theorie der einzig richtigen Entscheidung als „regulative Idee“ bezeichnet; s. auch Neumann, Wahrheit im Recht, S. 40 ff. 505 Wann eine Entscheidung eigentlich als richtig zu gelten hat, wird hier als rechtstheoretisches Problem nicht vertieft diskutiert. Überzeugend erscheint dazu die Ansicht Neumanns, Wahrheit im Recht, S. 29: „Wahr (oder: richtig) ist eine rechtliche Aussage dann, wenn sie anhand der juristischen Argumentationsregeln gerechtfertigt werden kann“, weil sie sich vom Idealbild einer absolut richtigen Entscheidung verabschiedet; zust. auch Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, S. 79; in eine ähnliche Richtung bereits Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 68: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ‚Ein anderer Richter‘ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen.“ Vgl. aber auch Volkmann, JZ 2020, S. 965, 972, der bei der Frage nach einer „guten Entscheidung“ (er löst sich explizit vom Richtigkeitsbegriff ) nach den Adressaten differenziert und Nicht-Juristen zurecht eine andere Art der Bewertung zuschreibt, ihnen „die juristische Qualität“ mitunter „völlig egal“ sei. Diese Perspektive muss auch bei der Richtigkeit von Verfassungsgerichtsentscheidungen stets mitbedacht werden, weil sie sich oft an die gesamte Gesellschaft richten: Wann eine Entscheidung richtig ist, werden Nicht-Jurist*innen dabei oft anders bewerten. 506 Der Streit um die (einzig) richtige Entscheidung ist kein juristisches Phänomen, es begleitet vielmehr alle Wissenschaften immer dort, wo Interpretationskonflikte bestehen. Dies lässt sich etwa anhand einer Historiker-Debatte um die Geschichte des Hauses Hohenzollern abbilden, in der die Vorsitzende des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands Schlotheuber behauptete, es gebe in der Geschichtswissenschaft einen Konsens hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit des Adelshauses. Darauf reagierte Historiker Kroll: „Dazu ist sie nicht befugt. Der Historikerverband besitzt kein politisches Mandat. Es ist nicht seine Aufgabe, durch öffentliche Interventionen in einen laufenden Rechtsstreit einzugreifen und dabei in der Person seiner Vorsitzenden ein allein als ‚richtig‘ ausgegebenes Interpretationsmodell für einen wissenschaftlich keineswegs eindeutig geklärten historischen Sachverhalt zu verordnen“, FAZ v. 22.10.2020, S. 6. Hier zeigt sich auch: Behauptungen des Konsenses oder der einzig richtigen Entscheidung/Interpretation provozieren automatisch die Frage nach der Autorität des Behauptenden. 507 Neumann, Wahrheit im Recht, S. 41. Eine solche Begründung sei nämlich „nicht nur seltsam“, sondern „fehlerhaft“. 508 Ob darüber hinaus die einzig richtige Entscheidung als Handlungsmaxime für den jeweiligen Richter zu gelten hat, wie Neumann, Wahrheit im Recht, S. 40, vertritt („Der Richter sollte in seiner Entscheidungspraxis so verfahren, als ob in jedem Fall eine Entscheidung richtig wäre.“) ist für den vorliegenden Betrachtungsgegenstand nicht weiter relevant. Zweifel erscheinen aber angebracht, insbesondere ist fraglich, welchen Mehrwert eine solche Anspruchshaltung von Richter*innen für die Rechtspraxis generiert.
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Das Verfahren, eine Begründung zu finden, sollte dabei mehr sein als eine bloße Rechtfertigung. Wie Gottwald richtig anmerkt, ist das „Begründungsverfahren“ gerade nicht dafür geschaffen, „eine für richtig gehaltene, rein nach dem Rechtsgefühl gefundene Lösung nachträglich mit einer normativen Begründung zu versehen.“509 Haverkate weist noch auf einen weiteren Aspekt der Vollständigkeit der Entscheidungsbegründung hin: „Gerade die Offenlegung der Wertung, das Aufdecken des Gesichtspunktes, warum im vorliegenden Fall so und nicht anders entschieden worden ist, könnte verhindern, daß die in der Entscheidung enthaltene Maxime vorschnell auf andere Fälle angewandt wird, auf die sie nicht paßt.“510
Die Vollständigkeit der Entscheidungsbegründung könnte damit auch als Vorkehrung für eine allzu offensive Rezeption durch andere Gerichte dienen. Die Notwendigkeit einer vollständigen Entscheidungsbegründung ist bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, um die es hier ausschließlich gehen soll, besonders dringlich. Die Normen sind deutlich offener formuliert, wodurch der Eigenanteil der richterlichen Auslegung und Wertung steigt. Das BVerfG muss den Verfassungstext zwangsläufig mit Leben füllen. Dies erhöht zunächst das Bedürfnis, die Alternativen auch zu Wort kommen zu lassen: Je mehr Alternativen denkbar oder geäußert sind, desto dringender ist das Bedürfnis, sich mit diesen Entscheidungsmöglichkeiten auch offen auseinanderzusetzen. Der offene Wortlaut der Normen führt auch dazu, dass die Entscheidung für eine Alternative nur mit einem hohen Begründungsaufwand zu rechtfertigen ist. Denn angesichts der unkonkreten normativen Vorgaben erscheinen auch andere Entscheidungen als die getroffene gleich oder ähnlich gut vertretbar. Zudem sind Verfassungsgerichtsentscheidungen oft über das konkrete Verfahren hinaus für eine Vielzahl von Individuen und staatlichen Akteuren von großer Relevanz. All dies erhöht den Bedarf an einer intensiven Auseinandersetzung mit möglichen Entscheidungsalternativen. Problematisch an dieser Art der Begründungstechnik ist das Konfliktpotential mit der notwendigen Widerspruchsfreiheit von Entscheidungsbegründungen. Das BVerfG muss, anders als die Verfassungsrechtswissenschaft, am Ende eines Verfahrens stets eine Entscheidung treffen und diese jeweils durch eine Begründung rechtfertigen. Wenn dabei Alternativen breiter Raum gegeben wird, besteht die Gefahr, dass die vom Gericht vertretene Auffassung nicht mehr zu überzeugen vermag. Wer Entscheidungsalternativen offenbart, macht sich aufgrund der Festlegung auf eine Alternative angreifbar. Trotz dieser Schwierigkeiten ist es sinnvoll, die Entscheidungsbegründung in diesem Sinne vollständig zu verfassen. Zunächst ist angesichts einer kritisch-beobachtenden Staatsrechtslehre und Medienöffentlichkeit nicht zu erwarten, dass durch das 509 510
Gottwald, ZZP 98 (1985), S. 113, 118. Haverkarte, ZRP 1973, S. 281, 282.
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Verschweigen von Entscheidungsalternativen die Überzeugungskraft der Entscheidung steigt. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass diese fehlende Auseinandersetzung mit anderen Ansichten dem Gericht vorgehalten würde. Darüber hinaus kann die Erkenntnis, dass es oft ähnlich oder gleich gut vertretbare Entscheidungsalternativen gibt, auch eine entlastende Wirkung entfalten. Letztlich wäre nämlich jede der möglichen Entscheidung ähnlich angreifbar. Zweifellos bestehen aber auch Grenzen für diese Art der vollständigen Entscheidungsbegründung im Interesse einer widerspruchsfreien und konsistenten Begründung. Um die Entscheidungsbegründung nicht mit Vollständigkeitserwartungen zu überfordern, besteht beim BVerfG die Möglichkeit, gewisse Aspekte in ein Sondervotum auszulagern. Darum soll es später ausführlich gehen (dd), nachdem sich zunächst ein kurzer Überblick über die Art der Entscheidungsbegründung beim BVerfG verschafft wurde (cc). Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass von der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung Verständlichkeit, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit erwartet werden muss. Dies sind die Grundvoraussetzungen, um die der Begründung zugeschriebenen Funktionen (Information, Kontrolle, Befriedung) erfüllen zu können.
cc) Begründungspraxis des BVerfG als Kollegialgericht In einem Kollegialgericht stellt die Entscheidungsbegründung die beteiligten Richter*innen vor immense Herausforderungen. Zunächst muss eine Methode für das gemeinsame Verfassen eines Textes gefunden werden. Dies ist beim BVerfG durch das Berichterstattersystem mit anschließender Beratung gelöst worden.511 Lässt sich dieser Modus noch relativ schnell festlegen und strukturell organisieren, stellt sich bei jeder Entscheidungsbegründung die Frage nach deren Dichte und Umfang neu. In einem Kollegialgericht kommt noch eine weitere Betrachtungsebene dazu: Die Gruppe von Richter*innen ist stets dazu gezwungen, sich zumindest mehrheitlich auf einen Text zu einigen. Je mehr Richter*innen aus unterschiedlichen beruflichen und sozialen Hintergründen am Beratungstisch sitzen, desto schwieriger erscheint es, sich auf die Entscheidung und insbesondere deren Begründung zu verständigen. Dieser Problematik könnte man dadurch begegnen, eine „Strategie des richterlichen Minimalismus“512 zu wählen: „If it is not necessary to decide more to a case, then in my view it is necessary not to decide more.“513 Wenn den Beteiligten die Einigung auf dichtere und kohärentere Entscheidungsbegründungen schwerer fällt – wofür eini511
Vgl. zur Beratungskultur Lübbe-Wolff, Wie funktioniert das BVerfG?, S. 23 ff.; dies., EuGRZ 2014, S. 509 ff.; ausführlich Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. 512 Vgl. dazu instruktiv und kritisch Sunstein, Tulsa Law Review, Vol. 43 (2008), S. 825 ff. 513 U. S. Supreme Court Chief Justice John G. Roberts, zit. nach Sunstein, Tulsa Law Review, Vol.43 (2008), S. 825, 827.
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ges spricht – kann dies ein Argument dafür sein, „eine geringere Begründungstiefe zu wählen“ um so eine „größere Einigkeit innerhalb des Kollegiums“ zu erreichen.514 Anhänger eines solchen Minimalismus argumentieren, dass die „politischen Kosten“ einer Entscheidung dadurch geringer sein könnten, weil die Unterlegenen eines Rechtsstreits nur diesen konkreten Rechtsstreit verloren hätten und nicht mehr.515 Zudem erhöhten minimalistische Entscheidungen die Flexibilität, Anpassungen in der Rechtsprechung vorzunehmen und ermöglichten es auch, sich später herausstellende Fehler leichter zu revidieren.516 Auf der anderen Seite führen breitere Entscheidungen zu mehr Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit.517 Das BVerfG hat sich erkennbar nicht für eine minimalistische Strategie entschieden, sondern liefert sehr umfassende Entscheidungen, insbesondere durch seine ausführlichen Begründungen. Das Gericht stellt zunächst im unter „A.“ beschriebenen Teil die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten sehr ausführlich dar.518 Hier wird auch anderen am Verfahren interessierten Gruppen und Verbänden Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Dies ist ein erster Schritt, die verschiedenen Rechtsansichten im Sinne einer Vollständigkeit der Entscheidungsbegründung zur Sprache kommen zu lassen. Auch innerhalb der Begründetheit (in der Regel „C.“) finden sich durchaus abweichende Rechtsansichten und Gegenargumente wieder. Das Gericht nutzt hierbei oft eine „Zwar-aber-Technik“:519 Gegenläufige Argumente und Auslegungen werden aufgeführt und im Anschluss versucht zu entkräften. Dies lässt sich etwa am kontroversen Kruzifix-Beschluss darstellen: „Zwar ist es richtig, daß mit der Anbringung des Kreuzes in Klassenzimmern kein Zwang zur Identifikation oder zu bestimmten Ehrbezeugungen und Verhaltensweisen einhergeht. Ebensowenig folgt daraus, daß der Sachunterricht in den profanen Fächern von 514 Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 97 f. Hong geht es, wenn er von der „Stärke der Begründung“ spricht, insbesondere um „Kohärenz […] zu anderen Rechtssätzen“. Die Stärke der Begründung wachse durch ihren „Grad an Kohärenz, den sie zu anderen Rechtssätzen beanspruchen kann und selbst herstellt“. Verschreibt man sich also diesem Ziel, spricht vieles dafür „einen möglichst umfassenden Begründungszusammenhang zu suchen“. Dabei liegt allerdings auf der Hand, dass ein solcher Anspruch an Entscheidungsbegründungen den Beteiligten viel abverlangt und auch den Anspruch an den zu produzierenden Text erhöht. Darüber hinaus wird es auch „aufwändiger und schwieriger“, über die Begründung „Einigkeit herzustellen“. 515 Sunstein, Tulsa Law Review, Vol. 43 (2008), S. 825, 833: „They lose a decision, but not the world.“ 516 Sunstein, Tulsa Law Review, Vol. 43 (2008), S. 825, 833 f. 517 Sunstein, Tulsa Law Review, Vol. 43 (2008), S. 825, 837. Vgl. auch ebd., S. 838: „What I am emphasizing is that by its very nature, a minimalist ruling leaves a great deal undecided, in a way that frees up future decision-makers but also leaves them to some extent at sea.“ 518 Grundlegend zu den einzelnen Entscheidungselementen bereits Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63 ff. 519 Dazu ausführlich und mit weiteren Bsp. aus der Rechtsprechung Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63, 81 ff.
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dem Kreuz geprägt oder an den von ihm symbolisierten Glaubenswahrheiten und Verhaltensanforderungen ausgerichtet wird. Darin erschöpfen sich die Einwirkungsmöglichkeiten des Kreuzes aber nicht. Die schulische Erziehung dient nicht nur der Erlernung der grundlegenden Kulturtechniken und der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Sie soll auch die emotionalen und affektiven Anlagen der Schüler zur Entfaltung bringen […].“520 „Zwar sind über die Jahrhunderte zahlreiche christliche Traditionen in die allgemeinen kulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingegangen, denen sich auch Gegner des Christentums und Kritiker seines historischen Erbes nicht entziehen können. Von diesen müssen aber die spezifischen Glaubensinhalte der christlichen Religion oder gar einer bestimmten christlichen Konfession einschließlich ihrer rituellen Vergegenwärtigung und symbolischen Darstellung unterschieden werden.“521
Betrachtet man diese Art und Weise der Begründungstechnik zeigt sich deutlich, dass das BVerfG versucht, auf die vorgebrachten verfassungsrechtlichen Einwände einzugehen, die bereits vorher im Tatbestand ausführlich dargestellt wurden. Mitunter wird sogar deutlich zugestanden, dass diese Argumente teilweise zutreffend sind („durchaus“, „zwar ist es richtig“). Entscheidungen des BVerfG sind auch hinsichtlich ihrer Länge alles andere als minimalistisch. Weber konnte in einer empirischen Untersuchung der Senatsverfahren nachweisen, dass die Senatsentscheidungen im Laufe der Jahre „immer länger“ werden und durchschnittlich „ungefähr 19 Druckseiten“ umfassen.522 Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Sondervoten und Leitsätze miteingerechnet wurden, obwohl sie nicht Teil der Entscheidung sind.523 Insbesondere die Einführung des Sondervotums stellt damit also einen Faktor dar, der bei dieser Darstellung zu beachten ist. Weber sieht allerdings keine „direkte Verknüpfung“ zwischen Anstieg der Entscheidungslänge „in den siebziger und
520 BVerfGE 93, 1, 20 – Kruzifix. Wie im Tatbestandsteil (ebd., 5) deutlich wird, wurde das Argument der nicht zwanghaften Identifikation gerade als Argument gegen eine Grundrechtsverletzung im vorausgegangenem Verwaltungsgerichtsverfahren angenommen: „Einem Nichtchristen oder sonst weltanschaulich anders Gesinnten sei es unter dem auch für ihn geltenden Gebot der Toleranz zumutbar, das Kreuz in der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen. Das bloße Vorhandensein einer Kreuzesdarstellung verlange weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Ideen oder Glaubensvorstellungen noch ein irgendwie sonst darauf gerichtetes aktives Verhalten.“ 521 BVerfGE 93, 1, 19 – Kruzifix. Auch hier wird auf eine Argumentation aus dem Verwaltungsgerichtsprozess Rückgriff genommen, die im Tatbestandsteil aufgeführt wird, ebd., 5: „Das Kreuz sei aber nicht Ausdruck eines Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben, sondern wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut dieses Kulturkreises. Einem Nichtchristen oder sonst weltanschaulich anders Gesinnten sei es unter dem auch für ihn geltenden Gebot der Toleranz zumutbar, das Kreuz in der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen“. 522 Weber, Begründungsstil, S. 57 f. Weber hat hierfür die Senatsverfahren von 1951 bis 2014 anhand der offiziellen Entscheidungssammlung (BVerfGE) zu Grunde gelegt. 523 Weber, Begründungsstil, S. 59, Fn. 148.
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achtziger Jahren“ und der Einführung der Sondervoten,524 ohne dies näher auszuführen. Die Entwicklung hinsichtlich der Länge verfassungsgerichtlicher Entscheidungsbegründungen ist erstaunlich: Während bis in die achtziger Jahre hinein die durchschnittliche Seitenzahl der Senatsentscheidungen zumeist unter 20 Seiten lag, ist sie in den 2000er-Jahren oft bei über 30 Seiten angelangt.525 Für Weber gibt es dafür ein ganzes „Bündel an Faktoren“, welche sich „insbesondere aus der Beratung und der Komplexität des zu behandelnden Rechtsstoffes“ ergäben. Es entstehe der Eindruck, „die Entscheidungen würden dann länger, wenn die gestellte Rechtsfrage komplexer ist.“526 Der Versuch, „Kompromisse zwischen widerstreitenden und letztlich unvereinbaren rechtlichen Positionen zu finden“ führe zu längeren Begründungen, erkläre dieses Phänomen jedoch „nur teilweise“.527 Der Begründungsstil des BVerfG wird darüber hinaus oft als wissenschaftlich bezeichnet.528 Wissenschaftliche Literatur wird zitiert und adaptiert.529 Insbesondere die Strategie der Maßstabsbildung530 führt dazu, dass die Entscheidungsbegründung zu großen Teilen ein Ort abstrakt-juristischer Bestimmung von Verfassungsinhalten wird. Die Strategie des BVerfG ist also genau der Gegenentwurf zum richterlichen Minimalismus. Das Gericht hat sich für einen ausführlichen und wissenschaftlichen Begründungsstil entschieden und bemüht sich in Ansätzen durchaus, abweichende Auffassungen und Gegenargumente im Entscheidungstext zu verwerten. Vor dem Hintergrund der notwendigen Widerspruchsfreiheit und Überzeugungskraft einer Entscheidungsbegründung sind einer Berücksichtigung und Diskussion abweichender Ansichten aber von Beginn an Grenzen gesetzt. Daher müssen, will man eine umfassende Vollständigkeit dennoch erreichen, andere Instrumente genutzt werden. Hierfür kommt insbesondere das Sondervotum infrage.531 524
Weber, Begründungsstil, S. 59. Weber, Begründungsstil, S. 58, Graphik 12. 526 Weber, Begründungsstil, S. 60. 527 Weber, Begründungsstil, S. 60. 528 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 11, 54 spricht etwa von einem „ausladende[n] Begründungsstil, der sich vom herkömmlichen Gerichtsurteil entfernt und nicht selten zwischen wissenschaftlichem Traktat, politischer Theorie und lehramtlicher Enzyklika schwankt“. 529 Hailbronner/Martini, in: Jakab/Dyevre/Itzcovich, Comparative Constitutional Reasoning, S. 356, 366. Ein aktuelles Beispiel dafür liefert BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 2055/16 –, Rn. 2 ff. – Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, insbes. Rn. 48 ff. 530 Ausführlich dazu Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 159 ff.; s. auch Hailbronner/Martini, in: Jakab/Dyevre/Itzcovich, Comparative Constitutional Reasoning, S. 356, 368 f. 531 Eine tiefgehende Analyse des Begründungsstils des BVerfG würde den hier angemessenen Rahmen sprengen und vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand wegführen. Es soll525
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
dd) Funktion des Sondervotums in Abgrenzung zur Entscheidungsbegründung Entscheidungsbegründungen, das wurde dargestellt, stehen unter Druck, wenn sie neben der Widerspruchsfreiheit und Überzeugungskraft auch noch eine inhaltliche Vollständigkeit erreichen sollen. Eine Entlastungsstrategie kann es vor diesem Hintergrund sein, Richter*innen zu ermöglichen, nach eingehender Konsenssuche aus diesem Prozess auszusteigen und ein Sondervotum zu verfassen. So kann sowohl vom Kollegium als auch vom Begründungstext der Druck genommen werden, zwingend alle Ansichten der Gruppe in Einklang zu bringen und dabei noch eine möglichst widerspruchsfreie und überzeugende Begründung zu liefern. Damit besteht aus funktionstheoretischer Perspektive die Möglichkeit, dem Sondervotum eine Entlastungsfunktion zuzuschreiben. In weiteren Teilen dieser Untersuchung wird der Praxis des Sondervotums noch mehr Raum gegeben.532 Neben den dort behandelten Aspekten wird dabei auch deutlich werden, wie die abweichenden Meinungen kontrastierend wirken und dass die dortigen Erwägungen in der Entscheidungsbegründung – will man diese widerspruchsfrei und verständlich halten – oft keinen (angemessenen) Platz finden könnten. Von dieser Last wird die Entscheidungsbegründung durch die abweichenden Meinungen befreit. Das ist ihr Mehrwert.
ee) Zwischenfazit Es bleibt festzuhalten, dass neben der Verständlichkeit und Widerspruchsfreiheit auch eine gewisse Vollständigkeit der Entscheidungsbegründung zu erwarten ist, wobei Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit in einen Konflikt geraten können. Diese drei Anforderungen an die verfassungsrichterliche Entscheidungsbegründung sind die zentrale Bedingung dafür, dass die Begründungsfunktionen der Information, Kontrolle und Befriedung (teilweise) erfüllt werden können. Um die Anforderungen an eine vollständige Entscheidungsbegründung abzumildern und allzu starke Widersprüche zu verhindern, ist das Sondervotum ein wertvolles Instrument. Die hier angestellten Überlegungen zur Funktion von Entscheidungsbegründungen und deren Anforderungen sind auf das BVerfG ausgerichtet und dürfen daher nicht ohne weiteres auf die Gerichtsbarkeit insgesamt übertragen werden. Die hohen Anforderungen an die Entscheidungsbegründung können allein aus Zeit- und Ressourcengründen den Fachgerichten nicht zugemutet werden. Auch das BVerfG ist in seiner Rechtsprechung zurückhaltend, umfassende Anforderungen an die Entscheidungsbegründungen der Fachgerichte zu stellen. Richter seien gerade „nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligte lediglich ein kurzer Blick auf die Art und Weise der Entscheidungsbegründungen geworfen werden, um heteronom die Rolle der Sondervoten zu bestimmen. Für eine tiefergehende und erhellende Analyse steht Weber, Begründungsstil, zur Verfügung. 532 Insbesondere c) und 2.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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ten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden“.533 Anlass zu diesen Äußerungen gab es dadurch, dass Urteilsverfassungsbeschwerden auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 1 GG erhoben wurden. Den Anspruch auf rechtliches Gehör sieht das BVerfG jedoch nur unter strengen Voraussetzungen als verletzt an: Zwar folge aus diesem grundrechtsgleichen Recht nach ständiger Rechtsprechung eine Pflicht des jeweiligen Gerichts, „die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen“, gebe aber „keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen“.534 Daraus folgte im damals zu entscheidenden Fall: „Das Landesarbeitsgericht hat sich mit der fachlichen Qualifikation des Beschwerdeführers befaßt und dazu unter Darlegung der Entscheidungsgrundlagen Feststellungen getroffen. Daß es sich in diesem Zusammenhang in den Entscheidungsgründen nicht mit einzelnen Einwänden des Beschwerdeführers auseinandersetzt, läßt noch nicht darauf schließen, daß es sie bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt hat.“535
Das Gericht trennt also strikt zwischen Entscheidungsfindung und -begründung und lässt Rückschlüsse aus der Entscheidungsbegründung auf den vorgelagerten Prozess der Entscheidungsfindung nicht ohne Weiteres zu. Diese Auslegung und die Ansicht, dass der Parteivortrag nicht „ausdrücklich“ in den Entscheidungsgründen einen Platz finden müsse, lassen erkennen, dass das BVerfG bemüht ist, die Anforderungen an die Entscheidungsbegründungen nicht ausufern zu lassen. Dies findet sich auch im einfachen Recht wieder, etwa in § 313 ZPO, wo es heißt, dass die Begründung „eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen“ enthalten muss.
b) Besondere Verfassungsgerichtsfunktionen und Sondervotum Es versteht sich fast von selbst, dass das BVerfG aus vielen Gründen ein ganz besonderes Gericht ist. Dennoch ist ein mit einer Sonderstellung ausgestattetes Verfassungsgericht auch ein Gericht mit klassischen Gerichtfunktionen. Die Funktion der Gerichte im Allgemeinen ist es, eine „verbindliche Lösung von Konflikten durch eine individuelle Streitentscheidung“ herbeizuführen.536 Welche Funktion dem Sondervotum bei dieser „klassischen“ Gerichtsaufgabe zukommen kann, wurde im vorherigen Abschnitt im Zusammenhang mit der 533 BVerfGE 5, 22, 24 – Wiederaufnahme Strafverfahren; BVerfGE 22, 267, 274 – Grundrechte der Landesverfassungen; BVerfGE 96, 205, 216 f. – Kündigung DDR-Hochschullehrer. 534 BVerfGE 96, 205, 216 m. w. Nachw. – Kündigung DDR-Hochschullehrer. 535 BVerfGE 96, 205, 217 – Kündigung DDR-Hochschullehrer. 536 Schönberger, VVDStRL (71) 2012, S. 298, 302; vgl. auch Kirchhof, F., NJW 2020, S. 1492, der eine „Kontrolle von Rechtsfällen“ als „klassische Aufgabe des Richters“ bezeichnet.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Entscheidungsbegründung untersucht. Es soll aber weiteren Funktionen nachgespürt werden, die aus der Besonderheit des BVerfG als Verfassungsgericht folgen. Diese außergewöhnliche Stellung kommt dem Gericht insbesondere dadurch zu, dass es mit der Verfassung als Rechtsquelle zu arbeiten hat.537 Daraus resultieren drei Besonderheiten: Das Gericht hat es erstens mit der normenhierarchisch höchsten Stufe der deutschen Rechtsordnung zu tun.538 Zweitens ist das GG auch qualitativ ein besonderer Normtext, da er besonders offen formuliert ist. Wenn das Geschriebene nur geringe Vorgaben macht, kommt den Interpret*innen des Textes eine besondere Bedeutung zu. Es stehen nur wenige Grundlagen zur Verfügung und seine Interpretation verlangt eine größere Eigenleistung ab.539 Drittens sind die Folgen einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung besondere, kann das Gericht etwa Gesetze für nichtig erklären.540 Ein weiterer Faktor für die außergewöhnliche Stellung des BVerfG sind die bereits angesprochenen nicht-klassischen Verfahrensarten, wie die abstrakte Normenkontrolle oder das Parteiverbotsverfahren. Das Gericht erfährt dadurch inhaltlich und institutionell eine herausragende Bedeutung. Ist nun also noch einmal vor Augen geführt worden, warum dem BVerfG als Verfassungsgericht eine besondere Rolle zukommt, stellt sich die Frage, welche Funktionen sich daraus konkret ableiten lassen. Hierzu ist sicherlich kein eindeutiges und endgültiges Modell konstruierbar, da jede Zuschreibung einer Funktion eine subjektive Wertung darstellt und damit angreifbar ist. Daher wird mit derartigen Funktionszuschreibungen hier zurückhaltend umgegangen. Dadurch soll die Untersuchung zum einen möglichst konkret gehalten, zum anderen das BVerfG in seiner Bedeutung für das Verfassungsgefüge nicht überhöht werden. Es werden hier zwei zusätzliche besondere Verfassungsgerichtsfunktionen angeführt: Die Verfassungsinterpretation (aa) und die Diskursbegleitung (bb). Nach einer Beschreibung dieser Funktionen wird jeweils diskutiert, inwiefern das Instrument des Sondervotums zu diesen Funktionen einen Beitrag leisten kann. Dazu wird die These vertreten, dass abweichenden Meinungen hinsichtlich beider Funktionen eine wertvolle Rolle zugeschrieben werden kann. Dies wird anhand konkreter Beispiele aus der Rechtsprechung nachgewiesen, sodass die Analyse nicht in einem theoretischen Stadium steckenbleibt.
537 Dieser Grundsatz erfährt dadurch eine gewisse Relativierung, dass das BVerfG nun auch innerhalb der Verfassungsbeschwerde europarechtliche Grundrechte zum Prüfungsmaßstab erhebt, BVerfG Beschluss des Ersten Senats v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 –, Rn. 57 ff. – Recht auf Vergessen II. 538 Dass der Europäischen Rechtsordnung in ihrem Anwendungsbereich Vorrangwirkung zukommt, wird damit natürlich nicht bestritten. 539 Vgl. dazu zusammenfassend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 49 ff. 540 Vgl. §§ 78, 95 Abs. 3 BVerfGG.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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aa) Verfassungsinterpretation (1) Das BVerfG als Verfassungsinterpret Eine elementare Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist es, die Verfassung zu interpretieren. Es handelt sich dabei um einen besonderen Prozess, da es sich um einen offengehaltenen Normtext handelt.541 Die Besonderheit der Verfassungsinterpretation ergibt sich weniger aus der Art und Weise des Interpretationsvorgangs – dies ist letztlich eine von jedem Gericht zu vollziehende Tätigkeit –, sondern vor allem aus der Qualität und Rangstellung des zugrundeliegenden Textes. Das BVerfG kann sich auch nicht, anders als die Fachgerichte, an Norminterpretationen anderer (übergeordneter) Instanzen orientieren. Es findet einen Verfassungstext, (mittlerweile) seine eigene Rechtsprechung und das Vorbringen der Beteiligten und der Rechtswissenschaft vor, und muss ein Textverständnis eigenständig vorlegen.542 Durch eine umfassende Bindungswirkung der staatlichen Organe an die Entscheidungen (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) ist auch die Wirkung dieser Interpretation eine besondere. Für die weitere Untersuchung muss zunächst geklärt werden, was mit Interpretation eigentlich gemeint sein soll. Für Hesse steht dabei ein „Zweifel“ an der Bedeutung verfassungsrechtlicher Normen im Vordergrund: wo diese nicht bestünden, „wird nicht interpretiert und bedarf es auch oft keiner Interpreta tion“.543 Damit von Interpretation gesprochen werden kann, bedarf es also stets der Uneindeutigkeit eines Textes. Hier soll es nicht darum gehen, welche Interpretationsmethoden das Gericht verwendet oder verwenden sollte.544 Für diese Untersuchung ist entscheidend, dass dem Gericht aufgrund seiner herausgehobenen Stellung im Verfassungsgefüge im Prozess der Verfassungsinterpretation eine überragende Bedeutung zukommt. Mit Peter Häberle ist aber zu konstatieren, dass die Verfassungsinterpretation ein pluralistischer Vorgang und das Verfassungsgericht nicht der einzige Akteur dieses Prozesses ist und auch nicht sein sollte.545 Häberle nennt dies die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Dabei versteht er Interpretation weit, explizit weiter als Hesse: „Wer 541
Instruktiv dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 49 ff. Dies führt beim BVerfG zu Interpretationen, die sich weit vom Verfassungstext entfernen und auch außerrechtliche Kategorien bemühen. Zu nennen sind hier vor allem die Verortung von „Werten“, s. v. a. BVerfGE 5, 85, 139, 141 – KPD-Verbot und BVerfGE 7, 198, 215 – Lüth, und „Leitbildern“, dazu instruktiv Volkmann, AöR 134 (2009), S. 157 ff. Kritik daran etwa durch Forsthoff, in: FS Carl Schmitt 1959, S. 35, insbes. 54 ff.; Böckenförde, in: ders., Recht, Staat Freiheit, S. 67 ff. 543 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 49. 544 Zur Methodik der Interpretation klassisch: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 53 ff.; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; Böckenförde, in: ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, S. 120 ff., der die verschiedenen Interpretationsansätze darstellt und krit. würdigt. 545 Grundlegend Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. Ähnlich auch Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 67. Zustimmend Stolleis, Merkur 74 (853), 2020, S. 85, 86 f. 542
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
die Norm ‚lebt‘, interpretiert sie auch (mit).“546 Er bezeichnet Akteure wie Bürger und Staatsorgane als „interpretatorische Produktivkräfte“, als „Vorinterpreten“ einer „letztlich interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit“.547 Häberle erkennt also an, dass sich diese Prozesse je nach Akteur voneinander unterscheiden. Es werden zahlreiche Akteure beschrieben: Neben den drei klassischen Staatsgewalten die anderen Beteiligten an staatlichen Verfahren (etwa Gutachter, Sachverständige, Lobbyisten, Kläger etc.), die Öffentlichkeit (etwa Medien, Verbände, politische Parteien) und die Verfassungsrechtslehre.548 Im verfassungsgerichtlichen Verfahren interpretiere der Verfassungsrichter nicht isoliert, sondern werde durch die Verfahrensbeteiligten beeinflusst und auch im Vorhinein wirkten die bereits angesprochenen „pluralistischen Kräfte“ auf den gerichtlichen Prozess ein.549 Häberle erkennt darin nicht eine Gefährdung der Unabhängigkeit des Verfassungsrichters, sondern legitime „soziale Zwänge“, die es auch erreichten, ein „Stück Legitimation“ zu schaffen und die „Beliebigkeit richterlicher Auslegung“ zu verhindern.550 Diesem Befund ist zuzustimmen: Verfassungsgerichtsbarkeit und die Interpretation der Verfassung durch das Gericht operieren nicht im isolierten Raum, sondern finden in der Öffentlichkeit unter Beobachtung und Beteiligung juristischer und nicht-juristischer Akteur*innen statt. Das BVerfG ist sicherlich mächtigster, aber nicht einziger Interpret der Verfassung.551 Daher sollte auch der Blick auf den Verfassungstext 546
Häberle, JZ 1975, S. 297. Häberle, JZ 1975, S. 297. Häberle, JZ 1975, S. 297, 299. Vgl. zur Rolle der Fachgerichte Britz, in: Krüper/ Payandeh/Sauer, Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, S. 143, 146: „Die Fachgerichte machen auf Defizite, aber auch auf de lege lata bestehende Auslegungsmöglichkeiten aufmerksam. Sie erleichtern das Verständnis, welche (sei es verfassungs- widrigen, sei es verfassungsgemäßen) Wirkungen eine Regelung in ihrem weiteren fachrechtlichen Kontext entfaltet.“ 549 Häberle, JZ 1975, S. 297, 303. 550 Häberle, JZ 1975, S. 297, 300 f.; vgl. auch weitere Beiträge Häberles in ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, etwa S. 17 ff., 121 ff., S. 182 ff., S. 225 ff. 551 Bsp. für Verfassungsinterpret*innen außerhalb Karlsruhes: In einer berühmten Pressekonferenz sah Karl-Heinz Rummenigge in einer berühmten Pressekonferenz aufgrund kritischer Berichterstattung über einige Fußballspieler deren Menschenwürde verletzt und zitierte Art. 1 Abs. 1 des GG, abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=EJQdDjCqOao (ab Minute 01:30, zuletzt abgerufen am 15.12.2021); Bundeskanzlerin Merkel prüfte in einer Plenarsitzung während der Corona-Pandemie beinahe schulmäßig die Verhältnismäßigkeit von einschränkenden Maßnahmen: „Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen müssen, sind geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. Es gibt insbesondere kein anderes, milderes Mittel als konsequente Kontaktbeschränkungen, um das Infektionsgeschehen zu stoppen und umzukehren und damit auf ein beherrsch- bares Niveau zu bringen“, s. Deutscher Bundestag, 186. Sitzung am 29.10.2020, Stenografischer Bericht, S. 23353; BILD-Chefredakteur Reichelt kritisierte wiederum die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in einer Sendung von „Bild-Live“, indem er – mit einer Ausgabe des GG in der Hand – seine Interpretation der Grundrechtsinhalte den Regierungsmaßnahmen entgegensetzte, abrufbar unter: https://www. youtube.com/watch?v=xwkgUc_g7HY (ab Minute 09:40, zuletzt abgerufen am 15.12.2021). 547 548
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und nicht derjenige auf die Auslegung durch das Gericht der Ausgangspunkt eines jeden Verfassungsinterpretationsprozesses sein.552 Das BVerfG muss in diesem Umfeld eine Interpretation vorlegen, um die Verfassung zur konkreten Anwendung zu bringen. Will es dabei „interpretative Wahrheiten“ liefern, muss es, wie jede andere Institution, die zu Interpretationen berufen ist, handlungsfähig bleiben.553 Es kann sich nur um eine Verfassungsinterpretation handeln, die der jeweilige Akteur für die bestmöglichste hält.554 Dies impliziert, dass es noch andere Interpretation geben muss oder andere Akteur*innen andere Interpretation für gelungener halten, was den inhaltlichen Pluralismus des Interpretationsprozesses ausmacht. Nicht zuletzt das Demokratieprinzip verlangt darüber hinaus,555 dass (gerichtliche) Entscheidungen überdacht und zurückgenommen werden können.556
(2) Das Sondervotum als Ausdruck einer pluralistischen Verfassungsinterpretation Der Befund, dass die Verfassungsinterpretation ein pluralistischer, also von unterschiedlichen Akteur*innen vollzogener und inhaltlich niemals abgeschlossener Prozess ist, führt dazu, das Sondervotum für diesen Prozess für besonders wichtig zu erachten. Sie sind das Eingeständnis des Gerichts, dass seine Interpretationen des Textes zwar in seiner Entscheidung bindend, letztlich aber nicht endgültig, ausschließlich oder gar einzig richtig sind. Insofern wird aus einem verfassungsgerichtlichen Urteil, das notwendigerweise nur ein Ergebnis kennt, selbst ein Abbild pluralistischer Verfassungsinterpretation. Häberle beschreibt dieses Phänomen als dienende Funktion „der Offenlegung des Prozesses der Verfassungsinterpretation in der Zeitachse“. Er sieht darin ein Instrument die Verfassung als „Verfassung des Pluralismus“ zu begreifen.557 Der Rechtsstreit ist zwar entschieden, über diesen konkreten Fall hinaus wird aber die Interpretation durch Rede und Gegenrede in einen diskursiven Prozess überführt. Das Sondervotum ist dann der „institutionalisierte Ausdruck“ der Vieldeutig-
552 Zurecht konstatiert Volkmann, JZ 2020, S. 965, 966, dass „wir“ innerhalb des Interpretationsprozesses „oft schon gar nicht mehr in den Text hinein […] [sehen], sondern wir sehen in die Kommentare, in die Lehrbücher und Handbücher des Faches, meistens aber in die Entscheidung des BVerfG.“ Dies dürfte aber nur für die juristisch-ausgebildeten Verfassungsinterpreten gelten, alle anderen Teilnehmer dieses Prozesses dürfte schon faktisch keinen Zugang zu diesen „Sekundärquellen“ haben. 553 In eine ähnliche Richtung Kiesow, Merkur 73 (842), 2019, S. 19, 25. 554 Kahns, Harvard Law Review, Vol. 106 (1993), S. 1147, 1164. 555 Häberle, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 17, 22. 556 Lepsius, JZ 2019, S. 793, 801: „Die Demokratie lebt davon, dass sie die Revisibilität ihrer Entscheidungen ermöglicht“; vgl. auch Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, S. 31 f. 557 Häberle, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit – Verfassungsprozessrecht, S. 139, 143.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
keit von Verfassungsnormen.558 Dieses Bild einer Verfassungsinterpretation findet sich auch in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft wieder, etwa bei Paul Kahn: „Neither judge nor commentator can escape the responsibility of interpretation. No source or set of sources will simply present an answer. The object of interpretation might, for example, be the meaning of the constitutional value of equality. Equality does not have a single, definite meaning in any community prior to the process of interpretation. It is not a thing waiting to be discovered by a judge. It only has an identifiable shape after the judge articulates the conclusion of an interpretive inquiry. Even that conclusion is only a momentary stopping point in an ongoing debate. In this debate, it is not possible for a judge – or anyone else – to consider the meaning of equality without drawing on a wealth of experiences, arguments, and values that range across local, national, and even international communities.“559
Dieser Pluralismus ist kein Selbstzweck, sondern Ausprägung eines demokratischen Systems, dessen Entscheidungsprozesse geprägt sind von Mehrheiten und Minderheiten. Mehrheitsentscheidungen sind dabei unabdinglich, insbesondere für die Funktionsfähigkeit eines Systems. Dies heißt aber nicht, dass der Minderheitsansicht nach dem vorläufigen Abschluss eines solchen Entscheidungsprozesses überhaupt keine Bedeutung mehr zukommt. Sie soll gerade nicht aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, denn in der Demokratie darf man – zumeist – „weder Richtigkeit noch Letztbegründung erwarten“.560 In der US-amerikanischen Literatur ist darüber hinaus die Ansicht verbreitet, dass eine abweichende Meinung der Minderheit die Möglichkeit gibt, ihre Position weiter zu verfolgen und irgendwann zur Mehrheit zu werden.561 Einstimmige oder unwidersprochene Entscheidungen stünden bei kontroversen Fragen dagegen immer im Verdacht, eher ein Ausdruck von Konformismus, denn tatsächlicher Übereinstimmung zu sein: „How is it possible to address these often highly political subjects without sacrificing judicial integrity? The partial answer was dissent. Separate opinions not only show society that the process of decision making is legitimate, but also allow those who oppose a particular result to take comfort that the result may someday be reversed. This is Brennan’s idea of dissent as a corrective force.“562 558 Häberle, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 17, 25; ders., JZ 1975, S. 297, 299, beschreibt die Entscheidungen des BVerfG „durch das eigene Minderheitsvotum ‚relativiert‘ und eben dadurch ‚offen‘“. 559 Kahn, Harvard Law Review, Vol. 6 (1993), S. 1147, 1161. 560 Lepsius, Der Staat 52 (2013), S. 157, 170. 561 Vgl. auch aus dem deutschen Diskurs Lepsius, Der Staat 52 (2013), S. 157, 170: „Wir können die Mehrheitsentscheidung akzeptieren, gerade weil wir sie nicht für richtig halten müssen und wissen, daß wir sie ändern können.“ 562 Henderson, University of Chicago Law School, Public Law and Legal Theory Working Papers, 2007, S. 41. Darüber hinaus spricht Henderson den abweichenden Meinungen auch eine Legitimierung des U. S Supreme Court zu, über hochpolitische Fälle zu entscheiden, ebd., S. 40: „Dissent is not only necessary to ensure the legitimacy of the Court, but also
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Darüber hinaus ist das Sondervotum auch personell-pluralistisch, weil es offenbart, dass nicht nur das Gericht als Institution, sondern auch die einzelnen Richter*innen als Individuen an diesem Prozess teilnehmen.563 Während die Entscheidungsbegründung für die Senatsmehrheit das Mittel ist, ihre (bindende) Verfassungsinterpretation mitzuteilen, steht den Richter*innen das Sondervotum zur Verfügung.564 Die Konservierung von Minderheitsansichten durch ein Sondervotum ist daher Ausdruck eines demokratischen Pluralismus, der sich insbesondere aus der Unbestimmtheit von Verfassungsnormen ergibt. Besonders offensichtlich wird diese Funktion von Sondervoten dadurch, dass sie nach einiger zu Änderungen oder Anpassungen der Rechtsprechung führen können. Im Folgenden sollen daher Beispiele für Sondervoten aus der Praxis des BVerfG aufgezeigt werden, die auf die spätere Rechtsprechung einen merklichen Einfluss ausgeübt haben.
(a) Von Mephisto zu Esra (BVerfGE 30, 173 und 119, 1) Der Schriftsteller Klaus Mann veröffentlichte im Jahr 1936 erstmals „Mephisto. Roman einer Karriere“ aus dem Exil in einem niederländischen Verlag. Mephisto schildert die Aufstiegsgeschichte des Schauspielers Hendrik Höfgen im nationalsozialistischen Deutschland – eine Geschichte, bei der sich der Vergleich mit Gustaf Gründgens unmittelbar aufdrängt. Klaus Mann stellt seinem Roman jedoch voran, dass jegliche Figuren lediglich „Typen“ darstellten und keine „Portraits“.565 Im Jahr 1956 wurde der Roman vom Aufbauverlag in Ost-Berlin wieder aufgelegt; sein Autor war bereits 1949 verstorben. Der Adoptivsohn und Alleinerbe des Schauspielers Gustaf Gründgens – dieser war 1963 gestorben – versuchte in den 1960er-Jahren eine Veröffentlichung in der Bundesrepublik zu gives law the authority to resolve controversial social issues – it ensures a particular type of Court legitimacy. Just as the opinion of the court was necessary to increase the power of the Court during the Marshall era, dissent is the strategy that enables the Court and the law in general to maintain its institutional power given the highly political nature of the cases the Court decides today.“ Zur Rechtfertigung von abweichenden Meinungen im amerikanischen Kontext vgl. auch Stack, Yale Law Journal, Vol. 105 (1996), S. 2235 ff. Mit einer solchen Funktionszuschreibung von Instrumenten innerhalb eines Gerichtsverfahrens scheinen wir uns in Deutschland eher schwer zu tun, da dies die Möglichkeit der Korrektur von Rechtsprechung voraussetzt. Konsistente Rechtsprechung oder Rechtsprechungslinien sind in der Praxis des BVerfG aber von herausragender Bedeutung; Kursänderungen die absolute Ausnahme. Auch der Legitimitätsaspekt scheint bei uns keine größere Rolle zu spielen, da die Legitimität der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen über politische Fragen in Deutschland weniger kontrovers diskutiert wird, als in den USA. Dennoch lassen sich die Überlegungen für den deutschen Diskurs fruchtbar machen. 563 Dieser Aspekt wird im deutschen Diskurs insgesamt zu wenig beachtet. Es wird sich zu stark auf Institutionen als Einheiten fixiert und zu wenig die handelnden Akteure in den Blick genommen. 564 Dazu bereits Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63, 73 f. 565 BVerfGE 30, 173, 177 – Mephisto.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
verhindern. Das OLG Hamburg und der BGH gaben dieser Klage jeweils statt und statuierten damit ein Verbot des Romans in der Bundesrepublik.566 Der Verlag, der das Buch in Westdeutschland veröffentlichen wollte, wandte sich im Wege der Verfassungsbeschwerde gegen die vorangegangenen Urteile.567 Der Erste Senat des BVerfG entschied mit sechs Richter*innen. In der Rückschau ist das Urteil vor allem dafür bekannt, grundsätzliche Maßstäbe zum Geltungs- und Schutzbereich sowie den Schranken der Kunstfreiheit aufgestellt zu haben.568 In der entscheidenden materiell-rechtlichen Frage, ob die zuvor betrauten Gerichte die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und der Kunstfreiheit rechtsfehlerfrei angestellt hatten, konnte man sich auf keine gemeinsame Linie einigen, sodass es zu einem Patt kam.569 Infolgedessen ist die Entscheidung an dieser Stelle sehr knapp – das Gericht äußert sich nur viereinhalb Seiten zu der Kernfrage dieses Rechtsstreits.570 Es nimmt sich dabei auffällig zurück, weist insbesondere auf die bereits zuvor entwickelte „Heck’sche Formel“ hin, nach der bei der Überprüfung von Gerichtsentscheidungen durch das BVerfG ein eingeschränkter Überprüfungsmaßstab gelte.571 Dies mag auch mit der Stimmengleichheit und dementsprechend großen Differenzen innerhalb des Senates zu erklären sein. Die Sondervoten stellen das Gegenteil zu der insgesamt knappen Urteilsbegründung dar: Richter Stein führt auf 18 Seiten seine Ansicht aus, derer sich Richterin Rupp-v. Brünneck anschließt und mit nochmals neun Seiten ergänzt.572 Bereits in methodischer Hinsicht werden die Differenzen innerhalb des Senats sichtbar: Während die das Urteil tragende Auffassung davon ausgeht, dass das BVerfG nicht befugt sei, „seine eigene Wertung des Einzelfalles nach Art eines Rechtsmittelgerichts an die Stelle derjenigen des zuständigen Richters zu setzen“573 und damit die Kontrollbefugnis des Gerichts zurücknimmt, ist Stein der Ansicht, dass das BVerfG „die Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidungen mit der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie auf der Grundlage der konkreten Umstände des vorliegenden Sachverhalts überprüfen“574 müsse. Auf diese Differenz weist Stein dann anschließend selbst noch einmal sehr deutlich hin:
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BGHZ 50, 133. Zur Verfahrensgeschichte vgl. BVerfGE 30, 173, 174 ff. – Mephisto. Insbes. BVerfGE 30, 173, 188 ff. – Mephisto. 569 Nach § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG kann bei Stimmengleichheit kein Verstoß gegen das Grundgesetz festgestellt werden, sodass die Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen war. 570 BVerfGE 30, 173, 195–200 – Mephisto. 571 Grundlegend BVerfGE 1, 418, 420 – Ahndung nationalsozialistischer Straftaten und BVerfGE 18, 85, 92 f. – Spezifisches Verfassungsrecht. 572 BVerfGE 30, 173, 200 ff. – Mephisto. 573 BVerfGE 30, 173, 197 – Mephisto. 574 BVerfGE 30, 173, 201 – Mephisto. 567 568
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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„Würde in Fällen wie dem vorliegenden entsprechend der Ansicht der drei Richter die Prüfungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts auf eine eng begrenzte Kontrolle beschränkt sein, nämlich darauf, ob die Gerichte den Einfluß der Grundrechte überhaupt erkannt, ihn berücksichtigt und das allgemeine Willkürverbot nicht verletzt haben […], dann würde das Bundesverfassungsgericht seiner Aufgabe, Hüter der Grundrechte auf allen Rechtsgebieten zu sein, nicht gerecht werden.“575
Die Senatsentscheidung analysiert die Auslegung der vorherigen Instanzen und kommt nicht zu einer eigenen Abwägung,576 während Stein in seinem Sondervotum intensiv in die materiell-rechtlichen Fragestellungen einsteigt; sie nehmen fast den gesamten Raum seines Votums ein.577 Kritisiert wird von ihm vor allem, das die vorherigen Instanzen den Roman von Klaus Mann allein an der Realität gemessen habe: Weil Mann dem realen Leben Gründgens einige erfundene Episoden hinzugefügt habe, handle es sich um eine ehrverletzende Publikation.578 Stein kontert dies mit dem Hinweis, dass es sich bei einem Roman um eine fiktionale Kunstform handle, die in Abgrenzung zur Dokumentation oder Biographie gar nicht den Anspruch habe, das Leben einer Person wirklichkeitsgetreu darzustellen.579 Das Sondervotum wird nachfolgend sehr grundsätzlich und verlässt auch die Sphären des Rechts, begibt sich eher auf die Suche nach Sinn und Form der Literatur: „Ein Kunstwerk wie der Roman von Klaus Mann strebt eine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbstständigte ‚wirklichere Wirklichkeit‘ an, in der die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewußter erfahren wird. Zeit und Raum sind im Roman etwas anderes als im wirklichen Leben.“580
Aus der Eigenart der Kunstform Literatur ergäben sich auch reale Konsequenzen für ihre Bewertung: Eine solche Kunst könne „nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden.“581 Zur Bestätigung seiner Ansicht fügt Stein längere Zitate 575 BVerfGE 30, 173, 201 f. – Mephisto. Stein versucht ebd., seine Ansicht zu untermauern, indem er zahlreiche Fundstellen aus der Rechtsprechung des BVerfG angibt. 576 BVerfGE 30, 173, 197 ff. – Mephisto. 577 BVerfGE 30, 173, 202–218 – Mephisto. 578 BGH, GRUR 1968, 552, 556. Im Kontext von Art. 5 I GG führt der BGH aus: „Das Recht, Verhalten und Lebensbild einer Persönlichkeit kritisch zu beurteilen, findet nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in dem Recht der persönlichen Ehre und rechtfertigt es jedenfalls nicht, das Lebensbild einer Persönlichkeit mittels frei erfundener oder doch ohne jeden Anhaltspunkt behaupteter, die Gesinnung negativ kennzeichnender Verhaltensweisen zu entstellen, die nur noch das Urteil zulassen, daß es sich um einen niederträchtiger Handlungsweise fähigen Menschen gehandelt habe.“ Auch aus der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG werden keine Rechtfertigungen für Manns Kreativität abgeleitet: „Entstellungen derart schwerwiegender Art werden auch nicht durch die ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) gedeckt, auf welche sich die Bekl. in erster Linie beruft.“ 579 BVerfGE 30, 173, 204 – Mephisto. 580 BVerfGE 30, 173, 204 – Mephisto. 581 BVerfGE 30, 173, 204 – Mephisto.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
von Stefan George, Thomas Mann, Nicolai Hartmann und Theodor Adorno an, die sich allesamt mit dem Verhältnis von Kunstwerk und Realität beschäftigen.582 Er zählte auch Werke auf, in denen real existierende Personen künstlerisch dargestellt wurden, so u. a. Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“, und hielt sie für „in ihrem künstlerischen Rang unbestritten“.583 Diese Art der literarischen Kunst habe darüber hinaus auch den Sinn „zeitgenössische[r] Konflikte auf moralischem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet“ bewusst zu machen.584 Staatliche Vorgaben für Künstler, die realen Vorbilder in gewisser Weise zu verfremden, hielt Steiner für unvorstellbar.585 Eine längere Episode Steins, in der er zwischen der Romanfigur Höfgen und der realen Persönlichkeit Gründgens unterscheidet, lässt sich fast als Literaturkritik bewerten: „Daß Höfgen ein Typus und kein Porträt ist, ergibt sich schon aus dem Typisierenden in der Zeichnung der Romanfigur, in der Zwischentöne fast ganz fehlen und die im Zusammenhang von Zeit und Milieu der Romanhandlung deutlich zeichenhafte Züge hat.“586
Die Gefahr, dass der Roman als Diffamierung der realen Person Gründgens wahrgenommen und damit dessen postmortales Persönlichkeitsrecht verletzt werde, sah Stein schon deshalb als nicht gegeben an, weil der Roman „heute nur noch auf das Interesse eines begrenzten, vor allem der Bildungsschicht angehörenden Leserkreises rechnen [kann], der weitgehend den Erfahrungsbereichen der Kunst nicht ungeschult gegenübersteht“.587 Ein die Fiktion richtigstellendes und ausführliches Vorwort, welches die Zivilgerichte ausschließlich für geeignet hielten, hielt Stein für nicht erforderlich; dies führe zu einer Gleichsetzung des fiktiven Romans mit einer auf die Realität bezogenen Biographie.588 Die Verfassungsrichterin Rupp-v. Brünneck schloss sich der abweichenden Meinung Steins ausdrücklich an und ergänzte diese.589 Insbesondere ließ sie sich zur Prüfungskompetenz des BVerfG ein und setzte sich mit der bis dato ergangenen Rechtsprechung zu dieser Frage auseinander: Errungenschaft die582 583
BVerfGE 30, 173, 205 f. – Mephisto. BVerfGE 30, 173, 208 – Mephisto. 584 BVerfGE 30, 173, 209 – Mephisto. 585 BVerfGE 30, 173, 209 – Mephisto. 586 BVerfGE 30, 173, 211 – Mephisto; ebd., 212 f., heißt es weiter: „Der Mephisto-Roman ist ein Werk der Exilliteratur, deren Thematik, Struktur und Sprache nur unter dem Zwang des politischen, sozialen und psychologischen Ausnahmezustandes der Emigration richtig gewürdigt werden kann. Er ist künstlerischer Ausdruck des tiefen Schmerzes ‚des Ausgestoßenen, der die Nachrichten der Heimat nur noch vernimmt wie den Widerhall von Wahnsinn und Entsetzen. Er wartet auf das unbekannte Ereignis, das ihn zurückruft; …‘ (Heinrich Mann, Geist und tat, Essay über Zola [1915], S. 234, erschienen im Verlag Gustav Kiepenheuer, Weimar 1946).“ 587 BVerfGE 30, 173, 216 – Mephisto. 588 BVerfGE 30, 173, 217 – Mephisto. 589 BVerfGE 30, 173, 218 ff. – Mephisto.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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ser Praxis des BVerfG seit Lüth590 sei es, dass die „Wirkungskraft der Grundrechte auf allen Rechtsgebieten“ durchgesetzt werde.591 Zwar habe das BVerfG die daraus erwachsende „weit reichende Prüfungszuständigkeit“ mittels der „Heck’schen Formel“ wieder eingefangen.592 Dies dürfe jedoch nicht zu einer verfehlten Zurückhaltung des Gerichts führen, wie dies nach der das Urteil tragenden Auffassung der Fall wäre: „Demgegenüber würde die der Senatsentscheidung zugrunde liegende Abstinenz letzten Endes darauf hinauslaufen, daß eine allein gegen die Art der Rechtsanwendung im Einzelfall gerichtete Verfassungsbeschwerde stets aussichtslos wäre, wenn das einschlägige Grundrecht nur beim Namen genannt und die hierzu in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätze in die Entscheidung aufgenommen sind, gleichgültig, zu welchem Ergebnis das Gericht im Einzelfall kommt – die in der Senatsentscheidung konzedierte Prüfung auf Willkür hat keine Bedeutung, weil auf sachfremden Erwägungen beruhende Gerichtsentscheidungen so gut wie nie vorkommen. Hierin läge eine evidente Verkürzung des bisherigen Grundrechtsschutzes […].“593
Mit ihrer Kritik hinsichtlich der materiell-rechtlichen Auslegungen der Urteile von Zivilgerichten ähnelt ihr Votum inhaltlich dem von Stein. Besonders pointiert wird es allerdings, wenn sie auf die Gefahr hindeutet, dass in der hier vorliegenden Art der Rechtsprechung eine „subjektive, ästhetische Bewertung der Qualität des Kunstwerkes maßgebend mitspricht“: „Ich halte ‚Mephisto‘ nicht für einen guten Roman – jedenfalls steht er nicht auf dem Niveau anderer Werke von Klaus Mann –; aber hiervon darf die Anwendung des Grundrechtsschutzes auf den Roman, der nach einhelliger Ansicht als ein Kunstwerk im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG anzusehen ist, nicht abhängen.“594
Darüber hinaus müsse auch die „Ausnahmesituation“ des Emigranten Klaus Mann berücksichtigt werden, der „besonders schwer“ unter diesem Schicksal gelitten habe.595 Dazu heißt es weiter: „Wenn ein Schriftsteller unter den damaligen Umständen die ihm allein zur Verfügung stehenden geistigen Waffen im Dienste der guten Sache einsetzte, wenn er hierbei seinen Gedanken und Gefühlen nicht in einer politischen Streitschrift, sondern in der – vermutlich wirkungsvolleren – Form eines satirischen Romans Ausdruck gab und die Romanhandlung an eine weithin bekannte Person der Zeitgeschichte anlehnte, die wegen ihrer hervorgehobenen Stellung als kultureller Repräsentant des bekämpften Regimes angesehen wurde, so rechtfertigte die gegebene Notstandssituation sein Vorgehen auch dann, wenn er sich bei der Wahl der Mittel im einzelnen vergriffen haben sollte.“596 590
BVerfGE 7, 198 – Lüth. BVerfGE 30, 173, 219 – Mephisto. BVerfGE 30, 173, 219 – Mephisto. 593 BVerfGE 30, 173, 220 f. – Mephisto. 594 BVerfGE 30, 173, 223 – Mephisto. 595 BVerfGE 30, 173, 225 – Mephisto. 596 BVerfGE 30, 173, 226 – Mephisto. 591 592
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Die Mephisto-Entscheidung des BVerfG war das erste grundlegende Verfahren zu den Fragen von Kunstfreiheit und Ehrschutz – es sollte allerdings nicht das letzte öffentlichkeitswirksame und stark diskutierte Urteil in diesem Themenkomplex bleiben. Die spätere Esra-Entscheidung597 hängt mit Mephisto sehr eng zusammen, was auch auf die jeweiligen Sondervoten zurückzuführen ist. Die Esra-Entscheidung spielte sich dabei vor folgendem Hintergrund ab: Der Schriftsteller Maxim Biller veröffentlichte im Jahr 2003 den Roman Esra, der die Liebesgeschichte einer Schauspielerin und eines Schriftstellers behandelt. Das fiktionale Werk hat starke Bezüge zur Realität und ist an Billers Beziehung mit einer Schauspielerin angelehnt. Sie und ihre Mutter werden in dem Roman ausführlich beschrieben, weshalb beide kurz nach Erscheinen des Romans den Erlass einer auf Verbot der Verbreitung des Romans gerichteten einstweiligen Verfügung erfolgreich beim Zivilgericht beantragten. Berufung und Revision des Verlegers hatten keinen Erfolg, weshalb Verfassungsbeschwerde erhoben wurde.598 Der Senat wies die Verfassungsbeschwerde mit 5:3 Stimmen überwiegend zurück; der Mutter stehe kein Unterlassungsanspruch zu, lediglich der Tochter. Der Roman stelle unstreitig ein Kunstwerk dar, die Kunstfreiheit finde auch zwischen Privaten Anwendung und der Verleger könne sich ebenso wie der Künstler selbst auf dieses Freiheitsrecht berufen.599 Das Urteil ist für den hier gewählten Betrachtungsrahmen insbesondere deshalb interessant, weil sich zahlreiche Verweise auf die Sondervoten der Mephisto-Entscheidung finden lassen. Dies beginnt sogleich bei der Bestimmung des Umfangs der Prüfungskompetenz des BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen zivilgerichtliche Urteile. Zwar seien hierzu „in erster Linie die Zivilgerichte berufen“, die hier vorliegende Konstellation sei jedoch besonders: „Das Verbot eines Romans stellt allerdings einen besonders starken Eingriff in die Kunstfreiheit dar. Das BVerfG kann seine Überprüfung daher nicht auf die Frage beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Art. 5 III 1 GG, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das BVerfG muss vielmehr die Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidungen mit der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie auf der Grundlage der konkreten Umstände des vorliegenden Sachverhalts überprüfen (vgl. Sondervotum Stein, BVerfGE 30, 173 [201 f.]).“600
Zwar findet sich der Hinweis, dass aufgrund der hohen Eingriffsintensität eine intensivere Überprüfung durch das BVerfG angezeigt sei, nicht an der angegebenen Stelle im Sondervotum Stein; dieser sprach sich eher grundsätzlich 597
BVerfGE 119, 1 – Esra. Zur Verfahrensgeschichte vgl. BVerfGE 119, 1, 2 ff. – Esra. BVerfGE 119, 1, 20 ff. – Esra. 600 BVerfGE 119, 1, 22 – Esra. 598 599
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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für eine weitgehende Prüfkompetenz aus.601 Ansonsten übernimmt die Senatsmehrheit hier allerdings die Feststellungen des abweichenden Votums aus Mephisto und überdenkt damit seine eigene – zurückhaltendere – Ansicht aus dem damaligen Verfahren, dass nur überprüft werden könne, ob die Entscheidung des Zivilrichters „auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung“ der betroffenen Grundrechte beruhe.602 Von der Überprüfung einer grundsätzlichen Verkennung von Grundrechtsdogmatik entwickelt sich die Rechtsprechung also zu einer an den konkreten Umständen des Sachverhalts orientierten Einzelfallprüfung.603 Diese Änderung wird nicht besonders hervorgehoben und ist eigentlich nur dadurch erkennbar, dass das BVerfG nicht seine Urteilsbegründung – wie sonst beim Hinweis auf eigene Rechtsprechungslinien –, sondern das Sondervotum Stein ausdrücklich zitiert. Dabei muss jedoch festgehalten werden, dass hier keine revolutionäre Rechtsprechungsänderung stattfindet. Bereits früh hat das BVerfG bei der Beschreibung der „Heck’schen Formel“ und der damit zurückgenommenen Kontrollkompetenz des Gerichts bei Urteilsverfassungsbeschwerden klargestellt, dass „die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht immer allgemein klar abzustecken“ sein, weshalb „dem richterlichen Ermessen“ ein „gewisser Spielraum“ bleiben müsse, „der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht.“604 Der Prüfungsumfang war zwar auf das „spezifische Verfassungsrecht“ begrenzt, das BVerfG hat sich aber immer auch eine Hintertür durch die Ausübung richterlichen Ermessens offen gehalten.605 Dennoch wird durch das ausdrückliche Zitat des Sondervotums Steins offenbart, dass diese frühere abweichende Ansicht eine Auswirkung auf die Anpassung der Mehrheitsmeinung hatte. Dies ist vor allem mit der parallelen Fallgestaltung von Mephisto und Esra zu erklären. Eine weitere wichtige Anlehnung an das Sondervotum von Richter Stein in Mephisto findet im Kontext der Grenzen der Kunstfreiheit durch das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Individuen statt. Durch diese Begrenzung bestehe zunächst die „Gefahr, dass unter Berufung auf das Persönlichkeitsrecht öffentliche Kritik und die Diskussion von für die Öffentlichkeit und Gesellschaft wichtigen Themen unterbunden werden (vgl. Sondervotum Stein, BVerfGE 30, 200 [206 f.]).“606 Hier wird ausdrücklich auf Stein verwiesen, der sich intensiv mit den Funktionen der Kunst beschäftigt hatte. Entscheidender ist aber, 601 602
BVerfGE 30, 173, 201 f. – Mephisto, s. dazu auch bereits oben. BVerfGE 30, 173, 197 – Mephisto. 603 Diese Wendung in der Rechtsprechung wird auch im Sondervotum von HohmannDennhardt und Gaier ausdrücklich offengelegt und begrüßt, BVerfGE 119, 1, 37 f. – Esra. 604 BVerfGE 18, 85, 92 – Spezifisches Verfassungsrecht. 605 Einen guten Überblick dieser Thematik gibt Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge, § 90 BVerfGG, Rn. 315 ff. 606 BVerfGE 119, 1, 27 – Esra.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
dass die Senatsmehrheit nun der Ansicht ist, dass die „Spannungslage zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit […] auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung tragen muss.“607 Gerade diese Art der Betrachtungsweise („kunstspezifisch“) wurde auch bereits in der Urteilsbegründung zu Mephisto festgehalten,608 ebenso hatte Stein in seinem Sondervotum dies gefordert.609 Interessant ist aber, dass zur Herleitung dieser Betrachtungsweise nun ausdrücklich Stein zitiert wird: „Ein Kunstwerk strebt eine gegenüber der ‚realen‘ Wirklichkeit verselbstständigte ‚wirklichere Wirklichkeit‘ an, in der die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewusster erfahren wird. Die künstlerische Darstellung kann deshalb nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden (vgl. Sondervotum Stein, BVerfGE 30, 200 [204]).“610
Dies ist mehr als nur eine Anekdote am Rande, ziehen Stein auf der einen und die die Urteilsbegründung in Mephisto und Esra tragenden Richter doch jeweils andere Konsequenzen aus der Notwendigkeit einer kunstspezifischen Betrachtungsweise: Die Senatsmehrheit in Esra verlangte für eine kunstspezifische Betrachtung eine „Abwägung aller Umstände des Einzelfalls“, wobei zu beachten sei, „ob und inwieweit das ‚Abbild‘ gegenüber dem ‚Urbild‘ durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs“ verselbstständigt sei.611 Daraus wird abgeleitet, dass eine Romanfigur, je stärker der Autor sie vom „Urbild löst und zu einer Kunstfigur verselbstständigt“, sich eher im Rahmen der „kunstspezifischen Betrachtung“ befinde.612 Diese Feststellungen kulminieren in der bekannten Jedesto-Formel: „Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders geschützten Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“613
Die Senatsmehrheit macht also die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts vom Grad der Übereinstimmung fiktionaler Romanfiguren mit ihren realen Vor607
BVerfGE 119, 1, 28 – Esra. BVerfGE 30, 173, 195 – Mephisto. BVerfGE 30, 173, 204 – Mephisto: „Die künstlerische Darstellung kann deshalb nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden.“ 610 BVerfGE 119, 1, 28 – Esra. Bei Stein heißt es an der vom Senat zitierten Stelle: „Ein Kunstwerk wie der Roman von Klaus Mann strebt eine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbstständigte ‚wirklichere Wirklichkeit‘ an, in der die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewußter erfahren wird. Zeit und Raum sind im Roman etwas anderes als im wirklichen Leben.“ 611 BVerfGE 119, 1, 28 – Esra. 612 BVerfGE 119, 1, 29 – Esra. 613 BVerfGE 119, 1, 30 und 4. Leitsatz – Esra. 608 609
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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bildern abhängig. Eine Forderung, der Stein in seinem Sondervotum ausdrücklich entgegengetreten war: „Die Kunstfreiheitsgarantie läßt dem Grundsatz nach weder die Einschränkung des künstlerischen Themenkreises noch die Ausklammerung von Ausdrucksmitteln und -methoden aus dem künstlerischen Verarbeitungsprozeß zu. Auch kann dem Künstler, insbesondere vom Staat, nicht aufgegeben werden, die verwendeten Daten aus dem Persönlichkeitsbereich wenigstens im Rahmen des ästhetisch Zumutbaren so zu verfremden, daß eine Identifizierung der als Vorbild etwa für eine Romanfigur benutzten Persönlichkeit vermieden wird […].“614
Damit besteht im Ausgangspunkt Einigkeit darüber, dass eine kunstspezifische Betrachtungsweise notwendig ist. Was genau damit gemeint ist, wird allerdings sehr unterschiedlich bewertet. Das gemeinsame Sondervotum der Richterin Hohmann-Dennhardt und des Richters Gaier zur Esra-Entscheidung setzt sich dann auch kritisch mit diesen Ausführungen der Senatsmehrheit auseinander: Zwar schließen sich die Richter*innen den Erwägungen zur Prüfungskompetenz des BVerfG und zur Notwendigkeit einer kunstspezifischen Betrachtungsweise an. Sie kritisieren aber die beschriebene Ausformung der kunstspezifischen Betrachtung: „Dieser von der Senatsmehrheit zu Recht reklamierte kunstspezifische Maßstab wird aber dann doch wieder von ihr auf die Realität zurückgeführt. Denn gemessen werden soll nicht an der Art der Literatur, dem spezifischen Genre des Romans, seinen Darstellungsformen und thematischen Ebenen. Einem Autor soll vielmehr dieser Maßstab nur in dem Ausmaß zugutekommen, in dem er seine Figuren von der Wirklichkeit ablöst, also verfremdet.“615
Damit befinden sie sich auf der Linie des abweichenden Richters Stein (s. o.), worauf sie auch selbst hinweisen.616 In durchaus markanten Worten wenden sie sich gegen Auslegungen der Senatsmehrheit: „nicht haltbar“, „nicht hinnehm614 BVerfGE 30, 173, 209 – Mephisto. Im Ergebnis heißt das für ihn bzgl. Mephisto, ebd., S. 212: „Andererseits treffen die Feststellungen der Gerichte zu, daß Gründgens sehr deutlich der Romanfigur Höfgen zum Vorbild gedient hat. Hierauf kommt es jedoch nach den oben gemachten Ausführungen nicht an. Maßgebend ist vielmehr, ob das Bild der Romanfigur Höfgen in der Welt des Romans eine eigene Funktion hat, durch die es gegenüber dem Persönlichkeitsbild von Gründgens verselbstständigt wird, ober ob die Figur des Höfgen individuelle Persönlichkeitsdaten über die Person Gründgens mitteilen will.“ 615 BVerfGE 119, 1, 38 – Esra. Ergänzende Kritik auch im Sondervotum von HoffmannRiem, BVerfGE 119, 1, 48 ff. – Esra. 616 BVerfGE 119, 1, 39 – Esra: „Mit solch quantitativem Messen, an denen ein Abgleich des Romans mit der Wirklichkeit vorgenommen werden soll, wird man der qualitativen Dimension der künstlerischen Verarbeitung von Wirklichkeit nicht gerecht. Darauf hat schon Richter Stein hingewiesen, indem er ausgeführt hat, der Grad der Übereinstimmung zwischen einer Romanfigur und den Persönlichkeitsdaten realer Personen sei grundsätzlich irrelevant. Denn solche Daten würden vom Romanschreiber in eine ästhetische Realität versetzt, in der Faktisches und Fiktives ungesondert gemischt, eine unauflösbare Verbindung seien (vgl. BVerfGE 30, 173 [205 f.]).“
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
bar“, „widersprüchlich“, „Zirkelschluss“.617 Auf die Spitze getrieben wird ihre Kritik durch Übertragung der Grundsätze der Senatsmehrheit auf einen Klassiker der deutschen Literatur: „Es ist fraglich, ob Goethes Roman ‚Die Leiden des jungen Werther‘ nach diesen Maßstäben der Senatsmehrheit nicht hätte verboten werden müssen, auch wenn die Senatsmehrheit dies von sich weist. Immerhin wurde schon bei damaligem Erscheinen dieses Briefromans in der Romanfigur Lotte Charlotte Buff erkannt, in die sich Goethe, den man in der Figur des Werthers zu entdecken glaubte, während seiner Wetzlarer Referendarzeit verliebt hatte. […] Dabei ist nicht zu bestreiten, dass der Roman höchst intime Szenen zwischen Lotte und Werther enthält. Deutliche Erkennbarkeit der in Bezug genommenen Personen und Schilderungen, die sich in der Intimsphäre abspielen – beide Voraussetzungen, die die Senatsmehrheit für eine schwere Persönlichkeitsverletzung ausreichen lässt, liegen hier eigentlich vor.“618
In der Konsequenz ziehen die dissentierenden Richter die Grenzen der Kunstfreiheit deutlich weiter: Auf diese könne sich nur nicht berufen, wer die Form des Romans benutze „um eine bestimmte Person mit Schmähungen zu überziehen“.619 Diese Grenze stammt wiederum aus dem Mephisto-Sondervotum Rupp-v. Brünnecks, worauf die dissentierenden Richter*innen auch ausdrücklich hinweisen.620 Die Kunstform werde von Biller aber nicht „missbraucht […] um bestimmte Personen zu beleidigen“, weshalb die Kunstfreiheit hier Schutz biete.621 Auch methodisch ergeben sich große Differenzen. Für eine kunstspezifische Betrachtung wählen die dissentierenden Richter*innen einen kontextualen Ansatz und wollen auf „literaturwissenschaftlichen Sachverstand zurückgreifen“.622 Unter Anwendung zahlreicher Quellen kommen die Richter*innen zu dem Ergebnis, dass der Roman „weder Erfahrungswelten reproduziert noch Autobiographisches darstellt, sondern einer literaturästhetischen Programmatik folgt und eine narrative Konstruktion, ein Roman ist“.623 Was bereits bei Mephisto auffiel, zeigt sich auch hier deutlich: Die Themen Kunstfreiheit, Literatur und Persönlichkeitsschutz laden die Richter*innen zu freieren und kontextualen Argumentationen ein. Sie gehen auf literarische Werke ein, zitieren Wissenschaftler*innen und Intellektuelle und scheuen auch nicht den klaren Dissens zur Mehrheitsansicht. Für den Betrachtungsgegenstand der Verfassungsinterpretation zeigt diese Rechtsprechungsentwicklung deutlich, dass Sondervoten als Rechtserkenntnisquelle für spätere, ähnlich gelagerte Fälle dienen können. In der Entwicklung 617
BVerfGE 119, 1, 38 ff. – Esra. BVerfGE 119, 1, 41 – Esra. BVerfGE 119, 1, 44 – Esra. 620 BVerfGE 119, 1, 47 – Esra mit Verweis auf BVerfGE 30, 173, 224 – Mephisto. 621 BVerfGE 119, 1, 47 – Esra. 622 BVerfGE 119, 1, 45 – Esra. 623 BVerfGE 119, 1, 47 – Esra. 618 619
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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von Mephisto zu Esra hat ein Sondervotum entscheidend dazu beigetragen, den Umfang der Prüfungstätigkeit des BVerfG zu verändern. Sachlich nahm die Mehrheitsansicht zwar wiederholt auf das frühere Sondervotum Rückgriff, zog jedoch andere Konsequenzen daraus. Dies wurde wiederum von abweichenden Meinungen kritisiert. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Sondervoten die weitere Rechtsprechungsentwicklung auf ganz unterschiedliche Weise prägen können: Zum einen sind Anpassungen der Rechtsprechung möglich, zum anderen können Konflikte aber auch bestehen bleiben und neue Sondervoten provozieren. In beiden Ausprägungen dient das Instrument aber der pluralistischen Verfassungsinterpretation.
(b) Rechtsprechungsänderung durch Sondervoten Böckenfördes Zwei Sondervoten Ernst-Wolfgang Böckenfördes hatten nachhaltige Auswirkungen auf die weitere Rechtsprechung des BVerfG. Eine explizite Änderung der Rechtsprechung des BVerfG durch den Rückgriff auf ein früheres Sondervotum lässt sich in einem Urteil des Gerichts zur Parteienfinanzierung beobachten:624 In einem Sondervotum zu einem früheren Urteil hatte Böckenförde – unterstützt von Mahrenholz625 – angemerkt, dass hinsichtlich der Parteienfinanzierung verfassungsrechtlich verlangt werde, dass „Zuwendungen an politische Parteien nur dann steuerlich begünstigt werden dürfen, wenn sie von natürlichen Personen geleistet werden“.626 Grund dafür sei, dass die gleiche „Teilhabe an der politischen Willensbildung“ als „regulierendes und begrenzendes Prinzip für die steuerliche Vergünstigung von Zuwendungen an politischen Parteien“ ausfällt, da Körperschaften gerade „keine politischen Mitwirkungsrechte“ zustünden.627 Die Senatsmehrheit hatte dies anders gesehen und sah den Gesetzgeber an der Einbeziehung von juristischen Personen „von Verfassungs wegen nicht gehindert“.628 In einer späteren Entscheidung zur Parteienfinanzierung teilt das BVerfG ausdrücklich mit, dass es seine Rechtsprechung auf der Grundlage des früheren Sondervotums Böckenfördes ändert: „Abweichend von dem in seinem Urteil vom 14. Juli 1986 (BVerfGE 73, 40) eingenommenen Standpunkt, jedoch in Übereinstimmung mit der seinerzeit von Richter Böckenförde vertretenen Abweichenden Meinung, der der Richter Mahrenholz beigetreten ist (ebenda S. 103 ff., 117), hält der Senat im übrigen dafür, daß einerseits die steuerliche Begünstigung von Spenden, die von Körperschaften geleistet werden, andererseits aber 624
BVerfGE 85, 264 – Parteienfinanzierung. BVerfGE 73, 40, 117 – Parteispenden. Es stellt sich die Frage, warum Mahrenholz das Sondervotum Böckenfördes nicht einfach mitunterschrieben hat und stattdessen schrieb: „Ich schließe mich der abweichenden Meinung an.“ 626 BVerfGE 73, 40, 103 – Parteispenden. 627 BVerfGE 73, 40, 105 – Parteispenden. 628 BVerfGE 73, 40, 80 – Parteispenden. 625
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
auch die steuerliche Begünstigung hoher Spenden natürlicher Personen im Blick auf das Recht des Bürgers auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist, und zwar auch dann, wenn es gelänge, einen wirksamen Ausgleich der dadurch ausgelösten Wettbewerbsverzerrungen herbeizuführen.“629
Steuerliche Begünstigungen für Spenden von Körperschaften an politische Parteien sind nach diesem Urteil also auch für den Senat insgesamt nicht mit der Verfassung vereinbar. Der Zweite Senat änderte damit seine Rechtsprechung innerhalb eines Zeitraums von weniger als sechs Jahren auf der Grundlage eines Sondervotums. Die Formulierung „jedoch in Übereinstimmung mit der […] Abweichenden Meinung“ lässt auch erkennen, dass der Senat ausdrücklich darauf hinweisen möchte, dass seine Rechtsansicht zuvor zwar eine andere war, es aber auch schon damals Richter am Gericht gegeben hat, die diese Meinung vertreten haben. Damit mag es dem Senat auch leichter gefallen sein seine Rechtsprechung anzupassen. Sicherlich hat hierbei aber auch die fast vollständige Neubesetzung des Senats eine Rolle gespielt.630 Böckenförde gab in seiner Amtszeit ein weiteres Sondervotum ab, dem eine entscheidende Auswirkung auf die spätere Rechtsprechung zugeschrieben werden kann. In einer Entscheidung zur Vermögenssteuer hatte die damalige Senatsmehrheit in einem obiter dictum eine Höchstgrenze für die steuerliche Belastung (sog. Halbteilungsgrundsatz) festgehalten: „Nach Art. 14 Abs. 2 GG dient der Eigentumsgebrauch zugleich dem privaten Nutzen und dem Wohl der Allgemeinheit. Deshalb ist der Vermögensertrag einerseits für die steuerliche Gemeinlast zugänglich, andererseits muß dem Berechtigten ein privater Ertragsnutzen verbleiben. Die Vermögensteuer darf deshalb zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt und dabei insgesamt auch Belastungsergebnisse vermeidet, die einer vom Gleichheitssatz gebotenen Lastenverteilung nach Maßgabe finanzieller Leistungsfähigkeit zuwiderlaufen.“631
Dies wurde von Böckenförde per Sondervotum scharf kritisiert: „Gleichfalls keinen Anhaltspunkt in Art. 14 Abs. 1 GG oder anderen Vorschriften des Grundgesetzes findet die vom Senat zusätzlich aufgestellte Maßgabe, nach der den Vermögensinhabern auch rund die Hälfte der Erträge zu belassen ist. Auch insoweit verläßt der Senat die bisher geltenden Maßstäbe, nach denen erst eine erdrosselnde Wirkung die Grenze von Geldleistungspflichten bildet (vgl. BVerfGE 70, 219 [230]; 78, 232 [243]; 82, 159 [190]). Stattdessen setzt er eigene, durch die Verfassung nicht ausgewiesene An629
BVerfGE 85, 264, 314 f. – Parteienfinanzierung. Während Mahrenholz und Böckenförde immer noch als Richter tätig waren, gab es nunmehr fünf neue Richter*innen im Senat. 631 BVerfGE 93, 121, 138 und Leitsatz Nr. 3 – Einheitswerte Grundbesitz (eigene Hervorhebungen). 630
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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gemessenheitserwägungen. Unabhängig von der Höhe des Einkommens und somit auch als Maßgabe jeglicher Progression soll insoweit die verfassungsrechtliche Obergrenze umstandslos bei etwa 50 v. H. liegen. […] In einer solchen Vorgabe liegt eine ungerechtfertigte Begrenzung des Gesetzgebers. Sie verkennt, daß die Festsetzung der Steuersätze fundamental von wirtschaftlichen wie politischen Daten abhängt, die unter geschichtlichen Bedingungen stehen und sich ändern können. […] Die Verfassung überläßt es vielmehr einer politisch verantworteten Steuerpolitik, hier in Reaktion auf die jeweilige Situation und unter Rückgriff auf wirtschafts- und sozialpolitische Überzeugungen das zuträgliche Maß zu finden.“632
Später korrigierte der Senat diese Rechtsansicht, allerdings ohne auf das Sondervotum Böckenfördes hinzuweisen: „Aus diesem in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 GG zum Ausdruck kommenden Maßstab, der lediglich den Rahmen der Abwägung kennzeichnet, lässt sich keine allgemein verbindliche, absolute Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung (‚Halbteilungsgrundsatz‘) ableiten. Der Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG (‚zugleich‘) reicht zur Begründung einer mit Sinn und Zweck des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG sowie seiner Entstehungsgeschichte (vgl. JöR N. F. Band1 [1951], S. 147) zu vereinbarenden Herleitung einer Höchstbelastungsgrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung nicht aus. […] Auch mit Blick auf die gesetzliche Auferlegung von Steuern kann Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG nicht mit Hilfe des Adverbs ‚zugleich‘ als ein striktes, grundsätzlich unabhängig von Zeit und Situation geltendes Gebot hälftiger Teilung zwischen Eigentümer und Staat gedeutet werden.“633
Dass das Sondervotum Böckenfördes, welches sich ausführlich mit diesen Fragen beschäftigt hatte, hier überhaupt nicht angeführt wird, muss überraschen. Insbesondere wird vom Senat nun auch auf eine „Gefahr“ hingewiesen, dass ein Halbteilungsgrundsatz „dem Gesetzgeber mittelbar eine verfassungsgerichtliche Ausgaben- und Aufgabenbeschränkung“ auferlegen würde.634 Die fehlende verfassungsrechtliche Grundlage und die daraus folgende Beschränkung des gesetzgeberischen Spielraums war einer der Hauptkritikpunkte im Böckenförde-Sondervotum.635 Zwar war zu diesem Zeitpunkt (2006) Böckenförde nicht mehr Mitglied des Zweiten Senats, es erscheint jedoch ausgeschlossen, dass seine pointierte Kritik in den Senatsberatungen keine Rolle gespielt hat, zumal zwischen beiden Entscheidungen nur knapp elf Jahre liegen. Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund auch, dass der Senat zwar die Entstehungsgeschichte des Art. 14 GG bemüht, nicht aber das Sondervotum seines ehemaligen Mitglieds als Interpretationsquelle genutzt haben will.636 632
BVerfGE 93, 121, 157 – Einheitswerte Grundbesitz. BVerfGE 115, 97, 114 – Halbteilungsgrundsatz (eigene Hervorhebungen). Vgl. dazu auch das Interview Böckenförde/Gosewinkel, in: Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, S. 307, 458 ff. 634 BVerfGE 115, 97, 115 – Halbteilungsgrundsatz. 635 BVerfGE 93, 121, 151 f. – Einheitswerte Grundbesitz, s. dazu auch bereits oben. 636 BVerfGE 115, 97, 115 – Halbteilungsgrundsatz. 633
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Insgesamt zeigen beide Rechtsprechungsanpassungen, dass Sondervoten im Sinne einer pluralistischen Verfassungsinterpretation spätere Entwicklungen prägen können. Das BVerfG geht damit aber nicht immer offen um. Es gibt allerdings keinen Grund, Quellen der Verfassungsinterpretation, die offensichtlich herangezogen worden sind, nicht auch zu offenbaren. Dadurch entstehende Autoritätsverluste sind kaum denkbar, insbesondere dann, wenn solche Rechtsprechungsanpassungen selten vorkommen.
(c) Reichweite des Art. 79 Abs. 3 GG Eine weitere Episode in der Auseinandersetzung von Senatsmehrheiten mit Sondervoten in ihren Entscheidungen zeigt auf, dass ausbleibende und ausdrückliche Verweise auf frühere Sondervoten zu Unsicherheiten führen können, welche Verfassungsinterpretation vom BVerfG nun mehrheitlich vertreten wird. Die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG ist in der Rechtsprechung des BVerfG seit längerer Zeit umstritten.637 Die Mehrheit des Zweiten Senats fasste im Abhörurteil aus dem Jahr 1970 die Reichweite der Ewigkeitsgarantie zunächst sehr eng: „Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann. Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze.“638
Das Sondervotum der Richter Geller, v. Schlabrendorff und Rupp sah dies erkennbar anders und vertrat ein deutlich weiteres Verständnis der Ewigkeitsgarantie: „Art. 79 Abs. 3 GG erklärt bestimmte Grundsätze der Verfassung für unantastbar. […] Eine solche gewichtige und in ihren Konsequenzen weittragende Ausnahmevorschrift darf sicherlich nicht extensiv ausgelegt werden. Aber es heißt ihre Bedeutung völlig verkennen, wenn man ihren Sinn vornehmlich darin sehen wollte, zu verhindern, daß der formallegalistische Weg eines verfassungsändernden Gesetzes zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht wird. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ein ‚Ermächtigungsgesetz‘ wie das von 1933 unzulässig wäre. Art. 79 Abs. 3 GG bedeutet mehr. Gewisse Grundentscheidungen des Grundgesetzgebers werden für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes – ohne Vorwegnahme einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung – für unverbrüchlich erklärt.“639
Und weiter heißt es: 637 Die folgende Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zu Art. 79 Abs. 3 GG greift zurück auf die Erkenntnisse bei Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 470 ff. 638 BVerfGE 30, 1, 24 – Abhörurteil. 639 BVerfGE 30, 1, 38 f. – Abhörurteil (eigene Hervorhebungen).
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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„Nach Wortlaut und Sinn erfordert die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG nicht, daß die oder einer der Grundsätze vollständig aufgehoben oder ‚prinzipiell preisgegeben‘ werden. Das Wort ‚berührt‘ besagt weniger. Es genügt schon, wenn in einem Teilbereich der Freiheitssphäre des Einzelnen die sich aus Art. 1 und 20 GG ergebenden Grundsätze ganz oder zum Teil außer Acht gelassen werden. […] Die konstituierenden Elemente sollen ‚unberührt‘ bleiben. Sie sollen auch vor dem allmählichen Zerfallsprozeß geschützt werden, der sich entwickeln könnte, wenn den Grundsätzen nur ‚im allgemeinen Rechnung getragen‘ werden müßte.“640
Dies kulminiert in der Formel: „Deshalb sind wir der Auffassung, daß die Sperrvorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG – zwar nicht extensiv, aber – streng und unnachgiebig ausgelegt und angewandt werden sollte. Sie ist nicht zuletzt dazu bestimmt, schon den Anfängen zu wehren.“641
Dieses Sondervotum fand in einer späteren Entscheidung ausdrückliche Zustimmung der dissentierenden Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt: „Der Grundgesetzgeber hat aber in Art. 79 Abs. 3 GG nicht lediglich eine Änderung beziehungsweise Abschaffung von Art. 1 und Art. 20 GG als unzulässig ausgeschlossen, sondern bereits eine, die die in diesen Artikeln niedergelegten Grundsätze berührt. Art. 79 Abs. 3 GG reicht also weiter. Er ist dazu bestimmt, schon den Anfängen eines Abbaues von verfassten Grundrechtspositionen zu wehren, die auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruhen oder der Sicherung der Menschenwürde dienen, und nicht erst dort zu greifen, wo der Rechtsstaat gänzlich aufgehoben werden und die Menschenwürde keinerlei Schutz mehr erfahren soll (vgl. BVerfGE 30, 1; Abweichende Meinung, S. 33 [47]).“642
Eine eher weite Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG blieb also zunächst nicht mehrheitsfähig; die Rechtsansicht des Sondervotums war aber nicht völlig unbeachtet geblieben. Vor diesem Hintergrund muss eine Passage aus dem Lissabon-Urteil im Jahr 2009 überraschen: „Mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie reagiert das Grundgesetz einerseits auf historische Erfahrungen einer schleichenden oder auch abrupten Aushöhlung der freiheitlichen Substanz einer demokratischen Grundordnung.“643
Eine wörtliche Übernahme der vorherigen Quellen findet hier zwar nicht statt, jedoch ähnelt die Formulierung der „schleichenden Aushöhlung“ deutlich der des „allmählichen Zerfallprozeß[es]“ und kann auch inhaltlich als eine Auslegung gedeutet werden, die für eine Funktion des Art. 79 Abs. 3 GG spricht, „schon den Anfängen zu wehren“. Wird sich hier stillschweigend – also ohne Nachweis – den früheren Sondervoten angeschlossen? Hong ist der Ansicht, der Zweite Senat gebe hier „recht deutlich dem Sondervotum zum Abhör640
BVerfGE 30, 1, 41 f. – Abhörurteil. BVerfGE 30, 1, 47 – Abhörurteil. BVerfGE 109, 279, 390– Großer Lauschangriff (eigene Hervorhebungen). 643 BVerfGE 123, 267, 344 – Lissabon. 641 642
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
urteil Recht.“644 Dies ist etwas weitgehend: Zwar ist es nahezu ausgeschlossen, dass bei den Beratungen und dem Abfassen des Urteils die frühere Rechtsprechung – und damit auch die Sondervoten – zur Frage der Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG, einer entscheidenden Norm im Lissabon-Urteil, keine Rolle gespielt haben. Dennoch sollte vorsichtig damit umgegangen werden, Formulierungen, die in die Richtung eines Sondervotums tendieren, als Rechtsprechungsänderung oder Zustimmung zu diesen abweichenden Meinungen zu deuten. Dies gilt hauptsächlich dann, wenn – wie in diesem Beispiel – die frühere Ansicht nicht mit einer Fundstelle ausdrücklich genannt wird. So muss offenbleiben, ob die Übereinstimmungen zufällig waren. Eine weitere Entscheidung in diesem Kontext offenbart aber auch, dass selbst Verweise auf ein Sondervotum nicht immer Klarheit bringen. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 zitierte der Zweite Senat das Sondervotum aus dem Abhörurteil nämlich ausdrücklich: „Ein Verstoß von Art. 91e GG gegen Art. 79 Abs. 3 GG scheidet vor diesem Hintergrund aus. Ein absolutes Verbot der Mischverwaltung lässt sich weder aus dem Demokratienoch aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ableiten […]. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung gilt hingegen ohnehin nur so, wie sie durch das Grundgesetz konkret ausgestaltet ist (vgl. BVerfGE 119, 331 [364]). Selbst wenn man – entgegen der sehr engen Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG durch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 15. Dezember 1970 (BVerfGE 30, 1 [24 ff.]) – mit dem Sondervotum der Richter Geller, von Schlabrendorff und Rupp (vgl. BVerfGE 30, 1 [39]) und Ansätzen in der jüngeren Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte (vgl. BayVerfGHE 52, 104 [122 ff.]; 53, 42 [60 ff.]; Thüringer Verfassungsgerichtshof, LVerfGE 12, 405 [424 ff.]) unverhältnismäßige Beschränkungen oder eine substantielle Erosion der in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze einer Verfassungsänderung entzogen sieht, wird diese Schwelle hier nicht überschritten. Art. 20 Abs. 1 bis Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG hindern den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht, in begrenzten Ausnahmefällen die konkreten Ausprägungen der dort verankerten Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren (vgl. BVerfGE 109, 279 [310]; 132, 195 [244 Rn. 118]). Das hat er mit Art. 91e GG getan.“645
Zunächst ist die Darstellung des Sondervotums Geller/v. Schlabrendorff/Rupp durch die Formulierungen „unverhältnismäßige Beschränkungen oder eine substantielle Erosion“ unpassend. Diese Voraussetzungen sind viel strenger als eine „schleichende Aushöhlung“ oder ein „den Anfängen wehren“, wie das Sondervotum eigentlich postulierte (s. o.).646 Diese nachlässige Darstellung der Minderheitsansicht ist zu kritisieren, sollte die Senatsmehrheit doch, wenn sie andere Interpretationsquellen heranzieht, diese auch korrekt wiedergeben und argumentativ verarbeiten. 644 Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 472. Ebd. stellt er aber auch die folgende Rspr. des BVerfG dar, die wiederum „zurückhaltender“ anmute. 645 BVerfGE 137, 108, 145 – Optionskommunen. 646 Ebenso Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 473.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Ferner ist zu beobachten, dass sich der Senat der „weiten“ Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG durch die Mindermeinung hier nicht angeschlossen, sondern argumentativ genutzt hat: Wenn schon die enge Auslegung nicht zu einem Verfassungsverstoß führe, müsse dies erst recht für die – bisher mehrheitlich in der Rechtsprechung vertretene – weite Auslegung der Ewigkeitsgarantie gelten. Hong vertritt dazu die Ansicht, dass der Senat durch seine Formulierung („sehr engen Interpretation“) „deutlich“ mache, dass er „eher dem Sondervotum zuneigte“.647 Sicherlich lässt sich die ausdrückliche Nennung des Sondervotums als eine implizite Kritik der bisherigen mehrheitlichen Auffassung lesen – ansonsten wäre es wohl kaum genannt worden. Offensichtlich sieht sich der Senat mit dieser weiten Auslegung nicht über jeden Zweifel erhaben, was auch durch die Verweise auf landesverfassungsgerichtliche Urteile deutlich wird. Dass damit aber auch ein inhaltlicher Anschluss oder Sympathien mit der Minderheitsansicht einhergehen, kann dem Text nicht zweifelsfrei entnommen werden. Dies spricht eher dafür, darin ein a maiore ad minus-Argument zu sehen: Wenn schon die weite Auslegung der Minderheit648 nicht zu einer Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG führt, muss dies erst recht für die enge Auslegung gelten. Es bleibt also letztlich unklar, wie der Rückgriff auf das frühere Sondervotum genau zu verstehen ist. Neben der bereits angesprochenen verfälschenden Darstellung der Minderheitsansicht ist misslich, dass der Senat sein Verhältnis zur abweichenden Meinung nicht deutlicher macht. Die Entscheidungen im Bereich von Art. 79 Abs. 3 GG zeigen, dass das BVerfG frühere Sondervoten als Argumentation für die Mehrheitsansicht nutzt und mitunter auch ähnliche Formulierungen wie in abweichenden Meinungen wählt. Letzteres kann zu Unsicherheiten führen, ob sich der Senat nun der früheren Minderheitsansicht angeschlossen hat. Um dies zu vermeiden, sollte sich das BVerfG mit den Sondervoten ausdrücklich in der Entscheidungsbegründung auseinandersetzen. Doch auch wenn sich der Senat explizit mit einer abweichenden Meinung beschäftigt, offenbaren sich mitunter Schwächen, sowohl in der Rezeption der Minderheitsansicht, als auch in der Klarstellung über die eigene Haltung zur abweichenden Meinung. Beides sollte im Interesse einer nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Rechtsprechung vermieden werden.
(d) Menschenwürde und Objektformel Anhand des aus dem vorherigen Abschnitt bereits bekannten Abhörurteils, gleichzeitig Premiere des „offiziellen“ Sondervotums, lässt sich eine weitere interessante Beobachtung aufzeigen.649 Die Senatsmehrheit hatte die bis dahin 647 Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 472. Dort wird auch aufgezeigt, dass der Senat dem Sondervotum eine eigene Prägung gibt. 648 Die hier allerdings falsch dargestellt wird und damit gar nicht „weit“ ist. 649 Die folgende Beobachtung verdankt sich der Darstellung bei Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 422 ff.
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entwickelte Objektformel als Konkretisierung des Schutzbereichs der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG kritisiert: „Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ‚verächtliche Behandlung‘ sein.“650
Die Senatsmehrheit ist also der Ansicht, dass die alleinige Behauptung, ein Mensch werde Objekt der Staatsgewalt, nicht ausreiche, um eine Verletzung der Menschenwürde festzustellen. Die Anforderungen an eine Verletzung der Menschenwürde werden also erhöht. Das – aus dem vorherigen Abschnitt bereits bekannte – Sondervotum der Richter Geller, v. Schlabrendorff und Rupp geht auf diese Aussagen kritisch ein: „Nun muß man sich bei der Beantwortung der Frage, was ‚Menschenwürde‘ bedeute, hüten, das pathetische Wort ausschließlich in seinem höchsten Sinn zu verstehen, etwa indem man davon ausgeht, daß die Menschenwürde nur dann verletzt ist, wenn ‚die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht‘, ‚Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ‚verächtliche Behandlung‘ ist. Tut man dies dennoch, so reduziert man Art. 79 Abs. 3 GG auf ein Verbot der Wiedereinführung z. B. der Folter, des Schandpfahls und der Methoden des Dritten Reichs. Eine solche Einschränkung wird indessen der Konzeption und dem Geist des Grundgesetzes nicht gerecht. Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 GG hat einen wesentlich konkreteren Inhalt. […] Alle Staatsgewalt hat den Menschen in seinem Eigenwert, seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen. Er darf nicht ‚unpersönlich‘, nicht wie ein Gegenstand behandelt werden, auch wenn es nicht aus Mißachtung des Personenwertes, sondern in ‚guter Absicht‘ geschieht. Der Erste Senat dieses Gerichts hat dies dahin formuliert, es widerspreche der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen (BVerfGE 27, 1 [6]; vgl. auch BVerf GE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]; 9, 89 [95]). Damit wird keineswegs lediglich die Richtung angedeutet, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Es ist ein in Art. 1 GG wurzelnder Grundsatz, der unmittelbar Maßstäbe setzt.“651
Nach der Senatsminderheit kommt es auf die Motivlage des Staates bei der Behandlung des Individuums also gerade nicht an; auch in „guter Absicht“ könn650 651
BVerfGE 30, 1, 26 – Abhörurteil (eigene Hervorhebungen). BVerfGE 30, 1, 39 f. – Abhörurteil.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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ten Verletzungen der Menschenwürde geschehen. Damit vertreten die Dissenter ein deutlich strengeres Verständnis der Objektformel und warnen vor einem Abrücken durch zusätzliche Anforderungen. Auf die nachfolgende Rechtsprechung zum Gehalt der Menschenwürde hatte die Ansicht der Senatsmehrheit keine durchschlagende Auswirkung mehr; das BVerfG blieb bei der reinen Objektformel.652 Ob dies allein dem Sondervotum zugesprochen werden kann, ist nicht beweisbar. Dessen Einfluss auf die weitere Rechtsprechung ist aber offensichtlich: Nachdem die Senatsmehrheit eine andere Interpretation der Verletzungen von Menschenwürde angedeutet hatte und von der Minderheit des Senats dafür kritisiert wurde, vertrat das Gericht in der Folge nicht die von der Mehrheit vorgeschlagene angepasste Interpretation, sondern folgte im Ergebnis dem Sondervotum und blieb bei der vorangegangenen Rechtsprechung. Dies kann kein Zufall sein und zeigt hier die Funktion des Sondervotums, pluralistische Verfassungsinterpretationen zu ermöglichen, noch in einem anderen Gewand: So kann eine abweichende Meinung auch dafür Sorge tragen, eine angedeutete Entwicklung in der Rechtsprechung abzuwenden.
(e) Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren Die Bundeswehr hatte sich Anfang der 1990er Jahre mit AWACS-Radarüberwachungsflugzeugen an einer Operation gegen Serbien beteiligt, die unter der Leitung der NATO und der Westeuropäischen Union (WEU) stand. Ziel des Einsatzes war es, ein vom UN-Sicherheitsrat beschlossenes Flugverbot gegen Serbien im Luftraum von Bosnien-Herzegowina durchzusetzen. Gegen den Beschluss der Bundesregierung, sich an dieser Mission zu beteiligen, wandten sich die SPD- und die FDP-Fraktion im Wege des Organstreitverfahrens. Die FDP war zu diesem Zeitpunkt als Koalitionspartner der CDU/CSU Teil der Bundesregierung.653 Eine der Kernfragen dieses Verfahrens war, ob der Antrag FDP zulässig war, da sich die Fraktion bei der Abstimmung im Bundestag – im Gegensatz zur Oppositions-Fraktion der SPD – nicht darum bemüht hatte, die Maßnahmen der Bundesregierung zu verhindern.654 Die Senatsmehrheit lehnte es ab, daraus eine Unzulässigkeit wegen vorheriger Untätigkeit der FDP abzuleiten: „Der Einwand, die F. D. P.-Fraktion dürfe das Gericht nicht anrufen, solange sie nicht versucht habe, die nach ihrer Auffassung verfassungswidrige Regierungsmaßnahme durch einen Beschlußantrag im Deutschen Bundestag zu Fall zu bringen, greift nicht durch. Abgesehen davon, daß die F. D. P.-Fraktion hiermit nicht eine verbindliche Klä652 Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 423 m. w. Nachw. zur Rspr.; Dreier, in: Dreier GG-Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 55 m. w. Nachw. zum Schrifttum. 653 Zum Sachverhalt vgl. BVerfGE 90, 286, 305 ff. – AWACS. 654 BVerfGE 90, 286, 313, 338 – AWACS.
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rung der Rechte des Bundestages erreichen könnte, die der Organstreit ihr gemäß §§ 67, 31 BVerfGG eröffnet, würde die F. D. P.-Fraktion damit auf den Weg des politischen Konflikts mit der von ihr mitgetragenen Bundesregierung und mit dem Koalitionspartner innerhalb des Parlaments verwiesen. Vom Verfahrensrecht des Bundesverfassungsgerichts darf ein solcher mittelbarer Zwang zu einem bestimmten politischen Verhalten nicht ausgehen. Steht einem Antragsteller die prozeßrechtliche Antragsbefugnis zu, so darf er ohne Rücksicht auf seine politischen Motive davon auch dann Gebrauch machen, wenn ihm daneben politische Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die angegriffene Maßnahme zu Fall zu bringen. Der Organstreit ist demgegenüber nicht subsidiär.“655
Dass der Fraktion politische Mittel im Parlament zur Verfügung standen, schließt nach Ansicht der Senatsmehrheit ein späteres Organstreitverfahren also trotz vorheriger Untätigkeit nicht aus. Die Richter Böckenförde und Kruis kritisierten diese Auslegung der Senatsmehrheit in ihrer abweichenden Meinung. Sie stellen insbesondere auf Sinn und Zweck des Organstreitverfahrens ab, der solche Anträge ausschließe, „die gar nicht die Verteidigung der Rechte des Parlaments bezwecken, sondern dies als juristische Einkleidung benutzen, um andere (politische) Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen“.656 Daher sei von einem Antragsteller im Organstreitverfahren zu verlangen, dass er zuvor parlamentarische Maßnahmen anstrenge: „Um solcher Instrumentalisierung des Organstreitverfahrens für Zwecke, die außerhalb seines Rechtsschutzzieles liegen, entgegenzuwirken, kann und muß – entgegen der Auffassung des Senats – von einem Antragsteller, der in Prozeßstandschaft die Verletzung von Rechten des Parlaments geltend macht, verlangt werden, daß er zuvor ihm zur Verfügung stehende politische Wege im Parlament beschreitet, um eine Verletzung der Parlamentsrechte hintanzuhalten. Der Beschwerdeführer wird insoweit, wie der Senat zu Recht ausführt, nicht auf anderweitige gleichwertige Rechtsschutzmöglichkeiten verwiesen. Er hat in dieser Weise jedoch erkennbar zu machen, daß es ihm ernsthaft um die Verteidigung der Parlamentsrechte geht. Eine solche Subsidiarität ist das folgerichtige Gegenstück zur Eröffnung des Organstreitverfahrens auch für Organteile des Parlaments aus Gründen des Minderheitsrechts, um Rechte des Parlaments selbst geltend zu machen.“657
Aufgrund dieser Maßstäbe konstatieren die dissentierenden Richter, dass die FDP-Fraktion „nichts unternommen“ habe, etwa einen „Entschließungsantrag“ zur Verhinderung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an dem Auslandseinsatz.658 Es gehe der Fraktion erkennbar darum, die materiellen Verfassungsfragen „gewissermaßen durch ein Gutachten entscheiden zu lassen“ und gerade 655
BVerfGE 90, 286, 339 – AWACS (eigene Hervorhebungen). BVerfGE 90, 286, 391 f. – AWACS. BVerfGE 90, 286, 392 – AWACS (eigene Hervorhebungen). 658 BVerfGE 90, 286, 393 – AWACS. 656 657
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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nicht darum, im Wege der Prozessstandschaft die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung zu verteidigen.659 In der vorherigen Rechtsprechung hatte sich noch ein anderes Bild gezeigt. Die im Sondervotum sehr deutlich formulierten Restriktionen der Zulässigkeit von Organstreitverfahren finden sich nämlich in der Pershing-Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 1984 in ähnlicher Form wieder: „Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dient das Organstreitverfahren zwischen einer Fraktion des Bundestages und einem anderen obersten Bundesorgan unter anderem dem Schutz der in der Fraktion verkörperten Parlamentsminderheit […]. Dieser Gedanke ist auch dort nicht ohne weiteres unbeachtlich, wo die Fraktion nicht eigene Rechte, sondern – wie hier – Rechte des Bundestages geltend macht: Wäre die antragstellende Fraktion in der Lage gewesen, die nunmehr gerügte Verletzung der Rechte des Bundestages durch eigenes Handeln rechtzeitig zu vermeiden, so wäre es zumindest fragwürdig, ihr Rechtsschutzbedürfnis für ein Organstreitverfahren ungeachtet ihrer diesbezüglichen parlamentarischen Untätigkeit anzuerkennen. Auf diese Weise hätte es die betreffende Fraktion in der Hand, ohne triftigen Grund parlamentarisches Handeln durch verfassungsgerichtliche Schritte zu ersetzen. Die in einem solchen Vorgehen liegende Politisierung des Organstreitverfahrens liefe dem Grundgedanken von Verfassungsgerichtsbarkeit zuwider. Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ist es, in den gesetzlichen Verfahrensarten anhand rechtlicher Maßstäbe darüber zu entscheiden, ob zumal bei Ausübung öffentlicher Gewalt – und sei es auch in hochpolitischen Angelegenheiten – die Verfassung beachtet worden ist; es ist indes nicht ihre Aufgabe, ersatzweise politische Entscheidungen zu treffen, etwa parlamentarischen Mehrheiten oder Minderheiten zu politisch erwünschten Ergebnissen zu verhelfen oder ihnen politisch unerwünschte Ergebnisse zu vereiteln. Daß Entscheidungen der Verfassungsgerichtsbarkeit politische Auswirkungen haben, liegt in der Natur der Entscheidungsgegenstände und letztlich darin begründet, daß das Gemeinwesen die politische Grundentscheidung getroffen hat, die Ausübung öffentlicher Gewalt einer Rechtsordnung zu unterstellen und über deren Beachtung Gerichte entscheiden zu lassen.“660
Hier verortet der Senat die Problematik zwar beim Rechtsschutzbedürfnis, anders als Böckenförde/Kruis, die von der Subsidiarität des Organstreitverfahrens gegenüber parlamentarischen Maßnahmen sprachen, inhaltlich gehen die Anforderungen an den Antragsteller aber in die gleiche Richtung. Im damals zu entscheidenden Pershing-Fall hatte die Senatsmehrheit das Rechtsschutzbedürfnis der antragstellenden Fraktion – die oppositionelle Grünen-Fraktion – allerdings bejaht. Deren „parlamentarische Untätigkeit“ habe ihr nicht entgegengehalten werden können, weil ihr lediglich die Einbringung eines Ge659 BVerfGE 90, 286, 394 – AWACS. Sehr deutlich auch ebd.: „Die ursprünglich in § 97 BVerfGG vorgesehene Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, auf Antrag Rechtsgutachten zu erstatten, ist aber durch den Gesetzgeber 1956 abgeschafft worden. Organstreitverfahren und Prozeßstandschaft können nicht dazu dienen, sie auf diese Weise hintenherum, noch dazu für ursprünglich nicht vorgesehene Antragsteller, wieder einzuführen; das Bundesverfassungsgericht braucht sich dafür nicht in Anspruch nehmen zu lassen.“ 660 BVerfGE 68, 1, 77 f. – Pershing (eigene Hervorhebungen).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
setzesentwurfs möglich gewesen wäre, der aber im Bundestag keine Mehrheit gefunden hätte.661 Diese Maßnahmen „hätte den gegenwärtigen Streit nicht verhütet“.662 Im Zusammenhang mit dem späteren Sondervotum Böckenförde/ Kruis ist es erstaunlich, dass diese frühere Entscheidung von den dissentierenden Richtern nicht wirklich verarbeitet wird,663 zumal Böckenförde bereits bei der früheren Entscheidung dem Senat angehörte.664 Festzuhalten bleibt, dass der Zweite Senat bereits die vorherige Untätigkeit einer (Oppositions-)Fraktion als Parameter für die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens ins Spiel brachte, das Sondervotum Böckenförde/Kruis diese Anforderungen konkretisierte und – im Gegensatz zur damaligen Senatsmehrheit – die Zulässigkeit daran scheitern ließ. Die frühere Tendenz des Senats, die Zulässigkeit der Organstreitverfahren strenger zu beschränken, wurde von der Senatsmehrheit also zunächst nicht weiterverfolgt.665 In der weiteren Rechtsprechung des BVerfG wurde das Sondervotum Böckenförde/Kruis jedoch mehrfach zitiert. So ging es bei einem Verfahren im Jahr 2008 erneut darum, ob der Einsatz deutscher Soldaten im Ausland der Zustimmung des Bundestags bedurfte.666 In der Entscheidungsbegründung wurde die abweichende Meinung zitiert, ohne sie jedoch als solche bei der Angabe der Fundstelle kenntlich zu machen: „Die Antragstellerin hat, indem sie im Deutschen Bundestag den Entschließungsantrag einbrachte, der auf die Einholung der Zustimmung des Bundestags für den AWACSEinsatz in der Türkei gerichtet war, auch die ihr möglichen Schritte unternommen, den Bundestag dazu zu veranlassen, seine Rechte geltend zu machen (vgl. BVerfGE 90, 286 [392 f.]).“667
In der Sache bedeutet dies eine Übernahme der Auffassung des Sondervotums, da indirekt von der Parlamentsfraktion gefordert wird, vor Antragsstellung parlamentarische Schritte zu unternehmen. Damit wird der Ansicht der Senatsmehrheit der vorherigen Entscheidung widersprochen, die einer solchen Pflicht des Antragstellers noch eine klare Absage erteilt hatte (s. o.). Insofern ist es erstaunlich, dass eine Auseinandersetzung mit dieser Kontroverse hier überhaupt 661
BVerfGE 68, 1, 78 – Pershing.
662 BVerfGE 68, 1, 78 – Pershing. 663 Auf das Verfahren wird nur einmal
kurz hingewiesen vgl. BVerfGE 90, 286, 391 – AWACS. 664 BVerfGE 68, 1, 111 – Pershing. 665 Ähnlich Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 64, Rn. 46, der davon spricht, dass der frühere „Ansatz […] zwar nicht ausdrücklich aufgegeben, aber in späteren Entscheidungen der Sache nach weitgehend zurückgedrängt“ wurde. 666 BVerfGE 121, 135 – Luftraumüberwachung Türkei. 667 BVerfGE 121, 135, 153 – Luftraumüberwachung Türkei. Der Antragsteller (FDP-Fraktion) hatte einen Entschließungsantrag im Bundestag gestellt, die „Zustimmung des Deutschen Bundestags für die Beteiligung deutscher Soldaten an den AWACS-Einsätzen über der Türkei unverzüglich zu beantragen“, welcher mehrheitlich abgelehnt wurde, ebd., 140.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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nicht stattfindet, sondern diese zusätzlichen Anforderungen stillschweigend übernommen werden. Ob diese Voraussetzungen nun vom Senat generell, also auch für die zukünftige Rechtsprechung, aufgestellt werden, lässt sich dieser kurzen Passage nicht entnehmen. Der Verweis auf das Sondervotum Böckenförde/Kruis ist auch an anderer Stelle, dort aber explizit, zu finden. Die Senatsmehrheit möchte dort klarstellen, dass es hier nicht um eine „abstrakte Rechtsfrage geht“, die vom BVerfG gutachterähnlich beantwortet werden soll. Dies war ein weiterer Kritikpunkt des damaligen Sondervotums (s. o.): „Gegen das Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin bestehen keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Möglichkeit, beim Bundesverfassungsgericht die Erstattung eines Rechtsgutachtens zu beantragen (vgl. dazu im Fall des AWACS-Einsatzes zur Überwachung der Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina im Jahr 1993 BVerf GE 90, 286 [390 ff.] – Sondervotum der Richter Böckenförde und Kruis). Gegenstand des vorliegenden Organstreits ist keine abstrakte Rechtsfrage, sondern eine konkrete Unterlassung, deren Verfassungsmäßigkeit nachträglich durch das Bundesverfassungsgericht geprüft werden soll.“668
Für die Senatsmehrheit hat das Sondervotum also durchaus eine größere Rolle gespielt. Die dort aufgestellten – strengeren – Voraussetzungen der Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens werden genannt und auch anhand des konkreten Falls geprüft. Ob damit ein grundsätzlicher Anschluss an die Minderheitsmeinung stattfindet oder lediglich Kritiker*innen im Vorhinein Wind aus den Segeln genommen werden soll, lässt sich nicht ablesen. Dass aufgrund dieser Entwicklung gewisse Unklarheiten über die Voraussetzungen des Organstreitverfahrens bestehen, lässt sich einer Entscheidung aus jüngster Vergangenheit entnehmen. Diese hatte die Frage zum Gegenstand, ob ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags, gegen den parlamentarische Ordnungsmaßnahmen verhängt wurden, vor Einleitung des Organstreitverfahrens die parlamentsrechtlichen Einspruchsverfahren durchführen muss.669 Dazu heißt es in der Entscheidungsbegründung: „Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll vermieden werden, einen Antragsteller vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts auf allgemeine politisch-parlamentarische Handlungsmöglichkeiten zu verweisen und ihn durch das verfassungsgerichtliche Verfahrensrecht im Wege mittelbaren Zwangs zu einem bestimmten politischen Verhalten und in einen politischen Konflikt zu drängen (vgl. BVerfGE 90, 286 ⟨339 f.⟩; 104, 151 ⟨198⟩; 129, 356 ⟨374 f.⟩). Demgegenüber bestanden seit jeher Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis für ein Organstreitverfahren, wenn ein Antragsteller völlig untätig geblieben ist, obwohl er in der Lage gewesen wäre, die nunmehr gerügte Rechtsverletzung durch eigenes Handeln rechtzeitig zu vermeiden; demgemäß wurde 668 669
BVerfGE 121, 135, 151 – Luftraumüberwachung Türkei. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019 – 2 BvE 2/18 – Foto Wahlzettel.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
verlangt, dass ein Antragsteller die ihm möglichen Schritte unternimmt, um seinem Ziel zur Durchsetzung zu verhelfen (vgl. BVerfGE 68, 1 ⟨77⟩; 121, 135 ⟨153⟩, unter Bezugnahme auf BVerfGE 90, 286 ⟨392 f.⟩).“670
Der Senat verweist hier sowohl auf das Sondervotum von Böckenförde und Kruis671, als auch auf die Senatsmehrheit der AWACS-Entscheidung. Auch die jenes Sondervotum zitierende spätere Entscheidung des Zweiten Senats wird aufgeführt.672 Die Kontroverse wird allerdings nicht sehr transparent gehalten: Das Sondervotum Böckenförde/Kruis wird wiederum nicht als solches deklariert, sondern lediglich die Fundstelle zitiert, wodurch der Eindruck entstehen muss, es handle sich um eine Rechtsansicht, die in einer Entscheidungsbegründung festgehalten wurde. Dass „seit jeher Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis“ bestanden, wie es der Senat nunmehr ausdrückt, ist nicht abzustreiten – fraglich ist nur, wer bisher daran zweifelte und was daraus folgt. Immerhin wird diese Kontroverse hier aber überhaupt offenbart, was in anderen Entscheidungen gänzlich unterblieb.673 Der Senat setzt sich anschließend nicht weiter mit der früheren abweichenden Meinung auseinander, sondern entwirft eine neue Differenzierung danach, welche Handlungsoptionen dem Antragsteller im parlamentarischen Betrieb zur Verfügung standen: „Zwar soll einem Antragsteller nicht unter pauschalem Hinweis auf allgemeine politische Handlungsalternativen der Zugang zu einem verfassungsgerichtlichen Verfahren abgeschnitten werden. Dies kann etwa politische Beschlussanträge zur Durchsetzung von Rechten des Bundestages gegenüber der Bundesregierung betreffen, bei denen es sich um politisch-parlamentarische Optionen handelt, die zwar eine Entscheidung in der Sache herbeizuführen vermögen, aber das eigentliche Verfassungsrechtsverhältnis der sich im kontradiktorischen Parteistreit […] gegenüberstehenden Organe nicht betreffen oder gar 670 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019 – 2 BvE 2/18, Rn. 30 – Foto Wahlzettel. 671 BVerfGE 90, 286, 392 f. – AWACS. 672 BVerfGE 121, 135, 153 – Luftraumüberwachung Türkei. 673 In der zitierten Entscheidung BVerfGE 104, 151, 198 – Nato-Konzept wird vom BVerfG sich nur kurz der Mehrheitsmeinung aus der AWACS-Entscheidung ohne weitere Diskussionen oder Bezugnahme auf das Sondervotum angeschlossen: „Die Antragstellerin hat ein Rechtsschutzbedürfnis. […] Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein im Übrigen zulässiger Antrag im Organstreitverfahren nicht deshalb unzulässig ist, weil der Antragsteller politisch-parlamentarische Handlungsmöglichkeiten nicht ergriffen hat (vgl. BVerGE 90, 286 [339]).“ In der zitierten Entscheidung BVerfGE 129, 356, 374 – Veräußerung Deutsche Bahn AG wird vom Senat ebenfalls nur die Mehrheitsmeinung aus der AWACS und späteren Entscheidungen (u. a. NATO-Konzept) dargestellt. Das Rechtsschutzbedürfnis wurde im konkreten Fall allerdings abgelehnt, da die Rüge des Antragstellers (Fraktion DIE LINKE) das Bestehen eines Rechts (die notwendige Zustimmung des Bundestages zur Veräußerung von Vermögensgegenständen der Deutschen Bahn AG) formulierte, welches „bislang nicht in Erwägung gezogen worden“ sei, ebd., 375. Mit der Kontroverse zwischen Mehrheit und Minderheit in der AWACS-Entscheidung, aber auch mit Ansätzen in der früheren Rechtsprechung, wird sich also nicht beschäftigt.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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klären können. Von derartigen diffusen Handlungsmöglichkeiten sind aber diejenigen Handlungsoptionen abzugrenzen, die nicht politisch, sondern normativ vorgesehen sind, gerade um ein Verfassungsrechtsverhältnis erst zu konkretisieren, zu gestalten und gegebenenfalls zu klären. Deshalb hat der Senat zuletzt auch das Rechtsschutzbedürfnis für einen Organstreit verneint, in dem eine Antragstellerin versäumt hatte, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte einzufordern. Eine solche Verpflichtung (‚Konfrontationsobliegenheit‘) ist lediglich Konsequenz des Charakters des Organstreits als kontradiktorisches Verfahren, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist (vgl. BVerfGE 147, 31 ⟨37 f. Rn. 19⟩). Sie ist für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten.“674
Diese Abschichtung dürfte dem Sondervotum Böckenförde/Kruis widersprechen, da dort eine solche Einschränkung nicht zu finden ist. Vielmehr wurde dort von den Richtern bemängelt, dass keine „Initiative zu einem Parlamentsbeschluß“ ergriffen worden war,675 was nach der neuesten Entscheidung des BVerfG unter die Kategorie „politische Beschlussanträge“ fallen dürfte, die dem Antragsteller den Zugang zum Organstreitverfahren nicht verbauen dürfe.676 Eine explizite Abgrenzung zum früheren Sondervotum wird hier aber ebenfalls nicht vorgenommen, obwohl es – was die Verweisungen offenbaren – in der Beratung oder beim Abfassen der Entscheidungsbegründung eine Rolle gespielt haben muss. Zwar liegen beide Fälle anders, eine deutlichere Auseinandersetzung mit vorhandenen Interpretationsansätzen ist aber wünschenswert. Während es in einer früheren Entscheidung677 noch teilweise den Anschein hatte, als würde sich das BVerfG einem Sondervotum stillschweigend anschließen, offenbart die neueste Rechtsprechung, dass eine differenzierte Betrachtung gewählt wird, dem Sondervotum also nicht ohne Einschränkungen gefolgt wird. Diese Episode der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zeigt, dass durch die Auseinandersetzung mit Sondervoten Unsicherheit darüber entstehen kann, auf welcher Linie sich die Senatsrechtsprechung aktuell befindet. Rechtsprechungsänderungen oder -anpassungen bedürfen aber eines deutlichen Hinweises, da sie ansonsten von den Rechtsunterworfenen nur mühsam beachtet werden können. Es ist daher angezeigt, sich mit Sondervoten explizit in der Entscheidungsbegründung zu beschäftigen und eine klare Haltung zur Minderheitsansicht einzunehmen. Nur dann können die Sondervoten einen wertvollen Beitrag zur Rechtsprechung liefern. Die Fragen der Zulässigkeit von Verfassungsgerichtsverfahren betrifft zwar nicht direkt die Interpretation von Verfassungsrecht. Jedoch steht die Frage des Zugangs zum Gericht damit in einem un674
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019 – 2 BvE 2/18 –, Rn. 31 – Foto Wahlzettel. 675 BVerfGE 90, 286, 392 – AWACS. 676 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019 – 2 BvE 2/18 –, Rn. 31 – Foto Wahlzettel. 677 BVerfGE 121, 135, 153 – Luftraumüberwachung Türkei.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
trennbaren Zusammenhang, wird doch darüber entschieden, ob es überhaupt zu einer Interpretation materiellen Verfassungsrechts kommt. Dies rechtfertigt die Darstellung dieser Rechtsprechungsentwicklung innerhalb dieses Abschnittes der Untersuchung.
(f) Recht auf selbstbestimmtes Sterben In einer mit Spannung erwarteten Entscheidung formte der Zweite Senat des BVerfG Anfang 2020 aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ und erklärte § 217 StGB, der ein Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung statuierte, für verfassungswidrig und nichtig.678 Während die Entscheidung selbst ohne Sondervotum erging,679 zitierte das Gericht in der Urteilsbegründung drei verschiedene Sondervoten.680 Der Senat nutzt hier Argumentationsweisen in abweichenden Meinungen die sich kritisch mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von strafrechtlichen Normen, insbesondere abstrakten Gefährdungsdelikten, auseinandersetzen. Dies ist kein grundsätzliches Abweichen von grundlegenden Rechtsprechungslinien oder gar eine Rechtsprechungsänderung. Dieses Beispiel zeigt aber, dass abweichende Meinungen als Argumentationsquelle für schwierige Interpretationsfragen vom BVerfG genutzt werden. Das Fruchtbarmachen von Sondervoten für die spätere Rechtsprechung ist also kein theoretisches Konstrukt, sondern wird vom BVerfG auch praktiziert. Diese (spannende) Entwicklung zu beobachten bleibt zukünftig Aufgabe der Rechtswissenschaft. Eine wichtige Frage im Verfahren war, ob der Gesetzgeber mit § 217 StGB einen legitimen Zweck verfolgt.681 Dieser lag nach der Ansicht des Senats in dem Ziel des „Autonomie- und des Lebensschutzes“ und damit der „Erfüllung einer in der Verfassung begründeten staatlichen Schutzpflicht“ (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) grundsätzlich vor. Dabei zeigt der Senat aber auch die Grenzen auf und zitiert ein Sondervotum des Richters Hassemer: „In Wahrnehmung dieser Schutzpflicht ist der Gesetzgeber nicht nur berechtigt, konkret drohenden Gefahren für die persönliche Autonomie von Seiten Dritter entgegenzuwirken. Er verfolgt auch insoweit ein legitimes Anliegen, als er verhindern will, dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt. Allerdings kann der Erhalt eines tatsächlich bestehenden oder mutmaßlichen 678 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben. 679 Ob die Entscheidung auch einstimmig verabschiedet wurde ist nicht rekonstruierbar, da der Senat dazu keine Mitteilung machte. Allein daraus, dass kein uneinheitliches Stimmenverhältnis mitgeteilt wurde, kann man keine Schlüsse für eine Einstimmigkeit der Entscheidung ziehen. 680 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 210, 234, 270, 271. 681 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 231 ff.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Konsenses über Werte- oder Moralvorstellungen nicht unmittelbares Ziel strafgesetzgeberischer Tätigkeit sein (vgl. BVerfGE 120, 224 ⟨264⟩, abw. Meinung Hassemer). Suizidhilfe ausschließlich deshalb zu verbieten, weil die Selbsttötung und die Hilfe hierzu in Widerspruch zu der Mehrheitsauffassung in der Gesellschaft stehen, wie mit dem eigenen Leben, insbesondere im Alter und bei Krankheit, umzugehen ist, ist deshalb kein legitimes gesetzgeberisches Ziel. Ein Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe allein zu dem Zweck, hierdurch die Anzahl assistierter Suizide gering zu halten, ist daher ebenso unzulässig wie jede Zielsetzung, die die Entscheidung des mit autonomem Willen handelnden Grundrechtsträgers, sich mit der Unterstützung Dritter bewusst und gewollt selbst zu töten, als solche missbilligt, tabuisiert oder mit einem Makel belegt.“682
Letztlich sind diese Ausführungen als ein allgemeiner Appel an den Gesetzgeber zu lesen, denn im konkreten Verfahren wurde ein legitimer Zweck vom Gericht angenommen. Dennoch ist es interessant, dass hierzu auf ein Sondervotum Hassemers Rückgriff genommen wird. Dieses erging zur Entscheidung des Zweiten Senats über die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit des Geschwisterinzests nach § 173 Abs. 2 S. 2 StGB.683 Hier hatte Hassemer damit argumentiert, dass der Gesetzgeber bei dieser Regelung keinen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt und der Senat einen solchen auch nicht angeführt habe.684 Er warnte davor, die Anforderungen an einen legitimen Zweck zu marginalisieren: „Der Aufbau oder der Erhalt eines gesellschaftlichen Konsenses über Wertsetzungen – hier das Verbotensein des Beischlafs zwischen Geschwistern – aber kann nicht unmittelbares Ziel einer Strafnorm sein.“685
Indem der Senat auf diese Stellen der abweichenden Meinung hinweist, macht er deutlich, dass er einer strengeren Kontrolle des legitimen Zwecks zuneigt und eine Strafbarkeit qua Moralvorstellungen strikt zu unterbinden versucht. Dies mag man als Warnung sehen, die der Gesetzgeber bei der Neuregelung – der § 217 StGB wurde für nichtig und eine Regulierung durch den Gesetzgeber ausdrücklich für zulässig erklärt –686 zu beachten hat. Das zweite Zitat eines Sondervotums findet sich im Kontext der Herleitung eines „Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Dort heißt es: 682 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 233 f. 683 BVerfGE 120, 224 – Inzestverbot. 684 BVerfGE 120, 224, 263 – Inzestverbot. 685 BVerfGE 120, 224, 264 – Inzestverbot. Weiter heißt es ebd., 265: „Schließlich macht der Senat auch kein Hehl daraus, dass er gegen den strafrechtlichen Schutz einer ‚kulturhistorisch begründeten gesellschaftlichen Überzeugung‘ von der Strafwürdigkeit des Inzests letztlich nichts einzuwenden hat. Ich halte das für den Schutz einer gesellschaftlichen Moralvorstellung.“ 686 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 337 ff. Vgl. dazu den Regelungsvorschlag von Lindner, ZRP 2020, S. 66 ff.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Ausdruck personaler Freiheit nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt. Das den innersten Bereich individueller Selbstbestimmung berührende Verfügungsrecht über das eigene Leben ist insbesondere nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. Abgesehen davon, dass eine solche Einschränkung in der Praxis zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten führen würde, träte sie in Widerspruch zu der das Grundgesetz bestimmenden Idee von der Würde des Menschen und seiner freien Entfaltung in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung (vgl. BVerfGE 80, 138 ⟨154⟩ für die allgemeine Handlungsfreiheit). Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird (vgl. BVerfGE 49, 286 ⟨298⟩; 115, 1 ⟨14⟩). Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht (vgl. BVerfGE 128, 282 ⟨308⟩; 142, 313 ⟨339 Rn. 74⟩ für Heileingriffe). Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ‚ureigensten Bereich der Personalität‘ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden (vgl. BVerfGE 52, 131 ⟨175⟩ abw. Meinung Hirsch, Niebler und Steinberger für ärztliche Heileingriffe). Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“687
Das zitierte Sondervotum von Hirsch, Niebler und Steinberger erging zu einer Entscheidung über die Haftung von Ärzt*innen bei heilärztlichen Behandlungen.688 Der Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde hatte sich gegen ein oberlandesgerichtliches Urteil gewendet, welches seine Klage auf Schadensersatz wegen eines ärztlichen Kunstfehlers abgewiesen hatte.689 In diesem Kontext wurde auch eine Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht thematisiert. Während nach der Auffassung der Senatsmehrheit das zivilrechtliche Urteil einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhielt, war das Sondervotum anderer Ansicht.690 Es verortet die „normative Wurzel“ vom „Erfordernis der Einwilligung auch zu diagnostischen, zu vorbeugenden und zu Heileingriffen […] in den grundlegenden Verfassungsprinzipien […] Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, 2 687 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 210 (eigene Hervorhebungen). 688 BVerfGE 52, 131 – Arzthaftungsprozess. 689 Zum Sachverhalt vgl. BVerfGE 52, 131, 143 ff. – Arzthaftungsprozess. 690 BVerfGE 52, 131, 165 ff., Sondervotum 171 ff. – Arzthaftungsprozess.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Satz 1 GG“.691 Die in der späteren Entscheidung zur Strafbarkeit der Selbsttötung zitierte Stelle des Sondervotums verhält sich sehr grundsätzlich zur Funktion von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG: „Die Vorschrift ist eine besondere Verbürgung der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten freien Entfaltung der Person. Die Bestimmung über seine leiblich-seelische Integrität gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist er aus der Sicht des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu leben und zu entscheiden. Eben diese Freiheit zur Selbstbestimmung wird – auch gegenüber der normativen Regelung ärztlicher Eingriffe zu Heilzwecken – durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders hervorgehoben und verbürgt. Denn auch der zu Heilzwecken vorgenommene Eingriff tastet die leibliche und gegebenenfalls auch die seelische Integrität des Menschen an.“692
Der Zweite Senat überträgt also die Argumentation zur notwendigen „Freiheit zur Selbstbestimmung“ bei ärztlichen Eingriffen auf die selbstbestimmte Lebensbeendigung (s. o.). Die Fallkonstellationen sind erkennbar verschieden, betreffen aber beide die verfassungsrechtlich abgesicherte Selbstbestimmung des Individuums. Der Senat bedient sich eines Sondervotums, welches die Selbstbestimmung besonders ernst nimmt, um sein weitergehendes Verständnis des Selbstbestimmungsrechts argumentativ zu unterfüttern. Der dritte und letzte Hinweis auf ein früheres Sondervotum findet im Kontext der Frage statt, ob der Einsatz einer strafrechtlichen Regelung zum Schutz der Selbstbestimmung des Betroffenen verfassungsrechtlich legitim war: „Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung das Konzept eines bereichsspezifischen Rechtsgüterschutzes. § 217 StGB verbietet das geschäftsmäßige Gewähren, Verschaffen oder Vermitteln einer Gelegenheit zur Selbsttötung als das Leben abstrakt gefährdende Handlung (vgl. BTDrucks 18/5373, S. 3, 14; vgl. auch Rn. 25). Das abstrakte Gefährdungsdelikt ist ein idealtypisches Instrument für einen vorbeugenden Rechtsgüterschutz. Es wirkt Gefahrenquellen in Form typisierter Risiken entgegen, ohne dass ein konkretes Schutzgut in seiner Existenz oder Sicherheit effektiv betroffen zu sein braucht (vgl. dazu bereits Rn. 25; vgl. allgemein Heine/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 306 Rn. 4; vgl. auch BVerfGE 90, 145 ⟨203 f.⟩, abw. Meinung Graßhof; Kasper, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 410). Durch diese Vorverlagerung des strafrechtlichen Schutzes werden zwar notwendigerweise auch Verhaltensweisen strafbewehrt, die im konkreten Einzelfall bei rückwirkender Betrachtung gar nicht zu einer Gefährdung hätten führen können (vgl. Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 94; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 186). Verfassungsrechtlich ist der Gesetzgeber aber grundsätzlich nicht gehindert, aus generalpräventiven Gründen Handlungen, die lediglich generell geeignet sind, Rechtsgüter zu gefährden, unter Umständen schon in einem frühen Stadium zu unterbinden (vgl. BVerfGE 28, 175 ⟨186, 188 f.⟩; 90, 145 ⟨184⟩; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. August 1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. –, Rn. 92; kritisch BVerfGE 90, 145 ⟨205 f.⟩, 691 692
BVerfGE 52, 131, 173 – Arzthaftungsprozess. BVerfGE 52, 131, 175 – Arzthaftungsprozess.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
abw. Meinung Graßhof ). Anderenfalls nähme man dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Gefahren für hochrangige Rechtsgüter zu begegnen, die aufgrund fehlender gesicherter wissenschaftlicher oder empirischer Erkenntnisse nicht exakt einschätzbar sind (vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 572 f.). Im Einzelfall wird die Berechtigung zum Rückgriff auf den abstrakten Rechtsgüterschutz maßgeblich durch die Bedeutung des zu schützenden Rechtsguts bestimmt (vgl. Jäger, JZ 2015, S. 875 ⟨882⟩).“693
Interessant ist, dass der Senat sowohl die Cannabis-Entscheidungsbegründung694, als auch das dazu ergangene Sondervotum Graßhofs695 zitiert. In der damaligen Entscheidung ging es um die Vereinbarkeit der umfassenden Bestrafung von Cannabiskonsum mit der Verfassung. Die Senatsmehrheit sah die strafrechtliche Verfolgung des Konsums wegen des Schutzes der Bevölkerung „vor den von der Droge ausgehenden Gesundheitsgefahren sowie vor der Gefahr einer psychischen Abhängigkeit von der Droge“ als gerechtfertigt an.696 Das Sondervotum, eine concurring opinion, der Richterin Graßhof, sah ebenfalls abstrakte Gefährdungsdelikte zur Prävention als zulässiges Mittel des Gesetzgebers an.697 Sie betonte aber auch ausführlich notwendige Begrenzungen dieses Vorgehens: „Allerdings setzt die Verfassung einer Entwicklung Grenzen, die – bedingt durch die ständig fortschreitende Differenzierung des sozialen Lebens und des technischen Fortschritts – den strafrechtlichen Schutz derartiger Rechtsgüter immer weiter vorverlegt.“698 „Je weiter etwa die verbotenen – abstrakt gefährlichen – Handlungen im Vorfeld der eigentlichen Verletzungshandlung liegen, je mehr Reaktionsmöglichkeiten bleiben dem Staat und je seltener ist es erforderlich, das Strafrecht als schwerwiegendsten Eingriff einzusetzen.“699
Der Hinweis in der aktuellen Entscheidung auf diese Ansicht zu Grenzen der Regelung abstrakter Gefährdungsdelikte ist insofern nachvollziehbar, als der Senat in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit von § 217 StGB auch anschließend selbst solche Grenzen auferlegt: „Der legitime Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet seine Grenze aber dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird.“700 693 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 270 f. (eigene Hervorhebungen). 694 BVerfGE 90, 145, 184 – Cannabis. 695 BVerfGE 90, 145, 205 f. – Cannabis. 696 BVerfGE 90, 145, 184 – Cannabis. 697 BVerfGE 90, 145, 203 f. – Cannabis. 698 BVerfGE 90, 145, 204 – Cannabis. 699 BVerfGE 90, 145, 205 – Cannabis. 700 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, Rn. 273. Der Senat sieht die Grenze insbesondere deshalb als überschritten an (ebd., Rn. 278), weil dadurch das „Recht auf Selbsttötung in weiten faktisch entleert“ sei, „weil die fortbestehende Straffreiheit nicht geschäftsmäßiger Suizidhilfe, der gesetzliche Ausbau von Angeboten der Palliativmedizin und des Hospizdienstes und die
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Man kann diese Nutzbarmachung des Sondervotums also so verstehen, dass auf Stimmen im Gericht Rückgriff genommen wird, die vor einem allzu vorverlagerten Rechtsgüterschutz durch Strafrecht warnen, um die eigene kritische Ansicht gegenüber dem abstrakten Gefährdungsdelikt des § 217 StGB zu unterstützen. Der Senat zieht in mannigfaltiger Weise frühere Sondervoten zu Rate und bestätigt damit deren Wert für eine pluralistische Verfassungsinterpretation. Dies findet nicht etwa nur dadurch statt, dass Rechtsprechungen geändert oder angepasst werden. Abweichende Meinungen, so zeigt dieser Fall, werden vom BVerfG mitunter als Quelle zur Lösung neuer verfassungsrechtlicher Grundsatzfragen genutzt.
(3) Zwischenfazit Die unterschiedliche Verwendung des Instruments Sondervotum bestätigt dessen Nutzen im Kontext einer pluralistischen Verfassungsinterpretation. Es handelt sich dabei also nicht nur um ein theoretisches Konzept. Sondervoten können zu Rechtsprechungsänderungen701 führen, einen Wandel in der Rechtsprechung verhindern oder als Interpretationsquelle für neuere verfassungsrechtliche Fragstellung dienen. Die Meinung einzelner oder mehrerer Richter*innen (gemeinsam) kann also auf die weitere Rechtsprechungsentwicklung Einfluss nehmen. Nicht nur das Gericht als Organ, sondern auch die Richter*innen werden so Teilnehmer*innen eines offenen Diskurses der Verfassungsinterpretation. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Gericht diese Inspirationsquelle nicht immer offenlegt. Zu einer eindeutigen und überzeugenden Rechtsprechung muss es aber auch gehören, den Diskurs mit früheren Sondervoten transparent zu gestalten. Mitunter steht der Rückgriff auf abweichende Meinungen im Widerspruch zur Senatsansicht. Dies sollte vermieden werden, um Unklarheiten über den Aussagegehalt einer Entscheidung zu vermeiden.
Verfügbarkeit von Suizidhilfeangeboten im Ausland nicht geeignet sind, die vom Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ausgehende Einschränkung grundrechtlicher Freiheit auszugleichen.“ 701 Mitunter werden in der Rechtswissenschaft Enttäuschung über ein ausgebliebenes Sondervotum laut, weil damit Hoffnungen für eine spätere Rechtsprechungsänderungen verbunden werden. So etwa zur PSPP-Entscheidung des BVerfG (Urteil des Zweiten Senats vom 05. Mai 2020 – 2 BvR 859/15 –) von Meyer, Verfassungsblog v. 07.05.2020: „‚Das Urteil‘ ist auch eine Chiffre für die hinter dem Urteil stehenden Personen. Vorliegend erging das Urteil 7 zu 1. Leider hat diese ‚1‘ kein Sondervotum vorgelegt, so dass wir nicht wissen, wer die eine Person war, die – mutmaßlich – europafreundlicher geurteilt hätte. Das ist sehr bedauerlich, weil seit Solange I die Sondervoten in Europafragen als Beleg hilfreich gewesen sind, um die Widersprüche in den Mehrheitspositionen aufzudecken. Und den Weg zu weisen für eine mögliche bessere Rechtsprechung.“
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
bb) Diskursbegleitung „Die Aufgabe, Recht zu sprechen und dabei auch die Werte durchzusetzen, auf denen das Grundgesetz gründet, bringt es mit sich, dass die Institution Justiz und deren Entscheidungen mitunter auf Widerstand in Teilen der Gesellschaft treffen. Dieser ist auszuhalten.“702 Bundesverfassungsgericht
Neben der Rolle als Verfassungsinterpret wird hier dem BVerfG die Funktion zugeschrieben, gesellschaftliche und politische Konflikte auf der Ebene des Verfassungsrechts aktiv zu begleiten. Dem Gericht sollte darüber hinaus nicht die Aufgabe angetragen werden, jeden dieser oft tiefgreifenden Konflikte lösen zu müssen oder gar eine Integration des*der Einzelnen und verschiedener Gruppen im Staat zu erreichen. All diese weitgehenden Funktionszuschreibungen müssen das Gericht zwangsläufig überfordern und werden auch weder den gesellschaftlichen Grundbedingungen noch der Ausgestaltung von Verfassungsnormen gerecht. Diese Funktionszuschreibung ergibt sich zunächst aus einer Beschäftigung mit dem vielbemühten Topos der Integration durch Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit (1). Angesichts des immer noch unklaren Integrationsbegriffs und des damit einhergehenden Integrationsprozesses in Bezug auf die Verfassung wird hier dafür plädiert, sich stattdessen mit dem hinter diesem – beinahe mythischen – Begriff stehenden Fragen zu beschäftigen und ein Konzept der Diskursbegleitung zu entwickeln. Sich mit Integration zu beschäftigen heißt vor allem, die Grundbedingungen von Verfassungsnormen und des gesellschaftlichen Umfelds zu beleuchten und daraus Konsequenzen für die am Verfassungsleben beteiligten Akteur*innen abzuleiten. Dadurch wird die Untersuchung davon befreit, die Frage nach der Integrationsfunktion der Verfassung, mit der sich auch wenig gewinnen lässt, beantworten zu müssen, ohne die damit einhergehenden wichtigen Fragestellungen zu übergehen. Mit dem Konzept eines BVerfG als Diskursbegleiter in der Hand, gelangt man anschließend zum Sondervotum als dafür hilfreiches Instrument (2). Sondervoten können bereits bestehende Konflikte über heikle verfassungsrechtliche Fragen abbilden oder eine Diskussion im Widerstreit zur Entscheidungsbegründung (Mehrheitsmeinung) erst eröffnen. Sie sind damit Ausdruck moderner pluralistischer Gesellschaften und der Unbestimmtheit von Verfassungsnormen.
702 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 92 – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen.
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(1) Von der Integrationsfunktion zur Diskursbegleitung Dass die Integration überhaupt ein vielbemühtes Thema des Verfassungsrechts wurde, ist insbesondere der Lehre Rudolf Smends und dessen intensiver Rezeption in der Bundesrepublik zuzuschreiben (a). Erkenntnisreicher als die Beschäftigung mit dem Integrationstopos ist es aber, sich mit den Grundbedingungen eines solchen Prozesses zu befassen (b). Daraus lassen sich konkrete Konsequenzen für das BVerfG ableiten, die schließlich zu einer Funktionszuschreibung der Diskursbegleitung führen (c).
(a) Smend und die Rezeption seiner Lehre Die Grundlage für eine These der Integrationskraft von Verfassungen wird insbesondere Rudolf Smend zugeschrieben. Smends Aufsatz „Verfassung und Verfassungsrecht“, der bereits 1928 erschien, wurde und wird in der Bundesrepublik oft rezipiert und als grundlegend bezeichnet. Er versucht sich darin an sehr grundsätzlichen Erwägungen, auch und vor allem zur Integration im Staat. Für ihn beschreibt der Begriff Staat nicht etwas Statisches, sondern einen Prozess: Als „geistige Kollektivgebilde“ seien sie als „Teile der Wirklichkeit […] die Sinneinheit reellen geistigen Lebens, geistiger Akte“.703 „Er [der Staat] lebt und ist da nur in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt […] von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt. Es ist dieser Kernvorgang staatlichen Lebens, wenn man so will, seine Kernsubstanz, für die ich […] die Bezeichnung als Integration vorgeschlagen habe.“704 Dies kumuliert in der Erkenntnis: „Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert […]“.705 Smend entwirft darüber hinaus drei „Integrationstypen“: die persönliche, funktionelle und sachliche Integration.706 Persönliche Integration meint dabei „Integration durch Personen“, durch Führung der Staatsorgane, etwa des Kabinetts oder der Verwaltung.707 Auch den Richtern wird ein integrierender Faktor zugesprochen, auch wenn dieser bloß subsidiär sei: „Der Richter und der Verwaltungsbeamte ist nicht nur kein être inanime, sondern auch als geistiges Wesen sozial: seine Tätigkeit ist eine Funktion innerhalb eines geistigen Ganzen, wird von dem Ganzen her bestimmt, orientiert sich danach und wirkt wesensbestimmend auf das Ganze zurück. […] Allerdings unterscheidet es die Bürokratie von den übrigen Typen integrierender Personen, daß diese integrierende Wirkung nicht ihre erste Aufgabe ist, sondern hinter ihrer eigentlichen einer bestimmten sachlichen Leistung technischer Staatstätigkeit zurücktritt. Demgegenüber bilden jene vorzugsweise zu integrierenden Funktionen Berufenen den Kreis der eigentlichen politischen Funktionäre.“708 703 704
Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 136. Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 136. 705 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 138. 706 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 142 ff. 707 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 142 ff. 708 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 146 f.
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Mit funktioneller Integration werden Vorgänge im Staat beschrieben, „deren Sinn eine soziale Synthese ist, die irgendeinen geistigen Gehalt gemeinsam machen oder das Erlebnis seiner Gemeinsamkeit verstärken wollen, mit der Doppelwirkung gesteigerten Lebens sowohl der Gemeinschaft wie des beteiligten Einzelnen“.709 Die sachliche Integration knüpft an einen „sachlichen Wertgehalt“ des Staates an. Eine solche „Integrationswirkung des Sachgehalts der staatlichen Gemeinschaft“ stünde vor „besonderen Schwierigkeiten“, da heutzutage „gerade die Fülle dieses Gehalts seiner Integrationswirkung entgegen“ stehe: „[S]ie ist so ungeheuer, daß sie vom Einzelnen nicht mehr übersehen werden kann, und sie ist zugleich vermöge dieser Ungeheuerlichkeit und ihrer Rationalität dem Einzelnen so fremd, daß er ihren Eindruck als entfremdend empfindet, seinen eigenen Anteil daran gar nicht erlebt“. Dieser mannigfaltige Sachgehalt müsse daher erlebbar gemacht werden, etwa „institutionell durch die Repräsentation des geschichtlich-aktuellen Wertgehalt im politischen Symbol der Fahnen, Wappen, Staatshäupter (besonders der Monarchen), der politischen Zeremonien und nationalen Feste“.710 Smend hat den Bezugspunkt für die Integrationslehre der Bundesrepublik geschaffen, bleibt jedoch in vielen Punkten vage.711 Gerade durch diese „dynamische Offenheit“ seiner Theorien und Begriffe war die Lehre Smends besonders „anpassungsfähig“, konnte in das neue System der Bundesrepublik integriert werden.712 Dort hat seine Lehre großen Anklang gefunden, was anfangs insbesondere auf die ihm nahestehenden einflussreichen Verfassungsrechtler Gerhard Leibholz und Konrad Hesse zurückzuführen ist.713 So hat etwa Leib709 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 149 ff. Als Bsp. werden Wahlen und Abstimmungen genannt. 710 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 119, 162 f. Dabei sind die „Sachgehalte, die den integrierenden. Sachbestand eines Willensverbandes ausmachen […] als ein Moment seines Lebens ebenso im Flusse wie er als Ganzes“, ebd., S. 165. Große Bedeutung misst Smend den Grundrechten bei, etwa wenn er über die Weimarer Reichsverfassung schreibt, dass der „inhaltliche Sinn eines Grundrechtekatalogs“ darin bestehe, „ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem [zu] normieren“, ebd., S. 264. Die Parallele zur späteren Rechtsprechung des BVerfG, insbes. BVerfGE 7, 198 – Lüth, ist offensichtlich, vgl. auch Hong, in: Schröder/v. Ungern-Sternberg, Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, S. 59, 66. 711 Eine prägnante Darstellung liefert Hong, in: Schröder/v. Ungern-Sternberg, Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, S. 59, 62 ff. 712 van Oyen, Integration, S. 19; ähnlich Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 358, der von einer „schwebenden Ausdrucksweise und geisteswissenschaftlichen Umhüllung“ Lehre Smends spricht, die eine „Anpassung an die veränderten Umstände“ in der neuen Bundesrepublik „nicht allzu schwer“ machten; vgl. auch Obermeyer, Integrationsfunktion der Verfassung, S. 39 f., die die nach wie vor Starke Rezeption von Smend damit begründet, dass das „Interesse an Voraussetzungen und Bedingungen gesellschaftlicher Integration angesichts wahrgenommener gesellschaftlicher Desintegrationserscheinungen gestiegen ist“. Weitergehend zur Bedeutung der Integrationslehre Smends auch der Sammelband hrsg. v. Lhotta, Die Integration des modernen Staates und Korioth, Integration und Bundesstaat. 713 van Oyen, Integration, S. 17. Vgl. zu Smends Einfluss auch prägnant Hong, in: Schrö-
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holz im berühmten Statusbericht des Bundesverfassungsgerichts714 schon darauf hingewiesen, dass dem Gericht „über seine richterliche Funktion hinaus zugleich auch politisch integrierende Funktionen“ zukommen würden.715 Integration wurde im Nachkriegsdeutschland zur „allgegenwärtigen Formel“ und die „Integrationswirkung der Verfassung […] zum allseits anerkannten Topos“716 oder – wie Günther es formuliert – „geradezu zum Modewort“717. Auch das BVerfG griff bei diversen Entscheidungen die Integrationsfunktion auf.718 Doch auch in jüngerer Zeit ist Smend noch ein wichtiger Bezugspunkt, etwa wenn Limbach über die Integrationskraft des Bundesverfassungsgerichts schreibt:719 Sie konstatiert, dass wir ihm als „wichtige Anregung“ dessen „dynamisches Verfassungsverständnis“ verdanken würden. Zudem gelange man dadurch zur Erkenntnis, dass die Verfassung nur eine Basis für eine „integrierende Kraft“ legen könne, deren Verwirklichung insbesondere von dem „Zusammenspiel aller politischen Lebenskräfte“ abhänge.
(b) Integrationsfunktion der Verfassung? Das Thema der Integration durch Verfassung bringt insbesondere zwei Probleme mit sich: Zunächst bleibt, insbesondere bei Smend, äußerst unklar, was genau damit gemeint ist. Selbst wenn man sich aber auf einen Begriff oder ein Verständnis geeinigt hat, bleiben – zweitens – viele Fragen offen: Wer wird eigentlich in was integriert? Wie genau läuft der Prozess der Integration ab oder wie sollte er idealiter ablaufen? Und bezogen auf das BVerfG: Wann ist eine Entscheidung denn nun integrativ? Vielversprechender erscheint eine Analyse der Grundbedingungen, denen sich der Prozess der Integration ausgesetzt sieht, und der Konsequenzen, die sich für die Akteure daraus ergeben. Dadurch wird ein konkreterer Zugriff auf die Thematik ermöglicht. Ob daran anschließend die Verfassung und die Verfassungsrechtsprechung als integrativ bezeichnet werden können, ist eine davon zu trennende und hier bewusst ausgeklammerte Frage. Sie scheint letztlich auch kaum beantwortbar. Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind drei Beobachder/v. Ungern-Sternberg, Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, S. 59, 60: „Es sind nicht zuletzt zwei zentrale Elemente des heute vorherrschenden Grundrechtsverständnisses, die sich konzeptuell jedenfalls maßgeblich auch auf Smend zurückführen lassen: Abwägungsdogmatik und interpretationsleitende Wirkung der Grundrechte“. Vgl. dazu auch ausführlich Dreier, in: Hufen/Berlit/Dreier, FS Hans-Peter Schneider 2008, S. 70 ff. 714 S. dazu ausführlich 2. c), d). 715 Leibholz, JöR Bd. 6 (1957), S. 109, 134 f. 716 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 357 f. 717 Günther, Denken vom Staat her, S. 188. Vgl. dort auch eine ausführliche Gegenüberstellung der „Schmitt-Schule“ mit der „Smend-Schulde“ in der deutschen Nachkriegszeit, S. 112 ff. 718 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV, S. 359 m. zahlreichen Nachw. zur Rspr. 719 Limbach, in: Vorländer, Integration durch Verfassung, S. 315, 318.
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tungen, die für die weiteren Überlegungen der Funktionen von Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutend sind: Erstens sind die gesellschaftlichen Grundbedingungen in modernen pluralistischen Gesellschaften komplex und für ein in diesem Umfeld tätiges Gericht immer mitzubedenken. Schon in den 1990er Jahren wurde in der Soziologie eine von Konflikten geprägten Gesellschaft ausgemacht. Beispielhaft dafür steht die Analyse von Dubiel, der auch in den demokratischen Ländern eine „neue Unversöhnlichkeit“ konstatierte und „Konflikte zwischen Migranten und Einheimischen, Männern und Frauen, Alten und Jungen, Fundamentalisten und Modernisten“ feststellte.720 Giegel formuliert grundsätzlich: „Von ihrer Grundstruktur her scheint die Moderne in besonderer Weise auf Konflikt hin angelegt.“721 Auch in der Rechtswissenschaft wird gerne darauf verwiesen, dass der Integrationsprozess mit den Schwierigkeiten einer pluralistischen und individualisierten Gesellschaft umgehen müsse. Dies lässt sich etwa bei Roman Herzog heraushören, wenn er fragt, „wo im Meer der Meinungs- und Interessengegensätze denn noch das Verbindende, das Einende, die Mitte“ sei.722 Haltern sieht eine „Gegenüberstellung einer weitgehend durch Utilitarismus und Egoismus geprägten Gesellschaft […] und eines tugendhaften, deliberativen und weisen Staates, der die popularen Energien filtert, managt und läutert“.723 Krausnick konstatiert, dass eine „erschwerte“ Integrationswirkung des BVerfG auf „Pluralisierung und Individualisierung“ zurückzuführen sei.724 Hufen bemerkt sogar, dass der „Grundkonsens über Werte“ verloren scheint, angesichts 720
Dubiel, Merkur 49 (561), 1995, S. 1095. Giegel, in: ders., Konflikte in der modernen Gesellschaft, S. 9; ähnlich Westphal, in: Hein/Petersen/von Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 103, 104 und 109. Vgl. auch Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 371, der „in Westeuropa und Nordamerika eine Form des Regierens herausgebildet“ sieht, welche er als „Politik eines apertistischen und differenziellen Liberalismus“ beschreibt: „Apertistisch ist er, indem er auf permanente wirtschaftliche, soziale und kulturelle Öffnung und Grenzüberschreitung abzielt; differenziell ist er, indem er soziale und kulturelle Unterschiede hervorhebt und fördert.“ Diese „liberale Öffnung“ habe gesellschaftspolitisch zur Folge, „dass subjektive Rechte auf Persönlichkeitsentfaltung eingefordert und festgeschrieben werden und dass die Vielfalt der Persönlichkeiten, der kulturellen Herkunftsgemeinschaften und der Lebensstile wertgeschätzt wird“, ebd., S. 375. Vgl. zu kollektiv-politischen „Gegentendenz[en]“ ebd., S. 394 ff. Dies gipfelt bei Reckwitz in einer „Krise des Politischen“, ebd. S. 435: „Angepasst an Konsumbedürfnisse der Bürger, versteht sich der spätmoderne Staat eher als Einrichtung der Ermöglichung privaten Konsums und weniger der Verfolgung gesamtgesellschaftlicher Ziele.“ 722 Herzog, in: Pfeiffer, Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof, S. 6; ähnlich ders., Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Ordnung, S. 13. 723 Haltern, JöR Bd. 45 (1997), S. 31, 40. Dem Staat werde die „immense Aufgabe der Einheitsbildung angetragen“, ebd., S. 64. Diese Funktion könne aber nicht mehr erfüllt werden: „Weder Kultur noch Religion noch Geschichte noch Sprache noch Nation vermögen substantiell zu integrieren. Die bisher funktionierende Rhetorik der Integration erodiert in gleichem Maße angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralisierung: Die ‚Vertextung des Staates‘ ist am Ende“, ebd., S. 88. 724 Krausnick, in: Lhotta: Die Integration des modernen Staates, S. 135, 139 m. w. Nachw. 721
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einer „Entwicklung von Technik und Kommunikation, der interkulturellen und internationalen Öffnung“ und zahlreicher weiterer Faktoren der modernen Gesellschaft.725 Korioths Befund geht in eine ähnliche Richtung: „Innere Desintegration droht dem Verfassungsstaat durch Individualisierung und zunehmende kulturelle Vielfalt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Tradition, Gemeinschaft und Solidarität verschwimmen. Integrierende Institutionen, beginnend mit der Familie, treten zurück und werden durch individuelle, formalrechtliche und prozedurale Elemente der Gesellschaftsbildung ersetzt. Damit ist das ‚Faktum des Pluralismus‘ unveränderbar. Es bedeutet: ‚Offene Gesellschaften müssen ohne substanzielle Mitte, ohne eindeutig definierbaren ethischen, moralischen, kulturellen oder religiösen Identitätskern auskommen.‘ Das Vertrauen auf die Steuerbarkeit der Gesellschaft von einem Zentrum aus schwindet.“726
In der Analyse über die gesellschaftlichen Gegebenheiten im modernen Staat scheint man sich also in Soziologie und Rechtswissenschaft recht einig zu sein. Diese Feststellung kann für die Bedingungen von Integration nicht ohne Folgen bleiben: Sie offenbart, dass das legitime Ziel des Integrationsprozesses, nämlich ein möglicher Konsens oder zumindest weitgehende Kompromisse über Werte, Rechte und Verfahren, in einer von Konflikten geprägten Gesellschaft, voraussetzungsreich und herausfordernd ist. Dies muss zu der Erkenntnis führen, dass mit Konflikten auf dem Weg zum Konsens bzw. Kompromiss und damit im Integrationsprozess umgegangen werden muss. Limbach betont zurecht, dass „bei der Suche nach Einheit und Stabilität“ der Konflikt eine Rolle spielt.727 Löst man sich also von der etwas zwanghaften Suche danach was Integration ist, erhält man einen konkreten Blick auf gesellschaftliche Grundbedingungen, die auch für die Institution BVerfG, das in diesem Umfeld seine Entscheidungen treffen muss, relevant sind. Zweitens kann unter Rückgriff auf Möllers konstatiert werden, dass – wie er es nennt – „fundamentale Normen“, welche „als Basis für eine ganze Normenordnung dienen sollen“, wie es die Artikel des Grundgesetzes zweifellos sind, schon von ihrer Konzeption her nur eine begrenzte Funktion einnehmen können: „Je fundamentaler eine Norm für eine Gemeinschaft zu sein beansprucht, desto unklarer ist ihre Bedeutung für diese – und desto umstrittener mag sie sein, muss sie doch als Inbegriff aller anderen Normen dienen.“728 725 Hufen, in: Schuppert/Bumke, Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 61 f. 726 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 118, 120. 727 Limbach, Im Namen des Volkes, S. 155 f. 728 Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 414. Möllers veranschaulicht diese Unsicherheit mit fundamentalen Normen aufgrund ihres nur schwer zu bestimmenden Aussagegehaltes anhand der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG, die in Deutschland „an der Spitze der Normenhierarchie“ steht. Diese Problematik mit fundamentalen Normen lässt sich aber auf
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In Fortführung der Fundaments-Metapher spricht Möllers von „Stabilisierung“, die seiner Ansicht nach „eher von spezifischeren niederrangigen Normen“ ausgehe, weil über diese schneller und besser Einigkeit erlangt werden könne. Daraus leitet er auch Konsequenzen für den „Konsens als normativer Grundlage einer Gesellschaft“ ab: Zwar können wir uns den Konsens als ein „erkenntnisleitendes Ziel […] denken, nicht aber als bestehendes Fundament, das in einer Norm wie der Menschenwürdegarantie niedergelegt ist.“ Daher kommt für Möllers Konsens „stets in der Lösung kleiner und konkreter Fragen zum Ausdruck, nicht aber in großen Formeln.“ Konsens ist für ihn dabei „mehr als die Einigung auf eine Kompromissformel“. An diese Überlegungen anschließend wirft er die Frage auf, ob einer „normativen Ordnung nicht besser mit der Organisation von Dissens gedient ist.“729 Daraus soll hier nicht geschlussfolgert werden, dass Normen und insbesondere Verfassungsnormen überhaupt keine Basis oder Fundament, auch für eine Integrationsleistung, bilden können. Ein kritischer Blick offenbart aber, dass die Erwartungen an die Funktionen fundamentaler Normen, insbesondere für einen konsensstiftenden Beitrag, gedämpft werden müssen. Dies fordert uns auch dazu heraus, unsere Erwartungen an die Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit zu hinterfragen. Wir können dann nicht mehr blind darauf vertrauen, dass das BVerfG uns die „Zumutungen“ des demokratischen Streits „erspart“, „zugunsten des Konsenses über die in der Verfassung stehende Lösung“.730 Ein solcher Konsens existiert schlichtweg kaum, was nicht zuletzt durch das Sondervotum plastisch vor Augen geführt wird. Die Unbestimmtheit der Verfassung als förderlich für die Konfliktbegleitung zu erachten, resultiert insbesondere aus der Erkenntnis, dass die Funktion eines Verfassungsgerichts als oberster Konfliktlöser mit den gesellschaftlichen und politischen Realitäten kaum in Einklang zu bringen ist. Wie Westphal zurecht betont, ist die „Schiedsrichterfunktion von Verfassungen“ gerade keine „alternativlose Deutung der Funktion von Verfassungen“.731 Sie plädiert vielmehr für eine „Rahmungsfunktion der Verfassung“, die einerseits einen „weiten Raum für den Streit über tief divergierende Interpretationen grundlegender politischer Normen“ bietet, andererseits aber auch „grobe Verletzungen“ der Verfassungsnormen gerügt werden können und damit der pluralistische Diskussionsprozess einen „Rahmen“ erhält.732 Eine solche Erwartungshaltung an Normen des alle anderen Grundrechte und sehr unbestimmten Begriffe des GG übertragen, die allesamt ein „Fundament“ für die deutsche Rechtsordnung bilden. 729 Möllers, Die Möglichkeit der Normen S. 414 f. 730 Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, S. 76. 731 Westphal, in: Hein/Petersen/v. Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 103, 114. 732 Westphal, in: Hein/Petersen/v. Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 103, 118 f.; ähnlich Grimm, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 298, 300, für den die Verfassung eine „Rahmenordnung“ ist, „die der Verwirklichung unterschiedlicher politischer Ziele Raum gibt“. Laut Grimm „gehört die Auseinandersetzung zum System“, ebd., S. 301.
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GG verträgt sich am besten mit dem Befund der Bedingungen pluralistischer Gesellschaften, in denen es vor allem auf eine angemessene Konfliktbegleitung ankommt.733 Über diese Möglichkeit der Konfliktaustragung hinaus, bieten unbestimmte Normen, insbesondere Grundrechte, auch die Möglichkeit, „Unterschiede zu bewahren, namentlich die unterschiedlichen Identitäten von Individuen.“ Möllers nennt dies anschaulich „sinnvolle Desintegration“ oder „Differenzierung“.734 Verfassungsnormen enttäuschen damit gewisse an sie herangetragene Erwartungen, die aber ohnehin nicht erfüllbar erscheinen. Insbesondere die Erwartung einer Konsensbildung überfordert die Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit und sollte daher zugunsten einer Konfliktbegleitung oder „Rahmenfunktion“ aufgegeben werden. Überfrachtete Erwartungen an Verfassungen und deren Interpreten bringen die Gefahr der „Verfassungsenttäuschungen“735 mit sich, die das Potenzial haben, die Identifikation mit dieser Ordnung grundsätzlich zu erschüttern. Drittens und darauf aufbauend, wird das BVerfG durch seine mächtige Rolle im Institutionengefüge oft von politischen Akteuren, Gruppen oder Individuen mit der Klärung grundsätzlicher Verfassungsfragen betraut und gerät damit automatisch in heikle Konfliktlinien.736 Besonders kontroverse und sensible Themen gelangen, nachdem sie bereits Gegenstand parlamentarischer oder gesellschaftlicher Diskussionen waren, oft auf den Tisch der Richter*innen. Das Verfassungsgericht scheint mitunter sogar die Rolle einer „moralischen Autorität“ zu gelangen.737 Daran hat das Gericht auch einen entscheidenden Anteil.738 Das BVerfG muss in dieser Situation Strategien entwickeln, mit dieser Ausgangslage umzugehen, wenn es sich entschließt, den Fall zu entscheiden. 733 S. o. Ebenso Westphal, in: Hein/Petersen/v. Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 103, 117 f. 734 Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 418. Sein Verständnis von Normen ist dabei ambivalent, er leugnet nicht, dass neben der Differenzierungsfunktion auch der gegenteilige Effekt möglich ist: „Normen können einheitsstiftend wirken, indem sie zum Beispiel Standards für die Mitgliedschaft in einer Gruppe definieren.“ Auch hier soll dieser Effekt von Normen ausdrücklich nicht ausgeschlossen werden. 735 Depenheuer, in: ders./Grabenwarter, Verfassungstheorie, S. 537, 564. 736 Vgl. dazu die krit. Bewertung der abstrakten Normenkontrolle bei Thiele, Verlustdemokratie, S. 160 ff. 737 Volkmann, JurA 2015, S. 1083, 1092. 738 Insbesondere durch die Schranken der Zulässigkeit und die Auslegung eines Antrags kann das Gericht selbst auch relativ flexibel entscheiden, welche Fälle es annimmt. Besonders deutlich wurde dies bei einem Organstreitverfahren, angestrengt von der AfD-Fraktion zur nachträglichen verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der Flüchtlingspolitik. Mit Beschluss vom 11.12.2018 (BVerfGE 150, 194) wies der Zweite Senat den Antrag als unzulässig zurück. In diesem Fall wurde dem Gericht teilweise vorgeworfen, dass es sich bewusst aus einer hochpolitischen und kontroversen Frage zurückziehe, so etwa Steinbeis, VerfassungsBlog, 18.12.2018. Andere wiederum begrüßten (zurecht) die Zurückhaltung des Gerichts, etwa Schwander, JuWissBlog Nr. 101/2018 v. 19.12.2018, der eine nicht begrü-
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(c) Konsequenzen für das Bundesverfassungsgericht Dass ein Gericht in dieser Situation seine autoritativen Elemente nutzt, um einen Konflikt im Staat verbindlich und letztgültig zu beenden oder sogar eine integrative Einheit zu schaffen, erscheint angesichts der dargestellten gesellschaftlichen Grundbedingungen wenig vielversprechend.739 Es kann nicht „primäre Aufgabe“ des BVerfG sein, „Konsens in der Gesellschaft zu stiften“, aber genauso wenig „Ziel sein, eine produktive Unruhe in der Gesellschaft auszulösen.“740 Daraus lassen sich zwei extreme Pole der Wirkung einer Verfassungsgerichtsentscheidung ausmachen: Auf der einen Seite steht das autoritative Beenden eines Konflikts, auf der anderen die Entfachung oder Förderung eines Konflikts. Hier wird auch noch einmal das Auseinanderfallen der klassischen und besonderen Gerichtsfunktionen deutlich: Während dem BVerfG die Funktion zukommt, den formalen Rechtsstreit zwischen den Verfahrensbeteiligten autoritativ zu beenden, ist der etwaige dahinterstehende gesellschaftliche oder politische Konflikt mit einer Gerichtsentscheidung meist nicht aus der Welt. Mit dem Anspruch, dem BVerfG die Rolle der (integrativen) Konfliktlösung durch seine Entscheidung zuzuschreiben, muss man das Gericht zwangsläufig überfordern.741 Dies heißt nicht, dass die Verfassungsrechtsprechung völlig unfähig wäre, jemals einen solchen Konflikt zu lösen. Die aufgrund der Unbestimmtheit der Verfassungsnormen mannigfaltigen und mitunter diametral entgegenstehenden Interpretationen des durch die Verfassung ermöglichten rechtlichen Spielraums fördern aber oft kaum lösbare Konflikte zutage. Sondervoten können diese abbilden.
ßenswerte „Sehnsucht nach gerichtlicher Autorität“ ausmachte. Egal wie man diese Thematik inhaltlich bewertet, zeigt dieser Fall exemplarisch, dass das BVerfG von außen mit hochkontroversen und politischen Fragen betraut wird, es aber doch in nicht zu vernachlässigendem Umfang selbst in der Hand hat, einen solchen Fall auch einmal nicht zur Entscheidung anzunehmen. Das Gericht ist in dieser Lage nicht völlig „wehrlos“. Vgl. dazu auch die Beobachtung von Volkmann zur BVerfG-Rechtsprechung zur europäischen Integration, Merkur 74 (857), 2020, S. 5, 13: Hier habe das Gericht „die fast schon verzweifelten Versuche“ unternommen, „den Bundestag gegen die notorische Exekutivlastigkeit des Prozesses der europäischen Integration immer wieder in Stellung zu bringen“. Dem BVerfG wird eine (zurecht) sehr aktivistische Rolle attestiert, was die beschriebenen Konsequenzen mit sich bringt. 739 Guggenberger, in: ders./Würtenberger, Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, S. 202, 209. 740 Limbach, in: Vorländer, Integration durch Verfassung, S. 315, 320. 741 Ähnlich Rossen-Stadtfeld, in: Schuppert/Bumke, Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 169, 175 f.; vgl. auch Haltern, JöR Bd. 45 (1997), S. 31, 42: „Der Staat, der sich selbst die Aufgabe aufbürdet, den ‚Konsens‘ entweder herzustellen, zumindest aber zu artikulieren, wird sich als überfordert zeigen.“
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(2) Das Sondervotum als diskursives Instrument Durch richterliche abweichende Meinungen und Begründungen werden Konflikte offenbart und (zunächst) nicht ein Konsens, eine Einheit, gestärkt oder gar geschaffen. Das Sondervotum versucht gar nicht erst, eine Einheitsbildung zu erreichen, sondern offenbart einen bestehenden Konflikt vorsätzlich. Es ist damit auch ein Eingeständnis dafür, dass sich nicht jeder Konflikt autoritativ beenden lassen kann, sondern manchmal (zunächst) offengelassen werden muss. Das Sondervotum, so die hier vertretene These, kann in solchen Konstellationen den Druck aus dem Kessel der verfassungsrechtlichen Spannungslage nehmen und die Entscheidung selbst entlasten. Das BVerfG entscheidet den Rechtsstreit zwar in eine Richtung – weil es dazu als klassisches Gericht angehalten ist – lässt den verfassungsrechtlichen Diskurs durch Sondervoten aber bewusst offen.742 Dieses Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit führt sicherlich zu Unsicherheiten und Unwägbarkeiten und stillt nicht die Sehnsucht nach einem allwissenden Letztentscheider – dies ist unter den bereits beschriebenen Grundbedingungen aber ohnehin nicht zu erwarten. Die Diskursbegleitung ist daher eine Strategie, die es Verfassungsgerichten erlaubt, mit gesellschaftlichen und politischen Kontroversen – in die es mittels der zur Verfügung stehenden Verfahren oft hineingezogen wird – angemessen umzugehen. Möglicherweise kann man dadurch auch dem aufgezeigten Problem der Beziehung der Verfassungsgerichtsbarkeit zum politischen Prozess begegnen: Wenn die Judikative schon derart weit in den politischen Primärraum vordringt, muss sie auch in der Lage sein, den im politischen Prozess pluralisierten Diskursraum zumindest teilweise abzubilden. Einen besonderen Beitrag zur Diskursoffenheit von Verfassungsrechtsprechung erreicht das Sondervotum darüber hinaus durch seine Subjektivität. Die Gerichtsentscheidung erhält einen Großteil ihrer autoritativen Kraft durch ihre unpersönliche Autorenschaft.743 Das Urteil stammt aus der gemeinsamen Feder eines Richterkollegiums; das Gericht, nicht die einzelnen Individuen, überliefert eine Entscheidung. Die Entscheidung scheint keinen menschlichen Autor zu haben und verliert dadurch ihre Subjektivität. Der Text nimmt damit an der Wirkmacht der Institution teil. Dies ist vor dem Hintergrund einer rechtsstaatlichen Entscheidung auch genauso gewollt. Kahn spricht davon, dass die rule 742 Vgl. dazu auch Masing, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 15, Rn. 43: Zwar würde die „Autorität der rechtlichen Entscheidung“ durch Sondervoten „ein Stück weit relativiert“. Dies sei „für ein Gericht mit so weiten Entscheidungskompetenzen“ aber „nur eine angemessene Rückbindung der Rechtsdiskussion in einen demokratischen Diskurs“. 743 Kahn, The Reign of Law, S. 107. Ebd. auch zu den Konsequenzen dieser fehlenden subjektiven Autorenschaft: „Because it is not the possession of an author, it may be freely approached by its diverse readers. The text can appear as the voice of the court, of the government, of the Constitution, of the people, or simply of the law.“
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of law es erfordere, dass die von einem Richter verfasste opinion of the court „nicht den Eindruck erwecken dürfe, die persönliche Meinung eines individuellen Richters“ zu sein.744 Nun sind die US-amerikanische und die deutsche Rechtsordnung sehr unterschiedlich ausgestaltet, dennoch lässt sich der Grundgedanke auch auf das deutsche Verfassungsgericht übertragen: Bei einer Senatsentscheidung ist ein Berichterstatter für ein jeweiliges Verfahren zuständig und erarbeitet einen Entscheidungsentwurf. An dem Text wird anschließend durch oft intensive Beratung im Kollegium gemeinschaftlich gefeilt.745 Der Berichterstatter ist der Öffentlichkeit zwar bekannt, dennoch handelt es sich bei Entscheidungen des BVerfG deutlich stärker um eine gemeinschaftlich gebildete Gerichtsmeinung.746 Die Subjektivität ist damit noch deutlicher als beim U. S. Supreme Court zurückgedrängt. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass in Deutschland die einzelnen Richter*innen des BVerfG einer breiteren Öffentlichkeit deutlich weniger bekannt sind und auch nicht derart prominent hervortreten, wie ihre amerikanischen Kollegen.747 Strukturell und kulturell ist damit die deutsche Verfassungsgerichtsentscheidung sehr stark auf ihre Wahrnehmung als eine objektive Handlung einer Institution ausgerichtet. Dies hat insbesondere den Zweck, Entscheidung qua Objektivität eine besondere Autorität zu verleihen.748 744
Kahn, The Reign of Law, S. 105, vgl. auch 107 (eigene Übersetzung). dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. dass ein Richter die Meinung des Gerichts „überliefert“. Exemplarisch dazu Rucho v. Common Cause, 588 U. S. (2019), 1: „Chief Justice Roberts delivered the opinion of the Court.“ 747 Vgl. aber zuletzt die vielfachen Äußerungen von Richtern des Zweitens Senats im Zuge des PSPP-Urteils, etwa Berichterstatter Peter M. Huber im Gespräch mit Reinhard Müller, FAZ v. 12.05.2019 oder Präsident Voßkuhle im Gespräch mit di Lorenzo/Wefing, DIE ZEIT Nr. 21/2020 v. 13.05.2020. Inwiefern es sich damit um eine neue Art der Öffentlichkeitsarbeit oder lediglich einen Sonderfall handelt bleibt zu beobachten. 748 Vgl. Kahn, The Reign of Law, S. 115: „The opinion creates authority in the first instance by suppressing authorship.“ Kahn verbindet Autorität einer Entscheidung insbesondere mit deren Einstimmigkeit. Ihm geht es aber nicht darum, die Qualität der Entscheidung an die Einstimmigkeit im Entscheidungsprozess zu knüpfen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wer den Adressaten eigentlich als Urheber des Textes erscheint und was daraus folgt, s. ebd., S. 115: „The point is not that unanimity demonstrates stronger judicial position or represents a larger political consensus in the nation. Rather, what is at stake is who and what we see when we read the opinion of the court. Because the opinion does not belong to the individual judge, it can appear to belong to all. It must appear to be what any citizen would say and thus what all would say together. A well-crafted opinion aims to speak in the voice of ‚we the people‘. It reminds us of that mythical moment when all first spoke in a common voice.“ Diese Überlegungen lassen sich in diesem Maße sicherlich nicht auf den deutschen Rechtskreis übertragen. Dass hinter einer einstimmigen Entscheidung die Verfassung und letztlich die Stimme des Volkes steht, erscheint uns fremd, allein schon deshalb, weil der Adressat der Entscheidungen des BVerfG schon durch seinen akademisch-sachlichen Stil weniger das Volk, als vielmehr eine Fachöffentlichkeit ist, vgl. dazu Collings, The U. S. Supreme Court and Contemporary Constitutional Law, S. 273, 284 f.; Kulick, JZ 2016, S. 67, 75 macht den Stil des Supreme 745 Vgl. dazu ausführlich Kranenpohl, Hinter 746 Anders in den USA, hier wird mitgeteilt,
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Vor diesem Hintergrund erscheint das Sondervotum als Gegenpol zur Entscheidungsbegründung, eben auch was die Autoritätswirkung des Gerichts betrifft. Das Sondervotum beansprucht keine Autorität oder möchte gar die Autorität der Entscheidung attackieren.749 Dies zeigt sich schon darin, dass die abweichende Meinung der Entscheidung angehängt wird und somit nach der Entscheidung eine Diskussion in den Gang bringen möchte.750 Dazu kommt im deutschen Kontext, dass auch die dissentierenden Richter*innen die Entscheidung unterschreiben, was symbolisch untermauert, dass die autoritative Wirkung des Urteils auch von Abweichler*innen anerkannt wird. Darüber hinaus kann es Richter*innen, die eine abweichende Meinung verfassen, schon aus eigenem Interesse nicht um einen Autoritätsangriff auf das Gericht gehen, da ihre eigene Stellung als Verfassungsrichter*in – vor allem in Deutschland – von der Autorität dieser Institution abhängig ist. Es geht letztlich um sachlichinhaltlichen Widerspruch; auch zum Teil scharfe Formulierungen sollten davon nicht ablenken. Zwar kann die abweichende Meinung eines*einer bekannten Richter*in die Überzeugungskraft des Sondervotums erhöhen,751 an die Autorität einer Gerichtsentscheidung reicht dies aber nicht heran. Ein individuelles Sondervotum wird letztlich als eine persönliche Meinung wahrgenommen.752 Die geringe bis nicht existente autoritative Kraft bei gleichzeitig verstärkter Individualisierung des Textes macht das Sondervotum zu einem subjektiv-diskursivem Instrument der Verfassungsrechtsprechung.753 Im Folgenden sollen mehrere Beispiele für Verfahren vor dem BVerfG dargestellt werden, die Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen Konfliktes waren und insbesondere auch von Sondervoten geprägt wurden. Dabei zeigt sich, dass die autoritative Konsensbildung in solchen Konfliktsituationen an ihre Grenzen kommt, mit dem Sondervotum allerdings ein hilfreiches Instrument vorliegt, mit dieser Herausforderung umzugehen.
Court anhand der Rechtssache Obergefell v. Hoges deutlich. Dagegen ist der Gedanke, dass die Einstimmigkeit einer Entscheidung nicht automatisch zu einer besseren oder überzeugenderen Rechtsprechung führt, auch für die auf das BVerfG konzentrierte Betrachtung fruchtbar zu machen. 749 Kahn, The Reign of Law, S. 114. 750 Kahn, The Reign of Law, S. 114. 751 Ein Gedanke, der auch eher im US-amerikanischen Kontext trägt, da dort die Richter*innen in der breiten Öffentlichkeit bekannter sind und deshalb eine größere Breitenwirkung mit ihren Sondervoten erreichen können. Sicherlich ist aber auch im deutschen Rechtskreis nicht zu leugnen, dass ein Sondervotum von bekannten Bundesverfassungsrichter*innen stärker beachtet werden und einen größeren Einfluss erhalten können. 752 Kahn, The Reign of Law, S. 106 f. 753 Vgl. zum Unterschied zwischen autoritativ und diskursiv bereits Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63 ff.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
(a) Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1 und 88, 203) Ein erstes Beispiel für eine Kontroverse, in die das BVerfG mittels eines durch politische Akteure initiierten Verfahrens hineingeraten ist, stellt die Frage der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen dar. Zu Beginn der 1970er Jahre gab es Bemühungen eine sog. Fristenlösung zu schaffen, nach der die Schwangere eine Beratung aufsuchen muss, um innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft straffrei abtreiben zu dürfen.754 Ein dahingehender Entwurf der Regierungsfraktionen SPD und FDP erhielt im Jahr 1974 eine nur knappe Mehrheit von 245 zu 219 Stimmen. Während der Bundesrat das Gesetz als zustimmungsbedürftig bezeichnete und nach erfolgloser Anrufung des Vermittlungsausschusses die Zustimmung versagte, was wiederum vom Bundestag zurückgewiesen wurde, beantragte das Land Baden-Württemberg im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgreich die Verhinderung des Inkrafttretens der Regelung.755 Darüber hinaus beantragten 193 Mitglieder des Deutschen Bundestags sowie fünf Landesregierungen im Wege des Organstreits die verfassungsrechtliche Überprüfung des Gesetzes beim BVerfG. Hier lässt sich eine oft zu beobachtende Grundlinie verfassungsrechtlicher Konflikte erkennen: die politisch unterlegene Minderheit führt ihren politischen Kampf gegen ein Gesetzesvorhaben zu einem hochkontroversen Thema vor dem BVerfG weiter.756 Das BVerfG kippte am Ende dieses Verfahrens die Fristenregelung des damaligen § 218a StGB, während Richterin Rupp-v. Brünneck und Richter Simon ein gemeinsames Sondervotum abgaben. Interessant für den hier untersuchten Gegenstand ist, dass sich das BVerfG der Konfliktlage bewusst war und dies auch an mehreren Stellen ausdrücklich mitteilte: „Die Frage der rechtlichen Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs wird in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten unter mannigfachen Gesichtspunkten diskutiert.“757 „Die leidenschaftliche Diskussion der Abtreibungsproblematik mag Anlaß zu der Befürchtung geben, daß in einem Teil der Bevölkerung der Wert des ungeborenen Lebens nicht mehr voll erkannt wird. Das gibt jedoch dem Gesetzgeber nicht das Recht zur Resignation. Er muß vielmehr den ernsthaften Versuch unternehmen, durch eine Differenzierung der Strafandrohung einen wirksameren Lebensschutz und eine Regelung zu erreichen, die auch vom allgemeinen Rechtsbewußtsein getragen wird.“758
Ein Bezug zur laufenden Debatte findet sich auch im Sondervotum:
754 755
Zur Prozessgeschichte vgl. BVerfGE 39, 1, 15 ff. – Schwangerschaftsabbruch I. BVerfGE 37, 324 – Schwangerschaftsabbruch I (einstweilige Anordnung). 756 Dazu und den damit zusammenhängenden Problemen ausführlich Thiele, Verlustdemokratie, S. 160 ff. 757 BVerfGE 39, 1, 35 – Schwangerschaftsabbruch I. 758 BVerfGE 39, 1, 66 – Schwangerschaftsabbruch I (eigene Hervorhebungen).
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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„Erst recht ist es verfehlt, wenn nicht unsachlich, die Fristenlösung in die Nähe der Euthanasie oder gar der ‚Tötung unwerten Lebens‘ zu rücken, um sie von daher zu diskriminieren – wie dies in der öffentlichen Diskussion geschehen ist.“759
Die Mehrheit des Ersten Senats ging sehr kritisch mit der Fristenlösung um: Den Staat treffe aus Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG eine umfassende Schutzpflicht für das sich im Mutterleib entwickelnde Leben. Aus dem absoluten Schutz des Lebens folgerte die Mehrheit, dass für die gesamte Dauer der Schwangerschaft der Lebensschutz Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren genieße.760 Ein Abbruch der Schwangerschaft bliebe damit nur bei absoluten Ausnahmesituationen straffrei, wenn der Schwangeren die Pflicht zur Austragung des Kindes „unzumutbar“ sei.761 Das Sondervotum nahm demgegenüber die Position der Gegner*innen einer solch rigiden Strafbarkeit ein. Der Gesetzgeber hätte sich für die Fristenregelung entscheiden dürfen. Dabei wurde noch einmal die Spannungslage in solchen Konstellationen offenbart: „Solange es aber daran noch fehlt, droht die Gefahr, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich nicht auf die Nachprüfung der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung beschränkt, sondern diese durch eine andere, vom Gericht für besser gehaltene ersetzt. Diese Gefahr besteht in erhöhtem Maße, wenn – wie hier – in stark kontroversen Fragen eine nach langen Auseinandersetzungen getroffene Entscheidung der Parlamentsmehrheit von der unterlegenen Minderheit vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen wird. Unbeschadet der legitimen Befugnis der Antragsberechtigten, verfassungsrechtliche Zweifel auf diesem Wege klären zu lassen, gerät hier das Bundesverfassungsgericht unversehens in die Lage, als politische Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten in Anspruch genommen zu werden.“762
Das Sondervotum erfüllt hier zweierlei Funktionen: Erstens den Hinweis und damit die Sensibilisierung dafür, dass das Gericht sich hier weit in die politische Diskussion hineinziehen lässt und dem Gesetzgeber konkrete Vorgaben macht. Zweitens nimmt das Votum die sachliche Gegenposition ein und lehnt, im Interesse eines gestärkten Selbstbestimmungsrechts der Frau, die Strafbarkeit auch für einen frühen Schwangerschaftsabbruch ab. Urteil und Sondervotum zusam759 760
BVerfGE 39, 1, 80 – Schwangerschaftsabbruch I (eigene Hervorhebungen). BVerfGE 39, 1, 42 ff. – Schwangerschaftsabbruch I. 761 BVerfGE 39, 1, 48 ff. – Schwangerschaftsabbruch I. Dies gelte etwa, wenn der Schwangerschaftsabbruch zum Schutz der Schwangeren medizinisch notwendig sei, ebd., 49. 762 BVerfGE 39, 1, 72 – Schwangerschaftsabbruch I (eigene Hervorhebungen). Die beiden Richter*innen plädieren daher ganz offen für eine Zurückhaltung des Gerichts: „Es [das BVerfG darf dem Gesetzgeber nur dann entgegentreten, wenn er eine Wertentscheidung ganz außer acht gelassen hat oder die Art und Weise ihrer Realisierung offensichtlich fehlsam ist. Demgegenüber legt die Mehrheit dem Gesetzgeber trotz vermeintlicher Anerkennung seiner Gestaltungsfreiheit faktisch zur Last, er habe eine an sich anerkannte Wertentscheidung nach ihrer Auffassung nicht bestmöglich verwirklicht. Sollte das zum allgemeinen Prüfungsmaßstab werden, so wäre damit das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung preisgegeben.“ Zu dieser Argumentationsfigur vgl. auch ausführlich 2. a).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
men bilden also die bestehenden Konfliktlinien ab und halten damit für alle Diskursbeteiligten etwas bereit. Wenn schon auf politischer Ebene kein Konsens, sondern nur mühsam ein Kompromiss hergestellt werden kann, warum sollte es dem BVerfG unter den genannten Bedingungen763 anders ergehen? Der Konflikt um den Schwangerschaftsabbruch wurde, was wenig überrascht, durch dieses Urteil nicht aufgelöst. In den 1990er Jahren entschied sich der Gesetzgeber für ein neues Konzept, wonach der Abbruch der Schwangerschaft durch die Schwangere in den ersten zwölf Wochen nach einer befolgten Beratung nicht mehr als „rechtswidrig“ eingestuft wurde. Wiederum gab es nur eine knappe Mehrheit im Bundestag. Das Land Bayern und über 200 Abgeordnete des Deutschen Bundestags strengten abermals ein Organstreitverfahren an und waren damit erfolgreich.764 Das BVerfG entschied mit sechs zu zwei Stimmen, dass das vom Gesetzgeber verfolgte „Ziel, Schwangerschaftsabbrüche, die während der ersten zwölf Wochen nach Beratung auf Verlangen der Schwangeren – ohne Feststellung von Indikationen – von einem Arzt vorgenommen werden, nicht mit Strafe zu bedrohen“ lediglich erreicht werden könne, „indem er diese Schwangerschaftsabbrüche aus dem Tatbestand des § 218 StGB ausnimmt; sie können nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden.“765 Dies erklärt sich daraus, dass die Mehrheit des Senats den Schutz des ungeborenen Lebens absolut verstand und dementsprechend die Rechtsordnung eine solche Tötung des Lebens nicht als gerechtfertigt ansah. Die Rechtsordnung müsse deshalb „in geeigneter Weise“ zum Ausdruck bringen, dass solche Handlungen missbilligt würden.766 Das Urteil verhinderte damit also nicht die Straffreiheit des frühen Schwangerschaftsabbruchs grundsätzlich einzuführen, verlangte aber ein bestimmtes rechtliches Konzept und betonte – wie schon im ersten Urteil – den absoluten Lebensschutz des Ungeborenen. Die Senatsmehrheit brachte damit also klar zum Ausdruck, dass sie aufgrund verfassungsrechtlicher Erwägungen gegen solche frühen Schwangerschaftsabbrüche Stellung bezieht. Dem stand das Sondervotum der Richter Mahrenholz und Sommer diametral entgegen. Die Richter lehnten eine „Rechtspflicht zum Austragen des Kindes“ während der „gesamten Dauer einer Schwangerschaft“ klar ab.767 Nach ihrer Ansicht stehe die Verfassung einer gesetzlichen Regelung nicht entgegen, die den frühen Schwangerschaftsabbruch als strafrechtlich gerechtfertigt einstuft. 763
S. dazu (1) (b). Zur Prozessgeschichte BVerfGE 88, 203, 213 ff. – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 88, 203, 298 ff. – Schwangerschaftsabbruch II (Hervorh. i. Orig.). Das Stimmenverhältnis wurde nicht ausdrücklich mitgeteilt, ergibt sich aber aus der ablehnenden Haltung der beiden dissentierenden Richter Mahrenholz und Sommer, ebd., 338 ff. Böckenförde widersprach der Senatsmehrheit dagegen nur in Teilfragen, ebd., 359 ff. 766 BVerfGE 88, 203, 279 – Schwangerschaftsabbruch II. 767 BVerfGE 88, 203, 338 ff. – Schwangerschaftsabbruch II. 764 765
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Insbesondere wird hier auch auf die Rolle der Frau eingegangen und somit die Perspektive der unmittelbar Betroffenen stärker betont: „Zu den spezifischen Grundbedingungen menschlichen Seins gehört, daß Sexualität und Kinderwunsch nicht übereinstimmen. Die Folgen dieser Divergenz haben die Frauen zu tragen.“768 „Hiervon ausgehend ist die Beratungsregelung, wie auch das Urteil deutlich erkennen läßt, nicht das frustrierte Ausweichen vor einem frustrierenden Mißerfolg der Indikationenlösung. Die neue Regelung ist vielmehr die Konsequenz aus einem gewandelten Verständnis von der Personalität und Würde der Frau.“769 „Frauen entschließen sich nicht leichten Herzens und ohne Grund zu einem solchen Eingriff.“770
Auch hier lassen sich also die bereits vorher bestehenden und auch nach der Entscheidung noch existierenden Konfliktlinien771 anhand der Urteilsbegründung und des Sondervotums abbilden. Beide Entscheidungen zur Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sind damit prägnante Beispiele für die Diskursoffenheit, die durch Sondervoten bei konfliktträchtigen Verfassungsstreitigkeiten erreicht werden kann. Ob diese Art der Rechtsprechung zu einer Befriedung der Gesellschaft oder gar Integration führen, ist eine Frage, die für die Rechtswissenschaft kaum zu beantworten ist. Der Wert des Sondervotums liegt aber darin, neben der notwendigen autoritativen Entscheidung einen nicht lösbaren Grundkonflikt offenlegen zu können und dadurch keine Mauern zu errichten, sondern Türen offenzuhalten.
(b) Kruzifix (BVerfGE 93, 1) Ein weiteres Beispiel für gesellschaftspolitische Kontroversen, die das BVerfG erreichen und auch dort keine endgültige Lösung erfahren, stellt der Kruzifix-Beschluss aus dem Jahr 1995 dar.772 Nachdem in öffentlichen bayerischen Volksschulen aufgrund der Volksschulordnung in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen war, legten mehrere Eltern Verfassungsbeschwerde gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen ein, die eine Verletzung ihrer negativen Religionsfreiheit und anderer Grundrechte verneint hatten.773 Das BVerfG stellte dagegen mehrheitlich eine Grundrechtsverletzung der Art. 19 Abs. 4, 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 S. 1 GG fest.774 Das Anbringen von Kreuzen überschreite „die 768 769
BVerfGE 88, 203, 338 – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 88, 203, 341 f. – Schwangerschaftsabbruch II. 770 BVerfGE 88, 203, 350. – Schwangerschaftsabbruch II. 771 Vgl. zu den Reaktionen auf die Entscheidungen m. w. Nachw. Dederer, in: Menzel/ Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 264 ff. 772 BVerfGE 93, 1 – Kruzifix. 773 Zur Prozessgeschichte BVerfGE 93, 1, 2 ff. – Kruzifix. 774 BVerfGE 93, 1, 13 ff. – Kruzifix.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule“ und sei auch nicht durch die positive Glaubensfreiheit der dem christlichen Glauben angehörigen Eltern und Schüler gerechtfertigt: „Der daraus entstehende Konflikt läßt sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten.“775
Die Senatsmehrheit folgte damit der Grundintention der Grundrechte als klassische Minderheitenrechte, die auch im christlich geprägten Bundesland Bayern nicht-religiösen Bürger*innen die Möglichkeit geben, von Glaubenssymbolen verschont zu bleiben. Die drei dissentierenden Richter*innen Seidl, Söllner und Haas konnten eine Grundrechtsverletzung hingegen nicht erkennen.776 Es wird zunächst dafür plädiert, den landeseigenen Kontext zu beachten und damit dem Pluralismus des Bundesstaates Rechnung zu tragen: „Die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen muß danach von den Gegebenheiten des Freistaates Bayern ausgehen und darf nicht die Verhältnisse, die in anderen Ländern der Bundesrepublik gegeben sein mögen, zum Ausgangspunkt nehmen.“777
Das Sondervotum argumentiert darüber hinaus, dass das Kreuz nicht nur ein christliches, sondern insbesondere auch ein Symbol „für die überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen“ darstelle, welche „auch von einem Großteil der einer Kirche fernstehenden Personen begrüßt oder wenigstens respektiert“ werde.778 Das für den Staat geltende Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität dürfe gerade nicht als „eine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden.“779 Scharf wendet sich die Senatsminderheit gegen eine Überbetonung der negativen Religionsfreiheit: „Dabei ist die negative Religionsfreiheit kein Obergrundrecht, das die positiven Äußerungen der Religionsfreiheit im Falle des Zusammentreffens verdrängt. Das Recht der Religionsfreiheit ist kein Recht zur Verhinderung von Religion. Der notwendige Ausgleich zwischen beiden Erscheinungsformen der Religionsfreiheit muß im Wege der Toleranz bewerkstelligt werden […].“780
775 776
BVerfGE 93, 1, 23 f. – Kruzifix. BVerfGE 93, 1, 25 ff. – Kruzifix. Richterin Haas hat darüber hinaus noch ein Sondervotum verfasst, indem sie bereits die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde anzweifelte, BVerfGE 93, 1, 34 ff. – Kruzifix. 777 BVerfGE 93, 1, 26 – Kruzifix. 778 BVerfGE 93, 1, 28 – Kruzifix. 779 BVerfGE 93, 1, 29 – Kruzifix. 780 BVerfGE 93, 1, 32 – Kruzifix.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Insofern stehen sich eine gewisse Überbetonung der positiven Religionsfreiheit einerseits und der negativen Religionsfreiheit und weltanschaulich-religiöser Neutralitätspflicht des Staates andererseits unversöhnlich gegenüber. Die teils heftigen Reaktionen781 auf den Kruzifix-Beschluss offenbaren, dass es dem Gericht nicht gelang, den gesellschaftlichen bzw. politischen Konflikt durch seine Entscheidung aufzulösen. Im Gegenteil: Die Entscheidung löste eine breite Diskussion aus und brachte das Gericht selbst in die Schussbahn der Kritik.782 Trotz dieser angespannten Lage nach der Entscheidung zeigt das Beispiel auf, dass das Sondervotum eine Diskursoffenheit schafft. Die Gegner*innen eines allzu auf religiöse Neutralität im schulischen Kontext bauenden Bürger*innen und Politiker*innen finden sich in der fundamentalen Kritik im Sondervotum wieder; Gegner*innen dessen hingegen in der Begründung der Senatsmehrheit. Der Kruzifix-Beschluss ist ein Beleg dafür, dass die an eine solche Entscheidung anschließenden Diskussionen das Gericht in eine schwierige Lage bringen und auch keine friedlich-integrierte Gesellschaft hinterlassen. Dies kann aber auch gar nicht Aufgabe des BVerfG sein oder man wird es daran notwendig scheitern sehen. Diskursoffenheit führt eben auch dazu, dass die Diskussion in jegliche Richtungen weitergeführt kann, was eine gewisse Unsicherheit produziert und Risiken birgt. Dies ist aber vielmehr Resultat der Grundbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit (s. o.) und kein Scheitern des BVerfG. Der Kruzifix-Beschluss offenbart besonders deutlich, dass Grundrechte als Minderheitenrechte zwangsläufig zu Konflikten führen.
(c) Soldaten sind Mörder (BVerfGE 93, 266) Zu den heikleren, ebenfalls in diesen Kontext gehörenden Entscheidungen des BVerfG zählt die Soldaten sind Mörder-Entscheidung, ebenfalls aus dem Jahr 1995. Das Gericht hatte über mehrere Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die sich gegen strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung durch Aussagen wie „Soldaten sind Mörder“ oder „Soldaten sind potentielle Mörder“ im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG richteten.783 Die Senatsmehrheit stufte die zu prüfenden Äußerungen als von der Meinungsfreiheit geschützt ein und hob daher die strafrechtlichen Gerichtsentscheidungen auf. Die Beschwerdeführer hätten „nicht von bestimmten Soldaten behauptet, diese hätten in der Vergangenheit einen Mord begangen“, sondern „vielmehr ein Urteil über Soldaten und über den Soldatenberuf zum Ausdruck 781 Vgl. dazu ausführlich und m. w. Nachw. Schultze zu Sodingen, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 582, 586 ff. 782 Statt vieler: Der ehemalige Präsident des BVerfG Benda nannte die Entscheidung öffentlich „nahezu unbegreiflich“, NJW 1995, S. 2470. 783 Zur Prozessgeschichte BVerfGE 93, 266, 267 – Soldaten sind Mörder. Vgl. auch die bereits zuvor ergangene Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senates zu einem ähnlichen Fall, NJW 1994, S. 2943 f.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
gebracht, der unter Umständen zum Töten andere Menschen zwingt.“784 Insbesondere liege auch keine unzulässige Schmähkritik vor, da es den Beschwerdeführern „erkennbar um eine Auseinandersetzung in der Sache, und zwar um die Frage, ob Krieg und Kriegsdienst und die damit verbundene Tötung von Menschen sittlich gerechtfertigt sind oder nicht“ gegangen sei.785 Besonders interessant ist an dieser Stelle, dass die Entscheidungsbegründung nicht nur den Fachgerichten, sondern auch der abweichenden Richterin ein falsches Verständnis der Schmähkritik attestiert: „Auch dem Sondervotum liegt nicht der in der Verfassungsrechtsprechung mit Rücksicht auf die Meinungsfreiheit entwickelte enge Begriff der Schmähung zugrunde.“786
Richterin Haas kritisiert in ihrem Sondervotum dagegen zunächst, dass die Senatsmehrheit den verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab derart geweitet habe, dass das Gericht „die tatrichterliche Deutungskompetenz weitgehend für sich beansprucht“, indem es prüft, ob der Richter der Fachgerichtsbarkeit „den Sinn einer mehrdeutigen Äußerung in jeder Hinsicht zutreffend gedeutet hat“.787 Besonders beachtenswert ist, dass die Senatsmehrheit in der Entscheidungsbegründung auf diese Kritik des Sondervotums ausdrücklich Bezug nimmt und ausdrücklich darauf hinweist, dass es „keine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung zum Umfang der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts“ vollziehe:788 „Die Ausführungen im Sondervotum, die von dieser ständigen Rechtsprechung abweichen, geben keinen Anlaß, die bisherige Praxis aufzugeben und den Grundrechtsschutz der Meinungsäußerung einzuschränken.“789
Darüber hinaus kritisiert das Sondervotum auch die inhaltliche Deutung der Senatsmehrheit und sieht die Äußerungen der Beschwerdeführer als nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt an. Die Fachgerichte hätten zurecht festgestellt, dass die „Schmähung der Soldaten das übrige Geschehen in einer Weise dominiert, daß ein etwa gleichfalls zum Ausdruck gebrachtes sachliches Anliegen zurücktritt.“790 Zudem plädiert Haas für eine Sonderstellung der Soldaten: „Für öffentliche Äußerungen mit Bezug auf die Angehörigen der deutschen Streitkräfte muß dies um so mehr deshalb gelten, als die Soldaten verpflichtet sind, den verfas784
BVerfGE 93, 266, 289 f. – Soldaten sind Mörder. BVerfGE 93, 266, 303 – Soldaten sind Mörder. BVerfGE 93, 266, 303 – Soldaten sind Mörder. 787 BVerfGE 93, 266, 314 f. – Soldaten sind Mörder. 788 BVerfGE 93, 266, 296 – Soldaten sind Mörder. 789 BVerfGE 93, 266, 297 – Soldaten sind Mörder. Ein Phänomen, dass sich auch in BVerfGE 105, 313, 348 – Eingetragene Lebenspartnerschaften, ebenfalls bzgl. eines Sondervotums der Richterin Haas, beobachten lässt. 790 BVerfGE 93, 266, 317 – Soldaten sind Mörder. 785 786
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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sungsrechtlich vorgegebenen Verteidigungsauftrag nach besten Kräften zu erfüllen. Sie setzen ihr Leben ein, um von der Zivilbevölkerung die Greuel des Krieges fernzuhalten und deren Leben und nicht zuletzt auch das derjenigen zu schützen, die ihr Tun geringschätzen und sie in der Öffentlichkeit verächtlich machen. Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waffendienst verpflichtet und von ihnen Gehorsam verlangt, muß denjenigen, die diesen Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie wegen dieses Soldatendienstes geschmäht und öffentlich als Mörder bezeichnet werden.“791
Auch hierauf nimmt die Senatsmehrheit in der Entscheidungsbegründung Bezug: „Eine andere Beurteilung ist entgegen dem Sondervotum auch nicht deshalb geboten, weil die Äußerung Soldaten betrifft. Insbesondere macht der Umstand, daß Soldaten Waffendienst leisten, als Wehrpflichtige hierzu vom Staat herangezogen werden und dabei Gehorsam üben müssen, ihre persönliche Ehre nicht schutzwürdiger als diejenige von Angehörigen ziviler Bevölkerungsgruppen. Ein verfassungsrechtlicher Grundsatz, wonach bestimmte Gehorsamspflichten durch erhöhten Ehrenschutz zu kompensieren sind, besteht nicht.“792
Ohne inhaltlich auf diese Kontroverse einzugehen, zeigt sich hier ein interessantes Wechselspiel zwischen Entscheidungsbegründung und Sondervotum.793 Die Diskursöffnung durch Sondervoten zeigt sich hier also noch einmal in einer anderen Ausprägung: Auch das Gericht selbst nimmt eine dissenting opinion mitunter zum Anlass, auf gegenteilige Positionen ausdrücklich einzugehen. Ähnlich wie der Kruzifix-Beschluss hatte diese Entscheidung alles andere als eine diskursbeendende oder befriedende Wirkung.794 Daher wird erneut deutlich, dass das Sondervotum hier den Diskurs in besonderer Weise öffnet – mit allen Auswirkungen, die das auf das Gericht und das Verfassungsgefüge insgesamt mit sich bringt.
791
BVerfGE 93, 266, 318 – Soldaten sind Mörder. BVerfGE 93, 266, 304 f. – Soldaten sind Mörder (eigene Hervorhebungen). Verwundert darüber zeigt sich Zuck, JZ 1996, S. 364: Da das Sondervotum laut dem Gesetzeswortlaut der Entscheidung „anzuschließen“ sei, könne es eigentlich erst nach der Entscheidungsbegründung vorliegen. „Die begründete Entscheidung muß dem Sondervotum vorausgehen.“ Nach § 55 Abs. 1 GO BVerfG muss ein Sondervotum „binnen drei Wochen nach der Fertigstellung der Entscheidung dem oder der Vorsitzenden des Senats vorliegen.“ Damit wird lediglich geregelt, wann ein Sondervotum spätestens vorliegen muss. Es wird also nicht gesagt, dass nicht bereits vorher von den dissentierenden Richter*innen ein Sondervotum dem*der Vorsitzenden oder dem Senat vorgelegt werden kann. Insofern hält sich die hier gewählte Vorgehensweise im rechtlichen Rahmen (was auch von Zuck nicht bezweifelt wird), ist aber unstreitig ungewöhnlich. Ein weiteres Beispiel für ein Verweis auf das Sondervotum in der Entscheidungsbegründung findet sich in BVerfGE 136, 152, 174 – Versorgungsausgleich. 794 Zur Kritik statt vieler Zuck, JZ 1996, S. 364, 365: „weltfremd“, „gefährliche Richtungsänderung“, „gefährlichen Eingriff in den Verantwortungsbereich der Fachgerichte“. 792 793
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
(d) Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (Beschl. v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –) Ein aktuelles Beispiel für eine gesellschaftspolitische Kontroverse, die letztlich vor dem BVerfG landet, ist das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen. Die Diskussion um die Zulässigkeit des Tragens religiöser Symbole ist schon seit langer Zeit Gegenstand von Debatten, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass das BVerfG bereits mehrfach zu Kopftuchverboten bei Lehrerinnen entschieden hat.795 Auch ein Bezug zum Kruzifix-Beschluss lässt sich herstellen, da sich hier ähnliche Rechtsfragen stellten.796 Der Beschluss aus dem Jahr 2020 betraf eine hessische Regelung bezüglich des Rechtsreferendariats.797 Nach der auf sie Anwendung findenden beamtenrechtlichen Neutralitätspflicht dürfen Rechtsreferendar*innen „Kleidungs stücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden“. Darüber hinaus existierte ein Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz, der klarstellte, dass Referendarinnen ein Kopftuch nicht bei Verhandlungen oder Sitzungsvertretungen tragen dürfen. Nachdem ihre Beschwerde beim Präsidenten des LG Frankfurt a. M. nicht erfolgreich war, bestritt eine Rechtsreferendarin den verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg und legte schließlich Verfassungsbeschwerde gegen die Gerichtsentscheidungen ein. Mit einer Mehrheit von sieben zu einer Stimme entschied der Zweite Senat, dass das Kopftuchverbot mit der Verfassung vereinbar sei.798 Den Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit der Referendarin sah die Senatsmehrheit durch die verfassungsimmanenten Schranken der staatlichen Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der negativen Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten als gerechtfertigt an.799 Das Verbot beschränke sich „auf wenige einzelne Tätigkeiten“ und gelte für „einen vergleichsweise kurzen Zeitraum der Ausbildungsdauer“. Eine „Ab-
795
BVerfGE 108, 282 – Kopftuchverbot Baden-Württemberg, mit abw. Meinung Jentsch/ Di Fabio/Mellinghoff; BVerfGE 138, 296 – Kopftuchverbot NRW, mit abw. Meinung Schluckebier/Hermanns. Vgl. auch die Entscheidung des BayVerfGH NJW 2019, 2151 – Kopftuchverbot Justizdienst. 796 S. dazu bereits (b). 797 Zur Prozessgeschichte BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 2 ff. – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 798 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 120 – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 799 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 87 ff. – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen.
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leistung eines im Ergebnis vollwertigen Rechtsreferendariats“ sei der Rechtsreferendarin also nach wie vor möglich.800 Richter Maidowski gab zu dieser Entscheidung eine dissenting opinion ab. Er kritisiert, dass der Anwendungsbereich der betreffenden Norm nicht auf die genannten Situationen wie etwa Sitzungsvertretungen beschränkt sei, sondern für den Dienst im Allgemeinen gelte.801 Zudem handle es sich zwar „quantitativ nur um einen kleinen Teil der insgesamt im Vorbereitungsdienst anfallenden Aufgaben“, jedoch bestehe ein qualitativer Unterschied zwischen „Sitzungsleitung, Beweisaufnahme, Erörterungstermin, staatsanwaltliche[r] Sitzungsvertretung“ und anderen Tätigkeiten des Vorbereitungsdienstes. Deshalb seien die Auswirkungen für die Rechtsreferendarin „deutlich stärker zu gewichten“.802 Zudem unterscheidet er, im Gegensatz zur Senatsmehrheit, zwischen in der Ausbildung befindlichen Referendarinnen und Richterinnen und Staatsanwältinnen: Erstere könnten die wichtigen Belange wie die Neutralitätspflicht oder die Funktionsfähigkeit „deutlich weniger beeinträchtigen“ als dauerhaft im Justizdienst befindliche Personen: „Unter der Voraussetzung, dass ihre Rolle als nur zeitweilig in die Justiz eingegliederte und in der Ausbildung befindliche Juristinnen auf dem Weg zur zweiten Staatsprüfung zweifelsfrei erkennbar ist und in ihrer Bedeutung nötigenfalls erläutert wird […], liegt eine Identifikation ihres Dienstherrn mit der von ihnen gezeigten Hinwendung zu ihrer Religion fern“.803 Insofern bestehe das „mildere Mittel“ zum Verbot des Kopftuchs darin, die Verfahrensbeteiligten auf ihre Stellung als Rechtsreferendarin hinzuweisen; eine „Zurechnung“ der religiösen Prägung der Referendarin zur Richter- oder Staatsanwaltschaft scheide dann aus.804 Darüber hinaus gibt Maidwoski auch zu bedenken, dass es noch an „gesicherten empirischen Grundlagen“ fehle, die „über Art und Wahrscheinlichkeit einer Beeinflussung Dritter durch religiös konnotierte Kleidung oder Symbole“ Auskunft geben könnten.805 Bei dem Verbot von Kopftüchern und anderen religiösen Symbolen handelt es sich um eine politisch und gesellschaftlich sehr kontrovers debattierte Frage. Das BVerfG wurde hier wiederum mit einer Streitschlichtung beauftragt. Dass die Debatte um das Kopftuch bei Beamtinnen und Referendarinnen damit ein Ende finden würde, war nicht ernsthaft zu erwarten. Vielmehr war zu beobach800 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 104 f. – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 801 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 4. – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 802 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 12 f. – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 803 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 14 – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 804 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 20 f. – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen. 805 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 26 – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
ten, dass die Debatte durch die Entscheidung des BVerfG neue Schärfe gewann. Das Gericht musste viele ablehnende Besprechungen über sich ergehen lassen, die das übliche Maß an kritischer Urteilsbesprechung überschritten. So schrieb etwa Gärditz: „An die Stelle eines bislang wohltuend die Handschrift des Senats prägenden – im besten Sinne: konservativen – Vertrauens in eine institutionell gebundene Alltagsvernunft tritt hier ein reaktionärer Progressivismus, dessen Unfähigkeit, in einer sich immer weiter säkularisierenden Gesellschaft auch einmal gelebte Religiosität auszuhalten, allenfalls eingefleischte DDR-Nostalgiker erfreuen kann. Hier spricht der verkrustete Provinzialismus der Berliner Republik, die sich Religiosität außerhalb privater Räume eigentlich nur noch als fremd gewordene Ruhestörung im Mausgrau angeblich bunter Säkularität vorstellen kann.“ „Es ist eine im Duktus verstörende Entscheidung.“806
Viel schärfer kann man als Staatsrechtslehrer eine Entscheidung öffentlich nicht kritisieren. Auch andere hielten sich mit kritischen Bemerkungen nicht zurück: „Der Senat verfehlt damit spektakulär die vornehmste Aufgabe eines Verfassungsgerichts: den grundrechtlichen Schutz von Minderheiten sicherzustellen.“807
Besonders beachtenswert ist ein FAZ-Leserbrief von Wolfgang Thierse (SPD), ehemaliger Bundestagsvizepräsident: „Das Urteil aus Karlsruhe hat mich zutiefst getroffen und verstört. Die Richter haben entgegen ihrer Beteuerung, sie wollten doch nur die Verfassungsgemäßheit eines beklagten Gesetzes überprüfen, die ‚Grundfesten unserer ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen‘, so Voßkuhle, erschüttert. Ich halte dieses Urteil tatsächlich für einen tiefen Einschnitt in die deutsche Rechts- und Sittengeschichte, es wird unser Land folgenreich verändern. Hier haben ‚furchtbare Juristen‘ in geradezu triumphalistischer Manier die Selbsttötung zum Inbegriff der Autonomie des Menschen gemacht!“808
Thierses Äußerung ist besonders deshalb bemerkenswert, weil er sich der Formulierung „furchtbare Juristen“ bedient, die insbesondere im Kontext von Ingo Müllers gleichnamigen Buch über Juristen in der NS-Zeit und im Nachkriegsdeutschland bekannt ist.809 Bringt hier tatsächlich ein ehemaliger VizePräsident des Deutschen Bundestags die Richter*innen des BVerfG bewusst mit nationalsozialistischen Juristen in einen Zusammenhang? BVerfG-Präsident Harbarth antwortete darauf in einem Interview ebenso ungewöhnlich deutlich: 806 807
Gärditz, Legal Tribune Online v. 27.02.2020. Mangold, Verfassungsblog v. 27.02.2020; ebenfalls krit. Ibold, JuWiss-Blog Nr. 16/2020 v. 02.03.2020. 808 FAZ v. 29.02.2020. 809 Müller, I, Furchtbare Juristen. Diese Parallele erkennt auch Geyer, FAZ.net v. 05.03.2020.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
189
„Jeder hat das Recht, Kritik zu üben – auch an Verfassungsorganen. Der Begriff ‚furchtbare Juristen‘ aber ist seit Jahrzehnten durch die Beschreibung der NS-Richterschaft im Dritten Reich und nach Kriegsende belegt. Sei es mit Absicht, sei es aus Nachlässigkeit: Ein Verfassungsorgan der aus den Trümmern der Naziherrschaft entstandenen Bundesrepublik durch Verwendung dieses Begriffes in die Nähe von NS-Institutionen zu rücken, ist gänzlich inakzeptabel.“810
Das Sondervotum spielt auch in den Besprechungen eine Rolle und hier bewahrheitet sich die These von der Funktion der Sondervoten in derartigen Konfliktklagen – es kann die Konfliktlinien abbilden und den Diskurs damit offenhalten und begleiten: „Was bleiben wird, ist ein leidenschaftliches und überzeugendes Sondervotum des Richters Maidowski. Diesem ist zu danken.“811
(3) Kein Automatismus bei kontroversen Rechtsfragen Auch wenn einige Beispiele dafür zu finden sind, dass sich gesellschaftliche oder politische Konflikte durch Sondervoten bei Entscheidungen des BVerfG abbilden lassen, kann daraus kein Automatismus abgeleitet werden. Besonders kontroverse oder öffentlich stark diskutierte Rechtsfragen führen nicht immer zu abweichenden Meinungen Dies lässt sich etwa an der Rechtsprechung des BVerfG zur europäischen Integration aufzeigen. Zwar gibt es hier auch einige Entscheidungen mit Sondervoten,812 jedoch kommen viele große Urteile ohne abweichende Meinungen aus.813 Während im Februar 2020 bei der Entscheidung über das Einheitliche Patentgericht drei Richter*innen eine dissenting opinion abgaben und sich dabei gegen eine erweiterte Kontrollkompetenz des BVerfG in Fragen der europäischen Integration richteten,814 erging nur drei Monate später ein spektakuläres Urteil, welches kompetenzwidrige Handlungen des EuGH und der EZB feststellte und eine Entscheidung des Gerichtshofs erstmals für das BVerfG als 810
Wais, Interview mit der Augsburger Allgemeinen v. 12.03.2020. Gärditz, Legal Tribune Online v. 27.02.2020. Auch andere Besprechungen nehmen darauf Bezug, s. Mangold, Verfassungsblog v. 27.02.2020 und Sandhu, Verfassungsblog v. 28.02.2020. 812 BVerfGE 37, 271 – Solange I, mit abw. Meinung Rupp/Hirsch/Wand; BVerfGE 126, 286 – Honeywell, mit abw. Meinung Landau; BVerfGE 134, 366 – OMT-Vorlagebeschluss, mit abw. Meinungen Lübbe-Wolff und Gerhardt; BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats vom 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 – Einheitliches Patentgericht, mit abw. Meinung Köning/Langenfeld/Maidowski. 813 BVerfGE 73, 339 – Solange II; BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 123, 267 – Lissabon; BVerfG, Beschl. d. Ersten Senats vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I; BVerfG, Beschl. d. Ersten Senats vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II; BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl II; BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats vom 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 – EZB-Staatsanleihenkaufprogramm. 814 BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats vom 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 – Einheitliches Patentgericht, abw. Meinung König/Langenfeld/Maidowski. 811
190
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
nicht bindend erklärte.815 Diese Entscheidung erging ohne Sondervoten, auch nicht, was mitunter erwartet oder erhofft worden war,816 von den Richter*innen König, Langenfeld oder Maidowski. Dieses Beispiel zeigt ganz deutlich, dass mit Prognosen von außen hinsichtlich einer abweichenden Meinung besonders vorsichtig umgegangen werden muss. Es gibt keine Garantien dafür, dass Richter*innen – entgegen ihrer vorherigen Praxis – in ähnlichen Fällen ein Sondervotum abgeben. Dafür sind derart viele Gründe und Motive konstruierbar, dass mit einer solchen Spekulation durch externe Beobachter*innen gar nicht erst begonnen werden sollte. Auch außerhalb der Rechtsprechung zur Europäischen Integration lassen sich Beispiele für Entscheidungen über besonders kontroverse Rechtsfragen finden, die ohne Sondervotum auskommen. Aus der jüngsten Vergangenheit ist hier auf die Entscheidung Recht auf selbstbestimmtes Sterben hinzuweisen.817 Die Sterbehilfe und ihre strafrechtliche Verfolgung ist ein seit Jahren stark diskutiertes Thema – zu einem Sondervotum kam es dennoch nicht. In diesem Kontext sind noch Äußerungen des aktuellen Präsidenten des BVerfG, Stefan Harbarth818, in den Blick zu nehmen. Dieser offenbarte in einem aktuellen Interview eine Vorliebe für die Einstimmigkeit von Entscheidungen: „Das Bundesverfassungsgericht hat in vielen Fällen, in denen ein großer gesellschaftlicher Streit existierte, die Aufgabe, ganz am Ende dieses gesellschaftlichen Streits zu sprechen. Und deshalb geht vom Bundesverfassungsgericht auch oft eine befriedende Funktion aus, eine gesellschaftlich befriedende Funktion aus. Diese gesellschaftlich befriedende Funktion könnte das Bundesverfassungsgericht nicht wahrnehmen, wenn es ständig in den Senaten mit 4:4 oder mit 5:3 entscheiden würde. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Nehmen Sie etwa die Sanktionen bei Hartz IV. Das ist ja ein Thema, das die Gesellschaft seit vielen Jahren sehr stark spaltet. Das Bundesverfassungsgericht hat es geschafft, die Frage einstimmig zu entscheiden. Und das ist auch wichtig, nicht nur für die Akzeptanz des konkreten Urteils. Es ist auch wichtig für die Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts als Institution, weil es eben zeigt, dass es im Bundesverfassungsgericht nicht darum geht, einen kleinkarierten Kampf mit anderen Mitteln 815 BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats vom 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 – EZB-Staatsanleihenkaufprogramm. 816 Meyer, Verfassungsblog v. 07.05.2020: „‚Das Urteil‘ ist auch eine Chiffre für die hinter dem Urteil stehenden Personen. Vorliegend erging das Urteil 7 zu 1. Leider hat diese ‚1‘ kein Sondervotum vorgelegt, so dass wir nicht wissen, wer die eine Person war, die – mutmaßlich – europafreundlicher geurteilt hätte. Das ist sehr bedauerlich, weil seit Solange I die Sondervoten in Europafragen als Beleg hilfreich gewesen sind, um die Widersprüche in den Mehrheitspositionen aufzudecken. Und den Weg zu weisen für eine mögliche bessere Rechtsprechung“. 817 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben. 818 Zur Diskussion um dessen Bestellung an das BVerfG vgl. Klatt, M. K., JuWissBlog Nr. 83/2018 v. 04.10.2018. Zur Problematik der Befangenheit bei laufenden Verfahren aufgrund der politischen Vergangenheit Harbarths vgl. Klatt, M. K., JuWissBlog Nr. 3/2020 v. 21.01.2020.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
191
fortzusetzen, sondern dass das Bundesverfassungsgericht nach rechtlichen Maßstäben urteilt, und dass es deshalb auch für die befriedende Funktion wichtig ist, wenn diese rechtlichen Maßstäbe von möglichst vielen Richterinnen und Richtern in der gleichen Weise gesehen und dann angewandt werden.“819
Auch sein Vorgänger im Amt des Präsidenten, Andreas Voßkuhle, wurde oft als Freund der einstimmigen Entscheidungen beschrieben.820 Es scheint also bei den Senatsvorsitzenden in der jüngeren Zeit das Bestreben vorzuherrschen, Sondervoten zu vermeiden und möglichst konsensuale Entscheidungen zu erreichen.821 Dies mag einen Erklärungsansatz dafür liefern, warum es auch bei kontroversen Rechtsfragen oft nicht zu Sondervoten kommt. Wie stark der Einfluss der Senatsvorsitzenden hinsichtlich dieser Ausrichtung der Entscheidungspraxis tatsächlich ist, lässt sich wiederum aus der Außenperspektive kaum ermessen.822 Die aktuellen Äußerungen von Harbarth sollen hier aber nicht unwidersprochen bleiben. Allzu selbstverständlich geht er davon aus, dass dem BVerfG in Konfliktklagen eine befriedende Funktion zukommt. Dies wurde bereits innerhalb der Diskussion um den Integrationsmythos und anhand einiger Entscheidungen in der Geschichte des BVerfG, die gerade keine befriedende Konfliktlösung erreicht haben, stark in Zweifel gezogen. Darüber hinaus verwechselt Harbath die Akzeptanz des Urteils mit dessen Autorität und Durchsetzungskraft. Eine Entscheidung erhöht ihre autoritative Durchsetzungskraft mittels ihrer Einstimmigkeit. Aber befriedet dies auch den Konflikt effektiver, überzeugt es die Adressaten der Entscheidung stärker? Das muss doch stark bezweifelt werden oder ist zumindest nicht derart zwingend, wie es bei Harbarth den Anschein erweckt. Mit Kahn ist zu sagen: „Authority terminates, but does not resolve, interpretive conflict.“823
cc) Zwischenfazit Die Debatte um die Funktionen des BVerfG wurde hier von der kaum förderlichen Diskussion der Integration durch Verfassungsrecht und Verfassungs819 Greuter, Interview mit dem Deutschlandfunk v. 12.01.2020. Zu diesem Zeitpunkt war Harbarth noch Vize-Präsident. 820 S. nur Rath, Der Schiedsrichterstaat, S. 51. 821 Vgl. dazu auch die aktuelle Äußerung vom 2020 ausgeschiedenen BVerfG-Richter Masing, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 177, 182: „Die Beratung zielt in der Regel nicht auf Entscheidung durch Majorisierung, sondern auf ein Zusammenwirken und Aufeinanderzugehen. Es wird auch dann noch nach gemeinsamen Wegen und Kompromissen gesucht, wenn sich Mehrheitsverhältnisse abzeichnen.“; s. auch Masing, in: Herdegen/Masing/ Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 15, Rn. 101 ff.; ähnlich Hoffmann-Riem, in: Scherzberg, Kluges Entscheiden, Disziplinäre Grundlagen und interdisziplinäre Verknüpfung, S. 3, 13: „Zum verfassungsrichterlichen Ethos gehört es nämlich, die Beratung möglichst einer einverständlichen, also einstimmigen oder doch einmütigen Lösung zuzuführen.“ 822 Ansätze dafür unter 3. 823 Kahn, Harvard Law Review, Vol. 106 (1993), S. 1147, 1148.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
gerichtsbarkeit befreit. Dadurch konnte der Blick auf drei Grundbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit gerichtet werden: die Heterogenität moderner pluralistischer Gesellschaften, die Unbestimmtheit des Verfassungstextes als fundamentale Normen und die häufige Anrufung des BVerfG in heiklen Konfliktlagen. Möchte man dem BVerfG hier, neben der notwendigen Entscheidung des Rechtsstreits, weitergehende Aufgaben der Konfliktlösung zusprechen, muss man das Gericht damit regelmäßig überfordern. Oft kann es daher nur darum gehen, einen politischen und/oder gesellschaftlichen Konflikt in einem Feld unterschiedlicher Interessensgruppen angemessen zu begleiten. Dies ist das Konzept einer diskursiven Verfassungsgerichtsbarkeit. Wichtigstes Instrument dieser Rechtsprechung ist das Sondervotum, das viel stärker als die Entscheidungsbegründung (s. dazu bereits 1.), abweichende Ansichten offenbaren und konservieren kann.824
c) Fazit Die heteronome Bestimmung der Funktionen des Sondervotums beim BVerfG hat zu ersten Ergebnissen geführt. So konnte gezeigt werden, dass der abweichenden Meinung eine Entlastungsfunktion gegenüber der Entscheidungsbegründung zugesprochen werden kann, die sich insbesondere daraus ergibt, dass sie eine vollständige Abbildung des senatsinternen Meinungsbildes erreicht und die Widerspruchsfreiheit der Entscheidungsbegründung verbessert. Darüber hinaus wurde deutlich gemacht, dass Sondervoten bei den besonderen Verfassungsgerichtsfunktionen hilfreich sein können: Im Prozess der Verfassungsinterpretation ist es Ausdruck eines wünschenswerten Pluralismus, bei der Diskursbegleitung notwendiges Instrument.
2. Funktionsanalyse (2): Autonome Bestimmung der Funktionen des Sondervotums Nachdem einige Funktionen des Sondervotums zunächst aus der Rolle des BVerfG heraus bestimmt wurden, ist es darüber hinaus angezeigt, die Sondervotenpraxis noch stärker in den Fokus zu rücken, um so Funktionen dieses Instruments aus sich heraus (autonom) zu bestimmen. Dazu wurden alle bisher veröffentlichten Sondervoten beim BVerfG durchgearbeitet und anhand wiederkehrender Argumentationsmuster kategorisiert. Diese Analyse wird zeigen, dass es den dissentierenden Richter*innen grundsätzlich um einen sachlichen Widerspruch zur Begründung und/oder zum Ergebnis der Senatsmehrheit geht. Betrachtet man die Praxis der Sondervoten näher, lassen sich wiederkehrende Argumentationsmuster und Motive erken824 Zu der Frage, ob auch andere Instrumente des BVerfG diskursoffene Rechtsprechung ermöglichen können, vgl. ausführlich Klatt, M. K., JöR Bd. 68 (2020), S. 63 ff.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
193
nen: Sowohl das Werben für richterliche Zurückhaltung (a), als auch das Plädieren für ein stärkeres Eintreten des Gerichts (b) sowie Rufe nach einer einheitlichen und beständigen Rechtsprechung des eigenen Gerichts sind häufig zu vernehmen (c). Zahlreiche Kuriositäten, Sonderfälle und andere Auffälligkeiten, die sich nicht adäquat zu einem spezifischen Phänomen zusammenführen lassen, aber dennoch beachtenswert sind, offenbaren einen uneinheitlichen Einsatz des Sondervotums beim BVerfG (d). Auffällig ist darüber hinaus der Ausdruck des Bedauerns darüber, dass ein Sondervotum abgegeben wurde, der sich in beinahe ritualisierter Form in zahlreichen abweichenden Meinungen beobachten lässt (e). Zuletzt ist noch zu politikwissenschaftlichen Studien Stellung zu nehmen, welche die These vertreten, dass Sondervoten insbesondere aus politischen Motiven abgegeben werden (f ).
a) Kritik an einem weiten Verständnis verfassungsgerichtlicher Kompetenzen Art und Reichweite der richterlichen Kontrolle staatlicher Hoheitsakte sind dauerhaft strittige Themen bei der Diskussion über Verfassungsgerichtsbarkeit.825 Die Praxis des Sondervotums offenbart, dass die Reichweite verfassungsgerichtlicher Kontrolle auch die Richter*innen intensiv beschäftigt und sie dies häufig, mit verschiedenen Nuancen, zum Gegenstand abweichender Meinungen machen. Bekanntes Stichwort in diesem Kontext ist der Begriff des judicial self-restraint826, den das BVerfG sich in seiner Grundlagenvertrag-Entscheidung, allerdings in einer recht allgemein formulierten Auslegung, selbst auferlegte: „Der Grundsatz des judical self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht ‚Politik zu treiben‘, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen.“827 825
richt.
Statt vieler die Beiträge in Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Ge-
826 Dieser Begriff aus dem anglo-amerikanischen Diskurs ist hinsichtlich seiner Bedeutung nicht leicht greifbar, vgl. dazu Posner, California Law Review, Vol. 100 (2012), No. 3, S. 519, 520 f.: „The term ‚judicial self-restraint‘ is a chameleon. Of the many meanings commentators have assigned to it, three are the most serious: (1) judges apply law, they don’t make it (call this ‚legalism‘-though ‚formalism‘ is the commoner name – or, better, ‚the law made me do it‘); (2) judges defer to a very great extent to decisions by other officials-appellate judges defer to trial judges and administrative agencies, and all judges to legislative and executive decisions (call this ‚modesty‘, or ‚institutional competence‘, or ‚process jurisprudence‘); (3) judges are highly reluctant to declare legislative or executive action unconstitutional-deference is at its zenith when action is challenged as unconstitutional (call this ‚constitutional restraint‘).“; vgl. auch Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck/Huber/Voßkuhle, GG-Kommentar, Art. 93, Rn. 36. 827 BVerfGE 36, 1, 14 – Grundlagenvertrag (eigene Hervorhebungen). Dieser Grundsatz wurde auch im 2. Leitsatz dieser Entscheidung vorangestellt, erhielt damit also einen besonders prominenten Platz.
194
C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
In der weiteren Rechtsprechungspraxis lässt sich ein verbreiteter Rückgriff auf diesen Begriff in Sondervoten beobachten: „Diese Nichtbeachtung des ‚judical-self-restraint‘ im Sinne einer Bescheidung auf eine gerichtsförmige Kontrollfunktion zwecks ‚Einhaltung der durch die Verfassung vorgegebenen Grenzfestlegungen‘ birgt die Gefahr in sich, daß sich das Verfassungsgericht zu einer das Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip überlagernden ‚Verfassungsgesetzgebungsinstanz‘ entwickelt und damit vom ‚Hüter‘ zum (unkontrollierbaren) ‚Herrn‘ der Verfassung wird […].“828 „Nach meiner Auffassung muss das Bundesverfassungsgericht indes gegenüber der gesetzgebenden Gewalt richterliche Zurückhaltung üben (‚judicial self-restraint‘). Im gewaltengeteilten Staat des Grundgesetzes und im Blick auf die Ausbalancierung des Gewichts der Gewalten ist es für die Verfassungsrechtsprechung geboten, auf die flexibleren Gestaltungsmöglichkeiten des einfachen, unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers Rücksicht zu nehmen. Das vernachlässigt die Senatsmehrheit.“829 „Die Senatsmehrheit schränkt überdies den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, auf dem Felde der Straftatenaufklärung und der Gefahrenabwehr zum Schutz der Menschen angemessene und zumutbare Regelungen zu treffen, im praktischen Ergebnis nahezu vollständig ein. Damit trägt sie auch dem Gebot verfassungsrichterlicher Zurückhaltung (‚judicial self-restraint‘) gegenüber konzeptionellen Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht hinreichend Rechnung. Sie gibt dem Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung bis in die Einzelheiten nach Art einer Handlungsanleitung vor, die ihm keinen nennenswerten Raum für eine Lösung belässt, welche den gegebenen, fortentwickelten Verhältnissen im Bereich der Telekommunikation nach seiner Einschätzung gerecht wird.“830
Doch auch ohne explizit auf den Begriff der richterlichen (Selbst-)Beschränkung zu verweisen, beschäftigen sich viele Sondervoten mit der Reichweite der Entscheidungskompetenz des BVerfG. Dies lässt sich zunächst anhand des berühmten Sondervotums von Richter Grimm in der Entscheidung Reiten im Walde veranschaulichen. Grimm setzt sich darin intensiv mit dem Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG auseinander und plädiert für eine zurückhaltende Auslegung.831 Materiell weit verstandene Grundrechte (genauer gesagt: weit ausgelegte Schutzbereiche) sind auch verfassungsprozessual und damit kompetenzrechtlich relevant, weil sie automatisch die Zulässigkeit der Verfahren für eine größere Anzahl an Fällen öffnen. Dies erkennt auch Grimm und merkt daher kritisch an:
828 Abw. Meinung Hirsch, BVerfGE 48, 127, 201 – Wehrpflichtnovelle (eigene Hervorhebungen). 829 Abw. Meinung Haas, BVerfGE 115, 320, 381 – Rasterfahndung (eigene Hervorhebungen). 830 Abw. Meinung Schluckebier/Eichberger, BVerfGE 125, 260, 373 – Vorratsdatenspeicherung (eigene Hervorhebungen). 831 BVerfGE 80, 137, 164 ff. – Reiten im Walde.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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„Wenn jedes Verhalten Grundrechtsschutz genießt, ohne deswegen doch schrankenlos erlaubt sein zu können, verwandelt sich die allgemeine Freiheitsgarantie in das Recht, vom Staat nicht rechtswidrig an der Betätigung des eigenen Willens gehindert zu werden. In dieser Eigenschaft subjektiviert Art. 2 Abs. 1 GG aber das vom Grundgesetz nur objektiv gewährleistete Rechtsstaatsprinzip und wird in Wahrheit zur allgemeinen Eingriffsfreiheit. Die Konsequenzen dieses Grundrechtsverständnisses liegen vor allem auf verfassungsprozessualem Gebiet. Gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, weitet sich die auf dieses Grundrecht gestützte Verfassungsbeschwerde tendenziell zur allgemeinen Normenkontrolle aus. […] Daher sollte diese vom Grundgesetz nicht vorgesehene Banalisierung der Grundrechte und die damit verbundene Ausuferung der Verfassungsbeschwerde rückgängig gemacht werden.“832
Doch nicht nur hinsichtlich der Überprüfung von Gesetzen mittels der Verfassungsbeschwerde durch Individuen wird die Kompetenzfrage in Sondervoten diskutiert. Diese Debatte lässt sich auch anhand einer Entscheidung zur Bundestagsauflösung aus dem Jahr 2005 abbilden.833 In dem Verfahren hatte die Senatsmehrheit festgestellt, dass eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 Abs. 1 GG nur dann verfassungsgemäß ist, wenn diese auch dem „Zweck“ der Norm entspricht. Der Senat gesteht dem Bundeskanzler zwar einen „Einschätzungsspielraum“ dahingehend zu, ob ihm ein mangelndes Vertrauen im Parlament droht, da er am „sachnächsten“ diese Frage beurteilen könne. Jedoch sei die Einhaltung der „Grenzen seines Einschätzungsspielraums“ vom BVerfG überprüfbar.834 In ihrem Sondervotum wendet sich Lübbe-Wolff ausdrücklich gegen diese zusätzlichen materiellen Anforderungen und die damit einhergehende Kompetenzerweiterung des BVerfG: „Die Auslegung des Art. 68 GG, die den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht in die Lage bringt, eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers auf ihre situative Berechtigung überprüfen und unter Umständen als verfassungswidrig beurteilen zu müssen, ist gleichbedeutend mit der Ermächtigung und Verpflichtung, unter denselben Umständen auch die Antwort des Bundestages und damit die Mandatsausübung von Abgeordneten als falsch zu qualifizieren, denn die eine Beurteilung schließt die andere ein. Wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage zu Unrecht, nämlich in einer Lage tatsächlich vorhandenen Vertrauens, gestellt haben soll, kann der Bundestag sie nicht zu Recht verneint haben. Die Rolle, die das Bundesverfassungsgericht mit dieser Auslegung dem Bundespräsidenten und sich selbst zuweist, ist fehlbesetzt.“835
832 833
BVerfGE 80, 137, 167 f. – Reiten im Walde (eigene Hervorhebungen). BVerfGE 114, 121 – Vertrauensfrage Schröder. 834 BVerfGE 114, 121, 160 – Vertrauensfrage Schröder. 835 BVerfGE 114, 121, 184 – Vertrauensfrage Schröder. Vgl. weitergehend ebd., 188 f. (eigene Hervorhebungen): „Nichts hindert das Bundesverfassungsgericht daran, die unausfüllbare Kontrollfunktion zurückzuweisen, die ihm mit der Ergänzung des Art. 68 GG um eine ungeschriebene materielle Tatbestandsvoraussetzung zufällt. Keines der Argumente, die für diese Auslegung angeführt worden sind, ist zwingend.“
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Die Diskussion über den Umfang der Kompetenzen des Gerichts vollzieht sich in Sondervoten auf zahlreichen weiteren Ebenen. Die abweichende Meinung der Richter Rupp, Hirsch und Wand in der Solange I-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1974836 lässt die internationale Dimension der Kompetenzfrage erkennen. Hier plädieren die Dissenter für eine richterliche Zurückhaltung aus Gründen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts: „Die von der Mehrheit des Senats vertretene Rechtsauffassung führt überdies zu unannehmbaren Ergebnissen. Wäre die Anwendbarkeit sekundären Gemeinschaftsrechts davon abhängig, daß es den Grundrechtsnormen einer nationalen Verfassung genügt, so könnte – da die Mitgliedstaaten Grundrechte in unterschiedlichem Ausmaß gewährleisten – der Fall eintreten, daß Rechtsvorschriften der Gemeinschaften in einigen Mitgliedstaaten anwendbar sind, dagegen in anderen nicht. Damit käme es gerade auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts zur Rechtszersplitterung. Diese Möglichkeit eröffnen, heißt ein Stück europäischer Rechtseinheit preisgeben, den Bestand der Gemeinschaft gefährden und den Grundgedanken der europäischen Einigung verleugnen. […] Das Bundesverfassungsgericht besitzt keine Kompetenz, Vorschriften des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des Grundgesetzes, insbesondere seines Grundrechtsteiles, zu prüfen, um danach die Frage ihrer Gültigkeit zu beantworten.“837
Hier zeigt sich die Verbindung materieller Verfassungsrechtsfragen mit dem Umfang der Kontrollkompetenzen auf europäischer Ebene und damit in einer weiteren Ausprägung. Darüber hinaus prangert die Senatsminderheit an, dass schon das nationale Recht die Kompetenzen des BVerfG beschränke. Die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG passe bei Fällen, die europäische Rechtsakte zum Gegenstand hätten, gerade nicht: „Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts soll verhüten, daß sich jedes einzelne Gericht über den Willen des unter der Geltung der Verfassung tätig gewordenen Gesetzgebers hinwegsetzen und seinem Gesetz die Anerkennung versagen kann […]. Der ‚Gesetzgeber‘ der Europäischen Gemeinschaften wird aber nicht unter der Geltung des Grundgesetzes tätig.“838
Die Zulässigkeit der Anträge im europarechtlichen Kontext war auch später Gegenstand von – sehr pointierter – Kritik im Sondervotum Lübbe-Wolffs zum OMT-Beschluss: „In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner Meinung nach hier geschehen. Die Anträge hätten als unzulässig abgewiesen werden müssen.“839 „Die hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenz des nach Entlastung suchenden Bundesverfassungsgerichts zu sorgfältiger Pflege und kontinuierlichem Ausbau von Zulässigkeitshürden ist zwar auf dem Feld der europäischen Integra836
BVerfGE 37, 271. BVerfGE 37, 271, 298 f. – Solange I. BVerfGE 37, 271, 302 – Solange I. 839 BVerfGE 134, 366, 419 – OMT Vorlagebeschluss. 837 838
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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tion generell nicht zu beobachten. So weit wie im vorliegenden Fall hatte der Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehnt.“840
Sowohl aus europäischer als auch aus nationaler Perspektive werden also rechtliche Argumente gegen eine Entscheidungskompetenz des Gerichts aufgrund der möglichen supranationalen Auswirkungen angeführt. Ein weiterer Aspekt der Diskussion über die Reichweite verfassungsgerichtlicher Entscheidungskompetenzen ist die Kritik an der Ausweitung von Antragsbefugnissen. Dies lässt sich anhand eines Sondervotums der Richter Böckenförde und Kruis abbilden, welche die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens im Kontext der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestags bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr thematisieren:841 „Deutlicher als in diesem Verhalten der F. D. P.-Fraktion kann sich nicht bestätigen, daß das Organstreitverfahren nur die Einkleidung ist, um den politischen Konflikt über Notwendigkeit und Inhalt einer Verfassungsänderung vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen und gewissermaßen durch ein Gutachten entscheiden zu lassen; die prozeßstandschaftliche Verteidigung von Rechten des Parlaments gegen Übergriffe der Regierung spielt überhaupt keine Rolle. Die ursprünglich in § 97 BVerfGG vorgesehene Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, auf Antrag Rechtsgutachten zu erstatten, ist aber durch den Gesetzgeber 1956 abgeschafft worden. Organstreitverfahren und Prozeßstandschaft können nicht dazu dienen, sie auf diese Weise hintenherum, noch dazu für ursprünglich nicht vorgesehene Antragsteller, wieder einzuführen; das Bundesverfassungsgericht braucht sich dafür nicht in Anspruch nehmen zu lassen.“842
Vielfach wird auch kritisiert, dass das BVerfG in einem Verfahren den Prüfungsgegenstand selbst erweitere, letztlich also obiter dicta verkünde: „Das Gericht darf nicht von Amts wegen tätig werden. Sein Prüfungsgegenstand ist daher durch den – zulässigen – Antrag bestimmt. Allein dieser eröffnet den Weg zur verbindlichen (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) Normverwerfung und -bestätigung. Der Antrag kann in konkreten Normenkontrollverfahren und bei Verfassungsbeschwerden nur gegen gesetzliche 840 BVerfGE 134, 366, 423 – OMT Vorlagebeschluss. Vgl. auch ebd., 420: „Jedenfalls sprengen die Entscheidungen, die die Kläger dem Bundesverfassungsgericht ansinnen, soweit sie sich gegen Unterlassungen von Bundesorganen in Ansehung des OMT-Beschlusses wenden, nach meiner Auffassung die Grenzen des ohne Verstoß gegen Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip durch ein Gericht Entscheidbaren.“ Ähnlich abw. Meinung König/Langenfeld/Maidwoski, BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats vom 13.02.2020 – 2 BvR 739/17, Rn. 1 – Einheitliches Patentgericht, die der Annahme der Senatsmehrheit, dass sich aus der Verfassung „ein mit der Verfassungsbeschwerde rügefähiges Recht auf die Einhaltung der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG für die Übertragung von Hoheitsrechten vorgesehenen formellen Voraussetzungen (sogenannte formelle Übertragungskontrolle)“ ergebe, widerspricht und „mangels Beschwerdebefugnis“ (Rn. 4) für die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerden plädiert. 841 S. dazu bereits S. 153 ff. 842 BVerfGE 90, 286, 394 – AWACS. Hauptkritikpunkt des Sondervotums war es, dass es der antragstellenden Fraktion „nicht um die Wahrung der Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung“ ging (ebd., 392), sondern um eine Prüfung, ob die Maßnahmen der Regierung insgesamt verfassungsgemäß war (ebd., 391).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Regelungen gerichtet werden, die im jeweiligen Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft daher in diesen Verfahren den Umfang der Entscheidungserheblichkeit streng nach. Dazu nimmt es auch eine Eingrenzung bei entscheidungserheblichen Vorschriften vor, deren gesamter rechtlicher Gehalt sich nicht unmittelbar aus ihnen selbst, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Normen bestimmen läßt. Solche Vorschriften können nach ständiger Rechtsprechung […] nur in ihrer Verbindung mit denjenigen gesetzlichen Bestimmungen zur Prüfung gestellt werden, die ihren für den konkreten Rechtsstreit maßgeblichen Teilinhalt ergeben. Eine darüber hinausgehende Prüfung würde dem Bundesverfassungsgericht bei der vom Einzelfall ausgehenden Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG eine Aufgabe übertragen, die vom Sinn und Zweck dieses Verfahrens nicht gefordert wird […] und die damit auch nicht in seinen Kompetenzbereich fällt. Die Grenzen, die der Normverwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts durch die Beschränkung auf den im Ausgangsverfahren erheblichen Prüfungsgegenstand gezogen sind, sichern zugleich die Kompetenz der gesetzgebenden Gewalt. Die Beachtung dieser Grenzziehung ist damit vom Gewaltenteilungsprinzip gefordert.“843 843 Abw. Meinung Graßhof, BVerfGE 91, 1, 38 – Unterbringung in Erziehungsanstalt (eigene Hervorhebungen). Diese dargestellten Maßstäbe habe der Senat nicht eingehalten und den Prüfungsgegenstand auf weitere Normen unzulässig erweitert (ebd., 42). Die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Norm hätte stattdessen „nur im Wege eines obiter dictum zum Ausdruck gebracht werden können.“ (ebd., 38). Ähnlich abw. Meinung v. Schlabrendorff/Geiger/Rinck, BVerfGE 36, 264, 276 – Fortdauer der Untersuchungshaft: „Wie noch darzulegen sein wird, enthält deshalb der Beschluß vom 12. Dezember 1973 teilweise Ausführungen, die obiter dicta sind.“ Ähnlich abw. Meinung Wand, BVerfGE 39, 334, 390 – Extremisten im Staatsdient: „Den Ausführungen unter C I 7 des Beschlusses – ersichtlich obiter dicta, die weder die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder noch die Gerichte und Behörden binden – vermag ich nicht zuzustimmen […].“ Die entgegengesetzte Konstellation ist bei der abw. Meinung Böhmer, BVerfGE 56, 249, 266 f. – Dürkheimer Gondelbahn, zu beobachten: „Ich stimme der Entscheidung zu, bin jedoch der Auffassung, daß das Urteil auch, und zwar vorrangig zu der Rüge der Beschwerdeführer hätte Stellung nehmen müssen, die angefochtenen Enteignungen seien schon nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG verfassungswidrig. Der mir entgegengehaltenen Begründung, eine Aussage zu dieser Rüge wäre lediglich ein obiter dictum gewesen, vermag ich aus Verfassungs- und verfahrensrechtlichen Gründen nicht zu folgen.“ Abw. Meinung Heußler BVerfGE 59, 231, 274 – Freie Mitarbeiter Rundfunk: „Diese Ausführungen der Mehrheit des Senats sind nicht tragend; sie enthalten lediglich eine für die Entscheidung entbehrliche sozialpolitische Aussage.“ In eine ähnliche Richtung geht abw. Meinung Lübbe-Wolff, BVerfGE 118, 124, 154 f. – Völkerrechtliche Notstandseinrede (eigene Hervorhebungen), die kritisiert, dass die Frage des Verfahrens der Normenverifikation nach Art. 100 Abs. 2 GG in unzulässiger Weise vom Senat umformuliert wurde: „Zwar ist das Bundesverfassungsgericht im Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG […] berechtigt […] die Vorlagefrage erforderlichenfalls […] umzuformulieren. Nicht erlaubt ist es dem Bundesverfassungsgericht dagegen, im Wege der Umformulierung eine Vorlagefrage zu produzieren, die das vorlegende Gericht offensichtlich oder gar ausdrücklich nicht zum Gegenstand des Verfahrens machen wollte. Die Umdeutung eines Vorlagebeschlusses darf nicht dem Rechtsstandpunkt des vorlegenden Gerichts widersprechen […]. Diese in einem Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG getroffene Feststellung gilt unzweifelhaft auch für das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG. Die Funktion dieses Verfahrens erfordert keine weitergehenden Freiheiten. Eine Selbstbeschaffung von Vorlagefragen ist schon im Hinblick auf die Grenzen, die der richterlichen Gewalt durch das Gewaltenteilungs-
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Die Diskussion um die verfassungsgerichtliche Entscheidungskompetenz weitet sich auch auf Art und Umfang der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen aus. Sinn und Zweck dieser Auslegung ist es, die betreffenden Gesetze möglichst schonend in eine verfassungsgemäße Rechtslage zu überführen, ohne deren Nichtigkeit erklären zu müssen. Wenn das Gericht eine Anpassung der Gesetze vornimmt, ergibt sich zwangsläufig ein Spannungsverhältnis mit den ursprünglichen Absichten und Interessen des Gesetzgebers. In einigen Sondervoten geht es daher vor allem um die Frage, ob das Gericht diese Auslegungskompetenz zu sehr dehnt und damit dem Gesetzgeber seinen rechtlich zugesicherten Entscheidungsspielraum nimmt: „Der Versuch der Mehrheit, die zugestandenen Bedenken gegen die gesetzliche Regelung durch eine einschränkende ‚verfassungskonforme Auslegung‘ auszuräumen, läuft Sinn und Zweck einer solchen Auslegung zuwider und erweist sich als Verlagerung gesetzgeberischer Verantwortung auf das Gericht. Die Argumentation des Senatsbeschlusses trägt weder dem deutlich erkennbaren Willen des Gesetzgebers noch der unbestritten grundlegenden Bedeutung der Informationsfreiheit genügend Rechnung.“844 prinzip gesetzt sind, unzulässig. Die vom Senat untersuchte und beantwortete Frage […] hat das vorlegende Gericht ausdrücklich nicht gestellt.“ Ähnlich abw. Meinung Masing, BVerfGE 121, 317, 385 – Rauchverbot (eigene Hervorhebungen): „Die Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit eines radikalen Rauchverbots sind für die verfassungsrechtliche Beurteilung der angegriffenen Vorschriften weder erforderlich noch für die Begründung des Senats tragend. Zumal in Deutschland ein solches Konzept bisher in keinem Bundesland – nach der praxisleitenden Interpretation des geltenden Rechts auch nicht in Bayern – politisch durchgesetzt wurde, gibt es für ein solches obiter dictum keinen Anlass. Wenn der Senat dennoch hierzu breite Ausführungen macht, liegt darin ein unzulässiger Übergriff in die Gesetzgebungspolitik.“ Ähnlich abw. Meinung Maidowksi, BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 –, Rn. 25 – Kopftuchverbot Rechtsreferendarinnen: „Mit einer solchen Auslegung ist keine Vorentscheidung darüber getroffen, wie über die Verwendung religiös begründeter Kleidung oder entsprechender Symbole oder Merkmale durch Richterinnen und Richter auf Probe, auf Zeit oder auf Lebenszeit, durch Staatsanwältinnen und Staatsanwälte oder auch durch ehrenamtliche Richterinnen und Richter zu entscheiden wäre. Durch den vorliegenden Fall ist eine Aussage hierzu nicht veranlasst. Er wirft auch keine Fragen auf, die gleichermaßen für das Rechtsreferendariat wie für den richterlichen oder staatsanwaltlichen Dienst zu beantworten wären. Daran ändert insbesondere der Umstand nichts, dass der Vorbereitungsdienst selbstverständlich durch die besonders hohen, mit verfassungsrechtlichem Gewicht ausgestatteten Anforderungen an Neutralität und Unvoreingenommenheit geprägt ist, wie sie das Richteramt auszeichnet. Die Senatsmehrheit betont die Bedeutung dieser Anforderungen für die Rechtsstaatlichkeit zwar zu Recht, verleiht ihnen jedoch eine weit über den entschiedenen Fall hinausreichende Bedeutung und nimmt damit Wertungen vor, die späteren Fällen hätten vorbehalten werden sollen.“ 844 Abw. Meinung Rupp-v. Brünneck/Simon, BVerfGE 33, 52, 78 – Zensur. Diese Kritik wird ebd., 83, noch schärfer: „Die in der Methode an das Vorgehen des Prokrustes erinnernde Auslegung […]“. Die Verfassungsrichter plädieren dafür, die Norm stattdessen „für nichtig zu erklären“, ebd., 78. In eine ähnliche Richtung geht die Kritik an der verfassungskonformen Auslegung durch die abw. Meinung Wand/Niebler, BVerfGE 56, 298, 325 – Lärmschutz militärische Flugplätze: „Die Mehrheit kommt nur scheinbar zum selben Ergebnis. In Wirklichkeit verändert sie jedoch
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Doch nicht nur anhand der verfassungskonformen Auslegung vollzieht sich die Diskussion um die Grenze der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, wie etwa das Sondervotum von Rupp-v. Brünneck und Simon zum Hochschulurteil zeigt: „Jedoch halten wir es nicht für vertretbar, unmittelbar aus der Verfassung detaillierte organisatorische Anforderungen für die Selbstverwaltung der Universität herleiten zu wollen.“845 „Mit dieser Entscheidung setzt sich das Bundesverfassungsgericht unter Überschreitung seiner Funktion an die Stelle des Gesetzgebers. Die scheinbar übereinstimmend anerkannte Gestaltungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für die Organisation der Wissenschaftsverwaltung wird von der Senatsmehrheit in einem anfangs unmerklichen, schließlich aber unverkennbaren Erosionsprozeß weitgehend ins Gegenteil verkehrt; sie erhebt Zweckmäßigkeitserwägungen, die der Gesetzgeber bei seiner Wilden Inhalt der Verordnungsermächtigung, indem sie ihr mit den Mitteln der verfassungskonformen Auslegung einen Sinn beilegt, der mit den erklärten Vorstellungen des Gesetzgebers nicht vereinbar ist.“ Ähnlich auch abw. Meinung Steinberger, BVerfGE 70, 35, 63 f. – Bebauungspläne durch Gesetz: „Beim Vorgehen des Senats handelt es sich nicht um verfassungskonforme Auslegung der hamburgischen Gesetze; nicht diese, sondern § 47 VwGO und § 188 BbauG werden vom Senat ausgelegt. […] Eine Grenze findet diese verfassungskonforme Rechtsfindung (im engeren Sinne) indessen dort, wo einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt würde […]. Diese Grenzen halte ich hier für überschritten […].“ Und ebd., 65 f.: „Es genügt jedoch bereits die – hier nicht von der Hand zu weisende – Möglichkeit einer anderen als der vom Senat angenommenen Entwicklung der Dinge, um die Lösung des Senats als unzulässigen Übergriff in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit erscheinen zu lassen. Ein solcher Übergriff ist im Bereich der verfassungskonformen Auslegung, um welche es dem Senat ersichtlich geht, ebensowenig erlaubt wie die Verfälschung eines eindeutigen Willens des Gesetzgebers.“ Ähnlich abw. Meinung Seibert/Henschel, BVerfGE 85, 69, 77 – Eilversammlungen: „Mit der Senatsmehrheit sind wir der Auffassung, daß die in § 14 VersG vorgesehene 48-StundenFrist im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG für Eilversammlungen nicht gilt. Die von der Mehrheit in die Vorschrift hineininterpretierte Verkürzung der Anmeldefrist überschreitet aber die Grenzen verfassungskonformer Auslegung und trägt vor allem dem wegen der Strafbewehrung durch § 26 Nr. 2 VersG zu beachtenden Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Rechnung.“ Weiter ebd., 78: „Unabhängig davon muß die verfassungskonforme Auslegung jedenfalls dort ihre Grenzen finden, wo sie der Sache nach auf eine richterrechtliche Ergänzung des Straftatbestandes hinausläuft. […] Die von der Senatsmehrheit vorgenommene Auslegung überschreitet diese Grenzen.“ Ähnlich abw. Meinung Mahrenholz, BVerfGE 86, 288, 349 f. – Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe: „Nun ist aber eine andere Auslegung des § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO als die, daß die Strafvollstreckungskammer für die Entscheidungen zu § 57a StGB zuständig ist, gar nicht möglich, denn so steht es im Gesetz. Also ist davon auszugehen, daß dies der Wille des Gesetzgebers ist. Ein Rekurs auf das, was er vor allem zu erreichen bestrebt war, führt demgegenüber ein Interpretament ein, das nicht zur verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes führt, sondern zur ‚verfassungskonformen Auslegung‘ eines vom Senat festgestellten Willens des Gesetzgebers, der im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat. Diese Differenz mag bei einer mehrdeutigen Norm Beachtung verlangen. Bei eindeutigem Norminhalt führt sie über die Normauslegung – und damit auch über ihre verfassungskonforme Justierung – hinaus.“ 845 BVerfGE 35, 79, 149 – Hochschulurteil.
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lensbildung anzustellen hat und denen namentlich in Übergangszeiten durchaus Gewicht gebührt, unzulässig zu unabdingbaren, mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbaren Postulaten.“846
Die Kritik richtet sich also dagegen, dem Grundgesetz detaillierte Maßstäbe entnehmen zu wollen, die für den Gesetzgeber verbindlich sind. Auch dieser Aspekt, der sich in vielen weiteren Sondervoten wiederfinden lässt,847 ist zwei846 BVerfGE 35, 79, 150 – Hochschulurteil (eigene Hervorhebungen). 847 Abw. Meinung Niebler, BVerfGE 48, 64, 100 – Kommunale Wählbarkeitsbeschrän-
kungen: „Der Gesetzgeber muß diese Ermächtigung (‚kann‘) zwar nicht ausschöpfen; […] Er hat politisch abzuwägen und zu entscheiden, wie weit er von der Ermächtigung zweckmäßigerweise Gebrauch machen will. Von Verfassungs wegen ist er jedoch nicht gehindert, die Ermächtigung voll auszuschöpfen. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers endet im allgemeinen erst dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, anders ausgedrückt: wo ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt. Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit ist vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen.“ Abw. Meinung Wand/Niebler, BVerfGE 56, 298, 338 – Lärmschutz militärische Flugplätze: „§ 4 FlugLG ist auch insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar, als er für die Festsetzung oder Neufestsetzung eines Lärmschutzbereichs nicht verlangt, daß im Vorfeld des Verordnungserlasses die vom Fluglärm betroffenen Gemeinden anzuhören sind […]. Das Grundgesetz kennt aus guten Gründen keinen Verfassungsrechtssatz, wonach Gesetze oder Rechtsverordnungen grundsätzlich nicht ohne vorherige Anhörung derjenigen erlassen werden dürfen, die durch die Rechtsetzung in ihren Rechten betroffen werden.“ Ähnlich abw. Meinung Klein/Kirchhof/Winter, BVerfGE 92, 277, 341 – Strafbarkeit DRRSpione: „Wir können dem Beschluß insoweit nicht zustimmen, als er unmittelbar aus der Verfassung ein Verfolgungshindernis für den vom Senat näher umschriebenen Kreis derjenigen Täter ableitet, die Straftaten nach den §§ 94, 99 i. V. m. §§ 9, 5 Nr. 4 StGB begangen haben. […] Insoweit verfehlt der Beschluß die Grenze zwischen gestaltender Gesetzgebung und kontrollierender Rechtsprechung.“ Ähnlich abw. Meinung Osterloh/Lübbe-Wolff/Gerhardt, BVerfGE 111, 226, 277 f. – Juniorprofessur: „Die Senatsmehrheit verneint die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 GG) im Wesentlichen deshalb, weil kein Missstand belegt worden sei, der nur durch die (bundesweite) Einführung der Juniorprofessur unter gleichzeitiger faktischer Abschaffung der Habilitation behoben werden könne. Dieser Erwägung liegt ein grundlegendes Missverständnis des Art. 72 Abs. 2 GG zugrunde. Es führt nicht nur hier zu einem unzutreffenden Ergebnis, sondern trägt darüber hinaus die Gefahr in sich, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Bundeskompetenz zur Entscheidung über Sachfragen politischer Natur genötigt wird, für deren Beurteilung keine verfassungsrechtlichen Maßstäbe vorhanden sind.“ Besonders plakativ Lübbe-Wolff, BVerfGE 112, 1, 44 – Entschädigungslose Enteignungen: „Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.“ Weiter ebd., 47: „Die neuartigen Verfassungsgrundsätze, die der Senat nichtsdestoweniger anhand der vorliegenden Verfassungsbeschwerden entwickelt hat, haben in der Verfassung keine Grundlage.“ Ähnlich abw. Meinung Eichberger, BVerfGE 141, 220, 353 f. – BKA-Gesetz: „In einer ganzen Reihe von Punkten stellt der Senat jedoch überzogene Anforderungen an die Datenerhebung und -weiterverwendung und insbesondere an die daraus von ihm abgeleiteten Ausgestaltungspflichten für den Gesetzgeber. Zwar bewegt sich das Urteil in den grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Wertungen zur Zulässigkeit von Eingriffen in die Freiheitsrechte aus Gründen der vom Staat zu gewährleistenden Sicherheit wie auch in den daraus im Einzelnen
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fellos eine Kompetenzfrage: Je mehr zwingende Inhalte der Verfassung durch das Verfassungsgericht entnommen werden, desto stärker ist die Rolle des gerichtlichen Hüters der Verfassung. Fehlende oder unklare Maßstäbe der Verfassung – ein Thema, das auch bereits im Rahmen der Verfassungsinterpretation durch das BVerfG intensiv thematisiert wurde, führen auch zu der Kritik in einigen Sondervoten, dass das Gericht letztlich eher politische Erwägungen anstelle, die ihm nicht zustünden. So lässt sich etwa der Vorwurf der Richter v. Schlabrendorff, Geiger und Rinck in einem Sondervotum lesen, dass die Senatsmehrheit die Grenze zu rechtspolitischen Erwägungen überschritten habe, indem sie dem Staat die Verpflichtung auferlegt habe, „einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen“: „Vorweg ist auch klarzustellen, daß § 121 Abs. 1 StPO in der Hand der Gerichte nicht zum Hebel für justizpolitische Forderungen gemacht werden darf. Auch das Bundesverfassungsgericht hat nicht Rechtspolitik zu betreiben […]; ebensowenig wäre die rechtspolitische Absicht, mit Hilfe des § 121 Abs. 1 StPO die Justizverwaltung, die für die Aufstellung des Justizhaushalts Verantwortlichen und den Gesetzgeber zu nötigen, mehr Planstellen zu bewilligen, mehr Kräfte einzustellen, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen und die Justizreform auf den Weg zu bringen, ein zureichendes Argument. Notwendigkeiten dieser Art können die Folge einer Interpretation des § 121 Abs. 1 StPO sein, sie dürfen aber nicht umgekehrt das Ziel oder der Zweck der Auslegung sein oder das Ergebnis der Auslegung bestimmen.“848
Die Kritik, dass die Senatsmehrheit letztlich den Boden des Verfassungsrechts verlässt und sich auf das politische Parkett vorwagt, findet sich in vielen anderen Sondervoten: „Dies berechtigt zwar zu dem Schluß, daß jüngere Arbeiter grundsätzlich nicht weniger schutzbedürftig sind als gleichaltrige Angestellte. Als Folgerung ergibt sich daraus aber zunächst nur, daß es sozialpolitisch wünschenswert erscheinen kann, die Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer bei Arbeitern und Angestellten einander anzugleichen. Indessen ist nicht alles, was sozialpolitisch wünschenswert ist, zugleich verfassungsrechtlich geboten.“849 abgeleiteten Anforderungen auf der Linie der hierzu vor allem in den letzten 12 Jahren entwickelten Rechtsprechung des Gerichts. Vorgaben dieser Strenge und Detailgenauigkeit an den Gesetzgeber ließen und lassen sich nach meiner Überzeugung der Verfassung aber nicht entnehmen […].“ 848 BVerfGE 36, 264, 276 f. – Fortdauer der Untersuchungshaft (Hervorhebungen teilw. im Original). Deutlich wird dies auch ebd., 281: „Dagegen kann von Verfassungs wegen nicht gefordert werden, daß Parlament, Haushaltsausschuß und Justizministerium alles zur Beseitigung einer Überlastung der Gerichte in Strafsachen Erforderliche getan haben müssen, damit im Falle einer auf eine Unterlassung jener Stellen zurückzuführenden Verzögerung eines Schwurgerichtsverfahrens die Haft nach § 121 Abs. 1 StPO aufrechterhalten werden kann.“ 849 Abw. Meinung Katzensein, BVerfGE 62, 256, 290 – Berechnung der Beschäftigungsdauer Arbeiter/Angestellte. Vgl. auch ebd., 294: „Es mag sein, daß es gute Gründe dafür gibt, die Gleichstellung unbeschadet der aufgezeigten Gefährdungen schon alsbald zu vollziehen.
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Rottmann geht in seiner abweichenden Meinung zur Entscheidung über die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in Wahlkämpfen darüber hinaus noch auf eine gewachsene politische Kultur ein, die für das Gericht zu beachten sei: „Diese Ausprägung unserer parteienstaatlichen Demokratie, in der Bundeskanzler und Bundesregierung unter Ausnutzung ihrer Amtsautorität, unterstützt durch die Öffentlichkeitsarbeit der zuständigen Stellen der Regierung, mit Hilfe von Rechenschafts- und Erfolgsberichten und zahlreichen in die Zukunft gerichteten politischen Absichtserklärungen in den Wahlkampf eingriffen, ist ein wesentlicher und charakteristischer Bestandteil des politischen Lebens, wie es sich unter der Geltung des Grundgesetzes entwickelt hat. Es kann vom Bundesverfassungsgericht nicht ohne Vorankündigung dadurch geändert werden, daß aus dem Grundgesetz Maßstäbe als Verfassungsprinzipien hergeleitet werden, die das Handeln der Bundesregierung vermeintlich schon seit jeher beschränkt haben sollen. Die Verfassungswirklichkeit steht dem entgegen. Denn in Wirklichkeit haben die politisch Handelnden in der nahezu dreißigjährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland diese Handlungsbegrenzungen für die Bundesregierung aus dem Grundgesetz nicht herausgelesen. Letztlich hat sie niemand gekannt. Die Folge war, daß kein Bundeskanzler, keine Bundesregierung, kein Bundestag, keine politische Partei sich an diesen angeblich verfassungsrechtlich gebotenen Begrenzungen orientieren konnte.“850
Besonders interessant ist der Hinweis, dass das Gericht „nicht ohne Vorankündigung“ eine gewachsene politische Praxis untersagen dürfe. Letztlich nimmt Wann jedoch der richtige Zeitpunkt dafür ist, hat der Gesetzgeber in seiner Verantwortung zu entscheiden.“ Ähnlich auch in der abw. Meinung Klein/Kirchhof/Winter, BVerfGE 92, 277, 343 – Strafbarkeit DRR-Spione: „Auf diese Weise vermeidet es der Senat, sich einem erprobten, durch die Rechtsprechung des Gerichts ausgeformten verfassungsrechtlichen Maßstab zu stellen. Stattdessen weicht er auf eine unspezifische, weil auf ein konkretes äußeres Ereignis bezogene Variation des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Übermaßverbot) aus, die sich unseres Erachtens als verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitung in das Gebiet der Politik darstellt.“ Ähnlich abw. Meinung Gerhardt, BVerfGE 119, 247, 288 – Teilzeitbeschäftigung von Beamten: „Die Senatsmehrheit setzt sich darüber hinweg, dass die Konkretisierung des Bedeutungsgehalts der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG alter wie neuer Fassung zunächst in die Kompetenz des Gesetzgebers fällt.“ Ähnlich abw. Meinung Bryde, BVerfGE 121, 317, 380 f. – Rauchverbot: „Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber bei der Regelung der Berufsausübung mit Recht in ständiger Rechtsprechung einen weiten Spielraum eingeräumt, der auch notwendig ist, will es nicht zum Ersatzgesetzgeber werden. […] Davon weicht die Mehrheit im vorliegenden Fall ab. Dabei wäre das Festhalten an einem weiten Spielraum gerade hier wichtig. Eine gesetzliche Reform wie der Nichtraucherschutz – aber Vergleichbares ließe sich für viele Fälle aktueller Reformbemühungen im Verbraucher-, Umwelt- und Gesundheitsschutz sagen – ist ein politischer Kraftakt, bei dem der Gesetzgeber massivsten Widerständen mächtiger Lobbys ausgesetzt ist. […] Das Bundesverfassungsgericht darf keine Folgerichtigkeit und Systemreinheit einfordern, die kein demokratischer Gesetzgeber leisten kann. Zwingt man den Gesetzgeber unter solchen politischen Rahmenbedingungen in ein alles oder nichts, indem man ihm zwar theoretisch eine – politisch kaum durchsetzbare – Radikallösung erlaubt, aber Ausnahmen und Unvollkommenheiten benutzt, die erreichten Fortschritte zu kassieren, gefährdet das die Reformfähigkeit von Politik.“ 850 BVerfGE 44, 125, 185 – Öffentlichkeitsarbeit Bundesregierung.
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dies in Betracht, dass die Änderung der rechtlichen Lage die politischen Akteur*innen vor immense Herausforderungen stellen kann. Dieser Blick auf die Folgen einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung findet sich auch in anderen abweichenden Voten: „Mit dieser Entscheidung setzt sich das Bundesverfassungsgericht unter Überschreitung seiner Funktion an die Stelle des Gesetzgebers. […] Dieses Vorgehen erscheint nicht zuletzt deshalb bedenklich, weil verfassungsgerichtliche Verbote im Unterschied zu inhaltsgleichen Gesetzesregelungen auch in ihren Fehleinschätzungen nur schwer korrigierbar sind […].“851 851 Abw.
Meinung Simon/Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 35, 79, 150 – Hochschulurteil (eigene Hervorhebungen). Ähnlich abw. Meinung Di Fabio/Mellinghoff, BVerfGE 111, 54, 114 – Fehlerhafte Rechnungslegung einer Partei: „Dass im konkreten Streitfall die parteiinternen Kontrollsysteme offenbar nicht ausreichend waren, hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend festgestellt. Hier Abhilfe zu schaffen, obliegt der Verantwortung der Parteien und des Gesetzgebers: Gerichte sind nicht berufen, das Parteiengesetz auch ohne klar ausgesprochene Rechtsfolgenanordnung in einer gerade noch vertretbaren Weise so auszulegen, dass durch ein hartes Rechtsfolgenregime die Parteien haftbar gemacht werden, um diese anzuhalten, ihrer Rechenschaftspflicht vollständig und fehlerfrei nachzukommen. Damit schultert die Rechtsprechung eine Verantwortung, die angesichts des Schweigens der Verfassung über die Konsequenzen des Verstoßes gegen das Transparenzgebot und der Konkretisierungsbefugnis des parlamentarischen Gesetzgebers nach Art. 21 Abs. 3 GG ihr in diesem Umfang nicht obliegt. Der vollständige Verlust des zuwendungsbezogenen Anteils an der Parteienfinanzierung, dies möglicherweise sogar über mehrere Jahre in die Vergangenheit zurückreichend (vgl. § 48 Abs. 4 Satz 2 VwVfG), und die Verteilung der freigewordenen Mittel an die politischen Konkurrenten stellt eine so weit reichende Konsequenz für den politischen Wettbewerb und damit für die Entfaltungsbedingungen des demokratischen Prozesses dar, dass es dafür einer verlässlichen, in Tatbestand und Rechtsfolge klar ausgesprochenen gesetzlichen Grundlage bedarf.“ Vgl. für das besondere Verfahren der einstweiligen Anordnung abw. Meinung Winter, BVerfGE 82, 353, 382 f. – Wahlvorschläge parlamentarisch nicht vertretener Parteien: „Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung darf das Bundesverfassungsgericht in die Gesetzgebung nur insoweit eingreifen, als dies zur Erfüllung der ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben gerechtfertigt ist. Zu diesen Aufgaben gehört es nicht, verfassungsmäßige Gesetze endgültig außer Kraft zu setzen. Ist die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes umstritten und eine Entscheidung darüber nicht sofort möglich, so kann es freilich geboten sein, den Vollzug der Endentscheidung durch eine vorläufige Maßregel zu sichern. Dementsprechend ermächtigt § 32 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht zu vorläufigen Regelungen auch in bezug auf Gesetze. Diese einstweiligen Anordnungen müssen jedoch so beschaffen sein, daß sich das in der Endentscheidung für verfassungsgemäß erkannte Gesetz letztlich durchzusetzen vermag. Auch wenn sich möglicherweise nicht mehr alle Wirkungen nachträglich beseitigen lassen, die von einer einstweiligen Anordnung ausgehen, so darf es doch nicht erklärtes Ziel der Anordnung sein, auch solche dem Gesetz widersprechende Rechtswirkungen fortdauern zu lassen, die nachträglich beseitigt werden könnten. Zur Sicherung der Rechtsprechungsaufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist ein so weitgehender Eingriff in das Gesetz nicht notwendig und daher auch nicht zulässig.“ Ähnlich im Kontext der europäischen Integration abw. Meinung König/Langenfeld/Maidwoski, BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats vom 13.02.2020 – 2 BvR 739/17, Rn. 21 – Einheitliches Patentgericht: „Gleichwohl möchten wir zu bedenken geben, dass sich mit der Zulassung der formellen Übertragungskontrolle angesichts der wertungsabhängigen und in vielen Fällen nicht eindeutigen Abgrenzung von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG ein weiteres
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Mitunter wird dabei auch die Flexibilität des Gesetzgebers als schützenswertes Gut besonders betont: „Die Auffassung der Mehrheit beschränkt die Gestaltungsfreiheit aber mehr als geboten. Der vorliegend betroffene Bereich der vornehmlich durch Gesetze vollzogenen Sozialpolitik ist gegenüber Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers empfindlich; die sich im Bereich der Sozialpolitik ständig wandelnden Verhältnisse erfordern es, dem einfachen Gesetzgeber möglichst viel Freiheit zu belassen […]. So hat das Bundesverfassungsgericht stets darauf zu achten, daß seine Rechtsprechung dem Gesetzgeber die Anpassung des Rechts an die Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht unzumutbar erschwert […].“852
Ein weiterer Aspekt der Kritik ist, dass sich das Gericht über die Einschätzungen des Gesetzgebers hinsichtlich der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten im Laufe eines Gesetzgebungsprozesses hinwegsetzt. Unterschiedliche Auffassungen von einem Sachverhalt oder Problem- und Gefährdungslagen können die darauf aufbauende rechtliche Bewertung stark beeinflussen: „Die Senatsmehrheit gelangt […] vor allem auch deshalb zu einem anderen Ergebnis, weil sie ohne nähere Begründung einen Sachverhalt unterstellt, den der Gesetzgeber seiner Entscheidung nicht zugrundegelegt hat.“853 Feld verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen eröffnet. Dies wird zur Folge haben, dass sich notwendige politische Gestaltungsräume des Parlaments im Prozess der europäischen Integration entgegen den Intentionen des verfassungsändernden Gesetzgebers verengen und sich damit der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG beabsichtigte Schutz des demokratischen Prozesses in sein Gegenteil verkehren könnte.“ 852 Abw. Meinung Katzenstein, BVerfGE 74, 9, 30 – Ausschluss vom Arbeitslosengeld (eigene Hervorhebungen). Ähnlich abw. Meinung Osterloh/Gerhardt, BVerfGE 117, 372, 392 – Dreijahresfrist für Versorgungsbezüge: „Die Senatsmehrheit ordnet die für die Versorgungswirksamkeit von Beförderungen geltende Wartefrist in ihrer bisherigen Ausgestaltung den vom Gesetzgeber gemäß Art. 33 Abs. 5 GG zu beachtenden hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zu und verleiht damit einem Detail bei der Berechnung der Versorgungsbezüge Verfassungsrang. Das wiegt besonders schwer, weil diese Entscheidung auf einem Verständnis von Art. 33 Abs. 5 GG beruht, das den verfassungsrechtlich eröffneten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Regelung und Fortentwicklung des Beamtenrechts unzutreffend einschränkt, detailübergreifende Reformerwägungen hinfällig macht und den Gesetzgeber in das Korsett vorhandener Einzelregelungen schnürt.“ Vgl. auch ebd., 394: „Mit Art. 33 Abs. 5 GG sollte keine Fixierung des status quo verbunden, sondern vielmehr der Gesetzgeber bei der Gestaltung des Beamtenrechts in die Lage versetzt werden, Versteinerungen bestehender Rechtsstrukturen entgegenzuwirken […].“ Ähnlich abw. Meinung Landau/Kessal-Wulf, BVerfGE 133, 377, 437 – Ehegattensplitting bei eingetragener Lebenspartnerschaft: „Indem der Senat nunmehr eine der Ehe im Hinblick auf das Bestehen einer Gemeinschaft von Erwerb und Verbrauch vergleichbare rechtliche Ausgangssituation der eingetragenen Lebenspartnerschaft ‚von Anfang an‘ konstruiert, die die Legislative zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich nicht gewollt hatte, setzt er seine Einschätzung an die Stelle des hierzu allein berufenen Gesetzgebers. Gesellschaftlichen Wandel aufzunehmen, zu bewerten und gegebenenfalls rechtliche Formen hierfür bereitzustellen, kann nur Sache des Gesetzgebers, nicht aber des Verfassungsgerichts sein.“ 853 Abw. Meinung Rottmann, BVerfGE 53, 366, 419 f. – Konfessionelle Krankenhäuser.
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„Die Senatsmehrheit beschränkt sich bei dieser Güterabwägung nicht auf eine Evidenzoder Vertretbarkeitskontrolle, sondern setzt ihre eigene Beurteilung der gesundheitspolitischen Gegebenheiten, Erfordernisse und Erwartungen voll an die Stelle der entsprechenden Beurteilung des Gesetzgebers.“854
Besonders harsch erscheint die Kritik an der Senatsmehrheit, sie habe nicht nur in die Kompetenz des einfachgesetzlichen, sondern die des verfassungsändernden Gesetzgebers eingegriffen. Diese Argumentation lässt sich in der abwei854 Abw.
Meinung Rottmann, BVerfGE 53, 366, 413 – Konfessionelle Krankenhäuser. Vgl. dazu bereits das (damals unveröffentlichte) Sondervotum zu BVerfGE 7, 377 – Apothekenurteil von Scholtissek/Stein, nun verdienstvoll ediert bei Michl, JöR Bd. 68 (2020), S. 323, 380: „Als allgemeine Regel muß gelten, daß der Richter nur dort ein Gesetz verwerfen darf, wo der Gesetzgeber eindeutig erkennbar objektive Kriterien der künftigen Kausalverläufe, der Lebenssachverhältnisse oder der Wertscala verfehlt hat. Es gilt der auch in der Rechtsprechung des Supreme Court entwickelte Grundsatz. Die Vermutung spricht zugunsten der Verfassungsmäßigkeit; die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes darf nur ausgesprochen, wenn sie außer Zweifel steht.“ Hier zeigt sich eindrücklich, dass die verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz von Anfang gerichtsintern stark diskutiert wurde. Zur Einordnung des Apothekenurteil-Sondervotums lesenswert: Michl, JöR Bd. 68 (2020), S. 323, 376; erhellend zur Anfangszeit des BVerfG auch Darnstädt, NJW 2019, S. 1580 ff. Ähnlich abw. Meinung Di Fabio/Mellinghoff, BVerfGE 129, 300, 351 – Fünf-ProzentSperrklausel: „Zu einer angemessenen Gewichtung der Eingriffsintensität der Fünf-ProzentKlausel nötigt das Grundgesetz deshalb, weil es von Verfassungs wegen kein Wahlsystem vorgibt, dem Gesetzgeber also erhebliche Gestaltungsspielräume eröffnet […]. Der Senat kann nicht die Aufgabe des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren übernehmen, insbesondere kann er nicht alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen […].“ Ähnlich abw. Meinung Müller, BVerfGE 135, 259, 303 – Drei-Prozent-Sperrklausel (eigene Hervorhebungen): „Soweit der Senat eine mit ‚einiger Wahrscheinlichkeit‘ zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane fordert, verbleibt ein erheblicher Entscheidungsspielraum. Die Bewertung dieses Korridors zwischen der rein theoretischen Möglichkeit und dem sicheren Eintritt einer Funktionsbeeinträchtigung ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Stützt er seine Entscheidung auf nachvollziehbare tatsächliche Umstände und leitet daraus in vertretbarer Weise eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Vertretungsorgans ab, handelt er in Wahrnehmung seines Auftrages zur Ausgestaltung des Wahlrechts. Behält das Gericht sich demgegenüber vor, zu bestimmen, ab welchem Grad der Wahrscheinlichkeit von einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Vertretungsorgans auszugehen ist, ist angesichts der unvermeidlichen Unsicherheiten derartiger Prognosen eine Beschränkung auf die bloße Kontrolle der gesetzgeberischen Entscheidung nicht mehr gewährleistet. Es ist aber nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen.“ Ähnlich abw. Meinung Schluckebier, BVerfGE 141, 220, 363 – BKA-Gesetz: „Die vom Senat vertretenen Positionen haben zugleich erhebliche Auswirkungen auf die Landespolizeigesetze der Länder, ohne dass diese Konsequenzen im Verfahren hinreichend vertieft worden wären. Damit beschneidet das Urteil zugleich die politische Gestaltungsmacht des Bundesgesetzgebers über das gebotene Maß hinaus, mittelbar aber auch diejenige der Landesgesetzgeber. Der Senat setzt mit zahlreichen gesetzgebungstechnischen Detailanforderungen letztlich seine konkretisierenden eigenen Vorstellungen von dem Regelwerk in meines Erachtens zu weit gehender Weise an die Stelle derjenigen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der sich für seine Konzeption politisch zu verantworten hat und diese gegebenenfalls auch leicht korrigieren kann.“
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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chenden Meinung Gaiers zum Plenumsbeschluss zu Bundeswehreinsätzen im Inland beobachten: „Das Bundesverfassungsgericht wird gerne als Ersatzgesetzgeber bezeichnet; mit der nun getroffenen Entscheidung des Plenums läuft das Gericht Gefahr, künftig mit der Rollenzuschreibung als verfassungsändernder Ersatzgesetzgeber konfrontiert zu werden. […] Im Ergebnis hat die Auslegung der Regelungen zum Katastrophennotstand, die der Plenarbeschluss bei seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage zugrunde legt, die Wirkungen einer Verfassungsänderung.“855
Darüber hinaus wird bei der Kritik der Entscheidungskompetenz des Gerichts mitunter auch das Motiv des Verfassungsgebers bemüht: „Jedenfalls würde es Sinn und Zweck der Regelungen des Grundgesetzes über den Finanzausgleich sowie dem bündischen Prinzip besser entsprechen, wenn über die Probleme im Wege des Kompromisses eine Einigung gesucht würde. Es entspricht sicher nicht den Vorstellungen der Schöpfer unseres Grundgesetzes, wenn in derartigen Fragen das Bundesverfassungsgericht angerufen wird. Seine begrenzten verfassungsrechtlichen Kontrollmöglichkeiten gestatten ihm – wie auch dieses Urteil zeigt – nicht, eine alle Fragen erschöpfende allseitig befriedigende Lösung für den Bereich des Finanzausgleichs zu finden.“856
Doch nicht nur die Reichweite der Prüfungskompetenz hinsichtlich legislativer oder exekutiver Akte ist Gegenstand der Kritik in Sondervoten. Auch die Grenzen der Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen werden immer wieder diskutiert und Entwicklungen in der Rechtsprechung von dissentierenden Richtern mitunter sehr scharf kritisiert: „Der Sinn der Verfassungsbeschwerde und die besondere und zugleich begrenzte Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der rechtsprechenden Gewalt erlauben die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen nur in engen Grenzen […]. […] Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf die Prüfung zu ‚beschränken, ob die äußerste Grenze der durch die Generalklausel eingeräumten Entscheidungsmacht im Lichte des durch sie beschränkten Grundrechts überschritten worden ist. Das läßt sich nur feststellen, wenn die Überschreitung jener Grenze einigermaßen eindeutig ist‘ (BVerfGE 35, 311 [317]). Ob das Bundesverfassungsgericht dieser in den ersten zwei Jahrzehnten seiner Existenz entwickelten und ständig praktizierten Rechtsprechung zum sensiblen Bereich der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit auch im letzten Jahrzehnt uneingeschränkt die gebotene Behutsamkeit gewidmet hat, wird der kritische Beobachter bezweifeln dürfen. Ich vermag erkennbaren Tendenzen, die diese Zweifel begründen, aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zu folgen.“857 855 BVerfGE 132, 1, 24 – Plenum Luftsicherheitsgesetz. 856 Abw. Meinung Niebler, BVerfGE 72, 330, 426 – Finanzausgleich
(eigene Hervorhebungen). 857 Abw. Meinung Wand, BVerfGE 57, 170, 207 f. – Briefkontrolle in der Untersuchungshaft. In eine ähnliche Richtung geht die abw. Meinung Henschel, BVerfGE 80, 1, 38 – Ärztliche Prüfung: „Der Auffassung der Senatsmehrheit, die absolute Bestehensregel in § 14 Abs. 5 AppOÄ 1978 verstoße gegen Art. 12 Abs. 1 GG, vermag ich mich nicht anzuschließen. Der
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, gerichtliche Entscheidungen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren in vollem Umfang auf ihre tatsächliche und rechtliche Richtigkeit zu überprüfen.“858
Die Analyse der Rechtsprechungspraxis hat damit zunächst offenbart, dass sich die Diskussion um den verfassungsgerichtlichen Kompetenzumfang in zahlreichen Sondervoten auf diversen Ebenen und mit verschiedenen Pointierungen seine Bahnen bricht.859 Viele abweichende Voten kritisieren dabei die Senatsmehrheit für eine zu starke Ausweitung der gerichtlichen Zuständigkeiten. Dies geschieht nicht nur unter Rückgriff auf den bekannten Begriff des judicial self-restraint, sondern auch mit Blick auf die Ausweitung von grundrechtlichen Schutzbereichen, die in einem engen Zusammenhang mit der Kompetenzfrage stehen. Darüber hinaus werden materielle Anforderungen an andere staatliche Organe und der Zugriff auf europäische Rechtsetzungsakte aufgrund der möglichen Folgen für die einheitliche Anwendung des Europarechts kritisiert. Die Ausweitung von Antragsbefugnissen und Verfahrensgegenständen,860 was Senat nimmt insoweit teilweise die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts nicht auf […], teilweise entscheidet er aufgrund eigener Tatsachenfeststellungen, ohne die fachgerichtlichen Feststellungen oder gar deren Bindungswirkung für das Bundesverfassungsgericht zu beachten […].“ Ähnlich abw. Meinung Gerhardt, BVerfGE 122, 248, 302 f. – Rügeverkümmerung, die in einem Verfahren erging, das zum Gegenstand hatte, ob der BGH mit seiner Rechtsprechung zur „Rügeverkümmerung“ die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung gewahrt hatte: „Das Bundesverfassungsgericht ist zur Feststellung einer derartigen Negation der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) jedoch nur dann befugt, wenn die Erwägungen der angegriffenen Entscheidung zwingend auf einen solchen willkürlichen Umgang mit dem Gesetz hindeuten. Hingegen ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich in die Rolle der Superrevisionsinstanz zu begeben und die angegriffene Entscheidung des obersten Bundesgerichts nachvollziehend auf ihre Vereinbarkeit mit dem, was das Bundesverfassungsgericht selbst und unter Umständen mit erheblichem Aufwand zur Rechtslage ermittelt hat, zu überprüfen.“ 858 Abw. Meinung Wand/Niebler, BVerfGE 43, 154, 189 – Fürsorgepflicht des Dienstherrn. 859 Dass sich das BVerfG schon sehr früh mit der eigenen Kompetenz in Abgrenzung zu den anderen Gewalten, insbesondere dem Gesetzgeber, auseinandersetzte, lässt sich auch an internen Akten zu BVerfGE 7, 377 – Apothekenurteil ablesen. Ein vorbereitendes Gutachten von Richter Hans Kutscher betont, dass der Gesetzgeber einen „weiten Ermessensspielraum“ bei der „Regelung des Grundrechts der Berufsfreiheit“ besitze, und das Gericht nur „gewissere äußere Grenzen“ überwache. Diese seien überschritten, „wenn eine gesetzliche Regelung offensichtlich nicht dem gemeinen Wohl zu dienen bestimmt und dienlich ist oder wenn sie zwar diesem Ziele dienlich sein kann, aber zu seiner Erreichung oder Förderung offensichtlich nicht geboten ist.“ Zitiert nach Michl, JöR Bd. 68 (2020), S. 323, 334, der Kutscher eine zentrale Rolle für die Etablierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Judikatur des BVerfG zuweist, ebd. S. 332 f. Die bei Michl dargestellte senatsinterne Diskussion ist lesenswert. 860 Zur generellen Funktion des gerichtlichen Prozessrechts vgl. auch Möllers, Verfassungsblog v. 16.05.2020: „Nicht alle, ja die wenigsten rechtswidrigen Akte kommen vor Gericht. Deren Auswahl besorgt das Prozessrecht. Es trennt gerichtsgeeigneten Prozessstoff von anderem. Mit seiner Hilfe sollen Gerichte über Gegenstände urteilen, die zu ihren Verfahren passen und über die es mit plausibler Legitimität entscheiden kann. Deswegen ist es für politisch mächtige Gerichte existenziell wichtig, nicht den Eindruck zu vermitteln, sie würden sich
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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letztlich zum Vorwurf eines unzulässigen obiter dictums führt, sind ebenso Gegenstand der kritischen Anmerkungen wie die Art und Reichweite der verfassungskonformen Auslegung und einer Ableitung von detaillierten Maßstäben aus der Verfassung zur Begrenzung gesetzgeberischen Spielraums. Die dissentierenden Richter*innen erheben darüber hinaus mitunter den Vorwurf, dass die Senatsmehrheit letztlich politische Erwägungen anstelle oder sich über tatsächliche Feststellungen des Gesetzgebers hinwegsetze bzw. diese durch eigene ersetze. Die Kritik an der Reichweite verfassungsgerichtlicher Überprüfung von Entscheidungen der Fachgerichte spielt demgegenüber eine eher geringe Rolle in Sondervoten, ist aber auch existent.
b) Kritik an einem engen Verständnis verfassungsgerichtlicher Kompetenzen Ebenso wie das Plädoyer für eine zurückhaltende Wahrnehmung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen, lässt sich in vielen Sondervoten der gegenteilige Ruf nach einer stärkeren Rolle der Rechtsprechung finden. Hieran zeigt sich, dass die Reflexion über die eigene Rolle bei den Richter*innen des BVerfG zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. So wird in zahlreichen Sondervoten argumentiert, dass der Spielraum des Gesetzgebers zu weit bemessen, die Kontrollkompetenz des BVerfG zu weit zurückgenommen worden sei: „Das begriffliche Verhältnis der Rechtssicherheit zur Gerechtigkeit ist stets unterschiedlich verstanden worden […]. Vor allem Gustav Radbruch hat in Gerechtigkeit und Rechtssicherheit Gegensätze gesehen, die zu Spannungen führen könnten […]. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dieser Frage frühzeitig der Rechtsphilosophie Radbruchs angeschlossen, und zwar ausdrücklich […]. Auch in späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben, daß Gerechtigkeit und Rechtssicherheit in Widerspruch treten könnten […]. Die Übernahme der Radbruchschen pluralistischen These hat schließlich dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht sich in der Nachprüfung seit einiger Zeit auf das Gebot der willkürfreien Entscheidung des Gesetzgebers beschränkt […]. Da es andererseits bislang nicht gelungen ist, dem Willkürverbot präzise Konturen zu geben, hat sich für den Gesetzgeber faktisch ein weiter Gestaltungsraum ergeben. […] Gegen diese Rechtsprechung bestehen in ihrer Verallgemeinerung durchgreifende Bedenken. Das gilt einmal für die Annahme, materiale Gerechtigkeit und Rechtssicherheit stünden in einem – wohl konträr gemeinten – Gegensatz. Das gilt insbesondere aber für die fortschreitende Minderung der verfassungsgerichtlichen Prüfung der legislatorischen Entscheidungen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überantwortet zunehmend die Lösung des Verhältnisses von materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dem Gesetzgeber. Das ist mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.“861 ihre Fälle selbst aussuchen. Deswegen ist es ebenso bedeutsam, möglichst Entscheidungen zu treffen, die sich dem Publikum im Verfahren erklären. Das Prozessrecht schützt Gerichte damit auch vor Selbstüberforderung. Denn klar ist: Institutionell mächtige staatliche Institutionen sind immer selbst dafür verantwortlich, wenn sie sich missverstanden fühlen.“ 861 Abw. Meinung v. Schlabrendorff, BVerfGE 35, 41, 53 – Versäumung Berufungsfrist in Kindschaftssachen. Vgl. auch ebd., 56: „Seit BVerfGE 15, 313 [319] hat das Bundesver-
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Auch wenn die dissentierenden Richter*innen nicht immer ausdrücklich die Kompetenz des Gerichts ansprechen, ist offensichtlich, dass aus einem strengen fassungsgericht die Abwägung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Gebot der Gerechtigkeit in erster Linie dem Gesetzgeber aufgetragen. Es will sich auf eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG beschränken. Das ist zu mißbilligen.“ Ähnlich abw. Meinung Simon, BVerfGE 47, 1, 37 – Kosten Hausgehilfin: „Bei der näheren verfassungsrechtlichen Prüfung sehe ich davon ab, mich in allen Einzelheiten mit der Meinung der Mehrheit auseinanderzusetzen. Mit ihr gehe ich davon aus, daß dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Steuerrechts eine weitgehende Gestaltungsfreiheit gebührt. […] Unbeschadet ihrer eigenständigen Legitimationsgrundlagen kann diese gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit aber nicht unbegrenzt sein. Speziell bei der Besteuerung des Einkommens kann es schon nach Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot und dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit nicht im völlig freien Belieben des Gesetzgebers stehen, ob er ertragsmindernde Aufwendungen steuerlich berücksichtigt oder nicht.“ Vgl. auch weitergehend ebd., 38, 40, 42. Ähnlich abw. Meinung Benda/Katzenstein, BVerfGE 58, 81, 135 f. – Ausbildungs-Ausfallzeiten, die insbesondere dem Vertrauensschutz des Bürgers bei Rentenansprüchen einen größeren Stellenwert und damit eine stärkere Verpflichtung des Gesetzgebers beimessen: „Vertrauensschutz besagt mindestens, daß als Folge der Notwendigkeit, frühere gesetzgeberische Versprechen teilweise zurückzunehmen, den Betroffenen erneut die Möglichkeit gegeben wird, ihren unter anderen und günstigeren Voraussetzungen getroffenen Entschluß daraufhin zu überprüfen, ob er auch unter den neuen, weniger vorteilhaften Bedingungen noch sinnvoll bleibt. Wir halten dies für eine eigentlich selbstverständliche Voraussetzung redlichen Verhaltens des Gesetzgebers dem Rechtsunterworfenen gegenüber […]. Die Senatsmehrheit läßt offen, ob sich aus dem Vertrauensgrundsatz eine solche Konsequenz ergeben könnte; sie meint, daß es nicht möglich sei, im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden hierüber zu befinden […]. Diese Bedenken teilen wir nicht.“ Ähnlich abw. Meinung Limbach, BVerfGE 94, 115, 157 – Sichere Herkunftsstaaten: „Ich bin der Meinung, daß der Gesetzgeber bei der Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat keinen Einschätzungs- und Wertungsspielraum in der Frage beanspruchen kann, welche Erkenntnisse er seiner Entscheidung zugrunde legt und welche Bedeutung er ihnen in ihrem Verhältnis zueinander beimißt.“ Vgl. auch ebd., 160: „Auch die Schwierigkeit, sich über die Rechtspraxis und Stabilität der politischen Verhältnisse in einem anderen Staat ein sicheres Urteil zu bilden, rechtfertigt die vom Senat vorgenommene Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht.“ Ähnlich zu derselben Entscheidung abw. Meinung Böckenförde, BVerfGE 94, 115, 163 – Sichere Herkunftsstaaten: „Für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung der vom Gesetzgeber hier zu treffenden feststellenden Entscheidung gilt nach meiner Auffassung – da es sich um die Anwendung zwar grundrechtsbezogener aber unbestimmt offener Verfassungsbegriffe handelt – der Maßstab der Vertretbarkeit […]. Dieser darf freilich nicht unter Berufung auf die Schwierigkeit, sich ein sicheres Urteil zu bilden, noch einmal zurückgenommen und darauf beschränkt werden, ob eine Gesamtwürdigung ergebe, daß der Gesetzgeber sich nicht von guten Gründen habe leiten lassen.“ Ähnlich abw. Meinung Kühling, BVerfGE 94, 268, 297 – Befristete Arbeitsverträge Wissenschaft: „Der Senatsbeschluß verzichtet auf eine Erörterung dieser naheliegenden Erwägungen. Statt dessen begnügt er sich mit einem Hinweis auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Dieser Hinweis ist zwar grundsätzlich berechtigt. Er entlastet das Gericht aber nicht davon, die Plausibilität der Erwägungen zu prüfen, die zu der Einschätzung geführt haben oder zumindest hätten führen können.“ Ähnlich abw. Meinung Kühling/Hohmann-Dennhardt/Hoffmann-Riem, BVerfGE 103, 44, 72 – Fernsehaufnahmen in Gerichtsverhandlungen: „Der Gesetzgeber ist aber kraft objektiven
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Verständnis verfassungsrechtlicher Maßstäbe und Anforderungen für den Gesetzgeber eine erhöhte Kontrollkompetenz des BVerfG folgt. Verfassungsrechts verpflichtet, eine über die Saalöffentlichkeit hinausgehende Medienöffentlichkeit zu ermöglichen, soweit dem keine gegenläufigen Belange entgegenstehen. Das Unterlassen einer solchen Regelung kann die Beschwerdeführerin als Grundrechtsverletzung rügen. Die Beseitigung des Verfassungsverstoßes bedürfte einer gesetzlichen Regelung.“ Ähnlich für die Grenzen des verfassungsändernden Gesetzgebers abw. Meinung Jaeger/ Hohmann-Dennhardt, BVerfGE 109, 279, 389 f. – Großer Lauschangriff: „Die von der Senatsmehrheit angenommene Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit einer verfassungsändernden Norm durch deren verfassungskonforme Auslegung herzustellen, schränkt außerdem den Geltungsbereich von Art. 79 Abs. 3 GG in unzulässiger Weise ein. Sie führt dazu, dass die von Art. 79 Abs. 3 GG für eine Verfassungsänderung gesetzten Schranken letztlich nur noch dort zu greifen vermögen, wo der verfassungsändernde Gesetzgeber sich anschickt, die föderale Ordnung, Art. 1 oder Art. 20 GG selbst in Gänze abzuschaffen. […] Der Grundgesetzgeber hat aber in Art. 79 Abs. 3 GG nicht lediglich eine Änderung beziehungsweise Abschaffung von Art. 1 und Art. 20 GG als unzulässig ausgeschlossen, sondern bereits eine, die die in diesen Artikeln niedergelegten Grundsätze berührt. Art. 79 Abs. 3 GG reicht also weiter.“ Vgl. auch die sehr pointierte Kritik in der abw. Meinung Di Fabio/Mellinghoff/Landau, BVerfGE 119, 96, 155 f. – Nachtragshaushalt: „Der Senat legt die einschlägige Vorschrift des Grundgesetzes zur Schuldenbegrenzung des Bundes so aus, dass sie keine Wirkung zu entfalten vermag. […] Darüber hinaus werden wichtige Auslegungsansätze der Senatsentscheidung vom 18. April 1989 (BVerfGE 79, 311) verdrängt. Die notorische Missachtung des mit dieser Entscheidung klar und deutlich erteilten Gesetzgebungsauftrags wird nicht etwa sanktioniert, sondern im Ergebnis entschuldigt und durch einen weit weniger konkreten Appell zur Verfassungsänderung ersetzt. In einer Lage, in der der Schuldensockel des Bundes inzwischen weit über 900 Mrd. € erreicht hat und der Schuldendienst mit rund 40 Mrd. € pro Jahr den Bundeshaushalt als zweitgrößter einzelner Ausgabeposten belastet, zieht sich die Verfassungsrechtsprechung von ihrer Aufgabe zurück, einer zentralen finanzverfassungsrechtlichen Norm Geltung zu verschaffen […].“ Ähnlich abw. Meinung Hassemer, BVerfGE 120, 224, 255 – Inzestverbot: „Ich kann die Entscheidung, § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB genüge den Voraussetzungen, die das Grundgesetz an einen Straftatbestand stellt, nicht mittragen. Die Norm steht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der gerade dem Strafgesetzgeber Grenzen zieht, nicht in Einklang; eine so verunglückte Strafdrohung passieren zu lassen, segnet schwere Fehler und Versäumnisse des Gesetzgebers verfassungsrechtlich ab und überdehnt den legislativen Spielraum im Strafrecht auf Kosten der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts.“ Vgl. auch ebd., 256 f. Ähnlich im Hinblick auf die Kompetenzen des Gesetzgebers, von Regelungen aus völkerrechtlichen Verträgen abzuweichen abw. Meinung König, BVerfGE 141, 1, 44 – Treaty Override: „Die Entscheidung der Senatsmehrheit kann ich weder in der Argumentation noch im Ergebnis mittragen. Denn sie lässt dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen freie Hand, sich nach dem lex-posterior-Grundsatz mit einem späteren Gesetz bewusst und gewollt über Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen (bei denen es sich nicht um Menschenrechtsverträge handelt) hinwegzusetzen.“ Vgl. auch ebd., 48: „Die Entscheidung der Senatsmehrheit gibt dem Demokratieprinzip – unter Hintanstellung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Auslegung nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit – uneingeschränkt den Vorzug. Im Ergebnis ist der spätere Gesetzgeber frei, bewusst von den Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrags – ungeachtet des damit verbundenen Völkerrechtsburchs – abzuweichen. Besonderer Voraussetzungen oder einer Rechtfertigung bedarf es dafür nicht.“ Ähnlich abw. Meinung Paulus/Baer, BVerfGE 146, 71, 150 – Tarifeinheitsgesetz: „Wir können dem Urteil bedauerlicherweise nur teilweise zustimmen. Es unterschätzt die tatsächlichen Belastungen und Gefahren, die das Tarifeinheitsgesetz für die grundrechtlich garantierte
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Darüber hinaus lassen sich auch hinsichtlich der Kontrollbefugnis über fachgerichtliche Entscheidungen Diskussionen beobachten, die mitunter zu sehr grundsätzlichen Überlegungen über die Rolle des BVerfG führen: „Die Frage, wo die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts liegen, soweit es sich um die Nachprüfung der Anwendung von Privatrecht durch die Fachgerichte handelt, wird voraussichtlich immer problematisch bleiben. Das Bundesverfassungsgericht steht hier zwischen Scylla und Charybdis: Ein Zuwenig an verfassungsgerichtlicher Prüfung kann die Effektivität des Grundrechtsschutzes beeinträchtigen, ein Zuviel die angemessene Funktionsteilung im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den anderen Gerichten stören und dem Bundesverfassungsgericht eine quantitativ und – wegen des Umfangs und der Spezialisierung des sogenannten ‚einfachen‘ Rechts – auch qualitativ nicht tragbare Last aufbürden.“862
Hier zeigt sich, dass die Frage der verfassungsgerichtlichen Kompetenz nicht nur zwischen den einzelnen Staatsgewalten (inter-institutionell), sondern auch innerhalb der Gerichtsbarkeit (intra-institutionell) eine Rolle spielt und zu schwierigen Abgrenzungsfragen führt. Auch hinsichtlich des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums der Exekutive lässt sich eine ähnliche Diskussion über gerichtliche Kontrollkompetenzen feststellen. Dies lässt sich etwa in einem Sondervotum des Richters Mahrenholz nachweisen, das die mangelnde Erfüllung der Schutzpflicht durch die Bundesregierung bei der Lagerung chemischer Waffen auf dem Bundesgebiet rügte: „Angesichts des Gestaltungsspielraums der Exekutive geht es um die Prüfung der Frage, ob eine verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung besteht, die notwendigen Informationen über Standort und Art an die jeweilige Landesregierung mit dem Ziel weiterzuleiten, daß diese eine zwischen deutschen und amerikanischen Dienststellen kooperative Katastrophenschutzplanung ins Werk setzen. Nach meiner Auffassung ist es evident, daß die Bundesregierung diese Pflicht hat, daß sie mithin ihre Schutzpflicht und damit zugleich das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommt. Dahinstehen kann daher, ob sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Verhaltens der Bundesregierung angesichts der Tragweite der Gefahren, um deren Begrenzung es geht, und angesichts der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter auf eine Evidenzkontrolle beschränken darf oder ob nicht vielmehr als Prüfungsmaßstab vorliegend eine intensivierte inhaltliche Kontrolle […], zumindest aber eine erhöhte ‚Kontrolldichte‘ im Sinne einer Vertretbarkeitsprüfung zu gelten hat […]. Freiheit der Gewerkschaften mit sich bringt, sich selbstbestimmt tarifpolitisch zu engagieren; es überschätzt zugleich die Einschätzungsspielräume, die dem Gesetzgeber hier wie sonst auch zustehen, und vermindert dadurch die Kontroll- und Überwachungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts.“ 862 Abw. Meinung Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 42, 143, 154 – Deutschland-Magazin. Rupp-v. Brünneck lobt im Folgenden das Gericht für Anpassungen in der Rechtsprechung, inwiefern Gerichtsentscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit vom BVerfG überprüft werden können, hält diese aber für „in doppelter Hinsicht noch nicht als ausreichend […]“, ebd., 155 f.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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In der Rechtsprechung des Ersten Senats findet sich der Hinweis, daß einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung der Verantwortung des Gesetzgebers Grenzen gezogen sind, ‚sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiele stehen‘ […].“863
Eine sehr spezifische Ausprägung der inter-institutionellen Diskussion um Kompetenzen lässt sich hinsichtlich der Frage der Parlamentsauflösung nach Art. 68 Abs. 1 GG aufzeigen: Hier entwickelte sich eine Diskussion um die Frage der Überprüfbarkeit von Entscheidungen des Bundespräsidenten durch das BVerfG, die deshalb eine besondere ist, da der Bundespräsident zwar wohl der Exekutive zuzurechnen, von der Bundesregierung aber zu trennen ist.864 Rinck plädiert in seinem Sondervotum etwa für eine stärkere Rolle des Gerichts in Bezug auf Entscheidungen des Präsidenten: „Zwar steht dem Bundespräsidenten bei seiner Prüfung, ob Art. 68 GG ihm überhaupt eine Ermessensentscheidung eröffnet, von der Sache her ein Beurteilungsspielraum zu. Damit wird Art. 68 GG aber nicht zu einer offenen Norm. Wie die Auslegung zeigt, läßt sich Art. 68 GG vielmehr ein inhaltlich hinreichend bestimmter normativer Gehalt entnehmen. Das in Art. 68 GG angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des Zusammenwirkens der drei beteiligten Verfassungsorgane ändert nichts daran, daß das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit der Verletzung verfassungsrechtlicher Pflichten entgegentreten muß, soweit das Grundgesetz rechtliche Maßstäbe für das politische Verhalten gesetzt hat. Das Bundesverfassungsgericht kann mithin die Entscheidung des Bundespräsidenten daraufhin überprüfen, ob die Tatbestandsmerkmale, an die Art. 68 GG die Befugnis zur Auflösung des Bundestages knüpft, durch den gegebenen Sachverhalt hinreichend belegt erscheinen konnten oder ob eine andere Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse eindeutig vorzuziehen war.“865 863 Abw.
Meinung Mahrenholz, BVerfGE 77, 170, 236 – Lagerung chemischer Waffen. Ähnlich abw. Meinung Sommer, BVerfGE 93, 248, 260 – Asylantrag Sudanesen, die die Überprüfbarkeit von Akten der Exekutive im Bereich Asyl zum Gegenstand hatte: „Als Akt der Ausübung auswärtiger Gewalt lassen sich die im Rahmen eines anhängigen gerichtlichen Verfahrens zur Sachverhaltsfeststellung eingeholten Auskünfte und Erklärungen nach meiner Auffassung nicht qualifizieren. Deshalb greift auch der auf die Einhaltung äußerster Grenzen beschränkte Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle, den das Bundesverfassungsgericht zugrunde legt, wenn Maßnahmen der auswärtigen Gewalt (oder deren Unterlassung) Gegenstand seiner Prüfung sind […], hier nicht ein. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG das Ergebnis seiner Tatsachenfeststellungen und Beweiserhebungen – nach Gewährung rechtlichen Gehörs für die Verfahrensbeteiligten – umfassend zu würdigen. Dabei ist freilich die besondere Sachkunde und Sachnähe des Auswärtigen Amtes angemessen zu berücksichtigen; auch die politische Verantwortlichkeit der Bundesregierung für eine Einschätzung der Verläßlichkeit eingeholter Zusicherungen im völkerrechtlichen Verkehr kann eine Rolle spielen. Letztlich muß es aber bei einer vom Bundesverfassungsgericht zu verantwortenden Würdigung und Entscheidung verbleiben.“ 864 Heun, in: Dreier GG-Kommentar, Art. 54, Rn. 12, m. w.Nachw. zur Diskussion um die Einordnung des Bundespräsidenten in die staatliche Gewaltengliederung. 865 Abw. Meinung Rinck, BVerfGE 62, 1, 107 f. – Misstrauensvotum Schmidt. Ähnlich zu derselben Entscheidung abw. Meinung Rottmann, BVerfGE 62, 1, 111 – Misstrauensvotum Schmidt: „Die Senatsmehrheit beruft sich schließlich darauf, daß das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei Entscheidungen mit Prognosecharakter stets einen weiten Beurteilungsspielraum zuerkannt habe. Ähnliches gelte für politische Entscheidungen
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Mitunter wird auch kritisiert, dass der Senat den Antrag des Beschwerdeführenden als unzulässig deklariert hat. Dies betrifft ebenfalls die Frage des Umfangs der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen. Zulässigkeitsanforderungen sind ein Ventil, das zu weiten Teilen in den Händen des Gerichts verbleibt und den Zustrom verfassungsrechtlicher Verfahren steuern kann. Dass eine Debatte über die Handhabung dieses Instruments innerhalb des Gerichts entstehen kann, zeigt etwa ein Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff: „Nach meiner Überzeugung hätte dem Beschwerdeführer eine Sachentscheidung nicht verweigert werden dürfen. Die Begründung, mit der der Senat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat, ist nicht tragfähig. […] Angesichts eines deutlichen Meinungswandels in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur zur Justiziabilität innerkirchlicher Angelegenheiten […] kommt dieser Frage […] grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG zu […]. Der Senat hätte die Verfassungsbeschwerde daher zur Entscheidung annehmen und die aufgeworfene Frage im Rahmen einer Sachentscheidung beantworten müssen.“866
Die Analyse der Rechtsprechungspraxis hat offenbart, dass die verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz gegenüber Akten der Legislative oft ein Thema von Sondervoten ist. Dies darf nicht überraschen, ist die Überprüfung legislativer Akte doch ein unter besonders hohem Rechtfertigungsdruck stehender Vorgang der Verfassungsgerichtsbarkeit, der zu Debatten geradezu einlädt. Darüber hinaus existieren, jedoch in deutlich geringerem Umfang, Diskussionen um die Kontrollkompetenz gegenüber der Exekutive und hinsichtlich der Fachgerichtsbarkeit. Spezifische Debatten der Überprüfungskompetenz bei Handlungen des Bundespräsidenten und der Auslegung von Zulässigkeitsanforderungen offenbaren, dass die Forderung nach einem stärkeren Eintreten des BVerfG sehr vielschichtig ist.
c) Einheitliche und beständige Rechtsprechung Neben der Frage des verfassungsgerichtlichen Kompetenzumfangs spielt auch die Einheitlich- und Beständigkeit der eigenen Rechtsprechung innerhalb der Praxis der Sondervoten eine bedeutende Rolle. So ist es bei dissentierenden Richter*innen ein beliebtes Motiv, frühere Entscheidungen heranzuziehen, um ein Abweichen der Senatsmehrheit von dieser Linie aufzuzeigen: der Exekutive von weitreichender Bedeutung. Diesen Maßstab wendet die Senatsmehrheit hier auch auf den Bundespräsidenten an. Der Bundespräsident könne danach bei der Prüfung, ob der Vorschlag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG auf Auflösung des Bundestages mit der Verfassung zu vereinbaren sei, andere Maßstäbe nicht anlegen. Er habe vielmehr insoweit die Einschätzungs- und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten […]. Hier schränkt die Senatsmehrheit die Prüfungskompetenzen des Bundespräsidenten und damit auch die Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu sehr ein.“ 866 Abw. Meinung Lübbe-Wolff, BVerfGE 111, 1, 7 ff. – Gerichtliche Überprüfung kirchlicher Maßnahmen.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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„Art. 24 Abs. 1 GG fordert für die Übertragung eines Hoheitsrechtes ein Gesetz. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats war es nur unter strengen Voraussetzungen möglich, ohne erneute gesetzliche Zustimmung aus einem Vertrage, der Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung überträgt, auch die – spätere – Übertragung von Hoheitsrechten zuzulassen, die weder im Vertrag noch im Zustimmungsgesetz eigens genannt sind (vgl. BVerfGE 58, 1). Mit der jetzigen Entscheidung gibt der Senat diese Maßstäbe in einer mit Art. 24 Abs. 1 GG nicht mehr zu vereinbarenden Weise auf […].“867 867 Abw.
Meinung Mahrenholz, BVerfGE 68, 1, 112 – Pershing. Ähnlich abw. Meinung Hirsch, BVerfGE 54, 53, 79 – Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger: „Diese Auslegung findet in der Rechtsordnung keine Stütze, verstößt gegen den vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Grundsatz, der Wiedergutmachung dienende Vorschriften des Grundgesetzes nicht einengend zu Lasten des Verfolgten auszulegen (BVerfGE 8, 81 [86]), sie steht im Widerspruch zur Erkenntnis der Nichtigkeit der Ausbürgerung, ist durch Interessen der Rechtssicherheit nicht geboten und verkehrt die Schutzfunktion des Antragserfordernisses ins Gegenteil.“ Ähnlich abw. Meinung Katzensein, BVerfGE 72, 39, 46 – Kindererziehungszeiten: „Ich halte die Verfassungsbeschwerden für zulässig. Die gegenteilige Auffassung der Mehrheit ist nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zwingend […].“ S. auch ebd. 47 ff. Ähnlich abw. Meinung Mahrenholz, BVerfGE 86, 288, 346 – Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe (Hervorhebungen i. Orig.), der sich gegen die Auslegung des verfassungsrechtlichen Prinzips des „schuldangemessenen Strafens“ durch die Senatsmehrheit wendet: „Seit der erstmaligen Artikulation dieses Prinzips (noch ohne Begriffsbildung als Prinzip der Schuldangemessenheit) im Urteil vom 10. Mai 1957 (BVerfGE 6,389 [439]) ist es als ein die staatliche Strafgewalt begrenzendes Prinzip verstanden worden; in dem Urteil wird gesagt, ein hiergegen verstoßendes Strafgesetz könne nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung sein. […] Der Senat begründet nicht, warum er die rechtsstaatliche Intention und Begrenzung dieses Prinzips verläßt.“ Ähnlich abw. Meinung Klein/Kirchhof/Winter, BVerfGE 92, 277, 346 – Strafbarkeit DDRSpione: „Die den Beschluß tragende Auffassung, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seiner Ausprägung als Übermaßverbot könne für eine ganze nach generellen Merkmalen abgegrenzte Gruppe von Fällen und Tätern unabhängig von einer Bewertung des Einzelfalls ‚zu Bedingungen führen, die – in ihrem Zusammenwirken – für die Betroffenen so schwer wiegen, daß demgegenüber das Interesse der Bundesrepublik an der Verfolgung der gegen sie gerichteten Spionagetaten zurücktreten muß‘ […], steht nach unserer Auffassung mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht im Einklang, soweit danach auch Umstände entscheidungserheblich sein können, die weder den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat berühren noch das Erreichen der gesetzlich anerkannten Strafzwecke ausschließen noch die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens in Frage stellen. Hierzu ist vor allem auf den Beschluß des Senats vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145) zu verweisen.“ Vor Übertragung der Rechtsprechung wegen einer anderen Fallkonstellation warnend abw. Meinung Kühling/Jaeger, BVerfGE 98, 265, 349 – Bayerisches Schwangerenhilfegesetz: „Die Annahme der Senatsmehrheit, infolge bundesgesetzlicher Konstituierung eines umfassenden und abschließenden Regelungskonzepts seien die Länder mit ergänzenden Regelungen selbst im eigenen Kompetenzbereich ausgeschlossen, kann sich auch nicht auf die Urteile des Zweiten Senats vom 7. Mai 1998 (Nr. 5, 6 S. 83 ff., NJW 1998, S. 2341 [2342] und S. 2346 [2347]) stützen. […] Eine vergleichbare Konstellation […] ist hier ersichtlich nicht gegeben.“ Vgl. auch abw. Meinung Jentsch, BVerfGE 114, 121, 171 – Vertrauensfrage Schröder: „Diese Gründe belegen keine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag, die allein eine ‚unechte‘ (auflösungsgerichtete) Vertrauensfrage nach den zutreffenden Maßstäben der Entscheidung des Senats vom 16. Februar 1983 (BVerfGE 62, 1) rechtfertigen könnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit verabschiedet diese Maßstäbe ohne Not
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Verbunden wird der Ruf nach einer einheitlichen und beständigen Rechtsprechung mitunter damit, dass der jeweilige Senat das Plenum nach § 16 Abs. 1 und ohne dies kenntlich zu machen.“ Vgl. auch ebd., 174 (eigene Hervorhebungen): „Ein dergestalt weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers steht auch in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. Denn er bedeutet de facto die Preisgabe der materiellen Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Leitentscheidung vom 16. Februar 1983 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG festgestellt hat (vgl. BVerfGE 62, 1 [6. Leitsatz]).“ Ähnlich abw. Meinung Landau, BVerfGE 126, 286, 321 – Honeywell: „In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon hat der Senat ein ausgewogenes Modell entwickelt, das die Kontrolle in materieller Hinsicht auf ersichtliche Grenzdurchbrechungen gegenüber den Mitgliedstaaten beschränkt und sie in formeller Hinsicht unter den Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene stellt (BVerfGE 123, 267 [353]). […] Die Senatsmehrheit geht über das Erfordernis einer ersichtlichen – also klaren und offensichtlichen – Kompetenzüberschreitung hinaus und verlässt den der Lissabon-Entscheidung zu Grunde liegenden Konsens, indem sie nun einen ‚hinreichend qualifizierten‘ Kompetenzverstoß fordert, der nicht nur offensichtlich ist, sondern zudem zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Organisation führt. Damit schießt die Senatsmehrheit über das Ziel einer europarechtsfreundlichen Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle hinaus. Sie verkennt die in der Lissabon-Entscheidung hervorgehobene wesentliche Voraussetzung einer zwingenden demokratischen Legitimation bei Ausübung aller hoheitlichen Gewalt, die bei jeder Kompetenzverletzung durchbrochen ist; wird die Ausübung hoheitlicher Gewalt ohne hinreichende demokratische Legitimation zugelassen, so widerspricht dies der Kernaussage des Senatsurteils vom 30. Juni 2009.“ Ähnlich abw. Meinung Di Fabio/Mellinghoff, BVerfGE 129, 300, 346 – Fünf-ProzentSperrklausel: „Hat das Bundesverfassungsgericht noch im Jahr 1979 die Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Europawahl als gerechtfertigt angesehen (BVerfGE 51, 222), so hält der Senat heute trotz abnehmender praktischer Wirkung der Sperrklausel (dazu unter I.) und trotz beträchtlicher Kompetenzzuwächse sowie einer deutlich gestiegenen politischen Bedeutung des Europaparlaments […] die Sperrklausel für nicht mehr gerechtfertigt, ohne dass hinreichend offengelegt wird, inwieweit sich die Maßstäbe der Beurteilung verändert haben.“ Vgl. auch weitergehend ebd., 351 (eigene Hervorhebungen): „Damit ist schon bei der Gewichtung des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit nicht einsehbar, warum der Senat im Jahr 1979 die FünfProzent-Sperrklausel bei der Europawahl für gerechtfertigt hielt, heute aber nicht mehr daran festhält.“ Ähnlich Abw. Meinung Landau/Kessal-Wulf, BVerfGE 133, 377, 441 – Ehegattensplitting bei eingetragener Lebenspartnerschaft: Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebührt dem Gesetzgeber bei der Neuregelung eines komplexen Sachverhalts ein zeitlicher Anpassungsspielraum; er darf sich zunächst mit einer grob typisierenden Regelung begnügen, um diese nach hinreichender Sammlung von Erfahrungen allmählich durch eine differenziertere zu ersetzen (vgl. BVerfGE 54, 11 [37]; 54, 173 [202] m. w. N.). Dieser Gedanke gilt erst recht bei umfassenden Reformen, die einen hohen Regelungsaufwand erfordern. […] Hiermit setzt sich der Senat nicht auseinander.“ Weitergehend ebd., 442 (eigene Hervorhebungen): „Diesen Einschätzungsspielraum übergeht der Senat durch seine auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Lebenspartnerschaftsgesetzes rückwirkende Unvereinbarkeitserklärung und verengt die gesetzgeberischen Gestaltungsmöglichkeiten zusätzlich. Im Zuge dessen setzt er sich zudem über die bisherige Rechtsprechung hinweg, wonach der Gesetzgeber einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtszustand nicht rückwirkend beseitigen muss, wenn die Verfassungsrechtslage nicht hinreichend geklärt war […].“ Ähnlich abw. Meinung Masing, BVerfGE 135, 1, 35 f. – Rückwirkungsverbot: „In der Entscheidung liegt damit zugleich eine tiefgreifende Wende der Rückwirkungsrechtsprechung
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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BVerfGG hätte anrufen müssen, da von der Rechtsansicht eines anderen Senats abgewichen worden sei: „Der Senat durfte die Verfassungsbeschwerde nicht mit der in der Entscheidung gegebenen Begründung zurückweisen, ohne vorher einen Beschluß des Plenums gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG herbeigeführt zu haben.“868 und ein Bruch mit den diesbezüglichen bisherigen Wertungen. Allerdings knüpft der Senat an Obersätze an, die der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnommen sind: Die grundsätzliche Unzulässigkeit der echten Rückwirkung entspricht ständiger – und in ihrem bisherigen Kontext auch zutreffender – Rechtsprechung. Wie die zahlreichen Zitatketten aus der Rechtsprechung zeigen, ist der Senat dabei von dem Anliegen getragen, diese lediglich stimmig weiterzuentwickeln. Dies gelingt jedoch überzeugend nicht. Denn er löst dabei die Obersätze von ihrer bisherigen Einbindung an die Grundsätze des Vertrauensschutzes ab und verselbständigt sie zu für sich stehenden abstrakten Regeln. Dies gibt ihnen eine neue Bedeutung, die wesentlich strenger ist und mit den Wertungen der bisherigen Entscheidungen des Gerichts bricht.“ Ähnlich abw. Meinung Paulus, BVerfGE 136, 9, 61 – Aufsichtsgremien ZDF: „Dem Urteil zufolge verpflichtet Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf die Gewährleistung von Vielfalt sowie, als deren Ausfluss, auf die Wahrung einer ‚hinreichenden‘ Staatsferne […]. Schon letztere Formulierung legt nahe, dass das Urteil das Ideal der Staatsfreiheit (so zuerst BVerfGE 31, 314 [329]; zuletzt BVerfGE 121, 30 [52 f.] m. w. N.), das die Verfassungsrechtsprechung durchzieht, relativiert. So formulierte das Gericht noch 2008: ‚Der Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks bezieht sich nicht nur auf die manifesten Gefahren unmittelbarer Lenkung oder Maßregelung des Rundfunks; es sollen auch, weitergehend, alle mittelbaren und subtilen Einflussnahmen des Staates verhindert werden (BVerfGE 121, 30 [53]) ‘.“ Ähnlich abw. Meinung Gaier, BVerfGE 136, 152, 184 – Versorgungsausgleich: „Zwar mag die Lösung des Senatsbeschlusses vertretbar sein, aber sie ist damit nach den Maßstäben des Grundgesetzes noch nicht die richtige. Es wäre nicht weniger vertretbar gewesen, an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit von Härteregelungen beim Versorgungsausgleich festzuhalten und damit die von den Betroffenen durch langjährige Arbeit verdienten und als Eigentum geschützten Renten- und Versorgungsanwartschaften zu erhalten.“ Ähnlich abw. Meinung Paulus, BVerfGE 138, 261, 289 – Thüringer Ladenschlussgesetz: „Der Beschluss ist weder mit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes noch mit der dazu bisher ergangenen Rechtsprechung beider Senate (vgl. insbesondere BVerfGE 98, 265 [300 f.]; 109, 190 [235]) vereinbar. Bedauerlicherweise kann ich ihm daher größtenteils nicht zustimmen.“ Vgl. auch ebd., 294.: „Das widerspricht der gesamten bisherigen Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts […]“. Ähnlich abw. Meinung Schluckebier/Hermanns, BVerfGE 138, 296, 360 – Kopftuchverbot NRW: „Der Senat entfernt sich so auch von den Maßgaben und Hinweisen der sogenannten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282), die dem Landesschulgesetzgeber gerade für den Bereich der öffentlichen Schule die Aufgabe zuschreibt, gesetzlich zu regeln, inwieweit er religiöse Bezüge in der Schule zulässt oder wegen eines strikteren Neutralitätsverständnisses aus der Schule heraushält.“ Vgl. auch ebd., 362 f. 868 Abw. Meinung Geller/Rupp, BVerfGE 32, 40, 51 – Kriegsdienstverweigerer. Ähnlich abw. Meinung Hirsch, BVerfGE 48, 127, 185 – Wehrpflichtnovelle: „Das Urteil des Zweiten Senats ist unter Verstoß gegen § 16 BVerfGG ergangen; der Senat hätte das Plenum des Bundesverfassungsgerichts anrufen müssen.“ Ebd., 198, wird darüber hinaus noch die Ansicht vertreten, dass sich der Senat in Widerspruch zu seiner eigenen früheren Rechtsprechung setzt: „Dieser Senat hat selbst noch am 9.3.1971 (BVerfGE 30, 250 [263]) gesagt: ‚Die Zielsetzung und die Bestimmung des geeigneten Mittels setzen eine politische Entschei-
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Der Ruf nach einheitlicher und beständiger Rechtsprechung drückt im Umkehrschluss auch aus, dass sich das Sondervotum auf der Seite der bisherigen Rechtsprechung sieht. Die früheren Entscheidungen werden daher mitunter zur Unterfütterung der eigenen Ansicht verwendet: „Im übrigen liegt dieses Ergebnis durchaus in der Linie dessen, was das Bundesverfassungsgericht bisher schon judiziert hat […]“.869
Auch frühere Sondervoten werden zuweilen als „Anhaltspunkte“ für eine andere Rechtsprechung als die der Senatsmehrheit gewertet und deren Wert als Quelle der Verfassungsinterpretation damit bestätigt. So etwa bei einem aktuellen Sondervotum von Huber, der für ein anderes – nicht lediglich auf die vorkonstitutionelle Historie ausgerichtetes – Verständnis der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 5 GG plädiert:870 „Selbst in der Rechtsprechung finden sich auch vereinzelte Anhaltspunkte für ein offeneres Begriffsverständnis. Das gilt etwa für die abweichende Meinung der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt zur Dreijahresfrist in der Beamtenversorgung (vgl. BVerfGE 117, 372 ⟨392 ff.⟩) oder für das Sondervotum des Richters Gerhardt zur Teilzeitbeschäftigung (vgl. BVerfGE 119, 247 ⟨279, insbesondere 289 ff.⟩). Auch die jüngere dung voraus… Da die Entwicklung sich nicht genau vorausberechnen läßt …, … müssen Irrtümer … in Kauf genommen werden. Eine gesetzliche Maßnahme kann nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil sie auf einer Fehlprognose beruht (BVerfGE 25, 1 [12 f.]).‘ Der Senat setzt sich zu diesem, von ihm selbst aufgestellten Grundsatz in offenen Widerspruch, wenn er nunmehr die Novelle wegen einer Fehlprognose des Gesetzgebers, die dazu noch evident sein soll, für verfassungswidrig erklärt.“ Ähnlich abw. Meinung Mahrenholz, BVerfGE 64, 261, 301 – Hafturlaub: „Diese Abweichung hätte gemäß § 47 Abs. 2 GOBVerfG zu einer Anfrage an den Ersten Senat führen müssen, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhalte.“ Das Verfahren der Anfrage an den anderen Senat nach § 47 Abs. 2 GOBverfG führt mittelbar zur Anrufung des Plenums, wenn der angefragte Senat an seiner Rechtsprechung festhalten möchte. Daher ist dieses abweichende Votum in diesem Kontext zu nennen. Ähnlich abw. Meinung Limbach/Böckenförde/Sommer, BVerfGE 94, 166, 236 – Flughafenverfahren Asyl: „Soweit der Senat seine Ansicht mit der Funktion der Verfassungsbeschwerde im allgemeinen begründet […], hätte das Plenum gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG angerufen werden müssen. Der Zweite Senat befindet sich keineswegs auf einer vom Ersten Senat im Beschluß vom 18. Januar 1996 = BVerfGE 93, 381 (s. o.) vertretenen Linie.“ 869 Abw. Meinung v. Schlabrendorff/Geiger/Rinck, BVerfGE 37, 363, 409 – Zustimmungsbedürfnis Bundesrat. Vgl. auch ebd., 410. Ähnlich abw. Meinung Benda/Katzenstein, BVerfGE 58, 81, 136 – Ausbildungs-Ausfallzeiten: „Der Senat hat in BVerfGE 51, 356 (mit ganz ähnlichen wie den hier vorgetragenen Erwägungen) § 1233 RVO in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1972 für mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar erklärt, weil bestimmte ausländische Versicherte durch die Norm übergangslos von der freiwilligen Versicherung ausgeschlossen wurden […]. Wir vermögen nicht zu erkennen, welche rechtlichen Hindernisse einer derartigen Feststellung der Notwendigkeit einer Übergangsregelung hier entgegenstehen, wobei die Möglichkeit, den Entschluß zum Beitritt zu überprüfen, nur eine der denkbaren, wenn auch vielleicht die am nächsten liegende Übergangsregelung sein könnte.“ 870 Abw. Meinung Huber, BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 2055/16 –, Rn. 2 ff. – Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Senatsrechtsprechung lässt immerhin Flexibilisierungsansätze erkennen, wenn etwa im Beschluss zu den Wartefristen bei Übertragung eines höheren Statusamts eine Bezugnahme auf Weimar gänzlich unterbleibt (vgl. BVerfGE 145, 1 ⟨8 Rn. 16⟩) oder wenn in der Entscheidung zur Soldatenversorgung zumindest angedeutet wird, dass neben den traditionellen hergebrachten Grundsätzen auch Regelungen für das verfassungsrechtliche Fundament des Berufsbeamtentums bedeutsam werden könnten, die erst nach 1933 beziehungsweise 1949 entstanden sind (BVerfGE 145, 249 ⟨276 f. Rn. 55 f.⟩) […].“871
Besonders scharf wirkt die Kritik auf dieser Argumentationslinie dann, wenn bestritten wird, die Rechtsansicht der Senatsmehrheit habe jemals in einer Entscheidung des BVerfG einen Platz gehabt: „Die amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts enthält unseres Wissens nicht ein einziges Erkenntnis, in dem das Gericht eine behördliche Einzelmaßnahme unmittelbar an Art. 33 Abs. 5 GG gemessen hätte, ohne vorher festgestellt zu haben, daß die einschlägige einfachrechtliche Regelung mit dieser Vorschrift unvereinbar sei. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht sie in solchen Fällen stets in erster Linie als Prüfungsmaßstab für Normen herangezogen.“872 „Ob danach eine Regelung des früheren einfachen Rechts zu jenem durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützten Kernbestand gehört, ist vom Bundesverfassungsgericht festzustellen (vgl. BVerfGE 37, 167 [173 ff.]; 38, 1 [11 f.]). Daß eine solche Feststellung nicht ohne die Nachprüfung der im Tradition bildenden Zeitraum geltenden einschlägigen beamtenrechtlichen Vorschriften möglich ist, versteht sich von selbst und ist deshalb vom Bundesverfassungsgericht nie anders verstanden worden.“873 871 Abw. Meinung Huber, BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 14.01.2020 – 2 BvR 2055/16 –, Rn. 14 – Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. 872 Abw. Meinung Wand/Niebler, BVerfGE 43, 154, 181 – Fürsorgepflicht des Dienstherrn. 873 Abw. Meinung Wand/Niebler, BVerfGE 43, 154, 185 f. – Fürsorgepflicht des Dienstherrn (Hervorhebungen i. Orig.). Ähnlich abw. Meinung Geiger, BVerfGE 44, 125, 180 f. – Öffentlichkeitsarbeit Bundesregierung: „Ich weiche von der Mehrheit auch ab, soweit im Tenor angeordnet wird, daß der Antragstellerin die notwendigen Auslagen zu erstatten sind. Die Kostenentscheidung widerspricht der bisherigen Rechtsprechung. Noch in keinem Fall hat das Gericht bisher von Amts wegen, also ohne Antrag, die Erstattung der notwendigen Auslagen des Antragstellers angeordnet.“ Ähnlich abw. Meinung Paulus, BVerfGE 136, 9, 66 – Aufsichtsgremien ZDF, der argumentiert, dass die Rechtsauffassung bisher nur als obiter dictum geäußert wurde bzw. die vom Senat herangezogenen Fälle nicht übertragbar seien: „Der Senat beruft sich für die Zulässigkeit der Präsenz von Vertretern der Exekutive auf drei Urteile des Bundesverfassungsgerichts […]. Im ersten Fernsehurteil stellte die Bemerkung zur möglichen Zusammensetzung der Gremien (vgl. BVerfGE 12, 205 [263]) jedoch ein bloßes obiter dictum dar, war also nicht für die Entscheidung tragend. Das Urteil zum Niedersächsischen Landesrundfunkgesetz betraf die Entsendung von Repräsentanten der im Landtag vertretenen politischen Parteien in Kontrollgremien des privaten Rundfunks und nicht die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (vgl. BVerfGE 73, 118 [164 ff.]). Auch das Urteil zum Gesetz über den Westdeutschen Rundfunk (BVerfGE 83, 238 [330]), das – wiederum ohne eigenständige Diskussion – auf das erste Fernsehurteil Bezug nimmt, stellt für das vorliegende Verfahren keinen Präzedenzfall dar, weil es um Gemeindevertreter und nicht um Vertreter der staatlichen Exekutive ging. Das Urteil hätte
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Zuweilen werden aber auch gesamte Rechtsprechungslinien kritisiert, so etwa bei König, welche die Senatsmehrheit in der Treaty Override-Entscheidung dafür tadelt, dem Gesetzgeber bezüglich der Abweichung von völkerrechtlichen Verträgen durch spätere Gesetze einen zu großen Spielraum einzuräumen: „Die Senatsmehrheit stützt ihre Auffassung in erster Linie auf das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Diskontinuität. Da Demokratie Herrschaft auf Zeit sei, müssten spätere Gesetzgeber innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren können. […] Damit bestätigt die Senatsmehrheit im Wesentlichen die Auffassung, die der Zweite Senat bereits in seinem Urteil zum Reichskonkordat aus dem Jahr 1957 (BVerfGE 6, 309 [362 f.]) vertreten hat. […] Diese Rechtsauffassung halte ich – in einer globalisierten Welt, in der die Staaten durch eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge in einem weiten Spektrum von Regelungsbereichen miteinander verflochten sind – für nicht (mehr) überzeugend.“874 sich also nach den Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre von diesem dictum lösen müssen, statt es nunmehr zu ständiger Rechtsprechung zu machen.“ 874 BVerfGE 141, 1, 44 – Treaty Override. Vgl. auch ebd., 56: „Nach meiner Auffassung wäre es an der Zeit gewesen, den ‚Mentalitätenwandel‘, den Klaus Vogel für das Grundgesetz in Bezug auf die Öffnung des deutschen Staates für die internationale Zusammenarbeit und die Einbindung Deutschlands in die internationale Gemeinschaft im Vergleich zu früheren deutschen Verfassungen festgestellt hat (vgl. Vogel, JZ 1997, S. 161 [163]), auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu völkerrechtswidrigen späteren Gesetzen zu vollziehen. Zu meinem Bedauern hat sich die Senatsmehrheit hierzu nicht entschließen können.“ In diesem Kontext sind auch Sondervoten von Rupp.-v. Brünneck zu nennen, die sich dafür einsetzte, das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG in der Rechtsprechung zu aktivieren, s. BVerfGE 32, 111, 139 – Verfolgungsschäden in Vertreibungsgebieten: „Es bietet sich daher als adäquates Instrument der Lösung das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) an, das in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, soweit es sich nicht um den Bereich der Sozialversicherung und des Sozialrechts im engeren Sinne handelt, noch ein Schattendasein führt.“ Ähnlich dies. in einem weiteren Sondervotum (BVerfGE 36, 237, 248 – Angestelltenversicherungen weiblicher Beschäftigter, eigene Hervorhebungen): „Obwohl das Sozialstaatsprinzip zu den tragenden Verfassungsgrundsätzen gehört, kennzeichnet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine gewisse Scheu, diesen Grundsatz für die verfassungsrechtliche Prüfung fruchtbar zu machen.“ Eine Kritik der Rechtsprechungslinie findet sich auch in der abw. Meinung Osterloh/Gerhardt, BVerfGE 114, 196, 256 – Beitragssatzsicherungsgesetz: „Die Voraussetzung, es müsse sich um eine Anpassung im Rahmen einer Änderung eines Sachbereichs handeln, so dass die Änderung einer Verordnung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unabhängig von sonstigen gesetzgeberischen Maßnahmen unzulässig sei, mag wenig anspruchsvoll sein. Sie birgt angesichts der Vielgestaltigkeit der Aufgaben der Normgebung gleichwohl beachtliches Konfliktpotential und ist der Rechtssicherheit abträglich. Die bereits anderweit zu beobachtende und zu missbilligende Tendenz, die Kompetenz des Gesetzgebers anhand materieller Kriterien zu begrenzen (vgl. BVerfGE 111, 226 [274, 278 f. – abw. M.]), setzt sich hier fort.“ Eine andere Konsequenz aus der vorherigen Rechtsprechung ziehen Simon/Heußner, BVerfG 53, 30, 71 ff. – Genehmigungsverfahren Atomkraftwerk: „Eine konsequente Fortführung der bisherigen Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Relevanz des Verfahrensrechts zwingt zu dem Schluß, daß die Beurteilung der atomrechtlichen Verfahrensvorschriften durch das Oberverwaltungsgericht mit dem Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 2 GG unvereinbar ist. […] Wenn schon in den zuvor zitierten Fällen dem Verfahrensrecht verfassungsrechtliche Relevanz beigemessen und eine Verfahrensgestaltung gefordert wird, die auf einen bestmöglichen Grundrechtsschutz hinwirkt, dann muß dies auch und erst recht
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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In einem Sondervotum Lübbe-Wolfs wird die Kritik an der Rechtsprechungslinie damit verbunden, dass ein etwaiges Verlassen der bisherigen Rechtsprechungslinie von der Senatsmehrheit wenigstens hätte offenbart werden müssen: „Der Senat kommt zu dem Schluss, dass keine allgemeine Regel des Völkerrechts existiert, die es einem Staat ermöglichen würde, die Rechtsüberzeugung, dass der Aufrechterhaltung elementarer Staatsfunktionen Vorrang vor der unverzüglichen Befriedigung von Gläubigerinteressen zukommt, gegen privatrechtliche Ansprüche Privater zur Geltung zu bringen. Diese […] Entscheidung trifft er anhand von Richtervorlagen, deren Zulässigkeit nach den Maßstäben der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verneinen wäre (1.). Er geht dabei von einer unzulässigen Auslegung der Vorlagefrage aus (2.) und gelangt zu einem nach meiner Überzeugung falschen Ergebnis (3.). […] Vorlagen nach Art. 100 Abs. 2 GG sind, ebenso wie Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG, nur zulässig, wenn die zu verifizierende Regel des Völkerrechts und die Frage, ob sie Bestandteil des Bundesrechts ist, für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sind ([…] stRspr). Ob die Vorlage nach diesen Maßstäben zulässig ist, hat der Senat nicht geprüft. Man kann sich die Frage stellen, ob diese Anforderungen in Teilen zu weit gehen und insbesondere gewissen Besonderheiten des Normverifikationsverfahrens nach Art. 100 Abs. 2 GG nicht angemessen Rechnung tragen […]. Etablierte Zulässigkeitsanforderungen können aber nicht ohne die gegebenenfalls erforderliche ausdrückliche Korrektur der bisherigen Rechtsprechung fallweise übergangen werden, wenn es gerade passt.“875
Die Analyse hat offenbart, dass der Vorwurf der abweichenden Richter*innen gegenüber der Senatsmehrheit, der Einheitlich- und Beständigkeit der Rechtsprechung zuwiderzulaufen, in der Praxis eine große Rolle spielt. In vielen Sondervoten findet sich der Hinweis, dass die Ansicht der Senatsmehrheit keine Stütze in der bisherigen Rechtsprechung finde oder davon abweiche. Im Umkehrschluss ziehen die dissentierenden Richter*innen die früheren Entscheidungen als Argumentationshilfe für den aktuell zu entscheidenden Fall heran. Verstärkt wird diese Kritik an der Rechtsprechungslinie indem eine unterlassene Anrufung des Plenums angemahnt wird; dadurch wird zugleich eine fehlende Einheitlichkeit der Rechtsprechung beider Senate kritisiert. Auf der anderen Seite lässt sich auch beobachten, dass mitunter eine grundsätzliche Kritik an der bisherigen Rechtsprechungslinie vorgenommen und Änderungen angeregt werden. Diese Kritik kommt allerdings deutlich seltener vor. Dass eine Debatte über die Einheitlich- und Beständigkeit der Rechtsprechung in den Sondervoten eine große Rolle spielt, kann nicht verwundern, ist eine konstante Rechtsprechung für das BVerfG doch seit jeher ein besonders hohes Gut.876 Dies lässt sich zum einen an der Methode des Gerichts festfür das atomrechtliche Genehmigungsverfahren gelten. Denn dieses Verfahren bezweckt bevorzugt gerade die Sicherung der durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgüter vor dem in Atomkraftwerken verkörperten außerordentlichen Gefährdungspotential und soll demgemäß diesem Grundrecht zur Durchsetzung verhelfen.“ 875 BVerfGE 118, 124, 147 f. – Völkerrechtliche Notstandseinrede. 876 Vgl. aber Grimm, in: ders./Lepsius/Waldhoff/Roßbach, „Ich bin ein Freund der Ver-
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
machen, die mittels der Maßstabsbildung gerade darauf angelegt ist, nicht nur konkrete Fälle zu entscheiden, sondern verfassungsrechtlich über den Einzelfall hinaus zu wirken.877 Zum anderen ist auch empirisch feststellbar, dass Rechtsprechungsänderungen durch das BVerfG die Ausnahme sind.878 Darüber hinaus offenbart das Plenumsverfahren nach § 16 BVerfGG, dass die einheitliche Rechtsprechung der beiden Senate angestrebt wird – immerhin wurde hierfür ein eigenes Verfahren eingerichtet.879 Die große Bedeutung einer einheitlichen und beständigen Rechtsprechung ist damit allgemein feststell- und in den Sondervoten auch abbildbar. In Zusammenschau mit den bereits angestellten Überlegungen zum Sondervotum als Ausdruck einer pluralistischen Verfassungsinterpretation880 ergibt sich die Erkenntnis, dass Sondervoten sowohl als Interpretationsquelle für spätere Rechtsprechungsänderungen oder -anpassungen dienen können als auch ein Instrument zur Mahnung nach einer einheitlichen und beständigen Rechtsprechung darstellen. Dies offenbart die mannigfaltigen Funktionen der abweichenden Meinung.
d) Sonderfälle und weitere Auffälligkeiten Neben diesen Argumentationsmustern lassen sich in den Sondervoten noch zahlreiche Auffälligkeiten beobachten, die sich nur schwer kategorisieren lassen, aber dennoch beachtenswert sind. Deshalb sollen sie hier gesammelt einen Platz finden. Daran lässt sich ablesen, wie uneinheitlich und teilweise unübersichtlich die Praxis der Sondervoten ist. Da keine Vorgaben rechtlicher oder tatsächlicher Art existieren, ist das Sondervotum ein frei handhabbares Instrument und seine konkrete Gestaltung hängt von den einzelnen Persönlichkeiten ab. Zunächst lassen sich gewisse Extreme im Verhältnis der Länge von Entscheidungs- und Sondervotumstext beobachten: So kommt es vor, dass ein oder fassung“, S. 195: „Es gibt in der Tat eine Neigung, auch dort Kontinuität vorzuspiegeln, wo in Wahrheit von früheren Entscheidungen abgewichen wird. Man sollte dies stets offenlegen.“ Konkrete Beispiele nennt Grimm nicht. 877 Dazu ausführlich und krit. Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 159 ff.; vgl. auch die Analyse von Volkmann, JZ 2020, S. 965, 971, der in der oft genutzten „Zitat- und Verweiskette“ zurecht einen „sichtbaren Ausdruck“ des großen Stellenwerts der bestehenden Judikatur für die Entscheidungsfindung des BVerfG sieht. Die Methodik gegen Kritik verteidigend Lübbe-Wolff, in: Schürmann/v. Plato, Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, S. 17, 39. 878 Vgl. dazu ausführlich Seyfarth, Rechtsprechungsänderungen des BVerfG, S. 94–182; selbstbeschreibend Huber, Peter M., JZ 2022, 1, 6: Es zeige sich „in der Praxis doch eine erkennbare Zurückhaltung, wenn es darum geht, eine etablierte Interpretation oder eine von den Vorgängerinnen und Vorgängern entwickelte dogmatische Figur oder Institution wieder aufzugeben.“ 879 Vgl. Grünewald, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 16, Rn. 6. 880 S. dazu S. 133 ff.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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mehrere Sondervoten zusammen länger sind als die Entscheidung selbst.881 Demgegenüber stehen abweichende Meinungen, die sehr kurz sind – interessanterweise wurden diese allesamt von Richter Seuffert in der Anfangszeit des öffentlichen Sondervotums abgegeben.882 Einen weiteren Sonderfall bilden die Entscheidungen, in denen die Zahl der Richter, die ein Sondervotum abgaben, größer war, als die Zahl der Richter, die die Entscheidung des Senats uneingeschränkt unterstützten.883 In einer Entscheidung waren sogar alle beteiligten Richter884 (Mit-)Autor eines Sondervotums:885 Die Richter Geller, Rupp und Wand schlossen sich zu einer dissenting opinion zusammen,886 während Geiger ein eigenes Votum abgab,887 das wiederum von den Richtern Seuffert, Leibholz und Rinck (teilweise) unterstützt wurde.888 Damit waren alle Richter zumindest teilweise an einem Sondervotum beteiligt. Die Probleme einer solchen Vorgehensweise liegen auf der Hand: So ist es nur mit größter Mühe überhaupt noch möglich, festzustellen, welche Teile der Begründung eine Mehrheit innerhalb des Kollegiums fanden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Richter*innen einem Sondervotum nur teilweise anschließen.889 Zwar wird in der Entscheidungsbegründung zuweilen nach einzelnen Abschnitten jeweils mitgeteilt, welches Abstimmungsergebnis erzielt wurde.890 Nach der Lektüre der Begründung und Voten bleibt aber eigentlich nur das Ergebnis der Entscheidung klar. Und auch wenn die Begründung an 881 Abw. Meinung Böhmer, BVerfGE 49, 220, 228–243 – Rechtsschutz bei Zwangsversteigerungen; abw. Meinung Böhmer, BVerfGE 56, 249, 266–296 – Dürkheimer Gondelbahn; abw. Meinungen Hirsch, Wand, Niebler, BVerfGE 57, 170, 182–220 – Briefkontrolle in der Untersuchungshaft. 882 Abw. Meinungen in BVerfGE 31, 94, 100 – Witwengeld (weniger als eine Seite); BVerfGE 31, 388 – Versäumung der Einspruchsfrist (etwa eine Seite); BVerfGE 36, 174, 192 f. – Strafregister (etwa eine Seite); BVerfGE 40, 237, 260 – Rechtsschutz bei Maßnahmen der Justizvollzugsbehörde (weniger als zwei Seiten). 883 BVerfGE 55, 274 – Berufsausbildungsabgabe. Die Entscheidung erging mit sechs zu zwei Stimmen, weshalb es sich vor allem um concurring opinions handelte. Hier waren die Richter Rinck, Steinberger, Träger, Rottmann, Hirsch, Niebler jeweils an einem der vier Sondervoten beteiligt, vgl. ebd., 329 ff. Damit trugen lediglich Zeidler und Wand die Entscheidungsbegründung vollumfänglich. Ähnlich BVerfGE 98, 265 – Bayerisches Schwangerenhilfegesetz: Hier waren die Richter*innen Papier, Graßhof, Haas, Kühling, Jaeger jeweils an einem der beiden gemeinsamen Sondervoten beteiligt, ebd., 329 ff. Lediglich Grimm und Hömig trugen die Entscheidungsbegründung vollumfänglich mit. 884 Als beteiligt werden hier die sieben Richter angesehen, die die Entscheidung unterschrieben haben, vgl. BVerfGE 32, 199, 226 – Hessische Richterbesoldung. 885 BVerfGE 32, 199, 228 ff. – Hessische Richterbesoldung. 886 BVerfGE 32, 199, 227 ff. – Hessische Richterbesoldung. 887 BVerfGE 32, 199, 242 ff. – Hessische Richterbesoldung. 888 BVerfGE 32, 199, 249 ff. – Hessische Richterbesoldung. 889 Vgl. etwa BVerfGE 32, 199, 249 ff. – Hessische Richterbesoldung. 890 Vgl. etwa BVerfGE 32, 199, 223 – Hessische Richterbesoldung.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
vielen Stellen eine (knappe) Mehrheit erreichte, leidet ihre Nachvollziehbarkeit und Überzeugungskraft, wenn anschließend alle Richter*innen sich zumindest teilweise abweichenden Meinungen anschließen. Eine solche Praxis sollte das Gericht also vermeiden, möchte es möglichst nachvollziehbare und widerspruchsfreie Entscheidungen produzieren.891 Darüber hinaus kommt es in der Rechtsprechung auch zu „Doppel-Sondervoten“ eines einzelnen Richters: In der Entscheidung Zustimmungsbedürfnis Bundesrat war v. Schlabrendorff Mit-Autor eines Sondervotums mit Geiger und Rinck892, offenbarte darüber hinaus in einer zusätzlichen abweichenden Meinung noch weitere Erwägungen.893 Dieses Phänomen lässt sich auch in der Kriegsdienstverweigerer-Entscheidung beobachten, bei der Mahrenholz zweifach an einem Sondervotum beteiligt war.894 In einer anderen Entscheidung unterschrieb Geiger das Sondervotum von Seuffert/Hirsch zustimmend, taucht aber nicht – wie sonst üblich – in der Überschrift der abweichenden Meinung auf.895 Demgegenüber wird der simple Anschluss an ein Sondervotum durch eine Überschrift mitunter als eigenständige abweichende Meinung gekennzeichnet.896 Nicht nachvollziehbar erscheint, warum die Unterstützung eines Sondervotums nicht durch eine einfache Unterschrift unter die abweichende Meinung des Kollegen zum Ausdruck gebracht wird. In der Praxis der Sondervoten lässt sich auch der Sonderfall finden, dass im gemeinsamen Votum der Richter Benda und Katzenstein erst die Ansicht des einen Richters, dann die gemeinsame Auffassung aufgeführt wird.897 In einigen Entscheidungen stellen die dissentierenden Richter bereits in der Überschrift klar, dass sie eine concurring opinion verfasst haben und damit nur der Entscheidungsbegründung widersprechen.898 Dies ist zu begrüßen, erscheint doch bei der Lektüre von Sondervoten mitunter nur schwer feststellbar – insbesondere, wenn kein Abstimmungsergebnis mitgeteilt wird – wogegen genau argumentiert wird. Besonders beachtenswert sind darüber hinaus die Fälle, in denen sich die Entscheidungsbegründung mit den Sondervoten auseinandersetzt, indem aus891
Dazu bereits S. 114 ff. BVerfGE 37, 363, 401 – Zustimmungsbedürfnis Bundesrat. BVerfGE 37, 363, 414 – Zustimmungsbedürfnis Bundesrat. 894 BVerfGE 69, 1 – Kriegsdienstverweigerung: Abw. Meinung Mahrenholz/Böckenförde, ebd., 57 ff. und anschließend abw. Meinung Mahrenholz ebd., 88. 895 BVerfGE 34, 9, 46 f. – Besoldungsvereinheitlichung. Am Ende des Sondervotums heißt es nach den Unterschriften der beiden Richter: „Ich stimme der in der vorstehenden Abweichenden Meinung vertretenen Rechtsauffassung zu. (gez.) Dr. Geiger“. 896 BVerfGE 52, 42, 63 – Kommunales Vertretungsverbot. 897 BVerfGE 58, 81, 129 ff. – Ausbildungs-Ausfallzeiten: „Der Richter Katzenstein ist der Auffassung […].“, später dann: „Nach Auffassung beider unterzeichnender Richter […].“ 898 BVerfGE 36, 342, 369 ff. – Bundesrecht bricht Landesrecht. So auch abw. Meinung v. Schlabrendorff/Geiger/Rinck, BVerfGE 37, 363, 401– Zustimmungsbedürfnis Bundesrat; abw. Meinung Geiger, BVerfGE 45, 142, 182 – Rückwirkende Verordnungen. 892 893
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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drücklich auf diese verwiesen wird. Damit wird die senatsinterne Diskussion mittels der abgedruckten Entscheidung (teilweise) in die Öffentlichkeit getragen. Der pluralistische Charakter der Verfassungsinterpretation899 wird dadurch noch einmal sehr deutlich. Ein weiteres Beispiel findet sich etwa in der Sitzblockaden III-Entscheidung: „Art. 8 GG schafft insbesondere keinen Rechtfertigungsgrund für strafbares Verhalten […]. Die Zuordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts bewirkt für sich allein – entgegen der Auffassung der Richterin Haas – noch nicht seine Beurteilung als rechtmäßig.“900 „Eine andere – von der Richterin Haas zu Unrecht nicht gesondert aufgeworfene – Frage ist, ob ein nach Versammlungsrecht rechtswidriges Verhalten auch unter Strafe gestellt und welche Strafrechtsnormen anwendbar ist.“901
Im abweichenden Votum nimmt Haas auf diese explizite Kritik Bezug: „Mit diesen Erwägungen ist ersichtlich nichts dazu gesagt, ob mit der Zuordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts dieses regelmäßig als rechtmäßig zu beurteilen sein wird (vgl. S. 107 f.). Insoweit liegt offensichtlich ein Missverständnis der Senatsmehrheit vor.“902
Erstaunlich ist darüber hinaus, dass auch im Sondervotum Jaeger/Bryde auf das Sondervotum von Haas kritisch Bezug genommen wird: „Die angegriffenen Entscheidungen tragen den verfassungsrechtlichen Überlegungen der – später ergangenen – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 240 StGB (BVerfGE 92, 1) nicht Rechnung. Deshalb wäre ihre Aufhebung […] geboten. Die danach verfassungsrechtlich geforderte enge Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 StGB ist auch geeignet, noch deutlicher als die Differenzierung der Senatsmehrheit zwischen strafrechtlicher ‚Gewalt‘-definition und Gewalttätigkeit im Sinne des Versammlungsrechts solche Missverständnisse zu vermeiden, wie sie im Sondervotum der Richterin Haas aufscheinen. Die Beschwerdeführer üben ihre Grundrechte nicht mit Hilfe von Gewalt aus.“903
Ähnliches lässt sich auch in der Entscheidung Lebenspartnerschaftsgesetz feststellen. Dort setzt sich die Senatsmehrheit mit einem Sondervotum, wiederum von Haas verfasst, kritisch auseinander: „Dem Gesetzgeber ist es wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht verwehrt, diese gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen […]. 899
Dazu bereits 1. c) (aa). BVerfGE 104, 92, 107 – Sitzblockaden III (eigene Hervorhebungen). BVerfGE 104, 92, 108 – Sitzblockaden III (eigene Hervorhebungen). Vgl. auch ebd., 109 (eigene Hervorhebungen): „Ob die Gerichte bei Anwendung eines engen Gewaltbegriffs der Erfüllung des Tatbestandsmerkmals ‚Gewalt‘ eine die Rechtswidrigkeit indizierende Wirkung beimessen können […], bedarf vorliegend – entgegen der Auffassung im Sondervotum der Richterin Haas – keiner Entscheidung.“ 902 BVerfGE 104, 92, 117 f. – Sitzblockaden III (eigene Hervorhebungen). 903 BVerfGE 104, 92, 125 – Sitzblockaden III (eigene Hervorhebungen). 900 901
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Aus der Zulässigkeit, in Erfüllung und Ausgestaltung des Förderauftrags die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren, lässt sich jedoch kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen. Dies verkennt die Richterin Haas in ihrer abweichenden Meinung, wenn sie das Fördergebot des Art. 6 Abs. 1 GG als ein Benachteiligungsgebot für andere Lebensformen als die Ehe versteht.“904
Insbesondere auf den letzten Teil dieser Passage nimmt Haas wiederum in ihrem Sondervotum Bezug; sie möchte ihre Auffassung offensichtlich nicht dahingehend verstanden wissen, dass aus einem „Fördergebot“ ein „Benachteiligungsgebot“ für Dritte folge: „Dem Fördergebot des Art. 6 Abs. 1 GG kann daher auch nicht durch die bloße Benachteiligung anderer Lebensgemeinschaften genügt werden; das Fördergebot zugunsten der Ehe stellt gerade kein Benachteiligungsgebot zu Lasten Dritter dar.“905
In beiden Entscheidungen findet also ein Diskurs zwischen Einzelrichterin (Sondervotum) und Senatsmehrheit (Entscheidungsbegründung) statt. Aus der Sicht des Beobachters ist diese Art der Diskussion, auch vor dem Hintergrund einer pluralistischen Verfassungsinterpretation, nicht gelungen. Grundvoraussetzung sollte es sein, dass vor der Abfassung der Entscheidungsbegründung die einzelnen Positionen geklärt werden. Urteil und Sondervotum sollten nicht der Ort sein, Differenzen über das Verständnis der einzelnen Positionen auszutragen. Dies ist vielmehr die erste Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Diskurs und sollte daher bereits im Rahmen der Beratung erreicht werden. Ansonsten entsteht als Beobachter eher der Eindruck, die jeweiligen „Lager“ hätten ihre jeweiligen Positionen nicht genügend miteinander ausgetauscht. Dies ist aber eher fatales Signal, denn Beitrag zur diskursiven Verfassungsrechtsprechung. Wie solche inhaltlichen Diskussionen zwischen Senatsmehrheit und -minderheit besser gelingen können, zeigt die Entscheidung Bayerisches Schwangerenhilfegesetz. Hier ging es gerade nicht um die Klärung der einzelnen Positio904 BVerfGE 105, 313, 348 – Eingetragene Lebenspartnerschaften (eigene Hervorhebungen). Haas hatte in ihrer abw. Meinung ebd., 361 ausgeführt: „Die Senatsmehrheit wird dieser Bedeutung der Institutsgarantie nicht gerecht, wenn sie nur darauf abhebt, dass die Ehe durch die Einrichtung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft keinen Schaden nimmt. Die Institutsgarantie bezweckt nicht in erster Linie die Abwehr ungerechtfertigter Eingriffe zu Lasten der Ehe – insoweit ist vorrangig die abwehrrechtliche Funktion des Art. 6 Abs. 1 GG –; Sinn der Institutsgarantie ist vielmehr, den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Ehe an fundamentale Strukturprinzipien, zu denen auch nach Meinung der Senatsmehrheit die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner rechnet, zu binden. Dem verfassungsrechtlichen Gebot, dass nur verschiedengeschlechtliche Partner eine Ehe eingehen können, wird zuwidergehandelt, wenn ihr ein Institut für Paare gleichen Geschlechts zur Seite gestellt wird, dessen Ausgestaltung den für die Ehe in Umsetzung des verfassungsrechtlichen Fördergebots gefundenen Form entspricht. Auf die Bezeichnung kommt es nicht an.“ 905 BVerfGE 105, 313, 361 – Eingetragene Lebenspartnerschaften.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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nen oder etwaige Missverständnisse, sondern die Darstellung der inhaltlichen Differenzen: „Im übrigen gibt das Sondervotum des Vizepräsidenten Papier und der Richterinnen Graßhof und Haas Anlaß zu der – ohne die nach Abschluß der Beratungen aus dem Amt geschiedene Richterin Seibert getroffenen – Bemerkung, daß eine offensichtliche Verfassungswidrigkeit der Bundesregelung nicht vorliegt.“906
Das Sondervotum der angesprochenen Richter*innen hatte demgegenüber ausgeführt: „Nach allem kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Zurücknahme ärztlicher Berufspflichten, die zum Schutz ungeborenen Lebens seit langem anerkannt und angewandt werden, das Untermaßverbot verletzt. Die Verfassungswidrigkeit einer solchen Regelung drängt sich geradezu auf.“907
Während für den mehrheitlichen Teil der Richter*innen die Verfassungswidrigkeit „nicht vorliegt“, „drängt“ sie sich für die dissentierenden Richter*innen „geradezu auf“. Hier geht es erkennbar um einen Widerspruch in der Sache und nicht erst um die Klärung der jeweiligen Positionen. Eine solche diskursive Berücksichtigung von Sondervoten durch die Senatsmehrheit ist daher zu begrüßen und auch fruchtbar, da die unterschiedlichen Positionen noch einmal sehr deutlich werden. Die Analyse hat ein heterogenes Bild zutage gefördert: Sondervoten sind in Extremfällen mal länger als die Entscheidung selbst, mal sehr knapp. Mitunter sind mehr Richter*innen an einem Sondervotum beteiligt als vollumfänglich unterstützender Teil der Entscheidungsbegründung, bis hin zu dem Sonderfall, dass sogar alle Richter*innen an einem Sondervotum beteiligt waren. Manchmal schreiben Richter*innen nach einem gemeinsamen Votum noch eine zweite, eigenständige abweichende Meinung. Mitunter wird bereits in der Überschrift deutlich gemacht, dass es sich um eine concurring opinion handelt. Es gibt auch Fälle, in denen Richter*innen nicht in der Überschrift der abweichenden Meinung auftauchen, obwohl sie dieses vollumfänglich unterstützen. Und zuletzt finden in mehreren Entscheidungen offene Diskussionen zwischen Senatsmehrheit und dissentierenden Richter*innen statt, die aber nur dann einen Mehrwert haben, wenn sie über die Klärung der unterschiedlichen Positionen hinausgehen. 906 BVerfGE 98, 265, 320 – Bayerisches Schwangerenhilfegesetz. Das Sondervotum der Richter*innen hatte zur Verfassungswidrigkeit der betreffenden Regelung ausgeführt ebd., 358: „Nach allem kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Zurücknahme ärztlicher Berufspflichten, die zum Schutz ungeborenen Lebens seit langem anerkannt und angewandt werden, das Untermaßverbot verletzt. Die Verfassungswidrigkeit einer solchen Regelung drängt sich geradezu auf.“ 907 Abw. Meinung Papier/Graßhof/Haas, BVerfGE 98, 265, 358 – Bayerisches Schwangerenhilfegesetz.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Dass die Praxis der Sondervoten nicht einheitlich ist, kann nicht überraschen, gibt es doch keine rechtlichen oder tatsächlichen Vorgaben für das Verfassen der abweichenden Meinungen und ist die Institution selbst durch den Wechsel ihrer Mitglieder von einer hohen Fluktuation gekennzeichnet. Die Bildung einer einheitlichen Praxis erscheint vor diesem Hintergrund kaum möglich – ob eine solche notwendig wäre ist eine andere Frage. Uneinheitlichkeit in der Praxis ist nur dann ein Problem, wenn sie zu Widersprüchen oder Unsicherheiten führen, die von Relevanz sind. Dies ist bei der Sondervotenpraxis nicht der Fall. Die dargestellten Fälle betreffen eher Formalitäten und sind damit Randerscheinungen, denen nur eine untergeordnete Bedeutung zugesprochen werden kann. Lediglich hinsichtlich der Diskussionen zwischen Senatsmehrheit und dissentierenden Richter*innen ergeben sich die dargestellten Kritikpunkte. Die Klarstellung in der jeweiligen Überschrift des Sondervotums, ob es sich bei der abweichenden Meinung um eine dissenting oder concurring opinion handelt, ist aus Gründen der Übersichtlichkeit empfehlenswert. Dies ist beim U. S. Supreme Court bereits gängige Praxis.908
e) Ritualisiertes Bedauern in Sondervoten Ein weiteres Phänomen in der bundesverfassungsgerichtlichen Praxis der Sondervoten ist die Entschuldigung der dissentierenden Richter*innen dafür, dass sie der mehrheitlichen Auffassung nicht folgen können. Dieses ritualisierte Bedauern lässt sich immer wieder beobachten, insbesondere in der Einleitung der jeweiligen abweichenden Meinung: „Ich bedauere, der Senatsentscheidung nicht zustimmen zu können.“909 „Angesichts der Bedeutung dieser Entscheidung für die Verfassungsmäßigkeit des Verfahrens, in dem über die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe entschieden wird, bedaure ich, den Beschluß in der Begründung nicht in allen Punkten mittragen zu können.“910
Diese Praxis erscheint nur vor dem Hintergrund erklärbar, dass beim BVerfG traditionell die Beratungskultur und damit die Bildung eines Konsenses beson908 Vgl. als aktuelles Beispiel United States v. Sineneng-Smith, 590 U. S. (2020). Dort ist die concurring opinion als solche gekennzeichnet: „Justice Thomas, concurring“. 909 Abw. Meinung Steinberger, BVerfGE 48, 1, 23 – Milch- und Fettgesetz; ebenso abw. Meinung Hirsch/Niebler/Steinberger, BVerfGE 52, 131, 171 – Arzthaftungsprozess; abw. Meinung Rottmann, BVerfGE 53, 366, 408 – Konfessionelle Krankenhäuser; abw. Meinung Rinck/ Steinberger/Träger, BVerfGE 55, 274, 329 – Berufsausbildungsabgabe; abw. Meinung Rinck, BVerfGE 62, 1, 70 – Misstrauensvotum Schmidt; abw. Meinung Steinberger, BVerfGE 70, 35, 59 – Bebauungspläne durch Gesetz; abw. Meinung Steinberger, BVerfGE 72, 200, 276; abw. Meinung Müller, BVerfGE 135, 259, 299 – Drei-Prozent-Sperrklausel. Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 910 Abw. Meinung Mahrenholz, BVerfGE 86, 288, 340 – Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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ders gepflegt und auch von Richter*innen ständig betont wird.911 Die abweichende Meinung offenbart einen Dissens und damit ein faktisches Scheitern der Konsenssuche. Vor dem Hintergrund einer pluralistischen Verfassungsinterpretation, wie sie hier vertreten wird, erscheint das Sondervotum aber grundsätzlich nicht als etwas „Bedauernswertes“.
f) Politische Motivation zur Abgabe von Sondervoten? Zuletzt soll noch zu der These Stellung genommen werden, welche die Abgabe von Sondervoten insbesondere mit der politischen Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit in einen Zusammenhang stellt. Diese insbesondere in der Politikwissenschaft auffindbare Ansicht wird den komplexen Zusammenhängen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht gerecht. So ist in einer Abhandlung der Politikwissenschaftler Ewert und Hein zu lesen, dass es in der „politikwissenschaftlichen Verfassungsgerichtsforschung üblich“ sei, „für die empirische Beobachtung der Politisierung von Gerichtsentscheidungen die veröffentlichten abweichenden Meinungen“ zu nutzen.912 Als politisiert verstehen sie eine „Verfassungsgerichtsentscheidung“, die „nicht oder nicht allein nach rechtlichen Kriterien gefällt wird, sondern durch politische Einflüsse (mit-)bestimmt wird.“913 Im Vordergrund des Politisierungsbegriffs stehen also Einflüsse und Motive der Richter*innen bei der Entscheidung. Zwar räumen die Autoren ein, dass die Abgabe eines Sondervotums „selbstredend aus verschiedenen Gründen“ geschehen könne, jedoch sei eine „politische Motivation oder (unbewusste) Orientierung des Richters“ eine „oft naheliegende Ursache“.914 Dies stellt jedoch eine Behauptung dar, die sich – außer durch eine Befragung der Richter*innen über ihre Motive bei der Abgabe eines Sondervotums – nicht belegen lässt. Niemand kann den Beratungsprozess und die Motive der Richter*innen beim Verfassen von Sondervoten von außen wirklich beurteilen.915 Verfassungsgerichte sind am Ende des Tages „black boxes“.916 911
Dazu ausführlich unter s. 234 ff. Ewert/Hein, Politische Vierteljahresschrift (1/2016), S. 53, 61 m. w. Nachw. (ohne Hervorhebungen des Orig.). 913 Ewert/Hein, Politische Vierteljahresschrift (1/2016), S. 53; ihren Politisierungsbegriff bestimmen die Autoren näher bei Hein/Ewert, in: Geisler/Hein/Hummel, Law, Politics, and the Constitution, S. 31, 38 ff. 914 Ewert/Hein, Politische Vierteljahresschrift (1/2016), S. 53, 61. 915 Ewert/Hein, Politische Vierteljahresschrift (1/2016), 53, 62, schränken die Sondervoten als „Indikator für Politisierung“ anschließend selbst ein. In „einzelnen Gerichtsentscheidungen“ sei die Politisierung „allein deshalb nicht“ nachweisbar, „weil die Motive der Richter nicht ergründbar sind.“ Dennoch nutzen sie Sondervoten als Indikator für ein „Politisierungsniveau[s] über längere Zeiträume hinweg“, bringen Sondervotum und Politisierung also dennoch in einen Zusammenhang. Von einer wirklichen Einschränkbarkeit der Politisierungsthese kann also nicht die Rede sein. Die Ergebnisse der politikwissenschaftlichen Studie Ewert/Hein sollen hier nicht weiter bewertet. Gegenstand der Kritik ist hier ausschließlich der aus meiner Sicht verfehlte Ausgangsbefund der Untersuchung. 912
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Auch ein inhaltlicher Blick auf die Sondervoten kann dabei nicht weiterhelfen. Nach der Analyse der beim BVerfG abgegebenen Voten ist zu konstatieren, dass diese ein überwiegend sachliches Niveau erreichen und auf eine rechtliche Argumentation ausgerichtet sind. Ob dahinter eine politische Motivation der Richter*innen steckt, ist aus dem Text heraus nicht bestimmbar. Auch beim Rechtswissenschaftler Roellecke, von Ewert und Hein in ihrer Studie breit zitiert, lassen sich Fehlschlüsse dieser Art finden: „Da Verfassungsgerichtsentscheidungen in der Regel politisch erheblich sind, bilden die Sondervoten notwendig auch die politischen Einstellungen ihrer Verfasser ab. Sondervoten ermöglichen es tatsächlich, die einzelnen Richter zum Beispiel nach ‚konservativ‘ oder ‚progressiv‘ einzuteilen. […] Dass veröffentlichte Sondervoten Rückschlüsse auf die politische Einstellung der einzelnen Richter und auf ihr Diskussions- und Abstimmungsverhalten in politisch relevanten Fällen zulassen, ist […] trivial.“917
Auch hier findet der fatale Versuch statt, den Zusammenhang zwischen politischem Kontext und politischer Motivation der Richter*innen herzustellen: Nur weil Entscheidungen des BVerfG „politisch erheblich“ sind – was zutreffend ist –, lassen diese Entscheidungen und etwaige Sondervoten nicht automatisch Rückschlüsse auf die „politischen Einstellungen“ der Richter*innen zu. Nicht jede verfassungsrechtliche Frage, die eine Nähe zur Politik aufweist, wird damit automatisch allein zur politischen (nicht mehr rechtlichen) Frage. Es bleibt eine Rechtsfrage, allerdings mit politischer Dimension.918 Nur weil diese politische 916 Baer, in: Kaiser/Petersen/Saurer, The US Supreme Court and Contemporary Constitutional Law: The Obama Era and Its Legacy, S. 253; Grimm, in: ders./König, Lektüre und Geltung, S. 154, 161. 917 Roellecke, FS 50 Jahre BVerfG 2001, S. 363, 381 f. Auffällig ist, dass sich Roellecke eine Bewertung der Sondervotenpraxis anmaßt, ohne auch nur ein einziges Beispiel zu nennen, vgl. ebd., S. 381–384. Er verlangt darüber hinaus, dass in Statistiken „Sondervoten mit den politischen Einstellungen der einzelnen Richter zu verknüpfe“ sei, ebd., 382. Völlig im Unklaren bleibt bereits, wie er diese Grundeinstellung feststellen möchte. Allein die Parteibestellung der Richter dürfte dafür nicht ausreichen. Auch seine These, dass sich durch das Sondervotum ableiten lässt, ob ein Richter „konservativ“ oder „progressiv“ sei, ist nur schwer haltbar. Zunächst kommt man dann in die Situation, eine Definition von politischen Begriffen wie konservativ liefern zu müssen. Die von Roellecke genutzte Definition Luhmanns ist zudem in ihrer dort zitierten Form sehr unterkomplex (ebd., 382): „Wer für irgendetwas ist, was als Herrschaft oder herrschend bezeichnet werden kann, ist konservativ. Wer emanzipieren möchte, ist – auch und gerade dann, wenn er dies anderen antun will – progressiv. Vertreter des Monopolkapitalismus erscheinen als konservativ, Vertreter des Kapitalmonopolismus halten sich für progressiv.“ Selbst wenn man einen tragfähigen Begriff gefunden hat, können wohl Grundtendenzen erkennbar werden, jedoch macht ein „konservativ“ erscheinendes Votum den*die Richter*in nicht automatisch zum*zur Konservativen. 918 Treffend dazu Grimm, in: ders./König, Lektüre und Geltung, S. 154 ff., der unterscheidet zwischen „Gegenstand“ und „Wirkungen“ der Verfassungsgerichtsbarkeit, die definitiv eine politische Dimension aufwiesen („Eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es nicht“) und dem Interpretationsvorgang, den er bewusst vor eine Qualifizierung als politisch beschützen möchte. Letzterer werde nämlich wiederum „rechtlich gesteuert“, etwa durch die Begrenzung richterlicher Spielräume mittels Dogmatik, Präzedenzfällen und juristischer Me-
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Dimension existiert, ist nicht automatisch eine politische Auffassung für die Entscheidung der Richter*innen tragendes Motiv. Und selbst wenn man dies unterstellte, bleibt fraglich, wie sich die jeweilige politische Einstellung der Richter*innen aus dem Text heraus ablesen ließe. Nur weil etwa ein Richter ein Gesetz, das ein sozialdemokratisches Projekt war, für verfassungswidrig hält, kann man diesen kaum als konservativ klassifizieren. Natürlich sind solche Motivlagen möglich, Erkenntnisse darüber können wir aber nicht aus den Sondervoten selbst gewinnen.919 Daher sollte man mit Vermutungen und Pauschalisierungen zurückhaltend umgehen. Eine „politische Motivation“ zur Abgabe von Sondervoten als „naheliegende Ursache“ zu bezeichnen, macht es sich zu einfach.920 Hier zeigt sich auch, dass aufgrund einer Nähe des Verfassungsrechts (und damit des Verfassungsgerichts) zur Politik oft zu schnell auf eine Politisierung der Verfahren und einer politischen Tätigkeit der Richter*innen geschlossen wird. Verfassungsrecht hat unbestreitbar eine politische Dimension.921 Es regelt Verfahren der politischen Organe und ermöglicht bzw. begrenzt, insbesondere durch die Grundrechte, den politischen Spielraum des Gesetzgebers und der Exekutive. Verfassungsrichter*innen werden durch politische Akteure bestellt. Dadurch verlieren das Verfassungsrecht und dessen Interpretation aber nicht seinen genuin rechtlichen Charakter; Verfassungsgerichtsbarkeit hört dadurch nicht auf, rechtliche Entscheidungen zu treffen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die politische Dimension keine Rolle spielt oder mitunter auch bei den Motiven der Richter*innen ausschlaggebend sein kann. Sie wissenschaftlich festzustellen ist aber nahezu unmöglich. Ein Meinungsstreit ist nicht automatisch eine Politisierung des Verfahrens: „Jeder Richter muss […] im Prozess der Interpretation […] anerkennen, dass diejenigen, welche zu einem anderen Ergebnis kommen als er selbst, deswegen nicht notwendig juristisch falsch oder gar unjuristisch entschieden haben. Aus diesem Grunde sind strittige Urteile oder Sondervoten kein Beweis dafür, dass es in Wahrheit gar nicht ums Recht geht. Über die richtige Deutung des geltenden Rechts kann legitimerweise gestritten werden.“922 thode, ebd. S. 166; ähnlich Grimm, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 13, 29; vgl. auch Huber, Peter M., JZ 2022, S. 1, 4, der konstatiert, dass die Entscheidungen des BVerfG, für die es aufgrund des unbestimmten GG-Textes einen großen Spielraum gebe, „als politische Setzungen missverstanden“ würden. 919 Zumindest lässt die Praxis der Sondervoten beim BVerfG dies nicht zu. Weder Roellecke noch Ewert/Hein bringen dafür Beispiele an. 920 Vgl. darüber hinaus Grimm, in: ders./König, Lektüre und Geltung, S. 154, 156, der klarstellt, dass die Auswahl zwischen verschiedenen Interpretationsalternativen ein rechtlicher Prozess bleibt: „Wenn es zuträfe, dass bereits dort, wo die Bestimmtheit der Norm endet, die Rechtsprechung beginnt politisch zu werden, wäre nicht nur die Verfassungsrechtsprechung, sondern jede Rechtsprechung politisch.“ 921 Es gilt der treffende Satz von Thiele, Verlustdemokratie, S. 153: „Politische Fragen lassen sich schlicht nicht entpolitisieren“. 922 Grimm, in: ders./König, Lektüre und Geltung, S. 154, 169 f.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Die Richter*innen des BVerfG betonen stets, dass im Beratungszimmer nur rechtliche Argumente eine Rolle spielen,923 sie betonen es „mantraartig“ und scheinen „wahrhaft stolz auf ihre Politikferne“.924 Diese Kommunikation mag man – mitunter zurecht – als realitätsfern kritisieren, für das Gericht erscheint es aber alternativlos, dieses Bild in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Das BVerfG ist die große Fortschrittserzählung, dass zutiefst politische Entscheidungen auf der Basis von Objektivität und Recht, nicht Subjektivität und Politik, getroffen werden. Dadurch erhält das Gericht seine besondere Legitimität und Autorität. Wie jede Fortschrittserzählung weist auch sie Mängel auf und hat zum Teil illusorischen Charakter. Aufgeben muss man sie deshalb nicht.
g) Zwischenfazit Die Analyse der Sondervotenpraxis beim BVerfG hat insbesondere offenbart, dass es sich dabei auch um ein Instrument richterlicher Selbstreflexion handelt.925 In zahlreichen abweichenden Meinungen wird entweder für ein stärkeres Eintreten oder eine größere Zurückhaltung des Gerichts plädiert. Die Richter*innen befinden sich also in einem stetigen Diskurs über ihre eigene Rolle und tragen dieses mittels Sondervoten auch nach außen. Dass der Umfang der verfassungsgerichtlichen Kompetenz derart intensiv diskutiert wird, kann nicht überraschen, ist die Reichweite der gerichtlichen Auslegung und Durchsetzung der Verfassung aufgrund der daraus folgenden Begrenzung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und dem Handeln der Exekutive eine der dauerhaft umstrittenen Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese Problematik muss ein Gericht selbst beschäftigen, will es nicht ignorieren, dass es ganz erheblich von der Akzeptanz seiner Urteile abhängig ist. Nicht zuletzt die Staatsrechtslehre wacht aufmerksam über die Tätigkeit des Gerichts. Wer kritische Beobachter wie Schlink hat, der von einer „Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“ und einem „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ spricht,926 muss auf der Hut sein.927 923 Statt vieler Grimm, in: ders./Lepsius/Waldhoff/Roßbach, „Ich bin ein Freund der Verfassung“, S. 195 f. 924 Haltern, JöR Bd. 68 (2020), S. 439, 446. 925 Zwar ist dem Befund von Möllers, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 39, 61, der meint, dass es sich „in den meisten Fällen“ um eine „Kommunikation mit der Öffentlichkeit“ handle, „für die alternative Lösungswege offengehalten werden sollen“, zuzustimmen. Dies entspricht auch der hier dem Sondervotum zugeschriebenen diskursiven Funktion (s. o.). Die Analyse gibt aber auch zu erkennen, dass die Kommunikation in ganz erheblichem Maße auf die internen Leser*innen ausgerichtet ist. 926 Schlink, Der Staat 28 (1989), S. 161 ff.; ders., JZ 2007, S. 157, insbes. 161 f.; vgl. auch die Kritik bei Schneider, NJW 1999, S. 1303; vgl. auch aktuell zu BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben, die krit. Anmerkung von Lang, NJW 2020, S. 1562, 1565: „Das BVerfG hat gegenüber normativen Entscheidungen eine Wächter-, keine Gestaltungsfunktion, es soll nur tätig werden, wenn die
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Einheitlich- und Beständigkeit der Rechtsprechung des BVerfG vom Gericht selbst angestrebt und deshalb auch innerhalb der Sondervoten oft als Argumentationsmuster für die Ablehnung einer Entscheidung oder deren Begründung dient. Dazu liegen zahlreiche weitere Sonderfälle vor, die sich nur schwer kategorisieren lassen und die Uneinheitlichkeit der verfassungsgerichtlichen Praxis aufzeigen. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass in nicht wenigen Sondervoten das Bedauern über dessen Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht wurde. Dies mag damit zu erklären sein, dass die kollegiale Beratung und dadurch stattfindende Suche nach dem Konsens für die Arbeit des BVerfG stilprägend ist und ein Sondervotum daher als eine Art Scheitern dieses Prozesses angesehen wird. Ruft man sich aber die verfassungsgerichtlichen Funktionen der Verfassungsinterpretation und Diskursbegleitung in Erinnerung, muss das Sondervotum nicht zwangsläufig als ein misslungenes Diskursergebnis angesehen werden. Zuletzt wurde deutlich gemacht, dass wissenschaftliche Behauptungen, die Abgabe von Sondervoten hänge vor allem mit einer politischen Motivation der Richter*innen zusammen, nicht überzeugen können. Zwar befinden sich Verfassungsrecht und damit Verfassungsgerichtsbarkeit zwangsläufig in einem politischen Kontext – dies macht aber nicht aus jeder Entscheidung und abweichenden Meinung der Richter*innen eine politisch motivierte Tätigkeit. Insgesamt hat dieser zweite Schritt der Funktionsanalyse gezeigt, dass dem Sondervotum erstens die allgemeine Funktion des sachlichen Widerspruchs zu einer Entscheidung zukommt. Durch die Diskussion um die Reichweite der eigenen Kompetenzen wurde darüber hinaus offenbar, dass es ein zutiefst selbstreflexives Instrument ist. Dem Sondervotum kommt damit zweitens die Funktion zu, Inhalt und Grenzen der Aufgaben des Gerichts zu diskutieren und dadurch immer wieder neu und näher zu bestimmen. Dazu kann es – drittens – ein Warninstrument dafür sein, die einheitliche und beständige Rechtsprechung, die ein schützenswertes Gut darstellt, im Blick zu behalten.
Verfassung sein Einschreiten gebietet. Die Krux dabei ist nur, dass über das Vorliegen dieser Voraussetzungen das BVerfG selbst entscheidet. Einstweilen bleibt daher nichts anderes übrig als der nicht neue Appell eines judical self restraints, der wie in der Vergangenheit wohl ungehört verhallen wird. Jedenfalls auf Dauer dürfte das der (wissenschaftlichen) Akzeptanz der Entscheidungen nicht förderlich sein.“ 927 Vgl. Steiner, NJW 2001, S. 2919, 2920: „Das BVerfG braucht die ständige Qualitätskontrolle durch die Rechtswissenschaft, und durch die politische Wissenschaft gewiss nicht weniger. Seine Mitglieder sind nicht so schwer erziehbar wie manche Kritiker meinen.“
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
3. Funktionsanalyse (3): Abgleich mit der Innenperspektive „Bereits die Option des Sondervotums, mehr noch aber seine konkrete Ankündigung, wirkt disziplinierend. Bevor sich die Senatsmehrheit durch ein Sondervotum womöglich ‚vorführen‘ lässt, werden die Kolleginnen und Kollegen alles versuchen, eine einvernehmliche Lösung zu finden und denkbare Angriffspunkte auszuräumen.“928 Andreas Voßkuhle Präsident des BVerfG 2010–2020
Abschließend wird der Frage nachgegangen, welche Funktionen die (ehemaligen) Richter*innen dem Sondervotum selbst zuweisen. Dabei soll es darum gehen, Funktionen für die interne Arbeit des Gerichts, insbesondere die Senatsberatung, aufzuspüren. Wenn sich Richter*innen auch zu den externen Funktionen des Sondervotums äußern, stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Beschreibungen mit den bisherigen Ergebnissen decken. Dieser letzte Schritt der Funktionsanalyse vermeidet es, die Betrachtung auf Institutionen durch eine ausschließlich externe Perspektive zu verengen. Wer über Institutionen spricht, muss stets auch deren Mitgliedern eine Stimme geben. Den namentlichen (a) und anonymen (b) Bewertungen der Richter*innen wird daher breiter Raum gegeben.
a) Namentliche Äußerungen In der Öffentlichkeit halten sich Richter*innen des BVerfG, auch nach ihrer Amtszeit, mit der Offenlegung von Interna meist zurück. Dennoch gibt es eine Reihe von namentlichen Äußerungen, die für die vorliegende Betrachtung fruchtbar gemacht werden können. So äußert sich etwa die ehemalige Richterin Lübbe-Wolff (Richterin im Zweiten Senat 2002–2014) zur Arbeitsweise des Gerichts und kommt dabei auch auf die Rolle der Sondervoten zu sprechen. Diesen komme ihrer Ansicht nach eine „wichtige Rolle für die Versachlichung der Zusammenarbeit“ zu: „Sie [die Möglichkeit, ein Sondervotum zu verfassen] macht das Totschweigen sachlicher Argumente als Form des Umgangs mit Dissensen unmöglich. Im Kontext einer grundsätzlich verständigungsorientierten Beratungskultur wirkt sich außerdem gerade die Möglichkeit, Dissens zu artikulieren, zusätzlich konsensfördernd aus, weil sie wesentlich dazu beiträgt, dass Einwände, Anregungen und Argumente ernstgenommen werden und man sich entgegenkommend um die Zustimmung desjenigen bemüht, der sie vorbringt.“929 928 929
FAZ v. 27.02.2020, S. 8. Lübbe-Wolff, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, S. 31 f.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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„Sondervoten verdeutlichen, dass es Fälle gibt, über die man sich mit guten Gründen streiten kann, und dass es die verfassungsrechtlichen Spielregeln sind, nicht ein Offenbarungsanspruch, auf denen die Verbindlichkeit der Entscheidungen beruht. Sondervoten können auch eine befriedende Wirkung für die Verliererseite haben. Das Allerwichtigste aber sind die positiven Wirkungen, die die Möglichkeit des Sondervotums für die Beratungskultur hat.“930
Daraus lassen sich zwei Funktionen des Sondervotums ableiten: Erstens das Verhindern des Verschleierns von Meinungsverschiedenheiten und zweitens die Förderung des senatsinternen Konsenses. Während der erste Aspekt auf der Hand liegt, mag ein konsensfördernder Beitrag des Sondervotums zunächst überraschen. Danach führt eine abweichende Meinung, institutionalisiert durch das richterliche Sondervotum, nicht zum Bruch innerhalb des Senates, sondern wirkt eher anregend und das Bemühen um eine bestenfalls einstimmige Linie befördernd. Gegenargumente und der drohende publikumswirksame Konflikt durch die Veröffentlichung des Votums werden danach nicht als Gefahr für die Autorität des Gerichts, sondern als fruchtbarer Beitrag zur Entscheidungsfindung gesehen. Lübbe-Wolff formuliert für diesen positiven Effekt von Sondervoten aber auch Bedingungen: Es dürfe „keinerlei Zwang oder Druck zur Offenbarung und Artikulation abweichender Positionen“ geben, sowie nicht jeder interne Dissens „nach außen getragen“ werden.931 Von diesem Instrument dürfe „nicht regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise nach gescheiterten Konsensfindungsbemühungen Gebrauch gemacht“ werden.932 Ansonsten sei das Sondervotum gerade nicht mehr „verständigungsfördernd“.933 Die Veröffentlichung der abweichenden Meinung sei zwar „im Grundsatz akzeptiert“ und werde auch „nicht abgestraft“, durch ein „von allen erwartete[n] Bemühen“ aber versucht zu verhindern.934 Diese Äußerungen überraschen, da gerade Lübbe-Wolff als fleißige Autorin von Sondervoten in ihrer Zeit im Zweiten Senat hervorgetreten ist.935 Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, dass sie noch häufiger mit der Senatsmehrheit nicht einverstanden war, dies jedoch nicht nach außen getragen hat.936 930
Chebout/Valentiner, Interview mit Gertrude Lübbe-Wolff, KJ 2021, S. 328, 332. Lübbe-Wolff, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, S. 32. Lübbe-Wolff, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, S. 47, Fn. 68. 933 Lübbe-Wolff, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, S. 47 f., Fn. 68. 934 Lübbe-Wolff, EuGRZ 2014, S. 509. 935 Sie veröffentlichte zehn Sondervoten, s. Anhang II. 936 Eine weitere Einschränkung macht Lübbe-Wolff im Hinblick auf das politische System, in dem Richter agieren: Wenn aufgrund der politischen Verhältnisse mit starkem „politischen Druck auf einzelne Richter“ gerechnet werden muss, könne das „Verbot von Sondervoten vorzugswürdig sein, s. Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, S. 48, Fn. 70. Diese für Deutschland eher theoretischen Überlegungen können für andere Rechtsordnungen, in denen die Justiz unter Druck steht, relevant werden. Rechtsstaats-Krisen, welche die Unabhängigkeit der Richter gefährden, sind derzeit etwa in Polen zu beobachten. Vgl. hierzu etwa die Anmerkung zur dazu ergangenen EuGH Rechtsprechung von Klatt, M. K., NVwZ 2019, S. 1117 f. 931 932
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Dass der Konsens als Leitmotiv der richterlichen Beratung und Entscheidung nicht über jeden Zweifel erhaben ist, wird von der ehemaligen Richterin ebenfalls offenbart: Vor allem zu Beginn ihrer Tätigkeit, sah Lübbe-Wolff darin eher eine „rechtsfindungsfremde Kompromisshaftigkeit am Werk, die mehr Abweichungen vom richtigen Entscheidungsinhalt und Mängel an Stringenz als positiv zu bewertende Entscheidungsqualitäten produziert.“937 So sah sie auch die weit verbreitete Einstellung zum Sondervotum kritisch: „Die tendenzielle Abneigung gegen Sondervoten erschien mir als Ausdruck einer Fehlvorstellung über die Art von Autorität, die ein Verfassungsgericht für sich beanspruchen kann.“938
Zum Ende ihrer Amtszeit habe sich dieses Bild jedoch gewandelt, sie sehe in der Konsensfindung nunmehr „Ausdruck und Grundlage der Unparteilichkeit des Gerichts und der Abgewogenheit, mit der es die Integrationsfunktion der Verfassung zur Geltung bringt.“939 Als einen wichtigen Faktor macht LübbeWolff den Senatsvorsitzenden aus: „Zwei Drittel der Sondervoten, die ich geschrieben habe oder an denen ich beteiligt war, stammen aus den ersten dreieinhalb Jahren meiner zwölfjährigen Amtszeit. Später wurden es weniger. Das lag zum Teil daran, dass der gute Sinn der beim Bundesverfassungsgericht herrschenden Tradition, selbst in wichtigen Fragen nicht jede Meinungsverschiedenheit nach außen zu tragen, sich mir in seiner ganzen Bedeutung für das Funktionieren des Gerichts erst mit einiger Verzögerung erschlossen hat. Außerdem hat sich 2008, ungefähr in der Mitte meiner Amtszeit, der Vorsitz im Zweiten Senat geändert. […] Der Vorsitzende hat als Diskussionsleiter eine wichtige Rolle. Er soll das Potential aktivieren, das in der Beratung als einer im habermas’schen Sinn beinahe idealen Sprechsituation liegt. Dazu darf er die Beratung nicht als ein Spiel inszenieren oder von anderen inszenieren lassen, in dem es um Sieg oder Niederlage geht, sondern muss für eine Atmosphäre der Sachlichkeit und einen der Sache dienlichen Ablauf sorgen. Das erfordert nicht nur Einen guten Überblick geben Möllers/Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union. 937 Lübbe-Wolff, EuGRZ 2014, S. 509, 510. 938 Lübbe-Wolff, EuGRZ 2014, S. 509, 510. 939 Lübbe-Wolff, EuGRZ 2014, S. 509, 510. Vgl. aber auch die sehr ehrlichen Einblicke in diesen Beratungsprozess bei Masing, in: Jestaedt/Suzuki, Verfassungsentwicklung II, S. 177, 182 f.: „Die Beratungen in einem solch großen, auf intensive Diskussion hin angelegten Spruchkörper sind […] für jeden immer wieder eine Herausforderung. Sie sind anregend, aber auch frustrierend, sie können befriedigend sein, stoßen aber auch immer wieder auf Grenzen dessen, was zwischen acht Personen noch kommunizierbar ist. Der Umgang miteinander ist – bei wohl erheblichen Unterschieden in der Geschichte des Gerichts und dessen Senaten – sehr kollegial, aber unter ihm verbergen sich auch erhebliche Spannungen. Jeder schätzt diese Arbeit im Senat, leidet aber auch an ihr.“; s. auch Masing, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 15, Rn. 113: „Das Gericht zeichnet sich also durch eine auf Konsens gerichtete Beratungs- und Entscheidungskultur aus. Dies ändert freilich nichts daran – und verstärkt vielleicht sogar – dass die Beratungen sehr kontrovers, zum Teil auch emotional geführt werden und von allen Mitgliedern als aufreibend und anstrengend erlebt werden.“
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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hohe Sachkunde, hohes Sachinteresse und Geduld, sondern auch eine feine Antenne für emotionale Verspannungen und andere Faktoren, die die Sachlichkeit der Entscheidungsfindung beeinträchtigen könnten. Diese Rolle hat der neue Vorsitzende, Andreas Voßkuhle, sehr gut gespielt, wie man daran erkennen kann, dass in den Jahren nach seinem Amtsantritt insgesamt viel weniger Sondervoten geschrieben wurden, obwohl gerade damals hochkomplexe Sachen, unter anderem in Fragen der Europäischen Integration, zu entscheiden waren, über die man sich wirklich streiten konnte.“940
Dieser offengelegte Sinneswandel lässt erahnen, wie stark externe und interne Perspektive divergieren können und lenkt den Blick auf die Rolle der Senatsvorsitzenden. Willi Geiger (Richter im Zweiten Senat 1951–1977) gab im Jahr 1981 eine ähnliche Bewertung des richterlichen Instruments ab. Geiger hatte die längste Amtszeit in der Geschichte des BVerfG und gilt nicht nur deshalb als eine der prägendsten Figuren der Anfangszeit des Gerichts. Er war mit elf Sondervoten selbst ein fleißiger Dissenter und offensiver Befürworter dieses Instruments.941 Für ihn war es unstrittig, dass die „Einführung des Sondervotums den Beratungsgang und Beratungsstil der Senate […] beeinflussen und verändern kann […]“.942 Auch Geiger formulierte allerdings Bedingungen, die für die Praxis des Senates maßgebend sein sollen: Nur in Fällen „grundsätzlicher Bedeutung“ sollten Sondervoten veröffentlich werden, die nicht als „Mittel der Polemik“ missverstanden werden dürften und eine „eigene Argumentation“ beinhalten sollten, keine bloße Bekämpfung der Senatsmehrheit.943 Als Gefahr für die „Autorität“ und das „Vertrauen in den Richterspruch“ sah Geiger es, wenn das Sondervotum dem Senat vorwerfe, „verfassungsrechtliche Grenzen verkannt“ oder die „Kompetenzen“ überschritten zu haben.944 Dabei klingt an, dass dies auch senatsinterne Konsequenzen haben kann: „Er [der dissentierende Richter] darf sich dann auch nicht beklagen oder wundern, wenn die Mehrheit in eben demselben Fall innerhalb des Senats den Vorwurf zurückgibt.“945
Damit zeigt sich, dass das Sondervotum zu senatsinternen Spannungen führen kann und deshalb ein sensibler Umgang mit diesem Instrument notwendig erscheint. Ausführlich betonte Geiger aber auch die positiven internen Wirkungen die schon eingetreten bzw. möglich seien: „Und wer will denn ausschließen, daß schon die gesetzliche Einführung des öffentlichen Sondervotums bewirkt, daß im Senat besonnener und sachbezogener argumentiert wird, 940 Chebout/Valentiner, Interview mit Gertrude Lübbe-Wolff, KJ 2021, S. 328, 329. Das ist eine recht offene Kritik an Winfried Hassemer, Vorgänger von Voßkuhle als Senatsvorsitzender. 941 S. dazu bereits I. 2. c) – e); vgl. auch Anhang II. 942 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 458. 943 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 458 ff. 944 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 459. 945 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 459.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
die Minderheitsmeinung ernster genommen und bei der Formulierung der Argumentationsschritte einbezogen und berücksichtigt wird, daß die Neigung wächst, sich um einen Konsens zu bemühen, der die Formulierung und Veröffentlichung eines Sondervotums überflüssig macht? Es gibt sogar Fälle, in denen das Gericht, um sich im öffentlichen Streit der Meinungen zu behaupten, die äußersten Anstrengungen unternimmt, um zur Einstimmigkeit zu gelangen und dadurch den Weg zur Abgabe eines Sondervotums zu verschließen.“946
Drei positive Wirkungen werden hier also angesprochen: die verstärkte Suche nach Konsens, eine sachlichere Diskussion und die ernsthaftere Berücksichtigung von Minderheitsansichten. Auch für die Öffentlichkeit ergäben sich Vorteile, da der Leser die Möglichkeit erhalte, die Entscheidung kritischer zu hinterfragen.947 Für das BVerfG wiederum erleichtere das Sondervotum die potentielle Änderung einer Rechtsprechung, sofern später abermals eine Entscheidung zum gleichen Aspekt anstehe.948 Es beuge zudem Gefahren beim Richter vor, sich anderen Ansichten zu verschließen: „Insofern die Abweichende Meinung eines an einer Entscheidung beteiligten Richters irritiert und die Problematik der konkreten Entscheidung sichtbar macht, hilft sie der Gefahr der Routine und der Schablone, des gedankenlosen Übernehmens von Rechtssentenzen, einer kritiklosen Zitierung von Rechtsprechung als Ersatz für eine eigene Begründung – einer Gefahr, der alle Richter aus sehr verschiedenen Gründen ausgesetzt sind, – entgegenzuwirken und die richterliche Kunst der differenzierten Interpretation einer Norm […] zu entwickeln; kurz: den Richter zu eigenen Anstrengungen im Entscheidungsprozeß herauszufordern.“949
Schließlich stehe das Sondervotum auch in Zusammenhang mit einem „neuen“ Verständnis von Autorität, Beratungsgeheimnis und richterlicher Unabhängigkeit: Die Autorität müsse immer neu durch Leistung bestätigt werden; „sie läßt sich heute nur stützen und legitimieren durch Vertrauen, das die Bürger und die öffentliche Meinung ihr freiwillig […] entgegenbringen.“950 Zwar komme dem Beratungsgeheimnis bei der Entscheidungsfindung innerhalb des Gerichts weiter elementare Bedeutung zu, es hindere den einzelnen Richter aber nicht daran, seine Rechtsüberzeugung anschließend offenzulegen: „Insoweit ist die ‚Anonymität des Gerichts‘, hinter der der Richter zurücktritt, kein Postulat mehr, dem er sich um der Unabhängigkeit des Gerichts willen beugen müßte. Verantwortung im Schutz des Beratungsgeheimnisses schließt nicht mehr aus, anschließend die persönliche Verantwortung auch nach außen zu dokumentieren.“951
946 947
Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 460. Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 460. 948 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 461. 949 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 461 f. 950 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 462. 951 Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 462.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Insofern bezeichnete Geiger das Sondervotum nunmehr (1981) als „Normalität“.952 Er plädierte sogar dafür, dieses Instrument bei allen obersten Bundesgerichten einzuführen.953 Insgesamt betonte Geiger die positiven Wirkungen für den senatsinternen Diskurs, warnte aber auch vor zu scharfen Formulierungen im Interesse eines spannungsfreien Senatsklimas. Der Erfolg des Sondervotums für das BVerfG war für ihn damit voraussetzungsreich, aber dennoch unbestreitbar. Auch der ehemalige Richter Udo Steiner (Richter im Ersten Senat von 1995– 2007) hat sich zum Ende seiner Amtszeit zu diesen Fragen geäußert. Zur senatsinternen Wirkung eines abgegebenen Sondervotums meint Steiner: „Sondervoten spalten den Senat, aber immer nur auf Zeit.“954 „Die Erstellung eines Sondervotums wird im Senat, jedenfalls in meinem Ersten Senat, immer professionell gehandhabt. Es wird nicht wirklich die Kollegialität gestört, es sei denn der Verfasser des Sondervotums äußert sich in Formulierungen, die die Mehrheitsmeinung qualitativ abwerten oder sie sogar kränken.“955
Ferner ist er der Ansicht, dass Sondervoten eine Belastung für die Richter und Dezernate darstellen und leitet daraus Einschränkung für deren Gebrauch ab: „Jedes gute Sondervotum braucht Zeit. Das geht zu Lasten der anderen richterlichen Aufgaben, es geht aber auch zu Lasten des eigenen Dezernats, deshalb würde ich meinen, man sollte auf Sondervoten verzichten, wenn es nur darum geht, eine andere Ansicht zur Mehrheit klarzustellen. Gelegentlich ist es so, dass der Schmerz den Berichterstatter übermannt, wenn er seine Vorstellungen im Senat nicht durchsetzen kann, und dann greift er zum palliativen Sondervotum.“956
Auch Steiner betont, dass die Senatsberatung grundsätzlich auf Konsens ausgerichtet sei und dieser auch zumeist erreicht werde. Dem Sondervotum komme in diesem Kontext durchaus eine fördernde Wirkung zugute, werde nach Ankündigung eines Sondervotums doch immer noch versucht, dessen Veröffentlichung zu verhindern: „Wir führen die Beratung eigentlich immer mit dem Ziel, zu einer einstimmigen Entscheidung zu kommen. […] Die meisten Entscheidungen, jedenfalls meines Ersten Senats, ergehen jedoch ohne Gegenstimme. Bei Dreiviertel der von mir vorbereiteten Senatsentscheidungen waren das Urteil oder der Beschluss, auch nach kontroverser Beratung, einstimmig. […] Der Berichterstatter der Mehrheit wird noch einmal durch entsprechende Formulierungen die Möglichkeiten zu einem Konsens ausloten. Erst wenn dies nicht gelingt, ist klar, dass es keine Hoffnung mehr auf eine einstimmige Entscheidung gibt.“957 952 953
Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 462. Geiger, FS Hirsch 1981, S. 455, 463. 954 Steiner, ZRP 2007, S. 245. 955 Steiner, ZRP 2007, S. 245. 956 Steiner, ZRP 2007, S. 245. 957 Steiner, ZRP 2007, S. 245.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Auch Steiner betont damit die konsensfördernde Wirkung der Ankündigung eines Sondervotums, an anderer Stelle nochmals ausdrücklich: „Es gibt keine Angst der Senatsmehrheit vor dem Dissenting oder dem Dissenter. Wird aber ein Sondervotum angekündigt, dann ist der Wunsch der Senatsmitglieder, doch noch zu einer geschlossenen gemeinsamen Entscheidung zu kommen, groß, und man wird den Spielraum für eine einstimmige Entscheidung in einer solchen Situation noch einmal sorgfältig ausloten.“958
Als Strategie, eine dissenting opinion zu verhindern, macht er die Berücksichtigung etwaiger Gegenargumente in der Entscheidungsbegründung selbst aus: „Zunächst einmal geben wir Pro und Contra zur Lösung einer verfassungsrechtlichen Frage in der Entscheidung ziemlich sichtbar wieder, andererseits personifizieren wir aber nicht die Diskussion. Es kann aber schon einmal zur Akzentuierung der einen oder anderen Variante von Pro und Contra vor dem Hintergrund eines möglichen Dissenting kommen.“959
Diese Beschreibung deckt sich mit der Analyse der Begründungstechnik des BVerfG, die gezeigt hat, dass das Gericht in seinen Entscheidungen durchaus gegenteilige Argumente darstellt.960 Zudem versuchten Richter, so Steiner, durch die Mitarbeit an der Formulierung der Mehrheitsmeinung wieder „ins Spiel zurückzukommen“ und auf diesem Weg ihre Argumente unterzubringen.961 Darüber hinaus gesteht Steiner dem Sondervotum die Funktion einer „Qualitätskontrolle“ zu: „Das BVerfG braucht die ständige Qualitätskontrolle durch die Rechtswissenschaft, und durch die politische Wissenschaft gewiss nicht weniger. Seine Mitglieder sind nicht so schwer erziehbar wie manche Kritiker meinen. Zur Qualitätskontrolle rechne ich im Übrigen auch das dissenting vote als einer Art publizierter Innenrevision.“962
Auf die Wirkungen in der Öffentlichkeit angesprochen, macht Steiner vor allem positive Effekte für das Verständnis eines kontroversen Urteils aus: „Ich habe aus Gesprächen gelernt, dass sich Bürger, die mit einer bestimmten Gesetzgebung nicht zurechtkommen, etwa dem Gesetz über die gleichgeschlechtliche Partnerschaft, in ihrem Rechtsgefühl bestärkt sehen, wenn wenigstens das Sondervotum einer Minderheit des Senats ihre Rechtsauffassung teilt. Dies kann zur Entschärfung großer Rechtskonflikte beitragen.“963
958 959
Steiner, ZRP 2007, S. 245, 246. Steiner, ZRP 2007, S. 245, 246. Zum Zusammenhang zwischen Entscheidungsbegründung und Sondervotum vgl. bereits ausführlich. 960 S. S. 114 ff. 961 Steiner, ZRP 2007, S. 245, 246. 962 Steiner, NJW 2001, S. 2919, 2920. 963 Steiner, ZRP 2007, S. 245, 246. Dies lässt sich mit den hier angestellten Überlegungen zur Funktion der Diskursbegleitung in Einklang bringen, s. dazu 1. c) (bb).
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Steiner selbst ist lediglich einmal einem Sondervotum beigetreten,964 was er jedoch nicht mit einer Ablehnung dieses Instrumentes, sondern der dafür notwendigen Arbeitszeit, die er lieber in die reguläre Arbeit seines Dezernats gesteckt habe, begründet.965 Insgesamt bestätigt Steiner die bereits dargestellte Ansicht, dass die Ankündigung eines Sondervotums konsensfördernde Wirkung entfaltet. Deutlich wird aber auch, dass scharf formulierte Sondervoten im Senat nicht sehr gut ankommen. Ebenfalls öffentlich äußerte sich der ehemalige Richter am BVerfG Theodor Rittersprach, der auch noch in seiner Amtszeit die Einführung des Sondervotums erlebt hat (Richter im Ersten Senat von 1951–1975), selbst aber nie ein solches veröffentlichte. Er zog im Jahr 1987 eine eher verhaltene Bilanz: „[Z]eitliche Verzögerungen sind wohl kaum eingetreten, ebenso wie eine – von manchen befürchtete – erhebliche Steigerung der Arbeitslast des Gerichts nicht nachzuweisen sein wird. Andererseits dürften aber auch die Erwartungen derer, die sich mit Nachdruck für die Einführung des Sondervotums eingesetzt haben, nicht erfüllt worden sein; seine Wirkungen sind begrenzt geblieben.“966
Ähnlich wie Lübbe-Wolff war er der Ansicht, dass vor der Veröffentlichung eines Sondervotums dessen „Notwendigkeit nach strengen Maßstäben zu prüfen ist.“967 Die Ankündigung eines Sondervotums sollte den Senat wiederum dazu veranlassen, die Beratung fortzusetzen und zu intensivieren.968 Für den Fall, dass ein Sondervotum unvermeidbar sei, solle dies auf das „unbedingt nötige Maß“ beschränkt werden; insbesondere Voten, die länger seien als die Darstellung der tragenden Gründe, lehnte er strikt ab, weil dadurch deren „Überzeugungskraft“ und „Bindungswirkung“ in Zweifel gerate.969 Ritterspach kritisierte mitunter die bisherige Praxis des Gerichts: so seien Sondervoten entbehrlich gewesen, „weil die darin erörterten Fragen unschwer in der Mehrheitsbegründung hätten miterörtert werden können, manchmal sogar erörtert worden sind.“970 Den Sinn der Veröffentlichung von concurring opinions zog er generell in Zweifel: so könne ein Richter, der mit der Begründung des Urteils nicht (oder nur teilweise) einverstanden sei, auf anderem Wege, etwa über Vorträge und Fachpublikationen, das Fachpublikum erreichen, welches er ansprechen möchte.971 Auch die konkrete Ausgestaltung der Sondervoten stieß bei ihm auf Kritik: „Daß Stil und Diktion des Sondervotums sich von Aggressivität und polemischer Schärfe gegenüber der Mehrheitsmeinung fernhalten müssen, sollte selbstverständlich sein. Es 964
S. Anhang II. Steiner, ZRP 2007, S. 245, 246. Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1385. 967 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1386. 968 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1386. 969 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1386 unter Verweis auf BVerfGE 62, 1 – Misstrauensvotum Schmidt. 970 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1387. 971 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1388. 965 966
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
wird nur erwähnt, weil auch in dieser Richtung bisweilen – berechtigte – Kritik geübt worden ist.“972
Gerügt wurde von Ritterspach auch die Möglichkeit des dissentierenden Richters, sein Sondervotum bei der Urteilsverkündung zu verlesen:973 „Das Bild des Senats, der steinernen Gesichts die ‚Urteilsschelte‘ eines oder mehrerer seiner Mitglieder anhört, auf deren Formulierung er keinen Einfluss hatte und auf die er nicht mehr erwidern kann, so daß es dem dissenter das ‚letzte Wort‘ verbleibt, ist wenig erfreulich. Daß es der Autorität des Gerichts förderlich sei, wird kaum jemand behaupten wollen.“974
Ritterspach verband mit dem Sondervotum auch eine Generationenfrage: So wachse bei der jüngeren Richtergeneration die „Neigung“ aus der Anonymität des Kollegiums herauszutreten, da dies „modernen Vorstellungen von Freiheit entspricht und sich mit der demokratischen Forderung nach Offenlegung aller staatlichen Entscheidungsvorgänge verbindet.“975 Die Analyse von Ritterspach hält weniger einen direkten Einblick in die internen Wirkungen des Gerichts bereit. Sie zeigt allerdings, dass Richter*innen die Praxis des Sondervotums mitunter auch skeptisch betrachten, was sich – ohne große Spekulationen anstellen zu müssen – sicherlich auch auf die interne Arbeit auswirkt. Ritterspach schien vor allem ein Problem damit gehabt zu haben, wie die Sondervoten in der Öffentlichkeit wirken und bestätigt damit diejenigen, die schon bei der Einführung Sorge um Autorität und Ansehen des Gerichts äußerten.976 Weitere namentliche Äußerungen finden sich von Hans Joachim Faller, der nach Einführung des Sondervotums in den Richterdienst eintrat (Richter im Ersten Senat von 1971–1983). Während dieser Zeit hat er lediglich einmal ein Sondervotum veröffentlicht.977 Er stimmte Einschätzungen zu, die zu dem Ergebnis gekommen seien, dass sich die „Befürchtungen, aber auch die Hoffnungen im Zusammenhang mit dem Sondervotum kaum erfüllt“ hätten. Die Kritik sei zwar nicht völlig verstummt, jedoch habe bisher kein Richter „Mißbrauch“ damit betrieben;978 Ansehen und Autorität des Gerichts seien weder besonders gestärkt noch geschwächt worden.979 Auch hinsichtlich einer etwaigen Förderung der „Voraussehbarkeit der Rechtsentwicklung“ zeigte sich Faller skeptisch.980 Zum Zeitpunkt seiner Äußerungen (1995) hielt er eine Ausweitung, 972
Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1388. § 55 Abs. 3 GOBVerfG 2015: „Wird das Sondervotum zu einem Urteil abgegeben, so geben dies die Vorsitzenden bei der Verkündung bekannt. Im Anschluss daran kann die Richterin oder der Richter den wesentlichen Inhalt des Sondervotums mitteilen.“ 974 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1388 f. 975 Ritterspach, FS Zeidler 1987, S. 1379, 1389. 976 S. dazu ausführlich S. 70 ff. 977 Vgl. Anhang II. 978 Faller, DVBl. 1995, S. 985, 989. 979 Faller, DVBl. 1995, S. 985, 990. 980 Faller, DVBl. 1995, S. 985, 990. 973
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
243
etwa auf die Obersten Bundesgerichte, für nicht angezeigt.981 Insgesamt hielt sich Faller bei seiner Bewertung sehr zurück und offenbarte keine wirklichen Einblicke in das Innenleben des BVerfG. Seine Äußerungen verdeutlichen, dass auch einige Zeit nach der Einführung des Sondervotums noch nicht alle (ehemaligen) Richter*innen des BVerfG von diesem Instrument restlos überzeugt waren. Der ehemalige Präsident des BVerfG Andreas Voßkuhle (Richter im Zweiten Senats von 2008–2020) äußerte sich zum Sondervotum mit einer anderen Stoßrichtung. Er selbst hat sich während seiner Amtszeit an zwei Sondervoten beteiligt.982 Voßkuhle nennt zunächst mehrere Strategien des BVerfG, die Zukunftsoffenheit der Verfassung sicherzustellen: „Die ‚Erfindung‘ neuer ‚offener Grundrechte‘, ‚Flexible dogmatische Figuren mit hohem Entwicklungspotential‘, ‚Sondervoten‘ und ‚Obiter dicta‘.“983 Mit dem Ziel der „Zukunftsoffenheit“ beschreibt Voßkuhle, dass die Verfassung, innerhalb einer „unbekannten Zukunft nicht zu einer starren realitätsfernen Größe“ dahinsiechen dürfe: „Vor diesem Hintergrund erweist sich die Zukunftsfähigkeit einer Verfassung auch daran, dass sie den gesellschaftlichen Wandel aktiv begleitet und mit der Verfassungswirklichkeit Schritt hält.“984
Dafür könne die Abgabe eines Sondervotums einen Beitrag leisten. Die Zweckrichtung dieses Institut habe sich zudem innerhalb der Zeit gewandelt: „Standen zunächst die Stellung des einzelnen Richters und seine Herauslösung aus der Anonymität der jeweiligen Entscheidung hinter der gesetzgeberischen Entscheidung zur Einführung des Sondervotums, so tritt heute immer stärker auch der zukunftsgerichtete Beitrag abweichender Meinungen zur Fortentwicklung des Verfassungsrechts in den Vordergrund. Zudem gewinnt die Rechtsprechung des BVerfG in Streitfragen an Transparenz und lassen Sondervoten in konkreten Einzelfragen auch die Relativität und Zeitgebundenheit von (Verfassungs-)Recht und der Vorstellung von Gerechtigkeit erkennen.“985
Drei Wirkungen des Sondervotums werden von Voßkuhle also beobachtet: Erstens die „Fortentwicklung des Verfassungsrechts“, zweitens eine „Transparenz“ strittiger Fragen und drittens eine gewisse Offenlegung der „Relativität und Zeitgebundenheit von (Verfassungs-)Recht“ und der „Vorstellung von Gerechtigkeit“. Während Transparenz und Fortentwicklung des Rechts bekannte Funktionszuschreibungen des Sondervotums sind, stößt der letzte Punkt auf verstärktes Interesse: Im Ergebnis bedeutet dies, dass das Sondervotum nicht allein den Entscheidungsprozess innerhalb des BVerfG offenlegt, sondern auch Einblick in die Abhängigkeiten des Rechts selbst erlaubt. Das ist eine viel tief981
Faller, DVBl. 1995, S. 985, 992. Vgl. Anhang II. Voßkuhle, JZ 2009, S. 917, 922. 984 Voßkuhle, JZ 2009, S. 917, 919. 985 Voßkuhle, JZ 2009, S. 917, 922. 982 983
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
greifendere Bedeutung der Mitteilung einer abweichenden Meinung als die bloße Darstellung eines Meinungsstreits innerhalb eines Kollegiums. Sie fügt sich aber in das oben beschriebene Konzept der pluralistischen Verfassungsinterpretation ein.986 Hinsichtlich des Beitrags für die Zukunftsoffenheit des Verfassungsrechts relativiert Voßkuhle zwar selbst seine Aussage, bleibt aber dabei, dass ein nicht zu vernachlässigender Effekt vorliege: „Zwar kündigt sich in Sondervoten nicht immer die neue Verfassungshorizonte aufreißende und die Verfassungsinterpretation voranbringende ‚Meinung von morgen‘ an, man sollte die Bedeutung bestimmter Sondervoten für eine spätere Fortschreibung oder gar Änderung der Rechtsprechung aber nicht zu gering schätzen. Denn die Offenlegung verschiedener Ansichten und Begründungen macht deutlich, dass die gerichtliche Entscheidung zwar für das konkrete Verfahren das letzte Wort darstellt, nicht aber zwingend für die dahinterstehende Auslegung der Verfassung.“987
Das Sondervotum hält damit nach seiner Ansicht den Diskurs über strittige Verfassungsfragen am Leben und relativiert somit ein Stück weit auch die Unanfechtbarkeit des Richterspruches, der von der Mehrheitsmeinung getragen wird. Dem BVerfG kommt zwar die Letztentscheidungskompetenz zu, was aber nicht zwangsweise dazu führt, dass damit jegliche Streitfrage überzeugend geklärt werden kann. Dies deckt sich mit den bereits angestellten Überlegungen zur Diskursbegleitung durch das BVerfG.988 Darüber hinaus stellt Voßkuhle auch klar: „Ein Autoritätsverlust der Entscheidung ist durch das Sondervotum nicht zu befürchten […].“989
Zudem gesteht Voßkuhle dem Sondervotum auch eine „auf den ersten Blick als solche kaum zu erkennende Beschränkung der richterlichen Gestaltungsmacht“ zu. Diese könnten „echte oder vermeintliche Grenzüberschreitungen pointiert – mitunter auch giftig – thematisieren“ und hätten dies „in der Vergangenheit auch regemäßig getan“.990 Die These einer für die Beratung förderlichen Funktion des Sondervotums wird auch von Voßkuhle bestätigt: „Bereits die Option des Sondervotums, mehr noch aber seine konkrete Ankündigung, wirkt disziplinierend. Bevor sich die Senatsmehrheit durch ein Sondervotum womöglich ‚vorführen‘ lässt, werden die Kolleginnen und Kollegen alles versuchen, eine einvernehmliche Lösung zu finden und denkbare Angriffspunkte auszuräumen.“991 986
Vgl. S. 133 ff. Voßkuhle, JZ 2009, S. 917, 922. Er verweist dabei als Bsp. auf ein Sondervotum Böckenfördes zu Fragen der Parteienfinanzierung (BVerfGE 73, 40, 103 – Parteispenden), wessen Ansichten wenig später ausdrücklich Eingang in eine neue Entscheidung gefunden hätten (BVerfGE 85, 264, 314 f. – Parteienfinanzierung). 988 S. 166 ff. 989 Voßkuhle, JZ 2009, S. 917, 922, Fn. 90. 990 Voßkuhle, FAZ v. 27.02.2020, S. 8. Als „ungekrönte Königin“ bezeichnet er für diese Art des Sondervotums Gertrude Lübbe-Wolff. S. zu dieser Funktion bereits 2. a). 991 Voßkuhle, FAZ v. 27.02.2020, S. 8. 987
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
245
Der ehemalige Vizepräsident und Richter im Zweiten Senat des BVerfG ErnstGottfried Mahrenholz (1981–1994) äußerte sich noch während seiner Amtszeit zu Praxis und Wirkung des Sondervotums. Er selbst war ein fleißiger Produzent von Sondervoten (neun).992 Über die Auswirkungen auf die Arbeit des Gerichts heißt es: „[D]as Sondervotum [hat] in Senatsberatungen die Funktion der ‚fleet in being‘. Ein Sondervotum ist legitime Verlautbarung aus dem Beratungszimmer heraus, in voller Kenntnis der Akten, des Votums und des Beratungsganges. Das gibt ihm Gewicht. […] Der Beitrag des Sondervotums zur Rechtsprechung ist möglicherweise geringer zu veranschlagen als der Beitrag der gemeinsamen Arbeit im Senat, das Dissent zu vermeiden.“993
Damit wird nicht nur erneut der konsensfördernde Effekt des (angekündigten) Sondervotums betont, sondern auch zum Ausdruck gebracht, dass die internen Wirkungen dieses Instruments stärker seien, als die Effekte für Öffentlichkeit und Rechtsentwicklung. Dies wird an anderer Stelle noch präzisiert: „Die Ankündigung eines Sondervotums berührt die Atmosphäre der Beratung nicht. Die kooperative Atmosphäre des Senats und die Bereitschaft, sich gleichsam gegenseitig das rechtliche Gehör zu gewähren, die für mich [zu] den eindrücklichsten Erfahrungen zu Beginn meiner Tätigkeit im Gericht gehört hat, ist ein so unerschütterlicher Bestandteilt der Senatsarbeit, daß die Möglichkeit, offenen Widerspruchs gegen die Senatsmehrheit in einem speziellen Fall dagegen nichts auszurichten vermag. So wird auch der Beitrag des Dissenters bei der Beratung der Urteilsbegründung selbst dort ernst genommen und erwogen, wo Kritik und Textvorschläge sich auf Stellen beziehen, gegen die die abweichende Meinung schon angekündigt ist oder formuliert auf dem Tisch liegt.“994
Maßgebliche Auswirkungen auf den Text der Entscheidung habe ein Sondervotum „in der Regel aber nicht, auch wenn es hie und da formulierungsmäßig zu ‚Frontbegradigungen‘ kommt, wo das Sondervotum dem Senat deutlich macht, daß er sich formulierungsmäßig unnötig weit vorgewagt hat.“995 Taktische Erwägungen der Richter spielten in der Regel aber keine Rolle: „Kein Zweifel, daß die Ankündigung eines Sondervotums auch als taktisches Mittel eingesetzt werden kann, um den Senat in einer Frage, die vielleicht nicht für das Ergebnis ausschlaggebend ist, zu einer Äußerung zu nötigen. Dieses Mittel ist möglich, mir aber nur aus einer Beratung erinnerlich. Es könnte sich ohnehin rasch verschleißen.“996
Als Besonderheit dürfte die Beschreibung der Auswirkungen auf das BVerfG als Tatsacheninstanz von Richter Mahrenholz gelten: Unter Rückgriff auf §§ 26 ff. BVerfGG verweist er darauf, dass das Gericht auch Tatsacheninstanz sei und legt anhand einiger Beispiele dar, dass die Sondervoten das Bewusstsein 992 993
Vgl. Anhang II. Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 170. 994 Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 170 f. 995 Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 171. 996 Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 171 (Hervorhebung i. Orig.).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
über diese Rolle stärken könnten.997 Allgemein misst er dem Sondervotum für die „Methodenfragen verfassungsgerichtlicher Rechtsfindung“ hohe Bedeutung bei und gibt an, von einigen Fällen zu wissen, in denen „versteckte oder offene methodische Dissense zwischen Senatsmehrheit und Dissenter“ vorlagen.998 Auch zum Thema Autoritätsverluste und Sondervotum – beliebter Kritikpunkt innerhalb der Gesetzgebungsgeschichte999 – äußerte sich Mahrenholz: „Eine abweichende Meinung verlagert die Autorität einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von ihrem institutionellen Gewicht weg auf das Gewicht der Gründe der Entscheidung selbst. Dies ist das Anstößige an der Funktion des Sondervotums; es erscheint die Autorität des Gerichts als Institution zu schwächen. Aber weder auf der Funktion des Verfassungsgerichts im Gefüge des Grundgesetzes noch auf seinem Ansehen in der Öffentlichkeit darf die Autorität des Gerichts beruhen; das Gericht verantwortet seine Entscheidung in den Gründen. Nur sie können also die Quelle des Ansehens dieses Gerichts sein. […] Jedes Urteil des Gerichts enthält die Chance und die Gefahr, eine lebhafte Bewegung in der Diskussion bestimmter verfassungsrechtlicher Probleme autoritativ zu vereisen. Sondervoten halten das Eis offen. Dies ist seine Funktion.“1000
Eben diese Funktion könne nicht in demselben Maße von der Wissenschaft übernommen werden, da „nur die Kritik der abweichenden Meinung aus der Kenntnis der Beratung geboren wird.“1001 Die Überzeugungskraft des Gerichts speise sich also nicht aus der Stellung der Institution, sondern aus seinem Handeln; autoritative Letztentscheidungs-Ansprüche hätten das Potential, Diskussionen zu verschließen – dem wirke das Sondervotum entgegen.1002 Der ehemalige Richter des BVerfG Engelbert Niebler (Richter im Zweiten Senat von 1975–1987) stellte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 nochmals die Bedeutung des Beratungsgeheimnisses und dessen historische Entwicklung dar und verwies weniger auf eigene Erfahrungen und die Praxis des BVerfG. Für ihn waren Instrumente wie Sondervotum und Mitteilung der Abstimmungsergebnisse Ausnahmen vom richterlichen Beratungsgeheimnis, die „eng aus997
Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 168 f. Er verweist auf abweichenden Meinungen in BVerfGE 39, 61 – Schwangerschaftsabbruch I und BVerfGE 73, 40, 103 – Parteispenden. 998 Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 169. Ausdrücklich nennt er dabei lediglich BVerfGE 69, 1 – Kriegsdienstverweigerung. Bei dieser Entscheidung seien Senatsmehrheit und Minderheitsvotum zu abweichenden Interpretationen der Materialien zu einer Verfassungsänderung gelangt. Er verweist dabei auf BVerfGE 69, 1, 29 – Kriegsdienstverweigerung bzgl. der Mehrheitsansicht und ebd., 69, bzgl. der abweichenden Ansicht. Nicht sonderlich überraschend ist, dass Mahrenholz selbst – gemeinsam mit Böckenförde – dieses Sondervotum verfasst hat. 999 Dazu ausführlich S. 28 ff. 1000 Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 169 (Hervorhebungen i. Orig.). Ähnlich bereits S. 166 ff. 1001 Mahrenholz, in: v. Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre, S. 167, 169 f. 1002 Diese Funktionszuschreibung deckt sich deutlich mit der bereits angenommenen Funktion der Diskursbegleitung, s. ausführlich S. 166 ff.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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zulegen“ seien.1003 Diese Äußerung überrascht angesichts der Tatsache, dass Niebler als Richter selbst neun Sondervoten abgegeben hat.1004 Er betonte aber vor allem notwendige Begrenzungen: „Der Grundsatz der Verschwiegenheit gebietet, daß das Heraustreten eines einzelnen Richters aus dem Kollegium Senat mit seinem Stimmverhalten nur in dem Umfang zulässig ist, den die Abgabe einer abweichenden Meinung oder Begründung zwangsläufig ergibt. Deshalb halte ich es nicht für statthaft, daß etwa ein Richter ohne Begründung lediglich erklärt, er stimme der Entscheidung nicht zu.“1005
Aus seiner Sicht sind concurring opinions, die lediglich die Begründung des Urteils angreifen, nicht unproblematisch: „Schwierig wird es, wenn zwar die Urteilssätze eine Mehrheit finden, wenn aber auch Richter, die der Mehrheit für die Urteilssätze angehören, in Sondervoten abweichende Begründungen abgeben; sogar der Berichterstatter des Urteils, der üblicherweise die Entscheidungsgründe der Mehrheit formuliert, kann eine davon abweichende Auffassung in einem die Entscheidungsgründe betreffenden Sondervotum abgeben, auch der Vorsitzende des Senats, der Urteil und Gründe verkündet und anschließend seine abweichende Auffassung mitteilt. Die Abweichungsmöglichkeit, die auf die Gründe beschränkt wird, kann mindestens theoretisch zu dem Ergebnis führen, daß in bezug auf ein ergangenes Urteil keine Mehrheit für die Entscheidungsgründe vorhanden ist.“1006
Andreas Paulus, seit 2010 Richter im Ersten Senat, äußert sich grundsätzlich positiv zum Sondervotum aus der Sicht des Lesenden: „I have to confess: I still love to read dissents. Most of them are clearly argued, consistent in their reasoning, and unforgiving of what they perceive as mistakes within the majority findings. They do not seek to build a consensus, but to declare why compromise is impossible.“1007
Zudem macht er hilfreiche Funktionen des Sondervotums aus: „Those arguing in favour of separate and dissenting opinions can point to several factors. First of all, separate and dissenting opinions lead to greater transparency of courts’ deliberations in a democratic society. They help to understand the constitutional issues at stake and the reasoning in question. Separate opinions will also challenge the majority to give the best possible reasons for their conclusions. The losing side can see that its arguments were duly considered, even if they did not win. As they are not the result of a compromise, separate opinions may be much more fully reasoned. […] The threat of a 1003
Niebler, FS Tröndle 1989, 585, 595. Vgl. Anhang II. Niebler, FS Tröndle 1989, 585, 595 f. 1006 Niebler, FS Tröndle 1989, 585, 593. Dabei verweist er auf BVerfGE 32, 199 – Hessische Richterbesoldung, in dem alle mitwirkenden sieben Richter ein Sondervotum zur Entscheidung – zum Teil gemeinsam – abgegeben haben. In solchen „Extremfällen“ sei „schwerlich anzunehmen, daß die Entscheidung sehr überzeugend wirkt.“ Dieser Aspekt wurde bereits krit. beleuchtet, s. S. 222 ff. 1007 Paulus, Speech, S. 2. 1004 1005
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
dissent may also forge compromise within the court, preventing the majority from simply imposing its will on the minority. In other words, dissents have an effect even before they are issued.“1008
Diese Funktionszuschreibungen sind uns bereits aus den Äußerungen anderer Richter*innen bekannt. Darüber hinaus macht Paulus weitere nützliche Funktionen des Sondervotums aus: „Let me add to these functions a few more, without suggesting an exhaustive list. In court systems with several instances or courts with several judicial bodies, dissents may help to elucidate differences between the established jurisprudence and a new decision, thereby preventing potential precedents from gaining traction.“1009
Weitere namentliche Äußerungen liegen durch eine Untersuchung von Millgramm1010 aus dem Jahr 1985 vor, der die damaligen Richter*innen des BVerfG mit einem einheitlichen Fragenkatalog kontaktierte, die einige Richter namentlich beantworteten: Dietrich Katzenstein (Richter im Ersten Senat von 1975– 1987) hat sich selbst sechs Mal an einem Sondervotum beteiligt.1011 Er sah die hauptsächliche Funktion des Sondervotums darin, „für die Zukunft, d. h. irgendeine Zukunft, eine Wandlung in der Rechtsprechung vorzubereiten.“1012 Die senatsinternen Auswirkungen schätzte er als eher gering ein: „Sehr groß ist der Einfluß einer Ankündigung eines Sondervotums auf die Beratungen des Senats nicht. Es mag sein, daß das eine oder andere Mitglied des Senats durch die Ankündigung eines Sondervotums erst besonders deutlich sieht, wie ernst es einem Kollegen mit seinem vorgetragenen Bedenken ist, und vielleicht hier und da sich doch noch einmal in seiner Argumentation darauf einstellt. Ich glaube indessen nicht, daß die Ankündigung eines Sondervotums ernsthaft dazu führen könnte, den Senat auch nur in irgendeiner Weise zu einer anderen Entscheidung ‚zu nötigen‘.“1013
Hinsichtlich der Produktion des Entscheidungstextes erkannte Katzenstein aber einen wertvollen Beitrag des Sondervotums: „Diese Wechselwirkung [zwischen Entscheidung und Sondervotum] wird es sicher gelegentlich geben, d. h. vor allen Dingen, daß der Berichterstatter, der die Redaktion der Entscheidung vorbereitet, sich angesichts eines bevorstehenden Sondervotums selbst dann, wenn er es sonst nicht getan haben würde, oder jedenfalls mit größerer Gründlich-
1008 1009
Paulus, Speech, S. 3. Paulus, Speech, S. 4. Als Beispiel bringt er dafür sein eigenes Sondervotum in BVerf GE 138, 261, 294 ff. – Thüringer Ladenschlussgesetz an. 1010 Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 217 ff. 1011 Vgl. Anhang II. 1012 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 218. 1013 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 218.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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keit, in der Urteilsbegründung mit der Auffassung des Kollegen auseinandersetzen wird, der ein Sondervotum angekündigt hat.“1014
Umgekehrt könne auch die Begründung der Entscheidung dazu führen, dass ein Sondervotum letztendlich doch nicht abgegeben werde.1015 Bei der Antwort auf die Frage, ob er das Instrument des Sondervotums beim BVerfG beibehalten wollen würde, offenbarte Katzenstein, dass er während seiner Zeit Amtszeit seine Skepsis gegenüber diesem Element der Rechtsprechung teilweise abgelegt habe: „[…] [I]ch vermute, daß ich, wäre ich gefragt worden, ursprünglich bei der Einführung des Sondervotums dem Standpunkt derjenigen, die es nicht einführen wollten, nahegestanden hätte, und wenn die Frage neu wäre, würde ich wohl auch heute so votieren. Es ist aber etwas anderes, gegenüber einem bestehenden Rechtszustand Änderungen zu verlangen, jedenfalls dann, wenn dieser bestehende Rechtszustand ersichtlich auch erhebliche Vorteile bietet und zu keinen erheblichen Schwierigkeiten geführt hat […].“1016
Mit Ernst Benda hat sich auch ein ehemaliger Präsident des BVerfG anlässlich der Untersuchung von Millgramm geäußert (Vorsitzender des Ersten Senats von 1971–1983). Er machte vielfältige – bereits beschrieben oder aus anderen Äußerungen bekannte – Funktionen des Sondervotums aus: „Es kann denjenigen Beteiligten und sonst an dem Verfahren Interessierten, die mit ihrer Rechtsmeinung unterlegen sind, zeigen, daß diese Rechtsmeinung vertretbar und im Gericht vertreten worden ist. Damit kann es zur Integration beitragen. Zum anderen kann es der Rechtsentwicklung dienen, indem es Rechtsstandpunkt deutlich macht, die zur Zeit möglicherweise noch nicht mehrheitsfähig sind, es in Zukunft aber werden könnten. Da in den Senaten des Bundesverfassungsgerichts auch über die Begründung der Entscheidungen abgestimmt wird, kann die Möglichkeit eines Sondervotums auch intern Entlastungsfunktionen haben, insoweit Meinungsverschiedenheiten zur Begründung einzelner Passagen der Entscheidung bestehen.“1017
Zu den Auswirkungen auf die senatsinternen Beratungen meinte er: „Sie [die Ankündigung eines Sondervotums] kann dazu führen, daß die Mehrheit ihre Position sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen Entscheidung als auch des Ganges der Begründung noch einmal überdenkt. Dies kann zur Klarstellung der jeweiligen Standpunkte führen. Es kann aber auch dazu führen, daß die jeweilige Standpunkte in der Formulie-
1014 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 218. 1015 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 218. 1016 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 218. Auslassungen am Ende i. Orig. 1017 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 219.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
rung besonders akzentuiert werden, und so der Eindruck entsteht, daß die Positionen weiter auseinander sind als dies nach der Beratung tatsächlich der Fall ist.“1018
Die Praxis des Gerichts (Stand 1983) bewertete Benda insgesamt positiv, weshalb er die Beibehaltung des Instruments befürwortete: „Im ganzen scheint sich in der Praxis eine fruchtbare Spannung zwischen Entscheidungsentwurf der Mehrheit und Sondervotum zu ergeben.“1019
Auch der ehemalige Richter Hans Justus Rinck (Richter im Zweiten Senat von 1968–1986), antwortete teilweise auf die von Millgramm gestellten Fragen. Rinck zählt mit acht abgegebenen Voten zu einem der fleißigeren Dissentern des Gerichts.1020 Er zog eine positive Bilanz: „Ich persönlich habe mich von Anfang an für die Einführung des Sondervotums eingesetzt, war zwar manchmal enttäuscht, in welcher Weise von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, halte die Möglichkeit der Abgabe eines Sondervotums, unbeschadet dessen, aber auch heute bei einem Gericht wie dem Bundesverfassungsgericht für gut, meine also, daß der mit ihr verbundene Nutzen die Nachteile überwiegt.“1021
Zuletzt äußerte sich auch Joachim Rottmann (Richter des Zweiten Senats von 1971–1983). Zur Funktion dieses Instruments meinte er: „Die Hauptaufgabe des Sondervotums besteht darin, der Fachöffentlichkeit anzudeuten, daß die Entscheidung im Bundesverfassungsgericht umstritten war. Die weitere Aufgabe besteht darin, die Meinung der Minderheit in der Öffentlichkeit autoritativ darzulegen. Das Ziel des Gesetzgebers dürfte gewesen sein, auf diese Art und Weise den Prozeß der Rechtsauslegung zu beeinflussen und die Möglichkeit offenzuhalten, daß die Mehrheitsentscheidung im Lauf der Zeit korrigiert wird.“1022
Externe Funktion des Sondervotums sei also insbesondere die Förderung von Transparenz. Die senatsinternen Wirkungen der Ankündigung eines Sondervotums beschrieb Rottmann wie folgt: „Die Folge der Ankündigung eines Sondervotums führt in der Regel dazu, daß der Dissenter von der Senatsmehrheit veranlaßt wird, seine abweichende Argumentation nochmals geschlossen darzustellen. Im allgemeinen folgt dann eine erneute Senatsberatung, die auch längere Zeit in Anspruch nehmen kann. Der Dissenter ist gehalten, bereits während der Erarbeitung der Entscheidungsgründe durch den Berichterstatter den Entwurf seines Sondervotums vorzulegen, damit der Senat Gelegenheit hat, die Entscheidungs1018 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 219. 1019 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 219. 1020 Vgl. Anhang II. 1021 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 220. 1022 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 220.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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gründe im Hinblick auf das Sondervotum evtl. noch zu korrigieren. Nicht der Dissenter hat das letzte Wort, sondern im Endergebnis der Senat.“1023
Zur Wechselwirkung von Senatsentscheidung und Sondervotum heißt es: „Die Wechselwirkung besteht darin, daß durch das Sondervotum die Entscheidung des Senats präziser gefaßt wird und die rechtliche Kontroverse sowohl in der Senatsentscheidung als auch im Sondervotum schärfer herausgearbeitet wird.“1024
Rottmann offenbarte auch, dass er sogar in Entscheidungen dissentiert habe, bei denen er selbst Berichterstatter war: „Das Dissenting entspricht im wesentlichen meinem ursprünglichen Entscheidungsentwurf.“1025
Insgesamt sprach er sich angesichts der positiven Erfahrungen für ein Beibehalten dieses Instruments aus.1026 Dass es dem dissentierenden Richter mitunter ums Prinzip geht, wird bei Dieter Grimm (Richter im Ersten Senat von 1987–1999) und seinem Sondervotum zu Reiten im Walde deutlich: „Mir war die Sache ein Sondervotum wert, obwohl meine wissenschaftlichen Mitarbeiter abrieten. Die Sache sei gelaufen, es lohne nicht. Dass es die Staatsrechtslehre veranlasste, die Frage noch einmal grundsätzlich zu behandeln, hat mich gefreut, auch wenn diese Diskussion ebenfalls zu meinem Nachteil ausging.“1027
Auch Grimm betont die verbreitete „Grundbereitschaft zum Kompromiss“ bei gleichzeitiger Akzeptanz für Sondervoten, wenn die Suche nach dem Kompromiss erfolglos geblieben ist: „Man musste nur spüren, wann weiteres Insistieren nutzlos war. Auch Sondervoten schreckten den Senat nicht. Ein neues Senatsmitglied, das dies noch nicht wusste und hoffte, das Blatt mit der Androhung eines Sondervotums wenden zu können, bekam vom Vorsitzenden Herzog nur zu hören: ‚Das hat hier noch nie jemanden beeindruckt.‘“1028
Die Frage danach, ob er die Einführung des Sondervotums für eine richtige Entscheidung halte, beantwortet Grimm uneingeschränkt mit ja, begründet dies ins1023 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 220. 1024 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 220. 1025 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 221. 1026 Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 221. 1027 Grimm, in: ders./Lepsius/Waldhoff/Roßbach, „Ich bin ein Freund der Verfassung“, S. 140. 1028 Grimm, in: ders./Lepsius/Waldhoff/Roßbach, „Ich bin ein Freund der Verfassung“, S. 218 (Hervorh. i. Orig.).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
besondere mit ausgebliebenen Schäden für die Autorität des Gerichts und führt weiter aus: „Wenn man sich von der Vorstellung verabschiedet, dass es für jeden Rechtsstreit nur eine richtige Lösung geben kann, und stattdessen die Existenz von Interpretationsspielräumen anerkennt, die so oder so gefüllt werden können, dann sollte man das auch offenlegen.“1029
Diese Aussage bestätigt die hier vertretenen Ansichten zum Prozess der Verfassungsinterpretation.1030 Die namentlichen Äußerungen (ehemaliger) Richter*innen am BVerfG lassen wiederkehrende Funktionszuschreibungen, externer wie interner Art, erkennen. Von vielen Richter*innen wird insbesondere die intern-konsensfördernde Wirkung des Sondervotums betont. Argumentative Einwände müssten durch eine (angekündigte) abweichende Meinung ernstgenommen werden und erhöhten den Druck, einen Konsens doch noch erreichen zu können. Mitunter werde diese Funktion bereits erreicht, wenn gar kein Sondervotum abgegeben wird, da es immer abstrakt im Raum stehe („fleet in beeing“). Diese von den Richter*innen positiv bewertete Funktion steht aber aus der Sicht der Beteiligten unter diversen Bedingungen, etwa einer respektvollen Sprache, die allzu scharfe Formulierungen gegen die Senatsmehrheit vermeidet. Mit der Funktion der Konsensförderung verbinden lassen sich die Funktionszuschreibungen der „Qualitätskontrolle“ und „Innenrevision“, die erkennen lassen, dass das (angekündigte) Sondervotum insbesondere für das Abfassen der Entscheidung eine Rolle spielen kann. Ob die abweichende Meinung tatsächlich als taktisches Mittel genutzt wird, um den Senat in der Entscheidungsbegründung zu gewissen Äußerungen zu bringen, wie es von einem Richter beobachtet wurde, kann – wie alle anderen internen Funktionszuschreibungen – nicht überprüft werden, ist aber als Äußerung eines ehemaligen Senatsmitglieds ernst zu nehmen. Interessant ist auch der Hinweis, dass Sondervoten wohl dazu dienen können, methodische Fragen der Rechtsfindung senatsintern zu diskutieren. Hinsichtlich der externen Funktionen kann zunächst die Möglichkeit der kritischen Hinterfragung des Urteils durch die Öffentlichkeit festgehalten werden. Dies lässt sich mit der Funktionszuschreibung verbinden, dass die Flexibilität der Rechtsprechung erreicht werde, spätere ähnlich gelagerte Fälle als Anlass zu anderen Entscheidungen zu nutzen. Diese Funktion des Sondervotums wurde bereits aus der externen Beobachterperspektive festgestellt: In der Praxis des BVerfG ist es zu einigen Rechtsprechungsänderungen bzw. -anpassungen gekommen, die sich an Sondervoten (teilweise) orientierten.1031 1029
Grimm, in: ders./Lepsius/Waldhoff/Roßbach, „Ich bin ein Freund der Verfassung“,
1030
S. dazu S. 131 ff. S. dazu S. 135 ff.
S. 227.
1031
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
253
Auffällig ist darüber hinaus, dass Sondervoten eine Art Befriedungsfunktion zugeschrieben wird, die sich an diejenigen richtet, die ebenfalls eine von der Senatsmehrheit abweichende Auffassung vertreten. Diese Ansicht, die sich auch in der Diskussion um die Einführung des Sondervotums beim BVerfG oft wiederfinden ließ, ist letztlich nur durch eine empirische Befragung von Prozessbeteiligten und anderen Beobachter*innen verfassungsgerichtlicher Prozesse zu belegen. Auf einer abstrakten Ebene ist nämlich auch der gegenteilige Effekt denkbar, nämlich dass die der Senatsminderheit zugewandte Öffentlichkeit eher noch unversöhnlicher gestimmt ist, weil sie sich in der Entscheidung (knapp) nicht durchsetzen konnte. Letztlich ist dies also eine vermutete Funktion, die sich nur schwer belegen lässt. Darüber hinaus wurden von einigen Richter*innen die Ansicht vertreten, dass Sondervoten die Offenheit und Relativität von Recht und Rechtsprechung betonen und der Diskussionsraum über das Recht auch nach der Entscheidung offenbleibt. Diese Ansicht der Beteiligten kann gut mit den bisherigen Beobachtungen aus externer Perspektive in Einklang gebracht werden: So wurde hinsichtlich der Verfassungsinterpretation die These vertreten, dass diese qua Beteiligten und mannigfaltiger Auslegungsmöglichkeiten der Verfassung ein pluralistischer Prozess ist,1032 was am Ende nichts anderes ist, als eine Betonung der Offenheit und Relativität von Verfassungsnormen. Auch die Funktionszuschreibung der Offenhaltung von Diskussionen über das Recht lassen sich mit der bereits dargestellten These vereinbaren, dass Diskursbegleitung eine Funktion von Sondervoten sein kann.1033 Die Betrachtung der Äußerungen von (ehemaligen) Richter*innen des BVerfG hat also zu Erkenntnissen über die interne Wirkungsweise geführt, die als subjektive Wertungen der Beteiligten nicht überbewertet werden dürfen. Im Falle der Konsensförderung im Beratungsprozess kann aufgrund der vielfachen Nennung dieser Funktion aber eine gewisse Belastbarkeit angenommen werden. Die von den Richter*innen dargelegten externen Funktionen des Sondervotums wurden mit der eigenen Betrachtung der Praxis in einen Zusammenhang gebracht. Hierbei wurden einige Überschneidungen sichtbar. Lediglich die externe Befriedungsfunktion wird hier angesichts mangelnder Beweisbarkeit zurückgewiesen. Darüber hinaus lässt sich die Beobachtung machen, dass concurring opinions von den Richter*innen durchaus kritisch betrachtet werden. Für eine Abschaffung des Sondervotums plädieren auch diejenigen nicht, die eine eher skeptische Haltung gegenüber diesem Instrument offenbaren. Damit scheint die abweichende Meinung unter den Richter*innen weitgehend akzeptiert zu sein. Dies zeigte sich auch bereits im Rahmen der empirischen Analyse.1034 1032
S. dazu S. 131 ff. S. dazu S. 166 ff. 1034 S. dazu S. 96 ff. 1033
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
b) Anonyme Äußerungen Neben diesen namentlichen Äußerungen einiger (ehemaliger) Richter*innen des BVerfG ist es durch eine Studie von Uwe Kranenpohl1035 möglich, ein noch genaueres Bild zu zeichnen. Um Einblicke in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse des BVerfG zu erhalten, hat der Politikwissenschaftler in einer wegweisenden Arbeit zahlreiche amtierende und ehemalige Richter*innen des BVerfG unter anderem auch zum Sondervotum anonym befragt. Da nur vier der bisher namentlich zur Sprache gekommenen (ehemaligen) Richter*innen auch von Kranenpohl interviewt wurden,1036 verspricht die Auswertung dieser Gespräche einen Mehrwert. So ist es zwar möglich, dass sich darunter auch Stellungnahmen von bereits zitierten Richter*innen befinden, die Anzahl der von Kranenpohl befragten Richter*innen (30) spricht aber dafür, ein deutlich umfassenderes Meinungsbild erhalten zu können. Kranenpohls Fragebogen enthielt auch eine Frage zum Sondervotum.1037 Darüber hinaus dürfte diese Thematik bei der Betrachtung der Beratungskultur des Gerichts auch bei anderen Fragen eine Rolle gespielt haben. Ein*e befragte*r Richter*in1038 formuliert die „Regel“, nach der Sondervoten bei Verfahren veröffentlicht würden, bei denen der abweichende Richter „die Existenz seiner Gegenauffassung“ der Öffentlichkeit darlegen müsse.1039 Als Beispiel wird die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes genannt.1040 Ein*e andere*r Richter*in betont die befriedende Wirkung des Sondervotums bei kontroversen Verfassungsfragen. Die Anhänger einer Minderheitsansicht könnten damit immer noch darauf verweisen, dass „ein paar Verfassungsrichter“ ihnen beipflichteten. Dies sei „eine Art ‚Trost‘“.1041 Ein*e weitere*r Gesprächspartner*in geht in eine ähnliche Richtung, wenn darauf verwiesen wird, dass die abweichenden Ansichten in der 1035 1036
Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010. Vgl. die Liste der befragten Richter*innen Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, Anhang 16. 1037 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 508, Frage Nr. 12: „Das BVerfGG und die BVerfGGO regeln die Abgabe eines Sondervotums nur äußerst rudimentär. Eigentlich ist nur festgelegt, dass die Absicht möglichst früh bekanntgegeben werden soll (§ 56 II BVerfGGO). Gibt es darüber hinaus ‚gemeinsame Überzeugungen‘ innerhalb des Gerichts, wann Sondervoten angezeigt sind und wann sie besser unterlassen werden sollten? Oder gibt es dazu unterschiedliche ‚Schulen‘?“ 1038 Kranenpohl nutzt für seine Untersuchung ausschließlich die männliche Form, um Anonymisierung zu erreichen. 1039 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 318, Interview Nr. 2. 1040 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 318, Interview Nr. 2, Verweis auf BVerfGE 105, 313 – Eingetragene Lebenspartnerschaften. 1041 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 318, Interview Nr. 22. Dies wird von einem anderen befragten Richter bestätigt: „Ein solches Sondervotum kann zur Akzeptanz der Entscheidung beitragen, weil sie der unterlegenen Partei verdeutlicht, dass seine Auffassung gut vertretbar ist.“, ebd, S. 406, Interview Nr. 16.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Bevölkerung zur Sensibilisierung für die teils schwierigen Probleme des Verfassungsrechts beitragen könnten.1042 Ebenso wird eine integrative Wirkung beschrieben: „Aber integrativ finde ich dissenting opinions. Ich finde, dass die Autorität des BVerfG dadurch gesteigert wird, dass es sich als einziges Gericht den Luxus leistet, die abweichenden Meinungen und die Doppelbegründungen ganz offen zu zeigen und dabei auch keine Scheu in der Wortwahl zu haben.“1043
Nicht völlig einig sind sich die Richter*innen, inwiefern Bedingungen und Voraussetzungen für die Abgabe eines Sondervotums bestehen. Ein*e Richter*in ist der Ansicht, ein Sondervotum sei nur angezeigt, wenn „ich meine, dass die Diskussion über ein Thema noch nicht ad acta gelegt werden kann.“1044 Ein*e andere*r formuliert: „Mein Standpunkt ist der, dass man nicht ein Sondervotum machen sollte, um zu mäkeln, sondern wenn man einen anderen strategischen Ansatz hat. Also was Fundamentales. […] Ich wollte bei allen [abgegebenen Sondervoten] eigentlich den Gesetzgeber sensibilisieren, dass die Dinge kritischer und intensiver betrachtet werden.“1045
Dies wird von anderen (ehemaligen) Mitgliedern des BVerfG ähnlich gesehen: „Man macht ein Sondervotum eigentlich nur, wenn es wirklich um wesentliche Fragen geht, in denen man sich halt bei bestem Willen nicht auf die Position der anderen einlassen kann. Wenn dagegen verstoßen wird, denkt man sich halt seinen Teil. Man muss ja mit dem Kollegen weiterhin zurechtkommen.“1046 „Ich persönlich und viele meiner Kollegen sehen das so, dass das Mittel des Sondervotums nur in besonderen Fällen eingesetzt wird. Das muss auch im Verhältnis stehen zur Bedeutung der Sache.“1047
Nach Kranenpohls Einschätzung wird dieser zurückhaltende Ansatz vom „überwiegende[n] Teil der Befragten“ befürwortet.1048 Völlig einig scheint man sich über die Frage, wann ein Sondervotum angemessen ist, aber nicht zu sein: 1042
Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 318, Interview
1043
Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 322, Interview
Nr. 13. Nr. 27.
1044 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 318, Interview Nr. 24, kursive Hervorhebung i. Orig. Weiter heißt es ebd.: „Das sind so die Punkte, wo ich meine: ‚Da kannst Du nicht einfach mit ‚Nein‘ stimmen, sondern musst dafür auch die Begründung liefern.‘ Aber nicht nur aus ‚verfassungsästhetischen‘ Gründen, sondern wegen des Inhalts.“ 1045 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 319, Interview Nr. 25. 1046 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 320, Interview Nr. 6. 1047 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 319, Interview Nr. 17. 1048 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 319. Dies deckt sich auch mit der Analyse der namentlichen Äußerungen unter a).
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
„Es gibt persönliche Überzeugungen und sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Richterpersönlichkeiten. Es gibt Richter, die fangen bei jedem Komma an, an einen dissent zu denken, und es gibt andere Richter, die sagen: ‚Eher keinen Tunnelblick! Wir wollen mal sehen, was wir im Senat erreichen können.‘ Und erst ab einem bestimmten Punkt sagen: ‚Das kann ich jetzt nicht mehr unterschreiben!‘ […]. Der dissent ist ein Bereich richterlicher Autonomie, wo Ihnen auch keiner ‚reinspucken‘ kann, und deshalb gibt es einsichtigerweise keine Gemeinsamkeit in Bezug auf die Beurteilung einer solchen Haltung.“1049
Hinsichtlich der internen Wirkungen zeigt sich ein durchaus positives Stimmungsbild, insbesondere was die Arbeit am Entscheidungstext angeht: „Da gab es ein Sondervotum und nachdem sich das abgezeichnet hatte, ging man durchaus kollegial damit um: Die Mehrheit hat bei der Minderheit auf Ungereimtheiten hingewiesen und umgekehrt. Das fand ich toll, dass man da so souverän mit dem Instrumentarium umgehen kann. Das ist dann auch befriedigend in einem solchen Fall.“1050 „Wir sind schon aufgeschnallt auf das Ziel, eine gute Entscheidung zu fällen. Und wenn ich in einem dissent einen Fehler finde, dann verbessere ich den, das ist völlig klar.“1051
Auch der konsensfördernde Charakter des (angekündigten) Sondervotums wird erneut1052 beschworen: „Man lotet vor allem dann die Konsensmöglichkeiten noch einmal aus, wenn ein Sondervotum angekündigt wird.“1053 „Man versucht insbesondere, auch demjenigen, der ein Sondervotum androht, vielleicht noch mit dem einen oder anderen Aspekt entgegenzukommen, um das zu verhindern.“1054 „Die Konsenssuche ist vorhanden. […] In einem Asylrechtsfall haben zwei Richter ein Sondervotum geschrieben, das wie immer in gemeinsamer Beratung durchgesprochen wurde. Es war so einleuchtend, dass die Mehrheit die Auffassung der beiden Sondervotanten übernommen hat.“1055 „Wenn einer ununterbrochen Sondervoten schreibt, erhöht das nicht seine Durchsetzungsfähigkeit im Senat. Aber ein Sondervotum kann eben schon auch den Senat zum Nachdenken bringen. Es gibt sogar eine Geschichte von Sondervoten, die nicht das Licht der Welt erblickt haben – das ist zwar wahrscheinlich eine kleine Geschichte, aber auch das ist möglich.“1056 „In einem Fall hatte der Berichterstatter ein Interesse daran, aus Anlass dieses Falles noch eine kleine Frage mitzuentscheiden. Ich sagte: ‚Über diese Problematik gibt es kein 1049 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 319, Interview Nr. 5, kursive Hervorhebung i. Orig. 1050 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 321, Interview Nr. 3. 1051 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 321, Interview Nr. 5. 1052 S. a). 1053 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 187, Interview Nr. 2. 1054 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 187, Interview Nr. 6. 1055 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 187, Interview Nr. 7. 1056 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 217, Interview Nr. 28.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Votum! Ich kann sie jetzt nicht in ihren Konsequenzen übersehen. Wenn Sie jetzt so entscheiden lassen, werde ich ein dissenting von einer Schärfe machen, wie ich es noch nie gemacht habe, wenn so etwas einreißt.‘ Das wurde dann auch fallengelassen. Am nächsten Tag bei der Fortsetzung der Beratung wurde ich dann gefragt: ‚Mussten Sie denn so scharf sein?‘ Ich sagte: ‚Sie wissen, das ist nicht persönlich gemeint. Aber wir werden nicht bezahlt, damit wir freundlich miteinander umgehen, sondern wirklich auch streiten, wenn es nötig ist.‘“1057
Dennoch wird die Konsens-Ausrichtung der Entscheidungen anscheinend nicht immer von allen Mitgliedern des BVerfG befürwortet: „Die Einstellung dazu, ob man ein Sondervotum abgibt, hat sich in den letzten Jahren möglicherweise geändert. Es gibt Richter, die der Auffassung sind, es sei nicht erforderlich stets als Konsensgericht aufzutreten. Vielmehr sei es auch wichtig, die Vielfalt der Meinungen im Senat durch ein Sondervotum in der Öffentlichkeit darzustellen.“1058 „Es gibt Fälle, in denen eine Mehrheit versucht, eine Minderheit – oder auch nur einen Richter – einzubinden, indem man Gesichtspunkte übernimmt. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass der betreffende Richter hinterher dennoch sein Sondervotum geschrieben hat – und man sich dann etwas ‚ärgert‘, warum man nicht seine eigene Position noch klarer aufrechterhalten hat. […] Es ist kein unumstrittener Komment, dass solches Zugehen auch mit dem Verzicht auf ein Sondervotum beantwortet wird.“1059 „Die Grenze ist der Eigensinn des dissenters – und natürlich auch der Eigensinn der Senatsmehrheit. Ich entsinne mich an einen Fall, da habe ich ‚Friedensvorschläge‘ gemacht gegenüber zwei dissenters und daraufhin hat der eine erklärt: ‚Wenn die Vorschläge, die Sie machen, angenommen werden, entfällt mein dissent.‘ Diese Vorschläge anzunehmen, widerstrebte aber nun einem Richter, der der Mehrheit angehörte, ganz entschieden. Also schrieb der dissenter sein dissent. Wenn also einer eine Sache dann für – wie man theologisch sagt – articulus stantis vel cadentis ecclesiae (mit dem steht und fällt die Kirche) erklärt, ist da nichts zu wollen!“1060 „Manchmal ist es besser, keinen Kompromiss einzugehen. Es gibt Kompromissentscheidungen, die kaum noch verstanden werden. Ich muss sagen, dann ist immer die Frage, stimmt man einem solchen Kompromiss noch zu oder sagt man: ‚Liebe Leute, jetzt ist Schluss! Jetzt schreiben wir ein Sondervotum, dann sind wenigstens die unterschiedlichen Positionen deutlich gemacht worden.‘“1061 1057 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 218, Interview Nr. 7, kursive Hervorhebung i. Orig. 1058 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 190, Fn. 44, Interview Nr. 16. 1059 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 218, Interview Nr. 14. 1060 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 218, Interview Nr. 7, Kursive Hervorhebung i. Orig. 1061 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 325, Interview Nr. 16. Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, S. 58, Fn. 60, stellt eine beachtenswerte Verbindung zwischen Mehrheitsprinzip bei der Abstimmung im Kollegialgericht und Kompromisssuche auf: Ersteres „bewirkt, dass nicht um jeden Preis ein Kompromiss gefunden werden muss“. Dem Mehrheitsprinzip kommt danach eine Entlastungsfunktion für die kollegiale Beratung zu.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
Anscheinend hat aber auch die jeweilige Rolle im Senat Auswirkungen auf die Praxis des Sondervotums: „Ich hätte gelegentlich gern ein Sondervotum geschrieben, aber ich war der Meinung, der Vorsitzende sollte sich damit nicht hervortun. Das haben andere anders gehandhabt.“1062
Der*die Senatsvorsitzende scheint auch nicht ohne Einfluss zu sein, was die Veröffentlichung von Sondervoten im Senat insgesamt angeht: „Ich hatte, als ich in meinen Senat gekommen bin, gelegentlich den Eindruck, Sondervoten sind angekündigt worden, aber man hat dann gesagt: ‚Wenn wir das noch hereinschreiben würden, würden Sie dann auf Ihr Sondervotum verzichten?‘ Da war ich nun dezidiert anderer Meinung (aber das ist meine subjektive Meinung). Ich habe in einer der ersten Sitzungen gesagt: ‚Bei mir kann jeder ein Sondervotum schreiben. Ich werfe es keinem vor und ebenso wenig belobe ich ihn deswegen. Aber solche ‚Handelsgeschäfte‘ machen wir nicht. Das ist mir zu inferior!‘ Aber wir haben auf der anderen Seite qualifizierte Gegenmeinungen in die Begründung aufgenommen.“1063
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass gegen concurring opinions von den befragten Richter*innen einige Einwände eingebracht werden: „Sondervoten, die bei Übereinstimmung im Ergebnis nur wegen einer von der Mehrheit abweichenden Begründung erfolgen, könnten auf einen Außenstehenden unter Umständen marginal wirken.“1064
Kranenpohl spricht sogar davon, dass die in der Begründung abweichenden Sondervoten von der „großen Mehrheit der Befragten mit Kopfschütteln betrachtet“ werde:1065 „Ich denke, ein […] Sondervotum sollte nur dann geschrieben werden, wenn die Entscheidung überhaupt nicht – auch im Ergebnis nicht – mitgetragen werden kann. Wenn man die Entscheidung im Ergebnis mittragen kann und nur ein andere[r] Begründungsweg gefunden wurde, sollte man auf ein Sondervotum verzichten. Dazu bleibt im Übrigen auch wirklich keine Zeit, und es handelt sich vielfach eher um eine akademische Diskussion.“1066 1062
Nr. 30.
Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 212, Interview
1063 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 217, Interview Nr. 28. Bestätigt durch einen anderen Richter des Senates: „Ich entsinne mich, das fand ich eigentlich sehr nett, gleich in einer der ersten Beratungen, in denen ich saß, fiel das Argument: ‚Wenn das so bleibt, muss ich ein Sondervotum schreiben.‘ Der Vorsitzende: ‚Sie wissen doch, dass Sie damit überhaupt keinen Eindruck erzielen können. Sondervoten gehören zum Repertoire. Wer sie schreiben will, schreibt sie!‘ [lacht] Damit war nicht viel zu gewinnen.“, ebd., S. 217, Fn. 22, Interview Nr. 19. 1064 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 320, Interview Nr. 17. 1065 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 320. Dies deckt sich auch mit den bereits dargestellten namentlichen Äußerungen der Richter unter a). 1066 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 320, Interview Nr. 16. Vgl. auch ebd. Interview Nr. 17.
III. Praxis beim Bundesverfassungsgericht: Funktionsanalyse
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Es gibt aber auch Richter*innen, die das Instrument der Mitteilung einer abweichenden Begründung unter Umständen für sinnvoll halten: „Bei der Kruzifix-Entscheidung ⟨BVerfGE 93, 1⟩ […] hätte man eine concurring opinion abgeben müssen, um zu verdeutlichen, dass die Mehrheitsmeinung in Wirklichkeit eine Kompromisslinie vertrat. Beim Großen Lauschangriff ⟨(BVerfGE 109, 279 [382])⟩ hat man es dann ja auch anders gemacht. Aber damals dachte ich noch – und das war ein Fehler – die Entscheidung wäre stärker, wenn die Mehrheit nicht nochmals aufgesplittet sei.“1067
Kranenpohl gelangt zu dem Ergebnis, dass die meisten der befragten Richter*innen eine „übermäßige Anwendung“ des Sondervotums ablehnten und dieses Instrument eher „restriktiv“ verwendeten. Jedoch hielten „alle“ dieses Instrument für ein „geeignetes Mittel, um die Vertraulichkeit der Beratungssituation teilweise aufzuheben und damit das Kommunikationsrepertoire des BVerfG zu erweitern“.1068 Darüber hinaus zeigt sich hinsichtlich der internen Funktionen des Sondervotums, dass insbesondere die Betonung der konsensfördernden Wirkung sich mit den bereits dargestellten namentlichen Äußerungen der ehemaligen Richter*innen deckt. Diese Funktion des Sondervotums scheint sich also zu verfestigen. Dabei bestätigt sich auch der Eindruck, dass bereits die Ankündigung eines Sondervotums die Konsenssuche im Senat noch einmal verstärkt. Dieses verfassungsgerichtliche Instrument besitzt also eine bedeutende Vor-Wirkung. Auch die kritische Betrachtung der concurring opinion, die bereits bei den namentlichen Äußerungen festgestellt wurde, prägt offenbar das Meinungsbild der Mehrheit der (ehemaligen) Richter*innen. Welche Bedingungen und Grenzen für die Abgabe von Sondervoten gelten, ist bei den Befragten umstritten. Wie auch bei den namentlichen Äußerungen zeigt sich, dass viele Richter*innen Bedingungen für Sondervoten formulieren möchten, dabei jedoch unterschiedliche Vorstellungen haben. Es entsteht kein einheitliches Bild, was aufgrund der unterschiedlichen Richterpersönlichkeiten und der personellen Fluktuation innerhalb dieser Institution aber auch nicht zu erwarten ist. Hinsichtlich externer Funktionen des Sondervotums lässt sich auch bei den anonymen Äußerungen die Zuschreibung einer Befriedigungs- oder gar Integrationsfunktion beobachten, die mit den bereits beschriebenen Beweisbarkeitsprobleme zu kämpfen hat. Grundsätzlich ist Kranenpohls Untersuchung aber deutlich stärker auf die internen Prozesse des BVerfG ausgerichtet, wodurch die externen Funktionen weniger in den Fokus geraten.
1067 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 320, Interview Nr. 1. Einfügungen und kursive Hervorhebungen i. Orig. 1068 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 322.
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C. Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht
c) Zwischenfazit Die Betrachtung der namentlichen und anonymen Äußerungen (ehemaliger) Richter*innen des BVerfG hat ein wechselhaftes Bild über interne und externe Funktionen des Sondervotums ergeben. Aufgrund sich wiederholender Funktionszuschreibungen konnten aber auch belastbare Ergebnisse erzielt werden: Hinsichtlich der internen Funktion des Sondervotums steht die Förderung des Konsenses innerhalb der Beratung im Mittelpunkt. Besonders beachtenswert ist es dabei, dass bereits der abstrakten Existenz oder Ankündigung eines Sondervotums eine konsensfördernde Vor-Wirkung zugeschrieben wird. Damit sind abweichende Meinungen nicht allein wegen ihres jeweiligen Inhalts für die Arbeit des Gerichts relevant, sondern entfalten bereits durch ihre abstrakte Möglichkeit eine relevante Wirkmacht. Dass der „Erfolg“ des Sondervotums für die Institution keine sichere Sache ist, lässt sich daran ablesen, wie die Richter*innen in ganz unterschiedlicher Weise Bedingungen und Grenzen für die Abgabe von abweichenden Meinungen ausloten. Daneben hat sich gezeigt, dass sich die Ansicht über externe Funktionen mit den bisherigen Betrachtungen in einen Einklang bringen lassen. Dies gilt insbesondere für die Beschreibung der Offenheit von Recht und Offenhaltung von Diskussionen über das Recht. Diesen Aspekten wurde in dieser Arbeit große Aufmerksamkeit gewidmet, deren Relevanz wird durch die Äußerungen (ehemaliger) Richter*innen bestätigt. Darüber hinaus zugeschriebene Befriedungsoder Integrationsfunktionen von Sondervoten sind demgegenüber kaum belegbar, weshalb solche Funktionszuschreibungen vermieden werden sollten.
IV. Fazit Der Ausgangsfrage, welche Funktionen das Sondervotum eigentlich in der bundesverfassungsgerichtlichen Arbeit einnehmen kann, wurde sich aus drei Perspektiven genähert. Dabei zeigte sich, dass dem Sondervotum eine ganze Reihe von Funktionen zugesprochen werden können: Das Sondervotum kann entlasten, indem es die Anforderungen an eine vollständige Entscheidungsbegründung abmildern und deren Widerspruchsfreiheit verbessern kann. Es ist diskursiv, weil es andere Verfassungsinterpretationen offenbart, gesellschaftlich-politische Konflikte abbilden und damit angemessen Begleiten kann. Es kann Verschleierungen verhindern, indem es bei strittigen Fragen den Finger in die Wunder legt. Dieser diskursive Charakter manifestiert sich auch darin, dass bestehende Rechtsprechungslinien versucht werden aufzubrechen. Auf der anderen Seite ist das Sondervotum auch warnend, indem auf das Abweichen von einer Rechtsprechungslinie hingewiesen wird. Es ist reflektierend, da die Verfassungsrichter*innen die Grenzen ihrer eigenen Zu-
IV. Fazit
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ständigkeiten ausloten. Es ist intern konsensfördernd und dies bereits präventiv durch die schlichte Möglichkeit oder konkrete Ankündigung einer abweichenden Meinung. Das Sondervotum ist damit vor allem eines: vielerlei.
D. Ergebnisse und Ausblick Das Sondervotum öffnet die Tür in das Allerheiligste des BVerfG – das Beratungszimmer der Senate – einen Spalt breit. Die Öffentlichkeit kann damit im Nachhinein in Ansätzen die unterschiedlichen Argumentationslinien im Senat nachvollziehen. Dieser Türöffner bleibt aber vollständig in der Hand der Richter*innen, da eine Veröffentlichung von abweichenden Meinungen freiwillig ist. Eine verpflichtende Abgabe wäre mit der richterlichen Unabhängigkeit auch nicht zu vereinbaren. Der Blick in die Historie offenbarte, dass der Weg zum Sondervotum lang und beschwerlich war. Zwar begann eine Diskussion im deutschen Rechtskreis bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Lange Zeit konnten sich die Befürworter*innen dieses richterlichen Instruments aber nicht durchsetzen. Da sich Bundesrepublik, das GG und das BVerfG zunächst festigen mussten, lösten Reformvorschläge für das Sondervotum bei vielen politischen Amtsträger*innen und auch der Mehrheit der Verfassungsrichter*innen Abwehrreaktionen aus. Insbesondere die SPD um Adolf Arndt kämpfte aber ausdauernd für dieses Projekt bis es letztlich 1970 realisiert wurde. Aus heutiger Sicht erscheint uns dieses lange Ringen um diese Frage kaum verständlich. Bedenkt man jedoch den zeitgeschichtlichen Kontext und die weitgehende Traditionslosigkeit des Sondervotums im deutschen Rechtskreis, lassen sich diese Grabenkämpfe besser verstehen. Dass wir uns heute nicht mehr diese grundsätzlichen Fragen über das Sondervotum stellen, gibt auch einen ersten Hinweis darauf, dass sich dieses Instrument etabliert hat. Es ist von Richter*innen und in der Rechtswissenschaft breit akzeptiert. Die Befürchtungen der Kritiker*innen, insbesondere um die Autorität des Gerichts, haben sich nicht eingestellt. Wie sich das Gericht ohne die Einführung des Sondervotums entwickelt hätte, bleibt Spekulation. Der kurze Blick auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis hat den Ursprung von abweichenden Meinungen bei Gerichten verorten können. Ebenso konnte gezeigt werden, dass dissenting und concurring opinions beim U. S. Supreme Court zwar eine lange Tradition aufweisen, jedoch auch dort zunächst eine aus dem englischen Recht stammende andere Entscheidungsfindung dominierte (seriatim opinions). Zudem gingen die Richter*innen in den USA bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sehr zurückhaltend mit dem Instrument der abweichenden Meinung um – eine Praxis, die mit dem Blick auf die heutige Situation kaum vorstellbar ist.
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D. Ergebnisse und Ausblick
Der Ausflug in den US-amerikanischen Rechtskreis hat auch eine interessante Parallele mit der deutschen Rechtsentwicklung offenbart: Der Zusammenhang von aufzubauender Gerichts-Autorität und einstimmigen Entscheidungen. Der Vergleich mit dem U. S. Supreme Court zeigt, dass es anscheinend zur emanzipatorischen Phase eines Höchstgerichts dazu gehört, (möglichst) einstimmige Entscheidungen zu produzieren oder diese zumindest nach außen als einstimmig ergangen wirken zu lassen. In den USA wandte sich der Supreme Court durch Chief Justice Marshall von der englischen Praxis der seriatim opinions ab und versuchte sich in der Strategie eines mit einer Stimme sprechenden Gerichts. Dies hatte ohne Zweifel den Hintergedanken, dem Gerichtshof als Institution gegenüber den anderen Staatsgewalten eine erhöhte Autorität zu verleihen. In Deutschland war die Ausgangslage zwar eine andere, da es den Richter*innen gar nicht erlaubt war, ihre abweichenden Ansichten zu publizieren. Dennoch zeigen die zögerliche Haltung der Richter*innen und politischen Kräfte was die Einführung der Sondervoten anging, dass auch hier Autorität – die das BVerfG sich erst selbst erarbeiten musste – lange Zeit mit Entscheidungen ohne öffentlichen Widerspruch in einen Zusammenhang gebracht wurde. Und auch heute spricht einiges dafür, dass einstimmige Gerichtsentscheidungen eine besonders starke Autorität aufweisen. Dies ist aber kein Automatismus und es ist damit auch nicht gesagt, dass einstimmige Entscheidungen „besser“ sind und das Ziel einer jeden Senatsberatung sein müssen. Ebenso ist es fernliegend, von einstimmigen Entscheidungen automatisch eine verbesserte Akzeptanz oder Befriedung zu erwarten. Empirisch konnte nachgewiesen werden, dass die Abgabe von abweichenden Meinungen bei Senatsentscheidungen am BVerfG die Ausnahme darstellt. Das Gericht bemüht sich erkennbar darum, möglichst von allen Richter*innen getragene Entscheidungen zu fällen. Beim Zweiten Senat ergibt sich dabei ein grundsätzlich höheres Niveau der Sondervotenzahlen, bei beiden Senaten ist die Entwicklung sehr volatil. Daneben wurde gezeigt, dass die abweichende Meinung von einzelnen Richter*innen dominiert, es also nur wenige Fälle gibt, in denen „Gruppen“ von Richter*innen ein gemeinsames Votum abgegeben haben. Zudem gibt es bei der Großzahl der Fälle nur eine einzelne abweichende Meinung pro Entscheidung. Sondervoten werden überwiegend als dissenting opinion verfasst, während die concurring opinion die Ausnahme bildet. Bei den Richter*innen ist das Sondervotum breit akzeptiert; über 80 % der Richter*innen, die dazu in ihrer Amtszeit Gelegenheit hatten, haben sich an mindestens einem Sondervotum beteiligt. Die Betrachtung der Praxis hat ferner offenbart, dass das Sondervotum vielerlei Funktionen einnehmen kann: Es befreit die Entscheidungsbegründung von einer überfordernden Erwartung an deren Vollständigkeit. Es fördert die Diskursoffenheit von Verfassungsrechtsprechung, indem es andere Verfassungsinterpretationen offenlegt und gesellschaftlich-politische Konflikte be-
D. Ergebnisse und Ausblick
265
gleitet. Letzteres ist für das Gericht nicht ohne Risiken verbunden, da es in die heiklen Konfliktlinien hineingerät und sich stark angreifbar macht. Dies liegt aber weniger am Sondervotum als vielmehr an der starken Stellung des BVerfG, das in vielen politischen Konflikten zu einer rechtlichen Überprüfung angerufen wird. Der politische Diskurs ist in Deutschland sehr stark „verfassungs-verrechtlicht“,1 weshalb es Strategien bedarf, wie das Gericht mit dieser Rolle umgehen kann. Sind Konflikte nicht autoritativ lösbar, was oft der Fall sein dürfte, gilt es, Diskurse nicht zu verhindern sondern angemessen zu begleiten. Dabei kann das Sondervotum helfen. Darüber hinaus verhindert die abweichende Meinung Verschleierungen, indem es bei strittigen Fragen den Finger in die Wunder legt. Mitunter wird versucht, mittels Sondervoten bestehende Rechtsprechungslinien aufzubrechen. Insbesondere sind abweichende Meinungen aber ein Warninstrument, indem auf das Abweichen von einer Rechtsprechungslinie hingewiesen wird. Es dient der Reflexion der Richter*innen über die Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit. Und letztlich wird dem Sondervotum intern eine Konsensförderungsfunktion zugewiesen und dies bereits präventiv durch die abstrakte Möglichkeit oder Ankündigung einer abweichenden Meinung. Nach einer eingehenden Analyse der Praxis des BVerfG ist zu konstatieren, dass das richterliche Sondervotum Ausdruck eines demokratischen Pluralismus im Verfassungsrecht ist. Es führt uns vor Augen, dass hinter der Interpretation der Verfassung ein diskursiver Prozess steht, der von Individuen, nicht von objektiven Institutionen, bestimmt wird. Damit ist das Sondervotum eines der prominentesten Beispiele von Subjektivität im Recht. Diese Arbeit soll auch einen Beitrag dazu leisten, die oft überzogenen Erwartungshaltungen an die Rolle des BVerfG kritisch zu hinterfragen. Insbesondere die Zuschreibung einer Integrationsfunktion muss angesichts der Grundbedingungen moderner pluralistischer Gesellschaften ein Gericht zwangsläufig überfordern. Für das legitime Ziel der Integration sollten sich vielmehr die politischen Akteure verantwortlich zeichnen. Zudem soll diese Untersuchung auch als ein Impuls verstanden werden, sich mit Sondervoten stärker zu beschäftigen. Die Rechtswissenschaft sollte insbesondere beobachten, inwiefern das Gericht frühere Sondervoten nutzbar macht. Dies kann dazu beitragen, die Rechtsprechung des Gerichts noch differenzierter und kritisch zu begleiten. Weitere Forschungsfelder bleiben durch diese Arbeit unbearbeitet. Für den nationalen Bereich ergibt sich insbesondere die Fragestellung, ob dieses Instrument eigentlich auch für andere Gerichtsbarkeiten einen Mehrwert schaffen 1 Vgl. zu den Folgen dieses Phänomens im Kontext mit der Corona-Pandemie Heinig/ Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 2020, S. 861, insbes. 863 ff. Zu den Folgen dieses politischen Diskurses erhellend: Grimm, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, 61, 74 f.
266
D. Ergebnisse und Ausblick
würde.2 Diese schwierige Frage sprengt den hier leistbaren Rahmen, sollte von der Rechtswissenschaft und Praxis allerdings wieder in den Blick genommen werden. Studien aus den USA zeigen, dass die Abgabe einer dissenting opinion bei einem court of appeal Auswirkungen auf die Überprüfung durch den Supreme Court haben können.3 Wäre dies auch in Deutschland denkbar? Immerhin hat man sich hierzulande bereits in den 1960er Jahren mit der Einführung des Sondervotums in der Fachgerichtsbarkeit auseinandergesetzt und eine Mehrheit auf dem Juristentag hatte sich sogar für die Einführung des Sondervotums bei allen Bundesgerichten ausgesprochen. Die Retrospektive der BVerfG-Praxis mag einen Anlass dafür bieten, sich diesem Thema wieder vermehrt zu stellen. Dabei müssen aber unbedingt die Besonderheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit beachtet werden – eine unkritische Übertragung der hier vorgelegten Ergebnisse auf die Gerichtsbarkeit insgesamt sollte vermieden werden. Auch bei der Umgestaltung von Gerichtsbarkeit im Rahmen der Digitalisierung können die hier angestellten Überlegungen einen beachtenswerten Aspekt darstellen. Wer Richter*innen durch automatisierte Systeme (teilweise) ersetzen möchte, muss sich fragen lassen, ob und wie er dabei den Widerspruch einzelner Richter*innen berücksichtigen möchte.4 Für den europäischen Rechtsbereich ergibt sich insbesondere die Frage, ob die Einführung von Sondervoten beim EuGH forciert werden sollte. Auf den Ergebnissen dieser Arbeit aufbauend könnte untersucht werden, inwiefern abweichende Meinungen für die europäische Rechtsprechung – auch für den Dialog mit den nationalen Verfassungsgerichten – einen wertvollen Beitrag liefern könnten. Immerhin können schon heute bei anderen internationalen Gerichten wie dem EGMR und dem IGH abweichende Voten abgegeben werden. Gibt es durchschlagende Gründe, warum dies beim EuGH nicht möglich sein sollte? Würde es die Autorität des Gerichts, das so sehr auf die Akzeptanz und Überzeugungskraft seiner Entscheidung in den Mitgliedsstaaten abhängig ist, zu sehr gefährden? Oder kann das BVerfG ein Beispiel dafür bieten, dass die Einführung von abweichenden Meinungen nicht zwingend mit einem Autoritätsverlust einhergehen muss? All diese Fragen verdienen eine grundlegende wissenschaftliche und politische Diskussion. 2 Die Relevanz der Frage, ob Sondervoten auch außerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit einen Platz finden sollten und sogar einen positiven Beitrag leisten können, ist besonders deshalb eine spannende, weil Kollegialgerichte in der deutschen Gerichtsbarkeit die „Regel“ sind, Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, S. 4 und 33 ff. 3 Sunstein, Why Societies Need Dissent, S. 180 f.: „A dissenting opinion might catch the attention of the Supreme Court and lead to reversal; court of appeals decisions are more likely to be reviewed if one judge dissents. A dissenter might act as a kind of whistleblower.“ 4 Instruktiv zur Debatte um den Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Gerichtsbarkeit Dreyer/Schmees, CR 2019, S. 758 ff.
E. English Summary Judges of the German Federal Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht) are allowed to publish dissenting and concurring opinions (Sondervoten) on Senate decisions, Section 30 (2) Federal Constitutional Court Act (Bundesverfassungsgerichtsgesetz). This judicial instrument was newly inserted in December 1970. In German law, it is uncommon to allow judges in collegial courts to deliver dissenting opinions. A discussion in the German legal sphere began as early as the end of the 19th century. For a long time, however, the supporters of this judicial instrument were unable to gain acceptance. Since the founding of the Federal Republic of Germany, the Basic Law (Grundgesetz) and the Bundesverfassungsgericht had to consolidate themselves first, reform proposals for the special vote triggered defensive reactions among many political office holders and also the majority of constitutional judges. The Social Democratic Party (SPD) in particular fought persistently for this project until it was finally realized in 1970. The Sondervotum has its origins in Anglo-American law. The dissenting and concurring opinions have a long tradition in the U. S. Supreme Court. Until the middle of the 20th century, it was very cautious in its use of the dissenting opinion – a practice that is almost inconceivable in view of today’s situation. Empirical evidence has shown that the delivery of dissenting and concurring opinions at the Bundesverfassungsgericht is rare. The court makes a recognizable effort to reach decisions that are supported by all judges as far as possible. The dissenting or concurring opinion of the single judge dominates, so there are only a few cases in which groups of judges have issued a joint vote. Moreover, in the vast majority of cases, there is only a single dissenting or concurring opinion per decision. Sondervoten are predominantly written as dissenting opinions, while concurring opinions are the exception. The Sondervotum is widely accepted among the judges; more than 80 % of the judges who have had the opportunity to do so in their term of office have participated in at least one dissenting or concurring opinion. The rate of participation is significantly higher in the Second than in the First Senate. The Sondervotum can take on many different functions: It frees the reasoning of the decision from an overburdening expectation of its completeness. It pro-
268
E. English Summary
motes the discourse openness of constitutional jurisprudence by revealing other interpretations of the constitution and accompanying socio-political conflicts. Moreover, Sondervoten prevent cover-ups by putting its finger in the wounds of controversial issues. Sometimes, Sondervoten attempt to break up existing lines of jurisprudence. In particular, however, they are a warning tool by pointing out the divergence from settled case law. It serves to make judges reflect on the limits of their own jurisdiction. And ultimately, the Sondervotum is internally assigned a consensus-building function, and this already preventively through the abstract possibility or announcement of a dissenting opinion. After a detailed analysis of the practice of the Bundesverfassungsgericht, it can be stated that the judicial Sondervotum is an expression of democratic pluralism in constitutional law. It brings to our attention that the process of interpreting the Constitution is a discursive one, determined by individuals, not by objective institutions. Thus, the Sondervotum is one of the most prominent examples of subjectivity in law.
F. Anhang Anhang I: Chronologische Übersicht der Senatsentscheidungen mit Sondervoten Die Informationen wurden aus der offiziellen Entscheidungssammlung des BVerfG eigenhändig erhoben. Dabei sind alle Entscheidungen bis einschließlich 2020 berücksichtigt. Gemeinsame Sondervoten von Richter*innen sind mit einem Schrägstrich aufgeführt, eigenständige Sondervoten werden durch ein Komma getrennt. Die Beschreibung des Inhalts der jeweiligen Entscheidung ist der Übersicht über die Entscheidungsbände auf der Website des BVerfG entnommen.1 Ein Sondervotum wird dann als eigenständige abweichende Meinung gezählt, wenn sie in der offiziellen Entscheidungssammlung eine eigene Überschrift erhält. Die Kategorisierung als dissenting oder concurring opinion wurde vom Autor nach eigener Wertung vorgenommen, da die Richter*innen die Ausrichtung ihrer abweichenden Meinung nicht immer ausdrücklich offenlegen. Dissenting opinions werden auch als solche bezeichnet, wenn sie, was oft vorkommt, gleichzeitig die Begründung einer Senatsentscheidung angreifen.
1 Abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Entscheidungen/Entschei dungen/Amtliche%20Sammlung%20BVerfGE.html (zuletzt abgerufen am 21.12.2021).
Seuffert (concurring)
Geller/Rupp (concurring), Geiger/Rinck/Wand (dissenting)
2 BvL
2 BvF, BvR
Kürzung des Witwengeldes bei Altersunterschied der Ehegatten (saarländisches Beamtengesetz); Anwendung der Kürzungsbestimmungen auf bei Inkrafttreten des Gesetzes vorhandene Versorgungsempfänger
Tätigkeit der Rundfunkanstalten als Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben; keine Umsatzsteuer für Veranstaltung von Rundfunksendungen
Versagung des rechtlichen Gehörs (Rechtsmittelbelehrung über konkrete Berechnung einer Anfechtungsfrist)
Verhängung von Jugendarrest nach Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer wegen einer vor der Anerkennung begangenen Befehlsverweigerung
E 31, 94
E 31, 314
E 31, 388
E 32, 40
2 BvR
2 BvR
Seuffert (dissenting)
2 BvL
Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen (rückwirkender Progressionsvorbehalt)
E 30, 272
Geller/Rupp (dissenting), Seuffert (dissenting)
Seuffert (dissenting)
Stein (dissenting), Rupp-v. Brünneck (dissenting)
1 BvR
Konflikt zwischen Kunstfreiheitsgarantie und verfassungsrechtlich geschütztem Persönlichkeitsbereich („Mephisto“-Roman)
Geller/Rupp/Wand (dissenting)
E 30, 173
2 BvR
Wiederaufnahmeverfahren: Mitwirkung eines am Revisionsurteil beteiligten Richters
Leibholz/Geiger/ Rinck (dissenting)
Geller/v. Schlabrendorff/Rupp (dissenting)
Beteiligte Richter*innen
E 30, 165
Wiederaufnahmeverfahren: Mitwirkung eines Ergänzungsrichters 2 BvR aus der Hauptverhandlung und eines an der Eröffnung des Hauptverfahrens beteiligten Richters
1971 E 30, 149
2 BvF, BvR
Senat/ Verfahren
Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs; Nachprüfung von Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses
Verfahrensgegenstand
1970 E 30, 1
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
270 F. Anhang
1 BvL
2 BvF
Verbot der Einfuhr von Filmen, deren Inhalt unter anderem tendenziell auf die Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtet ist; Kunstfreiheit und Staatsschutz; Zensur: Vorzensur
Unentziehbares „Hausgut“ der Länder im Bundesstaat; volle verfassungsrechtliche Nachprüfung des bundesfreundlichen Verhaltens bei Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Besoldungs- und Versorgungsrechts der Landesbeamten; Inkrafttreten der Ermächtigungsnorm spätestens zur Zeit der Verkündung eines ermächtigten Gesetzes; Beginn der Bundesgesetzgebung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz schließt Landeskompetenz aus; 1. (Bundes-) Besoldungsvereinheitlichungs- und Neuregelungsgesetz; 1. Hess. Besoldungsanpassungsgesetz
E 34, 9
2 BvR
E 33, 52
Schutz der Glaubensüberzeugung, die auch den ohne Anrufung Gottes zu leistenden Zeugeneid ablehnt
Hessisches Gesetz über Amtsbezüge der Richter und Staatsanwälte (Amtsbezüge; Amtsbezeichnungen)
E 32, 199
1972 E 33, 23
2 BvR
Wiedergutmachung (BWGöD), weil aus Gründen der NS-Verfolgung eine Habilitation als Hochschullehrer nicht zu Ende geführt werden konnte
E 32, 173
2 BvF
Hessisches Abgeordnetenentschädigungsgesetz; Abgeordnetenru- 2 BvR hegeld (Stichtagsregelung)
E 32, 157
1 BvR
Ausschluß der „Österreichfälle“ von der Entschädigung für Verfolgungsschäden in Vertreibungsgebieten
E 32, 111
Seuffert/Hirsch/Geiger (dissenting)
Rupp-v. Brünneck/Simon (dissenting)
v. Schlabrendorff (dissenting)
Geller/Rupp/Wand (dissenting), Geiger (concurring), Seuffert (concurring), Leibholz (concurring), Rinck (concurring)
Geller/Wand (dissenting)
Leibholz/v. Schlabrendorff/ Rinck (dissenting)
Rupp-v. Brünneck (dissenting)
Anhang I
271
Grundlagenvertrag; Zweiter Antrag auf Ablehnung des Richters Dr. Rottmann
Bundeszentralregister; beschränkte Übernahme von Strafregistereintragungen in Bundeszentralregister; Frist für Tilgung von Strafvermerken; Verwertungsverbot nach Tilgung
Nachentrichtung von Beiträgen durch weibliche Versicherte der Angestelltenversicherung, denen aus Anlaß der Heirat Beiträge erstattet worden sind
Wichtiger Grund für eine nach Eröffnung des Hauptverfahrens sechs Monate übersteigende Untersuchungshaft (Überlastung des Landgerichts mit Schwurgerichtssachen)
E 35, 246
E 36, 174
E 36, 237
E 36, 264
Geltung einer mit einer Norm des Grundgesetzes übereinstimmenden Landesverfassungsnorm
Grundlagenvertrag; Erster Antrag auf Ablehnung des Richters Dr. 2 BvQ Rottmann
E 35, 171
1974 E 36, 342
Mitbestimmung an Hochschulen; Gruppenuniversität
E 35, 79
v. Schlabrendorff/Geiger/Rinck (concurring)
2 BvR
Geiger (concurring), Seuffert (concurring)
Rupp-v. Brünneck (dissenting)
1 BvL
2 BvN
Seuffert (concurring)
Seuffert/Hirsch/Rupp (dissenting)
Wand (concurring)
Simon/Rupp-v. Brünneck (dissenting)
v. Schlabrendorff (dissenting)
2 BvL
2 BvF, BvQ
1 BvR
2 BvL
Anrechnung des Verschuldens des Prozeßbevollmächtigten an der Versäumung einer Berufungsfrist auch in Kindschaftssachen
Wand (dissenting)
2 BvR
E 35, 41
Beteiligte Richter*innen
Senat/ Verfahren
Zulassung als Rechtsanwalt durch Aushändigung der Urkunde trotz – vorläufigen – Fehlens der Vereidigung; Vertretungsbefugnis in Entschädigungssachen vor dem Oberlandesgericht durch einen Rechtsanwalt, der vor dem Landgericht in derselben Sache tätig war
Verfahrensgegenstand
1973 E 34, 325
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
272 F. Anhang
Normenkontrollverfahren wegen Unvereinbarkeit von Recht der EG mit Grundrechten des GG
Zur Frage der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes, das ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz ändert; Viertes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (flexible Altersgrenze)
Befreiung vom Wehrdienst für die Wehrpflichtigen, deren sämtliche Brüder an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 91 Soldatenversorgungsgesetz verstorben sind
E 37, 271
E 37, 363
E 38, 154
Schwangerschaftsabbruch; „Fristenlösung“
„Radikale“ als Beamte und als Angestellte im öffentlichen Dienst; Übernahme eines Rechtskandidaten in den Referendarvorbereitungsdienst
Vorschaltverfahren vor Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Strafvollzugssachen (Nordrhein-Westfalen)
E 39, 1
E 39, 334
E 40, 237
Beschränkung des passiven Wahlrechts für leitende Angestellte eines privaten, von der öffentlichen Hand beherrschten Unternehmens; Saarländisches Landtagsgesetz
Gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit einer Tat; Mineralölsteuerhinterziehung (Vorschriften über unversteuerte Lagerung von Mineralöl im Steuerlager)
E 37, 201
1975 E 38, 326
Anrechnung von Bezügen aus einer genehmigten Nebentätigkeit, die ein Beamter während seiner vorläufigen Dienstenthebung bezogen hat, auf die nach Abschluß des Disziplinarverfahrens erfolgte Nachzahlung der während des Disziplinarverfahrens einbehaltenen Dienstbezüge
E 37, 167
Seuffert (dissenting)
Seuffert (concurring), Rupp (concurring), Wand (concurring)
Rupp-v. Brünneck/Simon (dissenting)
Seuffert (dissenting), Wand (dissenting)
Seuffert/Hirsch (concurring)
v. Schlabrendorff/Geiger/Rinck (concurring), v. Schlabrendorff (dissenting)
Rupp/Hirsch/Wand (dissenting)
Seuffert/Hirsch (dissenting)
Hirsch (dissenting)
Anhang I
2 BvR
2 BvL
1 BvF
2 BvR
2 BvL
2 BvF
2 BvL
2 BvR
2 BvR
273
Politische Betätigung in der Bundeswehr für eine politische Gruppe
Notkompetenz des Bundesministers der Finanzen nach Art. 112 GG
E 44, 197
E 45, 1
Eingriff der Bundesregierung in den Bundestagswahlkampf 1976 durch als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnete Maßnahmen
1977 E 44, 125
2 BvE
2 BvR
2 BvE
2 BvR
Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums; Entlassung eines Beamten auf Probe ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles
E 43, 154
Geiger (concurring)
2 BvR
Niebler (concurring)
Rottmann/Geiger (dissenting), Hirsch (dissenting)
Geiger/Hirsch (dissenting), Rottmann (dissenting)
Wand/Niebler (dissenting)
Rupp-v. Brünneck (dissenting), Simon (dissenting)
Hirsch (dissenting)
2 BvR
Grenzen verfassungsgerichtlicher Nachprüfung von Entscheidun- 1 BvR gen der ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten; Zulässigkeit herabsetzender Werturteile im Rahmen politischer Auseinandersetzungen
Seuffert (dissenting)
2 BvR
E 42, 143
Beteiligte Richter*innen
Senat/ Verfahren
Willkürliche Auslegung und Anwendung von Verfahrensrecht als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG; Verletzung der richterlichen Frage- und Aufklärungspflicht
Vollzug der im Strafurteil angeordneten Sicherungsverwahrung vor einer Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Erforderlichkeit des Vollzugs dieser Maßregel
Abgeordnetenentschädigung als Alimentation mit dem Charakter von Einkommen; Besteuerung der Abgeordnetendiäten; Beamtengehalt oder -ruhegeld während Zugehörigkeit zum Parlament; Bezüge von Abgeordneten aus einem Angestelltenverhältnis, Beratervertrag u. ä.
Verfahrensgegenstand
E 42, 64
1976 E 42, 1
E 40, 296
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
274 F. Anhang
Verfassungswidrigkeit der „Wehrpflichtnovelle“; Recht der Kriegsdienstverweigerung
Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter am Bundessozialgericht 2 BvR an Entscheidungen über unzulässige Nichtzulassungsbeschwerden
Effektiver Rechtsschutz bei der Zwangsversteigerung von Grund- 1 BvR stücken
Zurückführung der geschiedenen, ihren früheren Ehegatten nicht unterhaltspflichtigen Beamten in Ortszuschlagsstufe 1
Erhebung einer Abgabe zur Deckung der durch eine Neuordnung der Gemeindeverhältnisse infolge von Baumaßnahmen erforderlichen Aufwendungen (Schleswig-Holstein)
E 48, 127
E 48, 246
E 49, 220
E 49, 260
E 49, 343
Hirsch (dissenting) Hirsch (dissenting)
2 BvR
Böhmer (concurring)
Hirsch (dissenting)
Hirsch (dissenting)
2 BvL
2 BvF
Niebler (dissenting)
2 BvR
Wählbarkeit zum Gemeinderat oder Stadtrat von Beamten und hauptberuflichen Angestellten von juristischen Personen des öffentlichen oder Privatrechts mit mehr als 50 %iger Beteiligung einer Gemeinde
E 48, 64
Steinberger (dissenting)
2 BvL
Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen bei Verkündung; rückwirkende Inkraftsetzung des Inhalts einer nichtigen Verordnung durch Gesetz
1978 E 48, 1
Simon (dissenting)
1 BvR
Kein Abzug der Aufwendungen für eine zur Betreuung der Kinder von berufstätigen Ehegatten angestellte Hausgehilfin als Betriebsausgaben oder Werbungskosten
E 47, 1
Hirsch (dissenting)
2 BvR
Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen über vorläufige Dienstenthebung und Einbehaltung der Dienstbezüge; offenkundige Verschleppung eines Disziplinarverfahrens
E 46, 17
Geiger (concurring)
2 BvR
Ermächtigung zum Erlaß rückwirkender Verordnungen (Beschränkung der Intervention für Weichweizen und Gerste nach Art. 7 VO Nr. 120/67/EWG)
E 45, 142
Anhang I
275
Buchführungsprivileg der steuerberatenden Berufe
Berufsausbildungsabgabe nach dem Ausbildungsplatzförderungs- 2 BvF gesetz
E 54, 301
E 55, 274
1 BvR
2 BvR
Staatsangehörigkeit der in der NS-Zeit ausgebürgerten Personen
E 54, 53
2 BvR
Staatliche Anordnung über Struktur und Organisation von Krankenhäusern, die von Religionsgesellschaften oder ihnen gleichgestellten oder ihnen zuzuordnenden Einrichtungen betrieben werden, als Verletzung der verfassungsrechtlichen Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Krankenhausgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen)
1980 E 53, 366
Rinck/Steinberger/Träger (concurring), Rottmann (dissenting), Hirsch (dissenting), Niebler (concurring)
Niemeyer (dissenting)
Hirsch (dissenting)
Rottmann (dissenting)
Simon/Heußner (dissenting)
1 BvR
Friedliche Nutzung der Atomenergie; Grundrechtsverletzung durch Außerachtlassung der vom Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG erlassenen atomrechtlichen Verfahrensvorschriften
E 53, 30
Hirsch/Niebler/Steinberger (dissenting)
Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Handhabung des Beweisrechts in Arzthaftungsprozessen; ärztliche Aufklärungspflicht
E 52, 131 2 BvR
Rottmann (dissenting), Hirsch (dissenting)
2 BvR
Ausschluß eines dem Rat einer Gemeinde angehörenden Rechtsanwalts als Prozeßbevollmächtigten eines gegen die Gemeinde klagenden Dritten
E 52, 42
Beteiligte Richter*innen Katzenstein (concurring), Faller/Niemeyer (dissenting)
Senat/ Verfahren 1 BvR
Verfahrensgegenstand
Auszahlung von Renten aus der Sozialversicherung an im Ausland lebende Ausländer
1979 E 51, 1
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
276 F. Anhang
Unterschiedliche Berechnung der Beschäftigungsdauer bei Arbeitern und Angestellten als Voraussetzung für die Verlängerung der Kündigungsfrist
Begrenzung der Bewertung der Ausbildungs-Ausfallzeiten bei Renten- und Rentenanwartschaftsrechten auch für Personen, die 1972 freiwillig der gesetzlichen Rentenversicherung als Pflichtversicherte beigetreten sind oder als solche vom Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen Gebrauch gemacht haben
E 58, 81
E 62, 256
Kontrolle des Briefverkehrs in der Untersuchungshaft zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern
E 57, 170
Berücksichtigung der Freiheit des Rundfunks bei der Entscheidung, ob die Rechtsbeziehungen zwischen den Rundfunkanstalten und bestimmten, in der Programmgestaltung tätigen „ständigen freien Mitarbeitern“ als unbefristete Arbeitsverhältnisse einzuordnen sind
Gesetzmäßigkeit der Enteignung nur bei Anwendung desjenigen Enteignungsgesetzes, das der nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes für den jeweiligen Sachbereich zuständige Gesetzgeber erlassen hat (Dürkheimer Gondelbahn)
E 56, 249
1982 E 59, 231
Einstweilige Anordnung; Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung eines Rechtsanwalts für den Beschuldigten im Privatklageverfahren
Auskunftspflicht des Gemeinschuldners im Konkursverfahren
Festsetzung von Lärmschutzbereichen für die Umgebung militärischer Flugplätze durch eine Bundesverordnung (militärischer Flugplatz Memmingen)
E 56, 185
1981 E 56, 37
E 56, 298
Heußner (concurring)
1 BvR
Katzenstein (dissenting)
Benda/Katzenstein (dissenting)
1 BvR
1 BvL
Hirsch (concurring), Wand (dissenting), Niebler (dissenting)
Böhmer (concurring)
Hirsch (dissenting)
Heußner (dissenting)
Wand/Niebler (dissenting), Hirsch (concurring)
2 BvR
1 BvR
2 BvR
1 BvR
2 BvR
Anhang I
277
Mahrenholz (concurring)
2 BvR
E 70, 35
1985 E 69, 1
Rechtsweg gegen als Gesetz erlassene Bebauungspläne der Freien und Hansestadt Hamburg
Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung
2 BvR
2 BvF
Steinberger (dissenting)
Mahrenholz/Böckenförde (dissenting), Mahrenholz (dissenting)
Mahrenholz (dissenting)
2 BvE
E 68, 1
Kein Verstoß der Bundesregierung gegen Rechte des Bundestages durch Zustimmung zur Aufstellung von nuklearbestückten amerikanischen Mittelstreckenraketen der Bauart Pershing-2 und von Marschflugkörpern
Steinberger/Böckenförde (dissenting)
Übergangsregelung bei der Herabsetzung des Emeritierungsalters 2 BvL (Nordrhein-Westfalen)
E 67, 1
Katzenstein (dissenting)
Simon (concurring)
Zeidler (concurring), Rinck (dissenting), Rottmann (dissenting)
Beteiligte Richter*innen
1 BvR
2 BvE
Senat/ Verfahren
Aufteilung der Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversiche- 1 BvR rung zwischen der Witwe und der unterhaltsberechtigten Ehefrau des Versicherten aus einer früheren Ehe des Versicherten im Verhältnis der Ehedauer
Berücksichtigung der besonderen Schwere der Tatschuld bei der Entscheidung über die Gewährung von Urlaub aus der Haft für einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen
E 64, 261
1984 E 66, 66
Versagung der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft; keine nachteilige Berücksichtigung des aktiven Eintretens für eine als verfassungsfeindlich angesehene Partei bei nicht gleichzeitig strafbarer Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten nach negativer Beantwortung einer Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG
Verfahrensgegenstand
E 63, 266
1983 E 62, 1
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
278 F. Anhang
Niebler (dissenting)
2 BvR 1 BvL 2 BvR
Verweisung im Sozialplan auf Tarifvertrag (Barabgeltung für Hausbrandkohle)
Genereller Ausschluß der Studenten vom Bezug des Arbeitslosengeldes
E 73, 261
E 74, 9
Einbürgerung in die DDR mit der Rechtsfolge des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne der Art. 116 Abs. 1, 16 Abs. 1 GG
2 BvE/ BvR
Steuerliche Abzugsfähigkeit von Mitgliedsbeiträgen und Spenden an politische Parteien; Chancenausgleichsregelung bei Parteispenden und Beitragsaufkommen; Beschränkung der Wahlkampfkostenerstattung
E 73, 40
1987 E 77, 137
Katzenstein (dissenting)
2 BvF
Länderfinanzausgleich (horizontaler) und Bundesergänzungszuweisungen
E 72, 330
Niebler (dissenting)
Böckenförde/Mahrenholz (dissenting)
Niebler (dissenting)
Steinberger (dissenting)
2 BvL
Änderung einkommensteuerrechtlicher Vorschriften mit Wirkung für einen bereits laufenden Veranlagungszeitraum; Außensteuergesetz; Gesetz zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen 1971
E 72, 200
Katzenstein (dissenting)
1 BvR
Einlegung von Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz vor Erlaß eines besonderen Vollziehungsaktes (Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz)
Mahrenholz (dissenting), Böckenförde (dissenting)
E 72, 39
2 BvE
Beratung und Bewilligung der in den Wirtschaftsplänen der Nachrichtendienste enthaltenen Veranschlagungen durch ein besonderes mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewähltes Gremium ohne Beteiligung der Fraktion DIE GRÜNEN
1986 E 70, 324
Anhang I
279
Mahrenholz (dissenting)
Winter (dissenting)
2 BvR
2 BvE
Verletzung der Unschuldsvermutung bei Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO; Unschuldsvermutung und Auslagenentscheidung nach § 467 Abs. 4 StPO
Einstweilige Anordnung (Unterschriftenquorum für Einreichung von Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten bei der ersten gesamtdeutschen Wahl)
Durchführung einer nicht angemeldeten (Eil)Versammlung unter freiem Himmel
Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer wegen Mordes verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung
E 82, 106
E 82, 353
1991 E 85, 69
1992 E 86, 288
2 BvR
1 BvR
Böckenförde/Klein (dissenting)
2 BvR
Ausschluß oder Befangenheit eines Richters des Bundesverfassungsgerichts (Erstattung eines Gutachtens über Verfassungsmäßigkeit des zu prüfenden Gesetzes vor seiner Wahl zum Bundesverfassungsrichter)
1990 E 82, 30
Mahrenholz (concurring), Winter (concurring)
Seibert/Henschel (dissenting)
Mahrenholz (concurring), Kruis (dissenting)
Grimm (dissenting)
2 BvE
1 BvR
Henschel (dissenting)
Rechtsstellung eines fraktionslosen Abgeordneten des Deutschen Bundestages
1 BvR
Henschel (concurring)
Reiten im Walde
Antwort-Wahl-Verfahren (Multiple-Choice-Verfahren) als Form der Ärztlichen Prüfung
1989 E 80, 1
1 BvL
Mahrenholz (dissenting)
Beteiligte Richter*innen
E 80, 188
Verpflichtung der Ehegatten zur Führung eines gemeinsamen Familiennamens
1988 E 78, 38
2 BvR
Senat/ Verfahren
E 80, 137
Lagerung chemischer Waffen (C-Waffen) auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie etwaiger Einsatz dieser Waffen
Verfahrensgegenstand
E 77, 170
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
280 F. Anhang
Strafbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit und des militärischen Nachrichtendienstes der ehemaligen DDR wegen der gegen die Bundesrepublik oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit
Kruzifixe und Kreuze in staatlichen Pflichtschulen in Bayern
Rechtsmittelbelehrung bei zivilgerichtlichen Urteilen und Wiedereinsetzung bei verspäteter Weiterleitung einer fristgerecht beim unzuständigen Gericht eingereichten Berufungsbegründung an das zuständige Berufungsgericht
Vermögensteuerliche Belastung von einheitswertgebundenen Grundbesitz
E 92, 277
E 93, 1
E 93, 99
E 93, 121
Sitzblockade
Verfassungsmäßigkeit der Regelung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und Anrechnung der Zeit der Unterbringung
E 91, 1
1995 E 92, 1
Adria-, AWACS- und Somalia-Einsatz der Bundeswehr
Umgang mit Cannabisprodukten
1994 E 90, 145
E 90, 286
Schwangerschaftsabbruch; strafrechtliche, sozialversicherungsrechtliche und organisationsrechtliche Vorschriften des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes
Keine Zuständigkeit des Richterdienstgerichts des Freistaates Sachsen zur Überprüfung der Entscheidungen der Richterwahlausschüsse über die Übernahme von Richtern der ehemaligen DDR
1993 E 88, 203
E 87, 68
2 BvL
1 BvR
Böckenförde (concurring)
Kühling (concurring)
Seidl/Söllner/Haas (dissenting), Haas (dissenting)
Klein/Kirchhof, P./Winter (dissenting)
2 BvL/ BvR
1 BvR
Seidl/Söllner/Haas (dissenting)
Graßhof (dissenting)
Böckenförde/Kruis (dissenting)
Graßhof (concurring), Sommer (dissenting)
Mahrenholz/Sommer (dissenting), Böckenförde (dissenting)
Böckenförde/Graßhof/Kirchhof, P. (dissenting)
1 BvR
2 BvL/BvR
2 BvE
2 BvL/BvR
2 BvF
2 BvL
Anhang I
281
2000 E 102, 41
1999
Ungleich hohe Beschädigtengrundrente an Kriegsopfer in den alten und neuen Bundesländern
Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz
Umfang der Arbeitspflicht im Strafvollzug, Bemessung des Arbeitsentgelts und sozialversicherungsrechtliche Stellung der Gefangenen
1998 E 98, 169
E 98, 265
Aufhebung der Einkommensteuerförderung (Sonderabschreibungen) für Handelsschiffe ab 25. April 1996 aufgrund des am 7. November 1996 vom Bundestag beschlossenen Jahressteuergesetzes
1997 E 97, 67
Befristete Arbeitsverträge mit wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen
E 94, 268
Asylrecht, Sichere Herkunftsstaaten
1996 E 94, 115
Asylrecht, Flughafenverfahren
„Soldaten sind (potentielle) Mörder“
E 93, 266
E 94, 166
Ablehnung der Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung; Ablehnung der vorläufigen Aufenthaltserlaubnis für Asylbewerber und Einreiseverweigerung (Sudanesen)
Verfahrensgegenstand
E 93, 248
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
1 BvR
1 BvR
2 BvR/BvL
2 BvR
1 BvR
2 BvR
2 BvR
1 BvR
2 BvR
Senat/ Verfahren
Kühling/Jaeger/ Hohmann-Dennhardt (concurring)
Papier/Graßhof/Haas (dissenting), Kühling/Jaeger (dissenting)
Kruis (concurring)
Kruis (dissenting)
Kühling (dissenting)
Limbach/Böckenförde/Sommer (dissenting)
Limbach (dissenting), Böckenförde (dissenting), Sommer (dissenting)
Haas (dissenting)
Sommer (dissenting)
Beteiligte Richter*innen
282 F. Anhang
E 108, 282
Kopftuch im Unterricht
2 BvR
2 BvR
2 BvF
Abstimmungsverfahren im Bundesrat (Zuwanderungsgesetz)
E 106, 310 – Zuwande rungsgesetz
Auslieferung eines vanuatuischen Staatsangehörigen nach Indien zum Zwecke der Strafverfolgung
2 BvE
Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses; hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
E 106, 253
2003 E 108, 129
Papier (dissenting), Haas (concurring)
1 BvF
Lebenspartnerschaftsgesetz: Berichtigung eines Gesetzesbeschlusses; Zustimmungsrecht des Bundesrates; Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 3 Satz 1, 14 Abs. 1 GG
E 105, 313
Jentsch/Di Fabio/Mellinghoff (dissenting)
Sommer/Lübbe-Wolff (dissenting)
Osterloh/Lübbe-Wolff (dissenting)
Broß (dissenting)
Jentsch/Di Fabio/Mellinghoff (dissenting)
2 BvR
§ 43 a StGB (Vermögensstrafe) mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig
E 105, 135
Di Fabio/Mellinghoff (dissenting)
2 BvG
Haas (concurring), Jaeger/Bryde (dissenting)
Papier/Haas/Steiner (dissenting)
1 BvQ
1 BvR
Kühling/Hohmann-Dennhardt/ Hoffmann-Riem (concurring)
1 BvR
Erklärungen des Bundesumweltministeriums gegenüber den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätsbetrieben und Besprechung mit diesen über das weitere Verfahren der Nachrüstung des Kernkraftwerks Biblis
Verurteilung wegen Nötigung auf Grund der Teilnahme an einer Blockadeaktion
E 104, 92
2002 E 104, 249
Ablehnung einer Einstweiligen Anordnung: Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften (Lebenspartnerschaften)
Fernseh-Rundfunkaufnahmen in Gerichtsverhandlungen
E 104, 51
2001 E 103, 44
Anhang I
283
Broß (concurring), Lübbe-Wolff (dissenting), Gerhardt (dissenting)
2 BvR
Zu den Rechtsfolgen fehlerhafter Rechnungslegung einer Partei gemäß Art. 21 Abs. 1 GG
Grenzen der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Juniorprofessur)
Zur Vereinbarkeit der Enteignungen in der ehemaligen SBZ zwischen 1945 und 1949 mit dem Völkerrecht und zu den Folgen einer möglichen Völkerrechtswidrigkeit für die verfassungsrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik
E 111, 54
E 111, 226
E 112, 1
Nichtigkeit des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 21. Juli 2004 (BGBl I S. 1748) wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz
2 BvR
Zur Reichweite des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs bei der Überprüfung kirchlicher Maßnahmen – Nichtannahme zur Entscheidung
E 111, 1
2005 E 113, 273
Lübbe-Wolff (dissenting)
2 BvF
Anträge auf Auslagenerstattung und Festsetzung eines Gegenstandswerts im Parteiverbotsverfahren
E 110, 407
Osterloh/Lübbe-Wolff/Gerhardt (dissenting)
Di Fabio/Mellinghoff (concurring)
Lübbe-Wolff (dissenting)
2 BvR
2 BvR
Gerhardt (dissenting)
2 BvB
Haas (dissenting)
1 BvR
Anforderungen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Jaeger/Hohmann-Dennhardt (dissenting)
Broß/Osterloh/Gerhardt (dissenting)
Beteiligte Richter*innen
E 110, 339
2 BvR
Senat/ Verfahren
1 BvR
Keine Zuständigkeit der Länder zur gesetzlichen Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
Verfahrensgegenstand
E 109, 279 – Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der akustischen WohnraumGroßer Lausch- überwachung zu Strafverfolgungszwecken angriff
2004 E 109, 190
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
284 F. Anhang
Kappungsgrenze für Gegenstandswert im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz
Unvereinbarkeit der bei der Festsetzung der Versorgungsbezüge zu beachtenden Dreijahresfrist des § 5 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 BeamtVG mit dem Grundgesetz
2007 E 117, 372
E 118, 1
Vereinbarkeit der präventiven polizeilichen Rasterfahndung mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG)
E 115, 320
Zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf nicht mehr anfechtbare Entscheidung, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erachteten Interpretation oder Anwendung einer Rechtsnorm beruhen (im Anschluss an BVerfGE 89, 214)
E 115, 51
Zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes im Rahmen verwaltungsgerichtlicher Verfahren über die Genehmigung des von einem marktbeherrschenden Unternehmen für den Zugang Dritter zu seinem Telekommunikationsnetz erhobenen Entgelts durch Art. 12 Abs. 1 GG
Verfassungsmäßigkeit des Beitragssatzsicherungsgesetzes vom 23. Dezember 2002 (zur Reichweite der Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 84 Abs. 1 GG und zur verfassungsrechtlichen Beurteilung verordnungsändernder Gesetze)
E 114, 196
2006 E 115, 205
Auflösung des Deutschen Bundestages durch den Bundespräsidenten nach negativer Beantwortung der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG
E 114, 121
Gaier (dissenting)
Haas (dissenting)
1 BvR
1 BvR
1 BvR
Gaier (dissenting)
Osterloh/Gerhardt (dissenting)
Haas (dissenting)
1 BvR
2 BvL
Osterloh/Gerhardt (concurring)
Jentsch (dissenting), Lübbe-Wolff (concurring)
2 BvF
2 BvE
Anhang I
285
Zur Auslegung des Art. 110 und 115 GG, hier: Vereinbarkeit des Haushaltsgesetzes 2004 mit dem Grundgesetz
Obligatorische Teilzeitbeschäftigung im Beamtenrecht unvereinbar mit Art. 33 Abs. 5 GG (Normbestätigungsverfahren)
Verfassungsmäßigkeit der Aufgabenzuweisung in § 6 Abs. 1 Nr. 2 und der Finanzierungsregelung in § 46 Abs. 1, Abs. 5 bis 10 SGB II; Bildung von Arbeitsgemeinschaften der Agenturen für Arbeit und kommunaler Träger für Leistungen an Arbeitslose (§ 44b SGB II) Unvereinbar mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Ver. mit Art. 83 GG
Vereinbarkeit des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB (Strafbewehrung des Geschwisterinzests) mit dem Grundgesetz
E 119, 96
E 119, 247
E 119, 331
2008 E 120, 224
2009 E 122, 248
„Rügeverkümmerüng“ im Strafverfahren verfassungsgemäß
Rauchverbot in Gaststätten
Zu den Grenzen der Kunstfreiheit – Roman „Esra“
E 119, 1
E 121, 317
Keine allgemeine Regel des Völkerrechts feststellbar, nach der die Erfüllung privatrechtlicher Zahlungsansprüche wegen eines wirtschaftlichen Staatsnotstands verweigert werden kann
Verfahrensgegenstand
E 118, 124
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
2 BvR
1 BvR
Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio (dissenting), Gerhardt (concurring)
Bryde (dissenting), Masing (dissenting)
Hassemer (dissenting)
Broß/Osterloh/Gerhardt (dissenting)
2 BvR
2 BvR
Gerhardt (concurring)
Di Fabio/Mellinghof (dissenting), Landau (dissenting)
2 BvF
2 BvF
Hohmann-Dennhardt/Gaier (dissenting), Hoffmann-Riem (dissenting)
Lübbe-Wolff (dissenting)
2 BvM
1 BvR
Beteiligte Richter*innen
Senat/ Verfahren
286 F. Anhang
2 BvR
2013 E 133, 377
Landau/Kessal-Wulf (dissenting)
Lübbe-Wolff (dissenting)
Anhang I
Unvereinbarkeit der Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft in Bezug auf das Ehegattensplitting (§§ 26, 26b, 32a Abs. 5 EStG) mit Art. 3 Abs. 1 GG
Wahlberechtigung von Auslandsdeutschen allein nach einem frühe- 2 BvC ren dreimonatigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
Gaier (dissenting)
2 PBvU
E 132, 39
Gerhardt (dissenting)
Di Fabio/Mellinghoff (dissenting)
2 BvL
Gesetzgebungszuständigkeit für § 13 Abs. 3 Sätze 2 und 3, § 14 Abs. 1, 2 und 4, § 15 Luftsicherheitsgesetz i. d. F. des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005; Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen im Rahmen von Art. 35 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GG; Eilkompetenz des Bundesministers der Verteidigung für Fälle des Art. 35 Abs. 3 GG
Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation gemäß Art. 33 Abs. 5 GG; hier: Unvereinbarkeit der „W-Besoldung“ der Professoren mit dem Grundgesetz
2 BvC
E 132, 1
2012 E 130, 263
E 129, 300
Verfassungswidrigkeit der 5 %-Sperrklausel bei der Wahl des Europäischen Parlaments in Deutschland
Grundrechtsbindung von der öffentlichen Hand beherrschter gemischt wirtschaftlicher Unternehmen (hier: Meinungskundgabe und Demonstration auf dem Flughafen Frankfurt)
2011 E 128, 226
Schluckebier (dissenting)
Landau (dissenting)
2 BvR
Zu den Voraussetzungen einer Ultra-vires-Kontrolle bei vermeintlich kompetenzwidrigem Verhalten der Unionsgewalt, einer Entschädigung bei rückwirkender Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union und eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei Nichtbeachtung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV (Bestätigung von BVerfGE 82, 159 [194])
E 126, 286
1 BvR
Schluckebier (dissenting), Eichberger (dissenting)
1 BvR
Vorsorgliche Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten
2010 E 125, 260
287
Verschonung von der Erbschaftsteuer beim Übergang betrieblichen Vermögens
E 138, 136
Islamisches Kopftuch von Lehrkräften im Schulunterricht (Schulgesetz Nordrhein-Westfalen)
Prüfung des Anspruchs der Zeugen Jehovas auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts; Verfassungswidrigkeit des Art. 61 Satz 2 der Landesverfassung Bremen
E 138, 296
E 139, 321
Beschränkung der Einsatzmöglichkeiten von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen an Samstagen in Verkaufsstellen (Thüringer Ladenöffnungsgesetz)
Gaier (dissenting)
1 BvL/ Vereinbarkeit der Nichtanwendung der Anpassungsregelungen der §§ 33 und 37 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich auf BvR Anrechte aus einer Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes gem. § 32 Versorgungsausgleichsgesetz mit dem Grundgesetz
E 136, 152
2015 E 138, 261
Paulus (dissenting)
1 BvF
Vereinbarkeit des ZDF-Staatsvertrags mit dem Grundgesetz
E 136, 9
Schluckebier/Hermanns (dissenting) Voßkuhle/Hermanns/Müller, P. (dissenting)
2 BvR
Paulus (dissenting)
1 BvR
1 BvR
Gaier/Masing/Baer (concurring)
1 BvL
Müller, P. (dissenting)
2 BvE/ BvR
Verfassungswidrigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlgesetz (§ 2 Abs. 7 EuWG)
E 135, 259
Lübbe-Wolff (dissenting), Gerhardt (dissenting)
2 BvE/ BvR
Masing (dissenting)
Huber (concurring)
Beteiligte Richter*innen
Outright Monetary Transactions (OMT); hier: Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH
2014 E 134, 366
Nachträgliche, klärende Feststellung des geltenden Rechts zuläs- 1 BvL siger nur in den Grenzen einer rückwirkenden Rechtsetzung (§ 43 Abs. 18 in Verb. mit § 40a Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften)
E 135, 1
2 BvR
Senat/ Verfahren
Zur Verfassungsmäßigkeit des Therapieunterbringungsgesetz
Verfahrensgegenstand
E 134, 33
Fundstelle Jahr (BVerfGE)
288 F. Anhang
Vereinbarkeit der Ernennung von Beamten zu Richtern auf Zeit nach §§ 17 Nr. 3, 18 VwGO mit dem Grundgesetz
2018 E 148, 69
Entfernung aus dem öffentlichen Dienst durch Verwaltungsakt
BVerfGE 156, 270
Amri-Untersuchungsausschuss (Benennung von V-Person-Führer)
BVerfGE 153, 74 Einheitliches Patentgericht
BVerfGE 152, 345
2020 BVerfGE 153, 1 Kopftuch III
2019
Teilweise Verfassungswidrigkeit des Tarifeinheitsgesetzes vom 3. Juli 2015 (Art. 9 Abs. 3 GG)
E 146, 71
Verfassungswidrigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes
Zustimmungsgesetz zum Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität
E 142, 234
2017 E 145, 171
Teilweise Verfassungswidrigkeit des Bundeskriminalamtsgesetzes
Vereinbarkeit des § 50d Einkommenssteuergesetz i. d. F. vom 15. Dezember 2003 mit dem Grundgesetz trotz inhaltlichen Widerspruchs zu einem früheren Doppelbesteuerungsabkommen („Treaty Override“); innerstaatlicher Rang völkerrechtlicher Verträge
2016 E 141, 220
E 141, 1
2 BvE
2 BvR
2 BvR
2 BvR
2 BvR
1 BvR
2 BvL
2 BvR
1 BvR
2 BvL
Müller, P. (dissenting)
Langenfeld/König/Maidowski (dissenting)
Huber (dissenting)
Maidowski (dissenting)
Hermanns (dissenting)
Paulus/Baer (dissenting)
Huber/Müller, P. (concurring)
Huber (dissenting)
Eichberger (dissenting), Schluckebier (dissenting)
König (dissenting)
Anhang I
289
290
F. Anhang
Anhang II: Seit Einführung des Sondervotums tätige oder tätig gewesene Richter*innen und die Anzahl ihrer Beteiligungen an Sondervoten Die Daten über Amtszeit und Parteinominierung stützen sich auf Burkiczak/ Dollinger/Schorkopf, BVerfGG Kommentar, Anhang 4; Menzel-Müller/Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, und die Website des BVerfG. Der. Richter*innenspiegel ist auf dem Stand von Dezember 2021. Im Jahr 2021 wurden keine neuen Richter*innen ernannt. Die Anzahl der veröffentlichten Sondervoten ergibt sich aus der Zusammenstellung in Anhang I. Fett gedruckte Richter*innen haben sich in ihrer Amtszeit an keinem Sondervotum beteiligt. Berücksichtigt wurden nur die Richter*innen, die sich in ihrer Amtszeit qua Gesetz (also seit Dezember 1970) an einem Sondervotum hätten beteiligen können. Zu bedenken ist also, dass die sich noch im Amt befindenden Richter*innen weiterhin die Gelegenheit haben, sich an einem Sondervotum zu beteiligen. Diese sind kursiv gedruckt. Richter Zeidler ist ein Sonderfall, da er beiden Senaten des BVerfG angehörte. Dem Ersten Senat gehörte er allerdings vor der Zeit der Einführung des Sondervotums an (1967–70), weshalb diese Amtsperiode für die hier angestellte Erhebung unbeachtlich ist und auch nicht mit aufgeführt wird Richter*in
Senat
Amtszeit
Baer
1
2011–
Benda Böckenförde Böhmer Britz Broß Brox Bryde
1 2 1 1 2 1 1
1971–1983 1983–1996 1965–1983 2011– 1998–2010 1967–1975 2001–2011
Christ Di Fabio Dieterich, Thomas Eichberger Faller Franßen Gaier
1 2 1 1 1 2 1
2017– 1999–2011 1987–1994 2006–2018 1971–1983 1987–1991 2004–2016
Parteinominierung
Beteiligung an Sondervoten
SPD/Bündnis 90/ Die Grünen CDU SPD CDU SPD CDU CDU Bündnis 90/ Die Grünen CDU CDU SPD CDU CDU SPD SPD
2 1 11 2 0 4 0 2 0 7 0 2 1 0 6
291
Anhang II
Richter*in
Senat
Amtszeit
Parteinominierung
Beteiligung an Sondervoten
Geiger Geller Gerhardt Graßhof Grimm Härtel Haager Haas Harbarth Hassemer Henschel Hermanns Herzog Hesse Heußner Hirsch Hoffmann-Riem Hohmann-Dennhardt Hömig Huber Jaeger Jentsch Katzenstein Kessal-Wulf Kirchhof, Ferdinand Kirchhof, Paul Klein König Kruis Kühling Landau Langenfeld Leibholz Limbach Lübbe-Wolff Mahrenholz
2 2 2 2 1 1 1 1 1 2 1 2 1 1 1 2 1 1 1 2 1 2 1 2 1 2 2 2 2 1 2 2 2 2 2 2
1951–1977 1963–1971 2003–2014 1986–1998 1987–1999 2020– 1962–1979 1994–2006 2018– 1996–2008 1983–1995 2010– 1983–1994 1975–1987 1979–1989 1971–1981 1999–2008 1999–2011 1995–2006 2010– 1994–2004 1996–2005 1975–1987 2011– 2007–2018 1987–1999 1983–1996 2014– 1987–1998 1989–2001 2005–2016 2016– 1951–1971 1994–2002 2002–2014 1981–1994
CDU CDU SPD SPD SPD SPD SPD CDU CDU SPD FDP SPD CDU SPD SPD SPD SPD SPD FDP CDU SPD CDU CDU CDU CDU CDU CDU SPD CSU SPD CDU CDU CDU SPD SPD SPD
11 6 11 4 1 0 0 11 0 1 3 3 0 0 3 21 2 4 0 4 4 3 6 1 0 2 2 2 4 5 3 1 3 2 10 11
292
F. Anhang
Richter*in
Senat
Amtszeit
Maidowski Masing Mellinghoff Müller, Gebhard Müller, Peter Niebler Niedermeier Niemeyer Osterloh Ott Papier Paulus Radtke Rinck Ritterspach Rottmann Rupp Rupp-v. Brünneck Schluckebier Seibert Seidl Seuffert Simon Söllner Sommer Stein Steinberger Steiner Träger v. Schlabrendorff Voßkuhle Wand Wallrabenstein
2 1 2 1 2 2 1 1 2 1 1 1 1 2 1 2 2 1 1 1 1 2 1 1 2 1 2 1 2 2 2 2 2
2014– 2008–2020 2001–2011 1959–1971 2011– 1975–1987 1983–1986 1977–1989 1998–2010 2016– 1998–2010 2010– 2018– 1968–1986 1951–1975 1971–1983 1951–1975 1963–1977 2006–2017 1989–1999 1986–1998 1967–1975 1970–1987 1987–1995 1991–2003 1951–1971 1975–1987 1995–2007 1977–1989 1967–1975 2008–2020 1970–1983 2020–
Winter Zeidler
2 2
1989–2000 1975–1987
Parteinominierung
Beteiligung an Sondervoten
SPD SPD CDU CDU CDU CSU CDU SPD SPD SPD CSU FDP CDU CDU CDU FDP SPD SPD CDU SPD CDU SPD SPD CDU SPD CDU/SPD CDU CDU CDU CDU SPD SPD Bündnis 90/ Die Grünen CDU SPD
2 3 5 0 4 10 0 2 7 0 3 3 0 8 0 6 8 7 4 1 2 15 7 2 6 1 6 1 1 7 2 12 0 3 1
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Sachregister Abstimmungsergebnis 1, 2, 32, 36, 64, 65, 79, 223, 224 Akzeptanz 113, 121, 122, 190, 191, 232, 233, 251, 254, 266 Amtsverständnis 110 Anonymität 37, 48, 57, 58, 59, 65, 68, 238, 243 Arbeitsbelastung 78, 86, 111 Argumentation, juristische 114, 118, 121, 122, 230 Auslegung, verfassungskonforme 199, 200, 211 Autorität, 1, 17, 31, 33, 34, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 53, 55, 59, 62, 66, 67, 68, 60, 74, 76, 77, 83, 90, 95, 122, 148, 174, 175, 176, 177, 191, 232, 235, 236, 237, 238, 242, 244, 246, 250, 255, 263, 264, 266 Befriedung 116, 118, 119, 120, 121, 124, 128, 181, 253, 260, 264 Befriedungsfunktion siehe Befriedung Begründungsstil 127, 128 Beratung, geheime 20 ff., 47, 62, 95 Beratungsgeheimnis 18, 21, 22, 26, 27, 28, 30, 35, 47, 48, 49, 50, 57, 59, 61, 64, 72, 73, 76, 83, 94, 95, 238, 246 Beratungskultur 17, 24, 228, 234, 254 Berichterstatter 2, 8, 37, 63, 85, 124, 176, 239, 247, 248, 250, 251, 256 Berichterstattersystem siehe Berichterstatter Bundesjustizministerium 48, 50, 51, 96 Bundeskabinett siehe Bundesregierung Bundespräsident 39, 45, 66, 195, 213, 214 Bundesrat 37, 38, 48, 56, 81, 84, 178 Bundesregierung 11, 36, 37, 45, 46, 48, 58, 60, 61, 64, 66, 67, 70, 81, 82, 83,
84, 95, 153, 154, 158, 197, 203, 212, 213 Bundestag 5, 37, 41, 56, 59, 81, 92 f., 153 ff., 174, 178, 180, 188, 195, 197, 203, 213 ff. Demokratie 36, 42, 67, 77, 134, 150, 194, 203, 211, 220 Demokratisierung der Justiz 61, 67 ff. Diskursbegleitung 109, 166 ff., 233, 240, 244, 253 Diskursoffenheit 175, 183, 264 Einstimmigkeit 14, 16, 50, 110, 160, 176 f., 190, 191, 238 Einzelrichter*in 26, 27, 59, 76, 82, 94, 103, 226 Entscheidungsalternativen 121 ff. Entscheidungsfindung 9 f., 16, 17, 20 f., 129, 222, 238, 263 Entscheidungskompetenz 194, 197, 199, 207, 244 Ewigkeitsgarantie 148 ff. Fachgerichte 128, 131, 132, 184 f., 209, 212 Gerichtsakten 37 f., 54, 57, 63 Gerichtsfunktionen 114, 129 ff., 174, 192 Gerichtspräsident 55, 57 f., 66, 68, 95 f. Gruppenbildung 56, 89, 104 Individualisierung 170 f. Informationsfunktion 118 ff. Integrationsfunktion 118, 166 ff., 236, 260, 265 Judicial-self-restraint 193 f., 208, 302 Juristenausbildung 69
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Sachregister
Konfliktlösung 174, 192 Konformismus 134 Konsolidierungsfunktion 118, 120 Kontinuität 60 f., 67, 95, 222 Kontrollfunktion 117, 119, 194 f. Kontrollkompetenz 141, 189, 196, 206, 209, 211, 214 Landesverfassungsgerichte 2, 81, 150 Liberalismus 26, 34 f., 170 Maßstäbe 127, 136, 146, 152, 154 f., 162 f., 191, 198, 201 ff., 209, 211, 214 ff., 221 f., 241 Maßstabsbildung siehe Maßstäbe Minimalismus, richterlicher 124 ff. Nachvollziehbarkeit 120 Nationalsozialismus 94 f. Objektivität 176, 232 Opposition 37, 39, 42, 45, 67, 153, 155 f. Pluralismus 133 ff., 171, 182, 192, 265 Politisierung 155, 229, 231 Prüfungskompetenz 138, 140, 143, 207, 214 Recht, römisch-kanonisches 23 f., 26 f. Rechtsausschuss 5, 37 f., 40 f., 48 ff., 85 ff., 95 Rechtsfrieden 1, 52, 55, 90 Rechtsprechungsänderung 141, 145 ff., 160, 165, 222, 252 Rechtssoziologie 69, 95 Rechtstradition 1, 10, 18, 57, 71 ff.
Reichsjustizgesetze 21, 30, 34 f., 95 Richterpersönlichkeit 31, 50 f., 54, 58, 71, 256, 259 Senatsklima 110, 239 Senatsvorsitzende*r 110, 258 Soziologie 69, 171 Staatsrechtslehre 91, 123, 188, 232, 251 Stabilität 62, 67, 171, 210 Statusbericht 44, 169 Stimmengleichheit 55, 63 f., 136 Stimmenverhältnis 2, 64, 74, 81, 92 Subjektivität 93, 175 f., 232, 265 Tenor 25, 28, 114 ff. Transparenz 20, 35, 73, 75, 204, 243, 250 Überzeugungskraft von Entscheidungen 74, 104, 124, 127 f., 177, 224, 246 Unabhängigkeit, richterliche 22, 27, 35, 58 f., 67 f., 76 f., 94, 134, 235, 238, 263 Urteiler 23 f., 27, 94 Verfassungsinterpretation 130 ff., 144, 148, 153, 165, 202, 218, 222, 225 f., 244, 253, 260 Verfassungsinterpreten, offene Gesellschaft der 131 f. Verfassungsorgan 43 f., 47, 77, 83, 94, 189, 213 Vergangenheitsbewältigung 44, 47 Verständlichkeit 120, 124, 128 Vollständigkeit 115, 121 ff., 264 Widerspruchsfreiheit 120, 123 f., 127 f., 192, 260