Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht [1 ed.] 9783428492626, 9783428092628


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Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht [1 ed.]
 9783428492626, 9783428092628

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 754

Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht Von

Georg Seyfahrt

Duncker & Humblot · Berlin

GEORG SEYFARTH

Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 754

• ·

Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht Von Georg Seyfarth

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Seyfarth, Georg: Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht / von Georg Seyfarth. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 754) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09262-7

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09262-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bisher weit mehr von Kontinuität als von Brüchen gekennzeichnet. Die Ursachen dafür sind sicher vielschichtig. Vermutlich ragen zwei Gründe heraus: Zum einen entwickelte sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in den ersten vierzig Jahren der Existenz des Gerichts in einem Klima hoher gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Stabilität. Zum anderen wurde das Verfassungsrecht innerhalb und außerhalb des Gerichts von Personen geprägt, die - bei allen ideologischen Differenzen - auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont beim Aufbau einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie zurückgreifen konnten. Spätestens seit der Wiedervereinigung ist offen, ob Stabilität der gesellschaftlichen Entwicklung und relative Homogenität im Vorverständnis der jeweils amtierenden Richterschaft auch künftig zu den Rahmenbedingungen der Verfassungsrechtsprechung in Deutschland gehören werden. Es ist nicht selbstverständlich, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch in Zukunft die bisherige Konstanz aufweisen wird. Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht bietet sich deshalb als zugleich praktisches und theoretisches Problem als Untersuchungsgegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung an. Die Untersuchung wurde von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld im Sommersemester 1997 als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung habe ich die Arbeit an einzelnen Stellen überarbeitet und aktualisiert. Herrn Professor Dr. Joachim Wieland danke ich herzlich für die Betreuung meines Dissertationsvorhabens und die große Freiheit, die er mir bei Auswahl und Konzeption des Themas gelassen hat. Ebenso herzlich danke ich Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Dieter Grimm für die Übernahme des Zweitgutachtens und die Einblicke, die er mir in die Praxis des Bundesverfassungsgerichts ermöglicht hat. Dank gebührt auch meiner Frau Tini Seyfarth für die große Geduld, mit der sie die Entstehung der Arbeit begleitet hat. Widmen möchte ich das Buch meinen Eltern: Für ihr Vorbild und ihre selbstverständliche Unterstützung meines Studiums bin ich ihnen tief verbunden.

Düsseldorf, im Februar 1998 Georg Seyfarth

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Kapitel: Problemstellung und Übersicht

17

Erster Teil Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

27

2. Kapitel: Inhalt, entscheidungstheoretische Implikationen und Rechtfertigung des Grundsatzes von stare decisis 28 I. Die Bedeutung von stare decisis fur ein "Case Law-System" und seine historischen Wurzeln in England Π. Entscheidungstheoretische Probleme von stare decisis

29 31

1. Suboptimalität des Ergebnisses

32

2. Informationelle Überiiitegration

34

3. Pfadabhängigkeit

35

ΙΠ. Stare decisis als Problem der Rechtsentwicklung

37

IV. Argumente und Kriterien für die Befolgung von stare decisis

39

1. Argumente für die Befolgung von stare decisis

40

2. Kriterien für die Befolgung von stare decisis

43

3. Kapitel. Stare decisis und die Rechtsprechung des Supreme Court

48

I. Diefrühe Rechtsprechung seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Warren Court

52

Π. Die Formationsphase bis zum Rehnquist Court

54

ΙΠ. Die neuen Ansätze im Rehnquist Court

57

IV. Zwischenergebnis

66

8

nsverzeichnis 4. Kapitel·. Theoretische Schwierigkeiten und prinzipielle Unmöglichkeit konsistenter Verfassungsrechtsprechung

68

I. Die Bestimmung der Präzedenzwirkung einer verfassungsgerichtlichen Vorentscheidung

68

Π. Das Problem der Inkonsistenz aus Sicht der "social choice theory " 1. Arrows Paradoxon a) Wahlparadoxon b) Arrow's Impossibility Theorem 2. Kritik und Vermeidungsoptionen

75 77 78 80 83

5. Kapitel· Der Zusammenhang zwischen stare decisis und verfassungstheoretischen Positionen im amerikanischen Veifassungsrecht 86 I. Die Zuordnung von stare decisis zu politischen Positionen

86

Π. Die Zuordnung von stare decisis zu verfassungstheoretischen Positionen

90

Zweiter Teil Die Änderung der Verfassungsrechtsprechung und ihre Behandlung im deutschen Verfassungsrecht

94

6. Kapitel: Änderungen und Abweichungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 95 I. Begriff der veifassungsgerichtlichen Rechtsprechungsänderung

96

1. Verwendung im Gesetz

97

2. Negative Abgrenzungen

100

3. Definition

102

4. Sonderproblem: Entscheidungen nach Stimmengleichheit als Gegenstand einer Rechtsprechungsänderung

103

Π. Ausdrückliche und eindeutige Abweichungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 106 1. Witwerrentenurteil : BVerfGE 39, 169 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Erstes Witwerrentenurteil (BVerfGE 17, 1) bb) Zweites Witwerrentenurteil (BVerfGE 39, 169) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

107 107 107 108 110

nsverzeichnis 2. Hamburgische Bebauungsplangesetze: BVerfGE 70, 35 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Bremer Bebauungsplan (BVerfGE 31, 364) bb) Hamburgische Bebauungsplangesetze (BVerfGE 70, 35) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

112 113 113 114 115

3. Anwaltliche Standesrichtlinien: BVerfGE 76, 171 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Anwaltliche Titelführungsbefugnis (BVerfGE 36, 212) bb) Anwaltliche Standesrichtlinien (BVerfGE 76, 171) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

118 118 118 120 121

4. Beamtenversorgungsurteil: BVerfGE 76, 256 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Diätenurteil (BVerfGE 40, 296) bb) Beamtenversorgungsurteil (BVerfGE 76, 256) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

123 124 124 126 128

5. Arbeitnehmerüberlassungsverbot: BVerfGE 77, 84 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Adia-Urteil (BVerfGE 21, 261) bb) Arbeitnehmerüberlassungsbeschluß (BVerfGE 77, 84) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

132 132 132 134 136

6. Steuerbefreiung des Famihenexistenzminimums: BVerfGE 82, 60 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Kinderlastenausgleich (BVerfGE 43, 108) bb) Familienexistenzminimum (BVerfGE 82, 60) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

139 141 141 142 144

7. Kostenerstattung bei Verfassungsbeschwerden: BVerfGE 85, 117 a) Tatbestand und Entscheidimgsgründe aa) Kostenerstattungsbeschluß Volkszählung (BVerfGE 66, 152) bb) Kostenerstattungsbeschluß Bodenreform (BVerfGE 85, 117) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

147 148 148 148 150

8. Drittes Parteienfinanzierungsurteil: BVerfGE 85, 264 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Drittes Spendenurteil (BVerfGE 73, 40) bb) Drittes Parteienfinanzierungsurteil (BVerfGE 85, 264) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

152 156 156 158 161

9. Maastricht-Urteil: BVerfGE 89, 155 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Eurocontrol-Beschluß (BVerfGE 58, 1) bb) Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung

164 167 167 168 169

10

nsverzeichnis 10.Feuerwehrabgabe: BVerfGE 92, 91 a) Tatbestand und Entscheidungsgründe aa) Feuerwehrabgabe (Π) (BVerfGE 13, 167) bb) Feuerwehrabgabe (ΙΠ) (BVerfGE 92, 91) b) Kritik der Rechtsprechungsänderung ΙΠ. Zusammenfassung und Auswertung

171 171 171 173 175 177

7. Kapitel: Die Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts im Licht der materiellen Rechtskraft und der Bindung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG

183

I. Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Rechtskraft 184 1. Die Geltung der materiellen Rechtskraft im Verfassungsprozeßrecht

184

2. Grenzen der Rechtskraft a) Subjektive Grenzen der Rechtskraft b) Sachliche Grenzen der Rechtskraft c) Zeitliche Grenzen der Rechtskraft 3. Zwischenergebnis

187 187 188 189 191

Π. Die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG und ihre Geltung für das Bundesverfassungsgericht 193 1. Gegenstand der Bindungswirkung.

193

2. Adressaten der Bindungswirkung a) Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts durch §31 Abs. 1 BVerfGG b) Die Bindung des Gesetzgebers durch § 31 Abs. 1 BVerfGG

200 200 203

DI. Auswertung des Schrifttums zur Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts 207 1. Argumente gegen eine Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des § 31 Abs. 1 BVerfGG 207 a) Wortlaut 207 b) Entstehungsgeschichte 208 c) Gesetzessystematik 208 d) Teleologische und sonstige Aspekte 209 2. Differenzierende Stellungnahmen des Schrifttums a) Die Position von Kriele b) Die Position von Sachs IV. Zusammenfassung und Zwischenergebnis

211 212 215 217

nsverzeichnis Dritter Teil Kontinuität und Wandelbarkeit der Verfassungsrechtsprechung im Licht der Verfassungstheorie

219

8. Kapitel·. Funktion der Verfassung und Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit 220 I. Unzulänglichkeiten der bisherigen Diskussion

220

1. Gefahr materieller Entgrenzung

221

2. Mißachtung des DisziplinierungsefFekts

223

3. Fragwürdigkeit materieller Richtigkeit

227

4. Zusammenfassung

229

Π. Begriff und Funktion der Verfassung 1. Historische Genese des Verfassungsbegriffs

230 230

2. Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 234 3. Der Verfassungsbegriff in der Diskussion der Staatsrechtslehre a) Gemeinsamer Ausgangspunkt der Staatsrechtslehre b) Trennlinien der Staatsrechtslehre aa) Verfassungstheorie der offenen Verfassung bb) Verfassung als Rahmenordnung

238 239 240 241 244

4. Politikwissenschaftliche und soziologische Anmerkungen zum Verfassungsbegriff 247 a) Politikwissenschaftlicher Ansatz: Verfassung und Verfassungswirklichkeit 247 b) Soziologischer Ansatz: Verfassungssystem und politisches System....251 5. Kritik und Stellungnahme zum Verfassungsbegriff. ΠΙ. Aufgabe, Gefahren und Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit

255 260

1. Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit

260

2. Gefahren und Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit

263

12

nsverzeichnis 9. Kapitel·. Die Verfassungstheorie als Maßstab für die Änderung der Verfassungsrechtsprechung

270

I. Rechtsvergleichende Konsequenzen aus der amerikanischen Diskussion um stare decisis

270

1. Orientierung an den Abweichungsmaßstäben des Supreme Court

271

2. Orientierung an der Casey-Argumentation 275 Π. Konsequenzen der verfassungstheoretischen Überlegungen für die Änderung der Verfassungsrechtsprechung 279 1. Selbstbindung als Vermeidungsstrategie der Ambivalenz der Verfassungsgerichtsbarkeit

279

2. Einwände gegen die Selbstbindung als verfassungstheoretische Vermeidungsstrategie

282

3. Modifikationen und Ergänzungen zum Konzept von der nachziehenden Rechtsprechungsänderungsbefugnis 284 Schluß 10. Kapitel·. Zusammenfassung und Ausblick

292

Literaturverzeichnis

297

Personen- und Sachregister

321

Abkürzungsverzeichnis A.A./a.Α. AaO./aaO. AbgG Abs. a.F. AFG Am.L.Rev. Anm. AnwBl. ArbGG ARSP AöR art. Art. ArbuR AsylVfG AÜG Aufl. ArVNG AVAVG AVG BAFöG BauGB BayVerfGHE BB BBauG Bd. BeamtVG BGB BGBl. BGHSt BGHZ BKGG BRAO BSGE BT-Drs. BTProt.

anderer Ansicht am angegebenen Ort Abgeordnetengesetz Absatz alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz American Law Review Anmerkung Anwaltsblatt Arbeitsgerichtsgesetz Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archiv für das öffentliche Recht article Artikel Arbeit und Recht Asylverfahrensgesetz Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Auflage Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Angestelltenversicherungsgesetz Bundesausbüdungsförderungsgesetz Baugesetzbuch Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs Der Betriebs-Berater Bundesbaugesetz Band Beamtenvers orgungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeskindergeldgesetz Bundesrechtsanwalts Ordnung Entscheidungen des Bundessozialgerichtes Drucksachen des Deutschen Bundestages Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte

14 BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwGE bzw. cl. Co. Corp. Cranch Dali. DAV ders. d.h. dies. DJT DÖV DRiZ DtZ DVB1. ed. Einl. EStG etc. EuGH EuGRZ EuR f./ff. FG-BVerfG

FGO FN FS FuR gem. GG GVB1. GVG Harv. HdBStR H.L. h. M. How. H rsg. /hrsg. i.d.F. i.E. i.S.d. i.V.m.

Abkürzungsverzeichnis Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise clause Company Corporation Cranch (Supreme Court Reporter von 1801-1815) Dallas (Supreme Court Reporter von 1790-1800) Deutscher Anwalts-Verein derselbe das heißt dieselben Deutscher Juristentag Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsch-deutsche Rechtszeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt Editor Einleitung Einkommensteuergesetz et cetera Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht folgende Seite(n) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe zum 25-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts Finanzgerichtsordnung Fußnote Festschrift Familie und Recht gemäß Grundgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Harvard Handbuch des Staatsrechts House of Lords herrschende Meinung Howard (Supreme Court Reporter von 1843-1860) Herausgeber/herausgegeben in der Fassung im Ergebnis im Sinn des in Verbindung mit

Abkürzungsverzeichnis JöR Ν.F. Jura JuS JR JZ KJ Ht. L.J. L.Rev. LTG MDR m.E. MuSchG m.w.N. NJ NJW Nr. NVwZ N.Y.U. OVG ParteiG Pet. Reg. Entw. RsprEinhG RVO Rz. S. S.Ct. sect. SGB SGG Sp. StGB StPO StuW u. u.a. U.S. U.S.C. u.U. V.

Verf. VerwArch Vgl./vgl. VGH v.T.

Jahrbuch des öffentlichen Rechts (neue Folge) Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Rundschau Juristenzeitung Kritische Justiz Buchstabe Law Journal Law Review Gesetz über den Landtag des Saarlandes Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Mutterschutzgesetz mit weiteren Nachweisen Neue Jusitz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht New York University Oberverwaltungsgericht Parteiengesetz Peters (Supreme Court Reporter von 1828-1842) Regierungsentwurf Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes Reichsversicherungsordnung Randzahl Seite Supreme Court Reporter Section Sozialgesetzbuch S ozialgerichtsgesetz Spalte Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Steuer und Wirtschaft University unter anderem United States / United States Reports United States Code unter Umständen versus / von Verfasser Verwaltungsarchiv Vergleiche Verwaltungsgerichtshof von Tausend

16 VVDStRL VwGO Wall. Wash. Wheat. W.L.R. WRV z.B. ZBR ZfP N.F. ZG ZParl ZPO ZRP

Abkürzungsverzeichnis Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Wallace (Supreme Court Reporter von 1863-1874) Washington Wheaton (Supreme Court Reporter von 1816-1827) Weekly Law Reports Weimarer Reichs Verfassung vom 11 .August 1919 zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozeß Ordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung

1. Kapitel

Problemstellung und Übersicht Die Änderung einer bestehenden und möglicherweise gefestigten Rechtsprechung sticht unter den Entscheidungen der höchsten deutschen Gerichte in besonderem Maß hervor. Oft steht eine neue Rechtsprechung am Ende einer kontroversen Auseinandersetzung über die alte Entscheidung. Die Abweichung von einem alten Urteil wird, mehr noch als andere Entscheidungen, mit erleichterter Zustimmung oder mit empörter Kritik aufgenommen, und nicht selten findet sie über die juristischen Fachkreise hinaus die Aufmerksamkeit einer interessierten Öffentlichkeit. Dieser Umstand deutet darauf hin, daß sich hinter der Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung über das jeweilige Sachproblem hinaus zahlreiche grundsätzliche und theoretische Probleme verbergen. Auch im Verfassungsrecht gibt die Änderung der eigenen Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht Anlaß zu grundlegenden Fragen und Überlegungen, zumal das Phänomen von Rechtsprechungsänderungen in den letzten Jahren anhand verschiedener Fälle verstärkt in das Blickfeld getreten ist. So stellte sich bei der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur strafrechtlichen Beurteilung von friedlichen Sitzdemonstrationen 1 die Frage, ob dieser Beschluß nicht eine Abweichung von dem ersten "Sitzblockaden-Urteil" aus dem Jahr 19862 bedeutete. Vor allem haben aber die Diskussion um die Neuregelung des Abtreibungsrechts im Zuge der Wiedervereinigung und die abermalige Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Komplex des § 218 StGB die auftretenden Fragen in eindrucksvoller Weise transparent werden lassen: In welchem Maß sollte das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs 19933 durch seine eigene, über 15 Jahre zurückliegende Ent1

BVerfGE 92, 1.

2

BVerfGE 73, 206. Vgl. zu dieser Frage unten Kapitel 6, S. 103 ff.

3

BVerfGE 88, 203.

2 Seyfarth

Einleitung

18

Scheidung4 gebunden sein? Durfte das Gericht nunmehr anders entscheiden als 1975? Gibt es eine Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine alten Entscheidungen? Mußte das Gericht möglicherweise an dem alten Urteil festhalten, selbst wenn es nunmehr von dessen Richtigkeit nicht mehr überzeugt war? Oder durfte das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich seine Rechtsprechung ändern, wenn es die alte Entscheidung inzwischen für falsch erachtete? In diesen Fragen wird das Spannungsverhältnis sichtbar, in welchem Rechtsprechung immer steht. Einerseits wird jedes Gericht bemüht sein, seine Entscheidungen an der bisherigen Spruchpraxis auszurichten. Konsistenz gilt allemal als ein Gütesiegel von Rechtsprechung, zumal die Verläßlichkeit der Rechtsprechung als ihrerseits wesentlicher Teil der Gesamt-Rechtsordnung eine "Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen" ist. 5 Andererseits leuchtet es ein, von einer alten Entscheidung abzuweichen, wenn deren Richtigkeit nicht mehr gegeben ist. Natürlich muß es - auch im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit - die Möglichkeit einer Korrektur geben. Andernfalls drohen eine "Erstarrung", "Zementierung", oder "Versteinerung" der Rechtsprechung, gar die "Kanonisierung von Sätzen des Bundesverfassungsgerichts"? 6 Die Richtigkeit der Rechtsprechung ist eine mindestens ebenso grundlegende Bedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens wie deren Verläßlichkeit, weil zur Rechtsstaatlichkeit "nicht nur die Rechtssicherheit, sondern auch die materielle Gerechtigkeit" gehört. 7 In welcher Weise auch immer die Antwort im Einzelfall ausfallen mag: eine grundlegende und prinzipielle Beschäftigung mit dem Problem verfassungsgerichtlicher Rechtsprechungsänderungen erscheint notwendig und lohnend, weil Rechtsprechung stets eine Antwort auf das Spannungsverhältnis von Konsistenz und Innovation finden muß. Darüber hinaus steht hinter der Diskussion um verfassungsgerichtliche Rechtsprechungsänderungen die grundsätzliche Frage nach dem Beharrungsvermögen und der Anpassungsfähigkeit der Verfassung selber. 8 Neben 4

BVeifGE 39, 1.

3

Vgl. BVerfGE 72, 200 [257].

6

So der Ausdruck bei Klaus Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: WDStRL 39 (1981), S. 99, 138. 7 8

Vgl. nur BVeifGE 7, 89 [92]; 49, 148 [164].

Vgl. in diesem Zusammenhang die einfuhrenden Bemerkungen bei Gunnar Folke Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht. Überlegungen zur Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in normalen wie in "schwierigen Zeiten", in: AöR 120 (1995), S. 32 ff, sowie Markus Kenntner, Grundgesetzwandel, in: DÖV 1997, S. 450 ff

1. Kapitel: Problemstellung und Übersicht

19

der Änderung des Verfassungstextes beweist das Verfassungsrecht gerade in der Änderungsfahigkeit der Rechtsprechung seine Flexibilität und Lebendigkeit. Verfassungsrechtsprechung unterliegt, wie die Verfassung selbst, geschichtlichem Wandel. 9 Auf der anderen Seite gewinnen der Staat und seine Verfassung in der Kontinuität der Rechtsprechung Halt und Stabilität. Wer über die Änderung der Verfassungsrechtsprechung redet, trifft damit zugleich auch immer eine Aussage über die Starrheit und Beweglichkeit der Verfassung selber. Dabei darf es heute zum gefestigten Bewußtsein der Verfassungsrechtslehre gerechnet werden, daß die Auflösung des Widerspruchs von Starrheit und Beweglichkeit der Verfassungsordnung nicht in der einseitigen Betonung des einen oder anderen Extrems liegen kann, sondern in der richtigen Zuordnung beider Elemente gesucht werden muß. 10 Daß diese Einsicht nicht seit jeher allgemein akzeptiert war, zeigen übrigens zwei höchst unterschiedliche historische Beispiele. Die eine extreme Position läßt sich in Plutarchs Lebensbeschreibung des sagenhaften Gesetzgebers Spartas, Lykurgos, nachlesen. Lykurgos ließ die Spartaner im 9. Jahrhundert a. C. schwören, die Verfassung (Rhetra) solange nicht zu ändern, bis er von einer Reise nach Delphi zurückkehre. Als das Orakel ihm bestätigte, daß die von ihm gegebene Verfassung die beste sei, gab er sich in Delphi selbst den Tod, um so die Spartaner, durch den Eid gebunden, daran zu hindern, die Verfassung zu ändern. Tatsächlich behauptete Sparta, wie Plutarch weiter berichtet, unter den unabänderlichen Gesetzen des Lykurgs fünf Jahrhunderte lang "unter allen Staaten Griechenlands den ersten Rang hinsichtlich des Ruhms und der guten Regierungsform". 11 Die andere Extremposition vertrat Thomas Jefferson. Der maßgebliche Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der Vereinigten Staaten glaubte, daß keine Verfassung für einen längeren Zeitraum als 34 Jahre geschaffen werden dürfe, weil jede Generation verpflichtende Bindungen nur für sich selbst, niemals aber für zukünftige Generationen aufzustellen berechtigt sei. 12 Es ist ein erstes Ziel dieser Arbeit, den gegenwärtigen Diskussionsstand über Zulässigkeit und Angemessenheit von Rechtsprechungsänderungen kri-

9

Vgl. dazu Konrad Hesse, Veifassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, in: JZ 1995, S. 265 ff. 10 Vgl. dazu statt aller Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rz. 36 ff. 11

Plutarch , Lebensbeschreibungen, Lykurgos, cap. 29. Das Zitat entspricht der Übersetzung in der von von Hanns Floerke bearbeiteten Ausgabe von 1913, S. 146 f. 12

So in einem Brief an James Madison vom 6. September 1789, abgedruckt in: Thomas Jefferson , The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson, hrsg. von Adrienne Koch & William Peden, S. 488 ff.

Einleitung

20

tisch zu hinterfragen und dabei die Schwierigkeiten zu beleuchten, die mit bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechungsänderungen verbunden sind. Dazu gibt es doppelten Anlaß: Zum einen ist nach nunmehr 45 Jahren verfassungsgerichtlicher Judikatur inzwischen ein solcher corpus an Entscheidungen angewachsen, daß es weiße Stellen auf der verfassungsrechtlichen Landkarte kaum noch gibt. Zu den meisten Grundgesetzartikeln finden sich (Leit-)Entscheidungen, mit denen wesentliche Weichen gestellt sind. Das Verfassungsrecht ist gewissermaßen flächendeckend ausjudiziert. Natürlich tauchen immer wieder auch gänzlich neue Fragen auf, sei es im Zuge fortschreitender Prozesse wie der Entwicklung moderner Techniken oder der europäischen Integration, sei es durch einschneidende singuläre Ereignisse wie die deutsche Wiedervereinigung. Dies kann indessen nichts daran ändern, daß das Bundesverfassungsgericht seiner eigenen Rechtsprechung immer häufiger begegnen wird. Das Bundesverfassungsgericht steht in diesem Sinn mittlerweile in seiner eigenen Tradition - es ist zu klären, wie es mit dieser Tradition umgehen soll. Zum anderen zeichnet sich das Verfassungsrecht in besonderem Maß durch seine Rechtsprechungsabhängigkeit aus. Bedingt durch vergleichsweise fragmentarische normative Vorgaben und erschwerte Abänderbarkeit, ist das Verfassungsrecht mehr noch als andere Rechtsgebiete von der dirigierenden Einflußnahme des Bundesverfassungsgerichts bestimmt. Der Sachverhalt ist heute weithin akzeptiert und bedarf kaum eines Nachweises: Die Annahme, die Auslegung der Verfassung sei eine rein kognitive, nicht (auch) eine voluntative Tätigkeit, hat sich als falsch bzw. modifizierungsbedürftig erwiesen. 13 Die Trennung von rechtsauslegenden Erkenntnisakten und rechtserzeugenden Willensakten ist für die Verfassungsgerichtsbarkeit kaum durchzuhalten. Damit kann sich aber auch die Änderung einer bestehenden Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf den besseren Erkenntnisakt berufen, sondern muß sich fragen lassen, ob sie nicht in Wahrheit schlicht von einer anderen (politischen) Konstellation im Gericht getragen ist. Dürfte das sein? Kann die Auslegung der Verfassung wirklich von der jeweiligen personellen Besetzung des Gerichts abhängen? Das Bundesverfassungsgericht bewegt sich bei seiner Tätigkeit oft auf der Schwelle zum Dezisionismus. Es ist darüber nachzudenken, ob nicht die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine eigene Rechtsprechung ein Mittel wäre, dezisionistische und voluntative Elemente zurückzudrängen oder gar auszuschalten.

13

Vgl. dazu Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, in: JZ 1976, S. 697 ff.

1. Kapitel: Problemstellung und Übersicht

21

Schon diese ersten Hinweisen belegen die Notwendigkeit, die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht als einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Argumentationstopos zu begreifen. Im wissenschaftlichen Schrifttum hat die Frage nach der Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts indessen nur vereinzelt eine vertiefende und prinzipielle Bearbeitung gefunden. Grundlegende Untersuchungen, wie die Arbeit von Sachs, 14 der die Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts umfassend aus verfassungsprozessualer Perspektive behandelt hat, sind die Ausnahme geblieben. Überwiegend begnügt sich das Schrifttum mit der Rezeption der Position des Bundesverfassungsgerichts, das eine Bindung an seine frühere Rechtsprechung grundsätzlich ablehnt. Die Zurückhaltung der Verfassungsrechtswissenschaft in der Behandlung von Rechtsprechungsänderungen hat ihren Grund möglicherweise in der nach wie vor herrschenden Vorstellung, daß ein Abrücken des Bundesverfassungsgerichts von seiner eigenen Rechtsprechung eher selten sei. 15 Es wird zu überprüfen sein, inwieweit diese Vorstellung mit der tatsächlichen Praxis des Bundesverfassungsgerichts in Einklang steht. Die Arbeit will freilich bei der kritischen Analyse des gegenwärtigen Problembewußtseins nicht stehenbleiben, sondern versucht darüber hinaus, den Komplex verfassungsgerichtlicher Rechtsprechungsänderungen in einen verfassungstheoretischen Zusammenhang zu stellen. Sie geht davon aus, daß sich die Zulässigkeit von Rechtsprechungsänderungen nicht ohne Rückgriff auf eine Funktionsbestimmung von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit beurteilen läßt. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt deshalb auf dem Bedingungsverhältnis von verfassungstheoretischen Prämissen einerseits und der (materiellen) Zulässigkeit von Rechtsprechungsänderungen andererseits. Sie will insoweit auch einen Beitrag zum Verständnis von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit leisten. Durch diese verfassungstheoretische Zielsetzung bedingt, bleiben wesentliche andere Aspekte, die gewöhnlich mit Rechtsprechungsänderungen bzw. Selbstbindung assoziiert werden, außer Betracht. 16 Dies gilt zunächst für vertiefte rechtsquellentheoretische und methodenrechtliche Fragestellungen, unter denen Rechtsprechungsänderungen oft abgehandelt werden, etwa unter dem 14

Michael Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977. 13 So zuletzt und wohl repräsentativ Steffen Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 372. 16

Eine einführende und zugleich zusammenfassende Diskussion der verschiedenen Punkte, die bei der Frage nach der Zulässigkeit von Rechtsprechungsänderungen im deutschen Recht gewöhnlich eine Rolle spielen, bietet Katja Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 105 - 126.

Einleitung

22

Stichwort "Bindungswirkung von Präjudizien". 17 In der Tat läßt sich in Hinblick auf Artikel 20 Abs. 3 GG fragen, ob alte Entscheidungen als "Gesetz" oder "Recht" im Sinn dieser Vorschrift verstanden werden können, so daß sich dementsprechend eine Bindung des Bundesverfassungsgerichts ergäbe. Im gleichen Kontext steht die Auseinandersetzung um "Richterrecht"; 18 auch dort wird nach dem Rechtsquellencharakter früherer Entscheidungen gefragt. Wenngleich diese Fragen natürlich immer im Hintergrund dieser Arbeit stehen, gehen sie in ihrem grundlegenden und umfassenden Erkenntnisanspruch doch über das hier verfolgte Ziel hinaus. Es wird nicht der Versuch einer methodenrechtlichen Arbeit im engeren Sinn unternommen, sondern die Zulässigkeit von Rechtsprechungsänderungen unter einem spezifisch verfassungsrechtlichen Ansatz untersucht. Die weitergehende Diskussion um Richterrecht und Rechtsquellencharakter der Präjudizien steht dabei zwar in gewisser Weise Pate und kann nicht vollständig ausgeblendet werden, sie soll aber für den Gedankengang nicht leitend sein. Innerhalb des geltenden Verfassungsrechts sind wiederum verschiedene Ausgangspunkte denkbar. Ein Ansatz ist es, Rechtsprechungsänderungen des Bundesverfassungsgerichts unter dem Aspekt des allgemeinen Gleichheitssatzes zu diskutieren. Soweit in dieser Arbeit auf diesen Gesichtspunkt nur am Rande eingegangen wird, ist dieses Defizit vertretbar, weil dazu eine umfassende Studie vor wenigen Jahren von Riggert vorgelegt worden ist. 19 17

Vgl. dazu nur Karl Larenz, Über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: FS für Hans Schima zum 75. Geburtstag, 1969, S. 247 ff., sowie Ellen Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986. 18 Dazu neben Langenbucher, (FN 16), ausführlich Jörn Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, sowie Friedrich Müller, Richterrecht, 1986, S. 126 ff. und Christoph Gusy, Richterrecht und Grundgesetz, in: DÖV 1992, S. 461 ff. (dort insbesondere Abschnitt IV). 19

Rainer Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993. Riggert lehnt dort eine generelle Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz ab. Stattdessen plädiert er für eine abgestufte Bindung innerhalb räumlich-organisatorisch (Spruchkörper) und sachlich abgeschlossener Einheiten, entsprechend der Stärke der gesetzlichen Maßstabsdichte. Bei "absoluter gesetzlicher Maßstabsdichte", bei der die Richtigkeit der Entscheidung eindeutig bestimmbar sei, sollen Gleichheitserwägungen zurücktreten und eine Abweichung von der alten Entscheidung möglich sein, während bei geringerer Gesetzesbindung die Rechtfertigungsanforderungen an eine Rechtsprechungsänderung steigen sollen. Riggerts Arbeit, in der die Selbstbindung der Rechtsprechung auch in bezug auf andere Maßstabsnormen als Art. 3 Abs. 1 GG untersucht wird (vgl. aaO., S. 20 ff), und die mit zahlreichen Literaturhinweisen ausgestattet ist, leidet hinsichtlich des allgemeinen Gleichheitssatzes m. E. daran, daß sie dogmatisch an dem Willküransatz festhält, aaO., S. 39 ff Sie unterschätzt damit die Auswirkungen der sogenannten "neuen Formel" (BVerfGE 55, 72), die inzwischen gefestigte Rechtsprechung ist und zuletzt in der Rechtsprechung des Ersten Senats eine weitere Verfeinerung er-

1. Kapitel: Problemstellung und Übersicht

23

Die Zulässigkeit von Rechtsprechungsänderungen kann schließlich unter dem Blickwinkel des aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Vertrauensschutzgrundsatzes betrachtet werden. Vertrauenschutz und Rechtsstaatsprinzip sind insbesondere bei rückwirkenden Rechtsprechungsnderungen gängige Argumentationstopoi, die dementsprechend eine reiche wissenschaftliche Behandlung erfahren haben. 20 Die vorliegende Untersuchung will allerdings nicht in erster Linie rückwirkende Rechtsprechungsänderungen behandeln. Es erscheint deshalb vertretbar, auf eine eingehende Darstellung dieses Problemkreises zu verzichten. Die vorliegende Arbeit wird stattdessen durch einen Blick auf das Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten eingeleitet. Die Bindung des amerikanischen Supreme Court an seine eigene Rechtsprechung ist in den Vereinigten Staaten seit jeher Gegenstand kontroverser rechtswissenschaftlicher Diskussionen. Ausgangspunkt ist dabei stets der Grundsatz von "stare decisis wonach dem Supreme Court eine Änderung seiner Rechtsprechung grundsätzlich untersagt ist. In den letzten Jahren hat sich der Streit um diesen Grundsatz mit den teils heftigen Auseinandersetzungen über Stellung und Aufgabe des Supreme Court verbunden. Die Kontroverse um die Selbstbindung des Supreme Court hat damit an Schärfe gewonnen und grundsätzlichen Charakter angenommen. Sie ist deshalb auch für den deutschen Juristen von Interesse. In der amerikanischen Diskussion kommen wesentliche Aspekte des Zusammenhangs von Rechtsprechungsänderungen und der Funktion von Verfassungsgerichtsbarkeit zum Vorschein. Aus diesem Grund erscheint eine rechtsvergleichende Einleitung für diese Untersuchung lohnend. Hinter dem Blick auf die amerikanische Rechtslage steht noch ein zweiter Gedanke. Ähnlich wie die Rechtsprechung des Supreme Court ist auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mittlerweile in vielen Bereichen von einer ausgesprochenen Einzelfallorientierung geprägt. Das Verfassungsrecht kann kaum noch mit dem Text des Grundgesetzes und Kenntnis der dogmatischen Grundzüge allein erfaßt werden, sondern es ist in und durch die Rechtsprechung in hohem Maß ausdififerenziert. Es gelingt offenbar nur in Einzelfällen, mit den Entscheidungen allgemeine und klare Grenzen für die Trennung des verfassungsrechtlich Zulässigen vom Verfassungswidrigen zu halten hat (BVerfGE 88, 87 [96], 91, 346 [362 f.]). Wäre es nicht sinnvoller, die Bindung der Rechtsprechung durch Art. 3 Abs. 1 GG mit den abgestuften Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes zu verknüpfen, anstatt mit dem wenig griffigen Kriterium der gesetzlichen Maßstabsdichte zu operieren? 20 Vgl. dazu nur Hans-Wolfgang Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1974, sowie Gerhard Robhers, Rückwirkende Rechtsprechungsänderung, in: JZ 1988, S. 481, 485 ff. mit weiteren Literatlirnachweisen.

Einleitung

24

ziehen. Stattdessen befaßt sich das Bundesverfassungsgericht und ihm nachfolgend die Fachgerichte bzw. die Verfassungsrechtslehre mit immer spezielleren Einzelfragen. Es entsteht punktuelles Verfassungsrecht. Der kasuistischen Ausdifferenzierung des Verfassungsrechts läßt sich heute nur noch schwerlich entgegentreten, weil sie, in verschiedenen, mittlerweile wohl unumkehrbaren Entwicklungen angelegt, strukturell bedingt ist. Zu nennen ist dabei zunächst und zuvorderst die Ausbildung des objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte, welche, in ihre Eigendynamik entlassen, dazu führt, daß das Verfassungsrecht sämtliche Bereiche der Rechtsordnung durchdringt und inhaltlich-materielle Anforderungen an deren Ausgestaltung stellt. 21 Worin diese Anforderungen im einzelnen bestehen, ist aber von der Verfassung nicht vorgegeben und bleibt weithin unklar; 22 deshalb bedarf es einer entsprechenden Ausgestaltung, die nur am und für den Einzelfall geleistet werden kann. Kasuistik ist eine zwingende Folge der Ausbildung der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte. 23

21

Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 159 ff. 22

Die Unbestimmtheit der mit dem objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte verbundenen Anforderungen hat ihren Grund in der fundamentalen Differenz zwischen den Grundrechten als Eingriffsabwehrrechten (= subjektivrechtliche Komponente) und als positiven Handlungspflichten (= objektivrechtliche Komponente), die Dieter Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 221, 238 folgendermaßen beschrieben hat: "Ein Grundrechtseingriff besteht immer in einem staatlichen Tun. Ein Tun wird aber dadurch charakterisiert, daß es in sich bestimmt ist. Stellt es sich als verfassungswidrig heraus, so existiert folglich ein definites verfassungsmäßiges Gegenteil: die Annulierung des Akts. [...] Dagegen erweist sich staatliches Unterlassen als unspezifisches Verhalten. Wenn es verfassungswidrig ist, existiert daher auch kein definites verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern nur eine indefinite Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen. Die Grundrechte als positive Handlungspflichten determinieren also grundsätzlich nicht die Rechtsfolge verfassungswidriger Nichterfüllung einer Schutzpflicht. " Diese schwache Determinationskraft der Grundrechte in ihrem objektivrechtlichen Gewand ließe sich nur beheben, wenn es gelänge, das objektivrechtliche Grundrechtsoptimum, gewissermaßen den objektivrechtlichen Schutzbereich, herauszuarbeiten. Ob dies für die einzelnen Grundrechte aber möglich ist, bleibt zweifelhaft, so daß auf weiteres mit Ungewißheiten auf der Rechtsfolgenseite zu rechnen sein wird. 23 In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Grundrechtsdogmatik wird zumeist die mit dem objektivrechtlichen Gehalt verbundene Juridifizierung politischer Entscheidungen betont, deren Folge der verfassungsgerichtliche Jurisdiktionsstaat sei. Die Auflösung der Verfassimg in Kasuistik geht dieser Konsequenz im Grunde genommen noch vor. Wenn nur von Fall zu Fall entschieden werden kann, was grundrechtlich geboten ist, scheidet der Gesetzgeber mit seiner abstrakt-generellen Herangehensweise an das jeweilige Sachproblem als Entscheidungsträger aus. An seine Stelle treten die Gerichte, die in Ansehung des konkreten Falles sehr wohl das verfassungrechtlich Gebotene bestimmen können. Den Sachverhalt der kasuistischen Auflö-

1. Kapitel: Problemstellung und bersicht

25

Daneben steht das Verhältnismäßigkeitsprinzip, welches als omnipräsente verfassungsrechtliche Entscheidungsmaxime ebenfalls zu einer dezidiert einzelfall-orientierten Sichtweise führt. Bei der Verhältnismäßigkeit geht es letztlich immer um die angemessene Relation sich widersprechender Ziele (Rechtsgüter), die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in Ansehung des konkreten Falles erfolgen kann. 24 Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme, schon gar die "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn" können schwerlich abstrakt-generell bestimmt werden, sondern müssen stets in bezug auf ganz konkrete Sachverhalte überprüft werden. Wer (zu Recht) dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im Rahmen der Verfassungsinterpretation Raum schaffen will, der muß gleichzeitig in Kauf nehmen, einer einzelfall-orientierten Rechtsprechung die Bahn zu brechen. 25 Beide verfassungsgerichtlich vorangetriebenen Entwicklungen konvergieren in der kasuistischen Auflösung des Verfassungsrechts. Verstärkt wird diese Tendenz noch durch einen gesamtgesellschaftlichen Prozeß funktionaler Ausdifferenzierung, in dessen Folge auch das Recht zunehmend spezieller wird. Die Gründe für diesen Sachverhalt sind im einzelnen vielschichtig. 26 Als Beispiel kann auf die Herausforderungen durch das naturwissenschaftlichtechnische Innovationspotential verwiesen werden, auf die das Recht mit der Bildung gänzlich neuer Sachgebiete reagiert: Umwelt- und Technik-, Datenschutz- und Computer-, Atom- und Gentechnikrecht. M i t der funktionellen Differenzierung und Spezifikation erhöht sich freilich auch die Komplexität des Rechts. Auf das Verfassungsrecht fallt dies insofern zurück, als sich "unkontrollierbare Detailkomplexität" 27 einer generalisierenden Beantwortung entzieht und nur noch punktuell, eben für den konkreten Fall bearbeitet werden kann.

sung der Verfassimg hat übrigens bereits Forsthoff in seinem vielbeachteten und vielkritisierten Angriff auf die "geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode" beklagt, vgl. Ernst Forsthoff.\ Die Umbildung des Veifassimgsgesetzes, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 130, 147. 24

Vgl. dazu nur Hesse, Grundzüge, (FN 10), Rz. 72.

25

Die mit der Verhältnismäßigkeit einhergehenden Probleme, unter denen kasuistische Tendenzen nicht alleine stehen, werden heute mit verschärftem Problembewußtsein gesehen. Unverständlich ist es deshalb, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip über seinen "gebührenden Platz" hinaus noch das Wort zu reden. Vgl. aber sehr weitgehend Albert Bleckmann, Begründung und Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in: JuS 1994, S. 177 ff. 26 Vgl. zum einen Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 60 f., zum anderen Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 3. Aufl., 1993, S. 126 ff. 27

Dieser Begriff bei Niklas Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 35.

26

Einleitung

Treffen die hier kurz aufgezeigte Analyse der kasuistischen Ausdifferenzierung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und der damit verbundene Befund einer Angleichung der deutschen an die amerikanische Verfassungsgerichtsrechtsprechung zu, stellt sich die Frage, ob es dann nicht auch einer Angleichung des entscheidungstheoretischen Instrumentariums bedarf. Es ist darüber nachzudenken, inwieweit eine Bindung des Supreme Court an seine eigene Rechtsprechung auch für das Bundesverfassungsgericht ein Indiz für die Notwendigkeit einer Selbstbindung ist. Die Arbeit geht in drei Hauptschritten vor. Im ersten Teil soll der Grundsatz von "stare decisis " im amerikanischen Verfassungsrecht dargestellt werden. Dabei sollen bereits die wesentlichen Probleme herausgearbeitet werden, die mit verfassungsrechtlichen Rechtsprechungsänderungen verbunden sind. Die rechtsvergleichenden Anmerkungen können nicht ausführlich und umfassend über das amerikanische Recht informieren; sie mögen aber den Blick für die auftretenden Probleme schärfen. Der erste Teil kann insofern als Grundlage für die Diskussion des deutschen Verfassungsrechts gelesen werden. Im zweiten Teil werden die bisherigen Rechtsprechungsänderungen des Bundesverfassungsgerichts sowie die Behandlung der Selbstbindung im deutschen Verfassungsrecht untersucht. In diesem Teil wird mit der Übersicht über die bisherigen abweichenden Entscheidungen gewissermaßen das praktische Substrat dieser Arbeit aufgearbeitet. Die Rechtsprechungsübersicht soll dazu beitragen, eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, die für diese Untersuchung, aber auch für die weitere Beschäftigung mit dem Thema unerläßlich ist. Daran wird sich die Darstellung des gegenwärtigen Diskussionsstandes in Rechtsprechung und Schrifttum anschließen. Auf dieser Grundlage wird im dritten Teil der Versuch unternommen, das Problem der Rechtsprechungsänderungen in einen verfassungstheoretischen Zusammenhang zu stellen. Dabei wird es zunächst darum gehen, aufgrund eines zu entwickelnden Verfassungsbegriffs die Schwierigkeiten und Problemfelder der Verfassungsgerichtsbarkeit herauszuarbeiten, um schließlich darüber nachzudenken, ob eine ausgreifende oder eingeschränkte Rechtsprechungsänderungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts eine Antwort auf wesentliche verfassungsrechtliche Fragen sein kann.

Erster

Teil

Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht Um die Bindung des amerikanischen Supreme Court an seine eigene Rechtsprechung wird in der amerikanischen Rechtswissenschaft seit vielen Jahren gerungen. Deutlich wurde dies bei der Diskussion um die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. 1973 hatte der Supreme Court in der Entscheidung Roe v. Wade 1 das Recht einer Frau auf Abtreibung prinzipiell unter den Schutz der Verfassung gestellt. Seitdem sind die Stimmen nicht verstummt, die eine Änderung dieser Rechtsprechung forderten. Nachdem sich die Gewichte im Supreme Court in den 80er Jahren infolge der Richterernennungen durch die Präsidenten Reagan und Bush zunehmend zur konservativen Seite hin verschoben hatten, war allgemein mit der Aufgabe von Roe gerechnet worden. Doch zur großen Überraschung vieler Beobachter des amerikanischen Verfassungsrechts bestätigte der Supreme Court in der Entscheidung Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey 1992 das grundsätzliche Recht einer Frau auf Abtreibung. 2 Dabei rief nicht nur das Ergebnis der Entscheidung Erstaunen hervor, sondern ebenso der zentrale Begründungsstrang des Urteils: Die Rede ist von dem Grundsatz von stare decisis . In den folgenden Kapiteln sollen dieser Grundsatz und seine Auswirkungen auf die Rechtsprechung des Supreme Court dargestellt werden. Dazu werden zunächst im 2. Kapitel Inhalt sowie die Vor- und Nachteile von stare decisis untersucht, bevor im 3. Kapitel die Beachtung von stare decisis in der Rechtsprechung des Supreme Court beschrieben wird. Im 4. Kapitel sollen in einem theoretischen Einschub abstrakt Voraussetzungen und Realisierungschancen konsistenter Verfassungsgerichtsrechtsprechung behandelt werden. Schließlich wird im 5. Kapitel als Resümee des Ersten Teils dieser Untersuchung und zur Vorbereitung der verfassungstheoretischen Überlegungen im deutschen Verfassungsrecht der Zusammenhang von gegenwärtigen Strömungen in der amerikanischen verfassungsrechtlichen Diskussionen und dem Grundsatz von stare decisis thematisiert. 1

410 U.S. 113 (1973).

2

505 U.S. 883 (1992).

2. Kapitel

Inhalt, entscheidungstheoretische Implikationen und Rechtfertigung des Grundsatzes von stare decisis Unter dem Grundsatz von stare decisis wird im anglo-amerikanischen Recht das Prinzip verstanden, daß ein Gericht an die Entscheidungen übergeordneter Gerichte sowie an seine eigene frühere Rechtsprechung gebunden ist (bei den Entscheidungen stehenbleiben).1 Gibt es also für eine bestimmte Rechtsfrage einen Präzedenzfall, so ist dieser gemäß stare decisis autoritativ bindend. Die Bindung besteht unabhängig davon, ob die in Rede stehende Vorentscheidung Teil einer ständigen Rechtsprechung gewesen oder vereinzelt geblieben ist. Gleichfalls ist das Alter der bindenden Vorentscheidung unerheblich. Für das Gericht, das über den zeitlich nachfolgenden Fall zu befinden hat, bedeutet stare decisis , daß seine Entscheidung nicht mehr gefragt ist, soweit eine Rechtsfrage bereits früher einmal entschieden worden ist. Der alten Entscheidung ist Folge zu leisten, weil "gleiche" Fälle gleich entschieden werden sollen. In diesem Gleichheitsanspruch liegen der unbestreitbare Reiz und die Anziehungskraft von stare decisis. Der Grundsatz dient einer elementaren Gerechtigkeitsvorstellung, der jede rechtsstaatliche Ordnung genügen muß. 2 Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß die Befolgung von Präzedenzfallen als eine Maxime von "unbezweifelter Autorität" bezeichnet worden ist. 3 Für Alexander Hamilton, den Autor des berühmten Federalist Paper Nr. 78 war es gleichfalls keine Frage, daß "es zur Vermeidung willkürlicher Ermessensentscheidungen unverzichtbar sei, daß die Gerichte durch strikte Regeln und Prä-

1 Bisweilen findet sich auch die erweiterte Formulierung "stare decisis et non quieta movereSiehe allgemein zu stare decisis im anglo-amerikanischen Rechtskreis Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 2, 1975, S. 81 - 86 und Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einfuhrung in die Rechtsvergleichung, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 299 ff. 2

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung der Rechtsgleichheit in BVeifGE 69, 277 [296] unter Hinweis auf ein Bibelzitat einmal mit folgender pathetischer Formulierung zum Ausdruck gebracht: "[...] im Bereich des Normvollzugs ist die Gleichheit der Rechtsanwendung die Seele der Gerechtigkeit. Und dies seit den Anfangen unseres Rechtsdenkens (vgl. 3 Mose 19, 15)". 3

So der Richter am Supreme Court Stanley Reed, in: Stare Decisis and Constitutional Law, 35 Pennsylvania Bar Association Quarterly (1938), S. 131.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

29

zedenzfalle gebunden seien" 4 Und auch der Supreme Court selber hat stare decisis als einen "Eckstein des Rechtssystems" bezeichnet.5 Im folgenden sollen Inhalt und rechtliche Konsequenzen von stare decisis näher beleuchtet werden. Nach einem kurzen Blick auf die geschichtliche Herausbildung dieses Prinzips im englischen Recht werden die mit stare decisis einhergehenden entscheidungstheoretischen und rechtstheoretischen Probleme angesprochen. Schließlich sollen Argumente, die för eine Befolgung von stare decisis sprechen, sowie Kriterien, die stare decisis für die Praxis handhabbar machen wollen, genannt werden.

I. Die Bedeutung von stare decisis für ein "Case law-System" und seine historischen Wurzeln in England Für die Rechtsfindung und Rechtsentwicklung im Case Law ist die Orientierung an früheren Entscheidungen (precedents ) in besonderem Maß charakteristisch. Der anglo-amerikanische Richter geht in seiner Rechtsfindung von älteren Urteilen aus, in denen er bestimmte Regeln (rules) zur Lösung konkreter Probleme erkennt. Aus dem Zusammenspiel dieser Regeln bildet er übergreifende Grundsätze (principles ), mit deren Hilfe er ein Ergebnis für seinen Fall findet. Das so gefundene Ergebnis wird er schließlich wieder auf seine Konsistenz vor dem Hintergrund gleichgelagerter Fälle überprüfen. 6 Für die Einheitlichkeit und die Konsistenz der Rechtsentwicklung ist dabei die Bindung an Vorentscheidungen unerläßlich. Der Grundsatz von stare decisis wird deshalb zu Recht als wesentliche Voraussetzung des anglo-amerikanischen Präjudizienrechts verstanden. 7 Durch ihn gewinnt die Entscheidung über den einzelnen konkreten Fall hinaus Bedeutung und erhält geradezu gesetzes4

Federalist Papers, Nr. 78 (Alexander Hamilton).

3

Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490, 518 (1989).

6

Diese kurze Darstellung der Rechtsfindungsmethode im Common Law lehnt sich an Zweigert/Kötz, (FN 1), S. 304 f. an. Mit Common Law ist im folgenden allein der Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Civil Law gemeint; das Verhältnis zur Equity und zum Statute Law bleiben außer Betracht. Ebenso wird im folgenden das Common Law undifferenziert mit dem gesamten anglo-amerikanischen Rechtsraum identifiziert, obwohl das von den Vereinigten Staaten übernommene englische Recht bereits in Großbritannien nicht einheitlich galt. Vgl. dazu auch den Hinweis bei Fikentscher, (FN 1), S. 82 f., daß die hier wiedergegebene Darstellung der anglo-amerikanischen Rechtsfindung stark am amerikanischen Recht ausgerichtet sei. 7 Vgl. dazu Karin L. Pilny, Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 18 ff.

30

Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

gleiche Aussagekraft. Indem der einzelne Richter durch stare decisis an Vorentscheidungen gebunden ist, gewährleistet der Grundsatz Rechtssicherheit und beugt individueller Willkür vor. Stare decisis ist gewissermaßen das Common Low-Pendant der kontinentaleuropäischen Bindung des Richters an das Gesetz.8 Der Grundsatz von stare decisis ist von Beginn an integraler Bestandteil der englischen Rechtsentwicklung gewesen.9 Seine Voraussetzung war allerdings die schriftliche und verbindliche Aufzeichnung der Entscheidungen, denen später Folge geleistet werden sollte. Erst die Fixierung einer Entscheidung ermöglicht deren spätere Befolgung. Insofern ist es zutreffend, bereits auf die Sammlung des englischen Rechtsstoffes durch Sir Henry of Bracton (Bratton) im "Tractatus de legibus et consuetudinibus Angüae" aus dem 13. Jahrhundert zu verweisen. 10 Noch größere Bedeutung dürfte die "Y ear Books " titulierte, seit der Regentschaft Edwards I. bis zur Zeit Heinrichs VIII. (1290- 1536) jährlich publizierte Entscheidungssammlung haben. Mit diesen Aufzeichnungen kann wohl die formale Geltung des Grundsatzes von stare decisis noch nicht verbunden werden. Sie bilden aber eine wesentliche Grundlage der Präjudizienbindung und enthalten ihrerseits bereits Beispiele, in denen die Richter angesichts einer einschlägigen Vorentscheidung von eigener Beurteilung absahen.11 Liegen die Ursprünge von stare decisis somit bereits Jahrhunderte zurück, so hat sich die strikte Form des Grundsatzes, insbesondere die Bindung an die eigene Rechtsprechung, erst Mitte des 19. Jahrhunderts in der Rechtsprechung des House of Lords durchgesetzt. Für etwa 100 Jahre hat das House of Lords eine absolute Bindung an seine früheren Entscheidungen vertreten. 12 Erst 1966 hat der Lord Chancellor im Namen der Richter des House of Lords in einer einfachen Erklärung (Practice Statement) mitgeteilt, das House of Lords behalte sich gegebenenfalls unter Mißachtung von stare decisis eine Abweichung von einer früheren Entscheidung vor. 1 3 Von dieser Möglichkeit hat das 8

Vgl. Ellen Schlucht er, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 72, die im Bereich des Case Law von einer "gesetzesähnlichen Bindung" ausgeht. 9

Vgl. zur historischen Entwicklung Pilny, (FN 7), S. 21-35.

10

Vgl. die Nachweise bei Robert A. Sprecher, The development of the doctrine of Stare Decisis and the extent to which it should be applied, 31. A. B. A. Journal (1945), S. 501 (doit FN 9). 11

So Reed, (FN 3), S. 133 f.

12

Vgl. Pilny , (FN 7), S. 29 f.

13

Practice Statement, (1966), 1 W. L. R. 1234 (H. L ). Die Erklärung hatte folgenden Wortlaut: "Their Lordships regard the use of precedent as an indispensable foun-

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

31

House of Lords allerdings nur spärlich Gebrauch gemacht. 14 Der Grundsatz von stare decisis darf deshalb weiterhin als tragende Säule des englischen Common Law erachtet werden. 15

Π . Entscheidungstheoretische Probleme von stare decisis Angesichts der positiven Grundhaltung als Folge des Gerechtigkeitsanspruchs von stare decisis und der traditionellen Verankerung im Common Law bedarf der Streit um stare decisis einer näheren Erklärung. Dazu ist es hilfreich, sich die entscheidungstheoretischen Schwierigkeiten zu verdeutlichen, die mit der strikten Befolgung von Präzedenzfallen verbunden sind. M i t entscheidungstheoretischen Schwierigkeiten sind die Probleme gemeint, die sich auf den konkreten Entscheidungsfindungsprozeß eines bestimmten Falls und seine Resultate beziehen. Diese liegen erstens in der Suboptimalität des Ergebnisses, zweitens in der informationellen Überintegration des Entscheidungsfindungsprozesses und schließlich in dem Problem der Pfadabhängigkeit. dation upon which to decide what is the law and its application to individual cases. It provides at least some degree of certainty upon which individuals can rely in the conduct of their affairs, as well as a basis for orderly development of legal rules. Their Lordships nevertheless recognise that too rigid adherence to precedent may lead to injustice in a particular case and also unduly restrict the proper development of the law. They propose, therefore, to modify their present practice and, while treating former decisions of this House as normally binding, to depart from a previous decision when it appearsrightto do so. In this connection they will bear in mind the danger of disturbing retrospectively the basis on which contracts, settlements of property and fiscal arrangements have been entered into and also the special need for certainty as to criminal law. This announcement is not intended to effect the use of precedent elsewhere than in this House". Eine Übersetzung der Erklärung findet sich bei Fikentscher, (FN 1), S. 84. 14 13

Vgl. Pilny, (FN 7), S. 32.

Diese Einschätzung dürfte allgemeine Zustimmungfinden. Umstritten ist allerdings, ob in dem Grundsatz von stare decisis der fundamentale Unterschied zwischen englischer und kontinentaler juristischer Methode ausgemacht werden kann. Dagegen wenden sich Zweigert/Kötz, (FN 1), S. 303 f., die eine abgeschwächte Form von stare decisis trotz fehlender formeller Bindung auch in der kontinentaleuropäischen Rechtsprechung ausmachen. In der Praxis mache stare decisis deshalb keinen großen Unterschied. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, in seiner Studie der Vefassungsinterpretation. Die Bedeutung von stare decisis als Ursache unterschiedlicher methodischer Ansätze betont hingegen Mauro Cappelletti , The Doctrine of Stare Decisis and the Civil Law: A Fundamental Difference - or no Difference at All?, in: FS fur Konrad Zweigert zum 70. Geburtstag, 1981, S. 381 ff.

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

1. Suboptimalität des Ergebnisses Stare decisis führt zu im Einzelfall ungerechten oder als falsch empfundenen Urteilen der Gerichte. 16 Das Gericht kann nicht im Interesse des "richtigen" Ergebnisses von dem alten Präzedenzfall abweichen, so daß "Fehler" im Recht perpetuiert und festgeschrieben werden. Eine falsche Auslegung ist nicht korrigierbar, selbst wenn sie später schwer nachvollziehbar ist und zu ungerechten Ergebnissen führt. Das darf nicht mißverstanden werden. Natürlich kommt ein Gericht, welches sich durch eine alte Entscheidung präjudiziell fühlt und diese befolgt, nicht jedçsmal zu einem ungerechten Ergebnis. Zu unterscheiden sind nämlich die Fälle, in denen sich die originäre Rechtsauffassung des Richters mit dem Ergebnis der Vorentscheidung deckt, von denjenigen Fällen, in welchen insoweit eine Divergenz besteht.17 In den meisten Fällen wird der eine Vorentscheidung befolgende Richter wahrscheinlich mit deren Ergebnis übereinstimmen. Die Berufung auf stare decisis ist insoweit nichts anderes als ein Argumentationstopos unterstützenden Charakters, der keinen notwendigen Bestandteil der Entscheidungsfindung darstellt. Der Verweis auf den bindenden Charakter des Präzedenzfalls erschöpft sich hier in der Argumentationshilfe für ein Ergebnis, welches ansonsten durch Auslegung auf anderem Weg erzielt werden müßte. Auch in dieser Hinsicht ist oft von stare decisis die Rede. 18 Strenggenommen bleibt das Ergebnis von der Bindung an die Vorentscheidung aber unberührt. Die Berufung auf stare decisis ist in diesen Fällen

16

Vgl. dazu am deutlichsten Jerome Frank, einen der führenden Vertreter des amerikanischen "legal realism ", in: Courts on Trial, 1949, Neudruck 1973, S. 262 ff. 17 Mit "originärer Rechtsauffassung" ist das Ergebnis gemeint, zu welchem der Richter bei einer Erstbefassung mit dem jeweiligen Rechtsproblem käme. 18 Diesen Aspekt von stare decisis , der als ergébnisunterstiitzende im Gegensatz zur ergebnisbestimmenden Komponente bezeichnet werden kann, betonen nicht zuletzt auch immer die Richter des Supreme Court, die sich mit dem Thema befaßt haben. Die richterliche Arbeit wird erheblich erleichtert, wenn nicht überhaupt erst möglich gemacht dadurch, daß auf frühere Entscheidungen zurückgegriffen werden kann. Vgl. dazu Benjamin Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 149; John Paul Stevens , The life span of a judge-made rule, 58 N.Y.U. L. Rev. (1983), S. 1, 2; Lewis F. Powell , Stare Decisis and Judicial Restraint, 47 Washington and Lee L. Rev. (1990), S. 281, 286. Siehe auch den Hinweis bei Robert Carp/Ronald Stidham, Judicial Process in America, 1993, S .278, daß die Bundesrichter der erstinstanzlichen Gerichte {District Courts) bei einer Umfrage nach ihren Motiven im Entscheidungsfindungsprozeß Präzedenzfallen den Wert 90,44 auf einerfiktiven Skala von 100 gegeben haben, während sie ihre individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen in einem bestimmten Fall nur mit 60,69 bewertet haben. Auch dies ist ein Indikator für den hohen Stellenwert von Präzedenzfallen bei derrichterlichen Entscheidung.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

33

unproblematisch, aber - entscheidungstheoretisch betrachtet- auch uninteressant. Anders ist die Sache hingegen, wenn der Richter in seiner originären Rechtsauffassung mit dem Ergebnis der Vorentscheidung nicht übereinstimmt. Hier entwickelt der Grundsatz von stare decisis als Rechtsprinzip seine ihm eigene Dynamik, weil er das Gericht zu einem Urteil zwingt, das es sonst nicht fällen würde. 19 Das kritische entscheidungstheoretische Problem von stare decisis liegt darin, daß der Entscheidungsträger zu einem Ergebnis gezwungen wird, mit dem er eigentlich nicht einverstanden ist. Ein aus seiner aktuellen Sicht suboptimales Ergebnis ist die Folge. Das theoretische Problem der Suboptimalität aus Sicht des Entscheidungsträgers läßt sich an einem einfachen Beispiel erläutern: Die berufstätigen Eltern eines kleinen Kindes wollen für ihr Kind bei ihren Nachbarn einen Zweitschlüssel deponieren. Ihre größte Sorge ist, daß das Kind auch tatsächlich jemanden bei den Nachbarn antrifft, wenn es unerwartet von der Schule nach Hause kommt. In Frage kommen die Nachbarn A und Nachbarn B. Bei beiden Nachbarfamilien ist jeweils nur ein Ehepartner berufstätig, so daß statistisch die gleiche Chance besteht, daß A oder Β das Entscheidungskriterium erfüllen. Wenn sich die Eltern das erste Mal für A entschieden haben und das Kind mit dem dort hinterlegten Schlüssel in das Haus gekommen ist, müßten die Eltern das nächste Mal - wären sie durch eine Entscheidungsregel wie stare decisis gebunden - den Schlüssel wieder zu A bringen. Was aber nun, wenn der andere Ehepartner im Haus A ebenfalls berufstätig wird? Sollten die Eltern den Schlüssel weiterhin zu A bringen, nur weil sie es immer schon so gemacht haben? Und das, obwohl die Entscheidung nunmehr doch für Β ausfallen müßte? Die Konsequenz ist klar: Bleiben die Eltern gezwungenermaßen bei der einmal getroffenen Entscheidung stehen, treffen sie eine suboptimale Entscheidung. Diesem Beispiel kann der Einwand entgegengebracht werden, daß sich das Entscheidungsumfeld bei der späteren Entscheidung anders darstelle. Die beiden Fälle seien gar nicht gleich, weil sich wesentliche Umstände geändert hätten. Der Grundsatz von stare decisis gelte aber nicht, wenn die Gleichheit der Fälle nicht (mehr) gegeben sei. Dieser Einwand ist prinzipiell berechtigt, mißversteht aber den Kern von stare decisis. Eine vollständige Gleichheit zweier Sachverhalte wird es niemals geben. Eine absolute Übereinstimmung auch in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ist logisch undenkbar; sie würde

19 In diesem Sinn sehr deutlich Max Radin, Case Law and Stare Decisis: Concerning Präjudizienrecht in Amerika, 33 Columbia L. Rev. (1933), S. 199, 200. 3 Seyfarth

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

Identität bedeuten. Die Übereinstimmung kann stets nur in bezug auf bestimmte, als entscheidungsrelevant erkannte Merkmale festgestellt werden. Daß sich zwischen der früheren und der jetzigen Entscheidung Umstände geändert haben, steht einer Anwendung von stare decisis nicht entgegen: Bei dem Grundsatz geht es gerade darum, einer alten Entscheidung Folge zu leisten, obwohl diese aufgrund geänderter Umstände als nicht mehr optimal erscheint. Die wertende Feststellung, daß zwei Sachverhalte nicht gleich sind und unterschiedlich beurteilt werden müssen {distinguishing) ist demgegenüber gerade erst eine Sekundärstrategie zur Vermeidung der Suboptimalität 20 Zwar kann man über die Feststellung der entscheidungserheblichen Vergleichsmomente verschiedener Meinung sein. Sobald aber die "Gleichheit" der Sachverhalte festgestellt ist, verlangt stare decisis das Festhalten an der alten Entscheidung, unabhängig davon, ob das Ergebnis noch als zweckmäßig erscheint. Wird der Grundsatz von stare decisis in diesem Sinn beachtet, dann ist seine wesentliche Konsequenz, daß er den Entscheidungsträger an einer Entscheidung festhält, welche dieser unter Umständen als falsch empfindet.

2. Informationelle Überintegration Zweitens führt stare decisis zu informationell überladenen Entscheidungsfindungsprozessen. Der Entscheidungsträger muß nicht nur sicherstellen, daß seine Entscheidung mit früheren Entscheidungen in Einklang steht, sondern er muß auch beachten, daß spätere Entscheidungen durch die jetzige Entscheidung präjudiziell werden. Die gegenwärtige Entscheidung ist nicht nur die Zukunft der Vergangenheit, sondern immer auch die Vergangenheit der Zukunft. Damit ist die prospektive Komponente von stare decisis angesprochen 2 1 Der verantwortungsbewußte Entscheidungsträger muß Sachverhalte bei der Entscheidungsfindung verarbeiten, die in der Zukunft liegen, als Informationen also noch gar nicht vorhanden sein können oder jedenfalls doch nur mit erheblichen Mühen und Kosten prognostiziert werden können. Dies gilt um so mehr, wenn er sich des Problems der Suboptimalität bewußt ist und deshalb heute schon in seine Entscheidung alle denkbaren künftigen Eventualitäten einzubeziehen versucht. Entscheidungsfindungsprozesse werden dann informationell überladen und damit komplizierter und teurer.

20 Vgl. zum Instrumentarium dieser Vermeidungsstrategien (Stichworte: ratio decidendi, obiter dictum, distinguishing, etc.) zuletzt Pilny, (FN 7), S. 35 ff. 21

Dazu Frederick Schauer, Precedent, 39 Stanford L. Rev. (1987), S. 571, 572 ff.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

35

In dem oben aufgestellten Beispiel würde das bedeuten, daß die Eltern sich beim ersten Mal, als sie den Schlüssel weggaben, nicht nur überlegen mußten, welcher ihrer Nachbarn in den nächsten Wochen öfter zu Hause sei, sondern darüber hinaus eine Prognose über die Situation in den nächsten Jahren abgeben mußten. Wie sollen die Eltern dies beurteilen? Wissen sie im Zeitpunkt der Schlüsselübergabe schon, in welchem Nachbarhaus die Chance größer ist, daß auch der andere Ehepartner arbeiten wird? Oder welche Nachbarn öfter in den Ferien wegfahren? Das einfache Beispiel macht deutlich, daß die Eltern bei strenger Anwendung der Regel eine Vielzahl von zusätzlicher, oft noch gar nicht vorhandener Information bei ihrer Entscheidung mitverarbeiten müssen. Ihre Entscheidung wird dadurch erheblich komplizierter.

3. Pfadabhängigkeit Schließlich verstärkt stare decisis noch das sogenannte Problem der Pfadabhängigkeit (path dépendance ), welches letztlich allerdings nur eine Variante des Problems der Suboptimalität ist. Das Problem der Pfadabhängigkeit beschreibt die Konsequenzen der Suboptimalität allerdings in einer Konstellation, die in der gerichtlichen Praxis öfter vorkommen mag und schwerer als problematisch zu identifizieren ist. Mit Pfadabhängigkeit wird das Phänomen beschrieben, daß die Ergebnisse mehrerer Entscheidungen von der Reihenfolge abhängig sind, in denen sie zur Abstimmung gestellt werden. 22 So ist ein Fall denkbar, in dem der Entscheidungsträger zwar die Lösung X gegenüber der Lösung Y bevorzugt, aber die Lösung X mittlerweile nicht mehr zur Verfügung steht, weil zuvor Y im Vergleich mit einer dritten Lösung Ζ überlegen war und nun aufgrund von stare decisis weiterhin gilt. Die Lösung des Falls X/Y hängt also davon ab, ob er vor oder nach dem Fall Y/Z entschieden wird. Das Problem besteht mithin darin, daß stare decisis die Beantwortung einer materiell-rechtlichen Frage unter Umständen allein davon abhängig macht, wann sie vor das Gericht kommt. Das Problem der Pfadabhängigkeit läßt sich wieder an dem Grundbeispiel darstellen, wenn man sich folgende Alternative vorstellt: Bevor die Nachbarn Β eingezogen sind, hat dort die Familie C gewohnt. Die Eltern hatten also die Wahl zwischen A und C. Man stelle sich weiter vor, daß bei A und C jeweils beide Ehepartner berufstätig sind, die Familie C bei den Eltern jedoch "als un-

22

Vgl. d&TuFrartkH. Easterbrook , Ways of Criticizing the Court, 95 Harv. L. Rev. (1982), S. 802, 817; sowie Maxwell L. Steams, Standing Backfrom the Forest: Justiciability and Social Choice, 83 Cal. L. Rev. (1995), S. 1309 (passim).

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

zuverlässig" gilt. Die Eltern entscheiden sich deshalb für A. Man nehme weiter an, daß die Nachbarn C nun ausziehen und Familie B, bei der nur ein Ehepartner arbeitet, einzieht. Sind die Eltern nun beim nächsten Mal durch stare decisis gebunden, müssen sie sich wieder für A entscheiden, wenn man den Sachverhalt (Schlüsselaufbewahrung bei den Nachbarn) als gleich erachtet, obwohl sie doch eigentlich nunmehr zwingend Β wählen müßten. Hätten allerdings zuerst die Nachbarn Β - und nicht C - das eine Nachbarhaus bewohnt, wäre also die Frage A/B zuerst entscheiden worden, hätten sich die Eltern selbstverständlich für Β entschieden. Das Prinzip von stare decisis bewirkt also, daß die Entscheidung in dem (späteren) Fall A/B davon abhängig ist, auf welchen Pfad die Eltern durch eine frühere Entscheidung gelockt worden sind. 23 Das Problem der Pfadabhängigkeit kann als eine andere Erklärung des Problems der Suboptimalität verstanden werden. Auch bei der Pfadabhängigkeit ist das eigentliche Problem, daß die Entscheidungsregel stare decisis zu einem Ergebnis zwingt, welches der aktuellen Kenntnislage nicht entspricht. Der analytische Wert im Unterschied zum Problem der Suboptimalität besteht freilich darin, daß das Problem in einer anderen Konstellation auftaucht: Bei dem Grundbeispiel der Suboptimalität steht nur ein Vergleichspaar zur Verfugung (A/B), welches in zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten beurteilt werden mußte. Bei der Pfadabhängigkeit tritt neben das Vergleichspaar (A/B) eine dritte Entscheidungsalternative (C), die der einen Alternative des ursprünglichen Vergleichspaares (B) ähnlich genug ist, um stare decisis zu provozieren (man kann also bei den Paaren A/B und A/C von zwei vergleichbaren Fällen reden), aber doch qualitativ solche Unterschiede aufweist, um im Vergleich mit der anderen Alternative (A) anders abzuschneiden.

23 Die Harmlosigkeit des hier gewählten Beispiels mag den Blick für die möglicherweise weitreichenden Konsequenzen verstellen. So wird in der amerikanischen Rechtswissenschaft argumentiert, daß Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973) anders hätte ausfallen müssen, wenn der Fall nach und nicht vor Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986) entschieden worden wäre, obwohl es in Bowers eigentlich gar nicht um Abtreibung ging. Wohl entschied Bowers aber über eine für die Abtreibungsentscheidung wesentliche Vorfrage (die dritte Alternative!), nämlich die Frage, in welchem Umfang der Verfassung ein grundrechtlicher Schutz der Privatsphäre zu entnehmen ist. Vgl. dazu Frank H. East erb rook, Abstraction and Authority, 59 University of Chicago L. Rev. (1992), S. 349, 366. Siehe zu der Entscheidung Bowers v. Hardwick im einzelnen unten Kapitel 4, S. 72 f.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

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HL Stare decisis als Problem der Rechtsentwicklung Die entscheidungstheoretischen Schwierigkeiten treten bei der Lösung konkreter Einzelfalle auf. Betroffen ist die Einzelfallentscheidung. Nimmt man aber darüber hinaus die Entwicklung der Rechts- und Verfassungsordnung im ganzen in den Blick, treten durch stare decisis zusätzliche Probleme auf. Das Problem der Suboptimalität im Einzelfall übersetzt sich auf dieser Ebene in die Gefahr der Stagnation rechtlicher Entwicklungen. Neue Erkenntnisse können sich unter stare decisis nicht gegen alte Urteile durchsetzen. Betroffen ist dann die Anpassungs- und Innovationsfahigkeit der Rechtsordnung als solcher. Die von stare decisis geforderte Beharrung auf alten Erkenntnissen tritt in Spannung zur Innovationsnotwendigkeit einer lebendigen demokratischen Rechtsordnung. Dieser Befund spricht an sich schon gegen eine zu rigide Bindung eines Verfassungsgerichts an seine alten Urteile. In Extremfallen kann dieses Spannungsverhältnis sogar zu einer erheblichen Belastung für Bestand und Integrität der Verfassungsordnung führen. Die Beachtung von stare decisis wirkt dann kontraproduktiv: Anstatt stabilisierend auf die Entwicklung der Rechtsordnung zu wirken, hat das Festhalten an der alten Entscheidung einen höchst destabilisierenden Effekt. Die amerikanische Verfassungsgeschichte bietet berühmte Beispiele für die potentiell katastrophalen Folgen einer auf sich selbst beharrenden Rechtsprechung. Es gibt zumindest zwei Supreme Court-Fälle, die nach heute allgemeiner Ansicht so falsch entschieden worden waren, daß sie auf gar keinen Fall Bestand haben durften: Lochner v. New York 24 einerseits und Plessy v. Ferguson25 andererseits. 26 Beide Entscheidungen sind vom Supreme Court letztlich auch aufgehoben worden. An ihnen läßt sich demonstrieren, daß die stabile Entwicklung der verfassungsrechtlichen Ordnung manchmal gerade nicht das Festhalten, sondern die Aufgabe einer alten Entscheidung verlangt. In dem Fall Lochner hatte der Supreme Court ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, welches Arbeitszeiten und sonstige Arbeitsbedingungen für Bäckereien im Staat New York regelte. M i t dem Begriff der Lochner-Ära verbindet sich die Periode der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, in welcher der Supreme Court, oftmals unter Berufung auf die aus der "due 24

198 U.S. 45 (1905).

23

163 U.S. 537 (1896).

26

Vgl. einführend zur Bedeutung dieser beiden Entscheidungen für das amerikanische Verfassungsrecht Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993, S. 96 ff., 112 ff.

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

process clause" des 14. Amendments abgeleiteten Vertragsfreiheit, reihenweise Wirtschaftsregulierende und sozialfürsorgende Gesetze für nichtig erklärte. In dieser Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterminierte der Supreme Court nachhaltig die gesetzgeberischen Bemühungen, auf die mit der Industrialisierung und später durch die Wirtschaftskrise hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen Mißstände zu reagieren. Erst nachdem diese Rechtsprechung im Zuge der New Deal- Gesetzgebung unter Präsident Franklin D. Roosevelt in erheblichen Mißkredit geraten war, 27 änderte der Supreme Court 1937 mit der Entscheidung West Coast Hotel Co. v. Parrish 2 8 seinen Kurs und hat seitdem äußerste Zurückhaltung bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Gesetzen auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung und Wirtschaftsregulierung geübt. 29 In der Entscheidung Plessy v. Ferguson 30 hielt der Supreme Court ein Gesetz des Staates Louisiana für verfassungsgemäß, welches den Eisenbahn27 Beispielhaft insoweit die seinerzeit höchst unpopuläre Entscheidung U.S. v. Butler, 297 U.S. 1 (1936), mit der der Supreme Court das Hilfsprogramm für die Landwirtschaft (Agricultural Adjustment Act) für verfassungswidrig erklärte. Eine hervorragende Darstellung des Konflikts zwischen der Regierung Roosevelt und dem Supreme Courtfindet sich bei (dem späteren Richter am Supreme Court und amerikanischen Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen) Robert H. Jackson, The Struggle for Judicial Supremacy, 1941. 28

300 U.S. 379 (1937). Dort hat der Supreme Court ein Staatsgesetz, das einen Mindestlohn vorschrieb, für verfassungskonform erklärt und ist damit ausdrücklich von seiner Entscheidung in Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525 (1923) abgerückt. Auch wenn Lochner selbst von dieser Entscheidung nicht berührt war, steht sie doch zu Recht für das Ende der "Lochner-Ära". 29 Seit dieser Entscheidung hat der Supreme Court die aus der Commerce Clause (Art. I, sect. 8, cl. 3 Constitution) abgeleitete Gesetzgebungskompetenz des Bundes extensiv ausgelegt und über fünf Jahrzehnte lang kein Bundesgesetz mehr wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig erklärt. Dies gilt selbst für Gesetze, die den Raum des Wirtschaftsverwaltungsrechts eigentlich überschreiten und allgemein ordnungs- und sozialpolitische Ziele verfolgen. Für Wirtschaftsregulierende Gesetze verlangt der Supreme Court nur noch eine "rational basis": Das Gericht prüft nicht mehr, ob das Gesetz gut oderrichtigist, sondern lediglich, ob es zwischen gesetzgeberisch verfolgtem legitimen Zweck und gewähltem Mitttel überhaupt einen vernünftigen Bezug gibt, vgl. Laurence Tribe , American Constitutional Law, 2nd ed., (1988) § 8-2, S. 567 ff. Beachte aber, daß der Supreme Court vor kurzem in der aufsehenerregenden Entscheidung U.S v. Lopez, 115 S. Ct. 1624 (1995), zum ersten Mal seit 1937 wieder ein Bundesgesetz für verfassungswidrig erklärte, weil das umstrittene Gesetz, das den Besitz von Waffen in Schulen bundesrechtlich inkriminierte, nicht mehr von der Commerce Clause gedeckt sei. Ob der Supreme Court mit Lopez eine abermalige Kehrtwende vollzogen hat, läßt sich heute noch nicht sagen und erscheint eher zweifelhaft, vgl. Jefferson Powell, Enumerated Means and Unlimited Ends, 94 Michigan L. Rev. (1995), S. 651, 652. 30

163 U.S. 537(1896).

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

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Gesellschaften auferlegte, für schwarze und weiße Passagiere "getrennte, wenn auch gleichwertige" Abteile vorzuhalten und die Benutzung eines Abteils der einen Rasse durch Mitglieder der anderen unter Strafe zu stellen. Plessy ist mit der für die Rassenintegration in den Vereinigten Staaten bahnbrechenden Entscheidung Brown v. Board of Education 31 aufgehoben worden. In Brown erklärte der Supreme Court das Prinzip der getrennten Schulen für Weiße und Schwarze für verfassungswidrig. Damit wurde zunächst für den Bereich des öffentlichen Schulwesens die seit Plessy geltende "separate but equal doctrine" aufgegeben und der Prozeß der Rassenintegration in Gang gesetzt. In der amerikanischen Rechtswissenschaft und bei allen Richtern des Supreme Court besteht heute geradezu axiomatische Gewißheit darüber, daß Plessy und Lochner falsch entschieden worden waren und West Coast Hotel und Brown mithin richtig sind - ganz gleich, welcher politischen Couleur man angehört. Diese communis opinio ist der gemeinsame Boden aller ideologischen Lager. Für den Grundsatz von stare decisis folgt daraus ein wichtiges Gegenargument: Es kann Fälle geben, die nach allgemeiner Ansicht so grundsätzlich falsch entschieden worden sind, daß ihre Aufrechterhaltung unter keinen Umständen zu rechtfertigen wäre. Schon deshalb kann die Selbstbindung eines Verfassungsgerichts nicht ausnahmslos gelten.

IV. Argumente und Kriterien für die Befolgung von stare decisis Die beschriebenen Schwierigkeiten zeigen, warum stare decisis als entscheidungsbestimmendes Rechtsprinzip niemals absolute Geltung beanspruchen kann. Es kann nicht die Aufgabe von stare decisis sein, einen Index unantastbarer Entscheidungen aufzustellen. 32 Sosehr Rechtswissenschaft und Supreme Court stare decisis im Prinzip auch anerkennen, kann aus dem Grundsatz doch nicht das konkrete Ergebnis gewissermaßen einfach abgeleitet werden. 33 Die Aufgabe besteht deshalb darin, zu bestimmen, unter welchen konkreten Umständen der Supreme Court von einem alten Fall abweichen darf

31

347 U.S. 483 (1954).

32

Darüber besteht allgemein Einigkeit. Klassisch und in vielen Aufsätzen zu stare decisis sowie Urteilen des Supreme Court zitiert, ist das Diktum des Richters Louis D. Brandeis in einem Sondervotum in Burnet v. Coronado Oil & Gas Co., 285 U.S. 393, 405 (1932): "Stare decisis is not a universal, inexorable command ." 33

Auch insofern behält der Satz des Richters Oliver Wendell Holmes seine Gültigkeit: "Allgemeine Aussagen entscheiden keine konkreten Fälle", vgl. Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 75 (1905).

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

bzw. wann er durch die Vorentscheidung gebunden ist. Dazu ist es hilfreich, sich zunächst den Argumenten zuzuwenden, die als Rechtfertigung för die Befolgung von stare decisis dienen können.

1. Argumente für die Befolgung von stare decisis Analytisch lassen sich die Argumente für eine Befolgung von stare decisis grob in zwei Gruppen einteilen: Auf der einen Seite stehen solche Argumente, die sich auf den spezifischen Fall, also auf das Ergebnis und die Urteilsfindung für den jeweils gerade zu entscheidenden Fall, beziehen. Auf der anderen Seite wird stare decisis mit Blick auf den Supreme Court als Institution und seine Stellung im demokratischen Verfassungsgefügeverteidigt. Die Trennung ist natürlich nicht streng durchzuhalten, weil sich die Entscheidung konkreter Fälle und die institutionelle Stellung des Supreme Court einander bedingen. Sie ist aber insoweit von Bedeutung, als die Bereitschaft, unter Mißachtung von stare decisis eine alte Entscheidung aufzugeben, davon abhängen kann, welcher der beiden Aspekte betont wird. Auf der Seite der entscheidungsbezogenen Argumente sind Fairneß, Gleichheit, Vorhersehbarkeit, Konsistenz, Kohärenz und Effizienz der Rechtsprechung die positiven Attribute, die mit stare decisis in der rechtswissenschaftlichen Literatur zumeist verbunden werden. 34 Zusammengefaßt werden die einzelnen Punkte in der Annahme, die Befolgung von Präzedenzfallen diene der sogenannten "rule of law", 35 Die Verläßlichkeit der Rechtsentwicklung erscheint dabei als das wesentliche Element der "rule of law". In der Tat fordert der Grundsatz von stare decisis die Verläßlichkeit der Rechtsentwicklung, indem er den Rechtsfindungsprozeß institutionell entpersonalisiert. Die Abhängigkeit von den Neigungen der einzelnen Richter nimmt ab, so daß sich das Recht in gewisser Weise verselbständigt. Der so erreichten Stabilität stehen auf der Verlustseite zwar möglicherweise Flexibilitätseinbußen gegenüber. Dies ändert aber nichts daran, daß sich "das Recht" 34 Vgl. Richard A. Wasserstrom , The judicial decision: toward a theory of legal justification, 1961, S. 60-81; Geoffrey R. Stone, Precedent, the Amendment Process, and Evolution in Constitutional Doctrine, 11 Harv. Journal of Law & Public Policy (1988), S. 67, 70; James C. Rhenquist , The power that shall be vested in a precedent: Stare Decisis, the Constitution, and the Supreme Court, 66 Boston U. L. Rev. (1986), S. 345, 347. 33 So u. a. Robert W. Bennett , A dissent on dissent, 74 Judicature (1991), S. 255, 258. Ebenso der Supreme Court in Welch v. Texas Department of Highways and Public Transportation , 483 U.S. 468, 478 (1987): "The rule of law depends in large part on adherence to the doctrine of stare decisis ".

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

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durch stare decisis zunächst einmal in einer vergleichsweise objektiven Art fortentwickeln kann. Hinsichtlich der einzelnen mit stare decisis verbundenen positiven Attribute basieren die ersten beiden (Fairneß, Gleichheit) auf der bereits angesprochenen Annahme, daß gleiche Fälle gleich entschieden werden sollten (treat like cases alike). Der Faktor Zeit soll kein maßgebliches Unterscheidungskriterium bei der Anwendung des Rechts sein. Das Recht soll intertemporal für alle Adressaten den gleichen Inhalt haben. 36 Die nächsten beiden Punkte (Vorhersehbarkeit und Konsistenz) zielen darauf ab, es dem Einzelnen und dem Staat zu ermöglichen, sich dem Recht gemäß einzurichten und zu verhalten. Insbesondere Vorhersehbarkeit ist unabdingbare Voraussetzung eines Gemeinwesens, welches "im Recht" steht. 37 Sie ist für zukunftsgerichtete rechtliche Handlungen - etwa Verträge - von unerläßlicher Bedeutung. Erwartungen würden enttäuscht, wenn das Recht plötzlich einen anderen Inhalt hätte als früher. 38 Schließlich trägt stare decisis zu Kohärenz und Effizienz der Rechtsprechung bei und dient damit der Funktionstüchtigkeit der Justiz. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen würde die richterliche Arbeit ungleich aufwendiger, wenn jede Rechtsfrage jedesmal vollständig neu behandelt werden müßte. 39 Zum anderen bewirkt die Befolgung von Präzedenzfallen, daß insgesamt weniger Fälle zur gerichtlichen Entscheidung kommen. Der Anreiz zur außergerichtlichen Streitbeilegung steigt, wenn die Parteien das Ergebnis ihres

36

Dieses Postulat ist im übrigen keineswegs so selbstverständlich wie es auf den ersten Blick scheint. Christopher J. Peters, Foolish Consistency: On Equality, Integrity, and Justice in Stare Decisis, 105 Yale L. J. (1996), S. 2031 hat in seiner dezidierten Kritik des Grundsatzes von stare decisis die These vertreten, es sei - verstünde man Gleichheit in dem Sinn, daß jedem Rechtsadressat das gleiche Maß an Gerechtigkeit zukomme - geradezu ein Verstoß gegen das Gleichheitspostulat, wenn der zeitlich nachfolgende Rechtsadressat, nur um der Befolgung einer alten Entscheidung willen, mit einer aus aktueller Sicht suboptimalen, mithin ungerechten Entscheidung konfrontiert werde. 37 Dazu der Richter am Supreme Court Antonin Scalia , The Rule of Law as a Law of Rules, 56 University of Chicago L. Rev. (1989), S. 1175, 1179. 38

Wie bei der Übersicht über die Rechtsprechung zu sehen sein wird, mag der insoweit ins Blickfeld genommene Vertrauensschutz unterschiedliches Gewicht haben, je nachdem, welcher Sachbereich betroffen ist.

39 So Cardozo y (FN 18), S. 149: "The labor of judges would be increased almost to the breaking point if every past decision could be reopened in every case, and one could not lay one's own course of bricks on the secure foundation of the courses laid by others who had gone before him".

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Vefassungsrecht

Rechtsstreits aufgrund früherer Entscheidungen vorhersehen können. Besteht hingegen die Chance, daß das Gericht heute anders urteilt als in der früheren Entscheidung, ist die gerichtliche Auseinandersetzung unter Umständen einen Versuch wert. Stare decisis trägt deshalb über die rechtliche Vorhersehbarkeit auch zur Entlastung und damit Effizienz der Justiz bei. 40 Wird der Supreme Court auf der anderen Seite als Institution in den Blick genommen, so erhalten die mit stare decisis verbundenen positiven Attribute einen anderen Akzent. Stare decisis , so die Grundthese, führe dazu, daß die Akzeptanz des Gerichts in der Öffentlichkeit steige und seine fragile Stellung im demokratischen Verfassungsgefüge gestärkt werde. Ausgangspunkt dieser These ist die Überlegung, daß die Judikative, selbst in Gestalt des Verfassungsgerichts, die Befolgung ihrer Urteile selbst nicht garantieren kann. 41 Sie ist vielmehr auf Akzeptanz angewiesen: Akzeptanz sowohl der anderen Staatsorgane als auch der Öffentlichkeit insgesamt. Für ein Verfassungsgericht, das potentiell in Widerspruch zu dem im Gesetz verkörperten Mehrheitswillen der Bevölkerung tritt und deshalb mit der "counter-majoritarian difficulty " leben muß, 42 ist es besonders schwierig, diese Akzeptanz zu erlangen. Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgeber stehen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis; zwischen ihnen herrscht ein "labiles Gleichgewicht". 43 Will der Supreme Court trotz dieser Schwierigkeit das Ver-

40 Vgl. dazu aus Sicht der ökonomischen Analyse des Rechts Richard Posner, Economic Analysis of Law, 4th ed., 1992, S. 542. Dieser Aspekt spielt auch bei Erin O'Hara, Social Constraint or Implicit Collusion?: Toward a Game Theoretic Analysis of Stare Decisis, in: 24 Seton Hall L. Rev. (1993), S. 736, 746 f. eine Rolle. O'Hara untersucht in seiner Abhandlung die Doktrin von stare decisis aus dem Blickwinkel der Spieltheorie und kommt zu dem Ergebnis, es sei spieltheoretisch zu erklären, daß gerade diejenigen Richter, deren erstes Bestreben die Durchsetzung ihrer eigenen normativen Vorstellungen sei, sich mittels stare decisis untereinander zur Einhaltung anderer (früherer) Urteile anhielten. 41

Siehe auch hier die klassische Formulierung bei Alexander Hamilton im Federalist Paper Nr. 78: "The judiciary [...] has no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strength or the wealth of the society ; and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither FORCE nor WILL , but merely judgment ; and must ultimately depend upon the aid of the executive arm even for the efficacy of its judgments Daß die nötige Hilfe bei der Durchsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen historisch gesehen keine Selbstverständlichkeit ist, belegt ein spöttisches Zitat, das dem Präsidenten Andrew Jackson (1829 - 37) anläßlich eines unliebsamen Urteils des Supreme Court zugeschrieben wird: "John Marshall (der damalige Chief Justice) has made his decision; Now let him enforce itV\ vgl. Robert W. Langran , Presidents versus The Court, 1977 Yearbook of the Supreme Court Historical Society, S. 70. 42 Vgl. Alexander M. Biclcel , The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962, S. 16 ff.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

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trauen der Öffentlichkeit gewinnen, ist es erforderlich, daß seine Entscheidungen nicht Ausfluß der subjektiven Wertvorstellungen der einzelnen Richter sind, sondern dem "objektiven Recht" entspringen. Zumindest müssen sie diesen Eindruck vermitteln. 44 Der Grundsatz von stare decisis kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Er verhindert, daß sich "das Recht" allzu oft ändert, bürgt für Stabilität und Zuverlässigkeit und trägt damit zur Glaubwürdigkeit des Supreme Court bei. 45

2. Kriterien für die Befolgung von stare decisis Eine qualitative Beurteilung von stare decisis ergibt mithin ein gemischtes Bild: Auf der einen Seite stehen die gravierenden entscheidungstheoretischen Probleme, die mit einer strikten Befolgung von Präzedenzfallen verbunden sind. Auf der anderen Seite werden mit stare decisis zahlreiche positive Attribute assoziiert, die eine möglichst strenge Anwendung wünschenswert erscheinen lassen, Rechtsprechung und Wissenschaft in den Vereinigten Staaten sind deshalb darum bemüht, einen Mittelweg zu finden. Es müssen nachvollziehbare Kriterien aufgestellt werden, vermöge derer das Gewicht, welches der Supreme Court einem alten Urteil zukommen lassen soll, festgestellt werden kann. Ein erstes Kriterium ist die Unterscheidung zwischen sogenannten constitutional cases und statutory cases. Anders als das Bundesverfassungsgericht entscheidet der Supreme Court nicht nur über "spezifisches Verfassungs43 Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, in: JZ 1976, S. 697, 700. 44

Vgl. dazu Deborah Hellman y The Importance of Appearing Principled, 37 Arizona L. Rev. (1995), S. 1107ff. Hellman geht dort in Anbetracht neuerer Urteile des Supreme Court zu stare decisis , in denen das Gericht die Anwendung des Grundsatzes mit dem Argument rechtfertigte, man müsse den Eindruck von Konsistenz der Rechtsprechung ("principled adjudication ") vermitteln, der Frage nach, ob das" Schielen aufs Publikum" ein zulässiges verfassungsrechtliches Argument sei. Diese Frage beantwortet sie - mit allerdings nicht vollends überzeugender Begründung - positiv. 45 Es wäre allerdings zu fragen, warum ein Urteil des Supreme Court glaubwürdiger sein soll und mehr Akzeptanzfindet, nur weil einfrüheres Urteil ebenso ausgefallen ist. Ist es nicht so, daß die Akzeptanz letztlich stärker vom Ergebnis als von Begründung und dogmatischer Stimmigkeit abhängt? Möglicherweise ist die Erklärung in dem Umstand zu suchen, daß Stabilität und Zuverlässigkeit, also im weitesten Sinne die Rechtssicherheit, nicht nur einem (irrationalen) menschlichen Grundbedürfiiis entsprechen, sondern ein vernunftrechtliches Gebot sind. Dazu grundsätzlich Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 44, in: ders., Werke in Sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 1960, Bd. IV, S. 430.

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Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Vefassungsrecht

recht", 46 sondern fungiert auch als Revisionsinstanz bei der Auslegung einfachen Bundesrechts. 47 Dabei, so die These in bezug auf stare decisis , soll der Supreme Court an seine verfassungsrechtlichen Entscheidungen weniger stark gebunden sein als an seine Auslegung des einfachen Rechts. Auf deutsche Verhältnisse übertragen hieße das etwa, daß das Bundesverfassungsgericht einer Selbstbindung an seine eigene Rechtsprechung nicht unterliegen solle, während der Bundesgerichtshof insoweit gebunden sei. Dieser Differenzierung liegt der Gedanke zugrunde, daß dem Gesetzgeber eine Korrektur einer (vermeintlich falschen oder unerwünschten) verfassungsrechtlichen Auslegung nur durch Verfassungsänderung möglich sei. Dies sei aber in der Praxis so gut wie unmöglich. Tatsächlich gibt es in über 200 Jahren amerikanischer Verfassungsgeschichte lediglich vier Fälle, in denen der Gesetzgeber auf ein Urteil des Supreme Court erfolgreich mit einer Verfassungsänderung reagiert hat. 48 Die meisten Kommentatoren in der amerikanischen Verfassungsrechtswissenschaft bejahen deshalb eine unterschiedliche Bindungswirkung, je nachdem,

46

BVeifGE 18, 85 [92].

47

Art. m, sect. 2 Constitution, sowie 28 U.S.C. §§ 1251 - 1258. Vgl. einführend zu Aufbau und Zuständigkeiten des Supreme Court sowie der Bundesgerichtsbarkeit in den USA Brugger, (FN 26), S. 13 ff Im Gerichtsjahr 1994-95 betrafen 27 von 86 vom Supreme Court entschiedenen Fällen eine verfassungsrechtliche Frage, während in den übrigen 59 Fällen zumeist über die Auslegung von Bundesrecht zu entscheiden war. Siehe The Supreme Court, 1994 Term, The Statistics, 109 Harv. L. Rev. (1995), S. 340 ff. 48 Mit dem 11. Amendment von 1798 reagierte der verfassunggebende Gesetzgeber auf die Entscheidung Chisholm v. Georgia, 2. U.S. (2 Dali.) 419 (1793), in der es um die sachliche Zuständigkeit von Bundesgerichten bei Streitigkeiten zwischen Einzelstaaten und Bürgern ging; das 14. Amendment von 1868 korrigierte die Entscheidung Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857), mit welcher der Supreme Court Farbigen die Eigenschaft als Bürger abgesprochen hatte; die fiskalischen Rechte des Bundes sind im 16. Amendment von 1913 behandelt, welches der Entscheidung Pollock v. Farmers' Loan and Trust Co., 157 U.S. 429 (1895) den verfassungsgesetzlichen Boden entzog; schließlich war das 26. Amendment von 1971 eine Antwort auf die Entscheidung Oregon v. Mitchell, 400 U.S. 112 (1970), in welcher der Supreme Court Ausführungen zum Wahlalter machte. Wie schwierig es ist, auf eine umstrittene Entscheidung des Supreme Court mit einer Verfassungsänderung zu reagieren, haben in letzter Zeit wieder die Entscheidungen Texas v. Johnson, 491 U.S. 397 (1989) und United States v. Eichman, 496 U.S. 310 (1990) gezeigt. Dort hat der Supreme Court entschieden, das Verbrennen der amerikanischen Bundesflagge sei als Form der politischen Meinungsäußerung von der Verfassung (First Amendment) geschützt. Die in der Öffentlichkeit und bei republikanischen und demokratischen Politikern zunächst auf erhebliche Kritik gefallene Entscheidung führte zu Forderungen, u. a. von Präsident George Bush, nach einer Verfassungsänderung. Der Vorstoß ist mittlerweile im verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren versandet und dürfte heute keine Chance mehr haben.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

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ob ein verfassungs- oder einfachrechtliches Problem zu entscheiden ist. 4 9 Seine klassische Formulierung hat dieser Gedanke in einem Sondervotum des berühmten Richters Louis D. Brandeis in Burnet v. Coronado Oil & Gas Co. gefunden: "Stare decisis is usually the wise policy , because in most matters it is more important that the applicable rule of law be settled than that it be settled right. This is commonly true even where the error is a matter of serious concern , provided correction can be had by legislation. But in cases involving the Federal Constitution , where correction through legislative action is practically impossible , this Court has often overruled its earlier decisions . The Court bows to the lessons of experience and the force of better reasoning, recognizing that the process of trial and error , so fruitful in the physical sciences , is appropriate also in the judicial function. 1,50 Neben der allgemeinen Zustimmung ist diese Differenzierung zwischen verfassungs- und einfachrechtlichen Streitigkeiten allerdings vereinzelt auch auf Kritik gestoßen. Auf zwei Punkte soll hier lediglich hingewiesen werden. Zum einen hängt, sosehr die Unterscheidung auch auf den ersten Blick einleuchten mag, ihre Überzeugungskraft von der Richtigkeit der ihr zugrunde liegenden Prämisse ab, daß die legislativen Korrekturmöglichkeiten tatsächlich bei einfachrechtlichen Urteilen des Supreme Court stärker als bei verfassungsrechtlichen Entscheidungen sind. 51 Zum anderen ließe sich die Argumentation von Brandeis eventuell auch umkehren: Die amerikanische Verfassung gibt normativ vor, daß ihre Änderung nur in einem bestimmten, an erschwerte Bedingungen geknüpften Verfahren möglich sein soll. 52 Da aber erst die Rechtsprechung des Supreme Court den Verfassungstext mit Inhalt erfüllt und die Verfassung damit in einem realen Sinn zum Leben erweckt, sollte gerade auch die Rechtsprechung nur unter erschwerten Bedingungen änderbar sein. Article Vdzx amerikanischen Verfassung wäre dann kein Grund für eine geringere Beachtung von verfassungszuslegenden Präzedenzfallen, sondern im

49

Siehe Michael J. Gerhardt/Thomas D. Rowe, Constitutional Theory, (1993), S. 177. Kritisch hingegen Frank H. East erb rook , Stability and Reliability in Judicial Decisions, 73 Cornell L. Rev. (1988), S. 422, 426 ff. 30

285 U.S. 393, 406 (1932). Vgl. ähnlich bereits die Aussage von Brandeis in seiner abweichenden Meinung in Di Santo v. Pennsylvania, 273 U.S. 34, 42 (1927). 31 Insoweit mit Zweifel Earl M. Maitz, Some Thoughts on the Death of Stare Decisis in Constitutional Law, Wisconsin L. Rev. (1980), S. 467, 468 ff. Ebenso kritisch Henry P. Monaghan, Our Perfect Constitution, 56 N.Y.U. L. Rev. (1981), S. 353, 389. Vgl. auch Lawrence C. Marshall, "Let congress do it": The Case for an Absolute Rule of Statutory Stare Decisis, 88 Michigan L.Rev. (1989), S. 177. 52

Vgl. Ait. V Constitution.

46

Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Vefassungsrecht

Gegenteil normativer Ausgangspunkt einer stärkeren Beachtung von stare decisis im Verfassungsrecht. 53 Ein zweites Kriterium zur Beurteilung von Rechtsprechungsänderungen bilden die sogenannten "arts of overruling ", die dem Supreme Court eine Richtlinie bei der Bewertung von Präzedenzfallen geben wollen. 54 Hinter diesem Ausdruck steht die Annahme, daß der Supreme Court nur dann seine alte Rechtsprechung aufgeben solle, wenn es dafür eine "besondere Rechtfertigung" gebe. Das Gericht darf danach von stare decisis nur dann abweichen, wenn es eine alte Entscheidung für falsch entschieden erachtet und eine der folgenden Voraussetzungen vorliegt: •

Die der alten Entscheidung zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse haben sich geändert.



Mehrere frühere Entscheidungen widersprechen sich bzw. der Kern einer alten Entscheidung hat sich zwischenzeitlich so verwässert, daß sie mit anderen Entscheidungen in Konflikt geraten ist.



Eine alte Entscheidung hat sich als schlichtweg unpraktikabel erwiesen, obwohl sie eigentlich richtig entschieden war.

Der Reiz eines solchen Vorgehens liegt darin, daß die Abweichung von einer alten Entscheidung ihrerseits wieder an "objektive", nicht im Belieben des einzelnen Richters stehende Voraussetzungen geknüpft wird. Den mit stare decisis verbundenen Stabilitätsinteressen wird damit vorgeblich Rechnung getragen, ohne daß man die von dem Grundsatz ausgehende Rigidität in Kauf nehmen muß. Hinzu kommt, daß ein solches Vorgehen dem Richter, der eine alte Entscheidung umwerfen soll, entgegenkommt. Schließlich ist in jeder Än-

33

In diesem Sinn der Aufsatz Note, Constitutional Stare Decisis, 103 Harv. L. Rev. (1990), S. 1344. Der Gedankengang ließe sich dann auch noch weiterspinnen: Wenn der Supreme Court bei der Aufgabe einer alten Entscheidung der normativen Bindung des Art. V Constitution unterworfen sein soll, dann muß eine solche Entscheidung eine qualifizierte Mehrheit von mindestens sechs Richternfinden. Auch das geltende deutsche Verfassungsprozeßrecht kennt übrigens in bestimmten Verfahren die Notwendigkeit qualifizierter Mehrheiten, vgl. § 15 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG. Darüber hinaus ist in der rechtspolitischen Diskussion über Stellung und Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die in den letzten Jahren insbesondere nach dem Kruzifix-Urteil (BVeifGE 93, 1) einsetzte, immer wieder ein qualifiziertes Mehrheitserfbrdernis für die oder jedenfalls bestimmte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gefordert worden. Vgl. dazu Thomas von Danwitz, Qualifizierte Mehrheiten für normverwerfende Entscheidungen des BVerfG?, in: JZ 1996, S. 481 ff., derfreilich selbst im Ergebnis einem qualifizierten Mehrheitserfordernis ablehnend gegenübersteht. 54 Der Ausdruck "art of overruling " findet sich zuerst bei Jerold H. Israel, Gideon v. Wainwright: The "Art" of Overruling, 1963 Supreme Court Review, S. 211.

2. Kapitel: Inhalt und Rechtfertigung von stare decisis

47

derung der Rechtsprechung die implizite Aussage enthalten, daß sich die Amtsvorgänger bei der Entscheidung des alten Falls geirrt haben. Es liegt aber in der Eigendynamik jeder Institution, und sicherlich ganz besonders einer Institution, die sich der eigenen Tradition so sehr verpflichtet fühlt wie der Supreme Court, daß sie sich mit der eigenen Fehlbarkeit schwer tut. Kann das Gericht nun mit Hilfe der Formel "Andere Rechtsauflfassung plus besondere Rechtfertigung" von einer alten Entscheidung abrücken, setzt sich seine Meinung zwar im fiktiven Dialog mit den Amtsvorgängern durch, ohne damit aber gleichzeitig die implizite Aussage zu treffen, daß sich das Gericht seinerzeit geirrt habe. Statt mit dem neuen, abweichenden Urteil "das eigene Nest zu beschmutzen", behauptet das Gericht gewissermaßen, das alte Urteil sei zwar unter den damaligen Umständen korrekt gewesen, wäre aber anders ausgefallen, wenn nur die jetzt vorliegenden Fakten bzw. anderen rechtlichen Entwicklungen oder praktischen Erfahrungen bekannt gewesen wären. 55 Auch die "arts of overruling " haben vereinzelt Kritik gefunden. So ist vorgetragen worden, die Befolgung von s tare decisis stünde gar nicht mehr in Frage, wenn sich etwa die tatsächlichen Grundlagen geändert hätten. 56 Dennoch hat sich der Supreme Court bei seiner Behandlung von stare decisis die sogenannten "arts of overruling " zu eigen gemacht. Soll der rechtliche Gehalt von stare decisis näher bestimmt werden, ist es deshalb notwendig, danach zu fragen, wieviel sich an den tatsächlichen Grundlagen der alten Entscheidung geändert haben muß, und ab wann davon gesprochen werden kann, daß der dogmatische Grund der alten Entscheidung nicht mehr gegeben sei. Diese Fragen lassen sich letztlich nur im Licht der Rechtsprechung des Supreme Court selber beantworten. Erst diese kann offenbaren, welcher Stellenwert dem Grundsatz stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht tatsächlich zukommt.

33 36

Dazu Israel, aaO., S. 220 f.

Vgl. die Kritik in Note, (FN 53), S. 1347. Dort werden die Fallgruppen als "arts of avoidance " bezeichnet, weil sie Situationen beschrieben, in denen der Präzedenzfall gerade nicht greife.

3. Kapitel

Stare decisis und die Rechtsprechung des Supreme Court Wer sich der Rechtsprechung des Supreme Court annimmt, gewinnt zunächst den Eindruck, stare decisis sei ein offenbar glänzendes, aber stumpfes Schwert. Der rhetorischen Wertschätzung des Grundsatzes von stare decisis steht eine vergleichsweise geringe tatsächliche Befolgung gegenüber. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls ein Blick auf die bisherige Praxis: In etwa einhundert Fällen, in denen es um ein verfassungsrechtliches Problem ging (constitutional im Gegensatz zu statutory cases), hat der Supreme Court seine alte Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben. 1 Diese Zahl erhöht sich noch erheblich, wenn die Fälle hinzugerechnet werden, in denen der Supreme Court eine alte Entscheidung zwar nicht ausdrücklich aufgehoben hat, aber de facto seine Rechtsprechung geändert hat. 2 Und schenkt man der Einschätzung von

1

Einen ersten Zugang zu den Rechtsprechungsänderungen vermitteln mehrere Listen von "overrulings", die verschiedenen Aufsätzen als Appendix angefügt sind. Siehe am besten Michael J. Gerhardt, The Role of Precedent in Constitutional Decisionmaking and Theory, 60 George Wash. L. Rev. (1991), S. 68, 147. Übersichten für bestimmte Periodenfinden sich bei Earl M. Maitz, Some Thoughts on the Death of Stare Decisis in Constitutional Law, Wisconsin L. Rev. (1980), S. 467, 494; Albert P. Blaustein/Andrew H. Field , "Overruling" Opinions in the Supreme Court, 57 Michigan L. Rev. (1958), S. 151, 184; William O. Douglas , Stare Decisis, 49 Columbia L. Rev. (1949), S. 735, 756. Vgl. schließlich auch die Aufzählung in Payne v. Tennessee, 501 U.S. 808, 828 (1991). Im deutschen Schrifttum findet sich ein zusammenfassender Abdruck einiger dieser Quellen bei Karin L. Pilny, Präjudizienrecht im angloamerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 210 ff. 2 Der Supreme Court bedient sich mehrerer Techniken, wenn er seine Rechtsprechimg ändern will. Neben der ausdrücklichen Aufgabe (explicit overruling) kann er auch stillschweigend von einem alten Urteil Abstand nehmen (overruling sub sii enti ο) oder durch nachfolgende Rechtsprechung den Präzedenzfall bis zur Unkenntlichkeit auslegen und damit praktisch aufgeben, vgl. Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490, 532 (1989). Siehe grundsätzlich zu den verschiedenen Techniken des overruling auch die Ausführungen bei Karl L. Llewellyn , The Common Law Tradition, 1960, S. 84 ff.

Der Supreme Court vermeidet vielfach eine ausdrückliche Stellungnahme, wie ζ. B. in Brown v. Board of Education , 347 U.S. 483 (1954), obwohl es keine Frage ist, daß mit Brown die alte Entscheidung Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896) kein geltendes Recht mehr war. Ein solches Vorgehen wird zurecht kritisiert, weil es manchmal unnötige Verwirrung stiftet. Ein Beispiel läßt sich in der Rechtsprechung zur Mei-

3. Kapitel: Stare decisis und die Rechtsprechung des Supreme Court

49

zwei Richtern des Supreme Court Glauben, kommen jedes Jahr zwei bis drei Fälle hinzu, in denen das Gericht seine alte Rechtsansicht aufgibt. 3 Diese imposante Zahl von Entscheidungen, mit denen der Supreme Court expressis verbis von seiner alten Rechtsprechung abgewichen ist, muß natürlich in Relation zur Gesamtzahl der bearbeiteten Verfahren gesetzt werden. Jedes Jahr entscheidet der Supreme Court in etwa 100 bis 150 Fällen, wobei sich die Zahl auf weit über 4000 erhöht, wenn die nicht zur Entscheidung angenommenen Verfahren miteinbezogen werden. 4 Dennoch: der Eindruck des stumpfen Schwertes bleibt, und er verstärkt sich noch angesichts der konkreten Umstände, unter denen eine alte Entscheidung manchmal aufgegeben wurde. Ein klassisches Beispiel sind insofern die Legal Tender Cases5 Die Legal Tender Cases von 1871 sind ein sehr früher Beleg für eine seinerzeit dramatische Änderung der Rechtsprechung. 6 Dort bejahte der Supreme Court die damals hochumstrittene Frage, ob der Kongress Papiergeld als gesetzliches Zahlungsmittel ausgeben dürfe. Ein Jahr zuvor hatte der Supreme nungsfreiheit finden: Bei der Frage, ob private Einkaufszentren das funktionelle Äquivalent zu einem öffentlichen Forum darstellen, mit der Folge, daß die Eigentumsrechte hinter dem Grundrecht der Meinungsfreiheit zurücktreten müssen, hatte der Supreme Court in Amalgamated Food Employees Union v. Logan Valley Plaza, 391 U.S. 308 (1968) entschieden, daß das Verbot einerfriedlichen Streikkundgebung in einem Einkaufszentrum eine Verletzung der Meinungsfreiheit sei, während er in Lloyd Corp. v. Tanner, 407 U.S. 551 (1972) den Eigentümern zugestand, das Verteilen von Flugblättern in ihrem Einkaufszentrum zu untersagen. Im ersten Fall hatte das Gericht die Frage also bejaht, im zweiten verneint. Obwohl damit die alte Entscheidung im Kern berührt war, hat das Gericht diese nicht ausdrücklich aufgehoben. Deshalb mußte sich der Supreme Court vier Jahre später mit genau demselben Problem abermals auseinandersetzen: in Hudgens v. NLRB y 424 U.S. 507 (1976) erklärte das Gericht, daß Logan Valley in der Tat durch Lloyd aufgehoben worden war. 3

So John Paul Stevens , The life span of a judge-made rule, 58 N.Y.U. L. Rev. (1983), S. 1, 4; Lewis F. Powell , Stare Decisis and Judicial Restraint, 47 Washington and Lee L. Rev. (1990), S. 281, 284. 4 Siehe zum Auswahlverfahren des Supreme Court im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht Joachim Wieland, Der Zugang des Bürgers zum Bundesverfassungsgericht und zum U.S. Supreme Court, in: Der Staat 29 (1990), S. 333 ff. 3 Knox v. Lee, 79 U.S. (12 Wall.) 457 (1871). Zu den Legal Tender Cases siehe Kenneth W. Dam, The Legal Tender Cases, 1981 Supreme Court Review, S. 367. Die Legal Tender Cases sind auch insoweit von Interesse, als sie Gegenstand des wohl ersten Law /tev/ew-Artikels zu stare decisis sind: D.H. Chamberlain , The Doctrine of Stare Decisis as applied to Decisions of Constitutional Questions, 3 Harv. L. Rev. (1889), S. 125. 6 Auch vor den Legal Tender Cases hat der Supreme Court schon seine Rechtsprechung geändert -freilich unter sehr viel harmloseren Umständen. So ist The Genesee Chief,; 12 How. 443 (1851) eine Abkehr von The Thomas Jefferson , 10 Wheat. 428 (1825). In dem fodera lai Streit ging es um die Zuständigkeit in der Seegerichtsbarkeit. 4 Seyfarth

50

Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

Court in Hepburn v. Griswold noch mit fünf zu drei Stimmen entschieden, daß die Ausgabe von Papiergeld verfassungswidrig sei.7 Nach dieser Entscheidung war ein Richter der Hepburn-Mehiheit ausgeschieden, und der Kongress hatte beschlossen, die Zahl der Richter am Supreme Court auf neun zu erhöhen. 8 Der damalige Präsident Ulysses S. Grant hatte also die Möglichkeit, zwei neue Richter zu ernennen, welche, zusammen mit den drei abweichenden Richtern des alten Urteils, eine neue Mehrheit von fünf zu vier Stimmen bildeten. Die vier Richter, die kurz zuvor noch eine tragende Mehrheit geformt hatten, fanden sich plötzlich in der Minderheit wieder, ohne daß sich irgendwelche Umstände geändert hätten oder auch nur einer von ihnen seine Meinung revidiert hätte. Tatsächlich war die Entscheidung in den Legal Tender Cases nicht anders als durch die neue personelle Besetzung der Richterbank zu erklären. 9 Nach Einschätzung des späteren Chief Justice Charles E. Hughes war die plötzliche Kehrtwende ein schwerer Fehler, weil sie dazu führte, daß das öffentliche Vertrauen in den Supreme Court zeitweilig verlorenging. 10 Die Legal Tender Cases sind mithin ein erstes und seinerzeit aufregendes Beispiel dafür, daß es oft nicht neue Rechtsentwicklungen oder geänderte tatsächliche Umstände sind, die eine Änderung der Rechtsprechung bedingen, sondern schlichtweg eine andere Machtkonstellation im Gericht. Der Grundsatz von stare decisis scheint gegenüber solchen neuen Machtverhältnissen nur eine bescheidene Rolle spielen zu können. 11

7

75 U.S. (8 Wall.) 603 (1870).

8

Die amerikanischen Verfassimg legt die Zahl der Richter am Supreme Court ebensowenig fest wie das Grundgesetz für das Bundesverfassungsgericht, sondern überläßt diese Aufgabe dem Kongress, Art. ΠΙ, sect. 1, cl. 1 Constitution. Seit dem ersten Judiciary Act von 1789 hat sich die Zahl der Richter sukzessive von sechs auf zehn erhöht und ist dann wieder reduziert worden. Seit 1869 bilden neun Richter den Supreme Court. Der letzte - dramatische und letztlich erfolglose - Versuch, die Zahl der Richter zu erhöhen, war Präsident Franklin D. Roosevelts sogenannter "Court packing plan". Vgl. zum Ganzen: The Numbers Game, 1977 Yearbook of the Supreme Court Historical Society, S. 87. 9 Vgl. àzTXxJerold H. Israel , Gideon v. Wainwright: The "Art" of Overruling, 1963 Supreme Court Review, S. 211, 228. 10 11

Charles E. Hughes , The Supreme Court of the United States, 1928, S. 52.

Die Legal Tender Cases könnenfreilich auch als ein Beispiel dafür dienen, daß es mittels stare decisis möglich ist, ganze Themenkomplexe von der Tagesordnung denkbarer verfassungsrechtlicher Konflikte zu nehmen (Agenda Limitation). Bestimmte Fragen stehen außerhalb jeder Diskussion, obwohl siefrüher zu den meistdiskutierten und umstrittensten Problemen gehörten. Niemand käme heute auf die Idee, die Zulässigkeit von Papiergeld als gesetzliches Zahlungsmittel zu bezweifeln. Vgl. zu diesem Gedanken Henry Paul Mona g ha η? Stare Decisis and Constitutional Adjudication, 88 Columbia L. Rev. (1988), S. 723, 744.

3. Kapitel: Stare decisis und die Rechtsprechung des Supreme Court

51

Auch in späteren Jahren zeichnete sich die Rechtsprechung des Supreme Court bisweilen durch eine erstaunliche Sprunghaftigkeit aus. Ein Beispiel aus neuerer Zeit ist der 1985 entschiedene Fall Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority ,12 in dem der Supreme Court eine gerade erst einmal neun Jahre alte Entscheidung aufhob, 13 die ihrerseits einen Bruch mit einer acht Jahre alten Entscheidung darstellte. 14 Es ist nicht verwunderlich, wenn einige Autoren angesichts eines solchen Zick-Zack-Kurses die Bedeutung von stare decisis im Verfassungsrecht für gering erachten. 15 Gleichwohl mag der erste Blick auf die Statistik und einige spektakuläre Kehrtwendungen des Supreme Court täuschen und zu einer vorschnellen Unterschätzung von stare decisis führen. Es gibt nämlich auf der anderen Seite genug Beispiele, in denen das Gericht oder einzelne Richter sehr wohl von einer Selbstbindung an alte Urteile ausgegangen sind und gegen ihre mutmaßlich eigentliche Rechtsansicht gestimmt haben. Besonders eindrucksvoll sind in dieser Hinsicht einige Sätze des Richters Felix Frankfurter 16 in Galvan v. Press 11 Dort war unter anderem die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes umstritten, vermöge dessen ein Ausländer wegen Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei des Landes verwiesen werden konnte. Der Supreme Court bestätigte insoweit die angezweifelte Gesetzgebungskompetenz des Kongresses, "obwohl viel für die Ansicht gesagt werden könnte, daß, würden wir ein unbeschriebenes Blatt vor uns haben, die 'due process clause' die Reichweite des gesetzgeberischen Ermessens im Ausländer- und Abschiebungsrecht einschränken würde. Aber das Blatt ist nicht unbeschrieben. [...] Wir sind nicht bereit, uns für klüger oder den Menschenrechten gegenüber sensibler als unsere Vorgänger zu halten." 18 Und in Mathews v. U.S., 19 einem 12

469 U.S. 528 (1985).

13

National League of Cities v. Usery, 426 U.S. 833 (1976).

14

In National League of Cities wurde Maryland v. Wirtz, 392 U.S. 183 (1968) aufgehoben. Den Entscheidungen lag einföderaler Streit zugrunde: es ging um die Frage, inwieweit die verfassungsmäßigen Rechte der Einzelstaaten einer bundeseinheitlichen Regelung der Arbeitsbedingungen von Staats- und Gemeindeangestellten entgegenstehen würden. Vgl. zum Ganzen Philip P. Frickey, Stare decisis in Constitutional Cases: Reconsidering National League of Cities, 2 Constitutional Commentary (1985), S. 123. 13

Vgl. nur Philip P. Frickey, A Further Comment on Stare Decisis and the Overruling of National League of Cities, 2 Constitutional Commentary (1985), S. 341, 351. 16 Vgl. ad hominem den kurzen Beitrag von Martin Kriele, Felix Frankfurter, in: JZ 1965, S. 242. 17

347 U.S. 522(1954).

18

AaO.,S. 530 f.

52

Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

strafprozessualen Fall, erklärte der Richter William J. Brennan seine Zustimmung zu dem Urteil, welches seiner früher geäußerten Meinung widersprach, mit dem Satz: "Würde ich auf ein unbeschriebenes Blatt schreiben, wäre ich nach wie vor [meiner alten Ansicht]. Aber ich schreibe nicht auf ein unbeschriebenes Blatt; das Gericht hat sich in diesem Punkt definitiv festgelegt. Deshalb verbeuge ich mich vor stare decisis und stimme dem Urteil in Ergebnis und Gründen zu." 2 0 Es ergibt sich mithin ein gemischtes Bild: Einerseits vermochte stare decisis Brüche und Inkonsistenzen in der Rechtsprechung des Supreme Court nicht zu verhindern, andererseits ist der Grundsatz doch immer wieder als ergebnisbestimmend hervorgetreten. Es ist deshalb erforderlich, sich den näheren Umständen zu widmen, unter denen der Supreme Court zur Aufgabe einer alten Entscheidung bereit war. Zu fragen ist, ob in der Rechtsprechung des Supreme Court quasi eine Theorie zu stare decisis hervorgetreten ist. Dazu ist es hilfreich, gewisse Phasen voneinander abzugrenzen, in denen dem Grundsatz von stare decisis jeweils unterschiedliches Gewicht beigemessen wurde.

I. Die frühe Rechtsprechung seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Warren Court Mit Beginn des 20. Jahrhunderts häuften sich die Fälle, in denen der Supreme Court seine alte Rechtsprechung aufgab 2 1 Trotzdem hat der Grundsatz von stare decisis bis zum sogenannten Warren Court, also etwa bis zum Beginn der 50er Jahre, selten eine grundsätzliche Behandlung erfahren. Eine Ausnahme bildet die bereits erwähnte wesentliche Differenzierung zwischen Entscheidungen, welche die Verfassung auslegen, und solchen, die eine einfachgesetzliche Frage zum Gegenstand haben: Sie hat in der klassischen Formulierung des Richters Brandeis in Burnet v. Coronado Oil cfc Gas Co. Ausdruck gefunden. 22 Daneben ist jedoch bezeichnend, wie frei sich das Gericht fühlte, von seinen alten Entscheidungen abzuweichen. Charakteristisch ist eine Passage in dem Fall Smith v. Allwright 23 Nachdem dort zunächst von der

19

485 U.S. 58 (1987).

20

AaO., S. 67.

21

Vgl. dazu die Liste bei Douglas, (FN 1).

22

285 U.S. 393 (1932); vgl. dazu oben Kapitel 2, S. 45.

23

321 U.S. 649 (1944). In diesem Fall erklärte das Gericht, daß eine politische Partei, auch wenn sie privatrechtlich organisiert sei, Schwarze bei den zur Kandida-

3. Kapitel: Stare decisis und die Rechtsprechung des Supreme Court

53

an sich wünschenswerten Kontinuität in verfassungsrechtlichen Fragen die Rede ist, fahrt der Supreme Court mit der Bemerkung fort: "Trotz alledem, soweit das Gericht von einem früheren Fehler überzeugt ist, hat es sich niemals gezwungen gesehen, einem Präzedenzfall Folge zu leisten." 24 Selten nur hat eine solche Einstellung in dieser Phase Widerspruch wie in der abweichenden Meinung des Richters Roberts zu diesem Fall gefunden, der das Urteil mit einer Bahnfahrkarte vergleicht, die nur für einen Tag und eine Fahrt Gültigkeit habe 2 5 Bezeichnend für diese Periode sind deshalb weniger die Entscheidungen, in denen stare decisis angesprochen wird, als vielmehr die Fälle, die den Grundsatz gerade nicht thematisieren, obwohl dazu in der Sache guter Grund bestanden hätte. So haben weder Mehrheit noch die vier abweichenden Richter in der bereits erwähnten Entscheidung West Coast Hotel 26 die Änderung der Rechtsprechung, die in diesem Fall j a gleichsam eine kopernikanische Wende bedeutete, an dem Grundsatz von stare decisis gemessen. Andere Beispiele aus dieser Zeit sind die Entscheidungen in United States v. Darby ,27 Erie Railroad Co. v. Tompkins, 28 oder West Virginia State Board of Education v. Bamette: 29 Diese Fälle stehen nicht bloß für Randfragen, son-

tenaufstellung abgehaltenen Vorwahlen nicht ausschließen dürfe. Dazu mußte die Entscheidung Grovey ν. Τ owns end, 295 U.S. 45 (1935) aufgegeben werden. 24

AaO., S. 665.

25

AaO., S. 669. Vgl. auch dessen grundsätzliche Kritik an der damals zunehmenden Tendenz zur Mißachtung von Präzedenzfall«! in Mahnich v. Southern Steamship Co., 321 U.S. 96 (1944). Diese Kritik entbehrt nicht einer gewissen Ironie, als gerade der Richter Owen J. Roberts als der entscheidende "Überläufer" gilt, dessen Sinneswandel die "verfassungsrechtliche Revolution" von 1937 möglich gemacht hatte. Siehe zu Roberts: Leon Friedman & Fred L. Israel (Hrsg.), The Justices of the United States Supreme Couit, 1789-1978, Bd. 3,1980, S. 2253. 26

West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937). Vgl. dazu auch oben Kapitel 2, S. 38. 27 312 U.S. 100 (1941). Gegenstand der Entscheidung war ein Bundesgesetz, welches Mindestlöhne und Arbeitszeitbeschränkungen festlegte. Mit Darby wurde die Entscheidung Hammer v. Dagenhart, 247 U.S. 251 (1918) aufgehoben. 28 304 U.S. 64 (1938). In diesem für das Zivilprozeßrecht und das Bundesstaatsprinzip wichtigen Fall ging es um die Zuständigkeit der Bundesgerichte zur Auslegung des Einzelstaatsrechts. Aufgegeben wurde die fast einhundert Jahre alte Ansicht, daß die Bundesgerichte insoweit unbeschränkt zuständig seien, vgl. Swift v. Tyson, 41 U.S. (16 Pet.) 1 (1842). 29

319 U.S. 624 (1943). Der Supreme Court erklärte in dieser Entscheidung ein Gesetz für verfassungswidrig, welches Schulkinder zum Gruß der amerikanischen Flagge

54

Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

dem haben die Rechtslage in dem jeweils betroffenen Sachbereich wesentlich geändert und neu gestaltet. Sie hätten durchaus ein Forum für eine vertiefte Auseinandersetzung mit stare decisis darstellen können. Es ist deshalb in der Tat erstaunlich, daß der Supreme Court sich in diesen Jahren mit den von stare decisis aufgeworfenen Problemen nur relativ oberflächlich beschäftigt hat.

Π. Die Formationsphase bis zum Rehnquist Court Die Rechtsprechung des Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren gilt als eine Phase liberaler und progressiver Entscheidungen. In vielen Bereichen gesellschaftlicher und sozialer Entwicklung nahm das Gericht eine Vorreiterrolle ein, die es bisweilen gegen erheblichen politischen Widerstand durchsetzen mußte. Erinnert sei nur an das Problem der Rassenintegration, den Schutz der Privatsphäre oder die Ausgestaltung des Strafprozeßrechts. 30 Der Supreme Court betrat in dieser Zeit auch dogmatisch vielfach verfassungsrechtliches Neuland und sah sich insofern erheblicher Kritik ausgesetzt.31 Interessanterweise ist jedoch - entgegen vielfacher Behauptung - die Zahl der Fälle, in denen das Gericht von einer alten Entscheidung abwich, nicht wesentlich höher als in in anderen Perioden gewesen.32 Wenngleich es auch in dieser Zeit wichtige Fälle gegeben hat, die einen Bruch mit der Vergangenheit darstellen, 33 hat der Warren Court weniger Aufsehen dadurch erregt, daß er allgemein akzeptiertes Verfassungsrechtsgut verworfen hätte, als dadurch, daß zwang. Nur drei Jahre zuvor hatte das Gericht ein Gesetz gleichen Inhalts in Minersville School District v. Gobitis , 310 U.S. 586 (1940) für verfassungskonform erachtet. 30 Als repräsentative Grundsatzentscheidungen können respektive Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954); Griswold ν. Connecticut , 381 U.S. 479 (1965); und Miranda v. Arizona , 384 U.S. 436 (1966) genannt werden. 31 Vgl. nur Robert Η. Bork, Neutral Principles and Some First Amendment Problems, 47 Indiana L.J. (1971), S. 1 ff., sowie ders., The Tempting of America, 1990, S. 69 ff., 129 ff 32

Vgl. insoweit die Liste bei Gerhardt, The Role of Precedent, (FN 1), S. 147 ff Die meisten Abweichungen während des Warren Courts hat es auf dem Gebiet des Strafprozeßrechts gegeben. 33

Vgl. etwa die Entscheidung Gideon v. Wainwright, 372 U.S. 335 (1963), mit der unter Aufgabe von Betts v. Brady, 316 U.S. 455 (1942) der verfassungsrechtliche Anspruch auf Rechtsbeistand in Strafverfahren auf die Einzelstaatenebene ausgedehnt wurde, sowie Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969), eine der letzten Entscheidungen unter Chief Justice Warren, mit der Whitney v. California, 274 U.S. 357 (1927) aufgegeben wurde. Brandenburg ist ein wichtiger Fall für die Auslegung des 1. Amendment, weil er den wohl weitgehendsten Schutz der Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Supreme Court darstellt.

3. Kapitel: Stare decisis und die Rechtsprechung des Supreme Court

55

er den Zugriff des Verfassungsrechts in bis dahin nicht erfaßte Sachbereiche ausdehnte. Für den Grundsatz von stare decisis ist diese Periode jedoch von Bedeutung, weil sich in ihr Ansätze bildeten, die schließlich zu einer einigermaßen kohärenten Theorie führten. Der Supreme Court besann sich in diesen Jahren darauf, eine alte Entscheidung nur dann aufzugeben, wenn neben die Überzeugung von der rechtlichen Unhaltbarkeit der alten Entscheidung noch ein weiterer Grund hinzuträte. Eine griffige Formulierung hat dieser Ansatz später in Arizona v. Rumsey gefunden: "Auch wenn die Befolgung von Präzedenzfallen in verfassungsrechtlichen Fällen nicht starrsinnig erzwungen werden kann, so verlangt jede Abkehr von der Doktrin von stare decisis doch eine besondere Rechtfertigung." 34 Als eine solche "besondere Rechtfertigung" hat der Supreme Court etwa einander widersprechende Präzedenzfalle angesehen. Eine alte Entscheidung soll dann aufgegeben werden können, wenn sie entweder in Konflikt mit anderen Entscheidungen steht oder ihre dogmatische Grundlage durch andere Entscheidungen fraglich geworden ist. 35 Ebenso soll es genügen, wenn sich die tatsächlichen Annahmen, die einer alten Rechtsansicht zugrunde lagen, geändert haben. 36 Dabei geht es allerdings nicht um einen im Vergleich mit einem früheren Fall anders liegenden Sachverhalt 31 Im Zusammenhang mit der Aufgabe einer alten Entscheidung 34

467 U.S. 203,212(1984).

33

Vgl. nur Keyishian v. Board of Regents, 385 U.S. 589 (1967). Dort ging es um ein Gesetz, welches Angehörigen der Staatsuniversität New York eine Erklärng abverlangte, daß sie keine Kommunisten seien. Der Staat versuchte dieses Gesetz unter Berufung auf die Entscheidung Adler v. Board of Education , 342 U.S. 485 (1952) zu verteidigen. Der Supreme Court begegnete diesem Versuch jedoch mit dem Hinweis, daß "die verfassungsrechtliche Doktrin, die sich seit dieser Entscheidung herausgebildet hat, deren (d.h. Adlers) wichtigste Voraussetzungen zurückgewiesen hätte", so daß diese Entscheidung nicht mehr bestimmend sein könne, aaO., S. 605 f. Vgl. ebenso deutlich Katz v. United States, 389 U.S. 347, 353 (1967). 36

Siehe etwa Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643 (1961). Dort entschied der Supreme Court, daß das Beweisverwertungsverbot des 4. Amendment mittels der "due process clause" des 14. Amendment auch in den Einzelstaaten Geltung habe, womit das Gericht seine entgegengesetzte Ansicht aus Wolf v. Colorado, 338 U.S. 25 (1949) aufgab. Gerechtfertigt sah sich das Gericht dadurch, daß die seinerzeit zugrunde gelegten Tatsachen nunmehr nicht mehr bestimmend sein könnten. 37

Soweit einerfrüheren Entscheidung ein anderer Sachverhalt zugrunde lag, handelt es sich schließlich nicht mehr um zwei "gleiche" Fälle, so daß sich das Problem der bindenden Präzedenzwirkung eigentlich gar nicht stellt. Auf die Möglichkeit, der Bindung einer alten Entscheidung dadurch zu entgehen, daß unterschiedliche Momen-

56

Teil 1: Der Grundsatz von stare decisis im amerikanischen Verfassungsrecht

geht es vielmehr darum, daß auch die abstrakte Normauslegung, die Rechtsansicht, auf tatsächlichen Annahmen beruht. 38 Diese mögen sich indessen ändern oder später als inkorrekt erweisen. Nach einer Änderung solcher tatsächlichen Annahmen fühlt sich der Supreme Court nicht mehr an die darauf gestützte Rechtsansicht gebunden.39 Allerdings ist die Differenzierung zwischen fallbezogener Sachverhaltsermittlung, die unter Umständen zum distinguishing führt, und normbezogener Tatsachenermittlung, die möglicherweise zum overruling Anlaß gibt, schwierig und wird in der Rechtsprechung nicht immer in der wünschenswerten Klarheit vollzogen. Eine dritte "besondere Rechtfertigung" geht auf den Fall Swift & Company v. Wickham 40 zurück, in dem der Beschwerdeführer eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügte. In einem drei Jahre zuvor entschiedenen Fall hatte der Supreme Court bestimmt, daß das erstinstanzliche Gericht bei der Durchsetzung eines Staatsgesetzes, welches möglicherweise in Konflikt mit einem Bundesgesetz geraten könnte, mit mindestens drei Richtern besetzt sein müßte. 41 In Swift gelangte das Gericht zu der Einsicht, die alte Entscheidung habe sich als in der Praxis impraktikabel (unworkable ) erwiesen. Es könne aber nicht Aufgabe von stare decisis sein, impraktikable Entscheidungen zu immunisieren. 42 Zusammen mit der Erkenntnis, daß der alte Fall falsch entschieden worden war, sah der Supreme Court deshalb in der Impraktikabilität der alten Entscheidung einen hinreichenden Grund, diese aufzugeben. Ein Sondervotum von drei Richtern hat diesen Ansatz im Prinzip mitgetragen; der Streit ging lediglich darum, ob die alte Entscheidung in der Praxis denn wirklich impraktikabel gewesen sei. 43

te im Sachverhalt ausgemacht werden (