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German Pages 266 Year 2002
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 202
Gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb nach Aufgabe der Kernbereichslehre durch das Bundesverfassungsgericht
Von
Martin Brock
Duncker & Humblot · Berlin
MARTIN BROCK
Gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb nach Aufgabe der Kernbereichslehre durch das Bundesverfassungsgericht
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 202
Gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb nach Aufgabe der Kernbereichslehre durch das Bundesverfassungsgericht
Von Martin Brock
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Brock, Martin: Gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb nach Aufgabe der Kernbereichslehre durch das Bundesverfassungsgericht / Martin Brock. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht ; Bd. 202) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10497-8
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-10497-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde i m Wintersemester 2000/2001 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis April 2001 nachgetragen. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Peter Hanau, danke ich für die Anregung des Themas und für die Unterstützung während der Erstellung der Arbeit durch wertvolle Hinweise und Anregungen. Vor allem aber wurde durch seine Lehrveranstaltungen mein Interesse am Arbeitsrecht geweckt und damit die Grundlage für die vorliegende Arbeit überhaupt erst gelegt. Herrn Prof. Dr. Manfred Lieb danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich auch allen, die durch Gespräche und die Ausbildung in der Praxis mittelbar und unmittelbar die Erstellung der Arbeit förderten; Herrn Jürgen Faust, Frau Silvia Franz und Herrn Dr. Oliver Franz danke ich zudem dafür, daß sie sich der Mühe unterzogen, die Arbeit Korrektur zu lesen. Ich widme die Arbeit meinen Eltern, die mich während des Studiums und der Zeit der Erstellung der Arbeit unterstützten und mir bei der Schlußredaktion der Arbeit tatkräftig zur Seite standen. Ich verdanke ihnen viel. Köln, i m Mai 2001
Martin Brock
Inhaltsübersicht Einleitung
27
1. T e i l Die historische Entwicklung 1. Kapitel: 1948 - 1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG ....
32 32
2. Kapitel: 1965-1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
40
3. Kapitel: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
51
4. Kapitel: 1978 -1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
63
2. T e i l Die Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb und die Dogmatik der Koalitionsfreiheit
80
1. Kapitel: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
80
2. Kapitel: Das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung
90
3. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 GG - Das Verhältnis von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit
96
4. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 GG - Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums für den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit 101 5. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 GG - Die Schranken der Koalitionsfreiheit
119
3. T e i l Einzelfragen und Konsequenzen 1. Kapitel: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
122 122
10
Inhaltsübersicht
2. Kapitel: Die Abwägung in einzelnen Fällen
148
1. Abschnitt: Die Werbung der Gewerkschaften im Betrieb
148
2. Abschnitt: Inhaltliche Anforderungen an die Werbung
156
3. Abschnitt: Einzelne Mittel der Werbung und Betätigung
164
4. Abschnitt: Die Werbung in der Arbeitszeit
182
5. Abschnitt: Sonstige Maßnahmen gewerkschaftlicher Betätigung im Betrieb .. 195 6. Abschnitt: Arbeitskampfbezogene Betätigungen
200
7. Abschnitt: Existenz, Tätigkeit und Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute 202 8. Abschnitt: Zugangsrecht
210
9. Abschnitt: Resümee
230
4. T e i l Probleme der Rechtsdurchsetzung und die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung
232
1. Kapitel: Probleme der Rechtsdurchsetzung
232
2. Kapitel: Die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung
236
Zusammenfassung der Ergebnisse
248
Literaturverzeichnis
250
Sachwortverzeichnis
262
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
27
I. Hintergrund der Thematik
27
II. Problemstellung
28
III. Ziel der Arbeit
29
IV. Gang der Arbeit
30
1. T e i l Die historische Entwicklung
1. Kapitel: 1948-1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG
32
3 2
I. Zur Gesetzgebungsgeschichte von Art. 9 Abs. 3 GG als dem Grundrecht der Koalitionen
32
II. Die Entwicklung der Kernbereichslehre zu Art. 9 Abs. 3 GG durch das BVerfG .
34
1. Die Entscheidung des BVerfG vom 18. 11. 1954 - Die Entwicklung der Kernbereichslehre
34
a) Die Gewerkschaften als Grundrechtsträger der Koalitionsfreiheit
35
b) Die Begründung der Kernbereichslehre
35
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 06. 05. 1964 - Die Betätigungsfreiheit der Koalitionen
36
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 14. 04. 1964 - Die Entwicklung des Unerläßlichkeitskriteriums
37
4. Fazit
38
III. Rechte der Gewerkschaften im Betrieb
39
2. Kapitel: 1965-1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
^
I. Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung - Ansätze zu einer Problemlösung in der Literatur
40
II. Der Beschluß des BVerfG vom 30. 11. 1965 - Das Recht der Gewerkschaften auf Wahlwerbung vor Personalratswahlen
42
1. Zum Verhältnis von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit
42
2. Der Schutz der Wahlwerbung der Gewerkschaften durch Art. 9 Abs. 3 GG ...
43
3. Der Schutz der Wahl Werbung in der Dienststelle
44
4. Die Regelungsmöglichkeiten des Gesetzgebers
44
III. Die Rechtsprechung des BAG
45
1. Das Urteil des BAG vom 26. 09. 1965 - Zur Zuständigkeit der Arbeitsgerichte
45
2. Das Urteil des BAG vom 14. 02. 1967 - Die Gründungsurkunde der gewerkschaftlichen Rechte im Betrieb
45
a) Der Schutz der Mitgliederwerbung durch Art. 9 Abs. 3 GG
46
b) Die Mitgliederwerbung im Betrieb
46
c) Die Grenzen des Werberechts
47
d) Fazit
48
IV. Beispiele für Entscheidungen unterinstanzlicher Arbeitsgerichte V. Die Reaktion der Literatur auf die Rechtsprechung
48 49
nsverzeichnis 3. Kapitel: 1967 -1978: Der Streit um das Zugangsrecht I. Der gescheiterte Ansatz zu einer einfachgesetzlichen Problemlösung - Das BetrVG 1972 II. Die Rechtsprechung des BVerfG 1. Die Entscheidung des BVerfG vom 26. 05. 1970 - Das BVerfG bestätigt die Rechtsprechung des BAG
51
52 53
53
a) Zum Schutzbereich der Koalitionsfreiheit
54
b) Die Regelungsmöglichkeiten des Gesetzgebers
55
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 18. 12. 1974 - Schutzbereich der Koalitionsfreiheit beschränkt auf das Unerläßliche?
56
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 28. 04. 1976 - Schutzbereich der Koalitionsfreiheit doch nicht beschränkt auf das Unerläßliche?
56
4. Weitere Entscheidungen des BVerfG
57
III. Der Streit um das koalitionsrechtliche Zugangsrecht zum Betrieb
57
1. Die Entscheidung des BAG vom 14. 02. 1967
57
2. Die Entscheidung des BAG vom 26. 06. 1973
58
3. Die Entscheidung des LAG Baden - Württemberg vom 08. 08. 1973
58
4. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 24. 10. 1975
58
5. Die Entscheidung des LAG Hamm vom 21. 01. 1977
59
6. Die Entscheidung des BAG vom 14. 02. 1978
60
a) Die Güterabwägung
60
b) Die Grenzen des Zugangsrechts
61
IV. Beispiele für Entscheidungen unterinstanzlicher Arbeitsgerichte V. Die Literatur 4. Kapitel: 1978 -1995: Der Streit um die Kernbereichslehre I. Die neue, restriktive Linie des BAG 1. Die Entscheidung des BAG vom 08. 12. 1978 - Die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Betrieb
61 62 63 63
64
14
nsverzeichnis 2. Die Entscheidungen des BAG vom 23. 02. 1979
65
a) Die Entscheidung des BAG zu Gewerkschaftsaufklebern auf Arbeitgeberhelmen
65
b) Die Entscheidung des BAG zur Verteilung einer Mitgliederzeitschrift im Betrieb
65
3. Fazit II. Die Rechtsprechung des BVerfG
66 67
1. Die Entscheidung des BVerfG vom Ol. 03. 1979 - Das Lehrbuch der Koalitionsfreiheit
67
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 21. 11. 1980 - Bestätigung der restriktiven Linie des BAG durch das BVerfG?
68
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 17. 02. 1981 - Das BVerfG bestätigt die neue Linie des BAG
69
a) Zum Unerläßlichkeitskriterium
69
b) Zur richterlichen Rechtsfortbildung
70
c) Fazit
71
III. Die Literatur
71
IV. Beispiele für Entscheidungen unterinstanzlicher Arbeitsgerichte
72
V. Nachfolgende Entscheidungen des BAG
73
1. Die Entscheidung des BAG vom 19. Ol. 1982 - Das BAG beschäftigt sich erneut mit dem Zugangsrecht
73
2. Die Entscheidung des BAG vom 26. Ol. 1982 - Zur Werbung während der Arbeitszeit
74
3. Die Entscheidung des BAG vom 30. 08. 1983 - Zur Werbung mit satzungsgemäßen Leistungen
75
4. Die Entscheidung des BAG vom 23. 09. 1986 - Zur Benutzung eines Postverteilungssystems
75
5. Die Entscheidung des BAG vom 13. 11. 1991- Zur Abmahnung wegen Werbung in der Arbeitszeit
76
nsverzeichnis VI. Nachfolgende Entscheidungen des BVerfG
77
1. Die Entscheidung des BVerfG vom 26. 06. 1991 - Zur Aussperrung
77
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 02. 03. 1993 - Zum Beamteneinsatz während eines Poststreiks
78
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 10. 01. 1995 - Zum Flaggenzweitregister
78
4. Die Entscheidung des BVerfG vom 04. 07. 1995 - Zu § 116 AFG
79
2. T e i l Die Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb und die Dogmatik der Koalitionsfreiheit
1. Kapitel: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb I. Die Ansicht von BVerfG und BAG - Art. 9 Abs. 3 GG als Grundlage der gewerkschaftlichen Rechte im Betrieb II. Andere Ansichten in der Literatur 1. DasBetrVG
80
gQ
80 81 81
a) Das BetrVG als Rechtsgrundlage der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
81
b) Die Gegenansicht in der Literatur
82
c) Stellungnahme und Ergebnis
82
2. Die Sozialadäquanz
85
a) Die Sozialadäquanz als Anspruchsgrundlage für die Gewerkschaften
85
b) Die Gegenansicht in der Literatur
85
c) Stellungnahme und Ergebnis
86
3. Das IAO-Abkommen Nr. 135
87
a) Der Inhalt des IAO-Abkommens Nr. 135
87
b) Rechte der Gewerkschaften aus dem IAO-Abkommen Nr. 135
87
c) Stellungnahme und Ergebnis
88
16
nsverzeichnis
2. Kapitel: Das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung I. Die „Wesentlichkeitstheorie" als Grenzziehung der Befugnisse zwischen Gesetzgeber und Richter II. Die Bedeutung der mittelbar grundrechtsprägenden Normen
90
92 93
III. Bedenken gegen die Grundsatzrechtsprechung des BAG
94
IV. Gesetzes- oder Verfassungsrang der Entscheidungen des BAG
95
3. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 GG - Das Verhältnis von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit I. Die herrschende Meinung - Die Koalitionsfreiheit als Doppelgrundrecht II. Die abweichende Ansicht in der Literatur - Schutz der Koalitionen gem. Art. 19 Abs. 3 GG III. Stellungnahme und Ergebnis
4. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 GG - Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums für den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit I. Darstellung der Entscheidung des BVerfG vom 14. 11. 1995 II. Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG III. Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums heute
96 96
98 98
101 102 104 106
1. Kernbereichslehre und Unerläßlichkeitskriterium als Ausgestaltungsrechtsprechung
106
2. Die Grenzen der Ausgestaltungsbedürftigkeit
111
3. Kernbereichslehre und richterliche Rechtsfortbildung
114
4. Fazit
118
IV. Zusammenfassung der Ergebnisse
5. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 GG - Die Schranken der Koalitionsfreiheit
118
119
Inhaltsverzeichnis
17
3. T e i l Einzelfragen und Konsequenzen
1. Kapitel: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen I. Die Interessenlagen der Beteiligten
122 122
1. Die Gewerkschaften
122
2. Die Arbeitnehmer im Betrieb
123
3. Der Betriebsrat
124
4. Der Arbeitgeber
124
II. Die mit der Koalitionsfreiheit kollidierenden Grundrechte Dritter
125
1. Grundrechte der Arbeitnehmer - Die negative Koalitionsfreiheit
125
2. Grundrechte der anderen im Betrieb vertretenen Gewerkschaften
127
3. Grundrechte des Arbeitgebers
128
a) Art. 13 GG - Das Hausrecht des Arbeitgebers
128
b) Schutz der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit
129
aa) Arbeitsablauf
129
bb) Betriebsfrieden
130
c) Art. 14 GG - Das Eigentum des Arbeitgebers
132
d) Art. 9 Abs. 3 GG - Die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers
133
III. Die Beeinträchtigung von Grundrechten des Arbeitgebers
135
1. Abstrakte und konkrete Gefahren
135
2. Die Berücksichtigung von Gefährdungslagen in der bisherigen Rechtsprechung zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
136
3. Die politische Betätigung im Betrieb als paralleles Problem
137
4. Die Berücksichtigung von konkreten Gefahren
139
5. Die Berücksichtigung von abstrakten Gefahren
140
IV. Die Grundrechtsabwägung als Herstellen praktischer Konkordanz 2 Brock
122
143
18
nsverzeichnis V. Exkurs - Die gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle
146
1. Zur Abwägung
146
2. Zur Notwendigkeit eines formellen Gesetzes
148
2. Kapitel: Die Abwägung in einzelnen Fällen
148
1. Abschnitt: Die Werbung der Gewerkschaften im Betrieb
148
§ 1 Der Schutz der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften
148
§ 2 Schutz nur der Werbung von Neumitgliedern oder auch der Erhaltung des Mitgliederbestandes 149 § 3 Die gewerkschaftliche Information über Ziele und Betätigung
150
§ 4 Die Werbung im Betrieb allgemein
152
§ 5 Wo im Betrieb dürfen die Gewerkschaften werben?
155
2. Abschnitt: Inhaltliche Anforderungen an die Werbung
156
§ 6 Grenzen der gewerkschaftlichen Werbungs- und Informationsfreiheit aus Rechten Dritter, insbesondere des Arbeitgebers 156 § 7 Politische Stellungnahmen der Gewerkschaften im Betrieb
158
§ 8 Die Werbung der Gewerkschaften vor Betriebsratswahlen
162
3. Abschnitt: Einzelne Mittel der Werbung und Betätigung
164
§ 9 Gespräche
164
§ 10 Die Verteilung von Schriften, insbesondere Flugblättern
165
§ 11 Der Einsatz eines Megaphons
166
§ 12 Die Plakatwerbung der Gewerkschaften im Betrieb
167
I. Mitbenutzung vorhandener Anschlagbretter oder eigene Anschlagbretter der Gewerkschaften 168 II. Weitergehende Möglichkeiten des Plakataushangs und wildes Plakatieren
169
Inhaltsverzeichnis
19
§ 13 Das Tragen von Abzeichen und Aufklebern
171
I. Die Benutzung von Arbeitgebereigentum
171
II. Das Tragen von Abzeichen im Betrieb allgemein
174
§ 14 Informationsstände
175
§ 15 Die Nutzung von Postverteilungssystemen des Arbeitgebers
176
§ 16 Die Nutzung von E-Mail-Systemen des Arbeitgebers
178
§ 17 Versammlungen im Betrieb
180
§ 18 Gewerkschaftliche Meinungsumfragen im Betrieb
181
4. Abschnitt: Die Werbung in der Arbeitszeit
182
§ 19 Die Werbung während der Arbeitszeit
182
I. Eingriffe in Rechte des Arbeitgebers 1. Arbeitsversäumnis wegen Werbung a) Verstoß gegen die vertragliche Arbeitspflicht
183 183 183
aa) Am Inhalt des Arbeitsvertrags orientierte oder rein erfolgsbezogene Betrachtungsweise?
183
bb) Der Inhalt der arbeitsvertraglichen Verpflichtung
185
b) Gefährdung des Arbeitsablaufs 2. Werbung während der Arbeitszeit der Kollegen II. Erforderlichkeit der Werbung in der Arbeitszeit III. Abwägung und Ergebnis
187 189 190 192
§ 20 Freistellung von der Arbeitspflicht für die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb 192 § 21 Freistellung für Delegierte eines Gewerkschaftstages
5. Abschnitt: Sonstige Maßnahmen gewerkschaftlicher Betätigung im Betrieb § 22 Innergewerkschaftliche Schriftenverteilung 2*
193
195 195
20
nsverzeichnis
§ 23 Kassieren von Mitgliedsbeiträgen der Gewerkschaften
197
§ 24 Unterschriftensammlungen und Geldsammlungen
198
§ 25 Erledigung innergewerkschaftlicher Arbeit im Betrieb
199
6. Abschnitt: Arbeitskampfbezogene Betätigungen
200
§ 26 Urabstimmung im Betrieb
200
§ 27 Demonstrationen auf dem Betriebsgelände
201
7. Abschnitt: Existenz, Tätigkeit und Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute
202
§ 28 Funktion und Aufgaben der gewerkschaftlichen Vertrauensleute
202
§ 29 Rechte der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Betrieb
203
§ 30 Die Wahl der Vertrauensleute im Betrieb
204
§ 31 Besonderer Kündigungsschutz für gewerkschaftliche Vertrauensleute
207
§ 32 Anspruch auf Bereitstellung von Räumen
208
8. Abschnitt: Zugangsrecht § 33 Das koalitionsrechtliche Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zum Betrieb I. Vorüberlegungen
210
210 211
1. Die Bindungswirkung der Volmarstein-Entscheidung des BVerfG gem. § 31 Β VerfGG
211
2. Schutz eines Zugangsrechts durch Art. 9 Abs. 3 GG
212
II. Entgegenstehende Rechte Dritter
213
1. Art. 13 GG-Das Hausrecht des Arbeitgebers
214
2. Art. 14 GG - Das Eigentum des Arbeitgebers
215
nsverzeichnis 3. Art. 12 GG - Schutz von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden
215
a) Probleme beim Zugang eines einzelnen Gewerkschaftsbeauftragten .. 215 b) Probleme beim Zugang mehrerer Gewerkschaftsbeauftragter 4. Einschränkungen aus dem BetrVG a) Gefahren für die Unabhängigkeit des Betriebsrats
216 217 217
b) Grenzen aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrecht gem. § 2 Abs. 2 BetrVG 219 5. Die Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitgebers III. Die Erforderlichkeit des Zugangsrechts für die Gewerkschaften
220 223
1. Die Erforderlichkeit zur Mitgliederwerbung
223
2. Die Erforderlichkeit zur Werbung vor Betriebsrats wählen
226
3. Die Erforderlichkeit zur Mitgliederbetreuung
227
IV. Abwägung und Ergebnis
227
9. Abschnitt: Resümee
230
4. T e i l Probleme der Rechtsdurchsetzung und die Möglichkeiten einer ein vernehmlichen Regelung
1. Kapitel: Probleme der Rechtsdurchsetzung
232
232
I. Der Arbeitgeber
232
1. Selbsthilfe
232
2. Klagemöglichkeiten des Arbeitgebers
232
3. Besonderheiten bei der Plakatwerbung
233
II. Die Gewerkschaften
233
1. Selbsthilfe
233
2. Klagemöglichkeiten der Gewerkschaften
234
3. Rechtsschutzmöglichkeiten für Arbeitnehmer
235
22
nsverzeichnis
2. Kapitel: Die Möglichkeiten einer ein vernehmlichen Regelung
236
1. Tarifverträge
236
1. Tarifverträge zur Begünstigung gewerkschaftlicher Vertrauensleute a) Die Grenzen der Regelungsmacht der Tarifpartner Abs. 1 TVG
236
gem. § 1 237
b) Zur Zumutbarkeit für den Arbeitgeber
239
c) Zum Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit
240
d) Normative und schuldrechtliche Geltung der Normen
240
aa) Inhalts- und Beendigungsnormen
240
bb) Betriebsnormen
241
cc) Betriebsverfassungsrechtliche Normen
242
dd) Schuldrechtlicher Teil
243
e) Inhaltliche Bedenken
243
aa) Koalitionspluralismus
243
bb) Gleichbehandlungsgrundsatz
244
cc) Bedenken aus dem BetrVG
245
2. Tarifverträge allgemein
246
II. Sonstige schuldrechtliche Vereinbarungen und die Duldung durch den Arbeitgeber 246
Zusammenfassung der Ergebnisse
248
Literaturverzeichnis
250
Sachwortverzeichnis
262
Abkürzungsverzeichnis aA
anderer Ansicht
a. a. O.
am angegebenen Ort
a.F.
alter Fassung
Abs.
Absatz
AcP
Archiv für civilistische Praxis, Zeitschrift
AFG
Arbeitsförderungsgesetz
AiB
Arbeitsrecht im Betrieb, Zeitschrift
Anm.
Anmerkung
AÖR
Archiv des öffentlichen Rechts, Zeitschrift
AP
Arbeitsrechtliche Praxis, Entscheidungssammlung
ArbGG
Arbeitsgerichtsgesetz
ArbRdGgw
Arbeitsrecht der Gegenwart, Zeitschrift
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
AuR
Arbeit und Recht, Zeitschrift
BAG
Bundesarbeitsgericht
BB
Betriebs-Berater, Zeitschrift
Bd.
Band
Beil.
Beilage
BeschFG
Beschäftigungsförderungsgesetz
BetrVG
Betriebsverfassungsgesetz
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
Bl.
Blatt
BIStSozAR
Blätter für Steuerrecht, Sozialrecht und Arbeitsrecht, Zeitschrift
BT
Bundestag
BUrlG
Bundesurlaubsgesetz
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
bzw.
beziehungsweise
CGB
Christlicher Gewerkschaftsbund
d. h.
das heißt
DAG
Deutsche Angestelltengewerkschaft
DB
Der Betrieb, Zeitschrift
DBB
Deutscher Beamtenbund
ders.
derselbe
24 DGB
Abkürzungsverzeichnis Deutscher Gewerkschaftsbund
dies.
dieselbe
DÖV
Die öffentliche Verwaltung, Zeitschrift
Drucks.
Drucksache
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt, Zeitschrift
E
Entscheidung
EWiR
Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht, Zeitschrift
EzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
f.
folgende
ff.
fortfolgende
FS
Festschrift
gem.
gemäß
GewO
Gewerbeordnung
GG
Grundgesetz
ggf.
gegebenenfalls
GS
Großer Senat
hM
herrschende Meinung
IAO
Internationale Arbeitskonferenz
IG BCE
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie
insbes.
insbesondere
iVm
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter
JuS
Juristische Schulung, Zeitschrift
JZ
Juristenzeitung, Zeitschrift
KSchG
Kündigungsschutzgesetz
LAG
Landesarbeitsgericht
LAGE
Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte, Entscheidungssammlung
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht, Zeitschrift
mwN
mit weiteren Nachweisen
NJW
Neue Juristische Wochenschrift, Zeitschrift
Nr.
Nummer
NZA
Neue Zeitschrift zum Arbeitsrecht
OLG
Oberlandesgericht
ÖTV
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
PC
Personal Computer
PersVG
Personalvertretungsgesetz
PVG BP
Personalvertretungsgesetz für die Bereitschaftspolizei
RdA
Recht der Arbeit, Zeitschrift
RdNr.
Randnummer
RG
Reichsgericht
S.
Seite, Satz
SAE
Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen, Zeitschrift
Abkürzungsverzeichnis StGB
Strafgesetzbuch
TVG
Tarifvertragsgesetz
u.U.
unter Umständen
usw.
und so weiter
Verf. vgl.
Verfasser
WahlO
Wahlordnung
vergleiche
WM
Wertpapier-Mitteilungen, Zeitschrift
WRV
Weimarer Reichsverfassung
z.B.
zum Beispiel
ZfA
Zeitschrift für Arbeitsrecht
ZIP
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
zit.:
zitiert
Im übrigen wird auf H. Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl., 1983, verwiesen.
Einleitung I. Hintergrund der Thematik Die deutschen Gewerkschaften sind immer noch stark und mächtig. Sie erreichten 1999 einen Organisationsgrad von 33 % aller beschäftigten Arbeitnehmer und Beamten. 1 Der DGB mit seinen Einzelgewerkschaften hatte 1998 8,3 Millionen Mitglieder und vereinigte 81 % aller organisierten Arbeitnehmer auf sich. Die D A G mit 480.000 Mitgliedern umfaßte 4,7 % aller Gewerkschaftsmitglieder, der CGB mit 303.000 Mitgliedern 3 %. I m Deutschen Beamtenbund waren mit 1,2 Millionen Mitgliedern 11,5 % aller Gewerkschaftsmitglieder organisiert. 2 So beeindruckend diese Zahlen wirken mögen, die Gewerkschaften sind in der Krise. Zwar brachte die Wiedervereinigung vor allem den DGB-Gewerkschaften einen kräftigen Mitgliederzuwachs von 7,9 Millionen Mitgliedern in 1990 auf 11,8 Millionen in 1991. 3 1994 war die Mitgliederzahl der DGB-Gewerkschaften jedoch schon wieder unter die 10-Millionen Grenze gesunken. 4 Ahnlich starke Verluste mußte auch die D A G hinnehmen. 5 Stabil blieben die Mitgliederzahlen des C G B ; 6 der Deutsche Beamtenbund konnte sogar noch Mitglieder hinzugewinnen. 7 1998 waren insgesamt 10,2 Millionen Menschen gewerkschaftlich organisiert 8 seit 1991 verloren die Gewerkschaften damit ca. 3,5 Millionen Mitglieder. 9 Allein die I G Metall als größte Einzelgewerkschaft i m DGB verlor seit 1995 240.000 M i t 1
Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 183. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1999, S. 732; (Die dortigen Angaben über die Mitgliederzahlen beruhen auf den Angaben der betreffenden Gewerkschaften). 3 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 759. 4 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1996, S. 726. Die Mitgliederzahlen der DBG-Gewerkschaften seit 1990 (Quelle : Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 759; 1999, S. 732) stellen sich folgendermaßen dar: 1990: 7.937.923 Mitglieder; 1991: 11.800.412 Mitglieder; 1998: 8.310.783 Mitglieder. 5 1990: 573.398 Mitglieder; 1991: 584.775 Mitglieder; 1998: 480.225 Mitglieder (Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 759; 1999, S. 732). 6 1990: 309.364 Mitglieder; 1991: 310.831 Mitglieder; 1998: 303.087 Mitglieder (Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 759; 1999, S. 732). 7 1990: 799.003 Mitglieder; 1991: 1.053.001 Mitglieder; 1998: 1.184.149 Mitglieder (Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 759; 1999, S. 732). 2
8
Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1999, S. 732. 9 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 759; 1999, S. 732.
28
Einleitung
glieder, obwohl in derselben Zeit durch Fusion noch 175.000 Mitglieder dazugekommen waren. 1 0 Gründe für diese sinkenden Mitgliederzahlen sind, daß die Gewerkschaften in den neuen Bundesländern nicht alle Mitglieder halten konnten, die sie in der Wendezeit dazugewonnen hatten, und teilweise auch die hohe Arbeitslosigkeit. Zudem verliert das produzierende Gewerbe mit traditionell hohem Organisationsgrad an Bedeutung zugunsten des Dienstleistungsgewerbes. 11 Dieser Entwicklung versuchen die Gewerkschaften mit der Großfusion von Einzelgewerkschaften - einschließlich der D A G - zur Dienstleistungsgewerkschaft verdi Rechnung zu tragen.
II. Problemstellung In dieser Situation rücken auch die Werbemöglichkeiten der Gewerkschaften im Betrieb wieder in den Blickpunkt. Dieses Thema hatte ab 1965 die Rechtswissenschaft beschäftigt; vor allem Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre war es zu starken Kontroversen gekommen. Hintergrund dieser Kontroversen war vor allem die zunehmend restriktive Rechtsprechung des B A G zur Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i m Betrieb gewesen. Hatte das B A G zunächst die Werbe- und Betätigungsmöglichkeiten der Gewerkschaften noch gestärkt, 12 so hatte es ab der Entscheidung vom 08. 12. 1 9 7 8 1 3 - zur Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute i m Betrieb - eine deutliche Trendwende 1 4 eingeleitet: Das B A G stützte sich auf die vom BVerfG 1 5 zu Art. 9 Abs. 3 GG entwickelte Kernbereichslehre, vor allem auf das Unerläßlichkeitskriterium als Teil der Kernbereichslehre, und fragte bei jeder Maßnahme einer Gewerkschaft, ob diese unerläßlich sei. Wenn das nicht der Fall war, wies es die Klage der Gewerkschaft umstandslos ab. Dieser Rechtsprechung hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 14. 11. 1995 1 6 eine deutliche Absage erteilt. 1 7 Das BVerfG hob eine auf das Unerläßlichkeitskriterium gestützte Entscheidung des B A G 1 8 auf. Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG sei nicht, wie das B A G meine, auf das Unerläßliche beschränkt. Es gab 10 Süddeutsche Zeitung vom 08. 10. 1999, S. 2. 11 Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 182 - Verallgemeinerungen sind allerdings schwierig, wie der Mitgliederzuwachs des Deutschen Beamtenbundes zeigt. 12 Vgl. BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 13 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 14 Hanau, ArbRdGgw, Bd. 17 (1980), S. 37. 15 Vgl. z. B. BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295. 16 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 17 Hanau, ZIP 1996, S. 447. is BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung.
Einleitung dem B A G auf, die Lösung jeweils über eine Abwägung mit entgegenstehenden Grundrechten des Arbeitgebers zu suchen. Viele Probleme, die auf Grundlage der Rechtsprechung des B A G gelöst zu sein schienen, sind damit wieder offen. 1 9
III. Ziel der Arbeit Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Rechte der Gewerkschaften auf Werbung und Betätigung i m Betrieb auf Grundlage der Vorgaben des BVerfG zu untersuchen. Bei „klassischen" Problemfeldern wie ζ. B. der Wahl der Vertrauensleute i m Betrieb 2 0 oder dem koalitionsrechtlichen Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb, 2 1 aber auch bei voraussichtlich neu auftretenden Problemfeldern wie der Benutzung von E-Mail-Systemen des Arbeitgebers soll ermittelt werden, welche Rechte die Gewerkschaften für sich in Anspruch nehmen können. Das heißt, daß jeweils - unter Berücksichtigung des bisherigen Meinungsstandes - das Betätigungsrecht der Gewerkschaften gem. Art. 9 Abs. 3 GG mit entgegenstehenden Grundrechten Dritter, insbesondere des Arbeitgebers, abzuwägen ist. Nicht Thema der Arbeit sind die Rechte der Gewerkschaften in der Betriebsverfassung. A u f diese wird nur dann eingegangen, wenn sie für das Thema der eigennützigen, koalitionsfördernden Betätigung der Gewerkschaften i m Betrieb von Bedeutung sind. Die dabei gewonnenen Ergebnisse können nicht mehr sein als Vorschläge: „Die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion vorgeschlagenen Lösungen haben nur den Charakter rechtspolitischer Empfehlungen an das zur Entscheidung zuständige Organ, wobei zu hoffen ist, daß der Lösungsvorschlag siegreich sein wird, der im Vergleich zu den übrigen in Betracht kommenden Entscheidungsalternativen am 'vernünftigsten' und 'sachgerechtesten' erscheint und sich am besten in das Gefüge der bestehenden normativen Wertentscheidungen einfügt." 22 Den sich aus dieser Funktion als „rechtspolitischer Empfehlung" ergebenden Folgerungen: „Der Rechtswissenschaft kommt also in diesem Bereich lediglich die Funktion zu, die rechtlich denkbaren Entscheidungsalternativen und die sich aus dem Rechtssystem ergebenden normativen Wertungen, die den Entscheidungsspielraum eingrenzen, aufzuzeigen, um sicherzustellen, daß das juristische, um eine angemessene Problemlösung bemühte Urteil nicht bloß eine von subjektiven Billigkeitserwägungen getragene Gefühlsäußerung,
19
Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 71 (79); Däubler, DB 1998, S. 2014 (2015). 20 Vgl. BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 21 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220; BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 Abs. 3 GG. 22 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 112.
Einleitung
30
sondern eine mit den Wertentscheidungen der Rechtsordnung verträgliche und dies anhand ihrer dogmatischen Begründung ausweisende Problembeurteilung ist." 23 versucht die Arbeit nachzukommen. Dazu muß zunächst ein tragfähiges Fundament für die jeweils erforderliche Abwägung gelegt werden. In diesem Zusammenhang müssen die entscheidungserheblichen Grundfragen vorab geklärt werden. Das betrifft zum einen die eingehende Auseinandersetzung mit den Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb, insbesondere mit Art. 9 Abs. 3 GG als der traditionell wichtigsten Rechtsgrundlage. Zum anderen müssen die entgegenstehenden Grundrechte Dritter, insbesondere des Arbeitgebers, untersucht werden. In einem weiteren Arbeitsschritt ist dann - vorerst abstrakt - zu klären, wann eine zur Abwägung verpflichtende Kollision zwischen der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften und den Grundrechten des Arbeitgebers vorliegt und welche allgemeinen Regeln bei der Abwägung zu beachten sind. Die so gefundenen allgemeinen Grundlagen sind dann auf den Einzelfall anzuwenden. Dabei sollen die jeweils für und gegen ein entsprechendes Recht der Gewerkschaften sprechenden Gesichtspunkte deutlich herausgearbeitet werden. Die konkreten Ergebnisse werden dann von der Gewichtung der verschiedenen Gesichtspunkte abhängen, so daß sie nicht mehr sein können als Vorschläge. 24 Bei der Abwägung ist darauf zu achten, Wertungswidersprüche bei der Beurteilung verschiedener Einzelprobleme zu vermeiden. Das ist eine Schwierigkeit, zugleich aber auch eine Chance der Arbeit: Die Widerspruchsfreiheit der Wertungen - bei dem Bemühen um eine differenzierte Betrachtung der Probleme - kann auch für deren Richtigkeit sprechen.
IV. Gang der Arbeit Zunächst wird in Teil 1 der Arbeit die Entwicklung der Rechte der Gewerkschaften auf Werbung und Betätigung i m Betrieb in der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Wegen der besonderen Bedeutung der Rechtsprechung für dieses fast ausschließlich vom Richterrecht geprägte Thema konzentriert sich die Darstellung auf die Entscheidungen von BVerfG und B A G . Die begleitenden Stimmen aus der Literatur können, ohne diesen Teil zu überfrachten, nicht in ähnlicher Breite dargestellt werden. Sie werden deshalb regelmäßig nur zusammenfassend und in Auswahl angesprochen; auf sie wird bei der Behandlung der Sachprobleme zurückzukommen sein. Ausführlicher eingegangen wird auf wichtige Literaturstimmen lediglich dort, wo diesen nur noch vornehmlich historische Bedeutung zukommt, so daß sie in der nachfolgenden Untersuchung nicht mehr angesprochen werden.
23 24
Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 112 f. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 112 f.
Einleitung In Teil 2 werden die rechtlichen Grundlagen des Themas untersucht. Zentraler Punkt ist die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 3 GG. Hier ist vor allem die Entscheidung des BVerfG vom 14. 11. 1995 2 5 zu erörtern; ihre praktischen Konsequenzen müssen untersucht werden. In Teil 3 werden zunächst wichtige Grundlagen der Abwägung dargestellt; neben den möglicherweise verletzten Grundrechten Dritter wird auch die Bedeutung von Gefährdungen für Rechtsgüter des Arbeitgebers und die Bedeutung des Grundsatzes der Erforderlichkeit erörtert. Anschließend widmet sich die Arbeit dann der Untersuchung der Einzelprobleme. Erörtert werden dabei alle von der Rechtsprechung entschiedenen und in der Literatur 2 6 angesprochenen Einzelfragen sowie voraussichtlich in Zukunft akut werdende Probleme. Teil 4 untersucht abschließend die Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung für Gewerkschaften und Arbeitgeber sowie die Frage, welche Möglichkeiten einer einvernehmlichen - vor allem tarifvertraglichen - Lösung bestehen.
25 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 26 Vor allem bei Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb.
1. T e i l
Die historische Entwicklung 1. Kapitel
1948-1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG I. Zur Gesetzgebungsgeschichte von Art. 9 Abs. 3 GG als dem Grundrecht der Koalitionen Die Koalitionsfreiheit ist i m GG in Art. 9 Abs. 3 GG geregelt. Das GG begreift die Koalitionsfreiheit damit als einen Unterfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit. 1 Der Text der Norm ist weitgehend Art. 159 der WRV nachgebildet. 2 Art. 159 WRV lautet: „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig." Durch Art. 165 Abs. 1 S. 2 WRV - „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen werden anerkannt." wurden die Gewerkschaften noch einmal gesondert anerkannt. 3 Zudem wurde klargestellt, daß die Gewerkschaften durch die in Art. 165 W R V nachfolgend geregelten Arbeiterräte nicht überflüssig gemacht werden sollten. 4 Der Herrenchiemseer-Entwurf eines GG sah noch keine Gewährleistung einer Koalitionsfreiheit vor. 5 Der Entwurf eines GG aufgrund der Formulierungen der ι Vgl. Schriftlicher Bericht zum Entwurf des GG, S . l l . 2 Schriftlicher Bericht zum Entwurf des GG, S. 11; AK - Kittner, RdNr. 18; vgl. auch BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 97 (107). 3
GG, Art. 9 Abs. 3
Poetzsch-Heffter, WRV, Art. 165 Anm. 3, Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichs Verfassung, S. 26. 4 Anschütz, WRV, Art. 165 Anm. 3 (S. 746). 5
Vgl. Herrenchiemseer-Entwurf eines GG, Bericht, S. 61 - 63.
1. Kap.: 1948 - 1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG
33
Fachausschüsse des parlamentarischen Rates vom 18. 10. 1948 jedoch enthielt in Art. 12 Abs. 3 und 4 eine Gewährleistung der Koalitionsfreiheit als Unterfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit. 6 Durch die systematische Stellung der Koalitionsfreiheit wurde die Konsequenz aus der auch schon in der Weimarer Zeit herrschenden Ansicht, daß die Koalitionsfreiheit ein Unterfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit ist, 7 gezogen. Der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates beriet schließlich über folgende Fassung von Art. 9 Abs. 3 und 4 (mit Varianten): „(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. (Vermerk: Absatz 3 Satz 2 und 3 Variante I) Dieses Recht darf durch keinerlei Abreden und Maßnahmen eingeschränkt oder behindert, und es darf kein Zwang zum Beitritt ausgeübt werden. Solche Abreden und Maßnahmen sind rechtswidrig und nichtig. (Vermerk: Absatz 3 Satz 2 und 3 Variante II) Dieses Recht darf durch keinerlei Abreden und Maßnahmen eingeschränkt oder behindert werden. Solche Abreden und Maßnahmen sind rechtswidrig und nichtig. (4) Das Recht zur gemeinschaftlichen Arbeitseinstellung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird anerkannt. Seine Ausübung wird gesetzlich geregelt." 8 Umstritten war bei den Beratungen i m Hauptausschuß 9 zum einen Abs. 4 mit der Regelung eines Streikrechts, zum andern das Verbot eines Beitrittszwangs in Art. 9 Abs. 3 S. 2 Variante I G G . 1 0 Hinsichtlich der Regelung eines Streikrechts in Art. 9 Abs. 4 GG waren es die Fragen des politischen Streiks 11 und des Streikrechts von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes, 12 um die gestritten wurde. Schließlich wurde Art. 9 Abs. 4 GG auf Antrag der SPD gestrichen. 13 Die Entscheidung fiel einstimmig: 1 4 Eine solche Regelung hätte nach Ansicht des Ausschusses wegen der nötigen Beschränkungen eine zu große Kasuistik erfordert. 6
Parlamentarischer Rat, Drucksache Nr. 203, S. 2. 7 Vgl. Poetzsch-Heffter, WRV, Art. 159 Anm. 3 a; vgl. auch Schriftlicher Bericht zum Entwurf des GG, S. 11. 8
Vgl. Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 210. In teilweise erregten Diskussionen, vgl. den Abgeordneten Renner (KPD) zum Abgeordneten Löwenthal (SPD): „Sie wiederholen es! Nur Ihr Alter verwehrt es mir, Ihnen die Antwort zu geben, die Ihnen gebührt. Diese gesunde Faust in Ihr freches Maul - -" - Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 212. 10 Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 211 ff. 11 Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 211 - 212. 12 Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 212 - 214. 13 Vgl. Antrag des Abgeordneten Dr. Eberhard (SPD) in der Sitzung vom 04. 12. 1948; Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 215. 9
14
Vgl. Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 215.
3 Brock
34
1. Teil: Die historische Entwicklung
Das in Variante I zu Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG enthaltene Verbot eines Beitrittszwangs wurde in 2. Lesung i m Hauptausschuß am 19. Ol. 1949 gestrichen. 15 Vor allem die Gewerkschaften hatten darin eine Erschwerung ihrer Bestrebungen gesehen und gemeint, ein gewisser erlaubter Zwang sei nicht zu entbehren. 16 Die ursprüngliche Fassung von Art. 9 Abs. 3 G G 1 7 wurde bislang einmal ergänzt. I m Rahmen der Notstandsgesetzgebung wurde am 24. 06. 1968 Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG hinzugefügt. 18
II. Die Entwicklung der Kernbereichslehre zu Art. 9 Abs. 3 GG durch das BVerfG 1. Die Entscheidung des BVerfG vom 18. 11. 1954 Die Entwicklung der Kernbereichslehre Das BVerfG hatte sich in seiner Entscheidung vom 18. 11. 1954 1 9 zum ersten M a l mit Art. 9 Abs. 3 GG zu beschäftigen. In dem Beschluß ging es um die Verfassungsbeschwerde eines Arbeitgeberverbandes. Das L A G Bayern hatte eine von diesem eingelegte Berufung für unzulässig gehalten, da nur tariffähige Arbeitgeberverbände gem. Art. 11 Abs. 2 des Arbeitsgerichtsgesetzes des Landes Bayern die Prozeßvertretung ihrer Mitglieder übernehmen dürften. Der fragliche Arbeitgeberverband sei jedoch nicht tariffähig, da er gemischtfachlich organisiert sei. 2 0 Durch die Entscheidung des L A G Bayern sah sich der Arbeitgeberverband in seiner Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt und erhob Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde war zulässig, aber unbegründet. In dieser Entscheidung nahm das BVerfG gleich mehrere wichtige Grundentscheidungen vor: Es entschied, daß auch die Koalitionen selbst durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt werden und daß über die vom Wortlaut der Norm allein gewährleistete Koalitionsgründungsfreiheit hinaus auch die Existenz eines funktionsfähigen Tarifsystems „ i n einem Kernbereich" von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird.
15
Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 571; die Entscheidung fiel mit 12 gegen 6 Stimmen. 16 Hauptausschuß stenographische Sitzungsprotokolle, S. 211, S. 571; Schriftlicher Bericht zum Entwurf eines GG, S. 11. 17 Sie entspricht Art. 9 Abs. 3 S. 1 und 2 der heute geltenden Gesetzesfassung. 18 17. Gesetz zur Ergänzung des GG vom 24. 06. 1968, BGBl. I, S. 709. 19 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96. 20 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (98).
1. Kap.: 1948-1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG
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a) Die Gewerkschaften als Grundrechtsträger der Koalitionsfreiheit Die Grundrechtsträgerschaft der Koalitionen selbst begründete das BVerfG i m wesentlichen historisch. Es wies darauf hin, daß die Frage in der Weimarer Zeit umstritten war. Die Ansicht, die auch die Koalitionen selbst in den Schutz der Koalitionsfreiheit einbeziehen wollte, habe sich aber - gestützt auf Art. 165 W R V durchzusetzen begonnen. Auch wenn eine Art. 165 WRV vergleichbare Norm i m GG fehle, folge aus der Entscheidung des Verfassungsgebers für den sozialen Rechtsstaat in Art. 20 Abs. 1; 28 Abs. 1 S. 1 GG, daß der Verfassungsgeber nicht hinter den Rechtszustand der Weimarer Zeit habe zurückfallen wollen. Zudem kenne auch das GG, wie die Art. 6, 7 und 19 Abs. 3 GG zeigten, kollektive Grundrechtsträgerschaften. 21 M i t der Anerkennung des Schutzes der Koalitionen selbst durch Art. 9 Abs. 3 GG zeigte das BVerfG deutlich, daß es nicht beim Wortlaut der Norm stehenbleiben wollte. Zudem ist die historische Begründung des BVerfG in weitem Umfang verallgemeinerungsfähig. 22 Ihre Bedeutung geht damit über das Einzelproblem hinaus: De facto schrieb das BVerfG den Rechtszustand der Weimarer Zeit als verbindlich fest.
b) Die Begründung der Kernbereichslehre Das BVerfG entschied weiter, daß Art. 9 Abs. 3 GG in einem „Kernbereich" auch ein Tarifvertragssystem schützt. In einem Teilbereich wurde damit auch der Schutz der Betätigung der Koalitionen durch Art. 9 Abs. 3 GG anerkannt. Das BVerfG führte aus, Art. 9 Abs. 3 GG schütze nicht nur den Zusammenschluß als solchen, sondern den Zusammenschluß zu einem bestimmten Zweck: der aktiven Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber. Damit müßten die Koalitionen auch die Möglichkeit haben, auf die Arbeitsbedingungen und Löhne Einfluß zu nehmen und zu diesem Zweck Gesamtvereinbarungen zu schließen. 23 Die Koalitionsfreiheit als Zusammenschluß zu einem bestimmten Zweck erfordert also für das BVerfG auch die Möglichkeit der Zweckverfolgung. Weiter meinte das BVerfG, diese Gesamtvereinbarungen müßten in Form von „geschützten Tarifverträgen mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit" möglich sein, da ohne sie die Koalitionsfreiheit ihres historischen Sinnes beraubt sei. 2 4 Deshalb müsse 21 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101 f.); zum Rechtszustand in der Weimarer Zeit vgl. Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichs Verfassung, S. 64. 22 Vgl. BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (28); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (314); BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367). 23 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106). 24 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106); vgl. dazu Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 99: Art. 9 Abs. 3 GG sei nicht Grund der Tarifautonomie, sondern nur eine 3*
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1. Teil: Die historische Entwicklung „im Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG ein verfassungsrechtlicher Kernbereich auch in der Richtung liegen, daß ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist und daß Partner dieser Tarifverträge notwendigerweise frei gebildete Koalitionen sind". 25
I m vom BVerfG zu entscheidenden Fall kam es dann entscheidend auf die Grenzen dieser Tariffähigkeit an, also ob der Gesetzgeber die Tariffähigkeit von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen kann. Das BVerfG stellte zuerst fest, daß die anerkannten Voraussetzungen der Koalitionseigenschaft - daß Koalitionen frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und überbetrieblich sein müssen - lediglich die Definitionsmerkmale für das Vorliegen einer Koalition sind und sich schon aus der Koalitionsfreiheit selbst ergeben. 26 Aus dem Zweck der Koalitionsfreiheit, eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens zu ermöglichen, ergebe sich aber weiter, daß der Gesetzgeber berechtigt sei, festzulegen, welchen Organisationen er die Tariffähigkeit verleihe. Diese Grenzen der Tariffähigkeit zu ziehen, sei Aufgabe des „gesetzgeberischen Ermessens". Seine Grenze finde das Ermessen des Gesetzgebers im Kernbereich der Koalitionsfreiheit. 2 7 Den Kernbereich hielt das BVerfG für verletzt, wenn der Gesetzgeber die von den Koalitionen gewählten Organisationsformen bei der Regelung der Tariffähigkeit unberücksichtigt lasse und dadurch die Koalitionsfreiheit „mittelbar aushöhle". Die freie Entwicklung der Koalitionen und ihr Entscheidungsrecht dürfe nicht sachwidrig gehemmt oder in seinem Kern angetastet werden. 2 8 Der Kernbereich der Koalitionsfreiheit verpflichtet den Gesetzgeber damit zum einen, ein Tarifvertragssystem bereitzustellen; zum anderen schränkt der Kernbereich auch die Regelungsmöglichkeiten des Gesetzgebers ein.
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 06. 05. 1964 Die Betätigungsfreiheit der Koalitionen In der Entscheidung vom 06. 05. 1964 2 9 zur Frage, ob die Kampfbereitschaft zu den Voraussetzungen für die Tariffähigkeit gehört, führte das BVerfG die Gedan-
notwendige Ableitung aus ihr. Zugrunde liege auch der ausdrücklich geschriebenen Koalitionsbildungsfreiheit die ungeschriebene Verfassungsnorm, „daß Tarifautonomie sein soll"; 25 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106); (Hervorhebung vom Verf.). 26 Die bayerische Staatsregierung hatte in ihrer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde gemeint, aus der Anerkennung dieser Einschränkungen ergebe sich ihr Recht, auch weitere Einschränkungen aufzustellen. 27 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (107 f.). 28 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (108 f.). 29 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (25 ff.).
1. Kap.: 1948-1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG
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ken der Vorgängerentscheidung 30 konsequent weiter. Da die Koalitionsfreiheit den Zusammenschluß zu einem bestimmten Zweck schütze, erfordere das auch den Schutz der Zweckverfolgung dadurch, daß die Rechtsordnung den Koalitionen ein Recht auf „spezifisch koalitionsgemäße Betätigung" gebe. 31 Die Koalitionsfreiheit umfasse die Bildung, die Betätigung und die Entwicklung der Koalitionen. Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen für die Zweckverfolgung für geeignet hielten, überlasse die Koalitionsfreiheit grundsätzlich ihnen. 3 2 Den Kernbereich der Koalitionsfreiheit erwähnte das BVerfG nicht.
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 14. 04. 1964 Die Entwicklung des Unerläßlichkeitskriteriums Nachdem das BVerfG in der Entscheidung vom 06. 05. 1964 3 3 die Betätigungsfreiheit der Koalitionen ausgebaut hatte, beschäftigte es sich in der Entscheidung vom 14. 04. 1964 3 4 wieder mit der Kernbereichslehre. Das BVerfG ergänzte die Kernbereichslehre um das Unerläßlichkeitskriterium. In der Entscheidung ging es um die Einschränkungen i m Personalvertretungsgesetz (PVG) für die bayerische Bereitschaftspolizei gegenüber dem Bayerischen PVG. Für die Koalitionsfreiheit von Bedeutung war Art. 6 PVG BP, der das gewerkschaftliche Zugangsrecht zu den Personalratsversammlungen - i m Gegensatz zum Bayerischen PVG - ausschloß. Das BVerfG setzte beim Schutz der spezifisch koalitionsgemäßen Betätigung an. 3 5 Ob auch die Betätigung der Gewerkschaften i m Bereich der Personal Vertretung danach geschützt ist, ließ das BVerfG offen. Denn es könnten nur solche Befugnisse geschützt sein, die unerläßlich seien für die wirksame Zweckverfolgung im Bereich der Personalvertretung: 36 „Denn jedenfalls könnten nur solche Befugnisse der Gewerkschaften verfassungsrechtlich geschützt sein, die unerläßlich sind, damit sie auch i m Bereich der Personalvertretung ihren Zweck, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern, wirksam vertreten können. Die nähere Ausgestaltung dieses Mitwirkungsrechts der Koalitionen bei der Personal Vertretung wäre auch dann Sache des Gesetzgebers, der berechtigt wäre, dabei den Besonder30 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96. 31 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26). 32 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (32). 33 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18. 34 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333) - Die Entscheidung erging zwar vor der zuvor besprochenen Entscheidung, nimmt aber Bezug auf diese, so daß hier der sachlichen Reihenfolge der Entscheidungen gefolgt wird. 35 Vgl. BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26). 36 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333).
38
1. Teil: Die historische Entwicklung
heiten der einzelnen Zweige des öffentlichen Dienstes angemessen Rechnung zu tragen." 3 7 Die Betätigungsfreiheit der Koalitionen ist also nicht unbegrenzt; der Schutz steht unter dem Vorbehalt des Unerläßlichkeitskriteriums. Begründet wird das Unerläßlichkeitskriterium nicht; auch wird sein Verhältnis zur Kernbereichslehre 38 nicht angesprochen. Ebenso wird die Funktion des Unerläßlichkeitskriteriums nicht ganz deutlich: Die Formulierung, daß nur solche Befugnisse der Koalitionen verfassungsrechtlich geschützt sein können, die unerläßlich sind, kann darauf hinweisen, daß das Unerläßlichkeitskriterium den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit betrifft. Eine andere mögliche Auslegung ist aber auch, das Unerläßlichkeitskriterium in Bezug auf die Aussage in der Vorgängerentscheidung, daß „die Rechtsordnung" den Koalitionen ein Betätigungsrecht zu geben hat, 3 9 zu lesen. Zusammen mit der Differenzierung des BVerfG zwischen Schutz der Betätigung als solcher 4 0 und dem unter dem Vorbehalt der Unerläßlichkeit stehenden Schutz der Befugnis spricht das dafür, das Unerläßlichkeitskriterium vor allem an den Gesetzgeber gerichtet zu sehen. Was unerläßlich ist, muß der Gesetzgeber regeln. Das Unerläßlichkeitskriterium würde in dieser Auslegung der Rechtsordnung (und dem Gesetzgeber) ein Mindestregelungsprogramm vorschreiben.
4. Fazit I m Zeitabschnitt von 1948 bis 1964 legte das BVerfG wichtige Grundlagen der Koalitionsfreiheit fest: den Schutz auch der Koalition als solcher, 41 den Schutz der Betätigung der Koalition, 4 2 die Kernbereichslehre 43 sowie das Unerläßlichkeitskriterium. 4 4 Noch unklar blieb das Verhältnis von Kernbereichslehre und Unerläßlichkeitskriterium. 4 5
37 38 39 40
BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333). BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106). BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26). Diese Frage läßt das BVerfG offen; vgl. BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106).
41 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101); BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319(333). 42 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); in Ansätzen (Schutz eines Tarifvertragssystems) auch BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106). 43 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106). 44 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333). 45 Als Ausblick auf die damalige Zukunft vgl. Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 RdNr. 73; Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 106; Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 40; Schwarze, JuS 1994, S. 653 (655) - das Verhältnis blieb auch noch lange Zeit unklar.
1. Kap.: 1948-1964: Die Entwicklung der Kernbereichslehre durch das BVerfG
39
I I I . Rechte der Gewerkschaften im Betrieb Das Thema der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb war i m behandelten Zeitraum kein intensiv diskutiertes Problem. Höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Thema fehlt. Unterinstanzliche Gerichte hatten jedoch keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Mitgliederwerbung und teilweise der sonstigen gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb. 4 6 So hielt das Arbeitsgericht Düsseldorf das Verbot eines Arbeitgebers, die Gewerkschaftsbeiträge im Betrieb einzusammeln, ohne weiteres für eine „schikanöse Benachteiligung" der Gewerkschaften. 47 Das L A G Hannover und das L A G Kiel hielten Kündigungen von Arbeitnehmern, die i m Betrieb für ihre Gewerkschaften geworben hatten, für unrechtmäßig. Das L A G Kiel meinte, der Beitritt zu einer gesetzmäßigen Organisation sei nicht rechtswidrig, das müsse auch für die Mitgliederwerbung gelten. 4 8 Das L A G Hannover hielt die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers für verletzt. 4 9 Auch die wenigen Stimmen der Literatur hielten die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i m Betrieb für zulässig. M o l i t o r 5 0 stützte dieses Ergebnis auf § 49 Abs. 2 BetrVG 1952, das Gebot vertrauensvoller Zusammenarbeit und Art. 5 GG. Er hielt die Verteilung von gewerkschaftlichen Schriften sowie die Sammlung von Unterschriften und Gewerkschaftsbeiträgen für zulässig, allerdings nur außerhalb der Arbeitszeit und soweit der Betriebsfrieden nicht gestört wird. Auch Richardi hielt die gewerkschaftliche Betätigung als solche für grundsätzlich zulässig. 51 Zusammenfassend läßt sich damit festhalten, daß es schon damals der h M entsprach, daß die Gewerkschaften i m Betrieb Mitgliederwerbung betreiben dürfen.
46 LAG Hannover 10. 07. 1951 BB 1951 S. 586; LAG Kiel 17. 10. 1951 BB 1952 S. 320; LAG Düsseldorf 19. 10. 1951 BB 1952 S. 116; vgl. auch: Arbeitsgericht Nienburg 25. 06. 1964 Ca 149/64; Arbeitsgericht Lingen a. d. Ems 08. 11. 1963 - Ga 11/63; Arbeitsgericht Arnsberg 19. 01. 1962 1 Ca 26/62; LAG Hamm 01. 03. 1955 1 Sa 563/54; Arbeitsgericht Saarlouis 21. 02. 1963 Ga 1/63; sämtlich zitiert nach Schaub, DB 1965, S. 1326 (1328, FN 29); - Bei den Entscheidungen LAG Stuttgart 20. 03. 1951 BB 51, 445 und LAG Düsseldorf 19. 10. 1951 BB 1952 S. 116, die beide das Verteilen von Schriften im Betrieb verbieten, wird aus den allein veröffentlichten Leitsätzen nicht deutlich, ob sich das Verbot auch auf die gewerkschaftliche Betätigung bezieht. 47 LAG Düsseldorf 19. 10. 1951 BB 1952 S. 116. 48 LAG Kiel 17. 10. 1951 BB 1952, 320 - das LAG hält das für einen Bestandteil des Arbeitsvertrages. Es stützt sich im übrigen auf Art. 9 Abs. 1 GG. 49 LAG Hannover 10. 07. 1951 BB 1951 S. 586. so Moliton BB 1954, S. 134 f.; ders., BB 1955, S. 167. 5i Richardi, NJW 1962, S. 1374 (1375).
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1. Teil: Die historische Entwicklung 2. Kapitel
1965-1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb Der Zeitraum von 1965 bis 1967 war kurz, aber ereignisreich. Er brachte eine intensive wissenschaftliche Diskussion des Problems der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb und zwei wichtige Grundsatzentscheidungen: Das BVerfG entschied über das Recht der Gewerkschaften auf Wahlwerbung vor den Personalratswahlen; das B A G bestätigte, daß die Gewerkschaften das Recht auf Mitgliederwerbung i m Betrieb haben.
I. Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Ansätze zu einer Problemlösung in der Literatur Hatte das Thema der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb bisher in der Literatur nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, so änderte sich das ab 1965. Anlaß für das erwachte wissenschaftliche Interesse war wohl die durch intensivierte gewerkschaftliche Werbeaktivitäten 52 erhöhte Zahl von Prozessen. 53 Diskutiert wurden vor allem zwei Probleme: die Werbung der Gewerkschaften vor Betriebsratswahlen 5 4 und der Plakataushang der Gewerkschaften i m Betrieb. 5 5 Einigkeit bestand dabei hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeit der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften im Betrieb: Sie wurde - in Ubereinstimmung mit der schon damals h M - für zulässig gehalten. 56 Dort aber endete die Einigkeit bereits. Schon die richtige Rechtsgrundlage für die Rechte der Gewerkschaften war umstritten. B r o x 5 7 suchte die Lösung i m BetrVG. Ein Anspruch der Gewerkschaften ergebe sich zwar nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes, wohl aber aus einer Zusammenschau der gewerkschaftlichen Rechte i m BetrVG. Unter Berücksichtigung des Wertesystems des GG und insbesondere Art. 9 Abs. 3 GG ergebe sich aus dem BetrVG für die Gewerkschaft ein Recht auf Plakataushang. Ob sich auch aus 52 Vgl. Rewolle, DB 1965, S. 364; BAG 29. 06. 1965 DB 1965 S. 1365 - mit Hinweis auf die „Aktion 1964" der Gewerkschaften. 53 Vgl. Hiersemann, DB 1966, S. 702; Schaub, DB 1965, S. 1326; vgl. auch Arbeitsgericht Gelsenkirchen DB 1965 S. 322. 54 Schaub, DB 1965, S. 1326. 55 Rewolle, DB 1965, S. 364; Brox, BB 1965, S. 1321; Säcker, BB 1966, S. 700; ders., BB 1966, S. 784; Hiersemann, DB 1966, S. 702; ders., DB 1966, S. 742; Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 902; Krevet, MDR 1966, S. 897. 56 Schaub, DB 1965, S. 1326; Brox, BB 1965, S. 1321; Neumann-Due s be rg, AuR 1966, S. 289; ders., BB 1966 S. 947; Säcker, BB 1966, S. 700; ders., BB 1966, S. 784; Rewolle, DB 1965, S. 364 (365). 57 Brox, BB 1965, S. 1321.
2. Kap.: 1965 - 1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG
41
den Grundrechten Rechte der Gewerkschaften ergeben könnten, könne dahinstehen, da jedenfalls das BetrVG das speziellere Gesetz sei. Rechte des Arbeitgebers seien durch den Plakataushang nicht beeinträchtigt. Allerdings verbiete § 49 Abs. 1 BetrVG 1952 die Gefährdung des Betriebsfriedens oder des ungestörten Arbeitsablaufs. 58 Neumann-Duesberg 59 meinte demgegenüber, daß i m BetrVG keine Regelung der gewerkschaftlichen Plakatwerbung zu erwarten sei. Damit liege keine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie scheide aus. Ein Anspruch der Gewerkschaften ergebe sich aber aus dem Grundsatz der Sozialadäquanz als anerkanntem Rechtfertigungsgrund. Es gehe um die Frage eines direkten Anspruchs der Gewerkschaften gegen den Arbeitgeber. Da die Sozialadäquanz ähnlich wie § 904 BGB und § 193 BGB ein aggressiver Rechtfertigungsgrund sei, also ein Handeln ohne vorheriges „Widerstreiten des Gegners" ermögliche, stelle sie einen primären Anspruch dar. 6 0 § 1004 BGB i V m Art. 9 Abs. 3 GG hingegen sei keine Anspruchsgrundlage, sondern lediglich ein Abwehranspruch. 61 In der Sache hielt Neumann-Duesberg die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften - auch durch Plakate - i m Betrieb für sozialadäquat, da sie in der Praxis üblich sei. Nicht mehr sozialadäquat seien allerdings Ehrverletzungen, Ordnungsstörungen, Gefährdungen des Betriebsfriedens und wildes Plakatieren. 62 Andere Autoren suchten eine Lösung über die Grundrechte. H o h n 6 3 und Schaub 6 4 entnahmen Art. 5 Abs. 1 G G 6 5 bzw. Art. 9 Abs. 3 G G 6 6 ein Betätigungsrecht der Gewerkschaften. Dieses Betätigungsrecht wägten sie mit den verletzten Rechten des Arbeitgebers ab und kamen zu dem Ergebnis, daß gewerkschaftliche Werbung durch Betriebsangehörige außerhalb der Arbeitszeit 6 7 bzw. die Werbung vor Betriebsratswahlen 68 zulässig sei. Allerdings dürfe dabei weder Arbeitgebereigentum in Anspruch genommen werden, noch dürfe der Betriebsablauf oder die betriebli58 Brox, BB 1965, S. 1321 (1323 ff.). 59 Neumann-Duesberg, AuR 1966, S. 289; ders., BB 1966, S. 947. 60 Neumann-Duesberg, AuR 1966, S. 289 f. 61 Neumann-Duesberg, AuR 1966, S. 289 (291) - Tatsächlich ordnet das BAG die Klagen der Gewerkschaften gegen ein Verbot des Arbeitgebers in den Begriff der unerlaubten Handlung ein. Es gibt damit strenggenommen keinen positiven Anspruch der Gewerkschaften, sondern nur einen Abwehranspruch gegen rechtswidrige Verbote des Arbeitgebers. Vgl. BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 S. 165 (168); Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 99 (FN 5); Zöllner, SAE 1967, S. 110 (111). 62 Neumann-Duesberg, AuR 1966, S. 289 (290 ff.); ders., BB 1966, S. 947 (948 ff.). 63 Hohn, BB 1965, S. 545 ff. 64 Schaub, DB 1965, S. 1326 ff. 65 Hohn, BB 1965, S. 545 (546). 66 Schaub, DB 1965, S. 1326. 67 Hohn, BB 1965, S. 545 (546). 68 Schaub, DB 1965, S. 1326 (1329) - aber kein generelles Werberecht; vgl. Schaub, DB 1965, S. 1326(1328).
42
1. Teil: Die historische Entwicklung
che Ordnung gestört werden. 6 9 Rewolle sah dagegen in Art. 9 Abs. 3 GG keinen Anspruch der Gewerkschaften, der einen Eingriff in das Eigentum des Arbeitgebers erlaube. 7 0 Die Gewerkschaften hätten deshalb kein Recht auf Plakataushang i m Betrieb. 7 1 Flugblattwerbung könne der Arbeitgeber allerdings nicht verbieten, da auf diese Weise sein Eigentum nicht in Anspruch genommen werde.
II. Der Beschluß des BVerfG vom 30.11.1965 Das Recht der Gewerkschaften auf Wahlwerbung vor Personalratswahlen Die Entscheidung des BVerfG vom 30. 11. 1965 7 2 ist für das Thema der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb von großer Bedeutung. Indem das BVerfG die Werbung der Gewerkschaften vor Personalrats wählen i m Betrieb für rechtmäßig erklärte, setzte es den Startschuß für die weiteren höchstrichterlichen Entscheidungen zum Thema. Diese wurden auch inhaltlich durch die Entscheidung des BVerfG geprägt. In dem Beschluß hatte sich das BVerfG mit der auf Art. 9 Abs. 3 GG gestützten Verfassungsbeschwerde eines bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigten Beamten zu befassen. Der Beschwerdeführer hatte während des Wahlkampfs für die Personalratswahlen Flugblätter seiner Gewerkschaft, der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, verteilt, auf denen die Tarifpolitik des konkurrierenden Deutschen Beamtenbundes (DBB) kritisiert wurde. Ein Mitglied des D B B beschwerte sich beim Dienststellenleiter, der eine Disziplinarverfügung gegen den Beschwerdeführer erließ. Dieser habe gegen die geltende Dienstanweisung verstoßen und den Betriebsfrieden gestört. Die Verfassungsbeschwerde war zulässig und begründet.
1. Zum Verhältnis
von individueller
und kollektiver
Koalitionsfreiheit
Bei der Prüfung setzte das BVerfG bei seinen alten Erkenntnissen a n : 7 3 Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die Koalition als solche 7 4 und ihr Recht, die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung zu verfolgen. 7 5 Neu war der folgende Hinweis, die Koalitionsfreiheit sichere auch 69 Hohn, DB 1965, S. 545 (550). 70 Rewolle, DB 1965, S. 364 (365). 71 Rewolle, DB 1965, S. 364 (365). 72 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. 73 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312). 74 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101); BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333). 75 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); in Ansätzen (Schutz eines Tarifvertragssystems) auch BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106).
2. Kap.: 1965-1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG
43
dem einzelnen das Recht, an der koalitionsgemäßen Betätigung seiner Gewerkschaft teilzunehmen: 7 6 Das BVerfG hatte erstmals über die Rechte eines einzelnen Gewerkschaftsmitglieds, nicht der Gewerkschaft selbst, zu entscheiden und konnte auf diese Weise auf seine Rechtsprechung zur kollektiven Koalitionsfreiheit zurückgreifen. 77
2. Der Schutz der Wahlwerbung der Gewerkschaften durch Art. 9 Abs. 3 GG Die in der vorangegangenen Entscheidung 78 offengelassene Frage, ob die Koalitionsfreiheit grundsätzlich die Betätigung der Gewerkschaften i m Rahmen der Personalvertretung schütze, bejahte das BVerfG jetzt. Es begründete dieses Ergebnis historisch: Da in der Weimarer Zeit die Einwirkungs- und Beteiligungsrechte der Gewerkschaften anerkannt gewesen seien, müsse das auch für das GG gelten. 7 9 Das so schon in der Entscheidung vom 18. 11. 1954 8 0 verwendete Begründungsmuster erwies sich damit in der Tat als verallgemeinerungsfähig. Nach dem in der Entscheidung zum Bayerischen Personalvertretungsgesetz vorgegebenen Prüfungsschema 81 hätte man erwarten können, daß das BVerfG nun nach der Unerläßlichkeit der Wahlwerbung i m Betrieb für die Gewerkschaften fragt. Das tat es jedoch nicht. Es wies darauf hin, daß die Bewerber für die Personalvertretungen überwiegend auf gewerkschaftsgebundenen Listen kandidieren und gewählt würden; auch seien die Tätigkeit der Personal Vertretungen und der Gewerkschaften auf vielfache Weise miteinander verknüpft. Und es meinte weiter: „ [ . . . ] Auch hieraus ergibt sich, daß die Werbetätigkeit vor Personalratswahlen für die Gewerkschaften als wichtiges Mittel zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anzusehen ist und deshalb vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG nicht ausgenommen sein kann." 82 76 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312). 77 Die damit entstehende Unklarheit, ob die individuelle Koalitionsfreiheit ein eigenes Betätigungsrecht umfaßt oder ob sie sich insoweit auf die Teilnahme an der kollektiv geschützten Betätigung beschränkt, löste das BVerfG erst im Beschluß vom 14. 11. 1995 (BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG S. 1 (5)) auf: „Aber auch das einzelne Mitglied einer Vereinigung wird geschützt, wenn es andere zum Beitritt zu gewinnen sucht. Wer sich darum bemüht, die eigene Vereinigung durch Mitgliederzuwachs zu stärken, nimmt das Grundrecht der Koalitionsfreiheit wahr."; vgl. zum Problem auch Rüthers, RdA 1968, S. 161 (175); Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 111 ff.; Lieb, SAE 1972, S. 19; Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 73; mißverständlich: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 550. 78 Vgl. BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333). 79 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (314 ff.). so BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101 f.). 81 Vgl. BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333). 82 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320).
44
1. Teil: Die historische Entwicklung 3. Der Schutz der Wahlwerbung
in der Dienststelle
Die Wahlwerbung vor Personalratswahlen ist also grundsätzlich geschützt. Diese Werbung muß nach Ansicht des BVerfG auch „ i n der Dienststelle und während der Dienstzeit" 8 3 möglich sein: Da sich die Willensbildung der Wahlberechtigten vornehmlich auf die Verhältnisse in der Dienststelle beziehe, könne die Wahl Werbung von der Sache her der Dienststelle nicht entfremdet und von ihr ferngehalten werden. Zudem sei die nötige Anwesenheit der Wählerschaft nur in der Dienststelle gewährleistet. 84 Auch Kritik an den konkurrierenden Gewerkschaften sei möglich. Daß Mitglieder anderer Organisationen auf die Wahl Werbung ablehnend reagieren können, muß nach Ansicht des BVerfG hingenommen werden, da ein Wahlkampf ohne gegensätzliche Meinungsäußerungen nicht denkbar sei. 8 5 Insbesondere diese Ausführungen waren für die weitere Entwicklung von großer Wichtigkeit: Das B A G übernahm in seinem Urteil zur Mitgliederwerbung 8 6 in weitem Umfang die Argumente des BVerfG.
4. Die Regelungsmöglichkeiten
des Gesetzgebers
Nachdem es den grundsätzlichen Schutz der Wahlwerbung in der Dienststelle damit bejaht hatte, erörterte das BVerfG die Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Es stellte fest, „Ausgestaltung und nähere Regelung des Rechts der Gewerkschaften, bei der Personalvertretung tätig zu werden", seien Sache des Gesetzgebers. 87 Art. 9 Abs. 3 GG schütze auch bei der Personalvertretung „ n u r einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung". 8 8 Dieser Kernbereich werde angetastet, wenn der Wahlwerbung Schranken gezogen würden, die nicht „ von der Sache selbst" gefordert würden. Das seien die Schranken, die „geboten" seien, um „Sinn und Zweck freier Personalratswahlen, die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben, die Ordnung der Dienststelle oder das Wohl der Bediensteten zu gewährleisten". 89 Das BVerfG kam damit wieder auf die Kernbereichslehre 90 zurück, allerdings mit einer leicht anderen Akzentsetzung. Hatte bisher die Koalitionsfreiheit einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung geschützt, 91 so schützt die Koalitionsfreiheit 83 84 85 86 87 88 89 90
BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (322). BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (108).
91 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (108).
2. Kap.: 1965 - 1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG
45
jetzt „nur" einen Kernbereich der Koalitionsfreiheit. 9 2 Das BVerfG faßte auch seine alte Schrankenformel - das Verbot der mittelbaren Aushöhlung 9 3 - neu und allgemeiner. In seiner nächsten Entscheidung zur Kernbereichslehre 94 kam es allerdings noch einmal auf seine alte Formel zurück.
III. Die Rechtsprechung des BAG Nach diesem ersten Schritt des BVerfG 9 5 stellte das B A G in seiner Grundlagenentscheidung vom 14. 02. 1967 9 6 fest, daß die Gewerkschaften auch das Recht zur Mitgliederwerbung i m Betrieb haben.
1. Das Urteil des BAG vom 26. 09. 1965 Zur Zuständigkeit der Arbeitsgerichte Zunächst mußte das B A G aber in seiner Entscheidung vom 26. 09. 1965 klarstellen, daß für die Fragen der gewerkschaftlichen Werbung i m Betrieb ausschließlich die Arbeitsgerichte gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG a.F. zuständig sind. 9 7 In der Sache - es ging um die Frage der Plakatwerbung i m Betrieb - entschied das B A G nicht, sondern verwies den Rechtsstreit zurück, um den Parteien nicht eine Instanz zu nehmen.
2. Das Urteil des BAG vom 14. 02. Die Gründungsurkunde der gewerkschaftlichen
1967Rechte im Betrieb
Das B A G hatte i m Grundsatzbeschluß vom 14. 02. 1967 9 8 zu entscheiden, ob die Verteilung von gewerkschaftlichen Flugblättern i m Betrieb an Gewerkschaftsmitglieder und Nichtmitglieder vom Arbeitgeber untersagt werden darf. Der Arbeitgeber hatte die seit Jahren hingenommene Verteilung untersagt, da sie gegen die mit dem Betriebsrat vereinbarte Arbeitsordnung verstoße. Die Vorinstanzen hatten der Klage der Gewerkschaften stattgegeben. Die Revision des Arbeitgebers blieb erfolglos.
92 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). 93 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (108). 94 BVerfG 19. 10. 1966 E 20 S. 312 (320) - zur Tariffähigkeit von Hand Werksinnungen. 95 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. 96 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 97 BAG 29. 06. 1965 DB 1965 S. 1365 f.; vgl. zum Problem auch Rewolle, DB 1965, S. 364. 98 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG.
46
1. Teil: Die historische Entwicklung
Das B A G griff die Vorgaben des BVerfG auf und nahm die Umsetzung der Koalitionsfreiheit entschlossen in die Hand: Das so entstandene Urteil des B A G kann man als die eigentliche Gründungsurkunde der gewerkschaftlichen Rechte i m Betrieb bezeichnen.
a) Der Schutz der Mitgliederwerbung durch Art. 9 Abs. 3 GG Das B A G führte in der Begründung aus, die Gewerkschaft habe einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Unterlassung des Verbots gem. §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB i V m Art. 9 Abs. 3 G G . " Das B A G folgerte aus der Tatsache, daß Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur die Koalitionsfreiheit des einzelnen schützt, sondern auch die Koalition selbst in ihrem Bestand und ihrer Betätigung - „und zwar in einem Kernbereich" 1 0 0 - , daß dieser Schutz die Informations- und Werbetätigkeit umfassen müsse, da diese eine notwendige Voraussetzung für den Bestand und die Betätigung der Koalition sei. Durch Werbung könnten die Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl steigern und damit ihre Aufgaben „besser und weitergehender" erfüllen: „Koalitionsgemäße Information und Werbung" seien „schlechthin [ . . . ] Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit der Gewerkschaften [ . . . ] " . 1 0 1 Das B A G sah diese Auffassung auch in Übereinstimmung mit der Entscheidung des BVerfG zur Wahl Werbung vor Personalratswahlen. 102 Es meinte, was für die Personal Vertretung gelte, müsse auch für die Betriebsverfassung gelten; und was für die Werbung hinsichtlich der Zusammensetzung des Personalrats bzw. des Betriebsrats gelte, müsse für die Gewerkschaften erst recht gelten, wenn es sich um die „unmittelbar eigenen Belange, d. h. um ihren Bestand und ihre Stärke," handele.103
b) Die Mitgliederwerbung im Betrieb Die vor allem streitige Frage, ob der Arbeitgeber die Verteilung der Flugblätter im Betrieb dulden muß, bejahte das B A G . Zwar sei möglicherweise die Werbung außerhalb des Betriebes nicht weniger erfolgversprechend. Nach den Grundsätzen, die das BVerfG in seiner Entscheidung zur gewerkschaftlichen Wahlwerbung vor Personalratswahlen aufgestellt habe, gelte aber das „Prinzip der Sachnähe", da die für die Gewerkschaften wesentlichen Fragen i m Betrieb auftauchten: 99 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 2 und S. 6). 100 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 3). ιοί BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 3). 102 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. 103 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 3).
2. Kap.: 1965 -1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG
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„Deshalb gehört es zum Kernbereich der verfassungsrechtlich den Koalitionen zugebilligten Werbe- und Informationsfreiheit, auch und gerade im Betrieb ihre Mitglieder zu informieren und neue Mitglieder zu werben." 104 Interessen des Arbeitgebers hielt das B A G nicht für verletzt. Dieser habe nicht zureichend vorgetragen, daß der Zu- und Abgang der Belegschaftsmitglieder durch die Schriftenverteilung beeinträchtigt werde. Es spreche auch kein Erfahrungssatz dafür, daß die Arbeitnehmer die Schriften während der Arbeitszeit lesen würden, so daß der Arbeitsablauf durch die Schriftenverteilung nicht gestört werde. 1 0 5
c) Die Grenzen des Werberechts Das B A G führte weiter aus, das Werberecht sei eingeschränkt durch die in der Koalitionsfreiheit selbst enthaltenen Schranken, durch das Sittengesetz, den Zusammenhang, in dem Art. 9 Abs. 3 GG zu den übrigen verfassungsrechtlichen Vorschriften steht, und die allgemeinen Strafgesetze. Daraus ergaben sich für das B A G folgende Grenzen des Werberechts: 1 0 6 - Die Gewerkschaft müsse auf den Koalitionspluralismus Rücksicht nehmen, auch, um Unfrieden i m Betrieb zu vermeiden, da dadurch der Arbeitsablauf gestört werde, was einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentumsrecht des Arbeitgebers bedeute. Die Gewerkschaft dürfe deshalb jedenfalls nicht in grob unwahrer oder hetzerischer Weise gegen andere Gewerkschaften vorgehen oder es auf deren Vernichtung anlegen. - Die Behandlung politischer Fragen sei durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht gedeckt, es sei denn, sie stünden mit der „ Wahrung (!) der Arbeits- und Wirtschaftsbeding u n g e n " 1 0 7 in unmittelbarem Zusammenhang. - Die Betätigung der Gewerkschaft dürfe nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer - die, auch wenn umstritten sei, ob sie sich aus Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 9 Abs. 3 GG ergebe, jedenfalls i m Ergebnis anerkannt sei verstoßen. Die Werbung dürfe nicht über ein gütliches Zureden hinausgehen, ein Bedrängen sei auf jeden Fall verboten. Das ergebe sich auch aus der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG; bei einem unsachlichen Angriff werde zudem auch der Arbeitsablauf gestört. - Aus Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG ergebe sich das Verbot „unsachlicher" Angriffe gegen den Arbeitgeber, die Arbeitgeberschaft i m allgemeinen und die Arbeitgeberverbände. 104 BAG 105 BAG 106 BAG 107 BAG der Arbeits-
14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 4 f.). 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 4). 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 5 f.). 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 5) - Das BAG erwähnt die Förderung und Wirtschaftsbedingungen nicht.
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1. Teil: Die historische Entwicklung
- Der Betriebsrat als solcher dürfe nicht für eine Gewerkschaft werben, andernfalls würde er gegen das gesetzliche Gebot der Neutralität verstoßen. Bei der Beteiligung einzelner Betriebsratsmitglieder an der gewerkschaftlichen Betätigung müsse eine deutliche Scheidung von ihrem Betriebsratsamt erkennbar sein.
d) Fazit Die Entscheidung des B A G 1 0 8 ist - zusammen mit der Entscheidung des BVerfG zur Wahlwerbung vor Personalratswahlen 109 - die Grundlage der weiteren Entwicklung der Diskussion um die Rechte der Gewerkschaften i m Betrieb. Große Bedeutung hatte auch der vom B A G aufgestellte Schrankenkatalog, der nach Ansicht Gamillschegs „Beispiel schon einer subtilen Abwägung, nicht mehr nur praktischer Konkordanz" i s t . 1 1 0 Die große inhaltliche Akzeptanz, die der Schrankenkatalog fand, zeigt sich schon darin, daß nachfolgend über die inhaltlichen Grenzen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb kaum noch kontrovers diskutiert, sondern statt dessen eher der Schrankenkatalog ausgelegt wurde. 1 1 1
IV. Beispiele für Entscheidungen unterinstanzlicher Arbeitsgerichte Die unterinstanzlichen Arbeitsgerichte beschäftigten sich i m behandelten Zeitraum mehrfach mit dem Plakataushang der Gewerkschaften i m Betrieb. Das Arbeitsgericht Gelsenkirchen 1 1 2 hielt den Plakataushang der Gewerkschaften zur Werbung vor einer Betriebsratswahl für zulässig. Der Anspruch ergebe sich aus § 823 Abs. 2 BGB i V m Art. 9 Abs. 3 GG. Daraus und aus einer Rechtsanalogie zum BetrVG folge das Recht der Gewerkschaften auf den Plakataushang. Grundrechte des Arbeitgebers seien nicht verletzt; Art. 14 GG trete i m Wege der Sozialbindung zurück, soweit die Wahlpropaganda Rücksicht auf den Arbeitgeber und den Betrieb nehme. Kein Recht auf Plakatwerbung gab dagegen das Arbeitsgericht Wuppertal den Gewerkschaften: 113 Mitgliederwerbung müsse der Arbeitgeber zwar hinnehmen aber keine Plakatwerbung. Dafür sei die betriebliche Anschlagtafel nicht gedacht. los BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 109 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. no Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 248 f.; zur Bedeutung des Schrankenkatalogs vgl. auch: Richardi, FS Müller, S. 413 (426 ff.); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 283; Reuter, ZfA 1976, S. 107 (156 f.). m Vgl. Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 162 ff.; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 284 ff. 112 Arbeitsgericht Gelsenkirchen 02. 02. 1965 DB 1965 S. 331. 113 Arbeitsgericht Wuppertal 29. 06. 1967 DB 1967 S. 1372.
2. Kap.: 1965 -1967: Die Grundlagenentscheidungen von BVerfG und BAG
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A u f eine ungewöhnliche Rechtskonstruktion stützte sich das L A G Niedersachsen, als es den Plakataushang zur Mitgliederwerbung für rechtmäßig h i e l t . 1 1 4 Es begründete das Ergebnis mit Art. 9 Abs. 3 GG und dem Verbandstarifvertrag, an den der Arbeitgeber gebunden sei. Aus der Mitgliedschaft i m Arbeitgeberverband folge die Pflicht des Arbeitgebers, Maßnahmen zu unterstützen, die dem Tarifvertrag ein größeres Gewicht verliehen. Das erfolge auch durch die Mitgliederwerbung der Gewerkschaft, da auf diese Weise die Anzahl der an den Tarifvertrag gebundenen Arbeitnehmer steige. Diese Pflicht zur Förderung des Tarifvertrags bestehe grundsätzlich nur gegenüber dem Arbeitgeberverband. Was gegenüber diesem rechtswidrig sei, könne gegenüber der Gewerkschaft aber nicht rechtmäßig sein. Grundrechte des Arbeitgebers seien nicht verletzt; insbesondere sei auch der Betriebsfrieden nicht gefährdet. Der Begründungsansatz des L A G Niedersachsen fand weder Zustimmung noch Nachfolger. 1 1 5
V. Die Reaktion der Literatur auf die Rechtsprechung Die Reaktionen der Literatur auf die Entscheidung des BVerfG vom 30. 11. 1 9 6 5 1 1 6 waren geteilt. Söllner 1 1 7 begrüßte den Beschluß als „folgerichtige" Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung; den Ausführungen des BVerfG sei „schwerlich etwas entgegenzusetzen". 118 Z ö l l n e r 1 1 9 und Hiersemann 1 2 0 vertraten die Gegenposition. Zöllner unterzog den Beschluß einer vernichtenden Fundamentalkritik. Er wollte schon den Ausgangspunkt des BVerfG, daß Art. 9 Abs. 3 GG auch die Betätigung der Gewerkschaften im Rahmen der Personalvertretung schütze, nicht gelten lassen. Die vom BVerfG vorgenommene historische Begründung könne das Ergebnis nicht tragen: „Zeitbedingte Entwicklungsstufen" dürften nicht als „verfassungsrechtliche Mindestpositionen" verfestigt werden. 1 2 1 Den weiteren Schluß des BVerfG - „Betätigung also Wahlwerbung" - hielt er so ebenfalls nicht für haltbar: Den Gewerkschaften stünde nicht einmal ein Wahlvorschlagsrecht zu; schon deshalb könnten sie kein Recht auf Wahlwerbung haben. Hiersemann forderte zudem eine einfachgesetzliche Regelung, da Art. 9 Abs. 3 GG nur „generelle Garantien" b i e t e . 1 2 2 114 LAG Niedersachsen 10. 12. 1965 BB 1966 S. 778. us Ablehnend: Krevet, MDR 1966, S. 897 f.; Rüthers, RdA 1968, S. 161 (165); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 259. 116 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. i n Söllner, JZ 1966, S. 401. us Söllner, JZ 1966, S. 401 (405). 119 Zöllner, SAE 1966, S. 162. 120 Hiersemann, DB 1966, S. 702 (Teil I), S. 742 (Teil II) - Teil I beschäftigt sich vor allem mit der Widerlegung der Ansicht Brox\ 121 Zöllner, SAE 1966, S. 162 (164). 122 Hiersemann, DB 1966, S. 742 (743). 4 Brock
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1. Teil: Die historische Entwicklung
Diskutiert wurde i m Anschluß an den Beschluß des BVerfG ~ auch die Frage, welche Schlußfolgerungen sich hieraus für die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften ziehen lassen. Söllner meinte, der Beschluß des BVerfG erfordere auch die rechtliche Anerkennung der Mitgliederwerbung. 1 2 4 Für Zöllner hingegen verbaten sich weitere Schlußfolgerungen aus dem Beschluß: Der Schutz der „spezifisch koalitionsgemäßen Betätigung" sei ein bloßer Slogan, keine brauchbare juristische Formel. Die Mitgliederwerbung könne nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt sein, denn eine sozialempirische Erforderlichkeit der Mitgliederwerbung i m Betrieb sei nicht nachweisbar. 125 Für Hiersemann standen der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i m Betrieb die Grundrechte des Arbeitgebers aus Art. 13, 14 und 9 Abs. 3 GG entgegen. 1 2 6 Säcker dagegen 1 2 7 hielt die Mitgliederwerbung für rechtmäßig. Das ergebe sich aus Art. 9 Abs. 3 G G . 1 2 8 Entgegen der Ansicht Zöllners müsse die Mitgliederwerbung nicht sozialempirisch nachgewiesen werden, es reiche, daß sie geeignet und angemessen s e i . 1 2 9 Die Meinungslage im Schrifttum war damit also keineswegs mehr eindeutig, als das B A G über die Mitgliederwerbung entschied. 1 3 0 Zöllners Antwort auf die Entscheidung des B A G war jedoch eindeutig: „Das Gericht hat sich [ . . . ] mit der vorliegenden Entscheidung der großen Zahl jener Verfassungszauberer beigesellt, die die Verfassung nicht interpretieren und in den zulässigen Grenzen ihren Sinn entfalten, sondern die mit Hilfe von Kryptoargumenten eigenen rechtspolitischen Vorstellungen gegenüber dem positiven Recht zum Sieg verhelfen." 131 Er rügte insbesondere, daß der Schluß des B A G von der Wahlwerbung auf die Mitgliederwerbung nicht zulässig sei. Das B A G habe die Notwendigkeit der Mitgliederwerbung i m Betrieb nicht dargelegt; das vom B A G bemühte „Prinzip der Sachnähe" sei bisher in keinem Rechtsgebiet anerkannt oder auch nur ernsthaft erörtert worden. 1 3 2 Billigenswert an der Entscheidung fand er allerdings die engen Grenzen, die das B A G dem Werberecht z o g . 1 3 3
123 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. 124 Söllner, JZ 1966, S. 401 (405 f.). 125 Zöllner, SAE 1966, S. 162 (165 f.). 126 Hiersemann, DB 1966, S. 742 (744 f.). 127 Säcker, BB 1966, S. 700; ders., BB 1966, S. 784. 128 Säcker, BB 1966, S. 784 (786). 129 Säcker, BB 1966, S. 784 (785). 130 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 131 Zöllner, SAE 1967, S. 110(111). 132 Zöllner, SAE 1967, S. 110 (111). 133 Zöllner, SAE 1967, S. 110 (112).
3. Kap.: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
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Auch Jürging und Kass verneinten ein Werberecht der Gewerkschaften im Bet r i e b 1 3 4 und wiesen auf das Unerläßlichkeitskriterium hin. Sie meinten, die innerbetriebliche Werbung der Gewerkschaften sei nicht unerläßlich, da die Gewerkschaften auch außerhalb des Betriebs werben könnten. 1 3 5 Zudem seien auch Grundrechte des Arbeitgebers - insbesondere Art. 13 GG und Art. 14 GG - durch die Werbung im Betrieb so verletzt, daß ein Werberecht der Gewerkschaften dahinter zurücktreten müsse. 1 3 6 Rüthers 1 3 7 untersuchte minutiös, wie die Befugnis der Gewerkschaften, i m Betrieb zu werben, aus der Koalitionsfreiheit hergeleitet werden k a n n . 1 3 8 Er gab der Kritik dahingehend recht, daß die Mitgliederwerbung, um rechtlich anerkannt zu sein, unerläßlich sein müsse. 1 3 9 Er bestimmte den Inhalt des Unerläßlichkeitskriteriums nach Maßgabe der Entscheidung des BVerfG zur Wahl Werbung der Gewerkschaften 1 4 0 aber lediglich als „wichtiges M i t t e l " . 1 4 1 Grundrechte des Arbeitgebers - Rüthers prüfte Art. 13 GG, Art. 14 GG und Art. 9 Abs. 3 GG - hielt er nicht für verletzt 1 4 2 und kam zur Rechtmäßigkeit der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i m Betrieb. Wenn auch die Autoren hinsichtlich des Ergebnisses differierten, so herrschte doch Einigkeit hinsichtlich der richtigen Anspruchsgrundlage: Wenn überhaupt, dann gibt Art. 9 Abs. 3 GG den Gewerkschaften ein Recht auf Betätigung i m Betrieb. In der Diskussion rückte zudem das Unerläßlichkeitskriterium, das in den Entscheidungen von BVerfG und B A G keine Rolle gespielt hatte, in den Blickpunkt.
3. Kapitel
1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht Nach der ereignisreichen Vorperiode kehrte ein wenig Ruhe ein. Das BVerfG entschied über die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i m Betrieb und bestä134 Jürging/Kass, DB 1967, S. 815 (Teil I), S. 864 (Teil II). 135 Jürging!Kass, DB 1967, S. 815 (817 f.). 136 Jürging /Kass, DB 1967, S. 815 (818 f.). 137 Rüthers, RdA 1968, S. 161; Hintergrund des Gutachtens war eine vom Arbeitgeber gegen die Entscheidung des BAG eingelegte Verfassungsbeschwerde; diese wurde später jedoch zurückgenommen. 138 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (166 ff.). 139 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (172) - unter Hinweis auf BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333) und BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (313). 140 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). 141 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (173). 142 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (176 f.). 4*
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1. Teil: Die historische Entwicklung
tigte die Rechtsprechung des B A G . Es entwickelte auch die Kernbereichslehre weiter. A b 1972 beschäftigte der Streit um ein Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zum Betrieb zum Zweck der Mitgliederwerbung die Arbeitsgerichte. Zunächst ist aber auf den gescheiterten Versuch einer einfachgesetzlichen Lösung einzugehen.
I. Der gescheiterte Ansatz zu einer einfachgesetzlichen Problemlösung Das BetrVG 1972 Das Grundproblem der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb war und ist, daß eine einfachgesetzliche Regelung fehlt und die gewerkschaftlichen Rechte deshalb von den Arbeitsgerichten direkt aus der Verfassung abgeleitet werden müssen. 1 4 3 Die Beschäftigung mit der Möglichkeit und Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Regelung des Rechts der Koalitionen blieb auf die wissenschaftliche Literatur beschränkt. 1 4 4 Der Gesetzgeber blieb untätig. Selbst der Versuch einer M i nimallösung i m Referentenentwurf des BetrVG 1 9 7 2 1 4 5 scheiterte. Der Referentenentwurf sah folgenden § 2 Abs. 3 BetrVG vor: „Die Gewerkschaften haben das Recht, im Betrieb außerhalb der Arbeitszeiten und in den Pausen für ihre gewerkschaftlichen Ziele zu werben und Informationsmaterial mit gewerkschaftlichem Inhalt zu verteilen." 146 Dieser Versuch einer Regelung scheiterte schon bei den internen Absprachen der Koalitionspartner SPD und F D P ; 1 4 7 die Regelung war i m Regierungsentwurf des Gesetzes nicht mehr enthalten. 1 4 8 In den Rezensionsaufsätzen zur Neufassung wurde zumeist nicht auf die Streichung des ursprünglich geplanten § 2 Abs. 3 BetrVG eingegangen. Die Autoren beschränkten sich auf den Hinweis, daß durch das BetrVG 1972 die von der Rechtsprechung aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleiteten Werberechte der Gewerkschaften nicht eingeschränkt werden. 1 4 9 Lediglich Hanau erörterte das Problem. 1 5 0 Er beurteilte die Regelung i m Referentenentwurf negativ und meinte, mit „einer solchen Vorschrift wäre wenig anzufangen gewesen." Er vermißte insbesondere eine Klarstellung hinsichtlich des Zugangsrechts der Gewerkschaften zum Betrieb zur Wahrnehmung koalitionsspezifischer Aufgaben. 143 BAG 26. Ol. 1082 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG (S. 279); BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung; Lerche, NJW 1987, S. 2465 (2470). 144 Vgl. Gerhard, Das Koalitionsgesetz. 145 146 147 148 149 150
Abgedruckt in RdA 1970, S. 357 ff. Referentenentwurf zum BetrVG 1972 RdA 1970, S. 357. Vgl. RdA 1970, S. 357 (370); vgl. Klosterkemper, Zugangsrecht. S. 94. Vgl. BT-Drucksache VI/1786, S. 1. Falkenberg, DB 1972, S. 774; Kremp, AuR 1973, S. 193 (201). Hanau, BB 1971, S. 485 (487).
3. Kap.: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
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Tatsächlich ist § 2 Abs. 3 des Referentenentwurfs das Gegenteil einer Klarstellung. A u f das damals schon erkennbare Problem des Zugangsrechts der Gewerkschaften zum Betrieb - schon 1967 erwähnte das B A G das Problem 1 5 1 - geht er auf vieldeutige Weise nicht ein. Denn einerseits wird ein Zugangsrecht nicht ausdrücklich bejaht, andererseits fehlen der Regelung, die sich an den 1. Leitsatz der Entscheidung des B A G zur Mitgliederwerbung anlehnt, 1 5 2 die entscheidenden Worte „durch der Gewerkschaft angehörende Belegschaftsmitglieder". Damit wäre der Streit, ob das Werberecht in § 2 Abs. 3 eine Befugnis der Gewerkschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 BetrVG ist, ob also die Gewerkschaft ein Zugangsrecht hat, vorprogrammiert gewesen. Angesichts der nur sehr punktuellen Regelung - die Vorschrift sagt nichts zum Plakataushang, zum Recht der Gewerkschaft auf Benutzung von Betriebsräumen oder zu den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten - wäre der Streit über diese Probleme ebenfalls nicht vermieden worden. Abgesehen von der gesetzlichen Kodifizierung des schon ohnehin richterrechtlich Entschiedenen hätte die Vorschrift damit nichts gebracht. Auch wenn § 2 Abs. 3 des Referentenentwurfs Gesetz geworden wäre, behielte die Überschrift ihre Gültigkeit: „Ein gescheiterter Lösungsversuch".
II. Die Rechtsprechung des BVerfG 1. Die Entscheidung des BVerfG vom 26. 05. 1970 Das BVerfG bestätigt die Rechtsprechung des BAG I m Beschluß des BVerfG vom 26. 05. 1 9 7 0 1 5 3 ging es um die Verfassungsbeschwerde eines vom Dienst freigestellten Personalratsvorsitzenden, der wegen Werbung für seine Gewerkschaft gem. § 26 PersVG aus dem Personalrat ausgeschlossen worden war. Er hatte eine neu eingestellte Kollegin mehrfach während des Dienstes aufgesucht, um sie für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu werben. Bei ihrem Dienstantritt hatte er sich der neuen Kollegin zwar als Personalratsvorsitzender vorgestellt, bei den Werbeversuchen aber nicht auf sein A m t hingewiesen. Das letztinstanzlich entscheidende BVerwG hielt den Ausschluß aus dem Personalrat für rechtmäßig, da der Beschwerdeführer durch seine intensive Werbung für die Gewerkschaft das Vertrauen in die Neutralität seiner Amtsführung erschüttert und damit gegen § 56 Abs. 1 S. 1 PersVG verstoßen habe. Die zulässige Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg.
151 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 4). 152 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 1) - „Der Betriebsinhaber darf es einer Gewerkschaft nicht untersagen, im Betrieb durch der Gewerkschaft angehörende Belegschaftsmitglieder Werbe- und Informationsmaterial mit spezifisch koalitionsgemäßem Inhalt außerhalb der Arbeitszeit und während der Pausen verteilen zu lassen." 153 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295.
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1. Teil: Die historische Entwicklung a) Zum Schutzbereich der Koalitionsfreiheit
Das BVerfG setzte wieder bei seinem alten Ausgangspunkt a n : 1 5 4 Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die Koalitionen selbst 1 5 5 in ihrem Bestand und in ihrer Betätigung; 1 5 6 das Grundrecht gewährleistet auch dem einzelnen das Recht, an der verfassungsrechtlich geschützten Betätigung der Gewerkschaft teilzunehmen. 1 5 7 Bei der Frage, ob auch die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften verfassungsrechtlich geschützt ist, stützte sich das BVerfG auf das Unerläßlichkeitskriterium: „Sind die Koalitionen selbst in den Schutz des Grundrechts der Koalitionsfreiheit einbezogen [ . . . ] , wird also durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur ihr Entstehen, sondern auch ihr Bestand gewährleistet [ . . . ] , so müssen nach Sinn und Zweck der Bestimmung auch diejenigen Betätigungen verfassungsrechtlich geschützt sein, die für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition unerläßlich sind." 159 Das BVerfG argumentierte weiter, es bedürfe keiner näheren Darlegung, daß die Gewerkschaften auf „ständige Mitgliederwerbung" zur Erhaltung ihres Bestandes angewiesen seien. Da die Gewerkschaften ihrer Aufgabe umso effektiver nachkommen könnten, je mehr Mitglieder sie hätten, sei die Mitgliederwerbung als Voraussetzung der Mitgliederstärke verfassungsrechtlich geschützt. Nicht näher begründete das BVerfG, warum das gerade auch für den Schutz der Mitgliederwerbung i m Betrieb gilt, obwohl es diesen Gesichtspunkt in der Entscheidung zur Wahl Werbung noch eingehend erörtert hatte. 1 6 0 Was sich in der Literatur 1 6 1 schon angedeutet hatte, vollzog damit auch das BVerfG: das Unerläßlichkeitskriterium gewann Bedeutung für das Thema. Hier war das BVerfG einerseits sehr restriktiv: Eine Maßnahme muß unerläßlich für Erhaltung und Sicherung der Existenz der Gewerkschaft sein. Andererseits bejahte es ohne weiteres die Unerläßlichkeit der Mitgliederwerbung für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Gewerkschaft. 1 6 2
154 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304). 155 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101); BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319(333); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312). 156 BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312). 157 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312). 158 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); allerdings gibt das BVerfG diese Entscheidung nicht als Belegstelle an; vgl. BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304). 159 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304). 160 Vgl. BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320 f.). 161 Jürging/Kass, DB 1967, S. 815 (817 f.); Rüthers, RdA 1968, S. 161 (172). 162 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304).
3. Kap.: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
55
b) Die Regelungsmöglichkeiten des Gesetzgebers Nachdem es den verfassungsrechtlichen Schutz der Mitgliederwerbung als solcher bejaht hatte, prüfte das BVerfG nun anhand des Kernbereichs, inwieweit der Gesetzgeber diese Betätigung einschränken könne. Es folgte darin dem Prüfungsschema der Entscheidung zur Wahlwerbung. 1 6 3 „Art. 9 Abs. 3 GG schützt nur einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung [ . . . ] ; das gilt auch für die Mitgliederwerbung. [ . . . ] Die Verfassung gewährleistet jedoch die Tätigkeit der Koalitionen nicht schrankenlos. Es ist Sache des Gesetzgebers und fällt in den Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, daß er die Befugnisse der Koalitionen im einzelnen ausgestaltet und näher regelt. [ . . . ] Dem Betätigungsrecht der Koalitionen dürfen aber nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind [ . . . ] . " 1 6 4 In der Sache stellte das BVerfG fest, ein generelles Verbot der Mitgliederwerbung i m Betrieb sei nicht gerechtfertigt. Wegen der Neutralität des Personalrats könne der Gesetzgeber aber Personalratsmitgliedern jede Werbung für ihre Gewerkschaft - wenn auch nicht die Mitgliedschaft in dieser - verbieten: Der Gesetzgeber dürfe auch abstrakten Gefährdungen der für die Arbeit der Personalvertretungen unerläßlichen Grundlagen entgegenwirken. Das BVerfG baute seine Kernbereichslehre langsam aus. Es fügte in dieser Entscheidung seine beiden Elemente einer Dogmatik der Koalitionsfreiheit zum ersten M a l zusammen: 1 6 5 Nach der Prüfung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Betätigung überhaupt anhand des Unerläßlichkeitskriteriums prüfte es mittels der Kernbereichslehre die Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Der Kernbereich ist der Frage nach der Unerläßlichkeit nachgeordnet. Die Kernbereichsformel, der Gesetzgeber dürfe nur von der Sache selbst gebotene Einschränkungen machen, 1 6 6 wurde präzisiert in „zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache selbst gebotene Einschränkungen". 1 6 7 Wie weit dieses Ausgestaltungsrecht des Gesetzgebers geht, zeigte das BVerfG anschließend: bis zum völligen Verbot der gewerkschaftlichen Werbung für Personalratsmitglieder.
163 IM 165 166 167
BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305 f.). Allerdings schon so angedeutet in: BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333). BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (322). BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (306).
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1. Teil: Die historische Entwicklung 2. Die Entscheidung des BVerfG vom 18. 12. 1974 Schutzbereich der Koalitionsfreiheit beschränkt auf das Unerläßliche?
Die klare Trennung zwischen Unerläßlichkeitskriterium und Kernbereich in der Vorgängerentscheidung gab das BVerfG jedoch in der Entscheidung vom 18. 12. 1 9 7 4 1 6 8 zu den Arbeitnehmerkammern auf: „Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist den Koalitionen (Gewerkschaften) nur ein „Kernbereich" koalitionsgemäßer Tätigkeit verfassungsrechtlich garantiert, d. h. diejenigen Tätigkeiten, für die sie gegründet sind und die für die Erhaltung und Sicherung ihrer Existenz als unerläßlich betrachtet werden müssen [ . . . ] . " 1 6 9 In den vorangegangenen Entscheidungen des BVerfG bezog sich der Kernbereich noch auf die Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers und wurde mit der Abwägungsformel - daß Schranken von der Sache selbst zum Schutz anderer Rechtsgüter geboten sein müßten - beschrieben. 170
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 28. 04. 1976 Schutzbereich der Koalitionsfreiheit doch nicht beschränkt auf das Unerläßliche? I m Beschluß vom 28. 04. 1976 1 7 1 entschied das BVerfG, daß Art. 9 Abs. 3 GG nicht einen gewerkschaftlichen Wahlaufruf schützt, diese Betätigung aber durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt wird. Es meinte, die Wahl Werbung einer Koalition vor einer allgemeinen politischen Wahl sei keine „spezifisch koalitionsgemäße Betätigung", denn der besondere Schutz der Wahlwerbung einzelner Gruppen sei mit der prinzipiellen Gleichheit aller politischen Kräfte nicht zu vereinbaren. Beachtenswert für die Entwicklung der Kernbereichslehre ist ein eher beiläufig eingeschobener Satz: „Der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Schutz [ . . . ] kann sich [ . . . ] nicht auf die Werbung von Koalitionen vor allgemeinen Wahlen beziehen. Vollends gehört diese nicht zum „ Kernbereich " der geschützen Koalitionstätigkeit [...]." 172 Das ist etwas verwirrend. Lange Zeit hatte das BVerfG den verfassungsrechtlichen Schutz einer Betätigung aus deren Unerläßlichkeit oder dem historischen Bestand gefolgert. Der Kernbereich hatte die Ausgestaltungsmöglichkeiten des Ge168 BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (305). 169 BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (305). no BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (323); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305). 171 BVerfG 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (138). 172 BVerfG 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (139); (Hervorhebung vom Verf.; das BVerfG selbst schreibt „Kernbereich" in Anführungszeichen).
3. Kap.: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
57
setzgebers beschrieben. Nachdem das BVerfG in der Vorgängerentscheidung den Kernbereich nicht mehr - wie zuvor - mit der Abwägungsformel, daß Einschränkungen „zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache selbst geboten" 1 7 3 sein müßten, beschrieben hatte, sondern statt dessen auf das Unerläßlichkeitskriterium abgestellt hatte, deutete es nun an, daß die Koalitionsfreiheit nicht „nur" in einem Kernbereich geschützt wird. „Vollends" deutet darauf hin, daß es Betätigungen gibt, die geschützt sind, aber nicht zum Kernbereich gehören. Das heißt, daß der Kernbereich nicht mit dem Schutzbereich identisch ist, obwohl doch die Vorgängerentscheidung gerade das angedeutet hatte.
4. Weitere Entscheidungen des BVerfG Die Darstellung konzentriert sich auf die Entscheidungen des BVerfG, die Bezug zum Thema haben oder die sich mit dem Unerläßlichkeitskriterium befassen. Diese sind jedoch nur ein Ausschnitt aus der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 9 Abs. 3 GG. Interessant für das Thema ist hier, daß sich ein erheblicher Teil der übrigen Entscheidungen des BVerfG zu Art. 9 Abs. 3 GG auf die Kernbereichslehre stützt, aber das Unerläßlichkeitskriterium nicht erwähnt. 1 7 4 Andere Entscheidungen erwähnen auch den „Kernbereich" der Koalitionsfreiheit n i c h t . 1 7 5 Das Unerläßlichkeitskriterium wird auch in diesen Entscheidungen nicht erwähnt; es bleibt eher ein seltener Ausnahmefall in der Rechtsprechung des BVerfG.
I I I . Der Streit um das koalitionsrechtliche Zugangsrecht zum Betrieb 1. Die Entscheidung des BAG vom 14. 02. 1967 Das B A G hatte schon in seinem Urteil vom 14. 02. 1 9 6 7 1 7 6 auf das Problem eines gewerkschaftlichen Zugangsrechts zum Betrieb hingewiesen, hatte aber in der Sache nicht entscheiden müssen, da die klagende Gewerkschaft nur mit betriebsangehörigen Mitgliedern werben wollte.
173 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (306). 174 BVerfG 24. 05. 1977 E 44 S. 322 (340); BVerfG 27. 03. 1979 E 51 S. 77 (87 f.); BVerfG 01. 10. 1987 E 77 S. 1 (63). 175 BVerfG 20. 07. 1971 E 31 S. 297 (302); BVerfG 27. 02. 1973 E 39 S. 307 (316); BVerfG 14. 02. 1978 E 47 S. 191 (197); BVerfG 15. 07. 1980 E 55 S. 7 (20); BVerfG 23. 03. 1982 E 60 S. 162 (170); BVerfG 14. 06. 1983 E 64 S. 208 (215); BVerfG 16. 10. 1984 E 67 S. 369 (379); BVerfG 23. 04. 1986 E 73 S. 261 (270). 176 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 4).
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1. Teil: Die historische Entwicklung 2. Die Entscheidung des BAG vom 26. 06. 1973
Auch in seinem Beschluß vom 26. 06. 1 9 7 3 1 7 7 , in dem es feststellte, daß § 2 Abs. 2 BetrVG kein allgemeines, an keine weiteren Voraussetzungen geknüpftes Zugangsrecht gebe, wies das B A G auf die Möglichkeit eines koalitionsrechtlichen, auf Art. 9 Abs. 3 GG gestützten Zugangsrechts hin und stellte fest: „Der Arbeitgeber muß somit auch einfachgesetzlich die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte koalitionsmäßige Betätigung und in diesem Rahmen u. U. vielleicht auch den Zugang des Gewerkschaftsbeauftragten zum Betrieb hinnehmen. " 178
3. Die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg
vom 08. 08. 1973
Die erste Entscheidung in der Sache stammt vom L A G Baden - Württemb e r g . 1 7 9 Es ging um den Sonderfall des Zugangsrechts zu einem Schiff, auf dem die dort beschäftigten Seeleute gleichzeitig wohnten. Das Gericht lehnte ein Zugangsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG zur Werbung und zur Betreuung der Mitglieder ab. Zwar sei der Gewerkschaft der Kontakt zu den Seeleuten erschwert, aber nicht unmöglich. Sie könne ihre koalitionsmäßige Betätigung auf dem Postwege und während der Liegezeiten wahrnehmen; die koalitionsangehörigen Seeleute könnten für die Gewerkschaft ausreichend werben. A u f die Rechtsprechung des BVerfG zum Unerläßlichkeitskriterium und zur Kernbereichslehre ging das Gericht nicht ein.
4. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts
Heilbronn vom 24. 10. 1975
In der nächsten einschlägigen Entscheidung bejahte das Arbeitsgericht Heilb r o n n 1 8 0 ein Zugangsrecht: Der Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG decke auch das Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsfunktionäre zur Wahrnehmung koalitionspolitischer Aufgaben. Das gelte jedenfalls für Beauftragte von i m Betrieb vertretenen Gewerkschaften. Denn da zum Kernbereich der Koalitionsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG die koalitionsmäßige Betätigung gehöre, müsse es auch Personen geben, die diese Betätigung wahrnehmen. Wem sie diese Aufgaben übertrage, sei eine Frage der Autonomie der Gewerkschaften. Soweit die betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten die vom B A G aufgestellten Grenzen einhielten und insbesondere nicht während der Arbeitszeit werben würden, seien die Grundrechte des Arbeitgebers aus Art. 13 GG und Art. 14 GG nicht oder nur geringfügig verletzt.
177 178 179 180
BAG 26. 06. 1973 BB 1973 S. 1437 (1438). BAG 26. 06. 1973 BB 1973 S. 1437 (1438); (Hervorhebung vom Verf.). LAG Baden-Württemberg 08. 08. 1973 AuR 1974 S. 316 (320). Arbeitsgericht Heilbronn 18. 02. 1975 DB 1975 S. 2043 f.
3. Kap.: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
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5. Die Entscheidung des LAG Hamm vom 21. Ol. 1977 Die nächste Entscheidung zur Frage - L A G Hamm vom 21.01. 1 9 7 7 1 8 1 - w u r d e vom B A G i m Urteil vom 14. 02. 1 9 7 8 1 8 2 bestätigt, dieses Urteil aber vom BVerfG im Beschluß vom 17. 02. 1981 1 8 3 aufgehoben. Die Entscheidung war damit Ausgangspunkt wichtiger und - im Falle des BVerfG - grundlegender Entscheidungen. Die Beklagte, eine karitative Einrichtung der evangelischen Kirche, hatte der klagenden Gewerkschaft unter Hinweis auf § 118 Abs. 2 BetrVG jegliche gewerkschaftliche Betätigung innerhalb der Einrichtung untersagt. Das L A G Hamm verurteilte die Beklagte, das Anbringen und Verteilen von Plakaten, Flugblättern und Informationsschriften innerhalb der Anstaltsräume, in denen sich regelmäßig nur Bedienstete der Beklagten aufhalten, durch von der Klägerin benannte Vertreter zu dulden und den Vertretern der Klägerin den Zugang zu der Einrichtung zu gewähren. Das Gericht begründete das damit, daß Art. 9 Abs. 3 GG den Gewerkschaften das Recht auf koalitionsgemäße Betätigung gebe; es sei dann Sache der Gewerkschaft selbst, darüber zu entscheiden, auf welche Weise und mit welchen Mitteln sie tätig werden wolle. Dazu gehöre auch die Entsendung betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter, unabhängig davon, ob die Gewerkschaft schon i m Betrieb vertreten sei oder nicht. Dem Betätigungsrecht der Gewerkschaften seien jedoch Grenzen durch die Rechte anderer gesetzt. Hinsichtlich des Zugangsrechts der Gewerkschaften komme vor allem das durch Art. 13 GG geschützte Hausrecht des Arbeitgebers in Betracht. Dieses habe aber bei der erforderlichen „Grenzziehung" gegenüber der Koalitionsfreiheit nicht das höhere Gewicht. Der Betrieb sei schon von seiner Zweckbestimmung her für den Zutritt Dritter offener als der private Wohnraum. § 2 Abs. 2 BetrVG sei, wie § 2 Abs. 3 BetrVG zeige, nicht abschließend und stehe einem koalitionsrechtlichen Zugangsrecht nicht i m Wege. Auch aus der Verfassung der Kirche und ihrem verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht ergebe sich nichts anderes: auch kirchliche Beschäftigte seien schutzbedürftige Arbeitnehmer. 1 8 4 Weiter führte das Gericht aus, die Gewerkschaft dürfe sich ihrer Befugnis allerdings nur in solchen Grenzen bedienen, die diese Befugnis im Ergebnis für den 181 LAG Hamm 21. 01. 1977 DB 1977 S. 1052. 182 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 183 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 184 In die Nähe unangemessener Polemik gerät allerdings folgender Satz: „ . . . daß der Auftrag des Evangeliums zur Liebe und Brüderlichkeit die Haltung der Kirche als Arbeitgeber derart prägt, daß es eines Schutzes der Arbeitnehmer im kirchlichen Dienst nicht mehr bedürfe. Das beweisen schon eine Vielzahl von Arbeitsgerichtsprozessen zwischen kirchlichen Bediensteten und der Kirche und ihren Einrichtungen." - LAG Hamm 21. 01. 1977 DB 1977 S. 1052(1053).
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1. Teil: Die historische Entwicklung
Betrieb der Beklagten auch tragbar sein lasse. Dazu gehöre insbesondere, daß nicht während der eigentlichen Arbeitszeit geworben werde und daß zum Schutz der Heiminsassen die Werbung auf solche Räume beschränkt bleibe, die ausschließlich Mitarbeitern der Beklagten zugänglich seien.
6. Die Entscheidung des BAG vom 14. 02. 1978 Die vom beklagten Arbeitgeber beim B A G eingelegte Revision blieb erfolgl o s . 1 8 5 Das B A G stellte fest, daß Art. 9 Abs. 3 GG den Gewerkschaften ein Zugangsrecht zum Betrieb gebe. Art. 9 Abs. 3 GG schütze auch die Koalitionen in ihrer Existenz und Funktionsfähigkeit: „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet den Koalitionen (Gewerkschaften) nicht nur ihr Entstehen und ihren Bestand; verfassungsrechtlich geschützt sind nach der übereinstimmenden Auffassung des BVerfG und des Senats ebenso die Betätigungen der Koalition, die für die Erhaltung und Sicherung ihrer Existenz unerläßlich sind. " 186 Das B A G machte sich damit das Unerläßlichkeitskriterium des BVerfG zu eigen. Allerdings war die Übernahme des Unerläßlichkeitskriteriums - wie schon bei der Kernbereichslehre - (vorerst) eher rhetorischer Natur. Das zeigt sich in der nachfolgenden Begründung: Das B A G stellte fest, daß für die „Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition" insbesondere die Werbung neuer Mitglieder unerläßlich sei. A u f die Unerläßlichkeit des Zugangsrechts als solchem ging das B A G aber nicht ein, sondern folgte dem L A G Hamm in der Begründung, es sei Ausdruck der Autonomie der Gewerkschaft, zu bestimmen, ob sie mit betriebsfremden Beauftragten oder betriebsangehörigen Gewerkschaftsmitgliedern werben wolle. Das Unerläßlichkeitskriterium spielt damit für die Entscheidung keine entscheidende Rolle: Das B A G pfropfte seine alte Begründung, warum die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften verfassungsrechtlich geschützt ist, einfach auf das Unerläßlichkeitskriterium auf, das es bei der Beantwortung der entscheidenden - und neuen - Frage des Zugangsrechts ignorierte.
a) Die Güterabwägung Auch bei der nun folgenden Güterabwägung mit entgegenstehenden Grundrechten des Arbeitgebers - das B A G prüfte zusätzlich zu Art. 13 GG auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gem. Art. 14 GG - folgte das
185 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 186 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG S. 169; (Hervorhebung vom Verf.).
3. Kap.: 1967-1978: Der Streit um das Zugangsrecht
61
B A G bei Art. 13 GG den Argumenten der Vorinstanz. Hinsichtlich Art. 14 GG meinte das B A G , das Eigentumsrecht des Arbeitgebers müsse schon im Hinblick auf die Sozialbindung des Eigentums zurücktreten. A u f mögliche Störungen des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens ging das B A G nicht ein. Ausführlicher als die Vorinstanz behandelte das B A G dann die kirchenrechtlichen Aspekte und begründete, warum die Kirchen nicht „ v ö l l i g außerhalb" des kollektiven Arbeitsrechts stehen und warum das Zugangsrecht nicht gegen Art. 4 GG und Art. 140 GG i V m Art. 137 Abs. 3 W R V verstoße.
b) Die Grenzen des Zugangsrechts Erst bei den Grenzen des Werberechts beschäftigte sich das B A G mit möglichen Störungen oder Beeinträchtigungen des Arbeitsablaufs und legte fest, daß die Werbung außerhalb der Arbeitszeit zu erfolgen und die vom B A G in der Entscheidung vom 14. 02. 1967 aufgestellten Grenzen einzuhalten habe. Ferner habe die Werbung auf die Eigenart der kirchlichen Einrichtungen Rücksicht zu nehmen: Deshalb müsse die Werbung in „größtmöglicher Weise sachlich" erfolgen. Der nächste A k t dieses Streits sollte dann dem BVerfG gehören, allerdings erst, nachdem das B A G sich in seiner Rechtsprechung zur gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb neu orientiert hatte.
IV. Beispiele für Entscheidungen unterinstanzlicher Arbeitsgerichte Die unterinstanzlichen Arbeitsgerichte beschäftigten sich weiterhin mit der gewerkschaftlichen Plakatwerbung i m Betrieb. Das L A G F r a n k f u r t / M a i n 1 8 7 und das L A G H a m m 1 8 8 bejahten diese Werbemöglichkeit der Gewerkschaften. Das L A G Hamm entschied, daß der Arbeitgeber verpflichtet sei, Gewerkschaften die Benutzung der betriebsüblichen Anschlagflächen für die Mitgliederwerbung zu gestatten. Andere Flächen dürfe die Gewerkschaft jedoch nicht nutzen. Das sah das L A G Frankfurt/Main ähnlich. 1 8 9 In einem weiteren Urteil entschied e s , 1 9 0 daß, wenn der Arbeitgeber der Gewerkschaft Werbeflächen zur Verfügung stelle, er ihm inhaltlich unliebsame Aushänge nicht einfach abreißen dürfe. M i t der Wahl gewerkschaftlicher Vertrauensleute i m Betrieb 1 9 1 beschäftigte sich das Arbeitsgericht A a c h e n . 1 9 2 Es führte zunächst aus, die Wahl der Vertrauensleute 187 LAG Frankfurt/Main 16. 04. 1971 DB 1972 S. 1027; LAG Frankfurt/Main 16.01. 1973 BB 1973 S. 1394. iss LAG Hamm 18. 02. 1971 BB 1971 S. 1054. 189 LAG Frankfurt/Main 16. 01. 1973 BB 1973 S. 1394. 190 LAG Frankfurt/Main 16. 04. 1971 DB 1972 S. 1027. 191 Vgl. dazu auch BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG.
62
1. Teil: Die historische Entwicklung
gehöre ebenso wie die Mitgliederwerbung zu den „lebensnotwendigen Maßnahmen der Gewerkschaft" und verletze auch Rechte des Arbeitgebers nicht mehr als die Mitgliederwerbung. Grundsätzlich könne daher die Rechtsprechung des B A G zur Mitgliederwerbung, insbesondere auch das „Prinzip des Sachzusammenhangs", auf die Wahl der Vertrauensleute übertragen werden. Das Arbeitsgericht Aachen wies die Klage der Gewerkschaft dennoch ab. Es stieß sich am umfangreichen Organisationsplan der Gewerkschaft für die Wahl und meinte, eine derart aufwendige Wahl könne unmöglich außerhalb der Arbeitszeit durchgeführt werden; damit verlasse die Gewerkschaft jedoch den Kernbereich der Koalitionsfreiheit. Dieser weite Ubergriff in Rechte des Arbeitgebers könne auch nicht mehr durch die Sozialbindung des Eigentums gem. Art. 14 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden. Das Arbeitsgericht Aachen empfahl der Gewerkschaft, ein weniger aufwendiges Wahl verfahren zu suchen.
V. Die Literatur Nach der heftigen Diskussion der Vorgängerperiode trat i m Schrifttum zunächst eine Beruhigung ein; die Diskussion flackerte dann aber am Thema des Zugangsrechts wieder auf. M i t der Entscheidung des BVerfG vom 26. 05. 1 9 7 0 1 9 3 setzte sich Lieb auseinander. Er billigte die Entscheidung i m Ergebnis, nicht jedoch in der Begründ u n g . 1 9 4 Er kritisierte vor allem die Herleitung eines Werberechts der Gewerkschaften i m Betrieb aus der Koalitionsfreiheit und vermißte insoweit eine dogmatisch klare Begründung; mit der Wahlwerbung sei die Mitgliederwerbung nicht vergleichbar. I m Ergebnis billigte er aber, daß das BVerfG den Gewerkschaften ein Recht auf Mitgliederwerbung gab. Hinsichtlich der Schranken der Koalitionsfreiheit begrüßte er das Verständnis des BVerfG i m Vergleich zur Annahme einer weitgehend unbeschränkbaren Koalitionsfreiheit. Dann war vor allem das Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb Gegenstand der literarischen Debatten. 1 9 5 Welch divergierende Auffassungen zum Thema herrschten, zeigen deutlicher noch als die Kontroverse zwischen Befürwortern und Gegnern eines Zugangsrechts die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Autoren, die ein Zugangsrecht ablehnen.
192 Arbeitsgericht Aachen 10. 03. 1976 DB 1976 S. 824. 193 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295. 194 Lieb, SAE 1972, S. 19. 195 Für die Arbeitnehmerseite: Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Seeschiffahrt; für die Arbeitgeberseite: Reuter, Umfang und Schranken des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb unter besonderer Berücksichtigung der Seeschiffahrt (abgedruckt in ZfA 1976, S. 107).
4. Kap.: 1978- 1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
63
Reuter ging davon aus, daß Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich auch ein Zugangsrecht der Gewerkschaften umfasse, ließ es aber an den Schranken der Koalitionsfreiheit - dem Eigentumsrecht des Arbeitgebers und dem nötigen Schutz der Betriebsverfassung - scheitern. 1 9 6 Richardi dagegen sah das Zugangsrecht weniger an diesen Schranken scheitern, als daran, daß ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht nicht das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht in § 2 Abs. 2 BetrVG unterlaufen dürfe. 1 9 7 Auch könne der Schutz der kollektiven Koalitionsfreiheit nicht weiter gehen als der der individuellen Koalitionsfreiheit. 1 9 8 Zudem fehle dem Richter die Befugnis zur Schaffung eines koalitionsrechtlichen Zugangsrechts. 199 In den beiden letzten Punkten hatte Reuter gerade kein Problem gesehen. Die Reaktionen auf die Entscheidung des B A G zum Zugangsrecht fielen denn auch kontrovers aus: Säcker begrüßte die Entscheidung als richtig,200 Schwerdtn e r 2 0 1 und Rüthers / Klosterkemper 2 0 2 hielten sie für falsch. Vor allem rügten sie, daß das B A G nicht hinreichend die kirchenrechtlichen Besonderheiten des Falles gewürdigt habe. 2 0 3
4. Kapitel
1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre I. Die neue, restriktive Linie des BAG Das B A G hatte in seinem Urteil vom 14. 02. 1978 zum Zugangsrecht der Gewerkschaften das Unerläßlichkeitskriterium des BVerfG zwar erwähnt, aber nicht eigentlich angewendet. Das änderte sich mit den drei Entscheidungen zur Wahl gewerkschaftlicher Vertrauensleute i m Betrieb, 2 0 4 zum Tragen von Gewerkschaftsaufklebern auf dem Arbeitgeber gehörenden Schutzhelmen 2 0 5 und zur Verteilung einer Mitgliederzeitung i m Betrieb. 2 0 6 Vorweg sei bemerkt, daß sich die Änderung 196 Reuter, ZfA 1976, S. 107 (155 ff.). 197 Richardi, DB 1978, S. 1736 (1738); ähnlich: Mayer-Maly, BB 1979 Beilage 4, S. 3. 198 Richardi, DB 1978, S. 1736 (1739) - das Argument baut auf der Ansicht auf, die kollektive Koalitionsfreiheit sei nicht direkt durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, sondern über Art. 19 Abs. 3 GG. 199 Richardi, DB 1978, S. 1736 (1740). 200 Säcker, AuR 1979, S. 39. 201 202 203 204 205 206
Schwerdtner, SAE 1980, S. 113. Rüthers ! Klosterkemper, EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG, S. 178 a (178 h ff.). Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (116). BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG.
1. Teil: Die historische Entwicklung
64
der Rechtsprechung nicht aus der Beteiligung verschiedener Senate des B A G ergibt: Alle drei Urteile stammen - ebenso wie das Urteil zum Zugangsrecht - vom 1. Senat. Müller, der damalige Vorsitzende des 1. Senats, sah die Urteile denn auch als Beispiel für eine „differenzierende Sicht der Koalitionsgarantie nach Art. 9 Abs. 3 G G " . 2 0 7
1. Die Entscheidung des BAG vom 08. 12. 1978 Die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Betrieb In der Entscheidung vom 08. 12. 1 9 7 8 2 0 8 ging es um die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute i m Betrieb. Das B A G führte aus: „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet den Koalitionen ihr Entstehen und ihren Bestand, schützt darüber hinaus aber auch einen Kernbereich koalitionsgemäßer Tätigkeiten, d. h. derjenigen Tätigkeiten, für die die Koalitionen gegründet und die für die Erhaltung und Sicherung ihrer Existenz unerläßlich sind. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und des erkennenden Senats." 2 0 9 Das entspricht zudem fast wörtlich der Formel, die das B A G schon in der Entscheidung zum Zugangsrecht 2 1 0 verwendet hatte. Jetzt machte es allerdings Ernst mit dem Unerläßlichkeitskriterium. 2 1 1 Zuerst führte es zwar noch - ohne auf das Unerläßlichkeitskriterium einzugehen - aus, daß die gewerkschaftlichen Vertrauensleute grundsätzlich vom GG geschützt werden. Das gelte aber nicht für die Wahl der Vertrauensleute i m Betrieb. Insbesondere sei die Wahl nicht mit der Mitgliederwerbung vergleichbar: Die Wahl selbst sei keine auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtete Betätigung, sondern schaffe erst die personellen Voraussetzungen dafür. „Deshalb" sei die Wahl zwar notwendig, es sei aber nicht unerläßlich, daß sie gerade i m Betrieb stattfinde. Die Gewerkschaft könne die Wahl auch außerhalb des Betriebs durchführen, etwa indem sie Räume in Betriebsnähe anmiete oder einen Wahlbus einsetze. Eine auf diese Weise geringere Wahlbeteiligung sei ein gewerkschaftsinternes Motivationsproblem. Auch eine mögliche Kostenersparnis der Gewerkschaft durch die Wahl i m Betrieb könne die Unerläßlichkeit nicht begründen, ebensowenig wie ein möglicher Werbeeffekt. Dieser sei nicht das vorrangige Ziel der Wahl. Abschließend ging das B A G darauf ein, ob das IAO-Abkommen Nr. 135 über Schutz und Erleichterungen für Arbeitnehmervertreter i m Betrieb eine Rechtsgrundlage für die Gewerkschaft abgeben kann. Das B A G verneinte die Frage: Das
207 208 209 210
Vgl. Müller, JuS 1980, S. 627 (629). BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG (S. 198); (Hervorhebungen vom Verf.). BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG.
211 Vgl. Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 440.
4. Kap.: 1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
65
Abkommen begründe keine unmittelbaren Rechtsansprüche, sondern wende sich an den staatlichen Gesetzgeber. Dieser sei in Deutschland seiner Verpflichtung durch das BetrVG nachgekommen.
2. Die Entscheidungen des BAG vom 23. 02. 1979 Ähnlich begründete das B A G seine Urteile zum Tragen gewerkschaftlicher Aufkleber auf arbeitgebereigenen Helmen und zur Verteilung einer Mitgliederzeitschrift i m Betrieb.
a) Die Entscheidung des B A G zu Gewerkschaftsaufklebern auf Arbeitgeberhelmen In der ersten Entscheidung vom 23. 02. 1979 ging es um das Tragen von Gewerkschaftsaufklebern auf dem Arbeitgeber gehörenden H e l m e n . 2 1 2 Die Aufkleber ließen sich von den Schutzhelmen ohne weiteres wieder entfernen. Das B A G entschied, daß der Arbeitgeber gem. § 1004 BGB die Unterlassung fordern könne. Der in der Nutzung als Werbeträger liegende Gebrauchsvorteil stehe dem Arbeitgeber als Eigentümer der Helme zu. Ein Duldungsanspruch der Gewerkschaftsmitglieder ergebe sich nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG. Geschützt seien durch Art. 9 Abs. 3 GG die Betätigungen, die für die Sicherung und Erhaltung der Existenz der Koalition unerläßlich sind. Dazu gehöre grundsätzlich auch die Mitgliederwerbung. Die Gewerkschaftsmitglieder hätten auch nicht - wie die Vorinstanz unter Hinweis auf die plakative Wirkung der Aufkleber annahm - die Grenzen des Werberechts überschritten. Störungen des Arbeitsablaufs seien durch das Tragen der Aufkleber nicht zu erwarten. Die Gewerkschaftsmitglieder hätten aber ebensogut durch andere Werbemittel wie Anstecknadeln an der eigenen Kleidung - werben können; die Inanspruchnahme des Arbeitgebereigentums sei damit nicht unerläßlich gewesen. Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG gäben den Gewerkschaftsmitgliedern auch keinen Duldungsanspruch, da sie hinter Art. 9 Abs. 3 GG zurückträten.
b) Die Entscheidung des B A G zur Verteilung einer Mitgliederzeitschrift i m Betrieb In der zweiten Entscheidung vom 23. 02. 1 9 7 9 2 1 3 hielt das B A G die Verteilung einer Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft i m Betrieb nur an Gewerkschaftsmit212 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 5 Brock
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1. Teil: Die historische Entwicklung
glieder für unzulässig. Das B A G stützte sich wieder auf die Kernbereichsformel mit dem Unerläßlichkeitskriterium und führte aus, es gehe der Gewerkschaft bei der Verteilung nicht um die anerkannte Informations- und Werbetätigkeit, sondern nur um einen Ausschnitt daraus. Nicht Gegenstand des Verfahrens sei auch die Frage, ob einzelne Gewerkschaftsmitglieder die Zeitschrift im Betrieb verteilen dürften. Das B A G hielt die Verteilung der Mitgliederzeitung i m Betrieb für einen „innergewerkschaftlichen Verteilmodus" und damit für nicht unerläßlich. Die Gewerkschaft könne die Zeitschrift genausogut per Post oder vor den Werkstoren verteilen.
3. Fazit Das Neue an den Entscheidungen ist nicht die Übernahme des Unerläßlichkeitskriteriums durch das B A G ; schon die Entscheidung zum Zugangsrecht 2 1 4 hatte das B A G darauf gestützt. Neu ist die Art der Anwendung des Unerläßlichkeitskriteriums: Unerläßlich muß jeweils die einzelne Maßnahme sein; außerdem wird das Prinzip des Sachzusammenhangs 215 nicht auf die neuen Betätigungsformen übertragen. Zum ersten Unterschied: In der Entscheidung zum Zugangsrecht hatte das B A G die Mitgliederwerbung für unerläßlich gehalten und das Zugangsrecht, gewissermaßen als Annex, vom Schutz der Werbung umfaßt gesehen, da es Teil der Autonomie der Gewerkschaften sei zu bestimmen, ob sie für die Werbung betriebsangehörige oder betriebsfremde Beauftragte einsetze. 2 1 6 Hier hätte man nach diesem Begründungsmuster bei der Entscheidung zur Verteilung der Mitgliederzeitschrift 2 1 7 erwarten können, daß vom Schutz der Information der eigenen Mitglieder - diesen hatte das B A G bereits in den Vorgängerentscheidungen b e j a h t 2 1 8 auch die Verteilung der Mitgliederzeitschrift umfaßt sei. Die Frage, wie die Zeitschrift verteilt wird - ob per Post oder von Hand zu Hand im Betrieb - , hätte das B A G wiederum als Ausdruck der Autonomie der Gewerkschaften sehen können. Stattdessen fragte das B A G nach der Unerläßlichkeit der Verteilung i m Betrieb selbst als „innergewerkschaftlichem Verteilungsmodus", die es verneinte.
213 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 214 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG (S. 169 f.). 215 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 4). 216 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG (S. 171). 217 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 218 BAG 24. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 5); BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG (S. 171).
4. Kap.: 1978- 1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
67
Der zweite Unterschied betrifft den Inhalt des Unerläßlichkeitskriteriums. Das B A G stützte sich nicht mehr auf den Sachzusammenhang zwischen gewerkschaftlicher Betätigung und Betrieb, 2 1 9 sondern fragte nach einer sozialempirisch 2 2 0 begründeten Unerläßlichkeit: Diese verneinte es, wenn die Gewerkschaften ihr Ziel auf andere Weise genausogut erreichen könnten. 2 2 1
II. Die Rechtsprechung des BVerfG /. Die Entscheidung des BVerfG vom Ol. 03. 1979 Das Lehrbuch der Koalitionsfreiheit Bevor das BVerfG im Beschluß vom 17. 02. 1 9 8 1 2 2 2 die Zugangsrecht-Entscheidung des B A G aufhob und damit gleichzeitig anscheinend die neuere Linie des B A G bestätigte, nutzte es die Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz, 223 um seine bisherigen Aussagen zur Koalitionsfreiheit noch einmal zusammenzufassen. Das Unerläßlichkeitskriterium erwähnte es dabei allerdings nicht. Das BVerfG begann mit der Aussage, die Koalitionsfreiheit gehöre nicht zu den klassischen Grundrechten und sei erst unter den Bedingungen moderner Industriearbeit entstanden. Bei der Bestimmung der Tragweite des Grundrechts sei demnach die historische Entwicklung zu berücksichtigen, insbesondere der nahezu wortgleiche Art. 159 WRV. 2 2 4 Neu war die Aussage, die Koalitionsfreiheit sei in erster Linie ein Freiheitsrecht. Sie gewährleiste die Freiheit des Zusammenschlusses zu Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen und die Freiheit der gemeinsamen Verfolgung dieses Zwecks. Elemente der Gewährleistung seien die Gründungsund Beitrittsfreiheit, die Freiheit des Austritts und des Fernbleibens sowie der Schutz der Koalition als solcher und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen. Neben die - schon vom Wortlaut gewährleistete - Gründungs- und die eng damit verbundene Beitrittsfreiheit treten also die (individuelle) negative Koalitionsfreiheit und der Schutz der Koalition selbst, in ihrem Bestand und in ihrer Betätigung. 2 2 5
219 So noch in: BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 4); BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG (S. 171). 220 Vgl. Zöllner, SAE 1966, S. 162 (165 f.); Zöllner, SAE 1967, S. 110 (111). 221 Vgl. BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG (S. 199); BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG (S. 210); BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG (S. 220). 222 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 223 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367). 224 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (366 f.). 225 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367). 5*
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1. Teil: Die historische Entwicklung
Als Elemente des Koalitionsbegriffs nannte das BVerfG dann, daß die Koalitionen frei gebildet sein müssen, gegnerfrei und auf überbetrieblicher Grundlage sowie „ihrer Struktur nach unabhängig genug, um die Interessen ihrer Mitglieder auf arbeits- und sozialrechtlichem Gebiet nachhaltig vertreten zu können". Außerdem müßten die Koalitionen das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich anerken226
nen. Grundsätzlich überlasse Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen die Wahl der Mittel, die sie für die Erreichung ihres Zwecks für geeignet halten. Die Koalitionsfreiheit bedürfe jedoch in besonderer Weise der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Das gelte nicht nur für die Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die zur Ausübung der garantierten Freiheiten erforderlich seien; notwendig seien vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen, da die Tätigkeit der Koalitionen viele Belange berühre. Diese gesetzlichen Regelungen könnten der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen.227 Demgemäß gehe das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit nur in einem Kernbereich schütze: „Das Grundrecht räumt den geschützten Personen und Vereinigungen nicht mit Verfassungsrang einen inhaltlich unbegrenzten und unbegrenzbaren Handlungsspielraum ein [ . . . ] ; es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, daß er die Befugnisse der Koalitionen im einzelnen gestaltet und näher regelt. Dabei kann er den besonderen Erfordernissen des jeweils zu regelnden Sachverhalts Rechnung tragen. Allerdings dürfen dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt sind, tasten den durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Kerngehalt der Koalitionsbetätigung an [ . . . ] . " 2 2 8 Das BVerfG stellte damit die bisherigen Ergebnisse zusammen und ordnete sie in ein verbindliches Schema, teilweise ergänzt durch neue Ergebnisse, so die Betonung des Charakters der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht. Überraschend ist allerdings das Fehlen des Unerläßlichkeitskriteriums, das j a verschiedene vorangegangene Entscheidungen geprägt hatte: Es wird nicht deutlich, ob der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit nun auf das Unerläßliche beschränkt ist oder nicht.
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 21. 11. 1980 Bestätigung der restriktiven Linie des BAG durch das BVerfG? Wer angesichts der Ausführungen in der Entscheidung zum Mitbestimmungsges e t z 2 2 9 gedacht hatte, das BVerfG werde der neuen, restriktiven, durch das Uner226 227 228 229
BVerfG BVerfG BVerfG BVerfG
Ol. 03. 01. 03. 01. 03. 01. 03.
1979 E 50 S. 290 (368). 1979 E 50 S. 290 (368). 1979 E 50 S. 290 (368 f.). 1979 E 50 S. 290.
4. Kap.: 1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
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läßlichkeitskriterium geprägten Linie des B A G eine Absage erteilen, sah sich getäuscht. Die gegen die Schutzhelm-Entscheidung des B A G 2 3 0 eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung a n ; 2 3 1 die „Abwägung" des B A G lasse keinen Fehler erkennen. Irritieren muß daran, daß das B A G gerade nicht abgewägt hatte.
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 17. 02. 1981 Das BVerfG bestätigt die neue Linie des BAG Daß dieser Beschluß kein Ausreißer war, zeigte sich, als das BVerfG die Zugangsrecht - Entscheidung des B A G 2 3 2 aufhob, da ein solches Zugangsrecht nicht unerläßlich s e i . 2 3 3 Das BVerfG stützte sich auf Art. 140 GG i V m Art. 137 Abs. 3 WRV. Ein Zugangsrecht gegen das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen könne sich nur aus einem für alle geltenden Gesetz gem. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV ergeben. 2 3 4 A n einem solchen Gesetz fehle es.
a) Zum Unerläßlichkeitskriterium Das BVerfG meinte, Art. 9 Abs. 3 GG komme zwar - mit Blick auf die unmittelbare Drittwirkung gem. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG - als ein solches für alle geltendes Gesetz in Betracht. Ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht lasse sich der Vorschrift aber weder direkt noch durch Auslegung entnehmen. 2 3 5 Die Koalitionsfreiheit und damit das Betätigungsrecht der Koalitionen seien nur in einem Kernbereich geschützt. Die Koalitionsfreiheit gebe keinen unbegrenzten und unbegrenzbaren Handlungsspielraum, sondern bedürfe der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber: „Art. 9 Abs. 3 GG verbürgt verfassungskräftig gewerkschaftliche Betätigung jedenfalls nur insoweit, als diese für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition als unerläßlich betrachtet werden muß." 2 3 6 Das Gericht führte weiter aus, auch wo sich ein solches - unerläßliches - Betätigungsfeld darbiete, könne der Gesetzgeber zum Schutz anderer Rechtsgüter, ζ. B. 230 231 232 233 234 235 236
BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. BVerfG 21. 11. 1980 AP Nr. 30a zu Art. 9 GG. BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (245). BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (245). BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (246).
1. Teil: Die historische Entwicklung
70
des Betriebsfriedens oder des ungestörten Beschäftigungsgangs, modifizierende Regelungen treffen. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt seien, tasteten jedoch den Kernbereich der Koalitionsfreiheit a n . 2 3 7 Ein Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zum Betrieb sei nicht unerläßlich, solange die Gewerkschaft mit Hilfe betriebsangehöriger Mitglieder werben könne. Auch, daß betriebsfremde Gewerkschaftsbeauftragte mit höherer Effektivität werben könnten, erfordere nicht von Verfassungs wegen ihren Einsatz im Betrieb. 2 3 8 Art. 9 Abs. 3 GG gibt nach Ansicht des BVerfG den Gewerkschaften damit kein Zugangsrecht. Damit kehrte das BVerfG - nach den vorangegangenen Irritationen 2 3 9 - zum „klassischen" Prüfungsschema der Entscheidung zur Mitgliederwerbung 2 4 0 zurück: Das Unerläßlichkeitskriterium beschreibt die Grenzen des verfassungsrechtlichen Schutzes, der Kernbereich die Grenzen der Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Bei der Prüfung des Unerläßlichkeitskriteriums verfuhr es wie das B A G : auf die Einzelmaßnahme bezogen und in einer strengen, sozialempirischen Form.
b) Zur richterlichen Rechtsfortbildung Im weiteren begründete das BVerfG, warum sich ein Zugangsrecht auch nicht aus richterlicher Rechtsfortbildung ergeben könne. A n das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht gem. § 2 Abs. 2 BetrVG anzuknüpfen, sei nicht möglich, da es anderer Art sei; zudem sei es gem. § 118 Abs. 2 BetrVG nicht auf kirchliche Einrichtungen anwendbar, was auch dem verfassungsrechtlich Gebotenen entspreche. Das B A G habe daher mit Recht keine Möglichkeit gesehen, das Zugangsrecht in richterlicher Rechtsfortbildung zu entwickeln: „Weder Art. 9 Abs. 3 GG noch die in seinem Umfeld gewachsenen Rechtsgrundsätze und wissenschaftlichen Meinungen, erst recht nicht das streng dualistische System des Betriebsverfassungsgesetzes bieten hinreichende Anhaltspunkte, die es erlauben würden, die Grenzen der richterlichen Gesetzesbindung [ . . . ] auf diesem konfliktsträchtigen Gebiet so weit zu ziehen und hier die „Sache des Gesetzgebers" nämlich „die Tragweite der Koalitionsfreiheit zu bestimmen und die Befugnisse der Koalitionen auszugestalten und näher zu regeln" [ . . . ] , dem Richter zu überbürden [ . . . ] . " 2 4 1
237 238 239 240
BVerfG BVerfG BVerfG BVerfG
17. 02. 17. 02. 18. 12. 26. 05.
1981 E 57 S. 220 (246). 1981 E 57 S. 220 (247). 1974 E 38 S. 281 (305); BVerfG 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (139). 1970 E 28 S. 295 (304 ff.).
241 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (247 f.).
4. Kap.: 1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
71
Das wirft natürlich die Frage auf, welches denn „dieses" konfliktträchtige Gebiet ist - die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb oder das kirchliche Arbeitsrecht. Damals lag das Verständnis nahe, dieses Rechtsfortbildungsverbot auf die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb zu beziehen und es als Absicherung des Unerläßlichkeitskriteriums zu verstehen. 2 4 2
c) Fazit I m Hinblick auf die Entscheidung zur Mitbestimmung, 2 4 3 in der das BVerfG sein Verständnis der Koalitionsfreiheit anscheinend vollständig wiedergab, aber das Unerläßlichkeitskriterium nicht erwähnte, hätte man vielleicht erwarten können, daß das BVerfG nähere Ausführungen zum Unerläßlichkeitskriterium mache und dieses begründe. Das tat das BVerfG nicht. Offen blieb auch, inwieweit kirchenrechtliche Besonderheiten 2 44 die Entscheidung geprägt haben. Jedenfalls mußte die Entscheidung als Bestätigung der neuen - restriktiveren - Rechtsprechung des B A G verstanden werden. 2 4 5
III. Die Literatur Die neue Rechtsprechung des B A G 2 4 6 zog in der Literatur scharfe Kritik auf sich: M i t der Reduzierung der gewerkschaftlichen Betätigung auf das Unerläßliche werde der Weg zu differenzierten Abwägungen von vornherein verbaut. 2 4 7 Es sei auch nicht nachvollziehbar, daß ein Grundrecht von vornherein auf einen Minimalbereich beschränkt werde. 2 4 8 Daß der Maßstab der Unerläßlichkeit nicht praktikabel sei, zeige schon die schwankende Rechtsprechung des BVerfG zum Inhalt des Unerläßlichkeitskriteriums. 2 4 9 Die richtige Lösung sei allein auf dem Weg über eine Abwägung mit den beeinträchtigten Grundrechten des Arbeitgebers zu finden.250
242 Hanau, AuR 1983, S. 257 (258). 243 BVerfG Ol. 03. 1979 E 50 S. 290 (367). 244 Vgl. den amtlichen Leitsatz der Entscheidung: „Zur Frage gewerkschaftlicher Zutrittsrechte zu kirchlichen Einrichtungen"; BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 245 Hanau, AuR 1983, S. 257 (258). 246 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 247 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (49). 248 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (49). 249 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (49 f.); Zachert, AuR 1979, S. 358 (365); Pfarr, AuR 1979, S. 242 (243). 250 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (50); Pfarr, AuR 1979, S. 242 (244); Zachert, AuR 1979, S. 358 (365).
72
1. Teil: Die historische Entwicklung
Auch Autoren, die dem Ansatz des B A G näher stehen, konnten den Entscheidungen i m Ergebnis nicht immer zustimmen. 2 5 1 Zöllner sah die Entscheidungen denn auch als „Zeugnis [ . . . ] echter Richternot." 2 5 2 Kritisiert wurde vor allem, daß das B A G die Beurteilungsmaßstäbe seiner Entscheidung vom 14. 02. 1 9 6 7 2 5 3 nicht durchgehalten habe; in dieser Hinsicht wurde vor allem die Entscheidung zur Verteilung einer Mitgliederzeitschrift 2 5 4 kritisiert. 2 5 5 Allerdings gab es auch Autoren, die das B A G unterstützten, 256 sich seiner Begründung aber nicht immer anschließen konnten. 2 5 7 Die Entscheidung des BVerfG zum Zugangsrecht führte zu weiterer Kritik an der Kernbereichslehre. 258 So meinte Herschel: „Der Eigentümer einer Stecknadel wird insofern im Prinzip verfassungsrechtlich mehr geschützt als die großen, unsere gesellschaftliche Struktur mitprägenden Organisationen." 259
IV. Beispiele für Entscheidungen unterinstanzlicher Arbeitsgerichte Das Arbeitsgericht Hamburg hatte über das Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb zu entscheiden. 2 60 Es meinte, die Entscheidung des BVerfG zum Zugangsrecht betreffe allein kirchliche Einrichtungen: Es gab der Klage der Gewerkschaft statt. Auch die Plakatwerbung der Gewerkschaften beschäftigte die Arbeitsgerichte weiterhin. Das Arbeitsgericht H a m b u r g 2 6 1 gab den Gewerkschaften das Recht auf ein eigenes Anschlagbrett, dessen Platz allerdings der Arbeitgeber bestimmen sollte. A u f diesem vom Arbeitgeber zugewiesenen Platz dürfe die Gewerkschaft
251 Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (222h); Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 19 (32 f.); Konzen, AP Nr. 29 zu Art. 9 GG; Richardi, FS Müller, S. 413 (434). 252 Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (2221). 253 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 254 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 255 Richardi, FS Müller, S. 413 (434); Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (222 h f.); Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 19 (33). 256 Weitnauer, SAE 1980, S. 26 - zu BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG (Vertrauensleute). 257 Mayer-Maly AP Nr. 30 zu Art. 9 GG - zu BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG (Schutzhelm). 258 Herschel, AuR 1981, S. 265 (267); Herschel, AuR 1982, S. 294 (295); Otto, EzA Nr. 32 zu Art. 9 GG, S. 254 a (254 E f.). 259 Herschel, AuR 1981, S. 265 (268). 260 Arbeitsgericht Hamburg 13. 04. 1983 AuR 1984 S. 50. 261 Arbeitsgericht Hamburg 03. 02. 1982 AuR 1983 S. 280.
4. Kap.: 1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
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ein Anschlagbrett befestigen oder - wenn sie es wolle - auch auf der nackten Wand werben. Das Arbeitsgericht Gelsenkirchen 2 6 2 entschied, daß der Arbeitgeber, wenn er den Plakataushang gestattet hat, die Plakate nicht mehr einseitig entfernen dürfe; er dürfe auch von einem Betriebsratsmitglied die Entfernung des Plakats nicht verlangen, selbst wenn dieses es in seiner Funktion als Gewerkschaftsmitglied aufgehängt habe. Das L A G Köln hielt ein Plakat, das gegen die Änderung von § 116 A F G protestierte, für parteipolitisch und verbot den Aushang. 2 6 3 Art. 9 Abs. 3 GG umfasse nicht die parteipolitische Betätigung; das sei nicht unerläßlich. M i t der Flugblattverteilung beschäftigten sich zwei Entscheidungen. Das Arbeitsgericht Neumünster 2 6 4 gab den Gewerkschaften das Recht, auf Flugblättern gegen politische Entscheidungen Stellung zu nehmen, wenn diese die Sicherheit der Arbeitsplätze gefährdeten oder sonst die Belange der Arbeitnehmer beeinträchtigten. A u f den Flugblättern dürfe auch zu Demonstrationen aufgerufen werden das gehöre zum Kernbereich der Koalitionsfreiheit. Noch großzügiger war das Arbeitsgericht Hamburg. 2 6 5 Es hatte keine Bedenken gegen die Verteilung eines Flugblattes, das gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen protestierte, auch während der Arbeitszeit und an Kunden des Arbeitgebers.
V. Nachfolgende Entscheidungen des BAG 1. Die Entscheidung des BAG vom 19. Ol. 1982 Das BAG beschäftigt sich erneut mit dem Zugangsrecht Nach seiner Entscheidung zum Zutrittsrecht 2 6 6 hatte das BVerfG den Rechtsstreit an das B A G zurückverwiesen. Dieses mußte sich damit erneut mit der Sache befassen. 267 Es wies die Klage der Gewerkschaft ab und stellte das klageabweisende erstinstanzliche Urteil wieder her. Die klagende Gewerkschaft hatte geltend gemacht, das BVerfG habe nicht entschieden, ob ein Zugangsrecht dann unerläßlich sei, wenn die i m Betrieb vertretenen Mitglieder der Gewerkschaft nicht willens seien, für diese zu werben. Dem widersprach das B A G : Das BVerfG habe eindeutig entschieden und allein darauf
262 263 264 265 266 267
Arbeitsgericht Gelsenkirchen 15. 03. 1984 AuR 1985 S. 129. LAG Köln 06. 11. 1986 DB 1987 S. 54 f. Arbeitsgericht Neumünster 03. 11. 1982 AuR 1984 S. 88. Arbeitsgericht Hamburg 30. 06. 1992 AuR 1992 S. 351. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. BAG 19. 01. 1982 EzA Nr. 34 zu Art. 9 GG.
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1. Teil: Die historische Entwicklung
abgestellt, ob die Gewerkschaft mit Mitgliedern i m Betrieb vertreten sei, unabhängig davon, ob diese zur Werbung bereit seien oder nicht. Dieser Gesichtspunkt könne aber auch deshalb keine Berücksichtigung finden, da es unmöglich sei, verläßliche Grenzen zu ziehen, ab welchem Grad der Werbebereitschaft der im Betrieb vertretenen Mitglieder ein Zugangsrecht unerläßlich sei.
2. Die Entscheidung des BAG vom 26. Ol. 1982 Zur Werbung während der Arbeitszeit In der Entscheidung vom 26. Ol. 1 9 8 2 2 6 8 entschied das B A G , daß Werbung während der Arbeitszeit nicht rechtmäßig ist. Die klagende Gewerkschaft wollte durch betriebsangehörige Mitglieder Flugblätter während der Arbeitszeit der Empfänger verteilen lassen. Die Verteilung sollte ausdrücklich nur in der arbeitsfreien Zeit der Gewerkschaftsmitglieder erfolgen. Das B A G berief sich wieder auf das Unerläßlichkeitskriterium: „Diese auf einen Kernbereich beschränkte verfassungsrechtliche Garantie einer koalitionsmäßigen Betätigung der Koalitionen und damit einer Werbe- und Informationstätigkeit einer Gewerkschaft besagt nicht, daß jede über diesen Kernbereich hinausgehende Betätigung ebenfalls ihre gesetzliche Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet und nur durch einfach - gesetzliche Vorschriften oder Rechte Dritter bis an die Grenzen des Kernbereichs beschränkt werden darf. Art. 9 Abs. 3 GG allein gibt vielmehr ein Recht zur koalitionsmäßigen Betätigung nur innerhalb dieses Kernbereichs, d. h. soweit diese Betätigung für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition unerläßlich ist. Die Befugnisse der Koalitionen außerhalb dieses Kernbereiches im einzelnen näher auszugestalten und näher zu regeln, ist Sache des Gesetzgebers. Solange eine solche gesetzliche Regelung fehlt, ist es den Gerichten für Arbeitssachen verwehrt, die Tragweite der Koalitionsfreiheit zu bestimmen und die Befugnisse der Koalitionen auszugestalten und näher zu regeln." 269 Damit machte sich das B A G die Gründe der Entscheidung des BVerfG zum Zugangsrecht 2 7 0 zu eigen. Die bisher ohne Begründung erfolgte Übernahme des Unerläßlichkeitskriteriums wurde jetzt mit Hilfe des BVerfG begründet: Art. 9 Abs. 3 GG gebe den Koalitionen nur Rechte innerhalb des - durch das Unerläßlichkeitskriterium beschriebenen - Kernbereichs. Rechte der Koalitionen außerhalb des Kernbereichs könne nur der Gesetzgeber schaffen. Nicht ganz deutlich wird in dieser Begründung, ob das B A G davon ausging, daß der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit auf das Unerläßliche beschränkt sei, oder ob es von einem weiteren Schutzbereich ausging, der jedoch nur vom Gesetzgeber, nicht mehr vom Richter, ausgestaltet werden dürfe. Daß das B A G von der „Ausgestaltung" der Befugnisse der Koalitionen außerhalb des Kernbereichs sprach, deu268 BAG 26. Ol. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG. 269 BAG 26. Ol. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG (S. 279). 270 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220.
4. Kap.: 1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
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tet aber darauf hin, daß es von einem weiten, mit dem Kernbereich nicht identischen Schutzbereich ausgeht. Mangels einer einfachgesetzlichen Vorschrift prüfte das B A G die Unerläßlichkeit der Werbung in der Arbeitszeit und verwies die Gewerkschaft darauf, daß sie die Flugblätter an die Arbeitnehmer auch in deren arbeitsfreien Zeit verteilen könne. 2 7 1
3. Die Entscheidung des BAG vom 30. 08. 1983 Zur Werbung mit satzungsgemäßen Leistungen In dieser Entscheidung 2 7 2 hielt das B A G den Aushang eines Plakates, auf dem die klagende Gewerkschaft mit einer satzungsgemäßen Leistung - einer Familienrechtsschutzversicherung - geworben hatte, für rechtmäßig. Das B A G wies darauf hin, daß seine Rechtsprechung auf Kritik gestoßen s e i , 2 7 3 sah aber keine Veranlassung, auf diese Kritik einzugehen, da die von der Klägerin beabsichtigte Mitgliederwerbung zum Kernbereich der Koalitionsfreiheit gehöre. Die Gewerkschaft dürfe auch mit der satzungsgemäßen Familienrechtsschutzversicherung werben. Die Werbung von Mitgliedern diene unmittelbar der Sicherung des Bestandes der Gewerkschaft. Auch wenn sie mit einer Leistung werbe, die nicht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gehöre, nehme sie ihr Grundrecht der Koalitionsfreiheit w a h r . 2 7 4
4. Die Entscheidung des BAG vom 23. 09. 1986 Zur Benutzung eines Postverteilungssystems In der Entscheidung vom 23. 09. 1 9 8 6 2 7 5 hielt das B A G die Abmahnung eines Arbeitnehmers für rechtmäßig, der entgegen dem Verbot des Arbeitgebers gewerkschaftliche Werbematerialien über das hausinterne Postverteilungssystem verteilt hatte. Das B A G erwähnte wiederum die Kritik der Literatur an seiner Rechtsprechung - fast wortgleich mit der vorangegangenen Entscheidung. 2 7 6 Wieder sah es keine Veranlassung, auf diese Kritik einzugehen: „Der Senat kann zugunsten des Klägers davon ausgehen, daß das durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Recht der Koalitionen und ihrer Mitglieder auf koalitionsmäßige Betäti271 272 273 274 275 276
BAG BAG BAG BAG BAG BAG
26. 30. 30. 30. 23. 30.
01. 08. 08. 08. 09. 08.
1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG (S. 280). 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG. 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG (S. 293). 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG (S. 295 f.). 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG. 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG.
1. Teil: Die historische Entwicklung
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gung durch Werbung anderer Mitglieder erst dort eine Grenze findet oder finden kann, wo durch diese Betätigung Rechte anderer berührt werden." 277 Weshalb der Senat davon ausgehen konnte, teilte er nicht mit. Daß die Benutzung der Postfächer als bloßes Mittel der Werbung von deren Unerläßlichkeit profitiert, konnte das B A G nicht annehmen - auch beim Zugangsrecht zum Betrieb als Mittel der Werbung kam es auf dessen eigene Unerläßlichkeit a n 2 7 8 . Das spricht dafür, daß das B A G die Unerläßlichkeit der Maßnahme bloß dahingestellt sein lassen wollte, da jedenfalls auch eine Abwägung zur Unzulässigkeit der Benutzung führte. In der nun folgenden Abwägung des Rechts auf koalitionsmäßige Betätigung gem. Art. 9 Abs. 3 GG mit dem Eigentumsrecht des Arbeitgebers gem. Art. 14 GG mußte die Koalitionsfreiheit zurücktreten, da der Arbeitgeber zu dem Verbot sachlich berechtigt war: Wenn auch Gewerkschaftswerbung über das Postverteilungssystem verteilt werde, bestehe die Gefahr, daß Dienstpost verlorengehe, indem sie zusammen mit der Gewerkschaftsschrift weggelegt oder weggeworfen w e r d e . 2 7 9
5. Die Entscheidung des BAG vom 13. 11. 1991 Zur Abmahnung wegen Werbung in der Arbeitszeit In dieser Entscheidung 2 8 0 hielt das B A G die Abmahnung eines Betriebsratsmitglieds, das in der Arbeitszeit einem anderen Arbeitnehmer eine Werbebroschüre der Gewerkschaft übergeben hatte, für rechtmäßig. Das B A G begründete nur kurz, daß es - auch wenn die vorangegangenen Entscheidungen einen anderen Eindruck hätten vermitteln können - an der Rechtsprechung des BVerfG zum Unerläßlichkeitskriterium festhält. Die Übergabe der Broschüre während der Arbeitszeit war nicht unerläßlich. 2 8 1 Hauptsächlich beschäftigte sich das B A G mit der Abmahnung als solcher und der Frage, ob nur ein solches Verhalten abgemahnt werden darf, das den Arbeitgeber i m Wiederholungsfall zu einer Kündigung berechtigt. Diese Entscheidung wurde vom BVerfG i m Beschluß vom 14. 11. 1 9 9 5 2 8 2 aufgehoben und war damit Anlaß für die Neubestimmung der Kernbereichslehre durch das BVerfG.
277 278 279 280
BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 316). Vgl. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (245). BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 316 f.). BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung.
281 BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung (Bl. 1092). 282 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG.
4. Kap.: 1978 - 1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
77
VI. Nachfolgende Entscheidungen des BVerfG In den Entscheidungen des BVerfG zu Art. 9 Abs. 3 GG in den neunziger Jahr e n 2 8 3 deutete sich eine neue Akzentsetzung an: Die Kernbereichslehre wurde mehr und mehr in Frage gestellt.
7. Die Entscheidung des BVerfG vom 26. 06. 1991 - Zur Aussperrung Erstmals deutete sich in der Entscheidung vom 26. 06. 1991 zur Aussperrung 2 8 4 eine Wende an. Das BVerfG begann mit grundsätzlichen Überlegungen: Die Koalitionsfreiheit werde i m Gegensatz zur allgemeinen Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 GG deshalb besonders geschützt, weil der Staat die Gewerkschaften zeitweilig besonders heftig bekämpft habe. I m Gegensatz zur W R V sei der Schutz der Koalitionen selbst zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen; dieser ergebe sich aber aus der Aufnahme des Schutzzwecks in den Schutzbereich des Grundrechts. Danach würden die Koalitionen selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und in ihrer Betätigung geschützt. Soweit die Zweckverfolgung den Einsatz bestimmter Mittel voraussetze - die Auswahl der Mittel überlasse Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich den Koalitionen seien diese auch vom Schutz des Grundrechts umfaßt. Auch Arbeitskampfmaßnahmen seien vom Schutz des Grundrechts „jedenfalls insoweit [ . . . ] erfaßt, als sie allgemein erforderlich" seien, „ u m eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen." Voraussetzungen und Umfang des Einsatzes von Arbeitskampfmitteln seien keine Frage des Schutzbereichs, sondern der Ausgestaltung. Die Koalitionsfreiheit sei vorbehaltslos gewährleistet; Einschränkungen könnten daher nur durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte gerechtfertigt werden. Ob der Gesetzgeber zum Schutz sonstiger Rechtsgüter weitergehende Regelungsbefugnisse habe, brauche nicht vertieft zu werden. Der Fall gebe auch keinen Anlaß, die Grenze des unantastbaren Kernbereichs näher zu bestimmen. Dieser sei ebensowenig betroffen wie der Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) der Koalitionsfreiheit. Auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sah das BVerfG nicht als verletzt an. Damit behandelte das BVerfG die Koalitionsfreiheit grundsätzlich wie ein normales, vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Die mit der Kernbereichslehre verbundene weitgehende Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die grundsätzlich auch den Schutz sonstiger, nicht mit Verfassungsrang ausgestatteter Güter zuließ, wurde vom BVerfG zumindest in Frage gestellt, ebenso wie der Begriff des Kernbereichs selbst. Dieser war nicht mehr die wesentliche Grundlage der Ent283 BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212; BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26; BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365. 284 BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (223).
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1. Teil: Die historische Entwicklung
Scheidung wie in fast allen vorangegangenen Urteilen und Beschlüssen und wurde ersetzt durch den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
2. Die Entscheidung des BVerfG vom 02. 03. 1993 Zum Beamteneinsatz während eines Poststreiks In der Entscheidung vom 02. 03. 1 9 9 3 2 8 5 zum Beamteneinsatz auf bestreikten Postarbeitsplätzen erwähnte das BVerfG weder den Kernbereich noch das Unerläßlichkeitskriterium. Es wies zwar auf die besondere Ausgestaltungsbedürftigkeit des Arbeitskampfes hin, machte zu den Grenzen dieser Ausgestaltungsbedürftigkeit jedoch keine Ausführungen mehr. Die Verfassungsbeschwerde war schon deshalb begründet, da für die staatliche Maßnahme kein Gesetz vorlag und nach der Wesentlichkeitstheorie damit schon am Vorbehalt des Gesetzes scheiterte.
3. Die Entscheidung des BVerfG vom 10. 01. 1995 Zum Flaggenzweitregister Die Entscheidung vom 10. 01. 1 9 9 5 2 8 6 betraf das seefahrtsrechtliche FlaggenZweitregister. Der Gesetzgeber hatte die Geltung deutschen Arbeits- und damit auch Tarifrechts auf den Schiffen des Zweitregisters aufgehoben. Das BVerfG erwähnte den Kernbereich nicht. Statt dessen führte es aus: „Die Koalitionsfreiheit ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Grundsätzlich können ihr daher nur zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Güter Schranken gesetzt werden. Das schließt allerdings eine Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers nicht aus, soweit er Regelungen trifft, die erst die Voraussetzungen für eine Wahrnehmung des Freiheitsrechts bilden." Die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers war das klassische „Einsatzgebiet" der Kernbereichslehre. 287 Daß das BVerfG diese nicht mehr erwähnte, deutet an, daß sich das Gericht von ihr distanziert hat. Allerdings betrifft diese Aufgabe der Kernbereichslehre weniger den sachlichen Gehalt der alten Kernbereichslehre. Wenn das BVerfG die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers in Gegensatz zur vorbehaltlosen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit bringt, heißt das, daß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung einen weiteren Spielraum hat und nicht nur mit Verfassungsrang ausgestattete Güter berücksichtigen darf. Das BVerfG ließ denn auch ausdrücklich offen, ob die Regelung ein mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut - die Existenz einer deutschen Handelsflotte - erhalten soll. Entscheidender Gesichtspunkt ist, daß bei der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber auch 285 BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103 (114 ff.). 286 BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26 (38 ff.). 287 Vgl. z. B. BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367).
4. Kap.: 1978-1995: Der Streit um die Kernbereichslehre
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ein nicht mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut die Beschränkung der an sich vorbehaltlos gewährleisteten Koalitionsfreiheit rechtfertigen kann. Damit entspricht die Entscheidung in der Sache - mit Modifikationen - der Kernbereichslehre.
4. Die Entscheidung des BVerfG vom 04. 07. 1995 Zu §116 AEG In der Entscheidung vom 04. 07. 1995 2 8 8 zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung von § 116 A F G erwähnte das BVerfG die Kernbereichslehre ebenfalls nicht mehr. Das Gericht betonte erneut die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsfreiheit und räumte dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung einen weiten Handlungsspielraum ein. Seine Grenze findet dieser Handlungsspielraum des Gesetzgebers jetzt aber nicht mehr am Kernbereich der Koalitionsfreiheit, sondern an deren „objektivem Gehalt' 4 . Die Einführung dieses neuen Begriffs deutet wiederum an, daß das BVerfG sich von der Kernbereichslehre löst. A n die Stelle der Kernbereichsformel tritt ein differenziertes Bündel von Vorgaben: Den Koalitionen muß ein Bereich der selbstverantwortlichen Regelung ihrer Angelegenheiten gewahrt bleiben, und ihre Funktionsfähigkeit darf nicht gefährdet werden. Das ist dann der Fall, wenn die Parität der Tarifpartner gestört wird oder ihre Betätigung stärker eingeschränkt wird, als es zum Ausgleich der beiderseitigen Grundrechtspositionen erforderlich ist. Inwieweit sich das BVerfG auch vom Unerläßlichkeitskriterium lösen wollte, blieb in den neueren Entscheidungen des BVerfG noch offen. Angesichts der grundlegenden Neuformulierung der dogmatischen Grundlagen der Koalitionsfreiheit konnte aber erwartet werden, daß sich das BVerfG auch dazu äußern werde. Das erfolgte i m Beschluß vom 14. 11. 1995. 2 8 9
288 BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365 (393). 289 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG - vgl. dazu unten, 2. Teil, 4. und 5. Kap.
2. T e i l
Die Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb und die Dogmatik der Koalitionsfreiheit 1. Kapitel
Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb I. Die Ansicht von BVerfG und BAG Art. 9 Abs. 3 GG als Grundlage der gewerkschaftlichen Rechte im Betrieb Seit der Entscheidung des BVerfG zur Werbung der Gewerkschaften vor Personalratswahlen 1 ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß die Rechte der Gewerkschaften auf Betätigung i m Betrieb aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitet werden müssen. 2 Differenzen zwischen BVerfG und B A G gibt es aber hinsichtlich der Frage, auf welche Weise aus Art. 9 Abs. 3 GG unmittelbare Rechte abgeleitet werden können. Das BVerfG äußert sich zu dieser Frage direkt nur sehr selten; Aussagen finden sich in der Volmarstein-Entscheidung zum Zutrittsrecht 3 und in der Entscheidung vom 14. 11. 1995. 4 In der Volmarstein-Entscheidung prüft das BVerfG zum einen die Koalitionsfreiheit selbst, vermittelt über die unmittelbare Drittwirkung gem. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG als Anspruchsgrundlage, zum anderen eine richterliche Rechtsfortbildung in Analogie zu § 2 Abs. 2 BetrVG. 5 In der Entscheidung vom 14. 11. 1995 ging es um die individuelle Koalitionsfreiheit; hier sieht das BVerfG in einer Auslegung des Arbeitsvertrages die Lösung. Anspruchsgrundlage wäre da-
1 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. 2 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303; BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295; BVerfG 21. 11. 1980 AP Nr. 30a zu Art. 9 GG; BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220; BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG; BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; BAG 30. 08. 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG. 3 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 4 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 5 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220.
1. Kap.: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
81
mit § 611 BGB i V m dem Arbeitsvertrag. Diese Lösung kann sich allerdings nur auf die individuelle Koalitionsfreiheit beziehen; bei der kollektiven Koalitionsfreiheit fehlt in der Regel eine vertragliche Beziehung. 6 In der Rechtsprechung des B A G wird Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht erwähnt; oftmals stützt sich das B A G ohne weitere Erklärung auf die Koalitionsfreiheit. 7 In anderen Entscheidungen erwähnt das B A G zusätzlich zu Art. 9 Abs. 3 GG die §§ 1004, 823 B G B . 8 Der Kernaussage, daß die gewerkschaftlichen Rechte hauptsächlich aus Art. 9 Abs. 3 GG abzuleiten sind, ist auch die h M in der Literatur beigetreten. 9
II. Andere Ansichten in der Literatur 1. Das BetrVG a) Das BetrVG als Rechtsgrundlage der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb Eine Rechtsgrundlage zumindest für Teilbereiche der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb sucht Brox i m B e t r V G . 1 0 Das BetrVG regele eine Reihe von Befugnissen der Gewerkschaften im Rahmen der Betriebsverfassung. Wenn das Gesetz auf die Mitgliederwerbung durch Plakate nicht eingehe, sei es insoweit lükkenhaft. Diese Lücken habe der Richter unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertungen zu schließen. Bei dieser Lückenfüllung seien auch die grundrechtlichen Wertungen zu berücksichtigen. Daß im Wege der Gesetzesanalogie ein Recht der Gewerkschaften auf Wahlwerbung vor Betriebsratswahlen gewonnen werden kann, meint auch Schaub. 11
6 aA: LAG Niedersachsen 10. 12. 1965 BB 1966 S. 778, das insoweit einen Tarifvertrag, auch einen Verbandstarifvertrag, als Anknüpfungspunkt ausreichen lassen will; daß selbst ein Firmentarifvertrag für eine solche Auslegung Anhaltspunkte bietet, ist allerdings kaum anzunehmen; ablehnend auch: Rüthers, RdA 1968, S. 161 (165); Krevet, MDR 1966, S. 897 f. ι BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 8 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 S. 6; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 9 Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 23; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 65; Hess / Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 91; GK-Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 83; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 147; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 247; alle mwN. 10 Brox, BB 1965, S. 1321 (1323 f.).
h Schaub, DB 1965, S. 1326 (1327 f.). 6 Brock
2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
82
b) Die Gegenposition in der Literatur Dagegen wird vorgebracht, daß eine Analogie schon daran scheitere, daß gar keine Lücke i m BetrVG vorliege. 1 2 Voraussetzung für eine Analogie sei eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz. Das Gesetz regele also eine Frage nicht, die nach dem Gesetzesplan der Regelung bedurft hätte. 1 3 Die i m BetrVG geregelten Rechte der Gewerkschaften seien aber betriebsverfassungsrechtliche Hilfsrechte der Gewerkschaften und keine Rechte i m Eigeninteresse der Gewerkschaften, so daß die Regelung koalitionsrechtlicher Fragen nicht i m Rahmen der Betriebsverfassung erwartet werden dürfe. 1 4 Einige halten eine solche Regelung sogar für systemwidrig. 1 5 Das zeige sich auch daran, daß der Gesetzgeber die Frage in § 2 Abs. 2 BetrVG 1952 (bzw. § 2 Abs. 3 BetrVG 1972) ausdrücklich offen gelassen habe. 1 6
c) Stellungnahme und Ergebnis Daß eine Regelung i m BetrVG systematisch ausgeschlossen ist, kann nicht behauptet werden. 1 7 Das zeigt sich auch am Vorschlag einer zumindest teilweisen Regelung der gewerkschaftlichen Werberechte i m Referentenentwurf zum BetrVG 1972. 1 8 Systemwidrig kann eine Regelung der Befugnisse der Koalition i m eigenen Interesse schon deshalb nicht sein, da es zu viele Überschneidungen zwischen beiden Rechtsgebieten g i b t . 1 9 In beiden Fällen geht es um die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, 20 in beiden Fällen ist der Betrieb der gemeinsame Anknüpfungspunkt. Verstärkt wird diese „Gemengelage" noch dadurch, daß die Befugnisse der Gewerkschaften i m Rahmen der Betriebsverfassung auch nicht gänzlich uneigennützig sind: Wenn die Gewerkschaften diese Befugnisse wahrnehmen, geschieht das durchaus auch im eigenen Interesse. Die Mög12 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 145; Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 902 (903 f.); Rüthers, RdA 1968, S. 161 (164); Hiersemann, DB 1966, S. 702 (703); Säcker, BB 1966, S. 700; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 263; Joswig, Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Betätigung, S. 106. 13
Vgl. dazu: Larenz, Methodenlehre, S. 373. 14 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 145; Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 902 (904); Hiersemann, DB 1966, S. 702 (703). 15 Hiersemann, DB 1966, S. 702 (703); Zöllner, SAE 1966, S. 162 (165); vgl. auch: Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 145. 16 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (164); Hiersemann, DB 1966, S. 702 (703). 17 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (164). is Abgedruckt in: RdA 70, 357; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 145 hält auch diese Regelung für systemwidrig. 19 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (164) spricht von „Gemengelage" bzw. einem „Grenzbereich zweier Rechtsgebiete". 20 Vgl. BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303.
1. Kap.: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
83
lichkeit der Wahlwerbung der Gewerkschaften setzt schon deren eigenes Interesse voraus. Spätestens mit der Einführung eines eigenen Wahlvorschlagsrechts der Gewerkschaften gem. § 14 Abs. 5 BetrVG dient das BetrVG auch einem im eigenen gewerkschaftlichen Interesse liegenden Handeln. 2 1 Die Regelung zeigt, daß der Gesetzgeber das BetrVG durchaus auch so ändern könnte, daß die Interessen der Gewerkschaften ein höheres Gewicht erhalten. 22 Das betrifft zunächst aber nur die Frage, ob der Gesetzgeber die gewerkschaftlichen Befugnisse im Betrieb umfassend im BetrVG hätte regeln können. Ob Rechte auf gewerkschaftliche Betätigung aus dem BetrVG abgeleitet werden können, ob das BetrVG also analogiefähig ist, bestimmt sich danach, ob das Gesetz planwidrige Regelungslücken aufweist. 2 3 Eine Frage, deren Regelung hätte erwartet werden können, wäre versehentlich nicht geregelt worden. 2 4 Caspar w i l l eine solche Lücke annehmen, wenn die i m BetrVG geregelten Befugnisse der Gewerkschaften eine planvolle Systematik aufweisen. 25 Allein eine planvolle Systematik reicht aber nicht aus; der Gesetzgeber muß vielmehr die vollständige Regelung der - auch eigennützigen - Befugnisse der Gewerkschaften im Betrieb gewollt haben. Der Gesetzgeber müßte also auch die Betätigung i m Eigeninteresse der Gewerkschaften berücksichtigt haben, so daß Lücken in dieser Systematik dann eine planwidrige Unvollständigkeit darstellen können. Es ist damit nach dem Schutzzweck der Koalitionsrechte in der Betriebsverfassung zu fragen. 2 6 Schon ein Uberblick über die den Gewerkschaften i m BetrVG eingeräumten Befugnisse zeigt jedoch, daß diese primär der Betriebsverfassung zugute kommen sollen: 2 7 Die Rechte der Gewerkschaften hinsichtlich des Zustandekommens des Betriebsrats in §§ 16, 17 BetrVG bestehen im Interesse der Betriebsverfassung. 28 Auch das Recht auf Wahlanfechtung in § 19 Abs. 2 BetrVG dient ebenso wie das Klagerecht gem. § 23 Abs. 1 S. 1 BetrVG (§ 48 BetrVG, § 56 BetrVG) der Rechtmäßigkeitskontrolle des Betriebsrats. 29 I m Rahmen der vertrauensvollen Zusammenarbeit gem. § 2 Abs. 1 BetrVG, der Beratungsrechte gem. §§ 31, 46 B e t r V G 3 0
21 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321); Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 14 RdNr. 62. 22 Zur Kritik an der Regelung in § 14 Abs. 5 BetrVG vgl. Hanau, AuR 1988, S. 261(264); Richardi, AuR 1986, S. 33 (34). 23 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 145; Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 902 (903 f.); Rüthers, RdA 1968, S. 161 (164); Hiersemann, DB 1966, S. 702 (703); Säcker, BB 1966, S. 700. 24 Vgl. die Wertung bei der Analogie: Larenz, Methodenlehre, S. 375. 25 Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 61. 26 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (164). 27 Vgl. Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 145. 28 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 52. 29 Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 60; Richardi, FS Müller, S. 413 (421). 6*
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
und der Betriebsratsschulungen gem. § 37 Abs. 6 S. 1 B e t r V G 3 1 können die Koalitionen allerdings ihren Einfluß geltend machen und versuchen, ihre Zielvorstellungen durchzusetzen. Auch hier bleibt aber die Unabhängigkeit der Betriebsverfassung gewahrt: Es sind nur Beratungsrechte. 32 Betriebsrat und Betriebsverfassung können sich das Wissen und die Erfahrung der Koalitionen zunutze machen. Eine eigenständige Wahrnehmung der Koalitionsinteressen ist auch hier nicht möglich. Daß den Koalitionen i m Rahmen der Betriebsverfassung nur eine unterstützende Aufgabe zukommt, zeigen nicht zuletzt auch der Grundsatz gewerkschaftlicher Neutralität gem. § 75 Abs. 1 BetrVG und die gesetzliche Trennung zwischen betriebsverfassungsrechtlichen und koalitionsrechtlichen Befugnissen in § 2 Abs. 3 und § 74 Abs. 3 B e t r V G . 3 3 Die Befugnisse der Koalitionen im BetrVG dienen also der Unterstützung der Betriebsverfassung, nicht aber der Förderung der eigenen Belange der Koalition. Diese hat der Gesetzgeber - wie sich auch aus § 2 Abs. 3 BetrVG ergibt - im BetrVG nicht regeln wollen. Insoweit kann man von einer planvollen Unvollständigkeit sprechen. 34 Eine andere Beurteilung kann allerdings hinsichtlich des Wahlvorschlagsrechts gem. § 14 Abs. 5 BetrVG angebracht sein. Hier kann man überlegen, ob das BetrVG nicht unvollständig ist, wenn der Gesetzgeber einerseits das Recht gibt, Wahlvorschläge zu machen, andererseits aber nicht die Befugnisse regelt, diese Wahlvorschläge zu unterstützen - also Wahlwerbung zu ermöglichen. 3 5 Ob sich die Werberechte vor Betriebsratswahlen aus einer Analogie zu § 14 Abs. 5 BetrVG oder (auch) aus Art. 9 Abs. 3 GG ergeben, wird weiter unten i m Rahmen des Einzelproblems erörtert.
30 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 31 RdNr. 21; Richardi, FS Müller, S. 413 (418 f.). 31 BAG 30. 03. 1994 DB 1994 S. 2295 (2297); BAG 17. 06. 1998 DB 1999 S. 388. 32 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 31 RdNr. 21; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 167 f.; Richardi, FS Müller, S. 413 (419). 33 Vgl. dazu auch: v. Hoyningen-Huene in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 302 RdNr. 1; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 28 ff. 34 Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 258. 35 Vgl. Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 64; vgl. auch: Schaub, DB 1965, S. 1326 (1327) - allerdings ohne Bezugnahme auf den damals noch nicht existierenden § 14 Abs. 5 BetrVG. Auf das Fehlen einer solchen Bestimmung bezog sich auch der Einwand von Hiersemann, DB 1966, S. 702 (704), ohne Wahlvorschlagsrecht komme kein Wahlwerberecht in Betracht.
1. Kap.: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
85
2. Die Sozialadäquanz a) Die Sozialadäquanz als Anspruchsgrundlage für die Gewerkschaften Daß die Sozialadäquanz als allgemein gültiger Rechtfertigungsgrund eine Rechtsgrundlage für die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb abgibt, vertritt vor allem Neumann-Duesberg. 36 Aus § 1004 BGB i V m Art. 9 Abs. 3 GG folge allein ein Abwehranspruch der Koalition. Die Sozialadäquanz als aggressiver Rechtfertigungsgrund - ähnlich wie § 904 BGB - ermögliche es der Gewerkschaft aber, vom Arbeitgeber die Duldung der i m sozialadäquaten Rahmen bleibenden Betätigung zu verlangen. 37 Eine eigene Definition dessen, was sozialadäquat ist, gibt Neumann-Duesberg nicht. Die von ihm angeführten Zitate verstehen darunter die geschichtlich gewordene sozialethische Ordnung, Vernunfterwägungen, aber auch eine Güter- und Pflichtenabwägung. 38 Auch Löwisch arbeitet mit dem Grundsatz der Sozialadäquanz. Ein Recht der Gewerkschaften auf Einsammeln von Gewerkschaftsbeiträgen i m Betrieb verneint er zwar mangels Unerläßlichkeit. Daß die Beiträge in den Pausen eingesammelt würden, könne der Arbeitgeber aber nicht verhindern, da es sich um sozialadäquate Vorgänge, die den Arbeitsablauf nicht stören, handele. 39 Auch sei es sozialadäquat, daß Arbeitnehmer, die sich während der Arbeitszeit unterhalten dürfen, über gewerkschaftliche Themen sprechen. 40
b) Die Gegenansicht in der Literatur A m Begriff der Sozialadäquanz wird kritisiert, daß der Grundsatz wegen seiner generalklauselartigen Weite und Unbestimmtheit keinen sinnvollen Maßstab abgebe. 4 1 Zudem sei es gerade ungewiß, ob die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb so anerkannt sei, daß man davon sprechen könne, sie sei sozialadäquat. 42
36 Neumann-Duesberg, AuR 1966, S. 289; ders., BB 1966, S. 902 (905); ders., BB 1966, S. 947. 37 Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 947 (950). 38 Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 947. 39 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 159. 40
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 164. 41 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 146; Rüthers, RdA 1968, S. 161 (165 f.); Joswig, Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Betätigung, S. 107; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 263; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 259. 42 Zöllner, SAE 1967, S. 110; Rüthers, RdA 1968, S. 161 (166).
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik c) Stellungnahme und Ergebnis
Schon Neumann-Duesberg kann keine klare Definition dessen geben, was sozialadäquat ist. 4 3 Der Vorwurf der Unbestimmtheit ist damit nicht von der Hand zu weisen. Soweit unter Sozialadäquanz die geschichtlich gewordene sozialethische Ordnung verstanden w i r d , 4 4 kann das rechtlich eigentlich nur bedeutsam werden, wenn es von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert ist. In diesem Falle liegt es näher, von Gewohnheitsrecht zu sprechen. 45 Zudem würde der Begriff der Sozialadäquanz als geschichtlich gewordene, sozialethische Ordnung die Rechte der Gewerkschaften auf das einmal erreichte Maß „einfrieren" und neue Entwicklungen behindern. Rechtliche Wertung würde ersetzt durch bloße Feststellung des Bestehenden. Als alleinige Anspruchsgrundlage taugt der Grundsatz der Sozialadäquanz daher wenig. Außerdem zeigt sich, daß die Bedeutung des Begriffs der Sozialadäquanz stark gesunken ist. I m bürgerlichen Recht wird der Begriff des sozialtypischen Verhaltens, das einen faktischen Vertrag begründen soll, nicht mehr vertreten. 46 Auch i m Strafrecht wird der Begriff der Sozialadäquanz stark relativiert; die Fälle, die früher als Beispiel der Sozialadäquanz angesehen wurden, werden heute als Beispiele für die teleologische Reduktion von Tatbeständen begriffen. 4 7 Auch die Beispiele von L ö w i s c h 4 8 zeigen, wie problematisch die Sozialadäquanz als Anspruchsgrundlage und Begründung ist. A u f die Behauptung, ein Verhalten sei sozialadäquat, kann nur mit dem schlichten Widerspruch reagiert werden, daß es nicht sozialadäquat ist. Die behauptete Sozialadäquanz verdeckt lediglich das Fehlen einer eigentlichen Begründung. Damit sollen die Ergebnisse nicht unbedingt angezweifelt werden. Nur lassen sich diese auf andere Weise besser begründen. Wenn man das Verhalten nicht wegen Art. 9 Abs. 3 GG für erlaubt hält, kann man immer noch an eine Begründung über § 226 BGB oder über das Verbot widersprüchlichen Verhaltens gem. § 242 B G B 4 9 denken. Eine solche, auf den ersten Blick umständlicher erscheinende Herleitung des Ergebnisses bietet den Vorteil, die Gründe offenzulegen und damit erst einen Widerspruch und eine Diskussion zu ermöglichen. Damit ist nicht zuletzt auch der Rechtssicherheit und -klarheit gedient.
« Vgl. Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 947. 44 Neumann-Duesberg, BB 1966, S. 947. 45 Tatsächlich hält Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 255 das Einsammeln des Gewerkschaftsbeitrags in den Pausen für Gewohnheitsrecht - unter Hinweis auf Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 159, der das für sozialadäquat hält. 46 Medicus, Bürgerliches Recht, RdNr. 190; Larenz, BGB AT, § 28 II S. 534 {Larenz, der diese Lehre entwickelt hat, hat sich mittlerweile selbst davon distanziert). 47 Vgl. Lackner/Kühl, StGB, vor § 32 RdNr. 29. 48 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 159, 164. 49 Vgl. dazu: Palandt - Heinrichs, BGB, § 242 RdNr. 50.
1. Kap.: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
87
Der Grundsatz der Sozialadäquanz als Rechtsgrundlage ist also abzulehnen.
3. IAO-Abkommen Nr. 135 Auch heute noch wird als mögliche Anspruchsgrundlage für Gewerkschaftsrechte i m Betrieb das IAO-Abkommen Nr. 135 5 0 genannt.
a) Der Inhalt des IAO-Abkommens Nr. 135 Das Abkommen betrifft „Schutz und Erleichterungen für Arbeitnehmervertreter im Betrieb". In Art. 1 ist bestimmt, daß „Arbeitnehmervertreter gegen jede Benachteiligung, einschließlich Kündigung, die aufgrund ihrer Stellung als Arbeitnehmervertreter oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder ihrer gewerkschaftlichen Betätigung erfolgt, wirksam zu schützen" sind, „sofern sie i m Einklang mit bestehenden Gesetzen oder Gesamtarbeitsverträgen oder anderen gemeinsam vereinbarten Regelungen handeln". Art. 2 bestimmt, daß den Arbeitnehmervertretern „Erleichterungen zu gewähren" sind, „die geeignet sind, ihnen die rasche und wirksame Durchführung ihrer Aufgaben zu ermöglichen." Zu berücksichtigen sind dabei die Eigenart des in dem betreffenden Land geltenden Systems der Arbeitsbeziehungen und die Leistungsfähigkeit des betreffenden Betriebes. Das Funktionieren des Betriebes darf nicht beeinträchtigt werden. Art. 3 bestimmt, daß Arbeitnehmervertreter Gewerkschaftsvertreter oder gewählte Vertreter sind, wobei gem. Art. 4 des Abkommens „durch die innerstaatliche Gesetzgebung, durch Gesamtarbeitsverträge, Schiedssprüche oder gerichtliche Entscheidungen" bestimmt werden kann, „welche Art oder Arten von Arbeitnehmervertretern" Anspruch auf die in dem Abkommen vorgesehenen Erleichterungen haben sollen. Gem. Art. 5 darf das Vorhandensein gewählter Vertreter aber nicht dazu benutzt werden, die Stellung der Gewerkschaften und ihrer Vertreter zu untergraben; die Zusammenarbeit zwischen beiden soll gefördert werden.
b) Rechte der Gewerkschaften aus dem IAO-Abkommen Nr. 135 Können nun die Gewerkschaften Rechte aus dem IAO-Abkommen Nr. 135 ableiten? Es kann unterstellt werden, daß auch der Richter zur Verwirklichung des Abkommens berufen ist. 5 1 Das Abkommen gibt in Art. 4 für die innerstaatliche
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Abgedruckt in: Kittner,
Internationale Sozialordnung, Nr. 212.
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
Umsetzung die Wahlmöglichkeit, die Erleichterungen für gewählte Vertreter oder für Gewerkschaftsvertreter umzusetzen. I m BetrVG, das insoweit als Umsetzung des Abkommens anzusehen i s t , 5 2 hat sich der deutsche Gesetzgeber für die gewählten Vertreter entschieden. Das ist auch anerkannt; 5 3 umstritten ist aber, inwieweit das Verbot des „Untergrabens" in Art. 5 des Abkommens dazu zwingt, den Gewerkschaften Rechte zu geben. 5 4 Däubler sieht in den Erleichterungen, die dem Betriebsrat gewährt worden sind, ein Untergraben der Position der Gewerkschaften im Betrieb: Sowohl der natürliche Informationsvorsprung des Betriebsrats 55 wie auch die Tatsache, daß die Arbeit für den Betriebsrat während der Arbeitszeit erbracht werden könne und auch die Arbeitnehmer sich an den Betriebsrat in der Arbeitszeit wenden könnten, 5 6 bedeute eine Benachteiligung der Gewerkschaften. Diesen seien deshalb geeignete Mittel wie die Möglichkeit der Betätigung während der Arbeitszeit und ein Zugangsrecht zu gewähren.
c) Stellungnahme und Ergebnis Diese Ansicht ist jedoch zweifelhaft: 5 7 Wenn jede Begünstigung, die den gewählten Vertretern gewährt wird, zugleich eine entsprechende Ausgleichspflicht zugunsten der Gewerkschaften begründet, ist das in Art. 4 des Abkommens geregelte innerstaatliche Wahlrecht de facto nicht existent. 5 8 Der Gesetzgeber könnte höchstens die gewählten Vertreter mit den Gewerkschaftsvertretern gleichstellen, ohne gegen Art. 5 des Abkommens zu verstoßen. U m die Reichweite von Art. 5 des IAO-Abkommens Nr. 135 richtig bestimmen zu können, muß man sich daher um die Klärung des zentralen Begriffes der Vorschrift „untergraben" bemühen. Däubler scheint diesen Begriff eher i m Sinne eines Gleichheitssatzes zu verstehen. Die Existenz gewählter Vertreter i m Betrieb dürfte dann nicht nur nicht zu einer gewollten Verschlechterung der gewerkschaftlichen Position führen; jede Begünstigung für die gewählten Vertreter würde dann zugleich auch eine Schlechter51
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 25 ff.; dahinstehen lassend: BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG S. 193 (200); BAG 19. 01. 1982 EzA Nr. 34 zu Art. 9 GG S. 263 (273). 52 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG S. 193 (200); BAG 19. 01. 1982 EzA Nr. 34 zu Art. 9 GG S. 263 (273); Bötticher, RdA 1978, S. 133 (145). 53 Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 279. 54 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 399 ff., 428 ff.; DäublerIKittnerIKlebe, BetrVG, § 2 RdNr. 52; Pfarr, AuR 1979, S. 242 (244 f.); Zachert, BB 1976, S. 514 (520); vgl. auch: Herschel, AuR 1977, S. 137 (147). 55 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 430. 56 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 401. 57 Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (2221). 58 Bötticher, RdA 1978, S. 133 (145).
1. Kap.: Rechtsgrundlagen der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb
89
Stellung der Gewerkschaften bedeuten. 59 Damit wird aber der Begriff „untergraben" überinterpretiert. Es ist schon zweifelhaft, ob damit überhaupt bereits rein faktische Schlechterstellungen erfaßt werden sollen, oder ob damit nicht nur ein Verbot gemeint ist, die Stellung der gewerkschaftlichen Interessenwahrnehmung bewußt und zielgerichtet zu verschlechtern. 60 Ein Untergraben setzt aber auf jeden Fall voraus, daß die Existenz gewählter Vertreter die Gewerkschaften aus ihrer Position als Interessen Vertreter der Arbeitnehmer verdrängt. Das ist aber in Deutschland nicht der Fall. Der Gesetzgeber hat vielmehr einen ausgewogenen Ausgleich zwischen den Betriebsräten als gewählten Vertretern und den Gewerkschaften geschaffen. 61 Insbesondere die Tarifverträge der Gewerkschaften sind durch §§77 Abs. 3; 87 Abs. 1 BetrVG gegen Konkurrenz durch die Betriebsvereinbarungen geschützt. 62 I m Bereich der Festlegung der Arbeitsbedingungen haben die Gewerkschaften damit mehr oder weniger ein Monopol. Auch hat der Gesetzgeber die Sphären von Betriebsrat und Gewerkschaften nicht streng getrennt, sondern den Gewerkschaften gewichtige Befugnisse in der Betriebsverfassung gegeben, mit deren Hilfe sie Einfluß nehmen können; nicht zuletzt erlaubt ihnen die Möglichkeit der Kandidatur gewerkschaftlicher Listen bei der Betriebsratswahl und die Möglichkeit der Wahlwerbung, auch auf die personelle Zusammensetzung der Betriebsräte erheblichen Einfluß zu nehmen. 6 3 Auch die Interessenvertretung ihrer Mitglieder vor den Arbeitsgerichten steht gem. § 11 Abs. 1 ArbGG den Gewerkschaften zu. Das BetrVG stellt darüber hinaus in § 2 Abs. 3 BetrVG klar, daß durch das BetrVG die Rechte der Gewerkschaften nicht eingeschränkt werden. Den Gewerkschaften steht aus Art. 9 Abs. 3 GG ein umfassendes Betätigungsrecht zu, nur begrenzt durch die Grundrechte und sonstigen Rechtsgüter mit Verfassungsrang Dritter. 6 4 Wenn Art. 5 des IAO-Abkommens Nr. 135 angesichts dessen noch eine Bedeutung haben soll, dann kann diese nur darin bestehen, einen weitergehenden Vorrang gewerkschaftlicher Interessen vor den Rechten Dritter zu begründen, um jede Bevorzugung der gewählten Vertreter auszuschließen. Damit drohen aber die so gefundenen Ergebnisse verfassungswidrig zu werden. Aus Art. 5 des IAO-Abkommens Nr. 135 lassen sich damit keine zusätzlichen Rechte für die Gewerkschaften ableiten.
59 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 339 ff., 428 ff.; Pfarr, S. 242 (245). 60 Reuten FS Müller, S. 387 (399). 61 Reuten FS Müller, S. 387 (399). 62 Vgl. dazu auch: BAG 20. 04. 1999 DB 1999 S. 1555 (1558). 63 BVerfG 30. 11. 1965 E 19, 303 (321). 64 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG.
AuR 1979,
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik „Hätten wir nichts tun sollen, so wie der Gesetzgeber? Hätten wir den Parteien des Arbeitskampfes sagen sollen : Freßt Euch gegenseitig auf! Das geht in Deutschland nicht, die Deutschen sind rechtsgläubig. Also haben die Arbeitsgerichte den Arbeitskampf geregelt. Das entsprach der gesellschaftlichen Bedürfnislage." 65 „Das BAG hat die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin nicht dadurch verletzt, daß es die maßgebenden Grundsätze selbst entwickelt hat, ohne sich auf ein gesetzliches Regelungssystem stützen zu können." 66 „Das Richterrecht bleibt unser Schicksal."67
2. Kapitel
Das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung Die obenstehenden Zitate verdeutlichen das Problem: Das Arbeitsrecht wird von richterlichen Rechtsfortbildungen beherrscht. Besonders i m Bereich der Koalitionsfreiheit sind diese von entscheidender Bedeutung. Der Gesetzgeber ist seiner Aufgabe, die Befugnisse der Koalitionen näher auszugestalten und zu regeln, 6 8 bisher nur in einem Teilgebiet, dem Tarifvertragsrecht, durch das T V G nachgekommen. 6 9 Ebenso wie i m Arbeitskampfrecht fehlen auch für das Recht der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb gesetzliche Regelungen. 70 Gem. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG ist der Richter an „Recht und Gesetz" gebunden. Damit ist die grundsätzliche Rechtsetzungskompetenz dem Gesetzgeber überantwortet. 71 In der demokratischen Ordnung des GG ist das Parlament primär für die Gesetzgebung zuständig. 72 Denn nur das Parlament besitzt die nötige demokratische Le-
65 Der ehemalige Präsident des BAG, Prof. Dr. Thomas Dieterich in einem Interview, Süddeutsche Zeitung vom 05.070.1999, S. 11. 66 BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (226). 67 Gamillscheg, AcP 164 (1964), S. 385 (445). 68 Vgl. BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368). 69 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96; Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 118. 70 Vgl. BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG (S. 279); BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung; Lerche, NJW 1987, S. 2465 (2470); zum Scheitern des Versuchs einer zumindest partiellen gesetzlichen Regelung vgl. Hanau, BB 1971, S. 485 (487) und oben 1. Teil C I.
71 Aussem, Ausstrahlungswirkung, S. 147; Hanau, BIStSozAR 1985, S. 17 (18).
2. Kap.: Das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung
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gitimation, die „wesentlichen" Grundentscheidungen 73 selbst zu treffen. Nur durch die Gesetzgebung i m parlamentarischen Verfahren ist eine politische Willensbildung - also eine Willensbildung als Resultat eines zumindest grundsätzlich für alle gesellschaftlichen Kräfte offenen Diskussionsprozesses - möglich. 7 4 Zudem stehen auch nur dem parlamentarischen Gesetzgeber die nötigen Erkenntnisquellen zur Verfügung, während die Möglichkeiten des Richters zur Informationserlangung und -Verarbeitung begrenzt sind. 7 5 Wenn der Gesetzgeber untätig geblieben ist, kann sich der Richter aber nicht mit dem Hinweis auf die fehlende gesetzliche Regelung seiner Verantwortung entziehen - einer Verantwortung, die sich gleichfalls aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt. Der Richter ist nicht allein an das „Gesetz", sondern auch an das „Recht" gebunden. Beides muß nicht identisch sein, wie auch das BVerfG festgestellt hat: „Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt [ . . . ] ; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen ist Aufgabe der Rechtsprechung. [ . . . ] Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gekommen sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren." 76 Für den Richter gilt damit auch ein Verbot, dieses Recht zu verweigern. 7 7 Diese Ausgangslage - zwischen der primären Gesetzgebungsaufgabe des Gesetzgebers einerseits und dem Verbot der Rechtsverweigerung durch den Richter andererseits - führt dazu, daß zwar die Kompetenz des Richters zur Rechtsfortbildung grundsätzlich anerkannt w i r d , 7 8 die Grenzen, die der Richter dabei einzuhalten hat, aber umstritten sind. Die wichtigsten Versuche einer Grenzziehung sollen nachfolgend näher untersucht werden. 7 9 72 Klein, Koalitionsfreiheit, S. 150; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 116. 73 Vgl. die Wesentlichkeitstheorie des BVerfG: BVerfG 21. 12. 1977 E 47 S. 46 (79); Hesse, Grundzüge, RdNr. 509. 74 Schneider, DÖV 1975, S. 443 (447). 75 Klein, Koalitionsfreiheit, S. 151; Lerche, NJW 1987, S. 2465 (2467), Picker, JZ 1988, S. 62 (71). 76 BVerfG 14. 02. 1973 E 34 S. 269 (287). 77 Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 110; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 116; Aussem, Ausstrahlungswirkung, S. 147; Peter, RdA 1985, S. 337 (340 f.). 78 Larenz, Methodenlehre, S. 366 ff.; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 44; Söllner, Arbeitsrecht, S. 3; Hanau /Adomeit, Arbeitsrecht, RdNr. 53 79 Auf die Frage, ob man auch das Unerläßlichkeitskriterium in der Rechtsprechung des BAG als den Versuch einer solchen Grenzziehung verstehen muß, wird unten im systemati-
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik I. Die „Wesentlichkeitstheorie" als Grenzziehung der Befugnisse zwischen Gesetzgeber und Richter
Eine der wichtigsten Abgrenzungen der Befugnisse des parlamentarischen Gesetzgebers erfolgt anhand der „Wesentlichkeitstheorie", 80 wonach dem parlamentarischen Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen vorbehalten bleiben müssen. Teilweise wird diese Wesentlichkeitstheorie als grundlegende Bestimmung des Gewaltenteilungsprinzips verstanden und daraus der Schluß gezogen, daß gewerkschaftliche Rechte i m Betrieb nicht vom Richter geschaffen werden könnten, oder jedenfalls nur dann, wenn diese unerläßlich seien. 81 Bestätigt werde diese Ansicht durch die Entscheidung des BVerfG zum Beamteneinsatz bei einem Poststreik. 82 Dort hatte das BVerfG festgestellt, mangels einer gesetzlichen Ermächtigung hätten die Beamten auf den Arbeitsplätzen streikender Postangestellter nicht eingesetzt werden dürfen. 8 3 Damit wird die Ansicht des BVerfG allerdings nur unvollständig wiedergegeben. Denn in derselben Entscheidung stellt es fest, daß, solange es um das Verhältnis der Arbeitskampfparteien als gleichgeordnete Grundrechtsträger geht, eine gesetzliche Regelung nicht erforderlich ist und die Arbeitsgerichte zur Entscheidung der Streitigkeiten zwischen den Arbeitskampfparteien aufgerufen sind. 8 4 Die Notwendigkeit eines Gesetzes ergab sich i m Fall des Beamteneinsatzes in einem Poststreik aus der Doppelrolle des Staates als - insoweit privatrechtlich handelnder - Arbeitgeber der Postbediensteten einerseits und als Hoheitsträger andererseits, der sich die spezifisch hoheitlichen Befugnisse des Beamtenrechts zunutze macht. Damit ist die hoheitliche Rolle des Staates betroffen, die nach der Wesentlichkeitstheorie eine gesetzliche Regelung erfordert. Das ist auch konsequent, denn die Wesentlichkeitstheorie dient nach ihrer Zwecksetzung nicht der Regelung des Verhältnisses zwischen parlamentarischem Gesetzgeber und Richter, sondern der Regelung der Aufgabenverteilung zwischen Verwaltung und parlamentarischem Gesetzgeber; sie betrifft also hauptsächlich die Regelung des Vorbehalts des Gesetzes. 85
sehen Zusammenhang mit der Kernbereichslehre und dem Schutzbereich der Koalitionsfreiheit eingegangen. 80 BVerfG 21. 12. 1977 E 47 S. 46 (79); Hesse, Verfassungsrecht, RdNr. 509. 81 Wank, JZ 1996, S. 629 (631); vgl. auch: Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 168; Löwisch, DB 1988, S. 1013; Wahl-Masing, JZ 1990, S. 553 (559); Enders, AÖR Bd. 115 (1990), S. 610(630). 82 aA: Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art 9 RdNr. 168, der die Entscheidung allerdings als Indiz für die Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung des BVerfG wertet. 83 BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103 (116 f.) - Die Entscheidung beruft sich auf die Wesentlichkeitstheorie: „Der Gesetzgeber ist verpflichtet, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen."; aA: Wank, JZ 1996, S. 629 (631); wie hier: Schwarze, JuS 1994, S. 653 (656). 84 BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103 (115); ebenso BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (226).
2. Kap.: Das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung
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Die Wesentlichkeitstheorie beschränkt also die richterliche Rechtsfortbildung nicht, solange gleichgeordnete Grundrechtsträger betroffen sind. Damit spielt die Wesentlichkeitstheorie i m Privatrecht keine Rolle.
II. Die Bedeutung der mittelbar grundrechtsprägenden Normen Der Richter ist gem. Art. 20 Abs. 3 GG an „Recht und Gesetz" gebunden. Dazu gehört, daß er die Wertentscheidungen des Gesetzgebers achtet. Auch wenn der Gesetzgeber die vom Richter zu entscheidende Frage nicht geregelt hat, ist der Richter an die Wertentscheidungen des Gesetzgebers in anderen Fragen gebunden. Es handelt sich um die mittelbar grundrechtsprägenden Normen. 8 6 Diese geben dem Richter bei der oftmals schwierigen Entscheidungsfindung einen Orientierungsmaßstab an die Hand, indem er sich an den Wertentscheidungen des Gesetzgebers orientiert. Solche Normen finden sich für die Koalitionsfreiheit vor allem i m Betriebs verfassungs- und Personal Vertretungsrecht. 87 Allerdings besteht oft die Schwierigkeit festzustellen, ob eine Norm als grundlegende Wertentscheidung des Gesetzgebers tatsächlich grundrechtsprägend i s t . 8 8 So folgert Säcker aus § 74 Abs. 2 BetrVG, daß das Verbot, Arbeitsablauf und Betriebsfrieden zu stören, auch für die Gewerkschaften g i l t . 8 9 Aber ist diese Wertentscheidung des Gesetzgebers, die sich nur an Arbeitgeber und Betriebsrat richtet, 9 0 nicht aber an die Arbeitnehmer i m Betrieb, wirklich auf die Gewerkschaften anwendbar? 91 Das wird man nicht ohne weiteres annehmen können. 9 2
85 Ipsen, DVBl. 1984, S. 1102 (1105); Aussem, Ausstrahlungswirkung, S. 146; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, RdNr. 317; Däubler, AuR 1992, S. 1 (5). 86 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 112 ff., 146 f.; Rüthers, RdA 1968, S. 161 (179); Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 125; Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 110; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 271; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 254; Reuter, ZfA 1976, S. 107 (152 f.). 87 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 125. 88 Vgl. zur Gesetzesanalogie: Larenz, Methodenlehre, S. 386. 89 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 125 - zu § 49 Abs. 2 BetrVG 1952. 90 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 74 RdNr. 24; GK - Kreutz, BetrVG, § 74 RdNr. 118; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 74 RdNr. 17. 91 Vgl. auch die Kritik von: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 271. 92 Vgl. unten 3. Teil, 2. Kap., 2. Abschnitt § 7; vgl. auch: Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 213.
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik III. Bedenken gegen die Grundsatzrechtsprechung des BAG
Die Rolle der Arbeitsgerichte und insbesondere des B A G wird oftmals als die des „Ersatzgesetzgebers" beschrieben. 93 Diese Rolle ist der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung durchaus bewußt und wird dort entsprechend kritisch reflektiert. 9 4 Der Richter als Ersatzgesetzgeber ist allerdings ein Paradoxon in sich: Der Gesetzgeber schafft allgemeine, abstrakt-kollektive Regelungen, die eine Vielzahl von Fällen erfassen sollen, der Richter ist zur Entscheidung eines Einzelfalles aufgerufen. 95 Das B A G hat auf dieses Problem mit seiner Technik der Grundsatzrechtsprechung reagiert. In den Entscheidungen zum Arbeitskampfrecht errichtet das B A G ein umfangreiches dogmatisches Gebäude mit Hilfe von Generalklauseln wie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 96 Gegen diese Technik werden oft Vorbehalte geltend gemacht und eine Beschränkung auf die Entscheidung des Einzelfalls gefordert. 97 Diese Ansicht, die auf dem strikt durchgeführten Gedanken der Gewaltenteilung beruht, würde allerdings den Anforderungen und Problemen der Praxis nicht gerecht werden. Der Freiheit des Gesetzgebers zu entscheiden, was er regelt, 9 8 steht das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer Regelung gegenüber. Eine Rechtsprechung, die sich allein auf Einzelfallentscheidungen beschränkt, führt bestenfalls zu einer schwer überschaubaren Kasuistik. Dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit ist damit aber nicht Genüge getan. Bei den in der Praxis auftretenden Problemen ist es oftmals entscheidend, die rechtlichen Konsequenzen vorher abschätzen zu können. 9 9 Angesichts der mit einem rechtswidrigen Streik verbundenen Folgen besteht ein dringendes Bedürfnis der Gewerkschaften nach Regeln, die es ihnen erlauben abzuschätzen, ob geplante Arbeitskampfmaßnahmen rechtmäßig oder rechtswidrig sind. Auch der sich i m Betrieb betätigende Arbeitnehmer bedarf solcher Regeln, sonst wird die vom GG garantierte Betätigungsfreiheit allein schon deshalb eingeschränkt, weil bei jeder Maßname das Damoklesschwert der Abmahnung oder Kündigung über dem Arbeitnehmer schwebt. 1 0 0 93 Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 168; Lerche, NJW 1987, S. 2465 (2471); TrappehllLambrich, NJW 1999, S. 3217. 94 Vgl. die Äußerungen zum Richterrecht von drei Vorsitzenden des BAG: Müller, JuS 1980, S. 627 (635); Kissel, NJW 1982, S. 1777 (1780); Dieterich, vgl. das oben wiedergegebene Zitat, Süddeutsche Zeitung vom 05. 07. 1999, S. 11. 95 Larenz, Methodenlehre, S. 429. 96 Vgl. die Analyse bei: Klein, Koalitionsfreiheit, S. 149 ff. 97 Klein, Koalitionsfreiheit, S. 154. 98 Vgl. Klein, Koalitionsfreiheit, S. 152. 99 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 430; gegen die Berücksichtigung des Gesichtspunkts der Rechtssicherheit: Picker, JZ 1988, S. 62 (73). 100 Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 5 ff., der gerade die Information über die Rechtslage als ein Ziel seines Buches nennt; neben der Darstellung der eigenen Ansicht steht auch immer die Darstellung der Rechtsprechung. Vgl. dazu auch RdNr. 265.
2. Kap.: Das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung
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Dieses Bedürfnis der Praxis nach Orientierung führt zwangsläufig dazu, daß Entscheidungen des B A G und des BVerfG als Grundsatzentscheidungen verstanden werden. 1 0 1 Wenn das B A G seine eigenen Entscheidungen als Grundsatzentscheidungen versteht, nimmt es damit nur die zwangsläufige Reaktion der Praxis vorweg.102
IV. Gesetzes- oder Verfassungsrang der Entscheidungen des BAG Die mit dem Unerläßlichkeitskriterium begründeten Entscheidungen des B A G können den Eindruck erwecken, daß die dort gefundenen Ergebnisse zugleich auch verbindliche verfassungsrechtliche Aussagen enthalten. 1 0 3 Schon nach der alten Rechtslage konnten die diesbezüglichen Aussagen des B A G aber nur den Rang einer Rechtserkenntnisquelle haben. 1 0 4 Nachdem das BVerfG nun das B A G auf eine Abwägung verpflichtet hat, gilt das umso mehr. Die vom B A G gefundenen Abwägungsergebnisse bedeuten zudem nicht, daß der Gesetzgeber - falls er sich zu einer Regelung entschließen kann - an diese Ergebnisse gebunden ist. Die Gerichte sind bei der Abwägung der kollidierenden Grundrechte nicht frei, sondern haben die Lösung zu finden, die beide Grundrechte zu maximaler Wirksamkeit bringt. I m Gegensatz zum Richter hat der demokratisch legitimierte parlamentarische Gesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum. 105 Er ist daher nicht wie der Richter auf die goldene Mitte zwischen beiden Grundrechten verpflichtet, sondern kann zugunsten eines Grundrechts auch von dieser Mitte abweichen.
101 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre, RdNr. 520; Peter, RdA 1985, S. 337 (343). Selbst der Gesetzgeber orientiert sich an den Ergebnissen der richterlichen Rechtsfortbildung. Ein typisches Beispiel dafür ist, daß der Gesetzgeber im BeschFG eine Ausnahme zur Rechtsprechung des BAG zum befristeten Arbeitsvertrag regelte, nicht jedoch ein umfassendes Gesetz über den befristeten Arbeitsvertrag erließ; vgl. EK - Müller-Glöge, BeschFG, § 1 RdNr. 12; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, S. 2133 (2139). - Mittlerweile hat der Gesetzgeber die umfassende Regelung des befristeten Arbeitsvertrages im TzBfG nachgeholt. 102 Dazu gehört auch die Technik des BAG, mit obiter dicta neue Entwicklungen anzukündigen. Kritisch zu dieser Technik: v. Hoyningen-Huene, BB 1986, S. 2133 (2137 f.). i° 3 Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 266. 104 Badura, DB 1985 Beil. 14, S. 4; vgl. allgemein: Larenz, Methodenlehre, S. 432; Pawlowski, Methodenlehre, RdNr. 528. los BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (369); BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365 (394).
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik 3. Kapitel
Art. 9 Abs. 3 GG Das Verhältnis von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit Da, wie oben dargestellt, die Rechte der Gewerkschaften auf Betätigung i m Betrieb direkt aus Art. 9 Abs. 3 GG hergeleitet werden müssen, ist auf dieses Grundrecht nunmehr näher einzugehen. Der erste wichtige Punkt ist die Frage, wer Träger des Grundrechts ist. Seinem Wortlaut nach ist Art. 9 Abs. 3 GG ein Individualgrundrecht: Die Norm gibt dem einzelnen die Freiheit, Koalitionen zu bilden. Da sich der Schutz der Koalitionsfreiheit aber nicht auf die Koalitionsgründung beschränkt, sondern das Grundrecht auch die koalitionsspezifische Betätigung schützt 1 0 6 , stellt sich die Frage, inwieweit die Koalitionen selbst direkt durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt sind, oder ob sich dieser Schutz aus Art. 19 Abs. 3 GG i V m Art. 9 Abs. 3 GG ergibt. Daß dieser Streit überhaupt eine praktische Bedeutung hat, wird zuweilen vern e i n t . 1 0 7 Das verkennt aber die grundsätzliche Bedeutung dieser Frage: ob bei der Koalitionsfreiheit die Gewerkschaften selbst i m Vordergrund stehen oder stärker die einzelnen Mitglieder. Auch für das Thema der Arbeit hat die Frage praktische Relevanz. Von der Antwort hängt es ab, inwieweit das einzelne Gewerkschaftsmitglied eigenständiges Betätigungsrecht hat, oder ob es auf die Teilnahme an der Betätigung seiner Koalition beschränkt ist. So ließ das B A G Tendenzen erkennen, hinsichtlich der Reichweite des Betätigungsrechts zwischen individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit zu differenzieren. 108
I. Die herrschende Meinung - Die Koalitionsfreiheit als Doppelgrundrecht B V e r f G 1 0 9 , B A G 1 1 0 und Teile der Lehre 1 1 1 gehen davon aus, daß die Koalitionsfreiheit ein echtes Doppelgrundrecht ist. Art. 9 Abs. 3 GG schützt damit gleicher-
106 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101 f.); BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367); BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (224); BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 5). 107 Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 87 (FN 10); Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 173; Gola, MDR 1987, S. 362; Klein, Koalitionsfreiheit, S. 19 spricht von „konstruktiven Marginalien". los Vgl. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG (S. 219). 109 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101 f.); BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 06. 05. 1964 E 18 S. 18 (26); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (305); BVerfG 01. 03. 1979
3. Kap.: Das Verhältnis von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit
97
maßen die Gewerkschaften selbst wie das einzelne Gewerkschaftsmitglied - oder auch den einzelnen, der sich erst um die Gründung einer Koalition bemüht. 1 1 2 Das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit blieb in der Rechtsprechung des B V e r f G 1 1 3 und des B A G 1 1 4 lange unklar. BVerfG und B A G verwendeten mehrfach die Formulierung, Art. 9 Abs. 3 GG sichere auch dem einzelnen das Recht zur Teilnahme an der verfassungsrechtlich geschützten Tätigkeit seiner Koalition. Das konnte so verstanden werden, als sei die Betätigung des einzelnen Mitglieds nur i m Rahmen der Betätigung der Koalition selbst geschützt. 1 1 5 I m Beschluß vom 14. 11. 1995 stellt das BVerfG aber klar, daß die Werbetätigkeit auch des einzelnen Mitglieds durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird: 1 1 6 „Zu den geschützten Tätigkeiten gehört auch die Mitgliederwerbung durch die Koalitionen selbst. [ . . . ] Aber auch das einzelne Mitglied wird geschützt, wenn es andere zum Beitritt zu gewinnen sucht. Wer sich darum bemüht, die eigene Vereinigung durch Mitgliederzuwachs zu stärken, nimmt das Grundrecht der Koalitionsfreiheit wahr." 117 Die h M stützt sich auf die historische Begründung des BVerfG. Eine Begründung in der Sache erfolgt nur selten. Soweit in der Sache selbst argumentiert wird, sieht man in dem spezifischen Eigenwert der Gewerkschaften den Grund für ihren eigenständigen Grundrechtschutz. 1 1 8 E 50 S. 290 (367); BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (245); BVerfG 20. 10. 1981 E 58 S. 233 (247); BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (224); BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103 (114); BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26 (38); BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365 (393); BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 5); BVerfG 24. 02. 1999 NZA 1999 S. 713; BVerfG 27. 04. 1999 DB 1999 S. 992 (993). no BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG (S. 2 f.); BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG (S. 169); BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG (S. 197 f.); BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG (S. 208); BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG (S. 219); BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG (S. 278); BAG 30. 08. 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG (S. 293); BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 315). m Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 244 RdNr. 9; Farthmann/ Coen, Handbuch des Verfassungsrechts, § 19 RdNr. 22; v. Hoyningen-Huene, Arbeitsrecht - Blattei Systematische Darstellungen Nr. 1650.1, Koalitionsfreiheit I RdNr. 34; Jarass / Pieroth, GG, Art. 9 RdNr. 23; Prutting, Schutz und Förderung von Arbeitnehmerinteressen durch das GG, S. 11 (19). 112 Vgl. Rüthers, JuS 1970, S. 607 (610); GesterI Kittner, RdA 1971, S. 161 (167); Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 112. 113 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304). 114 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 315). I' 5 Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 73. 116 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 5); dieser Aspekt der Entscheidung wurde nur selten beachtet, wie hier: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 550. 117 Vgl. auch BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (303); BVerfG 27. 03. 1979 E 51 S. 77 (88). us Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 68 f.; Badura, ArbRdGgw, Bd. 15 (1978), S. 17(19). 7 Brock
2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
98
II. Die abweichende Ansicht in der Literatur Schutz der Koalitionen gem. Art. 19 Abs. 3 GG Insbesondere Scholz hat gegen die h M die Lehre entwickelt, der Schutz der Gewerkschaften selbst folge nicht direkt aus Art. 9 Abs. 3 GG, sondern über Art. 19 Abs. 3 G G . 1 1 9 Einige Autoren sind ihm darin gefolgt. 1 2 0 Scholz geht von der individualrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit i m Verfassungstext aus. Dieses verfassungsrechtlich gewährleistete Individualrecht werde durch die gleichberechtigte Anerkennung eines Kollektivrechtes nicht nur verstärkt, die Anerkennung einer institutionellen Garantie der Koalition selbst in der Verfassung gefährde das Individualrecht auch. Die Lehre vom Doppelgrundrecht führe zu einer echten „Verfassungsantinomie' 4 . 121 Dem müsse dadurch begegnet werden, daß die kollektive Koalitionsfreiheit nicht direkt aus Art. 9 Abs. 3 GG, sondern aus Art. 19 Abs. 3 GG folge. Es gebe kein eigenständiges „Kollektiv- oder Verbandsinteresse", 122 vielmehr gehe es allein um die gemeinsame Interessenwahrnehmung, die Bündelung der Individualinteressen. Art. 19 Abs. 3 GG sei die einzige vom GG anerkannte und abschließende Regelung kollektiver Grundrechtsberechtigungen. 123 In seiner dienenden Funktion gegenüber dem Individualgrundrecht 1 2 4 schütze Art. 19 Abs. 3 GG allein die individuale Rechtsperson, indem es die kollektive Ausübung ermögliche, ohne zu einer Konkurrenz zwischen zwei Grundrechtsträgern zu führen. 1 2 5 Nur so könne das Individualrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG den nötigen Vorrang vor der kollektiven Ausübung gem. Art. 19 Abs. 3 GG behalten. 1 2 6 Auch Zöllner betont, die Verselbständigung der Koalition als Kollektiv, wie sie die Lehre vom Doppelgrundrecht betreibe, bedrohe die individuelle Freiheit. 1 2 7
III. Stellungnahme und Ergebnis Grundlage der Ansicht, die kollektive Koalitionsfreiheit sei nur über Art. 19 Abs. 3 GG geschützt, ist, daß sie die Gewerkschaften nur als gebündelte Interes•19 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 68, 138 ff. 120 Zöllner, AÖR Bd. 98 (1973), S. 71 (78 ff.); Richardi in: Staudinger, BGB, Vorb. zu § 611 RdNr. 541; ders., DB 1978, S. 1736 (1740 ); Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (114); Höfling, FS Friauf, S. 377 (380); ders., in:Sachs, GG, Art. 9 Abs. 3 GG RdNr. 79; Isensee, Verankerung der Tarifautonomie, S. 159 (173); vgl. auch: Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 433; Trappehl/Lambrich, NJW 1999, S. 3217 (3219). 121 Scholz, 122 Scholz, 123 Scholz, 124 Scholz, 125 Scholz, 126 Scholz, 127 Zöllner,
Koalitionsfreiheit, S. 62 ff. Koalitionsfreiheit, S. 147. Koalitionsfreiheit, S. 139. Koalitionsfreiheit, S. 141. Koalitionsfreiheit, S. 144. Koalitionsfreiheit, S. 148. AÖR Bd. 98 (1973), S. 71 (80).
3. Kap.: Das Verhältnis von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit
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senwahrnehmung begreift. 1 2 8 Das wird dem spezifischen Eigenwert der Gewerkschaften aber nicht gerecht. 1 2 9 Die wirksame Interessenwahrnehmung der Arbeitnehmer wird von den Gewerkschaften nicht nur verbessert, sondern erst ermöglicht: Die Einzelinteressen der Gewerkschaftsmitglieder werden oftmals stark divergierend sein. Wahrend der eine Arbeitnehmer vor allem an Lohnsteigerungen interessiert ist, hält ein anderer eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit für vordringlich; ein Dritter möchte auf beides zugunsten einer Beschäftigungsgarantie verzichten. Hier klare Ziele und Prioritäten zu formulieren und dadurch erst verhandlungsfähig zu werden, ist Aufgabe der Gewerkschaften. Diese Aufgabe geht aber über die bloße Bündelung von Einzelinteressen hinaus. Die Gewerkschaften schaffen erst den Gruppenwillen, den sie gegenüber den Arbeitgebern vertreten können. Dieser besondere Eigenwert der Koalitionen wird auch in der Rechtsordnung anerkannt. So kann nach h M nur die Koalition selbst zu einem rechtmäßigen Arbeitskampf aufrufen; nicht von einer Gewerkschaft geführte Streiks sind als „wilde Streiks" per se rechtswidrig. 1 3 0 Auch haben Tarifverträge gem. §§ 1 Abs. 1; 4 Abs. 1 T V G als kollektive Vereinbarungen grundsätzlich - eine Ausnahme bildet das Günstigkeitsprinzip gem. § 4 Abs. 3 T V G - Vorrang vor Individualvereinbarungen. 1 3 1 Die kollektive Befugnis geht in diesen Fällen über die individuelle hinaus. Das läßt sich mit Scholz' These vom Vorrang des Individualrechts nicht vereinbaren. Diese Konsequenz sieht er selbst und hält unter bestimmten Voraussetzungen auch den „wilden Streik" für rechtmäßig. 1 3 2 Den Vorrang des Tarifvertrags vor der Individualvereinbarung erklärt er nicht aus der Kollektivgarantie der Koalitionsfreiheit, sondern aus „der besonderen Legitimation des echten KommunikationsGrundrechts". 133 Dieses echte Kommunikationsgrundrecht ergibt sich nach Scholz daraus, daß „die summierte Ausübung der Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit (als unechte Kommunikationsrechte) zum echten Kommunikationsrecht erstarkt". 1 3 4 Damit räumt Scholz aber ein, daß die Bündelung der Mitgliederinteressen in der Gewerkschaft nicht nur eine rein quantitative, sondern auch eine qualitative Steigerung der Durchsetzungsmöglichkeiten bedeutet. Das spricht dafür, nicht - wie Scholz - beim Wortlaut der Bestimmung stehenzubleiben und einen direkten Schutz der Koalitionen durch Art. 9 Abs. 3 GG zu 128 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 147; Zöllner, AÖR 98 (1973), S. 71 (81). 129 Ahnlich: Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 68 f. 130 BAG 20. 12. 1963 AP Nr. 32 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG 14. 02. 1978 AP Nr. 58 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 699; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 520. 131 Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 490; Hanau /Adomeit, Arbeitsrecht, RdNr. 446; Söllner, Arbeitsrecht, S. 138. 132 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 366 f. •33 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 362 f. (Hervorhebung vom Verf.). 134 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 295; (Hinzufügung vom Verf.). 7*
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
verneinen. Insbesondere erzwingt die Formulierung der Koalitionsfreiheit als Individualgrundrecht nicht, auch hinsichtlich der aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleiteten Betätigungsfreiheiten von einem Individualgrundrecht auszugehen. Die in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Koalitionsbildungsfreiheit kann naturgemäß nur ein Individualgrundrecht sein. Da der Schutz der „spezifisch koalitionsgemäßen Betätigung 4 ' aus der Zweckbestimmung der Vereinigung - der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen - gefolgert wird, bezieht sich die Betätigungsfreiheit auch eher auf die Vereinigung als solche als auf das einzelne Mitg l i e d . 1 3 5 Da die Verfolgung des Koalitionszwecks von der Vereinigung als solcher geleistet werden soll, muß vorrangig auch dieser die Betätigungsfreiheit zustehen. Vom Wortlaut der Koalitionsfreiheit ist also nur die Koalitionsgründungsfreiheit individualrechtlich formuliert. Damit steht der Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG der h M nicht entgegen, sondern spricht eher für eine kollektive Gewährleistung. Neben die kollektive Koalitionsfreiheit tritt - grundsätzlich 1 3 6 - gleichberechtigt die individuelle Koalitionsfreiheit. Diese umfaßt zum einen ein eigenständiges Betätigungsrecht des Gewerkschaftsmitglieds. 137 Zum anderen ist auch die Beteiligung an der geschützten Betätigung der Gewerkschaft selbst geschützt. 1 3 8 Dieses Teilnahmerecht ist das notwendige Bindeglied - die Brücke - zwischen individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit: Die Gewerkschaft kann über ihre Mitglieder handeln; diese nehmen durch die Teilnahme an der kollektiven Betätigung gleichzeitig ihre eigene, individuelle Koalitionsfreiheit wahr.
135 Vgl. ζ. B. die Formulierung in: BVerfG 19. 10. 1966 E 20 S. 312 (317): „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet mit der Koalitionsfreiheit auch die sog. Tarifautonomie und damit den Kernbereich eines Tarifvertragssy stems, weil sonst die Koalitionen ihre Funktion [ . . . ] nicht sinnvoll erfüllen könnten."; (Hervorhebung vom Verf.). 136 Ein „klassischer" Kollisionsfall zwischen individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit ist die Kandidatur eines Gewerkschaftsmitglieds bei den Betriebsratswahlen auf einer Liste, die mit der offiziellen gewerkschaftlichen Liste konkurriert; in diesem Fall sind die Rechte der Gewerkschaft gegen die Rechte des Mitglieds abzuwägen. Vgl. BVerfG 24. 02. 1999 NZA 1999, S. 713; in dieser Entscheidung hat das BVerfG den kollektiven Interessen der Gewerkschaften ganz den Vorrang vor den Interessen der einzelnen Mitglieder gegeben. 137 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG.
138 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 315).
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
101
4. Kapitel
Art. 9 Abs. 3 GG Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums für den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit Nachdem das BVerfG in drei Entscheidungen die Kernbereichslehre aufgegeben h a t t e 1 3 9 und nachdem ein Mitglied des BVerfG auch öffentlich angedeutet hatte, daß das BVerfG über die Dogmatik der Koalitionsfreiheit erneut nachdenkt, 1 4 0 vollzog das Gericht in der Entscheidung vom 14. 11. 1995 1 4 1 eine weitgehende Abkehr von der Kernbereichslehre und dem Unerläßlichkeitskriterium. Es stellte klar, daß der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit „nicht von vornherein auf das Unerläßliche beschränkt ist", und hob ein Urteil des B A G , das mit dem Unerläßlichkeitskriterium begründet worden w a r , 1 4 2 auf. Das B A G hatte in seinem Urteil vom 13. 11. 1991 1 4 3 die Abmahnung eines Arbeitnehmers, der während der Arbeitszeit für seine Gewerkschaft geworben hatte, für rechtmäßig gehalten. Der Arbeitnehmer habe gegen seinen Arbeitsvertrag verstoßen; Art. 9 Abs. 3 GG gewährleiste nicht die Werbung während der Arbeitszeit, denn diese sei nicht unerläßlich. Das B A G durfte sich dabei in Ubereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG f ü h l e n . 1 4 4 Das B A G wird sich künftig an dieser Entscheidung orientieren, also von einem nicht auf das Unerläßliche beschränkten Schutzbereich ausgehen und die Lösung in einer Abwägung mit den beeinträchtigten Grundrechten Dritter suchen. Die Bedeutung dieser Entscheidung ist damit grundlegend. Sie entzieht der bisherigen Rechtsprechung des B A G zur gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb den Bod e n . 1 4 5 Der in der Literatur oft beklagte Mißstand, die Koalitionsfreiheit als an sich unbeschränkbares Grundrecht sei wegen des Unerläßlichkeitskriteriums nur minimal geschützt, 1 4 6 ist damit beseitigt.
139 BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212; BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26; BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365; vgl. dazu: Zachert, NZA 1994, S. 529 (532). 140 Kühling, AuR 1994, S. 126 (131); ders., RdA 1994, S. 182. 141 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 142 BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung. 143 BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung. 144 Die Entscheidung des BVerfG zum gewerkschaftlichen Zugangsrecht zu kirchlichen Einrichtungen (BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220) wird vom BAG besonders hervorgehoben; vgl. BAG 13. 01. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung. 145 Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 71 (79); Däubler, DB 1998, S. 2014 (2015); vgl. auch die oben gegebene Darstellung der Rechtsprechung des BAG: Das BAG stützt seine Urteile vor allem auf das Unerläßlichkeitskriterium, z. B. BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG.
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
Man könnte sich nun mit diesem Ergebnis begnügen und direkt zu den offenen Einzelfragen übergehen. Wegen der für das Thema grundlegenden Bedeutung der Entscheidung soll aber der Versuch einer kritischen Würdigung der Entscheidung unternommen werden, insbesondere auch, um die noch offenen Fragen zu klären: Der Schutzbereich ist eben nur „von vornherein" 1 4 7 nicht auf das Unerläßliche beschränkt. In der Literatur wurde die Entscheidung überwiegend als „Aufgabe" der Kernbereichslehre - und des Unerläßlichkeitskriteriums - verstanden. 148 I m Gegensatz dazu betont jedoch das BVerfG, es nehme lediglich eine „Klarstellung" vor und meint: „Der Senat ist damit nicht von der früheren Rechtsprechung des BVerfG abgerückt". 1 4 9 Auch stellt das Gericht die Unterschiede zwischen dem zu entscheidenden Fall und dem gewerkschaftlichen Zugangsrecht zum Betrieb - in der das BVerfG selbst mit der Unerläßlichkeitsformel argumentiert h a t t e 1 5 0 - heraus und scheint damit an der früheren Entscheidung festhalten zu w o l l e n . 1 5 1 Einzelne Stimmen in der Literatur halten die Entscheidung denn auch wirklich für vor allem klarstellend. 1 5 2
I. Darstellung der Entscheidung des BVerfG vom 14.11.1995 Die wesentliche Aussage des BVerfG ist: „Die Mitgliederwerbung ist auch nicht, wie das BAG meint, nur in dem Maße grundrechtlich geschützt, in dem sie für die Erhaltung und die Sicherung des Bestandes der Gewerkschaft unerläßlich ist. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind. Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerläßlich ist, kann demgegenüber erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen. Insoweit gilt für Art. 9 Abs. 3 GG nichts anderes als für die übrigen Grundrechte." 153 Den naheliegenden Einwand, daß die vom BVerfG entwickelte Kernbereichslehre doch etwas anderes aussage, nimmt das Gericht auf. Die (früher) verwendeten Formulierungen könnten in der Tat den Eindruck erwecken, die Koalitionsfreiheit 146 Vgl. Gröbing, AuR 1986, S. 297 (299); Herschel, AuR 1981, S. 265 (268). 147 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 148 GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 86; Däubler ! Kittner I Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 43; Hess / Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 91; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 229; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 440; Hanau, ZIP 1996, S. 447; Heilmann, AuR 1996, S. 121; Thüsing EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG S. 9 (12); Heimes, MDR 1996, S. 562; Konzen, SAE 1996, S. 216; Schulte-Westenberg, NJW 1997, S. 375. 149 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 7). 150 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (246 f.). 151 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 8). 152 Scholz, SAE 1996, S. 320 (322); Wank, JZ 1996, S. 629 (630). 153 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 5).
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
103
sei nur in einem „inhaltlich eng begrenzten Umfang geschützt". Die Literatur habe das BVerfG auch in diesem Sinne verstanden, was das BVerfG mit umfangreichen Literaturangaben belegt. U m diese „nicht fernliegenden Mißverständnisse" auszuräumen, erläutert das BVerfG seine Konzeption der Kernbereichslehre: „Ausgangspunkt der Kernbereichsformel ist die Uberzeugung, daß das Grundgesetz die Betätigungsfreiheit der Koalitionen nicht schrankenlos gewährleistet, sondern eine Ausgestaltung durch den Gesetzgeber zuläßt.[...] Mit der Kernbereichsformel umschreibt das Gericht die Grenze, die dabei zu beachten ist; sie wird überschritten, soweit einschränkende Regelungen nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. Das Bundesverfassungsgericht wollte damit den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG aber nicht von vornherein auf den Bereich des Unerläßlichen beschränken. Denn sie verpflichten den Gesetzgeber auch dort, wo er - außerhalb des Kernbereichs - koalitionsmäßige Betätigungen ausgestaltend regelt, zu einer Rücksichtnahme auf die Koalitionen und ihre Mitglieder. Eine solche Bindung des Gesetzgebers läßt sich aber nur aus einem verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Koalitionsfreiheit rechtfertigen, der sachlich über den Kernbereich hinausgeht."154 Das Gericht belegt diese Aussage mit der Wiedergabe einer Passage der Volmarstein-Entscheidung. 155 In den jüngsten Entscheidungen habe sich der Senat nicht mehr auf die Kernbereichsformel gestützt. I m Aussperrungsbeschluß 156 habe die Frage nach dem Kernbereich offenbleiben können, in den Entscheidungen zu § 116 A F G 1 5 7 und zum Zweitregister 1 5 8 habe das Gericht nicht mehr von einem Kernbereich gesprochen. Das Gericht sei damit nicht von der früheren Rechtsprechung abgerückt, sondern nehme nur eine Klarstellung v o r . 1 5 9 Weiter führt das BVerfG aus, das B A G habe den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit verkannt, indem es von einem nur auf das Unerläßliche beschränkten Schutzbereich ausgegangen sei. Für das beanstandete Verhalten des Beschwerdeführers habe jedoch Grundrechtsschutz bestanden. „Eine besondere Rechtsgrundlage für das beanstandete Verhalten ist aus verfasungsrechtlicher Sicht nicht erforderlich. Anders als in der vom Bundesarbeitsgericht in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der es um das Zutrittsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zu einer kirchlichen Einrichtung ging (BVerfGE 57, 220), wird hier über eine Vertragsauslegung gestritten. Ob sie vorliegt, hängt allein vom Inhalt des Arbeitsvertrages und nicht von einer speziellen gesetzlichen Regelung ab." 1 6 0 154 155 156 157 158 159 160
BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 6). Vgl. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (246). BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (228). BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365 (393 f.). BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26 (38 ff.). BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 7). BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 8).
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
Anschließend führt das BVerfG aus, das B A G habe die Koalitionsfreiheit des Beschwerdeführers gegen die Grundrechte des Arbeitgebers abzuwägen, insbesondere gegen dessen wirtschaftliche Betätigungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG.
II. Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG Damit drängt sich die Frage auf, ob sich die vom BVerfG behauptete Kontinuität mit der früheren eigenen Rechtsprechung nachweisen läßt. Das BVerfG versucht das mit Hilfe der Volmarstein-Entscheidung 161 zu belegen: „So heißt es etwa in dem vom BAG herangezogenen Beschluß zu gewerkschaftlichen Zutrittsrechten bei kirchlichen Einrichtungen, dem Betätigungsrecht der Koalition dürften - auch im Bereich unerläßlicher Betätigungsfelder - allerdings nur solche Schranken gezogen werden, die im konkreten Fall zum Schutz anderer Rechtsgüter, etwa des Betriebsfriedens oder des ungestörten Arbeitsgangs, von der Sache her geboten seien. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt seien, tasteten den Kernbereich der Koalitionsbetätigung an." 1 6 2 Die Passage, die das BVerfG wiedergeben will, heißt wörtlich: „Art. 9 Abs. 3 GG verbürgt verfassungskräftig gewerkschaftliche Betätigung jedenfalls nur insoweit, als diese für die Erhaltung und Sicherung der Koalition als unerläßlich betrachtet werden muß [ . . . ] . Auch wo sich ein solches Betätigungsfeld - etwa die Werbung innerhalb eines Betriebes durch Belegschaftsmitglieder - darbietet, kann der Gesetzgeber modifizierende Regelungen treffen, die dem jeweils in Frage stehenden Sachverhalt Rechnung tragen. Allerdings dürfen dabei dem Betätigungsrecht der Koalition nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter, ζ. B. des Betriebsfriedens, des ungestörten Arbeitsgangs, von der Sache her geboten sind. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt sind, tasten den Kerngehalt der Koalitionsbetätigung an.[...]"163 Die entscheidende Aussage - daß der Gesetzgeber auch bei nicht unerläßlichen Betätigungen nur solche Schranken ziehen darf, die zum Schutz anderer Rechtsgüter geboten sind - geht aus dem Ursprungstext so nicht hervor. Der Text sagt nur, daß der Gesetzgeber auch bei unerläßlichen Betätigungen modifizierende Regelungen treffen darf, allerdings nur zum Schutz anderer Rechtsgüter. A u f die nicht unerläßlichen Betätigungen bezieht sich diese Einschränkung nicht, sondern allein auf die modifizierenden Regelungen innerhalb des Kernbereichs. Daß der Text in der Wiedergabe des BVerfG in der Tat etwas anderes aussagt, erklärt sich allein aus der sinn verfälschenden Wiedergabe durch das BVerfG. Auch der pauschale Hinweis, in anderen Entscheidungen fänden sich ähnliche Formulierungen oder entsprechende Hinweise, hilft hier nicht weiter. 1 6 4 Die vom 161 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 162 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 163 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (246); (Hervorhebung vom Verf.).
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
105
BVerfG angegebenen Entscheidungen sind zu unterschiedlich, als daß diesen eine klare Aussage entnommen werden könnte. So nennt das BVerfG zwar alle Entscheidungen, in denen das Unerläßlichkeitskriterium erwähnt w i r d , 1 6 5 aber auch beispielsweise die Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz, 166 in der das BVerfG sein Verständnis der Koalitionsfreiheit weitgehend zusammenfaßt, aber das Unerläßlichkeitskriterium nicht einmal erwähnt. Etwas erstaunlich ist, daß das BVerfG die Entscheidung nicht erwähnt, die tatsächlich den Schluß zuläßt, daß der Kernbereich nicht identisch mit dem Schutzbereich ist, sondern nur einen besonders privilegierten Teil desselben darstellt. In der Entscheidung zur politischen Wahlwerbung der Gewerkschaften 1 6 7 hält das BVerfG die politische Wahlwerbung nicht für von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt und führt aus: „Der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Schutz spezifisch koalitionsgemäßer Betätigung kann sich infolgedessen nicht auf die Werbung von Koalitionen vor allgemeinen Wahlen beziehen. Vollends gehört diese nicht zum „ Kernbereich " der geschützten Koalitionstätigkeit. [...]" 168 „Vollends": Der Kernbereich ist nach dieser Entscheidung also nur ein besonders privilegierter Teil des Schutzbereichs, aber nicht völlig identisch mit diesem; vielmehr gibt es Teile des Schutzbereichs, die nicht zugleich auch zum Kernbereich gehören. Diese Entscheidung wird vom BVerfG jedoch - wie schon oben gesagt - nicht erwähnt. Ansonsten gibt die Rechtsprechung des BVerfG aber kein so klares Bild. Wenn auch die Kernbereichsformel - also, daß die Koalitionsfreiheit nur in einem Kernbereich geschützt ist, der verletzt ist, wenn der Gesetzgeber Einschränkungen vornimmt, die nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter geboten sind - einen Großteil der Entscheidungen des BVerfG zu Art. 9 Abs. 3 GG prägt, so hat das Unerläßlichkeitskriterium demgegenüber nur eine untergeordnete Bedeutung. Nur in fünf Entscheidungen des BVerfG wird das Unerläßlichkeitskriterium erwähnt, 1 6 9 eine sechste läßt zumindest Anklänge an das Unerläßlichkeitskriterium erkennen. 1 7 0
•64 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG; das BVerfG zitiert als Beleg folgende Entscheidungen: BVerfG 14. 04. 1964 E 17, S. 319 (333 f.); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321 ff.); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (305); BVerfG 19. 02. 1975 E 38 S. 386 (393); BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368 f.). 165 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (333 f.); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295; BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281; BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 166 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290. 167 BVerfG 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (139). 168 BVerfG 26. 04. 1976 E 42 S. 133 (139). 169 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (305); BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (246). no BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320) - „wichtiges Mittel".
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
Die klassische Formel des BVerfG zum Unerläßlichkeitskriterium - daß nur diejenigen „Befugnisse" bzw. „Tätigkeiten" „verfassungsrechtlich geschützt" sind, die „unerläßlich für Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Koalition s i n d " 1 7 1 - deutet allerdings darauf hin, daß das Unerläßlichkeitskriterium eine Schutzbereichsbestimmung ist. Denn der Schutzbereich bestimmt j a die Grenze des verfassungsrechtlichen Schutzes eines Grundrechts. Zudem wird in den ersten Entscheidungen zum Unerläßlichkeitskriterium 1 7 2 streng getrennt zwischen der Unerläßlichkeit und dem Kernbereich. Letzterer beschreibt die Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers anhand der Abwägungsformel. Die vorangehende Prüfung des „verfassungsrechtlichen" Schutzes erscheint damit als Bestimmung des Schutzbereiches, die der Frage nach den Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers logisch vorangeht: Wenn es schon am verfassungsrechtlichen Schutz fehlt, kann es auf die Grenzen der Ausgestaltungsbefugnis nicht ankommen. Die Kernaussage des BVerfG, daß sich das Unerläßlichkeitskriterium nicht auf den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit bezieht, kann damit in der vorangegangenen Rechtsprechung des Gerichts so kaum nachgewiesen werden; lediglich eine Entscheidung deutet eine Interpretation in dieser Richtung an. Damit stellt sich die Frage, ob sich die vorangegangenen Entscheidungen zum Unerläßlichkeitskriterium wenigstens mit der Kernaussage des Beschlusses vom 14. 11. 1995 vereinbaren lassen. Da das BVerfG meint, nicht von der alten Rechtsprechung abzuweichen, kann auf diese Weise auch geklärt werden, welche Bedeutung dem Unerläßlichkeitskriterium heute (noch) zukommt.
III. Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums heute 1. Kernbereichslehre und Unerläßlichkeitskriterium als Ausgestaltungsrechtsprechung Auszugehen ist bei der Untersuchung der Frage, welche Bedeutung das Unerläßlichkeitskriterium heute (noch) hat, von der Beobachtung, daß sich die Entscheidungen des BVerfG, in denen das Unerläßlichkeitskriterium eine Rolle spielt, auf bestimmte Betätigungsbereiche beschränken. Die meisten dieser Entscheidungen beschäftigen sich mit Fragen der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb, 1 7 3 nur eine Entscheidung betrifft ein anderes Thema: inwieweit die Arbeitnehmerkammern in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften eingreifen. 1 7 4 Der Großteil der Entscheidungen des BVerfG, die sich schwerpunktmäßig mit Fragen des Tarifver171 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281 (305). 172 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); ähnlich auch: BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320 f.). 173 BVerfG 14. 04. 1964 E 17 S. 319 (333); BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304); BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (246); ähnlich: BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). 4 BVerfG 18. 12. 19 E 8 S. 2 1 ( ) .
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
107
trags und des Arbeitskampfs beschäftigen, kommt ohne das Unerläßlichkeitskriterium aus. Fast alle Entscheidungen des BVerfG betreffen Fragen der Betätigungsfreiheit. Diese ist für das BVerfG mit der Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers verknüpft. Das BVerfG hat immer wieder betont, daß Art. 9 Abs. 3 GG in besonderer Weise der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf. 1 7 5 Unter Ausgestaltung versteht das BVerfG - wie die Literatur - traditionell die Schaffung der Regelungskomplexe, die die Voraussetzungen für die Wahrnehmung eines Freiheitsrechts bild e n . 1 7 6 Für die Koalitionsfreiheit hat das BVerfG diesen Grundsatz sogar noch ausgebaut: „Mehr noch als die in Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Vereinigungsfreiheit bedarf die Koalitionsfreiheit von vornherein der Ausgestaltung. Diese besteht nicht nur in der Schaffung der Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die erforderlich sind, um die grundrechtlich garantierten Freiheiten ausüben zu können. Die Bedeutung und Vielzahl der von der Tätigkeit der Koalitionen berührten Belange namentlich im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordung machen vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen können; dies um so mehr, als der Gegenstand der Gewährleistung auf sich wandelnde wirtschaftliche und soziale Bedingungen bezogen ist, die mehr als bei anderen Freiheitsrechten die Möglichkeit zu Modifikationen und Fortentwicklungen lassen müssen." 177 Das BVerfG sieht also bei der Koalitionsfreiheit in noch höherem Maße als bei anderen Grundrechten die Notwendigkeit der Ausgestaltung: Es bedarf nicht allein der Schaffung der Regelungen, die die Ausübung des Grundrechts erst ermöglichen, nötig ist vielmehr die Schaffung eines komplexen Regelungssystems; 178 dieses muß zudem den sich wandelnden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen immer wieder neu angepaßt werden. Die Ausgestaltung von Grundrechten ist in erster Linie eine Aufgabe des Gesetzgebers. 179 Hierbei - weitere ausgestaltungsbedürftige Grundrechte sind ζ. B. Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 14 Abs. 1 G G , 1 8 0 aber auch die Rundfunkfreiheit gem.
175 Vgl. die oben angegebenen Entscheidungen; zusätzlich: BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368); BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 6). 176 BVerfG 20. 10. 1981 E 58 S. 233 (247); BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26 (41); vgl. auch: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 303 f.; ders., Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 RdNr. 51, Βutzer, RdA 1994, S. 375 (378); AK - Hoffmann-Riem, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, RdNr. 137; Jarass/Pieroth, GG, vor Art. 1 RdNr. 1, 16; Stern, Staatsrecht, Bd. III/ 1,S. 1301. 177 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368) - Mitbestimmungsentscheidung. 178
Hier ist ζ. B. darauf zu verweisen, daß das BVerfG der Koalitionsfreiheit nicht allein die Garantie des Tarifvertrages entnahm, sondern die Garantie eines Tarif Vertragssystems (BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106); ebenso: BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (369)). 179 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368); Hesse, Verfassungsrecht, RdNr. 303. 180
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 303.
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
Art. 5 Abs. 2 1 8 1 - stellt sich die Frage nach den Grenzen der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Dabei ist zwischen zwei Fragen zu differenzieren: Zunächst ist zu fragen, welche Tätigkeitsbereiche der Gesetzgeber positiv eröffnen muß; wann also ein Unterlassen des Gesetzgebers verfassungswidrig w ä r e . 1 8 2 Dann erst stellt sich die Frage, inwieweit der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Grundrechts diesem auch Grenzen setzen d a r f . 1 8 3 A u f die erste Frage, wann der Ausgestaltungs&e/wgms des Gesetzgebers zugleich auch eine Ausgestaltungs/?/7/c/ii entspricht, hat das BVerfG für die Koalitionsfreiheit zwei Antworten gegeben. Die erste Antwort des BVerfG ist, daß bei der Koalitionsfreiheit in besonderem Maße die historische Dimension zu berücksichtigen i s t . 1 8 4 So hat das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zu Art. 9 Abs. 3 G G 1 8 5 ein Tarifvertragssystem deshalb unter Grundrechtsschutz gestellt, weil die Koalitionsfreiheit ansonsten „ihres historisch gewordenen Sinnes" beraubt würde. Hier liegt es bei der Koalitionsfreiheit nicht anders als bei „klassischen" Grundrechten, die gleichfalls der Ausgestaltung bedürfen, wie die Eigentumsgarantie in Art. 14 GG oder der Schutz der Ehe in Art. 6 G G . 1 8 6 „Historisch gewordene" Regelungskomplexe werden unter Grundrechtsschutz gestellt. Das BVerfG stand aber auch vor dem Problem, über Betätigungskomplexe zu entscheiden, bei denen ein solcher historischer Bestand nicht vorhanden war. Zudem widerspricht die vom BVerfG gesehene „Zeitbedingtheit" der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit 1 8 7 der Festschreibung auf einen historisch gewachsenen Bestand. Ein Beispiel für ein Problem, das nicht auf einen historischen Bestand zurückgeführt werden konnte, ist die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb. Hier gibt das BVerfG die zweite Antwort: Das Unerläßlichkeitskriterium legt die Grenzen der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers fest. 1 8 8 Beispielhaft durchgeführt hat das BVerfG das in der Entscheidung zur Mitgliederwerbung. 1 8 9 Zunächst fragt es, ob die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i m Betrieb überhaupt verfassungsrechtlich geschützt ist; mit anderen Worten, ob der Gesetzgeber eine Ausge-
181 Vgl. dazu auch: Konzen, SAE 1996, S. 216 (218). 182 Vgl. Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 Abs. 3 RdNr. 299 f.; 305 f.; Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 42. 183
Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 43. 184 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (101, 106 ff.); BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (314); BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367). 185 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (106). 186 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, RdNr. 303. 187 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368). iss Vgl. Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 47; Konzen, FS Kissel, S. 571 (582). 189 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295.
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
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staltungspflicht hat. Das prüft das BVerfG anhand des Unerläßlichkeitskriter i u m s . 1 9 0 Das BVerfG stellt fest, daß die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften unerläßlich für die Sicherung ihrer Existenz und ihres Bestandes ist. Dann beschäftigt sich das BVerfG mit der Frage, ob der Gesetzgeber auch berechtigt wäre, diese Werbebefugnis für Betriebsratsmitglieder auszuschließen. Das prüft es anhand einer anderen Formel: daß dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken gezogen werden dürfen, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. 1 9 1 Diese Frage bejaht es ebenfalls. Das widerlegt zudem die Ansicht des BVerfG in der Entscheidung vom 14. 11. 1995, 1 9 2 der Gesetzgeber sei zur Rücksichtnahme auf die Koalitionen auch bei nicht unerläßlichen Betätigungen verpflichtet. Wenn schon ein reines Unterlassen des Gesetzgebers mit dem GG vereinbar ist, kann es nicht gegen die Verfassung verstoßen, wenn der Gesetzgeber nur in stark beschränktem Umfang etwas gewährt, zu dessen Gewährung er nicht verpflichtet ist. Die bisherigen Ergebnisse lassen sich damit wie folgt zusammenfassen: • Die Koalitionsfreiheit bedarf in besonderer Weise der Ausgestaltung. • Die Ausgestaltungsverpflichtung des Gesetzgebers wird festgelegt durch den historischen Bestand der Koalitionsfreiheit bzw. durch das Unerläßlichkeitskriterium. • Auch wo den Gesetzgeber eine Ausgestaltungsverpflichtung trifft, darf er der Koalitionsfreiheit Schranken ziehen; diese Schranken müssen aber zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sein (Abwägungsformel). Das BVerfG hat seine Konzeption der Kernbereichslehre und insbesondere die Funktion des Unerläßlichkeitskriteriums nicht näher erläutert. 1 9 3 Soweit hier auf Grundlage einer Analyse der Rechtsprechung des BVerfG die Ansicht vertreten wird, die Kernbereichslehre sei als Ausgestaltungsrechtsprechung zu verstehen, wird diese Ansicht auch in der Literatur teilweise vertreten. 1 9 4 Eine andere Sichtweise versteht die Kernbereichslehre als Teil des Schutzbereichs. 1 9 5 Die Komplementärgarantien der Koalitionsfreiheit - also auch die Betätigungsfreiheit - könnten aus der vom Text des GG erwähnten Koalitionsgründungsfreiheit nur deshalb abgeleitet werden, da sie erforderlich bzw. unerläßlich 190 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304). 191 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (306). 192 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 193 Herschel, AuR 1982, S. 294 (295). 194 Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (27 f.); Konzen, AP Nr. 29 zu Art. 9 GG; Seiter, AÖR 109 (1984), S. 88 (95); Höfling in:Sachs, GG, Art. 9 GG RdNr. 75 ff.; Höfling, FS Friauf, S. 377 (383). 195 Butzer, RdA 1994, S. 375 (379); Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (222e); Zöllner, AÖR 98 (1973), S. 71 (83); Lieb, SAE 1972, S. 19 f.; Jürging-Kass, DB 1967, S. 815 (817); Hiersemann, DB 1966, S. 742; Richardi, DB 1978, S. 1736 (1737).
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
seien; ohne diese Konkretisierung sei der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit zu weit und zu umfassend. Der Unterschied zur hier vertretenen Auffassung erscheint zunächst gering: Gewerkschaftliche Rechte scheinen jedenfalls nur soweit zu existieren, als sie unerläßlich sind, da dann den Gesetzgeber eine Handlungspflicht trifft bzw. da sie dann Teil des Schutzbereichs sind. Unterschiede ergeben sich allerdings, wenn man die Grenzen der Ausgestaltungsbedürftigkeit enger zieht und neben den ausgestaltungsbedürftigen Teilen der Koalitionsfreiheit auch einen nicht ausgestaltungsbedürftigen Schutzbereich sieht. A u f diesen Punkt ist unten näher einzugehen. Eine weitere Ansicht versteht die Kernbereichslehre allein als Schranke des Eingriffs des Gesetzgebers in die Koalitionsfreiheit, sieht sie also als SchrankenSchranke. 1 9 6 Das entspringt wohl auch dem Wunsch, der für unvertretbar gehaltenen Schutzbereichsreduktion auf das Unerläßliche zu entgehen. 1 9 7 M i t der Rechtsprechung des BVerfG läßt sie sich jedoch nicht vereinbaren; danach kam dem Unerläßlichkeitskriterium j a gerade keine schrankenrechtliche Bedeutung zu. Allenfalls hatte das Unerläßlichkeitskriterium bei der Güterabwägung nach der Abwägungsformel indizielle Bedeutung: Die Unerläßlichkeit einer Maßnahme deutet auf ihr hohes Gewicht im Rahmen der Abwägung h i n . 1 9 8 Für die hier vertretene Lösung spricht auch, daß sie zwei „Ungereimtheiten" der Kernbereichslehre lösen kann. Kritisiert wurde an der Kernbereichslehre nämlich auch, daß sowohl das Verhältnis der beiden Formeln - Unerläßlichkeitskriterium und Abwägungsformel - zueinander unklar s e i , 1 9 9 als auch, daß der Unterschied zwischen Kernbereich und Wesensgehalt gem. Art. 19 Abs. 2 GG nicht deutlich w e r d e . 2 0 0 Die beiden Formeln stehen aber, wie gezeigt, in einem logischen Verhältnis zueinander. Das Unerläßlichkeitskriterium eröffnet die Handlungspflicht des Gesetzgebers, die Abwägungsformel beschreibt die Einschränkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Wenn das BVerfG Entscheidungen allein auf die Abwägungsformel stützte, so deshalb, weil sich die Handlungspflicht des Gesetzgebers schon aus dem historischen Bestand der Koalitionsfreiheit ergab. 2 0 1 Der zweite Kritikpunkt war zwar insoweit gerechtfertigt, als sowohl Kernbereich als auch Wesensgehalt eines Grundrechts dessen effektiven Garantiebereich 202 beschreiben.
196 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 78; Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 78 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 230; LübbeWolff, DB 1988 Beil. 9, S. 2. 197 Vgl. Lübbe-Wolff DB 1988 Beil. 9, S. 2. 198 Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (27 f.). 199 Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 Abs. 3 GG RdNr. 80; Höfling in:Sachs, GG, Art. 9 Abs. 3 GG RdNr. 73 f.; Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 106; Schwarze, JuS 1994, S. 653 (655). 200 Hagemeier/KempenIZachertIZilius, TVG, Einleitung RdNr. 92; Seiter, AÖR 109 (1984), S. 88 (99); Schwabe, DÖV 1981, S. 796 (797).
201 Vgl. z. B.: BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (369).
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
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Nur beziehen sie sich auf jeweils unterschiedliche Bestimmungen dieses Garantiebereichs; insbesondere ist der Bereich des Unerläßlichen nicht identisch mit diesem effektiven Garantiebereich. 203
2. Die Grenzen der Ausgestaltungsbedürftigkeit Indem es dem Gesetzgeber ein Regelungsprogramm verbindlich vorschrieb, hatte das Unerläßlichkeitskriterium ursprünglich eine die Koalitionsfreiheit stärkende R o l l e . 2 0 4 In der Praxis allerdings - teilweise des B V e r f G 2 0 5 , deutlicher des B A G 2 0 6 - hatte das Unerläßlichkeitskriterium eher die umgekehrte Wirkung. So meinte das BVerfG, die Koalitionsfreiheit sei „ n u r in einem Kernbereich" geschützt. 2 0 7 Der Hauptkritikpunkt an der Kernbereichslehre war denn auch, daß die Koalitionsfreiheit als Grundrecht erschien, das auf einen Minimalschutz beschränkt w a r : 2 0 8 „Der Eigentümer einer Stecknadel wird [ . . . ] verfassungsrechtlich mehr geschützt als die großen, unsere gesellschaftliche Wirklichkeit mitprägenden Organisationen." 2 0 9 Die Kernbereichslehre führte - mit den Worten Hanaus - zu einem „Kern ohne Schale". 2 1 0 Als Grund dafür können zwei Probleme genannt werden: Die Bestimmung der Grenzen der Ausgestaltungsbedürftigkeit und die Untätigkeit des Gesetzgebers, die zum Problem der Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung führt. In der ersten Frage muß man die Rechtsprechung des BVerfG und des ihm folgenden B A G so verstehen, daß das Gericht lange dem Gedanken zuneigte, daß die Koalitionsfreiheit tatsächlich einer umfassenden Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf. M i t anderen Worten: Daß die koalitionsspezifische Betätigung nur soweit gewährleistet wird, als sie einfachgesetzlich geregelt ist oder - nach Maß202 Vgl.; Höfling, FS Friauf, S. 377 (383); Lübbe-Woljf, DB 1988 Beil. 9, S. 3; Seiter, RdA 1986, S. 165 (173). 203 aA: Reinemann/Schulz-Henze, JA 1995, S. 811 (813) 204 Vgl. Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (27); Wiedemann, EWiR 1996, S. 357 f.; Kammerer, AuR 1984, S. 65 (68). 205 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 - zu gewerkschaftlichen Zutrittsrechten zu kirchlichen Einrichtungen. 206 z. B. BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 207 BVerfG 18. 12. 1974 E 38 S. 281; (Hervorhebung vom Verf.). 208 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (49); Zachert, AuR 1979, S. 358 (364); Pfarr, AuR 1979, S. 242; Herschel, AuR 1981, S. 265 (266 f.); ders. AuR 1982, S. 294 (296); ders. AP Nr. 38 zu Art. 9 GG; Schwabe, DÖV 1981, S. 796 (797); Kammerer, AuR 1984, S. 65 (68); Gröbing, AuR 1986, S. 297 (298); Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 196 ff. 209 Herschel, AuR 1981, S. 265 (268). 210 Hanau, ZIP 1996, S. 447; Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 73 (79).
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
gäbe des Unerläßlichkeitskriteriums - jedenfalls zwingend geregelt werden müßte. 2 1 1 Hier ist auch auf die besondere Bedeutung, die der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber für die Koalitionsfreiheit nach Ansicht des BVerfG z u k o m m t , 2 1 2 zu verweisen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese weite Sicht der Ausgestaltungsbedürftigkeit zwingend ist. Die Ansicht des BVerfG, daß die Koalitionsfreiheit in besonderem Umfang einer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf, 2 1 3 wurde auch von Stimmen aus der Literatur unterstützt, 2 1 4 die das sehr weitgehende Verständnis der Ausgestaltungsbedürftigkeit damit begründen, daß ein Ausgleich mit kollidierenden Grundrechten Dritter, insbesondere des Arbeitgebers, erfolgen müsse; hier könne Art. 9 Abs. 3 GG unmittelbar - d. h. ohne entsprechende einfachgesetzliche Ausgestaltung durch den Gesetzgeber - nur ein M i n i m u m gewährleisten. Im weiteren seien koordinierende Regelungen des Gesetzgebers nötig. Auch die Argumente der schon oben erwähnten Ansicht, daß das Unerläßlichkeitskriterium den ansonsten zu unbestimmten Schutzbereich der Koalitionsfreiheit konkretisiere, 2 1 5 lassen sich zugunsten der Ansicht des BVerfG übertragen. Diesen Argumenten ist insbesondere mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht entgegengetreten w o r d e n . 2 1 6 Vor allem Höfling hat darauf hingewiesen, daß das BVerfG auch Fragen, die zum Bereich „natürlicher" Freiheit 2 1 7 gehören, als ausgestaltungsbedürftig ansieht. Er möchte die Ausgestaltungsbedürftigkeit auf die Tarifautonomie und Teile des Arbeitskampf211 Vgl. Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 36; Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (27). 212 Vgl. BVerfG Ol. 03. 1979 E 50 S. 290 (368). 213 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290. 214 Butzer, RdA 1994, S. 375 (379); Schwarze, JuS 1994, S. 653 (657); Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (27 f.); ders., JZ 1986, S. 157 (160) - der diese Ansicht mittlerweile allerdings teilweise aufgegeben hat; vgl. Konzen, SAE 1996, S. 216 (219). 215 Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (222e); Zöllner, AÖR 98 (1973), S. 71 (83); Lieb, SAE 1972, S. 19 f.; Jürging-Kass, DB 1967, S. 815 (817); Hiersemann, DB 1966, S. 742; Richardi, DB 1978, S. 1736 (1737); Friauf, RdA 1986, S. 188 (191); Dütz, JA 1987, S. 405 (410); Reuter, RdA 1994, S. 152 (162). 216 Zachert, AuR 1979, S. 358 (364 f.); Lübbe-Wolff, DB 1988 Beilage Nr. 9, S. 3; Herschel, AuR 1981, S. 265 (267); Höfling, FS Friauf, S. 377 (385). 217 Vgl. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 98 f.; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 21; Hesse, Verfassungsrecht, RdNr. 303; Zum Begriff: Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 85: „Auf den hier wahrgenommenen Unterschied bezieht sich die Unterscheidung zwischen natürlicher' und staatlich konstituierter Freiheit [ . . . ] . Leben, die Fähigkeit zu Meinungsäußerungen usw. lassen sich [ . . . ] auch unabhängig von staatlicher Organisation denken[... ]; sie [ . . . ] sind aber darum nicht vom Staat verliehen und können auch nicht verliehen, sondern nur respektiert, geschützt und gefördert werden. Die Inanspruchnahme staatlichen Schulunterrichts ist dagegen per definitionem eine nicht originäre, sondern unmittelbar von stets noch zu erbringender staatlicher Leistung abhängige ,Handlungs'möglichkeit, und das Recht dazu dementsprechend ein staatlich erst konstituiertes.".
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
113
rechts beschränken. 218 Nur insoweit sei die Schaffung von Normenkomplexen durch den Gesetzgeber erforderlich; i m übrigen sei die Koalitionsfreiheit ein Freiheitsrecht, das vor allem gegen Eingriffe des Gesetzgebers schütze. Regelungen des Gesetzgebers, die erst die Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Freiheitsrechts schüfen, seien insoweit nicht erforderlich. In der Tat war es nicht recht nachvollziehbar, wenn BVerfG und B A G die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb unter den Vorbehalt der Unerläßlichkeit stellten und damit regelmäßig nicht mehr zu einer Abwägung mit den Grundrechten Dritter kamen, während bei der politischen Betätigung i m Betrieb, die durch Art. 5 GG geschützt wird, ganz selbstverständlich ohne Einschränkung des Schutzbereichs des Grundrechts eine Abwägung erfolgt. 2 1 9 Weitgehend identische und nur inhaltlich unterschiedene Betätigungen waren damit einmal ausgestaltungsbedürftig, einmal nicht. Anders gesagt: Bei der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG wurde die Betätigung als Teil der natürlichen Freiheit angesehen. Koordinierende Regelungen zum Ausgleich mit Grundrechten Dritter sind - um das Argument der Gegenseite aufzugreifen - jedoch bei beiden Grundrechten erforderlich. Die Koalitionsbetätigungsfreiheit - mit den Worten des BVerfG der Schutz aller Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch s i n d 2 2 0 - ist damit ebenso eine natürliche Freiheit wie die Freiheit der Meinungsäußerung gem. Art. 5 Abs. 1 GG. Damit bleibt das Problem, wie man von der vom Text des GG gewährleisteten Koalitionsgründungsfreiheit zur Koalitionsbetätigungsfreiheit gelangt. Dieser Schluß setzt tatsächlich einen Gedankengang voraus, der dem des Unerläßlichkeitskriteriums sehr ähnlich ist: Der besondere Schutz aller koalitionsspezifischen Verhaltensweisen erklärt sich daraus, daß die Betätigung der Koalition erforderlich bzw. ein wichtiges M i t t e l 2 2 1 zur Erfüllung des Koalitionszwecks i s t . 2 2 2 Das BVerfG hat mit der selbständigen Anerkennung des Schutzes aller koalitionsspezifischen Verhaltensweisen eine Schutzbereichsausweitung vorgenomm e n , 2 2 3 da es aus der Koalitionsfreiheit ein selbständiges Freiheitsrecht herauslas und nicht mehr - wie bisher - jede einzelne Maßnahme über das Unerläßlichkeitskriterium in Beziehung zur Koalitionsgründungsfreiheit setzt. Diese Schutzbereichsausweitung ist jedoch gerechtfertigt und richtig, da sie die Schlechterstellung
218 Höfling, FS Friauf, S. 377 (385 f.); so mittlerweile auch: Konzen, SAE 1996, S. 216 (219); Badura, RdA 1999, S. 8 (12). 219 Vgl. BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB; Kissel, NZA 1988, S. 145 (149); Bäumer, BIStSozArbR 1981, S. 337 (338); Preis!Stoffels, RdA 1996, S. 210 (211); Meisel, RdA 1976, S. 38 (43). 220 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 221 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320); zu den verschiedenen Auffassungen zum Inhalt des Unerläßlichkeitskriteriums vgl. Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 194. 222 Vgl. Heimes, MDR 1996, S. 562 (565). 223 Konzen, SAE 1996, S. 216 (217). 8 Brock
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
der Koalitionsfreiheit gegenüber anderen Grundrechten beendet. Zudem war der Schritt des BVerfG nicht so groß, wie er erscheinen kann. Anstatt des individuellkonkreten Maßstabes hat das BVerfG einen generell-abstrakten 224 Maßstab angelegt: Die Koalitionsbetätigungsfreiheit ist deshalb von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, da sie als solche erforderlich i s t . 2 2 5 I m Anschluß an die Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz 2 2 6 weist das BVerfG in neueren Entscheidungen immer wieder darauf hin, daß die Koalitionsfreiheit „ i n erster Linie ein Freiheitsrecht" i s t . 2 2 7 Daß diese (neue) Betonung des Charakters der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht mit der Abwendung von der Kernbereichslehre zusammenfällt, ist dann kein Zufall, sondern Zeichen der Neuorientierung des BVerfG. Soweit die Koalitionsfreiheit also Bereiche natürlicher Freiheit schützt, was immer dann der Fall ist, wenn die Freiheit auch ohne Bereitstellung gesetzlicher Normen, die die Ausübung erst ermöglichen, ausgeübt werden kann, ist der Klarstellung durch das BVerfG zuzustimmen. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Ausgestaltungsbedürftigkeit - und damit die Kernbereichslehre einschließlich des Unerläßlichkeitskriteriums - haben für diese Betätigungsbereiche keine Bedeutung.
3. Kernbereichslehre
und richterliche Rechtsfortbildung
Die besondere Betonung der Bedeutung der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber seitens des BVerfG führt abschließend zu dem Problem, inwieweit bei Untätigkeit des Gesetzgebers der Richter ersatzweise tätig werden darf. Insbesondere das B A G 2 2 8 hat die Kernbereichslehre und das Unerläßlichkeitskriterium in ein Rechtsfortbildungsverbot umgedeutet, das auf folgendem Gedankengang beruht: Die Koalitionsfreiheit gibt den Gewerkschaften unmittelbar Rechte nur, soweit sie durch den Gesetzgeber einfachgesetzlich ausgestaltet wurde. Damit müßten die Klagen der Gewerkschaften 2 2 9 mangels Anspruchsgrundlage an sich abgewiesen
224 Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (222e). 225 Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, S. 222a (222e). 226 BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (367). 227 So wörtlich: BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365 (393); eine Betonung des Charakters der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht erfolgt auch in: BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26 (41); BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 5); vgl. dazu auch: Wohlfarth, NZA 1999, S. 962. 228 V g l . BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 229 Die Klage einer Gewerkschaft gegen ein rechtswidriges Verbot des Arbeitgebers ist die häufigste Prozeßart bei der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb, vgl. dazu unten 4. Teil, 1. Kap., II 2; als Beispiele vgl. BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG.
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
115
werden. Etwas anderes kann nur gelten, wenn der Gesetzgeber zu einer Ausgestaltung verpflichtet gewesen wäre, dieser Verpflichtung aber nicht nachgekommen ist - wenn die streitige Betätigung der Gewerkschaft also unerläßlich ist. M i t den Worten des BAG: „Art. 9 Abs. 3 GG allein gibt vielmehr ein Recht zur koalitionsmäßigen Betätigung nur innerhalb dieses Kernbereichs, d. h. soweit diese Betätigung für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition unerläßlich ist. Die Befugnisse der Koalitionen außerhalb dieses Kernbereichs im einzelnen näher auszugestalten und näher zu regeln, ist Sache des Gesetzgebers. Solange eine solche gesetzliche Regelung fehlt, ist es den Gerichten für Arbeitssachen verwehrt, die Tragweite der Koalitionsfreiheit zu bestimmen und die Befugnisse der Koalitionen auszugestalten und näher zu regeln." 2 3 0 Es spricht einiges dafür, daß das B A G diese Aussage nicht als - so kaum vertretb a r e 2 3 1 - Schutzbereichsbestimmung sah, sondern vielmehr als Bestimmung der Grenze, an der die Freiheit des Richters zur Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit endet. Das Unerläßlichkeitskriterium legt das vom Gesetzgeber zu gewährende M i n i m u m der Grundrechtsgewährleistung fest, 2 3 2 der Richter darf aber nicht mehr tun, als dieses M i n i m u m zu verwirklichen; jenseits beginnt der Bereich politischer Wertentscheidungen des Gesetzgebers. Die (Selbst-) Beschränkung des B A G auf dieses M i n i m u m erklärt sich dann nicht aus einem fehlenden verfassungsrechtlichen Schutz der über das Unerläßliche hinausgehenden Koalitionsbetätigung, sondern daraus, daß das B A G meint, zur Ausgestaltung dieses Bereichs nicht befugt - oder nicht verpflichtet - zu sein. Gegen die Richtigkeit dieser Annahme spricht schon, daß das B A G Respekt vor der Wertentscheidung des Gesetzgebers auch dort zeigt, wo gar keine solche Weitentscheidung vorliegt. Die bloße Nichtregelung durch den Gesetzgeber ist keine Negativentscheidung. Die planwidrige Regelungslücke, die Voraussetzung dafür ist, daß der Richter überhaupt rechtsfortbildend tätig werden darf, stellt als solche keine Wertentscheidung des Gesetzgebers dar. 2 3 3 Tatsächlich hat das BVerfG selbst eine vergleichbar restriktive Linie wie das B A G nicht vertreten. In seiner ersten Entscheidung zur gewerkschaftlichen Betätigung - in diesem Fall in der Dienststelle - hat das BVerfG die Entscheidung der Bundesdisziplinarkammer aufgehoben, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletze. 2 3 4 Das BVerfG kommt zum Ergebnis, daß auch der Gesetzgeber kein generelles Verbot gewerkschaftlicher Werbung vor Personalratswahlen aussprechen dürfte und hebt - nach der Heck'schen For230 BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG; der letzte Satz des Zitats zitiert die Entscheidung des BVerfG vom 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (248) - diese zitiert die Entscheidung BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (368). 231 Vgl. Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (29). 232 Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (28). 233 Vgl. Lerche, NJW 1987, S. 2465 (2467). 234 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303. 8*
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
m e i 2 3 5 - die Entscheidung der Bundesdisziplinarkammer auf. Das war eher eine Ermunterung zur Rechtsfortbildung als deren Verbot. In der Entscheidung vom 26. 05. 1 9 7 0 2 3 6 hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, da auch der Gesetzgeber nicht gegen die Verfassung verstoßen würde, wenn er ein generelles Verbot der gewerkschaftlichen Werbung für Personalratsmitglieder erließe; daher verstoße die Entscheidung des BVerwG nicht gegen Art. 9 Abs. 3 G G . 2 3 7 Damit hatte das BVerfG zwar eine für die Koalitionsfreiheit restriktive Entscheidung bestätigt, aber ausdrücklich nicht, weil diese wegen eines Verbots der Rechtsfortbildung so geboten gewesen sei. Vielmehr stützte es sich auf die Heck'sche Formel und lehnte es ab, die Auslegung einfachen Rechts durch das BVerwG zu überprüfen. Bereits in eine andere Richtung zu deuten scheint allerdings der Beschluß vom 21. 11. 1980, 2 3 8 in dem das BVerfG die gegen die Schutzhelm-Entscheidung des B A G 2 3 9 eingelegte Verfassungsbeschwerde mangels Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung annahm. In der Schutzhelm-Entscheidung hatte sich das B A G ganz auf das Unerläßlichkeitskriterium gestützt. Das BVerfG interpretierte die Entscheidung des B A G jedoch in eine Abwägung um und meinte, das B A G habe die Bedeutung der Grundrechte nicht grundsätzlich verkannt: „Damit ist hier die Schwelle zum Verstoß gegen objektives Verfassungsrecht noch nicht überschritten." 2 4 0 Das BVerfG hat die restriktive Entscheidung des B A G also lediglich als noch verfassungsgemäß passieren lassen. Daß sich das Gericht nicht zu einer Aufhebung entschließen konnte, liegt wohl an der Zurückhaltung des B V e r f G 2 4 1 bei der Kontrolle von Gerichtsentscheidungen. Die Volmarstein-Entscheidung des B V e r f G 2 4 2 über gewerkschaftliche Zugangsrechte zu kirchlichen Einrichtungen wurde allerdings allgemein i m Sinne eines RechtsfortbildungsVerbots verstanden. 243 In der Volmarstein-Entscheidung fragte das BVerfG nach der wegen Art. 140 GG i V m Art. 137 Abs. 2 GG nötigen Rechtsgrundlage für das Zugangsrecht. Es prüfte zuerst, ob sich ein Zugangsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ergibt und dann, ob sich ein solches Recht aus richterlicher Rechtsfortbildung ergeben könne. Beide Fragen verneinte das BVerfG. Das Verhältnis beider Prüfungsgegenstände zueinander wurde bisher so verstanden, daß
235 236 237 238 239 240
BVerfG 10. 06. 1964 E 18 S. 85 (92 f.); Söllner, FS Kissel, S. 1121 (1123). BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295. BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (309). BVerfG 21. 11. 1980 AP Nr. 30a zu Art. 9 GG. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. BVerfG 21. 11. 1980 AP Nr. 30a zu Art. 9 GG; (Hervorhebung vom Verf.).
241 Söllner, FS Kissel, S. 1121 (1125). 242 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 243 Hanau, AuR 1983, S. 257 (258); Dütz, Gewerkschaftliche Betätigung in kirchlichen Einrichtungen, S. 9; Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 24.
4. Kap.: Die Bedeutung des Unerläßlichkeitskriteriums
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das Verbot der Rechtsfortbildung der Absicherung des Unerläßlichkeitskriteriums dient.244 Die neue Entscheidung drängt die Frage auf, ob das Verhältnis nicht umzukehren ist: Das Verbot der Rechtsfortbildung könnte durchbrochen werden, wenn ein Zugangsrecht unerläßlich wäre. Dafür spricht, daß das BVerfG am Anfang seiner Ausführungen zum Verbot der Rechtsfortbildung darauf hinweist, daß das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht in § 2 Abs. 2 BetrVG aufgrund § 118 Abs. 2 BetrVG nicht für die Kirchen und ihre Einrichtungen gilt und meint, daß diese Entscheidung des Gesetzgebers dem „verfassungsrechtlich Gebotenen" entspreche. 2 4 5 „Daher" habe das B A G mit Recht keine Möglichkeit gesehen, in richterlicher Rechtsfortbildung, anknüpfend an die Regelung in § 2 Abs. 2 BetrVG, ein allgemeines gewerkschaftliches Zugangsrecht zu schaffen. Dafür gebe weder Art. 9 Abs. 3 GG noch das streng dualistische System der Betriebsverfassung einen Anhaltspunkt. „ A u f diesem konfliktträchtigen Gebiet" könnten die Grenzen der richterlichen Gesetzesbindung nicht so weit gezogen werden, daß „hier" die Sache des Gesetzgebers auf den Richter übergebürdet werden k ö n n e . 2 4 6 Insgesamt sprechen diese Ausführungen des BVerfG dafür, die Entscheidung als wesentlich durch die Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts geprägt anzuseh e n . 2 4 7 Der amtliche Leitsatz der Entscheidung lautet denn auch: " Zur Frage gewerkschaftlicher Zugangsrechte zu kirchlichen Einrichtungen". Die Begründung des BVerfG stützt sich wesentlich auf § 118 Abs. 2 BetrVG und damit auf eine Spezialnorm für das kirchliche Arbeitsrecht. In dieser Norm hat der Gesetzgeber klargestellt, daß das dualistische - vom Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geprägte System der Betriebsverfassung - auf das kirchliche Arbeitsrecht keine Anwendung findet, da es dem Grundgedanken des kirchlichen Dienstrechts, daß die Arbeit zugleich auch Religionsausübung ist, widerspricht. Wenn aber schon das betriebsverfassungrechtliche Zugangsrecht auf kirchliche Einrichtungen keine Anwendung findet, muß das erst recht für das noch stärker dualistisch ausgerichtete - da nicht einmal unter der Voraussetzung der vertrauensvollen Zusammenarbeit gem. § 2 Abs. 1 BetrVG stehende - Koalitionsrecht gelten. 2 4 8 Die mittelbar grundrechtsprägende N o r m 2 4 9 des § 118 Abs. 2 BetrVG verbietet hier die Schaffung eines allgemeinen, koalitionsrechtlichen Zugangsrechts. Die neue Entscheidung des B V e r f G 2 5 0 spricht damit dafür, das alte Verständnis der Entscheidung umzukehren: Das Rechtsfortbildungsverbot ergibt sich nicht aus 244 245 (95). 246 247 248 249 250
Hanau, AuR 1983, S. 257 (258). BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (248) mit Hinweis auf BVerfG 11. 10. 1977E46S.73 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (247 f.). In diesem Sinne auch: Heußner, FS Hilger/Stumpf, S. 317 (327 FN 60). Vgl. auch: Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 166. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 112 ff., 146 f. BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG.
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
der Achtung vor dem Unerläßlichkeitskriterium, sondern das Unerläßlichkeitskriterium erlaubt es, das aus § 118 Abs. 2 BetrVG folgende Rechtsfortbildungsverbot zu durchbrechen. Der Richter kann nur insoweit an die Wertung des Gesetzgebers in § 118 Abs. 2 BetrVG gebunden sein wie der Gesetzgeber selbst. Wenn dieser ein gewerkschaftliches Zugangsrecht zu kirchlichen Einrichtungen anerkennen muß, gilt das auch für den Richter.
4. Fazit Im Ergebnis kommt der Entscheidung des BVerfG tatsächlich eher eine klarstellende als neugestaltende Funktion z u . 2 5 1 I m Lichte der neuen Entscheidung läßt sich eine Kontinuität in der Rechtsprechung des BVerfG finden. Neu ist i m wesentlichen, daß das BVerfG - was sich in den vorangegangenen Entscheidungen aber schon angedeutet hatte - stärker den Charakter der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht betont und auch Elemente eines Freiheitsrechts im Schutzbereich der Koalitionsfreiheit anerkennt. Praktisch ist diese Änderung allerdings von erheblicher Bedeutung. Die bisher die Dogmatik der Koalitionsfreiheit prägende Kernbereichslehre ist „ v o m Thron gestoßen". Ihre künftige Bedeutung wird gering sein; nur dort, wo es tatsächlich auf die Besonderheiten der Ausgestaltung eines Grundrechts durch den Gesetzgeber im Gegensatz zur Einschränkung eines Freiheitsrechts ankommt, wird das BVerfG auf sie zurückgreifen. Das zeigt sich schon in den neuesten Entscheidungen des BVerfG zur Koalitionsfreiheit. Rhetorisch wird die Kernbereichslehre noch nicht völlig verabschiedet: „Der Schutz ist nicht von vornherein auf einen Kernbereich beschränkt. Er erstreckt sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen [ . . . ] . " 2 5 2 In der Begründung spielt die Kernbereichslehre dann schon keine Rolle mehr. Es ist kein völliger Abschied von der Kernbereichslehre. Aber ihr Sturz von der alles erklärenden Großtheorie zum dogmatischen Detail läßt sich als ihre weitgehende Aufgabe verstehen.
IV. Zusammenfassung der Ergebnisse Art. 9 Abs. 3 GG gibt den Gewerkschaften und den Gewerkschaftsmitgliedern ein Recht auf Betätigung. Dieses Recht besteht, soweit es die Ausübung natürli-
251 Scholz, SAE 1996, S. 320 (322). 252 BVerfG 27. 04. 1999 NZA 1999 S. 992 (993); fast gleichlautend: BVerfG 24. 02. 1999 NZA 1999 S. 713.
5. Kap.: Die Schranken der Koalitionsfreiheit
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eher Freiheit ist, unabhängig von der Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers und steht damit nicht unter dem Vorbehalt der Unerläßlichkeit der Betätigung. Soweit die koalitionsspezifische Betätigung mit Grundrechten Dritter, insbesondere des Arbeitgebers, kollidiert, hat der Richter die Grundrechte gegeneinander abzuwägen.
5. Kapitel
Art. 9 Abs. 3 GG Die Schranken der Koalitionsfreiheit Die Schranken der Grundrechte haben für die Grundrechtsabwägung durch den Richter nur geringe Bedeutung; sie wenden sich vor allem an den Gesetzgeber. Die Schranken eines Grundrechts können jedoch bei der Abwägung als „widerlegbare Indizien" 2 5 3 für den Rang eines Grundrechts herangezogen werden. 2 5 4 Deshalb und wegen des engen Zusammenhangs dieser Frage mit dem hier vor allem interessierenden Aspekt der Kernbereichslehre - dem Unerläßlichkeitskriterium - soll auf das Problem der Schranken der Koalitionsfreiheit kurz eingegangen werden. Zu den Schranken der Koalitionsfreiheit werden heute i m wesentlichen drei Theorien vertreten. (1) Eine Theorie hält die Koalitionsfreiheit, ausgehend von der schrankenlosen Gewährleistung der Koalitionsgründungsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG, insgesamt für schrankenlos und damit nur durch die verfassungsimmanenten Schranken - Grundrechte Dritter und andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang - einschränkb a r . 2 5 5 Auch Scholz scheint davon auszugehen, daß die Koalitionsfreiheit nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden k a n n . 2 5 6 Zusätzlich sieht er in der Rechtsprechung des BVerfG aber auch eine „Stufentheorie" 2 5 7 , ähnlich der bekannten „Dreistufentheorie" 2 5 8 zu Art. 12 GG. Koalitionsspezifische Verhaltensweisen erfordern einen verhältnismäßigen Ausgleich mit entgegenstehenden Grundrechten (1. Stufe); dieser Maßstab wird aber enger bei unerläßlichen
253 Rüjher, FS 25 Jahre BVerfG, Bd. II S. 453 (463). 254 Vgl. Aussem, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 74 f. mwN. 255 Oppolzer/Zachert, BB 1993, S. 1353 (1355); Zachert, NZA 1994, S. 529 (533); Reinemann/Schulz-Henze, JA 1995, S. 811 (816); Hagemeier/Kempen /Zachert/Zilius, TVG, Einl. RdNr. 109; Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 RdNr. 92. 256 Scholz, SAE 1996, S. 320 (322); anders noch in: Isensee iKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, § 151 RdNr. 78. 257 Scholz, SAE 1996, S. 320 (322 f.). 258 Vgl. BVerfG 11. 06. 1958 E 7 S. 377 (405 ff.).
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2. Teil: Rechtsgrundlagen und Dogmatik
Betätigungen, ohne daß von einer Unbeschränkbarkeit gesprochen werden kann (2. Stufe). Schließlich verbietet der Wesensgehalt in Art. 19 Abs. 2 GG einen weiteren Eingriff in die Koalitionsfreiheit (3. Stufe). (2) Auch andere Autoren orientieren sich an stufenförmig angeordneten Schrank e n . 2 5 9 Sie halten die Koalitionsfreiheit aber nur hinsichtlich der Koalitionsgründungsfreiheit und der kernbereichsgeschützten Betätigung für nur durch die verfassungsimmanenten Schranken geschützt; i m „Randbereich" soll ein Eingriff des Gesetzgebers auch aus sachlichen Gründen möglich sein; insoweit wird von einem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt ausgegangen. Strenger noch sieht Lieb die Koalitionsfreiheit nur hinsichtlich der Koalitionsgründungsfreiheit in den Grenzen der verfassungsimmanenten Schranken geschützt; ansonsten dürfe der Gesetzgeber auch den Schutz nicht durch die Verfassung geschützter Rechtsgüter berücksichtigen.260 (3) Einen vom Ansatz her anderen Weg geht Wiedemann. 2 6 1 Er unterscheidet - zumindest bei der Tarifautonomie - zwischen Eingriffs- und Ausgestaltungsgesetzen. Bei Ausgestaltungsgesetzen soll der Gesetzgeber auch Rechtsgüter ohne Verfassungsrang berücksichtigen können, Eingriffsgesetze sollen eigenen Regeln folgen. 2 6 2 Für die verbandspolitische und wirtschaftspolitische Tätigkeit der Koalitionen soll ein ungeschriebener Gesetzesvorbehalt gelten. Das BVerfG legt - i m Ansatz wie Wiedemann - in der neueren Rechtsprechung eine Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung zugrunde. 2 6 3 Soweit es um Eingriffsgesetze geht, ist die Koalitionsfreiheit schrankenlos, d. h. nur durch die verfassungsimmanenten Schranken beschränkbar. 264 Bei der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber können dagegen auch Rechtsgüter, die nicht Verfassungsrang genießen, eine Einschränkung rechtfertigen. 2 6 5 Ihre größte Brisanz hat die „Klarstellung" des BVerfG tatsächlich i m Bereich der Schranken der Koalitionsfreiheit. Solange das BVerfG die Koalitionsfreiheit grundsätzlich für ausgestaltungsbedürftig hielt, folgte aus der Kernbereichslehre
259 Henssler, ZfA 1998, S. 1 (12); Wank, JZ 1996, S. 629 (630 f.); ders., FS Kissel, S. 1225 (1226); Friauf, RdA 1986, S. 189 (191). 260 Heb, JZ 1995, S. 1174, Seiter, RdA 1986, S. 165 (172). 261 Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 125 ff. 262 Nicht näher ausgeführt; eine Orientierung an anderen Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt soll aber ausgeschlossen sein; vgl. Wiedemann, TVG, Einl. RdNr. 136. 263 Ebenso: Thüsing, EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG, S. 14. 264 BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (228); BVerfG 04. 07. 1995 E 92 S. 365 (394); BVerfG 24. 02. 1999 NZA 1999 S. 713 (714); BVerfG 27. 04. 1999 NZA 1999 S. 992 (993). 265 BVerfG 26. 06. 1991 E 84 S. 212 (228); BVerfG 10. 01. 1995 E 92 S. 26 (41); BVerfG 27. 04. 1999 NZA 1999 S. 992 (993) - „Die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit kann, obwohl sie ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, jedenfalls zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt."; (Hervorhebung vom Verf.).
5. Kap.: Die Schranken der Koalitionsfreiheit
121
eine weitgehende Regelungskompetenz des Gesetzgebers: Der Gesetzgeber durfte dem Betätigungsrecht der Koalitionsfreiheit die Schranken ziehen, die „zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten s i n d . " 2 6 6 Indem das BVerfG die ausgestaltungsbedürftigen Bereiche der Koalitionsfreiheit zurückdrängte und den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ausweitete, stellt sich damit die Frage, ob die vorbehaltlose Gewährleistung der Koalitionsgründungsfreiheit auch für die aus dem Text des GG erst herausgelesenen Komplementärgarantien g i l t 2 6 7 oder ob man für diesen Teil des Schutzbereichs von einem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt ausgehen muß. Die „Invention eines solchen Gesetzesvorbehaltes" hat Sacker als „kühn" bezeichnet. Gemildert würde diese Kühnheit allerdings dadurch, daß sie nur auf die ihrerseits „kühne" Ausweitung des Schutzbereichs zum Recht auf koalitionsspezifische Betätigung reagierte. Für die Entwicklung eines ungeschriebenen Gesetzesvorbehalts dürfte allerdings kein Grund bestehen. Die Lösung des BVerfG ist sachgerecht, solange das BVerfG die Grenzen der Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsfreiheit respektiert. Danach bedürfen die Tarifautonomie, der Arbeitskampf und auch die Rechte der Gewerkschaften in der Betriebsverfassung weiterhin der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der dabei „andere Rechtsgüter" 2 7 0 und nicht nur andere Rechtsgüter von Verfassungsrang berücksichtigen kann. Zudem werden die Unterschiede in den meisten Fällen nur gering sein, da entgegenstehende Rechte Dritter jedenfalls über die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG ohnehin Verfassungsrang genießen. 2 7 1 A u f die genaue Abgrenzung zwischen Eingriffs- und Ausgestaltungsgesetzen 272 wird es daher nur in seltenen Fällen wirklich ankommen. Soweit Stimmen in der Literatur darüber hinaus einen strengeren Prüfungsmaßstab bei unerläßlichen Betätigungen fordern, so ist das richtig. Die Unerläßlichkeit einer Betätigung deutet auf ein hohes, i m Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigendes Gewicht der Betätigung hin, ohne daß allerdings insoweit die Prüfung der Unerläßlichkeit nötig wäre, da sich dieser Gesichtspunkt schon aus den allgemeinen Grundrechtslehren ergibt.
266 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (306); BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (369); ebenso: Dütz, JA 1987, S. 405 (410); kritisch: Jarass, NZA 1990, S. 505 (507). 267 Ablehnend: Seiten RdA 1986, S. 165 (172). 268 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 56. 269 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 56; vgl. auch: Jarass, NZA 1990, S. 505 (507). 270 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (306); BVerfG 01. 03. 1979 E 50 S. 290 (369). 271 Vgl. Hanau, ZIP 1996, S. 447. 272 Dazu: Thüsing, EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG, S. 14; Schwarze, JuS 1994, S. 653 (656, 658).
3. T e i l
Einzelfragen und Konsequenzen L Kapitel
Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen I. Die Interessenlagen der Beteiligten 1. Die Gewerkschaften Die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb unterscheidet sich von den „klassischen" Betätigungsfeldern der Gewerkschaften, dem Abschluß von Tarifverträgen und den Arbeitskämpfen. Diese richten sich gegen den Arbeitgeber bzw. den Arbeitgeberverband, die direkt als Kommunikationspartner 1 angesprochen werden. Die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb richtet sich dagegen nicht an die Arbeitgeber, sondern an die Arbeitnehmer: Diese sollen Mitglieder der Gewerkschaft werden und werden deshalb beworben, an diese sollen Schriften und Informationsmaterial verteilt werden, diese sollen sich am Aufbau der innerbetrieblichen Gewerkschaftsorganisation beteiligen. Das folgt aus der anderen Zielrichtung dieser Betätigung: Die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb dient den Gewerkschaften vor allem zum Ausbau der eigenen Stärke und Mitgliederzahl und schafft damit die Voraussetzungen für die eigentliche Betätigung zum Zwecke der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen", die sich in Kommunikation mit den Arbeitgebern vollzieht. Nur selten wird sich die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb auch an die Arbeitgeber wenden, wie beispielsweise die Urabstimmung, die dem Arbeitgeber deutlich die Kampfbereitschaft der Arbeitnehmer vor Augen führen soll. Das primäre Zielobjekt der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb sind jedoch die dort tätigen Arbeitnehmer. Damit spielt für die Gewerkschaften der Arbeitgeber in dieser Frage keine eigentliche Rolle: Er wird nicht aktiv angesprochen, und er soll sich auch nicht beteiligen oder einmischen. Er ist aus Sicht der Gewerkschaften im Regelfall höchstens „störender Dritter" bei einem Phänomen innerhalb der Belegschaft.
ι Vgl. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 362 f.
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen 2. Die Arbeitnehmer
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im Betrieb
Die Arbeitnehmer i m Betrieb sind der von den Gewerkschaften gewünschte Kommunikationspartner. Als solcher bilden sie jedoch keine homogene Gruppe: Der einzelne Arbeitnehmer kann Mitglied der werbenden Gewerkschaft sein, er kann Mitglied einer konkurrierenden Gewerkschaft sein; sein Verhältnis zu den Gewerkschaften kann zustimmend oder ablehnend sein. Seine Reaktionen auf die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb werden - je nach dem wechselnden Standpunkt - unterschiedlich ausfallen. Während für die Gewerkschaftsmitglieder - unabhängig davon, ob sie sich aktiv an der Betätigung beteiligen oder nicht - und für die den Gewerkschaften aufgeschlossen gegenüberstehenden Arbeitnehmer die gewerkschaftliche Betätigung kein Problem ist, kann sich das für die übrigen Arbeitnehmer anders darstellen. Sie sollen und werden von den Gewerkschaften angesprochen, obwohl sie das vielleicht nicht wünschen und ihnen die gewerkschaftliche Betätigung sogar lästig sein kann. Offensichtlich ist das, wenn die Außenseiter von den Gewerkschaftsmitgliedern geschnitten und diskriminiert werden. Aber auch, wenn es nicht zu einem solchen „Mobbing" kommt, kann für die Außenseiter die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb ein Problem sein, insbesondere, wenn diese eine gewisse Intensität erlangt. Das liegt daran, daß die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb, i m besonderen die Mitgliederwerbung, mit einer „normalen" Werbung nur bedingt vergleichbar ist. I m Regelfall kann der Arbeitnehmer dieser normalen Werbung ausweichen. Er kann bei der Fernsehwerbung den Sender wechseln, Zeitschriftenwerbung kann er überblättern, den Zeitschriftenverkäufer vor der Haustür stehenlassen. Er kann sogar verlangen, daß keine Reklame in seinen Briefkasten eingeworfen wird, wenn er das nicht wünscht und einen entsprechenden Hinweis an seinem Briefkasten anbringt. 2 Bestimmten Formen der gewerkschaftlichen Werbung im Betrieb kann der Arbeitnehmer aber nicht so einfach ausweichen. Das gilt vor allem für einige besonders wirksame Formen der Mitgliederwerbung, etwa die Werbung i m persönlichen Gespräch. 3 Die werbenden Gewerkschaftsmitglieder treten dem Arbeitnehmer in einer Doppelrolle entgegen: als Gewerkschaftsmitglieder und Kollegen. Neben das Verhältnis der Arbeitnehmer untereinander als Kollegen tritt das zweckgerichtete Verhalten der Gewerkschaftsmitglieder, die den Kollegen zu einem bestimmten Tun - dem Gewerkschaftsbeitritt - motivieren wollen. Eine gewisse Intensität und Hartnäckigkeit der Werbung kann dazu führen, daß das Verhältnis zum Kollegen belastet wird. 2 BGH 20. 12. 1988 NJW 1989 S. 902; OLG Bremen 18. 06. 1990 NJW 1990 S. 2140; Löwisch, NJW 1990, S. 437 f. 3 Daß diese Art der Werbung, bei der die privaten Beziehungen der Arbeitnehmer untereinander genutzt werden, besonders effektiv ist, zeigt sich schon daran, daß etwa die OTV ihre Mitglieder besonders dazu auffordert, die Kollegen auf einen Gewerkschaftsbeitritt anzusprechen und sie als Gewerkschaftsmitglieder zu werben.
124
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Damit wird ein schwieriger und für den Arbeitnehmer bedeutsamer Punkt angesprochen: das Verhältnis zu den Kollegen. Ein gutes Verhältnis zu den Kollegen hat für den Arbeitnehmer eine hohe Bedeutung. Er verbringt einen großen Teil seiner Zeit i m Betrieb - und damit in einer Zwangsgemeinschaft. Seine Kollegen hat sich ein Arbeitnehmer nicht ausgesucht, sondern sie werden ihm vom Arbeitgeber vorgegeben. Das Verhältnis zu den Kollegen - das „Betriebsklima" - hat für die meisten Arbeitnehmer eine hohe Bedeutung. Die Doppelrolle als werbendes Gewerkschaftsmitglied und Kollege kann - muß allerdings nicht zwangsläufig - damit für andere Arbeitnehmer problematisch werden. Auch andere Formen der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb, denen der einzelne Arbeitnehmer nicht ohne weiteres ausweichen kann, können hier problematisch sein.
3. Der Betriebsrat Auch das Verhältnis des Betriebsrats zu den Gewerkschaften i m Betrieb läßt sich nicht verallgemeinernd darstellen. Ein Betriebsrat, dessen Mitglieder auch Mitglieder einer bestimmten Gewerkschaft sind, wird auf die Werbeaktionen dieser Gewerkschaft anders reagieren als auf die Werbung einer anderen, konkurrierenden Gewerkschaft. Noch anders wird die Haltung eines mehrheitlich gewerkschaftsunabhängigen Betriebsrats auf die Betätigung einer Gewerkschaft i m Betrieb sein - allein schon i m Hinblick auf eine kommende Betriebsrats wähl. Hier wird den Betriebsratsmitgliedern die Gewerkschaft als eine konkurrierende Organisation erscheinen. A u f das Spannungsverhältnis, das aus der „Gemengelage" der Existenz zweier verschiedener Formen der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen i m Betrieb folgt, wurde schon oben hingewiesen. Hier kann es aus Sicht des Betriebsrats wichtig sein, daß die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb seine Rolle als Vertreter der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt.
4. Der Arbeitgeber Der Arbeitgeber ist kein Freund der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb. I m Gegenteil - für ihn sind die Gewerkschaften vor allem die sozialen Gegenspieler. Das Ziel der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb - der Ausbau der Gewerkschaftsorganisation und Mitgliederstärke, der gleichzeitig einen Ausbau der gewerkschaftlichen Durchsetzungfähigkeit bedeutet - ist ihm höchst unwillkommen. Der Arbeitgeber kann deshalb daran interessiert sein, die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb soweit wie möglich zu beschränken und zu behindern, um sei-
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
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nem sozialen Gegenspieler sowenig Vorteile wie möglich zu bieten. Besonders die Inanspruchnahme des Betriebs für gewerkschaftliche Zwecke kann er deshalb zu verhindern suchen. Neben den Gedanken der allgemeinen Gewerkschaftsschikane tritt hier für den Arbeitgeber, daß er die Gewerkschaft nicht finanzieren will, zumal, da er schon die Kosten des Betriebsrats als Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu tragen hat. Daneben tritt für ihn die Besorgnis, daß die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb den Arbeitsablauf stören kann. Auch auf die oben beschriebenen möglichen Störungen des Betriebsklimas - das Betriebsklima wirkt auf die Motivation der Arbeitnehmer ein - kann er mit Besorgnis schauen.
II. Die mit der Koalitionsfreiheit kollidierenden Grundrechte Dritter Nach der vorjuristischen Betrachtung der Interessenlagen der Beteiligten ist i m folgenden zu untersuchen, inwieweit diese Interessenlagen juristisch Gültigkeit erlangen können. Anders gefragt: Inwieweit werden die oben beschriebenen Interessen grundrechtlich geschützt?
1. Grundrechte der Arbeitnehmer
- Die negative Koalitionsfreiheit
Für den einzelnen Arbeitnehmer geht es um die Frage, ob und inwieweit er der gewerkschaftlichen Werbung und Betätigung fernbleiben kann. Damit ist vor allem die negative Koalitionsfreiheit angesprochen. Es ist anerkannt, daß auch die Freiheit, einer Koalition fernzubleiben, grundrechtlich geschützt ist. 4 Heftig umstritten ist aber, ob die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG - als Kehrseite der Freiheit zum Beitritt - oder (nur) durch Art. 2 Abs. 1 GG - als Auffanggrundrecht - geschützt wird. 5 Hintergrund des Streits ist, daß Art. 2 Abs. 1 GG durch den Gesetzgeber leichter eingeschränkt werden kann als Art. 9 Abs. 3 GG.
4 Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 466; vgl. Teil A (Generelle Leitsätze), III (Sozialunion) des Gemeinsamen Protokolls über Leitsätze zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. 5 Für den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG die hM: BVerfG Ol. 03. 1979 E 50, S. 290 (367); BVerfG 15. 07. 1980 E 55, S. 7 (21); BVerfG 14. 06. 1983 E 64 S. 208; BVerfG 01. 10. 1987 E 77 S. 1 (62 f.); BAG 29. 11. 1967 GS AP Nr. 13 zu Art. 9 GG; Höfling in:Sachs, GG, Art. 9 Abs. 3 RdNr. 65; Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 Abs. 3 RdNr. 169, 226 mwN. Für die aA (Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG): LAG Brandenburg 10.03. 1992 DB 1992 S. 1145; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 154 ff.; Söllner, Arbeitsrecht, S. 66 ff.; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 36; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 382; Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 101, Gamillscheg, AuR 1996, S. 41 (43).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Die Befürworter eines schwächeren Schutzes der negativen Koalitionsfreiheit verweisen zur Begründung ihrer Ansicht vor allem darauf, daß auch die Arbeitnehmer, die den Gewerkschaften fernbleiben, von deren Errungenschaften profitieren und halten deshalb auch stärkeren Druck auf die Außenseiter für zulässig. Richtigerweise ist der h M zu folgen. Der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG folgt - als notwendige Kehrseite - aus der Freiheit zum Beitritt. Nur das wird der individuellen Freiheit des einzelnen Arbeitnehmers gerecht. Je stärker der erlaubte Druck ist, einer - bestehenden - Gewerkschaft beizutreten, desto schwächer wird der Schutz der individuellen Koalitionsgründungsund Koalitionsbeitrittsfreiheit. Die meisten Maßnahmen, mit denen Gewerkschaften Druck auf die Außenseiter ausüben können - bis hin zum „closed shop" - , stehen nur bereits etablierten Gewerkschaften zur Verfügung. Damit würde für den Arbeitnehmer die Freiheit zu wählen, welcher Gewerkschaft er beitritt, illusorisch. Genau besehen geht es damit nicht allein um die Freiheit, einer Gewerkschaft fernzubleiben, sondern genauso um die Freiheit zu wählen, welcher Gewerkschaft man beitritt. 6 Der Druck, einer Gewerkschaft beizutreten, ist nämlich i m Ergebnis der Druck, der Gewerkschaft - nämlich der stärksten und durchsetzungsfähigsten beizutreten. Die vom GG garantierte Freiheit, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, wird, wenn man nicht gleichzeitig das freiheitliche Element der Koalitionsfreiheit zugunsten des einzelnen betont, uminterpretiert in eine kollektive Gewährleistung zugunsten allein bestimmter Gewerkschaften. Diese Auffassung scheint allerdings auch der Ansicht, die einen Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG ausschließt, nicht fern zu sein. Diese Gegenansicht betont ausdrücklich die öffentliche Rolle der Gewerkschaften gegenüber dem „rücksichtslosen ,ohne m i c h 4 " . 7 Sie hält positive und negative Koalitionsfreiheit nicht für vergleichbar: Die negative Koalitionsfreiheit sei eine Freiheit „von etwas", während die positive Koalitionsfreiheit eine Freiheit „zu etwas", zu einem bestimmten Zweck, sei. 8 Die Koalitionsfreiheit umfaßt ohnehin zahlreiche differenzierte Freiheiten. Es ist damit nicht ausgeschlossen, daß die Koalitionsfreiheit auch vor einem Beitrittszwang schützt. 9 Die von der Gegenseite vorgenommene Gegenüberstellung von „guter" (weil gemeinnütziger) positiver Koalitionsfreiheit und der „bösen" (egoistischen) negativen Koalitionsfreiheit gibt für die Frage nichts her. Grundrechtsschutz ist auch sonst unabhängig vom Wert der geschützten Freiheit. 1 0 6 Gamillscheg, Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung, S. 55; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 89. 7 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 383 f.; das Zitat stammt von Ridder, Gutachten S. 6; (zitiert nach Gamillscheg, a. a. O.). 8 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 383 f. 9
Vgl. Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 Abs. 3 RdNr. 65 - „mehrdimensionale Verhaltensgarantie". 10 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 101.
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
127
Individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit stehen, wie oben gezeigt, gleichwertig nebeneinander. Daraus folgt, daß auch die individuelle Entscheidung, einer Gewerkschaft beizutreten - von einer Freiheit kann hier nur gesprochen werden, wenn eine wirkliche Alternative, eben das Fernbleiben, zur Verfügung steht - , grundsätzlich gleichwertig neben dem Kollektivinteresse steht. 11 Der Charakter der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht erfordert damit, daß diese auch die negative Koalitionsfreiheit schützt. Diese Freiheit des einzelnen Arbeitnehmers schränkt die Werbe- und Betätigungsrechte der Gewerkschaften ein. Werbemaßnahmen der Gewerkschaften dürfen keinen unzulässigen Druck auf den einzelnen Arbeitnehmer darstellen. Die Grenze, wann ein Druck unzulässig wird, hat das B A G mit dem Begriff des „Bedrängens" umschrieben und ausgeführt, über ein „gütliches Zureden" dürfe die Gewerkschaft nicht hinausgehen. 12 Das wurde allgemein akzeptiert, 13 auch wenn zum Teil gerügt wurde, der Begriff des „Bedrängens" sei zu unbestimmt. 1 4 A l s grober Orientierungsmaßstab sind diese Grenzen - trotz der Unbestimmtheit auch heute noch richtig, zumal das B A G in dieser Entscheidung bei der Abwägung nicht auf das Unerläßlichkeitskriterium abstellte. 15
2. Grundrechte der anderen im Betrieb vertretenen
Gewerkschaften
Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht allein die Betätigung der Koalition. Die Koalitionsfreiheit sichert auch den Koalitionspluralismus; geschützt wird damit auch die freie Konkurrenz mehrerer Gewerkschaften untereinander. 16 Das bedeutet allerdings nicht, daß damit die Regeln des Wettbewerbsrechts auf das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander anzuwenden sind. 1 7 Das BVerfG erlaubt insoweit auch scharfe Auseinandersetzungen unter den Koalitionen. 1 8 Soweit behauptet wird, der Koalitionspluralismus sei eine Erfindung der Arbeitgeberseite, de facto bestehe in Deutschland eine Einheitsgewerkschaft, was anzuerkennen sei, 1 9 ist das nicht zutreffend. Es gibt in Deutschland einen Koalitionsplu11 Bei einer Kollision zwischen positiver Koalitionsfreiheit und negativer Koalitionsfreiheit ist damit eine Abwägung nötig; diese kann auch zugunsten der positiven Koalitionsfreiheit ausfallen. 12 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 13 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 249; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 87; Stege /Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 24. 14 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 324; Zöllner, SAE 1967, S. 110 (112). 15 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; vgl. dazu auch oben 1. Teil, 2. Kap., III 2.
16 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321); BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 253; Zacher, FS Fröhler, S. 509 (533 f.). 17 Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 GG RdNr. 253. 18 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). 19 Vgl. Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 (20).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
ralismus - wie schon die in der Einleitung genannten Zahlen belegen. Zudem muß, selbst wenn es de facto eine Einheitsgewerkschaft gäbe, die Gründung neuer Koalitionen weiterhin möglich sein. Art. 9 Abs. 3 GG verbietet zwar nicht die Einheitsgewerkschaft, 20 garantiert aber nicht sie, sondern den Koalitionspluralismus.
3. Grundrechte des Arbeitgebers Beim Arbeitgeber spielen zwei Motivationslagen eine Rolle: Inwieweit muß er den Betrieb den Gewerkschaften - seinen sozialen Gegenspielern also - zur Verfügung stellen und inwieweit muß er gegebenenfalls Störungen von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden hinnehmen.
a) Art. 13 GG - Das Hausrecht des Arbeitgebers Art. 13 GG schützt nicht nur die Wohnung, sondern auch Geschäfts- und Produktionsräume. 21 Allerdings ist der Schutz bei Geschäfts- und Produktionsräumen weniger stark als bei der Wohnung: Da diese Räume ohnehin dem Kontakt mit anderen - Arbeitnehmern, Lieferanten und Kunden - dienen, tritt der hinter Art. 13 GG stehende Gedanke der „Intimsphäre" stärker zurück. 2 2 Bedeutung hat Art. 13 GG nur beim Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter. Die Arbeitnehmer des Betriebs können nicht gegen Art. 13 GG des Arbeitgebers verstoßen, da dessen Einverständnis mit dem Betreten des Betriebs bereits vorliegt. 2 3 Dem widerspricht allerdings eine Ansicht, die meint, aus Art. 13 GG folge auch die Befugnis des Hausrechtsinhabers, Aufenthaltsbedingungen, also auch Verhaltensrichtlinien, aufzustellen. 24 Das ist zwar grundsätzlich richtig, hinsichtlich der Arbeitnehmer wird diese Befugnis aber vom vertraglichen Arbeitsverhältnis überlagert. Die Befugnis, Verhaltensrichtlinien aufzustellen, folgt nämlich genau besehen allein daraus, daß das Einverständnis mit dem Betreten von Räumen widerruflich ist: Wer sich nicht so verhält, wie es sich der Hausrechtsinhaber vorstellt, kann von diesem vor die Tür gesetzt werden. Das Arbeitsverhältnis ist aber nicht so leicht widerruflich wie das Einverständnis mit dem Betreten von Räumen. Hier reicht ein einfacher Widerruf nicht aus; vielmehr muß das Arbeitsverhältnis gekündigt werden, was i m Regelfall die soziale Rechtfertigung der Kündigung voraussetzt. Ein bloßer Widerruf des Einverständ20 Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 253. 21 BVerfG 13. 10. 1971 E 32 S. 54 (68 ff.). 22 BVerfG 13. 10. 1971 E 32 S. 54 (68 ff.). 23 Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 102. 24 Hiersemann, DB 1966, S. 742 (744); Zöllner, SAE 1967, S. 110 (111); Jürging /Kass, DB 1967, S. 815(819).
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
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nisses mit dem Betreten des Betriebs brächte dem Arbeitgeber also nichts - der Arbeitgeber setzte sich höchstens in Annahmeverzug gem. § 615 BGB.
b) Schutz der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit Das BVerfG sieht die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG verankert. 25 Vorzuziehen ist es allerdings, auf die Berufsfreiheit gem. Art. 12 GG abzustellen, da diese jedenfalls das speziellere Grundrecht ist. Sachliche Unterschiede ergeben sich dadurch jedoch nicht. 2 6 Als Schutzgüter der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit nennt das BVerfG den Schutz des ungestörten Arbeitsablaufs und den Schutz des Betriebsfriedens. Das ist erkennbar eine Anleihe an § 74 Abs. 2 S. 2 BetrVG, wo Störungen beider Rechtsgüter Arbeitgeber und Betriebsrat untersagt werden. Die Übertragung dieser gesetzlichen Regelung auf den Schutzbereich der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit läßt sich damit erklären, daß das BVerfG § 74 Abs. 2 S. 2 BetrVG als mittelbar grundrechtsprägende Norm begriff. Ein Unterschied zwischen Betriebsrat und Gewerkschaften liegt allerdings darin, daß für den Betriebsrat ein absolutes Verbot gilt, während für die Gewerkschaft eine Störung von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden zwar eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers bedeutet, ein Verbot jedoch erst nach einer Abwägung mit der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften gilt.
aa) Arbeitsablauf Arbeitsablauf ist die organisatorische, räumliche und zeitliche Gestaltung des Arbeitsprozesses im Zusammenwirken von Menschen und Betriebsmitteln. 2 7 Dieser Begriff macht kaum Schwierigkeiten. 2 8 Eine Störung des Arbeitsablaufs liegt zumindest dann vor, wenn der Arbeitsprozeß nicht mehr ordnungsgemäß abläuft. Ob wegen der besonderen Bedeutung des Arbeitsablaufs - eine Störung des Arbeitsablaufs kann zugleich eine Minderung des Betriebsergebnisses bedeuten - der Arbeitgeber auch Gefährdungen des Arbeitsablaufs vorbeugen darf, wird unten erörtert.
25 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 26 Vgl. Söllner, RdA 1989, S. 144 (147 ff.); Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 251; Scholz, ZfA 1981, S. 265 (275); Jarass, NZA 1990, S. 505 (509). 27 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 74 RdNr. 27. 28 Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 125. 9 Brock
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
bb) Betriebsfrieden Betriebsfrieden ist die Summe aller derjenigen Faktoren, die unter Einschluß des Arbeitgebers das Zusammenleben und Zusammenwirken der i m Betrieb tätigen Betriebsangehörigen ermöglichen, erleichtern oder nur erträglich machen. 2 9 Die Störung des Betriebsfriedens ist als Kündigungsgrund anerkannt. 30 A m Begriff des Betriebsfriedens wird jedoch oft seine Unbestimmtheit gerügt. Der Betriebsfrieden sei kaum greifbar und wenig mehr als eine „pathetische Wortschöpfung". 31 Dem Betriebsfrieden komme keine eigenständige Bedeutung zu; vielmehr sei er allein Teil der den Arbeitnehmer treffenden Pflicht, den ordnungsgemäßen Arbeitsablauf nicht zu stören. 32 Die oben ausgeführte Interessenlage der Arbeitnehmer, für die ein mindestens spannungsfreies Verhältnis zu den Kollegen wichtig ist, wird zwar teilweise ähnlich gesehen. 33 Dieses „Betriebsklima" beschreibe aber allein einen soziologisch-deskriptiven Zustand und enthalte noch keine Wertung. Ein Betriebsklima könne gut oder schlecht sein. Der Begriff des Betriebsfriedens setze jedoch eine Wertung voraus; das mache beide Begriffe nicht miteinander vergleichbar. Andernfalls sei jeder negative Einfluß auf das Betriebsklima auch eine Störung des Betriebsfriedens. 34 Diese Ansicht, der i m Ansatz - hinsichtlich der Interessenlage der Arbeitnehmer - zuzustimmen ist, ist aber allzu spitzfindig. Das tragende Argument ist i m Kern, daß es bei einem ohnehin schon schlechten Zustand des Betriebsklimas auf weitere Störungen nicht mehr ankomme. Das kann so nicht überzeugen - auch ein ohnehin schon schlechter Zustand kann immer noch weiter verschlechtert werden. Auch der Hinweis, es gehe tatsächlich allein um die Produktionsinteressen des Arbeitgebers, ist grundsätzlich richtig. Nur reicht dieses Interesse des Arbeitgebers über das bloße Fehlen von Störungen des Arbeitsablaufs hinaus. Auch die Motivation der Arbeitnehmer, die vom Verhältnis zu den Kollegen mitbestimmt wird, hat für den Arbeitgeber Bedeutung. Nicht zuletzt lassen sich die meisten Arbeitgeber die Förderung des Verhältnisses zwischen den Arbeitnehmern - ζ. B. durch Betriebsausflüge, Betriebs- oder Weihnachtsfeiern - durchaus etwas kosten. Das bedeutet nicht, daß hier einem wie auch immer gearteten „Gemeinschaftsverhältnis" 35 das Wort geredet wird. Es geht allein darum, daß das Verhältnis der Arbeitnehmer unter29 BAG 09. 12. 1982 SAE 1984 S. 158 (162); Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 330. 30 Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 330; KR - Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 449 ff.; Stahlhacke /PreisI Vossen, RdNr. 710; alle mwN. 31 Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 229; ähnlich: Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 124; Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (101). 32 Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (101); Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 229. 33 Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (91). 34 Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (89). 35 Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 229 spricht von den „unerträglichen, ideologisch befrachteten Strukturen eines ,Gemeinschaftsverhältnisses"\
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
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einander zumindest so ist, daß der einzelne seiner Arbeit unter erträglichen Bedingungen nachgehen kann und nicht Belästigungen durch die Kollegen ausgesetzt ist. Das beseitigt allerdings noch nicht den Mißstand, daß der Begriff der Verletzung des Betriebsfriedens oftmals als bloße Leerformel dazu dient, darüber hinwegzutäuschen, daß eine konkrete Pflichtverletzung nicht nachweisbar ist. 3 6 Denn es kann weder allein ausreichen, daß andere Arbeitnehmer an dem Verhalten eines Arbeitnehmers Anstoß nehmen, noch ist es richtig, daß immer derjenige, der tätig wurde, den Betriebsfrieden stört. Das würde zu einer Diktatur der Mehrheit im Betrieb führen. Ansatzpunkt zu einer Lösung dieses Problems ist, daß der Betriebsfrieden ein Phänomen auf der Ebene der Arbeitnehmer ist. Damit kann auch nur i m Verhältnis der Arbeitnehmer zueinander bestimmt werden, ob eine Störung des Betriebsfriedens vorliegt - und wer sie pflichtwidrig verursacht hat. Wenn sich ein Arbeitnehmer an der Plakette mit dem Logo eines Fußballvereins, die ein Kollege trägt, stört und sich beim Arbeitgeber beschwert, hat nicht zwangsläufig der Fußballfan den Betriebsfrieden gestört. Genauso kann man argumentieren, daß der andere Arbeitnehmer die Pflicht gehabt hätte, die Plakette zu ertragen. Die Arbeitnehmer treffen auch Toleranzpflichten; 37 eine Überempfindlichkeit der Kollegen kann dem Arbeitnehmer grundsätzlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Erst, wenn eine Meinungsäußerung darüber hinausgeht, was die anderen Arbeitnehmer hinnehmen müssen, liegt eine Pflichtverletzung vor. Im Ergebnis bedeutet das eine Abwägung zwischen den beiden widerstrebenden grundrechtlichen Positionen beider Arbeitnehmer: Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG, oder - im Fall der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb - positive Koalitionsfreiheit gegen negative Koalitionsfreiheit. Grundsätzlich kann man dem Arbeitnehmer eine Verletzung des Betriebsfriedens erst dann vorwerfen, wenn er diese Toleranzgrenze überschritten hat. Eine Ausnahme kann dann gelten, wenn ein Arbeitnehmer zwar innerhalb dieser Toleranzgrenze geblieben ist, aber wußte, daß trotzdem die Kollegen an seinem Verhalten Anstoß nehmen würden, eine Störung also bewußt herbeigeführt hat; hier hätte er Rücksicht auf die Interessen des Arbeitgebers nehmen müssen. 38 Dafür spricht auch, daß es sonst kaum möglich ist, die Kündigung wegen einer Störung des Betriebsfriedens von der echten Druckkündigung 3 9 zu unterscheiden. Das Kündigungsverlangen kann bei der Druckkündigung auch aus dem Kreis der
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Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 229. Berkowsky in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht (1. Aufl.), § 133 RdNr. 149 f.; v. Hoyningen-Huene / Hofmann, BB 1984, S. 1050 (1054) sprechen von „Verträglichkeitspflichten" der anderen Arbeitnehmer. Diese sind im österreichischen Recht anerkannt. 38 Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 475 (FN 125); Zachert, AuR 1984, S. 289 (295); Kohte, AuR 1984, S. 125 (127). 39 Vgl. BAG 04. 10. 1990 AP Nr. 12 zu § 626 BGB Druckkündigung; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 202. 37
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Belegschaft stammen. 4 0 Die echte Druckkündigung ist nur unter stark erschwerten Bedingungen möglich: Der Arbeitgeber hat sich schützend vor den Arbeitnehmer zu stellen und alles ihm Zumutbare zu versuchen, um die Dritten von ihrer Drohung abzubringen. 41 Die unechte Druckkündigung dagegen richtet sich nach allgemeinen Regeln. Unterschieden werden echte und unechte Druckkündigung danach, ob ein Grund in der Person oder i m Verhalten des Arbeitnehmers vorliegt. 4 2 Der Grund für die Kündigung kann aber nicht allein darin bestehen, daß der Arbeitnehmer andere Arbeitnehmer gegen sich aufgebracht hat; sonst wären die Grundsätze der echten Druckkündigung i m Bereich der verhaltensbedingten Gründe weitgehend wertlos, da nach der h M schon eine verhaltensbedingte Kündigung wegen der Verletzung des Betriebsfriedens vorläge. Eine Pflichtverletzung kann aber darin liegen, daß ein Arbeitnehmer die Toleranzpflichten der anderen Arbeitnehmer überschritten hat. Bei der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb kommt es also auf eine Abwägung zwischen der Koalitionsfreiheit des Gewerkschaftsmitgliedes und der negativen Koalitionsfreiheit des Kollegen an. Grundsätzlich müssen also die Arbeitnehmer i m Betrieb die gewerkschaftliche Betätigung ihrer Kollegen hinnehmen. Wenn sie trotzdem Anstoß daran nehmen, kann man den Gewerkschaftsmitgliedern nicht vorwerfen, sie hätten den Betriebsfrieden gestört. Erst, wenn die Gewerkschaftsmitglieder die Grenzen ihres Werberechts überschreiten, also die Kollegen „bedrängen" 4 3 , stören sie den Betriebsfrieden.
c) Art. 14 GG - Das Eigentum des Arbeitgebers Art. 14 GG schützt nicht allein das sachenrechtliche Eigentum, sondern darüber hinaus jedes private Vermögensrecht. 44 Geschützt sind also auch der sächliche Besitz 4 5 und Forderungen. 46 Gewerkschaftliche Betätigung greift damit dann in den Schutzbereich von Art. 14 GG ein, wenn sie Sachmittel des Arbeitgebers, wozu auch Räume gehören, 40 Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 201. 41 Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 203. 42 BAG 26. 01. 1962 AP Nr. 8 zu § 626 BGB Druckkündigung; BAG 18. 09. 1975 AP Nr. 10 zu § 626 BGB Druckkündigung. 43 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 44 BVerfG 19. 06. 1985 E 70 S. 191 (199); BVerfG 09. 01. 1991 E 83 S. 201 (209); BVerfG 26. 05. 1993 E 89 S. 1 (6); Wendt in:Sachs, GG, Art. 14 RdNr. 22; Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 14 RdNr. 3c; Dreier - Wieland, GG, Art. 14 RdNr. 37; v. Münch/Kunig - Bryde, GG, Art. 14 RdNr. 11. 45 Schmidt-Bleibtreu!Klein, GG, Art. 14 RdNr. 3e; Wendt in:Sachs, GG, Art. 14 RdNr. 24. 46 v. Münch! Kunig - Bryde, GG, Art. 14 RdNr. 13; Wieland in: Dreier, GG, Art. 14 RdNr. 39; Schmidt-Bleibtreu ! Klein, GG, Art. 14 RdNr. 3e; Wendt in: Sachs, GG, Art. 14 RdNr. 24.
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
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in Anspruch nimmt, unabhängig davon, ob diese Sachmittel Eigentum des Arbeitgebers sind oder lediglich sein Besitz, beispielsweise wenn er sie nur gemietet hat. Der grundrechtliche Schutz der Forderungen umfaßt auch die Forderung aus dem Arbeitsvertrag. In das Eigentum des Arbeitgebers wird also auch dann eingegriffen, wenn die Forderung aus dem Arbeitsvertrag verletzt wird.
d) Art. 9 Abs. 3 GG - Die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers Einer der wichtigsten Gründe, weshalb der Arbeitgeber kein Freund der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb ist und weshalb er versucht sein kann, die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb auf ein M i n i m u m zu reduzieren, ist, daß die Gewerkschaften sein sozialer Gegenspieler sind. Je mehr die gewerkschaftliche Betätigung zum Ausbau und zur Stärkung der Gewerkschaften führt, umso stärker können diese dem Arbeitgeber entgegentreten. Zu prüfen ist deshalb, ob der Arbeitgeber diesen Gesichtspunkt, gestützt auf Art. 9 Abs. 3 GG, als Gegenrecht gegen die Gewerkschaften geltend machen kann, da es ihm unzumutbar ist, die Gewerkschaften als seinen sozialen Gegenspieler zu fördern. Vor allem Hiersemann hat versucht, aus diesem Gesichtspunkt die generelle Unzulässigkeit der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb zu folgern. 4 7 Soweit das Problem sonst erörtert wird, wird es nicht als entscheidender Gesichtspunkt gesehen, da jedenfalls die Duldung der gewerkschaftlichen Betätigung dem Arbeitgeber zumutbar sei. 4 8 Grundsätzlich unbeachtlich ist die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers als Gegenrecht nicht. Da die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb der Stärkung der Gewerkschaften dient, hat der Arbeitgeber ein nicht unberechtigtes Interesse daran, diese nicht fördern zu müssen. Soweit Reuter meint, es ginge hier allein um die - zu vernachlässigende - persönliche Zumutbarkeit für den Arbeitgeber, 49 so ist das nicht zutreffend. Die Frage, inwieweit der Arbeitgeber die Inanspruchnahme des Betriebs durch die Gewerkschaften hinnehmen muß, betrifft nicht die Frage, inwieweit er dadurch - subjektiv gesehen - persönlich betroffen ist, sondern, inwieweit er verhindern kann, daß sein Eigentum zu Zwecken in Anspruch genommen werden kann, die seinen objektiven Gewinninteressen - diese werden ζ. B. durch für die
47 Hiersemann, DB 1966, S. 742 (744); Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 234; auch die (später zurückgenommene) Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BAG vom 14. 02. 1967 (EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG) stützte sich auf diesen Gesichtspunkt; vgl. Rüthers, RdA 1968, S. 161 (177, FN 223); vgl. in anderem Zusammenhang auch: Bulla, BB 1975, S. 889 (892); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (260); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (107). 48 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (177); Reuter, ZfA 1976, S. 107 (157 f.); Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 122; Säcker, BB 1966, S. 784 (786); Mayer-Maly, DB 1966, S. 821 (822); Brox, BB 1965, S. 1321 (1324). 49 Reuter, ZfA 1976, S. 107 (158); ähnlich: Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 122.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Gewerkschaften gute Tarifvertragsabschlüsse gemindert - zuwiderlaufen. Dieses Interesse des Arbeitgebers ist - zumindest grundsätzlich - anzuerkennen. Allerdings wird dieses Interesse - zumindest, wo es allein um die Duldung der gewerkschaftlichen Betätigung geht - hinter das Interesse der Gewerkschaften an der Betätigung i m Betrieb zurücktreten müssen. 50 Wo die Gewerkschaften ein rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Betätigung i m Betrieb haben, hat dieses gegenüber der Rechtsposition des Arbeitgebers den Vorrang. Denn bei der bloßen Duldung der Inanspruchnahme des Eigentums in dem Rahmen, wie es den Arbeitnehmern im Betrieb ohnehin zur Verfügung steht, ist keine Vermögenseinbuße des Arbeitgebers gegeben. Soweit die Inanspruchnahme des Eigentums durch die Gewerkschaften nicht weiter geht als die Inanspruchnahme durch die Arbeitnehmer, die der Arbeitgeber ansonsten problemlos hinnimmt, geht es dem Arbeitgeber, wenn er auf seine Koalitionsfreiheit pocht, im wesentlichen um eine Behinderung der gewerkschaftlichen Betätigung. Dieses Interesse ist gegenüber dem Interesse der Gewerkschaften weniger schutzwürdig. Soweit die Gewerkschaften das Eigentum des Arbeitgebers in größerem Umfang in Anspruch nehmen wollen, als das durch die Arbeitnehmer im Betrieb ohnehin geschieht, etwa indem sie Aushangflächen oder die gesonderte Bereitstellung von Räumen verlangen, wenn die Gewerkschaften also eine aktivere Förderung beanspruchen, kann der Arbeitgeber sich auf seine Koalitionsfreiheit berufen; diese ist in die Abwägung einzubeziehen. Ein entsprechendes Interesse des Arbeitgebers ist an anderer Stelle vom B A G durchaus auch anerkannt worden. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, eine in seinem Betrieb vertretene Gewerkschaft zu finanzieren; aus einer Schulung gem. § 37 Abs. 6 BetrVG, die der Arbeitgeber gem. § 40 BetrVG für die Betriebsratsmitglieder bezahlen muß, darf die organisierende Gewerkschaft keine Gewinne erzielen. 51 Dieser Maßstab ist zwar nicht ohne weiteres übertragbar - zwischen der Zurverfügungstellung von Wandflächen oder Räumen und der direkten finanziellen Förderung bestehen erhebliche Unterschiede - , zeigt aber, daß die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers ein zumindest zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist. Ähnlichkeit mit dem hier erörterten Gesichtspunkt hat das Argument, der Arbeitgeber sei schon deshalb nicht zu einer aktiven Förderung der Gewerkschaften verpflichtet, weil diese dann nicht mehr gegnerunabhängig 52 und schon deshalb keine Koalitionen mehr seien. 53 Das ist aber eher verblüffend als richtig. Da es um
so Säcken BB 1966, S. 784 (786); Mayer-Maly, DB 1966, S. 821 (822). 51 Ständige Rechtsprechung: BAG 31. 10. 1972 AP Nr. 2 zu § 40 BetrVG 1972; BAG 30. 03. 1994 DB 1994 S. 229 (2297); BAG 17. 06. 1998 DB 1999 S. 388; vgl. auch: Fitting/ Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 40 RdNr. 65. 52 Zur Gegnerunabhängigkeit von Koalitionen als Bestandteil des Koalitionsbegriffs vgl. EK - Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 7. 53 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 165; vgl. auch: Klosterkempen Zugangsrecht, S. 122.
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
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Rechtsansprüche der Gewerkschaften geht, diese also vom Arbeitgeber nur verlangen, was ihnen zusteht, droht ihnen keine Abhängigkeit vom Arbeitgeber, die sie hindern würde, ihre Aufgaben zu erfüllen. Zudem betrifft das ohnehin keine vorrangig finanzielle Förderung: Wenn sich die Gewerkschaften i m Betrieb betätigen wollen (und müssen), so folgt die Abhängigkeit der Gewerkschaften allein daraus, daß der Arbeitgeber zugleich Betriebsinhaber ist und somit ein Monopol auf die für die Gewerkschaften nötigen Betriebsmittel hat. 5 4
III. Die Beeinträchtigung von Grundrechten des Arbeitgebers Voraussetzung für die Kollision von Grundrechten ist, daß Grundrechte des Arbeitgebers überhaupt betroffen sind. Das lenkt den Blick auf die Frage, wann von einem Eingriff in Grundrechte des Arbeitgebers gesprochen werden kann. Sicher liegt ein solcher Eingriff vor, wenn - das Beispiel des BVerfG 5 5 zugrundegelegt der Arbeitsablauf oder der Betriebsfrieden gestört sind, also eine konkrete Störung vorliegt. Dann stellt sich in der Abwägung mit der erforderlichen Betätigung der Gewerkschaften die Frage, ob der Arbeitgeber die Störung hinzunehmen hat, weil den Interessen der Gewerkschaft das höhere Gewicht zukommt, oder nicht. In diesen Fällen einer Störung von Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden liegt ein klarer Eingriff in Grundrechte des Arbeitgebers vor. Fraglich ist, ob Grundrechte des Arbeitgebers nur dann betroffen sind, wenn eine Störung bereits eingetreten ist, oder ob auch schon die Gefährdung von Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden Grundrechte des Arbeitgebers beeinträchtigt.
1. Abstrakte und konkrete Gefahren Rechtlich spielt der Gefahrenbegriff vor allem im Strafrecht - wegen der Gefährdungsdelikte - sowie i m Polizei- und Ordnungsrecht, in dem eine Gefahr die Voraussetzung für Maßnahmen ist, eine Rolle. Klassischerweise wird zwischen konkreten und abstrakten Gefahren differenziert. Eine konkrete Gefahr ist dabei eine im Einzelfall, also nach einem nach Ort und Zeit bestimmten Sachverhalt, vorliegende Gefahr. 56 Dagegen setzt eine abstrakte Gefahr nicht voraus, daß tatsächlich eine Gefahr für ein Rechtsgut besteht, hier wird auf eine typischerweise bestehende Gefährlichkeit abgestellt. 57
54 Vgl. dazu - in anderem Zusammenhang - auch: Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977, S. 157 (159); Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (81); Zachert, BB 1976, S. 514 (515); Herschel, AuR 1977, S. 137 (141); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 524. 55 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 56 Schönke/Schröder - Cramer, StGB, vor § 306 RdNr. 2; Knemeyer, Polizei- und Ordungsrecht, RdNr. 62.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Solche Gedankengänge sind auch, wie die Regelung in § 74 Abs. 2 BetrVG zeigt, dem Arbeitsrecht nicht fremd. Die in § 74 Abs. 2 S. 2 BetrVG verbotene Beeinträchtigung umfaßt nicht nur bereits eingetretene Störungen, sondern auch Handlungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Störung führen 5 8 - also auch eine konkrete Gefährdung. Das Verbot parteipolitischer Betätigung gem. § 74 Abs. 2 S. 3 1. HS BetrVG dient ebenfalls dem Schutz des Betriebsfriedens; hier wird eine abstrakte Gefährdung des Betriebsfriedens jedoch schon vom Gesetz unterstellt. 5 9
2. Die Berücksichtigung von Gefährdungslagen in der bisherigen Rechtsprechung zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb Indem das B A G die meisten Fälle mit Hilfe des Unerläßlichkeitskriteriums entschied, hatte es kaum Anlaß zu einer Grundrechtsabwägung. Maßstäbe, wie die oben geschilderten, konnte es daher nur in Ansätzen entwickeln. Allerdings war es in der Postfachentscheidung 60 zugunsten des klagenden Gewerkschafters davon „ausgegangen", daß die Mitgliederwerbung grundrechtlich geschützt ist, und war zu einer Abwägung mit Grundrechten des Arbeitgebers gekommen. I m Rahmen dieser Abwägung führte es aus: „Schon das macht es erforderlich, Dritte vom Zugang zu den Postfächern auszuschließen und die Mitbenutzung der Postfächer für andere Zwecke zu untersagen. Nur dadurch kann sichergestellt werden, daß hausinterne Mitteilungen nicht verlorengehen, den Empfänger alsbald ohne Fehlleitungen erreichen und daß von ihnen nicht unbefugt Kenntnis genommen wird. Werden die Postfächer auch für die Verteilung gewerkschaftlicher Schriften benutzt, ist die Gefahr nicht auszuschließen, daß solche hausinternen Mitteilungen zwischen diesen Schriften verlorengehen, mit ihnen beiseite gelegt oder weggeworfen werden." 61 Das B A G stellte also ausdrücklich auf eine (bloße) Gefährdung von Interessen des Arbeitgebers ab und hielt deshalb die Abmahnung des Arbeitgebers für rechtmäßig. Ähnliche Tendenzen finden sich auch in anderen Entscheidungen: Das B A G begründete die Pflicht der Gewerkschaften zur Wahrung des Koalitionspluralismus damit, daß sonst die „hohe Wahrscheinlichkeit" bestehe, daß der Betriebsfrieden 57
Schönke/Schröder - Cramer, StGB, vor § 306 RdNr. 3; Knemeyer, Polizei- und Ordungsrecht, RdNr. 65. 58 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 74 RdNr. 26; Richardi, BetrVG, § 74 RdNr. 44; Hess/Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 74 RdNr. 7; Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (119 ff.). 59 BAG 13. 09. 1977 AP Nr. 1 zu § 42 BetrVG 1972; BAG 21. 02. 1978 AP Nr. 1 zu § 74 BetrVG 1972; EK - Hanau / Kania, BetrVG, § 74 RdNr. 21; Fitting /Kaiser/Heiter/ Engels, BetrVG, § 74 RdNr. 32. 60 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG. 61 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 317); (Hervorhebung vom Verf.).
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
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und dadurch der reibungslose Arbeitsablauf gestört würden. 6 2 Auch in der Schutzhelm-Entscheidung 63 beschäftigte sich das B A G mit dem Problem: Die Vorinstanz hatte das Verbot des Arbeitgebers deshalb für gerechtfertigt gehalten, weil die „plakative Wirkung" der Embleme geeignet sei, die Aufmerksamkeit der Kollegen zu fesseln und dadurch Sicherheit, Intensität und Qualität der Arbeit zu beeinträchtigen. Sie nahm also, mit anderen Worten, eine Gefährdung des Arbeitsablaufes an. Dem widersprach das B A G nicht grundsätzlich, wies aber darauf hin, daß es keinen Erfahrungssatz gebe, nach dem solche Embleme zu Betriebsstörungen führen könnten. 6 4 Grundsätzlich spricht das dafür, daß solche Gefährdungen i m Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen sind. Die Ausführungen des B A G weisen zudem auf den wichtigen Punkt hin, daß nicht willkürlich „Erfahrungssätze" aufgestellt werden können. Vielmehr ist sorgfältig zu untersuchen, ob durch die gewerkschaftliche Maßnahme Situationen mit Gefährdungspotential entstehen können. Auch das BVerfG erwähnte das Problem der Gefährdungslagen; es hält den Gesetzgeber für berechtigt, schon einer abstrakten Gefährdung der für die Arbeit der Personal Vertretung unerläßlichen Grundlagen entgegenzutreten. 65
3. Die politische Betätigung im Betrieb als paralleles Problem Intensiver diskutiert wurde das Problem aber i m Hinblick auf einen - in vieler Hinsicht - ähnlichen Fall: die Meinungsfreiheit i m Betrieb. Standardfall dazu ist das Plakettentragen: Ein Arbeitnehmer trägt i m Betrieb eine (auffällige) Plakette; andere Arbeitnehmer nehmen an dieser Plakette Anstoß - oder auch nicht. 6 6 Hier streitet für den Arbeitnehmer seine Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG; der Arbeitgeber darf sich auf den Schutz des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens gem. Art. 12 GG berufen. 67 Da zu Art. 5 GG keine Form der Kernbereichslehre oder ein Unerläßlichkeitskriterium entwickelt wurde, bestand Einigkeit darüber, daß die Fälle über eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen sind. Für das bei Art. 9 Abs. 3 GG neue Problem der Abwägung kann man sich an den zur Meinungsfreiheit gefundenen Ergebnissen zumindest orientieren. Einigkeit besteht darüber, daß der Arbeitgeber auf eine Störung des Arbeitsablaufs reagieren darf. 6 8 Auch eine Störung des Betriebsfriedens wird von den mei62 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 63 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 64 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 65 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (309). 66 Vgl. BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB (Arbeitnehmer trägt im Betrieb eine große Plakette mit der Aufschrift: „Stoppt Strauß"). 67 BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB; Kissel, NZA 1988, S. 145 (151); v. Hoyningen-Huene! Hofmann, BB 1984, S. 1050 (1053); Preis/Stoffels, RdA 1996, S. 210 (212).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
sten als Kündigungsgrund akzeptiert. 69 Heftig umstritten ist aber die Frage, ob schon eine abstrakte Gefährdung des Betriebsfriedens ausreicht, zumindest eine konkrete Gefährdung vonnöten ist oder ob nur eine konkrete Störung eine Kündigung begründen kann. Söllner weist darauf hin, daß sich andere Arbeitnehmer dem Einfluß einer Plakette nicht entziehen können, so daß eine Plakette immer zur Stellungnahme herausfordernd und damit provozierend wirke. Er hält deshalb das Tragen einer Plakette per se für eine Gefährdung des Betriebsfriedens. Der Arbeitgeber dürfe deshalb das Plakettentragen auch schon verbieten, bevor es zu einer Störung gekommen sei. 7 0 Andere Autoren sind nicht so streng und wollen jeweils i m Einzelfall entscheiden. Sie erkennen aber an, daß bereits Gefährdungen den Arbeitgeber zu einem Einschreiten berechtigen können; eine Gefahr soll jedenfalls bei einer „provozierenden" Meinungsäußerung vorliegen, beispielsweise, wenn eine politische Plakette in der Endphase eines Wahlkampfes getragen w i r d . 7 1 Die Gegenansicht meint, bei einer bloßen Gefährdung - eine solche liege zudem nicht dann schon vor, wenn es zu verbalen Gegenäußerungen von Kollegen kommt des Betriebsfriedens fehle es an einem rechtserheblichen Tatbestand; nur die tatsächlich eingetretene Störung rechtfertige es, eine kündigungsrechtliche Prognose i m Rahmen der Güterabwägung zu stellen. 7 2 Insbesondere Blomeyer hat sich intensiv mit dem Problem beschäftigt. 73 Wenn sicher vorherzusehen ist, daß das Verhalten des Arbeitnehmers zu einer Interessenbeeinträchtigung des Arbeitgebers führt, hält er vorbeugende Maßnahmen des Arbeitgebers für gerechtfertigt. Die Prognose könne anhand von Erfahrungssätzen erfolgen. Allerdings geht er davon aus, daß die Störung sicher vorhersehbar sein muß. Andernfalls wären die Interessen der Arbeitnehmer verletzt. Die Position des B A G ist nicht eindeutig. Das B A G läßt es in einigen Entscheidungen dahingestellt bleiben, ob eine Gefährdung des Betriebsfriedens für eine Kündigung ausreicht; 74 daß andere Arbeitnehmer an der Plakette Anstoß genom-
68 Preis/Stoffels, RdA 1996, S. 210 (213); Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (101); Meisel, RdA 1976, S. 38 (43). 69 BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB; Kissel, NZA 1988, S. 145 (151); Söllner, FS Herschel, S. 389 (400); aA: Preis/Stoffels, RdA 1996, S. 210 (213); Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (98 ff.), der den Begriff des Betriebsfriedens insgesamt ablehnt; vgl. dazu: Rüttgers, Das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb, S. 11 ff. 70 Söllner, FS Herschel, S. 389 (400). 71 Meisel, RdA 1976, S. 38 (43); Mummenhoff, DB 1981, S. 2539 (2543); v. HoyningenHuene I Hofmann, BB 1984, S. 1050 (1054). 72 Bäumer, BIStSozAR 1981, S. 337 (341); Preis/Stoffels, RdA 1996, S. 210 (213); Preis, DB 1990, S. 630 (631). 73 Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (98 ff.). 74 BAG 13. 01. 1956 AP Nr. 4 zu § 13 KSchG; BAG 26. 05. 1977 AP Nr. 5 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht; BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB.
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men hätten, begründe jedenfalls schon eine Störung des Betriebsfriedens. Das Tragen einer großen und auffälligen - und damit aggressiven - Plakette wirke provozierend; andere Arbeitnehmer hätten sich der Wirkung der Plakette nicht entziehen können. Das gehe über ein politisches Gespräch unter Kollegen hinaus und sei genauso zu bewerten wie ständige verbale Äußerungen gegen den Willen der Kollegen. 7 5 Die offen gelassene Frage, ob auch eine konkrete Gefährdung von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden als Kündigungsgrund ausreichen kann, hat das B A G in einer anderen Entscheidung 76 zumindest für die außerordentliche Kündigung gem. § 626 BGB eindeutig beantwortet: Auch eine konkrete Gefährdung von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden kann zumindest eine außerordentliche Kündigung nicht begründen. Das B A G begründet das damit, daß es praktisch nicht möglich sei, zwischen konkreter und abstrakter Gefährdung zu unterscheiden. Zudem bestehe die Gefahr, daß subjektive Einschätzungen zu entscheidungserheblichen Kriterien gemacht würden. Soweit das B A G auf eine „Provokation" abstellte, 77 wurde daran insbesondere kritisiert, daß dieser Begriff zu unbestimmt sei und zu viele kaum nachprüfbare Werturteile zulasse. 78 Festzuhalten ist, daß das Problem der Gefährdungslagen bei der Diskussion gesehen und kontrovers diskutiert wird.
4. Die Berücksichtigung
von konkreten Gefahren
Das Problem, inwieweit Gefährdungslagen als Grundrechtsbeeinträchtigung des Arbeitgebers zu berücksichtigen sind, stellt sich vor allem beim Schutz des Arbeitsablaufs, dem Schutz des Betriebsfriedens und beim Schutz der Betriebsverfassung. Sowohl Eigentumsverletzungen als auch Verletzungen der Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers können sicher festgestellt werden: Die Gewerkschaft nimmt Eigentum des Arbeitgebers in Anspruch oder nicht. Beim Schutz des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens geht es dagegen um einen Erfolg, der abgewendet werden soll: Die Handlung des Gewerkschaftsmitglieds setzt eine Kausalkette in Gang, die zum Erfolg führt. Von einer konkreten Gefahr für das Rechtsgut kann somit dann gesprochen werden, wenn der Arbeitnehmer die Lage, die er durch sein Verhalten hervorgerufen hat, nicht mehr beherrschen kann und diese Lage eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Schadenseintritt bedeutet. 79
75 76 77 78 79
BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB. BAG 17. 03. 1988 EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 17 f.). BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB. v. Hoyningen-HueneIHofmann, BB 1984, S. 1050 (1054). Vgl. die Wertung im Strafrecht: Schönke / Schröder - Cramer, StGB, vor § 306 RdNr. 5.
140
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Hier allein darauf abzustellen, ob es tatsächlich zu einer Störung gekommen ist, da nur dann ein rechtserheblicher Tatbestand vorliegt, 8 0 kann nicht überzeugen. Der Arbeitgeber hat ein berechtigtes Interesse daran, Störungen i m Vorfeld zu verhindern. Die bloße Reaktion auf tatsächlich eingetretene Störungen ist dazu nicht ausreichend. Zudem ist der Arbeitnehmer hier nicht schutzwürdig. Er hat eine Situation geschaffen, in der es letztlich nur noch vom Zufall abhängt, ob der Schaden eintritt oder nicht. Wenn der Schadenseintritt aus der vom Arbeitnehmer geschaffenen Lage mit hoher Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren ist, ist der Arbeitgeber deshalb berechtigt, Maßnahmen zu ergreifen, auch, wenn ein Schaden selbst nicht eingetreten ist. Die Rechtsprechung des B A G zur Berücksichtigung von konkreten Gefahren bei der außerordentlichen Kündigung 8 1 spricht nicht gegen dieses Ergebnis. Eine außerordentliche Kündigung als die schärfste Reaktionsmöglichkeit des Arbeitgebers kann tatsächlich nicht durch eine konkrete Gefährdung gerechtfertigt werden. Jedoch nicht, da es unmöglich ist, zwischen konkreter und abstrakter Gefährdung zu unterscheiden: Diese Differenzierung ist, wie andere Rechtsgebiete, insbesondere das Polizei- und Ordungsrecht, wo der Gefahrenbegriff eine zentrale Rolle spielt, durchaus praktisch zu handhaben. 82 Vielmehr spricht das Ausbleiben der Störung trotz der konkreten Gefährdung dafür, daß diese Gefahr nicht so hoch ist, daß dem Arbeitgeber das Abwarten der Kündigungsfrist nicht zumutbar ist, so daß eine fristlose Kündigung deshalb nicht in Betracht k o m m t . 8 3 Daß bei einer konkreten Gefährdung eine außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt ist, heißt aber noch nicht, daß nicht bereits eine Verletzung des Arbeitsvertrags vorliegt, die den Arbeitgeber zur Abmahnung oder zu einer Unterlassungsklage sowie bei beharrlichen Verstößen 84 ggf. auch zur Kündigung berechtigen kann. 8 5
5. Die Berücksichtigung
von abstrakten Gefahren
Auch auf abstrakte Gefahren muß der Arbeitgeber reagieren können. Wenn ein bestimmtes Verhalten eine hohe Wahrscheinlichkeit in sich birgt, zum Schadenseintritt zu führen, kann es dem Arbeitgeber nicht verwehrt sein, die Gefahr i m Vorfeld auszuschließen. U m die Grundrechte der Arbeitnehmer nicht zu weitgehend einzuschränken, müssen dabei aber zwei Grundsätze beachtet werden. Zum einen muß eine hinreichend hohe Gefahr eines Schadenseintritts bestehen. Zum andern so si 82 83 84 85
Bäumer, BIStSozAR 1981, S. 337 (341); Preis/Stoffels, RdA 1996, S. 210 (213). BAG 17. 03. 1988 EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 17). KraftI Raab, EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 33). Kraft!Raab, EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 35). Vgl. BAG 17. 03. 1988 EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 19). Vgl. Willemsen, EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 47).
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
141
darf nicht eine nur unerhebliche Rechtsverletzung drohen. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, daß, j e größer der drohende Schaden ist, auch eine geringere Wahrscheinlichkeit ausreichen muß. Insoweit greift eine Je-desto-Betrachtung ein. Diese Maßstäbe können kurz am schon oben angesprochenen Problem des Plakettentragens erläutert werden. Tatsächlich wird das Tragen einer Plakette kaum je einmal eine solche abstrakte Gefahr begründen; soweit das „Stoppt-Strauß"-Urteil des B A G aus diesem Grund kritisiert wurde, 8 6 ist die Kritik zutreffend. So wäre - aus der hier vertretenen Sicht - zu fragen gewesen, ob nicht den anderen Arbeitnehmern zumutbar gewesen wäre, die Plakette zu ertragen: Selbst wenn diese ungewöhnlich groß war, so war doch der Belästigungseffekt relativ gering. Hier kam schon deshalb nur eine Druckkündigung 8 7 in Betracht. Zudem ist zu fragen, ob die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts schon groß genug war. Der Begriff der „Provokation", auf den das B A G abstellte, verdeckt diese Frage nur. Anders liegt es beim vom B A G als Vergleich herangezogenen Fall ständiger verbaler Agitationen. Hier ist die Toleranzpflicht der anderen Arbeitnehmer in der Tat überschritten; Gegenreaktionen sind sehr wahrscheinlich. Damit liegt dann tatsächlich eine abstrakte Gefahr vor, die den Arbeitgeber zur Abmahnung berechtigt. Denn aus der vorgenommenen Güterabwägung ergibt sich eine Schwelle, die die zulässige politische Betätigung von der unzulässigen trennt. Wenn die Kollegen verpflichtet sind, das Verhalten hinzunehmen, stören sie, wenn sie gegen den sich betätigenden Arbeitnehmer vorgehen, selbst den Betriebsfrieden; wenn sie - wie hier - nicht dazu verpflichtet sind, das Verhalten hinzunehmen, stört der sich betätigende Kollege den Betriebsfrieden. Ob ein Arbeitnehmer bei einer unzulässigen politischen Betätigung den Betriebsfrieden stört, hängt somit davon ab, wie sich die Kollegen verhalten, ob sie protestieren und gegen den Kollegen vorgehen oder nicht. 8 8 Das Verhalten der Kollegen kann aber dem sich betätigenden Arbeitnehmer nicht zugute kommen, wenn feststeht, daß dieser die Grenzen der zulässigen politischen Betätigung verletzt hat. Indem er sich in einer nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckten Weise betätigt, hat der Arbeitnehmer die Situation aus der Hand gegeben; ob es zu einer Störung kommt, hängt allein noch vom Verhalten der Kollegen ab. In dieser Situation dem Arbeitgeber das Eingreifen zu verwehren heißt, daß er das Risiko tragen muß, daß es in Zukunft doch zu einer Störung kommen kann. Er müßte das Risiko sehenden Auges hinnehmen. Für dieses Ergebnis spricht auch der Schutz der Kollegen: Damit der Arbeitgeber gegen den sich in nicht rechtmäßiger Weise betätigenden Arbeitnehmer einschreiten kann, müßten sie erst eine Störung des Betriebsfriedens herbeiführen - ein offenbar unsinniges Ergebnis, indem es die Arbeitneh86 Zachert, AuR 1984, S. 289; Kokte, AuR 1984, S. 125; Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 474. 87 Vgl. Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 202 f.; vgl. auch: Willemsen, EzA Nr. 116 zu §626 BGB (S. 47). 88 Blomeyer, ZfA 1972, S. 85 (99); Willemsen, EzA Nr. 116 zu § 626 BGB (S. 46).
142
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
mer auf den Weg der Selbsthilfe verweist, wenn sie ein Verhalten, das sie nicht dulden müssen, auch nicht (mehr) dulden wollen. 8 9 Bisher ist das Problem lediglich auf der individuellen Ebene betrachtet worden. Wichtiger als diese individuelle ist bei der gewerkschaftlichen Betätigung aber die kollektive Ebene. Tatsächlich betreffen nur zwei der einschlägigen Entscheidungen des B A G Abmahnungen; 9 0 über Kündigungen wegen gewerkschaftlicher Betätigung hatte das B A G noch nicht zu entscheiden. Die Mehrheit der Fälle betrifft Klagen einer Gewerkschaft gegen den Arbeitgeber auf Duldung einer Betätigung.
91
In diesem Fall - die Gewerkschaft klagt gegen den Arbeitgeber auf Duldung liegt die Klage immer vor dem Vollzug der Maßnahme. Da die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der gewerkschaftlichen Maßnahme demnach vor dem eigentlichen Vollzug liegt, bedeutet das hinsichtlich der Grundrechte des Arbeitgebers, insbesondere hinsichtlich Arbeitsablauf und Betriebsfrieden, daß der Richter nur mittels einer Prognose entscheiden kann. Er muß fragen, ob Grundrechtsbeeinträchtigungen bei einem Vollzug der Maßnahme zu erwarten sind. Sicher vorhersehen werden sich Störungen von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden nicht lassen: Eine Maßnahme der Gewerkschaft kann immer nur geeignet sein, Störungen hervorzurufen; ob eine Störung wirklich eintritt, hängt von einer Vielzahl von Umständen i m Betrieb ab. Damit geht es bei der Prognoseentscheidung im Kern um den Ausschluß von Gefährdungen. Dagegen kann man einwenden, daß die Berücksichtigung von Gefährdungslagen dazu führt, daß die Rechte der Gewerkschaften stark eingeschränkt werden, obwohl nicht sicher feststeht, ob es zu einer Störung kommen wird. I m Einzelfall kann der Gewerkschaft eine Betätigung vom Arbeitgeber wirksam untersagt werden, obwohl möglicherweise keine Störung - und damit keine Grundrechtsbeeinträchtigung des Arbeitgebers - eingetreten wäre. 9 2 Die Alternative wäre jedoch, nur die sicher vorhersehbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen und ansonsten den Gewerkschaften aufzugeben, daß es nicht zu Störungen von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden kommen darf. Dann wäre der Arbeitgeber darauf beschränkt, auf die eingetretenen Störungen zu reagieren - sanktionierend und die Maßnahme für die Zukunft verbietend. 93 Diese 89 Vgl. Kreutz, BlStSozArbR 1972, S. 60 (66). 90 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG; BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung. 91 Vgl. BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG. 92 Vgl. Jahnke, BlStSozArbR 1974, S. 164 (166) zu ähnlichen Problemen bei § 74 Abs. 2 S. 2 BetrVG. 93 Vgl. Kreutz, BlStSozArbR 1972, S. 60 (66); Erdmann, BlStSozArbR 1971, S. 241 (242).
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
143
Lösung würde dem Problem aber nicht gerecht, weil der Arbeitgeber auch für die Zukunft nur geringe Rechtsschutzmöglichkeiten hätte: Er müßte darlegen, was genau zu der Störung geführt hat und könnte allenfalls diese Einzelmaßnahme untersagen - ohne ausschließen zu können, daß danach eine Störung aufgrund anderer Umstände eintritt. I m Ergebnis führt das dazu, daß der Arbeitgeber Störungen hinnehmen müßte und zudem daran gehindert wäre, für die Zukunft weitere Störungen sicher auszuschließen. Das verstößt auch gegen die Wertung bei § 1004 BGB; dort ist die vorbeugende Unterlassungsklage, die zwangsläufig eine Prognose voraussetzt, anerkannt. 94 Der Richter, der über die Klage einer Gewerkschaft gegen den Arbeitgeber auf Duldung zu entscheiden hat, kann und muß also auch typischerweise bestehende Gefahren für den Arbeitsablauf, den Betriebsfrieden oder die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung berücksichtigen. Voraussetzung dafür ist grundsätzlich, daß die von der Gewerkschaft beantragte Maßnahme eine hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts in sich birgt. Dabei sinkt die Schwelle der nötigen Prognosesicherheit, je höher und gravierender der zu erwartende Schaden ist.
IV. Die Grundrechtsabwägung als Herstellen praktischer Konkordanz Die vom BVerfG geforderte Abwägung der kollidierenden Grundrechte als das Herstellen praktischer Konkordanz 9 5 heißt, daß die kollidierenden Grundrechte beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen müssen. Es darf nicht ein Grundrecht auf Kosten des anderen verwirklicht werden. Nötig ist damit ein verhältnismäßiger Ausgleich der Grundrechte. Es gilt hier das Übermaß verbot. 9 6 In diesem Rahmen ist insbesondere der Grundsatz der Erforderlichkeit von Bedeutung: Unter mehreren zur Zweckerreichung geeigneten Instrumenten darf nur das gewählt werden, welches die geringsten Folgen hervorruft. 9 7 Diesen Gedanken spricht das BVerfG an, wenn es ausführt: „Auf der Seite des Beschwerdeführers geht es um den Schutz, den Art. 9 Abs. 3 GG der Mitgliederwerbung für seine Gewerkschaft angedeihen läßt, und um das Gewicht des Interesses, auch während der Arbeitszeit für die Gewerkschaft zu werben." 98 Entscheidend ist damit nicht nur der grundsätzliche Schutz der gewerkschaftlichen Werbung, sondern auch, welche Bedeutung die einzelne Betätigungsart für 94 BGH 19. 06. 1951 E 2 S. 394; Palandt - Bassenge, BGB, § 1004 RdNr. 11; Erman Hefermehl, BGB, § 1004 RdNr. 27; Staudinger - Gursky, BGB, § 1004 RdNr. 33; MüKo Medicus, BGB, § 1004 RdNr. 80 f.; RGRK - Pickart, BGB, § 1004 RdNr. 104, Hirtz, MDR 1988, S. 182(184). 95 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, RdNr. 72. 96 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 21. 97 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19. 98 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG; (Hervorhebung vom Verf.).
144
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
die Gewerkschaft hat, insbesondere i m Hinblick darauf, eine effektive Werbung betreiben zu können. Die bisher mit der Unerläßlichkeit verbundene Frage, ob der Gewerkschaft für eine effektive Betätigung nicht auch ein milderes Mittel zur Verfügung steht, behält damit - in abgewandelter Form - ihre Bedeutung." Es ergeben sich aber auch wesentliche Unterschiede. Zum einen folgt die Erforderlichkeit - anders als die Unerläßlichkeit - nicht aus dem Schutzbereich des Grundrechts selbst, sondern aus den kollidierenden Grundrechten. 1 0 0 Damit kommt es auf die Erforderlichkeit dann nicht an, wenn durch eine Maßnahme keine Grundrechte anderer betroffen sind, da dann auch eine Abwägung nicht nötig i s t . 1 0 1 Zum andern ist die Unerläßlichkeit ein wesentlich engerer und strengerer Maßstab als die Erforderlichkeit. Denn nach der Rechtsprechung des B A G mußte eine Maßnahme unerläßlich sein für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Gewerkschaft. 1 0 2 Das Unerläßlichkeitskriterium beschränkte damit nicht nur die Mittel, die der Gewerkschaft zur Verfügung standen, sondern es definierte zugleich auch den zulässigen Zweck der Maßnahmen: die reine Existenzsicherung. Diese Beschränkung ist mit der Änderung der Rechtsprechung des B V e r f G 1 0 3 weggefallen. Die Gewerkschaften dürfen damit alle Zwecke verfolgen, die dem eigentlichen Koalitionszweck - Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen - dienen. Dazu gehört auch der weitere Ausbau der Mitgliederstärke. Zudem ist die Erforderlichkeit ein weniger restriktiver Maßstab als die Unerläßlichkeit. Denn erforderlich ist eine Maßnahme bereits dann, wenn kein milderes, aber gleich effektives Mittel zur Verfügung steht. 1 0 4 M i t dieser Frage der Effektivität hat sich das B A G in seiner Rechtsprechung zur Unerläßlichkeit nicht befaßt: Daß die Wahl der Vertrauensleute i m Betrieb leichter durchgeführt werden kann und daß mit einer höheren Wahlbeteiligung zu rechnen ist, war für das B A G „kein ausschlaggebender Gesichtspunkt". 1 0 5 Die Erforderlichkeit der Wahl i m Betrieb ist aber aus genau diesem Grund zu bejahen - um dann die entscheidende Frage zu stellen, ob diesem Interesse der Gewerkschaft gegenüber kollidierenden Grundrechten des Arbeitgebers das höhere Gewicht zukommt. A n die Stelle des starren Unerläßlichkeitskriteriums tritt mit dem Maßstab der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eine gleitende Skala. 1 0 6
99
Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 80. 100 Hanau, ZIP 1996, S. 447.
ιοί Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 f.). 102 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. Art. 9 Abs. 3 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG; mwN. 103 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 104 Hesse, Verfassungsrecht, RdNr. 318. los BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 106 Vgl. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 136; vgl. auch: Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (49 f.); Hanau, AuR 1983, S. 257 (258).
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
145
A u f die Schwierigkeit - gerade auch für den Richter, dem i m Gegensatz zum Gesetzgeber nur begrenzte Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen - zu bestimmen, was erforderlich ist, ist mehrfach hingewiesen worden. 1 0 7 Ein soziologischexperimenteller Begriff der Erforderlichkeit 1 0 8 kann kaum vorausgesetzt werden und wird auch in der Praxis durch eine rechtliche Wertung ersetzt, die jedoch notwendigerweise generalisierend ist. So hielt das BVerfG die Werbung vor Personalratswahlen in der Dienststelle deshalb für erforderlich, weil eine solche Werbung die Präsenz der Wählerschaft voraussetzte: in der Dienststelle. Solche Wahlen könnten „von der Sache her" nicht der Dienststelle entfremdet werden. 1 0 9 Dieser Gedanke wurde vom B A G noch mehr verallgemeinert: 1 1 0 Es käme nicht darauf an, daß die Werbeaktionen i m Betrieb erfolgversprechender seien als Aktionen außerhalb des Betriebs; vielmehr gebiete es das Prinzip der Sachnähe, daß die Gewerkschaften dem Betrieb nicht ferngehalten werden könnten. 1 1 1 Die gegen diese Bestimmung der Erforderlichkeit geäußerten Bedenken, 1 1 2 damit werde der Sinngehalt der Erforderlichkeit gerade verfehlt, denn auf diese Weise werde nur verdeckt, daß gesicherte sozialempirische Erkenntnisse fehlen, können nicht überzeugen: Bei derart hohen Anforderungen an die Tatsachengrundlage bliebe dem Richter nur die Kapitulation, indem er eingestehen müßte, daß er nicht in der Lage ist, den Fall zu entscheiden, ohne die Darlegungslast der Parteien ins Nicht-Erfüllbare zu steigern. Das wäre aber weder sachgerecht noch überzeugend: 113 Es spricht schon ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, daß, je sachnäher die Betätigung der Gewerkschaft den Problemen der Arbeitswelt ist, sie desto erfolgversprechender i s t . 1 1 4 Die Berücksichtigung von solchen Erfahrungssätzen bei der Ermittlung der Erforderlichkeit einer Maßnahme für die Gewerkschaft ist damit das Gegenstück zur Berücksichtigung von Erfahrungssätzen bei der Ermittlung von Grundrechtsgefährdungen auf Seiten des Arbeitgebers. Ebenso, wie Erfahrungswerte dafür sprechen können, daß der Arbeitgeber ein Verhalten nicht hinnehmen muß, da es eine Gefährdung seiner geschützten Interessen darstellt, können Erfahrungswerte dafür sprechen, daß eine Betätigung für die Gewerkschaften erforderlich ist. 107
Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 142; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 232, 247 f. 108 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 142. 109 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). no Vgl. Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 11. m BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 112 Zöllner, SAE 1966, S. 162 (165 f.). 113 Vgl. Zöllner, EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 f.). 114 Diesem Erfahrungssatz würde Zöllner, SAE 1966, S. 162 (166) wohl widersprechen: „Wer in einen Bienenzüchterverein eintreten will, müßte darüber am besten in einem Bienenhaus nachdenken." Allerdings sollen die Bienen wohl kaum Mitglied des Bienenzüchtervereins werden; vgl. dazu auch: Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 143. 10 Brock
146
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die einzelne Betätigungsmaßnahme der Gewerkschaft bei Grundrechtskollisionen erforderlich sein muß, d. h., daß kein gleich wirksames, aber milderes Mittel zur Verfügung steht. Diese Erforderlichkeit kann sich aber auch aus allgemeinen Erfahrungssätzen ergeben.
V. Exkurs - Die gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle Bislang stellte die gewerkschaftliche Betätigung in den Dienststellen der öffentlichen Verwaltung kein Sonderproblem dar. Die Maßstäbe, die für die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb galten, konnten i m Regelfall auf die Dienststelle übertragen werden 1 1 5 - und umgekehrt. 1 1 6 Das galt, da die Grenzen des Rechts auf gewerkschaftliche Betätigung über das Unerläßlichkeitskriterium aus der Koalitionsfreiheit selbst gewonnen wurden. Das Problem stellt sich nun aber anders dar: Die Grenzen folgen nicht mehr aus der Koalitionsfreiheit selbst, sondern aus den Einschränkungen durch kollidierende Grundrechte des Arbeitgebers. Das bereitet bei der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb kaum Schwierigkeiten. Anders stellt es sich jedoch für die Dienststelle dar. Hier ergeben sich zwei Probleme: Dienstherr - und damit in der Rolle des Arbeitgebers - ist der Staat. Dieser kann sich aber nicht selbst auf die Grundrechte, die Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind, berufen. 1 1 7 Eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit durch kollidierende Grundrechte scheidet also grundsätzlich aus. Zudem ist fraglich, ob nicht die Wesentlichkeitstheorie für eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit - also auch der Betätigungsfreiheit - ein formelles Gesetz erfordert. Die gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Beide Aspekte können daher nur kurz, um das Problem zu verdeutlichen, angerissen werden.
7. Zur Abwägung Die gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle ist den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern durch Art. 9 Abs. 3 GG umfassend gewährleistet. Gegenläufige Interessen des Arbeitgebers können nicht über Grundrechte des Arbeitgebers berücksichtigt werden, da sich der Staat selbst nicht auf sie berufen kann. Berücksichtigung finden können diese gegenläufigen Interessen des Arbeitgebers aber über die mittelbar grundrechtsprägenden Normen. M i t diesem Ansatz hat 115 Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 6. 116 Söllner, JZ 1966, S. 401 (405); Zöllner, SAE 1966, S. 162 (163). 117 BVerfG 02. 05. 1967 E 21 S. 362 (369 f.); Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 115 mwN.
1. Kap.: Allgemeine Fragen der Abwägung und Vorüberlegungen
147
sich Hahn beschäftigt. 1 1 8 I m Ergebnis kann er jeweils die Interessen des Arbeitgebers i m Rahmen einer Abwägung umfassend berücksichtigen; Unterschiede zur Betätigung im Betrieb ergeben sich damit nicht. Allerdings ist diese Lösung eher zweifelhaft. So überträgt Hahn das Verbot in § 66 Abs. 2 PersVG für Dienststelle und Personal Vertretung, den Betriebsfrieden zu stören, auf die Gewerkschaften. 119 Das Verbot in § 66 Abs. 2 PersVG soll das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit gem. § 2 Abs. 1 PersVG sichern. Dieses Gebot gilt jedoch nur für Dienststelle und Personal Vertretung, nicht aber für die Gewerkschaften. Damit ist zweifelhaft, ob angesichts dieses speziellen Schutzzwecks das Verbot ohne weiteres auf die Gewerkschaften übertragbar ist. Auch möchte Hahn das privatrechtliche Eigentum der Dienststelle an den öffentlichen Sachen ausreichen lassen, um es im Rahmen der Abwägung zu berücksicht i g e n . 1 2 0 Der Staat kann zwar - insoweit ist Hahn zuzustimmen - privatrechtlich Eigentümer sein. Dieses privatrechtliche Eigentum des Staates ist jedoch nicht gem. Art. 14 GG grundrechtlich geschützt. Die Berücksichtigung des privatrechtlichen - und eben nicht grundrechtlichen - Eigentums des Staates bei der Abwägung vermischt damit die beiden Ebenen und unterläuft die grundsätzliche Wertung, daß der Staat selbst sich nicht auf die Grundrechte berufen kann. Uber die Berücksichtigung der mittelbaren grundrechtsprägenden Normen kann damit im Ergebnis das Betätigungsrecht der Koalitionen nur mit Schwierigkeiten eingeschränkt werden. 1 2 1 Die richtige Lösung dürfte eher i m Rahmen der Weitungen des GG zu finden sein. Zum einen ist anerkannt, daß sich auch Körperschaften des öffentlichen Rechts im Einzelfall auf Grundrechte berufen können. 1 2 2 Zum anderen sind als Rechtsgut von Verfassungsrang - und damit bei der Abwägung zu berücksichtigen - der Bestand und die Funktionsfähigkeit von staatlichen Einrichtungen, ζ. B. der Sozialverwaltung oder der Finanzverwaltung, anerkannt. 1 2 3 Hier läßt sich überlegen, inwieweit dieser Grundsatz auf die gesamte staatliche Verwaltung übertragen werden kann und inwieweit der Schutz der Funktionsfähigkeit auch erfordert, daß Arbeitsablauf und Betriebsfrieden in der staatlichen Verwaltung geschützt werden. 1 2 4 Die Frage nach den Rechten der Gewerkschaften auf koalitionsmäßige Betätigung in den Dienststellen der öffentlichen Verwaltung muß aber grundsätzlich als offen bezeichnet werden.
118 119
Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 170 ff. Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 213.
120 Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 203 ff. 121 Vgl. Säcker, ArbRdGgw Bd. 12 (1975), S. 17 (28). 122 ζ. B. Geltung von Art. 5 Abs. 3 GG für Universitäten: BVerfG 02. 05. 1967 E 21 S. 362 (373 f.); BVerfG 27. 07. 1971 E 31 S. 314 (322). 123 v. Müch/Kunig - ν. Münch, GG, Vorbemerkung RdNr. 57. 124 Vgl. für Beamte: Bauer in: Dreier, GG, Art. 9 RdNr. 94.
10*
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen 2. Zur Notwendigkeit
eines formellen Gesetzes
Die Wesentlichkeitstheorie spielt für die vorliegende Arbeit keine Rolle, da sie nach richtiger Ansicht des BVerfG im Bereich des Privatrechts nicht anwendbar i s t . 1 2 5 Das ist i m Bereich des öffentlichen Rechts anders. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, „ i n grundlegenden normativen Bereichen, zumal i m Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen." 1 2 6 Damit muß das Problem, ob die gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle eine solche, für die Grundrechtsausübung wesentliche Frage ist, zumindest diskutiert werden. Die zitierte Entscheidung des BVerfG zum Beamteneinsatz auf bestreikten Arbeitsplätzen 1 2 7 spricht allerdings eher dagegen: Das BVerfG stellte ausdrücklich darauf ab, daß der bestreikte Arbeitgeber sich eines Mittels bediente, daß nur ihm als Hoheitsträger zu Gebote stand; gegen die Geltung des allgemeinen, vom B A G entwickelten Arbeitskampfrechts schien es aber keine Einwände zu haben. Danach bedarf, solange keine besonderen hoheitlichen Befugnisse des Dienstherren i m Spiel sind, die gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle wohl keiner besonderen gesetzlichen Grundlage.
2. Kapitel
Die Abwägung in einzelnen Fällen 1. Abschnitt
Die Werbung der Gewerkschaften im Betrieb § 1 Der Schutz der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften Die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Freiheit der Mitgliederwerbung dient dem in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zweck der Koalitionsfreiheit, der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, nicht unmittelbar. Allein die Mitgliederstärke der Gewerkschaften, die die Mitgliederwerbung fördert und ausbaut, hat noch keinen positiven Einfluß auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. 128 Der Bestand und die Stärke der Gewerkschaften sind aber die Voraussetzungen für die effektive Wahrnehmung des Koalitionszwecks durch die Gewerkschaften. Die Mitgliederwerbung dient dem Koalitionszweck damit zwar nur mittelbar, schafft aber erst die Voraussetzungen für eine Wahrnehmung des Koalitionszwecks durch 125 BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103 (116) 126 BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103 (116); vgl. auch: BVerfG 08. 08. 1978 E 49 S. 89 (126 f.); BVerfG 20. 12. 1979 E 53 S. 30 (56). 127 BVerfG 02. 03. 1993 E 88 S. 103(116). 128 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
149
die Gewerkschaften. 129 Das erfordert, daß die Werbung der Gewerkschaften zur Gewinnung neuer Mitglieder von der Koalitionsfreiheit geschützt w i r d . 1 3 0 Diese Begründung für den Schutz der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften - daß das Ziel der Mitgliederwerbung, nämlich der Ausbau der Mitgliederstärke der Gewerkschaften, deren verfassungsrechtlichen Schutz erfordert - hat auch Folgen für den zulässigen Inhalt dieser Werbung. Daraus, daß der nötige Zusammenhang der Mitgliederwerbung mit der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sich aus dem angestrebten Ergebnis der Werbung ergibt, folgt gleichzeitig, daß der Inhalt der Mitgliederwerbung keinen Zusammenhang mit der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen haben m u ß . 1 3 1 Das hat das B A G hinsichtlich der Werbung einer Gewerkschaft mit satzungsmäßigen Leistungen - hier einer Familienrechtsschutzversicherung - bestätigt. 1 3 2 Auch wenn die Rechtsschutzversicherung selbst nicht in einem Zusammenhang mit der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen steht, darf damit geworben werden, da jedenfalls der Werbeerfolg den Koalitionszwecken zugute kommt.
§ 2 Schutz nur der Werbung von Neumitgliedern oder auch der Erhaltung des Mitgliederbestandes Das BVerfG verwendete lange Zeit die Formel - das B A G übernahm diese Formel - , es müßten auch diejenigen Betätigungen verfassungsrechtlich geschützt sein, „die für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition unerläßlich sind." 133 Das kann so verstanden werden, als sei die Werbung nur soweit geschützt, als sie der Erhaltung des gegenwärtigen Status der Gewerkschaften diene, einen Ausbau der (Mitglieder-) Stärke aber nicht mehr schütze. Diese Auslegung der - mißverständlichen - Formel wäre aber falsch. 1 3 4 Die Mitgliederwerbung ist auch geschützt, wenn sie der weiteren Stärkung der Gewerkschaften dient. Denn es gibt 129 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305); BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 130 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BVerfG 26. 5. 1970 E 28 S. 295 (304 f.); GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 95; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 91 f.; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 65; Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 23; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 57; EK - Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 27; Bauer in: Küttner, Personalhandbuch 2001, Kapitel 206 RdNr. 27; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 160; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 247; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 260 ff.; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 63; Kempen, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 143; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 51; alle mwN. 131 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 170. 132 BAG 30. 08. 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG. 133 BVerfG 26. 5. 1970 E 28 S. 295 (304 ). 134 Hanau, AuR 1983, S. 257 (258); Herschel, AuR 1982, S. 294 (296).
150
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
nicht einen hinreichenden Status der Gewerkschaften, der ihnen die angemessene Wahrnehmung ihrer Aufgaben gestattet. Vielmehr erlaubt jede weitere Stärkung der Gewerkschaften diesen auch eine bessere Interessenwahrnehmung. 135 A u f der anderen Seite wäre es aber auch falsch anzunehmen, es sei vorrangig die Werbung neuer Mitglieder geschützt, während Maßnahmen, die der Erhaltung des Mitgliederbestandes dienen, sich also vorrangig an die Altmitglieder richten, nur geringeren Schutz genössen. 136 Der Schutz der Mitgliederwerbung dient dazu, den Gewerkschaften Mittel an die Hand zu geben, die ihnen erlauben, ihre Mitgliederstärke positiv zu beeinflussen. Dann kann es - hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Schutzes - keinen Unterschied machen, ob es darum geht, Nichtmitglieder zum Eintritt zu bewegen, oder darum, Mitglieder von einem möglichen Austritt abzuhalten. Unterschiede können sich hier nicht hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Schutzes ergeben, sondern ggf. nur bei der Erforderlichkeit einer Maßnahme, indem die Gewerkschaften darauf verwiesen werden können, daß sie zwar Nichtmitglieder nur i m Betrieb wirksam ansprechen können, Mitglieder aber ggf. auch auf andere Weise erreichen können. 1 3 7 A u f diese Überlegung ist unten bei der Erörterung der gewerkschaftsinternen Maßnahmen 1 3 8 - näher einzugehen.
§ 3 Die gewerkschaftliche Information über Ziele und Betätigung Die vorher besprochene Mitgliederwerbung zeichnet sich dadurch aus, daß sie konkret zielgerichtet ist. Ziel der Mitgliederwerbung ist, die Arbeitnehmer zu einem bestimmten Verhalten - dem Gewerkschaftsbeitritt - zu motivieren, das der Gewerkschaft konkret zugute kommt. Zu prüfen ist nun, inwieweit die Information durch die Gewerkschaften, die sich nicht auf ein so klares Motivationsziel wie die eigentliche Werbung berufen kann, durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird. Als Beispielsfälle kann man an die Information über den Stand von Tarifvertrags Verhandlungen denken, aber auch an die Information über das Ergebnis gewerkschaftsinterner Wahlen (ζ. B. der betrieblichen Vertrauensleute) oder an die Information über die Ergebnisse von Gewerkschaftstagen.
135 So wohl auch das Verständnis des BVerfG: BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305) nennt ausdrücklich auch die „Verbesserung" der Voraussetzungen der Koalitionszweckförderung; vgl. auch BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 136 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG - auch Information der Mitglieder; Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (51); Richardi, FS Müller, S. 413 (434 f.); Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 146; vgl. aber auch: BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG; differenzierend zwischen Mitgliederwerbung und Mitgliederbetreuung: Kunze, FS BAG, S. 315 (323). 137 Vgl. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG, kritisch; Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (51); Richardi, FS Müller, S. 413 (434 f.). >38 Vgl. z. B. unten 3. Teil, 2. Kap., 5. Abschnitt § 22.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
151
Für den Schutz dieser Betätigungen durch Art. 9 Abs. 3 GG spricht, daß auch die (reine) Information einen beträchtlichen Werbeeffekt für die Gewerkschaften bewirkt. Dieser kann i m Zweifelsfalle noch höher sein als die allgemeine Mitgliederwerbung, die nur generalisierend und allgemein die Aufgaben und Ziele sowie die Betätigung der Gewerkschaften darstellt. Demgegenüber kann die Darstellung gerade erreichter Erfolge oder streitiger Ziele auf den Arbeitnehmer überzeugender wirken. Statt über vergangene Erfolge und allgemeine Absichten werden die Arbeitnehmer im Betrieb über die aktuellen Entwicklungen informiert und so in das aktuelle Geschehen eingebunden. 1 3 9 Zudem gehört diese Information zu den Mitteln der Selbstdarstellung der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind auf die Unterstützung der Öffentlichkeit - und gerade der Arbeitnehmer - angewiesen. U m diese Unterstützung zu erlangen, müssen die Gewerkschaften das Recht haben, ihre Tätigkeit auch selbst - und nicht nur etwa über die Presse vermittelt - darzustellen. 1 4 0 Damit ist diese Form der Information das Gegenstück zur (reinen) Mitgliederwerbung. Die Mitgliederwerbung wird von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, da ihr Ziel den Gewerkschaften zugute kommt und ihnen die Wahrnehmung der Koalitionsziele erleichtert. Da schon dieses Ziel der Werbung die nötige Verknüpfung mit den Koalitionsaufgaben bewirkt, kann auch mit Leistungen geworben werden, die selbst nicht in einem Zusammenhang mit den Koalitionszielen stehen. Die Information als Selbstdarstellung der Gewerkschaften muß hingegen nicht notwendigerweise (vorrangig) der Mitgliederwerbung dienen, da sie sich inhaltlich auf die Wahrnehmung der Koalitionsaufgaben bezieht. 1 4 1 Zudem ließe sich, wenn das denn gefordert würde, für die Gewerkschaften leicht ein Zusammenhang zwischen der reinen Information und der Mitgliederwerbung herstellen. Auch die reine Information, die nicht direkt mit der Aufforderung zu einem bestimmten Handeln (ζ. B. dem Gewerkschaftsbeitritt) verbunden ist, dient damit der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, so daß auch sie dem Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG untersteht.
139 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 287. 140 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305); Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 185. 141 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 186; Schönfeld, BB 1989, S. 1818(1820).
152
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
§ 4 Die Werbung im Betrieb allgemein Hinsichtlich der Frage, ob die Gewerkschaften überhaupt im Betrieb werben können, herrscht (mittlerweile) 1 4 2 Einigkeit. Die Gewerkschaften haben das Recht, i m Betrieb zu werben. 1 4 3 Diese Einigkeit ist insofern überraschend, als hinsichtlich der Begründung keineswegs völlige Einigkeit herrscht. So ist schon umstritten, ob die Werbung i m Betrieb als solche überhaupt in Grundrechte des Arbeitgebers eingreift - das wird zuweilen verneint. 1 4 4 Andere weisen darauf hin, daß die Eingriffe in Grundrechte des Arbeitgebers so gering sind, daß das Werberecht der Gewerkschaften auf jeden Fall überwiegt; 1 4 5 obwohl nicht in jedem Fall überhaupt von der Erforderlichkeit der Werbung i m Betrieb gesprochen werden kann, wenn beispielsweise eine starke Gewerkschaft werben w i l l . 1 4 6 Tatsächlich sind durch die Werbung i m Betrieb Grundrechte des Arbeitgebers betroffen. Indem die Gewerkschaften Räume oder das Betriebsgelände nutzen, nutzen sie das Eigentum oder den Besitz des Arbeitgebers. Damit sind sein Eigentumsrecht gem. Art. 14 GG und seine Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG - der Arbeitgeber wird zur Duldung der Betätigung seines sozialen Gegenspielers verpflichtet - berührt. Diese Grundrechte treten aber in der Regel hinter das Werberecht der Gewerkschaften zurück. Das Hausrecht des Arbeitgebers gem. Art. 13 GG dagegen ist, wenn die Gewerkschaft mit betriebsangehörigen Mitgliedern wirbt, nicht betroffen, da sich diese Arbeitnehmer mit Einverständnis des Arbeitgebers i m Betrieb aufhalten. Daß das Hausrecht des Arbeitgebers diesem das Recht gibt, zugleich auch Verhaltens Vorschriften für den Aufenthalt zu machen, 1 4 7 überspannt die Reichweite dieses Grundrechts. 1 4 8 Ob die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit - Art. 12 GG schützt Arbeitsablauf und Betriebsfrieden - des Arbeitgebers betroffen ist, hängt immer von den konkreten Umständen der Werbung ab.
142 In den sechziger Jahren bestand zu dieser Frage noch eine beachtliche Gegenansicht: Hohn, BB 1965, 545 ff.; Hiersemann, DB 1966, S. 702 ff. und 742 ff.; Zöllner, SAE 1966,S. 162 ff.; ders., SAE 1967, S. 105 (110); Richardi, RdA 1968, S. 427 (428). ι « BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304 f.); Etzel, BetrVG, RdNr. 1488; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 83 ff.; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 143; Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 43; Hess/Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 91; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 161; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 247 f.; alle mwN.
144 Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 99; Rüthers, RdA 1968, S. 161 (176); so wohl auch: BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 145 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 247 f.; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 272 f. 146 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 248 mwN; vgl. auch: Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222c). 147 Zöllner, SAE 1967, S. 110 (111); Hiersemann, DB 1966, S. 742 (744). 148 Vgl. oben, 3. Teil, 1. Kap., II 3 a.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
153
Werbemaßnahmen der Gewerkschaft können - müssen aber nicht - zu Störungen oder Gefährdungen von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden führen. M i t der abstrakten Aussage, daß die Gewerkschaften i m Betrieb werben dürfen, ist also noch nicht viel gewonnen. Die eigentliche Schwierigkeit ist die Eingrenzung und Ausgestaltung dieses Werberechts, ausgehend von Störungen und Gefährdungen der Grundrechte des Arbeitgebers. Größere allgemeine Bedeutung hat die Frage der Erforderlichkeit der Werbung gerade i m Betrieb für die Gewerkschaften. Die schon oben erwähnten Zweifel an der Erforderlichkeit hat auch das B A G so gesehen und ergänzend ausgeführt, die Werbung außerhalb der Betriebe sei möglicherweise genauso erfolgversprechend, wenn nicht sogar noch erfolg versprechender als die i m Betrieb. 1 4 9 Es hat die Erforderlichkeit aber bejaht, da das Prinzip der Sachnähe greife: Die Gewerkschaften könnten mit ihrem Recht auf Werbung und Information nicht von der Stelle ferngehalten werden, wo die Arbeitsleistung erbracht wird. Für die Erforderlichkeit der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb lassen sich zwei Begründungsansätze finden: Einen strengeren, der darauf abstellt, daß bestimmte Betätigungsformen, wie ζ. B. die Wahl Werbung der Gewerkschaften vor Betriebsratswahlen, nur i m Betrieb erfolgversprechend durchgeführt werden können, und einen erweiterten, der nach der Natur der Sache 1 5 0 auf den Sachzusammenhang zwischen gewerkschaftlicher Betätigung und Betrieb abstellt. (1) Der erste - strengere - Begründungsansatz entspricht der Begründung des BVerfG in der Entscheidung zur Wahlwerbung der Gewerkschaften. Das BVerfG hatte dort ausgeführt, erfolgreiche Wahlwerbung setze immer die Präsenz der Wählerschaft voraus; die Wählerschaft der Personalratswahlen sei aber nur in der Dienststelle anwesend. 1 5 1 Allgemeiner: Erfolgreiche Werbung setzt immer voraus, daß auch die richtige Zielgruppe angesprochen wird. In einer Seniorenzeitschrift für Babynahrung zu werben, macht keinen Sinn. Genauso macht es für die I G Metall keinen Sinn, Bankangestellte als Mitglieder zu werben: Die Gewerkschaften sind daran interessiert, Mitglieder i m Bereich ihrer Tarifzuständigkeit zu werben. Der Tarifvertrag ist immer noch das wichtigste und wirksamste Mittel der Gewerkschaften, dem Koalitionszweck zu dienen. 1 5 2 Nur Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben, für die die Gewerkschaft tarifzuständig ist, sind an die von der Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifverträge normativ gebunden, und nur diese können i m Falle eines Arbeitskampfes auch den richtigen Arbeitgeber bestreiken. Die einzige praktikable Möglichkeit für die Gewerkschaften, potentielle Neumitglieder genau i m Bereich ihrer Tarifzuständigkeit zu werben, ist die Werbung 149 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; vgl. auch: Reuter, FS Müller, S. 387 (411). 150 Vgl. Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 f.). 151 Vgl. auch: BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). 152 Vgl. Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 88; Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 241; Götz, Arbeitsrecht II, S. 1; Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 96.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
i m Betrieb. 1 5 3 Die erfolgreiche Werbung setzt voraus, daß auch die richtige Zielgruppe angesprochen wird. Das gilt auch für die Mitgliederwerbung. (2) Der zweite wichtige Punkt, der für die Erforderlichkeit der Betätigung gerade i m Betrieb spricht, ist das vom B A G aufgestellte „Prinzip der Sachnähe" 1 5 4 . Das B A G hat den oben dargestellten Gedanken des BVerfG, daß Wahlwerbung die Präsenz der Wahlberechtigten voraussetze, verallgemeinert. 1 5 5 Es führte dazu aus, daß sich in den Betriebsräumen das Arbeitsleben abspielt und dort die Fragen auftauchen, die sich aus der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern ergeben. Deshalb gehöre es zum Kernbereich der Koalitionsfreiheit, dort die Mitglieder zu informieren und neue Mitglieder zu werben. 1 5 6 Dieses „Prinzip der Sachnähe" wurde dahingehend kritisiert, daß seine Geltung sonst nicht anerkannt s e i 1 5 7 und sozialempirisch - im Sinne einer notwendigen Bedingung - auch nicht belegbar s e i . 1 5 8 Hiergegen spricht aber schon, daß die Erforderlichkeit nicht allein auf eine solche - sozialempirische - Sicht verkürzt werden d a r f . 1 5 9 Allein die Präsenz der Gewerkschaften i m Betrieb verhindert, daß sie von dem eigentlichen Anknüpfungspunkt ihrer Arbeit entfernt werden und als abgehobene Gebilde erscheinen, die mit den täglichen Problemen der Arbeit nichts mehr zu tun haben. 1 6 0 Die Gewerkschaften müssen auch dort in Erscheinung treten können, wo sich ihre Tätigkeit konkret entfaltet. 1 6 1 Nur die tatsächliche Präsenz der Gewerkschaften im Betrieb kann verhindern, daß eine Entfremdung zwischen den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften eintritt. Das in beiden Richtungen: In Bezug auf die Arbeitnehmer, indem sie den Zusammenhang der Gewerkschaften mit ihrer Arbeit (überhaupt) erkennen können, sowie in Bezug auf die Gewerkschaften, indem die betriebliche Basis sie immer wieder mit den tatsächlichen Bedingungen, unter denen Arbeit verrichtet wird, konfrontiert. 1 6 2 Beide Begründungsansätze können (ζ. B. bei der Mitgliederwerbung), müssen aber nicht zugleich zutreffen. Rein verbandsinterne Maßnahmen können auch außerhalb des Betriebs erfolgversprechend durchgeführt werden, so daß sich ihre Erforderlichkeit allein aus dem Prinzip der Sachnähe ergibt. Da der erste Ansatz darauf abstellt, daß eine Maßnahme nur i m Betrieb erfolgversprechend durchgeführt werden kann, begründet er eine höhere Erforderlichkeit. 153
Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 143. 154 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG.
155 Vgl. Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 11. 156 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 157 Zöllner, SAE 1967, S. 110(111). 158 Zöllner, SAE 1966, S. 162 (166). 159 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 143: „rechtliche Erforderlichkeit"; Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 f.): „Natur der Sache". 160 Vgl. Pfarr, AuR 1978, S. 290 (293). 161 Rüthers, RdA 1968, S. 161 (175), Gamillscheg, AuR 1996, S. 41 (46). 162 pfarr, AuR 1978, S. 290 (293).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
155
§ 5 Wo im Betrieb dürfen die Gewerkschaften werben? Die Gewerkschaftsmitglieder dürfen sich i m Betrieb in allen Räumen betätigen, die ihnen auch sonst frei zugänglich sind; die damit verbundene Inanspruchnahme der Räume hat der Arbeitgeber zu dulden. 1 6 3 Das Eigentumsrecht des Arbeitgebers gem. Art. 14 GG und seine Koalitionsfreiheit sind dadurch zwar berührt, aber nur minimal. Dagegen ist es für die Gewerkschaften nicht möglich, sich i m Betrieb zu betätigen, ohne zwangsläufig auch Räume oder das Gelände - auch der Firmenparkplatz gehört zum B e t r i e b 1 6 4 - des Arbeitgebers zu nutzen. Auch in der Kantine und in den Pausenräumen darf sich die Gewerkschaft betätigen. Diese Räume sollen schon von ihrer Zweckbestimmung her dem Aufenthalt der Arbeitnehmer in den arbeitsfreien Zeiten dienen. 1 6 5 Probleme können hier allerdings auftreten, wenn die Gewerkschaften diese Räume völlig für sich vereinnahmen und de facto in Gewerkschaftsräume umwandeln. Die anderen Arbeitnehmer könnten der gewerkschaftlichen Betätigung nicht mehr entgehen, sondern müßten an ihr zwangsweise teilnehmen. 1 6 6 In diesem Fall wäre die negative Koalitionsfreiheit der anderen Arbeitnehmer verletzt und dadurch auch der Betriebsfrieden gefährdet. Wenn die Gewerkschaft diese Räume nutzt, muß sie also auf die anderen Arbeitnehmer soweit Rücksicht nehmen, daß diese weiterhin diese Räume ungestört nutzen können. Nicht zulässig ist dagegen die Werbung in Bereichen, die auch von Kunden des Arbeitgebers benutzt werden, beispielsweise der Verkaufsbereich eines Kaufhauses. 1 6 7 Diese Bereiche dienen der Selbstdarstellung des Arbeitgebers gegenüber seinen Kunden und damit seinen Verkaufsinteressen. Hier hat die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers ein höheres Gewicht als das Interesse der Gewerkschaft, sich auch in diesen Bereichen betätigen zu dürfen.
163
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 165; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 69; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 89; Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 14; Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54). 164 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 252. 165 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54); Hanau, AuR 1983, S. 257 (261). 1 66 Vgl. die Begründung des BAG in der Entscheidung zum Raucherschutz: BAG 19. 01. 1999 NZA 1999 S. 546 (549) - derart strenge Maßstäbe sind aber (auch) hier nicht angebracht. 1 67 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 248; eine ähnliche Wertung gilt für das Tragen von politischen Plaketten - vgl. v. Hoyningen-Huene / Hofmann, DB 1984, S. 1050 (1055); Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 475 mwN; aA: Arbeitsgericht Hamburg 30. 06. 1992 AuR 1992 S. 351.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen 2. Abschnitt
Inhaltliche Anforderungen an die Werbung § 6 Grenzen der gewerkschaftlichen Werbungsund Informationsfreiheit aus Rechten Dritter, insbesondere des Arbeitgebers Inhaltlich haben die Gewerkschaften in der Gestaltung ihrer Werbemaßnahmen und Meinungsäußerungen große Freiheit. Zwar kann eine scharfe Polemik der Gewerkschaften den Betriebsfrieden gefährden und ggf. auch das Recht der persönlichen Ehre des Arbeitgebers oder anderer Personen verletzen. 1 6 8 Zugleich ist aber das Recht der Gewerkschaften auf eine entsprechende Darstellung ihrer Ansichten zu beachten. Gegenüber dem Arbeitgeber hat das B A G die Gewerkschaften auf eine „sachliche" Kritik beschränkt, dies unter Hinweis auf die Menschenwürde des Arbeitgebers. 1 6 9 Ob die Ausführungen des B A G so zu verstehen sind, daß auch scharfe Kritik und Polemik erlaubt s i n d , 1 7 0 ist zweifelhaft. 1 7 1 Jedenfalls ist eine als restriktiv zu verstehende Rechtsprechung nicht länger haltbar. Die Gewerkschaften haben ein hohes Interesse daran, ggf. auch scharfe Kritik am Arbeitgeber zu üben. Den Interessengegensatz zwischen den Gewerkschaften als den Organisationen der Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber müssen die Gewerkschaften den Arbeitnehmern gegenüber darstellen dürfen. Die Darstellung dieses Interessengegensatzes ist glaubhaft aber nur durch auch scharfe Kritik am sozialen Gegenspieler zu erreichen. 1 7 2 Gleiches gilt gegenüber den Arbeitgeberverbänden und ihren Funktionären. 1 7 3 So darf die Gewerkschaft einen Funktionär der Arbeitgeber als „altes Klageweib der Unternehmer" bezeichnen. 1 7 4 Auch der Werbereim „Die IG Chemie / Zwingt die Arbeitgeber in die Knie" ist zulässig. 1 7 5 Hier wird in bildhaft verkürzter Form das Ziel der Gewerkschaften dargestellt.
168 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 286; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 249. 169 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 170 So: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 330. 171 Enger: Hess/Schlochauer/
(112).
Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 95; Zöllner, SAE 1967, S. 110
172 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 330, Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 180. 173 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 177 f. 174 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. III. 175 aA: Hanau, AuR 1983, S. 257 (262).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
157
Eine Grenze findet die Freiheit der Gewerkschaften an den allgemeinen Strafgesetzen (§§ 185, 186, 187 StGB). Unzulässig sind unwahre Tatsachenbehauptung e n . 1 7 6 Aber auch die Privatsphäre des Arbeitgebers ist t a b u . 1 7 7 Allenfalls darf der Lebensstil des Arbeitgebers in sehr allgemeiner Form angesprochen werden. 1 7 8 Das zulässige Maß an Polemik wird auch dort überschritten, wo die Hetze gegen den Arbeitgeber beginnt: 1 7 9 „Schlagt die Arbeitgeber t o t / D a n n hat ein Ende eure N o t " 1 8 0 dürften die Gewerkschaften ebensowenig behaupten wie den Arbeitgeber als „Sklavenhalter" oder „Faschist" bezeichnen. 1 8 1 Es ist nicht möglich, eine allgemein gültige Grenze zwischen der zulässigen Polemik , die „stark n e g a t i v " 1 8 2 sein und auch „überspitzte Formulierungen" 1 8 3 verwenden darf, und der unzulässigen Hetze zu ziehen. Hier ist fast alles eine Frage des Einzelfalles. Ähnliche Grundsätze gelten für die Kritik an Konkurrenzorganisationen: Nach Ansicht des B A G darf eine Gewerkschaft gegen eine Konkurrenzorganisation nur nicht „ i n grob unwahrer oder hetzerischer Weise vorgehen oder es auf deren Vernichtung anlegen". 1 8 4 Obwohl die Gefahr einer Störung des Betriebsfriedens hier eher höher ist als bei Angriffen auf den Arbeitgeber, legte das B A G deutlich großzügigere Maßstäbe an, die auch heute noch gültig sind. Das kann daran liegen, daß das B V e r f G 1 8 5 in ähnlichem Zusammenhang - zur Wahl Werbung bei Personalratswahlen - die Kritik an Konkurrenzorganisationen schon für rechtmäßig gehalten hatte und erklärt hatte, ablehnende Gegenreaktionen der Mitglieder anderer Gewerkschaften seien unvermeidbar und müßten hingenommen werden. Die erlaubte Schärfe der Auseinandersetzungen ergibt sich hier aus der Konkurrenzsituation, in der die Gewerkschaften beim Kampf um Mitglieder wie auch beim Wahlkampf stehen. 1 8 6 Überschritten waren die Grenzen der Werbung allerdings, als eine Gewerkschaft sich den Tariferfolg einer anderen Gewerkschaft selbst zuschrieb. Das B A G sah darin eine grob unwahre Aussage. 1 8 7 Auch darf eine Konkurrenzorganisation nicht als „Bande von Verrätern der Arbeiterklasse"
176
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 178. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 331. 178 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 177; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 331. 177
179
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 180. •so Beispiel nach: Hanau, AuR 1983, S. 257 (262). 181
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 180. •82 LAG Frankfurt/Main 31. 07. 1969 BB 1969 S. 1478. •83 LAG Berlin 24. 09. 1973 BB 1974 S. 1072. •84 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; zustimmend: GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 87; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 160; Galperin /Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 62; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 173. •85 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). 186 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 174. 187 BAG 11. 11. 1968 AP Nr. 14 zu Art. 9 GG.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
bezeichnet werden, 1 8 8 die Bezeichnung als „angebliche Gewerkschaft" ist dagegen noch in Ordnung. 1 8 9 Zu differenzieren ist bei Kritik am Außenseiter: Kritik an der Einzelperson ist nur in engen Grenzen zulässig, während die Gewerkschaften in verallgemeinerter Form durchaus das Verhalten des Außenseiters, der von den durch die Gewerkschaften erkämpften Vorteilen profitiert, ohne sich an den Lasten zu beteiligen, auch in zugespitzter Form darstellen dürfen. 1 9 0
§ 7 Politische Stellungnahmen der Gewerkschaften im Betrieb Die Rechtsprechung hat zwei wichtige Äußerungen zum Problem der politischen Betätigung der Gewerkschaften i m Betrieb gemacht. Das B A G hat in seiner Grundlagenentscheidung vom 14. 02. 1967 für die Gewerkschaften folgende Grenzen aufgestellt: „Die Betätigung der Koalition nach Art. 9 Abs. 3 GG muß sich auf die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beschränken. Daraus folgt, daß das im Betrieb zu verteilende Werbe- und Informationsmaterial insbesondere keinen parteipolitischen Inhalt haben darf. Aber auch Informationen allgemein politischen Inhalts sind durch das Informations- und Werberecht nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht gedeckt, es sei denn, daß es sich um politische Fragen handelt, die mit der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in unmittelbarem Zusammenhang stehen."191 Das BVerfG hat die Wahl Werbung der Gewerkschaften vor einer Kommunalwahl nicht dem Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG unterstellt. 1 9 2 Dem besonderen Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG unterliege eine Betätigung nur, wenn sie spezifisch koalitionsgemäß sei. Dazu gehöre nicht die Werbung der Gewerkschaften vor allgemeinen Wahlen; das sei mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit nicht zu vereinbaren. In einer früheren Entscheidung hatte das BVerfG allerdings die „freie Darstellung der in ihnen verkörperten Gruppeninteressen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien" durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt gesehen. 193 Die Literatur ist i m wesentlichen dem B A G gefolgt 1 9 4 , auch wenn sich an dessen Abgrenzung - zu Recht - kritisieren läßt, daß dieses zwei nicht näher defi-
188 LAG München 07. 07. 1987 LAGE Nr. 8 zu Art. 9 GG. 189 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 174. 190 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 326; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 179; vgl. auch: BAG 14.02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 191 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 192 BVerfG 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (138 f.). 193 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305). 194 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 186 f.; Stege/ Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 24; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 162; Schönfeld, BB 1989, S. 1818 (1820); Kunze, FS BAG, S. 315 (317); Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (52 f.).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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nierte Begriffe - „allgemeinpolitischer Inhalt" und „unmittelbarer Bezug zum Koalitionszweck" - v o r g i b t . 1 9 5 In wichtigen Einzelfragen - Propaganda der Gewerkschaften gegen die Neufassung von § 116 A F G - führte die Anwendung dieser Formel denn auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. 196 Eine Lösung des Problems muß zwei Gesichtspunkte berücksichtigen: Zum einen geht es um die Frage, inwieweit Art. 9 Abs. 3 GG auch politische Stellungnahmen von Gewerkschaften schützt. Wichtiger noch ist allerdings der zweite Gesichtspunkt, inwieweit die Grundrechte des Arbeitgebers - insbesondere der Schutz des Betriebsfriedens - Einschränkungen der Freiheit der Gewerkschaften erfordern. Hinsichtlich des ersten Gesichtspunkts muß man großzügig sein. Es hat sich - nicht zuletzt aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit - die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Arbeitsbedingungen, also das ureigene Zuständigkeitsgebiet der Gewerkschaften, nicht i m luftleeren Raum ausgehandelt werden, sondern eng mit den Wirtschaftsbedingungen verknüpft sind. Diese werden von einer Vielzahl von Voraussetzungen - wirtschafts-, Steuer- oder sozialrechtlicher Art - mitbestimmt. Damit kann es den Gewerkschaften nicht verwehrt werden, zu diesen Themen Stellung zu nehmen. Dafür spricht auch, daß Art. 9 Abs. 3 GG ausdrücklich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erwähnt. Die h M geht dabei davon aus, daß beide Begriffe kumulativ zu verstehen sind, so daß das Begriffspaar „die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird", umfaßt. 1 9 7 Für den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG muß es also ausreichen, wenn ein Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen vorliegt. Die Bedeutung dieser Abgrenzung wird zudem dadurch gemindert, daß auch außerhalb dieses weiten Themenbereiches Stellungnahmen der Gewerkschaften möglich sind, nur daß sie nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG, sondern durch Art. 5 GG geschützt werden. 1 9 8 Auch wenn es zweifelhaft ist, ob der DGB seine Kampagne zur letzten Bundestagswahl 1998 („Deine Stimme für den Politikwechsel") auf Art. 9 Abs. 3 GG stützen konnte, nahm er auf jeden Fall das Grundrecht der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG wahr. Gleiches gilt für Stellungnahmen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen.
195 Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 297; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 162. '96 Gegen Zulässigkeit der Propaganda: LAG Köln 06. 11. 1986 DB 1987 S. 54; Arbeitsgericht Regensburg 02. 04. 1986 - 3 GA 2/86 (zitiert nach Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 24); für Zulässigkeit: Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 188. 197 Söllner, ArbRdGgw Bd. 16 (1979), S. 19 (21); Badura, ArbRdGgw Bd. 15 (1978), S. 17 (27); Schaub, RdA 1995, S. 65 (66); aA: Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 46, der die „Wirtschaftsbedingungen" als das Gegenstück der Arbeitsbedingungen auf Arbeitgeberseite versteht. 198 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 296.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Dagegen, daß die Reichweite von Art. 9 Abs. 3 GG überhaupt beschränkt wird, wird vorgebracht, daß die Gewerkschaften ihre Aufgaben und ihre Politik selbst und frei bestimmten, so daß sie auch i m Rahmen ihrer freien Selbstbestimmung entscheiden könnten, welche politischen Aussagen sie träfen und welche Parteien sie unterstützen w o l l t e n . 1 9 9 Dem kann aber in dieser Weite nicht gefolgt werden. Art. 9 Abs. 3 GG gibt den Gewerkschaften ein klares Aufgabengebiet: die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen. Bei allen Schwierigkeiten, dieses Aufgabengebiet einzugrenzen, kann diese Eingrenzung nicht durch die autonome Entscheidung der Gewerkschaften ersetzt werden. Andernfalls wäre die Koalitionsfreiheit ein Selbstermächtigungsgrundrecht, daß - zumindest weitgehend unbeschränkbar - den Koalitionen Grundrechtsschutz gewähren würde. Ein solches Supergrundrecht wäre i m GG systemfremd. Die Väter und Mütter des GG gingen auch vom historischen Bestand der Gewerkschaftsbewegung aus und definierten anhand dieses historischen Bestandes Zweck und Aufgaben der Koalitionen. Auch aus der Tatsache, daß die Koalitionen weitgehende Freiheit hinsichtlich der Mittel, die sie einsetzen wollen, haben, 2 0 0 kann man nicht folgern, daß das auch hinsichtlich des Zwecks gelte. 2 0 1 Daß die Gewerkschaften zu einem weiten Themenspektrum Stellungnahmen abgeben können, heißt aber noch nicht, daß sie das auch i m Betrieb dürfen. Dagegen steht das Interesse des Arbeitgebers an der Wahrung des Betriebsfriedens. Aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG , dessen Wertung hier als mittelbar grundrechtsprägende Norm berücksichtigt werden k a n n , 2 0 2 läßt sich ableiten, daß zumindest die parteipolitische Betätigung im Betrieb eine abstrakte Gefährdung des Betriebsfriedens darstellt. 2 0 3 Zwar gilt § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG unmittelbar nur für Arbeitgeber und Betriebsrat, nicht aber für den einzelnen Arbeitnehmer. 2 0 4 Das spricht jedoch nicht dagegen, die Norm als Orientierungsmarke für die Grenzen der politischen Betätigung der Gewerkschaften im Betrieb heranzuziehen. 205 Die Gewerkschaften sind mit einem einzelnen Arbeitnehmer, der mit einem Kollegen ein Gespräch über politische Themen beginnt oder eine politische Plakette trägt, nicht zu vergleichen. 2 0 6 199 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 311. 200 Vgl. BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (304). 201 aA: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 311. 202 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 125; Rüthers, RdA 1968, S. 161 (176); Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53); Bötticher, RdA 1978, S. 133 (138 f.); aA: Kunze, FS BAG, S. 315 (322); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 286. 203 Vgl. BAG 13. 09. 1977 AP Nr. 1 zu § 42 BetrVG 1972; BAG 21. 02. 1978 AP Nr. 1 zu § 74 BetrVG 1972; EK - Hanau!Kania, BetrVG, § 74 RdNr. 21. 204 Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 331; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 74 RdNr. 24; EK - Hanaul Kania, BetrVG, § 74 RdNr. 22. 205 So auch: Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53) - § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG als „Anhaltspunkt". 206 Zur politischen Betätigung eines einzelnen Arbeitnehmers im Betrieb vgl. BAG 09. 12. 1982 AP Nr. 73 zu § 626 BGB; Kissel, NZA 1988, S. 145 ff.; Bäumer, BIStSozAR 1981,
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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Schon die hinter den Gewerkschaften stehende Verbandsmacht gibt ihren Äußerungen ein höheres Gewicht, das nicht- oder andersorganisierte Arbeitnehmer leichter zu einer Gegenreaktion herausfordert. Diese Gefahr kann noch verstärkt werden, wenn die Gewerkschaften ihre politische Stellungnahme durch Plakataushang oder durch Verteilen von Flugblättern abgeben, da hier die Meinung in wesentlich massiverer Weise verbreitet wird, als das ein einzelner Arbeitnehmer jemals könnte. Von der politischen Betätigung der Gewerkschaften i m Betrieb geht also eine größere Gefahr für den Betriebsfrieden aus als von Maßnahmen eines einzelnen Arbeitnehmers. Ein weiteres Argument ergibt sich wiederum aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG. Die Norm schränkt politische Stellungnahmen von Betriebsrat und Arbeitgeber ein. A u f eine Äußerung der Gewerkschaften, die außerhalb des von § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG gesteckten Rahmens liegt, könnte der Arbeitgeber nicht mehr mit einer Gegenäußerung reagieren, sondern müßte sie in seinem Betrieb widerspruchslos hinnehmen. Damit hat der Arbeitgeber grundsätzlich ein sachlich begründetes Interesse daran, den Gewerkschaften - nicht aber dem einzelnen Arbeitnehmer 2 0 7 - die politische Betätigung zumindest außerhalb des von § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG gesteckten Rahmens zu untersagen. Beim nötigen Ausgleich zwischen den Interessen der Gewerkschaften und den Interessen des Arbeitgebers kommt es vor allem auf das Gewicht des Interesses an, das die Gewerkschaften haben können, politische Stellungnahmen i m Betrieb abzugeben. Dieses Interesse ist umso größer, je größer die Bedeutung der politischen Frage für den Betrieb ist. Das legitime Interesse der Gewerkschaften, im Betrieb auch die nicht organisierten Arbeitnehmer zu erreichen, ist für diese Fälle nicht von der Hand zu weisen. Die Gewerkschaften müssen die Personen, die von der Frage betroffen sind - also die Arbeitnehmer - auch erreichen können. 2 0 8 Das Interesse des Arbeitgebers, mögliche Störungsquellen vom Betrieb fernzuhalten, muß dahinter zurückstehen. Die zulässigen Themen für gewerkschaftliche Stellungnahmen sind damit einmal die in § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG genannten Angelegenheiten „tarifpolitischer, sozialpolitischer und wirtschaftlicher Art' 4 . Darüber hinaus gehören dazu alle Themen, die für die Arbeitsbedingungen und Einkommensverhältnisse der Arbeitnehmer von Bedeutung sind, also das individuelle Arbeitsrecht, aber auch steuerrechtliche Fragen wie ζ. B. zur Einkommenssteuer. Auch zu Fragen des kollektiven Arbeitsrechts müssen sich die Gewerkschaften äußern können. Eine Äußerung zu
S. 337 ff.; Preis/Stoffels, RdA 1996, S. 210 ff.; Meisel, RdA 1976, S. 38 ff.; Mummenhoff, DB 1981, S. 2539 ff.. 207 Für diese gelten die allgemeinen Regeln; vgl. oben 3. Teil, 1. Kap., III 3. 2 08 Hier gilt das gleiche wie bei der Präsenz der Wählerschaft bei der Wahlwerbung für Personalratswahlen; vgl. BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). 11 Brock
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
§ 1 1 6 A F G kann den Gewerkschaften nicht versagt werden, da die Gesetzesänderung unmittelbar die Gewerkschaften betrifft und Einfluß auf deren Kampfkraft und Durchsetzungsfähigkeit h a t . 2 0 9 Hier müssen die Gewerkschaften das Recht haben, den Arbeitnehmern ihre Ansicht zu der Gesetzesänderung - die diese auch zumindest mittelbar betrifft - mitzuteilen. Hinsichtlich von Stellungnahmen zum Betriebsverfassungsrecht ergibt sich das Recht der Gewerkschaften aus der starken Stellung, die das BetrVG den Gewerkschaften einräumt. Ahnlich wie bei § 74 Abs. 2 S. 3 B e t r V G 2 1 0 haben die Gewerkschaften auch das Recht, sich zu Themen zu äußern, die den oben genannten Themenkreis überschreiten, aber für die wirtschaftliche Zukunft des Betriebes von Bedeutung sind. Da diese Fragen für die Zukunft der Arbeitnehmer, die auch vom weiteren wirtschaftlichen Schicksal des Betriebs abhängt, wichtig sind, haben die Gewerkschaften das Recht, die Arbeitnehmer über ihre Position zu informieren. Problematisch werden wird dieser Punkt allerdings kaum einmal. In der Vergangenheit arbeiteten Arbeitgeber und Gewerkschaften hier eher i m gemeinsamen Interesse zusammen. So organisierte die IG BCE Demonstrationen zugunsten des vom Arbeitgeber, der Rheinbraun A G , geplanten Tagebaus Garzweiler II. M i t Widerstand des Arbeitgebers ist dann kaum zu rechnen. Nur zu Themen, die keinen Bezug zum Betrieb und zur Situation der Arbeitnehmer haben, wie im Regelfall außen- und sicherheitspolitische Angelegenheiten oder die rein parteibezogene Propaganda, 211 dürfen sich die Gewerkschaften i m Betrieb nicht äußern. Hier entfällt das Interesse der Gewerkschaften, gerade die Arbeitnehmer i m Betrieb erreichen zu können; Stellungnahmen können genausogut gegenüber der Öffentlichkeit abgegeben werden. Da kein Zusammenhang zwischen dem Thema und dem Betrieb mehr gegeben ist, greift auch das Prinzip des Sachzusammenhangs nicht ein. Das Interesse des Arbeitgebers ist damit schutzwürdiger. Unberührt davon bleibt aber das Recht der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder auf politische Betätigung i m Betrieb.
§ 8 Die Werbung der Gewerkschaften vor Betriebsratswahlen Seit dem Grundsatzbeschluß des BVerfG zur Wahl Werbung vor Personalratsw a h l e n 2 1 2 ist auch die Befugnis der Gewerkschaften, vor Betriebsrats wählen zu werben, nicht mehr umstritten. 2 1 3 209
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 188; aA: LAG Köln 06. 11. 1986 DB 1987 S. 54. 2 >o Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 74 RdNr. 51. 211 Dazu gehört auch die rein auf Wahlen bezogene Betätigung. Die Unrechtmäßigkeit im Betrieb - der Aktion der Gewerkschaften zur Bundestagswahl 1998 („Deine Stimme für den Politikwechsel") fällt darunter. Das ergibt sich auch aus den Grundsätzen des BVerfG in der Entscheidung 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (138 f.). 2 2 ' BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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Die Rechtsgrundlage für diese Befugnis wird i m Anschluß an diesen Beschluß des B V e r f G 2 1 4 in Art. 9 Abs. 3 GG gesehen, da auch die Betriebsverfassung der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen diene. Aus der gleichen Zielrichtung von Betriebsräten und Gewerkschaften folge das Recht der Gewerkschaften, auf die Betriebsräte Einfluß zu nehmen, um eine optimale Interessenwahrnehmung durch die Betriebsräte zu gewährleisten. Gegen diese Rechtsprechung wurde die Kritik vorgebracht, damit werde der Einfluß des Betriebsrats (bzw. Personalrats) auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen überschätzt, in Wahrheit sei der vom BVerfG gesehene Zusammenhang nur ein sehr mittelbarer. 2 1 5 Zudem hätten die Gewerkschaften - zum damaligen Zeitpunkt - noch nicht einmal ein Wahlvorschlagsrecht gehabt, so daß nicht nachzuvollziehen sei, weshalb sie ein Recht zur Unterstützung einer Liste haben sollten. 2 1 6 Der Gesetzgeber hat dieser Kritik i m Änderungsgesetz von 1989 (BGBL. I S. 2386) die Grundlage entzogen. Er gab den Gewerkschaften in § 14 Abs. 5 BetrVG ein eigenes Wahl vorschlagsrecht. Der Gesetzgeber hat damit den Einfluß der Gewerkschaften auf die Betriebsverfassung deutlich gestärkt. 2 1 7 Der damaligen Kritik an der Diskrepanz zwischen der Rechtsprechung des BVerfG und der Gesetzeslage hat der Gesetzgeber mit der Gesetzesänderung implizit recht gegeben, indem er gerade die Entscheidung des BVerfG als Element der Gesetzesbegründung heranzog 2 1 8 und die gerügte Diskrepanz beseitigte. Damit gibt es keine Zweifel mehr am Recht der Gewerkschaften, vor Betriebsratswahlen Wahlwerbung durchzuführen, auch wenn das BetrVG ein solches Werberecht nicht ausdrücklich vorsieht. Allerdings kann dieses Recht nicht allein den Gewerkschaften zustehen, sondern muß auch den übrigen Kandidaten und ihren Unterstützern zukommen. Diese können sich zwar nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG als Anspruchsgrundlage berufen, da es ihnen zwangsläufig an der Überbetrieblichkeit als wichtigem Element der Koalitionseigenschaft 2 1 9 fehlt. Das BetrVG sieht aber in § 14 Abs. 5 BetrVG gleichberechtigt die Kandidatur gewerkschaftlicher wie gewerkschaftsfremder Listen vor. Das Recht auf Wahlwerbung allein den Gewerkschaften zuzubilligen, während die gewerkschaftsfremden innerbetrieblichen Listen keine Wahlwerbung betreiben dürften, ist mit den Grundsätzen einer demokratischen Wahl nicht zu vereinbaren. Eine freie und demokratische Wahl setzt zumin-
213 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 246; Hess/Schlochauer / Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 89; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 81; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 63; Söllner, JZ 1966, S. 401 (405); Richardi, RdA 1972, S. 8(13). 2 14 Vgl. BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (312). 215 Zöllner, SAE 1966, S. 162 (164). 216 Zöllner, SAE 1966, S. 162 (164); Hiersemann, DB 1966, S. 702 (704). 2
17 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 14 RdNr. 62; zur Kritik an dieser Gesetzesänderung vgl. Hanau, AuR 1988, S. 261 (264); Richardi, AuR 1986, S. 33 (34). 2 ·8 Vgl. auch: Buchner, NZA Beil 1/89, S. 3. 2 ·9 Vgl. Söllner, Arbeitsrecht, S. 60; aA: BroxIRüthers, Arbeitsrecht, RdNr. 236. 11*
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dest gleiche Erfolgschancen für alle Wahlbewerber voraus. M i t diesem Grundsatz ist es nicht zu vereinbaren, bestimmte Gruppen durch bessere Werbungschancen vor der Wahl zu bevorzugen. I m Kern gelten hier die gleichen Gedanken, wie sie das BVerfG für die Wahlwerbung der Gewerkschaften vor allgemeinen Wahlen aufgestellt h a t . 2 2 0 Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß der Einfluß der Gewerkschaften auf den Betriebsrat wegen der höheren Professionalität der Gewerkschaftsmitglieder, die sich auch auf die Erfahrungen ihrer Gewerkschaft stützen können, ausdrücklich erwünscht ist. Das rechtfertigt keine bewußte Benachteiligung anderer Bewerbergruppen. Ein entscheidender Vorteil der Gewerkschaften liegt ohnehin schon darin, daß sie wegen ihrer besseren Organisation effektiver werben können. Ein Werberecht vor Betriebsratswahlen steht den Arbeitnehmern des Betriebs wie auch den Gewerkschaften z u . 2 2 1 Die Wahl Werbung ist wesentlicher Teil einer demokratischen W a h l . 2 2 2 Das Recht auf Wahlwerbung ergibt sich damit schon aus analoger Anwendung von § 14 Abs. 1 und Abs. 5 BetrVG. Für die Gewerkschaften tritt zusätzlich zu dieser Anspruchsgrundlage noch Art. 9 Abs. 3 G G . 2 2 3 Die anderen Arbeitnehmer des Betriebs können sich nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen, wohl aber auf Art. 5 G G . 2 2 4
3. Abschnitt
Einzelne Mittel der Werbung und Betätigung § 9 Gespräche Die Werbung durch Gespräche wird allgemein für zulässig gehalten. 2 2 5 Das B A G bezog sich bei Fällen, in denen auch über Gespräche zu entscheiden war, allein auf die Umstände, problematisierte das Gespräch als solches aber n i c h t . 2 2 6 In der Tat ist gegen die Werbung durch Gespräche als solche kaum etwas einzuwenden. Das Gespräch ist die einfachste und unmittelbarste Kommunikations220 Vgl. BVerfG 28. 04. 1976 E 42 S. 133 (138). 221 Däubler I Kittner ! Klebe, BetrVG, § 20 RdNr. 19; GK - Kraft, BetrVG, § 20 RdNr. 19; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 20 RdNr. 12; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 20 RdNr. 10; Stege / Weinspach, BetrVG, § 20 RdNr. 7; Fitting I KaiserI Heiter I Engels, BetrVG, § 20 RdNr. 18a; EK - Eisemann, BetrVG, § 20 RdNr. 7. 222 BAG 02. 12. 1960 AP Nr. 2 zu § 19 BetrVG. 223 Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, § 20 RdNr. 19. 224 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 20 RdNr. 18a; EK - Eisemann, BetrVG, § 20 RdNr. 7. 225 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 250; Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 7; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 354. 226 Vgl. BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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f o r m . 2 2 7 Wenn sich eine Grundrechtsverletzung des Arbeitgebers nicht aus den Umständen des Gesprächs ergibt, etwa durch ein Gespräch während der Arbeitszeit oder durch eine aggressive Gesprächsführung, ist eine Grundrechtsbeeinträchtigung sicher auszuschließen. Probleme können sich also allenfalls aus den Umständen des Gesprächs ergeben. Hier kann insbesondere die Gefahr einer Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Kollegen gegeben sein, da bei einem Gespräch das Risiko, den Gesprächspartner zu bedrängen, höher ist als beispielsweise bei Plakaten oder Flugblättern. Zu einer generellen Unzulässigkeit von Gesprächen kann diese Besorgnis aber nicht führen.
§ 10 Die Verteilung von Schriften, insbesondere Flugblättern Allgemein anerkannt ist auch die Verteilung von Werbematerial und Flugblättern i m Betrieb. 2 2 8 Für die Richtigkeit dieser Ansicht spricht, daß die Gewerkschaften nicht allein auf die verbale Kommunikation verwiesen werden können. Gerade komplizierte Sachverhalte lassen sich in der für die Gewerkschaften verfügbaren Zeit mündlich oftmals nicht richtig darstellen; zudem setzt die verbale Werbung eine gewisse rhetorische Geschicklichkeit des Werbenden voraus. Diese wird nicht immer vorliegen; mit der Hilfe vorformulierter, schriftlicher Erklärungen kann die Gewerkschaft diese Schwierigkeiten aber umgehen. Zudem kann sich der beworbene Arbeitnehmer nur anhand schriftlichen Materials zu Hause eingehend mit der Frage eines Gewerkschaftsbeitritts oder mit der gewerkschaftlichen Stellungnahme beschäftigen. Gegenrechte des Arbeitgebers müssen hinter diese erheblichen Interessen der Gewerkschaften zurücktreten. Zwar ist durch die Verteilung von Schriften der Arbeitsablauf potentiell gefährdet, da nicht ausgeschlossen werden kann, daß Arbeitnehmer die Schriften während der Arbeitszeit lesen. Das B A G meinte zwar, es gebe keinen allgemeinen Erfahrungssatz, daß die Arbeitnehmer die verteilten Schriften während ihrer Arbeitszeit lesen, 2 2 9 auszuschließen ist das aber nicht. Entscheidend ist vielmehr, daß diese - für die Gewerkschaft kaum kontrollierbare Gefahrenlage der Gewerkschaft nicht zurechenbar ist. Diese kann insoweit darauf vertrauen, daß sich die Arbeitnehmer rechtmäßig verhalten. Die Gewerkschaft setzt - wenn der Arbeitnehmer das Flugblatt in seiner Arbeitszeit liest - nicht mehr als einen Anlaß für den Vertragsbruch. Ob es zu einem solchen kommt, hängt allein von der freien Entscheidung des einzelnen Arbeitnehmers ab. Die von der Ge227
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 354. 8 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 252; Däubler ! Kittner I Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 47; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 162; Hess / Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 91; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 267; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 355. 22 9 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 22
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
werkschaft gesetzte Gefahrenlage ist hier nicht größer als die, die der Kiosk vor dem Werkstor setzt. Selbst wenn man hier eine Mitverantwortung der Gewerkschaft bejahen wollte, wäre das erhebliche Interesse der Gewerkschaft an der Werbung durch Schriftenverteilung höher zu bewerten als das Interesse des Arbeitgebers am Ausschluß jeder möglichen Störung. Dieselbe Abgrenzung nach Verantwortungsbereichen gilt auch hinsichtlich einer möglichen Verschmutzung des Betriebs durch weggeworfene Flugblätter. Solange die Gewerkschaft die Schriften einzeln an die Arbeitnehmer verteilt oder an einer Stelle so auslegt, daß Interessenten sich bedienen können, geht von der Gewerkschaft unmittelbar keine derartige Störung aus. Eine solche kann nur ausgehen von Arbeitnehmern, die die Schriften einfach auf den Boden werfen. Das durch die Flugblätter erhöhte Müll- bzw. Altpapieraufkommen im Betrieb mag den Arbeitgeber zwar belasten. Wegen der Wichtigkeit der Schriftenverteilung für die Gewerkschaften hat das Interesse des Arbeitgebers an einem Ausschluß dieser Störung aber zurückzutreten. Auch kann der Arbeitgeber von der Gewerkschaft verlangen, daß diese weggeworfene Flugblätter wieder beseitigt. 2 3 0 Die Verteilung von Schriften i m Betrieb ist also grundsätzlich zulässig: Allerdings betrifft das nur die Verteilung von Hand zu Hand an die Arbeitnehmer des Betriebs allgemein bzw. die Auslage an einer bestimmten Stelle. Sonderprobleme - die Verteilung über Postverteilungssysteme des Arbeitgebers und die Verteilung nur an Gewerkschaftsangehörige - werden später erörtert.
§ 11 Der Einsatz eines Megaphons Den Einsatz eines Megaphons als Mittel zur Werbung und Information halten Däubler 2 3 1 und B e r g 2 3 2 für rechtmäßig: Mündlich sei die Information der Arbeitnehmer schneller und mit weniger Aufwand möglich. Das Problem der Beseitigung von Flugblättern entfalle. Solange keine Störung der betrieblichen Ordnung vorliege, wie zum Beispiel bei der Benutzung während der Pausen, gebe es keine rechtlichen Bedenken. 2 3 3 Durch den Einsatz eines Megaphons kann das Problem des bei der Verteilung von Flugblättern unweigerlich anfallenden Mülls vermieden werden. Das Problem ist aber ein anderes: Während bei Flugblättern die Freiwilligkeit der Arbeitnehmer hinsichtlich der Informationsaufnahme gewahrt bleibt - jeder kann entscheiden, ob er ein Flugblatt nimmt und ob er es liest - ist das beim Einsatz eines Megaphons 230 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 248. 231 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 372. 232 Däubler I Kittner ! Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 47. 233 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 372.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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nicht möglich. Die Einsatzmöglichkeit, die Däubler vorschwebt, ist wohl, das Megaphon während der Pausen i m Pausenraum oder in der Kantine einzusetzen. Damit muß sich jeder, der sich im Raum aufhält, die entsprechenden gewerkschaftlichen Ausführungen anhören. Andere Aktivitäten wie private Gespräche oder die Zeitungslektüre werden erheblich gestört. Diese aufdringliche akustische Präsenz, mit der die entsprechenden Räume in Beschlag genommen werden, spricht gegen den Einsatz eines Megaphons. Die Gewerkschaft kann sowohl über Flugblätter als auch auf akustisch weniger belästigende Weise werben und informieren. Das Interesse des Arbeitgebers, den Betriebsfrieden zu schützen, wiegt hier stärker, so daß er den Einsatz eines Megaphons nicht hinnehmen muß. Bei einer gewerkschaftlichen Versammlung i m Betrieb darf ein Megaphon als akustisches Hilfsmittel nur eingesetzt werden, soweit andere Arbeitnehmer, die nicht an der Versammlung teilnehmen, nicht gestört werden. Gleiches gilt für gewerkschaftliche Lautsprecherdurchsagen.
§ 12 Die Plakatwerbung der Gewerkschaften im Betrieb Daß den Gewerkschaften auch die Möglichkeit optischer Präsenz i m Betrieb durch Anbringen von Aushängen und Plakaten gegeben werden muß, ist im Kern unbestritten. 2 3 4 Zwar greift die Bereitstellung von Aushangflächen in das Eigentumsrecht des Arbeitgebers gem. Art. 14 GG ein, jedoch überwiegt in diesem Falle das gewerkschaftliche Interesse an optischer Präsenz i m Betrieb. Die Gewerkschaft kann über die Aushangflächen ihre Zuständigkeit für den Betrieb zeigen. Der Plakataushang signalisiert den Arbeitnehmern, daß die Gewerkschaft ihre Zuständigkeit für den Betrieb wahrnimmt und deshalb als Interessenvertretung in Betracht kommt: Durch die Möglichkeit des Plakataushangs kann die Gewerkschaft im Betrieb Flagge zeigen. Das ist gerade auch für kleinere Gewerkschaften, die sich sonst umfangreichere Werbemaßnahmen finanziell oder personell nicht leisten können, von erheblicher Bedeutung. Nicht zuletzt trägt die gleichberechtigte optische Präsenz aller für den Betrieb zuständigen Gewerkschaften der Forderung des Koalitionspluralismus Rechnung. Zudem hat diese Werbemöglichkeit für die Gewerkschaften deshalb eine hohe Bedeutung, weil sie ohne großen personellen, finanziellen und vor allem zeitlichen 234 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; LAG Frankfurt / Main 16. 04. 1971 DB 1972 S. 1027; LAG Frankfurt/Main 16. 01. 1973 BB 1973 S. 1394; Arbeitsgericht Hamburg 03. 02. 1982 AuR 1983 S. 280; Hess/Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 92; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 156; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 69; Stege/ Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 25; DäublerIKittnerIKlebe, BetrVG, § 2 RdNr. 47; EK Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 31; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 165; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 253. aA: Arbeitsgericht Wuppertal 29. 06. 1967 DB 1967 S. 1372 f.; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 89.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Aufwand die Arbeitnehmer i m Betrieb ansprechen können. Als „Dauerwerbemaßnahme" ermöglicht sie den Arbeitnehmern jederzeit und unabhängig von etwa durchgeführten Werbeaktionen, sich über die Gewerkschaften im Betrieb zu informieren. Die Werbung durch Schriftenaushang ist für den Arbeitsablauf und für den Betriebsfrieden - im Vergleich zu anderen Werbemaßnahmen - kaum belastend. 2 3 5 Dem steht zwar gegenüber, daß der Arbeitgeber verpflichtet wird, Anschlagflächen zur Verfügung zu stellen und damit die gewerkschaftliche Betätigung aktiv zu förd e r n , 2 3 6 so daß das Eigentumsrecht des Arbeitgebers und seine Koalitionsfreiheit berührt sind. Hinter die Wichtigkeit dieser Werbemöglichkeit für die Gewerkschaften müssen die Grundrechte des Arbeitgebers aber zurücktreten. Die Einigkeit, mit der die Möglichkeit des Plakataushangs i m Betrieb bejaht wird, endet allerdings bei der Frage, in welchem Umfang die Gewerkschaften Aushangflächen verlangen können. 2 3 7 Die hierzu vertretenen Ansichten reichen von der Zulässigkeit des wilden Plakatierens i m Betrieb 2 3 8 bis hin zur bloßen Mitbenutzung der allgemeinen Anschlagbretter. 239
I. Mitbenutzung vorhandener Anschlagbretter oder eigene Anschlagbretter der Gewerkschaften Der Mindestkonsens geht dahin, daß den Gewerkschaften die Mitbenutzung der üblichen Anschlagflächen i m Betrieb zu gestatten i s t . 2 4 0 Hier ist jedoch zunächst klarzustellen, daß damit nicht das Schwarze Brett des Betriebsrats gemeint sein kann. Die Benutzung der gleichen Aushangfläche kann leicht dazu führen, daß Gewerkschaften und Betriebsrat von den Arbeitnehmern als eine Einheit - die sie nicht sind - gesehen werden. Der Grundsatz der gewerkschaftspolitischen Neutralität des Betriebsrats würde unterlaufen. 2 4 1 Fraglich ist auch, ob man die Gewerkschaften auf die bloße Mitbenutzung der üblichen Anschlagtafeln verweisen kann, oder ob nicht gute Gründe dafür sprechen, ihnen eigene Schwarze Bretter zur Verfügung zu stellen. Die bloße Mitbenutzung beschränkt - gerade, wenn mehrere Gewerkschaften i m Betrieb vertreten sind -
235
Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 109. 6 Zu dieser Problematik vgl. Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (55); Richardi, FS Müller, S. 413 (438). 23
237
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 360. & Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 365. 239 LAG Hamm 18. 02. 1971 BB 1971 S. 1054. 23
240
Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 109; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 270; Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 25; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 156. 241 Vgl. Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 108.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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den zur Verfügung stehenden Platz sehr stark. Hier kann, was auch von der h M angenommen wird, vom Arbeitgeber verlangt werden, daß er weitere Anschlagflächen zur Verfügung stellt. 2 4 2 Das folgt aus der Wichtigkeit der Aushangflächen i m Betrieb für die Gewerkschaften, die erfordert, daß ihnen genügend Raum zur Selbstdarstellung i m Betrieb gegeben wird. Der Schriftenaushang darf nicht am bloßen Platzmangel scheitern, zumal die Zurverfügungstellung weiterer Flächen für den Arbeitgeber, der ohnehin verpflichtet ist, Aushangflächen zu schaffen, kaum stärker belastend ist. Wenn der Arbeitgeber ohnehin verpflichtet ist, den nötigen Raum zur Verfügung zu stellen, spricht das dafür, daß es ihm auch zumutbar ist, den Gewerkschaften jeweils eigene Aushangflächen - ggf. auch neben dem Schwarzen Brett oder als abgegrenzter Teil des Schwarzen Bretts - zuzuweisen. Vermieden werden dadurch ein Wettlauf mehrerer Gewerkschaften, sich durch Aushänge rechtzeitig hinreichend Fläche zu sichern, und die daraus resultierenden Streitigkeiten. Die durch die gleiche Größe der Aushangflächen deutlich gemachte gleiche Stellung der verschiedenen Gewerkschaften trägt dem Koalitionspluralismus Rechnung. Hauptgesichtspunkt ist aber, daß eine klare Trennung zwischen den Gewerkschaften bewirkt wird und Verwechslungen zwischen den Gewerkschaften vermieden werden, so daß diese den zur Verfügung stehenden Raum frei zur Selbstdarstellung nutzen können. Richtigerweise ist also davon auszugehen, daß die Gewerkschaften einen Anspruch auf eigene Aushangflächen haben, die eine hinreichende Größe besitzen, so daß auch ein normales Plakat aufgehängt werden kann. Festzulegen, wo sich diese Aushangflächen befinden, ist Sache des Arbeitgebers. 2 4 3 Der einfachste Weg, um festzulegen, wo sich die Schwarzen Bretter befinden, ist wohl eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften. 2 4 4 Die Gewerkschaften können allerdings nicht mehr vom Arbeitgeber verlangen, als daß er ihnen eine Wandfläche zuweist. Dort ein Schwarzes Brett oder einen Schaukasten aufzuhängen ist, wenn der Arbeitgeber das nicht freiwillig tut, Sache der Gewerkschaften. 245
II. Weitergehende Möglichkeiten des Plakataushangs und wildes Plakatieren Demgegenüber ginge der unbeschränkte Plakataushang durch die Gewerkschaften i m Betrieb zu w e i t . 2 4 6 Ihr Interesse an optischer Präsenz i m Betrieb kann nicht 242 LAG Hamm 18. 02. 1971 BB 1971 S. 1054; Hess/Schiochauer/ RdNr. 92; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 253. 243 Ähnlich: LAG Hamm 18. 02. 1971 BB 1971 S. 1054. 244 Vgl. LAG Frankfurt/Main 16. 04. 1971 DB 1972 S. 1027. 245 Arbeitsgericht Hamburg 03. 02. 1982 AuR 1983 S. 280.
Glaubitz, BetrVG, § 2
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
so weit gehen, daß sie den Betrieb optisch dominieren . Das würde das Eigentumsrecht des Arbeitgebers verletzen, der nicht mehr über die optische Gestaltung des Betriebsinneren entscheiden könnte. Das ist bei Räumen, in denen sich auch Kunden aufhalten, schon deshalb inakzeptabel, weil die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers zu entscheiden, wie er sich gegenüber seinen Kunden präsentiert, verletzt würde. Zudem ist nicht auszuschließen, daß Kunden ablehnend auf die Gewerkschaftsplakate reagieren. Aber auch bei Räumen ohne Kundenkontakt ist ein unbegrenztes Plakatieren im Betrieb nicht möglich. Der Arbeitgeber hat ein berechtigtes Interesse daran, selbst über die optische Gestaltung des Betriebs entscheiden zu können - das auch durch eine entsprechend freundliche Gestaltung des Betriebsinneren, die dem Betriebsergebnis zugute kommen kann. Zudem wären die Arbeitnehmer der dauernden Präsenz der gewerkschaftlichen Plakate - an ihrem Arbeitsplatz und gegen ihren Willen - ausgesetzt. Diese Dauerpräsenz der Gewerkschaftsplakate ist mit der negativen Koalitionsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer nicht zu vereinbaren. Das sieht Däubler, der ansonsten der Ansicht ist, die Gewerkschaften dürften i m Betrieb auch ohne Beschränkung auf Anschlagflächen plakatieren, 2 4 7 für den Aushang von Plakaten am Arbeitsplatz richtigerweise ähnlich: Wenn sich mehrere Arbeitnehmer ein Büro teilten, dürfe ein Plakat nicht gegen den Willen eines Arbeitnehmers aufgehängt werden. 2 4 8 Gegen den Willen des Arbeitgebers dürfen Gewerkschaftsplakate also nur an den vom Arbeitgeber zugewiesenen Aushangflächen aufgehängt werden. Wenn der Arbeitgeber allerdings die freie Gestaltung des Arbeitsplatzes gestattet, indem er beispielsweise erlaubt, daß eigene Plakate aufgehängt werden dürfen, können das grundsätzlich auch Gewerkschaftsplakate oder Kalender mit Gewerkschaftslogo sein. Allerdings liegt dann weniger eine Werbemaßnahme - mit Außen Wirkung auf Dritte - der Gewerkschaft selbst vor, als ein individuelles Bekenntnis des Arbeitnehmers zur Gewerkschaftszugehörigkeit. Wenn sich mehrere Arbeitnehmer ein Büro teilen, müssen sie sich allerdings einigen, ob und welche Plakate aufgehängt werden. 2 4 9
246 LAG Hamm 18. 12. 1971 BB 1971 S. 1054; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 248; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 157; Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 25; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 69; Klönne, Plakatwerbung, S. 109; Hanau, AuR 1983, S. 257 (261); Schönfeld, BB 1989, S. 1818 (1821); Pieroth, JuS 1979, S. 578 (582 f.); aA: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 365. 247 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 365. 248 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 626. 249 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 626.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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§ 13 Das Tragen von Abzeichen und Aufklebern Vor allem Ende der siebziger Jahre war es Mode, Plaketten zu tragen. 2 5 0 Das B A G hatte sich denn auch in einer Reihe von Entscheidungen mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Aufsehen erregte die Entscheidung des B A G vom 23. 02. 1979, 2 5 1 in der dieses feststellte, der Arbeitgeber könne das Tragen von - leicht wieder entfernbaren Gewerkschaftsaufklebern auf dem Arbeitgeber gehörenden Schutzhelmen verbieten. Die Entscheidung fand entschiedenem Widerspruch, 2 5 2 aber auch Zustimm u n g . 2 5 3 Das B A G hatte das Urteil auf die verletzten Eigentumsrechte des Arbeitgebers gestützt, aber keine Beeinträchtigung des Arbeitsablaufs erkennen können. Es verwies deshalb auch darauf, daß die Arbeitnehmer die Abzeichen genausogut an ihrer eigenen Kleidung hätten befestigen können. 2 5 4 Untersagt wurde vom B A G also nicht das Tragen von Abzeichen als solches, sondern nur die Benutzung des arbeitgebereigenen Helms. Damit sind die zwei entscheidenden Punkte der Prüfung angesprochen: Zum einen, ob auch Arbeitgebereigentum in Anspruch genommen werden kann, zum anderen, ob durch das Tragen von Abzeichen während der Arbeit der Arbeitsablauf, der Betriebsfrieden oder die negative Koalitionsfreiheit der Kollegen verletzt werden.
I. Die Benutzung von Arbeitgebereigentum Das Abzeichentragen auf Kleidungsstücken und Helmen, die dem Arbeitgeber gehören, ist nur ein Teil des - allgemeineren - Problems, inwieweit die Gewerkschaften Eigentum des Arbeitgebers für ihre eigenen Zwecke nutzen dürfen. Das Problem stellte sich schon bei der Bereitstellung von Schwarzen Brettern für die Gewerkschaften. Zu diesem Problem gehören auch die Nutzung betriebsinterner Postverteilungssysteme 255 und die Bereitstellung von Räumen durch den Arbeitgeber.256 250 Mayer-Maly AP Nr. 30 zu Art. 9 GG. 251 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 252 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 254 : „Die Entscheidung ist lächerlich."; Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (52): „Kleinlich"; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 370 - mit ungewöhnlichem außerjuristischen Lösungsvorschlag, vgl. RdNr. RdNr. 371; Zachert, AuR 1979, S. 358. 253 Buchner, SAE 1980, S. 192; Mayer-Maly AP 30 zu Art. 9 GG; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 15; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 89; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 239 RdNr. 165. 254 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG S. 209 f. 255 Vgl. unten 3. Teil, 2. Kap., 3. Abschnitt § 15. 256 Vgl. unten 3. Teil, 2. Kap., 7. Abschnitt § 32.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Inwieweit ist das Arbeitgebereigentum - i m Beispiel des vom B A G entschiedenen „Schutzhelmfalls" - nun betroffen? Der Arbeitgeber hat die Schutzhelme den Arbeitnehmern zur Verfügung gestellt; diese haben unmittelbaren Besitz an den Helmen. I m vom B A G entschiedenen Fall kam noch hinzu, daß der Arbeitgeber nach den gesetzlichen Unfallverhütungsvorschriften verpflichtet war, die Schutzhelme den Arbeitnehmern auf Lebensdauer zur Verfügung zu stellen. 2 5 7 Die Beziehung des Arbeitgebers zu den Helmen war also stark gelockert. Daß Interessen des Arbeitgebers gerade hinsichtlich des Eigentums an den Helmen ernsthaft beeinträchtigt sind, ist nur schwer zu erkennen. Mögliche Interessen des Arbeitgebers - wie ein einheitliches Erscheinungsbild der Arbeitnehmer oder die Wahrung des Betriebsfriedens - sind bei arbeitnehmereigenen Kleidungsstükken als Abzeichenträger genauso berührt, sind also kein Problem gerade des Eigentumsschutzes. Das B A G weist hier auf die Tatsache hin, daß sich die Gewerkschaft eigene Aufwendungen für die Werbung erspart. 2 5 8 Das kann allerdings kein durchgreifendes Argument sein, da die Werbung i m Betrieb der Gewerkschaft so gut wie immer andere - eigene - Aufwendungen erspart. Der andere vom B A G angesprochene Gesichtspunkt - die mögliche Vermietung der Schutzhelme an Dritte als Werbeträger durch den Arbeitgeber 2 5 9 - kann auch nicht recht überzeugen. Die Arbeitnehmer waren allein i m Betrieb tätig, hatten also kaum Kundenkontakt. Wer kann der mögliche Adressat dieser Werbung sein? Allenfalls die anderen Arbeitnehmer i m Betrieb. Es ist schon zweifelhaft, ob eine solche Werbung - auch i m Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer - überhaupt zulässig wäre. Die Gewerkschaften werben zwar auch i m Betrieb; hier liegt die Interessenlage wegen des engen Sachzusammenhangs zwischen Gewerkschaften und Betrieb aber anders. Zudem ist zweifelhaft, ob es den Arbeitnehmern überhaupt zumutbar ist, als Reklametafeln i m Betrieb zu dienen. Die Arbeitnehmer schulden den Einsatz ihrer Arbeitskraft, nicht die Tätigkeit als Plakatträger. Das kann zwar bei Arbeitnehmern mit Kundenkontakt anders sein, aber nicht bei Arbeitnehmern in der Produktion. Eine Beeinträchtigung des Sicherheitszwecks der Helme wie auch ihrer Substanz war, da die Abzeichen leicht wieder zu entfernen waren, auszuschließen. Ein sachlich berechtigtes Interesse 2 6 0 des Arbeitgebers ist nicht zu erkennen; sein Interesse ist nicht „konkret-materiell", sondern „abstrakt-ideell". 2 6 1 Wenn dagegen darauf hingewiesen wird, daß das Eigentum nicht nur in den Grenzen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs geschützt i s t , 2 6 2 so ist das richtig; nur heißt das
257 Zachert, AuR 1979, S. 358 (360). 258 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 259 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 260 Ein solches setzte das BAG in der Entscheidung zum Postverteilungssystem voraus; vgl. BAG 23. 07. 1985 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 316). 261 Vgl. Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
173
noch nicht, daß der formalen Rechtsposition bei der Abwägung mit entgegenstehenden Grundrechten das gleiche Gewicht zukommt wie einer Einschränkung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs. A u f der anderen Seite ist allerdings auch der Werbeeffekt für die Gewerkschaft durch einen kleinen Aufkleber am Helm denkbar gering. Allenfalls kann ein „Beflaggungseffekt" 2 6 3 eintreten, wenn alle in der Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer solche Abzeichen tragen und dadurch die Stärke der Gewerkschaft i m Betrieb zeigen. Dieser allerdings ist i m Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit der anderen Arbeitnehmer bedenklich, so daß dieser Beflaggungseffekt als Ausübung psychologischen Drucks gegen die Zulässigkeit dieses Werbemittels spricht. 2 6 4 Der nur geringfügigen Grundrechtsbeeinträchtigung auf Seiten des Arbeitgebers steht also auch nur ein ebenso minimaler Werbeeffekt auf Seiten der Gewerkschaft gegenüber. Wenn man - wie das B A G - den Streit allein in der Kollision der Koalitionsfreiheit mit dem Eigentum des Arbeitgebers sieht, spricht das dafür, daß die Benutzung der Schutzhelme als Werbeträger nicht erforderlich war, zumal j a - worauf das B A G hingewiesen hat - an den arbeitnehmereigenen Overalls Plaketten hätten getragen werden können. Aus dieser Sicht der Dinge war die Entscheidung des B A G in der Sache also richtig. Daß der Streit allerdings nicht auf den Gesichtspunkt „Benutzung von Arbeitgebereigentum" verengt werden darf, darauf hat Zöllner hingewiesen: M i t Hilfe der Aufkleber bekennen sich die Arbeitnehmer zu ihrer Gewerkschaftsangehörigk e i t . 2 6 5 Ob dieses Bekenntnis durch Art. 5 GG geschützt wird, wie Zöllner meint, ist jedoch zweifelhaft. Hier ist eher davon auszugehen, daß i m Rahmen der individuellen Koalitionsfreiheit, die auch eigene Betätigungsrechte umfaßt, das Bekenntnis zur eigenen Organisation geschützt wird; Art. 9 Abs. 3 GG ist dann das speziellere Grundrecht. Das Interesse der Arbeitnehmer, sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild zu ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft bekennen zu können, 2 6 6 ist ein Ausdruck der Persönlichkeit des Arbeitnehmers. Es geht den Arbeitnehmern um die Gestaltung ihres äußeren Erscheinungbildes. Dieser Aspekt wiegt schwerer als die bloß abstrakte Rechtsposition des Arbeitgebers. Auch daß evtl. die Möglichkeit besteht, das Abzeichen an der arbeitnehmereigenen Jacke anstatt am arbeitgebereigenen Helm zu tragen, erzwingt keine andere Beurteilung. Dem minimalen Interesse des Arbeitge-
262 Buchner, SAE 1980, S. 192 (193); Richardi, FS Müller, S. 413 (432). 263 Mayer-Maly AP Nr. 30 zu Art. 9 GG. 264 So auch: Mayer-Maly AP Nr. 30 zu Art. 9 GG; vgl. auch: Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 j). 265 Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 j). 266 Zur evtl. höheren Erforderlichkeit bei der individuellen Koalitionsfreiheit vgl. Hanau, AuR 1983, S. 257 (259).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
bers, seine Helme abzeichenfrei zu halten, steht hier zwar nur ein ebenfalls minimales Interesse der Arbeitnehmer gegenüber zu entscheiden, wo sie das Abzeichen tragen. Dieses Interesse der Arbeitnehmer ist als freie Entscheidung der Persönlichkeit aber gewichtiger als die abstrakt-ideelle Rechtsposition des Arbeitgebers, dem man, da kein sachlich begründetes Interesse für sein Verbot erkennbar ist, insoweit schon Schikane der Arbeitnehmer vorwerfen k a n n . 2 6 7
II. Das Tragen von Abzeichen im Betrieb allgemein Als zweiter Prüfungspunkt ist darauf einzugehen, inwieweit das Plakettentragen im Betrieb allgemein zulässig ist. Die Störung des Arbeitsablaufs dadurch, daß andere Arbeitnehmer von der Arbeit abgelenkt werden, ist mit dem B A G wohl auszuschließen. Das B A G erwähnt hier den Abstumpfungseffekt, der dadurch eintritt, daß sich die Kollegen an das Abzeichen gewöhnen. 2 6 8 Wenn mit den Abzeichen überhaupt die Gefahr einer Ablenkung verbunden wäre, könnte dieser Gedanke aber nicht begründen, warum das Abzeichentragen trotzdem zulässig sein soll: Schließlich hieße das, daß in der Zeit, bis die Abstumpfung eingetreten ist, sehr wohl Störungen auftreten können. Entscheidend ist wohl eher, daß von kleinen Abzeichen am Körper keine ernsthafte Ablenkung zu erwarten ist. Der Grad an Ablenkung, der von einem auffällig bedruckten T-Shirt ausgeht, ist höher. Soweit solche Ablenkungseffekte auftreten können, ist bei der nötigen Abwägung mit den Grundrechten des Arbeitgebers zudem zu berücksichtigen, daß die Kleidung Ausdruck der Persönlichkeit des Trägers ist. Schwieriger ist die Entscheidung hinsichtlich der Gefahr einer Störung des Arbeitsablaufs und einer Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Kollegen. Eine Gefahr ist hier nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Abzeichen wird den ganzen Tag und auch am Arbeitsplatz getragen, was zur Folge hat, daß sich die Kollegen dem Anblick nur schwer entziehen können. Die auftretenden Probleme sind hier vergleichbar mit denen bei der Plakatwerbung am Arbeitsplatz. Daraus die gänzliche Unzulässigkeit des Abzeichen- und Plakettentragens am Arbeitsplatz zu folgern, 2 6 9 geht aber zu weit. Durch das Tragen eines Gewerkschaftsabzeichens wird der Kollege nicht übermäßig belästigt; insbesondere hält sich eine Plakette mit dem Gewerkschaftslogo noch i m Rahmen dessen, was der Kollege in Abwägung mit dem Interesse des Gewerkschaftsmitglieds, sich zu seiner Gewerkschaft zu bekennen, ertragen muß.
267 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54). 268 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 269 Söllner, FS Herschel, S. 389 (400) - für Plaketten mit politischem Inhalt; aA: Bäumer, BIStSozAR 1981, S. 337 (341); Mummenhoff, DB 1981, S. 2539 (2542 f.).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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Was i m Einzelfall richtig ist, muß aber nicht i m großen Maßstab gelten, wenn nämlich die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer sämtlich Abzeichen tragen und dadurch die nicht organisierten Kollegen in die Rolle des „Schwarzen Schafes" drängen - der schon oben erwähnte „Beflaggungseffekt". 2 7 0 Soweit sich die organisierten Kollegen gegenüber dem Außenseiter korrekt verhalten, liegt kein Problem vor. Solange die Frage der Gewerkschaftszugehörigkeit im Verhältnis der Kollegen zueinander keine Rolle spielt, entstehen durch den Beflaggungseffekt keine weiteren negativen Effekte, so daß der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, das Plakettentragen allgemein zu verbieten. Allerdings scheint das nicht unbedingt der betrieblichen Realität zu entsprechen; dieser kann es auch entsprechen, daß die Außenseiter von den Gewerkschaftsmitgliedern schikaniert werden. 2 7 1 Dagegen einzuschreiten, ist der Arbeitgeber schon aus dem Gesichtspunkt der Wahrung des Betriebsfriedens berechtigt. Das bedeutet dann auch, den äußeren Anlaß der Diskriminierung auszuschalten: die Gewerkschaftsabzeichen. Aus diesem Grund ist ein generelles Verbot des Plakettentragens zwar nicht zu rechtfertigen. Wenn allerdings konkrete Tatsachen dafür sprechen, daß es zu einer Diskriminierung der Außenseiter kommt, ist der Arbeitgeber berechtigt, ein Verbot des Tragens von Gewerkschaftsabzeichen auszusprechen. 272
§ 14 Informationsstände Bisher noch nicht erörtert wurde die Frage, ob die Gewerkschaften i m Rahmen ihrer Werbeaktionen im Betrieb auch Informations- und Schriftentische aufstellen dürfen. Damit ist zwar eine geringfügige Inanspruchnahme des Arbeitgebereigentums verbunden; soweit die Grenzen, die für die Flugblattverteilung gelten - insbesondere, daß der Zu- und Abgang der Arbeitnehmer nicht erschwert oder behindert werden darf - eingehalten werden, drohen keine wesentlichen Störungen, die über die mit der Flugblattverteilung ohnehin schon verbundenen Risiken hinausgehen. Der Gewerkschaft ermöglicht der Schriftentisch, den Arbeitnehmern im Betrieb ein breiteres Angebot an Schriften anzubieten, als es bei einer bloßen Verteilung von Hand zu Hand möglich ist. Zudem ist der Schriftentisch ein guter Platz, um mit den Arbeitnehmern ins Gespräch zu kommen. Das Aufstellen eines Schriftentischs greift kaum merklich stärker in Rechte des Arbeitgebers ein als die - ohnehin zulässige - Schriftenverteilung von Hand zu Hand. Für die Gewerkschaft bietet er eine Reihe von Möglichkeiten zu einer besse270 Vgl. Mayer-Maly AP Nr. 30 zu Art. 9 GG; vgl. zu diesem Problem auch: Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222i f.). 271 Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222i f.); auch dem Verf. ist - allerdings von Arbeitgeberseite - von ähnlichen Schikanen in einem Unternehmen mit hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad berichtet worden. 272 Ebenso: Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222i f.).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
ren, die negative Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer aber nicht beeinträchtigenden Werbung. Das spricht dafür, daß - solange der Zu- und Abgang der Arbeitnehmer nicht gestört wird - , die Gewerkschaften auch einen Schriftentisch i m Betrieb aufstellen dürfen.
§ 15 Die Nutzung von Postverteilungssystemen des Arbeitgebers Das Urteil des B A G vom 23. 09. 1 9 8 5 2 7 3 , in dem dieses ein Verbot des Arbeitgebers an die Gewerkschaft, die betrieblichen Postfächer für die Verteilung von Gewerkschaftsinformationen zu verwenden, bestätigte, dürfte eines der wenigen Urteile des B A G zum Thema sein, das durch den Beschluß des BVerfG vom 14. 11. 1995 nicht schon von der rechtlichen Grundlage her überholt i s t . 2 7 4 Das B A G hat in diesem Urteil eine Abwägung zwischen dem Eigentumsrecht des Arbeitgebers und den Werbeinteressen der Gewerkschaft vorgenommen. 2 7 5 Es hielt die Nutzung des Postfachsystems durch die Gewerkschaft deshalb für unzulässig, weil der Arbeitgeber zu dem Verbot „sachlich berechtigt" sei: Nur so könne die Gefahr ausgeschlossen werden, daß zusammen mit den gewerkschaftlichen Informationen auch Dienstpost weggelegt oder weggeworfen werde. Diese Abwägung stieß allerdings nicht immer auf Zustimmung. 2 7 6 Die Ausgangsposition des B A G ist jedoch richtig: Daß der Verlust von Dienstpost zu Störungen des Arbeitsablaufs und damit zu einer Störung der Erfüllung des Betriebszwecks führen kann, bedarf wohl keiner näheren Darlegung. Damit hatte der Arbeitgeber ein Interesse daran sicherzustellen, daß die Post möglichst sicher verteilt wird. Störungen in diesem Verteilvorgang können vor allem auftreten, wenn zusätzlich zu der Dienstpost noch weitere Sendungen beigelegt werden: Der dann erforderliche Sortiervorgang zwischen privaten Mitteilungen und der Dienstpost birgt die Gefahr, daß Dienstpost verlorengeht. Gegen das Ergebnis des B A G ist eingewendet worden, daß keine wirkliche Gefahr bestehe, zeige sich schon daran, daß auch Privatpost über die Postfächer verteilt werde. 2 7 7 Das wäre sicher dann ein durchschlagendes Argument, wenn wirklich Privatpost innerbetrieblich verteilt worden wäre, das heißt, wenn die Arbeitnehmer des Betriebs das Recht gehabt hätten, Privatpost selbst in die Fächer zu legen. Bei der verteilten Privatpost handelte es sich jedoch um auf dem Postwege eingehende Sendungen. 2 7 8 Es ist ein Unterschied, ob der Arbeitgeber diese auf 273 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG. 274 aA: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 357. 275 Bauschke AP Nr. 45 zu Art. 9 GG. 276 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 357; Däubler, DB 1998, S. 2014 (2016); aA: Schönfeld, BB 1989, S. 1818 (1821). 277 Bauschke AP Nr. 45 zu Art. 9 GG. 278 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG (S. 317).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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dem Postwege eingehenden Sendungen, auf deren Absender er regelmäßig keinen Einfluß hat, weiterverteilt, oder ob er das Postfachsystem den Beschäftigten des Betriebs allgemein für private Mitteilungen zur Verfügung stellt. I m letzteren Falle kann davon ausgegangen werden, daß eine Gefahr für die Dienstpost nicht gegeben ist. Ein weiteres Problem besteht darin, daß über das Postverteilungssystem die Gewerkschaften ihre Schriften den Arbeitnehmern aufdrängen können, auch wenn diese an den betreffenden Schriften nicht interessiert sind. Hier drängt sich die Parallele zur unerwünschten Briefkastenwerbung auf - der Briefkasteninhaber kann mittels eines aufgebrachten Hinweises den Einwurf von Werbesendungen verhind e r n . 2 7 9 I m Aufdrängen von Werbung liegt zugleich auch ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. 280 Die gleichen Maßstäbe müssen auch hinsichtlich der Gewerkschaftswerbung i m Betrieb gelten. Hier wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht noch durch die negative Koalitionsfreiheit unterstützt. Da entsprechende Hinweise auf den Postfächern dem Arbeitgeber nicht zumutbar sind, besteht eine Gefährdung der negativen Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer. Allerdings ist hier die Gefahr einer Störung des Betriebsfriedens - nicht zuletzt wegen des anonym bleibenden Absenders - eher gering; allein tragen könnte dieser Aspekt das Verbot der Benutzung wohl nicht. Zusammengefaßt hatte der Arbeitgeber also ein konkretes Interesse daran, auf seinem Eigentum zu bestehen; zudem verlangte die Gewerkschaft hier nicht die bloße Duldung der Benutzung, sondern, daß ihr - i m Vergleich zu den übrigen Arbeitnehmern - Sonderrechte eingeräumt werden, also eine aktive Förderung. Beeinträchtigt sind also die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers, sein Eigentum und seine Koalitionsfreiheit. Zur Erforderlichkeit der Nutzung für die Gewerkschaften: Allgemein erlaubt die Nutzung derartiger Postverteilungssysteme des Arbeitgebers den Gewerkschaften, ihre Schriften einfach und ohne großen personellen und zeitlichen Aufwand i m Betrieb zu verteilen. Das kann gerade dann, wenn nur wenige Gewerkschaftsmitglieder i m Betrieb aktiv sind, für die Gewerkschaften von großer Bedeutung sein. Der aus Gewerkschaftssicht hinzutretende Vorteil, so alle Arbeitnehmer des Betriebs erreichen zu können, ist allerdings i m Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit der Kollegen eher bedenklich. I m vom B A G entschiedenen Fall lag eine noch höhere Erforderlichkeit der Nutzung durch die Gewerkschaft vor. Der fragliche Betrieb verfügte über zum Teil weit auseinanderliegende Betriebsstätten und unterschiedliche Arbeitszeiten. Dadurch war die effektive Werbung für die Gewerkschaft stark erschwert.
279 BGH 20. 12. 1988 NJW 1989 S. 902; OLG Bremen 18. 06. 1990 NJW 1990 S. 2140 f.; vgl. dazu auch: Löwisch, NJW 1990, S. 437. 280 BGH 20. 12. 1988 NJW 1989 S. 902. 12 Brock
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Das B A G hat trotz dieser hohen Erforderlichkeit für die Gewerkschaft die Zulässigkeit der Benutzung des Postverteilungssystems verneint. Man kann jedoch auch anders entscheiden: Die Vorinstanz, das L A G Berlin, hat sie bejaht und das Eigentumsrecht des Arbeitgebers hinter die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG zurücktreten lassen. Richtigerweise ist - auch für den Ausgangsfall - der Ansicht des B A G zu folgen. Die Werbung ist für die Gewerkschaft zwar - i m Vergleich zu anderen Betrieben - erschwert, aber nicht unmöglich. A u f Arbeitgeberseite steht dem die Gefahr einer Störung des Arbeitsablaufs entgegen; zudem würde der Arbeitgeber zu einer aktiven Förderung der Gewerkschaften verpflichtet. Hier kommt das höhere Gewicht den Interessen des Arbeitgebers zu. Daß die Gewerkschaft in anderen Betrieben mit den gleichen Werbemitteln eine höhere Effektivität der Werbung erreichen kann, begründet nicht, daß Grundrechte des Arbeitgebers zurücktreten müssen, um der Gewerkschaft einen ähnlichen Standard - angesichts der oben geschilderten höheren Effektivität dieser Verteilungsmethode liegt in Wahrheit sogar ein höherer Standard vor - an Werbechancen einzuräumen. Da i m vom B A G entschiedenen Fall eine besonders hohe Erforderlichkeit für die klagende Gewerkschaft stritt, gilt das Ergebnis erst recht, wenn die Gewerkschaften nicht mit ähnlichen Einschränkungen zu kämpfen haben. Unproblematisch ist die Nutzung der Postverteilungssysteme durch die Gewerkschaft allerdings, wenn der Arbeitgeber auch sonst die Verteilung von Privatpost erlaubt: Damit zeigt er, daß keine Gefahr für den Arbeitsablauf zu erwarten ist; es liegt auch keine aktive Förderung der Gewerkschaften mehr vor, sondern allein eine Duldung der Betätigung.
§ 16 Die Nutzung von E-Mail-Systemen des Arbeitgebers Nachdem die Arbeitgeber immer mehr Arbeitsplätze mit Computern (PC) ausgestattet hatten, wurden diese in vielen Fällen miteinander vernetzt, was den Vorteil hat, daß mehrere Computer ohne großen Aufwand gemeinsame Peripheriegeräte, wie etwa Drucker, nutzen können. Zusätzlich bietet diese Vernetzung die Möglichkeit, zwischen den verschiedenen Computern Dateien mit Texten, Tabellen oder Bildern auszutauschen. Damit entstanden in vielen Betrieben elektronische Postverteilungssysteme (E-Mail-Systeme). Für die Gewerkschaften ist die Nutzung dieser Systeme zweifellos attraktiv, vor allem wegen der Möglichkeit, sogenannte „Mailing - Listen" zu nutzen. Diese erlauben es, Mitteilungen sehr schnell, einfach und preisgünstig an die in der Liste verzeichneten Personen zu verschicken. Ob die Gewerkschaften diese E-Mail-Systeme nutzen dürfen, ist in der Literatur bisher noch nicht eingehend erörtert worden. 2 8 1 Auch Rechtsprechung liegt noch
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
179
nicht vor. Bei der Entscheidung der Frage, ob die Gewerkschaften verlangen können, diese Systeme für ihre Mitteilungen zu nutzen, kann nur zum Teil auf die Ausführungen zu den Postverteilungssystemen verwiesen werden. M i t der neuen Technik ergeben sich neue Probleme. So ist das oben beschriebene Problem des Verlustes dienstlicher Mitteilungen bei der elektronischen Post noch größer: Zum Löschen der Mitteilung reicht meist ein einfacher Tastendruck; außerdem ist das äußere Erscheinungsbild der Mitteilungen meist weitgehend identisch. Anders als bei schriftlichen Mitteilungen besteht zudem eine größere Gefahr, daß diese während der Arbeitszeit gelesen werden. Das gewerkschaftliche Flugblatt kann der Arbeitnehmer in die Tasche stecken und in der Pause oder zu Hause lesen, die elektronische Post ist an den Rechner als Medium gebunden und kann vorerst nur am Rechner gelesen werden. Daß Arbeitnehmer sich die gewerkschaftliche Mitteilung auf eine - eigene (!) - Diskette kopieren, um diese zu Hause an ihrem privaten Rechner zu lesen, dürfte kaum vorkommen. Außerdem ist der Einsatz privater Disketten immer mit der Gefahr verbunden, daß auf diese Weise Computerviren - kurze Programme, die sich selbsttätig auf den Rechner kopieren, sich i m Netzwerk verbreiten und oftmals erhebliche Schäden anrichten - eingeschleppt werden. Falls sich die Arbeitnehmer die E-Mails der Gewerkschaft ausdrucken, führt das dazu, daß der Arbeitgeber unfreiwillig die Druckkosten der Gewerkschaft zahlt. Das Problem einer Gefährdung der negativen Koalitionsfreiheit der Kollegen stellt sich allerdings - anders als bei herkömmlichen Postverteilungssystemen nicht. A u f Wunsch kann der protestierende Arbeitnehmer von der Mailing-Liste gestrichen werden, so daß er keine Mitteilungen von der Gewerkschaft mehr erhält. Zur Abwägung: Hier haben die Interessen des Arbeitgebers ein höheres Gewicht. Das Interesse der Gewerkschaft an einer einfacheren Verteilungsmethode kann die Gefahr, die dem Arbeitsablauf droht, nicht aufwiegen. Selbst wenn der Arbeitgeber das Versenden privater E-mails gestattet, heißt das noch nicht, daß von dieser Erlaubnis auch die Nutzung von Mailing-Listen umfaßt ist. Die mögliche Arbeitsversäumnis durch einen einzelnen Brief ist von den Auswirkungen her nicht vergleichbar mit einer Sendung an viele Arbeitnehmer des Betriebes. Die Summe der verlorenen Arbeitszeit kann erheblich sein; die Auswirkungen, die das zeitliche Zusammentreffen der einzelnen Arbeitsausfälle haben kann, sind so gut wie nicht einschätzbar. 281 Für Zulässigkeit der Nutzung: Däubler, DB 1998, S. 2014 (2016); Die Relevanz des Problems zeigt sich allerdings daran, daß eine der neueren Entscheidungen zum Thema sich mit der Werbung für eine Gewerkschaft per E-Mail beschäftigt (Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, AuR 2001 S. 71 f.) Inhaltlich bringt die Entscheidung allerdings wenig (aA: Rehwald, AuR 2001 S. 72); die angegriffene Abmahnung scheiterte schon an ihrer Unbestimmtheit. 12*
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Lediglich, wenn der Arbeitgeber auch die private Nutzung von Mailing-Listen im Betrieb erlaubt, kann der Gewerkschaft, soweit sie die negative Koalitionsfreiheit der Kollegen achtet und sie auf Wunsch von der Liste streicht, die Nutzung nicht untersagt werden.
§ 17 Versammlungen im Betrieb Gewerkschaftliche Versammlungen i m Betrieb - etwa um den Arbeitnehmern ausführlicher die Vorteile einer Gewerkschaftsmitgliedschaft darzulegen oder um die Arbeitnehmer über die Forderungen der Gewerkschaft für die neue Tarifrunde zu informieren - sind für die Gewerkschaften von hohem Interesse. Sie können die Probleme der Arbeit im Betrieb mit den Arbeitnehmern erörtern - Versammlungen erlauben auch eine Diskussion und damit einen Austausch von Meinungen - und eine große Zahl von Arbeitnehmern erreichen. Ferner haben die Gewerkschaften, wenn die Versammlung in zeitlicher Nähe zur Arbeitszeit stattfindet, eine größere Chance, daß Arbeitnehmer die Versammlung besuchen, als es bei einer Versammlung außerhalb des Betriebs der Fall wäre. Da durch die Versammlung als solche Grundrechte des Arbeitgebers nur in geringem Maße betroffen sind, kann sie der Arbeitgeber grundsätzlich nicht verbieten. 2 8 2 Die eigentliche Schwierigkeit der gewerkschaftlichen Versammlungen liegt denn auch eher in der Frage, in welchen Räumen sie stattfinden. Grundsätzlich können Versammlungen nur in solchen Räumen stattfinden, die den Arbeitnehmern auch sonst allgemein zum Aufenthalt zur Verfügung stehen. 2 8 3 Aber auch hier sind Einschränkungen nötig. Die Räume dienen nicht vorrangig den gewerkschaftlichen Versammlungen, sondern sind Aufenthaltsräume der Arbeitnehmer. Damit muß, um der negativen Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer gerecht zu werden, der Aufenthalt auch weiterhin möglich sein, ohne zwangsweise an einer gewerkschaftlichen Versammlung teilnehmen zu müssen. Auch private Gespräche müssen noch ohne Schwierigkeiten möglich sein. Zumindest muß für die Arbeitnehmer ein weiterer Aufenthaltsraum als zumutbare Ausweichalternative bereitstehen.284 Kleinere Versammlungen sind damit im Regelfall ohne weiteres möglich. Wenn beispielsweise an einem Tisch der Kantine lauter gesprochen wird, haben das die anderen Arbeitnehmer hinzunehmen. Größere Versammlungen allerdings - mit 282 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 482; Hanau, AuR 1983, S. 257 (261); Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54); Richardi, FS Müller, S. 413 (438); Dütz, Gewerkschaftliche Betätigung in kirchlichen Einrichtungen, S. 40. 283 Hanau, AuR 1983, S. 257 (261); Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54); Richardi, FS Müller, S. 413 (438); Dütz, Gewerkschaftliche Betätigung in kirchlichen Einrichtungen, S. 40. Zum Problem der Überlassung zusätzlicher Räume vgl. unten, 3. Teil, 2. Kap., 7. Abschnitt § 32. 284 Vgl. BAG 19. 01. 1999 NZA 1999 S. 546 (550).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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einer höheren Teilnehmerzahl, so daß für die Redebeiträge eventuell technische Hilfsmittel nötig s i n d 2 8 5 - , können Schwierigkeiten bereiten. Wenn hier keine Ausweichmöglichkeiten bestehen - etwa in Zeiten, in denen sich normalerweise keine Arbeitnehmer in den Aufenthaltsräumen aufhalten - kann die Versammlung am Raummangel scheitern.
§ 18 Gewerkschaftliche Meinungsumfragen im Betrieb M i t der Frage nach der Zulässigkeit gewerkschaftlicher Befragungsaktionen im Betrieb hat sich bisher vor allem H a n a u 2 8 6 in einem Gutachten für die Ö T V beschäftigt. Er kommt zum Ergebnis, daß von betriebsangehörigen Gewerkschaftsmitgliedern durchgeführte Befragungsaktionen zulässig sind. Daß durch solche Befragungsaktionen in höherem Maße Grundrechte des Arbeitgebers verletzt werden als durch Werbeaktionen, ist - soweit sich die Gewerkschaft an die für die Werbung geltenden Grenzen hält - nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Erforderlichkeit für die Gewerkschaft gilt, daß solche Befragungsaktionen die Voraussetzung für wirksame Werbung sind, selbst einen erheblichen Werbeeffekt haben und auch ein wichtiges Mittel für die Vertretung der Arbeitnehmerinteressen gegenüber der Öffentlichkeit - eine von Art. 9 Abs. 3 GG 987 9XR geschützte Aufgabe der Gewerkschaften - , sind. Befragungsaktionen sind damit das notwendige Gegenstück zur Werbung im Kommunikationsprozeß zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften. 289 Die Gewerkschaften haben ein wesentliches Interesse daran, authentisch die Ansichten und Interessen der Arbeitnehmer zu erfahren, ohne daß deren Ansichten durch den Funktionärskörper der Gewerkschaft selbst verfremdet werden. Das ist vor allem durch Meinungsumfragen zu erreichen. Durch die damit erreichte Kommunikation mit den Arbeitnehmern wird zudem die Selbstdarstellung der Gewerkschaften in der Werbung als Interessenvertretung der Arbeitnehmer für diese beglaubigt und nachvollziehbar: Die Gewerkschaften erscheinen nicht als basisferne Funktionärsapparate, sondern als auf der betrieblichen Basis aufbauende Organisationen. Der damit erreichte Werbeeffekt kann nur schwerlich überschätzt werden. Die Abwägung fällt damit ganz zugunsten der gewerkschaftlichen Befragungsaktionen aus. Für diese gelten dann die gleichen Grenzen wie für Werbeaktionen.
285 Vgl. oben 3. Teil, 2. Kap., 3. Abschnitt § 11. 286 Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen. 287 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305). 288 Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 7 ff. 289 Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 7; Gröbing, AuR 1981, S. 307 (311 f.).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen 4. Abschnitt
Die Werbung in der Arbeitszeit § 19 Werbung während der Arbeitszeit Eine Konstante der Rechtsprechung des B A G zur gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb war, daß nicht innerhalb der Arbeitszeit, sondern nur vor Beginn und nach Ende der Arbeitszeit sowie in den Pausen geworben werden d ü r f e . 2 9 0 Das galt nicht nur für die eigene Arbeitszeit des sich betätigenden Gewerkschaftsmitglieds; dieses durfte während seiner Gleitzeit auch nicht bereits (oder noch) arbeitende Kollegen bewerben. 2 9 1 Das BVerfG schien demgegenüber großzügigere Maßstäbe anzulegen; in der Entscheidung zur Wahlwerbung vor Personalratswahlen hielt es die Werbung auch „während der Dienstzeit" für zulässig. 2 9 2 Auch seine Entscheidung vom 14. 11. 1995 betraf die Werbung während der Arbeitszeit; dort forderte das BVerfG eine Abwägung mit den entgegenstehenden Rechten des Arbeitgebers. 293 Es hielt das Verbot der Werbung während der Arbeitszeit also nicht für selbstverständlich. Die ganz überwiegende Anzahl der Stimmen in der Literatur unterstützte die Ansicht des B A G . 2 9 4 Nach der Entscheidung des BVerfG ist das B i l d allerdings nicht mehr so einheitlich; neben Stimmen, die an der alten Rechtsprechung - zumindest im Ergebnis - festhalten w o l l e n , 2 9 5 treten Stimmen, die eine stärker differenzierende Sicht andeuten. 2 9 6 290 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG; BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 661 BGB Abmahnung. 291 BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG. 292 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (321). 293 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 294 GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 47; Hess/Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, RdNr. 92; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 153; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 67; Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 24; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 164; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 248; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 273 ff.; Dütz, Gewerkschaftliche Betätigung in kirchlichen Einrichtungen, S. 48 f.; Konzen, FS Kissel, S. 571 (587); Rüthers, RdA 1968, S. 161 (176); Sowka / Krichel, DB 1989 Beil. 11, S. 7; Gola, MDR 1987, S. 362 (363); Schönfeld, BB 1989, S. 1818 (1821); demgegenüber differenzierend: Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 14; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 385. 295 EK - Schlachter, GG, Art. 2 RdNr. 30; Bauer in: Küttner, Personalhandbuch 2001, Nr. 206 RdNr. 27; Scholz, SAE 1996, S. 329 (322 f.); v. Hoyningen-Huene, Arbeitsrecht - Blattei 20 Nr. 33, S. 5 (6 f.); Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 164; Wank, JZ 1996, S. 629 (632); Wiedemann, EWiR 1996, S. 357 f.; Schulte-Westenberg, NJW 1997, S. 375 (376). 296 Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 73 (79); Hanau, ZIP 1995, S. 447; Heimes, MDR 1996, S. 562 (566); Heilmann, AuR 1996, S. 121 (122 f.); Däubler, DB 1998, S. 2014 (2015); Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 47; Berkowsky in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 137 RdNr. 201.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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I. Eingriffe in Rechte des Arbeitgebers Ein Problem der bisherigen Diskussion liegt darin, daß - oftmals ohne weitere Differenzierung - die „Werbung während der Arbeitszeit" erörtert wurde. Es macht jedoch einen Unterschied, ob das Gewerkschaftsmitglied während seiner eigenen Arbeitszeit wirbt, oder ob es in seiner eigenen arbeitsfreien Zeit Kollegen in deren Arbeitszeit bewirbt. Nur i m ersten Fall ist die arbeitsvertragliche Hauptpflicht des Arbeitnehmers betroffen, während es i m zweiten Fall lediglich um die Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten g e h t . 2 9 7
1. Arbeitsversäumnis
wegen Werbung
a) Verstoß gegen die vertragliche Arbeitspflicht aa) Am Inhalt des Arbeitsvertrags orientierte oder rein erfolgsbezogene Betrachtungsweise? Der Arbeitnehmer verspricht dem Arbeitgeber i m Arbeitsvertrag, gem. § 6 1 1 BGB „Dienste" zu leisten. I m Gegenzug verpflichtet sich der Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer Lohn zu zahlen. Die vertragliche, synallagmatische Hauptleistung des Arbeitnehmers ist es damit, die versprochenen Dienste zu leisten und während der vom Arbeitgeber i m Rahmen seines Direktionsrechts festgelegten Zeiten zu arbeiten. Das beinhaltet, während der Arbeitszeit alle anderen Tätigkeiten zu unterlassen. 2 9 8 Wenn der Arbeitnehmer während der vom Arbeitgeber festgelegten Arbeitszeit nicht arbeitet, verstößt er also gegen seine Verpflichtung aus dem Arbeitsverhältnis. Daher verletzt der Arbeitnehmer, wenn er ζ. B. zu spät zur Arbeit kommt, seine vertragliche Hauptpflicht. Die Arbeitsleistung ist eine Fixschuld; versäumte Arbeit kann deshalb nicht nachgeholt werden. 2 9 9 Wiederholtes Zuspätkommen kann den Arbeitgeber zur Kündigung berechtigen. 3 0 0 Gleiches gilt für einen eigenmächtigen Urlaubsantritt 3 0 1 und für eine eigenmächtige Freizeitnahme. 3 0 2 BAG 26. Ol. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG. 298 v. Hoyningen-Huene, Arbeitsrecht - Blattei 20 Nr. 33, S. 5 (6); Berkowsky in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 137 RdNr. 201; Wiedemann, EWiR 1996, S. 357 (358); Wank, JZ 1996, S. 629. 299 BAG 17. 03. 1988 EzA Nr. 116 zu § 626 BGB; Berkowsky in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 137 RdNr. 103; EK - Preis, BGB, § 611 RdNr. 960 ff.; Nierwetberg, BB 1982, S. 995. 300 BAG 17. 03. 1988 EzA Nr. 116 zu § 626 BGB; BAG 17. 01. 1991 EzA Nr. 37 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 361 ; KR - Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 466. 297 V g l .
301 BAG 05. 11. 1992 EzA Nr. 143 zu § 626 BGB; BAG 31. 01. 1996 EzA Nr. 47 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung; Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 333; KR - Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 462.
184
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Wenn der Arbeitnehmer während der Arbeitszeit für seine Gewerkschaft wirbt, statt zu arbeiten, verletzt er also seine Pflichten aus dem Arbeitsvertrag. Diese Arbeitsvertragsverletzung berührt auch Grundrechte des Arbeitgebers. Die Forderung des Arbeitgebers aus dem Arbeitsvertrag wird - wie alle Forderungen - von Art. 14 GG geschützt. 3 0 3 Da der Arbeitgeber den Arbeitnehmer für die vertragsgemäße Arbeitszeit bezahlt, bedeutet das zugleich, daß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch für die Zeit, die dieser für die gewerkschaftliche Betätigung aufwendet, bezahlt; diese Förderung des sozialen Gegenspielers verstößt gegen die eigene Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers. 3 0 4 Dieser streng bürgerlich-rechtlichen Betrachtungsweise, die darauf abstellt, daß die arbeitsvertragliche Leistung sich allein an einer rein zeitlichen Betrachtungsweise orientiert, scheint sich das BVerfG in seiner Entscheidung vom 14. 11. 1995 3 0 5 nicht anschließen zu wollen. Denn es nennt als möglicherweise verletztes Grundrecht des Arbeitgebers die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG, „die insbesondere bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens berührt" sei. Das legt eine andere, primär am Arbeitserfolg orientierte Betrachtungsweise nahe. Entscheidend wäre danach nicht die Arbeitsversäumnis als solche, sondern die Frage, ob diese betriebliche Auswirkungen hatte. Das würde i m Ergebnis eine völlige Neuorientierung der dogmatischen Grundlagen des Arbeitsvertrages nötig machen und den Arbeitsvertrag dem Werkvertrag, bei dem ein konkreter Erfolg geschuldet ist, annähern. I m Ergebnis bliebe dem Arbeitgeber nichts anderes übrig, als die zu erbringende Leistung nicht mehr bloß über die zeitliche Fixierung der zu leistenden Dienste, sondern anhand eines zu erbringenden Erfolges vertraglich zu bestimmen. Das dürfte i m Ergebnis wenig arbeitnehmerfreundlich s e i n , 3 0 6 wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, den geschuldeten Erfolg zu erbringen. Hier ist zudem auf ein mögliches Mißverständnis des BVerfG hinzuweisen. Denn selbstverständlich ist die Frage, ob die Versäumnis der Arbeitspflicht konkrete betriebliche Auswirkungen hatte, nicht unerheblich. Bei einem Kündigungsschutzprozeß ist diese Frage i m Rahmen der erforderlichen Güterabwägung in erheblichem Maße zu berücksichtigen. 3 0 7 In der vom B V e r f G 3 0 8 aufgehobenen Ent-
302 KR - Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 461. 303 V. Münch/Kunig - Bryde, GG, Art. 14 RdNr. 13; Dreier - Wieland, GG, Art. 14 GG RdNr. 39; Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 14 RdNr. 3e; Wendt in: Sachs, GG, Art. 14 RdNr. 24. 304 Bauer in: Küttner, Personalhandbuch 2001, Nr. 206 RdNr. 27 mit Hinweis auf Rüthers, FAZ vom 21. 08. 1996, S. 14. 305 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG (S. 8). 306 Vgl. Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 194. 307 Vgl. Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 361; KR - Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 466; beide mwN. 308 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
185
Scheidung des B A G 3 0 9 ging es jedoch allein um die Frage der Rechtmäßigkeit einer Abmahnung und damit um die Frage, ob eine Vertragsverletzung vorliegt. Das B A G mußte deshalb auf diesen Punkt nicht eingehen; es deutete sogar an, daß es an der Wirksamkeit einer Kündigung Zweifel hätte. 3 1 0 I m Ergebnis scheint das BVerfG allerdings diese erfolgsorientierte Betrachtungsweise auch nicht vertreten zu wollen. Es hat in dem Beschluß - zu Recht 3 1 1 - ausdrücklich festgestellt, daß die Entscheidung des Einzelfalls und die damit verbundene Abwägung der Grundrechte Sache der Fachgerichte - hier des B A G - i s t . 3 1 2 Hier allein auf eine erfolgsbezogene Sicht abzustellen, hieße, die vorrangige Abwägung - zwischen Koalitionsfreiheit und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag - schon zu Lasten des letzteren entschieden zu haben. Das wollte das BVerfG aber - wie es selbst ausführt - nicht: Die Abwägung sollte dem B A G überlassen bleiben. Das spricht dafür, daß das BVerfG diesen Punkt nur versehentlich vergessen hat.
bb) Der Inhalt der arbeitsvertraglichen
Verpflichtung
Bei den bisherigen Erörterungen wurde stillschweigend das Modell einer festen Arbeitszeit zugrundegelegt. Der Inhalt der arbeitsvertraglichen Verpflichtung ergibt sich jedoch aus der konkreten Vereinbarung im Arbeitsvertrag. Hier ist die feste Arbeitszeit nur ein mögliches Modell; daneben gibt es auch andere Arbeitszeitmodelle. 3 1 3 Weit verbreitet ist die sogenannte gleitende oder flexible Arbeitszeit. 3 1 4 Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sie dem Arbeitnehmer in den gesetzlichen Grenzen die Festlegung der Lage seiner individuellen Arbeitszeit freistellt. Der Arbeitnehmer darf über Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie über die Lage und Länge der Pausen bestimmen; festgelegt ist allein die Dauer der zu leistenden A r b e i t . 3 1 5 Damit ist grundsätzlich die Werbung während der Gleitzeit - solange der Arbeitnehmer die Zeiten, in denen er wirbt, nicht als Arbeitszeit dem Arbeitgeber gegenüber angibt - kein Problem. 3 1 6 Insbesondere wird auch letzeres Problem, ob der Arbeitnehmer die Arbeitszeiten in seinem Zeitnachweis korrekt angibt, nicht zu Einschränkungen der Werbung führen können. Wenn der Arbeitgeber insoweit den Arbeitnehmern vertraut, spricht die Tätigkeit für die Gewerkschaft nicht dafür, daß
309 BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung. 310 BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung 311 Vgl. Söllner, FS Kissel, S. 1121 (1132); Wank, RdA 1999, S. 130 (136). 312 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 313 Übersicht bei: Gaul, Arbeitsrecht im Betrieb, D III RdNr. 57 ff. 314 Vgl. Gaul, Arbeitsrecht im Betrieb, D III RdNr. 65. 315 Gaul, Arbeitsrecht im Betrieb, D III RdNr. 65; Blomeyer in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 48 RdNr. 145. 316 Vgl. allgemein: Blomeyer in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 48 RdNr. 145.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
dieses Vertrauen deshalb nicht mehr gerechtfertigt sein sollte. Einschränkungen können sich hier nur hinsichtlich der Werbung gegenüber Kollegen in deren Arbeitszeit ergeben. Sofern die Gleitzeitregelung - wie üblich - einen Kern fester Arbeitszeit vorsieht (eine sog. Kernzeitregelung), 3 1 7 entspricht diese Kernzeit der oben dargestellten festen Arbeitszeit. 3 1 8 Hinsichtlich der Kernzeit hat der Arbeitnehmer, ebenso wie der Arbeitnehmer in einem Betrieb mit generell fester Arbeitszeit, kein Wahlrecht bezüglich der Lage der Arbeitszeit mehr. Für die gewerkschaftliche Betätigung während der Kernzeit gelten damit die oben dargestellten Grundsätze für die feste Arbeitszeit. Während bei den bisher behandelten Arbeitszeitmodellen die vertragliche Leistung allein über die Zeit bestimmt wurde, stellt der Akkordlohn eine Erweiterung dieser Vereinbarungen hin zu einer am Arbeitserfolg orientierten Entlohnung dar. Auch beim Akkordlohn wird zwar noch eine Arbeitszeit festgelegt; die Entlohnung richtet sich aber auch nach dem Arbeitserfolg des Arbeitnehmers, gemessen an einer nach arbeitswissenschaftlichen Maßstäben festgelegten Normalleistung. 3 1 9 Zum Akkordlohn wird die Ansicht vertreten, daß der Arbeitnehmer, der statt der ihm möglichen 130% der Normalleistung wegen der gewerkschaftlichen Betätigung nur 115% erbringt, keine Verletzung des Arbeitsvertrages begehe. 3 2 0 Dem kann aber nicht gefolgt werden. Der Arbeitgeber legt über die Normalleistung nicht das arbeitsvertraglich Geschuldete fest; die Normalleistung ist allein ein Vergütungsmaßstab. 321 Beim Akkordlohn bleibt die Festlegung des arbeitsvertraglich Geschuldeten also weiterhin vornehmlich auf die Arbeitszeit bezogen; die erfolgsabhängige Betrachtungsweise bezieht sich allein auf die Entlohnung. Es gibt jedoch auch Regelungen, die auf die Fixierung einer festen Arbeitszeit verzichten und sich tatsächlich allein am geschuldeten Arbeitserfolg orientieren. Der Arbeitgeber gibt allein das Arbeitsvolumen vor, der Arbeitnehmer ist frei darin, wie und wann er die Arbeit erledigt. In diesen Fällen darf der Arbeitnehmer, soweit keine Störung eintritt, für seine Gewerkschaft werben. Wenn der Arbeitgeber auf eine feste Arbeitszeitregelung verzichtet, gibt er zu erkennen, daß durch die Selbstorganisation der Arbeitnehmer ein geregelter Arbeitsablauf zu erwarten ist. Eine Vertragsverletzung liegt hier erst dann vor, wenn der Arbeitsablauf tatsächlich zumindest konkret gefährdet ist.
317
Gaul, Arbeitsrecht im Betrieb, D III RdNr. 67; Blomeyer in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 48 RdNr. 146. 318 LAG München 05. 12. 1988 DB 1989 S. 283; KR - Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 466. 3 19 Ausführlich: Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 235 ff. 320
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 388. 21 BAG 20. 03. 1969 AP Nr. 27 zu § 123 GewO; Blomeyer in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 48 RdNr. 67. 3
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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b) Gefährdung des Arbeitsablaufs Grundsätzlich indiziert die Verletzung des Arbeitsvertrages auch eine Gefährdung des Arbeitsablaufs. 3 2 2 Der Arbeitgeber ist angesichts der mit der Beschäftigung von Arbeitnehmern verbundenen Kosten daran interessiert, wirtschaftlich zu arbeiten und nicht mehr Arbeitnehmer einzustellen, als er tatsächlich benötigt. Das spricht dafür, daß die gesammelte Arbeitsleistung der Arbeitnehmer weitgehend dem tatsächlichen Bedarf entspricht, so daß jede Arbeitsversäumnis eine Störung des Arbeitsablaufs indiziert. Das gilt insbesondere bei einem hohen Integrationsgrad des Betriebes, wenn also die Arbeitsleistungen der einzelnen Arbeitnehmer in hohem Maße miteinander verzahnt sind. Hier kann eine schon geringfügige Störung i m Bereich eines einzelnen Arbeitnehmers den Arbeitsablauf i m Betrieb nachhaltig stören, beispielsweise, wenn eine komplette Fertigungsstraße angehalten werden muß, weil ein benötigtes Fertigungsstück verspätet eintrifft. Dieser Gefahr kann der einzelne Arbeitnehmer auch nur begrenzt vorbeugen. Die oftmals verschachtelten und komplizierten Abläufe i m Betrieb wird der einzelne Arbeitnehmer kaum in Gänze überblicken können. Daß die Werbung während der Arbeitszeit in Grundrechte des Arbeitgebers eingreift, wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß, wie Heilmann meint, der Arbeitgeber nicht berechtigt sei, „ 1 0 0 % " zu fordern. 3 2 3 Sicher ist Heilmann darin recht zu geben, daß ein Arbeitnehmer kein Automat ist und daß grundsätzlich immer Störquellen aus der Beschäftigung von Arbeitnehmern resultieren. Diese Störquellen wird der Arbeitgeber in der Kalkulation der Arbeit aber schon berücksichtigt haben. Man kann aus der Tatsache, daß ohnehin immer Störungen auftreten, nicht den Schluß ziehen, damit seien weitere, bewußt gesetzte Störungen vertragsgemäß. Grundsätzlich kann der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer fordern, die Störungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Auch das Argument Däublers, die versäumte Arbeit könne nachgeholt oder von Kollegen miterledigt werden, 3 2 4 spricht nicht für eine andere Bewertung. Begründet wird dieses Argument damit, geschuldet sei nicht die ununterbrochene Anwesenheit am Arbeitsplatz, sondern eine bestimmte Tätigkeit. 3 2 5 Was geschuldet ist, bestimmen jedoch allein der Arbeitsvertrag und der Arbeitgeber i m Rahmen des von ihm rechtmäßig ausgeübten Direktionsrechts. Wenn der Arbeitgeber sich dafür entscheidet, eine feste Arbeitszeit vorzuschreiben, um Störungen des Arbeitsablaufs vorzubeugen, ist das grundsätzlich nicht zu beanstanden. Der Arbeitgeber hat für diese Regelung einen sachlichen Grund.
322 323 324 325
Vgl. y. Hoyningen-Huene, AR - Blattei ES 20 Nr. 33, S. 7. Heilmann, AuR 1996, S. 121 (122). Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 389 ff. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 390.
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
188
Das Problem illustrieren die von Däubler erwähnten Beispielsfälle: Zum einen, daß drei Arbeitnehmer im Kontrollzentrum einer Fertigungsanlage arbeiten und einer der drei für 15 Minuten durch den Betrieb geht, um für die Gewerkschaft zu werben. Dann soll keine Vertragsverletzung vorliegen, wenn auch die beiden anderen Arbeitnehmer die Anlage kurzfristig kontrollieren k ö n n e n . 3 2 6 Solange die Anlage störungsfrei läuft, ist das richtig; dann wird regelmäßig sogar nur ein Arbeitnehmer für die Kontrolle ausreichen. Wenn der Arbeitgeber trotzdem drei Arbeitnehmer für diese Arbeit einsetzt, dann deshalb, weil bei einer eintretenden Störung drei Arbeitnehmer benötigt werden, um diese zu beseitigen. Auch daß - etwa wegen Krankheit - die Anlage schon mit reduziertem Personal betrieben w u r d e , 3 2 7 spricht für nichts anderes: Wenn die Anlage auf Dauer auch mit zwei Kontrollkräften sicher betrieben werden könnte, würde der Arbeitgeber auf die dritte Kraft verzichten. Es ist sicher nicht Ziel gewerkschaftlicher Werbung, dem Arbeitgeber Rationalisierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auch der zweite Fall, daß ein Arbeitnehmer seinen Schreibtisch verläßt, um Flugblätter zu verteilen, und das Versäumte anschließend nacharbeitet, 328 ist ähnlich zu beurteilen. Wenn der Arbeitgeber die grundsätzliche Anwesenheit am Schreibtisch vorschreibt, so deshalb, weil der Arbeitnehmer dort benötigt wird, etwa um Telefonanrufe entgegenzunehmen oder als Ansprechpartner für andere i m Betrieb Beschäftigte. Auch hier hat der Arbeitgeber einen sachlichen Grund für die Regelung. Ein drittes Gegenargument ist der Vergleich mit kurzen und vom Arbeitgeber geduldeten Gesprächen während der Arbeitszeit. 3 2 9 Hier kann tatsächlich eine andere Betrachtungsweise angebracht sein: Wenn der Arbeitgeber darauf verzichtet, gegen solche Gespräche vorzugehen, zeigt er damit, daß er insoweit auf seine Forderungen aus dem Arbeitsvertrag verzichtet und auch keine Störung des Arbeitsablaufs erwartet. Das setzt allerdings voraus, daß der Arbeitgeber weiß, daß die Arbeitnehmer regelmäßig auch Privatgespräche i m Betrieb führen. Schwierigkeiten kann hier allerdings noch ein anderer Punkt bereiten: Inwieweit der Arbeitgeber verpflichtet ist, Gespräche nicht nur über allgemeine Themen, sondern gerade über gewerkschaftliche Themen - hier zudem Werbegespräche mit eindeutiger Zielabsicht - zu dulden. 3 3 0 Der Unterschied liegt darin, daß bei allgemeinen Gesprächen - selbst, wenn es um die Mitgliederwerbung für einen Sportverein gehen sollte 3 3 1 - anders als bei den gewerkschaftlichen Werbegesprächen nicht die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers betroffen ist. Dieser wird, wenn er gewerkschaftliche Werbe326
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 389. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 389. 328 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 390. 329 Berkowsky in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 137 RdNr. 201; Heilmann, AuR 1996, S. 121 (123); Däubler, DB 1998, S. 2014 (2015). 33 0 Vgl. Wank, JZ 1996, S. 629. 327
33
1 Vgl. Wank, JZ 1996, S. 629.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
189
gespräche während der Arbeitszeit dulden muß, gezwungen, die werbenden Arbeitnehmer auch während der für die Werbung aufgewendeten Zeit zu bezahlen und damit mittelbar die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb zu finanzieren. 3 3 2 Ähnliche Grundsätze gelten für Pausen i m Arbeitsablauf, die aus technischen Gründen entstehen, beispielsweise die Zeit, die ein Werkstück zum Abkühlen benötigt. Diese Betriebspausen zählen zur Arbeitszeit. 3 3 3 Störungen i m Arbeitsablauf sind hier jedoch ausgeschlossen, da die Pause gerade aus dem Arbeitsablauf selbst resultiert. Dem Recht des Arbeitgebers, auf der Einhaltung der Arbeitszeit zu bestehen, kann hier der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstehen.334 Eine Störung des Arbeitsablaufs kann auch eintreten, ohne daß gegen die primäre Arbeitspflicht verstoßen wird. Wenn während der Arbeit zwischen den Kollegen am Arbeitsplatz gesprochen wird, wird nicht gegen die primäre Arbeitspflicht verstoßen. Die Arbeit kann aber unter Umständen so anspruchsvoll sein, daß jede Ablenkung eine Gefährdung des Arbeitsergebnisses bedeutet. Das kann ζ. B. in der feinmechanischen Produktion der Fall sein. 3 3 5 Dann hat der Arbeitgeber auch ein berechtigtes Interesse daran, jede Ablenkung - und damit auch Gespräche - zu untersagen.
2. Werbung während der Arbeitszeit der Kollegen Wenn ein Arbeitnehmer außerhalb seiner eigenen Arbeitszeit, jedoch in der Arbeitszeit der anderen Arbeitnehmer, wirbt, beispielsweise bei Gleitzeitregelungen, verstößt er nicht gegen seine Arbeitspflicht. In Betracht kommt aber eine Verletzung seiner Nebenpflicht, die Kollegen nicht von der Arbeit abzuhalten, 3 3 6 denn dann verursacht er nicht nur eine Arbeitsvertragsverletzung bei seinen Kollegen, sondern gefährdet - nach den oben dargestellten Maßstäben - auch den Arbeitsablauf. Dieser Gesichtspunkt ist allerdings differenziert zu betrachten. Man kann dem Gewerkschaftsmitglied die Vertragsverletzung nur vorwerfen, wenn es sicher damit rechnen mußte, daß es Kollegen von der Arbeit abhält. Anderenfalls wäre die Betätigung i m Betrieb de facto fast unmöglich, da die sich betätigenden Arbeitnehmer fast immer damit rechnen müßten, daß der von ihnen angesprochene Arbeitnehmer schon oder noch arbeitet. Ein Verbot, Arbeitnehmer in ihrer Arbeitszeit anzusprechen, kommt damit nur dann in Betracht, wenn das Gewerkschaftsmitglied 332 Kraft, ZfA 1976, S. 243 (261). 333 Gaul, Arbeitsrecht im Betrieb, D III RdNr. 54. 334 y. Hoyningen-Huene, Arbeitsrecht - Blattei 20 Nr. 33, S. 5 (7). 335 Wank, JZ 1996, S. 629. 336 y. Hoyningen-Huene, Arbeitsrecht - Blattei 20 Nr. 33, S. 5 (7); Blomeyer in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 52 RdNr. 115.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
weiß oder zumindest sicher damit rechnen muß, daß der Kollege gerade arbeitet. Das ist zumindest dann der Fall, wenn der Kollege sich an seinem Arbeitsplatz aufhält. A n anderen Orten i m Betrieb - in Fluren oder Pausenräumen - wird der sich betätigende Arbeitnehmer aber in der Regel davon nichts wissen können. Hier wird man dem Gewerkschaftsmitglied, wenn es zu einer Verletzung der Arbeitszeit kommt, das nicht vorwerfen können. Es wäre Aufgabe des Kollegen gewesen, auf die Einhaltung seiner Arbeitszeit zu achten. Auch dann kann aber nur das gleiche gelten wie bei den vom Arbeitgeber ohnehin tolerierten Gesprächen während der Arbeitszeit. Eine Regel, daß der Arbeitnehmer solche Gespräche nur in seiner eigenen Arbeitszeit führen darf, ließe sich nicht begründen. Eine erhöhte Gefahr für den Betriebsfrieden ist mit der Werbung während der Arbeitszeit nur sehr bedingt verbunden. Ein weitgehendes Verbot der Werbung während der Arbeitszeit schützt den Betriebsfrieden zwar insoweit, als die gewerkschaftliche Betätigung stark eingeschränkt ist. Das kann aber ein solches Verbot nicht rechtfertigen. Auch eine abstrakte Gefahr ist hier nicht gegeben. 3 3 7 Es gibt keinen Erfahrungssatz, daß Arbeitnehmer auf Werbung während ihrer Arbeitszeit mit einer Störung des Betriebsfriedens reagieren; falls der Kollege nicht gestört werden möchte und arbeiten will, kann er das dem Gewerkschaftsmitglied ohne weiteres mitteilen. Erst wenn ein Arbeitnehmer bedrängt wird, ist der Betriebsfrieden so konkret gefährdet, daß der Arbeitgeber reagieren darf.
II. Erforderlichkeit der Werbung in der Arbeitszeit Als nächstes ist zu fragen, welches Gewicht das Interesse der Gewerkschaften hat, auch in der Arbeitszeit zu werben. Die Gewerkschaften können anerkanntermaßen vor und nach der Arbeit sowie in den Pausen werben. Für das Interesse der Gewerkschaften, auch außerhalb dieser Zeiten werben zu dürfen, spricht, daß sie möglichst intensiv und in angemessenem Umfang Werbung betreiben wollen. Das Zeitfenster, innerhalb dessen die Gewerkschaften Werbung betreiben können, ist vergleichsweise schmal. Vor der Arbeit werden die Arbeitnehmer daran interessiert sein, möglichst schnell zum Arbeitsplatz zu gelangen; die Anfahrt wird i m Regelfall so organisiert werden, daß der Arbeitnehmer pünktlich zum Arbeitsbeginn, aber auch nicht wesentlich früher, eintrifft. Nach Ende der Arbeit wird der Arbeitnehmer möglichst schnell den Betrieb verlassen wollen. In den Pausen werden für die Arbeitnehmer die Erholung und das Essen i m Vordergrund stehen. Die Gewerkschaften haben also nicht viel Zeit, um die Arbeitnehmer mit ihren Argumenten zu überzeugen. Allerdings muß die gewerkschaftliche Betätigung in der Regel nicht an einem Tag erledigt werden. I m Laufe eines Monats
337 aA: Wank, JZ 1996, S. 629.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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haben die Gewerkschaften hinreichend Möglichkeiten, die Arbeitnehmer i m Betrieb anzusprechen. Für die gewerkschaftliche Betätigung in der Arbeitszeit wird auch vorgebracht, die Arbeitnehmer verfügten nicht über hinreichend Freizeit, als daß sie sich in dieser mit gewerkschaftlichen Themen auseinandersetzen könnten. 3 3 8 Dem Arbeitnehmer verblieben an normalen Wochentagen nur ca. 3 Stunden an Freizeit. Ob dieses Argument angesichts einer boomenden Freizeitindustrie wirklich stichhaltig ist, ist allerdings zweifelhaft. Zudem stammen die zitierten Untersuchungen aus den siebziger und achtziger Jahren, berücksichtigen also noch nicht die inzwischen von den Gewerkschaften erstrittenen Arbeitszeitverkürzungen. Außerdem wird die Beschäftigung mit der Frage, ob es sinnvoll ist, der Gewerkschaft beizutreten, kaum derart schwierig sein, daß sie einen erheblichen Teil der Freizeit benötigt. Ob ein Arbeitnehmer bereit ist, einen Teil seiner Freizeit auf die Beschäftigung mit der Gewerkschaft und ihren Argumenten zu verwenden, ist damit nicht eine Frage der objektiven Möglichkeit, sondern der subjektiven Bereitschaft. Diese ist aber ohnehin schon die Voraussetzung für eine wirksame Werbung. Gültigkeit haben diese Grundsätze aber für die Gewerkschaftsmitglieder selbst. 3 3 9 Für diese bedeutet die gewerkschaftliche Betätigung tatsächlich eine Belastung. Gerade die aktiveren Gewerkschaftsmitglieder müssen einen erheblichen Teil ihrer Freizeit für ihre Gewerkschaft opfern. Diese Belastungen ohne finanzielle Kompensation zu tragen, werden viele Arbeitnehmer nicht bereit sein, was die gewerkschaftliche Interessenwahrnehmung i m Betrieb - vorbehaltlich eines Zugangsrechts für betriebsfremde Gewerkschaftsbeauftragte - durchaus gefährden kann. Ein anderes Argument verweist darauf, daß Rechte der Betriebsverfassung der Arbeitspflicht vorgehen können; insbesondere kann sich ein Arbeitnehmer gem. § 39 BetrVG in seiner Arbeitszeit an den Betriebsrat wenden. Das bedeute eine Benachteiligung der gewerkschaftlichen Interessenwahrnehmung gegenüber der durch gewählte Vertreter, was gegen Art. 5 des IAO-Abkommens Nr. 135 verstoße, der verbiete, daß die Existenz gewählter Vertreter die Stellung der Gewerkschaften untergrabe. 340 Denn für den einzelnen Arbeitnehmer sei es interessanter, sich bei Konflikten während der Arbeitszeit an den Betriebsrat zu wenden als seine Freizeit zu opfern, um das Problem mit der Gewerkschaft zu besprechen. Die Ansicht, daß Art. 5 des IAO-Abkommens Nr. 135 nach der deutschen Rechtslage den Gewerkschaften Rechte geben kann, ist oben schon abgelehnt worden. Das gilt auch hier: Denn spätestens, wenn sich der Arbeitnehmer mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung konfrontiert sieht, ist die Gewerkschaft gegenüber dem Betriebsrat in einer besseren Position, da nur diese den Arbeitnehmer vor den Arbeitsgerichten vertreten kann (§ 11 ArbGG). Eine Aushöhlung der Stellung der Gewerkschaften droht 338 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 394 ff. 339 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 396. 340 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 400 f.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
auch ohne die Befugnis der Gewerkschaften, sich während der Arbeitszeit zu betätigen, nicht.
I I I . Abwägung und Ergebnis Ein grundsätzlicher Vorrang der gewerkschaftlichen Betätigung vor der Arbeitspflicht besteht nicht. Das Interesse des Arbeitgebers an der Erfüllung der vertraglichen Hauptpflichten geht dem gewerkschaftlichen Interesse an der Werbung auch während der Arbeitszeit vor. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich die Gewerkschaften auch ohne die Einbeziehung der Arbeitszeit i m Betrieb betätigen können. Der Eingriff in das durch Art. 14 GG geschützte Forderungsrecht des Arbeitgebers und die Gefährdung des Arbeitsablaufs wären gegenüber den Vorteilen für die Gewerkschaften ein zu hoher Preis. Etwas anderes gilt für die Betriebspausen und für gewerkschaftliche Betätigung im Rahmen der auch sonst geduldeten Gespräche während der Arbeitszeit. Hier müssen die Rechte des Arbeitgebers zurücktreten. 3 4 1 Zwar wird die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers berührt, jedoch finanziert er die Gewerkschaften selbst nur mittelbar: Das Geld kommt den Arbeitnehmern, nicht den Gewerkschaften selbst zugute. Wenn der Arbeitgeber - indem er gegen die Gespräche nicht einschritt gezeigt hat, daß er das Verhalten grundsätzlich für akzeptabel hält, darf er in diesem Rahmen die gewerkschaftliche Betätigung auch nicht untersagen. Die Schwierigkeit, eine Grenze festzulegen, wie lange der Arbeitnehmer auch während der Arbeitszeit mit anderen sprechen d a r f , 3 4 2 entfällt. Es kommt allein darauf an festzustellen, was der Arbeitgeber auch sonst akzeptiert und daß sich die Werbemaßnahme auch zeitlich i m sonst geduldeten Rahmen hält.
§ 20 Freistellung von der Arbeitspflicht für die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb Daß Gewerkschaftsmitglieder - insbesondere auch gewerkschaftliche Vertrauensleute - analog §§ 37, 38 BetrVG Freistellung von der Arbeit verlangen können, folgert Däubler aus Art. 5 des IAO-Abkommens Nr. 135. 3 4 3 Dem kann aber nicht gefolgt werden. Hier gilt schon - wie oben gesagt - , daß sich für die Gewerkschaften aus diesem IAO-Abkommen keine zusätzlichen Rechte ableiten lassen. Zudem ist dem Arbeitgeber eine bezahlte Freistellung, wie Däubler sie fordert, nicht zumutbar. Er würde gezwungen, seinen sozialen Gegenspieler zu finanzieren. Das verstößt gegen seine Koalitionsfreiheit. Der Fall ist 341
Ebenso: Berkowsky in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 137 RdNr. 201. 342 Vgl. Schulte-Westenberg, NJW 1997, S. 375 (376). 343 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 518 f.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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auch nicht vergleichbar mit den kurzen, ohnehin geduldeten Arbeitsunterbrechungen, die die Arbeitnehmer für die gewerkschaftliche Betätigung nutzen können. 3 4 4 Die freiwillige Duldung kurzer Arbeitsunterbrechungen ist anders zu bewerten als eine erzwingbare Freistellung: Ging es bei jenen darum, die Gewerkschaftsmitglieder nicht gegenüber den anderen Arbeitnehmern zu benachteiligen, geht es hier um eine Besserstellung gegenüber den Kollegen. Aber auch eine unbezahlte Freistellung kommt nicht in Betracht. Schon das erforderliche Ausmaß der Freistellung ist nicht bestimmbar wie beim Betriebsrat, der gesetzlich genau umrissene Aufgaben hat, die zudem allein von den ehrenamtlich tätigen Betriebsratsmitgliedern erledigt werden müssen. Dagegen steht hinter den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten der hauptberuflich tätige Funktionärsapparat der Gewerkschaft. Viele Aufgaben, die die Betriebsratsmitglieder selbst erledigen müssen, kann für die Gewerkschaften und ihre Vertrauensleute dieser Funktionärsapparat übernehmen. Schon dieser Unterschied verbietet es, die Sondervorschriften für den Betriebsrat einfach auf die gewerkschaftlichen Vertrauensleute zu übertragen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 38 Abs. 1 BetrVG. Der Regelung über die völlige Freistellung von Betriebsratsmitgliedern liegen die gleichen Grundsätze zugrunde wie § 37 Abs. 2 BetrVG. § 38 Abs. 1 BetrVG stellt demgegenüber bloß eine generalisierende Konkretisierung d a r . 3 4 5 Wegen der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Betriebsratsmitgliedern und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten können diese Grundsätze nicht übertragen werden.
§ 21 Freistellung für Delegierte eines Gewerkschaftstages Eine unbezahlte Freistellung kommt jedoch für Arbeitnehmer in Betracht, die zugleich wichtige Aufgaben in der Gewerkschaft übernommen haben, wie etwa Mitglieder einer Tarifkommission oder Delegierte eines Gewerkschaftstages. 346 Eine solche Freistellung greift zwar in die Forderung des Arbeitgebers aus dem Arbeitsvertrag und damit in sein Eigentum ein; auch die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ist betroffen. Dem stehen jedoch die individuelle Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, der sich im Rahmen seiner Gewerkschaft betätigen w i l l , 3 4 7 und die Koalitionsfreiheit
344 Vgl. oben 3. Teil, 2. Kap., 4. Abschnitt § 19. 345 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 38 RdNr. 1. 346 DäublerI Kittner I Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 56; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 498a; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 255; LAG Köln 11. Ol. 1990 DB 1990 S. 1291; Arbeitsgericht Kassel 14. 08. 1986 AiB 1987 S. 195 - zumindest „koalitionsfreundliche Ausübung" des Direktionsrechts des Arbeitgebers verlangt auch Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 245 RdNr. 25. 347 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 245 RdNr. 25. 13 Brock
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
der Gewerkschaft selbst gegenüber. Daß Arbeitnehmer aus den Betrieben auf einem Gewerkschaftstag demokratisch über wichtige Fragen der Gewerkschaft entscheiden, gehört zu einem demokratischen Binnenaufbau der Gewerkschaft. Nur die Mitwirkung von Arbeitnehmern in den wichtigen Entscheidungsgremien kann den gewählten Personen und den Entscheidungen die nötige demokratische Legitimation verleihen. Wenn man die Gewerkschaften nicht schon von Verfassung wegen auf einen demokratischen Binnenaufbau verpflichtet sieht, 3 4 8 so gehört dieser zumindest zu den Grundsatzentscheidungen, die die Gewerkschaften i m Rahmen ihrer Organisationsfreiheit 349 treffen können. In der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen kommt ein zumindest teilweiser Vorrang der Koalitionsfreiheit vor den Grundrechten des Arbeitgebers in Betracht. Zu einer bezahlten Freistellung ist der Arbeitgeber zwar nicht verpflichtet, da er sonst gezwungen wäre, die Gewerkschaft mitzufinanzieren. Zu einer unbezahlten Freistellung oder zumindest zu einer Verlagerung der Arbeit ist er, soweit sie ihm zumutbar ist, was bei kleineren Betrieben nicht immer der Fall sein muß, verpflichtet. Die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb kann auch außerhalb der Arbeitszeit erfolgversprechend durchgeführt werden; die Erforderlichkeit ist damit nicht so hoch, daß die Rechte des Arbeitgebers weichen müßten. Die Grundentscheidung einer Gewerkschaft für innerverbandliche Demokratie ist jedoch so gewichtig, daß die für den demokratischen Binnenaufbau nötigen Maßnahmen, wie etwa Gewerkschaftstage, ein hohes Gewicht erhalten. Zwar kann man die Gewerkschaften darauf verweisen, ihre Gewerkschaftstage soweit wie möglich an Wochenenden abzuhalten. Doch selbst wenn eine Gewerkschaft ihren Kongreß (auch) an Wochentagen abhält, spricht die individuelle Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers dafür, daß der Arbeitgeber ihm die Möglichkeit geben muß, dennoch an dem Kongreß teilzunehmen. Der Arbeitnehmer kann insbesondere nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, für die Teilnahme Erholungsurlaub zu nehmen, da dies mit dem Urlaubszweck, wie auch § 8 BUrlG zeigt, nicht vereinbar wäre.
348 Traditionell wird ein demokratischer Binnenaufbau der Koalitionen nicht zum Koalitionsbegriff gezählt, vgl. EK - Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 6 ff.; Höfling in: Sachs, GG, Art. 9 RdNr. 56 ff.; Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 218; aA: Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 435. 34 9 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96(108).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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5. Abschnitt
Sonstige Maßnahmen gewerkschaftlicher Betätigung im Betrieb § 22 Innergewerkschaftliche Schriftenverteilung Das Recht der Gewerkschaften auf Schriftenverteilung im Betrieb zum Zwecke der Mitgliederwerbung ist grundsätzlich anerkannt. 3 5 0 Daß demgegenüber die Schriftenverteilung - insbesondere die regelmäßige Verteilung einer Mitgliederzeitschrift - i m Betrieb nur an Gewerkschaftsmitglieder problematisch erscheinen kann, liegt vor allem daran, daß das B A G ein solches Recht der Gewerkschaften verneint hat. Es meinte, die Verteilung einer Mitgliederzeitschrift im Betrieb sei nicht unerläßlich, da die Zeitschrift genausogut auf dem Postwege verschickt werden könne, also handele es sich allein um einen „innergewerkschaftlichen Verteilvorgang". 3 5 1 Das war überraschend, da das B A G noch in der Entscheidung vom 14. 02. 1967 die Mitgliederinformation ganz selbstverständlich zum Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG gerechnet hatte. 3 5 2 In der Entscheidung nahm das B A G Argumente von Kunze auf, ohne diese Quelle allerdings anzugeben. Kunze hatte eine Differenzierung zwischen der Koalitionsbetätigungsfreiheit nach außen, gegen Dritte, und der inneren Verbandsautonomie, die innergewerkschaftliche Vorgänge umfasse, gefordert. 3 5 3 Anders als das B A G hatte er allerdings die Zulässigkeit der Zeitschriftenverteilung nicht in Frage gestellt. 3 5 4 Die Entscheidung des B A G fand gelegentliche Z u s t i m m u n g 3 5 5 , häufiger aber Ablehnung. 3 5 6 Wenn man - mit der neuen Rechtslage - zunächst nach verletzten Grundrechten des Arbeitgebers fragt, so stellen sich grundsätzlich dieselben Probleme wie bei der Verteilung einer Zeitschrift an alle Arbeitnehmer i m Betrieb. Die Maßnahme 350 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 252; Däubler! Kittneri Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 47; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 162; Hess / Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 91; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 267; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 355. 351 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 352 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 353 Kunze, FS BAG, S. 315 (323). 354 Kunze, FS BAG, S. 315 (323) - Hanau, AuR 1983, S. 257 (260 FN 23) spricht von einem „argumentativen Eigentor". 355 Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 26; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 157; EK - Schlachter, GG, Art 9 RdNr. 33; GalperinlLöwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 66; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 89. 356 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 163; DäublerIKittnerIKlebe, BetrVG, § 2 RdNr. 47; Richardi, FS Müller, S. 413 (434); Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 S. 222a (222h f.); Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (52); Hanau, AuR 1983, S. 257 (260); Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 113; kritisch auch: Konzen AP Nr. 28, 29 zu Art. 9 GG. 1*
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
ist für den Arbeitgeber allerdings eher weniger belastend, da nur Gewerkschaftsmitglieder angesprochen werden, aber keine Außenseiter, so daß eine Gefährdung des Betriebsfriedens weitgehend auszuschließen i s t . 3 5 7 Die Erforderlichkeit der Verteilung im Betrieb ist allerdings geringer, als es bei der Verteilung auch an Außenstehende der Fall ist. Letztere können nur i m Betrieb wirksam erreicht werden, während den Gewerkschaften bei Gewerkschaftsangehörigen - insoweit ist dem B A G zuzustimmen - auch andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. 3 5 8 A u f den Begründungsansatz des B V e r f G 3 5 9 kann die Erforderlichkeit also nicht gestützt werden. Die Erforderlichkeit der Verteilung gerade auch i m Betrieb ergibt sich jedoch aus dem „Prinzip der Sachnähe" 3 6 0 , welches das B A G in der älteren Entscheidung vom 14. 02. 1967 3 6 1 auch ausdrücklich auf die Mitgliederinformation bezogen hatte. Die Gewerkschaften sind zum Ausbau und zur Erhaltung ihrer Mitgliederstärke nicht allein darauf angewiesen, neue Mitglieder zu werben; sie müssen gleichermaßen die alten Mitglieder betreuen und informieren, um sie von einem möglichen Austritt abzuhalten und kontinuierlich für die Ziele der Gewerkschaft zu motivieren. 3 6 2 Eine regelmäßig erscheinende Mitgliederzeitschrift, die umfangreich und ausführlich über die Ziele und die Betätigung der Gewerkschaft informiert, ist für diesen Zweck geeignet. 3 6 3 Die Erforderlichkeit der Mitgliederbetreuung gerade i m Betrieb folgt daraus, daß es den Gewerkschaften so möglich ist, ihre Kompetenz und Zuständigkeit für die Fragen des Arbeitslebens deutlich zu machen und zu verhindern, daß sie - auch gegenüber ihren Mitgliedern - als von der betrieblichen Realität abgehobene Gebilde erscheinen. 3 64 Auch muß den Gewerkschaften zumindest als Annex zur Befugnis, Mitgliederwerbung im Betrieb zu betreiben, das Recht auf Mitgliederbetreuung i m Betrieb zustehen. Denn die Differenzierung des B A G , daß die Gewerkschaften sich zwar i m Betrieb betätigen und auch Schriften verteilen dürfen, dies aber nur gegenüber den Außenseitern, nicht jedoch gegenüber den eigenen Mitgliedern, ist seltsam kleinlich und in den praktischen Konsequenzen kaum nachvollziehbar. 3 6 5 So wäre 357 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 253 spricht von einem „weniger" gegenüber der Verteilung an Außenstehende. 358 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 192; vgl. allerdings auch RdNr. 157. 3 59 BVerfG 30. 11. 1965 E 19 S. 303 (320). 560 Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222i); Richardi, FS Müller, S 413 (435). 3
61 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 62 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (52). 363 Richardi, FS Müller, S. 413 (435). 3
364 Ahnliche Überlegungen spielen auch eine Rolle bei den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und insbesondere der Wahl der Vertrauensleute im Betrieb - vgl. Pfarr, AuR 1978, S. 290 (293).
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nach Ansicht des B A G die Verteilung der Mitgliederzeitschrift an alle Arbeitnehmer i m Betrieb - also Gewerkschaftsmitglieder und Außenseiter - ebenso rechtens gewesen wie eine allein auf die individuelle Koalitionsfreiheit eines einzelnen Gewerkschaftsmitglieds gestützte Verteilung. 3 6 6 Ein Sonderproblem stellt sich allerdings noch bei Mitgliederzeitschriften. Diese enthalten eine Vielzahl von Artikeln; neben Artikeln über spezifisch koalitionsrechtliche Themen können auch immer wieder Artikel mit unzulässigem Inhalt stehen, sei es, daß partei- oder allgemeinpolitische Themen behandelt werden, sei es, daß ein Artikel die zulässigen Grenzen der Polemik überschreitet. Der klagende Arbeitgeber des vom B A G entschiedenen Falles wehrte sich denn auch weniger gegen die Verteilung als solche als gegen den Inhalt der verteilten Zeitschrift, der auch allgemein- und parteipolitische Artikel umfaßte. 3 6 7 Insoweit meinte das B A G in einem obiter dictum, einzelne Artikel mit unzulässigem Inhalt in einzelnen Nummern könnten ein Verbot der Verteilung „schlechthin wohl nicht schlüssig" begründen. 3 6 8 Es ist umstritten, wie diese Aussage des B A G zu verstehen ist. Insoweit wurde vertreten, daß es ausreicht, daß die Zeitschrift noch als Gewerkschaftszeitschrift zu erkennen i s t . 3 6 9 Diese Auslegung überspannt jedoch die Reichweite der Äußerung des BAG. Richtigerweise ist davon auszugehen, daß ein nicht weiter erheblicher Anteil an nicht koalitionsspezifischen oder sonst unzulässigen Themen die Verteilung i m Betrieb nicht verhindern k a n n . 3 7 0 Hier ist auch zu berücksichtigen, daß die Grenze der nicht mehr koalitionsspezifischen Themen recht weit ist. Die Gewerkschaften haben also das Recht, ihre Mitglieder im Betrieb zu informieren und zu betreuen. Dazu gehört auch das Recht, eine Mitgliederzeitschrift i m Betrieb zu verteilen.
§ 23 Kassieren von Mitgliedsbeiträgen der Gewerkschaften Das Kassieren der Gewerkschaftsbeiträge in den Arbeitspausen - hier ist allerdings fraglich, ob sich dieses Problem i m Zeitalter des bargeldlosen Zahlungsverkehrs überhaupt noch stellt - ist zulässig. 3 7 1 Zwar ist das Einsammeln sicher nicht 365 Vgl. Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (52); Konzen AP Nr. 28, 29 zu Art. 9 GG. 366 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 367 Vgl. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 368 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG. 369 So: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 307 f. - Abstellen auf das Gesamtgepräge. 370 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53); Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222i). 371 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 255; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 159; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 485.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
unerläßlich, 3 7 2 da hinreichend andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, das Geld einzukassieren. Ein Interesse der Gewerkschaften daran, das Geld i m Betrieb einzusammeln, kann allerdings darin liegen, daß so ein regelmäßiger Kontakt zu den Mitgliedern möglich ist, der auch für Gespräche genutzt werden kann. Grundrechte des Arbeitgebers sind durch diese Maßnahme nur in geringem Maße betroffen, so daß der Arbeitgeber den Gewerkschaften das Einsammeln nicht verbieten kann.
§ 24 Unterschriftensammlungen und Geldsammlungen Auch Unterschriftensammlungen im Betrieb sind - grundsätzlich - zulässig. 3 7 3 Die Gewerkschaften können auf diese Weise den Arbeitnehmern im Betrieb eine unmittelbare Reaktion auf die gewerkschaftliche Betätigung - sei sie gewerkschaftlicher Art, sei sie innerhalb der zulässigen Grenzen politischer Art - ermöglichen. Auch auf diese Weise können die Gewerkschaften versuchen, in einen Dialog mit den Arbeitnehmern zu treten und die Bedeutung des von ihnen angesprochenen Themas mit dieser zusätzlichen Maßnahme zu untermauern. Unterschriftensammlungen stehen damit in einem engen Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Informationstätigkeit im Betrieb. Die gesammelten Unterschriften können die Gewerkschaften, zu deren Aufgaben es auch gehört, die Interessen der Arbeitnehmer in der Öffentlichkeit zu vertreten, 3 7 4 i m öffentlichen Meinungskampf einsetzen. Allerdings müssen die Gewerkschaften auf den Betriebsfrieden Rücksicht nehmen; dazu gehört es insbesondere, die negative Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer zu beachten. Die Unterschriftensammlung darf über die Aufforderung zu unterschreiben nicht hinausgehen; Druck, die Liste zu unterschreiben, wäre mit der negativen Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer nicht mehr vereinbar. Ein unzulässiger Druck kann auch darin bestehen, daß die Unterschriftenliste i m Betrieb veröffentlicht wird und damit erkennbar wird, wer unterschrieben hat. A u f diese Weise Arbeitnehmer zu zwingen, zu einem bestimmten Thema Stellung zu beziehen - „wer nicht für uns ist, ist gegen uns'4 - , verstößt gegen das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer und ihre negative Koalitionsfreiheit. Da Unterschriftensammlungen nur eine besondere Form der gewerkschaftlichen Informationstätigkeit i m Betrieb sind, gelten für sie die gleichen, auch thematischen Grenzen wie für die allgemeine Informationstätigkeit.
372
Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 159. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 479. 37 4 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305). 373
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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Die gleichen Grenzen gelten für gewerkschaftliche Geldsammlungen. Wegen des erforderlichen Betriebsbezugs dürften die Möglichkeiten zu solchen Sammlungen jedoch stark eingeschränkt sein.
§ 25 Erledigung innergewerkschaftlicher Arbeit im Betrieb Innergewerkschaftliche Arbeit im Betrieb ohne jede Außenwirkung, selbst auf die eigenen Gewerkschaftsmitglieder, wie etwa die Erstellung von gewerkschaftlichen Schriften im Betrieb, ist dann ein Problem, wenn dabei Eigentum des Arbeitgebers, ζ. B. Computer, genutzt w i r d . 3 7 5 Verlangen können die Gewerkschaften die Überlassung von Arbeitsmitteln nicht. Zwar ist der Arbeitgeber gem. § 40 BetrVG verpflichtet, die Kosten des Betriebsrats zu tragen und dem Betriebsrat für dessen laufende Geschäftsführung die nötigen sachlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. 3 7 6 Das beruht jedoch auf der besonderen Struktur des Betriebsrats, der nicht vermögensfähig i s t 3 7 7 und allein vom Arbeitgeber finanziert werden m u ß 3 7 8 , da er selbst gem. § 41 BetrVG keine Beiträge erheben darf. Die Gewerkschaften dagegen finanzieren sich durch Beiträge ihrer Mitglieder und sollen vom Arbeitgeber gerade unabhängig sein. 3 7 9 Eine Übertragung der Wertung in § 40 BetrVG ist damit nicht m ö g l i c h . 3 8 0 Zudem ist die Benutzung von Arbeitsmitteln des Arbeitgebers für die Gewerkschaften auch nicht erforderlich. Anders als ζ. B. betriebliche Anschlagflächen - diese kann nur der Arbeitgeber stellen 3 8 1 - können die Gewerkschaften derartige Arbeitsmittel (ζ. B. Computer) auch selbst anschaffen. Wenn diese dazu - finanziell - nicht in der Lage sind, beruht das auf ihrer internen Schwäche. Hier kann man den Arbeitgeber nicht verpflichten, diese auszugleichen, ohne tatsächlich die Gegnerunabhängigkeit 382 der betreffenden Gewerkschaft in Frage zu stellen. Eine andere Beurteilung ist jedoch möglicherweise angebracht, wenn der Arbeitgeber auch sonst die Benutzung betrieblicher Mittel zu privaten Zwecken ge375 Aus den oben (3. Teil, 2. Kap., 4. Abschnitt §§ 19, 20) dargestellten Grundsätzen folgt, daß diese, wenn sie rechtmäßig ist, nur außerhalb der Arbeitszeit erfolgen kann. 376 EK - Eisemann, BetrVG, § 40 RdNr. 16; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 40 RdNr. 88. 377 BAG 24. 04. 1986 AP Nr. 7 zu § 87 BetrVG Sozialeinrichtungen; Richardi, BetrVG, Einleitung RdNr. I l l ; GK - Kraft, BetrVG, § 1 RdNr. 74. 378 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 41 RdNr. 3; EK - Eisemann, BetrVG, § 40 RdNr. 1. 379 Vgl. BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (196 f.); EK - Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 7; v. Münch /Kunig - Löwer, GG, Art. 9 RdNr. 66. 380 Vgl. dazu die ähnliche Wertung zu § 37 BetrVG, oben (3. Teil, § 20). 381 Vgl. dazu oben 3. Teil, 1. Kap., II 3 d. 382 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 165; vgl. auch: Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 122.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
stattet. Dann geht es nicht mehr um die aktive Förderung der Gewerkschaften, sondern um die bloße Duldung eines auch sonst geduldeten Verhaltens. 383 Allerdings spricht hier die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers dafür, daß der Arbeitgeber die Benutzung zu gewerkschaftlichen Zwecken untersagen kann, da er sonst gezwungen wäre, seinen sozialen Gegenspieler zu fördern. Hinsichtlich der gewerkschaftlichen Betätigung in dem Rahmen, in dem auch sonst kurze Gespräche während der Arbeitszeit geduldet werden, war dieser Gesichtspunkt nicht durchgreifend, da der Vermögensverzicht des Arbeitgebers vorrangig dem Arbeitnehmer zugutekam, und die Gewerkschaft selbst nur mittelbar davon profitierte. Hier jedoch profitiert die Gewerkschaft unmittelbar von den Arbeitsergebnissen.
6. Abschnitt
Arbeitskampfbezogene Betätigungen § 26 Urabstimmung im Betrieb Wie oben dargestellt, greifen Versammlungen der Gewerkschaften, Unterschriftensammlungen oder Befragungsaktionen nicht so weitreichend in Grundrechte des Arbeitgebers ein, daß dieser sie verbieten könnte. Vom äußeren Ablauf her greift eine Urabstimmung i m Betrieb nicht stärker in Grundrechte des Arbeitgebers ein als diese Betätigungen, so daß der Arbeitgeber aus diesem Grund nicht gegen sie vorgehen kann. Die Mehrheit der - allerdings wenigen - Stimmen i m Schrifttum hält die Urabstimmung i m Betrieb denn auch für rechtens. 3 8 4 Etwas anderes kann sich ergeben, wenn man auch die Zielrichtung der Urabstimmung mit in die Abwägung einbezieht: Die vorhin erwähnten Maßnahmen richten sich an die Arbeitnehmer oder sogar nur an die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb, nicht aber an den Arbeitgeber selbst. Es handelt sich vor allem um ein Phänomen innerhalb der Belegschaft. Die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers ist nur mittelbar betroffen, nämlich über eine Stärkung der Gewerkschaften. Durch die Urabstimmung, die zumindest einen Bezug zum Arbeitskampf hat - nach allerdings bestrittener Ansicht des B A G ist sie sogar selbst eine Arbeitskampfmaßnahme 3 8 5 - , wird auch der Arbeitgeber selbst angesprochen. Ihm wird i m Zusammenhang mit Tarifvertragsverhandlungen die Kampfbereitschaft der Ar383 Vgl. auch die Wertung hinsichtlich kurzer Gespräche während der Arbeitszeit; oben 3. Teil, 2. Kap., 4. Abschnitt § 19. 384 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 499; Hueck /Nipperdey, Arbeitsrecht II/2, S. 1026; Däubler - Wolter, Arbeitskampfrecht, RdNr. 254. aA: Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222 g); Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 158 - allerdings unter Berufung auf das Unerläßlichkeitskriterium. 385 Vgl. dazu: Däubler - Wolter, Arbeitskampfrecht, RdNr. 256; Dietz, Koalitionsfreiheit, S. 118.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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beitnehmerseite deutlich vor Augen geführt. Insofern kann das Ergebnis der Urabstimmung einen erheblichen Druck auf den Arbeitgeber ausüben. Damit ist die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers, die ihn dazu berechtigt, die aktive Unterstützung der Gegenseite zu verweigern, stärker betroffen als bei anderen Abstimmungen. Hier ginge es zu weit, den Arbeitgeber zu verpflichten, den Gewerkschaften bei dieser Druckausübung Hilfe zu leisten, indem er ihnen die Benutzung zumindest des Betriebsgeländes zu gestatten hat. Mayer-Maly 3 8 6 hat versucht, das Verhältnis bzw. die verschiedenen Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften anhand der Begriffe „Kooperation" und „Konfrontation" zu beschreiben. 387 Der Arbeitskampf - und damit auch ihn vorbereitende Maßnahmen wie die Urabstimmung - gehört zur Ebene der Konfrontation. Das schließt aus, den Arbeitgeber gleichzeitig zur Kooperation verpflichten zu wollen. Gegen dieses Ergebnis kann auch nicht eingewandt werden, daß die Urabstimmung im Betrieb für die Gewerkschaften von hoher Erforderlichkeit ist. Daß dem so ist, kann nicht bestritten werden: Aus der Bedeutung, die der Arbeitskampf für die Stellung der Gewerkschaften hat, und der Wichtigkeit der Urabstimmung als Element der innerverbandlichen Demokratie folgt in der Tat eine hohe Erforderlichkeit. Nur gebührt in der Abwägung den Interessen des Arbeitgebers - seiner Koalitionsfreiheit - der Vorrang.
§ 27 Demonstrationen auf dem Betriebsgelände M i t ähnlichen Gedanken läßt sich auch das Problem der Demonstrationen auf dem Betriebsgelände lösen: Von einer Erforderlichkeit von Demonstrationen auf dem Betriebsgelände läßt sich nur sprechen, wenn gerade der Arbeitgeber von der Wirkung der Demonstration erreicht werden soll. Andernfalls sind Demonstrationen in der Öffentlichkeit, wo sie leichter wahrgenommen werden können, erfolgversprechender. Wenn aber gerade der Arbeitgeber von der Druckwirkung der Demonstration erreicht werden soll, kann man ihm kaum zumuten, die Demonstration dadurch zu unterstützen, daß er sie auf dem Betriebsgelände dulden muß. Für dieses Ergebnis spricht auch, daß eine Demonstration auf dem Betriebsgelände so gut wie unmöglich außerhalb der Arbeitszeit durchgeführt werden kann. Zudem bewirkt die massive Meinungsäußerung, die eine Demonstration bedeutet, auch, daß andere Arbeitnehmer sich ihrer Wirkung nicht entziehen können; Gegenreaktionen sind wahrscheinlich. Damit ist der Betriebsfrieden erheblich gefährdet. I m Verhältnis dazu muß das Interesse der Gewerkschaften an Demonstrationen auf dem Betriebsgelände zurücktreten. 386 Mayer-Maly, DB 1966, S. 821 (822). 387 Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (116) fühlte sich hinsichtlich der Gewerkschaften sogar an Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnert.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen 7. Abschnitt
Existenz, Tätigkeit und Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute § 28 Funktion und Aufgaben der gewerkschaftlichen Vertrauensleute Bevor gesetzliche Regelungen der Interessenvertretung der Arbeitnehmer in den Betrieben geschaffen wurden - erstmals anerkannt wurden Arbeiterausschüsse in Fabrikbetrieben mit dem Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung vom 01. 06. 1891 - , waren Vertrauensleute der Arbeitnehmer oftmals deren einziges Sprachrohr gegenüber dem Arbeitgeber. 3 8 8 Diese Vertrauensleute waren vielfach auch als „Agitatoren" für die Gewerkschaften tätig. M i t der weiteren Anerkennung der Interessenvertretung der Arbeitnehmer in den Betrieben - durch das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 05. 12. 1916 und durch das Betriebsrätegesetz vom 04. 02. 1920 - wurden die gewerkschaftlichen Vertrauensleute aus dieser Rolle als alleinige Interessenvertreter der Arbeitnehmer verdrängt. 3 8 9 Das Betriebsrätegesetz regelte die Befugnisse der gewerkschaftlichen Vertrauensleute n i c h t , 3 9 0 sie wurden zu „einer rein vereinsmäßigen Einrichtung der Gewerkschaften".
QQ 1
A n ihrer rechtlichen Zulässigkeit bestand allerdings kein Zweifel.
Eine Wiederbelebung erfuhr die Institution der gewerkschaftlichen Vertrauensleute aber ab Mitte der fünfziger Jahre. 3 9 3 Die Gewerkschaften bemühten sich, die Betriebe wieder stärker in ihre Arbeit einzubeziehen und „ i m Betrieb Fuß zu fass e n " . 3 9 4 Allerdings wird aus heutiger Sicht ein weitgehendes Scheitern der Bemühungen, neben dem Betriebsrat ein Vertrauensleutesystem aufzubauen, konstat i e r t . 3 9 5 Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer durch den Betriebsrat habe sich fast durchweg als stärker erwiesen, sei es, daß die Vertrauensleute zu Betriebsratsmitgliedern aufgestiegen seien, sei es, daß der Betriebsrat es vermocht habe, die Vertrauensleute zu verdrängen. 3 9 6 Die Aufgabe der gewerkschaftlichen Vertrauensleute ist eine rein gewerkschaftsinterne. 3 9 7 Sie stellen das Bindeglied zwischen den Arbeitnehmern i m Betrieb und 388 Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (57); Bulla, BB 1975, S. 889. 389 Bulla, BB 1975, S. 889. 390 Flatow/Kahn-Freund, Betriebsrätegesetz, vor § 50 III S. 249. 391 Flatow ! Kahn-Freund, Betriebsrätegesetz, § 8 Anm. 5 S. 72 f. 392
Flatow/ Kahn-Freund, Betriebsrätegesetz, § 8 Anm. 5 S. 73. 393 Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (58). 394 Bulla, BB 1975, S. 889 (890); Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (67); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 504. 395 Bösche / Grimberg, FS Däubler, S. 355 (378). 396 Bösche / Grimberg, FS Däubler, S. 355 (379). 397 GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 97; Hess/Schlochauer/ RdNr. 84; Bulla, BB 1975, S. 889 (890).
Glaubitz, BetrVG, § 2
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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der Funktionärsebene der Gewerkschaften dar. 3 9 8 Eine Aufgabe für sie ist es deshalb, die Gewerkschaftsfunktionäre über wichtige Vorgänge im Betrieb zu unterrichten und Meinungen oder Anregungen der Gewerkschaftsmitglieder weiterzugeben.399 A u f der anderen Seite werden sie als Vertreter der Gewerkschaft i m Betrieb tätig, indem sie die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb über wichtige Entwicklungen und Entscheidungen der Gewerkschaften informieren und diese betreuen; zugleich sollen sie auch neue Mitglieder werben und in Arbeitskämpfen Organisationsaufgaben übernehmen. 4 0 0 Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute bilden damit das Fundament der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb. 4 0 1
§ 29 Rechte der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Betrieb Daß die Tätigkeit und Existenz der gewerkschaftlichen Vertrauensleute von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird, ist allgemein anerkannt; 4 0 2 richtigerweise - wie sich schon aus der großen Bedeutung, die die betriebliche Präsenz für die Gewerkschaften hat, ergibt. 4 0 3 Damit kann es den Gewerkschaften auch nicht verwehrt werden, sich einen ehrenamtlichen Funktionärsstamm zu schaffen, der ihre dauernde Präsenz in den Betrieben sichert. Durch die bloße Existenz der Vertrauensleute werden keine Rechte des Arbeitgebers b e r ü h r t 4 0 4 Auch gibt es keine Bedenken, daß die Existenz der Vertrauensleute die Stellung des Betriebsrats schwächen könnte. 4 0 5 Dagegen spricht schon die Vielzahl von Kompetenzen und Funktionen, die nur dem Betriebsrat, nicht aber den Vertrauensleuten, zustehen. Zudem ist der Betriebsrat gem. § 78 S. 1 BetrVG geschützt; Störungen oder Behinderungen des Betriebsrats sind gem. § 119 BetrVG sogar ein Straftatbestand. Zudem haben die gewerkschaftlichen Vertrauensleute gänzlich andere Aufgaben als der Betriebsrat. Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute haben alle Rechte, die den Gewerkschaften i m Betrieb zustehen. 4 0 6 Sie dürfen - in den für die Gewerkschaften gel398 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 504. 399 Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (58); Bulla, BB 1975, S. 889 (890); Pfarr, AuR 1978, S. 290 (291). 400 Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (58); Bulla, BB 1975, S. 889 (890); Pfarr, AuR 1978, S. 290 (291); Wirtz, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 212. 401 Bauer/Haußmann, NZA 1998, S. 854; Pfarr, AuR 1978, S. 290 (291). 402 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 59; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 155; Hess/ Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 84; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 170; Müller, RdA 1976, S. 46 (47); Pfarr, AuR 1978, S. 290. 403 Müller, RdA 1976, S. 46 (47). 404 Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 57. 405 im Ergebnis so auch: Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 45.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
tenden Grenzen - für ihre Gewerkschaft werben und die Mitglieder i m Betrieb betreuen. Auch die betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse der Gewerkschaften dürfen die Vertrauensleute für diese wahrnehmen; 4 0 7 so darf ein Vertrauensmann gem. § 31 BetrVG als Vertreter der Gewerkschaften an den Betriebsratssitzungen teilnehmen. 4 0 8 Eine weitergehende Zusammenarbeit von Betriebsrat und Vertrauensleuten (als Vertreter ihrer Gewerkschaften) ist im Rahmen von § 2 Abs. 1 BetrVG, etwa durch gemeinsame Beratungen, 4 0 9 möglich. Einen Anspruch auf eine solche Zusammenarbeit haben aber weder die Vertrauensleute 410 noch der Betriebsrat. 4 1 1 Ein Recht auf Verhandlungen mit dem Arbeitgeber haben die gewerkschaftlichen Vertrauensleute n i c h t 4 1 2 Das Gebot vertrauensvoller Zusammenarbeit gilt nicht für die gewerkschaftlichen Vertrauensleute. 413 Für den nötigen Schutz der Arbeitnehmer kann der Betriebsrat sorgen. Erforderlich ist ein solches Recht auch nicht, da die Gewerkschaften die Rechte ihres Mitgliedes - wenn dieses es wünscht - gem. § 11 Abs. 1 S. 2 ArbGG gerichtlich vertreten können. Spätestens in der Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht (§ 54 Abs. 1 ArbGG) sind Verhandlungen mit dem Arbeitgeber möglich.
§ 30 Die Wahl der Vertrauensleute im Betrieb Es ist umstritten, ob die Gewerkschaften das Recht haben, die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute i m Betrieb durchzuführen. Das B A G hat eine entsprechende Klage abgewiesen. 4 1 4 Die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Betrieb sei nicht unerläßlich, da sie genausogut außerhalb des Betriebs, etwa in einer Gaststätte oder einem Wahlbus, durchgeführt werden k ö n n e . 4 1 5 In der Literatur wird die Wahl der Vertrauensleute im Betrieb teils für zulässig 4 1 6 , teils für nicht zulässig 4 1 7 gehalten. 406
Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 58. 407 Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 21 mwN. 408 Buchner, DB 1972, S. 1236; Blomeyer, DB 1977, S. 101 (112). 409 Vgl. Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 28d. 410 Bulla, BB 1975, S. 889 (890); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (112); aA: Fitting/ Kaiser/ Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 31. 411 BAG 14. 01. 1983 AP Nr. 12 zu § 76 BetrVG 1972 (Bl. 531); Fitting /Kaiser/Heiter/ Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 33. 412 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 151. 413 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 513. 414 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 415 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 416 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 256; Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 68 ff.; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 170; Richardi, FS Müller, S. 413 (437); Pfarr, AuR 1978, S. 290 (294); Pfarr, AuR 1979, S. 242 ff.; Zachert, AuR 1979, S. 358; Hanau,
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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Das Urteil des B A G 4 1 8 stützte sich ganz auf das Unerläßlichkeitskriterium; inwieweit Grundrechte des Arbeitgebers oder sonstige Gegenrechte betroffen sind, erörterte das B A G n i c h t . 4 1 9 Für die Diskussion des Problems nach der neuen Rechtslage ist das Urteil damit wenig hilfreich. Durch die Wahl gewerkschaftlicher Vertrauensleute im Betrieb werden Grundrechte des Arbeitgebers nur geringfügig beeinträchtigt. 4 2 0 Das gilt zumindest, soweit die Gewerkschaft für die Wahl Räume nutzt, die den Arbeitnehmern ohnehin zur freien Verfügung stehen, wie Pausenräume oder die Kantine. Zwar wird hier das Eigentum des Arbeitgebers in Anspruch genommen, 4 2 1 jedoch nur in sehr geringem U m f a n g . 4 2 2 Auch Rechte der anderen Arbeitnehmer sind nur minimal beeinträchtigt. Sie werden zwar mit der innergewerkschaftlichen Wahl konfrontiert und können dieser Konfrontation nicht ausweichen, die Belästigung ist allerdings - wenn die Wahl nicht den Charakter einer Gewerkschaftssversammlung während der Arbeitszeit hat - nur gering; daß es zu Störungen des Betriebsfriedens kommen könnte, ist fast sicher auszuschließen. Eine Grundrechtsbeeinträchtigung des Arbeitgebers ist allerdings denkbar, wenn die Gewerkschaft vom Arbeitgeber verlangt, ihr für die Wahl eigene Räume zur Verfügung zu stellen. 4 2 3 Zum Teil wird in der Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute i m Betrieb auch eine Gefahr für die Eigenständigkeit des Betriebsrats gesehen. 4 2 4 Sowenig wie die bloße Existenz der gewerkschaftlichen Vertrauensleute eine Gefährdung der Betriebsverfassung darstellt, ist diese durch die Wahl der Vertrauensleute i m Betrieb gefährdet. Schon dadurch, daß allein die Gewerkschaftsmitglieder wahlberechtigt sind, wird für die übrigen Arbeitnehmer deutlich, daß es sich allein um eine innergewerkschaftliche Maßnahme handelt und nicht etwa um eine betriebsverfassungsrechtliche Wahl. Die Wahl der Vertrauensleute bewirkt höchstens, daß
ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (54); Hanau, AuR 1983, S. 259 (261); Fitting/ Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 60. 417 GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 98; Hess/Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 84; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 59; Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 155; Weitnauer, SAE 1980, S. 26; Reuter, FS Müller, S. 387 (404); Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222f ff.); v. Hoyningen-Huene, Arbeitsrecht - Blattei SD Koalitionsfreiheit I, RdNr. 146; Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 112; Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (33); Konzen, AP Nr. 28, 29 zu Art. 9 GG. 418 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 419 Richardi, FS Müller, S. 413 (438); Pfarr, AuR 1979, S. 242 (244); Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 75; Konzen, AP NR. 28, 29 zu Art. 9 GG. 420 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (55); Richardi, FS Müller, S. 413 (438); Pfarr, AuR 1979, S. 242 (244); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 257. 421 Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222g). 422 Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 76 f. 423 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (55); Richardi, FS Müller, S. 413 (438); vgl. dazu unten 3. Teil, 2. Kap., 7. Abschnit § 32. 424 Richardi, FS Müller, S. 413 (439); Reuter, ZfA 1976, S. 107 (134 ff.).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
den übrigen Arbeitnehmern die Existenz des innerbetrieblichen Funktionärskörpers deutlich in Erinnerung gerufen wird. Diese bloße Existenz gefährdet das System der Betriebsverfassung nicht; die Betriebsverfassung kann damit auch nicht dadurch gefährdet werden, daß Arbeitnehmer von dieser Existenz Kenntnis nehmen. Grundrechtsbeeinträchtigungen des Arbeitgebers oder die Verletzung anderer Rechtsgüter sind bei der Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute i m Betrieb also grundsätzlich auszuschließen. Demgegenüber steht - ohne daß es darauf noch entscheidend ankäme - eine hohe Erforderlichkeit der Wahl der Vertrauensleute gerade im Betrieb für die Gewerkschaften. Allerdings hatte das B A G noch gemeint, die Wahl müsse nicht zwingend i m Betrieb durchgeführt werden, und hatte damit auch Zustimmung in der Literatur gefunden. Dabei wurde insbesondere darauf abgestellt, daß als innerverbandliche Maßnahme die Wahl dem Koalitionszweck nicht d i e n e ; 4 2 5 das B A G meinte, die Gewerkschaften schüfen mit der Wahl nur die personellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Koalitionszwecks. 4 2 6 Das war inkonsequent: Auch die Mitgliederwerbung schafft nur die personellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Koalitionszwecks; hinsichtlich der Mitgliederwerbung hatte das B A G keine entsprechenden Z w e i f e l . 4 2 7 Richtigerweise hatte das BVerfG festgestellt, daß die Mitgliederwerbung dem Koalitionszweck zwar nur mittelbar dient, das aber nicht für ein Problem gehalten. 4 2 8 Das B A G hätte also zumindest ausführen müssen, daß die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute dem Koalitionszweck nur „mittelbarer" dient als die Mitgliederwerbung. In die Irre gehen gelegentlich vorgebrachte Argumente, die die Erforderlichk e i t 4 2 9 bzw. Zweckmäßigkeit 4 3 0 dieser Form der innergewerkschaftlichen Demokratie anzweifeln. Selbst wenn man den demokratischen Binnenaufbau der Gewerkschaften nicht schon für ein Element des Koalitionsbegriffs h ä l t , 4 3 1 hat das BVerfG doch entschieden, daß zur Koalitionsfreiheit auf jeden Fall die Freiheit der Wahl der Organisationsstruktur gehört. 4 3 2 Wenn sich die Gewerkschaften im Rah425 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; Reuter, FS Müller, S 387 (404); Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 112; Konzen, ArbRdGgw Bd. 18 (1981), S. 21 (33); Zöllner EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG S. 222a (222g). 426 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 427 Vgl. BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 428 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (305). 429 Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 113. 430 Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 73. 431 Traditionell wird ein demokratischer Binnenaufbau der Koalitionen nicht zum Koalitionsbegriff gezählt, vgl. EK - Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 6 ff.; Höfling in:Sachs, GG, Art. 9 RdNr. 56 ff.; Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 218; aA: Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 435. 432 BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (108).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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men dieser Freiheit für einen demokratischen Binnenaufbau entscheiden, der auch die Präsenz in den Betrieben zur Aufgabe gewählter Vertreter macht, ist das als wesentliche Grundentscheidung der Gewerkschaften i m Rahmen der Koalitionsfreiheit zu akzeptieren. Für die hohe Erforderlichkeit - wenn nicht Unerläßlichkeit - der Wahl gerade i m Betrieb spricht schon, daß die Gewerkschaften durch die Wahl i m Betrieb ihre dortige Präsenz und Verankerung zeigen. 4 3 3 Wenn die Existenz gewerkschaftlicher Vertrauensleute dazu dient, die Gewerkschaften stärker in den Betrieben zu verankern und einem Bild der von der betrieblichen Realität abgehobenen Funktionärsgewerkschaft 4 3 4 entgegenzuwirken, ist es auch erforderlich, daß die Wahl selbst dieses Ziel widerspiegelt: Sie muß im Betrieb stattfinden. 4 3 5 Sonst ginge ein wesentlicher Teil der von den Gewerkschaften erstrebten Wirkung verloren. Zuletzt spricht auch die Werbewirkung der Wahl i m Betrieb auf die Nichtmitglieder für ihre Erforderlichkeit. 4 3 6 Das hat das B A G mit dem Argument bestritten, der Werbeeffekt sei allein eine „Nebenwirkung", aber nicht das eigentliche Ziel der W a h l . 4 3 7 Die Wahl der Vertrauensleute dient jedoch, wie gezeigt, auch der Darstellung der von den Gewerkschaften gewünschten innergewerkschaftlichen Demokratie i m Betrieb. Die davon ausgehende Werbewirkung zur Nebensache zu erklären, ist damit nicht mehr möglich. Hier gilt das gleiche wie bei der gewerkschaftlichen Information: Das praktische Beispiel kann einen wesentlich höheren Werbeeffekt haben als die rein zielgerichtete Absichtserklärung. Gegen die Wahl der Vertrauensleute i m Betrieb bestehen damit keine Bedenken.438
§ 31 Besonderer Kündigungsschutz für gewerkschaftliche Vertrauensleute Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute sind normale Arbeitnehmer; damit gelten für sie auch keine besonderen Kündigungsschutzvorschriften, wie sie für Betriebsratsmitglieder die §§ 15 KSchG, 103 BetrVG vorsehen. 4 3 9 Diese Vorschriften
433 Richardi, FS Müller, S. 413 (438). 434 Dazu, daß das BAG in seiner Entscheidung dieses Verständnis der Gewerkschaften stillschweigend zugrundelegt: vgl. Pfarr, AuR 1979, S. 242 (244). 435 pfarr, AuR 1979, S. 242 (244); Pfarr, AuR 1978, S. 290 (293). 436 pfarr, AuR 1979, S. 242 (243); Pfarr, AuR 1978, S. 290 (293). 437 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG. 438 Zum Problem der Überlassung weiterer Räume vgl. unten 3. Teil, 2. Kap., 7. Abschnitt §32. 439 Däubler!Kittner/Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 53; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 85; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 99; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 514.
208
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
- §§ 15 KSchG, 103 BetrVG - sollen der besonderen Konfliktträchtigkeit des Betriebsratsamtes und der damit höheren Gefahr einer Kündigung begegnen. 4 4 0 Allerdings dient der besondere Kündigungsschutz gem. § 15 KSchG nicht allein dem individuellen Interesse der unter ihn fallenden Personen, sondern auch dem kollektiven Interesse der Belegschaft an einer funktionierenden Betriebsverfassung. 441 Das A m t eines gewerkschaftlichen Vertrauensmannes ist zwar auch konfliktträchtig; wegen der besonderen Zielrichtung der §§ 15 KSchG , 103 BetrVG - Schutz der Betriebsverfassung - verbietet sich jedoch eine analoge Anwendung der Vorschriften. Für die gewerkschaftlichen Vertrauensleute besteht damit nur der allgemeine Kündigungsschutz. Eine gewisse weitere Absicherung ihrer Position bewirkt § 75 BetrVG 4 4 2
§ 32 Anspruch auf Bereitstellung von Räumen Daß die Gewerkschaften vom Arbeitgeber über die ihnen zur Verfügung stehenden Räume hinaus auch die Überlassung weiterer Räume verlangen können, wurde - für Teilbereiche der gewerkschaftlichen Betätigung - bisweilen bejaht. 4 4 3 Eine Mehrheit der Stimmen i m Schrifttum gab den Gewerkschaften diese Befugnis jedoch n i c h t 4 4 4 Das Problem der Überlassung von Räumen besteht nicht darin, daß dadurch Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden gestört werden könnten. I m Gegenteil: Wenn die Gewerkschaften nicht die Pausenräume der Arbeitnehmer mitbenutzen müssen, fällt eine mögliche Gefahrenquelle für den Betriebsfrieden sogar weg. Das Problem ist aber, daß die Gewerkschaften vom Arbeitgeber über die bloße Duldung der gewerkschaftlichen Betätigung hinaus eine aktive Förderung verlangen. 4 4 5 Das greift in das Eigentum bzw. den Besitz des Arbeitgebers - geschützt gem. Art. 14 GG - ein. Zudem ist, da die Gewerkschaften eine aktive Förderung verlangen, auch die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers betroffen: Dieser wird verpflichtet, seinen sozialen Gegenspieler zu unterstützen. 440 Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 15 RdNr. 1; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 103 RdNr. 1. 44 1 BAG 06. 11. 1959 AP Nr. 15 zu § 13 KSchG; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 15 RdNr. 1; KR - Etzel, KSchG, § 15 RdNr. 139; Stahlhacke / Preis / Vossen, RdNr. 970. 44 2 GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 99; Hess / Schlochauer/ Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 86. 443 Joswig, Gewerkschaftliche Betätigung, S. 194 ff. (vor Betriebsrats wählen); Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 15 („Am Mangel an Räumen kann eine innerbetriebliche gewerkschaftliche Befragungsaktion aber nicht scheitern."). 444 Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 165; Galperin/ Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 70; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 89; Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53); Hanau, AuR 1983, S. 257 (261); Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 73 (80); Richardi, FS Müller, S. 413 (438). 44 5 Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
209
Damit kommt es entscheidend darauf an, ob die Überlassung weiterer Räume für die Gewerkschaften erforderlich ist. Das kann man sicher verneinen, wenn es Pausenräume bzw. eine Kantine gibt, in der die Gewerkschaft ζ. B. auch Versammlungen durchführen kann. Anders kann es aber sein, wenn es solche Räume, in denen sich die Gewerkschaften betätigen können, nicht gibt. In diesem Fall würde eine Reihe von an sich zulässigen Maßnahmen schlicht am Raummangel scheitern446 Die Erforderlichkeit ist aber dennoch i m Regelfall zu verneinen. Auch ohne die Bereitstellung zusätzlicher Räume kann die Gewerkschaft im Betrieb hinreichend werben und sich betätigen. Sie hat die Möglichkeit, Flugblätter zu verteilen, Informationsstände aufzustellen und die Arbeitnehmer anzusprechen. Die Gewerkschaften können darüber hinaus vom Arbeitgeber verlangen, daß ihnen eine Aushangfläche im Betrieb zugewiesen wird. Daß - je nach den betrieblichen Gegebenheiten auch weitere Betätigungsformen möglich und rechtlich zulässig sein können, heißt noch nicht, daß die Gewerkschaften vom Arbeitgeber verlangen können, ihnen die Voraussetzungen für diese Betätigungen zu schaffen. Das kann nur dann der Fall sein, wenn eine solche Betätigung gegenüber den Interessen des Arbeitgebers den Vorrang verdient. Nötig ist die zusätzliche Überlassung von Räumen vor allem für Versammlungen und ggf. für Abstimmungen. 4 4 7 Der Großteil der anderen Betätigungen - Gespräche, Schriftenverteilung oder Sammlungen von Geld oder Unterschriften kann auch durchgeführt werden, ohne daß spezielle Räume zur Verfügung stehen. Da zumindest Informationsversammlungen der Gewerkschaften nicht von hoher Bedeutung für die Arbeit der Gewerkschaften in den Betrieben sind - die nötige Information kann, wenn auch vielleicht nur etwas schwieriger, auch auf anderem Wege geleistet werden - verdienen hier die Grundrechte des Arbeitgebers den Vorrang, so daß die Gewerkschaften die Überlassung von Räumen für solche Versammlungen nicht verlangen können. Ahnliches gilt für die Wahlen der gewerkschaftlichen Vertrauensleute. A n diesen haben die Gewerkschaften zwar ein berechtigtes Interesse, um ihre Verankerung im Betrieb auch gegenüber ihren Mitgliedern deutlich zum Ausdruck bringen zu können. Eine so hohe Bedeutung, daß man den Arbeitgeber zur Förderung verpflichten muß, haben sie jedoch nicht. Im Gegensatz zur Mitgliederwerbung - diese kann nur im Betrieb erfolgversprechend durchgeführt werden, so daß der Arbeitgeber hier über die Bereitstellung von Aushangflächen zur aktiven Förderung verpflichtet ist - kann die Wahl der Vertrauensleute auch außerhalb des Betriebs durchgeführt werden. Der Arbeitgeber kann von den Gewerkschaften nur zur Duldung 4 4 8 der Wahl, nicht aber zur aktiven Förderung verpflichtet werden.
446 447 448
14 Brock
Vgl. Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 15. Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (53); Richardi, FS Müller, S. 413 (438). So auch: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 509.
210
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
J o s w i g 4 4 9 hat den Vorschlag gemacht, daß der Arbeitgeber zumindest vor Betriebsratswahlen verpflichtet sein kann, einen Raum für die Kandidatenvorstellung zu stellen. Er folgert das aus einer analogen Anwendung von § 20 Abs. 3 BetrVG i V m § 14 Abs. 5 BetrVG. Zu den vom Arbeitgeber zu tragenden Kosten der Wahl gehörten auch die Auslagen der Wahlkandidaten. Das kann aber nicht überzeugen. § 20 Abs. 3 BetrVG betrifft allein die Kosten der Wahl selbst und des Wahlvorstands. 4 5 0 Eine solche Auslegung wäre auch mit der Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers nicht zu vereinbaren. Zu den Kosten, die den Kandidaten zu ersetzen wären, gehörten auch die Kosten für Flugblätter und anderes Informationsmaterial. Der Arbeitgeber wäre gezwungen, gewerkschaftliches Informationsmaterial - die Wahlwerbung läßt sich nicht von der allgemeinen Werbung trennen - zu finanzier e n . 4 5 1 Die Bereitstellung von Räumen können die Gewerkschaften aber auch nicht gestützt auf Art. 9 Abs. 3 GG verlangen; eine erfolgreiche Wahlwerbung ist auch ohne eine Wahlversammlung möglich. Grundsätzlich ist die Überlassung von zusätzlichen Räumen also nicht so erforderlich, daß die Gewerkschaften sie vom Arbeitgeber verlangen können. Etwas anderes kann aber gelten, wenn aufgrund besonderer Umstände im Betrieb die Mitgliederwerbung so erschwert ist, daß sonst kein persönlicher Kontakt zwischen den Gewerkschaftsmitgliedern und den Arbeitnehmern im Betrieb möglich ist. Dann darf die für die Gewerkschaften besonders wichtige Mitgliederwerbung nicht am Raummangel scheitern; der Arbeitgeber kann verpflichtet sein, den Gewerkschaften Räume zur Verfügung zu stellen. 4 5 2
8. Abschnitt
Zugangsrecht § 33 Das koalitionsrechtliche Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zum Betrieb Bisher ist erörtert worden, inwieweit sich die Gewerkschaften mit Hilfe ihrer betriebsangehörigen Mitglieder betätigen dürfen. Die Gewerkschaften haben jedoch auch ein Interesse daran, sich mit nicht betriebsangehörigen Beauftragten i m Betrieb zu betätigen. Anders als beim betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrecht gem. § 2 Abs. 2 BetrVG geht es beim hier behandelten koalitionsrechtlichen Zugangsrecht nicht um die Wahrnehmung der Befugnisse i m Rahmen der Betriebs-
449
Joswig, Gewerkschaftliche Betätigung, S. 194 ff. 50 Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 20 RdNr. 29, 31.
4
451
So auch: Joswig, Gewerkschaftliche Betätigung, S. 200 - Ansprüche von nicht gewerkschaftsgebundenen Wählerlisten. 452 Hanau, Gewerkschaftliche Befragungsaktionen, S. 15.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
211
Verfassung, 453 sondern um die Wahrnehmung der eigennützigen Befugnisse der Gewerkschaften durch Gewerkschaftsbeauftragte. Der Streit um das Zugangsrecht, der in den siebziger Jahren die Arbeitsgerichte und die arbeitsrechtliche Literatur beschäftigte, ist schon oben dargestellt worden. Das BVerfG hatte ein Zugangsrecht bekanntlich als nicht unerläßlich abgelehnt, 4 5 4 das B A G war dem schließlich gefolgt. Die Literatur bejahte teilweise ein Zugangsrecht, 4 5 5 andere Autoren lehnten es a b . 4 5 6 Auch auf Basis des neuen Beschlusses des BVerfG ist die Meinungslage uneinheitlich. 4 5 7
I. Vorüberlegungen 1. Die Bindungswirkung der Volmarstein-Entscheidung des BVerfG gem. § 31 BVerfGG Entscheidungen des BVerfG haben gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht nur bindende Wirkung hinsichtlich der Verfahrensbeteiligten. Sie binden auch die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, außerdem alle Gerichte und Behörden. Für ein Arbeitsgericht, das über das Zugangsrecht der Gewerkschaften erneut entscheiden müßte, ist damit wesentlich, wie weit diese Bindungswirkung der Entscheidung des B V e r f G 4 5 8 reicht. Zwar könnte man überlegen, daß die Bindungswirkung zugleich mit der Kernbereichslehre entfallen ist, da die dogmatische Grundlage des Beschlusses überholt ist. Dagegen spricht jedoch, daß das BVerfG 453 Vgl. BAG 26. 06. 1973 BB 1973 S. 1437 (1438); Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 38; EK - Eisemann, BetrVG, § 2 RdNr. 5. 454 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 455 DäublerI Kittner I Klebe, BetrVG, § 2 RdNr. 45; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 258 f.; Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 107; Fitting /Kaiser/ Heither/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 57a f. Zugangsrecht nur, wenn Gewerkschaft noch nicht im Betrieb vertreten ist: Löwisch in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 246 RdNr. 163; Gola, MDR 1987, S. 362 (363); Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 148 f.; Hanau, ArbRdGgw Bd. 17 (1980), S. 37 (55 f.); Herschel, AuR 1981, S. 265 (267); Säcker, AuR 1979, S. 39; Otto EzA Nr. 32 zu Art. 9 GG. 456 Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 27; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 91 f.; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 149; Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 260; Reuter, FS Müller, S. 387; Reuter, ZfA 1976, S. 107 (160); Schönfeld, BB 1989, S. 1818 (1821); Sowka/ Krichel, DB 1989 Beil. 11, S. 7; Konzen, FS Kissel, S. 571 (586); Richardi, FS Müller, S. 413 (441); Richardi, DB 1978, S. 1736 (1742); Hanau, AuR 1983, S. 259 f.; Mayer-Maly, BB 1979 Beil 4, S. 5; Scholz, SAE 1981, S. 265 (267); Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (116); Rüthers/ Klosterkemper EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 457 Für Zugangsrecht: Schulte-Westenberg, NJW 1997, S. 375 (376); EK - Schlachter, GG, Art. 9 RdNr. 34 - wenn Gewerkschaft nicht im Betrieb vertreten; Däubler, DB 1998, S. 2014 (2016 f.); Fitting /Kaiser/Heither/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 57a f.; gegen Zugangsrecht: Bauer in: Küttner, Personalhandbuch 2001, 206 RdNr. 26; Hanau, ZIP 1996, S. 447; Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 73 (80). 458 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220. 14*
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
in der Entscheidung vom 14. 11. 1 9 9 5 4 5 9 klargestellt hat, daß es an der Volmarstein-Entscheidung festhalten will. Der Umfang der Bindungswirkung der Volmarstein-Entscheidung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG muß damit weiterhin beachtet werden. Die Bindungswirkung umfaßt auf jeden Fall den Tenor einer Entscheidung des BVerfG. Dabei ist allerdings auf den verfassungsrechtlichen Kern der entschiedenen Frage abzustellen. Die Umstände des Einzelfalls sind also so zu typisieren, daß sich ein verallgemeinerungsfähiger abstrakter Rechtssatz ergibt. 4 6 0 Nach, allerdings nicht unbestrittener, Ansicht des BVerfG nehmen auch die tragenden Gründe der Entscheidung an der Bindungswirkung t e i l . 4 6 1 Die Volmarstein-Entscheidung des BVerfG betraf, wie schon oben gezeigt, allein den Sonderfall des gewerkschaftlichen Zugangsrechts zu kirchlichen Einrichtungen. Der amtliche Leitsatz der Entscheidung stellt das genügend deutlich k l a r . 4 6 2 Kern der Entscheidung war, daß das B A G die gesetzliche Wertung in § 118 Abs. 2 BetrVG nicht beachtet hatte: Wenn schon das BetrVG - und damit das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht - für kirchliche Einrichtungen ausgeschlossen ist, so kam ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht nur dann in Frage, wenn auch der Gesetzgeber verpflichtet wäre, ein solches Zugangsrecht zu schaffen. Die Entscheidung bezieht sich also nur auf kirchliche Einrichtungen. A u f den Streit, ob ein Zugangsrecht dann in Betracht kommt, wenn die Gewerkschaft noch nicht i m Betrieb vertreten i s t , 4 6 3 ist damit nicht mehr einzugehen. Die i m Anschluß an die Entscheidung diskutierte Frage, ob sich die Bindungswirkung auch auf die Kernbereichslehre bezieht, 4 6 4 spielt ebenfalls keine Rolle mehr. Die Bindungswirkung der Volmarstein-Entscheidung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG betrifft also allein das Zugangsrecht zu kirchlichen Einrichtungen.
2. Schutz eines Zugangsrechts durch Art. 9 Abs. 3 GG Daß sich ein Zugangsrecht der Gewerkschaften nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG ergeben könne, folgert Richardi aus der Ansicht, die die kollektive Koalitionsfreiheit nur über Art. 19 Abs. 3 GG geschützt sieht 4 6 5 Wenn die Rechte der Gewerkschaf459 BVerfG 14. 11. 1995 EzA Nr. 60 zu Art. 9 GG. 460
Vgl. Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 28. 461 BVerfG 20. 01. 1966 E 19 S. 377 (392); BVerfG 19. 06. 1966 E 20 S. 56 (87); BVerfG 10. 06. 1975 E 40 S. 88 (93). 462 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (vgl. insbesondere auch den amtlichen Leitsatz). 463 Vgl. Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 28 f.; Dütz, Gewerkschaftliche Betätigung in kirchlichen Einrichtungen, S. 13, 20. 464 Vgl. Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 30. 465 Richardi, FS Müller, S. 413 (440); Richardi, DB 1978, S. 1736 (1739); zustimmend: Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (114).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
213
ten selbst aus Art. 19 Abs. 3 GG folgten, könnten diesen nicht mehr Rechte zustehen als den Gewerkschaftsmitgliedern selbst. Das einzelne Gewerkschaftsmitglied habe aber - unstreitig - kein Zugangsrecht zu fremden Betrieben. Diese Ansicht ist so nicht haltbar. Unabhängig davon, daß schon dem immerhin diskussionswürdigen Ausgangspunkt dieser Ansicht - dem Schutz der Gewerkschaften selbst nur über Art. 19 Abs. 3 GG - nicht gefolgt werden kann, vermischt diese Ansicht den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit mit dem Ergebnis einer Abwägung. Stichhaltig wäre diese Ansicht nur, wenn ein Zugangsrecht nicht zum Schutzbereich der individuellen Koalitionsfreiheit gehörte. Genau das begründet Richardi aber nicht; 4 6 6 es läßt sich wohl auch nicht begründen, denn das - tatsächlich wohl unstreitige - Ergebnis, daß einzelne Gewerkschaftsmitglieder kein Zugangsrecht zu fremden Betrieben haben, ist das Ergebnis einer Abwägung. Der Schutzbereich der individuellen Koalitionsfreiheit umfaßt auch koalitionsfördernde Betätigungen. Daß dazu auch der verfassungsrechtliche Schutz eines Zugangsrechts gehört, ergibt sich schon aus der Situation vor der Gewerkschaftsgründung. 4 6 7 Hier muß es zum Schutzbereich gehören, auch fremde Betriebe zum Zwecke der Mitgliederwerbung zu betreten. Daß eine Abwägung mit entgegenstehenden Grundrechten des Arbeitgebers zum Ausschluß eines solchen Zugangsrechts führen kann, ergibt sich (auch) aus dem dann drohenden „ G e w i m m e l " 4 6 8 allzuvieler Gewerkschaftsbeauftragter im Betrieb. Das betrifft aber nicht den Schutzbereich der individuellen Koalitionsfreiheit. Richtig an Richardis Ansicht ist allerdings die Beobachtung, daß sich das Zugangsrecht der Gewerkschaften allein auf die kollektive Koalitionsfreiheit stützen kann. Die meisten der oben besprochenen Maßnahmen stützten sich auf die kollektive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften und die individuelle Koalitionsfreiheit der Gewerkschaftsmitglieder: Die Gewerkschaft nahm als Trägerin der Maßnahme ihre kollektive Koalitionsfreiheit wahr, die Gewerkschaftsmitglieder als die Ausführenden der Maßnahme nahmen dadurch ihre individuelle Koalitionsfreiheit als Teilnahmerecht an der kollektiv geschützten Betätigung wahr.
II. Entgegenstehende Rechte Dritter Die Probleme, die bei der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb durch betriebsangehörige Gewerkschaftsmitglieder entstehen, treten so - mit Ausnahme der Verletzung der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten, insbesondere der Arbeitspflicht - auch beim Einsatz von Gewerkschaftsfunktionären auf. Eine weitergehende Beschränkung, bis hin zum Ausschluß des Zugangsrechts, kann sich damit nur
466 Vgl. auch Reuter, FS Müller, S. 387 (389). 467 Hanau, AuR 1983, S. 257 (260). 468 Hanau, AuR 1983, S. 257 (260).
214
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
aus zusätzlichen Beeinträchtigungen durch den Einsatz von Gewerkschaftsbeauftragten ergeben.
1. Art 13 GG - Das H ausrecht des Arbeitgebers Als erster zusätzlicher Gesichtspunkt kommt die Verletzung des durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützten Hausrechts des Arbeitgebers in Betracht. Hinsichtlich der betriebsangehörigen Gewerkschaftsmitglieder spielte dieser Gesichtspunkt wegen des ohnehin bestehenden Einverständnisses des Arbeitgebers mit dem Betreten des Betriebs keine R o l l e . 4 6 9 Art. 13 GG dient weniger dem Schutz des Eigentums, sondern w i l l dem Bürger eine Privatsphäre sichern, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit dient. Da die Persönlichkeit gerade auch durch die Arbeit entfaltet wird, ist auch der räumliche Betriebsbereich durch Art. 13 GG geschützt. 4 7 0 Da die Betriebs- und Geschäftsräume jedoch dem Kontakt mit anderen - Arbeitnehmern und Kunden - dienen, ist der Schutz der „privaten Intimsphäre" hier weniger stark. 4 7 1 Der Betrieb ist danach eine offenere Sphäre als die private Wohnung: Er wird ohnehin von den Arbeitnehmern betreten; zudem ist er grundsätzlich offen für Kunden, Lieferanten oder Mitarbeiter ausgelagerter Betriebsteile. Der hinter Art. 13 GG stehende Gedanke einer ungestörten Privatsphäre, deren Verletzung eine „persönliche Betroffenheit" 4 7 2 auslöst, läßt sich auf den Betrieb damit nur begrenzt übertragen. 473 Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen den oben genannten Personen und den Gewerkschaftsbeauftragten. Bei Arbeitnehmern, Kunden oder Lieferanten liegt ein Einverständnis des Arbeitgebers mit dem Betreten des Betriebs vor; die Gewerkschaftsbeauftragten werden den Betrieb aber ohne oder zumindest nur mit einem erzwungenen Einverständnis des Arbeitgebers betreten. Die beiden Fälle sind also nur sehr bedingt miteinander zu vergleichen. 4 7 4 Der mit dem erzwungenen Betreten des Betriebs verbundene persönliche Widerwille des Betriebsinhabers allein begründet im Regelfall aber keine hohe Intensität des Eingriffs in das Hausrecht. 4 7 5 Wichtiger ist hier der funktionelle Schutz des Betriebs, also der Schutz vor Störungen des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens. 476 In diesem Rahmen wird allerdings auf die oben genannten Überlegungen zurückzugreifen sein. 469 Rüthers / Klosterkemper EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 470 BVerfG 13. 10. 1971 E 32 S. 54 (68 ff.); kritisch dazu: Battis, JuS 1973, S. 25 (27). 471 472 473 474 475 476
BVerfG 13. 10. 1971 E 32 S. 54 (75 f.); Aussem, Ausstrahlungswirkung, S. 87. Reuter, ZfA 1976, S. 107 (155). Schwerdter, SAE 1980, S. 113 (114); Hoffmann, AuR 1969, S. 73 (76 f.). Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 117. Reuter, ZfA 1976, S. 107 (154). Reuter, ZfA 1976, S. 107 (155); Otto, Koalitionsspezifische Betätigung, S. 58.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
215
In Einzelfällen kann aber auch die Privatsphäre des Arbeitgebers oder Dritter bedroht sein, etwa bei Hausangestellten oder in Pflegeheimen. Dann kommt Art. 13 GG bei der Abwägung ein hohes Gewicht z u . 4 7 7
2. Art. 14 GG - Das Eigentum des Arbeitgebers Zusätzliche Beeinträchtigungen des Eigentums des Arbeitgebers sind durch ein Zugangsrecht nicht zu erwarten. 4 7 8 Zwar nimmt die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb immer zwangsläufig das Eigentum - oder zumindest den Besitz - des Arbeitgebers in Anspruch. Insoweit ergeben sich durch ein Zugangsrecht keine zusätzlichen Beeinträchtigungen i m Vergleich zur gewerkschaftlichen Betätigung durch Betriebsangehörige. Die Grenzen, die für die Arbeitnehmer i m Betrieb gelten, muß auch ein Gewerkschaftsbeauftragter einhalten. Da sich jedoch keine weiteren Probleme durch den Zugang ergeben, spielt Art. 14 GG für das Sonderproblem des Zugangsrechts keine Rolle.
3. Art. 12 GG - Schutz von Arbeitsablauf
und Betriebsfrieden
a) Probleme beim Zugang eines einzelnen Gewerkschaftsbeauftragten Störungen des Arbeitsablaufs sind durch den Zugang betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter jedenfalls dann nicht zu besorgen, wenn sich diese an die oben dargestellten Grenzen des Betätigungsrechts halten, insbesondere also nicht während der Arbeitszeit der Arbeitnehmer werben. Allerdings besteht bei betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten, die mit den Arbeitsabläufen i m Betrieb gar nicht vertraut sind, das Problem, daß für sie nicht absehbar ist, ob ein Verhalten Störungen hervorrufen kann, in besonderer Weise. Die Beachtung der Grenzen der Werbebefugnis in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ist damit von besonderer Wichtigkeit. M i t dem Zugangsrecht ist zudem grundsätzlich eine erhöhte Gefahr für den Betriebsfrieden verbunden. Daß mit der gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb, insbesondere mit der Mitgliederwerbung, zumindest insofern eine gewisse Gefahr für den Betriebsfrieden verbunden ist, als eine potentielle neue Quelle für Konflikte innerhalb der Belegschaft gesetzt wird, ist oben schon näher dargelegt worden. Das Interesse der Arbeitnehmer, sich Werbung, auch der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften, entziehen zu können, ist rechtlich geschützt durch die negative Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG. I m Betrieb ist die Gefahr für dieses Recht besonders stark; der Arbeitnehmer muß seine Pflichten aus dem Arbeitsver-
477 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG. 478
Klosterkemper,
Zugangsrecht, S. 121.
216
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
trag erfüllen und kann sich der Werbung nur begrenzt entziehen. Zugleich ist das gegenseitige Verhältnis der Arbeitnehmer besonders sensibel. Der Arbeitnehmer verbringt einen großen Teil seiner Zeit i m Betrieb und damit in einer Zwangsgemeinschaft, so daß das Interesse an einer Vermeidung von Störungen des gegenseitigen Verhältnisses zu den Kollegen besonders groß ist. Der Einsatz von Gewerkschaftsfunktionären i m Betrieb verschärft dieses Problem. Der Arbeitnehmer, der sich für seine Gewerkschaft betätigt, betritt den Betrieb in erster Linie, um zu arbeiten. Diese primäre Zweckrichtung entfällt bei Gewerkschaftsbeauftragten. 479 Dieser betritt den Betrieb zum Zwecke der Werbung. Das führt zu einer anderen Erwartungshaltung. Er ist noch stärker als der werbende Betriebsangehörige erfolgsorientiert, 4 8 0 d. h. er wird den Zweck seines Besuchs erst dann für erfüllt halten, wenn es ihm gelang, neue Mitglieder für seine Gewerkschaft zu werben. Damit besteht gleichzeitig die Gefahr, daß er die Arbeitnehmer im Betrieb bedrängt und so deren negative Koalitionsfreiheit verletzt - mit der Gefahr einer Störung des Betriebsfriedens. Auch ist der Gewerkschaftsbeauftragte - anders als der Arbeitnehmer des Betriebs - nicht in die Belegschaft integriert. Das werbende Gewerkschaftsmitglied hat ein eigenes Interesse an einem guten und störungsfreien Umgang mit den Kollegen, mit denen es täglich zusammenarbeiten muß. Es wird deshalb auch i m eigenen Interesse versuchen, Störungen oder Gefährdungen des Betriebsfriedens zu vermeiden. Diese Integration in die Belegschaft entfällt beim betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten. Auch wenn das nicht heißt, daß er bewußt Störungen des Betriebsfriedens in Kauf nehmen wird, so ist doch zu erwarten, daß er grundsätzlich eher konfliktbereit ist als ein Arbeitnehmer des Betriebs.
b) Probleme beim Zugang mehrerer Gewerkschaftsbeauftragter A u f ein anderes wichtiges Problem hat Hanau hingewiesen: 4 8 1 Ein Zugangsrecht zum Betrieb stünde grundsätzlich allen Gewerkschaften, auch den nicht tarifzuständigen oder im Betrieb vertretenen, zu; darüber hinaus grundsätzlich auch allen Arbeitnehmern, die eine Gewerkschaft gründen wollen, so daß der Betrieb schon allein durch die Anzahl der werbenden und sich betätigenden Gewerkschaftsbeauftragten beeinträchtigt w ü r d e . 4 8 2 Das Argument, ob es wirklich in dieser Hinsicht zu Störungen komme, könne man abwarten, 4 8 3 kann demgegenüber nicht überzeugen. Zu der Anzahl der Gewerkschaftsvertreter, die sich im Betrieb betätigen wol479 Vgl. Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 115; Rüthers ! Klosterkemper Art. 9 GG. 480 Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 121. 48 1 Hanau, AuR 1983, S. 257 (260). 48 2 Hanau, AuR 1983, S. 257 (260) spricht von „Gewimmel". 48 3 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 259.
EzA Nr. 25 zu
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
217
len, kommt ja zusätzlich auch noch die Frage, wie oft die einzelne Gewerkschaft den Zugang verlangen kann. Ohne festgelegte Grenzen gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: grundsätzlich täglich. Dann kann es - für größere Betriebe können Gewerkschaften durchaus einen hauptamtlichen Gewerkschaftsvertreter abstell e n 4 8 4 - sehr bald zu Störungen kommen. Diese Konflikte drohen nicht allein aufgrund der Anzahl der Gewerkschaftsbeauftragten. Ein Zusammentreffen der Gewerkschaftsbeauftragten ist fast unverm e i d l i c h . 4 8 5 Hier drohen ernsthafte Konflikte zwischen den Beauftragten konkurrierender Gewerkschaften. Diese vertreten ihre Koalitionen, die in einer Konkurrenzsituation zueinander stehen: Jeder Arbeitnehmer, den der eine Gewerkschaftsbeauftragte wirbt, ist für die Gewerkschaft des anderen als potentielles Mitglied (vorerst) verloren. Auch um die Anzahl der Sitze i m Betriebsrat konkurrieren die Koalitionen. Während bei den Arbeitnehmern des Betriebs diese Spannungen zumindest noch durch das verbindende Element der Betriebszugehörigkeit und das gemeinsame Interesse am Gemeinwohl gemildert werden, treten bei den Gewerkschaftsbeauftragten diese Spannungen deutlich zutage; Konflikte unter den Gewerkschaftsbeauftragten drohen. Die aus der Konkurrenzsituation möglicherweise entstehenden Konflikte können sich dann auch auf die Arbeitnehmer im Betrieb übertragen. 4 8 6
4. Einschränkungen
aus dem BetrVG
Weitere Probleme beim Zugangsrecht können sich aus den mittelbar grundrechtsprägenden Normen des BetrVG ergeben.
a) Gefahren für die Unabhängigkeit des Betriebsrats Es besteht die Gefahr, daß der Betriebsrat in den Sog der durch die betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten gesteigerten Konflikte hineingezogen w i r d . 4 8 7 Zumindest droht, daß das Handeln des Betriebsrats durch diese Konflikte beeinflußt wird. Verschärfte Auseinandersetzungen der Gewerkschaften i m Betrieb bedeuten für die einzelne Gewerkschaft einen Profilierungszwang: Die Gewerkschaft wird gezwungen, sich als die beste Arbeitnehmervertretung darzustellen. Der Betriebsrat wird von diesen Profilierungsbemühungen zwangsläufig beeinflußt. Gewerkschaftsmitglieder, die auch Betriebsratsmitglieder sind, können in die Versuchung kommen, ihr Handeln i m Betriebsrat stärker an den Interessen ihrer Gewerkschaft 484 Vgl. Reuter, FS Müller, S. 387 (401). 485 aA: Müller, ZfA 1972, S. 213 (242) meint, man könne das Problem durch eine Ausgestaltung des Zugangsrechts in den Griff bekommen. 486 Reuter, ZfA 1976, S. 107 (156). 487 Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (115); vgl. auch: Müller, ZfA 1972, S. 213 (242).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
auszurichten. Umgekehrt können nicht i m Betriebsrat vertretene Gewerkschaften, um eine i m Betriebsrat vertretene Gewerkschaft zu treffen, die Politik des Betriebsrats angreifen. Das droht aber den Grundsatz der gewerkschaftlichen Neutralität des Betriebsrats 4 8 8 auszuhöhlen. Das Handeln des Betriebsrats wird sich immer auch an dem gewerkschaftspolitisch Opportunen orientieren; das kann soweit gehen, daß Betriebsratsmitglieder versucht sein können, die Mitglieder der eigenen Gewerkschaft entgegen § 75 BetrVG zu bevorzugen. Je stärker die Betriebsratsmitglieder ihr Handeln an den Interessen ihrer Gewerkschaft ausrichten, desto stärker werden auch die Grundsätze für die Arbeit des Betriebsrats in § 2 Abs. 1 BetrVG gefährdet. 4 8 9 Der Betriebsrat ist danach auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber verpflichtet; das gilt für die Gewerkschaften nicht. Damit gerät ein stark an den Interessen der Gewerkschaft ausgerichtetes Handeln des Betriebsrats in Konflikt mit dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Auch soll der Betriebsrat gem. § 2 Abs. 1 BetrVG zum „Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs" tätig werden. Diese Bindung an das Betriebswohl besteht für die Gewerkschaften nicht. Das Konfliktpotential 4 9 0 zwischen den Interessen der Gewerkschaften und dem am Betriebswohl orientierten Handeln des Betriebsrats haben die Fälle tarifwidriger Betriebsvereinbarungen 491 i m Interesse des Betriebs deutlich gezeigt. Die Interessen der Gewerkschaften können dem Wohl des Betriebs entgegenstehen. Je stärker aber die Betriebsratsmitglieder ihr Handeln allein an den Interessen der Gewerkschaften ausrichten, desto weniger werden sie ihr Handeln an den Interessen des Betriebs ausrichten. Hier muß auch die Situation von nicht gewerkschaftsangehörigen Betriebsratsmitgliedern gesehen werden: Wenn der Betriebsrat in den Sog der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen gerät, wird seine gewerkschaftsunabhängige Position schwieriger. Das gilt in besonderer Weise für die Betriebsrats wählen. Gem. § 14 Abs. 5 BetrVG sind nicht nur Kandidaturen von Gewerkschaftslisten vorgesehen, sondern auch Kandidaturen von gewerkschaftsunabhängigen Listen. Deren Wahlchancen sinken aber, wenn die Politik des Betriebsrats sich den Arbeitnehmern im Betrieb allein aus der Perspektive der verschiedenen Gewerkschaftspositionen darstellt. Eine aussichtsreiche Kandidatur für den Betriebsrat wäre damit nur noch auf gewerkschaftlichen Listen und für Gewerkschaftsmitglieder möglich. Das verstößt gegen die negative Koalitionsfreiheit der übrigen Arbeitnehmer.
488 BVerfG 26. 05. 1970 E 28 S. 295 (309); aA: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 427, 66 ff. 489 Rüthers ! Klosterkemper EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; Müller, ZfA 1972, S. 213 (237); Kraft, ZfA 1973, S. 243 (245). 490 Vgl. Reuter, ZfA 1976, S. 107 (149). 491 Vgl. BAG 20. 04. 1999 DB 1999 S. 1555.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
219
b) Grenzen aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrecht gem. § 2 Abs. 2 BetrVG Ein anderer Gesichtspunkt ist, inwieweit das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht gem. § 2 Abs. 2 BetrVG Einfluß auf das koalitionsrechtliche Zugangsrecht hat. Der Richter hat bei der Ausgestaltung des koalitionsrechtlichen Zugangsrechts die Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu beachten. Dazu gehören insbesondere auch die Grenzen des § 2 Abs. 2 BetrVG. Ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht darf damit nicht dazu führen, daß die Grenzen des betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrechts unterlaufen werden können. 4 9 2 § 2 Abs. 2 BetrVG gewährt den Gewerkschaften kein unbeschränktes Zugangsrecht; ein Zugangsrecht besteht nur zur Wahrnehmung von Aufgaben, die mit dem BetrVG zumindest i m Zusammenhang stehen. 4 9 3 Das Zugangsrecht gem. § 2 Abs. 2 BetrVG ist zweckgebunden. 4 9 4 § 2 Abs. 2 BetrVG gibt den Gewerkschaften damit kein allgemeines Zugangsrecht. 4 9 5 Das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht ist l i m i t i e r t . 4 9 6 Diese Beschränkung des betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrechts ist das Ergebnis einer bewußten Entscheidung des Gesetzgebers. Ursprünglich war bei der Neufassung des BetrVG noch ein sehr weitgehendes Zugangsrecht geplant gewesen: „Im Rahmen der in diesem Gesetz genannten Aufgaben und Befugnisse der Gewerkschaften ist deren Beauftragten Zugang zum Betrieb und zu den Arbeitnehmern zu gewähren, soweit dem nicht unumgängliche Notwendigkeiten des Betriebsablaufs oder zwingende SicherheitsVorschriften entgegenstehen."497 Der Regierungsentwurf veränderte dieses weite Zugangsrecht in die heutige - beschränkte - Gesetzesfassung. 498 § 2 Abs. 2 BetrVG ist nicht als abschließende Norm zu verstehen; 4 9 9 dagegen spricht schon § 2 Abs. 3 BetrVG, nach dem die Befugnisse der Gewerkschaften vom BetrVG nicht berührt werden. 5 0 0 Das heißt aber noch nicht, daß der Richter, der das Recht fortbildet, die Wertungen des Gesetzgebers in § 2 Abs. 2 BetrVG
492 Mayer-Maly, BB 1979 Beil. 4 S. 3; Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (115); Rüthers! Klosterkemper EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 95. 493 BAG 26. 06. 1973 BB 1973 S. 1437. 494 Etzel, BetrVG, RdNr. 1412. 495 BAG 26. 06. 1973 BB 1973 S. 1437; Etzel, BetrVG, RdNr. 1413. 496 Mayer-Maly, BB 1979 Beil. 4, S. 3; Richardi, DB 1978, S. 1736 (1738). 497 So § 2 Abs. 2 des Referentenentwurfs zum BetrVG 1972; vgl. RdA 1970 S. 357. 498 Richardi, DB 1978, S. 1736 (1738). 499 So aber: Mayer-Maly, BB 1979 Beil 4, S. 3. 500 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; Begründung zum Regierungsentwurf in: BT-Drucksache VI72729 S. 17.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
außer acht lassen dürfte. 5 0 1 Dagegen wird zwar eingewandt, daß gerade dadurch § 2 Abs. 3 BetrVG mißachtet werde; § 2 Abs. 2 BetrVG habe nicht der Einschränkung der Rechte der Gewerkschaften dienen sollen. 5 0 2 Damit wird § 2 Abs. 3 BetrVG überinterpretiert; die Norm soll lediglich klarstellen, daß die Koalitionsaufgaben wie der Abschluß von Tarifverträgen oder die Prozeßvertretung von Mitgliedern durch das BetrVG weder geregelt noch eingeschränkt werden. 5 0 3 Damit ist aber nicht gesagt, daß die Betätigung der Gewerkschaften i m Betrieb, die der Gesetzgeber nicht geregelt hat, vom Richter ohne Rücksicht auf die Regelungen des BetrVG geregelt werden könnten. Die Wertentscheidung des Gesetzgebers für ein beschränktes Zugangsrecht könnte durch ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht unterlaufen werden, wenn nämlich die Grenzen des Zugangsrechts gem. § 2 Abs. 2 BetrVG ihre Bedeutung verlieren, da die Gewerkschaften, gestützt auf Art. 9 Abs. 3 GG, ohnehin ohne Einschränkung den Zugang zum Betrieb verlangen könnten. 5 0 4 Ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht muß also seinerseits so beschränkt sein, daß die Grenzen des betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrechts nicht bedeutungslos werden. 5 0 5
5. Die Rechtsschutzmöglichkeiten
des Arbeitgebers
Ein Zugangsrecht der Gewerkschaften wirft damit eine Reihe von Problemen auf. Soweit es möglich ist, diesen durch eine Ausgestaltung des Zugangsrechts - insbesondere durch die Aufstellung räumlicher und zeitlicher Grenzen - zu begegnen, stellt sich die Frage, wie die Einhaltung dieser Grenzen gesichert werden kann. Das heißt vor allem, nach den Sanktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers zu fragen. Es wird in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, gegen ein Zugangsrecht spreche (auch) der Gesichtspunkt der mangelnden Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitgebers. 5 0 6 Der Arbeitgeber habe keine Möglichkeit, gegen die Gewerkschaftsbeauftragten selbst vorzugehen; Schadensersatzansprüche scheiterten daran, daß es nur i m Ausnahmefall gelingen werde, einen bezifferbaren Schaden nachzuweisen. Vorbeugender Rechtsschutz des Arbeitgebers scheitere daran, daß
501 Richardi, DB 1978, S. 1736 (1739); Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (115). 502 Säcker, AuR 1979, S. 39 (41) - unter Hinweis auf die Ausschußberatungen, insbesondere die Äußerungen des zuständigen Ministerialdirektors Fitting. 503 Fitting /Kaiser//Heither/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 53; Reuter, ZfA 1976, S. 107 (158 f.); Reuter, FS Müller, S. 387 (388). 504 Mayer-Maly, BB 1979 Beil. 4, S. 3; enger: Jülicher, ZfA 1980, S. 121 (134), Hahn, Gewerkschaftliche Betätigung in der Dienststelle, S. 257. 505 Mayer-Maly, BB 1979 Beil. 4, S. 3; Richardi, DB 1978, S. 1736 (1741). 506 Jürging/Kass, DB 1967, S. 864 (865); Reuter, ZfA 1976, S. 107 (156 f.); Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 128; Rüthers/ Klosterkemper EzA Nr. 25 zu Art 9 GG S. 178 j.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
221
dem Arbeitgeber das Verhalten der Gewerkschaftsbeauftragten nicht vorhersehbar sei. Einzig möglich sei damit die künftige Verweigerung des Zugangs für den einzelnen Gewerkschaftsfunktionär. Der vom B A G aufgestellte Schrankenkatalog - und damit auch weitere Schrankenkataloge - würden so zum reinen „moralischen Appell" und zur „lex imperfecta". 5 0 7 Gegen dieses Argument wird eingewandt, Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitgebers seien nicht nötig. Die Gegenseite gehe von einem veralteten Gewerkschaftsbild des „Aufwieglervereins" aus; tatsächlich sei es jedoch in den Betrieben, in denen das Zugangsrecht auf freiwilliger Basis des Arbeitgebers praktiziert werde, nicht zu Störungen gekommen; auch § 2 Abs. 2 BetrVG gehe selbstverständlich von einem rechtmäßigen Verhalten der Gewerkschaftsvertreter aus und sehe keine Sanktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers v o r . 5 0 8 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß i m Fall des freiwillig praktizierten Zugangsrechts in Wahrheit eine sehr wirksame Sanktionsmöglichkeit des Arbeitgebers gegen die Gewerkschaften vorliegt: der Widerruf des freiwillig eingeräumten Zugangsrechts. Hinsichtlich § 2 Abs. 2 BetrVG ist zu bemerken, daß der unmittelbare Kontakt i m Rahmen dieses Zugangsrechts zu den Arbeitnehmern und die Zielrichtung des Besuchs wesentlich andere sind; Rückschlüsse auf ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht läßt § 2 Abs. 2 BetrVG nur bedingt zu. Die Notwendigkeit hinreichender Sanktionsmöglichkeiten ist auch unabhängig von einem „veralteten Gewerkschaftsbild". Möglichkeiten zu diskutieren, wie wirksam für eine Einhaltung der nötigen Grenzen der Werbebefugnisse der Gewerkschaften gesorgt werden kann - dazu gehören auch Sanktionsmöglichkeiten für Fehlverhalten - , heißt nicht, die Gewerkschaften als „Aufwieglervereine" unter Generalverdacht zu stellen. Daß der Arbeitgeber auf Diebstähle i m Betrieb mit einer Kündigung reagieren k a n n , 5 0 9 heißt auch nicht, alle Arbeitnehmer als potentielle Diebe zu verdächtigen. Die Möglichkeit eines Fehlverhaltens ist auch bei Gewerkschaftsfunktionären nicht auszuschließen. Zudem stellt sich für den Arbeitgeber gerade bei den betriebsfremden Gewerkschaftsfunktionären das Sanktionsproblem in besonderer Weise. Zugangsrecht heißt, daß die Gewerkschaften den Zugang ihrer Beauftragten auch gegen den Willen des Arbeitgebers zwangsweise durchsetzen können. Der damit verbundene persönliche Widerwille des Arbeitgebers ist zwar rechtlich nicht ausschlaggebend; im Hinblick auf die mit dem Zugangsrecht verbundenen - erhöhten - Gefahren für Arbeitsablauf und Betriebsfrieden kann der Aspekt des Vertrauens des Arbeitgebers aber nicht unbeachtet bleiben. Hier bestehen zwei wesentliche Unterschiede zwischen den Gewerkschaftsbeauftragten zum einen sowie den Arbeitnehmern des 507 Reuter, ZfA 1976, S. 107 (157). 508 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 423 f. 509 Vgl. Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 353.
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Betriebs, den Mitarbeitern von Fremdfirmen und Kunden zum andern. Letztere betreten den Betrieb in grundsätzlich betriebsfördernder Absicht: um zu arbeiten, in sonstiger Weise den Betriebszweck zu fördern oder als zahlende Kunden. Die Tätigkeit der Gewerkschaftsbeauftragten ist unabhängig vom Betriebszweck. Zum anderen wird der Arbeitgeber zu seinen Arbeitnehmern grundsätzlich Vertrauen dahingehend haben, daß sie sich ordnungsgemäß verhalten, nicht zuletzt, da er sie selbst ausgesucht hat. Leicht eingeschränkt gilt das auch für die Mitarbeiter von Fremdfirmen. Hier wird der Arbeitgeber darauf vertrauen, daß zumindest der Firmeninhaber seine Arbeitnehmer i m Hinblick auf die Pflege der Geschäftsbeziehungen zu ordnungsgemäßem Verhalten anhält. Dieses Vertrauensverhältnis besteht zu den Gewerkschaftsbeauftragten nicht: Der Arbeitgeber hat sie nicht ausgewählt, sondern sie werden ihm von der Gewerkschaft gestellt; angesichts des erzwingbaren Zugangsrechts entfällt der bei Fremdfirmenmitarbeitern wesentliche Gesichtspunkt, daß der Arbeitgeber die Geschäftsbeziehungen abbrechen kann. In dieser Situation ist es für den Arbeitgeber wesentlich, zumindest wirksam durchsetzen zu können, daß es nicht zu Gefährdungen oder Störungen von Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden kommt. Damit sind wirksame Sanktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers Voraussetzung für ein Zugangsrecht, andernfalls wäre es dem Arbeitgeber unzumutbar. Für den Arbeitgeber kommt als Sanktionsmöglichkeit in Betracht, dem einzelnen Gewerkschaftsbeauftragten, der sich ein Fehlverhalten zuschulden kommen ließ, künftig den Zugang zum Betrieb zu verweigern. A u f diese Weise kann zwar nicht sicher verhindert werden, daß sich ein anderer Gewerkschaftsbeauftragter künftig falsch verhält; grundsätzlich kann aber davon ausgegangen werden, daß die Gewerkschaftsbeauftragten ein eigenes Interesse daran haben werden, daß der Arbeitgeber ihnen den Zugang zum Betrieb nicht verbieten kann. Nicht zuletzt kann ein Funktionär, dem das Betreten bestimmter Betriebe von den jeweiligen Arbeitgebern verboten wurde, seine Aufgaben nicht mehr richtig erfüllen, so daß sein eigener Arbeitsplatz bedroht ist. Diese Sanktionsmöglichkeit bietet zwar keine absolute Sicherheit für den Arbeitgeber, läßt ihn aber auch nicht völlig schutzlos. Aber auch Ansprüche des Arbeitgebers gegen die Gewerkschaften können das Ziel, die Einhaltung der Werbegrenzen zu sichern, nicht absolut sicher erfüllen. Die am Koalitionswohl orientierten Gewerkschaftsfunktionäre werden zwar eventuelle Ansprüche des Arbeitgebers gegen die Gewerkschaft in ihrem Verhalten berücksichtigen. Allerdings werden Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers regelmäßig am Problem der Bezifferbarkeit des Schadens scheitern. Schwerer wiegt, daß der Arbeitgeber auf diese Weise nur auf tatsächlich eingetretene Störungen reagieren kann, Gefährdungen von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden aber sanktionslos hinnehmen müßte. Eine weitere Reaktionsmöglichkeit, die von den Vertretern der Ansicht, ein Zugangsrecht scheitere schon an den fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitgebers, nicht diskutiert wird, sind Unterlassungsansprüche des Arbeitgebers ge-
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
223
gen die Gewerkschaft gem. §§ 1004, 823 BGB, die gem. § 890 ZPO mit Ordnungsgeld vollstreckt werden können. Insoweit haftet die Gewerkschaft für ihre Beauftragten analog § 31 BGB. Ansatzpunkt für Unterlassungsansprüche ist, daß, wie schon oben angedeutet, Gefährdungen von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden durch eine entsprechende Ausgestaltung des Zugangsrechts vorgebeugt werden kann, insbesondere auch durch Schranken in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. A u f eine Verletzung dieser Schranken, die eine Gefährdung von Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden indiziert, kann der Arbeitgeber dann mit den Unterlassungsansprüchen reagieren. Wenn eine Werbemaßnahme, die durch betriebsfremde Gewerkschaftsbeauftragte durchgeführt werden soll, räumlich auf den Bereich der Eingangshalle beschränkt ist, kann der Arbeitgeber, wenn die Gewerkschaftsfunktionäre auch in der Kantine werben, nicht allein diese Funktionäre künftig ablehnen, sondern auch Unterlassungsansprüche gegen die Gewerkschaft selbst geltend machen. Allerdings kann der Arbeitgeber Unterlassungsansprüche grundsätzlich erst dann geltend machen, wenn es bereits einmal zu einem Fehlverhalten gekommen ist - eine einmalige Störung bzw. Gefährdung von Arbeitsablauf und Betriebsfrieden müßte der Arbeitgeber damit hinnehmen.
I I I . Die Erforderlichkeit des Zugangsrechts für die Gewerkschaften 7. Die Erforderlichkeit
zur Mitgliederwerbung
Die hohe Bedeutung, die die Mitgliederwerbung i m Betrieb für die Gewerkschaften hat, ist oben schon näher erläutert worden. Damit stellt sich die Frage, ob zusätzlich zu den Befugnissen, die die Gewerkschaften durch ihre dem Betrieb angehörigen Mitglieder wahrnehmen können, auch der Einsatz betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter erforderlich ist. Die Erforderlichkeit der Werbung i m Betrieb allgemein ergibt sich aus dem „Prinzip des Sachzusammenhangs' 4 . 510 Dieses Prinzip folgt aus der Übereinstimmung des besonderen Werbeinteresses der Gewerkschaften mit dem Bereich ihrer Tarifzuständigkeit. Damit können nicht für den Betrieb tarifzuständige Gewerkschaften vom Zugangsrecht ausgeschlossen werden. Hinsichtlich der für den Betrieb tarifzuständigen Gewerkschaften liegt der klassische Einwand gegen die Erforderlichkeit auf der Hand: Die Gewerkschaft kann auch mit ihren betriebsangehörigen Mitgliedern werben. 5 1 1 In der Tat hat das Fehlen eines Zugangsrechts die Werbung der Gewerkschaften bisher nicht unmöglich gemacht. Diese sozialempirische Sicht der Erforderlichkeit - verstanden als die Frage nach dem „Geht-nicht-anders" - ist allerdings, wie oben dargelegt, nicht 510 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 511 Vgl. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (247).
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
überzeugend. Die Gewerkschaft hat durchaus gewichtige Interessen, auch mit betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten werben zu können. Das Zugangsrecht bietet die Möglichkeit, professionelle Werber einzusetzen. Diese können speziell geschult werden, was in einer Zeit der psychologisch geschickten Werbung von Bedeutung ist, und verfügen über größere Unabhängigkeit vom Arbeitgeber. 5 1 2 Diese können zudem den überbetrieblichen Aufbau der Gewerkschaft deutlich machen. 5 1 3 Ein Zugangsrecht bietet der Gewerkschaft damit eine Chance auf effektivere Werbung. Zudem entfällt das Problem der innergewerkschaftlichen Motivation. Gewerkschaftsmitglieder werden nicht immer ohne weiteres bereit sein, sich - zusätzlich zur eigentlichen Arbeit - ehrenamtlich i m Betrieb zu betätigen. Die Gewerkschaften haben keinen Anspruch gegen ihre Mitglieder, sich i m Betrieb zu betätigen 5 1 4 und sind damit auf deren freiwilliges Engagement angewiesen. Da Werbung innerhalb der Arbeitszeit nur in engen Grenzen möglich ist, müssen die werbenden Gewerkschaftsmitglieder früher zur Arbeit kommen, später gehen und auf ihre Pause zumindest teilweise verzichten. Zudem wird das Mitglied unter Umständen - ob berechtigt oder nicht - Nachteile für sein berufliches Fortkommen befürchten. 5 1 5 Zwar versucht die Rechtsordnung, solche Nachteile auszuschließen, insbesondere haben Arbeitgeber und Betriebsrat gem. § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG Diskriminierungen zu verhindern. Das läßt dem diskriminierungswilligen Arbeitgeber aber, beispielsweise bei Beförderungsentscheidungen, immer noch einen weiten und kaum sachlich überprüfbaren Spielraum. Das Gewerkschaftsmitglied kann also durchaus ein berechtigtes Interesse daran haben, nicht werbend hervorzutreten und anonym zu bleiben. Dieses Interesse wird an anderer Stelle sogar ausdrücklich anerkannt. Der Nachweis, daß die Gewerkschaft i m Betrieb vertreten ist, kann auch unter Wahrung der Anonymität des Mitglieds erfolgen. 5 1 6 Diese oben genannten Schwierigkeiten, die einer effizienten Interessenwahrnehmung der Gewerkschaften durch betriebsangehörige Mitglieder entgegenstehen können, entfallen, wenn die Gewerkschaft für ihre Betätigung nicht mehr ausschließlich auf deren Engagement angewiesen ist. Das Problem, daß die Gewerkschaft - schlimmstenfalls - ihre Werberechte mangels Motivation ihrer Mitglieder nicht wahrnehmen kann, entfällt damit bei einem Zugangsrecht. Falls die Gewerkschaft noch gar nicht i m Betrieb vertreten ist, ist ein Zugangsrecht die einzige Möglichkeit der Werbung i m Betrieb. Daß Arbeitnehmer i m Be-
512 BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (247). 513 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 414. 514 Säcker, AuR 1979, S. 39 (40); vgl auch: Dütz, FS Hilger/ Stumpf, S. 99 (110). 515 Säcker, AuR 1979, S. 39 (40). 516 BAG 21. 03. 1994 AP Nr. 4a zu § 2 BetrVG 1972; BAG 25. 3. 1992 AP Nr. 4 zu § 2 BetrVG 1972; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 26; EK - Eisemann, BetrVG, § 2 RdNr. 4.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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trieb für eine Gewerkschaft werben, der sie nicht angehören, 517 wird praktisch wohl kaum vorkommen. Für ein Zugangsrecht spricht hier auch der Grundsatz des Koalitionspluralismus. 5 1 8 Während die etablierten Gewerkschaften über ihre - zumeist vorhandenen - Mitglieder i m Betrieb werben können, sind ohne Zugangsrecht kleinere Gewerkschaften von der Werbung im Betrieb ausgeschlossen. Das bedeutet erhebliche Wettbewerbsvorteile für die etablierten Gewerkschaften. Damit ergibt sich eine Stufenfolge hinsichtlich der Erforderlichkeit der Werbung: Vom Interesse der sich bereits im Betrieb betätigenden Gewerkschaft an höherer Effektivität über die Gewerkschaft mit internen Motivationsproblemem bis zur gar nicht im Betrieb vertretenen Gewerkschaft. Der Gedanke, auch im Ergebnis nach diesen Erforderlichkeitsstufen zu differenzieren, liegt damit nahe. Tatsächlich wird oft dahingehend differenziert, ob die Gewerkschaft schon i m Betrieb vertreten ist, allerdings mit unterschiedlichem Ergebnis. 5 1 9 I m Ergebnis ist eine Privilegierung der nicht im Betrieb vertretenen Gewerkschaften aber nicht sachgerecht. Wann ist die Gewerkschaft i m Betrieb vertreten? Die Antwort des BetrVG lautet: wenn eines ihrer Mitglieder dem Betrieb angeh ö r t . 5 2 0 Das entspricht auch der Ansicht der Autoren, die ein Zugangsrecht nur den nicht im Betrieb vertretenen Gewerkschaften geben w o l l e n : 5 2 1 Wenn die Gewerkschaft ein Mitglied im Betrieb habe, brauche sie kein Zugangsrecht mehr, da doch dieses Mitglied werben könne. Wenn das Gewerkschaftsmitglied dazu nicht bereit ist, soll das ein Problem der innergewerkschaftlichen Motivation und Schulung sein. Aus diesem Grund sei ein Zugangsrecht nicht n ö t i g . 5 2 2 Diese Differenzierung wird aber weder der Interessenlage der Gewerkschaften gerecht, noch ist sie praktisch durchführbar. Warum eine Gewerkschaft, die i m Betrieb schon vertreten ist, dafür, daß sie ihre „Seriosität" 5 2 3 dadurch nachgewiesen hat, indem es ihr gelungen ist, ein Mitglied zu finden, durch den Verlust eines effektiven Werbemittels bestraft wird, ist nicht nachvollziehbar. Der Erklärungsver-
517 Hess / Schlochauer / Glaubitz, BetrVG, § 2 RdNr. 98. 518 Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (116); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 415; Kremp, AuR 1973, S. 193 (201); Säcker, AuR 1979, S. 39 (40). 519 Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 147 f. will das Zugangsrecht auf nicht im Betrieb vertretene Gewerkschaften beschränken; ebenso: Säcker, AuR 1979, S. 39 (42); Schwerdtner, SAE 1980, S. 113(116). Reuter, FS Müller, S. 387 (407) hält ein Zugangsrecht für nicht im Betrieb vertretene Gewerkschaften dagegen für erst recht ausgeschlossen, da diese Gewerkschaften nicht einmal einen minimalen „Seriösitätstest", nämlich zumindest ein Belegschaftsmitglied als Mitglied zu gewinnen, bestanden hätten, ebenso: Naendrup, AuR 1979, S. 37 (43) (Sonderheft Kirche und Arbeitsrecht). 520 BAG 25. 3. 1992 AP Nr. 4 zu § 2 BetrVG 1972; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 67; EK Eisemann, BetrVG, § 2 RdNr. 4; Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 2 RdNr. 26. 521 Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 144. 522 Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 138. 523 Vgl. Reuter, FS Müller, S. 387 (407). 15 Brock
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3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
such der Befürworter dieser Differenzierung lautet: Weil die Rechtsordnung dieses innergewerkschaftliche Motivationsproblem nichts angeht. 5 2 4 Daß die Gewerkschaft, die nicht einmal einen Arbeitnehmer zum Beitritt bewegen konnte, auch nur ein - wenn auch größeres - Motivationsproblem hat, wird übersehen. Auch der Gedanke, daß der Koalitionspluralismus es erfordere, die kleineren Gewerkschaften zu unterstützen, 525 kann nicht dazu führen, daß Gewerkschaften für bisherige Erfolglosigkeit belohnt werden. Das gilt umso mehr, als nur starke Gewerkschaften dem Ziel der Koalitionsfreiheit, eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens zu schaffen, 5 2 6 nachkommen können. Die Differenzierung dahingehend, daß für nicht i m Betrieb vertretene Gewerkschaften eine höhere Erforderlichkeit eines Zugangsrechts besteht, ist also nicht sachgerecht. Das bedeutet allerdings auch, weitgehend auf eine Differenzierung i m Bereich der Erforderlichkeit des Zugangsrechts für die Werbung zu verzichten, denn andere Differenzierungen sind ebenso wenig praktikabel. Denn auch wenn betriebsangehörige Mitglieder bereit sind, i m Betrieb zu werben, kann das Interesse der Gewerkschaft bestehen bleiben, betriebsfremde Gewerkschaftsvertreter einzusetzen, da diese wegen besserer Ausbildung unter Umständen effektiver werben können. Nun mag die Effektivität der Werbung allein noch keine erhöhte Erforderlichkeit eines Zugangsrechts begründen. 5 2 7 In der Praxis hier Grenzen ziehen zu wollen, wird jedoch nicht möglich sein. 5 2 8 Es kann nicht gerichtlich festgestellt werden, welches Maß an Effektivität die Gewerkschaft verlangen kann. Als Grenze auf die Werbebereitschaft der betriebsangehörigen Mitglieder zu verweisen, hilft kaum weiter. Es wird nicht möglich sein, die Werbebereitschaft gerichtlich festzustellen. Zwar kann darauf verwiesen werden, daß sich Gewerkschaftsmitglieder in der Vergangenheit bereits koalitionsmäßig betätigt haben. Das bringt jedoch die Gefahr mit sich, daß die Gewerkschaft die Betätigung durch betriebsangehörige Mitglieder zu unterbinden versucht, um in den Genuß des Zugangsrechts zu kommen. Das ist weder im Interesse der Betätigungsfreiheit der Mitglieder noch i m Interesse des Arbeitgebers.
2. Die Erforderlichkeit
zur Werbung vor Betriebsratswahlen
Ausgeschlossen werden kann die Erforderlichkeit eines Zugangsrecht zur Werbung vor Betriebsratswahlen. Die nicht i m Betrieb vertretenen Gewerkschaften haben, mangels Kandidaten, kein schützenswertes Interesse daran, in den Wahlkampf einzugreifen. Aber auch die i m Betrieb vertretenen Gewerkschaften können zur 524
525 526 527 528
Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 138. Schwerdtner, SAE 1980, S. 113 (116). Vgl. BVerfG 18. 11. 1954 E 4 S. 96 (107). Vgl. BVerfG 17. 02. 1981 E 57 S. 220 (247). Vgl. BAG 19. 01. 1982 EzA Nr. 34 zu Art. 9 GG.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
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Wahlwerbung kein Zugangsrecht verlangen. Das erfordert schon der Gedanke der Wahlgleichheit zwischen gewerkschaftlichen und freien Listen, der eine strukturelle Ungleichheit in den Wahlwerbechancen verbietet. Eine solche bestünde aber, wenn die Gewerkschaften auch mit Nicht-Betriebsangehörigen werben könnten, während den freien Listen diese Möglichkeit versagt bliebe. Zudem kann sich die Gewerkschaft nicht auf die mangelnde Werbebereitschaft ihrer Mitglieder berufen: Zumindest von den Betriebsratskandidaten kann die Bereitschaft verlangt werden, sich auch werbend zu betätigen. Wenn sie dazu nicht bereit sind, stellt das ihrem künftigen Engagement als Betriebsratsmitglieder ein schlechtes Zeugnis aus: Die Wähler werden die Wahlwerbeaktivitäten der Kandidaten auch als Indiz für das später zu erwartende Engagement als Betriebsratsmitglied nehmen.
3. Die Erforderlichkeit
zur Mitgliederbetreuung
Der Hauptgrund für die Notwendigkeit - hier kann mit Fug und Recht von Unerläßlichkeit gesprochen werden - , warum die Gewerkschaften gerade i m Betrieb werben müssen, ist, daß die Zielgruppe der Werbung - die Arbeitnehmer in den Betrieben, für welche die Gewerkschaft tarifzuständig ist - nur i m Betrieb wirksam erreicht werden kann. Das hatte auch das B A G verallgemeinernd als „Prinzip des Sachzusammenhangs4' anerkannt. 5 2 9 Für die Mitgliederbetreuung gilt dieses Prinzip des Sachzusammenhangs aber nur eingeschränkt. Die Gewerkschaften haben andere wirksame Möglichkeiten, ihre Mitglieder - deren Adressen ihnen j a bekannt sind - anzusprechen. Damit entfällt das Interesse der Gewerkschaften an der Mitgliederbetreuung i m Betrieb nicht gänzlich. Die persönliche Ansprache des Mitglieds - im Gegensatz zur weniger wirksamen rein schriftlichen Betreuung per Post - ist auf Initiative der Gewerkschaften nur im Betrieb praktisch durchführbar. Ansonsten sind die Gewerkschaften darauf angewiesen, daß sich das Mitglied selbst an sie wendet. Damit besteht grundsätzlich auch eine Erforderlichkeit der Mitgliederbetreuung i m Betrieb durch betriebsfremde Gewerkschaftsbeauftragte, gerade in Betrieben, die i m wesentlichen nur passive Gewerkschaftsmitglieder haben. Der Grad der Erforderlichkeit ist allerdings geringer als der zur Mitgliederwerbung.
IV. Abwägung und Ergebnis Die Abwägung hinsichtlich des Zugangsrechts bereitet andere und größere Probleme als die Abwägung bei den bisher erörterten Maßnahmen. Dort genügte es regelmäßig, eine einzelne Maßnahme zu erörtern. Hauptprobleme des Zugangsrechts liegen aber nicht allein in einem einzelnen, einmaligen Zugang eines Ge529 BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG. 15*
228
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
werkschaftsbeauftragten zum Betrieb, sondern darin, das Zugangsrecht so auszugestalten, daß § 2 Abs. 2 BetrVG nicht unterlaufen werden kann und daß den Problemen, die aus der Anzahl der Beauftragten verschiedener Gewerkschaften und der Häufigkeit ihrer Besuche resultieren, begegnet werden kann. Die Schwierigkeiten einer einzelnen Maßnahme lassen sich durchaus lösen. So kann Störungen oder Gefährdungen des Betriebsfriedens durch eine räumliche Beschränkung des Zugangsrechts wirksam begegnet werden. Wenn der Gewerkschaftsbeauftragte sich allein im Eingangsbereich des Betriebs oder in Durchgangsbereichen - etwa dem Gang zur Kantine - aufhält, kann sich der einzelne Arbeitnehmer ihm leicht entziehen, so daß die Gefahr, daß er bedrängt wird, ausgeschlossen ist. Auch das Problem der Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitgebers läßt sich lösen. Eine Unterlassungsklage bietet dem Arbeitgeber ähnlichen Rechtsschutz, wie er ihn gegenüber seinen Arbeitnehmern hat. Auch hier kann er regelmäßig nur sanktionierend eingreifen; zur Kündigung ist der Arbeitgeber in den meisten Fällen nur nach einer vorherigen Abmahnung berechtigt. Zudem kann der Arbeitgeber schon gegen Gefährdungen vorgehen; daß diese sich zu einer Störung auswachsen, ist keineswegs gewiß. Selbst, wenn man wegen des fehlenden Vertrauensverhältnisses des Arbeitgebers zu den Gewerkschaftsbeauftragten - i m Gegensatz zu den eigenen Arbeitnehmern - hier schärfere Sanktionsmöglichkeiten für nötig hält, läßt sich insoweit an eine vor dem Zugang von den Gewerkschaften abzugebende strafbewehrte Unterlassungserklärung denken. Damit stellt sich zwar auch hinsichtlich eines einmaligen Zugangs das Problem der Ausgestaltung, die insbesondere in der Festlegung der nötigen Grenzen besteht. Das ist aber ohne wesentliche Schwierigkeiten möglich. Soweit gilt, was Gamillscheg zur Problematik der Ausgestaltung meint: daß auch dieses Problem zu lösen s e i . 5 3 0 Wesentliche Probleme ergeben sich aber gerade daraus, daß ein Zugangsrecht sich nicht auf eine einzelne Maßnahme beschränkt, sondern ein Dauerrecht für mehrere für den Betrieb zuständige Gewerkschaften bedeutet. 5 3 1 Hier können dann die oben geschilderten Probleme einer Radikalisierung der Konflikte der verschiedenen Gewerkschaften untereinander auftreten. Gegenüber den damit drohenden Gefährdungen und Störungen des Betriebsfriedens und der Betriebsverfassung muß das Interesse der Gewerkschaften an einer effektiveren Interessenwahrnehmung i m Betrieb zurücktreten. Das gilt auch aus dem Gesichtspunkt der nötigen Beschränkung der richterlichen Rechtsfortbildung. Ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht der Gewerkschaften bedeutet eine Gefährdung der Neutralität des Betriebsrats und des Gebots der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Anders gesagt: Die dauernde Anwesenheit eines hauptamtlichen und nicht betriebsangehörigen Gewerkschaftsbeauftragten droht
530 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 259. 531 Reuter, FS Müller, S. 387 (401).
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
229
das vom Gesetzgeber vorausgesetzte Bild der Betriebsverfassung zu verändern. Daß der Gesetzgeber das System der Interessenvertretung der Arbeitnehmer verändern k ö n n t e , 5 3 2 heißt nicht, daß der Richter von sich aus dieses System ändern könnte. Die Stellung der Gewerkschaften im Betrieb würde durch ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht eine wesentlich andere und stärkere. Derart tiefgreifende Einschnitte müssen aber dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Dagegen kann auch nicht eingewendet werden, daß das B A G gerade i m Bereich der Betriebsverfassung in letzter Zeit rechtsfortbildend tätig geworden s e i . 5 3 3 Gerade bei der Entscheidung zu einem Klagerecht der Gewerkschaften gegen tarifwidrige Betriebs Vereinbarungen konnte sich das B A G auch auf Grundentscheidungen des Gesetzgebers stützen und die Grenzen des Klagerechts aus diesen Grundentscheidungen ableiten: Das Klagerecht betrifft nur die Fälle der beiderseitigen normativen Tarifbindung des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer gem. § 3 Abs. 1 T V G ; 5 3 4 es betrifft nicht die Fälle, in denen das Günstigkeitsprinzip eingreift. 5 3 5 Dennoch wurde auch an dieser Entscheidung gerügt, daß das B A G die Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung überschritten habe. 5 3 6 I m Fall des koalitionsrechtlichen Zugangsrechts gibt es aber keine Normen und Grundentscheidungen des Gesetzgebers, wie die des T V G , auf die sich die Rechtsprechung stützen kann. Eine solche teilweise Umgestaltung der Betriebsverfassung muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Für den Richter ebenfalls nicht mehr zu lösen ist das Problem der Koordinierung eines koalitionsrechtlichen Zugangsrechts mit § 2 Abs. 2 BetrVG und das damit verbundene Problem, einem drohenden „Gewimmel" i m Betrieb vorzubeugen. Das betrifft vor allem die Frage, wie häufig Besuche der Gewerkschaftsbeauftragten i m Betrieb möglich sind. Ohne Beschränkungen wäre hier grundsätzlich ein täglicher Zugang möglich - zumindest für die Beauftragten aller tarifzuständigen Gewerkschaften. Damit wären die Beschränkungen des betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrechts wirkungslos. Die besondere Schwierigkeit ist hier darin zu sehen, daß die wesentliche Einschränkung des betriebsverfassungsrechtlichen Zugangsrechts seine Zweckbezogenheit ist: Aus dem jeweiligen Zweck des Besuchs ergibt sich auch seine Erforderlichkeit; diese Zwecke sind aber klar definiert und stellen i m wesentlichen immer nur einzelne Maßnahmen dar. Die Mitgliederwerbung und Mitgliederbetreuung der Gewerkschaften - der Zweck des koalitionsrechtlichen Zugangsrechts - ist aber nicht so klar abgrenzbar; beide Betätigungen stellen Daueraufgaben d a r . 5 3 7 532 Säcker, AuR 1979, S. 39 (42). 533 BAG 03. 05. 1994 AP Nr. 23 zu § 23 BetrVG; BAG 20. 04. 1999 DB 1999 S. 1555 ff. 534 BAG 20. 04. 1999 DB 1999 S. 1555 (1560). 535 BAG 20. 04. 1999 DB 1999 S. 1555 (1559). 536 Thüsing, DB 1999, S. 1552 (1553). 537 Auch Jülicher, ZfA 1980, S. 121 (137) sah das Hauptproblem in der Weite und Unbestimmtheit eines koalitionsrechtlichen Zugangsrechts.
230
3. Teil: Einzelfragen und Konsequenzen
Damit müßte eine Grenze der für die Gewerkschaften erforderlichen Effektivität gefunden werden: eine Aufgabe, die das B A G zu recht als nicht lösbar ansah. 5 3 8
9. Abschnitt
Resümee Bei der Zusammenfassung der Ergebnisse zeigt sich, daß mit der neuen Rechtslage insgesamt eine deutliche Ausweitung der Rechte der Gewerkschaften i m Betrieb verbunden ist. Insbesondere die stark restriktiven Entscheidungen der „schwarzen Serie" des B A G 5 3 9 sind sämtlich anders zu entscheiden. A m deutlichsten ist die Ausweitung der Rechte der Gewerkschaften dort, wo Grundrechte des Arbeitgebers nicht oder nur in geringem Maße betroffen sind. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn der Arbeitgeber nur zur Duldung, nicht aber zur aktiven Förderung der gewerkschaftlichen Betätigung verpflichtet ist, und auch Arbeitsablauf und Betriebsfrieden nicht ernsthaft gefährdet sind. Hier sinkt die Schwelle, die an die Erforderlichkeit einer Maßnahme zu stellen ist, so weit, daß auch schon eine relativ geringe Erforderlichkeit ausreichen kann. Damit kommen hier die flexiblen Maßstäbe der Abwägung gegenüber dem starren Unerläßlichkeitskriterium am stärksten zum Tragen. Wenn die Erforderlichkeit einer Maßnahme entsprechend hoch ist, muß der Arbeitgeber auch stärkere Grundrechtsbeeinträchtigungen hinnehmen; eine hohe Erforderlichkeit kann es auch erzwingen, den Arbeitgeber zur aktiven Förderung der Gewerkschaften - beispielsweise bei der Plakatwerbung - zu verpflichten. Hier ist auch stärker auf den Einzelfall abzustellen. So können die Gewerkschaften vom Arbeitgeber i m Regelfall nicht die Überlassung zusätzlicher Räume verlangen; wenn ohne die Überlassung zusätzlicher Räume die gewerkschaftliche Betätigung aber nicht erfolgversprechend möglich ist, kann auch anders zu entscheiden sein. Da gewichtige Grundrechtsbeeinträchtigungen beim Arbeitgeber auch die Ansprüche, die an die Erforderlichkeit einer Maßnahme für die Gewerkschaften zu stellen sind, steigern, kann sich die alte Rechtsprechung auch als - zumindest i m Ergebnis - richtig erweisen. Die dann anzulegenden strengen Maßstäbe ergeben sich aber nicht mehr, wie beim Unerläßlichkeitskriterium, aus der Koalitionsfreiheit selbst, sondern aus den Grundrechten des Arbeitgebers. 5 4 0
538 BAG 19. 01. 1982 EzA Nr. 34 zu Art. 9 GG (272) - „Hier ließen sich keine v e r g l i chen Grenzen ziehen". 539 BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG - zur Wahl gewerkschaftlicher Vertrauensleute im Betrieb; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG - zu Gewerkschaftsaufklebern auf Arbeitgeberhelmen; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG - zur Verteilung einer Gewerkschaftszeitschrift im Betrieb. 540 Hanau, Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit, S. 80.
2. Kap.: Die Abwägung in einzelnen Fällen
231
Als ein Sonderproblem erweist sich das koalitionsrechtliche Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb. Der Schutz der Grundrechte des Arbeitgebers und die Wertentscheidung des Gesetzgebers in § 2 Abs. 2 BetrVG erfordern eine umfassende Ausgestaltung des Zugangsrechts, die zu leisten der Richter nicht mehr in der Lage ist. Es wurde versucht, praktische Konkordanz zwischen den widerstreitenden Grundrechten herzustellen und die Grundrechte beider Seiten zur optimalen Wirksamkeit zu bringen. Hier ist aber wieder an das in der Einleitung Gesagte zu erinnern: Die Ergebnisse sind Vorschläge. 541 In vielen Fällen können Gesichtspunkte auch anders gewichtet werden. Dann sind auch andere Ergebnisse möglich.
541
Vgl. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 112 - „Die in der wissenschaftlichen Diskussion vorgeschlagenen Ergebnisse haben nur den Charakter rechtspolitischer Empfehlungen an das zur Entscheidung zuständige Organ [ . . . ].".
4. T e i l
Probleme der Rechtsdurchsetzung und die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung 7. Kapitel
Probleme der Rechtsdurchsetzung I. Der Arbeitgeber 7. Selbsthilfe Die vom B A G entschiedenen Fälle zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb zeigen, daß meistens die Gewerkschaften bzw. gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer die Kläger sind. 1 Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Selbsthilfemöglichkeiten des Arbeitgebers sehr gut sind. 2 Da es kein Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb zwecks gewerkschaftlicher Betätigung gibt, sind die Gewerkschaften darauf angewiesen, sich mit Hilfe der Arbeitnehmer i m Betrieb zu betätigen. Gegen diese kann der Arbeitgeber, wenn sie die Grenzen der zulässigen gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb überschritten haben, aus dem Arbeitsverhältnis vorgehen - er kann eine Abmahnung aussprechen oder dem Arbeitnehmer kündigen.
2. Klagemöglichkeiten
des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber ist jedoch nicht auf den Weg der Selbsthilfe beschränkt: Er kann auch klageweise - i m Wege der Unterlassungsklage, gestützt auf § 1004 BGB gegen die sich betätigenden Arbeitnehmer vorgehen; 3 über den Anspruch des Arbeitgebers ist von den Arbeitsgerichten im Wege des Urteilsverfahrens gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG zu entscheiden. 4
1 Eine Klage des Arbeitgebers betraf lediglich die Entscheidung BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG (Schutzhelm-Entscheidung). 2 Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 692. 3 Vgl. BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG. 4 BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 29 zu Art. 9 GG.
1. Kap.: Probleme der Rechtsdurchsetzung
233
Eine Unterlassungsklage des Arbeitgebers ist auch gegen die Gewerkschaften selbst möglich; über diese ist ebenfalls gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG von den Arbeitsgerichten i m Urteilsverfahren zu entscheiden.
3. Besonderheiten bei der Plakatwerbung Besonderheiten gelten allerdings, wenn der Arbeitgeber einen unzulässigen Plakataushang einer Gewerkschaft unterbinden will. Hier ist fraglich, inwieweit der Arbeitgeber im Wege der Selbsthilfe vorgehen kann. Selbsthilfe hieße hier, das Plakat einfach abzureißen. Hier ist richtigerweise zu differenzieren: Wenn die Gewerkschaft das Plakat an unzulässiger Stelle ausgehängt hat - das Problem des „wilden Plakatierens" - hat die Gewerkschaft eine verbotene Eigenmacht gem. § 858 Abs. 1 BGB begangen; dieser darf sich der Arbeitgeber gem. § 859 Abs. 1 BGB mit Gewalt erwehren und das Plakat entfernen. 5 Er kann aber auch auf Beseitigung und Unterlassung klagen; Anspruchsgrundlagen sind § 1004 BGB und § 861 Abs. 1 BGB. Insoweit ist zweifelhaft, ob sich der Arbeitgeber mit einer allein auf § 861 Abs. 1 BGB gestützten Klage an die ordentlichen Gerichte oder an die Arbeitsgerichte wenden müßte. Eine unerlaubte Handlung im strengen Sinne liegt bei der verbotenen Eigenmacht nicht vor; allerdings spricht der Zusammenhang mit der Koalitionsfreiheit insoweit für eine erweiternde Auslegung von § 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG. 6 Diese Schwierigkeit kann der Arbeitgeber umgehen, indem er seine Klage auch auf § 1004 BGB stützt. Wenn sich der Arbeitgeber nicht gegen den Ort des Plakataushangs wendet, sondern gegen den Inhalt des Plakats, darf er das Plakat nicht einfach abreißen: sonst würde er verbotene Eigenmacht begehen. 7 Hier muß er gegen die Gewerkschaft i m Wege der Unterlassungsklage vor den Arbeitsgerichten vorgehen. 8
II. Die Gewerkschaften 7. Selbsthilfe Für die Gewerkschaften und ihre Mitglieder ist der Weg der Selbsthilfe regelmäßig versperrt. Gegen ein Verbot des Arbeitgebers können die Gewerkschaftsmitglieder, wenn sie es für unrechtmäßig halten, zwar verstoßen; damit werden sie aber regelmäßig die Gegenmaßnahmen des Arbeitgebers - Abmahnung oder Kün-
5 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 157; wohl zweifelnd: Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 697. 6 Vgl. die Begründung in: BAG 29. 06. 1965 DB 1965 S. 1365 f. 7 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 158. 8 Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 158; Stege/Weinspach, BetrVG, § 2 RdNr. 25.
234
4. Teil: Rechtsdurchsetzung und einvernehmliche Regelung
digung - provozieren. Auch wenn später gerichtlich festgestellt werden sollte, 9 daß das Verbot des Arbeitgebers tatsächlich, da es gegen die Koalitionsfreiheit verstieß, unrechtmäßig war, ist der Bestand des Arbeitsverhältnisses dennoch gefährdet. Dieses Risiko werden die Arbeitnehmer nicht auf sich nehmen.
2. Klagemöglichkeiten
der Gewerkschaften
In dieser Situation werden meistens die Gewerkschaften selbst tätig und klagen gegen den Arbeitgeber auf Duldung einer bestimmten Betätigung. Solche Klagen der Gewerkschaften selbst betrafen die Mehrheit der vom B A G entschiedenen Fälle. 1 0 Den Gewerkschaften bieten diese Klagen den Vorteil, vorab klären zu können, ob eine Maßnahme von Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt ist, und so das Risiko für die Arbeitnehmer, ihr Arbeitsverhältnis zu gefährden, reduzieren zu können. A n der Zuständigkeit der Arbeitsgerichte für diese Klagen läßt das B A G dabei keinen Zweifel aufkommen: Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte sei für Fragen der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb „stets" gegeben. Diese ergebe sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG; gem. § 2 Abs. 5 ArbGG sei i m Urteilsverfahren zu entscheiden. 11 § 2 ArbGG wolle „den Bereich des Arbeitsrechts und die Verhältnisse der am Arbeitsleben Beteiligten" erfassen. Die Gesetzesfassung „Fragen der Vereinigungsfreiheit" sei weit auszulegen 12 und umfasse auch den Bereich der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb. Sofern § 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG auch eine unerlaubte Handlung erfordere, sei dieser Begriff weit auszulegen; es genüge, daß nach dem Vortrag der Klägerin gegen die Rechtsordnung in ihre Koalitionsfreiheit eingegriffen werde. 1 3 Auch die Literatur folgt der Ansicht des B A G . 1 4
9 Vgl. dazu unten 4. Teil, 1. Kap., II 3. 10 BAG 29. 06. 1965 DB 1965 S. 1365; BAG 14. 02. 1967 EzA Nr. 2 zu Art. 9 GG; BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG; BAG 26. 01. 1982 EzA Nr. 35 zu Art. 9 GG; BAG 30. 08. 1983 EzA Nr. 37 zu Art. 9 GG. h Vgl. die oben angegebenen Urteile; ausführlich zur Frage ζ. B. BAG 29. 06. 1965 DB 1965 S. 1365; BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9 GG; fast gleichlautend: BAG 08. 12. 1978 EzA Nr. 28 zu Art. 9 GG; BAG 23. 02. 1979 EzA Nr. 30 zu Art. 9 GG - teilweise zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG a.F. 12 BAG 29. 06. 1965 DB 1965 S. 1365; BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9. 13 BAG 14. 02. 1978 EzA Nr. 25 zu Art. 9. 14 Grunsky, ArbGG, § 2 RdNr. 71; GermelmanniMathes/Prutting, ArbGG, § 2 RdNr. 45; Richardi, BetrVG, § 2 RdNr. 175; Klosterkemper, Zugangsrecht, S. 174; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 728.
1. Kap.: Probleme der Rechtsdurchsetzung
235
3. Rechts Schutzmöglichkeiten für Arbeitnehmer Gegen die Selbsthilfemaßnahmen des Arbeitgebers - Abmahnung bzw. Kündigung - kann sich der betroffene Arbeitnehmer gerichtlich wehren. Da eine sachlich unbegründete Abmahnung, wenn sie zu den Personalakten genommen wird, das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers verletzt, kann er gerichtlich die Entfernung der Abmahnung aus den Personalakten verlangen. 15 Hinsichtlich der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb haben solche Klagen das B A G bisher zweimal beschäftigt. 16 Dabei legte das B A G für den Arbeitgeber recht großzügige Maßstäbe an: Entscheidend ist nicht, ob das Verhalten des Arbeitnehmers i m Wiederholungsfall zur Kündigung berechtigen würde; die Abmahnung muß lediglich verhältnismäßig sein. Eine Abmahnung ist aber nicht schon deshalb unverhältnismäßig, weil der Arbeitgeber über das beanstandete Fehlverhalten auch hätte hinwegsehen können. 1 7 Kündigungen wegen gewerkschaftlicher Betätigung haben das B A G bislang nicht beschäftigt. Gegen eine solche könnte sich der Arbeitnehmer mit der Kündigungsschutzklage gem. § 4 KSchG wehren. Sozial gerechtfertigt gem. § 1 Abs. 2 KSchG und damit wirksam gem. § 1 Abs. 1 KSchG kann eine Kündigung des Arbeitgebers als verhaltensbedingte Kündigung sein. Eine Kündigung wegen gewerkschaftlicher Betätigung wird kaum ohne vorherige Abmahnung in Betracht kommen. Entbehrlich ist eine Abmahnung zum einen, wenn der Arbeitnehmer nicht willens oder in der Lage ist, sich vertragstreu zu verhalten. 1 8 Diese Voraussetzung wird kaum einmal vorliegen. Zum andern ist eine Abmahnung dann entbehrlich, wenn die Kündigung nach Abwägung aller Umstände billigenswert erscheint, dem Arbeitnehmer die Pflichtwidrigkeit ohne weiteres erkennbar war und er mit der Billigung des Arbeitgebers nicht rechnen konnte. 1 9 Auch diese Voraussetzung wird zumeist nicht vorliegen; insbesondere wird die Pflichtwidrigkeit dem Arbeitnehmer nicht ohne weiteres erkennbar sein. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß die Verletzung vertraglicher Pflichten nur der erste Schritt zu einer sozial gerechtfertigten verhaltensbedingten Kündigung ist. Ob betriebliche Interessen beeinträchtigt wurden, ist i m Rahmen der Interes15 BAG 19. 07. 1983 AP Nr. 5 zu § 87 BetrVG Betriebsbuße; BAG 27. 11. 1985 AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; BAG 15. 01. 1986 AP Nr. 96 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; BAG 13. 04. 1988 AP Nr. 100 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; Huecklv. HoyningenHuene, KSchG, § 1 RdNr. 196 mwN. 16 BAG 23. 09. 1986 EzA Nr. 40 zu Art. 9 GG; BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung. 17 BAG 13. 11. 1991 AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung; KR - Fischermeier, BGB, § 626 RdNr. 426 - objektiv rechtswidrig; van Veenroy, SAE 1992, S. 318 (320). 18 BAG 26. 01. 1995 NZA 1995 S. 517 (520); Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 285 mwN. 19 BAG 26. 08. 1993 AP Nr. 112 zu § 626 BGB; Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 286.
236
4. Teil: Rechtsdurchsetzung und einvernehmliche Regelung
senabwägung zu berücksichtigen; diesem Gesichtspunkt kommt dabei erhebliches Gewicht z u . 2 0 Eine Pflichtverletzung, die zu einer Gefährdung des Arbeitsablaufs oder des Betriebsfriedens führte, kann eine Abmahnung in der Regel rechtfertigen. Sie ist jedoch nicht ohne weiteres geeignet, auch eine verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen.
2. Kapitel
Die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung Als Alternative dazu, Rechte vor Gericht zu erstreiten, bietet sich für die Gewerkschaften an, eine einvernehmliche Regelung mit dem Arbeitgeber bzw. dem Arbeitgeberverband anzustreben. A u f diesem Wege können die Gewerkschaften auch versuchen, zusätzliche Rechte, die ihnen auf gesetzlicher Grundlage nicht zustehen, auszuhandeln.
I. Tarifverträge Inwieweit die Gewerkschaften ihre Stellung im Betrieb mit Hilfe von Tarifverträgen stärken können, ist vor allem am Sonderfall von Tarifverträgen zur Verbesserung der Stellung von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten erörtert worden. Das liegt wohl auch daran, daß die Regelung dieses Gebietes den Gewerkschaften als am vordringlichsten erschien, so daß in der Praxis solche Tarifverträge dominieren. 2 1 Das B A G hatte gegen derartige Tarifverträge bisher keine Bedenken, 2 2 so daß die Debatte allein in der Literatur stattfand.
7. Tarifverträge
zur Begünstigung gewerkschaftlicher
Vertrauensleute
Viele der Tarifverträge zur Verbesserung der Stellung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute enthielten nur ein Verbot der Benachteiligung von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und gingen damit über die von § 75 BetrVG gewährleistete Rechtslage nicht hinaus. 2 3 Es gibt jedoch auch Tarifverträge, die weitergehende 20 BAG 17. 01. 1991 AP Nr. 25 zu § 1 KSchG; Stahlhacke / Preis / Vossen, RdNr. 695; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 275, 278; enger: Berkowsky, Personen- und verhaltensbedingte Kündigung, § 5 RdNr. 47. 21 Vgl. Wlotzke, RdA 1976, S. 80 - ca. 50 solcher Tarifverträge waren im Tarifregister beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung registriert. 22 Vgl. BAG 05. 04. 1987 AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge Banken; BAG 19. 07. 1983 AP Nr. 5 zu § 87 BetrVG Betriebsbuße; BAG 08. 10. 1997 NZA 1998 S. 492 ff. 23 Wlotzke, RdA 1976, S. 80.
2. Kap.: Die Möglichkeiten einer ein vernehmlichen Regelung
237
Regelungen enthalten. Als Beispiel kann der am 11. 03. 1975 zwischen der Deutschen Postgewerkschaft und dem Bundespostminister geschlossene Tarifvertrag dienen. 2 4 § 1 des Tarifvertrags erlaubte der Gewerkschaft alle drei Jahre, während der Arbeitszeit die Vertrauensleute in der Dienststelle wählen zu lassen. Abordnungen, Versetzungen oder Umsetzungen mußten gem. § 6 des Tarifvertrags zuvor mit der Gewerkschaft erörtert werden; § 7 des Tarifvertrags gab den Vertrauensleuten das Recht, ihre Sitzungen außerhalb der Arbeitszeit in den Diensträumen durchzuführen. Der Abschluß dieses Tarifvertrags führte zu zwei Anfragen i m Bundestag und zu einem Sachverständigenhearing. 25 Weitergehender war eine Regelung in einem Firmentarifvertrag, über den das Arbeitsgericht Kassel 2 6 zu entscheiden hatte. Dort war festgelegt worden, daß Änderungskündigungen oder betriebsbedingte Kündigungen von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten unzulässig sein sollten; personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen waren von dem Verbot nicht umfaßt. Andere Forderungen der Gewerkschaften sehen zudem bezahlte Freistellungen der Vertrauensleute vor. 2 7 Die Regelungen in solchen Tarifverträgen lassen sich damit in zwei Gruppen unterteilen: Zum einen Regelungen, die den Gewerkschaften zusätzliche, über die gesetzlichen hinausgehende Rechte gewähren, zum anderen Regelungen, die die vertragliche Stellung der Vertrauensleute, ζ. B. durch Gewährung von zusätzlichem Kündigungsschutz, verbessern. 28 Die Zulässigkeit von solchen Tarifverträgen war umstritten, 2 9 wobei die neueren Stimmen in der Literatur keine grundsätzlichen Bedenken mehr haben. 3 0
a) Die Grenzen der Regelungsmacht der Tarifpartner gem. § 1 Abs. 1 T V G Einige Autoren vertreten die Ansicht, Tarifverträge über gewerkschaftliche Vertrauensleute seien von der Tarifautonomie nicht mehr gedeckt. Durch Tarifverträge sollten die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer geregelt werden; die hier in Rede 24 25 26 27
Zitiert bei: Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 f. Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 (18). Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977 S. 157. Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 86 f.
28 Vgl. Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 89 ff. 29 Für Rechtmäßigkeit: Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17; Wlotzke, RdA 1976, S. 80; Zacken, BB 1976, S. 514; Herschel, AuR 1977, S. 137; Bauer/Haußmann, NZA 1998, S. 854; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 61; EK - Schaub, TVG, § 1 RdNr. 36; gegen Rechtmäßigkeit: Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (69); Richardi, RdA 1968, S. 427; Bulla, BB 1975, S. 889; Kraft, ZfA 1976, S. 243; Bötticher, RdA 1978, S. 133; Blomeyer, DB 1977, S. 101; Rieble, RdA 1993, S. 140 (143). 30 Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 446 f.; Lowisch/Rieble, TVG, § 1 RdNr. 549 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 162 f.; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 521 ff., 655 ff.
238
4. Teil: Rechtsdurchsetzung und einvernehmliche Regelung
stehenden Tarifverträge jedoch dienten nicht diesem Ziel, sondern allein den eigennützigen, koalitionspolitischen Zielen der Gewerkschaften. 31 Dem wird entgegengehalten, diese Auffassung leide unter einem verengten Verständnis des Tarifvertrags. 32 Solche Regelungen seien gerade zur Vermeidung von Streitigkeiten sinnvoll; zudem sei es nicht mehr vertretbar, eine grundsätzlich von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Betätigung aus dem Geltungsbereich von Tarifverträgen auszuschließen und die Ausgestaltung allein dem Richter zu überlassen. 33 Zudem diene die Tarifautonomie nicht allein der Regelung der materiellen Arbeitsbedingungen, sondern auch der Regelung des gegenseitigen Verhältnisses, wie auch die Schlichtungsabkommen der Tarifpartner zeigten. 3 4 Gegen das letzte Argument wird allerdings von der Gegenansicht eingewendet, daß die einseitig i m Interesse der Gewerkschaft stehende Regelung nicht mit den i m beiderseitigem Interesse stehenden Schlichtungsabkommen verglichen werden könne. 3 5 Daß die Gewerkschaften mit den Tarifverträgen über gewerkschaftliche Vertrauensleute vor allem eigennützige Ziele verfolgen, kann kaum bestritten werden. 3 6 Auch, wo sie bessere Arbeitsbedingungen für die Vertrauensleute aushandeln, geschieht das letztlich im eigenen organisationspolitischen Interesse. Das ist aber richtigerweise kein Argument gegen eine Möglichkeit der tarifvertraglichen Regelung. Ein solcher Tarifvertrag schafft in einem umstrittenen und i m Einzelfall schwierig zu beurteilenden Rechtsgebiet Klarheit für beide Beteiligte; überflüssige Prozesse werden vermieden. 3 7 Damit liegt ein solcher Tarifvertrag letztlich auch i m Interesse des Arbeitgebers. Die gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb spielt sich zudem in einem Spannungsfeld zwischen dem Recht der Gewerkschaften auf Betätigung und den Gegenrechten des Arbeitgebers, die der Koalitionsfreiheit Grenzen ziehen, ab. Unabhängig von der rechtlichen Frage, wie eng der Arbeitgeber diese Grenzen ziehen darf, muß es möglich sein zu klären, wie weit er sie wirklich zieht. Zudem ist richtigerweise schon der Ansatzpunkt der Gegenansicht, daß Art. 9 Abs. 3 GG nicht tarifliche Selbsterhaltungsmaßnahmen schützt, abzulehnen. 38
31 Richardi, RdA 1968, S. 427 (429); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (252 ff.); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (104 ff.). 32 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/2, S. 1326; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 658. 33 Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (84); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 658. 34
35 36 37 38
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 659. Richardi, RdA 1968, S. 427 (429). Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 103 ff. Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 128 f. Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 249 mwN.
2. Kap.: Die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung
239
b) Zur Zumutbarkeit für den Arbeitgeber Gegen die Rechtmäßigkeit von Tarifverträgen zur Verbesserung der Stellung von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten wurde auch eingewandt, diese seien für den Arbeitgeber unzumutbar, da er gezwungen würde, die Gegenseite aktiv zu unterstützen. Das gelte erst recht, wenn ein solcher Tarifvertrag von der Gewerkschaft mit einem Arbeitskampf erzwungen worden sei. 3 9 Dem wurde widersprochen mit dem Argument, der Grundsatz der Unzumutbarkeit sei zu unbestimmt, um eine sichere Grundlage für die Entscheidung abzugeben. 4 0 Zudem habe sich der Arbeitgeber vertraglich verpflichtet; eine nachträgliche Korrektur des Ergebnisses liefe auf eine „Tarifzensur" hinaus. 41 Grundsätzlich kann die Inanspruchnahme des Eigentums des Arbeitgebers auch wegen der damit verbundenen Koalitionsförderung der Gegenseite gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstoßen. 42 Dieser Gesichtspunkt war j a auch i m Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen - die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers war ein Hauptgrund dafür, daß der Arbeitgeber nicht zur gesonderten Überlassung von Räumen verpflichtet ist. 4 3 Das betraf jedoch allein die Inanspruchnahme aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung. Eine vertragliche Verpflichtung des Arbeitgebers, wie sie hier diskutiert wird, ist anders zu beurteilen: Der Arbeitgeber bestimmt selbst, was ihm zumutbar ist. 4 4 Das gilt für den Firmentarifvertrag auch dann, wenn die Gewerkschaft den Tarifvertrag durch Streik durchgesetzt haben sollte: Arbeitskampfmaßnahmen sollen dafür sorgen, daß eine Parität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern hergestellt wird. Der Arbeitgeber stand der Gewerkschaft damit als gleichstarker Partner gegenüber. Das schließt aus, daß die Gewerkschaft ihm eine an sich unzumutbare Regelung aufgezwungen haben sollte. Eine Billigkeitskontrolle 4 5 ist hier ebensowenig am Platz wie bei materiellen Arbeitsbedingungen. 46 Wenn dem Arbeitgeber der Tarifvertrag wirklich unzumutbar wäre, hätte er ihn nicht unterschrieben. Etwas anderes kann auch nicht bei Verbandstarifverträgen gelten. 4 7
39 Bulla, BB 1975, S. 889 (892); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (260); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (107); Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 234. 40 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 528; Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 447; Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977 S. 157 (159); Herschel, AuR 1977, S. 137 (142); Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 (19); Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 185. 4 1 Zachert, BB 1976, S. 514 (517); Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (83). 42 Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 232. « Vgl. oben 3. Teil, 2. Kap., 7. Abschnitt § 32. 44
Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 447. Eine solche findet grundsätzlich nicht statt; vgl. Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 475 mwN. 4 6 Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977 S. 157 (159). 45
47
Insoweit differenzierend: Wiedemann, TVG, Einleitung § 1 RdNr. 447.
240
4. Teil: Rechtsdurchsetzung und ein vernehmliche Regelung c) Zum Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit
Zum Teil wird auch angenommen, solche Tarifverträge stellten den Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit 48 der Gewerkschaften in Frage. 4 9 Daß das kein brauchbarer Gesichtspunkt im Hinblick auf die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb ist, wurde schon oben 5 0 näher dargelegt. Der Arbeitgeber fördert die Koalition zwar, gewinnt aber keinen Einfluß auf ihre Entscheidungen. Zudem kann man nicht annehmen, daß Tarifverträge über gewerkschaftliche Vertrauensleute zugleich die Gegnerunabhängigkeit der Gewerkschaften gefährden und für den Arbeitgeber unzumutbar sind.
d) Normative und schuldrechtliche Geltung der Normen Eine Begünstigung gewerkschaftlicher Vertrauensleute ist also grundsätzlich tarifvertraglich regelbar. Damit stellt sich die Frage, ob solche Regelungen auch i m normativ wirkenden Teil des Tarifvertrags enthalten sein können oder ob sie allein im schuldrechtlichen Teil möglich sind.
aa) Inhalts- und Beendigungsnormen Inhalts- und Beendigungsnormen gem. §§ 1 Abs. 1; 4 Abs. 1 S. 1 T V G können alles regeln, was Inhalt eines Arbeitsverhältnisses sein kann. 5 1 Umfaßt sind damit Normen, die die Arbeitspflicht oder die Bezahlung regeln. 5 2 Beendigungsnormen können auch die Kündigung eines Arbeitnehmers regeln, sei es, daß besondere Formvorschriften oder Kündigungsfristen vereinbart werden, sei es, daß das Kündigungsrecht des Arbeitgebers beschränkt w i r d . 5 3 Einige Stimmen in der Literatur meinen, Regelungen, die gewerkschaftliche Vertrauensleute begünstigten, könnten keine Inhaltsnormen sein. Die zu regelnden Punkte seien nämlich nicht unmittelbar dem Inhalt des Arbeitsverhältnisses zuzuordnen; der Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis sei in diesem Fall rein formaler, aber nicht inhaltlicher A r t . 5 4 48 Höfling in:Sachs, GG, Art. 9 RdNr. 56; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 9 RdNr. 13; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 435; Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 214. 49 Bulla, BB 1975, S. 889 (891); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (260 ff.); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (110); aA: Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977 S. 157 (159); Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (81); Zachert, BB 1976, S. 514 (515); Herschel, AuR 1977, S. 137 (141); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 524. 50 Vgl. oben 3. Teil, 1. Kap., II 3 d. 51 Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 268; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 451; Götz, Arbeitsrecht II, RdNr. 11; Söllner, Arbeitsrecht, S. 137. 52 Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 268; Götz, Arbeitsrecht II, RdNr. 11. 53 Löwisch, Arbeitsrecht, RdNr. 274 f.; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 451.
2. Kap.: Die Möglichkeiten einer einveehmlichen Regelung
241
Das kann aber solange nicht überzeugen, wie i m Tarifvertrag tatsächlich inhaltliche Fragen der Arbeitsverhältnisse der Vertrauensleute geregelt werden wie Freistellungen oder besondere KündigungsVorschriften. Dann handelt es sich um eine Regelung materieller Arbeitsbedingungen. Bei der Bestimmung des Normcharakters ist aber allein auf den materiellen Inhalt der Norm, nicht auf die damit verbundene Zwecksetzung, abzustellen. 55 Auch daß solche Normen zwischen den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und den übrigen Arbeitnehmern differenzieren, spricht nicht gegen ihre Einordnung als Inhaltsnormen. Grundsätzlich ist in Tarifvertragsnormen auch eine Differenzierung zulässig - nach Geschlecht, Alter oder Familienstand. 56 Die Frage, ob eine solche Differenzierung rechtmäßig ist, betrifft dann nicht den Charakter der Norm als Inhaltsnorm, sondern die Frage ihrer materiellen Rechtmäßigkeit anhand einer Prüfung des Gleichheitssatzes gem. Art. 3 Abs. 1 GG. Soweit Tarifverträge zur Begünstigung gewerkschaftlicher Vertrauensleute auch Regelungen über materielle Arbeitsbedingungen enthalten, sind diese grundsätzlich auch in Inhaltsnormen des Tarifvertrags rechtmäßig.
bb) Betriebsnormen Während Inhalts- und Beendigungsnormen nur für die gem. § 3 Abs. 1 T V G tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten, gelten Betriebsnormen gem. § 3 Abs. 2 T V G für den ganzen Betrieb und für alle Arbeitnehmer des Betriebs. 5 7 Dabei handelt es sich um Normen des Tarifvertrags, die als Solidarnormen dem Arbeitgeber bestimmte Einrichtungen, ζ. B. Wasch- oder Pausenräume, vorschreiben oder um Normen, die die Ordnung des Betriebs regeln, ζ. B. Torkontrollen, Rauchverbote oder das Verhalten am Arbeitsplatz. 5 8 Gegen die Einbeziehung der Ordnungsnormen in die zulässigen Betriebsnormen wird jedoch geltend gemacht, daß die Außenseiter belastenden Regelungen von der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien nicht mehr gedeckt seien. 59 Typisch für Betriebs normen ist, daß sie, um einer unzumutbaren Differenzierung zwischen organisierten und nicht- oder andersorganisierten Arbeitnehmern vorzubeugen, betriebseinheitlich gelten müssen. 60 Daß Regelungen über gewerkschaftliche Vertrauensleute in Betriebsnormen getroffen werden können, wird meistens verneint. 6 1 Regelungen über gewerkschaft54 Losacker, ArbRdGgw Bd. 2 (1965), S. 56 (70); Richardi, RdA 1968, S. 427 (428); Bulla, BB 1975, S. 889 (892); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (108); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (262). 55 Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977 S. 157 (159); Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (84); Zachert, BB 1976, S. 514 (518); Herschel, AuR 1977, S. 137 (141). 56 Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (84 f.). 57 Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 452; Söllner, Arbeitsrecht, S. 137. 58 Vgl. Götz, Arbeitsrecht II, RdNr. 14 f.; Söllner, Arbeitsrecht, S. 137. 59 Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 539. 60 Lieb, Arbeitsrecht, RdNr. 537 f.; Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 452. 16 Brock
242
4. Teil: Rechtsdurchsetzung und einvernehmliche Regelung
liehe Vertrauensleute bezögen sich nicht auf betriebliche Fragen und gälten nicht für alle Arbeitnehmer des Betriebs. Dem wird entgegengehalten, daß auch in Betriebsnormen Regelungen zum Schutz bestimmter Arbeitnehmergruppen getroffen werden könnten. 6 2 Dieter weist darauf hin, daß Regelungen, die die Benutzung von Räumen regeln, typischerweise als Betriebsnormen abgeschlossen werden, auch wenn sie differenzieren, welche Arbeitnehmer die Räume benutzen dürfen. 6 3 Der Unterschied zwischen der Regelung in einer Inhaltsnorm und der Regelung in einer Betriebsnorm ist, daß sich die gewerkschaftlichen Vertrauensleute aller im Betrieb vertretenen Gewerkschaften auf die Betriebsnorm berufen können. Eine Verpflichtung des Arbeitgebers beispielsweise, einer Gewerkschaft Räume für die Sitzungen der gewerkschaftlichen Vertrauensleute zu überlassen, würde nicht nur für die vertragsschließende Gewerkschaft, sondern auch für die anderen i m Betrieb vertretenen Gewerkschaften gelten. Damit ist schon weitgehend auszuschließen, daß eine Gewerkschaft freiwillig Vergünstigungen als Betriebsnormen abschließen würde. Grundsätzlich ist aber gegen Regelungen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute in Betriebsnormen nichts einzuwenden: Sie gelten für alle Arbeitnehmer des Betriebs, die das Differenzierungsmerkmal „gewerkschaftlicher Vertrauensmann" erfüllen. Hier stellt sich eher die umgekehrte Frage: Ob nicht solche Regelungen als Betriebsnorm abgeschlossen werden müssen. Diese Notwendigkeit kann sich aus dem Grundsatz des Koalitionspluralismus ergeben, der es evtl. erzwingt, tarifvertraglich eingeräumte zusätzliche Rechte i m Betrieb nicht nur der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft, sondern allen im Betrieb vertretenen Gewerkschaften zu geben. 6 4
cc) Betriebsverfassungsrechtliche
Normen
Daß es sich bei Normen zur Begünstigung von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten um betriebsverfassungsrechtliche Normen gem. §§ 1 Abs. 1; 3 Abs. 2 T V G handeln kann, wird weitgehend ausgeschlossen. 65 Das ist grundsätzlich richtig, da die Tätigkeit der gewerkschaftlichen Vertrauensleute keine betriebsverfassungsrechtliche Aufgabe ist, sondern allein koalitionspolitischen Zielen dient. 6 6 Etwas anderes kann nur gelten, wenn den Vertrauensleuten Sonderrechte i m Rahmen der 61 Löwischl Rieble, TVG, § 1 RdNr. 549; Richardi, RdA 1968, S. 427 (429); Bulla, BB 1975, S. 889 (892); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (247); Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (84); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (107). 62 Zachert, BB 1976, S. 514 (518); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 661. 63 Dieter, Gewerkschaftliche Vertrauensleute, S. 133 f. 64 Vgl. dazu unten 4. Teil, 2. Kap., I 1 e aa. 65 Bulla, BB 1975, S. 889 (892); Richardi, RdA 1968, S. 427 (429); Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (84). 66 Vgl. oben 3. Teil, 2. Kap., 7. Abschnitt § 28.
2. Kap.: Die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung
243
Betriebsverfassung eingeräumt werden, etwa dem Betriebsrat regelmäßige gemeinsame Sitzungen mit den Vertrauensleuten „verordnet" werden; dann liegt eine Regelung über Angelegenheiten der Betriebsverfassung und somit eine betriebsverfassungsrechtliche Norm vor. 6 7
dd) Schuldrechtlicher
Teil
Soweit Regelungen i m normativen Teil des Tarifvertrags abgeschlossen werden können, können diese auch - unter Ausschluß der normativen Wirkung - i m schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags getroffen werden. 6 8
e) Inhaltliche Bedenken aa) Koalitionspluralismus Ob nicht eine tarifliche Regelung, die einseitig die Vertrauensleute einer Gewerkschaft begünstigt, gegen den Koalitionspluralismus verstößt, ist bisher kaum erörtert worden. 6 9 Den Grundsatz des Koalitionspluralismus 7 0 als bloße Erfindung der Arbeitgeberseite abzutun, 71 ist sicher nicht die Lösung des Problems. Bedenken können sich hier ergeben, wenn eine Gewerkschaft sich umfangreiche Werbe- und Betätigungsrechte vom Arbeitgeber einräumen läßt, die dieser so den anderen Gewerkschaften nicht gewähren muß. Dann hat die vertragsschließende Gewerkschaft erhebliche Werbe vorteile gegenüber den anderen Gewerkschaften: Eine Gewerkschaft hat umfangreiche Werbeflächen, die anderen nur die richterrechtlich garantierten Aushangflächen; eine Gewerkschaft kann umfangreiche Freistellungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen, die anderen können sich nur außerhalb der Arbeitszeit betätigen. Damit besteht die Gefahr, daß die anderen Gewerkschaften langsam aus dem Betrieb verdrängt werden und ihre Stellung untergraben wird. Allerdings können insoweit grundrechtlich immer nur gleiche Chancen garantiert werden. Ein Tarifvertrag, der dem Arbeitgeber untersagt, die gleichen Bedingungen auch den anderen i m Betrieb vertretenen Gewerkschaften zu gewähren, verstößt damit sicher gegen den Koalitionspluralismus und ist deshalb rechtswidrig. Solange es ein solches Verbot nicht gibt, steht es den anderen Gewerkschaften frei, sich beim Arbeitgeber um den Abschluß eines ähnlichen Tarifvertrags zu be67 Kraft, ZfA 1976, S. 243 (247); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (107). 68 Vgl. Zachert, BB 1976, S. 514 (519); Bauer/Haußmann, NZA 1998, S. 854 (855); Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 660. 69 Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 (20) mit Hinweis auf eine mündliche Äußerung von Säcker. 70 Vgl. dazu: Maunz/Dürig - Scholz, GG, Art. 9 RdNr. 253 mwN.
71 So aber: Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 (20). 16*
244
4. Teil: Rechtsdurchsetzung und einvernehmliche Regelung
mühen oder den Arbeitgeber dazu zu bewegen, den Tarifvertrag auch auf sie anzuwenden. Zudem könnte auf diese Weise kein grundsätzliches Verbot von Tarifverträgen zur Begünstigung gewerkschaftlicher Vertrauensleute begründet werden; allenfalls könnte der Koalitionspluralismus erzwingen, daß Regelungen in solchen Tarifverträgen nur in Betriebsnormen getroffen werden können.
bb) Gleichbehandlungsgrundsatz Zum Teil wird in Tarifverträgen zur Begünstigung gewerkschaftlicher Vertrauensleute ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG und § 75 BetrVG gesehen. 72 Es werde unzulässigerweise zwischen gewerkschaftlich organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern differenziert, 73 für diese Differenzierung liege jedoch kein sachlicher Grund vor. Auch wenn auf besondere Risiken für gewerkschaftliche Vertrauensleute hingewiesen werde, liege bei besonderen Kündigungsschutzvorschriften in Wahrheit eine gleichheitswidrige Übersicherung vor. 7 4 Soweit sich die Kritik gegen die Ungleichbehandlung von organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern richtete und darin einen Verstoß gegen § 75 BetrVG sah, wird dem entgegengehalten, daß es gem. § § 3 Abs. 1; 4 Abs. 1 S. 1 T V G in der Natur des Tarifvertrags liegt, daß er zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern differenziert; darin könne kein Verstoß gegen § 75 BetrVG liegen. 7 5 Dem bleibt nichts hinzuzufügen. Gewichtiger ist der Einwand, die i m Tarifvertrag vorgenommene Differenzierung sei nicht mehr sachlich begründet, da sie zu einer „Übersicherung' 4 der gewerkschaftlichen Vertrauensleute führe. 7 6 M i t der pauschalen Behauptung, die Differenzierung sei nicht gleichheitswidrig, da sie sachlich begründet sei, 7 7 ist noch nicht viel gewonnen. Richtigerweise ist hier zu differenzieren und zu fragen, ob die einzelne Regelung jeweils sachlich begründet ist. 7 8 Soweit es um Freistellungen der Vertrauensleute von der Arbeit geht, bestehen gegen die Differenzierung keine Bedenken. 7 9 Wenn Gewerkschaft und Arbeitgeber
72 Bulla, BB 1975, S. 889 (893); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (263 f.); Blomeyer, DB 1977, S. 101 (109). 73 Bulla, BB 1975, S. 889 (893); Kraft, ZfA 1976, S. 243 (263 f.). 74 Blomeyer, DB 1977, S. 101 (109). 75 Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 526; Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (85) vgl. dazu auch: Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 75 RdNr. 43; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 75 RdNr. 20; GK - Kreutz, BetrVG, § 75 RdNr. 44. 76 Blomeyer, DB 1977, S. 101 (109). 77 Arbeitsgericht Kassel 05. 08. 1976 AuR 1977 S. 157 (160); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 163 f.; Wlotzke, RdA 1976, S. 80 (85); Herschel, AuR 1977, S. 137 (142); Mayer, BIStSozAR 1977, S. 17 (20); Zachert, BB 1976, S. 514 (519). 78 Vgl. Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 449 ff.; Löwischl Rieble, TVG, § 1 RdNr. 551. 79 Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 451; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 RdNr. 551.
2. Kap.: Die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung
245
eine bestimmte Freistellung von der Arbeit vereinbaren, so geben sie damit zu erkennen, daß sie die gewerkschaftliche Betätigung des Vertrauensmannes für in diesem Umfang erforderlich oder - aus Sicht des Arbeitgebers - hinnehmbar halten. Ob der Vertrauensmann die Freistellungszeit tatsächlich für die gewerkschaftliche Betätigung nutzt, 8 0 kann keine Rolle spielen; insoweit ist es Aufgabe der Gewerkschaft, dafür zu sorgen, daß ihre Vertrauensleute die Zeit auch i m Interesse der Gewerkschaft nutzen. Schwieriger zu beurteilen ist die Frage eines gesonderten Kündigungsschutzes von Vertrauensleuten. Unproblematisch ist hier zwar noch die Vereinbarung von Konsultationspflichten mit der Gewerkschaft vor der Entlassung eines Vertrauensmannes. 81 Schwieriger zu beurteilen ist die Frage eines Kündigungsverbots für den Arbeitgeber. Insbesondere der Ausschluß der betriebsbedingten Kündigung eines Vertrauensmannes kann auch die anderen Arbeitnehmer belasten, da dieser dann -jedenfalls nach der h M - nicht mehr in die soziale Auswahl einzubeziehen i s t . 8 2 Ob ein erhöhtes Kündigungsrisiko für gewerkschaftliche Vertrauensleute vorliegt, ist schwer zu beurteilen. Kündigungen wegen gewerkschaftlicher Betätigung haben das B A G bislang noch nicht beschäftigt, was aber noch nicht ausschließt, daß Arbeitgeber eine solche Kündigung als betriebsbedingte Kündigung durchgesetzt haben. Allerdings ist kaum zu bestreiten, daß die gewerkschaftlichen Vertrauensleute, indem sie für die Gewerkschaften im Betrieb tätig werden, einen konkreten Anreiz für den Arbeitgeber setzen, ihnen zu kündigen. 8 3 Zudem ist zu berücksichtigen, daß der Gleichheitssatz im Sinne eines Willkürverbots zu verstehen i s t . 8 4 Da besonderer - auch gesetzlicher - Kündigungsschutz in der Regel an pauschalierten Merkmalen ansetzt, ist damit grundsätzlich gegen Kündigungsschutzregeln nichts einzuwenden, da diese nicht willkürlich sind. Der Ausschluß auch der außerordentlichen Kündigung wäre allerdings gleichheitswidrig. 8 5 So umfassend sind nicht einmal Betriebsratsmitglieder geschützt.
cc) Bedenken aus dem BetrVG Damit ist noch zu untersuchen, ob durch Tarifverträge zur Begünstigung von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten eine Gefahr für die Betriebsverfassung ausgeht. Soweit ein Tarifvertrag Sonderregeln für die Betriebsverfassung vorsieht, ist das nur in den Grenzen von § 3 BetrVG rechtmäßig. 86 80 So der Einwand von: Blomeyer, DB 1977, S. 101 (109). 81 Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 450. 82 Löwisch/Rieble, TVG, § 1 RdNr. 551 - vgl. zum Streit um die Einbeziehung tariflich unkündbarer Arbeitnehmer in die soziale Auswahl: Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 456 mwN. 83 GalperinlLöwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 65. 84 Vgl. Herschel, AuR 1977, S. 137 (143). 85 Galperinl Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 62.
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4. Teil: Rechtsdurchsetzung und ein vernehmliche Regelung
Bedenken bestehen auch gegen die völlige Freistellung eines Vertrauensmannes von der Arbeitspflicht. 8 7 Er würde zum hauptamtlichen Gewerkschaftsvertreter i m Betrieb; damit entstünden die gleichen Risiken für die Betriebsverfassung wie beim Zugangsrecht. Gegen kürzere Freistellungen, insbesondere für gewerkschaftliche Schulungen, ist aber nichts einzuwenden. 88 Ob eine solche Gefahr auch durch einen hohen Kündigungsschutz für die Vertrauensleute ausgeht, wird unterschiedlich beurteilt, 8 9 ist aber zu verneinen. Dagegen könnte durch Tarifvertrag auch ein koalitionsrechtliches Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb geschaffen werden, soweit dieses so eingeschränkt wird, daß die Bedenken gegen ein Zugangsrecht ausgeräumt werden. Die nötigen Einschränkungen, die der Richter nicht leisten kann, können also von den Tarifvertragsparteien geleistet werden.
2. Tarifverträge
allgemein
Diese Grundsätze lassen sich auch auf andere Tarifverträge anwenden, die Vergünstigungen für die Gewerkschaft vorsehen, sich aber nicht auf die gewerkschaftlichen Vertrauensleute beziehen. Das können beispielsweise Tarifverträge sein über die Bereitstellung von Räumen oder über zusätzliche Aushangflächen i m Betrieb. Solche Regelungen können i m schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags getroffen werden, nach der hier vertretenen Auffassung aber auch in Betriebsnormen.
II. Sonstige schuldrechtliche Vereinbarungen und die Duldung durch den Arbeitgeber Die einfachste und schlichteste Art der einvernehmlichen Regelung ist, daß der Arbeitgeber die gewerkschaftliche Betätigung hinnimmt und sie auch dort duldet, wo er rechtlich dazu nicht mehr verpflichtet ist. Das scheint auch eine in Teilbereichen verbreitete Praxis zu sein. Daneben ist auch der Abschluß formloser Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften möglich. Hier stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber i m eigenen Interesse, wenn er nicht dauerhaft an die Duldung gebunden sein will, eine solche schriftliche Vereinbarung mit Widerrufsmöglichkeit abschließen sollte. Däubler hat darauf hingewiesen, daß auch hinsichtlich der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb die Grundsätze über die betriebliche Übung greifen kön86 Vgl. Fitting /Kaiser/Heiter/Engels, BetrVG, § 3 RdNr. 9 f.; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 3 RdNr. 2; GK - Kraft, BetrVG, § 2 RdNr. 26. 87 Galperin I Löwisch, BetrVG, § 2 RdNr. 62. 88 Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 451; Löwischl Rieble, TVG, § 1 RdNr. 551. 89 Vgl. Wiedemann, TVG, Einleitung RdNr. 450; Kraft, ZfA 1976, S. 243 (266).
2. Kap.: Die Möglichkeiten einer ein vernehmlichen Regelung
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nen. 9 0 Da die betriebliche Übung nur für Arbeitsbedingungen g i l t , 9 1 können sich die Gewerkschaften selbst nicht darauf berufen. Bei der Frage, ob die Grundsätze der betrieblichen Übung für die Gewerkschaftsmitglieder gelten, kommt es auch auf die streitige Frage der der betrieblichen Übung zugrundeliegenden Vertragskonstruktion an. Wenn man mit dem B A G auf die bürgerlich-rechtliche Konstruktion eines stillschweigenden Vertragsschlusses abstellt, 9 2 ist es entscheidend, ob man dem Arbeitgeber einen entsprechenden Verpflichtungswillen unterstellen kann. Dabei wird alles auf die Umstände des Einzelfalles ankommen, wobei das B A G eine eher restriktive Linie verfolgt. 9 3 Grundsätzlich ist es aber möglich, daß eine bisherige Sonderbehandlung - beispielsweise von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten - i m Sinne einer betrieblichen Übung ausgelegt wird. Wenn der Arbeitgeber den Vertrauensleuten bisher Vergünstigungen gewährt hat, so kann das so ausgelegt werden, daß er den Vertrauensleuten auch künftig und generell diese Vergünstigungen gewähren will. Die neuere Lehre stellt auf eine Vertrauenshaftung des Arbeitgebers ab und fragt, ob der Arbeitgeber zurechenbar einen Vertrauenstatbestand gesetzt hat. 9 4 Das wird in der Regel leichter zu bejahen sein. Festzuhalten bleibt, daß Rechte von Gewerkschaftsmitgliedern in bezug auf die gewerkschaftliche Betätigung auch durch betriebliche Übung begründet werden können.
90
Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, RdNr. 540 ff. 1 Vgl. Schaub, Arbeitsrecht, § 111 RdNr. 3 ff. 92 BAG 18. 07. 1968 AP Nr. 8 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; BAG 17. 09. 1970 AP Nr. 9 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; BAG 09. 12. 1981 DB 1982 S. 1417; Hanau/Adomeit, Arbeitsrecht, RdNr. 745; Schaub, Arbeitsrecht, § 111 RdNr. 14. 9 3 Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 160. 9 4 Otto, Arbeitsrecht, RdNr. 160; Söllner, Arbeitsrecht, S. 198. 9
Zusammenfassung der Ergebnisse I. 1. Die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 9 Abs. 3 GG war bis in die neunziger Jahre durch die Kernbereichslehre geprägt. Nach dieser war die Koalitionsfreiheit nur in einem Kernbereich geschützt. Umschrieben wurde dieser Kernbereich mit Hilfe von zwei Formeln. Das Unerläßlichkeitskriterium fragte danach, ob eine Betätigung unerläßlich für Sicherung und Erhaltung der Existenz einer Koalition ist. Die Abwägungsformel ließ Einschränkungen der Koalitionsfreiheit nur soweit zu, wie sie zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten waren. In welchem Verhältnis beide Formeln zueinander stehen, war nicht eindeutig geklärt. 2. Das B A G stützte seine Rechtsprechung zur gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb zuletzt auf das Unerläßlichkeitskriterium. Es gab den Gewerkschaften Rechte i m Betrieb nur soweit, wie diese für die Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Koalition unerläßlich waren. 3. In der Entscheidung vom 14. 11. 1995 erteilte das BVerfG dieser Rechtsprechung eine deutliche Absage und verpflichtete das B A G zu einer Abwägung der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften mit entgegenstehenden Grundrechten des Arbeitgebers. Das BVerfG meinte, das B A G habe seine Rechtsprechung zur Kernbereichslehre miß verstanden.
II. 1. Die Kernbereichslehre des BVerfG bezog sich auf dessen Ansicht, daß die Koalitionsfreiheit umfassend der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf. Das Unerläßlichkeitskriterium legte fest, was der Gesetzgeber positiv regeln muß; die Abwägungsformel beschrieb die Schranken, die der Gesetzgeber der Koalitionsfreiheit bei der Ausgestaltung ziehen darf. 2. Das BVerfG hat die Kernbereichslehre in weitem Umfang aufgegeben, indem es seine Ansicht, daß die Koalitionsfreiheit umfassend der Ausgestaltung bedarf, revidierte und anerkannte, daß der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit auch Bereiche natürlicher Freiheiten umfaßt. Für diese Bereiche natürlicher Freiheiten hat die Kernbereichslehre als Ausgestaltungsrechtsprechung keine Bedeutung mehr. Bedeutung hat die Kernbereichslehre nur mehr für das Tarifvertragsrecht, das Arbeitskampfrecht und die Befugnisse der Gewerkschaften i m Bereich der Betriebsverfassung.
Zusammenfassung der Ergebnisse
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III. 1. Der Arbeitgeber kann seine Interessen i m wesentlichen i m Wege der Selbsthilfe durchsetzen. Die Gewerkschaften hingegen sind vor allem auf die gerichtliche Rechtsdurchsetzung angewiesen. Zuständig für alle Klagen sind die Arbeitsgerichte; zu entscheiden ist i m Urteilsverfahren. 2. Einvernehmliche Regelungen der gewerkschaftlichen Rechte i m Betrieb sind in weitem Umfang möglich. Solche Regelungen können auch in Tarifverträgen erfolgen. Diese können Sonderrechte für gewerkschaftliche Vertrauensleute vorsehen. In diesem Rahmen ist auch ein besonderer Kündigungsschutz für gewerkschaftliche Vertrauensleute möglich; nicht vereinbart werden können allerdings weitreichende Freistellungen für die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb.
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arverzeichnis Abmahnung 76, 235 Abwägung 29, 69, 116, 131, 136, 137, 143, 146, 181, 192, 227 Abwägungsformel 109, 110 Abzeichen 65,96, 171, 174 Akkordlohn 186 Analogie 40, 81, 163 Angriffe gegen Arbeitgeber 47 Anschlagbretter 72, 134, 168, 169 Anspruchsgrundlage 40, 51, 80 Anstecknadeln 65, 96, 171, 174 Arbeitgeber - Interessenlage 124 Arbeitnehmer - Interessenlage 123 Arbeitnehmervertreter 87 Arbeitsablauf 47, 129, 137, 152, 165, 174,
Betriebsrat - Unabhängigkeit 55, 84, 168, 217,205, 217; 245 Betriebsrat - gewerkschaftliche Betätigung des 48 Betriebsratsschulung 134 Betriebsstörung 137 Betriebsverfassung - Rechte der Gewerkschaften 29, 40, 43, 83, 89 Betriebsverfassungsgesetz - Gesetzgebungsgeschichte 52 Betriebsverfassungsrechtliche Normen 242 Bindungswirkung gem. § 31 BVerfGG 211 Briefkasten Werbung 177 Buttons 65,96, 171, 174
176, 187, 189,215,216 Arbeitskampf 77, 79, 90, 112, 162, 200 Arbeitspflicht 183 Arbeitsversäumnis 183 Arbeitsvertrag 183 Arbeitszeit - gewerkschaftliche Betätigung in der 41, 44, 47, 60, 61, 62, 74, 76, 85, 165,179, 182, 201 Aufkleber 65, 96, 171, 174 Ausgestaltung 37, 44, 55, 57, 68, 69, 78, 79, 90, 107, 111, 120, 228 Auslegung - historische 35, 43, 35, 67, 108 Außenpolitik 159 Außenseiter 158, 175 Aussperrung 77
Christlicher Gewerkschaftsbund 27
Beendigungsnormen 240 Beflaggungseffekt 173, 175 Beitrittszwang 33, 34 Betriebliche Übung 247 Betriebsfrieden 130, 138, 152, 160, 190, 196, 198,215,216 Betriebsnormen 241 Betriebspausen 189 Betriebsrat - Interessenlage 124
Delegierte auf Gewerkschaftstagen 193 Demonstrationen 201 Deutsche Angestelltengewerkschaft 27 Deutscher Beamtenbund 27 Deutscher Gewerkschaftsbund 27 Dienststelle 146 Druckkündigung 132 Duldung 134, 178, 188, 199 Eigentum (Art. 14 GG) 61, 76, 132, 147, 152, 170, 171, 177,215 Eingriff 120 Einvernehmliche Regelung 236 E-Mail 178 Erfahrungssatz 137, 145 Erforderlichkeit 144, 153, 177, 181, 190, 223 Ersatzgesetzgeber 94 Fixschuld 183 Flaggenzweitregister 78 Flugblätter 39, 45, 73, 165 Freiheit, natürliche 112
Sachwortverzeichnis Freiheitsrecht 67, 112, 113, 114 Freistellung 192, 193 Freizeitnahme - eigenmächtige 183 Gefährdung - abstrakte 135, 140 Gefährdung - konkrete 135, 139, 176, 187 Gegnerunabhängigkeit 134, 240 Geldsammlungen 198 Gesamtvereinbarungen 35 Gesetzesvorbehalt 120, 121 Gesetzgebungskompetenz 90, 107 Gespräche 164 Gewerkschaften - Interessenlage 122 Gewerkschaften - Mitgliederzahlen 27 Gewerkschaftliche Vertrauensleute 61, 64, 202 Gewerkschaftliche Vertrauensleute - Bereitstellung von Räumen 208 Gewerkschaftliche Vertrauensleute - Geschichte 202 Gewerkschaftliche Vertrauensleute - Kündigungschutz 207 Gewerkschaftliche Vertrauensleute - Rechte 203 Gewerkschaftliche Vertrauensleute - Schutz durch Tarifvertrag 236 Gewerkschaftliche Vertrauensleute - Wahl im Betrieb 61, 64, 204 Gewerkschaftsdelegierte 193 Gewerkschaftstag 193 Gleichbehandlung 244 Gleitzeit 185 Grundrechtsbeeinträchtigung 135 Grundrechtsträgereigenschaft des Staates 147 Grundsatzrechtsprechung 94 Handlungsfreiheit - allgemeine (Art. 2 Abs. 1 GG) 125, 131 Hausrecht (Art. 13 GG) 59, 128, 152, 214 Heck'sche Formel 115, 116 Herrenchiemseer Entwurf zum GG 32 IAO - Abkommen Nr. 135 64, 87, 191 Information über Ziele 150 Informationsstände 175 Inhaltliche Grenzen der Werbung 156 Inhaltsnormen 240
263
Innergewerkschaftliche Arbeit 199 Innergewerkschaftliche Maßnahmen 195 Kantine 155 Kassieren von Mitgliedsbeiträgen 39, 197 Kernbereichslehre 34, 38, 44, 46, 55, 56, 63, 67, 68, 69, 70, 74, 77, 78, 102, 105 Kernzeit 186 Kirchenrecht 61, 70, 117 Klage der Gewerkschaften 234 Koalition - Begriff 36, 68, 134, 194, 206 Koalitionsfreiheit - Begriff der Koalition 35, 68, 134, 240 Koalitionsfreiheit - Betätigungsfreiheit 36, 42, 43, 54, 67 Koalitionsfreiheit - des Arbeitgebers 133, 152 Koalitionsfreiheit Gesetzgebungsgeschichte 32 Koalitionsfreiheit - individuelle und kollektive 35, 42, 43, 46, 54, 67, 193, 197, 212 Koalitionsfreiheit - negative 47, 67, 125, 155, 165, 170, 174, 176, 177, 198 Koalitionsfreiheit - Schranken 44, 77, 78, 110,119 Koalitionsfreiheit - Schutzbereich 28, 42, 54, 55, 56, 67, 74, 77, 101, 106, 109, 113, 195,212 Koalitionspluralismus 47, 127, 136, 157, 169, 243 Kommunikationsgrundrecht 99 Konkordanz - praktische 143 Kostenersparnis 64, 172 Kritik am Arbeitgeber 47, 56, 156 Kündigung 184, 207, 235 Kündigung - außerordentliche 139 Kündigungsgrund 130, 137, 183, 235 Kündigungsschutzklage 235 Megaphon 166 Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) 56, 113, 131, 137, 141, 159, 173 Meinungsumfragen 181 Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) 47 Mitgliederbetreuung 149, 195,227 Mitgliederwerbung 39, 40, 46, 75, 148, 149, 150
264
arverzeichnis
Mitgliederwerbung - Inhalt 75, 149, 150, 156 Mitgliederwerbung - Wahrung des Mitgliederbestandes 149 Mitgliederwerbung - Werbung von Neumitgliedern 149 Mitgliederwerbung im Betrieb 152 Mitgliederzeitschrift - Inhalte 197 Mitgliederzeitschrift - Verteilung im Betrieb 66,195 Mitgliedsbeiträge 85, 197 Mittel der Werbung - Flugblätter 165 Mittel der Werbung - Gespräche 164 Mittel der Werbung - Megaphon 166 Mittel der Werbung - Plakatwerbung 167 Mittelbar grundrechtsprägende Normen 93, 117,146 Nebenpflicht 189 Normativcharakter 35 Öffentlichkeitsarbeit 151 Ort der Werbung 155, 180, 208 Partei (politisch) 159, 162 Pausenräume 155 Personalratswahlen 42 Pflichten des Arbeitnehmers 184 Plakataushang 40, 48, 61, 72, 167, 169, 233 Plakataushang - wilder 169 Plakatwerbung 167, 233 Plaketten 137,141, 171 Polemik 156 Politische Betätigung der Gewerkschaften 47, 56, 73, 158, 197 Politische Betätigung im Betrieb 47, 137, 158 Politische Stellungnahmen der Gewerkschaften 47, 56, 79, 158, 197 Postverteilungssystem 75, 136, 176 Prinzip der Sachnähe 46, 145, 154, 196, 207 Räume - Überlassung 208 Rat - Parlamentarischer 33 Rechtfertigungsgrund 41, 85 Rechtsdurchsetzung 232 Rechtsfortbildung - richterliche 70, 90, 114,
116, 228
Rechtsgrundlagen 80, 81, 85 Rechtsschutz 114, 220 Rechtsschutz - Arbeitnehmer 235 Rechtsschutz - Gewerkschaften 234 Rechtsweg 45, 232, 234 Referentenentwurf 52 Regelungslücke 52, 82, 115 Regelungsmacht der Tarifpartner 237 Reichsverfassung - Weimarer 32, 35 Sammlungen 158 Schikane 174 Schranken - verfassungsimmanente 119 Schrankenkatalog - für gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb 47, 48, 156 Schriftenverteilung 39, 48, 79, 165 Schwarzes Brett 72, 134, 168, 169 Selbsthilfe 61, 73, 142, 232, 233 Sozialadäquanz 41, 85 Sozialempirisch 50, 145 Sozialpolitik 159 Steuerpolitik 159 Strafgesetze 157 Streik 78, 79, 200 Streik - wilder 99 Streikrecht 33 Stufentheorie 119 Tariffähigkeit 34 Tarifvertrag 35, 36, 89, 90, 99, 108, 112, 236 Tarifzuständigkeit 152, 223 Toleranzpflicht 131 Übermaß verbot 143 Unabdingbarkeit 35 Unabhängigkeit des Betriebsrats 55, 84, 168, 205,217, 245 Unerläßlichkeitskriterium 28, 37, 43, 51, 54, 56, 60, 64, 65, 66, 69, 74, 101, 105, 108, 110, 136, 144, 204 Unterlassungklage 65, 143, 232 Unternehmensmitbestimmung 67, 114 Unterschriftensammlungen 198 Urabstimmung 200 Urlaubsantritt 183 Urteils verfahren 233
Sachwortverzeichnis Verbandsmacht 161 verdi (Gewerkschaft) 28 Vereinigungsfreiheit 77 Vereinigungsfreiheit - allgemeine 33 Verfassungsbeschwerde 34, 42, 53, 116 Verhandlungen - Recht auf 204 Verkaufsbereich 155 Versammlungen 180 Versammlungen - Ort 180 Verschmutzung 166 Verteilung 39, 45,73, 165 Vorbehalt des Gesetzes 92 Wählerschaft 44 Wahl - Betriebsrat 162 Wahl - gewerkschaftliche Vertrauensleute 204 Wahl - Grundsätze 163 Wahllisten 43, 163 Wahlvorschlagsrecht der Gewerkschaften 49, 84, 163 Wahl Werbung (Betriebsrats wählen) 42, 83,
162, 226
265
Wahlwerbung (politische Wahlen) 56, 158, 159 Werberecht der Gewerkschaften 40, 41, 42, 45 Werbung - in der Arbeitszeit 41, 44, 47, 60, 61, 67, 74, 76, 85, 165, 179, 182, 201 Werbung im Betrieb - allgemein 152 Werkvertrag 184 Wesensgehalt 110, 119, 120 Wesentlichkeitstheorie 78, 92, 148 Wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 12 GG) 129, 152, 155 Wirtschaftspolitik 159 Zugangsrecht 57, 58, 59, 60, 72, 73, 210 Zugangsrecht - betriebverfassungsrechtlich 53, 59,219, 229 Zugangsrecht - koalitionsrechtlich 53, 57, 58, 60, 68, 70, 72, 73,210 Zumutbarkeit 239 Zuständigkeit der Gerichte 45, 232, 234